Diálogos: Das Wort im Gespräch [1 ed.]
 9783737008259, 9783847108252

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Paweł Piszczatowski (Hg.)

Di#logos Das Wort im Gespräch

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0825-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der UniversitÐt Warschau.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Zwei weibliche Theatermasken. Rçmisches Fresko aus dem Haus des goldenen Armreifs (VI 17, 42) in Pompeji.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kulturtheoretische Positionsbestimmung Kamilla Najdek Dialog und Gespräch – kritisch gesehen

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II. Dialogische Aspekte in früheren Epochen Joanna Godlewicz-Adamiec Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Hamacher Dialog und Dialektik – Verhandlungen um Poesie und Philosophie zwischen Goethe und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Jörg Schäfer Verschleierte Obszönitäten im deutschsprachigen Shakespeare von Wieland bis Baudissin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Dialogische Gegenwart? Krzysztof Tkaczyk Im polyphonen Gespräch. Zur Opfer- und Henkerperspektive in (A)pollonia von Krzysztof Warlikowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Benthien Unmöglicher Dialog: Anrufung und Iteration in Performance-Arbeiten von Jochen Gerz, Marina Abramovicˇ, Jürgen Klauke und Holger Mader .

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Inhalt

Harry Fröhlich Gespräche »und noch was anderes«. Dialogizität in Arno Schmidts Abend mit Goldrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Agnieszka Jezierska Die passionierten LeserInnen: Lust an Jelineks Lust . . . . . . . . . . . . 127 Andrzej Kopacki Das Geheimnis des Gartens nach Theophrast . . . . . . . . . . . . . . . . 139

IV. Dialogizitätsformen bei Paul Celan Agata Bielik-Robson Nach dem Bilde des Schweigens. Konturen einer nicht gefallenen Sprache in den Gedichten Paul Celans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Adam Lipszyc Die Wiederkehr des K

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Katarzyna Bojarska Leiterinnen auf dem Weg zum Zeugnis. Poetische Relationsbildung mit den Frauenfiguren bei Paul Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Marta Pufal Paul Celans Gedichtband Sprachgitter – im Dialog mit den Bildern . . . . 227 Paweł Piszczatowski Prosopopöischer Dialog. Zwischen Celan, Walther von der Vogelweide und den Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Vorwort

»Das Wort ist kein Ding, sondern das ewig bewegte, sich ewig verändernde Medium des dialogischen Umgangs. Ein einzelnes Bewußtsein, eine einzelne Stimme ist ihm niemals genug. Das Leben des Wortes besteht im Übergang von Mund zu Mund, von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation. Dabei bleibt das Wort seines Weges eingedenk. Es vermag sich nicht restlos aus der Gewalt jener Kontexte zu lösen, in die es einst einging.«1 Diese grundlegende Verortung des Wortes im dialogischen Element der Mehrstimmigkeit, die wir Michail Bachtin verdanken, erfasst in einer sehr anschaulichen Weise den Gedanken, der dem hier vorliegenden Band zugrunde liegt. Die in ihm versammelten Aufsätze von deutschen und polnischen Forscherinnen und Forschern gehen nämlich der Frage nach, inwieweit Dialogstrukturen das literarische Sprechen bestimmen und welchen Einfluss sie auf die kommunikativen Funktionen des künstlerischen Ausdrucks haben. Welche semantischen Verschiebungen werden sichtbar, wenn man das Wort als »Medium des dialogischen Umgangs« betrachtet? Welche Dynamik der Sprachstrukturen lässt sich erkennen, wenn man konstatiert, dass jedes Wort immer in ein Gespräch verwickelt ist? Welchen Erkenntnisgewinn ermöglicht die Dialogisierung des durch die Sprache mediatisierten Begriffsdenkens? Welche ästhetischen Dimensionen eröffnet das literarische Spiel der Intertextualität, eines Phänomens, dass – zumindest in seiner ersten theoretischen Erfassung durch Julia Kristeva2 – mit den Bachtin’schen Dialogizitätskonzepten genetisch verbunden ist? Das Wort »Dialog« wird in dem vorliegenden Buch Gegenstand eines auf vielen unterschiedlichen Ebenen geführten Gesprächs. In erster Linie entwickelt es sich in der inhaltlichen Schicht der einzelnen Beiträge und deren reziproken 1 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. v. Alexander Kaempfe. München 1969, S. 129–130. 2 Vgl. Julia Kristeva: »Probleme der Textstrukturation«, in: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, S. 243–262, sowie diess.: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik III. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375.

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Paweł Piszczatowski

Wechselwirkung. Es ist ein Gespräch von Literaturwissenschaftlern und Philosophinnen, die jeweils andere methodologische Ansätze verwenden, ein Gespräch von etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und akademischen Nachwuchs und zuletzt – von deutschen und polnischen an dem Publikationsprojekt beteiligten Autorinnen und Autoren, was eine durch den Hauptgegenstand der Unterredung strukturierte Perspektivenvielfalt schafft. Es ist ein dauernder Übergang »von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation« auch in dem Sinne, dass sehr unterschiedliche und aus verschiedenen historischen Kontexten stammende Textkorpora auf ihre Dialogstrukturen befragt werden. Dadurch wird das Phänomen des Dialogs nicht nur in seiner durch die Gesprächssituation und direkten Austausch bedingten Synchronie, sondern auch in dessen diachronischen Entwicklung erfasst. Die Struktur des Bandes soll die Schnittstellen zwischen Diachronie und Synchronie markieren. Einem einleitenden Versuch einer kulturtheoretischen Positionsbestimmung (Kamilla Najdek), der unter anderem – nicht ohne Provokationspotenzial – die fortschreitende Deflation des Terminus »Dialog« im Sprachgebrauch der modernen Medien thematisiert, folgen drei Texte zu unterschiedlichen Aspekten des Dialogischen vom deutschen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Joanna Godlewicz-Adamiec – entgegen der gängigen Vorstellung eines »undialogischen« Mittelalters – schildert die Wechselrede als eine der Grundstrukturen der deutschen Minnelyrik. Bernd Hamacher bezieht sich in seinem Beitrag auf das dialektische Verhältnis von Poesie und Philosophie anhand des intellektuellen Austauschs zwischen Hegel und Goethe. Schließlich setzt sich Martin Jörg Schäfer mit den deutschen Shakespeare-Adaptionen aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert auseinander. Dabei berührt er sowohl das grundlegende Aspekt des dialogischen Charakters einer literarischen Übersetzung als auch theatralische Aufführungspraxis. Die dem Performativen einer Spielsituation einhergehende Dialogizität wird auch in zwei anderen Texten des Bandes kritisch behandelt. Sie eröffnen dessen dritten Teil, in dem die Frage nach der »dialogischen Gegenwart« gestellt wird. Die beiden Texte markieren die stilistischen Extrempositionen der performativen Praxis: Krzysztof Warlikowskis postmodernes Welttheater mit fundamentalen Bezügen zu den mythologischen Grundmustern der griechischen Tragödie (Krzysztof Tkaczyk) und die wortknappen Video-Performances der 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts (Claudia Benthien). Sowohl jedoch Tkaczyks Ausführungen zu Warlikowskis (A)pollonia als auch Benthiens »Fallstudien« von vier Video-Inszenierungen werfen die grundsätzliche Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines Dialogs in der modernen Welt auf. Die Antworten, welche die analysierten Beispiele »ins Gespräch bringen«, stellen die Möglichkeit einer dialogischen Kommunikation von Mensch zu Mensch und von Generation

Vorwort

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zu Generation grundsätzlich in Frage oder lassen sie zumindest als sehr problematisch erscheinen. Interessant ist dabei, dass die potenzielle Unmöglichkeit des Dialogs sich gerade in der Performance-Kunst so stark manifestiert, wo der Dialog – seit deren griechischen Anfängen bereits – eine geradezu konstitutive Rolle spielte. Zwei weitere Beiträge sind in ihrer theoretischen Schicht stark an die Ansätze der Dialogizität bei Michail Bachtin angelehnt und verfolgen intertextuelle und intermediale Strategien in Arno Schmidts Abend mit Goldrand (Harry Fröhlich) und Elfriede Jelineks Lust (Agnieszka Jezierska). Den dritten Teil des Bandes schließt Andrzej Kopackis Essay zu Peter Huchels Gedicht Der Garten des Theophrast, das im breiten Kontext des Dialogs der Nachgeborenen mit Brechts einst an sie gerichteten Frage nach den »Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist«.3 Kopackis Text bildet einen natürlichen Übergang zu dem letzten Teil des Bandes, der den Dialogizitätsstrukturen in der Poesie Paul Celans gewidmet ist. Der von Kopacki im Kontext der Brecht-Debatte erwähnte Celan schuf in seiner Meridian-Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960 eine dialogisch fundierte Poetologie des Gesprächs. In den fünf umfangreichen Studien werden unterschiedliche Aspekte dialogischer Strukturen in Celans Texten untersucht. Agata Bielik-Robson dekonstruiert seine Gedichte und legt dabei die Celan’sche Grammatik des traumatischen Sprechens angesichts des profunden Schweigens des dialogischen Gegenübers offen. Adam Lipszyc verfolgt in Celans Gedichten die Spuren des Buchstabens K und zieht den Leser/die Leserin in die faszinierenden Assoziationslabyrinthe des Celan’schen Universums hinein. Einerseits führen sie zu Celans intertextuellen Dialogpartnern (Franz Kafka, Ossip Mandelstam, Sigmund Freud, Walter Benjamin etc.), andererseits bilden sie eine Landkarte von Celans Poetologie, die eine Sprache voraussetzt, welche sich dauernd ihrer Artikulation entzieht, eines Sprechens mit blockierten Atemwegen, das durch den Kehlkopfverschlusslaut K an vielen Stellen bei Celan markiert wird. Katarzyna Bojarska betrachtet die Dialogizität von Celans Gedichten im Sinne einer stark affektiv beladenen Relationsbildung mit einem – bei Celan meist weiblichen – Du. Die in seinen Gedichten evozierten Dialogpartnerinnen, die getötete Mutter, die Schwester, die es nie gegeben hat, die göttliche Schechina, werden als »Begleiterinnen auf dem Weg der Zeugenschaft« interpretiert, was den wichtigen Aspekt der Dialogizität der Zeugenschaft thematisiert. Ein Zeugnis bedarf einer/eines, die/der es ablegt und zumindest einer Person, die es wahr- und seine Botschaft aufnimmt. Und auch das: Kein Zeugnis ist möglich ohne eine dialogische Begleitung derer, von denen es abgelegt werden soll. Marta Pufal setzt sich in ihrem Beitrag mit Celans Ge3 Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen, in: ders.: Die Gedichte. Frankfurt am Main 2000, S. 267.

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Paweł Piszczatowski

dichtband Sprachgitter auseinander. Sie konzentriert sich dabei auf die optischen Konnotationen der Texte. Das Akustisch-Semantische des Wortes wird in seinem Dialogverhältnis zu dem Visuellen betrachtet. Der letzte Text (Paweł Piszczatowski) befasst sich anhand zweier Gedichte Celans mit dem Phänomen des prosopopöischen Dialogs mit den Toten. Der Beitrag geht dabei auf die intertextuellen Bezüge zu der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide ein und rundet somit die chronologische Linie der in dem Band präsentierten Fragestellungen zu einem Kreis ab, der am Ende dort ankommt, wo er seinen Anfang nahm: bei der strukturellen Dialogik der Dichtung des deutschen Hochmittelalters. Als Herausgeber des Bandes möchte ich mich bei allen an seiner Entstehung Mitwirkenden bedanken. Vor allem bei allen Autorinnen und Autoren, die ihn mit ihren Beiträgen inhaltlich mitgestalteten, bei Marta Pufal für die Hilfe bei Übersetzungsarbeiten sowie bei Bruno Arich-Gerz und Daniel Ganzfried für sprachliche Korrekturen. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Universität Warschau, die durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung die Realisierung dieses Publikationsprojektes ermöglichte. Paweł Piszczatowski

I. Kulturtheoretische Positionsbestimmung Die heilsame Fiktion des freien Dialogs aufrecht zu erhalten, ist eine letzte Aufgabe von Philosophie. (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft)

Kamilla Najdek

Dialog und Gespräch – kritisch gesehen

In seiner Einführung in die Rhetorik verteidigt Aristoteles (Rhet. 1a, 1358–1373) den Syllogismus und das Enthymem als Formen der deduktiven Beweisführung, indem er auf das natürliche Vermögen der Menschen verweist, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu entdecken. Er nimmt dabei als selbstverständlich an, die Natur selbst habe in den Menschen im genügenden Grade das Streben nach Wahrheit ausgebildet, sodass sie die meiste Zeit damit verbringen, sich mit ihr (das heißt mit Wahrheit) zu beschäftigen. Dementsprechend – behauptet er – werden wir uns in Zweifelsfällen eher nach dem Wahrscheinlichen als nach dem Unwahrscheinlichen richten (vgl. Topoi, Hermeneutik, beide Analytiken). Was er in diesem Zusammenhang nicht betont und ebenfalls als offensichtlich annimmt, ist die Definition der Wahrheit als einer Eigenschaft des Satzes. Aus ihr folgt: Die Menschen entdecken sowohl das Wahre als auch das Wahrscheinliche, indem sie sprechen. Aristoteles wird an dieser Stelle nicht als eine Autorität in Sachen Dialog angeführt. Er selbst verwendet bekanntlich diesen Begriff im engen Sinne als ein zur Erkenntnis führendes Gespräch; die literarische Form des Dialogs braucht er – anders als sein großer Meister – ausschließlich zwecks der Belehrung. Mir geht es zunächst um seine fundamentale Haltung der Sprache gegenüber. Der Mensch spricht vor allem deswegen, weil er etwas wissen will, er spricht, weil er ein gesellschaftliches Wesen ist und weil er in der Gesellschaft ökonomische, politische, rechtliche Entscheidungen treffen muss. Das macht das Sprechen theoretisch interessant. Für das Alltagsgerede, das seit Heidegger in der Philosophie eine gewichtige Rolle spielt (freilich in anderen Kontexten), bleibt in der antiken Reflexion wenig Platz. Den Gegenpol zur Auffassung der Sprache als eines Mittels auf dem Wege des gemeinsamen Suchens und Entdeckens bildet die Konzeption der Sprache als Mitteilung; anstatt des gemeinsamen Ringens um Wahrheit und Wahrscheinlichkeit haben wir es mit einer Offenbarung zu tun: Der Sprechende bringt sich gleichsam selbst, unverhüllt, als Gabe in Spiel – in diese Richtung bewegt sich das mystisch und theologisch orientierte Denken.

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Kamilla Najdek

Ich nenne diese extremen Positionen nicht ohne einen Hintergedanken. Sie scheinen das ganze Feld des authentischen Sprechens abzustecken, auf dem das Phänomen Dialog erst zu bestimmen ist. Damit komme ich zum Ziel meines Beitrags, das kein einfaches ist: Es geht darum, den Dialog und insbesondere den dialektischen zum Problem zu machen. Zum Problem der verantwortlichen Sprache, der Gegenwärtigen Sprachkultur und der Tagespolitik. Philologen haben in diesem Bereich immer noch einiges zu leisten. Der Zugang, der in diesem Beitrag präsentiert wird, soll ein philologischer aber kein streng linguistischer sein. Im ersten Schritt soll der Versuch unternommen werden, die Wortbedeutung zu bestimmen, im zweiten geht es mir um Bedeutungsverschiebungen und eine erweiterte Wortbedeutung sowie um die möglichen kulturellen Ursachen einer neuen beunruhigenden Sprachmanier, die sich aufgrund dieser Bedeutungsverschiebungen entwickelt. Nicht jede Wortbedeutung kann und soll hier hinterfragt werden. Der Dialog im Drama, die szenische Darstellung in erzählender Prosa, der philosophische Dialog wie der Platonische sind nun einmal der Definition nach Dialoge – egal, ob wir die Gespräche, die sie schildern, als »dialogisch« empfinden, oder nicht. Ein Problem für sich – nur am Rande erwähnt – ist, ob die Bezeichnung »Philosophie des Dialogs« glücklich gewählt ist. Sowohl bei Martin Buber als auch bei Emmanuel Levinas haben wir es doch mit einer Rede ohne Antwort zu tun, daher scheint mir der Vorschlag Jjzef Tischners, die Dialogphilosophie als Philosophie des Dramas zu verstehen, viel treffender. Im Rahmen der Literaturforschung ist schon die Grundsatzarbeit geleistet worden: Es sei etwa an den zusammenfassenden Text von Hans Robert Jauß Zum Problem des dialogischen Verstehens1 zu erinnern, den er als Einleitung zu einem Dialog-Symposium,2 geschrieben hatte. Der gemeinsame Ausgangspunkt des Symposiums war, Verstehen und Interpretieren nach dem Modell des Gesprächs zu begreifen, das zwischen zwei oder mehreren Personen stattfindet. Jauß betont die Gültigkeit des hermeneutischen Grundsatzes: Zum Dialog gehören nicht allein zwei Gesprächspartner, sondern auch die Bereitschaft, den Anderen in seiner Andersheit zu erkennen und anzuerkennen. Ihm und anderen Autoren des Sammelbandes geht es nicht um das Phänomen des Dialogs als solchen, sondern – wie der Titel ankündigt – um Möglichkeiten und Grenzen des dialogischen Verstehens: Das Erkennen und Anerkennen der Dialogizität der literarischen Kommunikation stößt in mehrfacher Hinsicht auf das Problem der Alterität: zwischen Produzent und 1 Hans Robert Jauß: »Zum Problem dialogischen Verstehens«, in: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 11–24. 2 Beiträge zu diesem Symposium sind in dem von Renate Lachmann herausgegebenen Sammelband Dialogizität zu finden (siehe Anm. 1).

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Rezipient, zwischen Vergangenheit des Textes und der Gegenwart des Rezipienten, zwischen verschiedenen Kulturen. Hermeneutische Reflexion und semiotische Analyse konkurrieren heute als Methoden, die Alterität des uns fernen Textes zu erfassen. Beide verfügen indes über keine vorgängige Garantie des Verstehens; weder das Sinnkontinuum der Wirkungsgeschichte noch die Universalität semasiologischer Systeme vermag sie zu geben. Hier ist an Schleiermachers Axiom zu erinnern: daß das NichtVerstehen nicht die Ausnahme des Umgangs mit fremder Rede ist, sondern daß damit überall gerechnet werden muss, wo fremde Rede in ein Verhältnis mit eigener Rede tritt.3

Während Jauß das Eigene und das Fremde im Dialogischen in den Vordergrund stellt, interessiert Horace Engdahl die Sache (das Problem) des Dialogs. In den begrifflichen Vorbemerkungen über den Dialog schlägt Engdahl ebenfalls den hermeneutischen Weg ein, wobei er prinzipiell auf die Relevanz des Begriffs für die Literaturforschung verweist: Erstens: das Wort Dialog enthält nicht nur das Glied dia sondern auch das Glied logos. D. h. ohne Sprache oder ein Ersatzmedium, das dieselben, nämlich intentionale, Funktionen übernimmt, kommt man nicht zum Dialog. Der Dialog ist immer auf etwas gerichtet, auf ein Drittes, oder besser : es gibt eine Sache, worüber sich die Rede entfaltet. Außer der Anwesenheit zweier Redender hat der Dialog also noch eine andere Voraussetzung. Sein Medium soll, in der Form, in der es im fortlaufenden sprachlichen Austausch annimmt, das Hervortreten einer gemeinsamen, den beiden Gesprächspartnern transzendenten Welt ermöglichen. Man muß im Dialog seine Subjektivität verlassen […].4

Und im Sinne Hans-Georg Gadamers schreibt er weiter : In das Zentrum des Dialogs stellt Gadamer nicht die Teilnehmer oder ihre besonderen Sprachen und Redeweisen, sondern die Sache, die Objekt des Dialogs ist, zu deren Erklärung der Dialog bestimmt ist. Ein wirklicher Dialog sucht durch sukzessive Annäherungen, durch ein Geben und ein Nehmen von Einsichten die Struktur dieser Sache bloßzulegen, eine Erfahrung an der Sache zu machen, die in sich begrifflos sein kann. Ein Dialog ist also kein Bündel von einander durchkreuzenden Überredungsversuchen, kein Kampf zwischen Soziolekten oder Idiolekten um Raum oder Autorität. Ein Dialog wird nur möglich zwischen sich aufeinander beziehenden Äußerungen, wenn sie auf ein und derselben gegenständlichen und logischen Ebene miteinander in Berührung treten. Das aber verlangt ein Aufgeben der ursprünglich gesonderten Sprachen der Redenden und das Ausbilden eines neuen Sprachzustandes, der nur dem Dialog eigen ist. […] Ein solcher Prozeß gehört, weiter, zum Verhältnis zwischen Freunden. Es scheint eine grundlegende Interessengemeinschaft vorauszusetzen, einen 3 Jauß 1982, S.12. 4 Horace Engdahl: »Monologizität und Dialogizität – eine Dichotomie am Beispiel der schwedischen Romantik«, in: Renate Lachmann (Hg.) Dialogizität. München 1982, S. 141–154, hier S. 141.

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Kamilla Najdek

instinktiven sensus communis oder eine Solidarität. Gadamer verwendet in diesem Zusammenhang den aristotelischen Ausdruck sy`nesis – Verständnis, Vereinigung.5

Anders als die Sprachwissenschaft, die keine Grenzlinie zwischen Gespräch und Dialog zieht, und sich auf Fälle konzentriert, die man als Dialogeme bezeichnen könnte, betrachten die Literaturwissenschaftler Dialog und Dialogizität als ein besonderes Problem im Rahmen der weit verstandenen sprachlichen Kommunikation. Parallel zu diesen Versuchen, das Begriffsfeld abzustecken, kommt es zum inflationären Gebrauch des Wortes, der nicht auf dessen Metaphorisierung zurückzuführen ist. Das Wort »Dialog« tritt heutzutage in unterschiedlichsten Kontexten auf. Im 20. Jahrhundert macht es Karriere in der Psychologie oder, wenn man will, Pseudopsychologie. So verspricht David Bohms Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen6 die Eröffnung einer neuen persönlichen Landschaft. Der Autor schreibt im orientalischen Geiste, der Dialog beginne, wo die Diskussion aufhört. Hier werden weniger Argumente ausgetauscht, sondern Horizonte eröffnet. Und jeglicher Hermeneutik entgegen – der Dialog sei eine Chance, Neues zu entdecken, keine Garantie, Altes zu bewahren. Zerstrittenen Eheleuten wird in Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch7 angeboten, ihr Eheglück durch den Dialog wieder zu erlangen. In der Wirtschaft hat Dialog. Die Kunst der Zusammenarbeit von Karl-Martin Dietz8 Schule gemacht (das Wort Dialog ersetzt die einfachere Zusammenarbeit, es steht für das gegenseitige Helfen, Einsichten und Initiativen zu entwickeln). Der Begriff »Führungsdialog« gehört zum festen Bestandteil des ökonomischen Lexikons. Geradezu sensationell mutet der Titel Miteinander Denken. Das Geheimnis des Dialogs9 an, der sich allerdings in die inflationäre Wortverwendung gut einpasst. Nimmt man zusätzlich solche Zusammenstellungen wie »Dialog der Kulturen« oder »Dialog der Religionen« hinzu, wird die Verwirrung noch stärker. Was verbindet all diese Dialoge, was macht ihre Dialogizität aus? In den Lexika sind bekanntlich selten Erklärungen zu finden, auch in diesem Falle nicht. Unter dem Stichwort Dialog findet man im Duden, neben seiner Bestimmung als literarische Form oder Gattung, auch Zwiegespräch oder ein Gespräch, das zw. zwei Interessengruppen geführt wird mit dem Zweck des Kennenlernens des gegenseitigen Standpunkts. Diese Bestimmung entspricht nicht einmal dem medialen Sprachgebrauch. Man spricht etwa von einem Dia-

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Ebd. S. 141–142. David Bohm: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen. Stuttgart 1998. Michael Lucas Moeller : Die Wahrheit beginnt zu zweit. Hamburg 2010. Karl-Martin Dietz: Dialog. Die Kunst der Zusammenarbeit. Heidelberg 2014. Martina Hartemeyer/Johannes F. Hartkemeyer/L Freeman Dhority : Miteinander Denken. Das Geheimnis des Dialogs. Stuttgart 2005.

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log, wenn sich Vertreter kämpfender Parteien nicht um des Wissens willen zusammensetzen, sondern um weiteres Töten zu verhindern. Wenn Definitionen nicht helfen, lohnt es sich manchmal, sich von der Sprache leiten zu lassen. Es gibt eine Bezeichnung für das Gespräch und für den Dialog, und sie sind keineswegs synonym. Gemeinsam für beide ist das Miteinandersprechen. Das Miteinandersprechen allein garantiert aber noch nicht die eigentliche Dialogizität: Nicht jedes Gespräch ist dialogisch. Manchmal erzählt man sich im Gespräch etwas oder man streitet. Es gibt das Streitgespräch aber keinen Streitdialog. Friedrich Schlegel gelang es, die eigenartige Färbung des Wortes »Gespräch« dem »Dialog« entgegenzuhalten. Im Gespräch über die Poesie führt er Redner vor, die zwar ihre Ansichten über die Poesie äußern, aber jeweils zu einem anderen Aspekt der Dichtung (Geschichte der nationalen Dichtung, Rolle des Mythos, eine Neubestimmung des Romans und Interpretation einiger Werke von Goethe). Nach den Vorträgen kommt es jeweils zu Gesprächen, in denen geringe Korrekturen vorgenommen werden um das Konzept zu vervollständigen. Es wird deutlich, dass die Freunde nicht genötigt sind, Polemik einzugehen oder, wie in einem dialektischen Verfahren, Gegenargumente zu bringen, und zwar deswegen, weil ihre Grundeinstellung, wenn nicht identisch, dann wenigstens sehr ähnlich ist. Schlegel begründet sein Verfahren in der Einleitung: Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet die Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eignen Leben das Verschiedenste suchen, einer gänzlich verachten, was der andere am Heiligsten hält […], in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden. Jede Muse sucht und findet die andere, und all Ströme der Poesie fließen zusammen in das allgemeine große Meer. Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine Liebe, so trägt auch jeder seine Poesie in sich.10

Es ist die Natur der Sache, die die Form des Gesprächs rechtfertigt. Wie im Symposion bringt sich jeder Redner selbst ins Gespräch, eröffnet eine neue Perspektive und bereichert damit das Gesamtbild. Nichts ist in diesem Bild so fraglich, dass es Einspruch erheben könnte. Die romantische ästhetische Gemeinschaft, wie sie Schlegel in seinem Text skizziert, zeigt eine Möglichkeit des Zusammendenkens der Gleichgesinnten in Sachen, deren Grundvoraussetzungen möglich, aber nicht beweisbar sind. Eine einzigartige Form des Gesprächs, an der Grenze zum Dialog im eigentlichen Sinne, sind in der Literatur zweifelsohne Selbstgespräche (Soliloquia) und Totengespräche, mit einem imaginären Gegenüber. Ihre Besonderheit beruht darauf, dass der Fragende sich nach einer Antwort von ihrer Seite oft sehnt, aber 10 Friedrich Schlegel: Ästhetische und Politische Schriften. Berlin 2014, S. 152.

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dazu verurteilt ist, bei sich selbst nach ihr zu suchen. Der Andere, an den sich der Sprechende wendet, kann über die Antwort verfügen (Gott im Werk Augustins), aber er kann auch eine erinnerte Stimme präsent sein, an der sich das Denken entzündet. Jacques Derrida demonstriert dies am eigenen Beispiel in Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten ein Gedicht, einer Laudatio an Gadamer : Schon bei unserer ersten Begegnung in Paris 1981 muß mich diese Melancholie, eine andere damals und doch dieselbe, befallen haben. Unsere Diskussion konnte wohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sondern eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentschiedenen. Und eher die Geduld einer unbestimmten Erwartung, einer Epoche, die den Atem anhält, das Urteil zurückhält und sich die Schlußfolgerung aufbehält. Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt an ihn. Und doch war ich mich sicher, daß wir von nun an auf eine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden. Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eine Vorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen »inneren Dialog« genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder indirekt.11

Die Laudatio konzentriert sich um das Gedicht ihres gemeinsamen Freundes, Paul Celan, das beide interpretiert haben; es ist zunächst ein dialogisches Gespräch zu dritt, später gesellt sich den Dreien noch Heidegger bei, mit dem alle ein Gespräch führten. Derrida arbeitet mit den Konzepten der verstorbenen Meister, denkt mit ihnen und gegen sie, nutzt ihre Andersartigkeit, um dem Gedicht immer mehr abzugewinnen. Am Ende betont er : »Um uns im Denken zu orientieren, um uns in dieser gefährlichen Aufgabe zu helfen, hätte ich zunächst daran erinnert, wie sehr wir den anderen brauchen und wie sehr wir ihn noch brauchen werden, wie sehr wir ihn noch tragen müssen und von ihm getragen werden müssen, dort, wo er in uns spricht, noch bevor wir sprechen.«12 Und seine Schriften zeugen davon, dass es keine Schönrednerei ist. Der prinzipielle Unterschied zwischen Streit, Verhandlung und Dialog liegt darin, dass die Streitenden und Verhandelnden an sich (an ihren Gewinn) denken, die Dialogpartner aber an die Sache. In einem politischen Streit geht es hauptsächlich darum, einen Konsens herauszuarbeiten, der für die beteiligten Parteien akzeptabel ist, Friedensverhandlung führt man, um den Kriegsverlusten ein Ende zu machen. Im dialektischen Dialog geht es um Wahrheit, um Wahrscheinlichkeit oder um eine theoretisch möglichst objektive Beschreibung. Wenn Aristoteles verschiedene Topoi im dialektischen Verfahren analysiert, 11 Martin Gessmann (Hg.): Jacques Derrida. Hans-Georg Gadamer. Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt am Main 2004, S. 8. 12 Ebd. S. 50.

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dann tut er es nicht allein in Überzeugung, dass das Stärkere Argument akzeptiert wird, sondern auch im Glauben an die Redlichkeit der Beteiligten und ihre Hingabe an die gemeinsame Sache. Der dialektische Dialog ist wahrscheinlich ein Idealfall und selten möglich – vielleicht in der platonischen Akademie oder in seinem Lykeion und heute in der akademischen Gemeinschaft zu erleben. Aristoteles ist nicht der erste gewesen, der die Ansicht vertrat, dass man, um einen Dialog führen zu können, entsprechend vorbereitet sein muss, d. h. es ist eine gemeinsame Basis vonnöten. Für Pythagoras bestand eine solche Basis aus Wissen und Weltanschauung, für Platon in entsprechender Bildung (in der Akademie verfuhr er dialogisch, in den Dialogen bloß sophistisch), Aristoteles genügt das logische Verfahren und die damit verbundene Fähigkeit, theoretisch zu denken. Auch dieser Anspruch ist hoch und die Dialogsituation eine exklusive: Nicht jeder kann Dialogpartner sein und nicht jedes Zwiegespräch ist ein Dialog. Es steht fest: Im Gegensatz zum Gespräch müssen die Partner nicht gleichgesinnt sein oder gleich denken, und es ist auch für die Sache besser, wenn sie es nicht sind. Im Dialog ist vor allem mit dem Widerspruch zu rechnen, denn erst der Widerspruch macht die Gefahren und Schwächen der Argumentationen klar und trägt damit zur Lösung der Frage bei (auch Gadamer und Jürgen Habermas würden dem zustimmen). Das Andersdenken ist die Bedingung sine qua non des Dialogs, sonst kann man sich nur gegenseitig in fehlerhaften Ansichten unkritisch bestätigen. Der moderne Sprachgebrauch, insbesondere die Massenmedien, machen den Begriff »Dialog« wesentlich populärer: Er ist nicht mehr die Sache der Auserwählten, sondern aller, die man – sei es konkret oder metaphorisch – als zwei Parteien oder zwei Stimmen bezeichnen kann. So sprechen wir z. B. über den Dialog der Kulturen (oder Religionen) in dem Sinne, dass sie aufeinander Bezug nehmen, einander akzeptieren und dass Vertreter verschiedener Gesellschaften lernen, miteinander umzugehen oder im besten Falle voneinander etwas zu übernehmen. Dort gibt es selbstredend keine gemeinsame Sache, die erfasst werden soll, sondern höchstens das Bedürfnis nach einem Ausgleich und nach Koexistenz. Diese metaphorische Ausdrucksweise ist so tief in unsere Welt eingedrungen, dass wir sie für die eigentliche Rede halten und dementsprechend abenteuerliche Schlüsse daraus ziehen. Typisch für den modernen Sprachgebrauch ist das Programmblatt der Konferenz »Die Erfahrung des Anderen«, die vom 23. bis 25. Februar 2015 in Berlin stattgefunden hat. Die Veranstalter bestimmen ihr Thema folgendermaßen: »Der dialektische Charakter des Dialogs ist im Grunde die Legitimation des politischen Lebens, so der Kommunikationsphilosoph Villem Flusser. Doch dem Dialog in der Außenpolitik und sogar in der Kultur scheinen Grenzen gesetzt zu sein. Immer wieder erweist sich der Umgang mit unterschiedlichen Werten als

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Kamilla Najdek

Herausforderung.« Ich will mich hier mit nicht Flusser auseinandersetzen, der bekanntlich Begriffe nicht schwer genommen hatte, obwohl der sich aus der Antike herleitende Begriff »dialektischer Dialog« zweifelhaft vorkommt. Die Politik gehört wohl nicht in den Bereich der theor&a, schon eher in den der techn8 oder schlicht der Praxis und erfordert entsprechend andere Mittel um ihre Probleme zu lösen. Die Absicht seines Satzes ist allerdings klar und überzeugend: Es gibt kein politisches Leben ohne Verhandlungen mit allen Interessengruppen und ohne auf Argumente der Gegenpartei einzugehen. Wo das Gespräch aufhört, beginnt die Tyrannei. Interessant in diesem Kontext sind die zwei weiteren Sätze in dem Programmblatt, die nicht von Flusser stammen. Der erste drückt ein Unbehagen (eine Beunruhigung?) aus, indem er das Vorhandensein von Grenzen des Dialogs verunsichert feststellt: Es scheinen Grenzen gesetzt zu sein. Begrenzt ist der Dialog aufgrund unterschiedlicher Werte, die die Konferenzveranstalter als Herausforderung bestimmen. Böswillig ausgelegt würde es heißen, dass man alle Grenzen um des unbeschränkten Dialogs willen zu öffnen hat, hilfreich wäre auch, allzu große Unterschiede zu schlichten. Natürlich geht es den Konferenzveranstaltern primär um eine Verständigungsbasis, mir scheint aber ihre Wortwahl für unsere Zeit symptomatisch: Wir akzeptieren nicht mehr die Exceptionalität des Dialogs und nehmen an, er solle und müsse immer verfügbar sein und in der Form geführt werden, wie sie das Abendland entwickelt hatte; wir lassen andere Werte nicht für andere Kulturen gelten, sondern verstehen sie als Herausforderung – wozu aber? Um sie auszugleichen?, zu überwinden?, sie in unser abendländisches Denksystem zu integrieren? Wir haben uns daran gewöhnt, den aus der französischen Existenz- und Dialogphilosophie stammenden Begriff des Anderen in der Umgangssprache zu benutzen, ohne zu fragen, im welchem Sinne er jeweils gebraucht wird und wundern uns nicht mehr, dass »der Andere«, der in der Philosophie die eigentliche ethische Instanz versinnbildlicht, zu einem allgemein verstandenen rätselhaften Fremden degradiert wurde, zu einem Nicht-Ich, dessen Reaktionen beunruhigend, weil nicht voraussehbar sind. Die Verallgemeinerung oder, wenn man Nietzsche folgen will, das begriffliche Abstrahieren, schafft immer eine Distanz. Sie entfernt das Objekt, sodass es seine Eigenartigkeit, das Konkrete, verliert und sich dem Betrachter neutral darstellt. Die Situation wird paradox: Wir sprechen von Annäherung und entfernen zugleich den Gegenstand. Im politischen und kulturellen Diskurs ist es gefährlich: Wir stehen doch nicht dem Anderen sondern einem Japaner, einem Chinesen oder einem Araber gegenüber, Menschen, die in ihrer Kultur aufgewachsen sind und ihre Sprache sprechen. Unser Dialogverlangen ist offensichtlich eurozentrisch, wir fragen nicht, welche Form der Begegnung andere Kulturen bevorzugen würden. Vielleicht wäre es sinnvoller, sich mit den unbequem unterschiedlichen Werten abzufinden, in Fällen von politischen und

Dialog und Gespräch – kritisch gesehen

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ökonomischen Interessenkonflikten zu verhandeln und wo es keine Konflikte gibt, voneinander zu lernen. Warum wollen wir unbedingt alle Welt dialogisieren? Eine mögliche Lösung wäre, dass wir mit dem Bewusstsein des Nichtgleichen nicht mehr umgehen können, genauso wie wir es verlernt haben, wie Peter Sloterdijk überzeugend in Zorn und Zeit zeigte,13 mit dem Zorn umzugehen. Eine andere Antwort wäre, dass andere Kulturen als reale Bedrohung empfunden werden, weil wir uns selbst nicht mehr als eine Einheit begreifen, anders ausgedrückt: Je weniger wir mit uns selbst eins sind, desto problematischer sind uns alle Anderen. In beiden Fällen wäre der Aufruf zum Dialog nichts anderes als eine Beschwörungsformel, die unsere Ohnmacht verdeckt.

Bibliografie Bohm, David: Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen. Stuttgart 1998. Dietz, Karl-Martin: Dialog. Die Kunst der Zusammenarbeit. Heidelberg 2014. Gessmann, Martin (Hg.): Jacques Derrida. Hans-Georg Gadamer. Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt am Main 2004. Hartkemeyer, Martina/Johannes F. Hartkemeyer/L Freeman Dhority : Miteinander Denken. Das Geheimns des Dialogs. Stuttgart 2005. Horace Engdahl, Horace: »Monologizität und Dialogizität – eine Dichotomie am Beispiel der schwedischen Romantik«, in: Renate Lachmann (Hg.) Dialogizität. München 1982, S. 141–154. Jauß, Hans Robert: »Zum Problem dialogischen Verstehens«, in: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München 1982, S. 11–24. Moeller, Michael Lucas: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Hamburg 2010. Schlegel, Friedrich: Ästhetische und Politische Schriften. Berlin 2014. Sloterdijk, Peter : Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt am Main 2006.

13 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt am Main 2006.

II. Dialogische Aspekte in früheren Epochen Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch… (Friedrich Hölderlin, Friedensfeier)

Joanna Godlewicz-Adamiec

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

Einführung Auch wenn zu den gängigen Klischees die Ansicht gehört, erst die Renaissance sei das »dialogische Zeitalter« gewesen, das die europäische Kultur von der Monologizität des Mittelalters erlöst habe,1 spielt ein Austausch der Gedanken in Form des Wechsels der Rede und Gegenrede in vielen literarischen Werken, zu den die Tagelieder gezählt werden können, eine prägnante oder sogar konstitutive Rolle. Aus der literaturtheoretischen Perspektive lässt sich der Dialog als literarisches Gestaltungsprinzip und eine Gattung literarischer Texte definieren, während das Gespräch einen mündlichen Kommunikationsvorgang und seine schriftliche Fixierung bezeichnet.2 Mittelalterliche Tagelieder, wie Sl.fest du, vriedel ziere von Dietmar von Aist, OwÞ, sol aber mir iemer mÞ von Heinrich von Morungen, Den morgenblic b% wahtaers sange erkis, Ez ist nu tac, S%ne kl.wen, Von der zinnen und Der helnden minne von Wolfram von Eschenbach, beweisen jedenfalls, dass literarische Dialoge und Gespräche zum Repertoire der Literatur auch in »undialogischer Zeit« des Mittelalters gehörten.

Das Tagelied als ein fiktiver Dialog Im Mittelalter waren die Voraussetzungen für eine eigentliche Dialogkultur3 ungünstig. Wenn man das Mittelalter mit anderen Zeitperioden, wie Griechenland im 5.–4. Jahrhundert v. u. Z., Rom in der Zeit Ciceros, die italienische Renaissance oder das französische 18. Jahrhundert, vergleicht, lässt sich be1 Peter von Moos: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter, hg. v. Gert Melville, Bd. 2. Berlin 2006, S. 3. 2 Roger Friedlein: Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologetische Strategie. Tübingen 2004, S. 18. 3 Mehr zu diesem Thema u. a. in: Nikolaus Henkel et al. (Hg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Tübingen 2003.

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haupten, dass ein echtes Diskussion-Paradigma der Wahrheitsfindung im Mittelalter fehlte. In der Antike gehörte der literarische Dialog zu den zentralen Gattungen der Philosophie und des theoretischen Diskurses im Allgemeinen4 und die Form des Dialogs, der als prosaisch oder metrisch geformter Wechsel der Rede und Gegenrede zweier oder mehrerer Personen zu verstehen ist, ist seit der griechischen Antike ein fester Bestandteil im Repertoire der literarischen Formen.5 Im Mittelalter stand dagegen – wie Peter Moor bemerkt – das Gespräch als Literatur- und Denkform nicht im Zentrum,6 jedoch wurden vom frühen Mittelalter an verschiedene Texte – die meisten Schulbücher, unzählige Traktate, Lehr- und Streitschriften über Fragen der Wissenschaft und des Glaubens dialogisch abgefasst. Die Dialogform konnte für alle literarischen Gattungen – von der persönlichen Meditation bis zum autobiographischen Bekenntnis zum Heiligenleben – verwendet werden.7 In der christlichen Antike, aber auch im Mittelalter, wurde die Form des Dialogs konstitutiv für die Vielzahl von Texten aus dem Bereich der Theologie, der Philosophie, der Hagiographie oder auch der religiös-moralischen Betrachtungen.8 Bemerkenswert ist dabei, dass zur Konversationskultur der Antike und des Mittelalters kaum wissenschaftliche Arbeiten vorliegen, während die Dialogkultur der Gegenwart in den Fokus interdisziplinärer Forschung geraten ist. Die Gattung des Tageliedes,9 deren Hauptmotiv seit langem in vielen Ländern und Kulturen bekannt war, hat sich als höfisches Lied10 mit den Gestalten eines Ritters und einer Dame in der Szenerie des Schlossgemachs, das die sich Liebenden vor den Augen der Aufseher und Neider schützt, im 12. Jahrhundert als alba (vom weißen Tag) herauskristallisiert.11 Auch wenn keine aus der Zeit des Mittelalters stammenden Definitionen der Gattungen tageliet/tagewise existieren, scheint es doch möglich zu sein, aus der heutigen Perspektive eine Definition der Gattung zu bilden, weil diese Bezeichnung eigentlich nur für solche Lieder benutzt wird, die einen konkreten Inhalt auf eine besondere Art und 4 Sabine Föllinger/Gernot Michael Müller : »Einleitung«, in: dies.: Der Dialog in der Antike, Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischen Philosophie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung. Berlin/Boston 2013, S. 1–19, hier S. 1. 5 Markus Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts. Berlin 2005, S. 248. 6 Peter von Moos: Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte Studien zum Mittelalter, hg. v. Gert Melville, Bd. 3. Berlin 2007, S. 244. 7 Moos 2006, S. 3. 8 Schürer 2005, S. 248. 9 Mehr dazu u. a. Helene Voth: Die Motivik des mittelhochdeutschen Tageliedes in neuhochdeutscher Lyrik. Waterloo 2010. 10 Mehr dazu u. a. Carl von Kraus (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 1. Tübingen 1978. 11 Vgl. Andrzej Lam: »Przedmowa«, in: Wolfram von Eschenbach: Pies´ni, Parsifal, Titurel. Warszawa 1996, S. 11.

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

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Weise darstellen. Die Tagelieder stellen nämlich die Kommunikationssituation zwischen den Figuren mit unterschiedlicher Aufteilung der Akzente und verschiedenen Betrachtungsweisen dar. Der stereotype Erzählinhalt der Tagelieder entspricht jedenfalls nicht dem damaligen Alltag, bildet also keine direkte Wirklichkeit ab.12 Roger Friedlein bemerkt, dass in älteren Untersuchungen zum Dialog häufig die Suche nach der »Echtheit« als Qualitätsmerkmal des Dialogs im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Zunächst kann damit die Wahrheitstreue bei der Verschriftlichung eines vorgängigen mündlichen Gesprächs gemeint sein.13 Der Dialog als Gattungssorte steht nämlich im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und simuliert im schriftlichen Medium eine mündliche Kommunikationssituation.14 Das Tagelied ist eher als eine Illusionsdichtung aufzufassen, die den fiktiven Abschied eines Ritters von der geliebten Dame mit der dazugehörigen Kommunikationssituation am frühen Morgen schildert,15 obwohl am Beispiel von Wolframs Lied S%ne kl.wen festgestellt werden kann, dass die Dame eine solche Polemik auch mit dem Diener führen konnte.16

Das Personal der Tagelieder Das Personal der Tagelieder scheint mehr oder weniger konstant zu sein, auch wenn einige Abweichungen vom traditionellen Schema zu beobachten sind und die Varianten der Tagelieder bei verschiedenen Minnedichtern bestimmte Unterschiede aufweisen. Sogar bei demselben Dichter sind die Details der Kommunikationssituation anders.

a.

Das männliche und das weibliche lyrische Ich in der Tagelyrik

Das erste mittelhochdeutsche Tagelied ist – wahrscheinlich – ein Lied von Dietmar von Aist, das ungefähr aus dem Jahr 1170 überliefert ist.17 Als älteste Spur dieser Gattung in der deutschen Literatur gilt Dietmars Sl.fest du, friedel 12 Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begründet v. Paul Merker/Wolfgang Stammler, Bd. 4, hg. v. Klaus Kanzog/Achim Masser, Redaktion Dorothea Kanzog. Berlin/New York 1980, S. 345, 347. 13 Friedlein 2004, S. 14. 14 Ebd., S. 15. 15 Bertelsmann Lexikon 15, Bd. 14, 1984, S. 112; Bertelsmann Universal Lexikon, 1990, S. 884. 16 Peter Wapnewski: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition. Kommentar. Interpretation. München 1972, S. 107. 17 Bertelsmann: Bd. 14, S. 112; Peter Wapnewski: Deutsche Literatur des Mittelalters. Ein Abriß von den Anfängen bis zum Ende der Blütezeit. Göttingen 1960, S. 82.

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ziere?,18 das von einer Liebesgeschichte erzählt, die sich am Morgen abspielt. Die Liebenden werden von einem Vogel geweckt und führen ein Gespräch über die Notwendigkeit der Trennung. Das Lied fängt mit der Frage des weiblichen lyrischen Ichs an: »Sl.fest du, friedel ziere? / man wecket uns leider schiere; / ein vogell%n, si wol get.n / daz ist der linden an daz zw% geg.n.«19 Der Vogel wird wie der Wächter in den Wächterliedern, zum Beispiel bei Wolfram von Eschenbach, zum »Hüter und Warner der Liebenden«.20 Im Lied Dietmars handelt es sich formal um einen Tageliedwechsel, der sich dadurch auszeichnet, dass sich zwei lyrische Ichs abwechselnd zur gemeinsam verbrachten Liebesnacht, die durch das Morgengrauen ihr Ende finden muss, das heißt zur typischen Tageliedsituation, äußern. Die zweite Strophe bringt die Antwort eines männlichen lyrischen Ichs: »Ich was vil sanfte entsl.fen, / nu rüefest0, kint: ›w.fen!‹ / liep .ne l8it m#c niht s%n. / Swaz d0 gebiutest, daz leiste ich, m%n friund%n.«21 Der Mann bringt den Leid-Aspekt ins Gespräch und benutzt in seiner Äußerung die Bezeichnung »m%n vriund%n«, was auf die Intensität der Verbindung mit seiner Geliebten deutet. Die Tatsache, dass die Frau als »vrouwe« bezeichnet wird, passt zum Konzept der Hohen Minne. Andererseits bleibt diese Bezeichnung im Gegensatz zu der vom männlichen Ich ebenfalls benutzten Bezeichnung »kint«, was darauf hinweisen kann, dass im Lied zwischen unterschiedlichen Weiblichkeitsvorstellungen geschwankt wird. Die Worte des männlichen Ichs werden von den Aussagen des weiblichen Ichs in der ersten und dritten Strophe umschlossen. Der erste Vers der letzten Strophe ist weder eine Äußerung der Frau noch des Mannes, er bildet eine Art Erzählereinschub: »Diu frouwe begunde weinen.«22 Das Lied kann als ein »Lied in Gesprächsform« bezeichnet werden.23 In der deutschen Literatur des Mittelalters folgen dem Lied von Dietmar von Aist Lieder von Heinrich von Morungen und Wolfram von Eschenbach.24 OwÞ, sol aber mir iemer mÞ von Heinrich von Morungen lässt sich als Tageliedwechsel bezeichnen, da die Aussagen des weiblichen und des männlichen Ichs in wechselhafter Reihenfolge zum Ausdruck kommen. Jede der vier Strophen beginnt mit dem Wort »OwÞ«.25 Die Wechselstrophen des Mannes und der Frau umarmen sich im Tagelied Heinrichs von Morungen in liebender Klage, der Gleichklang des Empfindens ist in der Parallelität des Eingangsverses verdeutlicht.26 18 Vgl. Lam 1996, S. 11. 19 Dietmar von Aist: »Sl.fest du, friedel ziere?«, in: Helmut Brackert (Hg.): Minnesang. Mittelhochdeutsche Texte und Übertragungen. Frankfurt am Main 1983, S. 30. 20 Günther Schweikle: Minnesang. 2. korrigierte Aufl. Stuttgart 1995, S. 136. 21 Dietmar von Aist: »Sl.fest…«, S. 30. 22 Ebd. 23 Schweikle 1995, S. 131. 24 Bertelsmann: Bd. 14, S. 112. 25 Heinrich von Morungen: »OwÞ, sol aber mir iemer mÞ«, in: Brackert 1983, S. 98. 26 Wapnewski 1960, S. 87.

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Ein männliches lyrisches Ich spricht in der ersten und dritten Strophe, während die zweite und vierte Strophe einem weiblichen lyrischen Ich zugeordnet werden können. Da die Liebenden sich an keiner Stelle direkt ansprechen, kann davon ausgegangen werden, dass sie während des Sprechens räumlich getrennt sind und sich an die andere Person eher zurückerinnern.27 In der ersten Strophe denkt der männliche Sprecher an seine Geliebte, er erinnert sich an ihr Äußeres und beschreibt seine Gefühle. Die Schönheit der Geliebten wird mit dem Licht des Mondes verglichen: »ich w.nde, ez solde s%n des liehten m.nen sch%n«.28 Der Schein der Sonne ist mit dem Tag verbunden, der aber zur Trennung führt. Die zweite Strophe stellt die Erinnerungen der Geliebten dar und beginnt mit einer Äußerung des Bedauerns und der Sehnsucht: »OwÞ, sol aber er iemer mÞ den morgen hie betagen?«29 Die Form der Frage drückt die Unsicherheit über die Zukunft aus. Überaschenderweise beschreibt diese Frauenstrophe vielmehr die gemeinsam verbrachte Zeit, als dass sie genauer auf die Empfindungen und Gefühle eingeht. Die Frauenstrophen haben im Minnesang eine eigentümliche Stellung. Willmanns charakterisiert sie als Strophen, in denen ausnahmslos liebende Hingabe, Verlangen und Sehnsucht herrschen, im Unterschied zu dem eigentlichen Minnelied, im dem Zurückhaltung, Stolz und Härte im Benehmen der Frau dominieren. Der Unterschied zwischen den Frauenstrophen und anderen Minneliedern ist seiner Meinung nach so groß, dass sich sogar vermuten lässt, dass die Frauenstrophen tatsächlich von Frauen verfasst wurden. Willmanns bemerkt, dass sich der Gegensatz daraus erklärt, dass die Dichter – auch wenn es männliche Autoren waren – hier, wo sie Frauen sprechen lassen, sich freier bewegen durften. In den Frauenliedern bringen sie die Empfindungen zum Ausdruck, die sie in ihrem eigenen Gesang verschweigen mussten. In der Frauenstrophe stellen sie Frauen von einer Seite dar, die sie sonst nach dem Gebot der Sitte nicht zeigen durften. Dem Mann ziemte es nicht, sich eines Erfolges zu rühmen, während Frauen das tun konnten. Der gegensätzliche Inhalt der Männer- und Frauenstrophen beweist, dass in der mittelalterlichen höfischen Lyrik viel von der Konvention abhing.30 Einige Tagelieder wie OwÞ, sol aber mir iemer mÞ von Heinrich von Morungen weichen jedoch von dieser Konvention der Rollenaufteilung im Dialog ab. In der dritten Strophe des Liedes, die vom männlichen Sprecher präsentiert wird, entsteht ein Gefühl von Nähe und Innigkeit. Der Sprechende erinnert sich an die schöne Zeit, die er mit der Geliebten verbracht hat, er wendet sich aber nicht direkt an sie, sondert spricht über sie in 27 Gerdt Rohrbach: Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tageliedes. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, hg. v. Ulrich Müller/Franz Hundsnurscher/Cornelius Sommer, Nr. 462. Göppingen 1986, S. 24. 28 Heinrich von Morungen: »OwÞ…«, S. 98. 29 Ebd. 30 Wilhelm Wilmanns: Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide. Bonn 1882, S. 164.

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der dritten Person: »si kuste .ne zal in dem sl.fe mich«.31 Die vierte und letzte Strophe wird aus der Perspektive des weiblichen Ichs dargestellt. Unter den von Wolfram von Eschenbach überlieferten Werken befinden sich neben seinen bekannten Epen auch Lieder, unter denen fünf, nämlich Den morgenblic b% wahtærs sange erkis, Ez ist nu tac, S%ne kl.wen, Von der zinnen und Der helnden minne,32, als Tagelieder bezeichnet werden können: »Die von ihm erhaltenen Lieder sind fast alle sog. »Tagelieder«, Lieder, in denen der Abschied der Liebenden szenenhaft-lyrisch erfaßt wird«.33 Im Fall von Wolframs Den morgenblic b% wahtaers sange, das die grundlegenden Gattungsmotive der Trennung bei Tagesanbruch und die mit der Trennung verbundene Trauer enthält, lässt sich schon der ersten Zeile entnehmen, dass es sich um ein Wächterlied handelt. Interessanterweise kommt weder der Wächter, noch der beteiligte Mann als lyrisches Ich zu Wort. Im Allgemeinen nimmt in Wolframs Tageliedern der Mann nur ausnahmsweise am Dialog der Figuren teil, im Lied Von der zinnen spricht jedoch auch der Ritter nach dem Aufruf des Wächters zur Trennung. Seine Aussage klingt – wie Wapnewski betont – echt männlich, weil er sein persönliches Leid in allgemeine Äußerungen kleidet und sich selber als den unglücklichsten unter allen Männern hervorhebt:34 »Noch nie hat einem Manne der Schmerz so gänzlich sein Glück zerstört.«35 Im Spätmittelalter wurde das Tagelied gelegentlich parodistisch nachgeahmt, wofür Lieder von Oswald von Wolkenstein ein Beispiel sind.36 Die Liebenden werden nach einer zusammen verbrachten Nacht dargestellt: »Die Jungfrau hat verschlafen, der junge Mann hat auch nicht besser aufgepasst. Beide riefen ›Wehe, weh!‹ über den feindlichen Tag«.37 Das Personal bleibt in den parodistischen Liedern ähnlich wie in den traditionellen, wird aber humoristisch dargestellt.

b.

Der Schützer der Liebe

Das Tagelied wird als eine Gattung im Rahmen des mittelalterlichen Minnegesangs definiert, die die Wiedergabe eines Dialogs zwischen dem Liebespaar in Form einer Ballade darstellt, wenn ein Hornsignal oder ein Vogelruf den Ta31 Heinrich von Morungen: »OwÞ…«, S. 98. 32 Das Lied »Der helnden minne« hat einen besonderen Charakter und wird manchmal als »Abschied vom Tagelied« bezeichnet. Vgl. Wapnewski 1972, S. 156. 33 Friedrich Neumann: »Einführung« in: Deutscher Minnesang (1150–1300), Nachdichtung von Kurt Erich Meurer. Stuttgart 1954, S. 12. 34 Wapnewski 1972, 136–137. 35 Wolfram von Eschenbach, III, 4–6, in: Wapnewski 1972, S. 141. 36 Bertelsmann, Bd. 14, S. 112. 37 Brackert 1983, S. 255.

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

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gesanbruch ankündet.38 Das Paar wird im Tagelied von einem Vogel oder vom Ruf eines Wächters aufgeweckt, wobei eine schmerzliche Trennung und die Klage der zurückgebliebenen Frau folgt. Das Tagelied wird von stark sinnlichen Elementen und von der Furcht geprägt, entdeckt zu werden.39 Die Rolle des Ankündigens des besagten Tagesanbruchs kann sowohl von einem »vogell%n«, wie in Sl.fest du, vriedel ziere von Dietmar von Aist, vom »wahtaers sange«, wie bei Wolfram von Eschenbach, oder auch von dessen »horn«, wie in Ich wache umb eines ritters l%p von dem Margraven von Hohenburg40 besetzt werden. Bei Oswald von Wolkenstein erscheinen interessanterweise sowohl die Person des Wächters, der zu Wort kommt, als auch Vögel, die den neuen Tag ankünden: »Die Vögel singen überall, Gelander, Lerchen, Zeisige, Drosseln, Nachtigallen, in Berg und Tal erschallt ihr Gesang.«41 Eine wesentliche Modifizierung in der Gattung des Tageliedes hat Wolfram von Eschenbach eingeführt, dadurch dass er die Gestalt des Wächters hinzugefügt hat, was auch zur Entstehung der Bezeichnung Wächterlied führte. Der Wächter verkündet den Morgenanbruch von den Zinnen und mahnt freundlich, aber entschlossen die Liebenden, dass sie sich trennen sollen.42 Das Tagelied wird dadurch auch als Wächterlied bezeichnet und als Liedform des Minnesangs definiert, die den Abschied zweier sich heimlich Liebender am Morgen schildert, dessen Nahen der eingeweihte Wächter warnend verkündet.43 Die Aussage des Wächters bedeutet auch die Beratung der Liebenden, wobei es manchmal scheint, dass sie diesen Rat nicht erwarten oder mit ihm nicht einverstanden sind, auch wenn sie sich dessen bewusst sind, dass er zu ihrem Wohl formuliert wird. Die Sprachhandlung des Rates spielt in der Kommunikation der handelnden Personen in der mittelhochdeutschen Literatur eine wichtige Rolle.44 Der Rat als kommunikative Handlung kommt vorwiegend in den asymmetrischen Situationen zum Ausdruck, in denen sich der Rangniederstehende an den Ranghochstehenden wendet. Rangniederstehende Ratgeber sind Vasallen, Ritter in Bezug auf ihre Herrscher, Souveränen, Oberlehnherrn, Fürsten, Herzoge, Baronen, Burggrafen oder Marschälle. Der Rat in der mittelhochdeutschen Li38 Literatur-Lexikon, Bd. 4, 1958, S. 2950. 39 Bertelsmann, Bd. 14, S. 112. 40 Der Markgraf von Hohenburg (Der Margraven von Hohenburg): »Ich wache umb eines ritters l%p«, in: Brackert 1983, S. 188; Blumenlese aus den Minnesingern, hg. v. Wilhelm Müller. Berlin 1816, S. 40. 41 Brackert 1983, S. 255. 42 Vgl. Lam 1996, S. 11. 43 Bertelsmann Lexikon 24, Bd. 21, S. 9569. 44 Vgl. Galina Baeva: »Rat als kommunikative Handlung im Mitteldeutschen«, in: Jjzef Wiktorowicz/Anna Just/Ireneusz Gaworski: Strukturen zur Textkonstruktion. Schriften zur diachronen Linguistik. Frankfurt am Main 2013, S. 9. Baeva nennt Kriterien zur Identifikation des Gesprächs als suggestives Raten.

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teratur ist nicht immer eine sprachliche Reaktion auf eine sprachliche Handlung eines anderen Sprechenden, z. B. einer Bitte um Rat. Dominierend sind Situationen eines initiativen Rates,45 was auch die Tagelieder exemplifizieren. Die Grenzen in den Tageliedern Wolframs werden durch bestimmte Konstanten gewiesen: durch das gattungsbedingte Personal, zu dem der Mann, die Frau und auch der Wächter gehören, und durch einen im Voraus determinierten Handlungsablauf, den der Abschied der Liebenden bildet, der vom Wächter verkündet wird. Konstant bleibt nicht nur das Personal des Liedes, sondern auch der Aufbau des Gedichtes. Wolfram von Eschenbach gewinnt die Freiheit durch eine neue Akzentuierung der Rollen, was im Dialog der Figuren sichtbar wird: In seinen Liedern S%ne kl.wen und Von der Zinnen wird der Wächter sogar zur Hauptfigur. In Den morgenblic b% wahtaers sange wird dagegen die Figur des Wächters nur zu Beginn des Liedes erwähnt und sie dient als Ankündigung des Tages, was mit dem »vogell%n« bei Dietmar von Aist vergleichbar ist. Die Liebenden treffen sich in der Nacht und am Morgen müssen sie sich, vom Wächter gewarnt, trennen. Der Wächter schützt das Liebespaar und weckt es mit seinem Morgenruf.46 Das weibliche Ich im Lied Den morgenblic b% wahtaers sange stellt seine negative Wahrnehmung des Tages der an der Liebesnacht unbeteiligten Welt gegenüber, welche den Tag positiv einschätzt, was der Tendenz entspricht, dass das Tageslicht in Tageliedern mit einer negativen Konnotation besetzt ist und im Gegensatz zum nächtlichen Leuchten des Mondes steht, das bei Heinrich von Morungen deutlich positiv bewertet wird. Die Dichotomie Licht47-Dunkelheit und Tag-Nacht spielte in der Kultur des Mittelalters eine prägnante Rolle: »Dem Mittelalter als einem bestimmten Zustand der Zivilisationsgeschichte bedeutet der Tag per se etwas Gutes: er befreit von Dunkelheit und Kälte und Angst. Die Nächte sind kalt, sie sind die Zeit des Überfalls und der Überraschung und der unverhofften Begegnung.«48 In den Tageliedern kommt es zur Umkehrung dieser Auffassung der Welt, weil der Tag mit Trauer, Angst sowie Trennung und die Nacht mit Liebe, Freude als Hoffnung verbunden sind. Die Beurteilung des Liebesverhältnisses ist nicht eindeutig: Einerseits erblüht es in der Nacht, einer Zeitperiode, die mit Geheimnis, Angst und Bösem assoziiert wurde, andererseits aber hat es Beschützer, was vermuten lässt, das sich in der Umgebung der sich heimlich Liebenden auch Befürworter der Liebe fanden. Zu vermuten ist, dass der Dichter selbst die inoffizielle Moral repräsentiert, in der dem ehr45 Vgl. ebd, S. 9. 46 Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart 1991, S. 39. 47 Auf besonderes Interesse für die Problematik des Lichtes in der mittelalterlichen religiösen und weltlichen Literatur weist u. a. Tomon´ hin. Vgl. Jolanta Tomon´ : »Symbolika s´wiatła w poezji liturgicznej polskiego ´sredniowiecza«, in: Teresa Michałowska (Hg.): Wyobraz´nia ´sredniowieczna. Warszawa 1996, S. 307. 48 Wapnewski 1972, S. 35.

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

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lichen Gefühl die höchste Bedeutung zugeschrieben wird.49 Die Verbindung der Nacht mit der Liebe und des Tages mit der Trennung weist auf die Unnatürlichkeit der Trennung hin. Die sich Liebenden sind sowohl aus der Naturharmonie, als auch aus den gesellschaftlichen Normen ausgeschlossen,50 was ihre emotionalen Reaktionen, Klagen, bitteren Äußerungen, die sie im Gespräch formulieren, erklären kann. Das weibliche Ich ist mit der Situation sichtbar nicht einverstanden51 und sehnt sich nach einer Zeit, in der die schützende Rolle des Wächters nicht notwendig wäre.52 Die Frauenklage, also das Lied einer verlassenen Frau und das Tagelied bilden verwandte lyrische Formen. Eine Ausnahme in der Gattung bildet deutlich das Lied Von der zinne, das dem Wächter gehört und Ausdruck einer spezifischen Rollenverschiebung durch den Verzicht auf die weibliche Ausdruckskraft ist. Obwohl die liebende Frau die eigentliche Protagonistin der Tagelieder Wolframs von Eschenbach ist, bleibt sie in diesem Lied stumm.53 In vielen Tageliedern Wolframs hält sich der Mann sprachlich zurück. Die Tatsache, dass sich der Ritter in den Tageliedern selten äußert, kann daraus folgen, dass der Autor das Liebespaar schützen will, indem er die Streitereien zwischen den Partnern nicht zeigt. Der Mann bleibt im Lied Den morgenblic b% wahtærs sange erkis im Hintergrund, er ist nur in der Angst der Geliebten, in ihrer Sorge, ihrem Zweifel und ihrer Liebe anwesend. Die Rolle des Ritters in den Dialogen übernimmt der Wächter, der als die Stimme der Vernunft spricht, die den Emotionen der Frau widerspricht. Auch im Lied S%ne kl.wen wird ein Dialog zwischen dem Wächter und der »vrouwe« dargestellt – eine Gegenüberstellung zwischen Vernunft und Gefühl, Liebe und Drohung, Freiheit und Konvention.54 Dank der Figur des Wächters werden Neigung und Pflicht, Privat- und Berufsleben, Leidenschaft und Korrektheit verbunden. Das Lied Der helnden minne spielt eine besondere Rolle, weil in ihm den Liebhabern nur die offizielle, also eheliche Liebe, die keinen Wächter braucht, Ruhe garantieren kann. Das Paar kann ohne Angst dem Tagesanbruch begegnen.55 In diesem Lied, das als Abschied vom Tagelied bezeichnet wird, kann der Wächter stumm bleiben, weil der Tag die Liebhaber nicht erschreckt und sie so lange zusammenbleiben können, wie sie wollen.56 Dieses Lied Wolframs bildet eine Abweichung vom Schema der Gattung und vom Schema der Kommunikationssituation.

49 50 51 52 53 54 55 56

Lam 1996, S. 11. Wapnewski 1972, S. 35–36. Ebd., S. 111. Vgl. Lam 1996, S. 12. Wapnewski 1972, S. 135. Ebd., S. 107. Ebd., S. 156. Vgl. Lam 1996, S. 12.

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Der nonverbale Ausdruck der Emotionen In der Kommunikationssituation, die einen konstituierenden Teil des Tageliedes bildet, spielen auch außerverbale Aspekte eine wichtige Rolle, zu denen vor allem das Weinen als Ausdruck der Traurigkeit über das Fortgehen des Mannes gehört. In einigen Liedern, wie bei Dietmar von Aist, Heinrich von Morungen oder Wolfram von Eschenbach wird das Weinen direkt angesprochen. In Dietmars Sl.fest du, vriedel ziere wird die Reaktion der Frau auf das vom Mann ausgesprochene Leid mit den Worten geschildert: »Die frouwe begunde weinen«57. Dabei kann hinzugefügt werden, dass Wolfram die Fähigkeit zu preisen und mitzuleiden als spezifische Kompetenz für sein Frauenlob auch in Romanform in Anspruch nimmt, da preisen und mitleiden letztlich lieben heißt.58 Die nächsten Verse in Sl.fest du, vriedel ziere werden vom weiblichen Ich gesprochen – in ihnen kommt die verzweifelte Trauer der Frau über das Fortreiten des Mannes zum Ausdruck. Das Weinen in den Tageliedern ist ausschließlich den Frauenfiguren vorbehalten. Die männlichen Sprecher äußern sich dagegen in der Klage, die als Variante oder Verstärkung des Weinens fungieren kann, was Dietmars Lied Sl.fest du, vriedel ziere exemplifiziert: »owÞ, du vüerest m%ne fröide samt dir!«59 Das Weinen der Frau wird in OwÞ, sol aber mir iemer mÞ von Heinrich von Morungen sogar durch zweimalige Erwähnung betont »trehene« und »weinen«: »di vielen hin ze tal ir trehene nider sich. Iedoch getriste ich sie, daz s% ir weinen lie«.60 Im Lied Den morgenblic b% wahtærs sange erkis Wolframs von Eschenbach muss die Frau weinen, als der Morgen den Geliebten verjagt. Sie redet unter Tränen den Tag an, beschuldigt ihn, schmäht ihn, wobei die deutschen Lieder vor Wolfram diesen ›Tageshass‹ nicht kennen, und er ist – wie Wapnewski bemerkt – eine erstaunliche Erscheinung. Die Reaktion der Frau auf den bevorstehenden Abschied scheint sehr emotional zu sein, während der Mann seiner Geliebten Trost anbietet. Die Tränen der Frau sowie deren Klageausruf »iwÞ tac!« in der ersten Strophe dienen als Ausdruck der Traurigkeit über die bevorstehende Trennung. Im Lied Den morgenblic b% wahtærs sange spricht nur die Dame, deren Worte auch ihre Gesprächspartner auf die Bühne einführen. Ihre Gesprächspartner – der Tag und der Mann – handeln zwar, bleiben aber stumm. Das Weinen der Frau als Ausdruck der Hilflosigkeit und Verzweiflung wird wiederholt erwähnt und die weibliche Figur wird als eine emotionelle Person dargestellt. Das Lied Den morgenblic b% wahtærs sange erkis stellt die Gemeinsamkeit des Leidens dar, das von der Frau doch intensiver empfunden wird. Der Morgen 57 Dietmar von Aist: »Sl.fest…«, S. 30. 58 Walther Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985, S. 173. 59 Dietmar von Aist: »Sl.fest…«, S. 30. 60 Heinrich von Morungen: »OwÞ…«, S. 98.

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

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erscheint in drei Phasen, die mit den Gefühlen der verliebten Frau im Einklang bleiben.61

Das Verschweigen In den Tageliedern spielen auch Momente des Schweigens und des Verschweigens eine prägnante Rolle. Die Notwendigkeit der Trennung bei Sonnenaufgang impliziert eine gewisse Heimlichkeit, die das Verhältnis von Mann und Frau umgibt. Es sind unterschiedliche Gründe für den verbotenen Charakter der Beziehung denkbar, von denen aber keiner in den mittelhochdeutschen Exemplaren direkt angesprochen wird. Das Personal der Tagelieder besteht normalerweise aus drei Personen: der Dame, über deren Familienstand jedoch direkt nichts gesagt wird, von der man also nie erfährt, ob sie als verheiratet zu denken ist oder nicht; ihrem Geliebten, gleichfalls ohne Angaben zum Familienstand, der oft als ›Ritter‹ bezeichnet wird und ferner einem Wächter, der teils nur als Morgenverkünder (als personifiziertes Morgenzeichen), oft aber auch als Vertrauter gekennzeichnet ist.62 In Wirklichkeit haben viele verheiratete Ritter ihr Herz einer Dame geschenkt, wobei es ohne Bedeutung war, ob sie verheiratet oder ledig waren. Bei der Wahl der Dame war eher der Gesellschaftsstand von Bedeutung und meistens wurden Frauen aus höheren Schichten gewählt.63 Andererseits ist die alte Literatur kein Spiegel einer geschichtlichen Situation in ihrer Gesamtheit, sie ist selektiv – eine gefilterte Literatur.64 Die Liebesbeziehung bleibt in vielen Tageliedern, wie in Den morgenblic b% wahtærs sange erkis, Ez ist nu tac, S%ne kl.wen, Von der zinnen heimlich und somit nicht formell, der Familienstand der Liebhaber wird verschwiegen. Die Bemühungen der Liebhaberin im Tagelied führen zu keiner Ehe, obwohl die Frau mit der Situation nicht ganz einverstanden ist und dem Wächter, besonders im Lied S%ne kl.wen65 widerspricht. Im Minnedienst wurde nicht nur definiert, wie sich der Ritter der Dame gegenüber verhalten sollte, auch die Rolle der Dame wurde festgelegt, die dem Ritter ein besonderes Wohlwollen entgegenbringen sollte,66 obwohl einige Lieder, wie Den morgenblic b% wahtærs sange erkis diese Sphäre überschreiten: »Mit 61 62 63 64 65

Wapnewski 1972, S. 34–37. Reallexikon…, S. 345. Vgl. Franciszek Kusiak: Rycerze ´sredniowiecznej Europy łacin´skiej. Warszawa 2002, S. 52–53. Wapnewski 1960, S. 21. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Pies´ni, II, 1–10. Warszawa 1996, S. 78; Wolfram von Eschenbach, II, 1–10, in: Wapnewski 1972, S. 111. 66 Kusiak 2002, S. 53.

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bestürzender Direktheit, deutlich wie kein Dichter sonst dieser Zeit, liefert Wolframs Werk Szenen aus dem Bereich der tabuisierten körperlichen Liebe.«67 Die Kommunikationssituation umfasst nicht nur verschiedene Kombinationen der Rede und Gegenrede des Personals der Tagelieder, sondern auch das Schweigen, da nicht selten die Gesprächspartner stumm bleiben, was die ganze Kommunikationssituation ändert. Im Lied Den morgenblic b% wahtærs sange erkis kommt zum Beispiel der männliche Beteiligte nicht zu Wort, als die weibliche Figur weint. Die dritte Strophe setzt mit den Aussagen des Mannes ein. Das weibliche Ich spricht im Lied Ez ist nu tac über das Leid, das der Trennung folgt, und die Sorge über die Sicherheit des Partners68. Das Lied S%ne kl.wen thematisiert das Leid der Frau,69 während die männliche Figur stumm bleibt, weil das, was der Mann dazu zu sagen hat, der Wächter zum Ausdruck bringt.70 Im Lied S%ne kl.wen wünscht sich die Frau, dass der Wächter still bleibe, um den Geliebten das längere Beisammensein zu ermöglichen: »diu solt du mir versw%gen gar! daz gebiut ich den triuwen d%n«.71 Der Wächter erklärt jedoch, dass der Geliebte fortgehen und die Liebesbeziehung ein Geheimnis bleiben muss: »nu gip im urloup, süezez w%p, l.ze in minnen her n.ch si verholn dich, daz er behalte Þre unde den l%p«.72 Allgemein gesagt schildern Wolframs Tagelieder überwiegend eher die Dialoge der Frau mit dem Wächter als die Dialoge der Liebhaber, während der Mann nur selten zu Wort kommt und sich eigentlich nur in den Liedern Ez ist nu tac73 und Von der zinnen74 äußert.

Zusammenfassung Lyrische Werke des Mittelalters, unter denen Tagelieder eine besondere Rolle spielen, haben unterschiedliche Formen und die in ihnen dargestellte Kommunikationssituation umfasst verschiedene Kombinationen der Rede und Gegenrede des Personals sowie des Schweigens. Die mittelhochdeutschen Tagelieder sind – trotz bestimmter Konstanten – durchaus unterschiedlich und die Dialogsituation wird in vielen Variationen vorgeführt.75 Die mittelhochdeutschen 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Wapnewski 1972, S. 35. Wolfram, I, 4–14, IV, 4–14, in: Wapnewski 1972, 86–87. Wapnewski 1972, S. 107; Wolfram, II, 1–10, IV, 1–10, in: Wapnewski 1972, S. 111–112. Wapnewski 1972, S. 108; Wolfram von Eschenbach, III, 1–10, in: Wapnewski 1972, S. 112. Wolfram von Eschenbach: »S%ne kl.wen«, in: Brackert 1983, S. 162. Ebd. Wolfram von Eschenbach, III, 12–14. in: Wapnewski 1972, S. 87. Wolfram, III, 4–6, in: Wapnewski 1972, S. 141. Walthers Lieder sind zum Beispiel weder lyrische Monologe noch an das abstrakte Publikum gerichtet, sondern sie leben in dem persönlichen Verkehr des Sängers mit der Gesellschaft. Vgl. Wilmanns 1882, S. 39.

Die Tagelieder des deutschen Mittelalters – Monolog, Dialog, Verschweigen

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Tagelieder exemplifizieren, dass literarische Dialoge und Gespräche zum Repertoire der Literatur des Mittelalters gehörten. Auch wenn die Voraussetzungen im Mittelalter für eine eigentliche Dialogkultur nicht günstig waren, lässt sich diese Zeitperiode nicht eindeutig nur als eine »undialogische Zeit« bezeichnen.

Bibliografie Baeva, Galina: »Rat als kommunikative Handlung im Mitteldeutschen«, in: Jjzef Wiktorowicz/Anna Just/Ireneusz Gaworski: Strukturen zur Textkonstruktion. Schriften zur diachronen Linguistik. Frankfurt am Main 2013. Blumenlese aus den Minnesingern, hg. v. Wilhelm Müller. Berlin 1816. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart 1991. Der Markgraf von Hohenburg (Der Margraven von Hohenburg): »Ich wache umb eines ritters l%p«, in: Brackert 1983. Dietmar von Aist: »Sl.fest du, friedel ziere?«, in: Helmut Brackert (Hg.): Minnesang. Mittelhochdeutsche Texte und Übertragungen. Frankfurt am Main 1983. Föllinger, Sabine/ Müller, Gernot Michael: »Einleitung«, in: dies.: Der Dialog in der Antike, Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischen Philosophie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung. Berlin/Boston 2013, S. 1–19. Friedlein, Roger : Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologetische Strategie. Tübingen 2004. Haug, Walther : Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1985. Heinrich von Morungen: »OwÞ, sol aber mir iemer mÞ«, in: Brackert (Hg.): Minnesang. Mittelhochdeutsche Texte und Übertragungen. Frankfurt am Main 1983. Henkel, Nikolaus et al. (Hg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Tübingen 2003. Kraus von, Carl (Hg.): Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. 1. Tübingen 1978. Kusiak, Franciszek: Rycerze ´sredniowiecznej Europy łacin´skiej. Warszawa 2002. Lam, Andrzej: »Przedmowa«, in: Wolfram von Eschenbach: Pies´ni, Parsifal, Titurel. Warszawa 1996. Literatur-Lexikon, Bd. 4, 1958. Moos von, Peter : Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes. Gesammelte Studien zum Mittelalter, hg. v. Gert Melville, Bd. 3. Berlin 2007. Moos, Peter von: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter, hg. v. Gert Melville, Bd. 2. Berlin 2006. Neumann, Friedrich: »Einführung« in: Deutscher Minnesang (1150–1300), Nachdichtung von Kurt Erich Meurer. Stuttgart 1954. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begründet v. Paul Merker/Wolfgang Stammler, Bd. 4, hg. v. Klaus Kanzog/Achim Masser, Redaktion Dorothea Kanzog. Berlin/New York 1980. Rohrbach, Gerdt: Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tageliedes. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, hg. v. Ulrich Müller/ Franz Hundsnurscher/Cornelius Sommer, Nr. 462. Göppingen 1986.

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Bernd Hamacher

Dialog und Dialektik – Verhandlungen um Poesie und Philosophie zwischen Goethe und Hegel

Dialektik kommt bekanntlich von dial8gesthai und bezeichnet den richtigen Umgang mit der Rede. Als Methode soll sie bei Platon (gegen die Rhetorik der Sophisten) den vernünftigen Nachvollzug der Argumentation erlauben, um zur Erkenntnis im intersubjektiven Gespräch zu führen. Hegel schreibt seine Auffassung der dialektischen Methode von Platon her, wobei die gesamte Struktur des Dialogs dem Verdikt äußerer Reflexion anheimfällt.1 Hegel steht denn auch nicht im Ruf, ein konzilianter Dialogpartner gewesen zu sein, sein System trägt vielmehr über weite Strecken die Signatur eines monumentalen Selbstgesprächs, so in der Phänomenologie des Geistes zwischen dem Phänomenologen und den Gestalten des Bewusstseins – also gewissermaßen zwischen erzählendem und erlebendem Ich –, so in der Wissenschaft der Logik als vernünftige Selbstexplikation der Wahrheit, in der Einleitung von Hegel in das Bild einer »Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist«,2 gefasst. Die Explikation der Natur und des Geistes erfolgt dann – in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften – in den beiden folgenden Systemteilen der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes. Hegels System basiert auf der Überzeugung einer Absolutheit des Logischen.3 Eine Philosophie des Dialogischen lässt sich von dieser Position her kaum entwickeln,4 wie nicht zuletzt die Philosophiegeschichte zeigt. Schon im 19. Jahrhundert wurde dem Letztbegründungsanspruch des Hegel’schen Systems ent1 Vgl. Rüdiger Bubner: »Dialog und Dialektik oder Platon und Hegel«, in: ders.: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980, S. 124–160. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5. Frankfurt am Main 1979, S. 44 (im Original kursiv). 3 Vgl. Dieter Wandschneider : »Die Absolutheit des Logischen und das Sein der Natur. Systematische Überlegungen zum absolut-idealistischen Ansatz Hegels«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), S. 331–351. 4 Vgl. aber Vittorio Hösle: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik. München 2006.

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gegengehalten, dass es sich dabei um eine petitio principii handele. Wiederum von Seiten Hegels betrachtet, macht sich dieser Einwand eines performativen Selbstwiderspruchs schuldig, da in der Argumentation die Gesetze der Logik, die bestritten werden sollen, immer schon vorausgesetzt würden. Was aber, wenn die Äußerungen des Dialogpartners auf einer anderen Ebene liegen, zum Beispiel derjenigen der Poesie? Ich möchte einen speziellen Fall von grundsätzlichem Interesse in den Blick nehmen, bei dem – landläufigem Verständnis zufolge – die Grenzen der Verständigung trotz höflichen beiderseitigen Wohlwollens rasch erreicht gewesen seien: den Dialog zwischen Hegel und Goethe.5 Von grundsätzlichem Interesse ist er deswegen, weil es dabei auch um das Verhältnis von Philosophie und Poesie geht und damit überdies Hegels berüchtigte These über ein angebliches ›Ende der Kunst‹ zur Verhandlung steht. Zu diesem Gerücht scheint alles gesagt zu sein. Längst ist klar, dass damit nicht etwa gemeint war, es könne nun keine Kunst mehr geben, sondern dass die welthistorische Bedeutsamkeit der Kunst an ihr Ende gekommen sei und die Kunst, nachdem sie ihre systematische Rolle zunächst an die Religion und hernach an die Philosophie abgegeben habe, sich nur mehr mit sich selbst beschäftige, in der Moderne also selbstreflexiv werde. Daraus sind unterschiedliche Konsequenzen gezogen worden, sowohl in der Philosophie als auch in der Kunstund Literaturwissenschaft. Hegels These spreche – so etwa die Position von Rüdiger Bubner, den ich deshalb anführe, weil er Goethe kontrastierend ins Spiel bringt – für die »Unvereinbarkeit des philosophischen und poetischen Verhältnisses zur Kunst«.6 Für Goethe erübrige sich die Philosophie durch die Poesie, während Hegel die anschauliche Seite der Kunst, die Goethe so wichtig war, ignoriert habe. Hegel zufolge gelte es, durch die Anstrengung des Begriffs den geistigen Gehalt aus einer bloß sinnlichen Anschauungsform zu befreien, um das Absolute als Geist zu sich selbst zu bringen:7 Kunst verwirklicht sich in unmittelbarer Naivität, ohne zu wissen, was sie ist. Das philosophische Wissen darüber, was Kunst genuin darstellt, argumentiert notwendig von einer höheren Stufe. Die Kunstwelt ist verlassen, sofern die theoretische Ästhetik anhebt. Die Hierarchie im inneren Zusammenhang beider beschreibt für Hegel freilich nicht allein eine systematische Funktionsverteilung. Es kommt darin auch ein historischer Prozeß zum Ausdruck.8

5 Vgl. dazu knapp, aber differenziert Birgit Sandkaulen: »Hegel, Georg Wilhelm Friedrich«, in: Bernd Witte u. a. (Hg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden, Bd. 4/1. Stuttgart/Weimar 1998, S. 468–471. 6 Rüdiger Bubner : Hegel und Goethe. Heidelberg 1978, S. 9. 7 Vgl. ebd., S. 14. 8 Ebd., S. 16.

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Die Naturbezogenheit der Goethe’schen Kunstauffassung markiere die entscheidende Differenz zu Hegels Kunstverständnis.9 Am zweiten Teil des Faust scheiterten dann, Bubner zufolge, »solche philosophierenden Deutungen, die auf der Bühne nur anschauliche Verkörperungen von gedanklichen Verhältnissen suchen«.10 Die Hegel-Schule habe konsequenterweise kein Verständnis für Faust II entwickelt. Es rühre daher »Fragen nach der Legitimität des Kategorienapparats philosophischer Ästhetik auf, wenn sich ein Dokument post-romantischer Kunst vom Range des Faust II nur unter die zukunftlosen Spielereien am Rande einer abgeschiedenen Epoche verbuchen läßt«.11 Bubner hat natürlich genau gesehen, dass Hegels Diagnose und Prognose einer post-romantischen Kunst für die Moderne und speziell die Avantgarde produktiv war, doch er verbuchte dies negativ als Ästhetisierung der Lebenswelt, das heißt als Vermischung der Grenze von Kunst und Alltag – also als Erzeugung einer schlechten Endlichkeit im Sinne Hegels.12 Positiv gewendet wurde diese These durch Arthur C. Danto, der die »philosophische Entmündigung der Kunst«13 anhand der ›Ready-mades‹ oder ›Objets trouv8s‹ affirmierte, die erst durch Philosophie, durch einen deutenden Kommentar, zur Kunst würden und auf diese philosophische Deutung angewiesen seien. Im einen wie im anderen Falle wird Hegel dabei ein klassizistischer Kunstgeschmack unterstellt, ein ästhetisches Vorurteil, das seine inhaltlichen Bestimmungen in der Ästhetik obsolet mache. Die Hegel-Philologie hat mittlerweile erwiesen, dass sich der Klassizismus der Hegel’schen Vorlesungen über die Ästhetik maßgeblich der Redaktion Heinrich Gustav Hothos verdankte und die scharfen kunstrichterlichen Urteile in den überlieferten Notizen und Vorlesungsnachschriften selbst nicht in gleicher Weise enthalten sind.14 Unabhängig von diesem philologischen Argument hat Eva Geulen darauf hingewiesen, dass es sich bei der Rede vom Ende der Kunst nicht zuletzt um einen »Gründungsmythos der Kunst« handele:15 »Am Ende des Endes der Kunst steht kein Ende, sondern ein anderer Anfang: die Entdeckung des Endes der Kunst als ein Diskurs der Moderne.«16 Alle denkbaren und dann in der Wirkungsgeschichte auch ausformulierten Lesarten dieses Endes seien in den Hegel’schen Bestimmungen bereits enthalten. 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 44. Ebd., S. 50. Vgl. Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main 1989, S. 121–156. Vgl. Arthur C. Danto: Die philosophische Entmündigung der Kunst. München 1993. Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt am Main 2002, S. 10. 16 Ebd., S. 29.

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Grund genug also, noch einmal zu Hegel zurückzugehen, und zwar möchte ich zunächst an seinem klassischen Kunstbegriff ansetzen, um danach den Dialog mit Goethe wieder in Gang zu bringen. Die prägnanteste Formulierung findet sich in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, die den Vorlesungen, und also auch denjenigen zur Ästhetik, als Kompendium zugrunde lag. In § 560 heißt es: Das Subjekt ist das Formelle der Tätigkeit und das Kunstwerk nur dann Ausdruck des Gottes, wenn kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin, sondern der Gehalt des inwohnenden Geistes sich ohne Beimischung und von deren Zufälligkeit unbefleckt empfangen und herausgeboren hat. Aber indem die Freiheit nur bis zum Denken fortgeht, ist die mit diesem inwohnenden Gehalte erfüllte Tätigkeit, die Begeisterung des Künstlers, wie eine ihm fremde Gewalt als ein unfreies Pathos; das Produzieren hat an ihm selbst die Form natürlicher Unmittelbarkeit, kommt dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu – und ist zugleich ein mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten beschäftigtes Arbeiten. Das Kunstwerk ist daher ebensosehr ein Werk der freien Willkür und der Künstler der Meister des Gottes.17

Damit ist die klassische Kunstform beschrieben, die sich auf der Seite des Künstlers durch die Vereinigung der antiken Topoi des poeta vates und des poeta doctus auszeichnet. Kunst entsteht einerseits durch göttliche Inspiration, andererseits durch gelehrtes Handwerk, und im vollkommenen Künstler vereinigt sich dieser doppelte Ursprung der Kunst. Dies ist die Einheit im Subjekt. Im Objekt, im Kunstwerk, besteht die Einheit im idealen Zusammenfallen von Gehalt und Gestalt, Inhalt und Form: Der Inhalt ist durch Gott, die Form durch das Handwerk bedingt. Beide Einheiten treten am Ende der nach-klassischen, der romantischen Kunstform wieder auseinander, was dann in den Vorlesungen ausgeführt wird. Die »Genieperiode« – herbeigeführt durch »Goethes erste poetische Produkte« – habe den handwerklichen Aspekt als geistigen negiert und die Begeisterung rein subjektiv, also selbsterzeugt, verstanden, »wobei denn auch des guten Dienstes der Champagnerflasche nicht vergessen ward«.18 Dem Ich des Künstlers erscheine daher aller Gehalt des Bewusstseins als selbsterzeugter Schein. »Und nun erfaßt sich diese Virtuosität eines ironisch-künstlerischen Lebens als eine göttliche Genialität, für welche alles und jedes nur ein wesenloses Geschöpf ist, an das der freie Schöpfer, der von allem sich los und ledig weiß, sich nicht bindet, indem er dasselbe vernichten wie schaffen kann.«19 Als Beispiel führt Hegel die Ironie Friedrich Schlegels an, für ihn ein weiterer Beleg für einen falschen Geniebegriff, der nicht mehr der romantischen Kunstform angehöre, sondern deren Ende markiere – und damit bereits jenseits der 17 Hegel: Werke, Bd. 10, S. 369 (Hervorhebungen hier und im Folgenden stets im Original). 18 Hegel: Werke, Bd. 13, S. 46. 19 Ebd., S. 95.

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Kunst liege, einer Kunst, die »die Einheit von Bedeutung und Gestalt und ebenso die Einheit der Subjektivität des Künstlers mit seinem Gehalt und Werk zu ihrer Grundlage« habe.20 Im Abschnitt über das »Ende der romantischen Kunstform« wandelt sich die Bewertung indes unversehens: Gegenüber der Zeit nun, in welcher der Künstler durch seine Nationalität und Zeit, seiner Substanz nach, innerhalb einer bestimmten Weltanschauung und deren Gehalt und Darstellungsformen steht, finden wir einen schlechthin entgegengesetzten Standpunkt, welcher in seiner vollständigen Ausbildung erst in der neuesten Zeit von Wichtigkeit ist. In unseren Tagen hat sich fast bei allen Völkern die Bildung der Reflexion, die Kritik und bei uns Deutschen die Freiheit des Gedankens auch der Künstler bemächtigt und sie in betreff auf den Stoff und die Gestalt ihrer Produktionen, nachdem auch die notwendigen besonderen Stadien der romantischen Kunstform durchlaufen sind, sozusagen zu einer tabula rasa gemacht. Das Gebundensein an einen besonderen Gehalt und eine nur für diesen Stoff passende Art der Darstellung ist für den heutigen Künstler etwas Vergangenes und die Kunst dadurch ein freies Instrument geworden, das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann. […] Deshalb verhält sich der Künstler zu seinem Inhalt im ganzen gleichsam als Dramatiker, der andere, fremde Personen aufstellt und exponiert.21

Aufgrund des Verdikts gegen die romantische Ironie Schlegels hat man diesen Passus fast immer negativ gelesen – dabei wird die Kunst nach dem Ende der romantischen Kunstform für Hegel nicht etwa belanglos und zur Beliebigkeit degeneriert, sondern wird nun erst frei, nachdem sich das »Talent und Genie« des Künstlers »von der früheren Beschränkung auf eine bestimmte Kunstform befreit hat«:22 In diesem Hinausgehen […] der Kunst über sich selbst ist sie ebensosehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen. […] Es ist dies ein Gehalt, der nicht an und für sich künstlerisch bestimmt bleibt, sondern die Bestimmtheit des Inhalts und des Ausgestaltens der willkürlichen Erfindung überläßt, doch kein Interesse ausschließt, da die Kunst nicht mehr das nur darzustellen braucht, was auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat. […] Das Erscheinen und Wirken des unvergänglich Menschlichen in seiner vielseitigsten Bedeutung und un-

20 Hegel: Werke, Bd. 14, S. 231. 21 Ebd., S. 234–235. 22 Ebd., S. 236.

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endlichen Herumbildung ist es, was in diesem Gefäß menschlicher Situationen und Empfindungen den absoluten Gehalt unserer Kunst jetzt ausmachen kann.23

Weit entfernt davon, welthistorisch abzudanken und, wie es zunächst den Anschein hat, nur noch schlechte Endlichkeit zu erzeugen, wird mithin die Kunst – und der Künstler – nach deren vermeintlichem Ende erst frei und findet zu sich selbst. Diese Emanzipation vollzieht sich im Rücken von Hegels Argumentation vor allem von der geoffenbarten Religion, von der die Kunst nach dem System in der Stufenfolge des absoluten Geistes doch abgelöst werden sollte. Damit ist auch das Genie von der Angewiesenheit auf göttliche Inspiration befreit. Kunst und Religion treten also auseinander. Was aber ist mit der Philosophie? Und wie geht die Geschichte der Kunst weiter? Philosophie der Geschichte und Philosophie der Kunst laufen bei Hegel darin parallel, dass beide im System abgeschlossen, also beendet sein sollen, der Philosoph sich aber gleichzeitig zu ihrem davon unbeeindruckten Fortlaufen verhalten muss. Wie also verhält sich nun die Philosophie zur Kunst, nachdem sich gezeigt hat, dass erst die Kunst nach dem Ende der romantischen Kunstform die wahre und freie ist? Ein solches Urteil als Prognose kann die Philosophie eigentlich gar nicht aussprechen, da sie dazu immer schon zu spät kommt. Wie Hegel am Ende der »Vorrede« zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt, erscheint die Philosophie [a]ls der Gedanke der Welt […] erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.24

So gesehen, musste Hegel die Kunst notwendigerweise für beendet erklären, um seine Philosophie der Kunst schreiben zu können, in der er dann aber seiner systematischen Prämisse zuwiderhandelt. Wie konnte es dazu kommen? Das Vorwort zur Rechtsphilosophie hat Hegel auf den 25. Juni 1820 datiert. Nach meiner These war es die erneute Auseinandersetzung mit Goethes Farbenlehre, die Hegel dazu brachte, seine Metapher vom »Grau in Grau« in buchstäblich anderem Licht zu sehen. Am 24. Februar 1821 schrieb er einen Brief an Goethe, in dem er Goethes Begriff des ›Urphänomens‹ mit seinem eigenen Begriff des Absoluten analogisierte: Das Einfache und Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphänomen nennen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die konkreten Erscheinungen auf als entstehend durch das Hinzukommen weiterer Einwirkungskreise und Umstände und regieren den ganzen Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen zu den zusammen23 Ebd., S. 237–239. 24 Hegel: Werke, Bd. 7, S. 28.

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gesetztern fortschreitet und so rangiert, das Verwickelte nun durch diese Dekomposition in seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien, – es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde.25

Es scheint zunächst so, als ›regiere‹ und ›rangiere‹ hier Hegel die Begrifflichkeit Goethes, um sie seinem System kompatibel zu machen und ihm die eigene Abstraktion unterzuschieben. Doch dann wendet sich das Blatt: Darf ich E. E. aber nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen hat, daß wir nämlich ein solches Präparat […] geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden können! – Haben wir nämlich endlich unser zunächst austernhaftes, graues oder ganz schwarzes – wie Sie wollen – Absolutes doch gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es desselben begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vollends an das Licht des Tages herauszuführen. Unsere Schemen würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die bunte verworrene Gesellschaft der widerhältigen Welt versetzen wollten. Hier kommen uns nun E. E. Urphänomene vortrefflich zustatten. In diesem Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtlich oder greiflich durch seine Sinnlichkeit, begrüßen sich die beiden Welten – unser Abstruses und das erscheinende Dasein – einander.26

Das Absolute, die philosophische Theorie, ist bei Hegel grau, sogar grau in grau, aber ursprünglich gerade nicht schwarz – die Schwärze hatte er Schelling zugeschrieben, gegen den die polemische Bemerkung in der »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes von der »Nacht, worin […] alle Kühe schwarz sind«27, gemünzt war. Dass Hegel nun sogar die Schwärze des Absoluten gegenüber Goethe anheimstellt, ist vielleicht mehr als nur ein rhetorisches Zugeständnis an den Adressaten: Das Schwarz des Absoluten bedarf des Lichts der Poesie, um erscheinen zu können. Im Grau wiederum können sich Philosophie und Poesie begegnen. Nach Goethes Farbenlehre ist Grau nicht nur die Mischung von Schwarz und Weiß, sondern die Mischung aller Farben. Dabei zeigt sich eine Kippfigur als Variante von Goethes Polaritätsdenken: Grau erscheint einerseits als das Ende der Farben, die im Grauen und Trüben verschwinden. Gleichwohl ist für Goethe andererseits gerade diese graue Trübe, zum Beispiel in der Morgendämmerung, die Voraussetzung für die Farbentstehung, sodass aus dem trüben Medium jede einzelne Farbe beim Durchgang des weißen Lichtes erzeugt werden kann. Die Farben verschwinden bei der Mischung im Grau, können aber auch aus dem Grau heraus – und nur auf diese Weise! – neu entstehen. Einerseits 25 Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Bd. 2. Hamburg 1961, S. 249. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke, II. Abt., Bd. 5.1. Weimar 1887–1919, S. 373. 26 Hoffmeister, Bd. 2, S. 250. Vgl. Goethe: Werke, II. Abt., Bd. 5.1, S. 374. 27 Hegel: Werke, Bd. 3, S. 22.

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sind die Farben das Primäre, und das Grau ist nur die sekundäre Mischung, andererseits ist das Grau das Primäre, aus dem die Farben erst erzeugt werden.28 Hegels Brief an Goethe mit der These einer Komplementarität seines grauen, abstrakten Absoluten und des bunten, sinnlichen Urphänomens des Adressaten war folgenreich. Goethe druckte ihn gekürzt und redigiert (sowie auf den 20. Februar datiert) unter der Überschrift »Neueste aufmunternde Theilnahme« in den Nachträgen zur Farbenlehre im vierten Heft des ersten Bandes seiner Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt ab und schrieb überdies an mehrere Adressaten, Hegel habe seine Ansichten dergestalt penetriert, dass ihm seine eigene Arbeit »nun selbst erst recht durchsichtig geworden« sei.29 Offenbar hatten sowohl Goethe als auch Hegel das hermeneutische Glücksgefühl, sich vom anderen besser verstanden zu sehen, als sie sich selbst verstanden hatten – was die bisherige Forschung üblicherweise weder dem einen noch dem anderen zugestehen möchte. Am 24. Mai 1821 sandte Goethe an Hegel – die Episode ist bekannt – ein getrübtes Trinkglas als Beispiel für ein Urphänomen, mit der begleitenden Widmung: »Dem Absoluten empfiehlt sich schönstens zu freundlicher Aufnahme das Urphänomen.« Hegel bedankt sich erst am 2. August, dann aber voller Begeisterung. Das Abstrakte auf diese Weise sinnlich werden zu lassen, versetzt ihn geradezu in Verzückung: Vor jenem zierlichen Apparat sollten sich wenigstens die Weintrinker […] verleiten lassen, […] in das Glas zu gucken und damit auf das objektive Hervorkommen der Farbe, das sich hier in seiner ganzen freien Naivität zu sehen gibt. Auch die Phänomene der abgeleiteten Farben treten so annehmlich hervor, wenn wir dazu schreiten, das Trinkglas seine spezifischere Bestimmung mit dem verschiedenfarbigen Wein erfüllen zu lassen. So instruktiv von je ein Glas Wein gewesen, so hat es nun durch E. E. Wendung hieraus unendlich gewonnen. […] Es ist aber die Gesundheit E. E., die ich zu jedem Experiment aus dem bedeutungsvollen Becher trinke und in diesem Andenken […] Belebung schöpfe und die Bewährung meines Glaubens an die Transsubstantiation des Innern und Aeußern, des Gedankens in das Phänomen und des Phänomens in den Gedanken und den Dank gegen dessen Bewährer feire.30

Über ein Jahr später, am 15. September 1822, schreibt Hegel dann an Goethe, »daß mir das Grau beinahe ganz vergangen ist«.31 Das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Das Grau wird kulinarisch überfärbt – vom Wein, der nach 28 Vgl. dazu ausführlicher Bernd Hamacher : »Grau und Braun – ›Vorgefühl der Gegensätze des Kalten und Warmen‹. Zur Rehabilitierung der ›farblosen‹, ›schmutzigen‹ Farben bei Goethe«, in: Walter Pape (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur. Berlin/Boston 2014, S. 73–81. 29 Hoffmeister, Bd. 2, S. 475. 30 Ebd., S. 275–276. 31 Ebd., S. 342.

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Hegel der Beleg dafür ist, dass der Geist auch in der Natur herrscht, und bereits in dem ersten von mir zitierten Brief an Goethe hatte er ja das Absolute nicht nur als grau, sondern auch als »austernhaft« bezeichnet, eine sehr signifikante Metapher. Hegels Dankbarkeit gegenüber Goethe hielt jedenfalls an, wie ein Brief vom 24. April 1825 belegt: »wenn ich den Gang meiner geistigen Entwicklung übersehe, sehe ich Sie überall darein verflochten und mag mich einen Ihrer Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zur widerhaltenden Stärke von Ihnen erhalten und an Ihren Gebilden wie an Fanalen seinen Lauf zurechtgerichtet.«32 Das Anekdotische und Kulinarische führt hier unmittelbar ins Grundsätzliche. Ich möchte die These anschließen, dass das Hegel’sche Grau-in-Grau als philosophische Abschlussfigur poetisch und poetologisch zu lesen ist: Dieses Grau-in-Grau hat einerseits das Ganze in sich aufgenommen, andererseits können erst dadurch die Farben erzeugt werden, sprich: Es findet ein Umschlag in die Erscheinung statt, die Kunst beerbt die Philosophie, nachdem die Philosophie die Kunst beerbt hatte. Entgegen der Diagnose in der Vorrede zur Rechtsphilosophie lässt sich gerade aus dem Grau-in-Grau der Philosophie heraus die Gestalt des Lebens verjüngen. Die Melancholie am Ende der Zeiten ist der produktive Zustand, aus dem heraus die Kunst neu entstehen kann. Durch diesen Umschlag hat sich die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst erledigt.33 In dieser Perspektive lassen sich auch Hegels eigene literarische Inszenierungen und Schlussstrategien schärfer in den Blick nehmen. Dass die Phänomenologie des Geistes auch als Bildungs- und Entwicklungsroman – oder als Autobiographie mit erzählendem Subjekt (dem Phänomenologen) und erlebendem Subjekt (den Gestalten des Bewusstseins) – gelesen werden kann, ist nicht neu. Die Frage nach dem Status der Metaphorik sowie der gelegentlich eingestreuten literarischen Beispiele ist dabei jedoch noch keineswegs abschließend geklärt. Vor allem das Schlussbild des »absoluten Wissens« erweist sich als literarisch inszeniert. Es wurde auf den Widerspruch hingewiesen, dass die allseitige ›Versöhnung‹ als Aufhebung aller ›Entzweiungen‹ »affektiv vollkommen positiv besetzt«, demgemäß mit »topisch positiv besetzten Metaphern« beschrieben werde und dann im Bild der »Schädelstätte« – die »begriffene Ge-

32 Hoffmeister, Bd. 3, S. 83. 33 Auch von Seiten der philosophischen Forschung hat etwa Dieter Wandschneider »[m]it Hegel gegen Hegel« auf die fortdauernde Bedeutung der Kunst hingewiesen, die auch nach Hegel »eine Dimension eigener Dignität, irreduzibel auf Kultus und Theorie«, bilde (Dieter Wandschneider: »Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst – Hegel, Heidegger, Adorno«, in: ders. (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005, S. 127).

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schichte« als »Schädelstätte des absoluten Geistes«34 – doch apokalyptisch ende.35 Eine Deutung lautet, dass sich das Ende logisch nicht beschreiben lasse, wie auch eine Autobiographie nicht vom Tod ihres Erzählers berichten könne, und das epistemologische Programm der Phänomenologie daher mit »narrative[r] Gewalt«, die ein Scheitern anzeige, zu Ende gebracht werden müsse.36 Dass eine Metapher des Todes am Schluss steht, ist indes nicht (nur) gewaltsam, sondern durchaus folgerichtig. Wenn alle Entzweiungen aufgehoben und versöhnt sind, hat sich das Grau des Absoluten ergeben (für das Selbstbewusstsein herrscht sogar »Nacht«37), aus dem die Farben wieder entstehen können, sodass es (das Absolute) konsequenterweise mit einer Metapher für Tod und Auferstehung, eben der »Schädelstätte«, sowie dem ebenfalls ambivalenten »Kelch« bezeichnet wird, bei dem man trotz des leicht veränderten Schiller-Zitats – »aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit«38 – auch schon an Goethes Trinkglas denken darf. Die Metaphorik ist hier noch religiös, allerdings mit blasphemischen Konnotationen – die Darstellungsweise ist poetisch: Poesie am Ende der Philosophie. In Hegels System arbeitet sich die philosophische Reflexion aus der Poesie begrifflich heraus, um sich dann aber auch wieder darin aufzulösen oder zu entfalten. Die begriffliche Reflexion als Ästhetik wird mit der Kunst auch darum nicht endgültig fertig, weil sie die prinzipiell mehrdeutige Kunst nicht eindeutig begrifflich erfassen kann (auch wenn nicht wenige Urteile Hegels dies suggerieren), sondern interpretieren muss. Auch bei der klassischen Kunst muss Hegel interpretieren, wie sich Form und Inhalt zueinander verhalten. Eine restlose Entsprechung von Materie und Geist, Zeichen und Bedeutung ist nicht möglich. Die Begründung dafür gibt Hegel selbst für die Sprache mit dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat des Satzes in der zweiten Anmerkung zum ersten Kapitel der Wissenschaft der Logik: Was im Satz enthalten ist, werde nicht im Satz selbst ausgedrückt, sondern durch äußere Reflexion an ihm erkannt, sodass »der Satz, in Form eines Urteils, nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken«.39 Da die Urteilsform des Satzes (zum Beispiel »Sein und Nichts ist dasselbe«) für spekulative Inhalte nicht geeignet ist, muss Hegel so oft diese reine Form verlassen und metaphorisch sprechen. Die Alternative wäre, ständig die gesamte Gedankenbewegung auszuformulieren, da jede Bestimmung einseitig ist und eine folgende nach sich zieht, sodass ein unendlicher Text entstünde. 34 Hegel: Werke, Bd. 3, S. 591. 35 Stefan Börnchen: »Pyramiden im pazifischen Zwielicht. Hegels Phänomenologie des Geistes und das ›Ende der Begriffsgeschichte‹«, in: Scientia Poetica 11 (2007), S. 99. 36 Ebd., S. 100. 37 Hegel: Werke, Bd. 3, S. 590. 38 Ebd., S. 591. 39 Hegel: Werke, Bd. 5, S. 93.

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Damit man Urteilssätze nicht missversteht, muss man mit dem spekulativen Denken immer bereits vertraut sein, sie also richtig zu lesen wissen – ein klassischer logischer und hermeneutischer Zirkel, den Hegel aufgrund der Absolutheit des Logischen ausdrücklich affirmiert. Im ›Vorhof‹ des Systems, in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik, formuliert Hegel nun eine Bemerkung über die Sprache, die eine andere Konsequenz nahelegt. Anders als die Syntax nämlich sei der Wortschatz der Sprache dem spekulativen Denken unmittelbar entsprechend: Viel wichtiger [als logische Ausdrücke wie Präpositionen und Partikeln; B. H.] ist es, daß in einer Sprache die Denkbestimmungen zu Substantiven und Verben herausgestellt und so zur gegenständlichen Form gestempelt sind; die deutsche Sprache hat darin viele Vorzüge vor den anderen modernen Sprachen; sogar sind manche ihrer Wörter von der weiteren Eigenheit, verschiedene Bedeutungen nicht nur, sondern entgegengesetzte zu haben, so daß darin selbst ein spekulativer Geist der Sprache nicht zu verkennen ist; es kann dem Denken eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen und die Vereinigung Entgegengesetzter, welches Resultat der Spekulation für den Verstand aber widersinnig ist, auf naive Weise schon lexikalisch als ein Wort von den entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden. Die Philosophie bedarf daher überhaupt keiner besonderen Terminologie […].40

Hegel vertritt also ausdrücklich die Identität von Objekt- und Metasprache, was nur folgerichtig ist, da sein System ja auf die Aufhebung sämtlicher Trennungen abzielt – wobei ›Identität‹ aber dann natürlich als ›Identität von Identität und Nicht-Identität‹ zu verstehen ist, sodass sich hier schon ein Beispiel für zwei entgegengesetzte Wortbedeutungen findet. Das bedeutet aber auch, dass das spekulative Denken und Sprechen auf die Literatur verwiesen bleibt, eine Literatur, die mit Mehrdeutigkeiten nicht nur rechnet, sondern sie gezielt produziert. Das spekulative Denken geht von der naiven lexikalischen Mehrdeutigkeit aus und mündet nach der Vollendung des Systems in die reflektierte poetische Mehrdeutigkeit. Die von Hegel immer wieder beschriebene Kreisstruktur zeigt sich auch im Verhältnis von Philosophie und Poesie, bei dem es sich ebenfalls um ›Identität von Identität und Nicht-Identität‹ handelt, und die daher immer aufeinander verwiesen bleiben. Der Austausch zwischen Hegel und Goethe hat daher paradigmatische Bedeutung für den philosophisch-poetischen Dialog.

40 Ebd., S. 20–21.

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Bibliografie 1.

Quellen

Goethe, Johann Wolfgang: Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. (in 143). Weimar 1887–1919. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden (und einem Registerband), auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1969–1979. Hoffmeister, Johannes (Hg.): Briefe von und an Hegel. 4 Bde. 2., unveränderte Aufl. Hamburg 1961.

2.

Sekundärliteratur

Börnchen, Stefan: »Pyramiden im pazifischen Zwielicht. Hegels Phänomenologie des Geistes und das ›Ende der Begriffsgeschichte‹«, in: Scientia Poetica 11 (2007), S. 83–104. Bubner, Rüdiger : Hegel und Goethe. Heidelberg 1978. Bubner, Rüdiger : »Dialog und Dialektik oder Platon und Hegel«, in: ders.: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980, S. 124–160. Bubner, Rüdiger : Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M. 1989. Danto, Arthur C.: Die philosophische Entmündigung der Kunst. München 1993. Gethmann-Siefert, Annemarie: Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005. Geulen, Eva: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt am Main 2002. Hamacher, Bernd: »Grau und Braun – ›Vorgefühl der Gegensätze des Kalten und Warmen‹. Zur Rehabilitierung der ›farblosen‹, ›schmutzigen‹ Farben bei Goethe«, in: Walter Pape (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur. Berlin/ Boston 2014, S. 73–81. Hösle, Vittorio: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik. München 2006. Sandkaulen, Birgit: »Hegel, Georg Wilhelm Friedrich«, in: Bernd Witte u. a. (Hg.): GoetheHandbuch in vier Bänden, Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe A–K, hg. v. Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto. Stuttgart/Weimar 1998, S. 468–471. Wandschneider, Dieter : »Die Absolutheit des Logischen und das Sein der Natur. Systematische Überlegungen zum absolut-idealistischen Ansatz Hegels«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39 (1985), S. 331–351. Wandschneider, Dieter : »Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst – Hegel, Heidegger, Adorno«, in: ders. (Hg.): Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005, S. 123–137.

Martin Jörg Schäfer

Verschleierte Obszönitäten im deutschsprachigen Shakespeare von Wieland bis Baudissin

Die folgenden Überlegungen fassen am Beispiel deutschsprachiger Shakespeareübersetzungen von den 1760ern bis in die 1830er den Dialog der literarischen (und kulturellen) Übersetzung als einen Prozess der Grenzsetzung und -verhandlung. Statt einer freien Appropriation deutet sich in diesen Texten bereits die Tendenz zur nationalliterarischen Assimilation von Textkorpus und Autor an, die 1864 bei Gründung der deutschen Shakespearegesellschaft in eine Erhebung Shakespeares zum ›dritten Weimarer Klassiker‹ neben Goethe und Schiller mündet. Im Mittelpunkt steht die Übersetzung von Obszönitäten als sprachlichen wie kulturellen Transgressionen vor allem in King Lear (sowie am Rande auch in Measure for Measure und Othello). Ein erster Schritt verortet das Projekt der zeitgenössischen Shakespeare-Übersetzung innerhalb der Produktion eines ›kulturellen Imaginären‹ für eine ›deutsche‹ Nation. Dies geschieht anhand der bekannten Metaphorik der ›Verpflanzung‹ im von Schleiermacher entworfenen Übersetzungsmodell, in dem sich bereits die Aneignungsdynamik der späteren deutschsprachigen Shakespeare-Kanonisierung ausprägt. Der King Lear ist, wie ein zweiter Schritt markiert, gewählt, weil zahlreiche Stellen nicht in der besagten Aneignungsdynamik aufgehen, diese stören und daher wegerklärt oder ›wegübersetzt‹ werden. (Somit passt letztlich ins Bild, dass die Lear-Figur in ihrem Wahnsinn mit einer Unkrautkrone ausgestattet wird und damit nicht zuletzt auf den Teil der flora verweist, der in Schleiermachers Pflanzenmetaphorik der Übersetzung besser außen vor bleiben soll.) Ein dritter Schritt spielt die Grenzproblematik an obszönen Stellen in King Lear durch. Ein vierter Schritt ist der deutschsprachigen Erstaufführung des King Lear von 1778 in Hamburg gewidmet, die in Reaktion auf das Publikumsverhalten diese Grenzen austariert.

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Übersetzung und kulturelles Imaginäres Die literarische Übersetzung im engeren und die kulturelle Übersetzung im weiteren Sinne werden in hermeneutischen Modellen nach dem Vorbild eines Gesprächs mit abwesendem Partner gedacht: als eine Verstehens- und Interpretationsleistung gegenüber einem sprachlich, historisch und kulturell Entfernten.1 Als Antwort auf Gesagtes und seine Weitergabe richtet sich eine Übersetzung strukturell in zwei Richtungen dialogisch aus. Die Metapher vom Gespräch impliziert einen machtfreien Umgang mit dem Gegenüber, der vor allem in postkolonialen Übersetzungsmodellen kritisiert worden ist: Der Gesprächscharakter der Übersetzung verdeckt demnach das ihr innewohnende Gewaltpotential. Die Übersetzung ist eine Bewegung der Aneignung, in der bestehende Machtstrukturen sich manifestieren oder konterkariert bzw. durch Hybridisierung transformiert werden können.2 Das dialogische Moment von Übersetzung verliert so gesehen seinen hermeneutischen Gesprächscharakter und ist stattdessen performativ an der Produktion von Grenzen beteiligt, die zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Anerkannten und dem Nichtanerkannten, dem Bewahrenswerten und dem Nichtbewahrenswerten sowie nicht zuletzt dem Starken und Schwachen verlaufen können. Eine der größten Stärken, wenn nicht gar die größte Stärke überhaupt von Übersetzungen besteht in der Fähigkeit, Fremdes in Eigenes zu transformieren oder aus als fremd Angesehenem Eigenes erst entstehen zu lassen. Dies steht im Hintergrund, wenn Shakespeares Texte zum paradigmatischen Bezugspunkt für das zutiefst idiosynkratische, aber schnell kulturelle Hegemonie erlangende Projekt der deutschsprachigen Romantik avancieren, durch die Übersetzung fremdsprachiger Literaturen aus historisch vergangenen Kulturen nicht nur eine ›deutsche‹ Nationalsprache, -literatur und -kultur zu bekräftigen. Vielmehr soll die vom Übersetzungsprozess erhoffte Erweiterung und Verfeinerung des Deutschen diese Sprache und damit den Zusammenhalt dessen, was ›ein Volk‹ genannt wird, überhaupt erst etablieren. Dies artikuliere immer auch mit Bezug auf Shakespeare die Vorlesungen der Gebrüder Schlegel um die Jahrhundertwende.3 Ohne explizite Nennung, die angesichts der bereits etablierten Faszination für Shakespeare aber auch kaum noch nötig scheint, kommt die bekannte Systematisierung einer Übersetzungstheorie in Friedrich Schleiermachers 1 Vgl. Friedrich Schleiermacher : »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens«, in: Hans-Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 1963, S. 38–70. 2 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture. New York 1994; Harish Trivedi: Post-colonial Translation: Theory and Practice. London 1999; Lawrence Venuti: The Translator’s Invisibility. A History of Translation. London 1995. 3 Vgl. Peter Goßens: Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2011, S. 73–82.

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Vorlesung »Über die verschiedenen Methoden des Uebersezens« von 1813 aus, einem der Hauptgewährstexte für ein als dialogisch gefasstes Übersetzungsmodell. Schleiermachers organologische Leitmetaphern stammen aus Agrikultur und Pflanzenreich: »Wie […] erst durch vielfältiges Hineinverpflanzen fremder Gewächse unser Boden selbst reicher und fruchtbarer geworden ist […], so [kann] auch […] unsere Sprache […] durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigene Kraft recht vollkommen entwikkeln«.4 Diese »eigene Kraft« entsteht zwar über die Stimulation durch die fremde Literatur, letztlich geht es Schleiermacher aber um deren Assimilation, was auch deutlich zum Ausdruck kommt: Wir »können […] uns […] auf den assimilierenden Prozeß der Sprache verlassen, daß sie alles wieder ausstoßen wird, was […] ihrer Natur nicht eigentlich zusagt«. Für die Zukunft erhofft die Vorlesung, dass »wir für das Fortbilden der Sprache vielleicht weniger des Uebersezens bedürfen«.5 Spekuliert wird damit auf eine Zukunft, in der die Pflanze der deutschen Sprache und Kultur sich so stabilisiert haben wird, dass sie durch diese »eigene Kraft« weiterwachsen können wird. Der vom Übersetzen angestiftete Dialog läuft so gesehen schlussendlich auf einen Monolog hinaus. Schleiermachers Vorlesung skizziert auch sein hermeneutisches Projekt insgesamt. Von den Formulierungen am Ende rührt der von Seiten poststrukturalistischer Theoriebildung erhobene Vorwurf, beim hermeneutischen Verstehen des Fremden handle es sich im Endeffekt um einen Aneignungsprozess. Bei Schleiermacher soll das Verpflanzen und Pfropfen darauf hinauslaufen, die damit einhergehenden Brüche und Schnittstellen nach und nach abzuheilen und das Aufgepfropfte teils voll zu integrieren, teils abzustoßen.6 Ein übersetzter Shakespeare wäre dann immer schon ein ›deutscher‹ Autor gewesen. Eine solche Beanspruchung für einen noch zu begründenden Kanon deutschsprachiger Literatur stellt bereits seit Herder und Lessing einen Topos in der deutschsprachigen Shakespeare-Rezeption dar.7 In deren Nachfolge erscheint Shakespeare 4 Schleiermacher : »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens«, S. 69. 5 Schleiermacher : »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens«, S. 70; vgl. Boris Buden: »Eine Tangente, die den Kreis verrät. Über die Grenzen der Treue in der Übersetzung«, in: Translate/EICPC (Hg.): Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt. Wien 2008, S. 13–45; vgl. auch Davide Giuriato: »›Blendlinge‹. Zur Theorie der Übersetzung bei Friedrich Schleiermacher«, in: Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin 2011, S. 121–134. 6 Jacques Derrida konterkariert dies mit einer affirmativen Verwendung von Schleiermachers Metaphern des Um- und Aufpfropfens. In Anschluss an Derrida spricht Homi Bhabha von der kulturellen Übersetzung als dem Prozess einer Hybridisierung. Vgl. Jacques Derrida: Dissemination. Wien 1995, S. 195–253, vgl. auch Homi K. Bhabha: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien 2012 und Uwe Wirth: »Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegommena zu einer allgemeinen Greffologie (2.0)«, in: Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin 2011, S. 9–27. 7 Vgl. für die Geschichte der Germanisierung Shakespeares Hansjürgen Blinn: »Einführung:

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August Schlegel, als dieser Ende des 18. Jahrhunderts die später kanonisierte Übersetzungsausgabe in Angriff nimmt, »wie ein obgleich in der Fremde geborner Landsmann«8. Am weitesten in der Kritik an einer solchen literaturpolitischen Aneignung geht Giorgio Agamben, wenn er in seinem Essay »Die Sprachen und die Völker« den romantischen Kurzschluss von Sprachpflanze und Bildung eines ›Volks‹ als den Sündenfall schlechthin der politischen Moderne geißelt: Hier findet sich demnach das metaphorische Sediment für die organologisch-völkischen Einheitsphantasmen gestiftet, welche in die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts führen werden.9 Diese Kritik hat in Vielem ihre Berechtigung. Sie überblendet dabei aber die Struktur und innere Dynamik von Schleiermachers Übersetzungsprojekt: Ausgestellt finden sich hier schließlich die Kontingenz und Offenheit, die jedweder Konstruktion einer einheitlichen kulturellen Form zugrunde liegen. Schleiermacher setzt zwar die behauptete Identität von ›Volk‹ und seiner Literatursprache voraus, beschreibt sie dann aber eben (im Unterschied zu so vielen seiner Nachfolger) nicht als schlicht gegeben. Die stabile Identität muss erst in der Übertragung anderer kultureller Formen produziert werden; ihr ist also ein Moment der Instabilität und Offenheit inhärent. Schleiermachers Modell steht in der Spannung zwischen der imaginierten ›natürlichen‹ Einheit von Volk, Sprache und Literatur einerseits und deren ausgestellter und vorgeführter Konstruiertheit andererseits. Eine Spannung zwischen Dialogizität und Monologizität schlägt sich so gesehen auch und gerade in den Produkten der jeweiligen Übersetzung nieder. Die Metaphern von Pflanzenwachstum und kultivierender Agrikultur liefern Semantiken, die diese Spannung auflösen und die behauptete stabile Natürlichkeit in einem kulturellen Imaginären plausibilisieren sollen. Eben als Übersetzung und Übertragung lässt sich die Fingierung eines kulturellen Imaginären in diesem Sinne mit Cornelius Castoriadis beschreiben: Imagination ist demnach »nicht bloß das Vermögen, ›sich etwas einzubilden, was nicht ist‹, sondern sich etwas durch etwas anderes zu gestalten, […] etwas durch etwas anderes […] gegenwärtig sein zu lassen«.10 Mit einer Pointe wie dieser erscheinen Verfahren des Übersetzens und Übertragens als Vermittlungsinstanzen dieser Imagination: als implizit dialogisch und gleichzeitig mit der Tendenz, dieses Dialogische in den Shakespeare in Deutschland. 1790–1830«, in Hansjürgen Blinn (Hg.): Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. II. Ausgewählte Texte von 1793 bis 1827. Berlin 1988, S. 9–66, hier S. 61–66. 8 Zitiert nach Peter Gebhardt: A.W. Schlegels Shakespeare-Übersetzung. Untersuchung zu einem Übersetzungsverfahren am Beispiel des Hamlet. Göttingen 1970, S. 96. 9 Vgl. Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Zürich/Berlin 2006, S. 57–63. 10 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main 1997, S. 423.

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Hintergrund treten zu lassen. Unter diesem Blickwinkel wird im Folgenden die sich in deutschsprachigen Texten ausdrückende Faszination für Shakespeare Texte interessant, insbesondere die Übertragung oder ›Verpflanzung‹ von Elementen, die sich diesem kulturellen Einbildungsprozess gegenüber als widerspenstig erweisen: etwa die als Obszönitäten und Anstößigkeiten wahrgenommenen Elemente, von denen es bei Shakespeare geradezu wimmelt.

Problemfall King Lear Die in den späten 1760ern und frühen 1770ern unter den deutschsprachigen bürgerlichen Intellektuellen ausbrechende Begeisterung für die Dramentexte William Shakespeares (das sprichwörtliche Shakespeare-Fieber) muss sich auch zu den zahlreichen in diesem Korpus auftauchenden Stellen verhalten, die dem neuen Bürgertum als ›obszön‹ gelten.11 Dies gilt insbesondere dort, wo die Literatur sich eine große Rolle bei der Bildung dieses neuen Bürgertums zuschreibt: Es soll nicht zuletzt durch seine Lektüren und Theaterbesuche erst hervorgebracht werden. Die bürgerlichen guten Sitten grenzen sich explizit gegen das Obszöne ab, das sie sowohl als sexuelle Freimütigkeit wie auch als ethisch-sittliche Transgression der Dekadenz des Adels oder der Ungeschliffenheit der ›niederen Schichten‹ zuschreiben. Durchgängig treten diese beiden Weisen des Obszönen aber in Shakespeares Dramen auf, die nun ins Zentrum dieser neuen Literatur und dieses neuen Theaters gerückt werden sollen. Für den ›deutschen Shakespeare‹ ergibt sich von daher eine Spannung zwischen einerseits der Quelle des ›Wahren‹, des ›Wirklichen‹ und ihrer ›Wirkung‹, als welche diese Texte spätestens seit Herders den Diskurs kanalisierenden Aufsatz von 1773 rezipiert werden,12 und andererseits der gleichzeitigen Domestikation oder Überblendung all dessen, was als Obszönität (und also vielleicht als zu ›wahr‹, ›wirklich‹ oder ›wirksam‹) diesem erhöhten Shakespeare entgegensteht.13 11 Zum neuen Bürgertum vgl. Albrecht Koschorke/Nacim Ghanbari/Eva Esslinger/Sebastian Susteck/Michael T. Taylor: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. Paderborn 2010; zur Frage der Obszönität vgl. Hans Peter Duerr : Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 3: Obszönität und Gewalt. Frankfurt m Main 2000; für eine Bestimmung des Obszönen im Zeichen Jacques Lacans für das 20. Jahrhundert, die sich auf den Topos vom Enthüllungserlebnis Shakespeares im 18. und 19. Jahrhundert zurückwenden ließe vgl. Hal Foster : The Return of the Real. The Avantgarde at the End of the Century. Cambridge, Ma. 2000, S. 145–168. 12 Vgl. Johann Gottfried Herder : »Shakespeare«, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Frankfurt am Main 1993, S. 498–521. 13 Zur Problematik der Shakespeare-Übersetzung generell vgl. Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens. Heidelberg 1982; vgl. auch Klaus Reichert: Der fremde Shakespeare. München 1998.

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Die wohl aus dem Jahre 1606 stammende Tragedy of King Lear wird traditionell im Zeichen einer solchen Doppelung rezipiert: einerseits als einer der ›Gipfel‹ von Shakespeares Œuvre, andererseits als Grenz- und Problemfall, welcher die Kapazitäten von Lesenden, Publikum und Darstellenden sprenge. Im deutschsprachigen Raum verdoppelt sich diese Problematik in der Suche nach einer gelungenen und angemessenen Übersetzung: Die Verwandlung des Fremden in das imaginierte Eigene scheint hier immer problematisch. Die englische Vorlage gilt seit Wielands im Zeichen der Aufklärung stehenden, unvollständigen Erstübersetzung in Prosa von 1762 als ebenso schwer in die sprachlichen und semantischen Ordnungen der jeweiligen Gegenwart übersetzbar wie auf die zeitgenössische Guckkastenbühne übertragbar. Die Unkrautkrone, mit welcher der wahnsinnige Lear sich schmückt, lässt sich nur schwer in das gleichmäßige Pflanzenwachstum integrieren, als das Schleiermacher die Entwicklung von Sprache und Kultur im Zeichen der literarischen Übersetzung imaginierte. König Lear ist zwar seit Schröders Hamburger Fassung von 1778 eines der beliebtesten Shakespeare-Stücke auf deutschsprachigen Bühnen. Aber erst in den 1890er Jahren verschwinden aus den Spielplänen endgültig Versionen, die radikal in die Handlung des Stückes eingreifen und das Ausmaß der auf der Bühne vonstatten gehenden Verwüstung beschönigen. Erst in dieser Zeit erhebt sich auch immer mehr die Forderung, Shakespeare mit all seinen Grobheiten und eben auch Obszönitäten zu entdecken.14 Besonders spannungsreich ist in diesem Sinne die Zeit der ersten Etablierung Shakespeares zwischen Wielands Erstübersetzung von 1762 und der von Ludwig Tieck durchgesehenen Übersetzung Wolf Graf von Baudissins von 1832. Bei letzterer handelt es sich um diejenige Übersetzung, die später in der Schlegel/Tieck-Ausgabe kanonisiert wird.15 Beide genannten Spielarten des als obszön Erscheinenden finden sich im Lear: sowohl sexuelle Freimütigkeit als auch die ethisch-sittliche Transgression. So zieht das sprachverliebte frühneuzeitliche Londoner Theater seinen Spektakelcharakter bekanntlich oft aus sexuellen Wortspielen und Mehrdeutigkeiten: »I cannot conceive you.«, antwortet der Königsgetreue Kent gleich in der Eingangsszene von King Lear dem Earl of Gloucester, als er eine Anspielung auf den unehelichen Status dessen Sohnes Edmunds nicht versteht. »[T]his young fellow’s mother could.«16, kontert Gloucester unter Verweis auf eine sexuelle Di14 Vgl. Wolfgang Weiß: King Lear. Bochum 2004, S. 108–113. 15 Für vergleichende Studien zu deutschsprachigen Übersetzungen von King Lear vgl. Kenneth E. Larson: King Lear in German Translation. Problems of Translation, Reception, and Literary History. New Haven 1983: Yale Dissertation, Microfilms; vgl. auch Horst Oppel: Die Schlußverse von King Lear. Text-, Interpretations- und Übersetzungsprobleme. Mainz 1976. 16 William Shakespeare: King Lear. König Lear. Englisch und Deutsch. Stuttgart 1973, S. 14.

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mension von »conceive«. Und auch ethisch-sittlich sieht sich das Bürgertum des 18. Jahrhunderts bei Shakespeare auf die Probe gestellt, wo ein Übermaß an Brutalität und Grausamkeit immer wieder an die Nachbarschaft von Shakespeares Globe Theatre zur örtlichen Bärenhatzarena erinnert: Gloucester werden, nachdem Edmund ihn denunziert, auf Veranlassung von Lears undankbaren Töchtern auf offener Bühne beide Augen ausgetreten. Und auch als den beiden ›bösen‹ Töchtern am Ende des Stücks poetische Gerechtigkeit widerfahren ist, finden die Tabubrüche kein Ende. Gegen die meisten von Shakespeares Quellen und Vorlagen wird auch noch die einzige ›gute‹ Tochter Cordelia ermordet. Der zunächst in den Wahnsinn getriebene und gerade erst wieder genesene Lear stirbt vor Gram. Bereits die englische Kritik des 18. Jahrhunderts sieht darin eine Grenze der Aufführbarkeit Shakespeares in der eigenen Zeit. Im Vorwort zu seiner Shakespeare-Ausgabe von 1765 schreibt Samuel Johnson, der ansonsten immer bereit ist, die über hundertfünfzig Jahre alten Texte gegen die zeitgenössischen neoklassizistischen Vorwürfe der ›Geschmacklosigkeit‹ zu verteidigen: »I am not able to apologise […] for the extrusion of Gloucester’s eyes, which seems an act too horrid to be endured in dramatick exhibition.«17 Neben der Brutalität bemängelt Johnson auch die Abwesenheit poetischer Gerechtigkeit: »Shakespeare has suffered the virtue of Cordelia to perish in a just cause contrary to the natural ideas of justice […]. […] I was many years ago so shocked by Cordelia’s death, that I know not whether I ever endured to read again the last scenes of the play till I undertook to revise them as an editor.«18 Von Dr. Johnsons Mischung aus Ehrfurcht und Ablehnung gegenüber der transgressiven Dimension des Stücks ist auch das zwiespältige Urteil der deutschsprachigen Rezeption in all ihren untereinander so unvereinbar scheinenden Paradigmen geprägt: »Welcher Gewaltige hat seinen Bogen höher gespannet, tötenderes Geschoß darauf gelegt?«19 fragt 1777 bezüglich der Abschlussszene des Lear mit Jakob Michael Reinhold Lenz einer der Verklärer Shakespeares zu einer genialen Naturkraft. August Wilhelm Schlegel, der dreißig Jahre später Shakespeares Texte ganz im Gegenteil als konsequent durchstrukturierte selbstreflexive Formen feiert, äußert sich über das Ende des Stücks ähnlich: Wo »der Fall ins tiefste Elend« in keiner Weise abgefedert werde, sei »[d]ie Wissenschaft des Mitleids erschöpft«.20 Die Wortwahl lässt jedoch offen, ob diese ›Erschöpfung‹ für den Inbegriff des ›Wahren‹ einstehen soll (sei es 17 Zitiert nach: William K. Wimsatt: Samuel Johnson on Shakespeare. London 1960, S. 96. 18 Ebd., S. 98. 19 Jacob Michael Reinhold Lenz: »Das Hochburger Schloß«, in: ders.: Werke und Schriften, Bd. 1. Stuttgart 1966, S. 370. 20 August Wilhelm Schlegel: Ueber dramatische Kunst und Literatur. Zweyter Teil. Zweyte Abteilung. Heidelberg 1811, S. 162.

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desjenigen der Hypostase der ›Natur‹ bei Lenz oder der ›Kunst‹ bei Schlegel) oder für deren unerträgliche bzw. obszöne Kehrseite. Eine solche Kehrseite scheint in der kulturellen Produktion eines zum Maß aller Dinge verklärten Shakespeares immer mit hervorgebracht zu werden. Sie wird rekonstruierbar und beschreibbar anhand des Umgangs mit den Obszönitäten im Lear-Stück.

Übersetzung von Obszönitäten Oft expliziter als anderswo bei Shakespeare findet sich im Lear der sexuelle Akt nicht nur angedeutet sondern auch benannt: »Let copulation thrive.«21 Der wahnsinnige, meist mit seiner Unkrautkrone inszenierte Lear des vierten Akts meint den öffentlichen Sexualakt der Tiere, den er nicht dem durch das Recht der Ehe kultivierten menschlichen Sexualakt unterordnen mag. Die tierische Gleichgültigkeit ist laut Lears Logik der Hartherzigkeit seiner Töchter vorzuziehen. Als einzige Übersetzung um 1800 benennt die von dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß und seinen Söhnen 1819 publizierte den Akt hier direkt: »Laßt Kuppelung gedeihen.«22 Eine von dem jüngeren Heinrich Voß 1806 erstellte, der späteren zugrunde liegende Fassung liefert in ihrem ausweichenden Charakter noch das andere Extrem: »Laßt Ueppigkeit gedeihn!« Der jüngere Voß benutzt in seiner im Auftrag Goethes für das Weimarer Theater entstandenen Übersetzung zwar das Wort »Unzucht«, verschiebt es aber an eine spätere, unverfängliche Stelle des Monologs, an der bei Shakespeare »luxury« steht. Dessen Übersetzung wird nun seinerseits, tautologisch, in das ›Laßt Ueppigkeit gedeihn!‹ nach vorne gezogen. Harmloser geht es dann hinterher weiter : »Nur immerzu Unzucht.«23 Neben der (an Wieland orientierten) Fassung Johann Joachim Eschenburgs wird diejenige des jüngeren Voß für fast das ganze 19. Jahrhundert zur maßgeblichen Vorlage für Bühnenbearbeitungen. (Dies geschieht nicht zuletzt, weil Lear in der Schlegel/Tieck-Ausgabe verhältnismäßig spät erscheint und die gängigen Bühnenbearbeitungen sich schon etabliert haben.)24 Keine Gnade in der öffentlichen Rezeption erfährt demgegenüber die von Voß mit seinem Bruder und seinem Vater publizierte Gesamtausgabe. In ihrem Versuch Poetik und Inhalt gleichermaßen zu reproduzieren erscheint sie der Rezeption meist unverständlich und daher misslungen. Wegen ihrer Wörtlich21 Shakespeare: King Lear. König Lear, S. 186. 22 Shakespeare’s Schauspiele. Von Johann Heinrich Voß und dessen Söhnen Heinrich Voß und Abraham Voß. Dritter Band. Mit Erläuterungen. Leipzig 1819, S. 279. 23 Shakespeare’s König Lear. Übersetzt von Dr. Johann Heinrich Voß. Professor am Weimarischen Gymnasium. Jena 1806, S. 192. 24 Vgl. Wolfgang Drews: König Lear auf den deutschen Bühnen bis zur Gegenwart. Berlin 1932.

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keit und Orientierung an der Vorlage bis hinein in die grammatischen Strukturen wird diese Version aber allgemein (mit der Ausnahme von Jean Paul) als zum einen unverständlich und zweitens eben anstößig abgetan.25 Zwar werden einzelne Passagen benutzt, um vorhandene Übersetzungen auszubessern. Insgesamt erscheint die Fassung der Voß-Familie wegen ihrer Direktheit und starken Orientierung am Original bis in den Sprachgestus hinein aber »auf keine Weise dazu [ge]eignet, von der Bühne gehört zu werden«.26 So äußert sich etwa Ludwig Tieck, der für seinen Dresdener Bühnen-Lear von 1824 die Familienfassung mit Textteilen aus der älteren Version des jüngeren Voß bearbeitet. Stellen wie den ›copulation‹-Monolog der neuen Version finden ihren Weg entsprechend nicht in Tiecks Bühnenfassung.27 Mit einem von den Zufällen sprachlicher Kombinatorik gestifteten Kalauer lässt sich festhalten, dass schon Jahre vor dem Erscheinen von Schleiermachers Übersetzeraufsatz die meisten Übersetzungen Schleiermachers Namen beim Wort zu nehmen scheinen, wo es um das Obszöne geht. Sie bedienen sich einer Verschleierungstaktik, die auf das Verschleierte doch deutlich verweist.28 »Laßt das Vermehrungs-Werk gehen, wie es will.«29 So benennt Christoph Martin Wieland in der (oft nur beispielhafte Auszüge gebenden) Erstübersetzung von 1762 zwar das mögliche Ergebnis des Geschlechtsakts, aber nur sehr indirekt (als ›Werk‹) eben den Akt selbst. Dieser findet sich auf die auch in der Einhegung der Ehe angepeilte Fortpflanzung zugespitzt und seiner Lustdimension beraubt. Eine solche durchaus zielgerichtete metonymische Verschiebung in der Übersetzung ist bis ins 20. Jahrhundert üblich; der oft laut geschmähten, aber doch sehr einflussreichen Erstübersetzung Wielands folgten etwa noch diejenigen Baudissins und Tiecks aufs Wort nach.30 Johann Joachim Eschenburg vervollständigt in den 1770er Jahren Wielands Vorlage und korrigiert deren philologische Schnitzer. Er übersetzt hier deutlicher, aber ebenso zielgerichtet »Zeugung«31 und domestiziert den Geschlechtsakt mit der Aufrufung zeitgenössischer Theorien der künstlerischen Produktion.32 25 Vgl. Lesley Drewing: Die Shakespeare-Übersetzung von Johann Heinrich Voß und seinen Söhnen. Eutin 1999. 26 Ludwig Tieck: Dramaturgische Blätter. Erster Theil. Leipzig 1852, S. 235. 27 Vgl. Drews: König Lear auf den deutschen Bühnen bis zur Gegenwart, S. 172–187. 28 Ähnlich und modellbildend manifestiert sich diese Spannung aus Entzug und Verweis in Lessings Laokoon. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Stuttgart 1994. 29 William Shakespeare: Theatralische Werke in einem Band. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Zürich 2003, S. 85. 30 William Shakespeare: Sämtliche Dramen (nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44), Teil 3: Tragödien. München 1988, S. 87. 31 William Shakespear’s Schauspiele. Neue, ganz umgearbeitete Ausgabe von Joh. Joachim Eschenburg. Straßburg 1777, S. 85.

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Den eingangs erwähnten »conceive«-Witz übersetzt Wieland mit »Ich begreife euch nicht. / Die Mutter dieses jungen Menschen konnt’ es.«33 Damit bleibt zwar die Möglichkeit eines handfesten Begreifens offen, ist aber nicht privilegiert (sondern steht hinter dem rationalen ›Begriff‹ zurück). Das Familienunternehmen Voß übersetzt auch den »conceive«-Witz am deutlichsten, wenn auch um den Preis der Umständlichkeit. »Herr, ich kann euch nicht fassen.« »Herr, des Burschen Mutter hat mich gefaßt.«34 Eschenburg und später Baudissin lösen hingegen die Mehrdeutigkeit von Wielands Begreifen im ›Verstehen‹ auf: »Seine Mutter und ich verstanden uns nur zu gut.«35 Der obszöne Witz wird durchaus zwar präzise als Wortwitz übersetzt, die Obszönität wird aber in den Hintergrund des Bildes und sozusagen aus dem Bühnenraum verschoben. Sie organisiert den Witz nicht durch ihre Präsenz, sondern auch hier durch den Verweis auf die Abwesenheit bzw. Verschleierung der Obszönität. Ihrerseits funktionieren solche Verweise manchmal durchaus offensiv. Sie nehmen zwar Rücksicht auf die dem Publikum (oder der Zensur) unterstellten Empfindsamkeiten, markieren aber, was verborgen ist. Wenn Lears Narr in der berühmten Sturmnachtsszene auf die »Who’s there?«-Frage mit »grace and a cod-piece – that’s / a wise man and a Fool«36 antwortet, dann weiß man schon lange nicht mehr, ob mit dem »fool« er selbst oder der parallel zum Wüten der Natur dem Wahnsinn verfallende König gemeint ist. In jedem Fall stellt die Gleichsetzung mit dem ›codpiece‹, der das männliche Geschlecht verbergenden aber auf diese Verbergung durch Betonung hinweisenden Schamkapsel, die im 16. Jahrhundert zur adeligen Mode gehörte, eine Provokation dar. Durch ein kurz vorher gesungenes Lied des Narren, in dem das ›codpiece‹ im Kontext von Promiskuität auftaucht, ist die Anspielung auch gar nicht zu missverstehen. Wielands Erstübersetzung lässt die betreffende Liedzeile unkommentiert weg und setzt auch Halbgeviertstriche an die Stelle der ›grace and a codpiece‹-Antwort (»– – – – –«). Ein Asterisk verweist auf einen empörten Kommentar in den Fußnoten: »Der Narr sagt hier etwas so elendes, daß der Uebersezer sich nicht überwinden kan, es herzusezen. Der Leser darf versichert sein, daß man nichts verliert, wenn schon zuweilen Einfälle weggelassen werden, deren Absicht bloß war, die Grundsuppe des Londoner Pöbels zu König Jacobs Zeiten lachen zu

32 Vgl. David E. Wellbery : »Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur«, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg im Breisgau 2002, S. 9–36. 33 Shakespeare: Theatralische Werke in einem Band, S. 51. 34 Shakespeare’s Schauspiele, S. 145–146. 35 William Shakespear’s Schauspiele, S. 5. 36 Shakespeare: King Lear. König Lear, S. 122.

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machen.«37 Aufgenommen findet sich damit ein Argument der neoklassizistischen englischen Shakespearekritik: Unflätigkeiten und sexueller Wortwitz seien auf das seiner Dichtung schädliche Theatermilieu Shakespeares zurückzuführen: entweder, weil die Schauspieler Shakespeares Originaltext entsprechend manipuliert und so die Überlieferung verfälscht hätten, oder wie hier bei Wieland, weil Shakespeare als Theaterunternehmer sich dem ›Pöbel‹ habe anbiedern müssen. Die Empörung des Übersetzers, dessen abschätzige Fußnotenkommentare bei den Shakespeare-Begeisterten ›Stürmern und Drängern‹ Wut, Spott und Häme hervorrufen,38 ist aber ihrerseits nicht die schlicht anti-obszöne Zensurmaßnahme, als die sie sich gibt. Die Empörung hat durchaus etwas Inszeniertes: Nicht nur verweist die Stelle durch die Auslassung und den Kommentar überdeutlich auf Shakespeares obszöne Dimension (während anderswo als überflüssig erachtete Passagen unkommentiert weggelassen werden) und stößt so das interessierte Lesen auf das Original. In der nächsten Lieferung von Wielands Shakespeare-Übersetzungen taucht das unflätige Wort dann völlig unkommentiert auf:39 Die »Rebellion of a cod-piece«40 bezeichnet im Original von Measure for Measure eher witzig-abschwächend einen einmaligen, aus der Sicht des Mannes im Nachhinein mehr als unklugen Geschlechtsakt. Unkommentiert übersetzt Wieland diesen nun als die »Empörung eines H*s*nlazes«41 und verschleiert das Wortbild zum Hosenlatz bloß wenig durch Ersetzung der Vokale in ›Hose‹ mit jeweils einem Asterisk. Abgeschwächt wiederholt Wieland die Betonung der Selbstzensur ; der Name eines Kleidungsstücks, das durch Verhüllung auf Anrüchiges verweist, bleibt aber sehr einfach rekonstruierbar. Und im Schriftbild entsteht so seinerseits eine Obszönität: Piktoral verweist die Schrift hier auf das durch kein codpiece und auch keinen Hosenlatz verhüllte männliche Geschlechtsteil. Die Verbindung der beiden Hosenbeine durch eine ›Hosenlatz‹ genannte, aufund zuknöpfbare Schürze ist nun nicht dasselbe wie eine Schamkapsel – und eigentlich leicht verharmlosend. Der Hosenlatz ist zunächst funktional und kein so expliziter Verweis auf das durch ihn Verborgene.42 Ende des 18. Jahrhunderts erfüllt der Hosenlatz durch seine oft verzierende Ausschmückung aber durchaus 37 Shakespeare: Theatralische Werke in einem Band, S. 72. 38 Vgl. Sabine Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung. Ihre Entstehung und ihre Rezeption im Sturm und Drang. Frankfurt am Main 2000. 39 Vgl. Hans Radspieler/Johanna Radspieler : »Zur Neuausgabe von Wielands Shakespeare«, in: Shakespeare: Theatralische Werke in einem Band, S. 41–48. 40 Samuel Ayscough: Passages and Words Made Use of by Shakespeare; Calculated to Point out the Different Meanings to Which the Words Are Applied. London 1790, S. 117. 41 Shakespeare: Theatralische Werke in einem Band, S. 159. 42 Schon vom Wort her nicht: ›cod‹ bedeutet im Englisch der Renaissance auch ›Behältnis zur Aufbewahrung von Saatgut‹.

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eine parallele, nämlich eine modische Funktion.43 Der Verweis auf die Sphäre des Sexuellen löst sich so zu einem guten Teil in der Alltäglichkeit der Konvention auf. Anstößig wird das Kleidungspartialobjekt erst in seiner Verbindung mit der erodierenden Autorität des Königs und in seiner expliziten sprachlichen Benennung. Und mit dieser Benennung spielt nun Wieland ein Spiel von Verstecken und Verweisen, ähnlich wie in den anderen genannten Beispielen. Das im Shakespeare-Text mit so großer Selbstverständlichkeit daherkommende Obszöne findet sich im Moment seiner Auslassung hervorgehoben und dann rückwirkend eingeschmuggelt. Das Obszöne wird entschärft, gleichzeitig aber auf diese veränderte Textstelle verwiesen – und damit auf das, was dahinterliegt: auf einen Bezugspunkt außerhalb, damit auf einen Prozess der Übertragung und letztlich auf einen dialogischen Prozess zwischen kulturellen Grenzziehungen. Den Wieland nachfolgenden Übersetzungen scheint das verhüllende Moment, das im Wort ›Hosenlatz‹ mitschwingt, bereits ausreichend: Für das ganze 19. und weite Teile des 20. Jahrhunderts wird an der betreffenden Lear-Stelle sein ›Hosenlatz‹ zur gängigen Übersetzung von ›codpiece‹.44 Im König Lear kann das Wort ›Hosenlatz‹ seit Eschenburgs Vervollständigung von Wielands Übersetzung in den 1770er Jahren gelesen werden; ab den 1850er Jahren kann man es, wenn es seinerseits also schon etwas veraltet klingt, auch auf der Bühne ausgesprochen hören. Noch vor der Shakespearebegeisterung der Stürmer und Dränger und noch vor der Shakespeareaneignung durch die Romantik zeigt sich an Wielands Bemühungen um den ›Hosenlatz‹ die Strategie, die mit dem einhergeht, was Schleiermacher dann die ›Verpflanzung‹ Shakespeares und anderer Autoren nennen wird: In der Aneignung von Shakespeares Text schwingen immer wieder deutliche Verweise auf das Abwesende oder nur latent Anwesende mit. Auch wenn man bezüglich Schleiermachers Übersetzungsmodell, das durchaus paradigmatisch für den deutschsprachigen Shakespeare-Komplex steht, von einer Tendenz zum Monologischen sprechen kann, zeigt sich am Problem des Obszönen durchaus, dass dieser Monolog nicht ganz ohne ein dialogisches Moment auskommt: Ständig läuft der Verweis auf dasjenige mit, was nicht in einer Assimilation in die Zielkultur aufgeht.

43 Bei Entstehung des King Lear war das ›codpiece‹ seinerseits wohl gut ein Jahrzehnt aus der adeligen Mode geraten. Vgl. Gundula Wolter : Die Verpackung des männlichen Geschlechts. Eine illustrierte Kulturgeschichte der Hose. Marburg 1988, S. 45–46. 44 Das Wort hält sich auch, nachdem in der Hosenmode Mitte des 19. Jahrhunderts die verzierte Schürze durch den nüchternen Schlitz abgelöst wird. Vgl. Wolter : Die Verpackung des männlichen Geschlechts, S. 164–165.

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Dialog über das Obszöne: Aufführung des Lear Dass die ›Hosenlatz‹-Passage in den gängigen Bühnenfassungen bis in die 1850er Jahre fehlt, ist nicht weiter verwunderlich. Der ausufernde Text muss ohnehin für eine Aufführung zusammengestrichen werden (und wurde dies vielleicht auch schon zu seiner Entstehungszeit). Die als obszön erscheinenden Passagen bieten sich dafür an. Überhaupt ist es ungewöhnlich, dass es im deutschsprachigen Raum ab den späten 1770er Jahren zu zahlreichen König Lear-Aufführungen kommt und sich das Stück sogar zu einem der beliebtesten, zumindest zu einem der auf den Bühnen meistgespielten entwickelt.45 Auch auf den englischen Bühnen wird King Lear gegeben. Die Darstellungsleistung David Garricks führt in Frankreich zu den bekannten Debatten über die Techniken der Schauspielkunst und wird über Lichtenbergs Londoner Mimographien auch auf Deutsch stark rezipiert. Es handelt sich aber um eine aus den 1680er Jahren stammende, nur lose auf Shakespeares Lear basierende Romanze Nahum Tates, die sich unter anderem durch ein Happy End auszeichnet. Wegen des Erfolgs der Tate-Version, wegen Shakespeares von der neoklassizistischen Kritik bemängelten Mischung tragischer und komischer Elemente und nicht zuletzt wegen den von Johnson reklamierten obszönen Verstößen gegen moralische Codes gibt es wenig Anlass, den Tate-Lear gegen den Shakespeares auszutauschen: Letzter dient in London zum ersten Mal wieder 1838 als Textvorlage.46 Anders liegt die Situation im deutschsprachigen Raum: Der tonvorgebende Herder sieht in Johnsons poetisch-moralischen Obszönitäten (also in der Blendung Gloucesters und der Ermordung Cordelias) gerade jene Radikalität der »Glücksumschwünge«47 am Werk, die Shakespeare so welthaltig mache, d. h. so ›wahr‹, ›wirklich‹ und ›wirksam‹. Noch vor Othello, Hamlet und Macbeth nennt Herder den Lear als paradigmatisches Shakespeare-Stück. Im Zeichen dieser Bewertung versucht der Hamburger Theaterleiter, Theaterschriftsteller und Schauspieler Friedrich Ludwig Schröder sich ab Mitte der 1770er Jahre an einer Etablierung Shakespeares. Seine jeweiligen Bühnenfassungen, die auf Eschenburgs Prosaübersetzung basieren, finden weit über Hamburg hinaus Verbreitung und werden bis ins 19. Jahrhundert hinein gespielt. Seinen größten Erfolg als Schauspieler feiert Schröder mit König Lear.48 Anerkennung erhält Schröder auch für seine Spielplan- und Bearbeitungs45 46 47 48

Vgl. Drews: König Lear auf den deutschen Bühnen bis zur Gegenwart, S. 7–8. Vgl. Weiß: King Lear, S. 103–106. Herder: »Shakespeare«, S. 515. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Martin Jörg Schäfer: »Schröders und Bocks King Lear-Bühnenadaptionen der 1770er: Eschenburgs Kommentar als dramaturgischer Baukasten«, in: Bernhard Jahn/Claudia Zenck (Hg.): Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770–1850. Bern u. a. 2016, S. 517–539.

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politik. Nur langsam versucht er, sein Publikum an die herkömmliche Sehgewohnheiten unterbrechenden Dramaturgien und Inhalte heranzuführen. Schröder beginnt 1776 mit Hamlet in Anlehnung an eine schon gängige Bearbeitung Franz Heufelds. Weggestrichen sind in dieser tragische Notwendigkeit und Ende: Der aufgeklärte Prinz Hamlet nimmt verzögert an seinem bösen absolutistischen Schwiegervater Rache und überlebt am Ende als zukünftiger guter König. Der große Erfolg von Schröders Bearbeitung wird oft darauf zurückgeführt, dass er Hamlet mit den schwärmerischen Zügen von Goethes Werther ausstattet. Langsam und über drei verschiedene Fassungen hinweg integriert Schröder immer neue Passagen des Shakespeare’schen Texts und testet sie auf ihre Verträglichkeit mit dem Hamburger Publikum hin aus.49 Sein Versuch, 1776 gleich nach dem Hamlet-Erfolg Shakespeares Othello mitsamt des tragischen Schlusses aufzuführen, kann das Publikum hingegen nicht auf ähnliche Weise erreichen. Insbesondere die Ermordung Desdemonas durch Othello sprengt das sittliche Empfindungsregister des Publikums. Allseits bekannt und gerne zitiert ist die sich um den Premierenabend rankende ›urbane Legende‹, die Johann Friedrich Schütze in seiner 1794 erschienenen Hamburgischen TheaterGeschichte kolportiert: Aber dieser Othello […] und alle diese furchtbaren und grausenhaften Ausbrüche der Eifersucht, Schadenfreude und Mordlust waren für einen großen Teil, vornehmlich aus der weiblichen Zuschauerschaft zu furchtbar, zu grausenhaft – unaushaltbar. Ohnmachten über Ohnmachten erfolgten während der Grausszenen dieser ersten Vorstellung. Die Logentüren klappten auf und zu, man ging davon oder ward notfalls davongetragen, und (beglaubigten Nachrichten zufolge) war die frühzeitige mißglückte Niederkunft dieser oder jener namhaften Hamburgerin Folge der Ansicht […] des übertragischen Trauerspiels.50

Shakespeares ›Wahrheit‹ erweist sich dieser Stilisierung nach als zu schrecklich. Ihre Obszönität sprengt nicht nur die guten Sitten, sondern auch das Aushaltbare überhaupt. Dem Stück ist auch in einer überarbeiteten Fassung (ohne eine Ermordung Desdemonas) nicht der Erfolg von Hamlet beschieden.51 Als 1778 dann König Lear. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Nach Shakespear auf dem Programm steht, ist an die Präsentation eines Lear, wie er etwa Herder vorschwebt, nicht zu denken. Schröders dramaturgische und inhaltliche Bearbeitungen sind nicht nur einer Anpassung an die Hamburger Bühnenverhältnisse und den Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels geschuldet. Sie sollen auch das potentiell Obszöne 49 Vgl. Dieter Hoffmeier : »Die Einbürgerung Shakespeares auf dem Theater des Sturm und Drang«, in: ders.: Schriften zur Theaterwissenschaft. Berlin 1964, S. 27–56. 50 Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg 1794, S. 454. 51 Vgl. Renata Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater. Tübingen 2005, S. 121–147.

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entschärfen. Teilweise, indem es tatsächlich wie in der irrigen Etymologie des Wortes ›obszön‹ als außerhalb der Szene ›off-stage‹ verlegt wird: Bei der (laut Johnson moralisch inakzeptablen) Blendung Gloucesters behält Schröder den Eschenburg-Text zwar weitgehend bei. Er ergänzt ihn aber um den Befehl, Gloucester abzuführen. Auch die Ankündigung des Earl of Cornwall, Gloucester die Augen auszutreten, wird in einen auf der Hinterbühne durchzuführenden Befehl verwandelt, dessen Realisierung dann durch das Geschrei des Opfers beglaubigt wird.52 Zum Problem werden für einen solchen Bearbeitungseinsatz nicht zuletzt die von Herder so hervorgehobenen extremen ›Glückswechsel‹. Zwar liegt Shakespeares ›Wahrheit‹ darin, eine Figur zu zeigen, die eben noch absoluter Herrscher (des Reichs wie der Familie) war, sich nun schutzlos dem Wüten der äußeren Natur ausgeliefert findet und darüber dem Wüten der inneren Natur, dem Wahnsinn, verfällt. Aber gleichzeitig sind ›all die schrecklichen Ausfälle‹ der shakespeareschen Figuren zu anstößig, um sie dem Publikum zuzumuten. Schröder findet die Balance zwischen den beiden unvereinbaren Anforderungen, indem er nicht nur diverse Passagen des im Irrsinn delirierenden Königs in der Heidesturmnacht weglässt, sondern auch indem er zusätzlich zwischen Lear und Publikum noch ein weiteres Publikum auf der Bühne einbaut: Lears Begleiter auf der Heide reagieren weniger als bei Shakespeare auf den König. Vielmehr kommentieren sie seinen Wahnsinn für das Theaterpublikum: Beständig weisen sie darauf hin, dass es sich bei diesem ›schrecklichen Ausfall‹ eben um einen solchen, nämlich einen Ausnahmezustand, handelt. Ständig geben sie durch in Schröders Fassung hervorgehobene oder hinzugefügte Ausrufe zu verstehen, wie auf diesen ›Ausfall‹ denn zu reagieren sei: »Oh, Barmherzigkeit – guter König.«53 »Weinend« stößt der bei Shakespeare so bissige Narr ein »armer Gevatter Lear«54 hervor. Das Publikum auf der Bühne führt dem Publikum im Zuschauerraum vor, dass hier auf den ›schrecklichen Ausfall‹ nicht mit Entsetzen, sondern (frei nach Lessing) mit Mitleid reagiert werden soll. In die Handlung seiner Vorlage greift Schröder radikal ein, sobald am Ende die von Johnson monierte ethische Transgression des Texts auf dem Programm steht: der so unnötige wie ungerechte Tod der ›guten‹ Cordelia. In der Shakespeare-Vorlage finden auf der Bühne die Haupt- und Staatsaktionen statt, die der Seite der ›Guten‹ zum Sieg verhelfen. Cordelia wird ›off-stage‹ im Gefängnis ermordet und dann von dem gerade erst vom Wahnsinn genesenen Lear auf die Bühne getragen. Nach einem großen Leidensmonolog stirbt Shakespeares Lear vor Gram. Diesbezüglich geht Schröder zunächst das Risiko ein, dem Publikum 52 Vgl. König Lear. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Nach Shakespear. Hamburg 1778, S. 70–71. 53 Ebd., S. 62. 54 Ebd., S. 64.

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einen noch viel ›schrecklichern Ausfall‹ zu zeigen als vorgesehen. Er holt (in Anlehnung an die Romanze Tates) die Gefängnisszene auf die Vorderbühne und schreibt sie radikal um: Die Häscher betreten die Bühne, um Cordelia und Lear zu meucheln. Cordelia ist ihrerseits bei Schröder die reine Tugend, d. h. ganz bürgerliche Dame. Sie fällt in eine für Shakespeares Frauengestalten untypische Ohnmacht und wiederholt damit die Reaktion der ›weiblichen Zuschauerschaft‹ bei der missglückten Othello-Aufführung zwei Jahre zuvor. Zum Mord kommt es allerdings im Lear nicht; Hilfe in Gestalt aller am Leben gebliebenen ›guten‹ Figuren naht. Doch nun ist es der alte, gerade eben erst vom Wahnsinn geheilte König, der nicht zwischen der ›Wahrheit‹ und ihrer Überschreitung hin zu einem ethisch Obszönen unterscheiden kann. Lear hält die ohnmächtige Cordelia für so tot wie in Shakespeares Vorlage und lässt sich von seinen Getreuen nicht vom Gegenteil überzeugen. Für Lear ist das von Johnson als zu obszön befundene Ende eingetreten: Cordelia scheint ihm unerträglicher Weise ermordet, während sie sich doch angesichts der Transgression des Mordversuchs nur verhalten hat, wie es die bürgerliche Ordnung einer Dame vorschreibt: durch kurzzeitige Ohnmacht. So behaupten es zumindest die anderen Figuren auf der Bühne. Lear verhält sich also seinerseits angesichts der von ihm als Obszönität verkannten ›Wahrheit‹ wie das Othello-Publikum, das Jahre zuvor in der Wucht der Shakespeare’schen ›Wahrheit‹ nur einen ›schrecklichen Ausfall‹ sah: Er kann sie nicht ertragen. Schröder lässt anschließend den abgehackten Leidens- und Sterbensmonolog Lears aus dem Shakespeare-Text spielen. Angesichts der übermäßigen Trauer endet Lears Sprechen in einer Todesohnmacht, wie sie in Shakespeares Stücken im Unterschied zu kurzzeitigen Ohnmachten verhältnismäßig zahlreich vorkommen (und eher Männern widerfahren). Lear stirbt in den Armen seiner Getreuen: eben nicht durch wirkliches Leiden (also eigentlich nicht durch Shakespeares ›Wahrheit‹), sondern durch eingebildetes. Er kann zwischen der ›wahren‹ sittlich-bürgerlichen Ohnmacht und dem obszönen Tod Cordelias nicht unterscheiden und hält Erstes für Letztes, das ›Wahre‹ für das Obszöne: Lear. Kordelia, Kordelia! bleib noch ein wenig – Sie ist dahin, auf immer dahin – Heult, heult, heult, heult! – O! Ihr seid Menschen von Stein; hätt ich Eure Zungen und Augen, ich wollte sie so brauchen, daß des Himmels Gewölbe krachen sollte. O! Sie ist auf ewig dahin! Kent. Sie lebt, mein guter König; Angst und Schrecken haben sich ihrer Sinne bemächtigt. Lear. Ich verstehe mich darauf, ob einer todt oder lebendig ist.55

55 Ebd., S. 109.

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Dieser Unterscheidung zwischen ›todt oder lebendig‹ entspricht, auf den LearText im Sinne Johnsons bezogen, die zwischen Obszönität und Sittlichkeit. Und Lear ›versteht sich‹ eben entgegen seiner Selbsteinschätzung nicht ›darauf‹. Er scheitert daran, dass er Unerträgliches zu erblicken meint, wo sein Umfeld nur sittliche bürgerliche Tugend sieht. Das Publikum hingegen sieht die CordeliaSchauspielerin auf der Bühne liegen und muss sich entscheiden, welcher Interpretation es folgt. Da der greise Lear durch das ganze Stück als nicht ganz bei Sinnen desavouiert wurde, dürfte diese Entscheidung nicht weiter schwer fallen. Aber ein Stück Unentschiedenheit bleibt. Das sittliche ›Wahre‹ und das Obszöne des unschuldigen Todes sind hier vom Augenschein her nicht auseinanderzuhalten. Übertragen auf die Moralität des Endes bedeutet dies, dass Shakespeares ›Wahrheit‹ obszön erscheinen mag, es sich aber um einen schwerwiegenden Fehler handelt, diesem Anschein Glauben zu schenken. Schröders Version schafft es also, im selben Moment die monierte Obszönität des Cordelia-Todes zu streichen wie diejenigen zu kritisieren, die in Shakespeares Text eine ethische Transgression statt einer der bürgerlichen Kultur höchst angemessene ›Wahrheit‹ sehen wollen. Allerdings gelingt Schröders Bearbeitung dies nur durch die völlige Beseitigung des transgressiven Moments, an dessen Stelle er eine Fehlinterpretation der bürgerlichen Tugend setzt. Die obszöne Dimension Shakespeares wird in eben jenem Moment weggestrichen, in welchem sie sich als Teil der ›Wahrheit‹ Shakespeares indirekt gerechtfertigt findet. Das ist der Kompromiss, mit dem Schröder den von Herder als Enthüllung einer höheren ›Wahrheit‹ gefeierten Shakespeare ans Publikum und dessen sittliche Empfindsamkeit bringen will. Mit dieser Strategie ist Schröder allerdings nur halb erfolgreich. Ein Großteil des Hamburger Publikums verbittet sich die das Stück beschließende Unentscheidbarkeit zwischen ›wahrer‹ Tugend und obszönem Verstoß gegen die guten Sitten poetischer Gerechtigkeit. Angesichts Lears exaltiertem Leiden und Sterben bleibt gefährlich unklar, ob er nicht vielleicht doch Recht haben und Cordelia gestorben sein könnte. Nach starken Publikumsprotesten muss Cordelia bereits in der zweiten Vorstellung aus der Ohnmacht erwachen. Während der Vorhang niedergeht, fällt Cordelia, die ihren toten Vater erblickt hat, dann zum zweiten Mal in Ohnmacht. Ihre Getreuen bestätigen ebenfalls erneut durch Ausrufe und ihr Verhalten, dass es sich hier eben nicht um einen Tod handelt.56 – Um Lear auf der Hamburger Bühne zu etablieren, muss Schröder die Spannung zwischen Sittlichkeit und Obszönität letztlich eindeutig zugunsten der Sittlichkeit entscheiden. Über den Umstand, dass in Schröders Lear das eine vom anderen schwer zu differenzieren ist und hinter Shakespeares ›Wahrheiten‹ auch immer 56 Vgl. Hoffmeier: Die Einbürgerung Shakespeares auf dem Theater des Sturm und Drang, S. 128–146.

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seine Obszönitäten lauern, kann dieses Zugeständnis ans Publikum jedoch kaum hinwegtäuschen. Gleich den sprachlichen Obszönitäten findet sich im deutschsprachigen King Lear des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch das verschoben und verschleiert, was als moralisch-ethische Transgression erscheint. Aber ähnlich wie in den Übersetzungen funktionieren auch diese Verschiebungen nie rein verharmlosend. Die Verschleierung des Obszönen weist immer auch auf die Obszönität hinter diesem Schleier hin: auf eine Kehrseite, die mit jeder Verschleierung auch wieder mitproduziert und als obszöne Dimension bekräftigt wird. – Hingewiesen findet sich so auch auf dasjenige, was nicht mit übersetzt wurde und damit auf die Geste des Wegschneidens und Begrenzens. Der der literarischen wie der kulturellen Übersetzung implizite Dialog mag eine assimilierende Verharmlosungsstrategie verfolgen. Die kulturbedingte Ersetzung der offenen Obszönität durch die dosierte Andeutung des Tabubruchs lässt aber implizit auch immer den Verweis auf das hinter der Grenze der Übersetzung Liegende mitlaufen. Ausgestellt findet sich so letztlich die Grenze, zu der sich die Übersetzung immer wieder verhalten muss: Der Dialog der Übersetzung erscheint so weniger als Gespräch denn vielmehr als eine Konstruktionsleistung, die Beziehungen erst setzt und damit auch die Grenzen zwischen Ausgangspunkt und Ziel der Übersetzung ausstellt und reproduziert.

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Verschleierte Obszönitäten im deutschsprachigen Shakespeare

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III. Dialogische Gegenwart? Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. (Martin Buber, Du und Ich)

Krzysztof Tkaczyk

Im polyphonen Gespräch. Zur Opfer- und Henkerperspektive in (A)pollonia von Krzysztof Warlikowski

In dem im Jahre 1979 veröffentlichten und mittlerweile beinahe in Vergessenheit geratenen Drama Das Haus bei Auschwitz (Dom pod Os´wie˛cimiem) lässt der Autor Tadeusz Hołuj seine Figuren folgendes Gespräch führen: (Die Aktion des Dramas spielt im Winter 1944 und Frühling 1945, an dem Gespräch nehmen Jerzy, seine Mutter Franciszka und Marta, die Melderin, teil). Jerzy fängt an: JERZY: Wenn jemand einen Menschen retten kann, und diese Rettung, an sich nicht unproblematisch, für ihn ein Verderben bedeuten sollte, nein, nicht nur für ihn, das wäre auch nicht so wichtig, sondern für seine Nächsten, die er über alles liebt, für seine Ehefrau, sein Kind, seine Mutter, sagen wir, dann was? Hat er das Recht, sie alle dem Tod auszuliefern, um einen Menschen zu retten? Einen, den er früher überhaupt nicht kannte? Solch eine Rechnung: einer für ein paar. FRANCISZKA (macht die Tischlampe an, so dass ihr beunruhigtes Gesicht sichtbar wird) fragt bestürzt: Worüber sprichst du eigentlich Jerzylein? JERZY (zündet eine Zigarette an): Nun, sagt mal, oder Sie, Fräulein Marta, wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Menschen auf Kosten einiger anderer, ihrer Nächsten, zu retten, dann was? MARTA (grübelt nach): Ich weiß nicht, ich kann nicht so theoretisieren, ich müsste genau wissen, wen Sie meinen, und so theoretisch, nein, das geht nicht, ohne jegliche Kenntnis dieser Menschen, die… Verstehen Sie? JERZY: Ja, ich verstehe. Nun, ich fragte nur so, eben theoretisch.1

Dieses Gespräch wird dreißig Jahre später aufgenommen und fortgesetzt. Krzysztof Warlikowski, einer der führenden polnischen Regisseure, der, wie Georges Banu, der rumänisch-französische Theatrologe und Theaterkritiker mit Recht konstatiert, »das artistische Theater der Superlative«2 verkörpert, stellt 1 Tadeusz Hołuj: »Dom pod Os´wie˛cimiem«, in ders.: Dom pod Os´wie˛cimiem. Puste pole. Krakjw 1979, S. 5–86, hier S. 11–12. 2 Georges Banu: »W połowie z˙ycia »w głe˛bi ciemnego lasu«« (In der Hälfte des Lebens »tief im dunklen Wald«), Notatnik Teatralny (Theatralisches Notizbuch, prominente Vierteljahresschrift fürs Theater, erscheint in Polen seit 1991) Nr. 62–63 (2011), S. 11–13, hier S. 11. Das hohe künstlerische, intellektuelle und ästhetische Niveau der Aufführungen Warlikowskis, darunter insbesondere das von (A)pollonia, fand sowohl bei dem polnischen wie auch bei dem internationalen Publikum großen Beifall. Es sei an dieser Stelle auf die Reaktionen der französischen Presse nach der Aufführung von (A)pollonia in Avignon im Jahre 2009 hinzuweisen,

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erneut die Frage nach der Möglichkeit, dem Sinn und dem moralischen Wert solch einer Rechnung: ein Leben für ein Leben. In dem theatralischen Essay über den Tod,3 in der urpolnischen und urmenschlichen4 Tragödie, mit dem Titel (A)pollonia fragt Warlikowski nach der Notwendigkeit der Selbstopferung, nach den Konsequenzen immer neuer Akte der Opferung von sich selbst und seiner Nächsten und zu guter letzt danach, ob es überhaupt möglich ist, den Teufelskreis aus Opfern zu verlassen, den Kreis aus Opfern wie auch aus Henkern, denn überall dort, wo geopfert wird, muss es auch die geben, die die Opfer darbringen. (A)pollonia Warlikowskis ist ein Konglomerat aus unterschiedlichen Geschichten, »eine Text- und Lied-Collage«,5 eine Art Fuge mit vielen Stimmen, zahlreichen Dissonanzen und Diskrepanzen, aber mit einer klar erkennbaren Ordnung und einem einheitlichen Konzept, und nicht zuletzt eine kongeniale Ansammlung aus literarischen und schauspielerischen Stars. Auf der Bühne des die Alicja Binder, polnische Theaterkritikerin, aufführt: »Da haben wir den Schock, auf den Avignon nach der Tetralogie von Wajdi Mouwad, dem meist besprochenen Künstlers des diesjährigen Festivals, gewartet hat. Ein ästhetischer und intellektueller Schock zugleich. […] Ein beunruhigender Spektakel: (A)pollonia hat uns durch die Änderung der Betrachtungsweise der Geschichte des 20. Jahrhunderts, einigermaßen ähnlich wie es mal Littell in seinen Wohlgesinnten gemacht hat, beunruhigt und die bequeme Ruhe des passiven Teils des Publikums gestört.« (»Le Monde«, 18 VII 2009); »(A)pollonia führt uns durch ein Minenfeld, ohne einen sicheren Pfad zu zeigen. Auch wenn die vorgeschlagene Thematik – Juden, Polen, Krieg, Holocaust – eher »Angst einjagt«, muss man feststellen, dass die Art und Weise, wie sie realisiert wird, sich keinesfalls die Beruhigung des Bewusstseins zum Ziel setzt.« (»Lib8ration«, 18 VII 2009); »[…] die Dominante der Aufführung: bittere Ironie und schwarze Stimmung, mit einem leichten, weit entfernten und beinahe unsichtbaren Strahl der Hoffnung« (»Les Inrockuptibles«, 18 VII 2009). Vgl. Alicja Binder : »Druga publicznos´c´« (Zweites Publikum), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 159–167, hier S. 163. 3 Vgl. Agnieszka Rataj: »Z˙ycie z pie˛tnem ´smierci« (Das Leben mit dem Brandmal des Todes), Z˙ycie Warszawy (Warschauer Leben, wichtige Tageszeitung, erschien in Polen in den Jahren 1944–2011) Nr. 116 (2009). 4 Auf diesen urpolnischen Zug des im breiten historischen und politischen Kontext verankerten Spektakels Warlikowskis weist Jacek Poniedziałek hin: »Polnisches Publikum reagiert sehr gut auf unsere Aufführung. Der Holocaust erscheint im Text im Kontext der antiken Tragödie und der Opferproblematik […]. Apolonia ist ein Opfer im wortwörtlichen Sinne. Sie ist umgekommen und hat den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern erhalten. Somit zeigen wir auf der Bühne zum ersten Mal ein anderes Polen. Ein Polen, das rettet, und nicht ein solches, das zum Morden beiträgt, den Mördern zur Hilfe steht und dabei einen ekelhaften, materiellen Nutzen zieht. Wir zeigen ein besseres Gesicht Polens. Wir zeigen, was eigentlich schon bekannt ist, aber worüber wir noch nicht gesprochen haben. Wir zeigen eine Polin, die ihr Leben geopfert hat.« (Paweł Dobrowolski: »Inne czasy. Rozmowa z Jackiem Poniedziałkiem« (Andere Zeiten. Ein Gespräch mit Jacek Poniedziałek), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 56–71, hier S. 63). 5 Stefan Bläske: (A)pollonia – Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski entmystifiziert das Selbstopfer. Glaube nicht, dass du anders gehandelt hättest, verfügbar unter http://www.nacht kritik.de/index.php?option=com_content& view=article& id=2921:apollonia-der-polnische -regisseur-krzysztof-warlikowski-entmystifiziert-das-selbstopfer-& catid=127:wiener-festwoc hen [17. 02. 2016].

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Warschauer Neuen Theaters (Teatr Nowy) sind die begehrtesten polnischen Theaternamen zu sehen, u. a.: Magdalena Cielecka, Ewa Dałkowska, Danuta Stenka, Maja Ostaszewska, Andrzej Chyra, Maciej Stuhr und Jacek Poniedziałek; sie monologisieren, deklamieren und zitieren Texte von Aischylos, Euripides, Franz Kafka, Hans Christian Andersen, Rabindranath Tagore, John Maxwell Coetzee, Hanna Krall, Jonathan Littell und anderen. Zusammen mit Agamemnon und Klytaimnestra, Iphigenie und Orestes, Alkestis und Admetos, Herakles, Apoll und Tanatos, Janusz Korczak, einem deutschen Offizier, Ryfka Goldfinger, einer vor dem Holocaust geretteten Jüdin, ihrem Enkel, dem Richter des Obersten Gerichts Israels, Apolonia Machczyn´ska-S´wia˛tek und ihrem Sohn Sławomir wandern die Zuschauenden von Schlachthof zu Schlachthof, oder eher bleiben sie die ganze Zeit (die Theatervorstellung dauert über vier Stunden lang) in einem der Schlachthöfe, denn in der von Warlikowski zu explizierenden Welt sind die kurzen Pausen zwischen einem und dem nächsten Tod lediglich technische Interludien: Man muss ja neue Tötungswerkzeuge sammeln, neue Argumente finden, einen Henker auswählen und ein Opfer aussuchen. Dabei kann der Zuschauer nie sicher sein, in welchem Raum-Zeit-Kontinuum er sich befindet, und wer zu ihm spricht. Denn Warlikowskis Polyphonie ist eine Mehrstimmigkeit, bei der nicht nur jede Stimme ihren hohen Eigenwert besitzt, sondern auch solch eine, bei der eine Stimme sich in eine andere fließend verwandelt, ein spektakuläres Sprech-Kunstwerk bildend. Manche Aussagen werden von anderen Sprechern übernommen und weitergeführt, andere werden abgewandelt, einige wiederum verschwinden endgültig. Somit entsteht in (A)pollonia eine strukturierte Pluralität, die von dem Zuschauer eine Art polyphones Verstehen verlangt, das auf alle diese Stimmen hört, vor allem aber sich über die eigene Mehrstimmigkeit im Klaren ist.6 Und solch ein polyphones Verstehen kann irritieren, vor allem den, der Eindeutigkeit will. Eindeutigkeit auch in der tradierten Rollenverteilung zwischen Henkern und Opfern, ein heikles Thema besonders in dem historisch beladenen Dreieck Polen – Deutsche – Juden. Die ständige Erinnerung an die Geschichte, Vorgeschichte und Urgeschichte, der permanente Identitätswechsel der an dem Gespräch Teilnehmenden verwirrt und beunruhigt, zwingt das Publikum zur permanenten Neuorientierung innerhalb seines Erinnerungsraumes oder sogar zur dessen Reorientierung. Und so spricht Agamemnon mit Worten von Max Aue aus Littells Roman Die Wohlgesinnten, sein Monolog kann jedoch auch als Adolf Eichmanns Rede verstanden werden, denn eben Eichmanns Worte »Wir waren keine Mörder«7 6 Vgl. Gerd Theißen: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik. Berlin 2014, S. 21. 7 Krzysztof Warlikowski: (A)pollonia, Warszawa 2009, S. 14. (Zitiert aus Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Berlin 2008, S. 39).

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sind es, die als Motto das Gespräch des Troia-Triumphators mit seiner Frau Klytaimnestra eröffnen. An einer anderen Stelle spricht Admetos, dieser, für den seine Frau Alkestis stirbt, und zitiert Agamemnon/Aue/Eichmann (?): »Auch die Wörter nützen nichts mehr, sie versickern wie Wasser im Sand, und der Sand füllt mir den Mund. Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr.«8 Und wenn Herakles dem Tod droht: »Tod, ich erkenne dich am schwarzen Mantel des frischen Blutes auf deinen Lippen. Ich fange dich, drücke an den Boden und zwinge zu einem Deal: entweder gibst du Alkestis zurück oder ich breche dir das Genick und reiße die Arme auseinander. Einfach so. Alkestis kehrt schneller zurück als ihr glaubt…«,9 erscheint Apolonia Machczyn´ska als eine Art Inkarnation von Alkestis und führt, als Alkestis und Apolonia zugleich, das Gespräch mit Herakles, Admetos, der geschworen hat, nach der Selbstopferung seiner Ehefrau keine andere Frau zu berühren, und dem Offizier weiter : ADMETOS: […] Frau, du bist ihr so ähnlich. HERAKLES: Dann nimm sie! ADMETOS: Ich darf sie nicht anfassen. HERAKLES: Deine Entscheidung. Ich zwinge dich nicht. […] ADMETOS: Warte mal, lass mich nicht alleine. Bist du es? Bist du es Schatz? Warum schweigst du? OFFIZIER: Wer versteckte die Juden? APOLONIA: Ich. ADMETOS: Ja. Du bist es.10

Wo sind wir also und durch welche Krümmungen des Raumes und der Zeit, bzw. des Gedächtnis-Raumes und der Gedächtnis-Zeit führt Warlikowski seine Zuschauer? Und wozu das alles? Welchen Sinn hat dieser zeitliche und räumliche Wechsel zwischen den Monolog- und Dialogbeiträgen einer Vielzahl der sich zu Wort meldenden eigenständigen oder Patchworkfiguren, der sich vor Augen des Publikums realisiert? Am Anfang, noch im Prolog, sind wir, wie es uns scheint, im Waisenhaus von Janusz Korczak im Warschauer Ghetto im Jahre 1942, es wird sogar das genaue Datum erwähnt: 18. Juli, also zwei Wochen vor dem Abtransport der jüdischen Kinder in das Vernichtungslager Treblinka im Rahmen der Aktion der Endlösung der Judenfrage, es scheint uns, dass wir uns im Ghetto befinden, da das Waisenhaus nicht zu sehen ist, und vor den Augen der Zuschauer gerade Szenen 8 Ebd., S. 57. 9 Ebd., S. 56. 10 Ebd., S. 58. Auf zahlreiche literarische und historische Anspielungen in (A)pollonia weist Andrzej Chyra hin, der in der (A)pollonia-Aufführung u. a. Joker, Herakles und den Richter des Obersten Gerichts Israels spielt: »(A)pollonia […] ist ein Apogäum des Unendlichen […] Joker aus (A)pollonia ist eine Art Transfiguration eines Gestalttypus, der sich zugleich in Dionysos, Antonio (Bruder von Prospero in Der Sturm von Shakespeare – K.T.) und Roy M. Cohn widerspiegelt. All diese Charaktere haben vieles gemeinsam.« (Dorota Kowalkowska: »Aktor na emigracji. Rozmowa z Andrzejem Chyra˛« (Ein Schauspieler im Exil. Ein Gespräch mit Andrzej Chyra), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 90–97, hier S. 92).

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aus Das Postamt von Rabindranath Tagore aufgeführt werden. Wir sind also irgendwo in Indien und hören von Träumen eines kranken Jungen Amal, der die Welt sehen, reisen und »weit hinter den Berg gehen [möchte], der aus dem Fenster zu sehen ist.«11 Gleich danach werden wir nach Mykenai mitgenommen, wo Klytaimnestra Agamemnon ermordet (es sei an dieser Stelle erwähnt, dass in (A)pollonia der Mythos als kontrapräsentische Erinnerung immer wieder Ursprung von Reflexion über die Gegenwart ist), nach einigen Minuten befinden wir uns in Pherai im antiken Thessalien und zugleich in Warschau »eines Nachts im Mai […] 64 Jahre nach Kriegsende«,12 wo wir ein Interview miterleben können, das die Stimme aus dem Off mit Admetos und Alkestis durchführt. Beide beantworten eine Reihe von für die Klatschpresse typischen Fragen: »Wer hat den ersten Schritt gemacht?, Wo habt ihr euch zum ersten Mal geküsst?, Wer hat zum ersten Mal ›Ich liebe dich‹ gesagt?, Rubens oder Picasso?, Paul Newman oder Robert Redford?, Glaubt ihr an Gott?, An Liebe? Was ist für dich eine Ehe?, Nenne drei wichtigste Dinge in deinem Leben, drei Adjektive, die sie/ihn beschreiben….« usw.13 Das Interview läuft zügig und nur die letzte Frage »Wäret ihr bereit, füreinander zu sterben?«14 bleibt ohne Antwort. Dann, wiederum in der Antike und in der Gegenwart zugleich, tötet Orestes seine Mutter, und Apoll erzählt, dass er die »Goldberg-Variationen, von Glenn Gould gespielt«,15 sehr gern hört, Rimbauds Gedichte liest, die französische Neue Welle hasst und die Westernfilme liebt: »John Wayne: er hatte Klasse.«16 Zweifellos hier und jetzt stirbt Alkestis für Admetos, und das Gericht über Orestes findet in Athen statt, worüber der Betroffene selbst aus dem Studio Klo berichtet, neben ihm auf den Fliesen liegt die tote Klytaimnestra. »Da sind wir wieder zusammen, Mommy und ich.«17 – sagt Orestes, dann kommt Korinth, das Jahr 420 vor Christi Geburt: Herakles tötet seine Ehefrau und Kinder, gleich danach kommt das Jahr 1943, das Dorf Plebanki in Polen, wo sich Apolonia Machczyn´ska mit ihren Kindern im Hause des Vaters versteckt hat. Hier haben Apolonia die deutschen Soldaten gefunden, um sie in einem benachbarten Dorf zu erschießen. Und endlich kommt Jerusalem im Jahre 1997, wo Apolonia der Ehrentitel Gerechte unter den Völkern posthum verliehen wird. Alle Fäden dieser kunstreich gewebten Geschichte laufen in einem Kulminationspunkt, in einem Ereignis, im letzten Gespräch zusammen, das das Erzählte abschließt und die intencio auctoris deutlich macht. Sie führen zu einer 11 12 13 14 15 16 17

Warlikowski 2009, S. 10. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 22–26. Ebd., S. 28. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 46.

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Gestalt, mit deren persönlicher Geschichte der Zuschauer sich konfrontieren muss. Ein Zuschauer, der durch das enorme Ausmaß des auf der Bühne zur Schau gestellten Bösen, der Ungerechtigkeit und des Todes überrascht, erschrocken, innerlich erschüttert, ermüdet und physisch erschöpft ist.18 Nach über vier Stunden Theateraufführung erscheint auf der Bühne Apolonia, die wichtigste Person der Tragödie. Wer ist sie eigentlich, warum ist sie so wichtig, dass ihr Name, verwandelt in (A)pollonia zum Titel der ganzen Collagegeschichte wurde? Zum Titel, der nicht auf Apoll, sondern auf sie, Apolonia Machczyn´ska, wie auch auf Pol(l)onia also auf Polen hinweist. Im Personenverzeichnis des Theaterstücks findet man zu ihrer Figur folgende Notiz: »Apolonia Machczyn´ska-S´wia˛tek; reale Person, Landbesitzerin, bekannt für ihre fortschrittlichen Meinungen; Während der Ghettoliquidationsaktion in Kock im Oktober 1942 haben elf Ghettoflüchtlinge in ihrem Haus Schutz gefunden. Apolonia ist es gelungen, die Flüchtlinge nach Warschau zu transportieren. Unter ihnen befand sich Ryfka Goldfinger, die einzige unter den Überlebenden, welche die heroische Tat Apolonias bezeugt hat. Nach dem Krieg übersiedelte Goldfinger nach Israel, wo sie bis heute lebt. Apolonia hat in ihrem Haus mehrmals Juden versteckt. Als sie für das Verstecken von 25 Juden denunziert wurde, floh sie mit den Kindern nach Plebanki, ins Haus ihres Vaters. Die Deutschen haben alle von Apolonia versteckten Juden erschossen. Apolonia haben sie dagegen dem Gericht unterzogen und ihrem Vater die Möglichkeit gegeben, die ganze Schuld auf sich zu nehmen. Der Vater hat sich jedoch nicht entschlossen, sich für die eigene Tochter zu opfern. Apolonia wurde erschossen. Im Jahre 1997 hat ihr das Institut Yad Vashem den Titel Gerechte unter den Völkern verliehen.«19 18 Jolanta Kowalska glaubt die Quelle der starken Wirkung des Theaters Warlikowskis in seinem Ideengehalt und in der spezifischen Arbeit des Regisseurs mit den Schauspielern entdeckt zu haben: »Das Theater von Krzysztof Warlikowski oszilliert zwischen Gegensätzen. Es schließt unmögliche Bündnisse, verbindet Gegensätze, findet Licht im dunklen Tunnel. Denn, wenn es die dunklen Seiten des Menschen penetriert, findet es immer in der tiefsten Beleidigung und Erniedrigung eine ekstatische Reinheit.« (Jolanta Kowalska: »Aktor w stanie łaski« (Der Schauspieler im Zustand der Gnade), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 147–155, hier S. 147); »Der Schauspieler […] reduziert […] seine Relationen mit dem Partner auf der Bühne bis auf ein Minimum und sucht nach dem direkten Kontakt mit dem Publikum, er ist nicht mehr die zu darstellende Figur sondern redet eher in ihrem Namen.« (Ebd., S. 152.). Ähnlich argumentiert Magda Raczek: »Warkliowskis Aufführungen sind offen, sie scheinen eine Art Flucht zu sein, sie wollen allen Anwesenden möglichst viel Luft geben (leere Bühne, fehlende Kulisse, sehbare theatralische Maschinerie), brechen mit der tradierten Einteilung in den Bühnen- und Zuschauerraum.« (Magda Raczek: »Sprzecznos´ci. O teatrze Warlikowskiego przez scenografie Małgorzaty Szcze˛´sniak« (Widersprüche. Über das Theater Warlikowskis im Kontext der Bühnengestaltung von Małgorzata Szcze˛´sniak), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 270–283, hier S. 272). 19 Warlikowski 2009, S. 89.

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Apolonia Machczyn´ska ist also das letzte Glied in einer langen aus Leid, Unrecht und Tod geschmiedeten Kette. In ihrem Los manifestiert sich die Einheit des grausamen Schicksals vieler, möglicherweise unzähliger persönlicher Geschichten. Und diese Einheit des Schicksals verbindet scheinbar getrennte Welten so stark, dass sie wie eine Welt wirken. Es ist leider die Welt, wo sich Helfen nicht bezahlt macht, wo das Ethos, das auf zwei Werte: Autonomie und Solidarität, bzw. Freiheit und Nächstenliebe gebaut wurde, seine Schwäche und Unzulänglichkeit offen legt. Apolonia opfert ihr Leben, und diese Selbstopferung ist für die Zuschauer besonders schmerzhaft, weil da »eine von uns« ums Leben kommt. Ihre Tragödie spielt sich, so wie im Falle der antiken Geschichten, im Kreise der scheinbar nächsten Familienmitglieder ab. Apolonia befindet sich in dergleichen Situation wie Admetos, für den Apoll bei Moiren ein langes Leben erfleht hat, unter einer Bedingung jedoch, dass jemand anders für ihn freiwillig stirbt: »Zuerst ging er zum Vater, fiel vor ihm auf die Knie. Er flieht ihn an. Dann ging er zur Mutter. Schweigen. Nichts. […] Er hat alle gefragt, alle flehentlich gebeten. Alle, ohne Ausnahme. Alle sagten: Nein. Alle bis auf eine. Nur eine sagte ganz leise: ja. Nur so viel: ja, erwiderte seine geliebte Ehefrau Alkestis.«20 Alkestis, also nicht sein eigen Fleisch und Blut, eine Fremde. Irgendwann später sagt Admetos’ Vater zu ihm: »Zeig mir mal ein Gesetz, nach dem der Vater für seinen Sohn sterben sollte. Nirgendwo findest du einen Paragraphen, den du herbeirufen könntest. […] Ich würde für dich sterben, wenn ich zwei Leben hätte, nicht eins.«21 Auch Apolonias Vater sagt kein Wort von sich, wenn der deutsche Offizier ihm einen Tausch vorschlägt: das Leben seiner Tochter für sein Leben: OFFIZIER: Und Sie? Haben Sie auch gar nichts gewusst? Bestraft wird dieser, der die Juden versteckt hat. Haben Sie es gemacht – bleibt die Tochter am Leben. War es die Tochter – leben Sie weiter. Es reicht mir, wenn Sie sagen: Ich habe die Juden versteckt, meine Tochter wusste davon nicht. Also…?22 Was macht der Vater? Er setzt die eigene Tochter in den Schlitten, mit dem die Soldaten gekommen sind. Der kleine Sławek, Apolonias Sohn, erzählt nach Jahren: »Sie ließen Mama den Schlitten besteigen. Opa hat ihr dabei geholfen, Mama war schwanger und kletterte sehr langsam auf den Schlitten. Sie haben sie in ein benachbartes Dorf gefahren und vor eine Scheune gestellt… Mein Bruder und ich, wir kehrten heim.«23

Für Apolonia setzen sich andere ein, aber erst ein halbes Jahrhundert später. Der Enkel der geretteten Ryfka Goldfinger sagt vor dem Richter des Obersten Gerichts Israels zu Apolonias Sohn Sławek: »Ich habe keine Ahnung davon, was 20 21 22 23

Ebd., S. 33. Ebd., S. 54. Ebd., S. 60. Ebd., S. 85.

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damals passierte, aber dank solchen Menschen haben wir überlebt. Ich verdanke mein Leben Ihrer Mutter.«24 Ryfka Goldfinger bezeugt, dass Apolonia völlig uneigennützig handelte. Wenn der Richter fragt: »Hat sie gesagt, wie viel das kosten wird?«25, antwortet Ryfka: »Tate hat sie gefragt. Sie sagte, sie sei nicht gekommen, um übers Geld zu reden. RICHTER: Und sie verlangte gar nichts von euch? RYFKA: Von einem jüdischen Tischler im Jahre zweiundvierzig? Was konnte sie denn verlangen?«26 Endlich ergreift Sławek das Wort, um im emotionellen Wortwechsel mit Ryfka zu sagen: SŁAWEK: In eurem Aberglauben kenne ich mich nicht aus. RYFKA: Dank unserem Aberglauben haben wir fünftausend Jahre überlebt. SŁAWEK: Ihr habt dank solchen Menschen wie meine Mutter überlebt. Verstehen Sie das? RYFKA: Ja, ich verstehe. SŁAWEK: Danke… im Namen meiner Mutter, die getötet wurde, weil sie mehr wollte… nein, nicht die Welt… fünfundzwanzig Juden wollte sie retten.27

Sławek bedankt sich für den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern, erhebt zugleich eine überraschende Anklage. Überraschend, weil gegen die eigene Mutter gerichtet, und als solche in der Reflexion über die Opfer des Holocaust so gut wie nie zur Sprache gebracht. Es ist die Anklage eines Sohnes, der seiner Mutter vorwirft, dass die, indem sie die jüdischen Ghettoflüchtlinge rettete, das Leben anderer, fremder Menschen über ihr eigenes höher stellte. Es ist die Anklage eines traumatisierten kleinen Jungen, der seine Mutter, und somit die ganze Welt verloren hat.28 Zu Hilfe steht ihm, was im Text Warlikowskis nicht wundert, die Stimme eines Anderen. Sławek liest das Gedicht des verstorbenen jüdischen Komponisten Andrzej Czajkowski vor und widmet es seiner Mutter : Mutter, wo bist du? Warum bist du nicht hier? Eben, warum? Sollte ich Dir sagen, warum? Du hast Albert gewählt, nicht wahr? 24 25 26 27 28

Ebd., S. 70. Ebd., S. 72. Ebd. Ebd., S. 80. Über diese moralischen Dilemmata spricht Marek Kalita, der Sławomir S´wia˛tek, den Sohn von Apolonia spielt: »In (A)pollonia ist es uns gelungen, […] einen wesentlichen Zug eines Menschen zu zeigen, der seine Mutter verloren hat. Sie ist ums Leben gekommen, weil sie Juden versteckte. Ich habe mich bemüht, einen Anlass zum Gespräch mit der Frau zu finden, die dank ihr überlebte. Was steckte im Kopf dieses kleinen Jungen? Tiefe Trauer oder ein Trauma, damit verbunden, dass seine Mutter wegen der Versteckten nicht mehr lebt? Der Junge glaubt, dass sie ihn verlassen und er dadurch die ganze Welt verloren hat. In dem Kind leben immer noch Trauer und Hass denen gegenüber, die sie gerettet hat.« (Ewa Hevelke: »Is´c´. Rozmowa z Markiem Kalita˛« (Gehen. Ein Gespräch mit Marek Kalita), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 114–119, hier S. 114–115).

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Du hast ihn Schwein genannt, ich kann mich noch daran erinnern. Aber du hast den Tod mit ihm, und nicht das Leben mit mir gewählt. Ich brauchte dich. Ich hatte, so wie Du, mein Recht auf den Tod. Dich hast du des Lebens beraubt, und mich meines Platzes bei Dir, […] Du hast, wie die letzte Schlampe, mich belogen, weißt Du es noch? Du hast zu mir gesagt »Mama kommt in ein paar Tagen zurück.« Ich wusste, dass du lügst. Ich habe dich durchschaut. […] Jetzt bist du schon wohl ein Stück Seife. Du hast Dir bestimmt viel Mühe gegeben, damit dieses Schwein Albert Dich nicht vermisst. Er wurde ins Treblinka-Lager reingelassen, ich nicht. Habt ihr gelungene Flitterwochen gehabt? Das muss ein schönes Bild gewesen sein, als ihr beide starbt, einander umarmend.29

In demselben Gedicht antwortet die Mutter : Und was weißt du über Treblinka? Männer und Frauen starben da in separaten Kammern.30

Und wiederum der Sohn, mit Worten, die seine tiefe Trauer und Liebe zur Mutter bloßlegen: Mutter, ist es wahr, dass manchmal die Gaszufuhr zu schwach war Und die Menschen starben ein paar Tage lang? Du bist nicht in solch einer Gruppe gewesen, nicht wahr? Verzeihe mir alles, was ich gesagt habe, aber diese Frage, nur diese Frage beantworte mir.31

Im Gespräch mit Ryfka Goldfinger kommt Sławek erneut auf das Problem der Wahl seiner Mutter : SŁAWEK: Meine Mutter hat ihr Leben riskiert, obwohl sie uns hatte… RYFKA: Hegen Sie immer noch einen Groll gegen Ihre Mutter? SŁAWEK: Nein, nicht mehr. Ich habe es ihr schon verziehen. RYFKA: Meine Mutter lebt auch nicht mehr. SŁAWEK: Meine Mutter hatte die Wahl. RYFKA: Sollte ich Herrn Gott um die Entschuldigung bitten? Weil ich überlebte?32

Es werden Fragen gestellt, auf die man kaum Antworten finden kann.33 29 30 31 32 33

Warlikowski 2009, S. 78. Ebd. Ebd. Ebd., S. 82. Warlikowski kennt keine einfachen Lösungen. Die Tatsache, dass die bei Apolonia versteckten Juden durch eine Jüdin und nicht durch eine Polin denunziert wurden, macht alles

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In zahlreichen Rezensionen von (A)pollonia wird oft der allgemeinmenschliche, gesellschaftliche oder sogar staatlich-politische Aspekt des Todes und der Opferung hervorgehoben. Nicht ohne Grund, weil Warlikowski auch für derartige Interpretationen ausreichend viele Signale gibt. Nach meiner Auffassung machen jedoch weder die allgemeinmenschliche Problematik noch die Darstellung einer Historiosophie der Menschheit, von den mythologischen Figuren des antiken Griechenlands bis zu den Opfern des zweiten Weltkrieges und ihrer Nachkommen den Sinn der erzählten Geschichte aus. Was zählt, ist die äußerst private Dimension des menschlichen Schicksals, in dessen Veranschaulichung Warlikowski die höchsten Gipfel der theatralischen Kunst erreicht. Ihm gelingt es, mit der imaginativen Kraft des Poetischen und Fiktionalen die fragmentarischen mythologisch-historischen Daten in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, die Pluralität der Perspektiven, die aufgrund der dialogischen Verflechtung, in der jede Stimme, jede Geschichte, jede Version der Geschichte im Kontext der anderen Äußerungen betrachtet werden muss, zu einem Ideen-Konsens zu bringen und den anhand einer Lebensgeschichte laut erklingen zu lassen. Und wir glauben ihm, wenn er zeigt, dass es auch heute unmöglich ist, sich von dem mythisch-tragischen Aspekt des Schicksals zu befreien, dass immer aufs neue geopfert wird und die Akte der Selbstopferung unsere Welt weder heilen noch besser machen, dass sie lediglich neue Varianten derselben tragischen Geschehnisse und immer, ohne Ausnahme, erschütternd persönlich sind. bestimmt nicht leichter.: »RICHTER: Woher wussten die Deutschen, dass Ihre Mutter Juden versteckt hat? Wer hat sie denunziert? SŁAWEK: Eine Jüdin hat sie denunziert. RYFKA: Nicht denunziert. Sie hat es einfach gesagt. SŁAWEK: Es war Sonntag, die Leute gingen aus der Kirche, über der verlassenen Lehmhütte schwebte Rauch. Die Kinder schauten hinein und schrien: Jüdin, kommt und schaut! Die Jüdin kam heraus, hinter ihr ein Mädchen und ein Junge, rußgeschwärzt. Die Jüdin begann mit Schnee ihre Hände zu waschen, dann das Gesicht, dann ihre Kinder. Und die Leute, die eben die Kirche verlassen haben, standen da und schauten zu. RYFKA: Interessantes Bild, nicht wahr? Eine Jüdin, die ihre Kinder wäscht – im Schnee, am helllichten Tag! SŁAWEK: Dann sind die Deutschen gekommen. Sie haben ihr versprochen, dass sie das Leben rettet, wenn sie sagt, wo sich andere Juden versteckt haben. Und sie hat es ihnen gesagt…« (Warlikowski 2009, S. 83–84). Und während der Verleihung des Ehrentitels Gerechter unter den Völkern in Yad Vashem benimmt sich die gerettete Ryfka provokativ und wirft den Polen den Antisemitismus vor. Ihr Enkel, in der Uniform der israelischen Armee, erzählt davon, dass er bereit wäre, zu töten. Die persönliche Geschichte seiner Großmutter und ihre Erfahrung des Holocaust ändert in dieser Hinsicht nichts. Alles, was er kann, ist ein quasi Wiederholen der uralten Mordrituale: »ENKEL: Ich sehe immer ein Gesicht vor Augen. Eins eines Mädchens. Sie lag vor mir, rang nach Atem, ihre schönen Lippen zitterten, sie starrte mich an. […] Ich wollte den Schweiß und das Blut von ihrer Stirn wischen, ihr sagen, es ist schon gut, es wird jetzt schon besser. Anstatt dessen habe ich ihr in den Kopf geschossen. Im Grunde genommen egal. […] Nein, ich habe sie nicht getötet. Ich habe nur ihr Foto gesehen. Ich wohne in Israel. Ich bin Soldat, und wenn es nötig sein wird, tue ich es. Ich töte.« (Ebd., S. 85).

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Bibliografie Banu, Georges: »W połowie z˙ycia ›w głe˛bi ciemnego lasu‹« (In der Hälfte des Lebens »tief im dunklen Wald«), Notatnik Teatralny (Theatralisches Notizbuch) Nr. 62–63 (2011), S. 11–13. Binder, Alicja: »Druga publicznos´c´« (Zweites Publikum), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 159–167. Bläske, Stefan: (A)pollonia – Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski entmystifiziert das Selbstopfer. Glaube nicht, dass du anders gehandelt hättest, verfügbar unter http:// www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content& view=article& id=2921:apollo nia-der-polnische-regisseur-krzysztof-warlikowski-entmystifiziert-das-selbstopfer-& catid=127:wiener-festwochen [17. 02. 2016]. Dobrowolski, Paweł: »Inne czasy. Rozmowa z Jackiem Poniedziałkiem« (Andere Zeiten. Ein Gespräch mit Jacek Poniedziałek), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 56–71. Hevelke, Ewa: »Is´c´. Rozmowa z Markiem Kalita˛« (Gehen. Ein Gespräch mit Marek Kalita), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 114–119. Hołuj, Tadeusz: »Dom pod Os´wie˛cimiem«, in ders.: Dom pod Os´wie˛cimiem. Puste pole. Krakjw 1979, S. 5–86. Kowalkowska, Dorota: »Aktor na emigracji. Rozmowa z Andrzejem Chyra˛« (Ein Schauspieler im Exil. Ein Gespräch mit Andrzej Chyra), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 90–97. Kowalska, Jolanta: »Aktor w stanie łaski« (Der Schauspieler im gesegneten Zustand), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 147–155. Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Berlin 2008. Raczek, Magda: »Sprzecznos´ci. O teatrze Warlikowskiego przez scenografie Małgorzaty Szcze˛´sniak« (Widersprüche. Über das Theater Warlikowskis im Kontext der Bühnengestaltung von Małgorzata Szcze˛s´niak), Notatnik Teatralny Nr. 62–63 (2011), S. 270–283. Rataj, Agnieszka: »Z˙ycie z pie˛tnem ´smierci« (Das Leben mit dem Brandmal des Todes), Z˙ycie Warszawy (»Warschauer Leben«) Nr. 116 (2009). Theißen, Gerd: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik. Berlin 2014. Warlikowski, Krzysztof: (A)pollonia. Warszawa 2009.

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Unmöglicher Dialog: Anrufung und Iteration in Performance-Arbeiten von Jochen Gerz, Marina Abramovicˇ , Jürgen Klauke und Holger Mader1

Im Kontext dieses literaturwissenschaftlichen Bandes über das Thema ›Dialog‹ behandelt der vorliegende Aufsatz in zweierlei Hinsicht ein Grenzphänomen. Erstens geht es hier nicht um Literatur, sondern um sprachbasierte Medien- und Performancekunst und zweitens thematisieren die untersuchten Werke eher die ›Unmöglichkeit‹ eines Dialogs – aufgrund ihres ästhetisch-künstlerischen Settings und der mit ihm verbundenen konzeptuellen Absenz oder dominanten Selbstbezüglichkeit des Gegenübers. Untersucht werden zwei Videoperformances und zwei mediatisierte Performances, in denen jeweils ein Wort oder Satz fortwährend wiederholt wird, bis die Dimension des Sinns und der Bedeutung nach und nach zugunsten einer reinen Materialität des Zeichens transzendiert wird. Bei dieser Form der ›reinen‹ Wiederholung handelt es sich im Sinne der Rhetorik nicht um eine rhetorische Figur, sondern eine Form der Redundanz.2 Die vier in chronologischer Reihenfolge diskutierten Werke sind: Jochen Gerz’ Videoperformance Rufen bis zur Erschöpfung (1972), Marina Abramovicˇs mediatisierte Performance Art must be Beautiful, Artist must be Beautiful (1975), Jürgen Klaukes mediatisierte Performance Hinsetzen/Aufsteh’n/Ich liebe Dich/Ein Dialog (1978) und Holger Maders Videoperformance Ich suche nichts, ich bin hier (1993). Es ist vor allem die bildende Kunst, die seit den 1960er und 70er Jahren als »Schauplatz der Ausdifferenzierung programmatisch repetitiver und rekursiver Praktiken in den Blick rückt«,3 und damit Verfahren der historischen Avantgarden aufgreift. Als ›mediatisierte Performance‹ wird hier die audiovisuelle Aufzeichnung einer Performance bezeichnet, welche in Kopräsenz von Akteur/innen und Pu1 Bei dieser Aufsatzpublikation handelt es sich um eine Auskoppelung aus dem Buch Claudia Benthien, Jordis Lau und Maraike Marxsen: The Literariness of Media Art: London/New York 2018. 2 Vgl. Stefanie Diekmann: »Wiederholen«, in: Heiko Christians/Matthias Bickenbach/Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 624. 3 Ebd., S. 627.

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blikum stattgefunden hat. Diese Situativität wird zumeist durch Angaben von Ort und Zeit verdeutlicht, aber auch dadurch, dass das Publikum sichtbar oder hörbar ist, und diese hat vielleicht gar Auswirkungen auf die Performance selbst. So bestimmt das Publikum zum Beispiel manchmal die Dauer der Performance oder deren Ablauf, indem es aktiv eingreift. Solche Live-Performances finden zumeist im Museums- und Galerienkontext statt, selten in Theatern. Mediatisiert bedeutet dann, dass eine Live-Performance von einem technischen Medium aufgezeichnet und in der Rezeption als Video zeitversetzt wiedergegeben wird. Ein Teil der Kunsttheorie argumentiert, dass eine mediatisierte Performance eigentlich keine Performance mehr sei, weil sich diese durch Singularität auszeichnet und weder konservier- noch reproduzierbar ist4 – eine Position, der hier nicht Folge geleistet wird. Demgegenüber handelt es sich bei einer Videoperformance im engeren Sinne um eine Einkanal-Videoarbeit. Die sich vollziehende Handlung wird einmalig und in einem zeitlichen Kontinuum gefilmt, der Performer bzw. die Performerin agiert für die Kamera. Es wird keine Narration erzeugt, sondern Echtzeit abgebildet. In einer Videoperformance gibt es im Unterschied zur Live-Performance keine anwesenden Zuschauer, sondern die Kamera ist das alleinige ›Publikum‹ (bisweilen mit einem Produktionsteam dahinter). Im Unterschied zu den meisten Videoarbeiten im Feld der Medienkunst jedoch, die mit bild- und tonbearbeitenden Verfahren sowie Schnitttechnik arbeiten, ist das Genre der Videoperformance dadurch gekennzeichnet, dass sie, genauso wie die LivePerformance vor Publikum keiner ästhetischen Bearbeitung im Sinne der post production unterworfen ist.

Jochen Gerz: Rufen bis zur Erschöpfung5 Die legendäre erste Videoperformance Rufen bis zu Erschöpfung (1972) des Konzeptkünstlers Jochen Gerz stellt die »Unwirklichkeit von Verständigung« aus, »die durch die technischen Medien geschaffen wird«.6 Es handelt sich um eine minimalistische Versuchsanordnung, die den deskriptiven Titel der Arbeit mit dem eigenen Körper und der sich als fragil erweisenden eigenen Stimme 4 Vgl. Dorothea von Hantelmann: How to Do Things with Art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst. Zürich/Berlin 2007, S. 8. 5 Von dieser Analyse liegt bereits eine frühere Fassung vor, vgl. Claudia Benthien; »Medialität, Materialität und Literarizität der Stimme in der Videokunst«, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 11.2 (2011), S. 226–228. 6 Gerz im Interview, zit. n. Rudolf Frieling: »1972. Rufen bis zur Erschöpfung. Jochen Gerz«, in: Rudolph Frieling/Wulf Herzogenrath (Hg.): 40 Jahre Videokunst.de – Teil 1. Digitales Erbe: Videokunst in Deutschland von 1963 bis heute. Ostfildern 2006, S. 128.

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umsetzt. Der auf der Horizontlinie eines steinigen Geröllhügels vor einem dramatischen Wolkenhimmel stehende, in schwarz-weiß gefilmte Protagonist ruft in einer einzigen langen Einstellung fortwährend »Hallo!«, bis er schließlich so heiser wird, dass ihm die Stimme gebricht. Seine Stimme kämpft gegen starken Wind, aber auch gegen den Lärm von vorbeifahrenden, jedoch nicht im Bild zu sehenden Autos. Mit diesem Setting greift Gerz eine zentrale Strategie der in den 1970er Jahren populären Performancekunst auf: die Arbeit mit Realsituationen – hier : die sich durch das Fortschreiten der Zeit einstellende Verausgabung des live agierenden Performers, der eine wiederholte Handlung ohne vorherige Probe bis zur vollständigen Erschöpfung vollzieht. Der sukzessive Stimmverlust, im Nachspann mit Ort, Datum und Porträtbildnis authentifiziert, währte circa 18 Minuten. Die ›Anrufung‹ des (imaginären) Publikums erfolgt aus einer unüberbrückbar scheinenden Distanz zur aufnehmenden Kamera – ja, sie stellt eben diese Distanz zum Medium dar und aus, was durch den landschaftlich bedingten Echo-Effekt noch verstärkt wird. Die Überwindung der Ferne wird allein mit akustischen Mitteln gesucht, denn die Figur bewegt sich nicht vom Fleck. Die Intention des Konzeptkünstlers besteht darin, das Medium Video »auf jene spezielle Weise zu benutzen, die darin besteht zu zeigen, daß es nicht funktioniert«,7 wie er selbst formuliert. Thematisiert wird die Stummheit des als einzigen Kommunikationspartner adressierten audiovisuellen Geräts, der Videokamera. Ihre unsichtbare Kopräsenz in der Szene wird ebenfalls akustisch erfahrbar : durch das mit aufgezeichnete Geräusch des starken Windes, der sich am Mikrofon bricht. Die raumzeitliche Distanz zu dem Aufzeichnungsgerät wie auch zu den späteren Rezipient/innen der Videoperformance wird in den von Gerz praktizierten Verfahren geschichteter Mediatisierung gespiegelt, die auch die zeitliche Distanz markieren: Das originale Videoband wurde mit einem Recorder abgespielt und auf einem TV-Monitor gezeigt und währenddessen vom Bildschirm mit einer Videokamera erneut abgefilmt. In der mise-en-scHne des ›sekundären‹ Videos wird der Fernseherrahmen nicht kaschiert, sondern ist deutlich an den Rändern des Videobildes zu sehen, wodurch eine Potenzierung erzeugt wird, eine gestufte Wiederholung ästhetischer Zeichen.8 Es vollzieht sich ein mehrfaches framing, das die Entfernung nicht nur zum rufenden Körper, sondern auch zum künstlerischen Medium kennzeichnet – Video wird als Video via Fernsehen wie aus zweiter Hand ›zitiert‹. Der minimalistische ›Text‹ der Videoperformance, das Wort »Hallo!«, erhält erst durch die fortwährende Wiederholung einen über den singulären Appell 7 Gerz zit. n. Frieling 2006, S. 128. 8 Vgl. Harald Fricke: »Potenzierung«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 3. Berlin/ New York 2007, S. 144.

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hinausgehenden ›Eigen-Sinn‹. Hat man einmal erkannt, dass der Ruf ins Nirgendwo geht – dass es keine Antwort geben wird bzw. kann –, beginnt man die Denotationen, Konnotationen und vor allem die changierenden Betonungen des zunehmend geschrienen Wortes zu deuten. Man hört Verzweiflung, Wut, Frustration und natürlich die zunehmende physische Erschöpfung heraus. Die kontinuierliche, mechanistische Wiederholung löst einen Distanzierungseffekt aus, wodurch das vertraute, alltägliche Wort nach und nach fremd und künstlich wirkt, was im Sinne der russischen Formalisten als Kunststrategie der Verfremdung und Entautomatisierung zu deuten ist.9 Im Fall von Gerz’ Rufen bis zur Erschöpfung hat die sinnlose Wiederholung komische und tragische Anteile zugleich – wie diese im Allgemeinen »doppelt« erscheint, »einmal im tragischen Geschick, das andere Mal im komischen Charakter«.10 Der Körper des Performers unterstützt durch ein unwillkürlich anmutendes Anheben der Arme oder die konvulsische Krümmung der Körpermitte die appellative Anrufung. Die in der Medienkunst späterer Dekaden austarierten »ästhetischen, philosophischen und ethischen Dimensionen des Appellcharakters der Stimme und der damit verbundenen Zeugenschaft des Hörens«11 werden von Gerz in dieser frühen Arbeit vorweggenommen und auch hinterfragt, gelangt der Ruf doch niemals an sein Ziel, obgleich er akustisch sehr wohl zu hören ist. Die Anrufung selbst wird durch die äußeren Rahmenbedingungen ad absurdum geführt, liegt ihr doch eigentlich die existentielle Aufforderung zugrunde, dass der oder die Adressierte eine Nachricht entgegenzunehmen hat – »eine flehentliche Bitte an einen Anderen, der einem Ruf Folge leisten, helfen, schlichten, urteilen, antworten oder einfach nur Rückmeldung geben soll«.12 Bei Gerz ist es die vermeintlich ›existenzielle‹ Isolation des Künstlersubjekts, die mittels der rufenden Stimme sowie zunehmend auch der körperlichen Kontraktionen, der physischen Qual, zugleich performiert und – als eine Art absurder Tragikkomödie – ironisch ausgestellt wird. Des Weiteren erfolgt ein langsamer Übergang vom Versuch der Übermittlung einer Botschaft zur reinen Materialität der Stimme. Oder anders gesagt: vom ›Phänotext‹ zum ›Genotext‹, mithin von der Struktur der gesprochenen Sprache hin zur Aspekten wie Volumen, Klanglichkeit, Lautheit und andere Dimensionen der Materialität 9 Vgl. Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978, S. 107. Hansen-Löve bezieht sich hier auf den Formalisten Lev Jakubinskij und den Psychologen William James. 10 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl. München 1992, S. 32. 11 Sigrid Weigel: »Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom – Kulturwissenschaftliche Perspektiven«, in: Doris Kolesch/Sibylle Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 44. 12 Vgl. Andrea Allerkamp: »Unhörbare Stimmen – Zur Figur des Anrufs. Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan«, in: Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters (Hg.): De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt. München 2002, S. 178–179.

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der Stimme.13 Zeichentheoretisch gefasst vollzieht sich die sukzessive, von den Rezipienten wahrnehmbare Transformation des Rufs von der Ebene des Signifikats zu der des bloßen Signifikanten.

Marina Abramovicˇ : Art must be Beautiful, Artist must be Beautiful Marina Abramovicˇs Arbeit Art must be Beautiful, Artist must be Beautiful (1975) basiert auf einer Live-Performance, die simultan per Videokamera aufgezeichnet wurde und seitdem als mediatisierte Performance in verschiedenen Kunstkontexten gezeigt wird. Auch sie weist ein sehr schlichtes und einfaches Setting auf, wie die Selbstbeschreibung der Künstlerin in ihrem catalogue raison8e zeigt: Ich bürste mir das Haar mit einer Metallbürste in der rechten Hand und kämme mir gleichzeitig das Haar mit einem Metallkamm in der linken Hand. Während ich dies mache, wiederhole ich »Kunst muss schön sein, der Künstler muss schön sein« solange, bis ich mich in meinem Gesicht verletzt und meinem Haar geschadet habe.14

Die Performance endet, wie viele von Abramovicˇs frühen Arbeiten, zu einem Zeitpunkt, der formal, aber nicht temporal definiert ist: der Verletzung von Gesicht und Kopfhaut. Wie bei Gerz ist es die Schmerzerfahrung, die die Performance zu einem Ende bringt. Gegenüber der einstündigen Dauer von Abramovicˇs Performance, die live vor Publikum stattfand (1975 auf dem Charlottenburg Art Festival in Kopenhagen), ist die Video-Aufzeichnung auf knapp 15 Minuten reduziert – es finden sich bei genauerer Betrachtung mehrere Schnitte innerhalb des Bandes –, wobei ausgeführte Handlung und Intonation des Textes einen ansteigenden Spannungsbogen beschreiben, der zum Schluss rapide abfällt. Im Video ist Abramovicˇ frontal im close-up zu sehen, mit nackten Schultern vor hellem, undefinierten Hintergrund, sie blickt aber nicht direkt in die Kamera, sondern eher darunter, vermutlich auf den dort befindlichen Monitor. Der Kamera kommt in dieser Arbeit eine wichtige Bedeutung zu, die über die des reinen Aufzeichnungsgeräts hinausgeht: Sie wird zu einer Art Spiegel und mithin zu einem überaus signifikanten Requisit. Anders als Gerz, der die Kamera adressiert – als Gegenüber oder passiv bleibenden Dialogpartner – ist Abramovicˇs Aufmerksamkeit unmittelbar auf diesen unsichtbaren Punkt fokussiert, was eine selbstreflexive Schleife erzeugt. 13 Vgl. Roland Barthes: »Die Rauheit der Stimme«, in: ders: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1990, S. 272. 14 Marina Abramovicˇ : Artist Body. Performances 1969–1997, hg. v. Toni Stooss. Mailand 1998, S. 110.

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Auch die Formel »Art must be Beautiful, Artist must be beautiful« ist selbstreferentiell und performativ im doppelten Sinn, verweist sie doch sowohl auf das Werk – die Performance – als auch auf die agierende Künstlerin. Mit ihrer formalen Struktur rekurriert die schon in der Live-Situation sich selbst mediatisierende Performance auf ein prominentes Subgenre der Videokunst, nämlich die der Feedback-Technologie, die im Kunstkontext als closed circuit installation bezeichnet wird, und mit der die Künstler über sich selbst reflektieren, über die Positionierung des Betrachters sowie die der elektronischen Medien an sich.15 Man kann aber auch auf die Literaturtheorie Bezug nehmen, wo eine solche Form der Potenzierung, die durch technische Rückkoppelung der gestuften Wiederholung erfolgt (z. B. Spiegel im Spiegel, Videoaufnahme des eigenen Monitors u. a.), als »rekursive Iteration« bezeichnet wird.16 Zu Beginn fährt sich die Künstlerin langsam und bedächtig mit Kamm und Bürste durch das halblange dunkle Haar. Im Rhythmus der Handlung wiederholt sie ruhig und sachlich die beiden Sätze wie ein Mantra. Die Szene nimmt an Intensität und Geschwindigkeit allmählich zu, man kann eine wachsende Spannung in der Bewegung und im Textausdruck beobachten. Abramovicˇs Intonation nimmt mehr und mehr die Form eines Imperativs an, der an sie selbst gerichtet ist. Die alltäglichen Frisierutensilien verwandeln sich in Schmerz erzeugende Werkzeuge, mit denen die Darstellerin nicht nur Gesicht und Haare traktiert, sondern auch den Kopf ruckartig in alle möglichen Richtungen zieht. Gegen Ende stößt die Künstlerin ihren Text verzweifelt und mit ermatteter Stimme hervor; sie schließt erschöpft die Augen und lässt zum Abschluss den Kopf nach hinten sinken. Vielfach wurde in der sogenannten Body Art der 1970er Jahre der Körper als künstlerisches Material eingesetzt, um auf gesellschaftliche Repressionen und Stereotype hinzuweisen und die Rolle der traditionellen Kunst zu hinterfragen, so auch in dieser Arbeit Abramovicˇs: In subtiler Zuspitzung bringt die performative Etüde eine klischeehafte Aussage über Kunst und Künstler mit der Person der Künstlerin in Verbindung. Gleichzeitig trägt die monologische Wiederholung des Textes zu dessen Sinnentleerung bei, was die spezifische, um eine schöne Erscheinung ringende und absichtsvoll verhindernde Handlung der Performerin zusätzlich unterstreicht. In dem Bild der sich zur Erreichung eines äußerlichen Schönheitsideals mit dem Haarekämmen abquälenden jungen Frau vermengen sich Fragen nach der künstlerischen Existenz, nach der Rolle, die der Künstler für die Gesellschaft spielen kann, mit der tradierten Vorstellung, dass das Kämmen der Haare gleichbedeutend mit dem Ordnen der Gedanken ist. 15 Vgl. Sylvia Martin: Video Art. Köln u. a. 2006, S. 12. 16 Vgl. Fricke 2007, S. 144.

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Emerging as an adequate medium for recording Body Art actions and for reviewing such acts of self-portrayal was the video camera, which could be used in a direct and immediate fashion. Abramovic thematizes this aspect explicitly in her video. Again and again, she looks down at herself in the monitor, positioned outside of the image surface, in order to examine the live footage that is transmitted by the camera. In connection with the beauty that is invoked in the performance piece, the importance of the camera goes beyond its function as a recording medium. As a mirror, it assumes the role of a highly significant stage prop.17

Weil es eine junge, attraktive Frau ist, die die iterative Aussage tätigt, kann dies als feministische Kritik am Kunstmarkt verstanden werden, wonach es insbesondere Künstlerinnen sind, die ihren eigenen Körper einsetzen müssen, um erfolgreich zu sein. Mit ihrer normativen Aussage behauptet die Performerin, diese Schönheit herzustellen, faktisch zerstört sie sie aber, zumindest temporär. Die sich hier offenbarenden Paradoxien stellen ein wichtiges Merkmal von Selbstreferentialität dar. Durch die Verbalisierung wird die Schönheit sowohl in den Vordergrund gerückt – vermeintlich sogar hergestellt –, durch die beständige Schönheitspflege, das Kämmen und Bürsten, wird sie zugleich hinterfragt und negiert. Literaturtheoretisch könnte man hier erneut von »gestufter Iteration« sprechen, insofern eine Zeichenrelation auf je höherer Ebene wiederholt wird: Marina Abramovicˇ als ›schöne Künstlerin‹ verweist auf die Schönheit von Künstlerinnen. Außerdem werden durch die strukturelle Symmetrie der iterierten Sätze Kunstwerk und Künstler/in gleichgesetzt: Durch die irreguläre Großschreibung des Wortes »Artist« wird dieses hervorgehoben und die Substantive beider Sätze werden über das Äquivalenzprinzip zusammengeführt, ganz im Sinne der poetischen Funktion nach Roman Jacobson,18 als würde es sich um zwei Verse eines modernen Gedichts handeln, die nur in drei Buchstaben voneinander abweichen.

Jürgen Klauke: Hinsetzen/Aufsteh’n/Ich liebe Dich Die dritte Arbeit in dieser kleinen Serie ist die Performance Hinsetzen/Aufsteh’n/ Ich liebe Dich von Jürgen Klauke, die den Untertitel Ein Dialog trägt. Erstmals hat der Künstler diese 1979 auf einem Performance-Symposium im Münchner Lenbach-Haus durchgeführt, dann noch zwei weitere Male (1979 auf der Third Biennale of Sydney und 1981 im Goethe-Institut Ankara). Die Arbeit wird auf 17 Doris Krystof: »Marina Abramovic. Art must be Beautiful«, http://www.nrw-museum.de/ kuenstler/marina-abramovic/work/art-must-be-beautiful.html [17. 1. 2018]. 18 Vgl. Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, übers. v. Tarcisius Schelbert, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. hg. v. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt m Main 1979, S. 92–94.

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Klaukes Homepage als »Installation, Sound, Live-Akt, 22 Minuten« klassifiziert.19 Dabei handelt es sich um einen einfachen Aufbau, der mit einer Standkamera aus dem Zuschauerraum gefilmt wurde: Rechts und links von einem Tisch steht je ein Stuhl, auf dem rechten Stuhl befindet sich ein Tonbandgerät, links vor dem Stuhl steht Klauke. Über den Tisch ragt, auf sein Gesicht ausgerichtet, ein Mikrophon. Aus dem Tonband erklingen, von einer anderen männlichen Stimme vorgetragen, die Befehle: »Hinsetzen« und »Aufstehen«, denen der Performer Folge leistet. Ferner ist eine apathisch klingende Frauenstimme zu hören (aus dem Off, ebenfalls per Tonband), mit dem Satz: »Ich liebe dich«. Der Künstler antwortet live ins Mikrophon mit dem gleichen Satz mit einer ähnlichen nicht-enthusiastischen Betonung. Dieser absurde Zyklus aus Behauptung, Bestätigung, Befehl und Gehorchen wiederholt sich unablässig. Weil die aufgezeichnete Frauenstimme zunächst gleich bleibt, egal was auf der Bühne geschieht, die Männerstimmen hingegen immer barscher, aggressiver werden – die eine live, die andere durch Beschleunigung des Tonbandes – klaffen die Stimmniveaus zunehmend auseinander. Der Rhythmus der vom Band kommenden Befehle wird immer schneller und klingt dadurch schärfer, und auch der Performer spricht seine Antwort immer gereizter ins Mikrophon, zuletzt schreit er sie. Am Schluss klingt die weibliche Stimme technisch manipuliert, wie eine Roboter-Stimme, auch sie verfällt in eine Art Litanei, indem sie die Liebeserklärung in langsamen Tempo nunmehr ohne Unterlass wiederholt, so dass ein neuer Rhythmus entsteht, gebildet durch die drei Worte. Parallel ertönen die Befehle, die Klauke nach wie vor ausführt. Die Akzeleration mündet schließlich in ein aggressives Stimmengewirr, das an das im Dadaismus entwickelte Konzept des Simultangedichts erinnert. Zuletzt wirft Klauke das Mikrophon um, nimmt den Stuhl, zerschlägt ihn auf dem Tisch und verlässt die Bühne, während aus dem Tonband noch zweimal die Befehle »Hinsetzen«, »Aufstehen« ertönten. Klaukes Performance lässt sich so als ein politischer Kommentar verstehen, der die Überwindung eines oppressiven Regimes darstellt. Die passive Erduldung und Durchführung der Befehle durch den Performer wird kontrastiert durch dessen befreienden Ausbruch am Schluss. Die Zuschauer sind während Klaukes Performance-Installation im LenbachHaus, die als Basis dieser Analyse dient, da nur sie als Video verfügbar ist, sehr unruhig. Das Publikum fühlt sich anscheinend von der Monotonie und anscheinenden Banalität dieser Darbietung unterfordert und provoziert. Nach etwa neun Minuten beginnen Zwischenrufe und Gelächter. Das Publikum variiert die vom Tonband stammenden Befehle oder spricht sie in einem eigenen Rhythmus nach, es führt sie selbst durch Aufstehen und Hinsetzen aus, lacht, 19 Vgl. http://www.juergen-klauke.de/arbeiten/performance/1979-1981_hinsetzen_aufstehen_ liebe/liebe2.html [17. 1. 2018].

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gibt Kommentare und sucht, durch Klatschen ein Ende der Performance zu erzwingen. Aber selbst die direkte Ansprache scheitert darin, eine Reaktion des Performers zu evozieren. Einer Selbstdeutung des Künstlers zufolge unterwirft sich das Publikum schließlich erneut der Performance, es lässt sich von der Darbietung einnehmen und verstummt.20 Unter performativitätstheoretischer Hinsicht ist die Performance interessant, weil ihre wenigen Worte mehrere Sprechakte enthalten: Erstens zwei Befehle (Aufstehen, Hinsetzen) – die stumm ausgeführt werden – in der Terminologie von John Searle: direktive Sprechakte –; zweitens eine Deklaration (Liebeserklärung) und die bestätigende Gegen-Deklaration – diese könnte man entweder als Kommissiva oder als Deklarativa bezeichnen, je nachdem, für wie glaubwürdig man sie hält.21 Die Anonymität des Befehls, der die Anmutung einer autoritären Militär- oder Schulsituation hat, kann an jeden gerichtet sei; die vermeintliche Intimität des »Ich liebe Dich« steht dem diametral gegenüber. Nicht nur durch die fehlende physische Anwesenheit der Dialogpartnerin, sondern auch durch die beständige und nahezu affektfreie Wiederholung wird die Deklaration höchst unglaubwürdig. Die ›Sprache der Intimität‹ wird parodiert und pervertiert, weil auf dem Stuhl gegenüber nicht die Partnerin sitzt, sondern ein Tonband steht. Nicht zuletzt wird so, wie oft bei Klauke, die dominante heterosexuelle Matrix in Frage gestellt. Die Sprache der Intimität und die diktatorischer Unterdrückung werden als verwoben gezeigt, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Künstler bisweilen die Formel »Made in Germany« als zweiten Untertitel dieser Arbeit verwendet, was auf die Kontamination der deutschen Sprache durch den Nazismus hinweist. Klaukes Performance liegt also grundsätzlich ein performativitätskritisches Verständnis von Sprache zugrunde: Die Performativität ist demzufolge kein einmaliger »Akt«, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist.22

Hinsetzen/Aufsteh’n/Ich liebe Dich ist demnach eine Performance, die ebendieses Verschleiern oder Verbergen von Konventionen zum Thema macht, indem sie deren Wiederholungsmotiv ausstellt und überzeichnet. Als eine Art Versuchsanordnung zeigt auch diese Performance einen ge20 Dem Kommentar auf Klaukes Homepage entnommen, ebd. 21 Vgl. John R. Searle: »Eine Taxonomie illokutionärer Akte«, in: ders.: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, übers. v. Andreas Kemmerling. Frankfurt am Main 1982, S. 31–39. 22 Judith Butler : Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt am Main 1997, S. 36.

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schlossenen Kreislauf (closed circuit) der Abhängigkeit, den das Publikum trotz seiner Versuche der Intervention nicht zu öffnen vermag. Sie verweist auf eine mediale Schleife aus Hören, Gehorchen, Nachsprechen und monotonen körperlichen Handlungen, die perzipiert, nicht aber verändert werden kann. Anders als in Gerz’ Rufen bis zur Erschöpfung geht es bei Klauke nicht um den Zustand physischen Kollabierens, sondern um eine Art ›Energiefeld‹, das an dem bestimmten Punkt auseinanderbricht, in dem der Performer es aggressiv verlässt.

Holger Mader: Ich suche nichts, ich bin hier Die vierte Arbeit, die ich vorstellen möchte, unterscheidet sich von den vorangegangenen in zweierlei Hinsicht: Erstens ist sie nicht in den 1970er Jahren entstanden, einer Dekade, in der die Performance Art wie auch eine Meta-Reflexion über das neue Medium Video sehr prominent waren. Zweitens führt in dieser Arbeit der Künstler die Performance nicht selbst durch, sondern hat eine andere Person dafür engagiert. In der Videoperformance sieht man einen asiatisch aussehenden jungen Mann namens Chun-Chi Lin – vielleicht einen Schauspieler, vielleicht einen Bekannten des Künstlers.23 Er wirkt etwas verstört oder verängstigt; die meiste Zeit hat er Tränen im Augenwinkel. Der Performer wiederholt kontinuierlich die Sätze »Ich suche nichts, ich bin hier«24 mit ansteigender Intensität, während er durch blaues und rot-gelbes Licht angestrahlt wird. Seine monotone, monologische Rede wird ungefähr ab der Hälfte mit einem anwachsenden Hall unterlegt. Ferner beginnt zuerst sein Kopf, dann sein ganzer Oberkörper zu kreisen, wodurch der Ruf rhythmisiert wird. Diese Bewegung suggeriert, dass der Sprecher durch seine Anrufung selbst adressiert wird. Erika Linz bezeichnet dies als die »Reflexivität der Stimme«,25 worunter sie die prozessurale Verknüpfung von Sprechen und Sich-selbst-Hören im Akt der Verlautbarung versteht. Am Ende von Maders Arbeit verschließt der Protagonist seine Ohren mit den Händen – 23 Diesen Namen findet man im Internet, u. a. unter : http://www.filmportal.de/film/ich-suchenichts-ich-bin-hier_5df38abeec624521bd86cf4817857854 [17. 1. 2018]. 24 Im Vorspann des Videos wird diese Aussage als Zitat eines Autors namens Jean Soupault genannt. Faktisch handelt es sich um den französischen Surrealisten Philippe Soupault; der Text (»je ne cherche rien j je suis ici«) entstammt seinem Langgedicht »Westwego« (1922). Die Videoarbeit Holger Maders ist, ebenso wie der Künstler, auf dem Kunstmarkt unbekannt. Dieser Analyse liegt die Kopie am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Karlsruhe, zugrunde. An der dortigen Hochschule für Gestaltung hat Mader studiert und den Jugendvideopreis für Ich suche nichts, ich bin hier erhalten. 25 Erika Linz: »The Reflexivity of Voice«, in: Ludwig Jäger/Erika Linz/Irmela Schneider (Hg.): Media, Culture and Mediality. New Insights into the Current State of Research. Bielefeld 2010, S. 333.

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das Hören seiner selbst ist zu einer Tortur geworden. Die Iteration des Satzes erreicht ihren Höhepunkt und endet abrupt, nach drei insistierenden, stark rhythmisierten Exklamationen von »ich bin hier«. Was aber sagt die Proposition »Ich suche nichts, ich bin hier« aus? Zunächst ist sie ein auf Anwesenheit insistierendes Statement. Dies irritiert nicht zuletzt im Kontext eines immateriellen Medienkunstwerk, das auf Programmierung und Codierung beruht: Wo ist »hier«? In welchem Raum ist der Sprecher situiert? Und warum befindet sich die Figur nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie des Bildes? Diese Platzierung rekurriert möglicherweise symbolisch auf den prekären sozialen Status eines Migranten in der (deutschen) Mehrheitsgesellschaft. Die Aussage wird mit einem leicht asiatisch anmutenden Akzent in der Sprache jenes Landes getroffen, in der die Videoperformance produziert wurde. Ist dies möglicherweise eine performative Reaktion auf alle diese Deutschen, die einen fremd aussehenden jungen Mann – in einer Attitüde des Helfens, aber zugleich auch des Ausschließens – fragen, ob er irgendetwas sucht, ob man ihm behilflich sein kann? Seine Insistenz, »hier« zu sein, wird parataktisch mit dem Negieren einer Suche, des Suchens, verknüpft: als eine performative Deklaration der erfolgreichen Ankunft. Durch das Schreien und den Hall der Worte verliert der Satz gleichwohl nach und nach seine deklamatorische Funktion und wird unfreiwillig hinterfragt: Der Sprecher wird durch seine eigene (technisch amplifizierte und manipulierte) linguistische ›Macht‹ affiziert, aber auch erschrocken. Durch den Echo-Effekt – selbst eine Form des Wiederholens und der Verdopplung – scheint es so, als würde er schließlich von seiner eigenen Behauptung gejagt.

Zusammenfassung und Resümee Die gesprochenen Texte aller vier diskutierten Arbeiten werden aus Worten oder Sätzen gebildet, die von den jeweiligen Performern nicht als originell oder authentisch präsentiert werden, sondern als Sprachmuster oder Zitate – als ›uneigentliche Rede‹. Es handelt sich nicht um eine abbildhafte Nachahmung von Gesprächen, sondern um als absurd vorgeführte Wiederholungen derselben.26 Die schier endlos anmutende Wiederholung eines oder weniger Worte sowie die technische Manipulierung der Stimme/n betonen diesen Aspekt. Es werden Sprechakte performt, die auf konditionierten Situationen beruhen oder die sich 26 »Die Kunst ahmt nicht nach, ahmt aber vor allen Dingen deswegen nicht nach, weil sie wiederholt und aufgrund einer inneren Macht alle Wiederholungen wiederholt (die Nachahmung ist ein Abbild, die Kunst aber Trugbild, sie verkehrt die Abbilder in Trugbilder).« Deleuze 1992, S. 364.

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die Performer aneignen. Man kann hier auf Iteration als generelles Merkmal von Performativität hinweisen.27 Aber auch auf einem sehr schlichten Level wird durch Wiederholung unwillkürlich ›Differenz‹ eingeschrieben: But even when the whole sign [i. e. signifier and signified] is repeated, difference is introduced through the very fact of repetition, the accumulation of significance it entails, and the change effected by the different context in which it is placed. We never go into the same river twice, and no pure repetition exists.28

Grundlegend heißt dies: Es gibt keine ›Original-Äußerung‹, die wiederholt wird, sondern auch alles erstmals Gesagte beruht auf Wiederholung. Eine Dimension der Wiederholung, spezifisch für sprachbasierte Performancekunst, ist die Duplizierung der gesprochenen Worte durch den Körper des Performers. Die ebenfalls wiederholten Bewegungen verdoppeln, intensivieren und unterstreichen die Sprechakte wie auch ihre Iterationsstruktur. Hypertrophe Iteration wird als ästhetisches Verfahren eingesetzt, um Temporalität erfahrbar zu machen – anders ausgedrückt: um diese weniger zu erleben, als vielmehr zu erleiden – wie dies oft in Performancekunst der Fall ist. Man kann hier auf das Konzept der ›fühlbar gemachten Realzeit‹29 hinweisen, das gerade auch für die frühe Videokunst von Bedeutung war oder auf entsprechende Performances von John Cage (zum Beispiel seine radikale Komposition 4’33, auch bekannt unter dem Titel Silent Piece). Andererseits muss man auch das Paradox berücksichtigen, dass Wiederholung zwar nur in der Zeit existiert, diese aber zugleich zerstört30 – und zwar, indem sie das Wiederholte notwendig als ›schon gewesen‹, als vergangen markiert. Ostentative Wiederholung ist auch ein zentrales künstlerisches Verfahren in der Literatur, das u. a. von Viktor Sˇklovskij diskutiert wird, der davon ausgeht, dass durch Wiederholung die Dinge automatisiert und konventionalisiert werden.31 Wird jedoch der Akt der Iteration selbst derart hervorgehoben und exponiert, resultiert dies in einer Deautomatisierung der Wahrnehmung.32 Klauke 27 Vgl. Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 291–314. 28 Shlomith Rimmon-Kenan. »The Paradoxical Status of Repetition«. Poetics Today 1.4 (1980): 151–159, S. 152–153. 29 Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst, München 2000, S. 32. 30 Vgl. Rimmon-Kenan 1980, S. 158. 31 Vgl. Viktor Sˇklovskij: »Kunst als Kunstgriff« [1925], in: ders.: Theorie der Prosa, übers. v. Gisela Drohla. Frankfurt am Main 1984, S. 7–27. 32 »The function of poetic language consists in the maximum of foregrounding of the utterance. Foregrounding is the opposite of automatization, that is, the deautomatization of an act; the more an act is automatized, the less it is consciously executed; the more it is foregrounded, the more completely conscious does it become.« Jan Mukarˇovsky´ : »Standard Language and Poetic Language«, in: Paul L. Garvin (hg. u. Übers.): A Prague School Reader on Esthetics, Literary Structure and Style, 3. Aufl. Washington, D.C. 2007, S. 19.

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zum Beispiel stellt mit seiner Performance nicht nur dar, wie er durch beständige Wiederholung in den Zyklus der Automatisierung gerät, sondern auch, wie er daraus ausbricht. Ferner werden die gleichen Dispositionen des Publikums gespiegelt, das vergeblich auszubrechen versucht. Es geht also – analog zu einem der Zentralgedanken des russischen Formalismus – darum, mittels Kunst den Wahrnehmungsprozess zu verlängern.33 In den untersuchten Performance-Arbeiten beinhaltet dies eine Bewusstwerdung des Sprachgebrauchs und natürlich der extremen Monolinearität der Kommunikation – der fehlenden Respondenz des Gegenübers –, die dazu führt, dass die artikulierten Worte in ihrer Materialität und Volatilität, aber auch in ihrer Absurdität wahrnehmbar werden. In den (Video-)Performances wird das Verhältnis von Sprache – oder allgemeiner : Zeichen – zur Technik/Technologie in den Vordergrund gestellt. Man könnte von einem ›Zeitalter der Wiederholung‹ sprechen, das im frühen 20. Jahrhundert durch die Entwicklung verschiedener audiovisueller Aufzeichnungstechniken eingeläutet wurde und in der Postmoderne durch die »Repetition der Medien« letztlich ad absurdum geführt wird.34 Die Präsenz von Technik wird in allen vier Arbeiten thematisiert: bei Gerz durch den TV-Bildschirm und die ›Spürbarkeit‹ des Mikrofons, bei Abramovicˇ durch den konstanten Blick in den Video-Monitor, bei Klauke durch die Kassettenrekorder und das Mikrophon, bei Mader durch die Sound-Manipulation und die Beleuchtung. Faktisch präsentieren alle vier Performances die ›Unerträglichkeit‹ von (technischer) Wiederholung als eines ihrer Hauptthemen. In den performativen Werken, insbesondere bei Gerz und Mader, adressiert der Performer ein (vage bleibendes) Gegenüber, aber es gibt keine (aktive) Reaktion. Iteration wird daher als Prinzip vorgestellt, das mit einem Mangel an response zu tun hat, als eine fatale Subjektivität und Isolation. Insofern die Performer sich auch selbst adressieren, weisen die Arbeiten eine Zirkularität auf, die sie zu dem Genre der closed-circuit-Installation in der Videokunst mit ihren autopoietischen Feedback-Schleifen in eine Ähnlichkeitsbeziehung setzt. Zirkularität und Selbstreflexivität sind auch auf einer weiteren Ebene zu finden: Handlungen, die in den Performances durchgeführt werden, werden selbstreflexiv in den Titeln benannt, wie das deskriptive Rufen bis zur Erschöpfung. Weithin sind in drei Werken die Titel zugleich jene Worte, die von den Künstlern wieder und wieder artikuliert werden: sowohl Art must be Beautiful, Artist must be Beautiful als auch Hinsetzen/Aufsteh’n/Ich liebe Dich und schließlich Ich suche nichts, ich bin hier. Die Titel können daher als Zitate des Inhalts verstanden 33 Vgl. Sˇklovskij 1984, S. 14. 34 Vgl. Umberto Eco: »Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien«, übers. v. Rolf Eichler, in: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig 1989, S. 302.

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werden – oder anders herum, der Inhalt als Zitat (oder Ausagieren, Aufführen) des Titels, demnach als eine paradoxe und potenzierende Form der Wiederholung. Mit literaturtheoretischer Terminologie könnte dieses Phänomen als Metalepsis bezeichnet werden. Betrachtet man die hier präsentierten Videoarbeiten unter der Perspektive des Dialogs, so finden sich in jedem Fall gestörte kommunikative Verhältnisse: Bei Gerz handelt es sich um eine Anrufung, eine Kontaktaufnahme, die – aus medientechnischen Gründen – nicht zu einer Antwort führt, bei Abramovicˇ um eine reine Selbstadressierung – mithin eine Art ›dialogisierten Monologs‹35 vor Publikum, bei Klauke um einen bloßen Schein-Dialog, den der Künstler mit zwei aufgezeichneten ›Dialogpartnern‹ führt und bei Mader um die beständige Antwort auf eine unbekannte Frage, die nie zu hören ist. In allen vier Arbeiten wird demnach die Unmöglichkeit des Dialogs in medialen Konstellation demonstriert, aber auch performativ und iterativ hergestellt.

Bibliografie Abramovicˇ, Marina: Artist Body. Performances 1969–1997, hg. v. Toni Stooss. Mailand 1998. Allerkamp, Andrea. »Unhörbare Stimmen – Zur Figur des Anrufs. Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan«, in: Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters (Hg.): De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt. München 2002, S. 177–194. Barthes, Roland: »Die Rauheit der Stimme«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1990, S. 269–278. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt am Main 1997. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl. München 1992. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann. Wien 1988, S. 291–314. Diekmann, Stefanie: »Wiederholen«, in: Heiko Christians/Matthias Bickenbach/Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 621–640. Eco, Umberto: »Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien«, übers. von Rolf Eichler, in: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und ZeichenLeipzig 1989, S. 301–324. Fricke, Harald: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst, München 2000. Fricke, Harald: »Potenzierung«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 3. Berlin/New York 2007, S. 144–147.

35 Vgl. Manfred Pfister : Das Drama, 9. Aufl. München 1997, S. 184.

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Frieling, Rudolf: »1972. Rufen bis zur Erschöpfung. Jochen Gerz«, in: ders./Wulf Herzogenrath (Hg.): 40 Jahre Videokunst.de – Teil 1. Digitales Erbe: Videokunst in Deutschland von 1963 bis heute, Ostfildern 2006, S. 128–131. Hansen-Löve, Aage A.: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978. Hantelmann, Dorothea von: How to Do Things with Art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst. Zürich/Berlin 2007. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, übers. v. Tarcisius Schelbert, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, hg. v. Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt am Main 1979, S. 83–121. Kalu, Joy Kristin: Ästhetik der Wiederholung. Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances. Bielefeld 2013. Linz, Erika: »The Reflexivity of Voice«. in: Ludwig Jäger/Erika Linz/Irmela Schneider (Hg.): Media, Culture, and Mediality. New Insights into the Current State of Research. Bielefeld 2010, S. 333–348. Martin, Sylvia: Video Art, hg. v. Uta Grosenick. Köln u. a. 2006. Mukarˇovsky´, Jan: »Standard Language and Poetic Language«, in: Paul L. Garvin (Hg. u. Übers.): A Prague School Reader on Esthetics, Literary Structure and Style. 3. Aufl. Washington, D.C. 2007. S. 17–30. Pfister, Manfred: Das Drama, 9. Aufl. München 1997. Rimmon-Kenan, Shlomith; »The Paradoxical Status of Repetition«, in: Poetics Today 1.4 (1980), S. 151–159. Searle, John R.: »Eine Taxonomie illokutionärer Akte«, in: ders.: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, übers. v. Andreas Kemmerling. Frankfurt am Main 1982, S. 17–50. Sˇklovskij, Viktor : »Kunst als Kunstgriff« [1925], in ders.: Theorie der Prosa, übers. v. Gisela Drohla. Frankfurt am Main 1966, S. 7–27. Weigel, Sigrid: »Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom – Kulturwissenschaftliche Perspektiven«, in: Doris Kolesch/Sibylle Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 16–39.

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Gespräche »und noch was anderes«.1 Dialogizität in Arno Schmidts Abend mit Goldrand für Severin Müller

Das Jubiläumsjahr Arno Schmidts liegt noch nicht weit zurück – Anlass genug, erneut über den Autor nachzudenken. Denn wenngleich in den letzten beiden Jahrzehnten nach der Phase der ›Rückverzettelung‹ und des Nachschreibens von Selbstexplikationen des Autors das Werk endlich, wie in den Hamburger Heften zur Forschung und einzelnen Studien, in größere Kontexte gestellt worden ist,2 scheint es doch von aktuellen literaturtheoretischen Debatten nach wie vor abgeschnitten zu sein. Für keinen der zahlreichen ›turns‹ in den Geisteswissenschaften, sei er cultural, pictorial oder digital, werden aktuell Schmidts Texte herangezogen, anders als beispielsweise das in mancher Hinsicht ähnliche Werk W. G. Sebalds.3 Das Ergebnis einer solchen weitgehenden Entkoppelung des Werks von je aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskursen schadet sowohl der Wissenschaft als auch dem Autor : der Wissenschaft, weil sie in der Gegenwartsliteratur Neues aufzufinden meint, das von Schmidt längst und fast immer intensiver vorgelegt worden ist;4 dem Autor, weil er heute kaum anders gesehen wird als vor fünfzig oder vierzig Jahren, als ›Solipsist in der Heide‹ nämlich. Das Werk Schmidts, zumal das späte seit Zettel’s Traum, besitzt den Nimbus 1 Dies ist einer der Lieblingssprüche der Figur Martina in Abend mit Goldrand (vgl. z. B. AmG 130, 143 u. ö.). – Zitiert wird (als AmG mit Seitenzahl) das Typoskript: Arno Schmidt: Abend mit Goldrand / eine MärchenPosse / 55 Bilder aus der Lä/Endlichkeit / für / Gönner der VerschreibKunst. Faksimile-Wiedergabe. Frankfurt am Main 1975. Die typographischen Eigenheiten des Titels lassen sich hier leider nicht reproduzieren. 2 Etwa Severin Müller : »«Narbiger Silberball« im »Welthorizont«. Phänomenologie des Phantastischen bei Edmund Husserl und Arno Schmidt (»Gadir«)«, in: Günther Pöltner (Hg.): Phänomenologie der Kunst. Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1999 (= Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie. Bd. 5). Frankfurt am Main 2000, S. 43–86. 3 Um ein Beispiel zu nennen: In dem von Martina Wagner-Egelhaaf herausgegebenen Band zur »Auto(r)fiktion« (Bielefeld 2013) finden sich zwei Beiträge zu Sebald, aber kein einziger Satz zu Schmidt. Auch auf dem Germanistentag 2016 in Bayreuth spielte Arno Schmidt im Panel zu diesem Thema keine Rolle. 4 Autoren wie Thomas Glavinic oder Clemens J. Setz werden für autofiktionale Experimente gepriesen, die verglichen mit denen Schmidts als weder neu noch besonders beeindruckend erscheinen.

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hermetisch-manieristischer Verschlossenheit. Dann aber erschiene es als ein monumentaler Monolog und könnte in keinem größeren Kontrast zum Thema des vorliegenden Bandes stehen. Doch im Gegensatz dazu sollen an dieser Stelle gerade kommunikative Aspekte vor Augen geführt werden. Bei einem unbefangenen Blick auf das Werk Arno Schmidts müssten sofort die so vielfältigen wie zahlreichen dialogischen Genres auffallen, die das eigentliche, fiktionale Werk umgeben.5 Aber auch dieses eigentliche Werk selbst – hier vertreten durch den letzten vollendeten Text Abend mit Goldrand aus dem Jahr 1975 – lässt sich in den Kontext der Dialogizität stellen, zumal wenn man den Begriff nicht nur (aber auch) auf den Dialog als replizierendes Sprechen in Texten bezieht, sondern zudem als das spannungsvolle Aufeinandertreffen von struktureller Heterogenität bestimmt und sich damit an Michail Bachtins Dialogizitätsbegriff anlehnt.6 Ich meine diese dialogische Texteigenschaft in Abend mit Goldrand anzutreffen in (1) der Gattungshybridität, (2) der sprachlichen Polyphonie, (3) der Intertextualität, (4) der Intermedialität und (5) der Autofiktion – allesamt Gegenstand neuerer literaturtheoretischer Diskussionen. Die fünf genannten Untersuchungsfelder sind schon im Paratext von Titel und Untertitel angelegt.7 »Abend mit Goldrand« bildet eine inter- und intratextuelle Kette, über die noch zu sprechen sein wird. Ein Gattungs- oder Genrehybrid bekundet sich in der »MärchenPosse«: Die »Posse« ebenso wie die »55 Bilder« sind der dramatischen Gattung zuzuordnen, das »Märchen« hingegen verweist auf einen narrativen Text.8 Diese Gattungssymbiose referiert sowohl auf die Genres der romantischen Komödie in der Art Tiecks oder der Zauberposse Ferdinand Raimunds als auch auf den Dialogroman wie Wielands Peregrinus Proteus oder Bulwer-Lyttons »Caxton«-Romane,9 ohne dass Schmidts Text in einer 5 Zu nennen sind hier vor allem die Funkdialoge und Radioessays (in: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe [künftig BA], Werkgruppe II: Dialoge I–III. Bargfeld 1989–1991), die Schallplattenaufnahme Vorläufiges zu Zettels Traum, Lesungen in Schulen, stundenlange Interviews für den SPIEGEL, Fernsehauftritte, Filmaufnahmen (in: ders.: BA, Supplemente, Bd. 2: Lesungen, Interviews, Umfragen. Mit 1 DVD und 12 CDs. Bargfeld 2006). 6 Vgl. Michail Bachtin: »Das Wort im Roman«, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes, übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S. 154–300. 7 Ausführlich, aber mit anderem Untersuchungsinteresse dazu: Christoph Jürgensen: »Der Rahmen arbeitet«. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen 2007 (= Palaestra 328), S. 212–246. 8 Diese Struktur ist vorgebildet in Tiecks spätem Text Die Vogelscheuche mit dem Untertitel »Mährchen-Novelle in fünf Aufzügen«. Die Unterkapitel sind als »Scenen« bezeichnet. Der Text ist jedoch durchgehend narrativ im epischen Präteritum. Vgl. Ludwig Tieck: Die Vogelscheuche. Das alte Buch und Die Reise ins Blaue hinein, mit einem Nachwort von Ulrich Wergin. Frankfurt am Main 1979 (= Haidnische Alterthümer), S. 5–450. 9 In seinem zweiten Dialog zu Bulwer-Lytton kommt Schmidt selbst auf den Dialogroman zu sprechen: »dieses Übergehen aus dem normalen berichtenden RomanText, in ein DruckBild, wie man’s sonst nur aus der Lektüre von Bühnenstücken her kennt – ist dergleichen ›erlaubt‹? […] Sowas hat’s doch längst vorher [= vor Bulwer] schon gegeben – ich erinn’re mich

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dieser vorgeprägten Strukturen wirklich aufginge. Darüber hinaus kündigen die »Bilder« wie auch der »Goldrand« einen intermedialen Bezug zur bildenden Kunst an, der im Textverlauf auf vielschichtige Weise entfaltet werden wird. Die mehrfachen Sinn evozierende Schreibweise »Lä/Endlichkeit« (Ländlichkeit von ›Land‹; Endlichkeit; wohl auch: Lendlichkeit von ›Lende‹) ist bereits ein Beispiel für die sprachliche Polyphonie, hier »VerschreibKunst« genannt, und fungiert als intratextuelle Systemreferenz auf die in den vorhergehenden Werken entwickelte ›Etymtheorie‹ Schmidts und deren ästhetische Umsetzung. Und schließlich markiert der Tippfehler im Typoskript10 hier schon auf dem Titelblatt die Performativität der Literatur als eines Schreibaktes. Mit den »Gönnern« dieser Kunst ist eine explizite Leserinstanz eingeschrieben und weist den Text als kommunikativ aus. Erkennt man zudem, dass der Haupttitel sowohl ein eigenes Werk11 als auch Jean Pauls Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin zitiert,12 dann ist auch der fünfte Punkt hintergründig paratextuell präsent: das (auto-)biographische Schreiben. Auf einer grundsätzlicheren Ebene steht der realistische Bereich des Ländlichen und Endlichen in einer Spannung zu dem Wunderbaren des Märchens, zum Unendlichkeitsdiskurs sowie zu den Überzeichnungen der derbkomödiantischen Posse. Ambiguität und Hybridität durchziehen also bereits den Paratext. Dies weckt Erwartungen vor allem für den discours, aber auch die histoire in Abend mit Goldrand könnte schon als dialogisch bezeichnet werden. In sehr kurzen Zügen die Handlung: Eine politisch-religiöse Sekte, die sogenannte Bussiliatsche Rotte, ist unterwegs, um irgendwo einen Staat nach ihren libertinären Vorstellungen zu gründen. Auf diesem Zug trifft Anfang Oktober 1974 zunächst die Elite dieser Gruppe in dem kleinen Ort Klappendorf ein: die charismatische, mit wunderbaren Kräften begabte Anführerin Ann’Ev’, der Intellektuelle Egg und der in jeder Hinsicht der Physis kraftstrotzende Bastard Marwenne. Diese drei nehmen Kontakt auf zu einer Hausgemeinschaft im Dorf, die aus drei bibliomanischen älteren Männern und drei Frauen besteht: dem ehemaligen Schriftsteller Alexander Ottokar Gläser, genannt A& O, dem pensionierten Bibliotheksrat Egon Olmers, dem unterschenkelamputierten Eugen Fohrbach, ›Major‹ genannt, dessen Frau Grete und deren beider Ziehtochter allerdings nur an Wieland’s ›Peregrinus Proteus‹; oder Hoffmann’s ›Leiden eines TheaterDirektors‹.« Arno Schmidt: »…denn ›wallflower‹ heißt ›Goldlack‹«(BA II/3 334). Im Verlauf des Dialogs dann weitere Ausführungen zur Dialogisierung des Romans, auch bezogen auf das eigene Werk Die Schule der Atheisten (vgl. ebd. 335–336). 10 Wohl großes K auf kleinem k in »VerschreibKunst«. 11 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten, Reprint nach der von Arno Schmidt autorisierten Ausgabe von 1957. Frankfurt am Main. 1984, S. 77: »Blaugläserner Abend mit Goldrand«. 12 Jean Paul: Sämtliche Werke, erste Abteilung, Band 4: Kleinere Schriften 1796–1801, hg. v. Norbert Miller. München 1975, S. 288: »der Goldrand des Abends«.

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Martina; hinzu kommt noch die Haushaltshilfe Asta. In Gesprächen im Haus und auf Spaziergängen zeichnen sich die kulturellen Unterschiede der beiden Gruppen ab. Aber es bahnen sich auch Verständigungen und vor allem Beziehungen an, von Freundschaft über platonische Erotik bis zu orgiastischer Sexualität – und letzteres erst recht, als das Fußvolk der Rotte eintrifft. Am Ende steht das Ziel der Gruppe fest: Tasmanien; und diejenigen der Hausgemeinschaft, die den Rest ihres Lebens ohne Triebsublimierungen verbringen möchten, schließen sich an. Zurück in Klappendorf bleiben A& O, Eugen Fohrbach und Martina mit ihrem Freund Martin Schmidt, der Schriftstellerunterricht von A& O bekommen soll. In diesen mimetisch-dramatischen Rahmen sind zahlreiche diegetische Narrationen eingefügt.13

Dialogizität als Gattungshybridität Abend mit Goldrand ist im mimetischen Modus oder, um Manfred Jahns Begriff aufzunehmen, im »playscript mode«14 verfasst. Die Handlung erstreckt sich auf einer Zeitachse über drei Tage (1.–3. Oktober 1974)15 und ist formal in 20 Aufzüge und 55 Bilder abgeteilt.16 Die paratextuell angekündigte Dramenstruktur manifestiert sich in der Textdarbietung als Figurenrede und eingeklammerter Nebentext. Hinzu kommen gegenüber dem klassischen Dramentext heterogene strukturelle Elemente wie zwei- und dreispaltige Seiten, eingerahmte Textblöcke und Bildmontagen, die ausschließen, dass es sich um einen theatralischen Text handelt, der eine Bühnenaufführung intendiert.17 Es ist ein Lesetext, der die dramatische Form imitiert (»playscript mode«) und sprachlich wie intermedial strukturell erweitert. Ein dramatischer Text scheint keinen Erzähler zu haben, da sich in der Figurenrede kein vermittelndes, sondern lediglich ein inneres Kommunikations13 Dies geschieht entweder – noch durchaus konventionell theatralisch –, indem einzelne Figuren zu autodiegetischen Erzählern werden, oder indem heterogenes Material integriert wird (ausführliches Zitieren von Fremdtexten oder verdeckt eigenen Texten Schmidts wie der Pharos-Erzählung). 14 Manfred Jahn: »Narrative Voice and Agency in Drama: Aspects of a Narratology of Drama«, in: New Literary History, vol. 32,3 (2001), S. 659–679, hier S. 673–674: »let us assume that the formal combination of stage directions, speech prefixes, and speeches constitutes a recognizable narrative mode called a playscript mode. […] What may be especially instructive for the purposes of narratological analysis is the use of the playscript mode in novels (examples that come to mind are Bunyan’s Pilgrim’s Progress, the ›Circe‹ episode in Ulysses, and chapter 25 of Doctor Faustus)«. 15 Zuzüglich der frühen Morgenstunden des 4. Oktobers (vgl. AmG 214). 16 Vgl. AmG 215. 17 Diese heterogenen Elemente sind nicht zu verwechseln mit der Plurimedialität der Bühneninszenierung.

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system18 etabliert. Nebentexte können aber einen durchaus narrativen Charakter annehmen, wenn sie nicht als Regieanweisungen, die auf der Bühne ihr sprachliches Substrat verlieren, sondern als im Lesemodus integraler Text verstanden werden.19 Aber wessen Stimme hören wir? Die des konkreten Autors? Als außerhalb des Textes stehend, bleibt er von der strukturalen Narratologie ebenso ausgeschlossen wie der abstrakte Autor oder implied author,20 der als Interpretationskonstrukt keine eigene Stimme hat, sondern die Intention des Gesamttextes vertritt.21 In den Nebentexten von Abend mit Goldrand ist jedoch eine Erzählstimme vernehmbar, die sich allerdings nicht im epischen Präteritum,22 sondern im dramatischen Präsens artikuliert: »Im kostbarsten Abendschein sieht das Haus sie aus Fenstern an, wie brennende Spiegel.«23 Häufig begegnen dabei die für Nebentexte typischen Ellipsen und Partizipialformen.24 Es ist eine Stimme, deren Affektanteil immer wieder in den Text miteinspricht, so schon beim gelegentlichen Wechsel in sympathisierende Diminutive bei den Sprecherangaben wie »Martinchen«25 oder »Fridolinchen«;26 es ist zudem eine Stimme, die »ich« sagen kann, wenngleich nur selten und wie klandestin.27 18 Vgl. Manfred Pfister : Das Drama, 11. Aufl. München 2001 (1977) (= UTB 580), S. 21. Vgl. auch Käthe Hamburger : Die Logik der Dichtung. München 1987 (1957), S. 174: »Denn der sprachlogische Ort des Dramas im System der Dichtung ergibt sich allein aus dem Fehlen der Erzählfunktion, der strukturellen Tatsache, daß die Gestalten dialogisch gebildet sind.« 19 Pfister 2001, S. 36: »Damit wird […] durch die Ausweitung des kommentierenden, beschreibenden und narrativen Nebentextes ein vermittelndes Kommunikationssystem aufgebaut«, wodurch die »Differenzkriterien dramatischer Texte »in Richtung auf narrative Texte« durchbrochen werden. Grundsätzlicher dazu Jahn 2001, S. 670: »and indeed the narrative quality of drama is now accepted by many post-Genettean critics.« 20 Vgl. zu diesen Begriffen vor allem Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2., verbesserte Aufl. Berlin, New York 2008 (2005), S. 45–64. 21 Vgl. Schmid 2008, S. 59–60: »Konsensfähig dürfte die Definition des abstrakten Autors als des Korrelats aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes sein. […] Er hat keine eigene Stimme, keinen eigenen Text. Sein Wort ist der ganze Text mit allen Ebenen, das ganze Werk in seiner Gemachtheit und Komposition.« 22 Auch dies kommt vor, allerdings in spezifischer Funktion, z. B. im ersten Nebentext heißt es perfektisch und eindeutig in narrativer Vermittlung: »hat Ann’Ev’ angemerkt« und »hat sie gemeint, als Ann’Ev’ anmerkte« (AmG 3). Dies ist hier wohl der Figureneinführung geschuldet: Eine weitwinklige Perspektive auf die Szene wird danach in einen engeren Fokus genommen – wie ein filmischer Zoom –, sodass die beiden Figuren Martina und Ann’Ev’ an den Leser herantreten, sich konturieren und jetzt mit eigener Stimme ›vernehmbar‹ werden (vgl. auch AmG 5: »bis Ann’Ev’ tadlnd zu ihm sagt«). – In AmG 192–193 wechselt die Vermittlungsinstanz sogar für einen Augenblick ins Präteritum und wird epischer Erzähler. 23 AmG 14. 24 »Martina (erstaunt)« (AmG 3), »Ann’Ev’ (bestätigend)« (AmG 5), »Egg erst nur eine unbekannte Weise vor sich hinpfeifend« (AmG 9). 25 AmG 39 (sonst meist »Martina«). 26 AmG 199 (sonst »Fridoline«). 27 Die Bemerkung »Ich selbst?« (AmG 54) befindet sich im Nebentext, gleitet dann aber hinüber zur nächsten Sprecherangabe »A& O«. Ebenfalls in Nebentexten: »ach, da weiß ich schon«

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Hilfsweise von einem Repräsentationssystem zu sprechen, um vom epischen Erzähler abstrahieren und das Drama einschließen zu können, wäre in diesem Fall insofern keine Lösung, als es den anthropomorphisierenden Effekt der Rede unterschlüge. Doch, noch einmal, wessen Stimme vernehmen wir? Und wer ›spricht‹ die Textkästen, die weder Figurenrede sind noch eigentlicher Nebentext, sondern Fremdtext, Zitat? Und wer schließlich fügt die Abbildungen ein? Gesucht wird also eine textuelle Instanz, die neben dem unvermittelten, dramatischen showing ein präsentisches telling realisiert und weitere homo- wie heteromediale Komponenten arrangiert. Das Living Handbook of Narratology konstatiert zwar : »Transgeneric narratology is still in its infancy«,28 gibt jedoch einen wichtigen Hinweis auf Seymour Chatmans Begriff »presenter«, der hier aufgenommen und modifiziert werden soll.29 Diese Instanz kann erstens als shower fungieren, öffnet dann sozusagen nur den ›Vorhang‹ für die Figuren (bzw. spricht, wie im Fall »Martinchen«, seine subjektive Affektion mit ein) und zeigt weiteres Text- und Bildmaterial vor. Und zweitens ist diese Instanz Protokollant gegenwärtiger Ereignisse.30 Die beiden Eigenschaften des Vorzeigens wie des präsentischen Erzählens werden durch den Begriff presenter also ebenso erfasst wie das anthropomorphe Design. Aber eine weitere Frage schließt sich an: In welcher Welt befindet sich der presenter in Abend mit Goldrand? Seine Omnipräsenz, die Mitteilungen von Gedankenrede zahlreicher Figuren31 und selbstreferentielle, sogar die Materialität der Typoskriptseite indizierende Signale32 weisen ihn zunächst und analog zu einem Erzähler als Spielleiter und Vermittler erster Stufe aus, der nichtdiegetisch außerhalb des Spiels steht, zuweilen aber diese Position verlässt zugunsten einer diegetischen Teilhabe am Spiel (»ich«).33

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(AmG 139), »Bei Ihr mein Herz« (AmG 185), »Brombeere (die ich sonst nicht schätze)« (AmG 206), »Auf dem Luxemburger Stadtplan hab’ Ich auch den ›Parc des trois Glands‹ gefundn« (AmG 211). Peter Hühn/Roy Sommer : »Narration in Poetry and Drama«, in: Peter Hühn et al. (Hg.): The living handbook of narratoloy, Abschnitt 23, Bearbeitungsstand: 1. 11. 2013 (gesehen am 23. 01. 2016). Seymour Chatman: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative Fiction and Film. Ithaca 1990, S. 113. – Das Wort wird hier absichtlich nicht in seiner ›eingedeutschten‹ Form als ›Präsentator‹ übernommen, da sie dem weitgehend verborgenen Agieren dieser Vermittlungsinstanz zuwiderläuft. Der Begriff ›Protokollant‹ ist als im Präsens berichtendes Gegenstück zum epischen Erzähler zu verstehen, wird hier also nicht wie Chatmans teller (»a teller or a shower or some combination of both« [Chatman 1990, S. 113]) verwendet. Identifizierbar als einer Figur zugeordnete Rede außerhalb der Anführungszeichen. Bisweilen indiziert dies wohl auch ein Beiseite-Sprechen, denn zumindest eine der anderen Figuren reagiert darauf. Insgesamt erscheinen diese Redeanteile in ihrer Funktion nicht völlig durchsichtig oder zumindest multifunktional. Vgl. den Verweis AmG 97 auf die Position eines Zitattextes: »(oder eben wie dies komische ›Haute Garde‹, rechts)«. Ähnlich AmG 153: »hat zuviel Verse zum ganz=Hersetzen«. AmG 36–37 und bes. 58–59 ist dieses Gleiten gut beobachtbar: Von der Außensicht »Wieder

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Dieses eigentümliche Gleiten des presenters in die Diegesis, das dem Erzähler im Normalfall des Erzählens – meist im epischen Präteritum – durch die Spaltung in erzählendes Ich und erzähltes Ich ermöglicht wird,34 ist unter den präsentischen Bedingungen des playscript mode von anderer Qualität und Konsequenz, wie noch zu erläutern sein wird.35 An die Frage nach einer Vermittlungsinstanz schließt sich jene nach der Funktion der Gattungsimitation an. Im Gegensatz zum vermittelnden Erzählen entlässt diese Art der Präsentation die Figuren aus der monologischen Stimme eines Erzählers. Abend mit Goldrand leiht sich die Unmittelbarkeit und das replizierende Sprechen des Theaters – mithin dessen Dialogizität –, ohne aber das Erzählen in den Nebentexten aufzugeben. Die Figuren also werden nicht erzählt, sondern lediglich präsentiert und ihren eigenen Stimmen überlassen; sie erscheinen formal nicht in der normativen Brechung eines Erzählerbewusstseins.36 Die Freisetzung der Stimmen ist, wie hier im weiteren Verlauf deutlich werden soll, strukturelle Bedingung weiterer Grunddispositionen des Textes. Aber auch davon losgelöst, sollte die Narratologie, gerade bei transgenerischem Interesse, das Spätwerk Schmidts nicht unbeachtet lassen. Hier sind noch Rätsel zu lösen und Schätze zu heben.

Dialogizität als sprachliche Polyphonie Seit Ende der 50er-Jahre beschäftigte sich Arno Schmidt mit Freuds Psychoanalyse, wobei im Zentrum seines Interesses die Instanzenlehre und die Symbolsprache des Traums standen. Beides hatte für das Werk und besonders für Abend mit Goldrand ästhetische Folgen. Die drei Männer im Klappendorfer unten, in A& O’s Zimmer« wechselt die Position zu einem diegetischen Ich mit direkter Gedankenrede (»Ich hatte das als junger Mensch mehrfach gemacht«). – AmG 153 erkennt der presenter eines der auf dem Tisch liegenden Bücher nicht: »(liegt noch auf ’m Gesicht ; kann man nich erkenn’n)«. Jürgensens Identifizierung eines »auktorialen Erzähler[s]« (Jürgensen 2007, S. 226) ist so grundsätzlich aufgefasst nicht richtig. 34 Dazu Schmid 2008, S. 87: »Diegetisch soll ein Erzähler heißen, der zur Diegesis gehört, der folglich über sich selbst – genauer sein früheres Ich – als Figur der erzählten Geschichte erzählt. Der diegetische Erzähler figuriert auf zwei Ebenen: sowohl im Erzählen als auch in der erzählten Geschichte. Der nichtdiegetische Erzähler gehört dagegen nur zur Exegesis und erzählt nicht über sich selbst als eine Figur der Diegesis, sondern ausschließlich über andere Personen.« 35 S. hier das Kapitel (5) Dialogizität als Autofiktion. 36 Jürgensen spricht hier von einer »Unabhängigkeit des Erzählten von einer neutralen Perspektive« (Jürgensen 2007, S. 227) – eine Aussage, an der eigentlich alles falsch ist. Eher trifft seine Feststellung einer »polyphone[n], multiperspektivische[n] Strukturiertheit« (ebd.) zu, obwohl auch dies narratologisch ungenau ist. Auch »mehrstimmige[s] Erzählen« (ebd., S. 226) lässt sich nicht auf den playscript mode anwenden.

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Haus sind unter diesem Gesichtspunkt nach dem Instanzenmodell konzipiert, genauer : sind abgespaltene Teilfigurationen einer psychischen Einheit. Der ›Major‹ vertritt nach dieser Lesart als herumkommandierender, prinzipientreuer Militär, Ehemann und Ziehvater humoristisch-metonymisch das ÜberIch, wird aber kräftig ironisiert in den verlorenen Schlachten mit seiner Ehefrau, in seinen literarischen Vorlieben – er liest nur Autoren, die auch bei der Artillerie waren – und durch seinen ältlich-militärischen Jargon.37 Mit seinen 56 Jahren ist er jünger als die Figuration des Ichs, analog zu Freuds Vorstellungen über die Entwicklung des Über-Ichs.38 Das Ich, der 60jährige A& O, ist die weitaus sympathischste Figur des Trios, stets auf Ausgleich bedacht, voller Verständnis und Empathie, hilfsbereit sogar für die Anliegen der Horde, der er ansonsten skeptisch gegenübersteht. Anders dagegen Egon Olmers, der als Repräsentant des sowohl onto- als auch phylogenetischen Es39 folgerichtig mit 70 Jahren der älteste der drei Männer ist. Seine Beschäftigungen bestehen hauptsächlich darin, Texte nach sexuellen Mehrdeutigkeiten abzusuchen, also die Zeitlosigkeit des Sexus und höhnisch dessen Enttarnung im scheinbar-sublimierten Sprachkunstwerk oder religiösen Traktat vorzuführen; ferner auf die Horde ein voyeuristisches Auge zu werfen und gelegentlich rudimentäre Sexualakte auszuführen. Sein Sprechen ist ein unausgesetzter Sexualdiskurs. Polyphonie des Sprechens bedeutet in Abend mit Goldrand neben anderem, dass jede der Freudschen Instanzen des psychischen Apparates eine eigene, differente Stimme erhält. Wenn man so will, sprechen die Figuren einen ›Psycholekt‹. Eine ähnliche Partial-Repräsentanz besitzen die Figuren der Rotten-Elite: die

37 AmG 154: »’n starker Mann, der die freche Crapüle zusamm’kartätscht«. 38 Nach Freud erfolgt die Herausbildung des Über-Ichs mit der Überwindung des ÖdipusKomplexes. Vgl. Sigmund Freud: »Das Ich und das Es« (1923), in: ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich et al. Band. III: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt am Main 1975, S. 273–330, hier : Kap. III: »Das Ich und das Über-Ich (Ich–Ideal)«, S. 296–306. 39 Vgl. dagegen Jan Philipp Reemtsma: »»Der Klappendorfer BadeTeich, plärrend bunt auf grün« – Gedanken zur Ästhetik des Romans »Abend mit Goldrand««, in: ders.: Über Arno Schmidt. Vermessungen eines Terrains. Frankfurt am Main 2006, S. 192–245, hier S. 204, Anm. 12: »Theoriegetreu müsste Olmers die Ewigkeit wollen.« – Der Einwand ist nicht von der Hand zu weisen, aber vielleicht etwas zu mildern: Es wäre vielleicht zu entgegnen, dass Olmers seinen Lustanspruch immerhin im Gegensatz zu den anderen Teilfigurationen zunächst aufrechterhält. Außerdem wäre hier vielleicht die Idee einer Selbstverneinung des Triebes interessant. Die psychoanalytische Überdeterminierung der Figuren muss auch nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt sein, da in Abend mit Goldrand die Psychoanalyse sehr spielerisch und beiläufig herangezogen wird (vgl. AmG 40 zum Schema der den Instanzen zugeordneten Religionstypen: »natürlich alles Wind & unvollkommen – Zeitvertreib ebm«). Die Instanzen-Überdeterminierung ist ohnehin nur eine von mehreren, bleibt aber als explizites Thema erhalten: »wie denn auch die ›Hl. Dreifaltigkeit‹ nur das hinausprojizierte dunkle Wissen um die 3 (FREUD’schen) Instanzen der Persönlichkeit sein könnte – soll ja auch ›Eins‹ sein.« (AmG 117). Vielleicht eine Leseanweisung?

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elbische Ann’Ev’, geboren in »Garnich«,40 das in Luxemburg (im Lichtland also) liegt, ist eine nur wenig an ihren Körper gebundene anima, eine Seelenfiguration; auch sie erhält mit ihrer französisch gefärbten Redeweise eine eigene Stimme. Der kluge, wenngleich ideologisierte Egg ist mit seiner (verstellt) elegant-gezierten Sprache wohl als eine Repräsentationsfigur des Intellekts anzusehen, während der animalische und fast sprachlose Bastard Marwenne die Physis vertritt. Auch hier also eine Dreiteilung nach der conditio humana, doch sind alle Figuren selbständig und erstarren niemals in psychoallegorischer Semantik. Es ist vielmehr gerade dieser (doppelte) triadische Zuschnitt, der die spannungsvolle Polyphonie der Figurensprache ermöglicht und dem Text zudem die Ebene eines anthropologischen Metadiskurses hinzufügt. Ein anderes, an Bachtins Dialogizitätsbegriff anschließbares Textcharakteristikum ist der umfassende Gebrauch von Soziolekten und Dialekten, zumindest aber umgangssprachlich verschliffenen Sprechens. Das Spätwerk Schmidts überrascht den Leser mit einer Reihe von Figuren junger Mädchen, die einen adoleszenten Jargon sprechen, der allerdings gleichzeitig überführt ist in eine eigentümliche, humoristisch-sentenziöse Kunstsprache, wie sie vor allem die 15jährige Martina an den Tag legt: »Alle 12 Apost’l miteinander habm von Amerika nich halb so viel gewußt, wie Ich«,41 »[d]ie soll sich bloß vorseh’n, daß ich kein Totnlied sing, worin ihr Name vorkommt!«,42 »da’ss ja der Jüngste Tag ’n Lustspiel dagegen«.43 Die Rede der älteren Herren ist untermischt mit schlesischen sowie norddeutschen Einfärbungen – eine weitere spezifische Überdeterminierung ihres Sprechens, wie sich noch zeigen wird. Dass alles zudem mit einer ausufernden Interpunktion versehen wird – eines der Markenzeichen Schmidtscher Texte – steht im Dienst einer den gesamten Text durchziehenden Tendenz zum Performativen, zur as-if-Evozierung nichtsprachlicher Kommunikation wie Mimik und Gestik. Es wird viel ›Lebendigkeit‹, wenn man es so nennen darf, in einen Text hineingeholt, der sonst gerade seinen Kunstcharakter ausstellt: auch dies vielleicht ein Dialog. Doch ist dies alles noch nicht die »VerschreibKunst«, die der Paratext ankündigt. Sie entsteht erst dort, wo die Polysemantik des Einzelwortes betroffen ist, bei den »Etyms«44, wie Schmidt es mit einem Joyce-Wort45 nennt. Es ist der 40 41 42 43 44

AmG 72 (mit hinzugefügter Landkarte). AmG 9. AmG 112. AmG 126. Arno Schmidt: »Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage«, in: ders.: Der Triton mit dem Sonnenschirm. Großbritannische Gemütsergetzungen, Reprint der von Arno Schmidt autorisierten Erstausgabe von 1969. Frankfurt am Main 1985, S. 254–291, hier S. 279: »Wie also nennen Wir diese, so Vieles bündelnden linguistischen Grundgewebsgebilde? Was böte sich da an? – (tut erleuchtet): ›Etymologie‹: die Lehre vom Echten: taufen Wir die polyvalenten Gesellen einfach einmal ›Etym‹ – einverstanden?«

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sicherlich eher ästhetisch als heuristisch zu würdigende Versuch, eine Sprache des Unbewussten sichtbar zu machen, der sich zwar methodisch, aber nicht intentional von der poststrukturalistischen Psychoanalyse eines Jacques Lacan unterscheidet. Interessant ist hier wie dort zunächst der Signifikant, die graphische und vor allem die phonetische Seite des Wortes, die Homophonie und Klangähnlichkeit. Eine ›zweite Mitteilung‹, ein wahrer Subtext, eine semiotische Spur camouflierter Sexualität soll dann in der manipulierten Wortschreibung wieder sichtbar werden. Das Verlassen orthographischer Normen dient dazu, im assoziativen Verfahren feste Semantiken aufzubrechen, in Ambiguität zu überführen und humoristisch-ästhetisch zu nutzen: dem Ohr des Geübten wird’s stets, bei Allem, wie eine ›zweite Stimme‹ mit-hineinsingen – vom Fonetischen her perfid-passend; vom bürgerlich-beabsichtigten ›Sinn‹ her, oftmals peinlich divergierend. Das liegt daran, daß die wohltemperierte WortSprache oberhalb der Zensur-Schwelle erklingt […] – die Etym-Sprache jedoch respondiert, von unterhalb derselben erwähnten Schwelle her.46

Man wird Bachtin nicht missverstehen, erkennt man auch in dieser speziellen Zweistimmigkeit eine Spielart des schon immanent dialogischen Wortes.47 Zuweilen sind es die Figuren in Abend mit Goldrand selbst, die auf die ›Etyms‹ – in Zettel’s Traum botanisch als »Gallen=Befall«48 der Worte bezeichnet – hinweisen;49 sonst ist es der presenter als Schreiber, der graphische Techniken verwendet, um die ›Etyms‹ vorzuzeigen.50 Diese »VerschreibKunst« entfernt den Text extrem weit von der Einheitssprache, die nach Bachtin ideologisch den zentripetalen Geschichtskräften unterliegt. Sie steht vielmehr im Dienste der entgegengesetzten zentrifugalen Kräfte, ermöglicht also in erheblichem Maße

45 James Joyce: Finnegans Wake. London 1950. (= Arno Schmidts Arbeitsexemplar von Finnegans Wake by James Joyce. Bargfeld 1984. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag Zürich [Faksimile], S. 353.) Schmidt notiert an dieser Stelle »atom«, das sich im Englischen von »etym« phonetisch nur wenig unterscheidet und dem »Grundgewebsgebilde« (s. vorhergehende Anm.) entspricht. 46 Schmidt: Buch Jedermann, S. 280. 47 Dieses Verfahren Schmidts kann zu Bachtins grundsätzlicherer Feststellung einer »immanenten Dialogizität des Wortes« in Beziehung gesetzt werden, vgl. Bachtin 1979, S. 17. 48 Arno Schmidt: Zettel’s Traum. Frankfurt am Main 1970, S. 278. Dort auch: »die ›Worte‹ als befallene Etym=Wirte«. Diese parasitäre Vorstellung von Zwei- oder Mehrstimmigkeit wäre mit Derridas (und anderer) Gegen-Metapher des veredelnden Aufpfropfens zu vergleichen. 49 Vor allem Olmers ›etymisiert‹ häufig Fremdtexte, vgl. z. B. AmG 55 zu einem Text von George Borrow. 50 Dies geschieht durch Einklammerungen (als Verlesung in einem Fremdtext: »oh, und mit welchen klopfenden Herzen, mit welchen elastischen T(r)itten«, AmG 53), graphische Verschreibungen (»3 Phalltijes«, AmG 117), Kontaminationen (»Vaginabundin«, AmG 87) und andere Techniken.

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Dialogisierung, Diversifizierung und Dezentralisierung.51 Man kann dieser Reihe noch, in psychologischer Erweiterung, hinzufügen: Depersonalisierung und Dissoziierung. Bildverwandt zu Bachtin heißt es, es gebe »Anzeichen einer Desintegration der Welt an den Rändern«.52 Die ästhetische Folge bei Schmidt ist eine Karnevalisierung53 der poetischen Sprache, die alle semantischen Gewissheiten und Stabilitäten, alles scheinbar Valide, Sanktionierte und Sakrale in einem Strudel pandemischen sexualisierten Wortbefalls mitreißt und auflöst, manchmal Gelächter, manchmal Grauen – oftmals beides evozierend.54

Dialogizität als Intertextualität In der Weiterentwicklung der Bachtinschen Dialogizität kommt Julia Kristeva zur allgemeinen Intertextualität. Alle Texte – oder mit Derrida: der texte g8n8ral – beziehen sich dialogisch aufeinander, bilden ein universelles Diskursgewebe. Diesem entgrenzten Intertextualitätsbegriff sind hier zunächst konkrete Verfahren entgegenzustellen, die das Intertextuell-Dialogische intentional und strukturell realisieren. Dazu gehört in Abend mit Goldrand vor allem das Gespräch über Hackländer,55 eine intratextuelle Systemreferenz56 auf Schmidts sogenannte Funkdialoge oder Radioessays über in seinen Augen vernachlässigte Autoren und Autorinnen. Diese Beiträge stehen, wie überhaupt Intertextualität bei Schmidt, im Dienst kultureller Erinnerungsarbeit, gültig für das gesamte Werk formuliert im ersten Sammelband dieser Textsorte: »entschloß ich mich: Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln!«57 Das Gedächtnis der Literatur ist nur eine Sonderform des Gedächtnisses überhaupt, dessen Ursprung Renate Lachmann mit kaum anderen Worten als 51 Vgl. Bachtin 1979, S. 166. – Vgl. dazu auch Frauke Berndt/Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013 (= Grundlagen der Germanistik 53), S. 30. 52 AmG 90. 53 Vgl. Michail Bachtin: »Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur«, in: ders.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. v. Alexander Kämpfe. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1985. S. 47–60. 54 In diesem Zusammenhang wäre genauer zu erforschen, inwieweit Schmidts Spätwerk einer Tradition zugeschrieben werden kann, die die Fastnachtsspiele, aber auch Texte wie Rabelais’ Gargantua et Pantagruel (hier etwa die obszönen Wortspiele mit theologischen Titeln), Grimmelshausens Simplicissimus oder Joyces Finnegans Wake umfasst. – Hier nur der Hinweis auf die Sexualisierung der Sprache bis zur völligen Entstellung in AmG 124–127. 55 Vgl. AmG 28–35. 56 Vgl. dazu Ulrich Broich/Manfred Pfister : Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, bes. S. 55. 57 Arno Schmidt: Vorspiel, in: ders.: DYA NA SORE. Gespräche in einer Bibliothek, Reprint der von Arno Schmidt autorisierten Erstausgabe von 1958. Frankfurt am Main 1985, S. 6–12, hier : S. 12.

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Schmidt beschreibt: »Die Ur-Szene des Gedächtnisses heißt Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Umsturz aus Leben in Tod, ist der indexikalische Akt des Zeigens auf die Toten (Ahnen) und der ikonische Akt, die Toten als Lebende in eine Vorstellung von ihnen zu transformieren.«58 Waren die Radioessays Arno Schmidts lediglich aufgeteilt in mehrere Sprecher (meist Erinnernder, Skeptiker, Zitatenstimme), so wird in Abend mit Goldrand das gesamte fiktionale und polylogische setting aufgerufen, um die Abendunterhaltung über den humoristischen Vielschreiber Friedrich Wilhelm Hackländer (1816–1877) zu inszenieren.59 Der ›Major‹, der Hackländer nicht zuletzt deshalb schätzt, weil dieser auch Artillerist war, versucht dessen Werk der Hausgemeinschaft und der Horden-Elite nahe zu bringen. Immerhin habe Hackländer – lange vor Joyce – den ersten, einen einzigen Tag umfassenden Roman geschrieben,60 und: Wir normalen Menschen, verstehen uns nur auf Anthropomorphisationen 1., höchstens 2. Ordnung; wogegen HACKLÄNDER sogar die von der 3. und 4. spürte und wiederzugeben verstand« […]. Aber die 3. und 4. Grades sind nur noch den Paranoiikern geläufig, […], und handhaben können sie nur noch die größten Künstler.61

Es entsteht wirkliche Dialogizität im Bachtinschen Sinn: Die Figuren nutzen ihr Eigenrecht, ironisieren den Vortragenden und verunglimpfen dessen »Hack«62 oder »Scheiß=HACKLÄNDER«.63 Spott und Gelächter über den vergessenen Autor münden in Eggs Bemerkung: »wenn mann erstma’ doot iss, das iss für lange.«64 Erinnerungsarbeit kann auch scheitern, und das Erinnerte bleibt dann lediglich ein Privataltertum. Über die Melancholie des Vergessens legt sich die (Selbst-)Ironie. Nicht jedes writing back gegen den Kanon hat seine Berechtigung, und doch geht auch immer etwas verloren. Intertextualität ist ein Grundzug aller Texte Schmidts, im Spätwerk ist sie so allgegenwärtig,65 dass die Einflussforschung kaum mehr als zuständig erscheinen mag. Eher könnten diese Schriften kulturwissenschaftliche Intertextualitäts- und Intermedialitätstheorien wie die erwähnte Allverflochtenheit der 58 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main 1990, S. 24. 59 Auch die späten Radiobeiträge über Spindler, Bulwer und Lafontaine betreiben einen großangelegten szenischen Aufwand. 60 AmG 28. Gemeint ist »Tag und Nacht. Eine Geschichte in vierundzwanzig Stunden.« Stuttgart 1860. – Auch Zettel’s Traum gehört zu dieser Textreihe. 61 AmG 33. 62 AmG 31. 63 AmG 34. 64 AmG 35. 65 Dazu Hans Wollschläger : »durchziehen verkappte Zitate das Werk; ganz spät hat fast jeder Satz sie als schattenhaften Beiklang.« (Hans Wollschläger: »Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt. Rede«, in: Arno Schmidt Preis 1982 für Hans Wollschläger. Arno Schmidt Stiftung Bargfeld 1982, S. 45).

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Diskurse oder des Crossmappings66 belegen. Hier soll indessen noch auf eine besondere Technik hypotextueller Präsenz fokussiert werden, das selbständige Zitat. Seine Besonderheit ist, dass – oftmals längere – Passagen eines Prätextes sprecherunabhängig, aber kontextuell eingebunden, eingerahmt neben dem Dialog abgelegt werden und damit den Erinnerungsraum archivalisch erweitern. Auch diese Textfelder muss man sich vorstellen als vom presenter eingerichtet; an einer Stelle weist er den Leser selbstreferentiell auf eine Zitatposition »rechts«67 hin. Damit unterstreicht er sowohl seine Funktion als Arrangeur des Materials als auch den Status des Blattes als Ort der Schrift, als Topographie der Fiktion und als Archivraum. Das Typoskript weist eine spezifische, strukturelle Erinnerungsarchitektur auf, die es zu einem Archiv vergessener oder übersehener Diskurse werden lässt. Vor allem abseitige, aus dem kulturellen Gedächtnis verschwundene sektengeschichtliche und gnostische Texte68 ziehen eine historische Spur zu den aktuellen Ereignissen um die Rotte und bilden einen Diskurs über Divergenz und Alterität im kulturellen Feld der Religion.69 Die in den Zitaten artikulierten Sehnsüchte und Verwerfungen erscheinen so im Kontext des neuen Spiels als eine wiederkehrende Bewegung, in der sich nicht nur das Neue als das Schongewesene, sondern auch das Alte als das Fortdauernde spiegelt: das Archiv als Gegenwartsbeschreibung, die Gegenwart als Re-Inszenierung des Archivierten. Intertextualität ist es vor allem, die für die mythischkreisförmige Zeitstruktur des Textes verantwortlich ist, für die Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit, auf die Jan Philipp Reemtsma70 aufmerksam gemacht hat. Intertextualität bei Schmidt bedeutet also in erster Linie Erinnerungsarbeit, Dialog mit der Vergangenheit, Schreiben gegen den Tod, der nicht nur das Leben beendet, sondern auch Erinnerungsspuren verwischt, denen zu folgen Aufschluss gäbe über das Jetzt und seine Instabilitäten. Es ist eine Rückholung von Verlorenem, das zum neuen fiktionalen Spiel aufgerufen wird. Die besondere Technik, Zitate von figuraler Rede freizustellen, ermöglicht nicht nur Dialogizität von Text und Fremdtext, sondern auch von Diachronie und Synchronie, von Geschichte und Gegenwart. Die Gleichzeitigkeit dieser aus dem kulturellen Gedächtnis heraufgerufenen Stimmen in einem Buch ist die vielleicht am stärksten 66 Vgl. dazu Elisabeth Bronfen: »Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Karthographie von erzählender und visueller Sprache«, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen. Wien 2002, S. 110–134. 67 AmG 97. 68 Vgl. dazu besonders das ›Religionsgespräch‹ in Bild 31, AmG 116–122. 69 Drews spricht von »Material, das eine historisch-anthropologische Reihe belegen soll« (Jörg Drews: »»Abend mit Goldrand« revisited. Arno Schmidts Roman im Licht des Konzepts einer ›Postmoderne‹«, in: ders.: Im Meer der Entscheidungen. Aufsätze zum Werk Arno Schmidts 1963–2009, hg. v. Axel Dunker. München 2014 (edition text + kritik. Sonderlieferung des Bargfelder Boten), S. 185–202, hier S. 191. 70 Vgl. Reemtsma 2006, bes. S. 205–216.

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Polyphonie generierende Formeigenschaft von Abend mit Goldrand. Es ist ein Buch der vielen Stimmen, der vielen Schreiber.71

Dialogizität als Intermedialität Ein weiteres Verfahren in Abend mit Goldrand, Polyphonie zu erzeugen, ist noch nachzutragen: die Mehrspaltentechnik. Auch sie soll Gleichzeitigkeit indizieren, hier von verschieden gruppierter Figurenrede und Handlungssequenz. Spätestens seit Lessing wissen wir, dass es wirkliche Gleichzeitigkeit in der sprachlichen Semiotik nicht geben kann.72 Doch wäre hier an die geliehene Performativität des playscripts und an die Materialität des Typoskripts zu erinnern: es ist kein erzählter Raum, sondern ein gezeigter. Die Seite des Typoskripts nähert sich einer die Zeit verräumlichenden Abbildung an.73 Der Text als Bild – Abend mit Goldrand. Mit dem Performativitätsmoment tritt die mediale Diversität der Typoskriptseite zutage. Nicht nur gerahmte Textzitate, sondern auch zahlreiche Typen bildlicher Darstellung werden auf den Seiten zusammen mit dem Text präsentiert und dienen sowohl der textbezogenen Illustration als auch der Tendenz zur Performativität. Es finden sich im Einzelnen einmontierte Bildausschnitte,74 Fotos,75 Zeichnungen,76 Grundrisse von Gebäuden,77 topographische Karten,78 Diagramme79 und Skizzen.80 Vor allem mit den ersten beiden Gruppen wird, verkürzt gesagt, die Repräsentation in der sprachlichen Kommunikation unterbrochen bzw. ergänzt durch die Präsentation in den wahr71 Dies Jahrzehnte vor der Hypertextualität der Web-Literatur. 72 Die kognitive Rezeptionsforschung hat hier jedoch modifizierende Thesen aufgestellt, die das Umsetzen von Text in innere Bilder und damit eine relative Stabilität des Imaginierten konstatieren, das sich demnach nicht nur in einem kontinuierlichen Fluss befindet. – Die Realisierung von sprachlicher Gleichzeitigkeit durch Lesungen dreier Sprecher (Reemtsma – Kersten – Rauschenberg) ist eine nachträgliche akustische Performance, die wohl dem ästhetischen Konzept Schmidts nicht selbst angehört. Das Ergebnis macht Polyphonie beeindruckend hörbar und ist als ergänzende Rezeptionsform durchaus sinnvoll. Dem Hörer wird jedoch schnell die Grenze bei der akustischen Rezeption polyphoner Texte merkbar. 73 AmG 36: »die völlig spatialisierte Zeit; der total zertempusselte Raum«. 74 Besonders Ausschnitte aus Werbung, wie etwa AmG 69, 70, 176. 75 Z. B. AmG 50, 85. Nicht immer ist die Herkunft klar ; meistens dürfte es sich um Fremdmaterial aus Illustrierten handeln. Die in den autobiographischen Textanteil montierten Fotos dürften hingegen aus Schmidts Familienbesitz stammen, vgl. etwa AmG 105. 76 Z. B. AmG 136 (›Kartoffel‹), AmG 146 (»Jeu de pavillons«). 77 Z. B. AmG 165 (3D-Zeichnung der Kreuzung Rumpffsweg/Dobbelersweg in Hamburg Hamm und Wohnungsgrundriss). 78 Z. B. AmG 106 u. 107 (Lauban/Schlesien). 79 Z. B. AmG 191 (artilleristisches Messdiagramm). 80 Z. B. AmG 116 (Marsbedeckung), AmG 159 (Stammbaum).

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nehmungsnahen Medien Bild und Foto. Sie erscheinen dabei nicht als sekundär, sondern als integrales81 Strukturelement des Artefakts, das sich schon im Paratext als multimedial oder zumindest als medienambiguos82 ausgewiesen hat. Die Kopräsenz von Text und wahrnehmungsnahen Medien stabilisiert und konkretisiert einerseits das Imaginäre, andererseits verweist sie selbstreferentiell auf den medialen Ursprung und das materielle Substrat des Imaginierten: Text als Abbild des Bildes. In dem Maße, wie sich das Kunstwerk von der Wirklichkeit entfernt, adaptiert es ihre Bilder. Im Nebeneinander von Fotos und exakten referenzierenden Karten einerseits und phantastischer Narration andererseits verschränken sich auf spannungsvollste Weise unterschiedliche Wirklichkeitsbeziehungen: »phantastischer[r] Realismus«.83 Als ein erstes intermediales Verfahren Schmidts lässt sich also eine vielschichtige Medienkombination84 identifizieren.85 In Abend mit Goldrand findet sich eine längere Passage, in der die Figurenhandlung, genauer : Figurenbewegung in den sprachlichen Darstellungsvollzug hereingeholt und dieser in ein Äquivalenzverhältnis transformiert wird, wie es außerhalb der Lyrik86 wohl einzigartig ist. Die Bewegung des Auf- und Abgehens von Ann’Ev’ und Martina muss auf den Seiten 110–113 vom Leser nicht nur 81 Gelegentlich wird Bildmaterial vorgelegt, das innerfiktional von den Figuren verwendet wird (Beispiel AmG 191: »›hier ; Wer’s nich glaubt – ?‹; (er zieht aus einer seiner Mappen ein Diagramm: ! – /aber Jeder lehnt ab/)«. – An anderen Stellen – wie im Fall der duschenden Martina (vgl. AmG 176, auch Ann’Ev’ wird als Foto präsentiert: AmG 62) – illustrieren die Fotos den Text und verdoppeln – in diesem Fall – nicht nur den voyeuristischen Gestus, sondern belegen vor allem die Selbstreferenz. 82 Wolf spricht in diesen Fällen von »medial hybrids«. Werner Wolf: »Intermediality«, in: David Herman et al. (Hg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 252–256, hier S. 254. 83 AmG 90. – Diese innere Spannung der Narration zeigt sich in vielen Details, z. B. in der einerseits rekonstruierenden Erzählung der Kindheit A& Os in Hamburg-Hamm, andererseits in dessen Existenz in »Klappendorf i. El.« (AmG 214), das man sicher aufzulösen hat mit ›im Elysium‹ und das ein intratextueller Verweis auf eines der frühesten Werke Schmidts, Dichtergespräche im Elysium (1940/41) (vgl. BA I/4 239–301), wäre: Abend mit Goldrand gedacht als jenseitiges Spiel im Reich der Kunst. 84 In Rajewskys Terminologie »media combination«. Irina O. Rajewsky : »Intermediality, Intertextuality, and Remediation: a Literary Perspective on Intermediality«, in: Interm8dialit8s 6 (2005), S. 43–64, hier S. 51. – Die Übernahme der Kategorien Rajewskys in deutsche Terminologie bei: Gabriele Rippl: »Intermedialität: Text/Bild-Verhältnisse«, in: Claudia Benthien/Brigitte Weingart (Hg.): Handbuch Literatur und Visuelle Kultur. Berlin/Boston 2014 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 1), S. 139–158, hier S. 143. 85 Vgl. vor allem zu einem bestimmten Typus des Bildes, das Schmidt im Spätwerk verwendet – der Modephotographie in Katalogen: Wolfgang Martynkewicz: Bilder und EinBILDungen. Arno Schmidts Arbeit mit Photographien und Fernsehbildern. München 1994 (= edition text + kritik. Sonderlieferung des Bargfelder Boten). Martynkewicz spricht vom obszönen und fetischisierten Bild bei Schmidt und wendet dieses Feld damit in eine produktionsästhetische Perspektive, wobei viel – für die Schmidt-Forschung typische – Psychologisierung einfließt. 86 In der Lyrik sind typographische Experimente wie das Figurengedicht nicht selten.

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imaginiert, sondern vollzogen werden.87 Die Starrheit der Buchseite, die sich mit ihren einlinigen, syntagmatischen Ketten repräsentierender Zeichen zu den evozierten Bildern und Bewegungen sonst gänzlich heterogen verhält, wird auf diesen vier Typoskriptseiten durch performative (Lese-)Bewegung sowie unterstützende Zeichnungen aufgehoben und dynamisiert. Dieses zweite Verfahren – die Medienreferenz88 – ist mit den Kategorien Werner Wolfs genauer zu beschreiben als die formale intermediale Imitation89 eines Bewegungsmediums wie des Films. Es stellt sich die Frage, ob überhaupt noch von einer Textseite gesprochen werden sollte. Die wohl wichtigste intermediale Referenz des Textes ist die zu Hieronymus Boschs Triptychon mit dem apokryphen Titel Der Garten der irdischen Lüste.90 Das Gemälde wird nicht in seinem eigenen Medium reproduziert, aber auch nicht bloß als Medienzitat genannt oder in einer Ekphrasis beschrieben – wie es bei anderen Referenzen zur bildenden Kunst in Abend mit Goldrand,91 z. B. bei Piranesis Rom-Phantasien, geschieht –, sondern es wird ganz in Narration verwandelt. Ann’Ev’ vermag es kraft ihrer magischen Natur – und vielleicht mehr noch kraft der Eigenschaft der Kunst, Metalepsen zuzulassen –, in das Gemälde hineinzusteigen, den Mittelteil zu durchwandern und schließlich ihr gnostisches »Double«92 zu treffen und zu sprechen. Neben diesem liegt, so erfahren wir später, das jugendliche Ebenbild A& Os. Nicht nur wird die rein deskriptive Ekphrasis überwunden, indem sie zur Narration wird, sondern auch die semiotisch ›festgebannte‹ Bewegung des Bildes wird freigesetzt. Man kann hier ein drittes Verfahren Schmidts (und damit gemeinsam mit Medienkombination und 87 Die Leserichtung: S. 110 von oben nach unten, S. 111 von unten nach oben, S. 112 von oben nach unten und S. 113 von unten nach oben. Der Text mündet hier in einer einfachen Skizze des Hauses, in dem die beiden Figuren verschwinden. – Jürgensen 2007, S. 227, Anm. 34, hat darauf aufmerksam gemacht, dass es zu diesem Verfahren der wechselnden Leserichtung Vorüberlegungen in Zettel’s Traum (vgl. dort S. 1196) gibt. Hier liegt also ein besonderer intratextueller Bezug vor, der von Theorie und Praxis. 88 Rajewsky 2005, S. 52: »intermedial references«. Rippl 2014, S. 143: »intermediale Bezüge«. 89 Wolf 2005, S. 255: »formal intermedial imitation […] the attempt to shape the material of the semiotic complex in question […] in such a manner that it acquires a formal resemblance to typical features or structures of another media.« 90 Vgl. AmG 64–65. – Diese Text/Bild-Beziehung ist in der Schmidt-Forschung detailliert behandelt worden, ohne jedoch von der aktuellen Intermedialitätsforschung auch nur im mindesten zur Kenntnis genommen worden zu sein. Vgl. Kurt Jauslin: »Die Welt im Kopf des Einen. Über die Rolle der ›variedad del mundo‹ des Hieronymus Bosch in Arno Schmidts »Abend mit Goldrand««, in: Bargfelder Bote 41/42 (1980), S. 3–32. – Robert Weninger : »Über den Rahmen hinaus. Hermeneutische Überlegungen zur Schnittstelle Text und Bild in Hieronymus Boschs »Garten der irdischen Lüste« und Arno Schmidts Abend mit Goldrand», in: Der Prosapionier als Letzter Dichter. Acht Vorträge zu Arno Schmidt. Bargfeld 2001 (= Hefte zur Forschung 6), S. 143–163. 91 Vgl. AmG 71 u. 77, wobei es sich hauptsächlich um Medienzitate handelt. 92 AmG 76.

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Medienreferenz die Vollständigkeit intermedialer Möglichkeiten) feststellen, die Medientransformation,93 und zwar in diesem Fall den Transfer eines Bildkunstwerks in eine sprachliche Narration. Auf ihrer Rückkehr aus dem Bild nimmt Ann’Ev’ zur Beglaubigung eine Beere mit, die sie auf A& Os Schreibtisch legt und die dann tatsächlich auf der Reproduktion des Gemäldes im Zimmer fehlt. Dies wird jedoch nicht nur erzählt, sondern die Beere erscheint am Rand des Textfeldes zudem als gezeichneter Kringel. Zunächst wurde das Bild zum Text, nun wechselt der Text in einem Detail zurück zum Bild. Das metaleptische Durchreichen eines Zeichens (Beere) zwischen verschiedenartigen Artefakten bewirkt nicht nur eine intermediale Verbindung zwischen den Künsten, sondern verweist auch auf die Selbstreferenz als transmediale Eigenschaft des künstlerischen Zeichens überhaupt. In der ›zweiten Welt‹ des Textes ist die Transzendierung der Grenze zu einer ›dritten Welt‹ des Gemäldes möglich, weil sie kein ontologisches, sondern ein semiotisches Überschreiten ist. Das intermediale Spiel mündet hier auf der zweifachen Ebene der Figuren im Wunderbaren oder Phantastischen,94 auf der dreifachen Ebene des Rezipienten in metafiktionaler Reflexion.95 Der Dialog zwischen textgewordenem Bild und bildgewordenem Text betrifft auch die Hauptgeschichte. Sowohl der intertextuelle Bezug zur historischen Buttlarschen Rotte96 als auch die mediale Transposition von Boschs Mittelteil sind Spiegelungen des aktuellen Geschehens in Klappendorf. Während das Textarchiv die Abgründe und das Scheitern einer pietistischen Sekte dokumentiert, stellt der Garten das »Abbild einer Glücklichen Menschheit«97 dar, wie A& O zögernd formuliert. Offen bleibt, welche Entwicklung die »Bussiliatsche Rotte«,98 die schon im Namen historisch zurückverweist, nehmen wird. Insgesamt bleibt der Text skeptisch und bemerkt die »Anzeichen einer Desintegration«, doch Boschs Gemälde mit seinen gnostischen Implikationen, die mit Vorstellungen einer zweiten Welt der Dichtung bzw. der Kunst verschaltet werden, 93 Rajewsky 2005, S. 51: »medial transposition«. Rippl 2014, S. 143: »›Medienwechsel‹ oder ›Medientransfer‹ beziehungsweise ›Medientransformation‹«. 94 Hier soll die Unterscheidung nach Tzvetan Todorov gelten, nach der das Phantastische auf der Grenze zwischen dem unerklärlich Wunderbaren und dem erklärbaren Unheimlichen liegt. In Abend mit Goldrand wird meist eine halluzinative Erklärung nicht ausgeschlossen. Vgl. Tzvetan Todorov : Einführung in die fantastische Literatur, übers. v. Karin Kersten et al. Berlin 2013 [1976], S. 55–74. 95 Die Figuren befinden sich auf der Ebene des Spiels und müssen die Welt des Gemäldes als eine zweite Ebene mit anderem ontologischen Status betrachten, die nur auf wunderbare oder phantastische Weise zugänglich ist. Der Leser befindet sich außerhalb der Fiktion auf einer ersten Ebene; die beiden Ebenen der Fiktion haben für ihn den gleichen ontologischen Status. 96 Vgl. AmG 122. 97 AmG 63. 98 Vgl. AmG 122.

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wirft seinen utopischen Schein auch auf die Aussteiger in dieser »MärchenPosse« und lässt deren Anliegen nicht einfach als verwerflich erscheinen.

Dialogizität als Autofiktion In den letzten Jahren ist die Diskussion um das autobiographische Schreiben eines der wichtigen literaturtheoretischen Anliegen geworden, insbesondere durch den Rekurs auf den von Serge Doubrovskys im Jahr 1977 geprägten Begriff der Autofiktion.99 In rezeptionstheoretischem Zusammenhang wird insbesondere Philippe Lejeunes pragmatischer »pacte autobiographique« wieder in den Fokus gerückt.100 Überblickt man die gegenwärtige Diskussion, dann wird erstens der Konstruktionscharakter allen autobiographischen Schreibens konstatiert und wird zweitens festgestellt, dass sich in der Moderne und Postmoderne identitäts- und sinnstiftendes autobiographisches Schreiben nicht mehr ungebrochen verwirklichen lasse. Das Nicht-Identische – das Dissoziierte, Abgespaltene, Entfremdete – spielt eine größere Rolle als die Identität. Dies führt sowohl zu einer zunehmenden Fiktionalisierung als auch einer Selbstreflexion des autobiographischen Schreibens.101 Mit der Autofiktion entsteht eine Hybridform zwischen Faktualität und Fiktionalität, Referenz und Selbstreferenz. Zu Lejeunes autobiographischem Pakt tritt der Fiktionalitätspakt in Konkurrenz. Der Leser wechselt – so jedenfalls nach Frank Zipfel102 – zwischen den beiden Pakten während der Lektüre, was allerdings in scharfem Widerspruch zur ›homogenen Ontologie‹ der Erzählwelt steht, wie sie die meisten Narratologen fordern.103 Einen überzeugenderen Standpunkt, der diese Aporie überwindet, 99 Auf dem Klappentext von Doubrovskys Roman Fils (1977) wird der Begriff »autofiction« erstmalig verwendet. 100 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, übers. v. Wolfram Bayer/Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1994 [frz. 1975]. 101 Vgl. dazu Ansgar Nünning: »Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen«, in: Christopher Parry /Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München 2007, S. 269–292. 102 Frank Zipfel: »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, in: Simone Winko et al. (Hg.): Grenzen der Literatur. Berlin 2009, S. 285–314, hier S. 306: »Es erscheint mir kaum möglich, einen Text durchgehend sowohl nach dem referentiellen Pakt wie auch nach dem Fiktions-Pakt zu lesen. Ich denke vielmehr, dass das vom autofiktionalen Text inszenierte Spiel darin besteht, dass der Leser von einem Pakt zum andern wechselt und dies mehrmals im Laufe der Lektüre.« 103 Etwa Schmid 2008, S. 40–41: »Gegen die in der Fiktionalitätstheorie verbreitete Auffassung, in der Fiktion könnten neben fiktiven Objekten auch reale Gegenständlichkeiten (reale Personen, Orte oder Zeiten) erscheinen (mixed-bag conception), soll hier davon ausgegangen werden, dass die fiktive Welt des Erzählwerks eine homogene Ontologie hat, dass alle

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vertritt Eric Achermann, der konstatiert, der Leser eines historischen Romans referenziere beispielsweise die Figur Napoleon historisch-faktual und stelle sie gleichzeitig in den autoreferentiellen Zusammenhang der Fiktion. Um eine Figur mit einem solcherart zweifelhaften ontologischen Status handelt es sich auch beim Protagonisten der Autofiktion. Dass diese doppelte Bezüglichkeit aber gelingen kann und auch rezeptionstheoretisch wahrscheinlich ist, begründet Achermann mit der Möglichkeit, Referenz nicht nur über Eigennamen (wie bei Lejeune), sondern auch über Prädikate herzustellen.104 Abend mit Goldrand lässt diese aktuell diskutierten Problemfelder in aller Deutlichkeit hervortreten. Dem Leser, zu dessen Weltwissen Informationen über den Autor Arno Schmidt gehören, werden auch ohne die Bedingungen, unter denen ein autobiographischer Pakt zustande kommt (also die Identität der Eigennamen von Autor und Protagonist), über Prädikate ausreichend Informationen an die Hand gegeben, um das Trio der Hausgemeinschaft in einen biographischen Bezug stellen zu können.105 Die entscheidenden Stationen der Biographie Schmidts werden von den Figuren der drei Alten, die zu autodiegetischen Erzählern werden, entfaltet. Sie erscheinen als ein weiteres Mal überformt, nach dem Instanzenmodell nun durch das autobiographische: Olmers berichtet über die Jugendjahre im schlesischen Lauban,106 Eugen Fohrbach gibt verstreut Details preis über die Kriegseinsätze als Artillerist in Norwegen107 – und schließlich erzählt A& O ausführlich seine Kindheit in Hamburg-Hamm.108 Der Vorname »Alexander Ottokar« gibt sich als ein nur kaum verschleierndes Pseudonym für Arno Otto zu erkennen;109 der Nachname »Gläser« verweist

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in ihr dargestellten Gegenständlichkeiten, gleichgültig wie eng sie mit real existierenden Objekten assoziiert werden können, grundsätzlich fiktiv sind.« Eric Achermann: »Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld 2013, S. 23–53, hier bes. S. 46–53. S. 52: »Statt nun davon auszugehen, dass ›autobiographisch‹ einzig mit der Verwendung tatsächlich referierender Namen zusammenhängt, glaube ich, dass zutreffende Prädikate, die Gegenstände individuieren und identifizieren, eine ausreichende Grundlage darstellen, den autobiographischen Charakter eines Textes zu behaupten.« Nur einige Beispiele: »Rodump von Bargfeld« (AmG 54), »Schmidt? Klassischer Name« (AmG 90), »die Augenbrauen d Mondes überm Kronsberg« (AmG 95). Intratextuelle Titelzitate: AmG 55 »WasserStraße« (Erzählung Schmidts), AmG 132 wendet sich Olmers an A& O: »MeensDe nich ooch, Walter Eggers/alter Ego [im Original vertikal geschrieben]?« (›Walter Eggers‹ ist der Protagonist in Schmidts Das Steinerne Herz), AmG 154: »ein ZweispaltenBuch wie ›Kaff‹« (Romantitel Schmidts), AmG 171: »id ›Umsiedlern‹, Bilder 6–8, sind so MikroReminiszenzen daran«. Vgl. AmG 103. Vgl. etwa AmG 133, 190–191, 210. Vgl. AmG 158–174. AmG 159 lüftet diese ohnehin nur sehr leichte Verkleidung durch den Namen in der Familientafel »Arno Otto Gläser«. Richtig müsste es innerfiktional »Alexander Ottokar Glä-

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dagegen metonymisch auf den Vater Arno Schmidts, der Glasschleifer von Beruf war.110 Außerdem ist A& O Autor, wenn auch, aufgrund seiner Herzkrankheit, Autor a. D. Alle drei autobiographischen Narrationen bezeugen ein beschädigtes Leben und gleichzeitig – typisch für autofiktionales Erzählen – die Bedingungen von Autorschaft. Diese autobiographischen Erzählungen sind in phantastisches oder wunderbares Geschehen eingelassen, das die Erwartungen an eine »MärchenPosse« nicht enttäuscht.111 So betreten Ann’Ev’ und A& O gegen Ende eine Eiswolke und werden dort – wiederum durch eine Metalepse zweiter Ordnung112 – Zeugen eines romantischen Treibens, das aus einer prätextuellen Montage aus den eigenen Juvenilia Schmidts und einer kaum überschaubaren Vielzahl an Fremdzitaten besteht. Diese Auffahrt zu einer »WolkenInsel«113 verbindet Intra- und Intertextualität mit Autofiktion wie wohl kein zweiter Text der deutschen Literatur seit 1945.114 Martinas Freund, Martin Schmidt, darf der Hausgemeinschaft ein Manuskript zum Vorlesen geben, da er angeblich Talent zum Schreiben habe. Dieser Text trägt den Titel »Pharos« und ist nichts anderes als ein bis dahin unpubliziertes Frühwerk Arno Schmidts.115 Die Selbstobjektivierung führt zu einer abermaligen Figurenabspaltung, die eine Wieder-Holung der autobiographischen Jugend und des Beginns von Autorschaft unter besseren Voraussetzungen ermöglicht, als sie der Autor selbst hatte. In diese Figuration – Martin als der schüchterne, begabte junge Autor, Martina als die künftige liebreiche ›Schriftstellergattin‹ und A& O als Mentor – hat Schmidt noch einmal alle Hoffnungen, die Abend mit Goldrand überhaupt noch zulässt, eingeschrieben. Ob dieses Mal die jugendliche Autorschaft nicht durch Krieg und sonstiges Unheil behindert oder verhindert werden wird, lässt die skeptische »MärchenPosse«, die eben kein fraglos wunscherfüllendes Märchen sein will, offen. Für Autofiktionen dieses Zuschnitts hat Vincent Colonna die Bezeichnung

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ser« (vgl. AmG 214) heißen. Ob dies ein Versehen Schmidts ist oder ob Fiktion und Autobiographie noch enger zusammengeführt werden sollen, kann nicht entschieden werden. – Das pragmatisch schlichte Modell Lejeunes wird jedenfalls durch Abspaltungen und Verschiebungen auch im Bereich der Eigennamen ausgehebelt. Vgl. die Familientafel in Ernst Krawehl (Hg.): Porträt einer Klasse. Arno Schmidt zum Gedenken. Frankfurt am Main 1982. S. 174–175 mit der entsprechenden ›autofiktionalen‹ Tafel in AmG 159. Zum Vater als Glasschleifer auch AmG 161. Ein besonderes Kabinettstück ist das »jeu de pavillons« (vgl. AmG 146). Weiteres etwa die Spaltung in Ann’Ev’ I und Ann’Ev’ II (vgl. AmG 114) oder der imaginäre Ball (vgl. AmG 130). Vgl. hier Anm. 95. Vgl. AmG 206–208, das Wort »WolkenInsel« im Inhaltsverzeichnis AmG 215. Vgl. dazu Drews 2009, S. 147–148. Als solches abgedruckt in: Arno Schmidt: Pharos oder von der Macht der Dichter (BA I/4 609–632).

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»l’autofiction fantastique«116 vorgeschlagen. Es ist zudem ein weiterer Dialog: nicht einfach des Autors mit seinem fiktionalen Selbstentwurf, sondern eines Autors, dessen innere Zerrissenheit sich nur in multiplen Projektionen entäußern kann, die je eine eigene Stimme erhalten, starr die eine (Eugen Fohrbach), reduktionistisch die andere (Egon Olmers), reflektierend und melancholisch die dritte (Alexander Ottokar Gläser) und juvenil-poetisch die vierte (Martin Schmidt). Dass dennoch eine Identität besteht, zeigt sich im versteckten ›Ich‹ des presenters. Es ist nicht mit dem Autor gleichzusetzen, erweist sich aber – in Identität von oder Annäherung an die Zentralfigur A& O117 – als durchlässig zum autobiographischen Ich. In einem ontologischen Schwebezustand scheint dieses Ich zu existieren, sowohl im Text als auch außerhalb: »[E]ine Buchgestalt ist ja fast schon ein Beinah=Lebendiges.« Autofiktion ist metaleptisch.118 Dieses Spiel wird in ironischer Wendung fortgeführt, wenn sich die Figur mit den meisten Autorreferenzen, nämlich A& O, mit einem bestimmten Schriftsteller auseinandersetzt: »Eine ›Geliebte mit Holzbein‹, in SCHMIDT’s ›Umsiedlern‹ – (die freche Ruchlosichkeit des Scharlatans besteht ja darin, daß er Worte zusamm’setzt, die völlich unmögliche Operationen des Geistes, wie des Leibes suggerieren!)«.119 Wenige Jahre nach Abend mit Goldrand erscheint das von Arno Schmidt vorbereitete, jedoch erst posthum veröffentlichte, in der Anlage gänzlich dialogische (Auto-)Biographie-Projekt Portrait einer Klasse, worin Schmidts Klassenkameraden ihre Sicht auf die Hamburger Schulzeit und ihren berühmten Mitschüler darlegen; hinzu kommen Erinnerungen der Mutter und Schwester. 116 Vincent Colonna: Autofiction & autres mythomanies litt8raires. Paris 2004, S. 75: »L’8crivain est au centre du texte comme dans une autobiographie (c’est le h8ros), mais il transfigure son existence et son identit8, dans une histoire irr8elle, indiff8rante / la vraisemblance.« – Colonna ist bisher wohl der einzige Theoretiker der Autofiktionalität, der gelegentlich auf Arno Schmidt Bezug nimmt. Dies sei hier ausdrücklich gewürdigt. 117 Vgl. noch einmal das Gleiten des presenter-Textes in diegetisches Erzählen A& Os, z. B. AmG 179. Vgl. zu dieser Stelle Bettina Clausen: »Existenz textintern. Zum Fluchtpunkt einer Poetik Arno Schmidts«, in: s. Anm. 90, S. 31–50, hier S. 47–48. Vgl. hier auch Anm. 33. 118 AmG 133. – Vgl. G8rard Genette: M8talepse. Paris 2004, S. 31: »M8talepse non plus seulement du narrateur, mais bien vraiment de l’auteur, romancier entre deux romans, mais aussi entre son propre univers v8cu, extradi8g8tique par d8finition, et celui, intradi8g8tique, de sa fiction.« Zu diesem Zusammenhang auch Zipfel 2009, S. 310: »dass mit der Integration fiktionaler Elemente in die Lebensgeschichte bzw. mit dem Angebot von referentiellem und Fiktions-Pakt eine Art Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Leben inszeniert werden soll.« 119 AmG 179. – Diese ironische, als Metalepse inszenierte Selbstreferentialität ist bei Schmidt nicht neu: Beispielsweise begegnet der Erzähler von Schwarze Spiegel den Überresten eines Schriftstellers namens Schmidt, und in Die Schule der Atheisten wird Zettel’s Traum zum entscheidenden Kulturobjekt, das das Überleben des Reservats an der Eider sichert. Am deutlichsten vielleicht in ›Piporakemes!‹, wo der Erzähler einen Schriftsteller befragt, der unübersehbar eine selbstironisch-karikierende Referenz zum Autor aufweist.

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Dazwischen plaziert, begegnen umfangreiche Stücke von A& Os Erzählung aus Abend mit Goldrand wieder, präsentiert nun mit dem Titel Meine Erinnerungen an Hamburg-Hamm als autobiographisches Zeugnis Arno Schmidts, »aber«, wie es der Herausgeber entwaffnend unreflektiert beschreibt, »mit dem Trennmesser von der Romanhandlung abgelöst«.120 Beglaubigt nun dieser neue Kontext die Faktualität der Passagen aus Abend mit Goldrand, oder fiktionalisieren umgekehrt diese den autobiographischen Status in Portrait einer Klasse? Anders als der Herausgeber war sich Schmidt selbst des Konstruktionscharakters des einen wie des anderen bewusst. In einer Anmerkung schreibt er : »Man könnte an diesem MosaikBuch, wenn man ernstlich wollte, sämtliche GrundProbleme des Historikers aufzeigen«.121 Das heißt auch: des Historikers seiner selbst.

Schluss In Abend mit Goldrand begegnet Zwei- und Mehrstimmigkeit von Texten und Bildern, Zeiten und Kulturen, von Idealismus und dessen (obszöner und skatologischer) Herabsetzung, von Endlichkeit (A& O) und Unendlichkeit (Ann’Ev’), von Leben und Kunst und schließlich von Altgewordenem und Neuem, das in Wahrheit das ganz Alte, Archaische, Uranfängliche, das Regressive ist. Die Rotte mit Ann’Ev’, die ja auch an Eve, eine Eva ist, mag in Tasmanien eine neue Gesellschaft mit eigenen Regeln gründen, aber der Pansexualismus, der sich über alles erstreckt, sogar über die Wörter, die er karnevalisiert, lässt Zweifel an einer Stabilität aufkommen, zu denen auch die archivierte Sektengeschichte berechtigt. In seltenen Momenten mag es der Kunst gelingen, den Sexus auszuschalten, wie in Boschs Utopia auf der Mitteltafel des Gartens, der eben keiner der Lüste ist, da er asexuelle glückliche Menschen zeigt – zumindest in der Lesart Wilhelm Fraengers122 und Schmidts; oder indem es ihr, der Kunst, in einer Autofiktion eines innerlich Zerrissenen gelingt, den Sexus abzuspalten: denn von den drei Alten zieht nur Olmers am Ende mit der Gruppe weiter. Martin Schmidt und Martina – beide initiiert durch A& O bzw. Ann’Ev’ – sind vielleicht auch ein neues Urpaar, eines, das die Kunst in die Zukunft fortträgt. Aber die schönen drei Oktobertage sind verstrichen, es regnet, und die Kraniche ziehen im Wind. Als Arno Schmidt wenige Jahre zuvor Edward Bulwer-Lyttons Roman My Novel übersetzte, kam er an folgende Stelle: »It123 is the finest picture upon which lingers the glimmering of the 120 Krawehl 1982, S. IX. Schmidts Text auf den Seiten 139–170, versehen mit Marginalien. 121 Schmidt in: ebd., S. [XVI]. 122 Schmidt bezieht sich mehrfach auf: Wilhelm Fraenger : Hieronymus Bosch. Das tausendjährige Reich. Grundzüge einer Auslegung. Coburg 1947. 123 Gemeint ist der Dialog De Consolatione Philosophiae des spätantiken römischen Gelehrten Boethius, des »letzten Philosophen der Römerwelt« (s. Anm. 125).

Dialogizität in Arno Schmidts Abend mit Goldrand

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Western golden day, before night rushes over time.«124 Er gab sie wieder mit: »eines der schönsten Bilder der alten Westerwelt, ein Abend mit Goldrand, bevor, argunversehens, die Große Nacht hereinbricht.«125

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124 Edward Bulwer-Lytton: My Novel; or, Varieties in English Life. By Pisistratus Caxton (Sir Edward Bulwer Lytton, Bart.), Copyright Edition. In three Volumes. Vol. II. Leipzig 1851. Book VII, Chapter 4, S. 224–225. 125 Edward Bulwer-Lytton: Dein Roman. 60 Spielarten englischen Daseins. Roman, übers. v. Arno Schmidt. Frankfurt am Main 1973, S. 604.

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Dialogizität in Arno Schmidts Abend mit Goldrand

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Agnieszka Jezierska

Die passionierten LeserInnen: Lust an Jelineks Lust

Der 1989 erschienene Text Lust von Elfriede Jelinek provoziert die Lesenden zu einer literarischen Schnitzeljagt: Die Erzählinstanz stellt eine enorme Herausforderung an die RezipentInnen, bedient sich unaufhörlich des fremden Wortes, entstellt Zitate und gängige Floskeln, hinterfragt die dargestellte Welt, und dazu nervt mit Einschüben wie etwa: »Haben Sie noch Lust zu leben und zu lesen? Nein? Na also …«.1 Es geht hier um kein gewöhnliches Lesevergnügen, eher um ein zähes Ringen mit der Materie des Textes. Schon die fehlende taxonomische Zuordnung (Ist das ein Roman? Oder eher Prosadichtung?) ist ein Störfaktor. Die Erzählinstanz ermahnt im Klartext: »Niemand lernt schließlich lesen ohne zu leiden«.2 Dieses Buch rief verschiedene, oft diametral unterschiedliche Reaktionen hervor, unter denen mehrere eher auf den Titel und zahlreiche Epitexte rekurrierten (viele Stimmen waren noch vor der Veröffentlichung hörbar), nicht auf den eigentlichen Text und seine Botschaft bzw. seine künstlerische Strategie. In der Forschung wurde auf die extrem intertextuelle Schreibweise verwiesen, vor allem auf den Bezug zu Batailles Geschichte des Auges, einen Hypotext, den Jelinek in mehreren Interviews als ihre Folie bezeichnet hat, die sie persiflieren wollte; auf das Motto aus dem Geistigen Gesang von Johannes von Kreuz, das einen paradoxen Paratext bildet; auf den gleichnamigen Roman von D’Annuzio, einen Künstler, dem Jelinek ihr Augenmerk im Stück Clara S. widmete, den Essay Die Lust am Text von Barthes; auf entstellte Zitate u. a. aus Hölderlins Dichtung; ferner auf die Machtverhältnisse und feministischen Ansatz; nicht zuletzt: auf die linguistische Raffinesse. Andererseits aber wurde der Text als pornografisch denunziert, im »Literarischen Quartett« sagte ihm Marcel Reich-Ranicki jegliche literarische Qualität ab, und Sigrid Löffler, als Verfechterin von Jelineks unnachgiebiger ethischer Haltung und Stil, scheiterte, ihn dazu zu zwingen, seinen

1 Elfriede Jelinek: Lust. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 170. 2 Ebd., S. 150.

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Standpunkt zu revidieren.3 Wie verbreitet diese oberflächliche Lesart ist, bestätigen auch die Übersetzer von Lust in andere europäische Sprachen: Carlos Fortea bemerkt, dass in Spanien Lust »nicht als feministischer Roman […], sondern als pornographischer Roman«4 wahrgenommen wurde. Ähnliches beobachtet Luigi Reitani für Italien, wo Lust »als ›erotische Frauenliteratur‹ oder gar als ›weibliche Pornographie‹«5 missverstanden wurde. Auch in Polen wird das Buch sogar von Jelinek-LiebhaberInnen nicht immer der intentio auctoris oder operis treu gedeutet. Z. B. Joanna Bator, eine namhafte polnische Schriftstellerin, die sich auf Jelinek mit Bewunderung beruft, liest diesen Roman als ein einfaches Lob der Pornografie und des brutalen Geschlechtsverkehrs.6 Dieses Missverständnis kommt meines Erachtens deswegen vor, weil die Konvention des pornografischen Romans für bare Münze genommen und daher nicht als Folie für eine kritische Auseinandersetzung anerkannt wird. Die dialogische7 Struktur und die parodistische Absicht sind grundlegend für Jelineks Lust. Als eine interessante Ergänzung zur akademischen und populären Rezeption könnte der Essay von Lukas Cejpek UND SIE. Elfriede Jelinek in »Lust« (erschienen 1991) gelten. Der Verfasser greift zu denjenigen künstlerischen Methoden, die an Jelineks Oeuvre (bzw. am Oeuvre ihrer MeisterInnen) geschult zu sein scheinen, genauso wie Jelinek scheut er nicht vor falschen Etymologien und monotonen Wiederholungen. An der Grenze zur »lustlosen Literaturwissenschaft«8 bewegen sich auch zwei etablierte ForscherInnen, und zwar Thomas Anz und Konstanze Fliedl, die für eine andere Lesart von Lust plädieren. Laut Fliedl blendet die Leserschaft ein wichtiges Aspekt des Jelinek’schen Oeuvre aus: »Daß Jelineks Bücher schon seit jeher außerordentlich witzig sind, ist von den verstörten Lesern und Kritikern lange nicht gesehen worden«.9 Nur Thomas Anz 3 »Elfriede Jelinek: Lust«, in: Das literarische Quartett: Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001 hg. v. Peter Just et al. Berlin 2006, S. 131–141. 4 »›Die versteckte Bedeutung der Obszönität‹. E-Mail-Wechsel zwischen europäischen und asiatischen ÜbersetzerInnen des Romans Lust«, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek[Jahr]Buch 2010, S. 159–176, hier S. 162. 5 Ebd., S. 163. 6 Tomasz Kwas´niewski: »Mie˛dzy fuksja˛ a penisem«, Wysokie Obcasy (=Beilage zu Gazeta Wyborcza) Ausgabe vom 10. 02. 2015, verfügbar unter : http://www.wysokieobcasy.pl/wyso kie-obcasy/0,114019.html?tag=Tomasz+Kwa%b6niewski [02. 03. 2016]. 7 Dialogizität verstehe ich hier im Sinne von Kristevas Auslegung des »fremden Wortes« Bachtins. Vgl. Michail Bachtin: »Typen des Prosaworts«, in: ders. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. und hg. v. Alexander Kaempfe. München 1969 und Julia Kristeva: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. hg. v. Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375. 8 Diesen Begriff entnehme ich Thomas Anz, vgl. ders.: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998, S. 20. 9 Konstanze Fliedl: »Keine Lust. Zur Prosa der Verhältnisse an Beispielen von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz«, in: Markus Knöfler/Peter Plener/P8ter Zol#n (Hg.): Die Lebenden

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stellt für sie eine positive Ausnahme dar.10 Die Shortlist könnte noch um vereinzelte weitere Namen erweitert werden, z. B. Hans Hiebel.11 Es lässt sich aber nicht leugnen, dass viele InterpretInnen Lust zu ernst betrachten und ihren Sinn für Humor zensieren, trotz der Frage im Text: »Wer hat nicht Sinn für Humor?«.12

Keine Lust am Text Der kurze aber uneindeutige Titel Lust fesselt Aufmerksamkeit der RezipientInnen und dient als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Den spielerischen Charakter betont Crystal Mazur Ockenfuss, die im Klartext fragt: ob es sich um »eine Versprechung« (Schwur) oder eher »ein Ver-sprechen« handelt. »Lust = Last = List«,13 so sein Fazit. Mit dieser Aufzählung schreibt sie den Gedanken von Adorno weiter : »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird«.14 Aus der Spannung zwischen der Erwartung und der Message ergibt sich die Wirkung des Textes, die Bedeutung muss immer neu ausgehandelt werden, die poetische Sprache entgleitet den RezipientInnen, der Text generiert mehrere Bedeutungen, von denen keine den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Bedeutungen vermehren sich und die Lesenden verirren sich im Dickicht der Gerichtetheiten.15 Jelinek selbst rekurriert mit diesem Titel wenigstens auf zwei Hypotexte: D’Annuzios Lust16 und Roland Barthes’ kanonischen Essay Die Lust am Text. Der letztere versucht das Erlebnis der Lektüre mit unterschiedlichen Metaphern und

10 11 12 13

14 15

16

und die Toten. Beiträge zur österreichischen Gegenwartsliteratur, Budapester Beiträge zur Germanistik 35, Budapest 2000, S. 159–170, hier S. 166. Ebd. Hans Hiebel: »Elfriede Jelineks satirisches Prosagedicht Lust«, Sprachkunst XXIII (1992), S. 291–308. Jelinek 1992, S. 68. Im Original: »Is the title a promise [eine Versprechung]? Or perhaps a slip of the tongue [ein Ver-sprechen]? Lust = Last = List : Pleasuer = Burden = Trick«. (Vgl. Crystal Mazur Ockenfuss: »Keeping Promises, Breaking Rules: Stylistic Innovations in Elfriede Jelinek’s Lust«, in: Jorun B. Johns/Katherine Arens (Hg.): Elfriede Jelinek. Framed by Language. Riverside 1994, S. 73–88, hier S. 73). Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1995, S. 205. Gerichtetheit verstehe ich im Sinne von Bachtin: »Der Autor kann ein fremdes Wort […] für seine Zwecke dienstbar machen, daß er eine neue Gerichtetheit in ein Wort hinlegt, das bereits seine eigene Gerichtetheit besitzt und behält. Ein solches Wort soll dabei als ein fremdes empfunden werden. So kommt es, daß zwei Stimmen in einem Wort koexistieren.« Vgl. Bachtin 1969, S. 113. Anspielungen an diesen Hypotext bespricht Anna Majkiewicz im Beitrag »(Para)textuelle Räume und (inter)textuelle Atopien: Bemerkungen zu Lust in polnischer Übersetzung«, in: Monika Szczepaniak/Agnieszka Jezierska/Pia Janke (Hg.): Jelineks Räume. Wien 2017, S. 167–178, hier S. 168–171.

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Bildern zu erläutern, u. a. wird der Höhepunkt des Lesens mit sexueller Vollendung gleichgesetzt: »Die Lust am Text gleicht jenem unhaltbaren, unmöglichen, rein romanhaften Augenblick, den der Libertin am Ende des Ablaufens einer gewagten Maschinerie genießt, wenn er das Seil, an dem er hängt, im Augenblick seiner Wollust kappen läßt«.17 Die von Barthes skizzierte Hedonistik der Lektüre persifliert Jelinek, indem sie sexuelle und textuelle Lust deutlich voneinander trennt: Bei der Frau kann vom körperlichen Vergnügen wortwörtlich keine Rede sein, zumal es – so Jelineks Diagnose –, keine Sprache für die weibliche Begierde gibt.18 Auch Cejpek empfindet den Titel als irreführend: »Lust als Unlust […] Ein leeres Versprechen. Wie Lust. Versprechen der Leere. Lust will nichts als sich selbst Wiederholung«.19 Das Wort ›Versprechen‹ entfaltet in diesem Zusammenhang wenigsten zwei Bedeutungen: Es verweist sowohl auf einen Schwur, als auch auf einen sprachlichen Ausrutscher was der folgende Ausschnitt mit dem Parallelismus ›versprechen‹-›verschreiben‹ zum Vorschein bringt: »Die Frau kann sich nur versprechen, die Herrschaft zur Sprache bringen die Sprache. Das ist Realismus. Realistisch schreiben heißt sich verschreiben«.20 Cejpeks Text ist ein Spiel mit dem Buch von Jelinek, ein Zeugnis der Bewunderung, auch eine Art literarischer Huldigung, z. B. in der Passage: »Lust hat keine eigene Sprache. Fremdsprache durch und durch. […] Und Sie? Sind Mystikerin. Sie schreiben mit anderen Worten die Worte anderer bis zum Exzeb«.21 Die Sprache begeistert ihn: »Sie? Ich les mich in Sie hinein verlesen. Statt ›nie genesende Bilder‹ lese ich ›nie gewesende Bilder‹, ›zugebettet‹ statt ›zugebettelt‹, ›kläffende Frucht‹ statt ›Furcht‹, ›Raubtier Geld‹ statt ›Glied‹ i ›Mankerln‹ statt ›Makerln‹«.22 Die Sprache fasziniert auch Thomas Anz, der Lust im Rahmen seines Projekts »Literatur und Lust« betrachtet, wo er eine literarische Hedonistik salonfähig zu machen versucht. Um dieses Buch zu erläutern, bezieht er sich auf den Mechanismus von Sprachwitz aus Freuds Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, insbesondere auf diejenigen Passagen, wo Witz als Modifikation von gängigen Floskeln analysiert wird. Insbesondere das Erkennen des Bekannten wird zur Quelle des Witzes. In seiner Abhandlung nimmt Freud einen Satz aus Heines Reisebildern unter die Lupe: »Ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär.« Das letzte Wort fesselt seine Aufmerksamkeit in Bezug auf den Sprachwitz:

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Roland Barthes: Die Lust am Text. übers. v. Ottmar Ette, o.O. 2010, S. 15. Vgl. Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. Paderborn 2008, S. 82. Lukas Cejpek: UND SIE. Jelinek in »Lust«. Graz/Wien 1991, S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 6 und 7. Ebd., S. 27.

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Worin besteht nun die »Technik« dieses Witzes? Was ist mit dem Gedanken etwa in unserer Fassung vorgegangen, bis aus ihm der Witz wurde, über den wir so herzlich lachen? Zweierlei, wie die Vergleichung unserer Fassung mit dem Text des Dichters lehrt. Erstens hat eine erhebliche Verkürzung stattgefunden. Wir mußten, um den im Witz enthaltenen Gedanken voll auszudrücken, an die Worte »R. behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz familiär«, einen Nachsatz anfügen, der aufs kürzeste eingeengt lautete: d. h. soweit ein Millionär das zustande bringt, und dann fühlten wir erst noch das Bedürfnis nach einem erläuternden Zusatz.23

Das angeführte Beispiel bedient sich eines Verfahrens, das auch im Oeuvre von Jelinek keine Seltenheit bildet. Kontamination gehört zu den Lieblingskunstgriffen der Autorin, was Anz u. a. am Beispiel der aus Horaz’ entnommenen geflügelten Worte zeigt: »Das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden«, wird bei Jelinek zum »das Unnütze mit dem Unangenehmen«.24 Übrigens, ist eine Zitierweise mit dem Präfix »un-« keine Seltenheit bei Jelinek, z. B. in Die Klavierspielerin ist vom »Unlustprinzip«25 die Rede, wodurch Freuds berühmter Titel entstellt wird; in einer psychiatrischen Anstalt wird der Vater von einem »unfreiwillige[n] Helfer«26 betreut. Interessanterweise kippt bei Jelinek die Umdeutung der Redewendungen meistens ins Negative um. Nach Gerard Genette gehört die Hypertextualität »gewissermaßen zum Basteln«.27 In Palimpseste macht er darauf aufmerksam, dass: »die Kunst ›aus Altem Neues zu machen,‹ den Vorteil hat, dass sie Produkte hervorbringt, die komplexer und reizvoller sind als die ›eigens angefertigten‹ Produkte: eine neue Funktion legt sich über eine alte Struktur und verschränkt sich mit ihr, und die Dissonanz zwischen den beiden gleichzeitig vorhandenen Elementen verleiht dem Ganzen seinen Reiz«.28 Das Vergnügen am Hypertext ist nach ihm »auch ein Spiel«.29 Und ein Spiel verlangt Interaktion, die Lesenden dürfen nicht passiv bleiben, werden gezwungen Entscheidungen zu treffen – das ist gerade die Absicht Jelineks.

23 Vgl. Anz 1998, S. 182–183, Sigmund Freud, »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«, in ders.: Studienausgabe, Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main 1970, S. 9–219, hier S. 114. 24 Vgl. Jelinek 1992, S. 92 und Anz 1998, S. 181. 25 Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 52. 26 Ebd., S. 101. 27 Gerard Genette: Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. v. Wolfram Beyer/Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993, S. 532. 28 Ebd., S. 532. 29 Ebd., 1993, S. 533.

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»The medium is the message« Die Kontamination ist auch in Bezug auf den gesamten Text bemerkbar : Die eigentliche Handlung (Geschichte von Direktor und Gerti) dient nur als Vorwand, sich über das Schreiben und die Simulation (Baudrillard), die sekundäre Beschaffenheit von Wirklichkeit zu äußern. Als Schnittstelle dient das papierne Medium. Die Vermittlung, Medialität sind konstitutiv für das ganze Vorhaben: Cejpek bezeichnet die Handlung von Lust als soap opera, als »denkbar einfach vorhersehbar«,30 die, einer Fernsehsendung ähnlich, ständig von Werbung unterbrochen wird und mit jedem Kapitel einen Schnitt bringt: »Scheiße. Dieser falsche Ton Bildstörung.«31 Auch in kleinen Einheiten des Textes kommt es zu Brüchen, die sich logisch nicht erklären lassen. Z. B. als Hermann sich auf seine Frau in sexuellem Wahn stürzt, kommt unerwartet der Satz, der zur Darstellung kaum passt: »Er liest Zeitungen.« Doch wenn wir auf die Perspektive des gesamten Textes zurückgreifen, ist dieser Einschub als V-Effekt legitim, mit dem die falsche Illusion persifliert wird und die Lesenden darauf aufmerksam gemacht werden, mit Fiktion und Medialität, nicht Wirklichkeit konfrontiert zu sein. Papier als Medium/Träger wird in Lust an mehreren Stellen thematisiert und ähnlich wie Wasser gehört es zu den Leitmotiven: »Wer von ihnen braucht nicht Papier […]«32 – verweist die Erzählinstanz auf die Unentbehrlichkeit dieses Materials. Es ist wohl kein Zufall, dass Hermann als Direktor einer Papierfabrik fungiert, genauso wie in Die Liebhaberinnen Brigitte und Paula als Arbeiterinnen in einer BH-Fabrik waren, was sich als zentral für die Aussage des Textes erwies. Jelinek betont den textuellen Charakter der dargestellten Welt mit den Verweis auf das Materielle: Das Einzige, was den Lesenden zur Verfügung steht, ist das Buch aus Papier (1989 war wohl Papier als Buchträger selbstverständlich). Auch die Frau selbst wird zum Papier reduziert, als Eigentum des Mannes »Der Mann benutzt und beschmiert die Frau wie das Papier, das er herstellt«,33 d. h. wird der Mann zum Gott, Schöpfer, der sich der Frau bedient und sie als Wegwerfware betrachtet. Ähnlich in der Passage: »[Er] zieht das Geschlecht seiner Frau auseinander, ob er auch dort eingeschrieben ist«.34 Biblischer Duktus aus den ersten Passagen des Textes (ewiger Vater, der Atem ausschenkt usw.) legt die Göttlichkeit des Mannes nahe, genauso wie sein Name: Hermann. Anders bei der Frau, die mit einer diminutiven Form bezeichnet wird: Gerti. Der Vergleich

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Vgl. Cejpek 1991, S. 10. Ebd., S. 10–11. Jelinek 1992, S. 68. Ebd., S. 68. Ebd., S. 32.

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zum Papier evoziert eine weitere Interpretation: Die Gestalt Gerti wird entmenschlicht und zum zweidimensionalen Gegenstand reduziert. Das Papier selbst wird auch nicht eindeutig definiert, manchmal schreitet es der dargestellten Wirklichkeit voran, dient zum Beispiel als die wichtigste Orientierungsvorlage: »Sehen Sie: Ohne Landkarte führten unsere Schritte zum Abgrund«.35 Um sich in der Welt der Natur zu behaupten, braucht der Mensch eine Stütze – gerade aus Papier. Behauptet Baudrilliard – nach Borges –, dass heutzutage die Karte den Raum schafft (»it is the map that precedes the territory – precession of simulacra – it is the map that engenders the territory and if we were to revive the fable today, it would be the territory whose shreds are slowly rotting across the map«36), so zeigt auch Jelinek einen Menschen, der nicht (mehr) in der Lage ist, zur Natur (bzw. zum Ursprung) zurückzukehren. Die mediatisierte »Second-Hand-Wirklichkeit« fungiert bei ihr als ein zentrales Thema. Der Prozess der Vermittlung von Inhalten und der fehlende Zugang zur ursprünglichen/natürlichen Welt bzw. die völlige Abwesenheit einer solchen Welt gehören zu Jelineks literarischen Schwerpunkten. Nur die Simulation ist uns zugänglich, alleine die Medien, die hyperreale Welt: Die Hauptsache ist, man hat gelebt und ist hell auf den Tafeln aufgeschrieben gewesen, und was man erst gegessen hat die Sakraments Speisekarte rauf und runter! Nein, hier auf dieser Tapete ist nur Geschmack daheim! Der Sohn, unser Publikum, kennt das Körperhakeln und Fingermalen schon von vielen vergangenen Malen. Er ergaunert sich ein Versprechen vom Vater, in dem er Gott und Götze Sport die Hauptrolle spielen. Er wird angerufen werden von Verheißungen, von spannenden Schneeteppichen, die über die abgelegensten Berge gelegt sind.37

Als Spur des wahren Lebens fungiert lediglich die Schrift, der Text. Sakramente verweisen auf keine Metaphysik, sie werden zum Bestandteil einer Speisekarte reduziert, dienen also dem Körperlichen, denn es gibt kein Jenseits. Auch die Speisekarte ist ein Text. Zwischen Gott und Götze ist die Nachahmung deutlich, Sport wird bei Jelinek oft als Ersatz, als eine neue Religion dargestellt (siehe Das Sportstück). Ferner werden die Kulisse, der Schein, das Spiel betont: der Sohn als Zuschauer, »Hauptrolle«, Schneeteppiche, »die über die abgelegensten Berge gelegt sind« – alles wie auf dem Theater. Diese Fährte ist nicht unwahrscheinlich: Das erste Wort im Haupttext lautet doch: »Vorhängeschleier«.38 Wenn wir den Schlusssatz unter diesem Blickwinkel lesen: »Aber nun rastet eine Weile!«,39 können wir ihn als Dialogismus verstehen, der nach einer Vorstellung an das 35 Ebd., S. 69. 36 Jean Baudrillard: Simulacra and Simulations, verfügbar unter : https://nbrokaw.files.word press.com/2010/05/baudrillardsimulacraandsimulations.pdf [12. 07. 2017]. 37 Jelinek 1992, S. 217–218. 38 Ebd., S. 7. 39 Ebd., S. 255.

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Publikum gerichtet ist. Der Schnee kann auch mehrdeutig ausgelegt werden. Nach Monika Szczepaniak sind: Jelineks literarischer und essayistischer Schnee […] nicht frei von künstlerischen Traditionen (Kafka, Musil, Walser u. a.), eröffnen diverse Assoziationsfelder und avancieren nicht zuletzt zu einem interessanten Medium der Selbstbefragung, einem Metatext über die Voraussetzungen und Effekte der Schrift, die Spezifik der medialen Verfasstheit der eigenen literarischen Produktion, die Bedingungen der Rezeption und die Konditionen des Lesers im Text-Raum.40

Jelinek erzählt – wie gesagt – eine Parallelgeschichte zu der Handlung: Die Erzählinstanz inszeniert sich als künstlerisches Individuum, vermittelt ihre eigene Philosophie des weiblichen Schreibens. Die Vermittlung thematisiert sie nicht nur in Bezug auf das Papier : Marlies Janz betont, dass in Lust Medien die Natur ersetzen, was in den Wendungen: »wo der Bildschirm rauscht«41 und »ewig singt die Stereoanlage«42 sichtbar wird. Helga Gallas schlägt eine interessante Auslegung der direkt nach Gerits Vergewaltigung ausgesprochenen Worte vor: »Doch wenden wir uns lieber am Aufschneiden und Ausnehmen von Menschen«43 – Die Wortwahl verweise laut Gallas auf die parallele Beschreibung von Vergewaltigung und der Tätigkeit des Schreibens.44 Gallas zitiert auch weitere Metaphern, die für diese Interpretation sprechen: »Waffe des Auges«45 und »Messer ihrer Worte«.46 Das Papier fungiert als Ursprung des Lebens: als Materie, die erlaubt, immer wieder neue ProtagonistInnen zu schaffen: Das Holz wird unkenntlich verkleinert und kommt in die Zellulosefabrik, und dann kommt die Zellulose in die Papierfabrik, wo bis zur Unkenntlichkeit Verkleinerte sie bearbeiten, habe ich zumindest gehört, und bin zufrieden, dab ich, die ich frei bin, in der Mittagshitze mein Echo in den stillen Wald erbrechen kann. Das Heer der, wie ich, Verantwortungslosen, die in der Latrinen Zeitung lesen, sie schaffen aus dem Wald die Bäume fort, damit sie sich selber an deren Stelle hinsetzen und das Essen aus dem Papier wickeln können.47

40 Monika Szczepaniak: Jelineks Schneeflächen, in: Szczepaniak/Jezierska/Janke 2017, S. 25–35, hier S. 29. 41 Jelinek 1992, S. 53. 42 Ebd., S. 73, siehe Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart/Weimar 1995, S. 117. 43 Jelinek 1992, S. 186. 44 Vgl. Helga Gallas: »Sexualität und Begehren in Elfriede Jelineks Roman Lust (1989)«, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 15: Johannes Cremerius et al. (Hg.), Methoden in der Diskussion. Würzburg 1996, S. 187–194, hier S. 192. 45 Jelinek 1992, S. 120. 46 Ebd., S. 21, vgl. Gallas 1996, S. 193. 47 Jelinek 1992, S. 80.

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Auch diese Passage soll im Kontext von Baudrillards »precession of simulacra«48 gelesen werden. Jelinek verwischt den Unterschied zwischen dem Medium und dem Urheber/der Urheberin: das Holz wird »unkenntlich verkleinert«, Menschen – »zur Unkenntlichkeit zerkleinert« – sind, wie Protagonisten eines Textes, auf einer Papiervorlage. Der etymologische Parallelismus bringt Menschen und das Holz in dieselbe Reihenfolge. Die Vermittlung wird durch den Einschub »habe ich zumindest gehört« nahe gelegt – auch die Erzählinstanz hat keinen Zugang zur Quelle, ist nicht privilegiert. Der lange Herstellungsprozess verweist auf die Mediatisierung der dargestellten Welt. Die Erzählinstanz, die sich kaum von anderen »Verantwortungslosen« unterscheidet, unterstreicht ihre Durchschnittlichkeit. Vielleicht rekurriert diese Verantwortungslosigkeit auf die Rolle des schreibenden Individuums – auch der Autor/die Autorin ist machtlos.49 Der Mensch setzt sich an Stelle eines der gefällten Bäume, die Verbindung zum Wald wird mit der Tätigkeit des Auswickelns aus Papier betont: Die Zirkulation der Materie und des Lebens wird hier deutlich. Doch der Mensch ist nicht imstande den ursprünglichen Zustand der Natur wiederherzustellen. Der papierne, zur Unkenntlichkeit verkleinerte Mensch ist wie sein Jausenpapier: zweidimensional, ohne Tiefe. Wie der antike Ouroboros, der sich in den eigenen Schwanz beißt, verspeist/verbraucht er sich selbst: Die Zirkulation entspricht dem medialen Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gibt. Alles ist ein Produkt von Recycling, wird nachgeahmt, zerkleinert, bearbeitet und nicht zuletzt: leistet keinen Widerstand, was am Beispiel der wiederbelebten Katachrese deutlich wird: »Die Papierfabrik stellt sich auch schlafend, damit sie sich die soziale Schere (Scherereien) erspart […]«.50 Da die Papierfabrik immer wieder mit dem Produkt konnotiert wird, sind diese Scheren besonders bildhaft. Das weiße Papier bedeckt alles; ähnelt auch dem Weiß vom Schnee, was Cejpek folgendermaßen beschreibt: Tiefer Winter, In der Kälte barocker Erotik spricht der Trieb. Je kälter je hitziger. Über allem liegt Schnee weißer Schnee weißes Papier. Ja aus Holz, diese Hölzer sind von Eros nicht anzufachen. Von jeher Asche Jausenpapier Verpakkung o.k., geschenkt. Wie Zeitungs- ist Klopapier. Loser Stoff, aus dem Bücher nun einmal sind, Landkarten zur Selbstorientierung zum Selbstschutz. Schreiben Sie: »Ich schreibe es deutlich auf: ich bin wie Wachs in der Hand des Papiers«.51

48 Baudrillard. 49 Jelinek entwickelt eine gewisse Neigung zur Selbstdementi vgl. Uta Degner : »Die Kinder der Quoten«, in: Markus Joch et al. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 153–168, hier S. 163. 50 Jelinek 1992, S. 89. 51 Vgl. Cejpek 1991, S. 18: Zitat: Jelinek 1992, S. 135.

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In dieser kurzen, fast lyrischen Passage verbindet Cejpek assoziativ die wesentlichen Bestandteile der dargestellten Papierwelt aus Lust. Die Jelinek’sche Erzählistanz ist plastisch und nicht selbstständig, und wird selbst zum Werkzeug des Papiers, das anthropomorphisiert wird (»Hand des Papiers«). Es ist nicht mehr die Sprache selbst, die einengend wirkt, sondern der Träger : Das Papier als Medium zwingt gewisse Mechanismen auf, wird sinnproduktiv, diktiert sozusagen die Erzählung. Schnee als Papier, Bücher und Karten, die die Welt erst schaffen und die verkehrte Ordnung: der Schöpfer als Produkt – all die Phänomene berücksichtigt Cejpek in seiner aufmerksamen Lektüre. Der Essay von Cejpek, ähnlich der Analyse von Anz, stellt ein durchaus interessantes Pendant zu den wissenschaftlichen Studien, die seit Jahren Jelineks Lust zu erläutern versuchen. Die essayistische Form erlaubt einige Urteile intuitiv zu fällen, ohne für die Gründe und wissenschaftliche Beweise zu recherchieren. Insbesondre die Metareflexion über das Schreiben wird bei Cejpek treffend formuliert. UND SIE bleibt ein Zeugnis der begeisterten Lektüre, ein Dialog mit der komplexen Erzählinstanz und Autorinnenfigur in einem. UND SIE exponiert die Vielschichtigkeit von Lust, ohne den Text zu sezieren, denn die eigenartige Logik des Essays kann auf einen linearen Gedankengang verzichten.

Bibliografie Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1995. Bachtin, Michail: »Typen des Prosaworts«, in: ders. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. und hg. v. Alexander Kaempfe. München 1969, S. 107–131. Barthes, Roland: Die Lust am Text. übers. v. Ottmar Ette, o. O. 2010. Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulations, verfügbar unter : https://nbrokaw.files.word press.com/2010/05/baudrillardsimulacraandsimulations.pdf [12. 07. 2017]. Cejpek, Lukas: UND SIE. Jelinek in »Lust«, Graz-Wien 1991. »›Die versteckte Bedeutung der Obszönität‹. E-Mail-Wechsel zwischen europäischen und asiatischen ÜbersetzerInnen des Romans Lust«, in: Pia Janke (Hg.): Jelinek[Jahr]Buch 2010, S. 159–176. Degner, Uta: »Die Kinder der Quoten«, in: Markus Joch et al. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 153–168. »Elfriede Jelinek: Lust«, in: Das literarische Quartett: Gesamtausgabe aller 77 Sendungen von 1988 bis 2001 hg. v. Peter Just et al. Berlin 2006, S. 131–141. Fliedl, Konstanze: »Keine Lust. Zur Prosa der Verhältnisse an Beispielen von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz«, in: Markus Knöfler/Peter Plener/P8ter Zol#n (Hg.): Die Lebenden und die Toten. Beiträge zur österreichischen Gegenwartsliteratur, Budapester Beiträge zur Germanistik 35, Budapest 2000, S. 159–170.

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Gallas, Helga: »Sexualität und Begehren in Elfriede Jelineks Roman Lust (1989)«, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 15: Johannes Cremerius et al. (Hg.), Methoden in der Diskussion. Würzburg 1996, S. 187–194. Genette, G8rard: Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. v. Wolfram Beyer/Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1993. Hiebel, Hans: »Elfriede Jelineks satirisches Prosagedicht Lust«, Sprachkunst XXIII (1992), S. 291–308. Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Stuttgart-Weimar 1995. Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 2001. Jelinek, Elfriede: Lust. Reinbek bei Hamburg 1992. Kristeva, Julia: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. hg. v. Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375. Kwas´niewski, Tomasz: »Mie˛dzy fuksja˛ a penisem«, Wysokie Obcasy (=Beilage zu Gazeta Wyborcza) Ausgabe vom 10. 02. 2015, verfügbar unter : http://www.wysokieobcasy.pl/ wysokie-obcasy/0,114019.html?tag=Tomasz+Kwa%b6niewski [02. 03. 2016]. Lücke, Bärbel: Elfriede Jelinek. Paderborn 2008. Majkiewicz, Anna: »(Para)textuelle Räume und (inter)textuelle Atopien: Bemerkungen zu Lust in polnischer Übersetzung«, in: Monika Szczepaniak/Agnieszka Jezierska/Pia Janke (Hg.): Jelineks Räume. Praesens Verlag Wien 2017, S. 167–178. Ockenfuss, Crystal Mazur: »Keeping Promises, Breaking Rules: Stylistic Innovations in Elfriede Jelinek’s Lust«, in: Jorun B. Johns, Katherine Arens (Hg.): Elfriede Jelinek. Framed by Language. Riverside 1994, S. 73–88. Szczepaniak, Monika: Jelineks Schneeflächen, in: Szczepaniak/Jezierska/Janke 2017, S. 25–35.

Andrzej Kopacki

Das Geheimnis des Gartens nach Theophrast

Der Garten des Theophrast Meinem Sohn Wenn mittags das weiße Feuer Der Verse über den Urnen tanzt, Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer, Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt. Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer, Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast, Mit Eichenlohe zu düngen den Boden, Die wunde Rinde zu binden mit Bast. Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer Und ist noch Stimme im heißen Staub. Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden. Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.1

1. »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!«2 Der moralpolitische Sinn dieses affektierten Verweises an die Literatur in finsteren Zeiten gewinnt an Schärfe, wenn man bedenkt, was Brechts Gespräch über Bäume – als Anlass zu Verdammung – meinen kann. »Fast« verdammt scheint hier PhilosophischTheologisches zu sein; sei es aus der Assoziation mit dem Lykeion-Hain heraus, 1 Peter Huchel: »Der Garten des Theophrast«, in: ders.: Gedichte. Frankfurt am Main 1989, S. 86. 2 Bertolt Brecht: »An die Nachgeborenen«, in: ders.: Die Gedichte. Frankfurt am Main 2000, S. 267–268.

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in dem die Peripatetiker ihre Gespräche führten, sei es durch den Zusammenhang mit dem biblischen Baum der Erkenntnis bzw. dem kabbalistischen Baum des Lebens.3 Wie dem auch sei, sei das besagte Gespräch bei Brecht nur fast ein Verbrechen, also immer noch möglich. Bei Hans Magnus Enzensberger »fast« umgekehrt: Das »berühmte« Gespräch über Bäume sei noch als »Schlafen, Luftholen, Dichten […] fast kein Verbrechen« (im Gedicht Zwei Fehler4). In beiden Fällen erlaubt das unscheinbare Wörtlein »fast« das lyrische Gespräch über ein Gespräch über Bäume dicht am Rande des moralisch Vertretbaren zu vollziehen. Einer, der sich an diesem Gespräch über Bäume besonders prägnant beteiligte, indem er über das Politische hinaus nach dem jüdischen Baum-Topos zurückgriff, um eine atemberaubende Dialektik des Gesprächs zu entwickeln, war Paul Celan mit dem Gedicht Ein Blatt.5 Liest man dieses Gedicht – das baumlose Blatt – im Koordinatensystem, das einerseits Celans Prosa Gespräch im Gebirg,6 andererseits der poetologische Meridian7 erstellen, so erklärt sich daraus die dialektische Figur eines »beinah« verbrecherischen Gesprächs, das, wie Celan schreibt, »soviel Gesagtes / mit einschließt«.8 Die geschwätzigen Juden »im Gebirg«, denen die Sprachen Gottes und der Natur unzugänglich sind, können reden und vieles sagen, aber aus einem Gespräch, in dem das geistige (sprachliche) Wesen der Dinge, nicht Inhalte, sondern – wie Walter Benjamin will – die Mitteilbarkeit der Sprache selbst mitgeteilt wird,9 sind sie ausgeschlossen. Dieser theologischen Negativität stellt sich jedoch die poetologische Dimension eines Gesprächs entgegen, die Celan, in Anknüpfung auf die Dialogizität Bubers, im Meridian thematisiert hat. Es handelt sich um eine Begegnung mit dem Anderen, um ein Sich-dem-Anderen-Zusprechen

3 Zu traditionsgebundenen Konnotationen des »Gesprächs über Bäume« siehe Susanne Göße: Fremdheit und Exil im lyrischen Sprechen. Zhang Zao, Celan und Brecht, verfügbar unter : www.parapluie.de/archiv/china/exil [27. 03. 2016]. 4 Hans Magnus Enzensberger : »Zwei Fehler«, in: ders.: Gedichte 1955–1970. Frankfurt am Main 1971, S. 162. 5 Siehe dazu: Andrzej Kopacki: »Die Dialektik des Gesprächs. Ein Blatt Paul Celans«, in: Graz˙yna Kwiecin´ska (Hg.): Die Dialektik des Geheimnisses. Frankfurt am Main u. a. 2013, S. 165–175. 6 Paul Celan: »Gespräch im Gebirg« (1960), in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3. Frankfurt am Main 1986, S. 169–173. 7 Paul Celan: »Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises« (1961), in: ders.: Gesammelte Werke…, Bd. 3, S. 187–202. 8 Paul Celan: »Ein Blatt« (1968), in: Jürgen P. Wallmann (Hg.): Von den Nachgeborenen. Dichtungen auf Bertolt Brecht. Zürich 1970, S. 9. 9 Vgl. Walter Benjamin: »Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II-1. Frankfurt am Main 1991, S. 140–144.

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und um die Wiedergewinnung der Sprache im Gedicht, das womöglich »in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung«10 – steht. Das nur einmal im Meridian gebrauchte Wort »Geheimnis« kann man in Bezug auf Celans Blatt auch als das Geheimnis der Begegnung des Gedichts mit sich selbst verstehen. Seine von vornherein gegebene politische Ironie (soviel Gesagtes im verzweifelten Gespräch-Gedicht mit Anderem mit eingeschlossen) behauptet sich als poetische Ironie, die infolge des dialektischen Prozesses, in dem zwei Bedeutungen des Gesprächs gegeneinander stoßen, zum Ausdruck kommt.

2. Dass es sich bei Huchel um eine andere aus Brechts Worten herzuleitende Anspielung, die griechische nämlich, handelt, liegt auf der Hand; Theophrast, der große Schüler des Aristoteles und Lehrer der Stoa im Lykeion, bereits im Titel genannt, weist darauf unmittelbar hin. Er wird einer von denen gewesen sein, die »Gespräche wie Bäume gepflanzt« und gepflegt haben und eine philosophische Bezugsfigur in der historischen Zeit, wo der Garten tot ist. Dass diese Figur in ihrem Raum – in einer poetischen Süd-Topographie – aufgerufen und an den Nachgeborenen, den Sohn, überliefert wird, ist der offensichtliche Anknüpfungspunkt im Gespräch Huchels mit Brecht. Ein Ansatz, wenn man so will, zur These, die anscheinend der Brecht’schen Sentenz widersprechen will. Der Widerspruch scheint sich aus dem Vergleich »Gespräche wie Bäume« zu ergeben: Das Gespräch mit dem Sohn wird auf Synekdochen, auf Teilen pro toto (Eichenlohe, wunde Rinde, Ölbaum) fundiert, wobei die Baumkunde keineswegs als verbrecherisch erscheint. Auch das Lichtspiel bei Huchel besetzt den historischen Sachverhalt anders als Brecht es tut: Während dieser die Finsternis der Zeiten als eine triviale Metapher für die geschichtlichen Missstände gebraucht, setzt jener der Mittagshitze und dem »weißen Feuer der Verse«, das über den Urnen blitzt, vermisste Baum- bzw. Laubschatten entgegen. Man könnte meinen, die Zerstörungs- und Todeszeichen leuchten gerade oder immer wieder auf der hellen Seite der Kampflyrik; das markiert den Abstand Huchels zu Brecht. Für den Nachgeborenen Huchels gilt der Ratschlag, sich den Zeiten zuzuwenden, wo man sich um Bäume als Sinnbilder des philosophischen Gesprächs gekümmert hat. So öffnet sich im Gedicht Huchels ein anderer Zeitraum, ein Raum des Anderen. Man kennt dessen poetische Parameter z. B. aus dem jüngeren Gedicht Huchels Ölbaum und Weide (1971): Hier ist es ein imaginativer Südraum mit 10 Celan 1986, S. 198.

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Ölbaum als »Geist der Steine« und Wind (vielleicht als pneuma zu deuten), der »die blasse Unterseite / des Laubs nach oben kehrt«;11 offensichtlich ein Phantasieland, das der heimatlichen, wendischen Weidenlandschaft gegenübersteht. Das wäre auch die vergangene Welt des Theophrast, das heißt, es liegt nahe, den Südraum als Raum des Anderen mit der verlorenen Welt des Theophrast gleichzusetzen. So verlockend es aber ist, Vergangenes dem Gegenwärtigen in der Lektüre entgegenzuhalten und eine klare Zweiteiligkeit des Raumes zu proklamieren – hier der Südraum, da die Weidenlandschaft –, liegen die Dinge im Garten des Theophrast so einfach nicht. Sowohl die Zeitverhältnisse nämlich wie auch das erwähnte Lichtspiel verrätseln eher die Sachlage als machen sie klar. Diese Verrätselung bestimmt am Ende den politischen und philosophisch universellen Charakter des Gedichts. Die einzige Zeile mit gegenmetrischem Anklang: »Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer« verrät eine Aufregung des Stoikers in der Gegenwart dieses Totseins. Aber in derselben Gegenwart behauptet sich noch ein Ölbaum, der »das mürbe Gemäuer« spaltet, und eine immer noch daseiende »Stimme im heißen Staub«. Besiegt der Ölbaum als Baum der Athene, Symbol der Fruchtbarkeit und somit des Lebens, aber auch als das Geistvolle schlechthin, »das Gemäuer«, verfallenes Mauerwerk, in dem vielleicht die sprachlosen, auf den Tod hinweisenden Mauern Hölderlins aus dem Gedicht Hälfte des Lebens anklingen (»Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen«12), so rechtfertigt sich die poetische Beratung des Sohnes. Auch die Stimme im Staub, der sich auf »Laub« reimt, ist noch da und trägt Hoffnung, weil es überhaupt noch Laub gibt, Laub gleichsam von der Stimme im Staub herbeigerufen, als schenkte das Gedicht in der drittletzten Zeile irgendeinem alten Glauben Gehör.13 Zugleich wird die entscheidende Gewalttat, die Ausrodung von Wurzeln, ein Akt der wie auch immer zu verstehenden, totalen Extermination in eine Vergangenheit versetzt (»Sie gaben Befehl…«), deren Folge in die Gegenwart der letzten Zeile fortdauert: So erinnert das schutzlose Laub an das baumlose Blatt aus dem Gedicht Celans. Die Geschichte und die Politik haben den Berater des Besseren belehrt. Dass das Laub nicht nur keinen Schutz gibt, sondern selber schutzlos gegen Feuer jeder Art ist, ist ein 11 Peter Huchel: »Ölbaum und Weide«, in: ders: Gesammelte Werke, hg. v. Axel Vieregg, Bd.1. Frankfurt am Main 1984, S. 187. Weitere Zitate aus diesem Gedicht nach derselben Quelle. 12 Friedrich Hölderlin: »Hälfte des Lebens«, in: ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner, Bd. 2. Stuttgart 1951, S. 117. 13 Nach dem Buch des Propheten glauben die Mormonen, dass die heiligen Schriften im 5. Jahrhundert nach Christus in einem Hügel vergraben wurden, damit sie nach vierzehn Jahrhunderten laut und lebendig werden. Der Prophet Moroni war einer, der »aus dem Staub sprach«. Vgl.: »Did I not declare my words unto you, which were written by this man, like as one crying from the dead, yea, even as one speaking out oft the dust?«, in: The Book of Moroni, 10, 27, verfügbar unter : www.lds.org/scriptures/bofm/moro/10.27,29?lang=eng [27. 03. 2016].

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trauriges Fazit der Zeitdiagnose. Die vielfache Paradoxie – weil man Theophrast als den sorgsamen Bäumepfleger aufruft und seine Stunde zu bewahren auffordert, wenn der vernichtende Befehl bereits wirkt; weil man dem besseren Wissen zuwider immer noch hofft und, der Hoffnung zuwider, das unumgängliche Ende beschwört – diese Paradoxie kulminiert in eben dieser Beschwörung: Die Zeile »Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub«, das Licht des Lebens und der stoischen Weisheit, ein anderes Licht des letzten Verses als das des Feuers im ersten, bedeutet: Schatten des Hains und Licht des Erdachten gehören zusammen so wie Natur und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft, Hoffnung und Resignation, Leben und Tod. Die Stoa weiß es – für umsonst, weil man ihr Wissen als Gespräch unter Bäumen und über Bäume ungültig macht. Huchel hat es erlebt, als man ihn aus der von ihm geleiteten Zeitschrift »Sinn und Form«, in der er nicht müde war, unter anderem das Werk seines Freundes Bertolt Brecht dem Publikum näherzubringen, gefeuert hat. Schutzlos war er, aber nicht sprachlos. Er hat es gerade noch geschafft, in dem letzten von ihm noch mit herausgegebenen Heft das Gedicht Der Garten des Theophrast zu veröffentlichen.

3. »Seltsam nur, dass in diesem genau Moment [als Huchel es ablehnte, in der Zeitschrift ideologischen Schund abzudrucken – A. K.] der Ort künstlerischer Autonomie selbst zum geheimen Zentrum wurde, in diesem Fall ihr Verbannungsort«,14 sagt Durs Grünbein, der hier, in seiner Dankesrede zu Peter-Huchel-Preis, das Zentrum der künstlerischen Autonomie als »geheim« bezeichnet. Er meint offensichtlich die Notwendigkeit einer Verheimlichung des Autonomen angesichts der politischen Verfolgung. Aber Geheimes der Dichtung ist für ihn Politikum im weiteren historischen Sinn: als ihr archetypisches Merkmal und grundlegender Unterschied zu denen, die sie seit jeher enteignen, stigmatisieren, entmündigen und zuletzt exilieren. Und das sind, wer denn sonst, Philosophen. Das Geheimnis ersten Grades gründet in der künstlerischen Autonomie, die zu einer Art Katakombensystem ausgebaut wurde; wie Grünbein im Essay »Das Gedicht und sein Geheimnis« ausführt, was sich da manchmal regt, ist etwas »diffus Rätselhaftes, niemals ganz Aufzuklärendes, der Rest eines alten Familiengeheimnisses, eifersüchtig gehütet von jedem Neuling, der dem Geheimbund

14 Durs Grünbein: »Der verschwundene Dichter«, in: Bernhard Rübenbach/Wolfgang Heudenreich (Hgg.): Peter-Huchel-Preis 1995. Texte, Dokumente, Materialien. Zürich 2001, verfügbar unter : www.planetlyrik.de/peter-huchel-preis-1995-durs-grunbein/2010/ 08 [27. 03. 2016].

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beitritt und wieder hinabsteigt in dieses innere Labyrinth. […] In ihrer Unfaßbarkeit liegt die wahre Ursache für das Überleben der Poesie«.15 Das wäre das Geheimnisvolle, wie es sich aus der Verbannungspraxis heraus sozialpsychologisch entwickelt. Das Geheimnis zweiten Grades läge also im Gedicht selbst als sein blinder Fleck, »der Mehrwert des Ganzen« oder eine Metapher, die klüger als ihr Autor ist.16 In Bezug auf politische Lyrik, seitdem revolutionäre und patriotische Gesänge wie auch Herrscherlob abgedankt haben und Weltpoesie mit Kavafis und W. C. Williams, mit Brecht und Herbert für Politisches eine neue Sprache gefunden hat, darf man wohl sagen, dass ein solches Geheimnis ein Grundstein jedes politischen Gedichts ist, mehr noch: An ihm wird die politische Aussagekraft und – in glücklichsten Fällen – die überpolitische Qualität messbar. In diesem Sinne ist das bekannte, auf Peter Huchel zurückgehende Gedicht Reiner Kunzes Sensible Wege (1966) eine Metapher, die zwar geheimnisvoll genug ist, um sich politisch deuten zu lassen, aber auch eine, die sich selbst – durch ihre Arbeitsweise, Rhetorik und Augenfälligkeit der Intention – des Geheimnisses entkleidet.17 Das Geheimnis im tieferen poetischen Sinn ist hier weg. Wo aber kein Hehl ist, ist auch kein Mehrwert. Sensible Wege bleiben hinter ihrem Huchel’schen Vorwand zurück. Ein anderes an den Sohn gerichtetes, ein paar Jahre früheres Gedicht Ins Lesebuch für die Oberstufe Hans Magnus Enzensbergers will höchst politisch sein, indem es das Geheimnis entbehrt, oder vielmehr dieses mit einem Trick ersetzt: »Lies keine Oden, mein Sohn«, empfiehlt es palinodisch in einer Ode, die Oden verschmäht.18 Die Verse frei nach Brecht geben Ratschläge (»sing nicht«) und schlagen weißes Feuer. Ganz anders als Huchels singendes Ich.

4. Der Vater greift nachdrücklich seine odenartige Rede (»Gedenke, mein Sohn. Gedenke…«) genau dort auf, wo Brecht zu seinen Nachgeborenen zu reden aufgehört hat (»Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht«). Und auf dem Kriegsschau15 Durs Grünbein: »Das Gedicht und sein Geheimnis«, in ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt am Main 2007, S. 90. Erstdruck des Aufsatzes: 2005. 16 Vgl. ebd., S. 91–92. 17 »Sensibel / ist die erde über den quellen: kein baum darf / gefällt, keine wurzel / gerodet werden // Die quellen könnten / versiegen // Wie viele bäume werden / gefällt, wie viele wurzeln / gerodet // in uns«. Reiner Kunze: »Sensible Wege«, in: ders.: Sensible Wege. Reinbek 1969, S. 51. 18 Hans Magnus Enzensberger : »Ins Lesebuch für die Oberstufe«, in: ders.: Verteidigung der Wölfe. Frankfurt am Main 1999, S. 88. Der Band erschien im Jahre 1957.

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platz, wie ihn Grünbein entwirft, scheint er, der Huchel’sche Vater, sich auf die Seite der Philosophen gegen die Feuerverseschmiede zu schlagen. Das hieße die von Brecht beschworene Unmöglichkeit, weise zu sein,19 verneinen, wobei Weisheit, angesichts der gerade noch befohlenen Ausrodung der Bäume, nur mehr eine melancholische Einsicht in das Verlorensein des Schutzlosen wäre. Aber der letzte kryptische Satz, »Es sinkt dein Licht«, verrätselt das Gedicht. Wieso verfügt das angeredete Laub über sein Licht? »Der Abend wirft sein Fangnetz ins Gezweig. / Die Urne aus Licht / versinkt im Meer«, schrieb Huchel im bereits erwähnten Gedicht Ölbaum und Weide. Der Abend spannt sich im nun lichtlosen Ölbaum, das Licht durch Urne dem Tod zugeordnet, verschwindet, in fast gleicher Weise wie im Garten des Theophrast, versinkend, und wie die nächste Zeile verlautbart: »Es ankern Schatten in der Bucht«. Dass der Ölbaum in Präsens das Gemäuer spaltet, trotz des gegebenen Befehls, und auch jetzt noch das Licht des schutzlos gewordenen Laubs sinkt, ist scheinbar der letzte Augenblick, in dem das Gedicht sich unter vorhandenen Umständen behaupten kann. Aber nicht das – nicht die politische Selbstbehauptung – entscheidet über sein Bestehen, mit Celan gesprochen, zwischen Schon-nicht-mehr und Immer-noch.20 Entscheidend ist das Geheimnis dieses Gesprächs mit dem Sohn, das in dem Satz »Es sinkt dein Licht« seinen dunklen Grund erreicht. Denn das Geheimnis braucht kein Licht, das Wesen des Geheimnisses ist dunkel. Nur Philosophen, die um Aufklärung ringen, halten nichts davon. Derer Kurzsichtigkeit gilt es zu gedenken, der Naivität, Baüme der philosophischen Erkenntnis retten zu können, oder mit wissenschaftlichem Fortschrittsglauben Naturschutz erfolgreich zu betreiben. Hölderlin schrieb im Gedicht Andenken: »Es nehmet aber / Und giebt Gedächtnis die See, / Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter«.21 Bei Huchel ist das der wilde Ölbaum, in dem Gegensätzliches zur Synthese kommt. Denn Ölbaum ist Baum der Minerva, der Göttin der philosophischen Weisheit und der Kunst bzw. Literatur. Wird bei Huchel schutzloses Laub des Ölbaums angeredet, so gesellt sich assoziativ, auf der einen Seite, dem oben berufenen Hölderlin-Zitat Verschiedenes aus dunklen Beständen der Dichtung zu, von der großen Beschwörung der »geheimnisvollen Nacht«, des »Schosses der Offenbarungen« in Novalis’ Hymnen an die Nacht oder des Nachtzaubers bei Eichendorff22 bis eben 19 20 21 22

Siehe An die Nachgeborenen, die letzte Strophe des ersten Teils. Vgl. Celan 1986, S. 197. Friedrich Hölderlin: »Andenken«, in: Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2, S. 188–189. Novalis: »Hymnen an die Nacht«, in: ders.: Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 1. Darmstadt 1960, S. 130–157; Joseph Freiherr von Eichendorff: »Nachtzauber«, in: ders.: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, hg. v. Gerhard Baumann/Siegfried Grosse, Bd. 1. Stuttgart 1957, S. 228.

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Huchels sinkendem Licht. Sein Sinken ist Voraussetzung für das Geheimnis, das seinerseits Voraussetzung für die Stiftung des Bleibenden ist – für das Hölderlin’sche Andenken und die Arbeit des Huchel’schen Gedächtnisses, wie sie im letzten Teil von Ölbaum und Weide zum Thema wird.23 Um noch einmal Celan zu paraphrasieren: Dieses Sinken ist Voraussetzung für das Immer-noch des poetischen Gesprächs, welches unter dem Neigungswinkel des Daseins des Ich in eines Anderen Sache geführt wird.24 Auf der anderen Seite aber flattert noch ein geflügeltes Wort hierzu, um für die Synthese zu sorgen, eines von Hölderlins Freund. Das ist die Eule der Minerva, die erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, genau in dem Augenblick des sinkenden Lichts, an der Grenze des Tages, in der Stunde, von der an die wahre Erkenntnis des alt gewordenen Lebens erst möglich wird. Die graue Stunde ist nicht nur Zeit des Geheimnisses, sondern auch des Wissens um es. Huchels Konklusion ist poetisch so tragfähig, weil sie diese Synthese ermöglicht und im toten Garten des Theophrast etwas aufkeimen lässt: ein Geheimnis, von dem man wissen will, es werde seine Bäume überdauern.

Bibliografie Primärliteratur Huchel, Peter : »Der Garten des Theophrast«, in: ders.: Gedichte. Frankfurt am Main 1989, S. 86.

Sekundärliteratur Benjamin, Walter : »Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, vol. II-1. Frankfurt am Main 1991, S. 140–144. The Book of Moroni: www.lds.org/scriptures/bofm/moro/10.27,29?lang=eng [27. 03. 2016]. Brecht, Bertolt: »An die Nachgeborenen«, in: ders.: Die Gedichte. Frankfurt am Main 2000, S. 267–268. Celan, Paul: »Gespräch im Gebirg« (1960), in: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3. Frankfurt am Main 1986, S. 169–173. 23 Die letzte Strophe dieses Gedichts lautet: »Sie kommen wieder, verschwimmend im Nebel , / durchtränkt / vom Schilfdunst märkischer Wiesen / die wendischen Weidenmütter, / die warzigen Alten / mit klaffender Brust, / am Rand der Teiche, / der dunkeläugig verschlosenen Wasser, / die Füße in die Erde grabend, die mein Gedächtnis ist«. 24 Vgl. Celan 1986, S. 196–197.

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Celan, Paul: »Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises« (1961), in: ders.: Gesammelte Werke…, Bd. 3, S. 187–202. Celan, Paul: »Ein Blatt« (1968), in: Jürgen P. Wallmann (Hg.): Von den Nachgeborenen. Dichtungen auf Bertolt Brecht, Zürich 1970, S. 9. Eichendorff, Joseph Freiherr von: »Nachtzauber«, in: ders.: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, hg. v. Gerhard Baumann/Siegfried Grosse, Bd. 1. Stuttgart 1957, S. 228. Enzensberger, Hans Magnus: »Ins Lesebuch für die Oberstufe«, in: ders.: Verteidigung der Wölfe. Frankfurt am Main 1999, S. 88. Enzensberger, Hans Magnus: »Zwei Fehler«, in: ders.: Gedichte 1955–1970. Frankfurt am Main 1971, S. 162. Göße, Susanne: »Fremdheit und Exil im lyrischen Sprechen. Zhang Zao, Celan und Brecht«: www.parapluie.de/archiv/china/exil [27. 03. 2016]. Grünbein, Durs: Der verschwundene Dichter, in: Bernhard Rübenbach/Wolfgang Heudenreich (Hgg.): Peter-Huchel-Preis 1995. Texte, Dokumente, Materialien. Zürich 2001: www.planetlyrik.de/peter-huchel-preis-1995-durs-grunbein/2010/08 [27. 03. 2016]. Grünbein, Durs: »Das Gedicht und sein Geheimnis«, in: ders.: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990–2006. Frankfurt am Main 2007. Hölderlin, Friedrich: »Andenken«, in: ders. Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner, Bd. 2. Stuttgart 1951, S. 188–189. Hölderlin, Friedrich: »Hälfte des Lebens«, in: ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner, Bd. 2. Stuttgart 1951, S. 117. Huchel, Peter : »Ölbaum und Weide«, in: ders: Gesammelte Werke, hg. v. Axel Vieregg, Bd.1. Frankfurt am Main 1984, S. 187. Kopacki, Andrzej: »Die Dialektik des Gesprächs. Ein Blatt Paul Celans«, in: Graz˙yna Kwiecin´ska (Hg.): Die Dialektik des Geheimnisses. Frankfurt am Main u. a. 2013, S. 165–175. Kunze, Reiner : »Sensible Wege«, in: ders.: Sensible Wege. Achtund vierzig Gedichte und ein Zyklus. Reinbek 1969, S. 51. Novalis: »Hymnen an die Nacht«, in: ders..: Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 1. Darmstadt 1960, S. 130–157.

IV. Dialogizitätsformen bei Paul Celan Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen! zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch. Paul Celan, Der Meridian

Agata Bielik-Robson

Nach dem Bilde des Schweigens. Konturen einer nicht gefallenen Sprache in den Gedichten Paul Celans

»Ich schreibe, ohne zu sehen […] ich fahre fort, mit Ihnen zu reden, ohne zu wissen, ob ich Buchstaben forme. Lesen Sie überall, wo nichts steht, daß ich Sie liebe.« Denis Diderot in einem Brief an Sophie Volland »Solange die Unantastbarkeit des Schweigens nicht gefährdet ist, so lange werden Menschen und Dinge klagen, denn eben dies macht ja den Grund unserer Hoffnung auf die Restitution der Sprache, auf Versöhnung aus: dass zwar die Sprache den Sündenfall erlitten hat, das Schweigen aber nicht.« Gershom Scholem, Über Klage und Klagelied

Dieses Essay stellt den Versuch dar, am Beispiel der Gedichte Paul Celans auszuloten und zu verstehen, was traumatisches Schreiben bedeutet und welche Implikationen ihm inhärieren. So greift es beispielsweise zu kurz, die dichterische Praxis Celans als antitherapeutisch zu bezeichnen. Anders als es Hanna Segal schildert, der zufolge literarisches Schaffen einem symbolischen Akt der Heilung von Traumata gleichkommt oder gleichkommen kann,1 verweigert der schreibende Celan nicht nur jede Therapie eines solchen persönlichen oder kollektiven Traumas, sondern setzt sich ihm im Akt des Dichtens (erneut) aus – zweckbewusst, hartnäckig und entschieden, indem er in seiner Poesie am Krisenort verbleibt: da, wo es geschehen ist, wo es war. In seinem Schreiben wird keine Totalität wieder hergestellt, kein Leiden wird gemildert und kein Verlust kompensiert. Celan verbleibt hartnäckig unter Wörtern, »die nicht heilen wollen«.2

1 Por. Hanna Segal: Dream, Phantasy and Art. New York 1991. 2 So lautet der Titel eines Kapitels aus John Felstiners Celan-Biographie. Vgl. John Felstiner : Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2000, S. 121.

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Auch mit Blick auf Harold Blooms raffinierte literaturkritische Handhabung der Psychoanalyse3 verweigert Celan die Nietzscheanische Geste einer »hohen Seele«, die den starken Dichter kennzeichnet, in der alles, was ihr begegnet, ihr auch zugute kommt. Ein Trauma ist keine Gabe, selbst für den nicht, den es zum Dichter gemacht hat. Celan denkt immer daran, dass sein Wort gleichzeitig ein »Dank ans Verderben« ist – nach der Art des Andenkens Heideggers –, es aber nicht sein sollte.4 Obgleich er Bloom vermutlich zustimmen würde, dass der starke Dichter nicht den Weg einer reparativen symbolischen Sublimation geht, würde er doch Blooms höhere »poetische Theodizee« ablehnen: Celans Wort will seine poetische Kraft nicht aus der Energie des Traumas schöpfen. Es ist eher ein Wort, das sich selbst auslöscht und sich »nach dem Bilde des Schweigens« imaginiert.5 Wenn also bei Celan Inversionen vorkommen – nach Werner Hamacher eine Fähigkeit der Sprache, eine mangelhafte Wirklichkeit zu reparieren –,6 sind sie Wenden innerhalb des Elements des Schweigens selbst: »die Unmöglichkeit des Sprechens« wird in »die Notwendigkeit des Nichtsprechens« verwandelt.7 Indem ich dieses Celan’sche Verständnis von Inversion/Wende mit Gershom Scholems Essay über die Klage zusammenstelle,8 versuche ich zu zeigen, inwieweit es im Wesentlichen unter die Heidegger’sche Auslegung des Schweigens (die ringende Stille) als einer fundamentalen Matrix der Dichtung subsumierbar ist.9 Indem ich darüber hinaus auch auf Blanchot und seine Neutrum-Konzeption als 8criture du d8sastre verweise,10 zeige ich den Unterschied, der in dieser Hinsicht für Celan kennzeichnend ist, der – anders als Blanchot – nie auf die Subjektivität des Wortes verzichtet, diese jedoch nicht in den »Meinigkeitskategorien« des Ich erfasst, sondern immer als das innerlich entzweite, offene und der Gewalt von 3 Harold Bloom, Einflussangst, übers. v. Angelika Schweikhart. Basel/Berlin 1995. 4 Im Gedicht Welchen der Steine du hebst aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle heißt es: »Welches der Worte du sprichst – / du dankst / dem Verderben«, Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 82. 5 Vgl. das Gedicht Strähne aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle: »Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging, / ein Wort nach dem Bilde des Schweigens«, ebd., S. 66. 6 Werner Hamacher : »Die Sekunde der Inversion. Bewegung einer Figur durch Celans Gedichte«, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan. Frankfurt am Main 1988, S. 81–126. 7 In seinem Brief an Ludwig von Ficker vom 1. Februar 1951 schrieb Celanm es herrschte um ihn ein »Schweigen, auferlegtes und in sich selber beschlossenens, Schweigen, das Nichtreden-können war und solches, das Nich-reden-mussen zu sein glaubte«. Zit. nach Felstiner 2000, S. 93. 8 Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwurfen bis 1923, 2 Halbband 1917–1923, hg v. Karlfried Gründer/Herbert Kopp-Oberstebrink/Friedrich Niewöhner. Frankfurt am Main 2000, S. 128–133. 9 Martin Heidegger : Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1965. 10 Maurice Blanchot: Writing of the Distaster, übers. v. Ann Smock Lincoln/London 1986.

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außen ausgesetzte Du, das gleichzeitig als Subjekt des Traumas und der potenziellen Begegnung fungiert. Es wird sich aus dieser Analyse – wie ich hoffe – ein ganz neues Modell des Schreibens ergeben, das weder in der triumphalen ersten Person, die sich durch die Kraft des Traumas stärkt (Bloom), noch in der anonymen dritten Person, die der Katastrophe nachgibt (Blanchot), verfasst ist, sondern in der kenotischen – und hartnäckigen zugleich – zweiten Person mit ihrer ganzen inneren Entzweiung, Entblößung und Ausgesetztheit, die das Trauma bezeugt und gleichzeitig auf eine mögliche Begegnung hofft. Dieser Begriff der absoluten Exposition, die das Du suggeriert, das sich sowohl dem Trauma, als auch der Begegnung aussetzt – sowohl der unbarmherzigen Gewalt also, als auch den Funken, so schwach sie auch sein mögen, einer personalen Anwesenheit in der postapokalyptischen Welt –, wird sich dabei als ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der Celan’schen schreibenden Subjektivität erweisen.

Antitheodizee Was Celan mit Bloom verbindet, ist der Zweifel an der Möglichkeit, durch Sublimation dichterisch erfolgreich zu sein. Bloom sagt, dass der Dichter sich nie mit dem Verlust abfinden kann, dem Verlust der Position »eines jungen Adam in der Frühe«, der als erster den Dingen ihre Namen gibt, und dass er sich nie mit dem Trost zufrieden stellt, ein nachkommender Preisträger und zweitgrößter zu sein. Die Sublimation hingegen, wie sie Freud versteht, beruht eben darauf, dass man eine zweite – und nur diese eine – Chance bekommt, dank der unser Wunsch, der in seiner fundamentalen Form nicht erfüllbar ist, sich dennoch ersatzmäßig realisieren lässt. In Blooms Idiom heißt es, dass der junge Ephebe, also der Anfänger-Dichter, seinen ursprünglichen Willen, die jungfräuliche Domäne der Sprache zu penetrieren, aufgeben und sich dem kastrierenden Gesetz des Vaters, des Vorgängers also, der diese sprachliche Matrix für sich annektierte, unterordnen müsse. Weil der Ephebe diese Lösung nicht akzeptieren kann, beginnt sein vielgestaltiger Agon mit dem Vorgänger : Er nimmt ihm nicht seine Geltung in der psychotischen Geste einer Rückkehr in den Mutterschoß, sondern versucht ihn zu betrügen, zu überlisten und umgehen – auf kurvigen und weit hinaus führenden Wegen –, um ihn in seinem Recht auf Erstrangigkeit zu überholen. Wie in Celans Meridian: von hinten angehen und dabei die Zeit betrügen, sich von der Tyrannei »unseres Datums« zu befreien, das in der Sprache Blooms das Verspätet-Sein meint, bei Celan dagegen den Moment einer traumatischen Stigmatisierung dadurch, »was geschah«.11 Dieses Von11 Wie es der Dichter selbst formulierte in der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des

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Hinten-Angehen, dieses Angriffs- und Verteidigungsmanöver, hat bei beiden Metapoetologen einen ähnlichen Sinn. Bloom spricht vom letzten Revisionsstadium, das es apophrades nennt, von einer Rückkehr der toten Vorgänger also, die sich wenn auch nicht ganz versöhnlich, so doch wenigstens nicht mehr so streitsüchtig vollzieht. Celan sieht seinen Meridian als eine Trajektorie zwischen Trauma und Begegnung, die von dem Ereignis, das der unvorbereiteten und dennoch ihm ausgesetzten Psyche zustößt, zu dem Ereignis führt, in dem diese fragile Exposition ihre bessere Seite zeigt, indem sie eine Begegnung ermöglicht, ein schmerzloses Sich-Öffnen auf ein Du. Für Paul Celan war zweifellos Ossip Mandelstam derjenige Dichter, der alle Bloom’schen Kriterien eines Vorgängers erfüllt, der wiederkehrt, um sich begegnen zu lassen. Und ähnlich wie bei Bloom, der der messianischen Sprache skeptisch gegenüber steht und nur sparsam von ihr Gebrauch macht, erscheint auch hier die »Erlösung« als ein äußerst unsicheres und mit einem Fragezeichen versehenes Finale; sie ist nur eine winzige Hoffnung auf die Wandlung der eigenen traumatischen Verfassung, die zur Milderung des stumpfen, lähmenden Schmerzes führen könnte. Dies zeigt sich vor allem im Gedicht »Es ist alles anders« aus dem Band Die Niemandsrose, wo Mandelstam – übrigens bei Celan allgegenwärtig – sich unter seinem eigenen Namen vergegenwärtigt: »Ossip«. In dieser Variation über das Thema einer messianischen Welt, in der – wie Walter Benjamin sagt – »alles (…) wie hier (sein wird) – nur ein klein wenig anders«12, macht dieses »ein klein wenig anders« einen großen Unterschied. Es herrscht in dem Gedicht eine – wie Bloom sagen würde – apophradische Stimmung. Die Toten kommen, mit der Kraft ihrer Namen ins Leben zurückgerufen, wieder und treten in eine Beziehung zum Dichter, in der alles anders ist als sonst. Es herrscht die Atmosphäre eines vollkommen harmonischen Austauschs bei einer idealen Begegnung, frei von Schmerz und Verspätung, vom Trauma und zeitlicher Desynchronisierung. Die Stimmung einer verträumten Zeitlosigkeit, deren paradiesische Anmut oft an einen Alptraum grenzt, wird durch die Konkretheit der Bilder gesteigert: der Dichter gibt durch sein Gedicht einem anderen seine Hand, dieser nimmt sie entgegen und gibt dafür seinen Arm, und alle an diesem Austausch beteiligten Glieder wachsen wundersam nach, wie bei einer Eidechse, die den Schwanz verloren hat. Diese Autotomie und Autogenese sind nach Sandor Ferenczi die älteste im Reich der Lebewesen bekannte Form der Abwehr gegen das Trauma, die auf einer radikalen Entfernung des schmerzenden Ortes Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Beda Allemann/Stefan Reichert, Bd. 3. Frankfurt am Main 2000, S, 185–186, hier S. 186. 12 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1. Frankfurt am Main 1991, S. 419. Ähnlich auch bei Ernst Bloch: Spuren (= Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 1). Frankfurt am Main 1985, S. 202.

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am Körper beruht.13 Auch hier werden die schmerzenden Glieder, die Hand und der Arm, die sowohl zur Abwehr als auch zur Begrüßung dienen und somit synekdochal für die Exposition des Subjekt an diese beiden Dimensionen stehen, sanft abgelöst, wodurch der Schmerz wegfließt, um über das Meer »von nirgends her und nirgends wohin« zu driften. Da, wo alles anders ist, ist auch die Sprache ein Organ, das nach der Abtrennung wundersam nachwächst. Es ist ein Gedicht der Zeit- und Ortlosigkeit. Gerade dadurch verweist es insistent – obgleich apotropäisch – auf Zeit und Ort, und zwar im Akt der supermimesis, die Geoffrey Hartman als Nachbildung durch Negation bezeichnet.14 Daher lauern auch unter dem hellen elisäischen Licht die finsteren Abgründe Scheols und unter der schimmernden Meeresoberfläche eine dunkle Tiefe. Eine einzige Inversionstrope genügt, um wieder unter der Herrschaft des Traumas zu stehen. Es hat sich also noch nicht die eigentliche Wende vollzogen, die Atemwende oder, in die Seemannssprache übersetzt, der günstige Wechsel der Winde (hebr. ruach = Geist, Atem, Wind), der den Segler über Wasser hält und es ihm ermöglicht, weiter über das Meer zu fahren, das – wieder erweist sich die Metaphorik Blooms als hilfreich – sowohl die Matrix der Sprache (sea of alien voices), als auch die Mutter-Matrix ist, also diejenige herbeiruft, welche den Dichter in die finstere »todbringende« Rede der Deutschen eingeführt hat. Verweilen wir noch ein wenig bei dieser Analogie mit Bloom, bevor wir zu den unüberbrückbaren Unterschieden übergehen. Die Celan’sche Begegnung weist wahrhaftig viele gemeinsame Züge mit Blooms apophrades auf, mit der Wiederkehr des toten Vorgängers, diesmal jedoch nach den vom neuen starken Dichter festgelegten Regeln, der seinen Vater von hinten belangt und zugleich anficht. Wie Bloom mehrfach betont hat, ist seine Theorie der Dichtung absichtlich personifiziert und bedient sich der Prosopopöie, um sich der French Theory und insbesondere der aus ihr resultierenden Konzeption der Sprache als eines unpersönlichen Massivs zu widersetzen, das von Lacan Åa parle genannt wird. Die Prosopopöie als Personifizierung dient dazu, zwischen den Ozean der Sprache und den jungen Dichter personelle Vermittler zu setzen, die die Last des Agons auf sich nehmen, da eine solche Konstellation nur dann möglich ist, wenn es jemanden gibt, mit dem man ringen kann (bei Lacan, wo die Rolle des Herrn über die symbolische Sphäre der unpersönliche Tod spielt, ist jeder Streit zwecklos). Ähnlich ist es auch bei Celan, der sich nie mit dem dunklen Meer der deutschen Sprache selbst auseinandersetzt, sondern alleine mit diesen Seglern, die in seinen Gewässern nicht untergegangen sind: in erster Linie mit Hölderlin und Rilke. Die zahlreichen Spuren dieser Dichter leben in Celans Gedichten in

13 Vgl. Sandor Ferenczi: Thalassa: A Theory of Genitality. London 1994, S. 12. 14 Vgl. Geoffrey Hartman: The Fate of Reading and Other Essays. Chicago 1985, S. 87.

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immer neuen Formen wieder auf: als Abweichung (clinamen) und Ergänzung (tessera), vor allem aber als Erleiden (askesis). Rilkes mächtige Phrase »O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod« wird Celan nie verlassen, sie wird ihn heimsuchen als ein nicht gehaltenes Versprechen und unerhörtes Gebet, gleichzeitig aber auch als leere Floskel, als »auseinandergeschriebene« Rede, die wie Gras ist15, das die namenlosen Gräber der Opfer bewächst, ohne dass ein ritueller Stein auf ihnen ruht.16 Im Gedicht Es ist alles anders erscheint am Ende ein verlorener und wiedergefundener kleiner weißer Kieselstein, ein Stein aus dem Fluß Alba, ein Albedo-Stein, lapis poeticus, der die gereinigte Sprache meint, die bereit ist, die Trauerarbeit zu vollziehen. Celan ist somit wie Antigone, die ihre Toten begraben und jedem von ihnen seinen eigenen Tod wiedergeben will. Entgegen des evangelischen Gebots, demzufolge »die Toten ihre Toten begraben« mögen (Mt 8, 22) und die Lebendigen unbesorgt nach vorne schreiten sollen (oder vielleicht gerade nach diesem Gebot), positioniert sich Celan als Toter, der seine Toten begraben will. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bereits Antigone leistet, von Sophokles über Hegel bis hin zu Lacan und Derrida, Widerstand im Namen »ihrer Toten«, indem sie dem triumphierenden Fortgang des Geistes in die Quere kommt. Sie repräsentiert nichts als nur diese eine Sache, die für die Lebenden in Kreons Reich irritierend ist, da es die Welt, das Licht und den Geist vertritt. Wie Antigone also, die ein Steinchen in das Radwerk der geistigen Phänomenologie wirft und sich von den unbegrabenen Körpern »unserer Toten« ernährt, wirft auch Celan, als Anti-Gonos und Anti-Kreon (was man auch als Gegen-Erzeugung und Gegen-Schöpfung lesen kann) sein Steinchen in das Radwerk der geistigen Sublimation, die auf dem Leichendünger der Geschichte aufwächst, und zieht – mit Walter Benjamin sprechend – die Notbremse. Als männliche Inkarnation der Antigone hat er nur ein Ziel: seine Schwester (die er nie hatte) zu begraben und einen weißen Stein auf ihr Grab zu legen. 15 Vgl. das Gedicht »Engführung« aus dem Band Sprachgitter: »Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß« Celan, 2005. S. 113. 16 »O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not«. Reiner Maria Rilke: Das Stunden-Buch, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv, Band 1. Frankfurt am Main 1975, S. 347. Rilke vergleicht den Tod mit einer Frucht, zu der alles Sein hin reift, der Tod ist hier die Krönung und Bestätigung des Lebensprozesses. Für Celan dagegen kann der anonyme Tod in Buchenwald, wo sich gleich am Eingangstor die Inschrift mit dem gleichen Incipit »Jedem« befand, nur soviel bedeuten, dass alle seine Opfer »sterben, sterben, das Leben nicht gelebt haben«, wie die Rose im Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger, Celans Cousine: »Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie, / stirbt und hat das Leben nicht gelebt« (Selma Meerbaum-Eisinger: Blütenlese. Tel Aviv 1979, S. 72). Daher kommt bei Celan das unüberwindbare Bedürfnis einer Inversion: um das »Jedem« von Buchenwald, das die Individuen zu Schrot mahlt und als Dünger über seinen Acker des vorzeitigen Todes verstreut, in das Rilke’sche »Jedem« zu verwandeln, das das Individuelle hervorhebt und aufbewahrt.

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Antigonie Es ist gleichzeitig ein Ziel, das sein Gedicht nie erreicht. Das Wissen um diese Unmöglichkeit durchdringt Celans Schrift. Der Wunsch, den Körper wieder zu finden, ihn zu bestatten, die Trauerarbeit zu vollbringen und das Ritual einer Reparation, wie minimal sie auch sein mag, zu zelebrieren, wird immer nur ein Wunsch bleiben, begleitet vom Bewusstsein seiner Unerfüllbarkeit. Schließlich hatte Celan nie eine Schwester. Er kann also nicht, wie die erste Antigone, seinem Wunsch nachgehen und – gegen das Gesetz des lichten Tages – die Leiche des Bruders begraben oder die Option eines selbstmörderischen Todes wählen, der auf immer ein Protestsymbol bleiben wird, um auf diese Weise die scheinbar rein negative und ratlose Geste durch ein Hinüberführen in das erhabene Bild einer unbesiegbaren Revolutionärin zu retten.17 Der Wunsch, den Leichnam einer Schwester, die man nie hatte, ausfindig zu machen und zu bestatten, ist an sich unerfüllbar, von innerer Aporie und Blockade geprägt. Er bleibt für immer eine reine traumatische Negativität, a priori einer jeglichen Chance auf Genugtuung beraubt. Celan, der jüdische Antigonos, vollzieht eine Wende gegen die dauernd sich erneuernde Generierung, gegen das Werden, gegen den Fortgang von Leben und Geist und ihrer grausamen Destillation, die stets ein Neues hervorbringt auf den Trümmern dessen, was war. Cel-an, der umgekehrte An-cel: ein Engel der Wende und Umkehr, ist darin dem Benjamin’schen Engel der Geschichte ähnlich, der in seinem Wesen eine Engel der Anti-Geschichte ist, dem es darauf ankommt, den Zug der Geschichte anzuhalten und all diesen Lärm verstummen zu lassen. Seine Stimme ist schwach, wie der biblische bat kol, »kleine Stimme«, die nur mit Mühe durch die triumphalen Posaunen des Lebens durchdringt. Er spricht rückwärts, hebräisiert die deutsche Sprache und dämonisiert sie zugleich gemäß eines alten satanistischen Mythos. Oder angelisiert sie, wenn man auf diese antinomische Botschaft genau hört: »Die rückwärtsgesprochenen Namen, alle«.18 Es handelt sich dabei aber nicht um einen magischen Vorgang, der allen Toten das Leben zurückgeben soll und ihnen – in Schiller’scher Manier – eine Wiederauferstehung in der Dichtung ermöglicht, denn ein solches Verständnis der Dichtung ist für Celan nur Betrug und Barbarei. Seine Gedichte wollen eher »Grabinschriften« sein, also einer Bennenungspraxis entsprechen, wie sie von Derrida und de Man verstanden wird. Wie Kierkegaard in Die Wiederholung schreibt, will niemand ein Grabstein mit verwischtem Epitaphium sein. Celan 17 Vgl. etwa Jacques Lacan: The Ethics of Psychoanalysis. The Seminar of Jacques Lacan 1959–1960, hg.. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Dennis Potter. New York 1997, besonders das Kapitel »The Essence of Tragedy«. 18 Celan 2005, S. 298.

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stellt nicht nur mazewot für die Toten auf, sondern ritzt in sie auch die »Namen, alle« ein. Er will für sie keine Lichtglorie der Wiederauferstehung, gleichzeitig will er aber auch nicht, dass sie von der Finsternis des Vergessens verschlungen werden. Ein Zwischenraum an der Schnittstelle von Licht und Finsternis, ist der Schatten. Die rückwärtsgesprochenen Namen werden zu Schatten, auf Hebräisch celim. Cel, Schatten, verbindet sich hier sofort mit celem, dem Funken der Seele und Gottesebenbildlichkeit, dem also, was bleibt – und was die Dichter stiften. Wenn das Leben weiter gehen soll – und Celan plädiert beharrlich dafür, dass es in seinem bedingungslosen Triumph eingeschränkt sein müsste, um es als gefährdet und hypothetisch aufzufassen – so nur noch als ein mit diesen schattenhaften Anwesenheiten beschertes, »mit von Steinen geschriebenen Schatten«.19 Wenn wir also – mit Beckett – »weiter ziehen sollen«, dann nur noch so, wie die Beckett’schen Penner ihre scheren, mit Müll gefüllten Wagen hinter sich her schleifen, der world of the living misstrauend, zögernd, ohne reflexionslosen Enthusiasmus für den Fortgang von Leben und Geist. Diese zentripetale Atemwende, die dem projektiven und expansiven Triumph des Lebens zuwiderläuft, der mit voller Brust atmet wie Hölderlin und die deutschen Wandervögel, , die Wende, die von Atemnot, Schwüle und Einengung gekennzeichnet ist, von Engführung und micraim, der Enge Ägyptens, die Celan dazu verleitet, mit schwacher Stimme und einatmend zu sprechen, positioniert ihn zugleich dauerhaft als »gegenfügig« im Sinne Heideggers, der dieses Wort pejorativ besetzt hatte. Wollte man die Analyse Celans weiter im Sinne der Bloom’schen Revision fortführen, könnte man behaupten, dass Celan in ihr alle Stadien der Kontraktion in Anspruch nimmt und gleichzeitig alle Stadien einer symmetrischen Restitution meidet. Während der Lurianische Gott, den Bloom als den Urvater aller Dichter preist, mit pulsierenden Atemzügen die Aorten der Welten mit dem Blut einer Lebensenergie versorgt, wählt Celan das antivitale Zimzum und stellt somit die natürliche Lebensdynamik in Frage. Er treibt einen Keil in die ewige Metabole des Lebens, die den Tod in die fruchtbare Matrix eines weiteren Lebens verwandelt. Er wirft ein Steinchen in das Radwerk des ewigen Kreislaufs. Die pulsierenden und symmetrischen Stadien bei Bloom erscheinen in dieser Perspektive als immer noch der naturalistischen Welt verschuldet, wo das Leben, seinem metabolischen Kreislauf folgend, sich immer durchsetzt. In seinen Gedichten setzt sich aber Celan durch, indem er beharrlich steht: »Steht herein«20 hartnäckig und insistent (in-sistere bedeutet Widerstand als Herein19 Vgl. das Gedicht In den Flüssen aus dem Band Atemwende (Celan 2005, S. 176). Eine ausführliche Analyse dieses Gedichts liefert Jaroław Julian Marczak in seinem schönen Essay »Wiersz absolutny« (Das absolute Gedicht) in: Adam Lipszyc/Paweł Piszczatowski (Hg.): Paul Celan: je˛zyk i Zagłada. Warszawa 2015, S. 215–227, wo er auf verschiedene Anagramme und verdeckte Bedeutungen des Pseudonyms »Celan« verweist. 20 Vgl. Celan 2005, S. 305.

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stehen). Sein ›Stehen‹ ist keine mystische, quietistische Statik (wie es bei Meister Eckhart der Fall ist), sondern ein Schwimmen gegen den Strom: ein aktiver Widerstand gegen den Fluxus des Lebens, das im Rhythmus von Werden und Vergehen von sich aus weiter läuft. Celans Stehen, obgleich oft mit der Erektion einhergehend, ist kein Symptom der Vitalität. Im Gegenteil, es ist eine Manifestation der dichterischen Kraft, die ahnt, dass ein anderes Leben möglich ist, wie es L8vinas sieht, der von der von uns stets versäumten Chance spricht, ein ethisches Leben, autremont qu’Þtre, zu führen. Dieses Stehen ist viel mehr ein Priapismus des Traumas, das insistent hereinsteht, wider und gegen den Ansturm des Lebens. Es ist ein Menhir, der einen Schatten wirft. Wie es im letzten Gedicht Celans aus dem Band Lichtzwang, und gleichzeitig dem letzten von Celan in Druck gegebenen, als ein Credo und Memento, heißt: »Wirk nicht voraus, / sende nicht aus, / steh / herein«.21 Nicht nur Blooms Quasi-Naturalismus wäre auf Celans Unbehagen gestoßen. Der wesentlichste Zweifel seinerseits hätte das betreffen müssen, was ich bereits am Anfang »poetische Theodizee« nannte, eine alchemische Verwandlung des Traumas in die Gabe des Schreibens, die den absoluten Kern des Bloom’schen Agons bestimmt. Celan übersetzte Shakespeares 79. Sonett ins Deutsche, ein für Bloom besonders wichtiges Gedicht, in dem sich das lyrische Ich in erotischagonischer Manier an einen/n Geliebte/n wendet und von Gift spricht, das/die zwischen ihnen als ungleicher Austausch wandelt. Celan – sich wie immer auf die Potenzialität der Mehrsprachigkeit öffnend – bewahrt in seiner Übersetzung die alte feminine Bedeutung von »Gift«, die sich nur durch ihren Genus vom homophonen »das Gift« unterscheidet, wodurch eine zutiefst ambivalente Aura einer »giftigen Gift« im Sinne Derridas entsteht. Wenn nämlich die Shoah jenes Ereignis war, das ihn zum Dichter gemacht hat, so kann sich seine alchemische Transformation in eine Gabe, auf die man mit einer »Danksagung« antworten müsste, nicht vollziehen. Die traumatische Gift muss immer ein Gift bleiben. Von der Shoah gibt es keine Erlösung in Form einer Theodizee, auch wenn es ein durch sie erwecktes, poetisches Genie sein sollte. Celans Nemesis ist hier offensichtlich Theodor W. Adorno, der es für barbarisch hielt, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, und jede Ästhetisierung der Shoah als »Schminken des Horrors« ablehnte. Obwohl Adorno dieses Diktum nach und nach, unter anderem durch die Lektüre von Celans Gedichten sowie seine eigene Überlegungen zum durch den Krieg bedingten Wandel der »ästhetischen Theorie«, modifizierte und abschwächte, hat er sich nie mit Celan getroffen (obwohl es beinahe zu einem Treffen »im Gebirg« gekommen wäre) und verfasst auch nie ein Essay zu Celan (obwohl er es angeblich vorhatte). Celan wurde umgekehrt nie seine Gewissensbisse los, dass er möglicherweise doch, gänzlich gegen seine Intention, 21 Ebd.

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eine poetische Theodizee des Holocausts erschaffe. Seine heftigen Reaktionen auf selbst die kleinsten Vorwürfe, er ästhetiesiere den Holocaust, zeugen deutlich von der Tiefe der Internalisierung dieses Schuldbewusstseins. Deswegen ist auch nicht Gershom Scholem, sondern Adorno der Jude Groß im Gespräch im Gebirg. Er ist sein nemetisches Superego, dem man nie begegnen kann, weil es sich stets auf Neue jeder Möglichkeit einer Begegnung entzieht. Celan will Zeugenschaft, nicht Rechtfertigung – und ganz bestimmt auch keine poetische Sublimation, in der der Geist wieder über die verkohlte Materie triumphiert. In seiner Version der Alchemie, die er in dem Gedicht Chymisch umreißt (auf die es gleich noch zu sprechen kommen gilt), und die gleichsam das Attribut »gegenfügig« verdient, soll vielmehr der Geist aus sich heraus – im letzten Stadium – den materiellen Körper »sublimieren«. Celan erlaubt sich nur eine positive Wendung: die erotische Hinwendung zu einem Du: »wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend«,22 signalisiert er eine Ganzheit, innerhalb derer sich eine Umkehr vollzieht. Nur derjenige, der die Wirklichkeit wund machte, kann sie wahrhaftig in der Liebe zum Mitmenschen suchen. Der Mensch ertönt in Celans Idiom mit all den Superlativen, die die jiddische Sprache dem Wort zuschreibt: Mensch zu sein, ist das Beste, was uns widerfahren konnte. Dieses Celan’sche Spiel zwischen Liebe und Gerechtigkeit, der Hoffnung auf eine (Liebes-)Beziehung und dem ethischen Imperativ der Genugtuung, ist eine weitere Version des althergebrachten Konflikts – eines Agons und Ringens, aber zugleich auch einer Liebesumarmung – zwischen Judentum und Christentum. Nur in Kreons Augen ist Antigone ein anti-gonos, ein den Tod liebendes Wesen, das sich den Gesetzen des Lebens widersetzt; in ihren eigenen Augen repräsentiert sie ein »anderes Leben«, das sich, im Namen der schwester-brüderlichen Liebe, dem öffentlichen »Recht des Tages« widersetzt. Ein solches Bild der Antigone als einer Befürworterin der Liebe ergibt sich aus Derridas anti-Hegel’scher (und anti-Lacan’scher) Lektüre des Mythos in seinem Glas,23 das seine Auffassung einer messianischen Gerechtigkeit aus Marx’ Gespenster ergänzt. Es ist sehr ratsam, beide Texte mit Celan zu lesen: im Endeffekt nämlich ist jenes »im Namen«, das die Schatten-Gespenster, die »das Reich der Lebendigen heimsuchen, begleitet (an-cel, also ein »ankommender Schatten«), und ist der Name der Liebe, und zwar einer rechtlosen Schwesternliebe, die gerade in seiner Antinomität ein neues Modell des Lebens, und nicht nur des Todes, schafft. In der eigenartigen Lektüre der Phänomenologie des Geistes, die Derridas Glas darstellt, wirkt das Kapitel zu Antigone, mit der Hegel, wie wir wissen, recht schnell fertig wird, wie ein das Getriebe der dialektischen Maschine hineinge22 Celan 2000, S. 186. 23 Jacques Derrida: Glas. Totenglocke, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. Padeborn 2006.

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worfenes Sandkörnchen. Es bringt sie zum Stocken, unterbricht ihren einwandfreien Lauf und staut eine Blockade in Form von Aporien. Der gesamte vorangehende Teil ist der Exposition vom Liebesbegriff Hegels gewidmet, den Derrida als den Meister des philosophischen Eros darstellt, der sich unaufhörlich im Akt der Sublimation erhebt: die sexuelle Liebe verwandelt sich in eine eheliche, diese dann wieder in eine elterliche, und diese, indem sie die Familie, als »Keimzelle der Gesellschaft« stiftet, ist ein glatter Übergang von Natur zu Kultur, unter deren Herrschaft die Liebe nur in Form von sublimierten gemeinschaftlichen Bindungen weiter besteht. Dieser erotische Triumph des Lebens, wo die Liebe, wie in Goethes Aphorismus »alles bindet«, spielt sich in den linken Spalten von Glas ab – in den rechten aber, wie in einem Spiegelbild, vollzieht sich das Drama des Todes, indem Jean Genets Trauerzeremonie dargestellt wird, der den Tod und die Verwesung des Geliebten beweint. Und so wie die linke Spalte (oder vielleicht die linke Sefira) von der Üppigkeit des Entstehens und Werdens, der unaufhaltsamen Generierung pulsiert, wo der erotische Geist nach vorne drängt und immer größere Totalitäten vereinigt, stockt die rechte Spalte/Sefira beim Verfaulen, Verwesen und Schwinden der Materie, die sich als stinkender Krematorienrauch zusammen mit einem luftigen Geist in die Höhe schwingt. Derrida, zu subtil und »maranisch«, um direkt von der Shoah zu sprechen, sagt jedoch mit Genets Geschichte alles: der Hegel’sche Geist ist nichts anderes als ein alchemisches Endprodukt der Verbrennung der Materie, der Sublimation also im ursprünglichen Sinne des Wortes als Übergang eines festen Stoffes direkt in den gasförmigen Aggregatzustand. Die gesamte Welt ist nichts anderes als ein Brandopfer für den sich ewiglich emporhebenden Geist. Die Phänomenologie des Geistes ist eine große Geschichte der Shoah, eines nur in dem Sinne einzigartigen Ereignisses, als das es die verdeckte Regel und den geheimen Mechanismus der Geschichte bestätigt. Dass Antigone in diesem Zusammenhang erscheint, hat keine Begründung: ihr Agon erscheint vor dem Hintergrund des kosmischen Kampfes zwischen Leben, das sich von Totem ernährt, und Tod, für den das Leben nur zur Produktion von Leichen nötig ist. Und doch besitzt Antigones kleiner Agon, den sie im Namen ihre partikulären Bruder/Schwesterliebe führt, in Derridas Sicht die größte Kraft – die Kraft, die dialektische Maschine zu stoppen. Vom Gesichtspunkt des philosophischen Eros, der in seiner unaufhörlichen Sublimationsarbeit schwillt und sich ausdehnt, ist diese kleine Liebe absolut statisch: sie ist nur sie selbst und nichts als sie selbst, und kann als solche keine Grundlage einer großen Metabole des Geistes sein, in der alles Einzelne ins Allgemeine und Universale verwandelt wird. Sie ist eine unerotische Liebe, und dadurch besitzt sie keine Energie, die man zu Sublimationszwecken verwenden könnte – und doch ist sie Liebe. Eine Liebe zum Körper, den Antigone hartnäckig zurück zu gewinnen sucht – auch wenn sie ihn nur bestatten will.

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Antialchemie Genau der gleiche Widerstand gegen Hegel begegnet einem in zwei Gedichten Celans aus dem Band Die Niemandsrose: Es war Erde in ihnen und Chymisch, die den gewöhnlichen Prozess einer alchemischen Sublimation umkehren und aus der nach Krematorienrauch stinkenden Geist-Luft den festen Körper wieder zu gewinnen suchen und den Geist als Schöpfer der Geschichte – gemäß dem Diktum von Hegel selbst, nach dem die Weltgeschichte zugleich Weltgericht bedeutet – vor Gericht stellen wollen. Das Gericht ist nur unter der Bedingung möglich, dass man den Körper hat: habeas corpus. Wenn dies nicht der Fall ist, wenn sich alles Feste in die Luft erhebt, gibt es keinen Beweis für die menschenmörderischen Prozeduren des Geistes, der seine Unschuld wieder gewinnt und die Strafe vermeidet, indem er alle materiellen Spuren verwischt. Chymisch ist somit eine Anklagehymne gegen den Hymen des Geistes, der seine zweifelhafte Tugend aufbewahrt, da der Leichnam fehlt, den er tötete. Es ist aber zugleich ein Pean auf die neue »chymische Hochzeit« (Christian Rosenkrantz) von Bruder und Schwester, von Antigonos und seiner toten Braut. Es ist letztlich ihr in den Luftgräbern wieder gefundener Finger, auf dem zum Schluss der Ring erblüht. Es ist zugleich aber (auch) nur eine umgekehrte Alchemie, eine Inversion also, die im Schoss reiner Schwärmerei geschieht, eines Wunsches, der paradigmatisch unerfüllbar bleibt. So wie das traditionelle Werk der Alchemie darauf ausgerichtet ist, neues Leben zu erschaffen, den lebenden Lapis philosophorum in Form eines Homunculus zu kreieren, und in seinem Bestreben dauernd über die notwendigen Gesetzmäßigkeiten der Natur stolpert, so bleibt auch die Antialchemie Celans nur ein Ausdruck eines unrealisierbaren Wunsches: Wird der Körper nicht erschaffen, so wird es auch keinen Beweis geben und es bleibt für immer nur noch das unsichere Medium der Zeugenschaft.24 »Es war Erde in ihnen, und / sie gruben«:25 sie gruben auf der Suche nach dem Körper, sie gruben, um an das Grab zu gelangen. Die semantische Verwandtschaft von »graben«, »Grab« und »Begräbnis« lässt im Verb »graben« auch die 24 Zu der Aporie der Zeugenschaft, die nie einen Beweischarakter haben kann, schreibt Derrida in seiner Lektüre von Celans Gedicht Atemglorie: »Whoever bears witness […] does not provide proof; he is someone whose experience, in pronciple singular and irrepaceable […] attests, precisely, that some ›thing‹ has been present to him. […] In this context, Aschenglorie also lets one hear, between the words, rising from the light of the ashes, something like a desperate sigh: no witness for the witness in this perverse situation, which will permit all judges, arbiters, all historians to hold the revisionist thesis to be fundamentally indestructible or incontestable.« (Jacques Derrida: »Poetics and Politics of Whitnessing«, in: ders.: Sovereignties in Question. The Poetics of Paul Celan, übers. v. Thomas Dutoit. New York 2005, S. 77, 90. 25 Celan 2005, S. 125.

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anderen Elemente dieser Wortreihe hörbar werden. Dem typischen Bild aus den Arbeitslagern der Nazis, in denen die Häftlinge Tag und Nacht graben, abgestumpft und teilnahmslos, nichts hörend und auf nichts reagierend, wird hier ein gegenfügiges und potenziell »erlösendes« Bild des Greifens zur Erde im eigenen Inneren entgegengesetzt, in der eine Grablegung aller Unbegrabenen geschehen könnte. Diese Erde, der die anonymen Unbestatteten entbehrten, soll die Sprache werden: eine poetische Sprache, die keinen Geist und kein Licht aus sich herausgibt, sondern, wie Celan in einem der letzten Gedichte aus dem Band Lichtzwang (Du sei wie du) schreibt: »Schlammbrocken«. Die alchemische Beschaffenheit dieses Prozesses steht in Opposition zu der traditionellen Sublimationsprozedur : Die Sprache geht durch das Stadium der Nigredo – der Abgestumpftheit und Ertaubung (»sie gruben und hörten nichts mehr«) – nicht aber, um sich in einer reinigen Läuterung wieder zu erheben (Albedo), sondern um bis an den Grund dieser Unreinheit hinunterzugraben, die »die Erde in ihnen« bedeutet: ein Schlammbrocken unheilbaren Traumas, das höchstens sein eigenes Grab werden kann. »Es kam eine Stille« – und nach ihr ein Sturm, eine Sintflut, »die Meere alle«, wie damals, als Gott geschlossen hatte, die Erde auszulöschen und die Welt zu widerrufen. Diesmal baut jedoch niemand eine Arche; statt ihrer, die auf den Gewässern der Sintflut das gerettete Leben in sich barg, wird unter ihnen ein Grab sichtbar, eine Asylstätte der Nichtgeretteten. »Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm«. Die nach dem Nigredo der Stille und Verstummung neu auflebende Sprache (wenn es ein passendes Wort sein kann), beginnt mit einer neuen Fibel, aus der wir, statt amo, amas, amat, der ersten Konjugation der Liebe, ich grabe, du gräbst, es gräbt lernen. Der Wurm und »das Singende« sind die Schirmherren dieses Gräberbauens in der Sprache: der singende Wurm eines neuen Liedes in deutscher Sprache. Die letzte Strophe des Gedicht setzt in der Tat sehr musikalisch an: »O einer, o keiner, o niemand, o du:« – wieder werden fieberartig alle grammatischen Formen der Pronomina im Vokativ durchgangen; dieses neue Lied in deutscher Sprache, das nun die Gräber besingt, ruft und prüft und testet den Adressaten. Es durchquert verschiedene Varianten, genauer Pronomina in der dritten Person, um letztendlich bei dem in der zweiten Person anzuhalten, auf das am Ende die Wahl fällt, die zusätzlich noch durch den Doppelpunkt gestärkt wird: ein Zeichen des Aufhalts, aber auch einer Wende und Versprechung, das ein weiteres Folgern suggeriert und die Möglichkeit, »es weiter zu ziehen«.26 26 Zur Rolle des Doppelpunkts in seiner Lyrik äußert sich Celan selbst im Gedicht Kolon, indem er ihm die Grundfunktion des Pausierens zuschreibt. Die Pausen sind aber nicht Stellen reiner Leere, sondern eines Schweigens, das reich ist an latenten Bedeutungen, wie es auch bei Scholem der Fall ist: Das nicht gefallene Schweigen ist eine Regenerationsquelle der vom Fall gekennzeichneten Sprache. »Doch du, erschlafene, immer / sprachwahr in der / der Pausen«

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Dieses Verwerfen der dritten Person zu Gunsten der zweiten hat offensichtlich auch theologische Konnotationen, insbesondere innerhalb der jüdischen Theologie, die einen großen Wert auf die Unterscheidung, ja Opposition legt zwischen Gott als Er und Gott als Du, zwischen Gott, der – wie es Chajim ben Isaak Woloszyner auffasste – ein »Gott nur in sich selbst« ist, und Gott, an den sich die Betenden wenden, einem Gott, der »sich zu uns hinwendet«. L8vinas, der Woloszyners Traktat Nefesch ha-Chaim (Die Seele des Lebens) eine ganze Talmud-Lesung widmete,27 warnt davor, sich allzu sehr auf den Er-Gott zu konzentrieren und wirft den Mystikern vor, dass sie geistig zu viel darin inverstiert hätten, sich an das anzunähern, dem man sich per definitionem nicht nähern kann: dem fundamental Unendlichen, das sich noch nicht an die Welt wandte, also die Möglichkeit einer Schöpfung noch nicht gewählt hatte. Einem ähnlichen Motiv begegnet man auch bei Rosenzweig, der ebenfalls unterscheidet zwischen Gott »in sich«, dem Nichts Gottes, von dem wir nichts aussagen können, außer dass er ist, und Gott »für uns«, einem Gott des kosmischen Dialogs, der zum großen Du in der Relation der Offenbarung wird.28 Das, was die christliche Metaphysik substanzialisiert, indem sie – in der Nachfolge von Böhme und Schelling – von »dunklem Grund« des in sich geschlossenen Gottes spricht, der zugleich Quelle und Anfang des Bösen bedeutet, zerteilt hier die jüdische Theologie in zwei Aspekte: die dritte und die zweite Person, und signalisiert dadurch die Ab- bzw. Anwesenheit einer Relation. Da, wo Gott der Welt nicht begegnet, entsteht, wie Rosenzweig und L8vinas lehren, eine Gefahr : Gott als Niemandsgott, also Nobodaddy, »Niemandspapa« aus William Blakes Vision ist für niemanden da und in dieser Nicht-Begegnung lauert auch das ganze Böse, die Gleichgültigkeit also, die Anonymität, der Mangel an Empathie und die Indifferenz. Dieser Niemandsgott, der den Band Die Niemandsrose inauguriert – den Band von der Rose, die eine Rose ist und der niemand in ihrem Rosensein begegnet, einer Rose, die »starb, starb, das Leben nicht gelebt hat« – ist ein Gott einer empathielosen Theodizee, gemäß derer Er, diese göttliche Dritte Person, »alles dies wollte, alles dies wusste«. Scheinbar nur verfällt Celan in den Quietismus eines Angelus Silesius, der seine Rose ohne Grund und Zweck preist: »Die Ros’ ist ohn warum«.29 Dieses Bild generiert bei Celan eine Anklage gegen Gott »ohne warum«, der all dies wissen und wollen (Celan 2005, S. 152). Vom theologischen Standpunkt aus schreibt Menninghaus über den Doppelpunkt bei Celan, indem er sein Kolon mit Benjamins Überlegungen zu Zäsur zusammenstellt, in der es auch zu einem fruchtbaren Bruch im »Redefluss« kommt, Vgl. Winnfried Menninghaus: Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt am Main 1980, S. 247–248. 27 Vgl. Emmanuel L8vinas: L’au-del/ du verset. Lectures et discours talmudiques. Paris 1982. 28 Vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt am Main 1988. 29 Angelus Silesius: Eine neue Auswahl aus dem »Cherubinischen Wandersmann« und der »Heiligen Seelenlust«. Berlin 1954, S. 19.

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musste. Das emphatische Du, das in der dritten Strophe von Es war Erde in ihnen auftaucht, wendet sich mit seinem Doppelpunkt an einen anderen Adressaten, an den seit Langem nicht mehr angerufenen Du-Gott, an den es keine Gebete mehr gibt. Er, der Unendliche, der Nobodaddy der Niemandsrose, ist En Sof: ohne Ende und ohne Anfang, un-bestimmt und namen-los. Eine der möglichen Interpretationen des Lurianischen Zimzum sagt, dass Gott diese Kontraktion im Namen und um des Namens willen vollzog, den er sich nur im Akt einer Autoreduktion geben konnte. Solange er das allgegenwärtige und allausgedehnte Eine war, blieb er – wie jede universale arch8 – namenlos. Nachdem er sich aber zu einem Punkt kontrahiert hatte, wurde er zu einem Einzigen, einem eigentümlichen und unnachahmlichen Selbst, das auch einen Namen trägt. Diese Operation wird durch die Doppeldeutigkeit des hebräischen echad ausgedrückt, das sowohl Einheit als auch Einzigkeit bedeutet. Der Unendliche, der Einer ist, bleibt jenseits jeder Möglichkeit einer Begegnung. Nur der selbsteingeschränkte Gott – der erniedrigte und kenotische – erhält einen Namen und wird zu dem Einzigen: dem göttlichen Du, zum Gott des Dialogs und des Bundes. Celan benutzt die Kontraktion als stilistisches Mittel mit einem ähnlichen Ziel, um das Gedicht auf ein markantes Monogramm zu reduzieren, nicht nur aber zu diesem Zweck. In seinem poetischen Verfahren vergegenwärtigt sich das ganze Potential einer göttlichen Kenosis als einer notwendigen Bedingung, die es möglich macht, »es weiter zu ziehen« in der Sphäre jeder künftig möglicher Theologie. Nicht nur die Dichtung wird nach Auschwitz angeprangert, sondern vor allem die Theologie. Celan würde wohl der These von Hans Jonas zustimmen, dass nach Auschwitz nur noch eine Zimzum-Theologie möglich ist: eine aus der Kabbala Isaak Lurias schöpfende Theologie eines Gottes, der bis an den Punkt der Selbstanihilation zurücktritt.30 Bevor sich also in der letzten Strophe des Gedichts das Du offenbart, entwickelt es sich unter der Vorherrschaft des Es, der paradoxen dritten Person-ohnePerson, eines neutralen und eigenschaftslosen Pronomens. Das Es, das die Tendenz zur Selbstauslöschung als Subjekt-ohne-Subjekt der unpersönlichen Sätze aufweist (»es war«, »es ringt«), ist der erste stille Held dieses Gedichts, sein eigentlicher Name: sein Incipit. In diesem Es, wie im es gibt Heideggers und intensiver noch im il y a L8vinas’, fällt alles zum Niveau eines Niemandsseins hinunter. Die geschaffene Welt reduziert sich wieder zum Abgrund der Ursprungsgewässer, die noch nicht von der schöpferischen Kraft Gottes berührt wurden. Diesen Moment einer Dekreation wird in der Bibel durch die Sintflut verbildlicht, die auch in Celans Gedicht präsent ist. Auch die Verwischung der 30 Vgl. Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt am Main 1987.

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Grenze zwischen Tag und Nacht ist sein Signal. In diesem Sinne entspricht dem Gott in dritter Person, dem Unendlichen Niemandspapa, der sich noch nicht durch den Akt der Schöpfung mit der Welt verbunden hat, ein neutrales Niemandssein in dritter Person, ein minimal vegetierendes, ohne Ziel und Projekt, ohne Grund und Begründung (ohn’ warum). Celan kannte Heideggers Essay Der Satz vom Grunde,31 in dem von Leibniz und seinem Satz des zureichenden Grundes die Rede ist, der auf die Frage antworten sollte: »Warum eher etwas als Nichts?« Das Graben in der Erde (Grund) ist ein Sich-Durchgraben bis auf den Grund, die basale Grundlage, die Begründung, zugleich aber bis zur Antwort auf die modernisierte Frage Leibniz’, die Frage nach der Möglichkeit der Shoah. Dem berüchtigten Schweigen Heideggers, der übrigens in jeder anderen philosophischen Angelegenheit äußerst beredt war, entspricht bei Celan das stumme Schweigen der Grabenden mit ihrer Absicht/Entschlossenheit, irgendeine Antwort auszugraben. Es ist ein anderes Schweigen als das Heideggers, ein reinigendes und – wie das Motto aus Scholem suggeriert – »nicht gefallenes«. Sich auf das Spiel der jüdischen Theologie des Bundes einlassend – eines mit der Zäsur des Schweigens gewaltsam unterbrochenen Dialogs, der in diesem Schweigen auf seine Erneuerung wartet –, widersetzt sich Celan der ganzen philosophischen Tradition und ihrer Metaphysik der dritten Person, die nach dem zureichenden Grund dort sucht, wo man ihn nicht finden kann: im gleichgültigen Er (einer, keiner, niemand) und im gleichermaßen gleichgültigen Es des verwaisten, dekreierten Seins, in welchem dauernd Niemandsrosen aufblühen und verwelken. Erst wenn das Du erscheint, beginnt das Graben wieder einen Sinn zu haben: »ich grab mich dir zu« verwickelt die Grabend-Begrabenden in einen neuen Bund der gemeinschaftlichen Vermählung, der durch den an ihren Fingern erwachenden Ring besiegelt wird. Diese neue deutsche Lied in deutscher Sprache ist somit auch ein neues Hohelied, in dem das Fest der Vereinigung Gottes mit der Schechina, des Antigonos Paul mit der Schwester, das Fest der Wiedervereinigung des Getrennten und Zersplitterten – wie in den Supplikationsritualen in Form von Hochzeiten der Bettler oder geistig Behinderten, die man einst auf jüdischen Friedhöfen abhielt, wenn die Gemeinschaft von einer Katastrophe bedroht war32 – auf den Gräbern gefeiert wird. Ist es Parodie, oder Erneuerung? Beides vielleicht: eine Erneuerung des Bundes, nach der JHWH und die Schechina nie wieder im königlich-salomonischen Glanz auftreten werden, sondern für immer zerlumpte Bettler bleiben. 31 Martin Heidegger : Der Satz vom Grunde. Stuttgart 2006. 32 Dieses Motiv der »schwarzen Hochzeit« bringt Piotr Pazin´ski in seine Interpretation von Celan Gedichten. Vgl. »Historia pewnego odwrjcenia«, in: Joanna Roszak (Hg.), Kartki Celana, Krakjw 2012, S. 269.

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Dieselbe Frage – Parodie oder Erneuerung?, Profanation oder Re-Kreation? – fällt auch in der berühmten Diskussion Scholems und Benjamins über das Werk von Franz Kafka, in der ersterer dazu tendiert, den Nihilismus Kafkas weiterhin im Geist der Theologie Lurias zu verstehen, während Benjamin Kafka aus dem Haus des Judaismus hinausführt und sein Anihilieren mit säkularen Praktiken in Verbindung setzt, die später von Giorgio Agamben als Profanationen bezeichnet wurden. Für Scholem ist das Werk Kafkas ein literarisches Zimzum, das die Tradition auf das »Nichts der Offenbarung« kontrahiert, das weiterhin seine Geltung beibehält, auch wenn es keine Bedeutung mehr hat.33 Celan wendet wohl ein ähnliches Verfahren an. In seinen Notizen zu der Meridian-Rede stellt er fest, dass das Gedicht das argumentum ex silentio kenne, denn der Gott des Gedichts sei ein deus absconditus: ein Gott der Schweigens, Rückzugs, Zimzum.34 Die Geltung des Gedichts bewirkt es, dass es – wie Derrida sagt – unmöglich ist, es zu vergessen, obwohl, oder gerade weil es ein semantisches Enigma bleibt. Die im Gedicht zu einer punktuellen Singularität kontrahierte Sprache bleibt, wie in Scholems Vision, »das Erscheinende«, obwohl sie sich zugleich im Zustand der Kondensierung und Suspendierung befindet. Wie der verborgene Gott im Akt des Zimzum weiterhin der erscheinende bleibt, der immer dazu fähig ist die Gestalt der Offenbarung zu erneuern, so birgt auch der deus absconditus von Celans Gedicht ähnlich einem versteinerten, anabiotisch abgestorbenen Korn in seiner Überdauerungsform die Potentialität der Erneuerung der Sprache in sich: eines Resets des Deutschen, das sich »nach Auschwitz« nicht mehr zum Schreiben der Gedichte eignet. Und wie Scholems Gott im Zustand der Kontraktion den Samen einer neuen Welt enthält, das Ritual einer neuen Kreation, so trägt auch Celans Korn, nur scheinbar tot, in sich den genetischen Code künftiger Bedeutungen, die aufleben, aufwachsen und aufblühen können, wenn sie dazu günstige Bedingungen finden und durch den Händedruck erwärmt werden, auf den das Gedicht hinaus will. Das Zimzum wirkt somit auch wie ein Depot, in dem alles auf ein scheinbares Nichts geschrumpft ist. Es wird zum »Archiv« im Sinne Derridas, das – wie die Freud’sche Niederschrift – ein rein materielles Medium des Gedächtnisses ist, ein tief angelegtes Verzeichnis, das an sich nichts bedeutet, dennoch aber seine absolute Geltung beibehält. Die Geltung des un33 Vgl. Gershom Scholem an Walter Benjamin, Brief Nr. 66 vom 20. September 1934, in: Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel 1933–1940. Frankfurt am Main 1985, S. 185. 34 »Es gibt (…) ein dem Gedicht und nur ihm eigenes Sprach-Tabu, das nicht allein für den Wortschatz gilt, sondern auch für Kategorien wie Syntax, Rhythmus oder Lautung; vom Nichtgesagten her wird einiges verständlich; das Gedicht kennt das argumentum e (sic!) silentio. Es gibt also eine Ellipse, die man nicht als Tropus oder gar stilistisches Raffinement mißverstehen darf. Der Gott des Gedichts ist unstreitig ein deus absconditus.« Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien, hg. v. Heino Schmull/Bernhard Böschenstein, Frankfurt am Main 1999, S. 86–87.

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tilgbaren Gedächtnisses, das materiell und traumatisch eingedrückt (im-pressio) ist und ein unerschütterliches Archiv bildet: einen Code von – gleichzeitig – Gedächtnis und Erneuerung.35 Der Glanz der Tradition, die in ihren besten Zeiten von der Fülle des subjektiven und objektiven Geistes lebt: in Büchern, Schulen, Gemütern, Tempeln und Gemeinschaften – kann auch eine dunkle Überdauerungsform annehmen und, wie Celan im Meridian sagt, zeitweilig mumifiziert werden: sie verkommt, wirkt zerlumpt und zieht sich zurück in des Minimum der Anabiose. Der zerlumpte, glanzlose und verkommene König – der einstige und nun entthronte melek ha-olam – erscheint am Ende des Gedichts Chymisch, in dem der ebenfalls alchemische Prozess einer »königlichen Hochzeit« beschrieben wird, bei der der Bruder sich mit seiner toten Schwester vereinigt, die nur in der nebelhaften und stummen Gestalt des Verlorenen anwesend ist: » Große, graue / wie alles Verlorene nahe / Schwestergestalt«.36 Das letzte, mit einem Divis durchschnittene Wort im Gedicht – »König- / liche« – bedeutet gleichzeitig das Königliche und die Leiche, deren mittelhochdeutsche Form l%che hieß.37 Diese ist also der Körper des Königs, nicht ein »anderer Körper«, kein subtiler und auratischer, sondern der konkrete und wörtliche: habeas corpus! Der Leichnam ist geborgen, man kann vors Gericht gehen und muss sich nicht mehr mit Indizien zufrieden stellen, mangelhafter Zeugenschaft, die nur Unruhe und Unglauben beim humanistischen Publikum stiftet, all den Serenes Zeitbloms dieser Welt, die weiterhin an den Geist glauben, den Geist der Zeit und der Welt und seine schönen »Blüten« der Geschichte. Indem Hegel feststellte, dass die Wunden des Geistes keine Narben hinterlassen, hat er einer der unerschütterlichsten Theodizeen Ausdruck verliehen: einer,, gegenüber der selbst Leibniz’ Versuch verblasst, allem Sein, auch dem in ihm steckenden Bösen, einen zureichenden Grund zu geben. Hegel verspottete Antigone und ihren Wunsch, den Bruder zu begraben, genauso wie er Maria Magdalena verspottete, als diese nach Jesu Grab suchte, und übernahm vollends die pneumatische Regel des Evangeliums, nach der die Toten ihre Toten begraben sollen und der Geist in der Welt der Lebendigen weiter schreiten soll. In Umkehrung der schwarzen Rubedo, in dem das Gedicht Chymisch kulminiert, wird das Wort Fleisch – in der Gestalt eines Leichnams. Das Wort war für Celan eine Leiche – nicht aber im vanitativen Sinne der Resignation, sondern durch das Bewusstsein des einzig möglichen poetischen

35 Vgl. Jacques Derrida: Archive Fever. A Freudian Impression, übers. v. Eric Prenowitz, Chicago 1996. 36 Celan 2005, S. 134. 37 Für diesen Hinweis danke ich Paweł Piszczatowski.

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Erfolgs.38 Celan äußerte wiederholt, dass Chymisch zusammen mit einem anderen Gedicht aus dem Band Die Niemandsrose, Tübingen, Jänner, zusammen gelesen werden müsse. Das Tübingen-Gedicht endet mit dem gespenstischen Lallen des wahnsinnigen Hölderlin: »Pallaksch, Pallaksch«.39 Es sind dies eben die Leichen-Wörter, Wörter in einer zerstreuten Form der Aschen (immer im Plural, in der Wiederholung), Trümmer von Sinn, und gleichzeitig alles, was nach dem Brandopfer des Geistes, der stürmisch durch die Welt ging und nur noch verkohlte Materie hinterließ, übrig blieb. Hölderlin, der Sänger eines geistigen Fiebers, und Hegel, der diesen Rausch des Geistes in den Dienst der Geschichte stellte, erscheinen hier gemeinsam als (Anti-)Helden der Celan’schen Antialchemie: Die schwarze Rubedo, die Celan sich als das Finale des chymischen Prozesses erträumte, hätte auch Grisedo heißen können, das graue Werk, das Aschengold.40 Es wäre dann die Rede des stummen, sich nun aber artikulierenden Traumas. Celans poetische Alchemie geht also nicht den Weg einer Hegel-cum-Hölderlin’schen Sublimation, sondern den der Desublimierung: die Inversion der Sprache, die in seinen Gedichten geschieht, sublimiert keine Dinge zu Begriffen, tötet keine Singularität zu Gunsten des Triumphs des Geistes, sondern verfolgt einen anderen »königlichen Pfad«: Das Wort ist ein wiedererlangter und offen gelegter Körper, der sich erneut aus den luftartigen Aschen als Seelenringe materialisiert: Alle die Namen, alle die mitverbrannten Namen. Soviel zu segnende Asche. Soviel gewonnenes Land über den leichten, so leichten Seelenringen.41

Ähnlich wie im ersten alchemischen Gedicht wird auch hier das Gold des Schweigens gekocht: »Schweigen, wie Gold gekocht, in / verkohlten Händen«. Aus der Asche Gold, Gold in der Asche, Asche, die Gold ist, Aschenglorie: taubes Verstummen, das sich in das bedeutungsvoll geschwollene Schweigen verwandelt; das Trauma, das sprechen lernt. Die gesamte geheime Transmutation betrifft diese eine Opposition, die bereits Scholem in seinem Klage-Essay be38 Im Gedicht »Nächtlich geschürzt« aus dem Band Von Schwell zu Schwelle heißt es: »Ein Wort – du weißt: / eine Leiche«, in: Celan 2005, S. 80. 39 Celan 2005, S. 133. 40 Auch diesen Hinweis verdanke ich Paweł Piszczatowski. 41 Celan 2005, S. 134.

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schäftigte, wo die als Folge einer tragischen Verletzung einsetzende Verstummung sich in sich selbst konzentriert in der Hoffnung, dass sie sich in ein Schweigen verwandeln kann, das – im Unterschied zu allen Sprachen der Welt – keinen Fall erlitt.42 Nur scheinbar ist hier eine Analogie zu Heideggers Interpretation von Trakls Gedichten in Unterwegs zur Sprache da: während nämlich die schweigende Matrix der Sprache, die ringende Stille, bei Heidegger die Rede des Seins selbst ist, die in der Nichtigung der Seienden erscheint, markiert das Schweigen bei Scholem den Punkt des Widerstands gegen einen die Sprache(n) als solche betreffenden Fall. Während die poetische Reduktion auf das Schweigen bei Heidegger den Rückzug ins Sein nachahmt und dadurch die Wahrheit der ontologischen Differenz bezeugt, ist dieselbe Reduktion für Scholem ein Akt der Läuterung, der Wende und der Abwehr gegen die natürliche Tendenz der Sprache, immer tiefer zu fallen. Unter der gleichen Schirmherrschaft des Zimzum steht auch Celans Alchemie: Sie ist eine Kontraktion zu einem Nichts, ajin, das sowohl das Ende als auch den Anfang der Erneuerung der Sprache kennzeichnen kann: unter der Bedingung, dass diese neue Sprache aus Wörtern »nach dem Bilde des Schweigens« bestehen wird und sie die traumatische Matrix nicht verlässt, aus der sie geboren wurde. Königsschwarz, wie der Titel eines der Inedita, die nicht in den Band Mohn und Gedächtnis aufgenommen wurden: der »königliche Weg« führt nicht vom schwarzen zum roten Werk, sondern er bleibt bei der Schwärze, in der Glorie der Aschen selbst. »Nach dem Bilde des Schweigens« zu sein, bedeutet für das Wort, dass es sich der Versuchung von Restitution und Genugtuung entziehen muss, dass es zögern muss, um zeugen, und nur zeugen, zu können. Es muss logoklastisch, oder, wie Celan es in den Meridian-Notizen nannte, »misologisch« sein.43 In dem Celan gewidmeten Essay Die Sekunde der Inversion konzentriert sich Werner Hamacher auf diese charakteristische Misologie und verweist auf die poetische Trope der Paronomasie, die von Celan angewendet wird, um das Wort mit einem anderen zu schlagen und dadurch den Effekt eines ständigen Stolperns und Fallens der Sprache zu erzielen. Was jedoch die Wörter gegen diese fallende Bewegung in einer verdeckten Weise stützt, ist das Schweigen, das – wie Scholem sagt – dem Fall der Sprache standhält und unberührt bleibt. Wir lesen bei Hamacher : Ist in der expliziten Paronomasie die Alteration manifest und die semantische Destabilisierung auf den geringen Umfang der im Text selbst erscheinenden Wörter begrenzt, so bleibt das korrespondierende Wort in der inexpiliziten latent, seine Gestalt ungewiß, und setzt alle Wörter des Textes der Möglichkeit aus, bloße Alterationen 42 Vgl. Scholem 2000, S. 133. 43 Vgl. Celan 1999, S. 91.

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verlorener Paradigmen zu sein, die sich der rationalen oder divinatorischen Rekonstruktion hartnäckig entziehen. Jedes dieser Worte stellt sich – wenn nicht ausschließlich, so doch zunächst – als Entstellung eines verschwiegenen, a limine als Übertragung eines unverlautbaren, eines geschwiegenen dar. Von ihnen gilt, was Celan in einem Gedicht auf ein vergessenes Wort schreibt: Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging, / ein Wort nach dem Bilde des Schweigens, / […].44

Diese paronomasische Verstreuung der Worte erlaubt es – freilich nie direkt, sondern immer nur gegenstrebig –, das Schweigen zu artikulieren, das im Unterschied zur Sprache, der »Figur des Sturzes«45 hartnäckig »ungestürzt« bleibt, indem es sich aus der einfachen Expression im Akt des poetischen Zimzum zurückzieht. Das Hervortreten dieses Wortes »nach dem Bilde (celem, A. B.-R.) des Schweigens« – des latenten und ewig ankommenden Wortes – gibt die letzte Hoffnung auf die Möglichkeit einer anderen, »nicht gefallenen« Sprache, die jeder reparativen Inversion standhalten kann, der Inversion des Nichts in Sein, der Krise in Versöhnung, des Traumas in Therapie, und die dennoch – wie jede Sprache – ein Inversionsinstrument bleiben wird, das nun aber einer anderen Wende dienen soll. Die neue Umkehr wird nämlich nicht mehr darauf ausgerichtet sein, die zerschlagene Totalität zu reparieren und zu bestätigen, sondern wird der Sprache erlauben, direkt aus der traumatischen Verstummung und dem unreparablen Verlust hervorzutreten und dabei deren fundamentalen Widerstand gegen die Artikulation beizubehalten. Celans mit Leerstellen des Schweigens durchsetzte Sprache wird dadurch eine linguistisch gesicherte Antitheodizee: sie konstituiert die endgültige sprachliche Unmöglichkeit eines jeden Versuchs der Theodizee, die immer danach strebt, das Schweigen von Verlust, Krise und Trauma in das Wort der Reparation umzukehren, und spricht dabei die Totalität, innerhalb derer es zu der tragischen Krise kam, von ihren Sünden los. Nur wenn eine derartige reparative Inversion dauerhaft blockiert bleibt, kann die Sprache auf ihre Restitution hoffen: in der getreuen Mimesis des nicht gefallenen Schweigens.

Antitherapie Und doch ist dieses logoklastisch-misologische »Wort nach dem Bilde des Schweigens« nicht nur reine Negativität, wie Hamachers – unter starkem Einfluss des »todbringenden Apolls« und »Meisters aus Belgien«, Paul de Man – stehende Analyse suggerieren könnte. Dieses Wort, obwohl es eine einfache Inversion des Schleims ins Gold (von Schleim in Gold?) vermeiden will, besitzt 44 Hamacher 1998, S. 341. 45 Ebd., S. 340.

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auch seinen Vektor von Versprechung und Hoffnung, der auf ein Du verweist: den Meridian, der »von dir zu dir« verläuft, »alle unsere Daten« durchschneidet und die Trajektorie einer möglichen Begegnung markiert. Wollte man an Celans Gedichte die Freud’sche Definition der Psychoanalyse: Wo es war, soll ich werden anwenden, müsste sie einer wesentlichen Korrektur unterzogen werden: Wo Es war, soll(st) Du werden: wo der »große, graue« Schatten des Traumas alles beherrschte, taub und anonym wie L8vinas’ gespenstisches il y a, soll ein Du erscheinen, persönlich und singulär, menschlich und fremd zugleich, anders, ja »ganz anders«, dem man dennoch begegnen kann und das ansprechbar ist wie der dialogische Gott »für uns« Woloszyners und Rosenzweigs. Obwohl also Celan nicht aus der Position des Ich schreibt, so schreibt er auch nicht aus der Position des Du: seine Poesie ist keine 8criture de d8sastre, Blanchots Schrift des Desasters, die eine unpersönliche Perspektive der zerstreuten Aschen annimmt. Celan verbindet scheinbar vieles mit Blanchot. Beide schreiben in einer völlig verbrannten Welt, in der Welt-nach-dem-Brandopfer ; beide hegen eine Hoffnung auf Begegnung/Freundschaft (Blanchot unter bewusstem Einfluss L8vinas’); beide sind misstrauisch gegenüber einem triumphalen auktorialen Subjekt. Blanchot greift sogar einmal nach der Metapher des Zimzum, als er von der Kunst als Rückzug und nicht Expansion spricht, nach dem Bilde des Lurianischen Gottes, der allein durch die Ausschließung seiner selbst schöpferisch ist.46 Und doch scheint das von Blanchot gewählte (oder, wie er sagt, von etwas in ihm, das nach der Selbstausschließung und Desubjektivierung übrig blieb, präferierte) Idiom des Neutrums, das der Position des Es entspricht, von Celans sprachlichem Gestus weit entfernt zu sein: vielleicht gerade deswegen, weil bei Blanchot, anders als bei Celan, keine messianischen Töne mitklingen.47 Derrida, der deutlich dazu tendiert, Celans Zeugenschaft in die Bahn der desastralen, dunkelsternigen Einflüsse Blanchots zu ziehen, schreibt zum Gedicht Aschenglorie: Cendres-la gloire (Aschenglorie) rather than Gloire de cendras (Glory of ashes). »Ashes« is always in the plural here, of course: ashes never gather together their dis46 Vgl. Blanchot 1986, S. 13. 47 Blanchot unterscheidet sich auch darin von Celan, dass er nicht ganz der Versuchung entgehen kann, von einer »Gabe der Shoah« zu sprechen, obwohl er davor zögert, es direkt zu tun (worin er sich als direkter Vorläufer Giorgio Agambens platziert, der uns in Was von Auschwitz bleibt ebenfalls eine eigentümlich umgekehrte und trotzig perverse »AuschwitzLektion« erteilt): »Der unbekannte Name, außerhalb jedes Benennens: Der Holocaust, […] an dem die Bewegung des Sinns sich abgenützt hat, in dem die Gabe ohne Mitleid, ohne Zustimmung vernichtet wurde, ohne dem Nichts einen Ort zu geben, der sich selbst affirmieren oder negieren könnte, Gabe der Passivität selbst, die Gabe dessen, was man nicht schenken kann.« Ebd., S. 64.

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semination, and that is exactly what they consist in. They consist in no consisting, in losing all consistece. They have no more existece; they are deprived of any substance that gathers together and is identical to itself, deprivet of any self-relation, any power, any ipseity.«48

Diese Charakteristik passt hervorragend zum Celan’schen Es, das auf das Niveau eines subexistenziellen Niemandsseins hinuntersinkt, von Gott und Sein verlassen: Gleiches gilt auch für das Neutrum Blanchots, seine Niemandsschrift aus Wirrwarr-Tönen, die sich direkt aus der dekreierten Welt in Aschen und Trümmern ergießen, aus dem Herzen des Traumas, für die niemand, oder Niemand vielleicht, zeugt. In Pas au del/ schreibt Blanchot von Worten, die man immer wieder aussprechen muss, jenseits von Tod und Leben, damit sie von der Anwesenheit des Zeugnisses zeugen.49 So bleibt der Zeuge – »ich, den’s getroffen hat, ich, den’s nicht getroffen hat« (Gespräch im Gebirg), weder ein Geretteter, noch ein Vernichteter – für immer in der aporetischen Falle stecken, dauernd dem/den Tod zu wid/erfahren, um ihn zu bezeugen, da er ihn nicht ganz erfahren hat. Das Bezeugen ist hier ein stehengebliebenes, möglich-unmögliches Widerfahren, das sein eigenes Subjekt destruiert: es gibt kein solches Ich, das von seinem Tod hätte schreiben können. Es gibt aber das Es, die Sphäre des Neutrums: eine Niemandssprache, die die disseminierten Aschen mit sich trägt. Und obwohl Celan – behüte Gott! – kein »linguistischer Vitalist« ist (auf diese »gottesfürchtige« Art und Weise spricht sich Derrida von allen möglichen Assoziationen mit dem Vitalismus los50), so ist ihm doch Blanchots Wende zu Thanatos, diese zu einfache Antigonie, fremd. Celan bleib trotz alledem Alchemist, der mit Leben und Tod ein kompliziertes Spiel führt; und er ist auch Agonist, der gegen sein Trauma ringt, um ihm nicht ganz zu verfallen. Die Schrift des Desasters wäre für ihn (wie auch für Bloom) eine Kapitulation, identisch mit dem, was Emil Fackenheim »to give Hitler a posthumous victory« nennt.51 Es bedeutet zwar nicht, dass sich bei Celan direkt Fackenheims kidusch ha-chaim, die »Heiligung des Lebens« vollzieht, dem mörderischen Willen der Welt zuwider und entgegen, die Juden aus dem Sein auszulöschen. Aber dieses »zuwider« und »entgegen«, in Celans »Hereinstehen« (in-sistere) anwesend, weist deutliche Züge von vitalem Widerstands und sturer Hartnäckigkeit auf. Ihr Vektor ist jedoch nicht das Bloom’sche Bemühen, sich als ein starkes auktoriales Ich zu setzen, das in der Nietzscheanischen Geste jedes Trauma in den eigenen Sieg umkehrt, sondern eine ganz neue Subjektposition: die eines Du. 48 49 50 51

Derrida 2005, S. 92. Vgl. Maurice Blanchot: The Step Not Beyond, übers. v. Lycette Nelson. Albany 1992, S. 107. Vgl. Jacques Derrida: »Language is Never Owned: An Interview«, in: Derrida 2005, S. 103. Vgl. Emil Fackenheim: To Mend the World. Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought. Bloomington 1994.

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Diese Transformation – einer Fremdheit in eine andere, der Unheimlichkeit des eigenen, des die Stimme verschlagenden Traumas in die anregende Andersheit des Anderen, das man ansprechen möchte – ist die einzige Umkehr, die Celans Sprache zulässt: die einzige Wende und zugleicht die einzige Variante der Erlösung. Wenn also Celan eine Spur von poetischer Theodizee akzeptiert, in der das Trauma zu einem Element positiver Bestimmung wird, so tut er dies ausschließlich zu Gunsten dieser einzigen Hypothese: nur als derjenige, der von der Wirklichkeit so verwundet wurde, kann er nach dieser Wirklichkeit so insistent suchen. Nur als derjenige, der die blinden Schläge des kontingenten und grundlosen Es erfuhr (und Erfahren soll hier mit Fichte als Er-leiden verstanden werden), kann er derjenige sein, der will, dass die Wirklichkeit zu ihm spricht, diesmal in der Gestalt eines Du. Die Relation heilt keine Wunden, ganz im Gegenteil. Sie ist ein Revers der Wunde: die Wunde nach der Wende. Es kann hier nicht einmal von Spuren einer Therapie die Rede sein. All diese Anhaltsmomente und Atemwenden geschehen im Rahmen eines Metabolismus, den wir – nach Jean-Luc Nancy – als Zustand der Exposition bezeichnen könnten. Genauso gut passt hier auch L8vinas mit seiner Konzeption der radikalen Passivität, die passiver ist als jede Passivität und dabei jede durch ein Ich signalisierte Verfassung des Subjekts unterläuft, die L8vinas nur im Akkusativ auszudrücken weiß – als moi. In dieser Konzeption des »traumatisierten Subjekts«, wo der ganze Prozess der Subjektion um die fundamentale Wunde kreist, diese »Graue, Große«, die ganz nah und gleichzeitig ungreifbar, wie Lacan sagt, extem ist, ist das Subjekt nichts anderes als nur ein Ort permanenter Exposition, eines ständigen Ausgesetzt-Seins. Anders jedoch als Lacan (aber auch L8vinas, leider), bei denen nie ein lebendes Du erscheint,52 und dem Subjekt, das gerade seine Verfassung erkannte, bleibt nichts anderes übrig, als ins schwarze Loch seines Traumas, das es gegründet hat, hinunter zu sinken und eine »Destitution« vorzunehmen, schimmert bei Celan die Chance auf eine neue Wende, ins Neue schlechthin. Während nämlich bei Blanchot und L8vinas das Subjekt für immer in der Falle seiner »Vorzeitigkeit« stecken bleibt wie ein Objekt, das sich im Gravitationsfeld eines schwarzen Lochs befindet und ewig über die gleichen »endlichen Bahnen« (wie der erschrockene William Blake zu sagen pflegte: »finite revolutions«53) kreist, führt bei Celan eine ähnliche kreisförmige Bahn, der Meridian, der literarische und geographische Tropen durchkreuzt, zu einer Begegnung. Das Subjekt ruft die Gespenster der Vergangenheit hervor: etwas, was Derrida fu52 Letztendlich ist doch L8vinas’ »Antlitz des Anderen« nichts anderes als ein Memento, eine retraumatisierende Begegnung des großen Er, die – deswegen gerade, das es ein Er und nicht ein Du ist – nie eine Begegnung war. Vgl. insbesondere Emmanuel L8vinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg/München 1991. 53 William Blake: The Selected Poems, Hertfordshire 2000, S. 253.

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turit8 nannte. Es verlässt die Bahn, lässt nicht zu, dass die Tropen dauernd nur das ungreifbare Es des Traumas permutieren; es erzwingt ein Clinamen. Diese Abweichung, die »mich von mir« entfernt, mir, der ich in mein Nichtsein versinke, führt mich auf »Umwegen von dir zu dir«, wird durch die starke Präsenz des Du bewirkt – einer Präsenz und eine Gegenwart, die Celan so emphatisch betont, wenn er sich scheinbar nur aus Höflichkeitsgründen an das Darmstädter Publikum wendet: »Meine Damen und Herren, […] in Ihrer Gegenwart […]«.54 Auch wenn jedes Gedicht also, wie ein Meridian, »eine Art Heimkehr ist«, sieht dieses Heim bei der Rückkehr anders aus als zuvor, es wird durch die magnetische Kraft der Begegnung, von dem Un-Ort des stummen, grauen Traumas an den »Ort auf der Landkarte« verschoben, den man mit dem Finger berühren kann. So wie die unmenschliche Fremdheit des Traumas sich in eine menschliche Andersheit des Du verwandelt, so verwandelt sich auch der einsaugende und verschlingende Un-Ort des Traumas in die U-topie der Begegnung, dank der das Ich aus dem Es hervortritt, aus seinem Nicht-Sein. Wo Du bist, soll auch ich werden. Wo Du bist – utopisch, plötzlich, anarchistisch, jenseits von Recht und jedem Kalkül der Erwartung – dort kann auch Ich sein. Keine Destitution also, sondern eine Relation erweist sich als die »Erlösung« des traumatisierten Subjekts. Diese Hoffnung auf Erlösung, keine Therapie sondern Rettung, die auch Heil bringt, allerdings nicht um den Preis des Vergessens, das Ruhe bedeuten würde, verlässt Celan nicht – bis zuletzt, wörtlich: bis zum letzten Gedicht. Du sei wie du und Wirk nicht voraus, zwei letzte Gedichte aus dem Band Lichtzwang, verdienen einen Kommentar, der die berühmte Aussage des Behemot in Bulgakows Der Meister und Margarita ins Gedächtnis ruft, die hier durch Inversion paraphrasiert seien: »Er hat sich die Ruhe nicht verdient, nur das Licht«.55 Würde man die beiden Gedichte, ihrerseits schon sehr kontrahiert, in eins zusammenziehen, indem man das Incipit des ersten mit dem Schlussvers des anderen zusammen lesen würde, ergäbe sich daraus ein Vermächtnis, das wie ein Credo klingt, Celans A und O: »Du sei wie du, immer« – und: »nehm ich dich auf, / statt aller / Ruhe«.56 Die apophthegmatische Finalität der beiden Aussagen betonen die Punkte an ihren Enden: im Unterschied zum Kolon – starke und abschließende Pausen. Ein Imperativ und ein Bekenntnis, das aus ihm resultiert. »Du sei wie du, immer« – und ich nehme Dich auf, verinnerliche Dich, statt aller Ruhe. Es kann auch anders gelesen werden: Oh Trauma, bleib ein Trauma, meine innere ewige 54 Celan 1999, S. 12. 55 Vgl. Michail Bulgakov : Der Meister und Margarita, übers. v. Eric Boerne. Norderstedt 2012, S. 365. 56 Celan 2005, S. 304–305.

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Entzweiung, ich will ruhelos und dem Du ausgesetzt bleiben – und ich werde immer mit Dir (nicht) einverstanden sein und jede therapeutische Ruhegabe ablehnen. Celan kannte selbstverständlich C. G. Jung, dessen Lektüren ihn beim Schreiben seiner alchemischen Gedichte begleiteten, aber man sollte auf die – in diesem Fall – zu einfache Interpretation dieses Vermächtnisses im Sinne von Jungs »Verinnerlichung des Schattens« eher verzichten: alleine schon weil eine solche Verinnerlichung des (eigenen) Schattens (hebr. cel) für Jung eine dezidiert therapeutische Funktion hat, da sie es erlaube, im Rahmen eines versöhnten Ich die innere Ruhe wieder zu finden. Celans Ich kann nie zu einem Jung’schen Mandala werden (deren verzerrtes Echo im Gedichtstitel Mandorla mitschwingt), denn es wird nie ein Ich werden können: Celans Gedichte sind nicht aus der Position des Ich geschrieben. Wenn in diesem poetischen Omega überhaupt eine Schatten-Spur der Erfüllung erscheint, so müsste man sie eher »das Ankommen des Schattens« nennen: die endgültige Materialisierung des Namens Cel-an, wo der Schatten – cel – seine An-Kunft verkündet, nach der VorSchrift. Vor-Schrift bedeutet hier Schrift, die davor war ; bedeutet gute Nachricht, die älter ist als die Evangelien, was ganz einfach die Hebräische Bibel meinen kann, oder aber auch noch ursprünglichere gnostische Schrift des Nichts, des Abgrunds und des Schweigens (»durchgründet vom Nichts«). Es bedeutet aber auch Vorschrift als Anordnung einer Methode poetischer Idiomität, kenotischer Schrift, einer Geste der Erniedrigung also, einer Kontraktion, die den Namen Fleisch werden lässt. Als Celan diese Gedichte schrieb, hat er sich sehr intensiv mit Meister Eckhart auseinandergesetzt, einem weiteren Meister aus Deutschland, der – ähnlich wie Heidegger – ein thanatischer Meister war, indem er den »guten Tod« durch Gelassenheit, einer nirvanischen Auslöschung also, lehrte. Meister Eckharts Predigten sind in beiden Gedichten präsent und dienen vor allem als Anlass zur Polemik: Celan verweigert letztendlich die erleichternde »Befreiung« im Sinne der Gelassenheit, und stößt das Eckhartisch-Jung’sche Gebot des Rückzugs in die Tiefen des eigenen Ich, dass mit der abstrakten Gottheit identisch ist, ab. Der Ichheit und Meinigkeit, die der deutsche Idealismus von Meister Eckhart geerbt hat, stellt Celan eine Du-heit entgegen, die er auch auf die transzendentalen Bereiche projiziert: Celans Gott ist die fundamentale Du-heit. Eine frühere Version des Incipits des ersten Gedichts war beinahe dessen Revers, der zum Eckhart’schen Idiom der negativen Theologie sehr gut passen würde: »Nichts ist wie du, nirgends«.57 Nach tieferer Überlegung verwandelte Celan jedoch den Indikativ in einen Imperativ und verlieh ihm ein stark kataphatisches Gepräge, indem das räumliche »nirgends« durch das temporale 57 Paul Celan: Lichtzwang. Vorstufen – Textgenese – Endfassung, hg. v. Heino Schmull. Frankfurt am Main 2001, S. 176–177.

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»immer« ersetzt wird. Bereits diese Verschiebung signalisiert ein Clinamen gegenüber der statischen, von Ruhe erfüllten Vision Eckharts, in der ein Stillstand herrscht, das ein jedes Geschehen, jede Temporalität und Geschichte anihiliert. Das Ich und der Stillstand, wo jede Bewegung sich als scheinbar erweist, da alles am Ende aus der Matrix der Ichheit hervorgeht und zu ihr auch wieder zurückkehrt, kontrastiert Celan mit der Du-heit und einer fundamentalen Entzweitheit, wo alles, seinem Wesen nach, nicht identisch ist und sich dadurch dem Schicksal der Geschichte aussetzt, eines unaufhörlichen Geschehens, dessen Ausgang keineswegs voraussehbar ist. Mit Meister Eckharts Gelassenheit angesichts der transzendentalen Bestimmtheit überlagert sich hier die vitale Dynamik der Vision Isaak Lurias, in der Gott von Anfang an durch einen inneren Konflikt entzweit ist und kein Pleroma bildet, zu der man – im Akt einer neuplatonischen, Eckhart’schen Regressio – zurückkehren könnte. Der Vektor des tikkun, einer reparativen Erlösung also ist hier notwendigerweise proleptisch: die Versöhnung, wenn überhaupt möglich, liegt allein in der Zukunft. Tikkun bedeutet dann keinen Rückzug in die transzendentale unbewegliche Stille, zu den Quellen des göttlichen Ich, sondern realisiert sich in einer entgegengesetzten Bewegung: durch das Aufnehmen jeder Entzweiung, jedes Traumas und das Zusammenfügen der zerstreuten Totalität zu einer dialektischen Einheit, wo jedes abgetrennte Teil des Seins aus dem anonymen und wie Aschen zerstreuten Es hervortreten und ein Du und Adressat der reparativen Wende werden muss. Gerade weil es kein großes Ich gibt, das alles in seiner fundamentalen Ursprünglichkeit verknüpfte; gerade weil keine metaphysische Garantie einer Allversöhnung existiert, ist die Investition in die Du-heit unabdingbar, eine Investition, der die Möglichkeit inhäriert, jedes abgetrennte Es in ein Du, ein Subjekt der Annäherung, Begegnung und Dialogführung zu verwandeln. Gottes Antlitz, das am Ende der Zeiten aus all diesen reparativen Wenden womöglich hervortreten wird, wird demnach kein Mandala des großen Ich sein, sondern eine Konstellation der Begegnungen, die – wie die Nächstenliebe bei Rosenzweig – die ganze Erde umkreist haben. Dieses Antlitz der Erlösung, das im Hebräischen nur in der Pluralform als panim existiert (ähnlich wie Derridas Aschen, die in panim wiederauferstehen), wird wahrhaftig das Gesicht aller Gesichter sein: einer Konstellation aller möglichen »Gesichter des Anderen«. Sie ist es, die als das Ewige und Geistige Jerusalem aus der Prophezeiung Jesajas und der Predigt Eckharts erscheint, das sich endlich erheben und leuchten soll: »kumi, ori«. Die King-James-Bibel gibt das erhaben wirkende »kumi, ori« Jesajas als »Arise, shine« wieder, einer Phrase, die wie Hunderte anderer Beschwörungsformeln aus der Bibel in einer gar nicht erhabenen Form als »Rise and shine!« in die englische Alltagssprache hineinwuchs, womit man zu lange schlafende Menschen dazu bewegt, aufzustehen und endlich mit den Tagesaktivitäten zu

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beginnen. Dieses bescheidene, wenig subtile »kumi, ori« würde wohl Celans Idiom entsprechen, das hohe geistige Register meidet. Das Ich steht auf und entzündet sich nur gegenüber einem Du, das es anruft. Ohne das Du erlischt das Ich. Es fällt in sich hinunter, in den bösen Stillstand des Traumas, in den inneren Tod, in eine stumme Versteinerung. Wenn also Celan immer wieder sagt, dass es Zeit sei, »daß der Stein sich zu blühen bequemt«58 dass »der versteinerte Schwur«59 aufblüht, so drückt er damit auch eine Hoffnung auf eine Begegnung aus, in der das Du auflebt und als bereits Aufgelebtes auch das Ich zum Aufleben bringt: die lebende Präsenz gebiert erneut ein Leben, das sonst – mit dem Trauma belastet – in das Totsein und das zerstreute eingeäscherte Es, wo es war, zurücktritt. Die Begegnung lässt das tote Ereignis aufleben und bewirkt, dass wieder etwas geschieht; die Lähmung tritt zu Gunsten eines lebhaften Geschehens zurück, der Geschichte eines – wie verzweifelt auch immer – geführten Dialogs. Deswegen hat Derrida kein Recht, wenn er so entschieden von der »Einsamkeit des Zeugen« spricht. Es ist wahr, niemand zeugt für den Zeugen, auf den es fiel, dass es nicht auf ihn fiel, und der – im Schatten dieser Sekretheit und dieses Widerspruchs – »weiter leben« (sur-vivre, live-on) muss. In der Auffassung Derridas dominiert diese zurückgezogene Einsamkeit des Zeugen letztendlich immer über die Wende zum Du, auf das sich Celans Gedicht öffnet und dem es die Hand drücken will, weil es ihm vertraut hat. Dieser Akt des kleinen Glaubens, wertvoller als jede Sicherheit und jeder Beweis, ist jedoch, was dem Zeugen das Leben wiedergibt. Und gleichzeitig ist es keine therapeutische Geste: Die Relation zum Du ist der einzige Modus eines »Weiter-Lebens«, frei von der Versuchung einer therapeutischen Beruhigung und weiterhin unter »Wörtern, die nicht heilen wollen«. Noch einmal soll hier die Dialektik des göttlichen Ajin, herangezogen werden, jenes »Nichts der Offenbarung«, in dem Gott sein Zimzum vollzieht, nicht aber zum Zeichen von einem unüberwindbaren ( …aber als Ausdruck eines unüberwindbaren?) »Tod Gottes«, sondern im Sinne eines anabiotischen Rückzugs und scheinbaren Absterbens, in dem Gott immer noch den Rang des Erscheinenden beibehält. Celans Gedichte sind in ähnlicher Weise anabiotisch und scheinbar abgestorben, und dadurch gerade richten sie sich umso insistenter auf das Du aus, das die einzige Instanz ist, die ihm das Leben zurück geben kann. Eine solche Poetik des Zimzum, als maximale Verengung, Stretto und Anabiose meint wohl Celan, als er in seinen Meridian-Notizen schreibt, dass das Gedicht durch »den heutigen Wust […] auf uns, auf jeden von uns zu[geht]«, »ausgerüstet wie die ägyptischen Mumien mit allem fürs Leben Notwendigen(n)«.60 Das 58 Celan 2005, S. 39. 59 Ebd., S. 198. 60 Celan 1999, S. 121.

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Gedicht, das das argumentum ex silentio kennt und dessen Gott der sich immer entziehende deus absconditus ist, ist als ein zu einem Monogramm zusammengeschrumpftes Leben, ein einziges in der quintessenziellen Überdauerungsform aufbewahrtes Schriftzeichen (Lebensschrift), das jederzeit bereit ist aufzuleben (daher auch wohl die gerade zu Benjamin’sche Anhäufung der Potentialitäten bei Celan: Erlebbarkeit, Besetzbarkeit, Aktualisierbarkeit).61 Das Gedicht ist also in seiner Schrift-Form quasi-tot, abgestorben, aber im Wesen lebensfähig und lebensbereit, was als ein deutliches Clinamen gegenüber der Todesbereitschaft Heideggers gelesen werden muss. Und nicht nur gegenüber Heidegger, sondern proleptisch auch gegenüber Derrida, der – zumindest in der ersten Phase der Entwicklung seiner dekonstruktivistischen Doktrin – die lebendige Stimme aus dem Spiel ausklammern wollte. Im Gegensatz dazu schreibt Celan: »In jedem Gedicht wartet die Sprache als Stimme«.62 Sie wartet – um wieder aufzuleben. Ein Sein-zum-Leben also? Etwas Ähnliches hatte bereits Spinoza im Sinn: Dass der Tod und die Sterblichkeit dem Leben dienen, in dem sie paradoxerweise zu seiner Eternalisierung beitragen. In der Verengung stirbt nämlich alles, was sterben kann, damit dieses Etwas, das bleibt, und was die Dichter stiften, dieses unzerstörbare Steinchen am Grund des Gedichts, nie stirbt. Diese lapidare Kondensation stützt sich auf ein Paradox: sterben, um zu überleben. Potenziell unsterblich ist in uns nur das, was anders lebt als das Leben der Pflanzen und Tiere, anorganisch, im Gravitationsfeld des Todes und des Totseins: steinartig, niedergeschrieben, wie eine Grabinschrift. Ist es nicht jenes ad absurdum, zu dem alle Tropen geführt werden wollen,63 indem sie sich aufbäumen und dem Flux des natürlichen Lebens Widerstand leisten? Gleichzeitig aber schwingt in diesem absurdum auch etwas von Tertullians Glauben mit, der Natur der Dinge zuwider und entgegen, dem Glauben an die Begegnung mit einem lebensspendenden Du, das der in der Enge Ägyptens entstandenen und auf Unsterblichkeit angelegten Mumie, die Celans Gedicht ist, das Leben wieder gibt. *** Vielleicht aber beruht schließlich darauf der Glaube, diese Essenz des Glaubens schlechthin, die – wie das messianische Steinchen, am Grund aller abrahamitischen Religionen ruht? Darauf, dass die Welt endlich ein Gesicht bekommt? Dass es, statt nur ein zufälliges Zwischenergebnis von rasenden Schicksalskräften zu sein, die blind um sich herum schlagen, zu etwas wird, was sich jedem unper61 Ebd., S. 142. 62 Ebd., S. 145. 63 Vgl. ebd., S. 10.

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sönlichen Fatum widersetzen wird: dass es für Jemand, Sinn und Begegnung Raum schafft? Dass es an Stelle von tauber Gewalt, auf die man nur mit Verstummung antworten kann, zur Bühnenpartie eines realen Gesprächs wird, wo es nicht sinnwidrig sein wird, Klage zu erheben und Hiobs Frage auszurufen, warum mir Unrecht geschieht? Sogar das manchmal: nichts mehr und nichts weniger, als allein die Möglichkeit dieser Frage, scheint die Erlösung zu sein.

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Konturen einer nicht gefallenen Sprache bei Celan

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Übersetzt von Paweł Piszczatowski

Adam Lipszyc

Die Wiederkehr des K

Celans Die Niemandsrose, einer der bedeutendsten Gedichtbände aus seiner mittleren Schaffensperiode, wurde dem Andenken Ossip Mandelstams gewidmet. Die frühesten Gedichte, die in diesen Band Eingang gefunden haben, entstanden im selben Jahr 1959, in dem Celan seine Arbeit an der Übersetzung einer umfangreichen Auswahl von Gedichten des russischen Lyrikers abschloss. Es darf also nicht verwundern, dass in einer ganzen Reihe der Texte aus dem Band offene oder verdeckte Anspielungen an die Person und das Werk Mandelstams erscheinen, mit dem Celan eine starke Verwandtschaft spürte. Einen dieser indirekten und unsicheren Verweise finden wir wohl im Gedicht Sibirisch, dessen Titel und Szenerie womöglich Anspielungen auf Mandelstams Schicksal sind – mit dem Vorbehalt freilich, dass Celan in der Zeit der Entstehung des Gedichts davon überzeugt war, dass Mandelstam letztendlich von den Nazis ermordet wurde. Das Gedicht lautet wie folgt: Sibirisch Bogengebete – du sprachst sie nicht mit, es waren, du denkst es, die deinen. Der Rabenschwan hing vorm frühen Gestirn: mit zerfressenem Lidspalt stand ein Gesicht – auch unter diesem Schatten. Kleine, im Eiswind liegengebliebene Schelle mit deinem weissen Kiesel im Mund:

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Auch mir steht der tausendjahrfarbene Stein in der Kehle, der Herzstein, auch ich setze Grünspan an an der Lippe.

Über die Schuttflur hier, durch das Seggenmeer heute führt sie, unsre Bronze-Strasse. Da lieg ich und rede zu dir mit abgehäutetem Finger.1

Von den seltsamen Gebeten ausgehend, die ein noch nicht identifizierbares Du zwar als die seinen erkennt, an denen es aber nicht teilhaben wollte oder konnte und sie daher in einer bogenartigen Schwebe verweilen lässt – in einer ungewöhnlichen, halb aktiven und halb desaktivierten Gestalt, im Zustand einer chronischen Krankheit, von der das Ritual nun befallen ist, betritt das lyrische Ich die gespenstische Landschaft der zweiten Strophe. Hier wird die Anwesenheit des geheimnisvollen, rabenschwarzen Sternbildes des Schwans, einer besonderen Konstellation des Mangels – es ist eine finstere Synthese der authentischen Sternbilder des Schwans und des Raben – allein durch die ausgelöschte Gruppe heller Sterne markiert, vor der das »Antisternbild« im Gedicht platziert wurde. Dieser dämonische Riesenvogel bedeckt mit seinem Schatten auch ein Gesicht – hier, auf Erden, ein Gesicht, auf das sich auch andere, nicht genannte Schatten legen – vielleicht die vergangener Ereignisse. Es soll aber wohl noch mehr, noch Stärkeres zu Ausdruck gelangen: der Rabenschwan blendet den Träger des Gesichts, der nun da steht und mit zerfressenen Augen in den eingedunkelten Nachthimmel starrt. Die Sehkraft wird genommen und die beiden nächsten Strophen des Gedichts bewegen sich im akustischen Register. Miteinander verbunden, und gleichzeitig durch den die dritte Strophe anschließenden Doppelpunkt voneinander getrennt, bilden sie ein Paar, initiieren einen Dialog, obgleich sie zugleich die Möglichkeit eines Gesprächs schlechthin in Frage stellen. Die kleine, irgendwo auf dem zugefrorenen Erdboden liegen gelassene Schelle ist alles, was von jemandes Mund – vielleicht von dem Mandelstams – übrig blieb. Dass das Wort »Schelle« ganz allein im dritten Strophenvers steht, betont nicht nur die absolute Isoliertheit des Gegenstands, sondern lässt auch Zweifel daran aufkommen, ob 1 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 144.

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diese Schelle überhaupt noch irgendeinen Klang hervorbringen kann. Der Klang wird sich bald freilich als möglich erweisen, es wird aber lediglich ein zufälliges Klirren eines kleinen Kieselsteins im »Mund« der durch den eisigen Wind bewegten Schelle sein. Der Kiesel ersetzt hier den Klöppel der Glocke, wie man es auf Polnisch sagt, ihr »Herz« (serce dzwonu; vgl. »Herzstein« in der nächsten Strophe), das im Russischen deren »Zunge« (jasyk) genannt und auf Hebräisch als »Zünglein« bezeichnet wird (inbal; auch als leschon ha peamon, als »Zunge«, die auch »Sprache« meint).2 Auf diesen Klang eben – auf den Rest deiner Stimme, vielleicht der Stimme eines anderen, brutal zum Schweigen gebrachten Dichters – versucht die Stimme des sprechenden Ich in der vierten Strophe zu antworten: jenseits des Doppelpunkts, des aus zwei winzigen Steinchen zusammengesetzten Zeichens. Eines von ihnen steckt in der Schelle – das andere in der Kehle des Ich. Dieser Umstand ermöglicht eine Antwort auf die Frage, ob es hier zu dem diachronen Transgenerationsgespräch zwischen zwei poetischen Stimmen kommt, oder nicht: Der Dialog kommt zustande, indem er abgebrochen wird, die Kommunikation mit dem Verlorenen besteht in ihrer Blockade. Nur mit einem Stein in der Kehle kann man sich an jemanden wenden, dessen Mund durch eine im Wind verlassene Schelle ersetzt wurde, mit einem Stein statt Herz/ Zunge. Hat aber das sprechende Ich sich den Stein zielbewusst in seiner Kehle platziert? Dem ist wohl nicht so. Das Herz, oder die Zunge der Schelle ist in der dritten Strophe der Kiesel. Dieses K, mit dem das Wort beginnt, und das wir – wie ich meine – mit dem Stein selbst gleichsetzen können, kehrt in der vierten Strophe wieder als der erste Buchstabe von Kehle. Das K – der Stein, der den Diskurs blockiert – wird somit zum integralen Bestandteil des Sprachapparats. Damit jedoch das (Nicht)Gespräch mit der nach Mandelstam übrig gebliebenen Schelle zu Stande kommen kann, muss dieses penetrant blockierende K in der eigenen Sprache gefunden werden, es muss den eigenen, zu glatt fließenden Diskurs verstören können. In diesem Sinne steckt dieses K seit je schon im Kehlkopf, und gleichzeitig muss die poetische Stimme nach ihm aktiv in ihrem eigenen Sprechen suchen – selbst wenn sie dadurch ihre Sprache blockieren sollte. Selbst wenn sie stockt und klemmen bleibt mit dem verkalkten Herz im Mund und »Grünspan an der Lippe«. Barbara Wiedemann suggeriert, das Bild eines in den Mund zu legenden Steins könne man mit Demostenes in Verbindung bringen und dessen Sprachübungen zur Überwindung des Stotterns mitdenken. Mit Steinen im Mund sprach Demostenes zu der Meeresbrandung. Darauf, dass diese Sprachblockade mit Stottern zusammenhängen kann, würde auch – so Wiedemann – der Umstand hinweisen, dass in einem späteren Gedicht Celans aus dem Band Schnee2 Für diese Hinweise bedanke ich mich bei Ilit Ferber, Piotr Pazin´ski und Agnieszka Podpora (alle von der Franz-Kafka-Universität Muri).

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part (Zur Nachtordnung) ein seltsamer »Weißkiesstotterer« erscheint, wobei das Wort, zerschnitten und auf zwei Verse verteilt (»Weißkies- / stotterer«), selbst stolpert und stottert.3 Dieser Verweis wiederum legt den Gedanken nahe, dass sich hier die griechische Logopädie mit der hebräischen Tradition verflicht, die ebenfalls ihren Stotterer kennt. Die Person Mose ist hier bestimmt ein wichtiger Bezugspunkt, worauf schon daraus zu schließen ist, dass in der fünften Strophe ein »Seggenmeer« erscheint, ein »Schilfmeer« also, wie das Rote Meer in der Bibel heißt. Indem das sprechende Ich den K-Kiesel in der K-Kehle findet, betreibt es eine besondere posthebräische Logopädie: Nicht um mit dem Stottern aufzuhören, sondern damit zu beginnen. Es ist kein Stottern, das Zeichen einer prophetischen Eingebung sein könnte, des Einbruchs der göttlichen Rede in den menschlichen Diskurs, wie das Stottern Mose durch Rabbi Nachman von Brazlaw interpretiert wurde.4 Nur indem man stottert, indem man am Grund seiner Stimme das penetrant blockierende K findet, kann man erst überhaupt versuchen, auf das Klirren der Schelle, die nach einem Opfer historischer Gewalt übrig blieb, zu antworten – diese Blockade ist gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit einer anständigen Sprache schlechthin. Es sieht danach aus, dass das stumme H, heimtückisch ins Deutsche eingeschmuggelt, sich manchmal zumindest zum gewaltsamen K erhärten muss. Es ist nicht sicher, ob dieser neue (Nicht)Moses, also die im Gedicht sprechende Stimme, überhaupt noch ein Volk um sich hat. »Unsere Bronze-Straße« führt heute jedenfalls durch die »Schuttflur«, durch ein versteinertes, oder zumindest versteinerndes Meer. Wiedemann suggeriert dazu, dass der herzförmige Echnit, eine fossile Form des Seeigels (calcus cordis – drei Ks auf einmal, nur in der Aussprache freilich) im Deutschen »Herzstein« genannt wird. Es steht nicht einmal fest, ob »wir« tatsächlich (unsere Bronze-Straße) über die Straße durch das Meer gehen, ganz bestimmt kann hier aber von keinem Wunder die Rede sein. Dieses »unser« Gehen – richtungslos und entleert – gleicht ganz dem Liegen. Im Liegen jedoch – wie der Erzähler in Celans Gespräch im Gebirg – kann das Ich, die mit Stein blockierte Stimme, endlich etwas sagen, sich mit jemandem – mit einem Du (mit Mandelstam, mit dem Leser) – auf eine gewisse Weise kommunizieren. Wenn aber die Augen zerfressen sind und die Stimme sich auf das zu findende K einstellt, auf das Potenzial des Stotterers, so geschieht diese letzte Kommunikation – keine prophetische Rede, sondern ein unsicherer und paradoxer Kontakt mit dem Verlorenen – weder im optischen, noch akustischen Medium, sondern in einem taktilen und extrem schmerzlichen. Das Ich spricht zum Du »mit abgehäutetem Finger«. Von der Hermeneutik, vom durch den

3 Vgl.: Celan 2005, S. 324, 691. 4 Für den Hinweis danke ich Galili Shahar (FKUM).

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Eingriff des penetranten K durchbrochenen Bedeutungskontinuum, geht Celan hier zu etwas über, was man seine schmerzhafte »Taktik« nennen könnte. Der Stein ist eine der Grundfiguren in Celans Dichtung und gerade in den Gedichten aus dem Band Die Niemandsrose gibt es besonders viele Steine. So kehrt dieser konkrete weiße Kieselstein in einem der den Band abschließenden Langgedichte wieder : Es ist alles anders, als du es dir denkst, als ich es mir denke, die Fahne weht noch, die kleinen Geheimnisse sind noch bei sich, sie werfen noch Schatten, davon lebst du, leb ich, leben wir. Die Silbermünze auf deiner Zunge schmilzt, sie schmeckt nach Morgen, nach Immer, ein Weg nach Rußland steigt dir ins Herz, die karelische Birke hat gewartet, der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm, was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab, mit Händen, du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken, du heftest die deinen an ihre Stelle, mit Händen, mit Fingern, mit Linien, – was abriß, wächst wieder zusammen – da hast du sie, da nimm sie dir, da hast du alle beide, den Namen, den Namen, die Hand, die Hand, da nimm sie dir zum Unterpfand, er nimmt auch das, und du hast wieder, was dein ist, was sein war, Windmühlen stoßen dir Luft in die Lunge, du ruderst durch die Kanäle, Lagunen und Grachten, bei Wortschein, am Heck kein Warum, am Bug kein Wohin, ein Widderhorn hebt dich – Tekiah! – wie ein Posaunenschall über die Nächte hinweg in den Tag, die Auguren zerfleischen einander, der Mensch hat seinen Frieden, der Gott hat den seinen, die Liebe kehrt in die Betten zurück, das Haar der Frauen wächst wieder, die nach innen gestülpte

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Knospe an ihrer Brust tritt wieder zutag, lebens-, herzlinienhin erwacht sie dir in der Hand, die den Lendenweg hochklomm, – wie heißt es, dein Land hinterm Berg, hinterm Jahr? Ich weiß, wie es heißt. Wie das Wintermärchen, so heißt es, es heißt wie das Sommermärchen, das Dreijahreland deiner Mutter, das war es, das ists, es wandert überallhin, wie die Sprache, wirf sie weg, wirf sie weg, dann hast du sie wieder, wie ihn, den Kieselstein aus der Mährischen Senke, den dein Gedanke nach Prag trug, aufs Grab, auf die Gräber, ins Leben, längst ist er fort, wie die Briefe, wie alle Laternen, wieder mußt du ihn suchen, da ist er, klein ist er, weiß, um die Ecke, da liegt er, bei Normandie-Njemen – in Böhmen, da, da, da, hinterm Haus, vor dem Haus, weiß ist er, weiß, er sagt: Heute – es gilt. Weiß ist er, weiß, ein Wasserstrahl findet hindurch, ein Herzstrahl, ein Fluß, du kennst seinen Namen, die Ufer hängen voll Tag, wie der Name, du tastest ihn ab, mit der Hand: Alba.5

Laut Barbara Wiedemann könnte man die ersten drei Teile des Gedichts – bis hin zu dem rätselhaften Eingriff der »Windmühlen« – als eine Meditation über den Akt der Übersetzung lesen. Vielleicht wäre die Übersetzung tatsächlich ein Prozess, in dem man jemandem etwas sagt, was dieser bereits weiß, und infolge dessen eine Selbstentfremdung zustande kommt, eine Art Identitätsvermischung beim Schreiben des Gedichts eines Anderen mit den eigenen Händen, 5 Celan 2005, S: 162–163.

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oder – was wohl noch schwindelerregender wäre – des eigenen mit den Händen eines Anderen. Das etwas makabre Bild des Händetausches stammt bekanntlich aus einem Klatschreim6 Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es noch eine Quelle gab: den eigenartigen Fehler nämlich, den Celan in der Übersetzung von Mandelstams wichtigem Gedicht Griffel-Ode findet: Das Wort »USdadi^lZ« (doppelzüngig also) aus dem Original las Celan als »USdadh^lZ« und übersetzte es demnach mit »zweihändig«.7 Die Vision einer Selbstentfremdung in der Translation und zugleich einer Selbstfindung in ihr, käme somit – welch eine Ironie! – durch eine irrtümliche Übersetzung zustande. Bemerkenswert ist auch, dass dieser Prozess – da alles anders ist, als du denkst und wir immer noch am Leben sind – in dem Augenblick beginnt, als die Münze aus silbernem Eis auf der Zunge schmilzt. Das lyrische Ich – von Anfang an dialogisch an ein Du gebunden – macht sich auf den Weg ins sibirische Land der Toten, ohne dass man wissen könnte, ob es dort auch tatsächlich ankommt. Wenn die Münze geschmolzen ist, kann der Fährmann nicht bezahlt werden und der Fluss, über den man übergesetzt werden sollte, scheint auch nicht vorhanden. Das konfuse Ich, immer noch warm, also auf eine sehr uneindeutige Weise immer noch lebendig – im gewissen Sinne eine Marionette, ein Wortmensch, der seine Identität gegen die eines toten Dichters getauscht hat – betritt somit den Zwischenraum einer Übersetzung. Scheinbar zumindest – und seine Zunge wird bislang durch nichts blockiert, durch keinen Stein und keine Münze mehr im Mund. Wenn das Gedicht aber den Isthmus der Windmühlen passiert, die jene Marionette brutal reanimieren und ihre Fortbewegung befördern, verschwindet der Name des Übersetzten – wohl auch deswegen, weil er nach dem Händetausch mit dem Übersetzer nun allgegenwärtig wird. Es bleibt allein ein Du-als-Ich, ein neues Ich-als-ein-Anderer, das in der entfremdeten Übersetzung wiedergefunden wurde. Dieses Subjekt rudert durch seltsame Gegenden und steuert auf Gewässer zu, auf denen es seinen Quellen am nächsten ist. Der Bug als vorderster Teil des Schiffes ist gleichzeitig der Name des Flusses in der Ukraine, an dem Celans Eltern ums Leben kamen. Eigenartiges geschieht mit der Zeit: Vielleicht kehrt sie um, vielleicht ist es der Versuch eines Neuanfangs nach der Katastrophe, obwohl nicht sicher ist, ob diese neue Lebensblüte wünschenswert ist oder nicht. Das Gedicht betritt den Raum einer märchenhaften aquatischen Geographie, wo der Westen in den Osten überfließt, wo Böhmen – wie in Shakespeares Wintermärchen – am Meer liegt. Da diese Geographie – teilweise real, teilweise aus Erinnerungen bestehend, vor allem aber imaginativ und aus Lek6 Vgl. ebd., 711. 7 Vgl. Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Beda Allemann/Stefan Reichert, Bd. 4. Frankfurt am Main 2003, S. 138–141, Für den russischen Originaltext vgl. die russischpolnische Edition: Osip Mandelsztam: Nieograbiony i nierozgromiony. Wiersze i szkice, übers. und hg. v. Adam Pomorski. Warszawa 2011, S. 180–181.

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türen zusammengeholt – höchst unstabil ist, bleibt sie selbst in Bewegung begriffen. Über diese bewegliche Landkarte wandert also ein Land, dessen Namen das Ich-Du nun ausfindig machen will. Dieses Land wurde mit Sprache und Brief identifiziert, aber auch mit dem weißen Kieselstein, der jetzt als ein Steinchen erkannt wird, das man aufs jüdische Grab legt, in Prag diesmal, der Heimatstadt eines weiteren Vorläufers Celans und Urhebers des bedeutendsten K. in der Weltliteratur. Celan war nie in Böhmen, doch verbrachte seine Mutter dort, wie er selbst wiederholt betonte, drei Jahre während des 1. Weltkrieges, unter anderem in Mähren und in 5st& nad Labem. Nachdem die Landkarte der beweglichen geografischen Räume dieses Gedichts in groben Umrissen skizziert wurde, kann jetzt nach dem Schicksal des weißen Kieselsteins gefragt werden. Im Vergleich zu dem »sibirischen« Gedicht scheint sich seine Funktion und Relation zu der Sprache verändert zu haben. Dort blockierte der Stein die Sprachfähigkeit und eröffnete gleichzeitig erst die Möglichkeit einer glaubwürdigen Rede. Hier zeigt er sich als mit der Sprache, die in ihm eine radikal kondensierte und kristallisierte Form findet, weitgehend identisch, als hätte sich ein unzähmbarer Fluss auf einmal zu einem Punkt versammelt. Die beiden Bildlichkeiten sind womöglich nicht so widersprüchlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Gemäß der Diktion des Gedichts Es istalles anders, soll der Stein der Sprache weggeworfen werden, damit man ihn wieder hat. Anders ausgedrückt, muss man ihn – wie in Sibirisch – unterbrechen, damit er tatsächlich sprechen kann, ihn zerstören, um ihn wieder zu gewinnen. Der Charakter dieser Wiedergewinnung bedarf jedoch einer Überlegung. Man dürfte sie – wie es scheint – nicht als eine Art Wiederkehr oder Restitution betrachten, da der Stein doch in der Ferne und das Ich in der Entfremdung wieder gefunden werden. Die Sprache wird somit als schrundig, gebrochen und blockiert wieder gewonnen. Einen wichtigen Hinweis gibt auch der aus dem dreimal wiederholten Wort »da« bestehende Vers. Zusammen mit dem vorangehenden »fort« lässt es an das Wortpaar »fort–da« denken, an dieses eigenartige Spiel eines Kindes, das sich durch das abwechselnde Verschwinden und Zurückholen einer Holzspule an das Fortgehen der Mutter zu gewöhnen versucht – ein Spiel, das der Großvater des Kindes, der nota bene in Mähren geborene Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips beschrieben hat.8 Es ist allerdings fraglich, ob der Imperativ, den Stein/die Sprache wegzuwerfen, um ihn/sie wieder zu gewinnen, bei Celan auf die Beherrschung des Verlustes hinaus will. Der Akt des wiederholten Wegwerfens hält den Verlust der Mutter eher fest, die Sprache wird immer wieder verletzt, damit die Löcher in ihr nicht verdeckt 8 Vgl. Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main 1994, S. 213–272, hier S. 224–227.

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werden können. Aber auch diese Sichtweise erweist sich als unzulänglich. Selbst wenn das Gedicht keine glorreiche Restitution der Sprache inszeniert, die in ihrer Fülle imstande wäre, des Verlorenen zu gedenken, selbst wenn es von einem Wiedergewinnen-im-Abwerfen spricht, kann es doch nicht beim Durchlöchern der Sprache verbleiben, will der falschen Unendlichkeit des ununterbrochenen und vom Wiederholungszwang gesteuerten Stotterns, das den traumatischen Verlust immer aufs Neue aufleben lässt, nicht ausgeliefert sein. Noch etwas muss geschehen, auch wenn es keine Restitution einer Fülle sein wird. Und gerade dieses Etwas vollzieht sich in den letzten Versen des Gedichts. Hier fällt die Sprache wirklich in der Form eines weißen Steins aus, in der Form eines Flussnamens (Alba ist der lateinische Name der Elbe), der gleichzeitig das Weiß selbst bezeichnet. Es ist, als hätte sich der Fluss der Sprache in einem Punkt, in einem Namen kristallisiert.9 Nach den Gesetzen der schmerzhaften Taktik, die uns mittlerweile aus Sibirisch bekannt ist, ist dieser überraschende, im letzten Vers isolierte, wiedergefundene, aber sprachlich fremde, dieser in der Fremde gefundene Name, der die Sprache mit seiner Fremdheit blockiert und gleichzeitig alle ihre Möglichkeiten in sich versammelt, etwas, das man eher betasten als aussprechen oder hören kann. Das Gedicht findet mit dieser finalen Kristallisation des weißen Stein-Namens zu einem Gleichgewicht. Wenn aber dieser Stein wieder das K wie Kieselstein sein sollte, so würde dieser ungestüme Buchstabe hier eine neue Funktion erfüllen: Nicht nur unterbricht es den Redefluss und schafft somit die Möglichkeit eines ehrlichen Sprechens, sondern kehrt auch als ein Endprodukt dieses Sprechens wieder. Nicht als Wiederherstellung der sprachlichen Fülle, sondern als Vergegenwärtigung der zu einem Punkt – einen den Ort des unwiderruflichen Verlustes markierenden – zusammengeschrumpften Sprache. K steht am Anfang des Sprechens und kehrt an seinem Endpunkt wieder, es unterbricht dessen Gang und lässt es sich kristallisieren, es fällt als ein Rückstand der Sprache an sich aus in der Form der puren Materialität eines Buchstabens. Eine ähnliche Logik der Kristallisation oder des Ausfällens ist auch in dem einige Jahre später verfassten Gedicht mit dem Incipit Auch keinerlei aus dem Gedichtband Fadensonnen zu finden. Es lohnt sich, das Gedicht auch deswegen einzubeziehen, weil Freuds Essay Jenseits des Lustprinzips in ihm die grundlegende Rolle spielt – das Gedicht ist fast überfüllt mit Entlehnungen aus diesem Text – und es wieder in einem außergewöhnlichen isolierten Wort/Namen kulminiert, das/der zusätzlich noch – auch wenn nur in der gesprochenen Form – mit einem K anfängt. 9 Alba ist auch ein Teil der lateinischen Bezeichnung des am Anfang des Gedichts herbeigerufenen Baumes: betula alba ist die karelische Birke. Auch hier, am Gedichtsende steht ein Baum, oder – dessen Name.

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…Auch keinerlei Friede. Graunächte, vorbewußt-kühl. Reizmengen, otterhaft, auf Bewusstseinsschotter unterwegs zu Erinnerungsbläschen. Grau-in-Grau der Substanz. Ein Halbschmerz, ein zweiter, ohne Dauerspur, halbwegs hier. Eine Halblust. Bewegtes, Besetztes. WiederholungszwangsCama"eu.10

Freud reflektierte in seinem Essay über die Mechanismen der Registrierung von Reizen, die sich nach Durchquerung des wahrnehmenden Erkenntnisapparats als Gedächtnisspuren niederschlagen.11 Von diesem Modell ausgehend, versuchte er den Mechanismus des Wiederholungszwangs zu beschreiben, der uns immer wieder dazu veranlasst, an den Punkt des traumatischen Einbruchs wiederzukehren. Das Trauma stört den gewöhnlichen Prozess der Gedächtnisbildung, stellt Lücken her, Punkte einer Nicht-Repräsentation, Laufmaschen im Gewebe, die unser Verstand bemüht ist, verzweifelt aufzunehmen. Der nach dem Selbstmordversuch strapazierte Celan meditiert über diesem Essay und verfolgt den Weg der Reize – auch der eines Lesers – durch die Graue Substanz seines Gehirns, womöglich beim Morgengrauen. Der unregistriert (und deswegen unrepräsentierbar) bleibende Stoß kommt von jenseits des Gedichts her, aus dem mit Punkten markierten Raum vor dessen Anfang. Jetzt laufen weitere Reize durch die Psyche, alles bleibt jedoch halb, abgestumpft, ohne Dauer. Nichts wird hier ausgehöhlt, nichts ritzt sich ein. In der Welt dieser erschütterten Psyche wird Grau auf Grau geschrieben. Überhaupt geschieht hier nicht viel und Celan scheint von seinem fragilen Erfolg der »Alba« weit entfernt zu sein. Aber selbst dieses düstere oder besser graue Gedicht versteht es, ein Ende zu nehmen. Das im letzten Vers erscheinende Wort cama"eu meint eine Technik der monochromatischen Malerei, die einen Tiefeneffekt, den Effekt einer Kamee (die durch Ritzung im Stein entsteht) mithilfe verschiedener Töne der gleichen Farbe erzeugt. 10 Celan 2005, S. 253. 11 Vgl. Freud 1994, insbesondere S. 234–243. Viele Ausdrücke in Celans Gedicht wurden aus diesem Abschnitt entlehnt.

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Scheinbar geschieht hier auch am Ende nichts Neues. Es wird nur der Scheincharakter der Arbeit eines ausgelaugten Gemüts gezeigt, das dem Wiederholungszwang gänzlich ausgeliefert ist. Nichts zeichnet sich ab. Doch obwohl jenes cama"eu in die Ordnung des Wiederholungszwang gehört, wird sie gleichsam durch das Divis von seinem Mechanismus abgetrennt, was diesem sonderbaren Wort erlaubt, im letzten Vers auszufällen und dadurch zumindest – wenn ein Frieden nicht möglich ist – ein momentanes Gleichgewicht zu erreichen und die leere Dynamik des Zwangs durch diesen fremd klingenden, mit einem K ansetzenden Namen aufzuhalten. Cama"eu als Bild ist purer Schein und Misserfolg, »Grau-in-Grau«. Als ein Bild jedoch, das Name und Klang wird, markiert es einen lokalen Moment der Stabilität, einen Ort, an dem die Sprache in ihrer reinen Materialität der despotischen Übermacht des Wiederholungszwangs entflieht, auch wenn sie es nicht vermag, Frieden zu stiften. Selbst aber dieses höchst fragwürdige Gleichgewicht und der genauso fragwürdige Erfolg einer dichterischen Arbeit machen die Funktion sichtbar, die das K bei Celan haben kann, wenn es sich eher als Effekt denn als Bedingung dichterischer Arbeit erscheint. Gleichzeitig ist es einer der charakteristischsten Züge von Celans Poesie überhaupt. Es wird verständlicher, wenn man einen kurzen Blick auf das Gedicht DEIN VOM WACHEN aus dem Gedichtband Atemwende wirft. Gesprochen wird hier von »deinem Traum«, der »vom Wachen stößig« wurde, von einer »in sein Horn gekerbten Wortspur«, schließlich von einer »nach oben stakenden Fähre«, die »Wundgelesenes« übersetzt, aber auch übersetzt. Das »Wundgelesene« ist dabei die »wundgelaufene« Lektüre, oder – wie Hans-Georg Gadamer plausibel anmerkt – das, was zusammengelesen wurde, was sich angesammelt hat, »eine Ehrenlese des Leides«.12 Während der Dichter gewisse abgeschlossene Totalitäten innerhalb einer konkreten Sprache schafft, findet der Übersetzer zu der Sprache an sich, der reinen Sprache der Namen – meinte Walter Benjamin in seiner Übersetzungstheorie. Indem er das Gedicht in eine andere Sprache überträgt, ist er imstande, den in das Gedicht eingeschriebene Moment der reinen Sprache in einem vervollständigenden Revers der Zielsprache sichtbar zu machen.13 Celan führt einen prekären Dialog mit einer solchen Sicht der Dinge. Ist der Dichter für ihn ein Erbe von Benjamins Historiker und Kritiker, so ist er gleichsam auch Übersetzer, er selbst vollzieht die translatorische Arbeit und legt die »Sprache an sich« offen. Es ist allerdings eine höchst eigenartige Übersetzung: Gemäß der Dynamik des Gedichts AUCH KEINERLEI / Friede ist es die paradoxe Übersetzung eines schon immer ver12 Hans-Georg Gadamer : Wer bin Ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge »Atemkristall«. Frankfurt am Main 1986, S. 78. 13 Vgl. Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders. Gesammelte Schriften, hg. v. Tillman Rexroth, Bd. IV.1. Frankfirt am Main 1991, S. 9–21.

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gangenen Traumas, das keinerlei Repräsentation im semantischen Bereich der Originalsprache finden kann und das sich nur in dem vervollständigenden Revers der Zielsprache niederschlagen kann, in einer Übersetzung in den reinen Klang eines fast sinnlosen fremden Namens. Nur ist es keine »reine Sprache«. Sie erscheint in einer vollkommen kontingenten und vollkommen einmaligen Form der Kristallisierung des unsauberen K.14 Freud, Träume und der Buchstabe K begegnen auch in einem anderen Gedicht aus dem Band Fadensonnen. Es ist das zweite Gedicht des Bandes und trägt den Titel Frankfurt, September : Frankfurt, September Blinde, lichtbärtige Stellwand. Ein Maikäfertraum leuchtet sie aus. Dahinter, klagegerastert, tut sich Freuds Stirn auf, die draussen hartgeschwiegene Träne schiesst an mit dem Satz: »Zum letztenmal Psychologie«. Die SimiliDohle frühstückt. Der Kehlkopfverschlußlaut singt.15

Der Titel sowie die beiden ersten Verse spielen an das frühere Gedicht Tübingen, Jänner aus dem Band Die Niemandsrose an. In jenem Gedicht – einer Meditation Celans über seinen Vorläufer Hölderlin, der seine letzten Jahre, dem Wahnsinn verfallen, in einem Tübinger Turm verbrachte – war von »zur Blindheit überredeten Augen« die Rede, sowie von einer hypothetischen Ankunft eines Menschen »mit Lichtbart der Patriarchen«, der – erschiene er heute – lallen müsste, wie der verrückte Poet: »Pallaksch, Pallaksch«. Mit diesem seltsamen Wort aus 14 Zur Auffassung von Celans Poesie als Übersetzung siehe: Philippe Lacoue-Labarthe: Dichtung als Erfahrung, übers. v. Thomas Schestag. Stuttgart 1991, S. 31. 15 Celan 2005, S. 221.

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dem Vokabular des geistig umnachteten Hölderlin endete der Text. Jetzt, während eines Besuchs beim Fischer Verlag, der Freud, Kafka und auch Celans zwei Gedichtbände (darunter Die Niemandsrose) herausgab, eine von der Buchmesse aus dem vergangenen Jahr aufbewahrte Stellwand mit einem Freud-Portrait betrachtend,16 denkt Celan an jenes Gedicht. Auch in seinem neuen Gedicht – wie zuvor in Tübingen, Jänner und in Sibirisch – ist der Moment der Blindheit der Ausgangspunkt. Während jedoch in dem Tübingen-Gedicht die Blindheit uns noch aus dem Gewohnten verhalf und in den Bereich der Ununterschiedbarkeit zwischen Prophetie und Wahnsinn verwies, wird hier eine solch zweifelhafte Eröffnung der Rede in Frage gestellt. Das blendende Licht, das von der Wand widerspiegelt wird, kommt mit einem Maikäfertraum in Berührung, der auf zwei Kontexte zu verweisen scheint. Es wird Freud zitiert, der in seiner Traumdeutung einen »Käfertraum« analysiert.17 Es kann aber sich ebenfalls auf den Tagtraum von Eduard Raban, dem Protagonisten aus Kafkas unvollendeten Erzählung Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande beziehen. Raban, dem eine ungewollte Reise aufs Land bevorsteht, fantasiert darüber, wie er nur seinen »angekleideten Körper« auf die Reise schickt, selbst aber im Bett bleibt: »Ich habe, wie ich im Bett liege, die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers, glaube ich«.18 Dieser Traum und dieser Vergleich finden dann in Die Verwandlung eine groteske Realisierung. Die Begegnung von Freud und Kafka in dem »Maikäfertraum« ist sehr vielsagend. Einerseits benutzt Celan den von Freud beschriebenen Mechanismus der Kondensation, dem nach mehrere Sachverhalte im Traum durch ein Objekt repräsentiert werden. Der Käfertraum, den eine der Patientinnen hatte, soll in Die Traumdeutung gerade diesen Prozess veranschaulichen. Andererseits aber laufen die beiden kondensierten Elemente – was die Legitimität der Methode der Traumauslegung an sich angeht – in zwei entgegengesetzte Richtungen. Als eine Anspielung auf den alle Sinnmöglichkeiten von Träumen ruhig erwägenden Freud, ist die Figur des Maikäfertraums eine Bestätigung der Methode. Als eine Anspielung auf Kafka, der den Lesern ebenso ruhig die atemberaubendsten Rätsel aufgibt, lässt sie einen Weg einschlagen, der zu einer Infragestellung jeder Möglichkeit der Interpretation von Konstrukten menschlichen Geistes führen wird. Das Gedicht geht diesen Weg. Das sprechende Subjekt stellt sich dem bärtigen Gesicht Freuds, des neuen Vielleicht-Propheten gegenüber, damit seine Klage gegen das Antlitz des Vaters der Psychoanalyse stößt und in ihm widerspiegelt wird. Es sucht etwas in der Tiefe, der von Freud oder auch seiner eigenen. 16 Vgl. ebd., S. 751. 17 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in ders. Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 2. Frankfurt am Main 1994, S. 291–293. 18 Franz Kafka: »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere«, in: ders. Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Karl-Maria Guth. Berlin 2015, S. 7.

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Wenn sich aber etwas hinter der blendenden Traumoberfläche zeigt, öffnet sich zwar Freuds Stirn, aber keine Tiefe. Die »Öffnung« liegt nur am groben Raster des Portraits. Beim näheren Hinschauen dekomponiert sich das Gesicht – dasjenige Freuds als auch Celans eigenes – und nichts mehr kann gesehen werden. Und doch geschieht etwas. Wenn das lyrische Ich den Mund draußen nicht aufmachen konnte oder wollte, um seine Klage zu auszusprechen, spricht es auch hier nicht, doch kristallisiert sich seine »Träne« in der Begegnung mit einem Satz aus Kafkas Aphorismen, der gegen die Psycho-logie, die Seelen-Lehre deutlichen Widerstand leistet.19 Das Kafka-Zitat,20 das Celan Freud entgegensetzt, wirkt wie ein Kristallisationskatalysator, ist aber vielleicht auch das Endprodukt dieses Prozesses. Dann könnte man sagen, dass die Träne des geblendeten und verstummten Ich in dieses Zitat eingeschlossen wird und es somit zu einer durch die Anführungszeichen aus dem Gedicht herausgesonderten Bastion des Widerstands wird. Es ist aber nur Widerstand und sonst nichts. Vielleicht ist es auch die letztendliche Vergeblichkeit dieser Geste, die in der autoironischen Melancholie der vierten Strophe ihren Ausdruck findet. Gemäß der Meinung seines Vaters glaubte Kafka, sein Nachname stamme vom tschechischen Wort für Dohle (kavka). Einige Male machte er von dieser Etymologie Gebrauch und ließ in seine Texte Dohlen (wie beim Jäger Gracchus) oder andere Vögel ein, die sie ersetzten, Raben zum Beispiel, wie es auch beim Protagonisten der Hochzeitsvorbereitungen der Fall ist. Womöglich klingt der Kafka’sche Rabe im hybriden Namen des Rabenschwans aus dem Gedicht Sibirisch an. Auch wenn der Name Kafka höchstwahrscheinlich von der jiddischen Form des Vornamen Jakob (Jakovke) stammt, wusste Celan eher nichts davon. Die Bezeichnung »SimiliDohle« ist somit kaum darauf zurückzuführen, dass er dem Verlag, mit dem er damals schon zerstritten war, zu sagen versuchte, sein Kafka sei nur eine PseudoDohle. Viel interessanter als diese anekdotische Auslegung scheint die Identifizierung der Simili-Dohle mit Celan selbst, der sich autoironisch als PseudoKafka vorstellt, als Pseudo-Hungerkünstler, der das Fasten bricht und mit seinen Gegnern aus dem Fischer Verlag ein Frühstück zu sich nimmt. Und doch verweist das Wort »Simili« vor allem auf »Similistein«, einen imitierten Edelstein – der frühstückende Celan wäre somit nur eine billige Fälschung der Juwelen seines Vorläufers, eine Imitation des K. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Celan hier auch sein Recht fordert, dass gerade der Imitationscharakter seiner Dichtung anerkannt wird, die mühselige poetische Arbeit am weißen Kieselstein, 19 John Felstiner wiest zurecht darauf hin, dass das Enjambement »Psycho- / logie« jede Möclichkeit einer Seelen-logik in Frage stellt. Vgl. John Felstiner : Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2000, S. 294. 20 Franz Kafka, »Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg«, in: ders. Prosa aus dem Nachlaß…, S. 53.

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der sich hin und wieder aus seinen Gedichten am Ende herauskristallisiert. Der künstlich hergestellte Similistein müsste dabei wieder mit dem stürmischen K assoziiert werden, das in der letzten Strophe als erster und fünfter Buchstabe im Wort »Kehlkopfverschlusslaut« wiederkehrt, das einen stimmlosen Glottisschlag bezeichnet, einen Konsonanten, der durch eine plötzliche Lösung des Verschlusses von Stimmlippen gebildet wird. Dieses K singt, selbstverständlich singt es miserabel: wie auch Kafkas Maus Josefine sang, oder eher pfiff21 und wie Kafka selbst am Ende seines Lebens – mit dem von der Tuberkulose befallenen Kehlkopf. Miserabel – wie man mit einem Stein in der Kehle singen kann. Von der anfänglichen Blendung und vom Widerstand gegen die Seelen-Deutung geht das Gedicht zur Konstruktion eines künstlichen Juwels K über, das die Stimme abrupt zerstört, jedoch nicht beim bloßen Widerstand verbleibt: Es singt – ohne Sinn und Anmut, aber auf eine einzig vorstellbare Art und Weise. Es ist allerdings nicht so, dass das Celan’sche K nur jenes Kafka’sche imitieret. Dieses künstliche Juwel ahmt auch einen ganz anderen Laut aus einer ganz anderen Sprache nach. In einer anderen Titelvariante setzte Celan zwischen die Wörter »Frankfurt« und »September« den hebräischen Buchstaben Ajin ein, der als ein starker stimmloser glottaler Plosiv ausgesprochen wird. Es ist, als dränge sich dieses hebräische Ajin ins Zentrum dieses allzu selbstgenügsamen und einheitlichen zeiträumlichen Moments ein, zwischen die Namen einer deutschen Stadt und eines Monats aus einem nichtjüdischen Kalender. Als fragte die Stimme des Menschen mit dem Stein in der Kehle: Bin ich in Frankfurt?, bin ich im September? – und antwortete: Nein, ich bin in dem Verschluss der Glottis, der sie beide voneinander trennt und spreche zu euch – jetzt, aus der Zeit des Gedichts. In der Endfassung entfernte Celan jedoch diesen Buchstaben. Übrig blieb nur das die beiden Teile des Titels trennende Komma, der phonetische Fachbegriff und der Buchstabe K selbst, der am Anfang dieses Termins steht und der das Ajin zu imitieren scheint – wieder als künstlicher Kristall. Der ursprüngliche hebräische Buchstabe ging verloren und im Gedicht kann nur noch einen Similistein des K künstlich herauskristallisiert werden, der aber weiterhin imstande sein wird, das ungestörte Fließen des deutschen Gesangs zu blockieren, um nach seiner Art zu singen. Wenn aber das K eine geglückte Imitation des Ajin ist, so ist – womöglich – auch die Dohle ein Ersatz für einen anderen Vogel. Es handelte sich somit nicht nur um die Imitation der kavka-Dohle, sondern auch um die Dohle als Imitation. Celan spekulierte oft darüber, dass sowohl in seinem eigentlichen Namen Antschel als auch in dem jüdischen Namen Kafkas (Amschel) das deutsche Wort »Amsel« mitschwingt. Es ist vielleicht ein weithergebrachter Verweis, aber es sei trotzdem festgehalten, dass in einem der 21 Vgl. Franz Kafka, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, in: ders. Sämtliche Erzählungen, hg. v. Paul Raabe, Frankfurt am Main 1993, S. 172–185.

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Gedichte, in denen Celan mit dem Namen der Amsel und seinen Bezügen zu Kafka spielerisch umgeht – im Gedicht Vom Anblick der Amseln aus dem Band Atemwende – von einer Zeile die Rede ist, die »vom flachen, scharfen Kiesel geschrieben« wurde und vom »Gesang in den Fingern«.22 Nun seien noch zwei Gedichte aus dem Band Schneepart herangebracht, vom Titelgedicht ausgehend, in dem das K mit einer besonderen Stärke wiederkehrt:23 Schneepart, gebäumt, bis zuletzt, im Aufwind, vor den für immer entfensterten Hütten: Flachträume schirken übers geriffelte Eis; die Wortschatten heraushaun, sie klaftern rings um den Krampen im Kolk.24

Beginnen wir mit dem rätselhaften Titel-Incipit des Gedichts. Piotr Pazin´ski weist darauf hin, dass – zumindest in Celans Frühwerk – das Element des Schnees oft als Figur des Vergessens auftritt, das die poetische Stimme, die verzweifelt etwas von verlorenen Menschen und Dingen sagen will, zum Schweigen bringt.25 »Der Schnee des Verschwiegenen« begegnet etwa im Gedicht Mit wechselndem Schlüssel aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, wo er sich um das Wort versammelt. Im Gedichtband Schneepart ist es jedoch um einiges komplizierter. Es ist geradezu unmöglich, auf eine klare Dichotomie von Wort und Schnee zu verweisen, da es Celan längst bewusst war, dass auch das Wort selbst am Vergessen seinen Anteil haben und der Erinnerungsdiskurs den Verlust mit einem wahren Schneehaufen verdecken kann. Im Gedicht mit dem Incipit Was näht / an dieser Stimme?, das in dem Band kurz vor dem Titelgedicht steht, befiehlt das sprechende Ich jemandem oder sich selbst »eine Schneenadel« 22 Celan 2005, S. 209. 23 An dieser Stelle muss ausdrücklich betont werden, dass die forlgende Lektüre des Gedichts nicht meine eigene ist, sondern weitgehend ein Resultat der Diskussion während eines CelanSeminars an der Franz-Kafka-Universität Muri. Vgl. »Coda: Klamra w kotle rzecznym«, in: Adam Lipszyc/Paweł Piszczatowski (Hg.); Paul Celan: je˛zyk i Zagłada, Warszawa 2015, S. 299–309. 24 Celan 2005, S. 320. 25 Vgl. Piotr Pazin´ski: »W płatkach s´niegu«, in: Adam Lipszyc/Paweł Piszczatowski 2015, S. 272–297.

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zu schlucken, die den »[…] auf Weiß [eingeschworenen]«26 Abgründen entstieg. Damit liefert Celan eine noch dramatischere Version des weißen Steinchens aus Sibirisch: eine Schneenadel, die die poetische Stimme paradoxerweise zusammennäht, indem sie sie die Kehle des Dichters von innen zerreißt. In Schneepart kommt der Schnee – obgleich er zum Element des Vergessens scheinbar gehört – selbst zu Wort, muss aber dabei einen besonderen Individuationsprozess durchlaufen. »Der Part« leitet sich vom lateinischen pars und bedeutet sowohl Anteil (vor allem Miteigentum an einem Schiff) als auch eine Gesangs- oder Instrumentalpartie in einem Musikstück oder eine Theaterrolle. Aus dem Schnee wird also ein Teil abgesondert, damit er seine Partie über das Verlorene spricht oder singt. Das Gedicht will – anders ausgedrückt – den Schnee nicht aus sich entfernen, sondern ihn zerteilen und dadurch zum Sprechen zu bringen, damit erkannt wird, was er zudeckt. Während sich also in der Gauner- und Ganovenweise ein Baum – vielleicht mit dem Gedicht identisch – »gegen die Pest [bäumt]«,27 so gibt es hier keine Bäume mehr, aber der Schneepart bleibt »gebäumt« gegen das ungeteilte Schneeelement an sich. In dieser frostigen Ödnis gibt es weder Bäume noch Fenster – nicht einmal dunkle – in einer verlassenen Hütte, von denen mindestens eins ein Auge hätte sein können.28 In dieser baumlosen Landschaft, vor den für immer »entfensterten Hütten«, wird der Schneepart an einem Drama teilnehmen müssen, in dem sein Part nach dem Doppelpunkt beginnt. Sobald er zu singen beginnt, erklingt etwas Seltsames: es werden »Flachsteine […] übers geriffelte Eis« geschirkt. Der Redefluss ist vereist, keine Bedeutungen fließen durch, es gibt keinen Dialog, Worte können nicht in die Tiefe gehen. Wie hinter der sich auftuenden Stirn Freuds in dem Frankfurt-Gedicht gibt es auch hier gar keine Tiefe. Was bleibt, ist der reine Klang, der durch eine flüchtige Berührung zweier Oberflächen entsteht. Damit aber aus diesem vereisten Bild ein Klang gewonnen werden kann, muss die Arbeit der dritten Strophe geleistet werden. In einem früheren Gedicht aus dem Band Atemwände, das mit dem Incipit In den Flüssen beginnt, beschwerte ein Du – zögernd – das von dem sprechenden Ich ausgeworfene Netz »mit von Steinen geschriebenen Schatten«.29 Auf diese Weise ermöglichte das Du wohl den Fang von dichterischen Worten. In Schneepart gibt es kein Ich und kein Du mehr, und den zugefrorenen, im Raum stockenden Fluss kann man nicht auf eine Zeitebene beziehen, selbst nicht auf so paradox Weise wie es dies das frühere Gedicht tat, indem es den Fluss »nördlich der Zukunft« platzierte. Kein Wunder, dass es sich hier nicht 26 27 28 29

Celan 2005, S. 218. Ebd., S. 320. Vgl. ebd., S. 158. Ebd., S. 176.

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um einen Fang der Worte handeln kann, sondern bloß um ein Schirken der »Flachträume« über die unebene Eisoberfläche. Es gibt keine wie immer auch unlesbare Schrift, es gibt nur noch dieses reine Tönen der Oberfläche, eine synästhetische Verschmelzung mit den Schatten, die die Steine im Zwielicht des Gedichts aufs Eis werfen: Wenn der Stein das Eis berührt, begegnet er seinem Schatten, wird eins mit ihm und verwandelt sich in den reinen Klang. Diese Klänge, die Wortschatten muss man heraushauen und » rings um den Krampen im Kolk« klaftern. Wie in ES IST ALLES ANDERS wird auch hier eine potenziell unendliche Bewegung, ein Rhythmus der Wiederholung, aufgehalten: Statt der endlosen Flucht der Flachträume bildet sich am Ende des Gedichts eine kreisförmige Konstruktion. Die herausgehauenen und geklafterten Klänge schaffen einen Kolk. Dieses seltene geologische Wort, etymologisch mit Kehle verwandt, bedeutet laut Duden eine »durch strudelndes Geröll entstandene Vertiefung in einem Flussbett«. Da der Fluss zugefroren ist, müssen die Klänge einen künstlichen, die Naturerscheinung imitierenden Strudel bilden und werden dabei durch den KLaut repräsentiert, der sich in der letzten Strophe multipliziert und verdichtet. Das letzte Wort ist der Kolk: mit den beiden Ks am Anfang und Ende, dem kreisförmigen O in der Mitte und dem L als Krampen. Hier wird die potenziell unendliche Trajektorie der Träume/Steine endgültig zu einem Kreis zusammengerollt. Dieser Punkt zeigt die Macht der Sprache schlechthin, gleichzeitig aber stoppt auch ihren Fortgang. Anders aber als der weiße Stein Alba aus dem Schlussvers von Es ist alles anders – dessen Name interessanterweise kein K enthält – ist das rätselhafte Wort »Kolk« als Vollendung des Gedichts äußerst paradox. Das Wort ist imstande, die Bewegung der unaufhörlichen Flucht zu durchbrechen, weil es selbst ein Ort endloser ungehemmter Bewegung ist, ein Punkt steter Unruhe und abgründigen Wirbels. Es korrespondiert mit einer weiteren semantischen Konnotation des Wortes, das der jiddischen Version des Ortsnamens Kolky (K@4)K) entspricht, dem Namen einer ukrainischen Stadt, in der ihre jüdischen Einwohner am Fluss Styr (an einer Stelle, die nota bene Weißes Ufer genannt wird) ermordet wurden. In diesem eigenartigen Wort/Namen begegnen einander das Moment des reinen Klangs mit dem flüchtigen Moment historischer Gewalt, die womöglich auch durch die hinter dem K sich versteckenden (Bahn)Rampen repräsentiert wird. War jedoch Alba ein wahrer Name, so ist es bei dem Kolk nur sehr bedingt der Fall. Es ist eher ein Unname eines Unortes, ein Klang, der einen Ort markiert, an dem einst ein Name da war. Man könnte meinen, dass das zweite Gedicht aus dem Band Schneepart, das hier zu besprechen ist, eine stabilere Vollendung findet:

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Erzflitter, tief im Aufruhr, Erzväter. Du behilfst dir damit, als sprächen, mit ihnen, Angiospermen ein offenes Wort. Kalkspur Posaune. Verlorenes findet in den Karstwannen Kargheit, Klarheit.30

Bereits im Incipit wird wieder das geologische Register aktiviert. Das erste Wort: Erzflitter ist von komplexer Mehrdeutigkeit gekennzeichnet: »Erz-« kann sowohl als ein verstärkendes Präfix, als auch als Bezeichnung von metallhaltigem Mineral fungieren, der Flitter verweist einerseits auf positiv konnotierte Flitterwochen, bedeutet aber erstrangig billigen, unechten Schmuck, was in dem Präfix »Erz-« auch eine kondensierte Form von »Ersatz« mitschwingen lässt. Mit der »tiefen Aufruhr« der Laute in einem phonetischen Spiel wird der Erzflitter zu Erzvätern, den biblischen Patriarchen. Scheinbar vollzieht sich in der ersten Strophe ein Übergang vom glitzernden Erz zu der Festigkeit der Tradition der Erzväter. Gleichzeitig jedoch verlieren diese aus dem Flittergold gemachten Erzväter ihre Vertrauenswürdigkeit und versinken in das aufgerührte Geglitzer. Ein chaotischer Wirbel steht somit am Anfang, und nicht wie in dem vorhergehenden Text am Ende des Gedichts. Es bleibt unklar, ob die Erzväter tatsächlich aus der geologisch-phonetischen Aufruhr hervortreten und man weiß nicht einmal, ob das Erz einer Verarbeitung überhaupt wert ist. Es ist, als wären die Bestände der Tradition in den Zustand der Verwirrung abgerutscht und als wüsste man nicht, ob aus diesem Wirrsal je etwas Stabiles wieder hervorgehen kann. Auch die zweite Strophe führt nicht aus dieser Sackgasse, aber ein Herauskommen aus ihr wird in ihr – auf eine äußerst komplizierte Weise – vorbereitet. Auf den ersten Blick gibt es hier keine Bewegung: Jemand (ein Ich-als-Du) gibt sich mit dem Erzväter-Erz-Ersatz zufrieden und versucht damit zu leben. Etwas Eigenartiges geschieht jedoch in dem unerwarteten, hypothetischen Vergleich, mit dem diese Situation beschrieben wird. Die überraschenden »Angiospermen« erzeugen eine extreme Unverhältnismäßigkeit sowohl auf der Ding-, als auch auf der Wortebene. Auf der Dingebene – weil man sich ein aufrichtiges Gespräch, 30 Ebd., S. 336.

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»ein offenes Wort« zwischen dem glitzernden und aufgerührten, aber anorganischen Erz der fossilisierten Erzväter und der ruhigen, aber organischen Pflanzenwelt vorstellen müsste. Auf der Wortebene – weil die biblischen Kategorien hier mit einem botanischen Terminus technicus zusammenstoßen, als würden zwei Sprachsysteme im Kopf eines verwirrten Gelehrten miteinander kollidieren, für den sich die religiöse Tradition in ein illusorisches Geglitzer verwandelt. Aus dieser Perspektive müsste man die zweite Strophe (auto)ironisch lesen. Das lyrische Ich spräche somit zu sich: Du versuchst mit diesem Ersatz weiter zu leben, als käme in der unwahrscheinlichen Begegnung unverhältnismäßiger Ordnungen das wahre offene menschliche Wort zur Sprache, als wäre dieser Zusammenstoß ein Neuanfang des Menschlichen. Als sprächen diese Ordnungen miteinander, was nicht möglich ist. Auch wenn die Autoironie hier vorherrschend ist, so vollzieht sich etwas Wesentliches auf der Ebene der Rhetorik. Am Ende steht das offene Wort, das selbst ein wertloser Flitter, oder auch ein Stück Erz sein kann, aus dem etwas mehr gewonnen werden könnte. Damit es aber möglich ist, muss jemand oder etwas das Wort aus der Sackgasse der Ersätzlichkeit führen. Dies geschieht in der kurzen dritten Strophe, die nur aus zwei Worten: »Kalkspur Posaune« besteht. Diese einzeilige Strophe ist selbst die Spur, über die das K – verdoppelt und von Posaunen begleitet – wiederkehrt. Diese Wiederkehr kommt abrupt, gleichzeitig aber nur halblaut. Statt des rotierenden Kolks erscheint hier der weiße, weiche Kalk (man erinnert sich dabei an den calcus cordis, den Herzstein aus Sibirisch), der zusätzlich noch zu einer Spur reduziert wird. Dieser Spurencharakter entspricht wohl der Zerteilung des Schneeelements in Schneepart, einem Akt, in dem sich die Urgewalt des Vergessens gegen sich selbst wendet. Dass Celan – zumindest in den frühen Gedichten – geneigt war, das Weiß von Kalk, Kreide und Kiesel zusammenzudenken, bezeugt das Gedicht Flügelnacht aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle, in dem es heißt: »über Kreide und Kalk, / Kiesel, abgrundhin rollend, / Schnee. Und mehr noch des Weißen«.31 Der zu einer Spur reduzierte – und dadurch vielleicht etwas versprechende – Kalk in Erzflitter ist selbst Instrument einer Reduktion. Zuerst reduziert er die Lautstärke eines Blasinstruments. In Es ist alles anders war er noch deutlich lauter. Auch dort sprach Celan von einer Posaune, die in der Tradition der Lutherbibel für den Schofar steht. Von einem Widderhorn war die Rede und das in einer neuen Zeile herausgesonderte und durch ein Ausrufezeichen betonte hebräische Wort »Tekia« – wie man den Schofarton an den Hohen Feiertagen nennt – ließ keinen Zweifel daran, dass die Stimme der Urväter noch gewaltig erklingen mag. Jetzt ist alles viel leiser : zu hören sind allein die zwei Ks des weißen Kalks, ein stilles Geräusch der Kreide, die eine Spur auf dem 31 Ebd., S. 81.

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Stein markiert. Vielleicht ist es der wahre Klang eines Schofars von heute: In der Konfrontation mit dem beeindruckenden, aber trügerischen Flitterglanz und dem offenen, aber fragwürdigen Wort kann sich nur noch diese klangreduzierte Spur als ein wirksamer Akt der Rettung erweisen. Wie kann er wirken? In einem späteren Gedicht, das nach Celans Besuch in Jerusalem entstand, spricht der Dichter von einer »Posaunenstelle tief im glühenden Leertext«, der hier wohl den Lehrtext der Tora ersetzt, und befiehlt sich selbst und dem Leser : »hör dich ein mit dem Mund«.32 Wenn du dich mit dem Mund in den Klang des neuen Schofars, dieser Kalkspur einhörst, wirst du die beiden Ks im Mund und in der Kehle spüren und machst dich bereit auf die letzte Strophe des Gedichts. In ihr nämlich – nach der Verengung des Kehlkopfverschlusses der Kalkspur, beginnt sich etwas aus dem flitternden Erz herauszukristallisieren. Kein Flitter und kein offenes Wort mehr – es bleiben nur noch Spuren und Rudimente, nur eine Reihe von Ks wie Kristallisierung. Es wird etwas konstruiert, was das Verlorene wirksam markieren kann. Es geschieht weit weg von der organischen Welt der Angiospermen, in einem sterilen Raum ohne Samen, aus denen neue Generationen geboren würden, um die Linie der Erzväter weiterzuführen. Es ist, als wären dieser Verzicht auf die Zeugungskraft und das Einverständnis in der steinernen Gegenwart zu verharren der Preis für die Effizienz des poetischen Wortes, den Celan nicht zu bezahlen zögert. Der Kristallisationsprozess findet in den verfremdenden »Karstwannen« statt. Bei aller Verfremdung aber durchzieht das dieses Wort initiierende K die ganze Sequenz bis hin zu der Vollendung des Gedichts im letzten Vers: »Kargheit, Klarheit«. Die Kargheit deutet auf die allgemeine Unfruchtbarkeit, die notwendige Reduktion des Organischen auf das Anorganische, des Samens auf die Spur hin und bewirkt dabei auch die Reduktion des offenen Wortes auf das kalkige K. Das Gedicht wird karg mit Worten und lapidar – nicht im Sinne eines im Stein mühselig geritzten Epigramms, sondern als eine knappe Spur vom Kreidestrich an einem Fels oder einer Mauer. Die Kristallisation kommt durch Reduktion zustande, die zusätzlich noch das stimmhafte G der Schrift auf das stimmlose K in der Aussprache heruntersetzt und in der letztendlichen »Klarheit« mündet. Man könnte annehmen, dass das Gedicht – während er in SCHNEEPART von der vereisten Landschaft zu einem phonetischen Strudel überging – hier von der anfänglichen Aufruhr zu der steinernen Klarheit wiederfindet. So sicher ist es aber nicht. Celan wusste bis hierher seine Gedichte mit einem starken Wort/Namen/Unnamen wie Alba, came"eu oder Kolk ausklingen zu lassen. Diesmal jedoch vermeidet er diesen abrupten Abschluss und lässt das Gedicht in der Nennung von zwei mit einem Komma voneinander getrennten Worten kulminieren. Dieses Satzzeichen kann – muss aber nicht – einen temporalen Übergang von Kargheit zu Klarheit si32 Ebd., S. 362.

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gnalisieren. Es kann auch ein unendliches Pendeln zwischen diesen Polen andeuten, ohne dass sie je ein Gleichgewicht erreichen können. Sollte hier aber die Klarheit aus einem Räuspern entstehen, einer Beseitigung des G/K-Verschlusslautes aus dem Wort »Kargheit« und unserem Kehlkopf , damit es wie »Klarheit« klingt? Die früheren Gedichte lehrten uns etwas anderes – schließlich aber behält auch die Klarheit diesen störerisch wiederkehrenden Buchstaben, diesen Verschlusslaut in sich. Die Klarheit ist wohl in der Lapidaritität selbst zu suchen, die klare Stimme – diese aber nur dann, wenn ein Stein die Kehle verschließt und somit das Sprechen als solches – nicht in ihrer Reinheit, sondern in einer willkürlichen Störung. Aus dieser Perspektive wären nicht die beiden finalen Worte, sondern das Komma zwischen ihnen der eigentliche Abschluss des Gedichts. Es würde dann weder eine zeitliche, unüberwindbare Nachfolge, noch ein Pendeln bedeuten, sondern eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Superposition, eine Hyperaktualität, die die einfache zeiträumliche Gegenwart spaltet, während sie selbst innerlich gespaltet bleibt. Dieses Komma – womöglich aus dem FrankfurtGedicht übernommen – wäre somit die letzte Gestalt dessen, was die Sprache des Menschen blockiert, gleichzeitig aber ihr eine geradezu unerreichbare Klarheit verleiht, eine Gestalt von etwas, was sowohl eine Bedingung sine qua non jedes anständigen Sprechens als auch sein letztes greifbares Ergebnis ist, von etwas, was die Zunge bricht, und auf der anderen Seite die gesamte Potenz der Sprache an sich in ihrer urmateriellen und unreinen Form in sich versammelt. Dieses Komma wäre dann ein Ur-Eigenname des Verlorenen: die finale Form des künstlichen Kristalls des wiederkehrenden, ungestümen und sanften K.

Bibliografie Benjamin, Walter: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Tillman Rexroth, Bd. IV.1. Frankfurt am Main 1991, S. 9–21. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005. Celan, Paul: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. v. Beda Allemann/Stefan Reichert, Bd. 4. Frankfurt am Main 2003. Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2000. Freud, Sigmund: »Die Traumdeutung«, in ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 2. Frankfurt am Main 1994. Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders.: Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main 1994, S. 213–272. Gadamer, Hans-Georg: Wer bin Ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge »Atemkristall«. Frankfurt am Main 1986. Kafka, Franz: Prosa aus dem Nachlaß, hg. v. Karl-Maria Guth. Berlin 2015.

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Lipszyc, Adam/Paweł Piszczatowski (Hg.): Paul Celan: je˛zyk i Zagłada, Warszawa 2015. Mandelsztam Osip: Nieograbiony i nierozgromiony. Wiersze i szkice, übers. und hg. v. Adam Pomorski. Warszawa 2011. Philippe Lacoue-Labarthe: Dichtung als Erfahrung, übers. v. Thomas Schestag. Stuttgart 1991.

Übersetzt von Paweł Piszczatowski

Katarzyna Bojarska

Leiterinnen auf dem Weg zum Zeugnis. Poetische Relationsbildung mit den Frauenfiguren bei Paul Celan

There is a pain – so utter – It swallows being up – Then covers the abyss with trance – So memory can step Around – across – upon it – As one within a swoon – Goes safely – where an open eye – Would drop him – bone by bone Emily Dickinson1

Die Eigenschaft der Celan’schen Dichtung, auf die im Folgenden eingegangen wird, ist ihre mnemonische, durch Schmerz- und Verlusterfahrung verursachte Intimität. Das Werk Celans bildet einen Versuch einer dialogischen Relationsbildung, in der die Erinnerung und (in einer Relation zu dem Verlorenen – oder sogar dank ihr) auch die Sprache (und somit auch die Dichtung) weiter bestehen könnten. Es geht dabei vor allem darum, zum Kern der Erfahrung eines Überlebenden in einer ruinierten Welt zu gelangen: des Einzigen, der in dieser Welt durch Zufall noch übrig blieb, weil – wie der Dichter selbst sagt – er derjenige ist, »den’s getroffen hat und den’s nicht getroffen hat«.2 Die sprechende Instanz in Celans Texten platziert sich stets auf einer Position, die vermittelnd und vergeblich zugleich ist. Ständig quält sie sich mit der Suche nach dem Sinn ihrer Verortung in der entleerten Welt ab: Einerseits scheint alles verloren zu sein; andererseits aber lebt sie und – trotz alledem – spricht. Es werden im Folgenden einige Stellen aus Celans Texten unter die Lupe genommen auf der Suche nach Spuren des Übergangs zwischen der Selbster1 Emily Dickinson: The Complete Poems, hg. v. Thomas H. Johnson. Boston o. J., S. 294. 2 Paul Celan: »Gespräch im Gebirg«, in: ders., Ausgewählte Gedichte und Prosa, übers. und hg. v. Ryszard Krynicki. Krakjw 1998, S. 305–310, hier S. 308.

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kenntnis als einziger Überlebender und Herausbildung eines dialogischen Begegnungsraumes, einer Relation zwischen der Vergangenheit und dem endgültig Verlorenen, und dem, was nach seinem Platz in der Gegenwart des Gedichtes verlangt. Es wird sich somit um den Übergang von der Position eines Überlebenden zu der eines Zeugen handeln; um eine Bewegung zwischen der Setzung seiner selbst als Subjekt – oder als Objekt – des »Überlebens« und dem Versuch, sich als Relationalsubjekt zu setzen, das sich von seiner Singularität loslöst und nach einem/einer Zweiten sucht (nicht nach dem/der Fremden, sondern nach dem/der Anderen): Er sucht nach seiner verlorenen, nicht beweinten und unvergessenen Zuhörerin, nach einer Gegnerin, einer Leserin, die sein Werk bezeugen und empfangen wird, wodurch es sein eigentliches Bestehen erlangt. Es geht dabei nicht um eine(n) reale(n) Leser(in), sondern vielmehr darum, das Gedicht auf die Möglichkeit des/der Anderen zu öffnen; die Möglichkeit, dass es auch – oder sogar vor allem – in seiner/ihrer Sache spricht.3 Die Einsamkeit und die Singularität Celans – als den Protagonisten seiner Texte – ist keine freie Wahl (weder im poetischen noch im existenziellen Sinne): Es ist eine durch geschichtliche Umstände und Daten der Shoah erzwungene Lage. Die Einsamkeit bedeutet Verurteilt-Sein und einen Mangel, die Singularität – eine Widrigkeit des Schicksals. Er der »Endlösung« – dem Programm einer Vernichtung entkommen ist, ist absolut vereinzelt und durch das Dröhnen dieser Vernichtung absolut betäubt. Er ist eine Ausnahme von der Todesregel, gegen die er sein Leben lang zu kämpfen haben wird – sie umfasst nämlich nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Gegenwart. Der Überlebende verharrt in der leeren Welt der Gegenwart wie ein Stein: ein Grenzobjekt zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen dem, was existiert, und dem, was einfach nur da ist. Es ist die Sprache der Dichtung mit ihren Mikro-Bewegungen, die das »Leben« dieses Steins aufrecht erhält; sein Sich-zu-dem-Anderen-Hinüberwerfen als Stein, »der den andern zum Ziel nahm«.4 Celan lehnt den Fluch der Singularität eines Überlebenden ab, um eine Relation zu bilden, aus der und in der er zum Zeugen wird. Dieser Relation wird hier in denjenigen Texten Celans – von den direkt nach dem Krieg entstandenen bis zu den späten – nachgegangen, die an ein besonderes »Du« adressiert sind: an eine Frau, eine Mutter-Schwester, eine verlorene Andere, eine Andere-die-nichtwar, eine, die nicht überlebte, die aber überlebt wurde und deren Ende weder erlebt noch vermieden werden konnte. Wie Geoffrey Hartmann richtig bemerkt: Das größte Interpretationsproblem bei der Celan-Lektüre entsteht beim Ver3 Vgl. Paul Celan: »Der Meridian«, in: ders., Ausgewählte Gedichte und Prosa, übers. und hg. v. Ryszard Krynicki. Krakjw 1998, S. 318–340, hier S. 332. 4 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Ausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 102.

Poetische Relationsbildung mit den Frauenfiguren bei Paul Celan

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such, die Identität des dialogischen »Du« zu bestimmen, herauszufinden, wer/ was sich hinter diesem Pronomen verbirgt. Und weiter : In welcher Relation stehen die beiden Figuren – das Ich und das Du – zueinander? Und wer sind sie füreinander?5 Ich werde versuchen, die Relevanz der männlich-weiblichen Relation für das Zeuge-Werden und für die Entstehung des Zeugnisses zu zeigen. Ich möchte auch beweisen, dass es eine Suche nicht nach einer Dialogizität sensu stricto ist, sondern vielmehr nach einer Relationalität; kein Versuch der Gesprächsführung, sondern eines besonderen affektiven Austausches, ohne den nichts geschehen kann.

Der Fluch der Singularität »ich, ich, ich…« – mit diesen Worten beendet einer von den zwei, oder vielleicht der einzige, Protagonist des kurzen Prosatextes Celans aus dem Jahre 1959, unter dem Titel Gespräch im Gebirg, seine Selbstdarstellung.6 »Ich und kein andrer«, »ich und nicht er«, der ständig von dem eigenen und dem fremden Schatten begleitet wird, der sich am falschen Ort befindet, erinnert sich an die Zeit, als er, zusammen mit (oder besser gesagt – neben) den anderen auf einem Felsenboden lag; er erinnert sich vor allem an seine eigene Fremdheit, trotz der Ähnlichkeit (des Schicksals?) und nennt sie letztlich die Geschwisterkinder. »[U]nd sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer, und wer will Einen lieben […]«.7 Man kann – und man soll – sich fragen, warum sie, wenn sie zusammen waren und als Geschwisterkinder bezeichnet wurden, und wenn sie das gleiche Schicksal teilten, ihn allein nicht liebten und warum er unter ihnen der Eine war. Man könnte annehmen, dass sie womöglich – trotz des Zusammenseins – in Wirklichkeit einander ganz fremd blieben, sich voneinander unterschieden, und jede(r) von ihnen fühlte sich einsam, verlassen und ungeliebt. Das gemeinsame Schicksal machte sie nämlich zu keiner Gemeinschaft, eher zu einer Masse: sie bildeten eine Masse von Menschen, die auf dem Felsenboden zusammengedrängt waren, die durch dieselben traumatisierenden Erfahrungen verbunden-getrennt blieben, durch die Schrecken der Gewalt und des Verlustes, und durch die Qual der Vereinsamung.8 Nirgendwo im Werk Celans wird von einer Gemeinschaft der Über5 Geoffrey Hartman; »Holocaust Testimony, Art and Trauma«, in: ders.: The Longest Shadow: in the Aftermath of the Holocaust. Bloomington 1996, S. 151–172. 6 Celan 1998, S. 304–310. 7 Ebd. S. 308. Die folgenden stammen aus derselben Quelle. 8 In der Erinnerung scheinen sich verschiedene Zeit- und Realitätsebenen zu überlagern: Von der vergangenen Erfahrung bis zu einer, die nur vorgestellt wird und einer emphatischen Einfühlung. Solche Struktur ist typisch für das Traumagedächtnis und für die Traumarekonstruktion. Es ist eine Erinnerung aus vergangener Zeit, die in Wirklichkeit nicht vergangen

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lebenden gesprochen: Der Dichter versucht weder eine solche Gemeinschaft zu bilden noch in einer bereits vorhandenen seinen Trost zu finden. Und doch gibt es die anderen, die auch überlebten. Nichts aber spricht dafür, dass sie für ihn und mit ihm eine neue Gemeinde bilden sollten, die über eine Erlösungskraft verfügen sollte: eine neue Gemeinschaft für die neuen Zeiten. Ganz im Gegenteil – diejenigen, die geblieben sind, verstärken nur die Einsamkeitserfahrung, und vor allem das Gefühl des absoluten Verlustes. Derselbe Protagonist aus Gespräch im Gebirg sagt: »wer will alle lieben können […] ich liebte sie nicht«. Wer »alle lieben können [will]«, liebe niemanden, scheint der Sprechende zu suggerieren. Das im zuvor angeführten Zitat übersprungene Fragment ist eine direkte Wendung an den Gesprächspartner, oder eher an die Gesprächspartner-Leser: »ich verschweigs dir nicht«. Warum so formuliert? Warum »ich verschweigs dir nicht« statt des üblichen »ich sage es dir«? Vielleicht wird damit angedeutet, dass diese Verschweigung »meinerseits« von »dir« erwartet wird, vielleicht fühle »ich« selbst, dass »ich« es besser verschweigen soll, »ich« tue es aber nicht – »ich« kann es nicht? »Ich« will es nicht? »Ich« will »dich« dadurch nicht schonen, »du« könntest noch denken, dass »ich« besser bin/war, dass »ich« diese Gemeinschaft der Liebe wollte. »Ich« verschweige es nicht, und so verwickle »ich« »dich« in diese Relation, »ich« verursache, dass »du dich« unheimlich fühlst, so dass »du« nicht wissen wirst, was »du« fühlen und sagen sollst. Da – wenn man tiefer in den Text geht – stellt sich heraus, dass die, die von dem Sprechenden nicht geliebt wurden, nicht nur diese waren, die auf dem Felsenboden schliefen und vielleicht träumten. Dieses interessante Textverfahren verursacht, dass der erzählende Protagonist sich im Zentrum der von ihm dargestellten Welt verortet: Die Geschichte kreist um ihn herum und er ist derjenige, der das Überfließen der Affekte organisiert und der spricht (oder sogar – sich erinnernd erzählt), wodurch er zum Subjekt eines Zeugnisses wird, verstärkt noch dank der Verwicklung des Zuhörers/der Zuhörerin in seine Rede.

ist: Durch die Erzählperspektive sind die Vergangenheiten ineinander verwickelt und eingewickelt in die Gegenwart. Man kann auf diesen sich überlagernden Ebenen nach biografischen Spuren suchen: Von der Erinnerung einer Nacht direkt nach dem Krieg, die der Dichter, unterwegs von Bukarest nach Wien, auf einem Bahnhof verbrachte; über die Erfahrungen aus dem Arbeitslager, aus der Kriegs- und Shoah-Zeit, bis zu der Erfahrung, die von ihm nicht direkt erlebt, die ihm aber von den Tätern versprochen wurde – die Erfahrung des Tot-Seins unter einer Masse von anderen, »dieselben« Toten, die betroffen waren, weil es sie endgültig getroffen hat. Die besondere Verwirrung der Sprache in dieser Erzählung, alle ihre Unklarheiten und Schwierigkeiten bei der Bestimmung der inneren Textbeziehungen – alle diese Elemente bilden das Gedächtnisgewebe eines Traumas und stellen die Mühe dar, die sich mit dem Versuch verbindet, eine Art Ordnung in die Erzählung zu bringen.

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Sich-Zusprechen In ihrem Essay Orpheus Rex kehrt Kaja Silverman9 zu der Zeit zwischen 1882 und 1939 zurück, in der die westlichen Schriftsteller, Theoretiker und Künstler sich mit der (sowohl für die Vorstellung als auch für die Konzeptualisierung der Subjektivität äußerst bedeutungsvollen) Grundfrage beschäftigten, was eine Frau und was einen Mann ausmacht, wie die Beziehung zwischen ihnen aussieht und wie sie aussehen sollte. Verschiedene Mythen und Urgeschichten wurden damals neu entdeckt und schöpferisch umgestaltet, um Antworten auf die oben erwähnten Fragen zu finden. Silverman ist besonders an den Aspekten interessiert, die u. a. von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Wilhelm Jensen, LouAndreas Solom8 oder Rainer Maria Rilke herausgearbeitet wurden, als sie sich mit der Ovid’schen Version des Orpheus-Mythos auseinandersetzten. Dieser Mythos, wie die Autorin überzeugend beweist, sei in der westeuropäischen Kultur allgegenwärtig gewesen und sollte als die Basis des Denkens über die Relationen zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen sowie der Kunst und des Verlusts (bevor die Psychoanalyse anfing, den Ödipus-Mythos zu bevorzugen) gesehen werden. Laut Silverman sei die Geschichte von Orpheus und Eurydike zwar vergessen worden, bliebe aber trotzdem unser Lebensmodell. Die Forscherin ist überzeugt, dass diese Geschichte – vielmehr als die des Ödipus – das Fundament der modernen westlichen Identität bilde. Das Sich-Umdrehen von Eurydike (was eigentlich den Entzug ihrer Stimme, Erfahrung, Identität und ihres Gedächtnisses bedeutet), sei nicht nur – so Silverman – ein Sich-Abwenden von der Frau, sondern von der Relationalität an sich. Es sei eine Loslösung einer männlichen – und männer-zentrierten Subjektivität aus der Bindung, der Relation, der Interdependenz und ihre Verschiebung in den Raum der Einsamkeit (des Denkens, des Schöpfens und des Handelns), aber auch den der Phantasie von eigener Selbstgenügsamkeit, auch als Fundament der Historie. Die Rückkehr zur Orpheus-Geschichte ermöglicht einen anderen Zugang zu der Geschichte – nach 1939, und besonders nach 1945 –, gleichwohl dank der Bezüge auf Motive, die in der von Silverman dargestellten Periode zur Sprache kamen. Wenn man aber nach der Geschichte von Orpheus und Eurydike zurückgreift, scheint es wichtig, noch an eine weitere Gestalt zu denken, nämlich – an die Frau von Lot. Das eigentliche Element der Geschichte über Lots Frau die »zur Strafe« für ihren Blick zurück auf die brennenden Sodom und Gomorra in eine Salzsäule verwandelt wurde, entspricht

9 Kaja Silverman: »Orpheus Rex«, in: diess.: Flesh of My Flesh. Stanford 2009, S. 37–58.

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dem Moment des Verharrens, der Verwandlung in einen Stein bei Ovid in seinen Metamorphosen.10 In der Geschichte (wie im gängigen Spruch) erstarrt ein Mensch zur Salzsäule wegen einer tiefen und unerwarteten Angsterfahrung, die mit dem Blick auf Unbegreifliches einhergeht, das jeglicher Wahrnehmung entflieht, den Menschen überrascht und mit Angst erfüllt, sich mit dem Repertoire der zugänglichen Reaktionen nicht umfassen lässt und nicht verarbeitet werden kann. Der Mensch erstarrt, wird taub, reagiert nicht auf die Reize. Die maximale Intensivierung der Affekte wird als Affekt einer totalen Lähmung empfunden – als etwas scheinbar Affektloses. Orpheus ist auf diese Weise vor der Sicht des Todes erschrocken – dieses »zweiten« Todes, des zweiten Verlustes, der sich diesmal in seiner Gegenwart und unter seiner Beteiligung, abspielt. Diese Struktur weckt Assoziationen mit der Doppelstruktur des psychologischen Traumas: Um ein Trauma zu überleben, braucht man zwei Traumata.11 Wie Silverman bemerkt, wurde der zweite Tod der Eurydike in zahlreichen, aus verschiedensten Zeiten stammenden Interpretationen dauernd unterschätzt. Der Blick, den Orpheus hinter sich wirft, interessierte die Re-Interpreten nur insofern, als er für ihn selbst gefährlich war – für seine Mission, seinen Verlust, seine Musik. Der Verlust seiner Gefährtin (die Trennung und die Ablösung von der Relation und Relationalität als Formel des In-der-Welt-Seins) wird von Silverman als Krankheit der gegenwärtigen Subjektivität gesehen. Im Falle Celans haben wir aber, wie bereits erwähnt, mit einer existenziellen Situation der absolut erzwungenen Einsamkeit zu tun. Man kann sagen, dass Celan an einer anderen Krankheit leidet: Für ihn ist der Blick hinter sich keine freie Entscheidung, außer ihm hat er nämlich nichts übrig. Mittels seiner Dichtung konstituiert er diesen Zwang der Umkehr. Es ist auch nicht so, dass es ihm – wie der Frau von Lot – verboten wurde, auf die Katastrophe zurückzublicken. Das Verbot scheint von dem Leben selbst, von der puren Lebenskraft auferlegt zu sein: Wenn du leben willst, darfst du nicht zurückblicken. Was aber, wenn du bereits nicht-lebst? Was, wenn du dir das absurde Über-Leben, das Verharren in der Welt als Fossil dir erzählen musst, und wenn du gleichzeitig verpflichtet bist, dich vor deinen 10 Publius Ovid Naso: Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. v. Michael von Albrecht, Buch X. Ditzingen 2010. 11 Siehe Jean Laplanche: »Notes on Afterwardnes«, in: ders.: Essays on Otherness, übers. v. John Fletcher. New York 1999, S. 264–269. In Nachfolge dieses Geschehens lehnt Orpheus die Beziehung zu Frauen ab, er macht die Weiblichkeit sterblich und tödlich. Zu Anfang des elften Buches der Methamorphosen wird Orpheus von Frauen ermordet und zergliedert in einem Racheakt für seine Misogynie, seinen »Hass gegen Frauen«. Orpheus gelangt zum zweiten Mal in den Hades und er sieht das Gleiche, was er schon zuvor gesehen hatte, aber auf eine neue Weise. Er trifft Eurydike wieder und umarmt sie gefühlvoll: Nun sind sie einander gleich. Erst durch seinen Tod war Orpheus imstande, an diese Verbindung zurück anzuknüpfen.

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Verlorenen zu entschuldigen und zu rechtfertigen? In Celans Dichtung findet eine Akzentverschiebung der orphischen Narration statt: Die Mutter/Schwester kommt hier nicht ums Leben, weil das lyrische Ich (oder der Protagonist-Celan) sich umdreht – es ist eher er, der angesichts des Verlustes erstarrt. Er überlebt, obwohl es ihn getroffen hat (nicht getroffen hat); sie ist schon dort und er will sie nicht zu den Lebenden zurück holen, er möchte vielmehr ihr Nicht-Sein erfahren, sie im Gedächtnis bewahren, er möchte ihr ein Denkmal setzen (wieder ein Stein), will, dass sie in der Sprache weiterleben kann – in einer Sprache, die sie ihm schenkte. Sie soll auch die Empfängerin seiner Dichtung sein, für seine Dichtung bürgen, weil die Texte an sie gerichtet sind. Der Stein bedeutet Erstarren, Stillstellen der Subjektwelt, es ist aber keine Vernichtung, kein Tod und kein Leben (wie das Leben der Pflanzen, aller diesen Türkenbünde und Rapunzel im Gespräch im Gebirg), es ist ein Sein, ein Überleben als Überdauern, etwas mehr als ein Grab in den Lüften: eher ein Schatten dieses Grabes auf der Erde, sein Abdruck im Stoff der Schöpfung, die weiter lebt. Es scheint im Falle Celans keine gute Methode zu geben, mit der versehrten Psyche und Weltorganisation richtig umzugehen. Wenn die Rückkehr zur Vergangenheit zwanghaft wird, wenn die Vergangenheit trotz der wiederholten Versuche sich nicht besprechen lässt (in der Wortbedeutung, wie sie in Celans Psalm mitschwingt12), muss die Einsamkeit womöglich überwunden werden – nicht durch die Wiedergewinnung des Verlorenen sondern des eigenen Ortes in der Welt: in der Sprache, in der Dichtung, eines Ortes im Netz der Verwandtschaften, Relationen und Beziehungen. Auch wenn die Beziehungen im Nachhinein geknüpft werden – die Relationalität muss nicht immer von der Koexistenz oder der Existenz auf derselben ontologischen Ebene bedingt sein: Die Mutter besteht nur in Form einer Erinnerung, die Schwester – in der eines Phantasmas, was aber nicht bedeuten muss, dass sie minder existent sind. Das Übertragen des Affekts auf das Gedächtnis, den Gedächtnisimpuls, kreiert keine Begegnungssituation, sondern eine Relationsmöglichkeit, eine Verwicklung: Der Vergangenheit in die Gegenwart, der Sprache des Überlebens in eine der Zärtlichkeit und der Sorge (vielleicht sogar der Liebe). Die Pathologie bestünde hier in der Ablehnung der Möglichkeit und Fähigkeit, die Zeiten und Worte zu assoziieren, sie miteinander zu verknüpfen, sie an sich zu binden und mit Lesenden zu teilen. Ich kann dich noch sehen: ein Echo, ertastbar mit Fühlwörtern, am Abschiedsgrat.

12 Vgl. Celan 2005, S. 132.

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Dein Gesicht scheut leise, wenn es auf einmal lampenhaft hell wird in mir, an der Stelle, wo man am schmerzlichsten Nie sagt.13

Das Gedicht beginnt mit einer relativ positiven Feststellung: Ich sehe dich noch, ich kann dich noch sehen, du bist also da (du und ich auch), und wenn du bist, dann gibt es auch »etwas« zwischen uns. Was aber direkt danach folgt, ist kein Bild, sondern ein Klang, oder – anders gesagt – eine Gestalt, die kein Abbild ist, sondern eine Stimme, dazu eine zurückgeworfene. Die mythische Echo vergeht bekanntlich vor Verzweiflung, nachdem sie von Narziss verlassen wurde: Nachdem ihr Körper völlig verschwunden war, wurden ihre Knochen zu Felsen, und auf diese Weise ist sie immer noch da: als von den Bergen zurückgeworfener Klang. In Celans Gedicht können die Worte der (immer noch »sichtbare«) Echogestalt vernommen werden; aufgehalten auf der Schneide der Trennung, der Spaltung, der Scheidung; auf Messers Schneide, welche diese zwei für immer zerschneiden wird. In der zweiten Strophe erscheint ein Gesicht, das – während es im »Ich« hell wird (vor Freude? vor Wiedererkennung?) – scheu und geräuschlos verschwindet. »Im Ich« ist der Ort, wo man am schmerzlichsten Nie sagt. Das Licht des Gedächtnisses und des Gefühls belebt die Begegnungsmöglichkeit und beleuchtet gleichzeitig ihre hoffnungslose Vergänglichkeit, Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit. Das aus dem Gedächtnis aufgerufene Abbild verschwindet genauso schnell wie es erschien, belichtet für das kurze »Noch«, es ist ein visuelles Echo des vergangenen Daseins und ein Zeichen der jetzigen Abwesenheit. Die Knochen verwandelten sich hier nicht in Steine, sie stiegen in die Luft, und durch sie – eingeatmet? – drangen sie in den inneren Ort des »Ich«, wo sie mit dem Klang des ehemaligen »Wir« räsonieren. In dem Gedicht klingen auch Spuren der Orpheus-und-Eurydike-Geschichte nach: der Geschichte von Verlust und von einer misslungenen (»Nie«) Probe der Wiedergewinnung – mindestens – eines Bildes (»Ich kann dich noch sehen«). Das Gesicht hat von dem inneren Licht des liebenden lyrischen Subjekts beleuchtet werden sollen, dies brachte aber nur die Leere ans Licht, wiederholte den schmerzlichsten, unumkehrbaren Verlustakt – obgleich es auch ermöglichte, ihn im Gedicht zu registrieren. Solche Begegnung mit einem Schatten kann ausschließlich zu einer (wiederholten, nochmaligen) Trennung führen; sie lässt aber auch den plötzlichen Belichtungsmoment des Vergangenheitsbildes auftauchen und das Gegenwartsbild mit voller Kraft überlagern. Das Aktualitätserlebnis der wiederholten Trennung ermöglicht dem Dichter, den Abstand zwischen zwei Gestalten, zwischen zwei Ereignissen und zwei Affekten (der Hoffnung des »ich 13 Celan 2005, S. 287.

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kann noch« und der Hoffnungslosigkeit des »Nie«) und letztlich – zwischen zwei Toden (dem vergangenen und dem aktuellen) mit den Worten zu ermessen. Das ist die wahre Dimension des Zeugnisses. Maurice Blanchot schrieb in L’espace litt8raire über den orphischen Mythos: »il [Orpheus] n’est pas moins mort qu’elle [Eurydike], non pas mort de cette tranquille mort du monde qui est repos, silence et fin, mais de cette autre mort qui est mort sans fin, 8preuve de l’absence de fin.«14 Es kann noch anders formuliert werden: Es ist die Qual des vergangenen Todes, der immer vor uns steht, für immer unverschlossen, unvollendet, obwohl unser ganzes Leben in seinem Schatten läuft; es ist seine Folge, gleichzeitig aber führt es zu ihm. Dadurch wird die Trauer besonders problematisch und wirklich unvollendet: Wie kann etwas beweint werden, das gleichzeitig bereits passiert und noch nicht passiert ist? Das »Ertasten mit FühlWörtern« ist nur so wenig – und so viel – wie ein Heilmittel gegen die Unmöglichkeit, der Qual ein Ende zu setzen und die Relationität einzugehen.

Du-Vermutterung Im Jahre 1943 schrieb Celan, damals noch als Paul Antschel, nachdem er erfahren hatte, dass seine Mutter in einem der Nazilager für arbeitsuntauglich erklärt und erschossen worden war , das Gedicht Winter,15 ein Gespräch-Gedicht, in dem er die Topographie des Verlustes aufzeichnete: »ich blieb derselbe in den Finsternissen« – schrieb er – während in der Ukraine Schnee fiel. Am Ende stellt er die hoffnungslose Frage: »Was wär es…«. Sie wird, natürlich, an seine Mutter gerichtet: »Was wär es, Mutter : Wachstum oder Wunde –«. Ist es keine höchstmerkwürdige Alternative? Man darf fragen: wessen Wachstum und wessen Wunde?, wer sollte (und ist es überhaupt dieselbe Person) so intensiv und/oder so extrem den Verlust des lyrischen Subjekts empfinden, das im Schneewehen der Ukraine versank? Jedoch scheint das Versinken im Schnee eine pittoreske und poetische Art des Todes, von dem »geträumt« werden und der unter den gegebenen geschichtlichen Umständen nicht passieren kann, da er in dieser Form nicht vorgesehen ist. Seine Vorstellung, dass der Winter und das ferne Land die geliebte Person verschlingen, wird geradezu automatisch zur Poesie, und das wirkt beinahe lindernd. »Versänk auch ich im Schneewehn der Ukraine?« – so der Wunsch des Ich. Es blieb aber stattdessen, »derselbe in den Finsternissen«. »Wäre auch ich« bedeutet, dass ich nicht allein wäre, ich wäre nicht verlassen worden, sondern wäre mit den anderen versunken (darunter mit meinen Nächsten). »Im Schneewehn der Ukraine« ist aber ein »irgendwo«, in 14 Maurice Blanchot: L’espace litt8raire. Paris 1955, S. 181. 15 Celan 2005, S. 399.

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den Finsternissen verweist es (nicht zum ersten Mal, wie bereits erwähnt wurde) auf die Qual des unerfüllten Endes. Die Mutter bleibt dort und das ist – wenigstens – eine Geschichte. Zu diesem »dort« muss man zu gelangen versuchen, auf verschiedenste Weisen die Zunge und die Sprache dieser Zunge anstrengend, bis aus »einer« Geschichte die eigene wird, um nicht ein Zeugnis aus Schnee abzulegen, sondern eines aus »Fleisch und Blut«. Im selben Jahr entstand ein zweiter Stimmenwechsel mit der Mutter (nach der Nachricht vom Tode des Vaters): Ein Gedicht, das ursprünglich sogar den Titel »Mutter« tragen sollte, letztlich aber als Schwarze Flocken erschien. Die zweite Strophe, die eine in Anführungszeichen gesetzte Aussage der Mutter enthält, endet folgenderweise: Ein Tuch, ein Tüchlein nur schmal, daß ich wahre nun, da zu weinen du lernst, mir zur Seite die Enge der Welt, die nie grünt, mein Kind, deinem Kinde!16

Mit der Mutter bleibt (nun) ein Tuch, »ein Tüchlein nur schmal« für den ukrainischen Winter, für den Winter-für-immer, ein Zeichen der Wärme, Sorge und Einhüllung, auch wenn es nur spärlich ist, vielleicht auch der Zuversicht, eine Erinnerung an das Leben und an das Da-Sein. Dem Sohn (dann) bleibt nur ein langer Unterricht im Weinen übrig, in einer verengten, toten oder erstarrten Welt (die nie grünt), die er seinem Kind übergeben wird; ein Erbe aus Tod und Verzweiflung: sicherlich aus dem Ersteren, aus dem Letzteren nur solange es ihm noch gelingt, sie zu ›lernen‹ und sie seinem Kind beizubringen. Die drei letzten Verse sind die Antwort des sprechenden Ich: Blutete, Mutter, der Herbst mir hinweg, brannte der Schnee mich: sucht ich mein Herz, dass es weine, fand ich den Hauch, ach des Sommers, war er wie du. Kam mir die Träne. Webt ich das Tüchlein.17

Wie John Felstiner bemerkt, ist es das einzige Gedicht Celans, in dem direkt an den Vater und an seinen Tod erinnert wird.18 Die Erinnerung kommt jedoch aus dem Munde der Mutter : Es ist die Frau, die die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbringt; die Mutter vermittelt und benennt den Tod des Vaters. Diese Relation entwickelt sich weiter : Die Mutter fragt einen anderen Mann, ihren Sohn, nach dem Tuch. Auf diese Weise dreht sie das Fürsorgeverhältnis um, in dem die Mutter diejenige ist, die das Kind umhüllt, mit Fürsorge umgibt und Sicherheit garantiert. Der Sohn kann ihr dagegen keine Sicherheit mehr garantieren, nur 16 Celan 2005, S. 19. 17 Ebd. 18 Der Vater Celans starb an Typhus in einem Lager, siehe John Felstiner : Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2000, S. 42.

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ihre Leiche mit dem Tuch bedecken. Der vom Schnee gepeitschte Sohn sucht nach seinem Herzen, um es zum Weinen zu bewegen (in der Welt, wie es angedeutet wird, gibt es keine spontanen oder offensichtlichen Reaktionen), und dadurch die Aufgabe zu erfüllen, die von der Mutter als »lernen zu weinen« bezeichnet wurde. Und erst dann, wenn die Tränen kommen, kann er ein Tüchlein weben, nicht einmal Tuch. Über die Mutter »sagt« Celan am meisten. Ihre Geschichte lässt sich aus verschiedenen, ausgestreuten Erinnerungsüberresten zusammenfügen. Und so, zum Beispiel, werden solche Erinnerungsbrocken in jeder zweiten Zeile des LiedGedichts Espenbaum aus dem Band Mohn und Gedächtnis19 gefunden: Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß […] Meine blonde Mutter kam nicht heim. […] Meine leise Mutter weint für alle. […] Meiner Mutter Herz ward wund von Blei. […] Meine sanfte Mutter kann nicht kommen.20

Aus der Vergangenheit kommen zu ihm/uns ihr Haar, ihr Herz, ihr leises und sanftes Wesen, ihr Nicht-Alt-Werden und Nicht-Heimkommen, ihr Weinen, ihre Wunde und das Nicht-Kommen-Können. Die letzte »Information« ist vielleicht die merkwürdigste. Wohin kann die sanfte Mutter des Dichters nicht kommen? Man möchte sagen, dass das einzige, was klar ist, der Grund dafür ist. Aber ist der Tod wirklich die einzige Erklärung für das Unvermögen? Es scheint, dass nicht das vom Blei verwundete Herz schuld daran ist, dass sie nicht kommen kann: Das Unvermögen liegt eher auf der anderen Seite, auf der Seite des Sohnes, der sie nicht heimholen kann, und der es desto peinlicher empfindet, je mehr er es zu tun versucht. Nach seiner Auswanderung nach Paris schreibt Celan oft über seine Mutter ; sie erscheint oft als die Hauptgestalt in seinen Gedichten, als ob er sie entweder endgültig hinter sich lassen oder mitnehmen wollte. Er gestaltet sie, gestaltet sie neu, gestaltet sie um und kreiert für sie immer neue poetische Landschaften und Welten: So bist du denn geworden wie ich dich nie gekannt:

19 Vgl. ebd. S. 79. 20 Celan 2005, S. 30.

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dein Herz schlägt allerorten in einem Brunnenland,21

In den Pariser Gedichten aus den Jahren 1950–52 erscheint, neben der Muttergestalt, auch eine Schwesterfigur – eine Figur des intensivierten Mangels. Die Mutter-Schwester ist eine Frau, die Celan in gewisser Weise mit seinem ÄlterWerden einholt: Es ist die Mutter, die seine Schwester sein könnte. Wären sie zusammen im Schneewehen der Ukraine versunken, wären sie für immer Mutter und Sohn geblieben, ihre Relation wäre auf eine bestimmte Weise eingefroren gewesen. So wird aber ihr »Verhältnis« in den Vorstellungen und im Gedicht flimmernd – vielleicht brüderlich-schwesterlich –, es öffnet neue Möglichkeiten der Relationalität. Der Sohn-Dichter, aus dem Tode und aus der Starre geboren, erfüllt das Gebot der Mutter, indem er eine Beziehung mit der Tochter ihres Totseins eingeht, die – wie im Gedicht Vor einer Kerze – als Ergebnis ihres Anders-Seins gesehen werden kann: Aus getriebenem Golde, so Du’s mir anbefahlst, Mutter, formt ich den Leuchter, daraus sie empor mir dunkelt inmitten splitternder Stunden: deines Totseins Tochter22

Die Frau (aber auch die Relation), die in der Zeit stehen geblieben ist – eine suspendierte, angehaltene, junge-nichtjunge Gesprächspartnerin und Zuhörerin, »vermählt einer Schrunde der Zeit«, die erste Empfängerin des Zeugnisses, vom Anfang an und für immer verwandt (»Ver-schwistert«23). Im Jahre 1952 schreibt Celan ein Gedicht, das mit dem Incipit Zähle die Mandeln beginnt, und in dem er sich wieder an seine Mutter wendet: Er bittet sie zu zählen, was »bitter war und dich wachhielt« und dass sie auch das sprechende Ich zu »den Mandeln« zähle. Was bitter ist und gleichzeitig wachhält, wofür in dem Gedicht die Mandeln stehen, ist die Tradition/Identität, die Verbitterung und die Kraft, eine Gemeinschaft, die weh tut und Stärke gibt. In der Bitte kann man aber auch etwas Beunruhigendes vernehmen, was an den Vers »versänk auch ich im Schneewehn der Ukraine« erinnert. Es ginge hier darum, mit- und zusammengezählt zu werden mit den Gestorbenen, um Trost in diesem Mandelhaufen zu finden, um sich im Zählen aufzulösen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie fehl am Platze eine solche Bitte ist. Hier (ähnlich wie im Gedicht Schwarze Flocken), spinnt das lyrische Ich und webt: Die Mutter tritt in die Form 21 Ebd., S. 46. 22 Celan 2005, S. 73. 23 Aus dem Gedicht Radix-Matrix (Celan 2005, S. 140).

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des Gedichts ein, in ihren eigentlichen Namen, das Gestorbene umarmt sie. Sie wird zu ihrem wahren Selbst – sie wird tot. Und – weil sie dem Sohn auf eine gewisse Weise entflieht – muss er am Ende seines Gedichts nochmals eine Handlung von ihr verlangen: »mache mich bitter / zähle mich zu den Mandeln«. Der vorletzte Vers basiert gewissermaßen auf Homonymie – akustisch kann man ihn als »mache mich, bitte« vernehmen: Sei diejenige, die mich (wieder-)schafft, mich macht, fertigstellt und zu den Mandeln zählt – dazu, was ist und Bedeutung hat, auf der einen oder auf der anderen Seite des Lebens. In diesen Texten wartet also das Ich/Celan nicht nur auf eine Antwort (auf die Worte), sondern auch auf die Handlung seitens der Mutter, er versucht ihr einen Raum zu erschaffen, in dem sie nicht nur sprechen, sondern auch aktiv wirken, und der auch von ihm besetzt, in dem er (ganz) werden könnte. Es handelt sich dabei womöglich um ein kompliziertes Solidaritätsprojekt zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen denjenigen, die es getroffen hat, und denen, die überlebten und ihren Platz für sich in Anspruch nahmen – oder die es wenigstens glaubten und es so einschätzen wollten. Wenn das Gestorbene die Mutter umarmt, wird ihr gleichzeitig Ruhe und Trost seitens dessen versprochen, was überdauert hat, was noch-nicht-untergegangen-ist: durch das Schuld- und Schamgefühl des Überlebenden, durch seine offenen, gleichzeitig leeren Augen. Die Mandeln führen Celan noch zu einer anderen Begegnung – diesmal mit einer Frau, die Getreide gedeihen lässt, mit der Mandelnden.24 Das Gedicht fängt mit einer Invokation an, dessen Empfängerinnen drei verschiedene weibliche Subjekte sein können: Erstens, die Mutter (die bereits in dem zuvor besprochenen Gedicht mit Mandeln in Verbindung gebracht wurde); zweitens, eine Freundin aus der Jugendzeit, die ähnlich wie Celan der Vernichtung entkam und dann nach Israel auswanderte – die Schriftstellerin Ilana Shmueli, an die Celan das Gedicht im Rahmen vom intensivierten Briefwechsel in den 60er-Jahren verschickte; und letztlich – die Schechina, die die weibliche Anwesenheit Gottes auf der Erde symbolisiert und seine Beheimatung und Präsenz unter der 24 »Mandelnde« bedeutet nach dem Grimm’schen Wörterbuch (siehe: http://woerterbuchnetz. de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=GM00846#XGM0 0846; 05. 07. 2017) eine, die »Getreidemandeln ergibt«,, die »das geschnittene oder gehauene, aufgesammelte und aufgebundene« Getreide in Mandeln setzt, die etwas »in eine Anzahl von Fünfzehn zerlegt«. Celan spielt hier mit einem alten Gebrauch vom Verb mandeln (laut dem Grimm-Wörterbuch), in dem Mandel ein Mengenmaß von 15 Stück und die Frucht des Mandelbaums bedeutet. »Mandelnde« kann auch als ein »unheimliches« Echo des verformten weiblichen Namens Magdalene gesehen werden. Es scheint nicht ohne Grund – der Name stammt aus dem hebräischen Wort Magdala (@76B / Migdal), das auf mindestens zwei Orte im altertümlichen Israel verweist, die im Talmud erwähnt werden: Magdala Gadal und Magdala Nunayya; auf die Quelle der Einwurzelung, des Lebens und der jüdischen Tradition, Orte zu denen Celan während seines Israel-Aufenthaltes 1969 gereist ist und wo er seiner Freundin aus der Zeiten vor der Shoah, Ilana Shmueli, begegnete. Ich danke Paweł Piszczatowski für seine Hinweise zu der Semantik des Wortes.

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Schöpfung darstellt. Obwohl Shmueli, ähnlich wie Celan, nicht mehr in ihrer »Wohnstatt« Bukowina lebt, sondern auch im Exil verbleibt, ist sie mehr »Zuhause« als er – auf eine Weise näher an den Mandeln, vielleicht sogar unter ihnen. Ihre Gestalt scheint die gestundete rettende Möglichkeit aufrecht zu enthalten, dass vielleicht doch nicht alles verloren ist, dass ein Teil »jener« Welt, der Welt vom »echten« Zuhause, auf eine gewisse Weise weiterlebt. Wenn diese Frau da ist, ist auch die Mutter da und die Möglichkeit einer sichereren Rückkehr zu den Zeiten vor »Entäugung« und »Verdornung«. In diesem Bild wird das Überleben für einen kurzen Moment nicht als Fluch betrachtet, die Relation wird belebt, und dadurch wird es möglich, im Immer-Noch-Da-Sein einen Sinn zu finden. Mandelnde, die du nur halbsprachst, doch durchzittert vom Keim her, dich ließ ich warten, dich. Und war noch nicht entäugt, noch unverdornt im Gestirn des Lieds, das beginnt: Hachnissini.25

Eine Frau, »durchzittert vom Keim her«, überlebte und wartete ab, ist nun aber da. Das letzte Wort des Gedichts, ein hebräisches Verb in weiblicher Form des Imperativs, bedeutet »nimm mich, schütze mich, umarme mich« und verweist auf die ersten Verse des Texts Hachnissini tachat knafech von Chajim Nachman Bialik aus dem Jahre 1905.26 Die Frau aus Bialiks Gedicht soll ihm (dem lyrischen Ich) Mutter und Schwester sein, seine Rettung, seine Zuflucht und seine Stütze. Neben Shmueli gibt es auch eine andere Künstlerin, die Celan in der außertextuellen Welt wichtig war und die als seine Schwester-Mutter gesehen werden kann – die Dichterin Nelly Sachs. Es ist die nicht zustande gekommene Begegnung mit ihr in Stockholm, die die Entstehung des Gedichts Die Schleuse inspirierte und die in diesem Text widerspiegelt wird. In einer Sequenz von drei Strophen wird hier zweimal die Erfahrung eines Wortverlusts wiederholt. Erst ist es ein Wort, das dem lyrischen Ich verblieben war, dann aber entkam (»Schwester«), des weiteren – ein Wort, das ihn suchte (»Kaddisch«); es lässt sich sagen, dass das Ich mit den Worten gleichsam zwei wichtige Relationen verlor: die der Verwandtschaft, der Nähe zu einer anderen Person, die aus dem gleichen (sei es nur sprachlichen, dichterischen) Fleisch und Blut stammt, und die der 25 Celan 2005, S. 359. 26 Felstiner 2000, S. 332.

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Gemeinschaft eines Rituals, einer männlichen Gemeinschaft der Preisung und der Klage. In der letzten Strophe muss das Ich selbst handeln – es muss ein Wort retten, welches – den früheren Worten folgend – an der Grenze der Vernichtung steht. Den Strömungen und Fluten zuwider, muss es das Wort »Jiskor« auffangen und dadurch retten: An einen Mund, dem es ein Tausendwort war, verlor – verlor ich ein Wort, das mir verblieben war : Schwester. An die Vielgötterei verlor ich ein Wort, das mich suchte: Kaddisch. Durch die Schleuse mußt ich, das Wort in die Salzflut zurückund hinaus- und hinüberzuretten: Jiskor.27

Die Errettung des Wortes bedeutet gleichzeitig die Bewahrung einer besonderen Relationsform, eine Betreuungsübernahme über den verstorbenen Elternteil: wieder (wie im Falle des Tüchlein-Webens) wird hier die Mutter in Schutz genommen; das lyrische Ich wird zur Mutter seiner Mutter, aber gleichzeitig völlig ihr Sohn, der sich um ihr gutes und richtiges Gedenken kümmert, der ihr einen sicheren Platz im Jenseits gewährleisten möchte. Und es wird ein individuelles Gebet sein – nicht eines, das eine männliche Versammlung verlangt, sondern eines, das allein im Stillen gesprochen wird.

Umkehr – Begegnung Wie bereits gesagt, wird in Celans Gedichten – durch Vermittlung weiblicher Mittlerinnen – ein Netz der Relationen errichtet und verstärkt, das nicht nur das Erinnern, sondern auch das Sein ermöglicht. Die Sprache dieser Gedichte, obwohl sie immer eine Sprache des Dialogs (oder besser – des Austauschs) bleibt, unterscheidet sich krass von dem Deutsch, das zu der damaligen Zeit gesprochen 27 Celan 2005, S. 131; Im Hebräischen bedeutet das Wort jiskor (»lass ihn erinnern«, eine männliche Imperativform) ein Gebet, das von den Nachkommen gesprochen wird und in dem ihren verstorbenen Eltern gedacht wird. Es wird vier Mal im Jahr gebetet. Was wichtig scheint, dass es kein Gebet für die Toten ist, sondern eine Erinnerung an die verstorbenen Nächsten. Es wird um Andenken und um Ruhe für die Toten gebeten.

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wurde; vom gebräuchlichen, umgangssprachlichen, bekannten, bequemen und gehorsamen. Celans deutsche Sprache – die Muttersprache, die zur Mördersprache wurde, um danach infolge der dichterischen Arbeit in die Sprache des (seines) Zeugnisses transformiert zu werden – war niemandem untertan, sie war auch nie dazu gedacht, jemandem zu dienen oder gebraucht zu werden. In einem Brief an seine Frau, GisHle Celan-Lestrange, schrieb Celan: Die Sprache, mit der ich meine Gedichte mache, hat in nichts etwas mit der zu tun, die hier oder anderswo gesprochen wird […]. Wenn es noch Quellen gibt aus denen neue Gedichte (oder Prosa) hervorsprudeln könnten, so werde ich sie nur in mir selber finden und nicht etwa in den Gesprächen, die ich in Deutschland mit Deutschen auf Deutsch führen könnte.28

Die Verfremdung oder »Ent-Passung« des Deutschen bedeutet gleichzeitig dessen Freisetzung als Sprache: »Wer das Gedicht aufnimmt, tritt an die Stelle jenes Fremdesten, dem es – stimmlos und damit sprach-nahe – zugesprochen bleibt; in der Begegnung klingt, wie im Entstehen des Gedichts, Sprache an, wird Sprache frei.«29 Diese Freiheit wird immer dank einer Begegnung möglich, an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Stehen, im Schatten Des Wundenmals in der Luft. Für-niemand-und-nichts-Stehn. Unerkannt, für dich allein. Mit allem, was darin Raum hat, auch ohne Sprache.30

Das Wort »Wundenmal« kling wie ein Ersatzwort für »Denkmal«. In Celans Welt, anstatt Denkmäler, gibt es Wundmale »in der Luft«, und es muss für sie eine zutreffende dichterische Form gefunden werden: besondere »-male«, gänzlich enterbt, hinter denen nichts mehr vorhanden ist – nicht einmal Sprache. Und jedoch – wie Celan schreibt – muss man mit alledem parat stehen: mit allem, was man hat, wofür es noch einen Raum gibt – das alles muss zur Begegnung mitgebracht werden. Er sucht also nach den verbindenden Fäden, die die Möglichkeit der Begeg28 Paul Celan/GisHle Celan-Lestrange: Briefwechsel – Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, übers. v. Eugen Helml8, hg. v. Bertrand Badiou, Bd. 1. Frankfurt am Main 2001, S. 75. 29 Aus Celans Notizen, nach: Felstiner 2000, S. 222. 30 Celan 2005, S. 178.

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nung zusammenknüpfen können. Am deutlichsten schreibt er davon vielleicht in seiner Meridian-Rede. Das Gedicht dient ihm, was er mehrmals betont, um die Richtung abzustecken, um sich in der Welt nach der Katastrophe orientieren zu können. Das Gedicht ist nach hinten gerichtet und in seinem Ausgangspunkt sprachlos und allein. »Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs«.31 Es sucht nach dem Anderen. Die Versuchung, stumm (und blind) zu werden, sich in einen Stein zu verwandeln, ist stark (die Steine gleiten lawinenartig durch Celans poetische Vorstellungskraft). Das Gedicht aber »will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.«32 Das Schreiben kann für Celan keineswegs einen affirmativen Schöpfungsakt bedeuten, aus purer Lust an der Sprache und der Möglichkeit, sie kreativ umzugestalten. Es ist vielmehr eine Anstrengung, die sich immer gegen die Versuchung der Stummheit und der Entkernung der Rede gerichtet bleibt. »Das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immernoch zurück.«33 Celan spricht also trotz der fehlenden Freude am Sprechen, wider die Verführung zu verstummen. Und es handelt sich hier nicht um die technische Unmöglichkeit, das, was geschah, sprachlich darzustellen, sondern vielmehr um den Verlust einer positiven Spracherfahrung. Aus allem, was verloren ging, blieben Celan nur noch die Sprachüberreste und Keime der »Verknüpfungsfähigkeit« übrig. Dank ihnen kann er sein »schmales Tüchlein« weben, den Kommunikationsfaden mit der Mutter-Schwester herstellen und versuchen, den absoluten Verlust zu überwinden und die grässliche Stille und Dunkelheit der todbringenden Rede zu durchdringen. Der Schreibende leitet sich von seinem Datum her, er ist mit seiner Dichtung in ihm verwurzelt, er schreibt sich von ihm her und schreibt sich ihm zu. Von ihm geht er aus und er kommt zu ihm zurück. Celan scheint anzudeuten, dass es HEUTE überhaupt keine anderen Wege für die Dichtung gibt. Es geht immer um eine »aktualisierte Sprache«, die sich zwar auf die Welt bezieht, die aber gleichzeitig ihr fremd bleibt, sodass sie etwas über die Welt aussagen kann ohne von ihr verschlungen zu werden. Der Neigungswinkel des Gedichts ist seine Aktualität. Sie macht es möglich, sich eine Begegnung der Vergangenheit mit der Zukunft vorzustellen: eines Datums, das den Dichter konstituierte und aus dem er sich herschreibt, mit dem Datum, auf das die Lesenden ausgerichtet sind. »In dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.«34 Eigentlich – ihre Zeit –, denn erst in dieser Berührung, auch wenn es 31 32 33 34

Celan 1998, S. 334. Ebd. Ebd., S. 332. Ebd., S. 334.

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ein Zusammenstoß ist, werden das Hindurchdringen des Gedichts und die Äußerung des Protests gegen die zu leicht erzählten Geschichten von Leben und Tod möglich. Celan fordert von sich, diese (für ihn entworfene) Unmöglichkeit des Zeugens zu überwinden. Die Vernichtung – so, wie sie von den Tätern konzipiert wurde – sollte ein Ereignis sein, das keine Zeugen (d. h. keine jüdischen Zeugen) hinterlässt, das nur eine Version der Geschichte zulässt: die der Sieger, der Mörder, in der niemand mehr etwas von Juden weiß. Und doch überlebte er ; er und seine Sprache haben es überstanden und nun verlangt er von sich nicht nur ein niedergeschriebenes oder abgelegtes Zeugnis, sondern einen Zeugnisakt, der wiederholt werden kann. Und dazu braucht er die Begegnung und die Beziehung, er braucht den Anderen, auch wenn dieser nur im Gedicht kreiert werden kann. Das Gedicht gibt es und es führt zur Begegnung mit sich selbst, es ist »eine Art Heimkehr«. Wenn das Gedicht (oder vielleicht der Dichter) sich hinter sich selbst richtet ist, dann schreibt er nicht nur der Daten eingedenk bleibe – er schreibt sich von ihnen her und ihnen zu –, weil der Ausgangspunkt auch zum Endziel wird; er ist der Wende- und Bezugspunkt.

Aus-sprache Wie man zum Stein spricht…35 Wenn Celan in Meridian von einer Begegnung mit sich selbst spricht, vom Gelangen – mithilfe der dichterischen Sprache – zu sich selbst, dann ist vielleicht sein Gespräch im Gebirg eine Inszenierung dieser Begegnung, in der mit verschiedenen Sprachregistern gespielt wird und in der alle Versuche, eine dialogische Ordnung im Text zu finden, misslingen müssen. Es ist nämlich nicht festzustellen, ob hier wirklich zwei Geschwätzige reden oder man es hier nur mit einem Ur-Geschwätzigen zu tun hat. Die Abwechslung der Äußerungen und Empfindungen erweist sich schnell als trügerisch und wird von Celan ironisch verspottet. Die Stimmen wechseln einander ab, verwickeln sich, geraten durcheinander. Die Worte hängen aufeinander : das Eigene am Fremden, das Fremde am Eigenen, das Echo dämmert. Noch eine Möglichkeit scheint erwägenswert: Vielleicht wird der Jude Klein von dem erschaffen, der die Geschichte erzählen sollte, erschafft sich dann den Juden Groß und in diesem seltsamen Dreieck findet die Begegnung mit sich selbst statt: von Anbeginn der Welt und der Sprache bis zu ihrem Ende und zur Trennung. In diesem Gespräch haben wir es mit flimmernden Seinserscheinungen zu 35 Aus dem Gedicht Radix Matrix (Celan 2005, S. 140).

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tun: Jemand kommt, um jemand anderem zu begegnen (oder aber ist nur ein und derselbe Jemand) und fängt zu reden an: Der Stock wird Zunge, sein Stoßen gegen die Steine ersetzt das Stoßen der Zunge gegen den Gaumen. Der Stock und der Stein nehmen an einer Aus-sprache teil, an einer der Gesprächsspaltung: Der Stock redet zum Stein, und der Stein kann zwar sprechen, redet aber nicht – dadurch verortet er sich auf einer anderen (Miss-)Verständnisebene. Es ist schwer zu erkennen, wer ihn hört, aber vielleicht genau aus diesem Grund scheint der Stein am meisten und am vollsten zu sprechen. Der Stein wird als das höchst konzentrierte Schöpfungsklümpchen und der menschlichste Teil des Menschen gezeigt, ein -mal: eher ein Wundenmal als Denkmal. Ein Mensch, in dem der Tod einer anderen Person erstarrte, in dem er sich als Gedächtnis tief einnähte, und in dem er getragen wird als Zeugnis. Auch wenn ein Überlebender ein Fossil der Welt ist, die nicht überlebt hat, bewegt er sich mithilfe der aus sich herausgehenden Wortfäden, die es ihm ermöglichen, sich an eine andere Person, an die Mutter-Schwester, anzuschließen. Er wächst wieder und trotz alledem in den Stoff der Vergangenheit, aus dem er gewoben ist. Dort liegen die »von Keim her durchzitterten« Gestalten, er richtet sich an sie. Er kann nach ihren Worten greifen und sie an sich heranziehen. Er liebt sein Geschwister nicht, obwohl er zu den Mandeln gezählt werden möchte, er versucht, sich mithilfe einer herunterbrennenden, halb-lebendigen Kerze zu orientieren und mit jedem Gedicht probiert er wieder, die Wende aus der Vergangenheit als Geste des Widerspruchs und des Protests zu aktualisieren. Dadurch will er auf eine möglichst eindringliche Weise sein Datum mit Sinn ausfüllen und durchtränken, mit ihm wirklich zusammen-leben.

Bibliografie Blanchot, Maurice: L’espace litt8raire. Paris 1955. Celan, Paul: »Gespräch im Gebirg«, in: ders.: Ausgewählte Gedichte und Prosa, hg. v. Ryszard Krynicki. Krakjw 1998, S. 305–310. Celan, Paul/GisHle Celan-Lestrange: Briefwechsel – Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, übers. v. Eugen Helml8, hg. v. Bertrand Badiou, Bd. 1. Frankfurt am Main 2001, S. 75. Celan, Paul: »Der Meridian«, in: ders.: Ausgewählte Gedichte und Prosa, hg. v. Ryszard Krynicki. Krakjw 1998, S. 318–340. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005. Dickinson, Emily : The Complete Poems, hg. v. Thomas H. Johnson. Boston o. J. Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2000.

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Grimm, Jacob/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, verfügbar unter http://woerter buchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=G M00846#XGM00846; [05. 07. 2017]. Hartman, Geoffrey : »Holocaust Testimony, Art and Trauma«, in: ders.: The Longest Shadow: in the Aftermath of the Holocaust. Bloomington 1996, S. 151–172. Laplanche, Jean:«Notes on Afterwardne«, in: ders.: Essays on Otherness, übers. v. John Fletcher. New York 1999, S. 264–270. Ovid Naso, Publius: Metamorphosen Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. v. Michael von Albrecht, Buch X. Ditzingen 2010. Silverman, Kaja: Flesh of my Flesh. Palo Alto 2009.

Übersetzt von Marta Pufal

Marta Pufal

Paul Celans Gedichtband Sprachgitter – im Dialog mit den Bildern

Der Band Sprachgitter nimmt einen besonderen Platz sowohl im Werk Paul Celans als auch im breiteren literaturgeschichtlichen Kontext ein: Er manifestiert nämlich den ersten Versuch in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, den geschichtlichen Bruch, der durch die Vernichtung des europäischen Judentums entstand, literarisch zu gestalten.1 Daraus ergibt sich für Celan die Notwendigkeit, auf eine ganz neue Weise zu sprechen, was er spätestens ab Mitte der 50er-Jahre dichterisch und poetologisch besonders stark akzentuiert.2 Die spezifische Form der Dichtung, die sich bei Celan in dieser Zeit herauszukristallisieren beginnt, hat ihren Grund im ethischen Selbstanspruch, den Toten in Gedichten nicht nur zu gedenken, sondern sie tatsächlich zu vergegenwärtigen. Der Raum, in dem es möglich wird, den Toten im Jetzt des Gedichtes wieder begegnen zu können, bildet bei Celans die dichterische Sprache an sich. Die Sprache, die – wie es in der Bremer Rede heißt – »erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb«, obwohl sie »durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, durch furchtbares Verstummen, durch die tausend Finsternisse todbringender Rede« hindurchgehen musste.3 Der zweite Teil des Zitats macht zugleich den zweiten Aspekt deutlich, der für Celan äußerst bedeutend war : Es ging ihm nämlich um die Frage, ob eine Evokation der Katastrophe im Medium einer von den geschichtlichen Geschehnissen kontaminierten und als defizient empfundenen Sprache keine unerhörte Anmaßung gegenüber den Ermordeten darstelle. Der Celan’sche Versuch, sich in dieser scheinbar paradoxen Situation dichterisch abzufinden, wird im Folgenden untersucht. 1 Vgl. Holger Gehle: »Poetologien nach Auschwitz. Bachmanns und Celans Sprechen über Dichtung zwischen 1958 und 1961«, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt am Main 1997, S. 116–130, hier S. 123–125. 2 Vgl. Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 649. 3 Paul Celan: Gesammelte Werke in fu¨ nf Bänden, hg. v. Beda Alleman und Stefan Reichert, Bd. 3. Frankfurt am Main 1983, S. 186–187.

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Begegnung und Wahrnehmung Nicht ohne Bedeutung für die Celan’sche Betonung der Dialogizität der Texte scheint seine Auseinandersetzung mit der Poetik Gottfried Benns – vor allem mit seiner während der fünfziger Jahre weitläufig rezipierten Rede Probleme der Lyrik. Celans Argwohn gegen diesen einflussreichen Text konnte auch – wie es John Felstiner bemerkt – die Tatsache geweckt haben, dass »Benn sich schon früh, wiewohl nur vorübergehend, mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatte.«4 In seiner poetologischen Rede von 1951 hat Benn »das monologische Moment« zum »Grundlegenden Charakteristikum der Dichtung«5 erhoben: Aus all diesem [dem Wissen des Künstlers über die Welt] kommt das Gedicht, das vielleicht eine dieser zerrissenen Stunden sammelt –: das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie [die jungen Dichter] faszinierend montieren.6 Außerdem scheint ein künstliches Werk für Benn nur dann einen Wert zu besitzen, wenn es sich »von Verstrickungen in die Geschichte oder von anderen zufälligen Beziehungen«7 lösen kann; der Text soll ausschließlich für sich allein stehen. Der absolute, monologische Charakter des Gedichts, der von Benn postuliert wird, stammt aus einem großen Misstrauen gegenüber der alltäglichen Sprache und ihren Möglichkeiten: Alles möchte dichten das moderne Gedicht, dessen monologischer Zug außer Zweifel ist. Die monologische Kunst, die sich abhebt von der geradezu ontologischen Leere, die über allen Unterhaltungen liegt und die die Frage nahelegt, ob die Sprache überhaupt noch einen dialogischen Charakter in einem metaphysischen Sinn hat. Stellt sie überhaupt noch Verbindung her, bringt sie Überwindung, bringt sie Verwandlung, oder ist sie nur noch Material für Geschäftsbesprechungen und im übrigen das Sinnbild eines tragischen Verfalls? […] in der Tiefe ist ruhelos das Andere, das uns macht, das wir aber nicht sehen. Die ganze Menschheit zehrt von einigen Selbstbegegnungen, aber wer begegnet sich selbst? Nur wenige und dann allein.8 4 John Felstiner : Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2010, S. 153. 5 Hannes Fricke: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«. Über den Niemand in der Literatur, Göttingen 1998, S. 403. 6 Gottfried Benn: »Probleme der Lyrik«, in: ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Dieter Wellershof., Bd. 1: Essays, Reden und Vorträge. Wiesbaden 1968, S. 524. Diese Äußerungen wurden in Benns Ansprache in Knokke (im Jahr 1952) wieder aufgenommen: »[Das lyrische ich] ist nicht indifferent, aber nicht brüderlich, sondern egozentrisch, nicht kollektiv, sondern anachoretisch, nicht religiös, sondern monoman […]. Kein Zweifel, das moderne Gedicht ist monologisch, es ist ein Gedicht ohne Glauben, ein Gedicht ohne Hoffnung, ein Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.« Ebd., S. 544, 546–548. 7 Fricke 1998, S. 404. 8 Benn 1968, S. 528–529.

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Celan, der in seiner Meridian-Rede sicherlich nicht zufällig sich »selbst begegnet«,9 setzt der von Benn postulierten Akzentuierung des Statischen und des Monologischen die Elemente der Bewegung und des Dialogischen entgegen.10 Spuren einer aufmerksamen Benn-Lektüre zeigt in dem Band Sprachgitter vor allem das Titelgedicht;11 deutlich werden sie, wenn man z. B. die folgende Aussage von Celan berücksichtigt: Augenrund zwischen den Stäben. / Flimmertier Lid / rudert nach oben, / gibt einen Blick frei. So lautet mein Text. Und dieser durchs Gitter freigegebene Blick, dieses entfernte Verstehen ist schon versöhnlich, ist schon Gewinn, Trost, vielleicht Hoffnung. Keiner ist wie der andere; und darum soll er vielleicht den anderen studieren, sei’s auch durch Gitter hindurch. Dieses Studium ist mein spirituelles Dichten, wenn Sie so wollen.12

Der freigegebene Blick verweist gleichzeitig auf die Wahrnehmung-Problematik, von der der Band in hohem Maße geprägt ist. Ihre Wichtigkeit wird von anderen Äußerungen des Dichters zu diesem Thema bestätigt, die aus der Entstehungszeit von Sprachgitter stammen: In einem Gespräch zwischen Celan und Gerhart Baumann heißt es: »Wahrnehmung zeigt uns alles unmittelbar, jedoch nicht ganz«; in einem anderen, mit Hugo Huppert, folgerte der Schriftsteller daraus für seine dichterische Arbeit, er wolle ein »Ding« wenigstens »aus mehreren Sichtwinkeln« zeigen: »Ich trachte sprachlich wenigstens Ausschnitte aus der Spektral-Analyse der Dinge wiederzugeben, sie gleichzeitig in mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen Dingen zu zeigen: mit nachbarlichen, nächstfolgenden, gegenteiligen.«13 In den Gedichten, die in Sprachgitter publiziert wurden, lässt sich dieser Anspruch auf vielfältige Weise beobachten. Die visuellen Elemente erstrecken sich in ihnen über mannigfaltige Bereiche wie Farbe, Licht, Räumlichkeit und auf das Sehen bezogene Motive; von Bedeutung ist auch die graphische Gestaltung der Texte und ihre Platzierung im Band, ihre Relationierung zu den anderen Gedichten: Wie es von verschiedenen Forschern mehrmals betont wurde,14 ist

9 Celan 1983, Bd. 3, S. 201. 10 Judith Ryan vertritt sogar die These, dass die Celan’sche Dichtung-Konzeption, die sich auf das Dialogische stützt, als eine radikale Intensivierung von Benns monologischer Lyrik zu verstehen sei. Vgl. Judith Ryan: »Monologische Lyrik: Paul Celans Antwort auf Gottfried Benn«, Basis Nr. 2 (1971), S. 260–282. 11 In Sprachgitter sind Bezüge nicht nur auf Probleme der Lyrik sichtbar, sondern auch auf Benns Text Gitter, vgl. Jürgen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«. Heidelberg 2005, S. 222. 12 Zit. nach: Juliana P. Perez, »»Vielleicht Hoffnung«. Noch ein Versuch über Paul Celans Sprachgitter«, in: Pandaemonium germanicum Nr. 8 (2004), S. 171–188, hier S. 171. 13 Zit. nach: Sandro Zanetti: »zeitoffen«. Zur Chronographie Paul Celans, München 2006, S. 188. 14 Vgl. z. B. Lehmann 2005, S. 47 oder Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung: Zy-

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Sprachgitter hochgradig komponiert und kann als Ausdruck der Celan’schen Auffassung der Dichtung als gebauter, gestalteter Raum gesehen werden. In jedem Zyklus wird ein anderer thematischer Schwerpunkt gelegt, alle betreffen aber verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen Sehen, Sprechen und Schweigen sowie Vergangenheit und Gegenwart: Die Verbindung von schmerzhaften Gedenken der Toten mit der Suche nach ihren Spuren ermöglicht die Überwindung des durch die Ereignisse der Vergangenheit verursachten Verstummens – sie macht das Schweigen hörbar und sichtbar, sie lässt den Toten in einer neuen Sprachwirklichkeit erscheinen.15

Die Augenmetaphorik Das »Auge«, bekanntlich eines der lyrischen Zentralworte Celans16 steht im Zentrum der sinnlichen Wahrnehmung der Welt und der Sprachbildlichkeit, die diese Wahrnehmung ermöglicht. Es gehört in Sprachgitter zu einem ausgebauten und kunstvoll strukturierten Motivkomplex, zu dem Worte wie Iris, Lid, Wimper, Netzhaut, Schliere, Träne und Wortzusammensetzungen wie Augenrund, Augentausch, Augapfeltiefe, oder Augen-Du gehören. Dazu lassen sich auch zahlreiche Begriffe hinzufügen, die sich auf visuelle Wahrnehmung beziehen (sehen, leuchten, dunkel, Licht, Lichtsinn, Lampe), und Farbenadjektive wie weiß, grün, gelb oder braun.17 Die visuelle Wahrnehmung steht in Sprachgitter durchgehend »unter dem Zeichen einer jeweils spezifischen Beeinträchtigung«,18 die sich nicht nur auf ihre Ausschnittcharakter beschränken lässt: Gleich ob das Auge vom »steinernem Lid« bedeckt ist, ob sich in ihm eine »Schliere« befindet oder die Iris als »traumlos und trüb« beschrieben wird, immer liegt eine Beschädigung in Form einer Verhärtung oder Versteinerung vor, die das Organ seiner eigentlichen Funktion – dem Sehen und damit Aufnehmen der Wirklichkeit – beraubt oder diese zumindest erschwert.19 Klaus Voswinckel beschreibt den Grund dafür folgenderweise:

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klische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis »Sprachgitter«, Heidelberg 1998, S. 169. Vgl. Markus May/Peter Goßens/Jürgen (Hg.): Celan-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2008, S. 73–74. Vgl. z. B. Otto Knörrich, Die deutsche Lyrik der Gegenwart. Stuttgart 1971, S. 263. Knörrisch nennt Celans Augenmotiv »geradezu das Zentrum seiner Zeichenwelt«. Für die ausführliche Zusammenstellung von Begriffen siehe Lehmann 2005, S. 34. Zanetti 2006, S. 188. Die erlösende Gegenerfahrung zu dieser Verhärtung des Auges sieht Marlies Janz in dem Weinen, das sie als »mimetischer Ausdruck von Leiden und die Restitution der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung« interpretiert: Durch die Tränen wird ein »Wiedergewinn der

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Das Verhältnis von Sehkraft und Sichtbarem zeigt sich so grundsätzlich gestört, daß nur noch der Bruch zwischen beiden genannt wird. Blindheit ist ein Wort für diese zerstörte Verbindung, ist ein Zeichen für die krasse, unerträgliche Divergenz zwischen menschlicher Aufnahmefähigkeit und inhumaner Realität.20 Das Wahrnehmen bezieht mit sich auch ein, dass bestimmte Dinge sich nur schlecht oder sogar überhaupt nicht wahrnehmen lassen, »und denken lässt sich, dass bestimmte Ereignisse gar nicht erst in den Bereich des Phänomenalen eintreten und dementsprechend auch nicht – sinnlich – wahrgenommen werden können.«21 In der Meridian-Rede spricht Celan von der »Aufmerksamkeit«, die das Gedicht »allem ihm Begegnenden zu widmen versucht«. Diese »Aufmerksamkeit« des Gedichts – sein »schärfer Sinn für Umriss, für Struktur, für die Farbe«22 sieht Zanetti im Vordergrund des Sprachgitter-Bandes.23 Der durch das Gedicht eröffnete Blick stößt immer – wie der Blick des Lesers auf die Buchstaben eines Textes – auf etwas Undurchsichtiges, Dunkles und Fremdes. Das Titelgedicht des Bandes verweist – mit seiner ersten Zeile »Augenrund zwischen den Stäben« – auf eine solche Störung des Blicks, die »mit den Stäben zugleich das Raster mitverdeutlicht, das in den Buchstaben eines Gedichts den Blick des Lesers (aber auch des Schreibers) von seinem Vergangenen (oder Zukünftigen) trennt.«24 In Sprachgitter erhält das Sehen eine besondere Profilierung, die sich aus der Verbindung mit dem Hören bzw. mit dem Sprechen ergibt,25 was Celan schon in seinem früheren Werk thematisiert hat: Die Relation zwischen Bild und Sprache unter besonderer Berücksichtigung des Augenmotivs ist auch z. B. in seinem Prosa-Text Edgar Jen8 und der Traum vom Träume vorhanden.26 Es sei zu betonen, dass die Verschränkung des Sehens mit dem akustischen Bereich nicht nur auf die äußere Realität begrenzt ist; sie bezieht sich auch auf die innere

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Lebendigkeit« erreicht, die das Erwachen aus der Erstarrung ermöglicht. Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt am Main 1976, S. 68, 94. Klaus Voswinckel: Paul Celans verweigerte Poetisierung der Welt. Versuch einer Deutung, Heidelberg 1974, S. 177. Zanetti 2006, S. 189. Celan 1983, Bd. 3, S. 198. Zanetti 2006, S. 189. Ebd. Vgl. z. B. die Gleichsetzung der Lippen des Dichters mit den Augen in Meridian-Notiz (Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien, hg. v. Jürgen Wertheimer/Bernard Böschenstein/Heino Schmüll. Frankfurt am Main 1999., S. 128, Nr. 400) oder den geplanten Titel des fünften Zyklus: Gehört, Gesehen (Paul Celan: Sprachgitter. Vorstufen – Textgenese – Endfassung, hg. v. Jürgen Wertheimer. Frankfurt am Main 1996, S. 104). Vgl. dazu Christine Ivanovic´ : »Eine Sprache der Bilder. Notizen zur immanenten Poetik der Lyrik Paul Celans«, Ptudes Germaniques Nr. 3 (2000), S. 541–559, hier S. 545–546.

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Wahrnehmung: Das Auge ist »weltblind«,27 »stumm«,28»tagfremd«.29 Dominant ist der Blick nach innen, in die Tiefe: Er verbindet sich zunächst mit einer Erfahrung der Dunkelheit (»Eräugtes / Dunkel darin«),30 dann aber wird ein »Lichtsinn«31 aktiviert, was schließlich – im Zusammenhang mit der auch in dem Gedichtband umfassend vorhandenen Herz-Motivik – die Wahrnehmung eines inneren, geistigen Bildes ermöglicht.

Die Text-Bild-Relation Die Relation von Text (oder Stimme) und Bild wird in fast allen Gedichten des Bandes thematisiert. Eine besondere Bedeutung gewinnt sie in den Texten, in denen Bilder anderer Medien – wie der Malerei in Unter ein Bild32 oder des Films in Engführung33 – ins Sprachliche umgesetzt werden. Zudem scheint es wichtig, dass Celan bei der Gestaltung dieser Relation Rücksicht auf die traditionellen Gattungen und Formen der Malerei wie Emblematik (Unter ein Bild) oder Stillleben (Mit Brief und Uhr)34 nimmt. Das neue Sprach-Bild komprimiert die älteren Bildtraditionen zu einem neuen Phänomen, zu der »Erscheinungsform der Sprache«. Besonders akzentuiert wird dabei die Auseinandersetzung mit dem traditionellen Sprachbild der Tropen. Kritisch behandelt werden vor allem Metapher und Vergleich, was sehr schnell nach der Herausgabe von den Lesern bemerkt und betont wurde. In ihrer zweiten, der neusten Literatur gewidmeten Frankfurter Vorlesung charakterisierte Ingeborg Bachmann die Sprachgitter-Gedichte auf folgende Weise: 27 28 29 30 31 32

Celan 1983, Bd. 1, S. 168. Ebd., S. 153. Ebd., S. 180. Ebd., S. 158. Ebd., S. 167. Vgl. u. a. Timothy Bahti: A Minor Form and Its Inversions: The Image, the Poem, the Book in Celan’s »Unter ein Bild«, Modern Language Notes, Bd. 110, Nr. 3, German Issue (April 1995), S. 565–578; Theo Buck, »»Rabenüberschwärmt«. Lyrische Fortschreibungen eines Bildmotivs von Millet und van Gogh bei Paul Celan und Wulf Kirsten«, in: Celan-Jahrbuch Nr. 8 (2001/2002), S. 278–315; Joachim Ringleben, »»Unter ein Bild««, in: Celan-Jahrbuch Nr. 1 (1987), S. 57–63; Thorsten Valk: »Lyrische Ekphrasis. Intermediale Referenzen in Bildgedichten von Gottfried Benn und Paul Celan«, in: Wolf Gerhard Schmidt/Thorsten Valk: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin 2009, S. 295–313. 33 Vgl. u. a. Ewout van der Knaap: »Nacht und Nebel«. Gedächtnis des Holocaust und internationale Wirkungsgeschichte, mit einem Beitrag von Nitzan Lebovic. Göttingen 2008, S. 189–208 oder ders.: »Übersetztes Gedächtnis. Celans Beitrag zu «Nacht und Nebel««, in: Celan-Jahrbuch Nr. 8 (2001/2002), S. 259–278. 34 Vgl. Winfried Menninghaus: »Siegel, Name und Zeit. Zu Paul Celans Gedicht »Mit Brief und Uhr««, in: Celan-Jahrbuch Nr. 4 (1991), S. 7–26.

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Die Metaphern sind völlig verschwunden, die Worte haben jede Verkleidung, jede Verhüllung abgelegt, kein Wort mehr fliegt einem anderen zu, berauscht ein anderes. Nach einer schmerzlichen Wendung, einer äußerst harten Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt, kommt es zu neuen Dimensionen […] Aber plötzlich, wegen der strengen Einschränkung, ist es wieder möglich, etwas zu sagen, sehr direkt, unverschlüsselt.35 Diese Ablegung findet u. a. dadurch statt, dass Celan die geläufigen metaphorischen Wendungen und die automatisierten Komposita dekonstruiert und neu bildet, um zu einem deutlich bildhaften Neologismus zu gelangen. Auf diese Weise entsteht z. B. das Titelwort des Gedichts »Schneebett« (durch das Verbinden von in der Alltagssprache häufig verwendeten Zusammensetzungen »Schneedecke« und »Flussbett«36) oder »Tafelwand«37 (Inversion von »Wandtafel«) und »Stundentür«38 (Versetzung des Wortes »Uhr« mit dem Wort »Tür«). Das Verhältnis von Erinnerung und sprachlicher Darstellung, das in Celans Gedichten problematisiert wird, gestaltet sich in einer Sprache, die – wie es Anja Lemke hervorhebt – selbst bereits von dem, was erinnert werden soll, affiziert ist, die Bildsprache der Tradition also nicht bruchlos als Referenzmedium verwandt werden kann, sondern durch das, worauf sie Bezug zu nehmen trachtet, immer schon selbst markiert ist. Ziel ist es, die Verschiebung im Erinnerungskonzept vom Versuch der sprachlichen Vergegenwärtigung außersprachlicher Referenzen hin zu einer Selbstreferentialität der dichterischen Sprache deutlich zu machen, ohne dass diese Rückbezüglichkeit die dichterische Rede vom Geschichtlichen abkoppeln würde.39 Ein weiteres wichtiges Element ist die Abwesenheit der Vergleiche, die noch in Von Schwelle zu Schwelle deutlich präsent waren. Es geht nicht nur um einen einfachen Verzicht auf sie: Celan destruiert dieses dichterische Verfahren auf eine besondere, programmatische Weise. In dem Gedicht Blume wird der Hölderlin’sche Vergleich »Worte, wie Blumen« aus der Elegie Brod und Wein40 in

35 Ingeborg Bachmann: Werke in vier Bänden. Bd. 4: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang, hg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster. München 1993, S. 216. 36 KSG, S. 226. 37 Celan 1983, Bd. 1, S. 169. 38 Ebd., S. 194. 39 Anja Lemke, »Andenkendes Dichten. Paul Celans Poetik der Erinnerung in »Tübinger, Jänner« und »Todtnauberg« in Auseinandersetzung mit Hölderlin und Heidegger«, in: Ulrich Wergin/Jörg, Martin Schäfer(Hg.): Die Zeitlichkeit des Ethos: poetologische Aspekte im Schreiben Paul Celans. Würzburg 2003, S. 89–112 hier S. 112. 40 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 2003, S. 288.

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»Blume – ein Blindenwort«41 verändert. »Blume« ist hier nicht mehr einfach Bestandteil einer vergleichenden oder metaphorisierenden Relationierung; es ist ein unabhängiges, von keinem »Äußeren« bestimmtes Wort, das eine besondere Gestalthaftigkeit besetzt, das wächst und sich entfaltet. Die neue Sprachbildlichkeit wird also dadurch verwirklicht, dass die Worte, in einer spezifischen Wortgestalt, auf eine mühsame Weise gewonnen werden: Das, was früher nur bezeichnet wurde, gewinnt nun eine eigenständige Präsenz. Ein solches Wort könnte man mit dem später in der Büchner-Preis-Rede verwendeten Begriff des »Gegenwortes« bezeichnen: Es richtet sich gegen eine durch die Vergangenheit belastete und durch Automatisierung leer gewordene Sprache. Die Infragestellung der literarischen Bilder in Form von Metaphern und Vergleichen dient Celan dazu, dem Wort selbst seinen Wert zurückzugeben, es von den festgelegten, automatisierten Beziehungen – grammatischen und semantischen – zu befreien, um (wie es in Meridian-Notizen heißt) »de[n] Abgrund zwischen Zeichen und Bezeichnetem«42 zu entdecken. Das Problem der sprachlichen Darstellung knüpft direkt an die Frage der Erinnerungsmöglichkeiten an: Die Sprache, mit der erinnert werden soll, ist in »das, was geschah«, völlig verstrickt. Wie es Anja Lemke beschreibt, »sie markiert den Ausgangspunkt des Vernichtungsprozesses, durch den mit den Nürnberger Rassengesetzen einsetzenden Prozess der Definition dessen, was ein Jude ist, sie ordnet und systematisiert die Vernichtungsmaschinerie, bringt eine Lagersprache hervor, ihr Ja und Nein begleitet die Selektion.«43 Sprechen nach der Katastrophe geschieht in einer Sprache, die das Geschehen selbst in sich trägt: Damit wird die Möglichkeit, das historisch Vergangene aus der Distanz zu beschreiben, ganz ausgeschlossen. Die Sprache wird selbst zum Teil der diskontinuierlichen zeitlichen Struktur : Sie ist eine gegenwärtige Sprache des »Hier und Jetzt«, das nicht einfach die Zeit »danach« ist: Celan geht es um eine Poetik der »Atemwende«, in der die vergangenen, aber nicht abgeschlossenen Geschehnisse nicht als abgeschlossene gegen ein separiertes Heute gestellt werden können, weil die Erinnerung nicht bruchlos in die Gegenwart geholt werden kann. Dabei ist es eine Dichtung, in der die Katastrophe ständig vorhanden ist, in der aber über sie nicht direkt gesprochen wird: »Nicht das Motiv« – wie es in den schon abgerufenen Meridian-Notizen zu der Frage nach einer möglichen Begegnung mit den Verstorbenen steht – »sondern Pause und Intervall, sondern die stummen Atemhöfe, sondern die Kolen verbürgen im Gedicht die Wahrheit

41 Celan 2005, S. 98. 42 Vgl. Celan 1999, S. 93, Nr. 158. 43 Anja Lemke 2003, S. 310.

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solcher Begegnung«.44 Dennoch – wie es schon betont wurde – bedeutet dies nicht das vollkommene Verstummen: »Das Gedicht spricht ja – es bleibt seiner Daten eingedenk – aber es spricht!«.45 Sprechen und Erinnerung können nie wirklich zusammenkommen, dennoch aber bleibt die Möglichkeit der Rede erhalten, um der Bewahrung des »Intervalls zwischen Stimmlos und Stimmhaft«46 willen.

Finsternis und Katastrophe Jürgen Lehmann sieht in dem Band Sprachgitter eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Bildvorstellungen;47 als Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzungsversuche dient Celan das Bemühen, die Sprachbilder (häufig auch die einzelnen Wörter) als Phänomene vorzustellen: Als »Erscheinungsformen« des bislang Verdeckten und Verborgenen. Der Gedichtband wird zu einer »konsequent durchgeführten Revision des dichterischen Bildes«,48 die in dem Begriff der »graueren Sprache« aus der Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker sich subsumieren lässt; schon diese Bezeichnung verbindet in sich die akustischen und visuellen Elemente des Sprachlichen: Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ›Schönen‹, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ,grauere‹ Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ›Musikalität‹ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem Wohlklang gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.49

Wie Lehmann bemerkt, benennt der Begriff der »grauen Sprache« auch die mit dem Bild der »Eulenflucht«50 bezeichnete Dämmerung mit eine vom schwachen Licht aufgehellte Dunkelheit.51 Diese Dunkelheit, auf die sich eine Reihe von Texten in dem Band bezieht (z. B. Tenebrae, Nacht, Engführung), kann auf eine 44 45 46 47 48 49

Celan 1999, S. 128. Celan 1983, Bd 3, S. 196. Celan 1999, S. 128. Lehmann 2005, S. 30. Ebd. Paul Celan, Antwort auf eine Umfrage Librairie Flinker, Paris (1958), in: Celan 1983, Bd. 3, S. 167–168. 50 Celan 2005, S. 117. 51 Lehmann 2005, S. 30.

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doppelte Weise verstanden werden, die zugleich zwei wichtigsten Richtungen der Celan-Forschung andeutet:52 Zum einen kann sie die Dunkelheit der modernen hermetischen Lyrik bedeuten, zum anderen – die Dunkelheit der Geschichte und dadurch die der Sprache, die – wie es schon am Anfang gesagt wurde – hindurchgehen musste »durch furchtbares Verstummen« und »durch die tausend Finsternisse todbringender Rede« und trotzdem »keine Worte hergab für das, was geschah.«53 Bei diesen »Finsternissen« handelt es sich um »Katastrophen, Erschütterungen, Verwerfungen im Innern der Sprache«,54 wie es in den Notizen zu der Meridian-Rede heißt. Die »Katastrophe« ist dazu – als »Desastra« – schon im Wort »Finsternis« buchstäblich vorhanden, worauf Aris Fioretos aufmerksam macht: »Mitten in Finsternis hineingeschrieben, wird das Morphem -stern von den Segmenten Fin- und -is gehalten, die zusammen das […] Ende (finis) ergeben.«55 Etymologisch gesehen, kommt das französische Wort »d8sastre« und dadurch auch das englische »disaster« aus dem italienischen »disastro« und ist zusammengesetzt aus dem Negativität ausdrückenden Präfix »dis-« und »astro« – Stern. Auch, wenn der Sinn des Wortes gewöhnlich als »unter schlechtem Stern« wiedergegeben wird,56 lässt sich ihm – wie es Maurice Blanchot in seinem Text L’Ecriture du d8sastre57 macht – die Bedeutung »getrennt sein von Sternen« zuschreiben und durch die Sternlosigkeit die Katastrophe58 mit der Dunkelheit verbinden: »Es ist der Verlust des bewohnten Himmels und des leitenden Sterns, ja das Ende der kantischen Erfahrung, wonach der Anblick des bestirnten

52 Zu dem »Spannungsfeld zwischen autonomer Kunsterfahrung und gesellschaftlicher Wirkung in den Debatten um Celans Lyrik« vgl. Lemke 2003, S. 409–411, besonders Anmerkung 3, S. 411. 53 Celan 1983, S. 186. 54 Celan 1999, S. 137, Nr. 465. 55 Aris Fioretos: »Finsternis«, in: Axel Gellhaus/Andreas Lohr (Hg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Köln/Weimar/Wien 1996, S. 153–176, hier S. 175. 56 Vgl. die Definitionen in Wörterbüchern: Le Tr8sor de la langue franÅaise informatis8 verfügbar unter : http://atilf.atilf.fr/dendien/scripts/tlfiv5/search.exe?23;s=3960730635;cat=0; m=d%82sastre und Etymology Dictionary, verfügbar unter : http://www.etymonline.com/in dex.php?term=disaster [14. 03. 2017]. 57 Vgl. Maurice Blanchot: L’Ecriture du d8sastre/The Writing of the Disaster, übers. v. Ann Smock. Nebraska 1995, S. 2. 58 Was in diesem Kontext auch interessant scheint, ist die etymologische Herkunft des Wortes »Katastrophe«, die aus dem Griechischen stammt und wörtlich »Wendung nach unten« bedeutet, was sich mit der – in vielen Gedichten Celans vorhandenen – Bewegung nach unten, in die Tiefe verbinden lässt, vgl. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, verfügbar unter : http://etymology_de.deacademic.com/5336/katastrophe, [01. 08. 2016].

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Himmels von gleicher erhebender Wirkung sei wie die innerliche Empfindung des moralischen Gesetzes.«59 Celan betont das »Dunkle« als Kennzeichen von Dichtung nicht nur in seiner Bremer Rede und in den Meridian-Notizen,60 sondern auch in einer Reihe von Gedichten – z. B. in Schliere, wo das »durchs Dunkel getragene Zeichen« ein »Mahnmal des Verlustes von Erinnerung, von Bildern der Vergangenheit, deren man sich entsinnen könnte« ist.61 Auch die »Schliere« und das in ihr aufbewahrte Zeichen stehen als ein solches Mahnmal für die dunklen, namenlosen, unausgesprochenen Ereignisse, die dem Gedächtnis (sowohl dem kollektiven als auch dem individuellen) nur noch als Spuren der Abwesenheit und Vernichtung überliefert werden. Im Gedicht soll dieses Zeichen allerdings nicht stumm bleiben: Die Spezifik des neuen dichterischen Sprechens besteht darin, dass es aus der Dunkelheit entsteht und erst aus ihr seine sichtbare Gestalt gewinnt: Im Gedicht Blume, das mit dem Bild eines »Steins in der Luft«62 beginnt, werden Stein und blindes Aug als Evokation eines beschädigten Zustandes eingeführt und können als »Versteinerung und Verblendung der Subjektivität« verstanden werden.63 In der zweiten Strophe gelingt aber einem neuen sprechenden Subjekt – dem »Wir« – mit den Händen (bzw. als Hände) etwas Positives: Sie »schöpften das Finsternis leer«. Die Kehrseite der Blindheit und der Stein-Metapher lässt sich bemerken: Gerade wegen der steinernen Blindheit des Auges können Ich und Du die Finsternis »leerschöpfen«, also – eine positive Tiefe der Erfahrung erreichen; sie finden schließlich »das Wort, das den Sommer heraufkam: / Blume«. Die sprachliche Phänomenalität erwächst also von Erstarrung und Verstummen zu einem Atem (verstanden sowohl als Reduktion, als auch als Vorstufe des Sprechens) und zu einem Licht:

59 Hans-Dieter Gondek: »Ein Kind wird getötet. Einführung zu einem Auszug aus »L’Ecriture du d8sastre« von Maurice Blanchot«, in: FragMente Nr. 39/40 (1992), S. 162. 60 In den Notizen zum Meridian kann man zahlreiche Überlegungen zur Dunkelheit des Gedichts finden, vgl. z. B.: »das Gedicht kommt dunkel zur Welt (Celan 1999, S. 84, Nr. 102); »Das Gedicht hat, wie der Mensch, keinen zureichenden Grund. […] Daher seine spezifische Dunkelheit, die in Kauf genommen werden muß, wenn das Gedicht als Gedicht verstanden sein soll« (ebd., S. 88, Nr. 123); »Mein belasse dem Gedicht sein Dunkles« (ebd. S. 89, Nr. 129). 61 Zanetti 2006, S. 207. 62 Celan 1983, Bd 1, S. 164. 63 Winfried Menninghaus: Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt am Main 1980, S. 124.

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Laven, Basalte, weltherzdurchglühtes Gestein. Quelltuff, wo uns das Licht wuchs, vor dem Atem.64

Das Konzept des neues Sprachbildes wird ausgedruckt in einer besonderen Auswahl von Worten und Komposita, die Sehen und Sprechen, Wort und Bild zusammensetzen (z. B. »hellgeatmet«;65 »atemgefleckt«;66 »Augenstimmen«67) oder eine Verbindung von Schreiben und Zeichen andeuten, was auch eine Folge der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Celan und seiner Frau ist (Wörter wie »Strich« in »Strichweise«68).

Sprachgitter: Sehen und Zu-Sprechen Wenn man die Gedichte des Bandes als Spuren einer besonderen Art von Wahrnehmung und »Zu-Sprechen« liest, werden sie zu einem wichtigen Bestandteil eines Gesprächsraumes, der durch die Relation zwischen dem sprechenden Ich und dem durch Ansprechen und Nennen entworfenen Du bestimmt wird. Diesen Aspekt formuliert Celan schon in der 1958 gehaltenen Bremer Rede, im berühmten Bild der »Flaschenpost«: Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein […]. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf ? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.69

Diese Thematik, die auch spätere dichtungstheoretische Reflexionen Celans bestimmt,70 wird zum ersten Mal im Band Sprachgitter bedeutsam, worauf schon der Titel hinweist. Eine gründliche Besprechung der Implikationen, die er mit sich bringt, kann man in Alfred Kelletats Artikel Accessus zu Celans »Sprachgitter« finden: Der Begriff bezeichnet zum einen das fenestra locutaria, das in Nonnenklöstern vorhandene gegitterte Fenster, durch das ein reduziertes Sehen und Sprechen der eigentlich zum Schweigen und zur Selbstausschließung ver64 65 66 67 68 69 70

Celan 1983, Bd. 1, S. 184. Ebd., S. 173. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Ebd., S. 168. Ebd., Bd. 3, S. 198. Vgl. z. B. die Meridian-Rede: »Das Gedicht wird […] Gespräch. Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich« (Ebd., S. 198).

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pflichteten Nonnen mit den von außen kommenden Besuchern ermöglicht wird.71 In dieser Bedeutung würde das Wort »eine Begrenzung, Behinderung, Einschränkung – aber auch Ermöglichung des Sprechens, ein Gitter zwischen Sprechenden«72 andeuten. Auch die Sprache selbst kann als eine Art Gitter gesehen werden, die den Kommunikationsakt beeinflussen kann; schließlich lassen die verschiedenen etymologischen Quellen in dem Wort Konnotationen mit »vereinigen, eng verbinden« sehen, was Kelletat dazu bringt, den Begriff »zunächst als Struktur-Bezeichnung, als ein Baugesetz«73 zu verstehen. Celan selbst charakterisiert den Titel in einem Brief an Rudolf Hirsch auf folgende Weise: Sprachgitter: dieser Titel kam seinerzeit unüberhörbar auf mich zu, »ahnungsvoll und regierungsweise« (wenn ich hier, aus der angemessenen Entfernung, einen FischerAutor zitieren darf…), ich habe jetzt wieder das Unabdingbare dieses Titels im Ohr, bitte lassen Sie ihn mir! In einer Vorstellung sollte auch der mittlere Zyklus des Bandes so heißen, diesem Zyklus gehen zwei andere vorauf, Stimmen und Stimmlos, auf Sprachgitter (als Zyklus) folgen die Zyklen Stimmhaft und Engführung – darin soll Konzeption und Struktur des Ganzen zum Ausdruck kommen.74 Ich sage mir aber gleichzeitig, daß mir im Sprachgitter auch das Existentielle, die Schwierigkeit alles (Zueinander-)Sprechens und zugleich dessen Struktur mitspricht (vgl. Raumgitter), damit ist das zunächst amphibisch Anmutende wieder zurückgedrängt – Sie sehen ich zögere noch.75

Das Wort »Sprachgitter« ist für Celan also von Bedeutung, insofern es das Existentielle und das Strukturelle als Doppelaspekt allen Sprechens betont. Das Gedicht – als »Sprachgitter – Raumgitter« – wird zu einem Bereich, in dem die Vergangenheit und die Zukunft eine für das dichterische Ich existentiell bedeutsame Verschränkung erfahren und eine wahrnehmbare Gestalt gewinnen. Es erscheint also gleichzeitig als das Entworfene und das zu Entwerfende – wie es Lehmann bezeichnet, als „bauendes und zu bauendes Haus, als Tempel oder als Landschaft“76 – als ein gewonnener Raum, in dem die unbegrabenen, »unbehausten« Toten und ihre Stimmen bewahrt werden und in den sie heimkehren können.77 71 Vgl. Definition in Grimms Deutsches Wörterbuch, verfügbar unter: http://woerterbuchnetz. de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=GS36445#XGS36 445 [08. 02. 2017]. 72 Vgl. Alfred Kelletat: »Accessus zu Celans »Sprachgitter««, in: Der Deutschunterricht Nr. 18 (1966), S. 94–110. Außer den oben genannten Aspekten wird in dem Text auch die Erscheinung des Wortes in verschiedenen Werken Jean Pauls genannt. 73 Ebd. 74 Paul Celan/Rudolf Hirsch: Briefwechsel, hg. v. Joachim Seng. Frankfurt am Main 2004, S. 47. 75 Ebd., S. 44–45. 76 Lehmann 2005, S. 43. 77 Das Motiv der Heimkehr prägt vor allem den zweiten Zyklus (mit den Gedichten wie

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Es verweist auch auf ein Sprechen unter dem Gesichtspunkt eines – allerdings erschwerten – mündlichen Kommunizierens, auf eine für Celan so wichtige dialogische Orientierung seiner Dichtung, deren Spezifik hier darin besteht, dass sie das durch Leerstellen und Pausen bezeichnete Schweigen als wichtigen Bestandteil des literarischen Schaffens miteinbezieht, was – unter anderen – die Notizen zur Meridian-Rede beweisen: »Nicht das Motiv, sondern Pause und Intervall, sondern die Stummen Atemhöfe, sondern die Kolen verbürgen im Gedicht die Wahrhaftigkeit solcher Begegnung. In diesem Sinne haben auch die Lippen des Dichters […] Augen.«78 Mit anderen Worten lässt sich sagen, dass die Struktur des Sprechens (und dadurch auch die des Gedichts) vom komplexen Verhältnis zwischen Sprechen und Schweigen geprägt ist. Wie es T. S. Eliot geschickt formuliert hat, »words, after speech, reach / into the silence«:79 Das Schweigen resultiert aus der Begrenzungen der Sprache, aus ihrer Unmöglichkeit, das Unsagbare auszudrücken. Das Wort scheint dem Bereich der Lebenden, die Stille – dem der Toten zu gehören; auch wenn das Wort eine affirmative Wirkung hat, kann sie vom Schweigen negiert werden.80 Andererseits kann aber der Moment des Verstummens gleichzeitig der Punkt einer Überwindung der Sprachlimitationen sein und dadurch zu einem wichtigen Teil des Sprechens werden, zu einer »noch größeren Affirmation«, wie es Corbet Stewart nennt.81 Nicht zu übersehen ist auch der visuelle Aspekt der Titelmetapher : Ein »Gitter« soll einen von der äußerlichen Welt ausgrenzen, was die Wahrnehmung erschweren kann, aber nicht unbedingt völlig behindern muss – man kann durch die Stäbe schauen. Deswegen scheint auch die graphische Darstellung der GitterStruktur des Bandes von Bedeutung: Sie wird betont durch eine genau kalkulierte Verwendung von Leerstellen und ihren Kontrastierung zu Buchstaben, was auch durch die Farbopposition schwarz – weiß verstärkt wird.82 Das »Legen von Leerzeilen« wird außerdem auch eigens thematisiert: Explizit im Gedicht Sommerbericht (»Eine Leerzeile, quer / durch die Glockenheide gelegt«83), strukturell

78 79 80 81 82 83

Heimkehr, Unten oder Schliere). Vgl. dazu: Leonard Olscher : »Paul Celans Poetik der Heimkehr«, in: Celan-Jahrbuch 8 (2001/2002), S. 75–113 oder Fred Lönker : »»Heimgeführt ins Vergessen«. Überlegungen zu Celans Gedicht »Unten««, in: ebd., S. 63–74, hier besonders S. 73f. Celan 1999, S. 128, Nr. 400. T. S. Eliot: »Quartet No. 1: The Burnt Norton, V«, in: ders.: The Four Quartets. Orlando/ Austin/New York 1971, S. 19. Vgl. Corbet Stewart: Paul Celan’s Modes of Silence: Some Observations on »Sprachgitter«, in: Modern Language Review 67 (1972), S. 127–142, hier S. 130. Ebd. Vgl. z. B. die erste Strophe von Engführung: »Die Steine, weiß«; »klettern auf schwärzlichem Feld«. Celan 1983, Bd. 1, S. 192.

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– durch die gepunktete Linie – in Schuttkahn, und implizit in Engführung (»Gras, auseinandergeschrieben«).84 Auch die grafische Anordnung der Verszeilen sorgt dafür, dass die strukturierende Gestaltung des Bandes deutlich wird: Die Verse greifen ineinander, überlappen sich (wie z. B. in Engführung): Sie wirken raumbetonend und sorgen für das mit dem entwerfenden Sehen verbundene Gestaltbildung.

Kristallbildung Die den ganzen Band durchziehenden, miteinander in Beziehung stehenden Oppositionen (das Vertikale – das Horizontale, Oben – Unten, die Enge – das Offene, die Tiefe – die Höhe) verursachen, dass das Gitter eine dreidimensionale, räumliche Struktur erhält. Von Bedeutung scheinen in diesem Kontext auch die Kontrastierungen von topographischen Großräumen, wie Wasser und Erde. Das Verfahren demonstriert schon das erste Gedicht Stimmen, in dem es zweimal zu einer Begegnung zwischen Meer und Land kommt;85 in beiden Fällen wird die bis zu dem Moment statische Situation (bei Celan mit dem Steinernen verbunden) durch die Wirkung des wechselhaften Elements – des Wassers – gestört und gründlich verändert, was zur Erschaffung eines neuen Raumes führt, wo die Stimmen der Toten wieder hörbar werden können. In diesem Zusammenhang erhält dieser Sprachraum auch eine zeitliche Profilierung; er erweist sich als geprägt durch eine spezifische, die konventionellen zeitlichen und räumlichen Koordinaten verneinende Verwicklung von Raum und Zeit, was in der Form von Fragen und Inversionen ausgedrückt wird (»Welchen Himmel Blau? Des untern? Obern?«;86 »ein Morgen / sprang in Gestern hinauf«).87 Celan äußert sich zu dem Thema u. a. in einer Passage aus seinem Radioessay über Ossip Mandelstam: Der Ort des Gedichts ist ein menschlicher Ort, »ein Ort im All«, gewiß, aber hier, hier unter, in der Zeit. Das Gedicht bleibt, mit allen seinen Horizonten, ein sublunarisches, ein terrestrisches, ein kreatürliches Phänomen. Es ist Gestalt gewordene Sprache eines einzelnen, es hat Gegeständlichkeit, Gegenständigkeit, Gegenwärtigkeit, Präsenz. Es steht in die Zeit hinein.88 84 85 86 87 88

Vgl. Lehmann 2005, S. 437–438. In dem ersten und fünften Teil – vgl. Celan 1983, Bd. 1, S. 147–148. Ebd., S. 155. Ebd., S. 179. Paul Celan: Die Dichtung Ossip Mandelstams, zit. nach: Takako Shikaya: Logos und Zeit: Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles und der Sprachgedanke. Würzburg 2004, S. 139.

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Das Wort »Kristall« erhält für die im Gedichtband entwickelten Dichtungskonzeption Celans eine große Bedeutung, indem es auf die später mit dem »Sprachgitter«-Begriff bezeichneten Strukturierungsprozesse verweist: Der Kristall, als ein klar strukturiertes, gestalthaftes Ganze, wird dem Unstrukturierten in Form von »Grus«,89 »Schotter«90 oder »Schutt«91 entgegengesetzt. In dem späteren Band Atemwende beschreibt Celan die Sprache der Dichtung, zu der der Dichter unterwegs ist, als »Atemkristall«.92 In dem Band Sprachgitter wird das Wort zum ersten Mal in dem Gedicht Unten verwendet – Celan beschreibt dort einen sprachlichen Vorgang mit Hilfe eines kristallografischen Prozesses. Unten Heimgeführt ins Vergessen das Gast-Gespräch unsrer langsamen Augen. Heimgeführt Silbe um Silbe, verteilt auf die tagblinden Würfel, nach denen die spielende Hand greift, groß, im Erwachen. Und das Zuviel meiner Rede: angelagert dem kleinen Kristall in der Tracht deines Schweigens.93

Von besonderem Interesse für den Dichter scheint, dass – worauf Joachim Seng aufmerksam macht – ein Kristall, obwohl er zu dem Bereich des Anorganischen, des Leblosen gehört, durch »Keimbildung« entsteht und wächst, indem er »Stoff aus seiner nächsten Umgebung entnimmt […] und ihn parallel zu den vorhandenen Flächen anlagert«.94 Diese Vermischung von anorganischen und organischen Eigenschaften wird auf die Sprache übertragen, wobei schon mit dem Titel die Richtung angedeutet wird, in die der Weg zur Sprachgewinnung führen muss – Unten liegt ein kristallähnlicher, wie ein Gitter strukturierter Raum, in dem dichterisches Sprechen möglich bleibt – ein Sprechen, das sich vom »Zuviel« der Rede abgrenzt und für das das Schweigen von entscheidender Bedeutung ist. So eine Reise ins Unten stellt auch das Gedicht Schneebett dar : Die Abwärtsbewegung, die das anaphorische »Fallen« steuert und die der Leser auch 89 90 91 92 93 94

Celan 1983, Bd. 1, S. 148. Ebd., S. 171. Ebd., S. 194. Vgl. Weggebeizt, Celan 1983, Bd. 2, S. 31. Ebd., S. 94. Lehmann 2005, S. 150.

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grafisch mitverfolgt, hört erst mit dem letzten Vers auf (»In den Gängen, den Gängen«): Schneebett Augen, weitblind, im Sterbegeklüft: Ich komm, Hartwuchs im Herzen. Ich komm. Mondspiegel Steilwand. Hinab. (Atemgeflecktes Geleucht. Strichweise Blut. Wölkende Seele, noch einmal gestaltnah. Zehnfingerschatten – verklammert.) Augen weltblind, Augen im Sterbegeklüft, Augen Augen: Das Schneebett unter uns beiden, das Schneebett. Kristall um Kristall, zeittief gegittert, wir fallen, wir fallen und liegen und fallen. Und fallen: Wir waren. Wir sind. Wir sind ein Fleisch mit der Nacht. In den Gängen, den Gängen.95

Die Fahrt ins Innere der Erde, die das lyrische Ich mit den Worten »Ich komm« ankündigt, dient der Kontaktaufnahme mit den Toten.96 Sie ist auch eine Reise in die Vergangenheit. Die Celan’sche Raumkonzeption, die sich auf geologischen Regeln stützt, macht in dem Raum auch eine Zeit-Sedimentation sichtbar : Die tiefste Schicht ist die älteste. Darauf kann auch die »Steilwand« in der zweiten Strophe verweisen, die wie ein »angeschnittenes Raumbild«97 ist. Uta Werner beschreibt sie als »der Ort, an dem die sogenannten stratigraphischen Leseinformationen (etwa die Lage der Schichten oder Fossilinhalte) offen zutage liegen«.98 Das lyrische Ich, indem es sich für ein lesendes »Hinab« entscheidet, tritt mit der Steilwand in Dialog: Die Toten werden in eine Realität herausbeschworen, die aber nicht genau die der Lebendigen sein muss; deswegen auch spielt sich das Herausbeschwören nicht mit Hilfe der Nekromantie-Rituale ab, auf die das Wort 95 Celan 1983, Bd. 1, S. 168. 96 Vgl. Hermann Burger : Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Frankfurt am Main 1989, S. 124. Burger bezeichnet das Gedicht als »stumme Zwiegespräch mit den Toten«. 97 Uta Werner : Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik München 1998, S. 110. 98 Ebd.

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»Mondspiegel« selbst verweisen könnte:99 Der Kontakt mit den Verstorbenen wird durch eine Gegenbewegung versichert, die ins »Sterbegeklüft« greifen muss. Durch seine vertikale Gestalt verweist das Gedicht auf das sowohl räumlich als auch zeitlich verstandene Schichtensprechen. Diese zu Raum gewordene Vergangenheit verfolgt das Ich; ihm folgen auch die Blickbewegungen des Lesers: (Atemgeflecktes Geleucht. Strichweise Blut. Wölkende Seele, noch einmal gestaltnah. Zehnfingerschatten – verklammert.)

Was in der Steilwand eingelagert zu sehen ist, sind die Spuren der vergangenen Lebendigkeit (und zugleich des vergangenen Sterbens), die sich allmählich verformt haben: Atem und Blut sind noch als Reste des Menschlichen erkennbar, die Spuren einer in Rauch aufgegangenen Seele lassen sich noch ausfinden,100 die Finger sind aber nur als ihre Schatten zu sehen. Grafisch ist diese für kurze Zeit wieder belebte Vergangenheit durch Parenthese eingegrenzt – sie ist genauso »verklammert« wie die ineinandergekrallten Finger des »Zehnfingerschattens«. Es scheint, dass in diesem in sich abgeschlossenen Raum etwas zur Darstellung gelingt, was auf der Ebene des eigentlichen Textes unmöglich bleibt. Diese Vermutung wird durch den Anfang der dritten Strophe bestätigt: Angereichert mit weiteren »Augen« und mit veränderter Strukturierung der Verse – die Worte »im Sterbegeklüft« werden in die Vertikale umgesetzt –, wiederholt das Gedicht auf diese modifizierte Weise seinen Anfang neu, was als zweiter Versuch gesehen werden kann, in dieses »Sterbegeklüft« hinabzusteigen. Dabei taucht ein Du auf, mit dem das Ich sich in die Richtung von »Schneebett« bewegt: Zum Ort, wo die beiden eine Gemeinschaft bilden können, »durchaus auch in einer Liebesbeziehung und Ehe«.101 Die zum Wir verbundenen Protagonisten, unter der Schneedecke geborgen, setzten die Reise in die Tiefe fort: Sie scheint, jetzt in das Innere von einem der das Schneebett bedeckenden Schneekristalle zu führen. In der Struktur eines Kristalls lassen sich Parallelen zu der »Steilwand« beobachten – auch in ihr wird Raum als eingefrorene Zeit dargestellt. Im »zeittiefen« Raumsystem eines Schneekristalls fallen Ich und Du schrittweise (»liegen und fallen«), von einer Gitterebene zu anderer, zu dem Moment der Entstehung der Kristall-Struktur, wo sie endlich halten und ruhen können sollten. Die letzte Strophe macht aber deutlich, dass Ich und Du nicht in der Ur99 Ebd. 100 Die Phrase »wölkende Seele« kann sich auf die Vorstellung beziehen, dass die verbrannten Menschen als Rauchwolken aufgestiegen sind und mit ihnen mitwandern. Vgl. Lehmann 2005, S. 229. 101 Ebd., S. 225.

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sprungszelle eines Schneekristalls ihre Ruhe finden, sondern in den unterirdischen »Gängen«, deren Erreichung erst die Fallbewegung beendet. Uta Werner bemerkt, dass »wenn auch der Titel Schneebett ein Ruhen in kaltem Schnee imaginiert, so verbirgt sich unterhalb dieser visuellen Geschlossenheit eine weitere, die durch die geologischen Abläufe bestimmt ist«.102 Es wird deutlich, dass mit dem Wort »Kristall« hier nicht nur ein ephemeres Schneekristall gemeint wird, sondern auch ein Mineralkristall, der – als Baustoff von Steinen – sich in den Gängen anlagert. Die Abwärtsbewegung, die zum Entstehungsmoment eines Schneekristalls führt, endet in dem Punkt, in dem der Bildungsprozess eines neuen Minerals eingeleitet wird – ein substantiell neues Wachstum, an dem das »Wir« teilhat. Das »Schneebett« von Ich und Du, in dem sie beieinander liegen und fallen, wird zu einem Vereinigungsort, der sie sich einverleibt hat.

Das innere Sprach-Bild Was der neuen Sprache einen besonderen Wirklichkeitsbezug gibt, ist die Verwendung einer streng auf das Materielle, das Naturhafte bezogenen Terminologie, vor allem aus dem Bereich der organischen (Botanik) und anorganischen Natur (Mineralogie). Wie aber in der Einleitung des Kommentars zu dem Gedichtband betont wird, »verlieren die von Celan verwendeten Begriffe ihre referentielle Funktion«,103 sie stellen auch kein Geistiges dar, entweder im metaphorischen noch im symbolischen Sinne. Sie scheinen eher die Gestalthaftigkeit der Sprache zu akzentuieren, zusammen mit ihrer Eigenschaft, sinnlich im Rahmen des inneren Sehens und Hörens wahrnehmbar zu sein. Das Sprach-Bild, das auf diese Weise gewonnen werden kann, ist nur als »Schallbild« vorhanden und wahrnehmbar : Man kann es nur im Moment des lebendigen, individualisierten Sprechens erfahren – es wird zum Ort, wo es zu einer Begegnung zwischen dem dichterischen Ich und der Wirklichkeit der Toten kommen kann. Besonders anschaulich wird der Prozess der Gestaltbildung im Gedicht Niedrigwasser dargestellt: Was da wächst und gebaut wird, ist eine Sprachlandschaft, eine in der Sprache entstehende Wirklichkeit:

102 Werner 1998, S. 112. 103 Lehmann 2005, S. 33.

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Niedrigwasser. Wir sahen die Seepocke, sahen Die Napfschnecke, sahen Die Nägel an unsern Handen. Niemand schnitt uns das Wort von der Herzwand. (Fährten der Strandkrabbe, morgen, Kriechfurchen, Wohngänge, Windzeichnung im grauen Schlick. Feinsand, Grobsand, das van den Wänden Gelöste, bei andern Hartteilen, im Schill.) Ein Aug, heute, gab es dem zweiten, beide, geschlossen, folgten der Strömung zu ihrem Schatten, setzten die Fracht ab (niemand schnitt uns das Wort von der – –), bauten den Haken hinaus – eine Nehrung, vor ein kleines unbefahrbares Schweigen.104

Die formale Dreiteilung des Gedichts spiegelt sich auf der Inhaltsebene wieder. Wie es Uta Werner anmerkt, sind hier drei verschiedene Küstenformen dargestellt: »Auf die Schilderung einer Steilküste folgt in der zweiten Strophe die Beschreibung einer Flachküstenlandschaft, während die letzte den Bildungsprozeß einer Nehrungsküste evoziert.«105 Den drei verschiedenen Landschaftsräumen sind auch drei Zeiten zugeordnet – entsprechend: Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.106 Im Gedichtsraum stehen die drei Landschaftsformen in einer Ortsbeziehung zueinander, indem sie sich selbst überlagern; die Zeiträume, in denen ihr Bau sich abspielt, werden hier in eins gesetzt, sie kommen simultan vor. Der im Gedicht benutzte Blick scheint Eigenschaften der Zeitraffer-Filmtechnik aufzuweisen: es ist eine Methode, bei der die Kamera weniger als 25 Bilder pro Sekunde aufnimmt. Der Aufnahmeeffekt entsteht später bei der Wiedergabe mit normaler Geschwindigkeit: Bewegungsabläufe scheinen schneller abzulaufen, da die Bildfrequenz der Kamera im Verhältnis zur Ab-

104 Celan 983, Bd. 1, S. 193. 105 Werner 1998, S. 120. 106 Vgl. Lehmann 2005, S. 406.

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spielfrequenz herabgesenkt wird.107 Auf solche beschleunigte Weise wird in dem Gedicht dargestellt, wie über die Jahrhunderte hinweg ein Neuland durch die stete Sedimentzufuhr gewonnen wird. Die Küste kann als eine Übergangszone zwischen Land und Wasser gesehen werden, wie es schon im Gedicht Stimmen der Fall war und was hier noch zusätzlich durch die Anwesenheit der Sand-Motivik betont wird. Dieser »geologisch-chemische Topos, in dem Meer- und Erd-Metaphorik eng aneinandergrenzen«,108 hier ausdrücklich als Sand des Strandes dargestellt, macht sie als ein Schwellenraum noch kenntlicher. Mit dem Zeitraffer-Blick gesehen, wird sie zum Ort eines Kreislaufprozesses von unaufhaltbarer Zerstörung und allmählichem Wiederaufbau, der ihre unterschiedliche Gestalt formt; das Geschehen, das sich in dem Gedicht beobachten lässt, entwickelt seine Dynamik aus diesem Gesetz von Gewinn und Verlust. Die erste Strophe setzt eine Steilküste bei Niedrigwasser ins Bild, wobei sie – durch die repetitive Benutzung von »wir sahen« – den Vorgang des Sehens besonders betont. Der Sehprozess wird aus der Perspektive einer näher unbestimmten, mit »wir« bezeichneten Gruppe dargestellt, die scheint, sich selbst in der Brandungszone zu befinden. Der Leser folgt ihren Blicken: Sie vermerken den Gezeitenwechsel, der die Lebenswelt im Meer sichtbar werden lässt. Der Wahrnehmungsvorgang ist sehr selektiv : Nur die sogenannten »sessilen« Tiere fallen ins Auge. Sowohl »Seepocke« als auch »Napfschnecke« sind Lebewesen, die an die schwierigen Lebensbedingungen im Raum der Brandung und des Niedrigwassers angepasst sind; die beiden Gattungen sind an Felsküsten angesiedelt, an denen sie so fest haften können, dass auch die stärksten Wellenbewegungen sie nicht von ihrem Untergrund loslösen können. Während der Gezeiten schützen sich Seepocken und Napfschnecken vor Austrocknung, indem sie Meerwasser im Inneren ihrer Gehäuse aus Kalkschalen zurückhalten.109 Von diesen Tieren geht der Blick zu den »Nägeln auf unseren Händen« über. Ähnlich wie die Kalkschalen den Körper von jener Lebewesen schützen, dienen die Nägel dem Schutz der Hand, sie sitzen auch genauso fest in ihrem Untergrund wie »die Seepocke« und »die Napfschnecke« auf dem Felsgestein. Den Aspekt des 107 Vgl. Definition von »Zeitraffer« in dem Online-Filmconnexion-Lexicon, verfügbar unter : http://www.film-connexion.de/lexikon/Filmconnexion-Lexikon-1/Z/Zeitraffer-69/ [13. 06. 2017]. 108 Menninghaus 1980, S. 107. 109 Vgl. Lehmann 2005, S. 410. Dass »Seepocke« und »Napfschnecke« hier in seiner Eigenschaft als sessile Tiere dargestellt werden, bemerkt sowohl Alfred Kelletat: Annäherung an zwei Gedichte Paul Celans: »Niedrigwasser« (1958) – »Lila Luft« (1967). Vaasa 1990 als auch Werner 1998, S. 122. Auf das küstengeografische Fundament von Niedrigwasser verweist in seiner Interpretation auch Ulrich Konietzny : Sinneinheit und Sinnkohärenz des Gedichts bei Paul Celan, Bad Honnef 1985, S. 163.

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Festsitzens, akzentuiert auch der Vers »Niemand schnitt uns das Wort von der Herzwand«, indem er auf eine modifizierte Weise die Redewendung »jemandem das Wort abschneiden« aufnimmt. Nun aber passiert es in Bezug auf die Sprache – auf das Wort, das mit dem Herzen, mit dem Innersten, mit »der ganzen individuellen Existenz verbunden ist«.110 Dabei lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob das Wort dem Herzen eingelagert ist oder ob es als Bestandteil des Herzens hervortritt: Wäre letzteres der Fall, dann würde es sich um das Beschneiden des Herzens selbst handeln, und nicht darum, von ihm einen anhaftenden Fremdkörper abzulösen. Wenn man aber »Niemand« als Nomen liest,111 als eine nicht referantialisierbare, aber gleichwohl existente Instanz, dann verbindet der Vers doch die Beschneidung mit dem Ablösen, von dem in den folgenden Strophen die Rede ist. Uta Werner sieht in dem Vers »einen unterlassenen Vorgang«, der – »hier nachträglich eingeklagt« – »als Allusion zurück auf die Nägel an unseren Händen strahlt«,112 und verbindet ihn mit dem Beschneiden der Nägel in Totenriten verschiedener Kulturen, deren Ziel es war, die Verwandlung des Verstorbenen in einen die Lebenden schreckenden Wiedergänger zu verhindern und ihm »die Rückkehr zu verriegeln«. Vor diesem Hintergrund zeigen die Landschaftsbilder von Niedrigwasser eine andere Seite: Das Gedicht beginnt, die Verbindung zu den Toten zu knüpfen – es sind ihre Blicke, denen der Leser folgt. Sie befinden sich in der Brandungszone des Meeres, die gleichzeitig Assoziationen mit dem Verbrennung weckt: »Brandung« und »Brennen« haben den gleichen etymologischen Ursprung,113 worauf Celan in verschiedenen Gedichten angespielt hat: Er hat Landschaften entworfen, in denen das Feuer der Vernichtung in ein Bild von brandenden Meer überführt wurde.114 Der Landschaftsraum wird auf den sich sprachgeschichtlich überlagernden Wortbedeutungen gebaut, die »gewissermaßen erst dann branden, wenn man die Sprache des Gedichts diachron wahrnimmt.«115 Niedrigwasser kann auch aus einem weiteren Grund als eine »Wortlandschaft« gesehen werden: Als die Textvorlage für das Gedicht lässt sich Roland 110 Lehmann 2005, S. 410. 111 Z. B. im Kontext von »Niemandes Stimme« in Ein Auge, offen (Celan 2005, S. 109) oder dem bekannten Vers aus dem Gedicht Psalm (in dem Band Niemandsrose): »Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm« (ebd., S. 132). 112 Werner 1998, S. 122. 113 Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Online-Fassung, verfügbar unter : http://etymology_de.deacademic.com/1549/Brandung, [08. 06. 2014]. 114 Vgl. u. a. das frühe Gedicht Wasser und Feuer aus dem Band Mohn und Gedächtnis (Celan 2005, S. 52) oder ein späteres, aus dem Band Atemwende, mit dem Beginn »Ostrequalm, flutend, mit / der buchstabenähnlichen / Kielspur inmitten. // (Niemals war Himmel. / Doch Meer ist noch, brandrot, / Meer.)« (Celan 2005, S. 204). 115 Werner 1998, S. 123.

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Brinkmanns Abriß der Geologie erkennen.116 Nicht nur Darstellungsweise des von Celan entworfenen geologischen Raumes ist dem Lehrbuch analog, es wird auch Wort für Wort zitiert. Auf ungefähr sechs Seiten wird von Brinkmann die geologische Tätigkeit des Meeres an den Küsten dargestellt, die zu bestimmten Küstenformationen (wie Steilküste, Flachküste, Watt und Nehrung) führt, wobei die Worte wie »Seepocke«, »Napfschnecke«, »Schill«, »Hartteile«, »Wohngänge« oder »Feinsand« auch hier benutzt werden.117 Nicht also die geologische Sicht auf die Wirklichkeit, sondern der Lehrbuchtext kann als der Referenzpunkt gesehen werden, auf den sich das Gedicht bezieht; in Abriß der Geologie befinden sich auch Abbildungen, die fast wie Illustrationen zu dem in Niedrigwasser vorhandenen poetischen Bildern wirken: Die Fotografien zeigen unter anderem eine mit Seepocken übersäte »Brandungskohlkehle bei Niedrigwasser«, »Kriechfurchen von Littorina littorea« und »Fahrten der Strandkrabbe Carcinus maenans« in einem feinsandigen Watt.118 Durch die wechselhaften Beziehungen zur tatsächlichen Küstenlandschaft und zu ihrer Gestaltung in Zeit einerseits, andererseits zur Textwelt des GeologieBuches entstehen optische und textuelle Brechungen, die die gesamte Landschaftskonstruktion des Gedichts dominieren. Die letzte Strophe, in der »der Landschaftsentwurf von Niedrigwasser in ein Textgelände mündet«119, enthält ein Selbstzitat: Der letzte Vers der ersten Strophe taucht hier wieder auf, verkürzt, kursiv gedrückt und in Klammern gesetzt. Der Satz »Niemand schnitt uns das Wort von der Herzwand« wird als »gestaltgewordene Wortfolge«120 von den »geschlossenen Augen« mit der Küstenströmung in eine Nehrungslandschaft verfrachtet. Das letzte Wort des Satzes fehlt doch – es wird durch zwei Gedankenstriche ersetzt, die wie Bildsymbole wirken und die Abwesenheit der »Herzwand« grafisch darstellen. Dass der Satz nicht vollständig gerettet werden konnte, kann an der Spezifik der Steilküste liegen: Laut dem Lehrbuch ist sie – besonders, wenn sie aus Kalk und Kreide besteht – eine unaufhaltsame Zerstörungsregion, »wobei Frost, Salzwitterung und Durchfeuchtung kräftig mithelfen. Die Schutthalde wird von den Wogen fortgewaschen, und der Angriff beginnt von neuem.«121 Der Satz, der als »Wortding« gesehen werden kann, wie es Bernhard Böschenstein 116 Lehmann 2005, S. 416. 117 Roland Brinkmann: Abriß der Geologie, Bd. 1, Stuttgart 1956, S. 85–91. Die folgende Interpretation stützt sich auf Notizen von einem Seminar, gehalten von Barbara Wiedemann an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Wintersemester 2012/2013 (Sitzung vom 14. November 2012). 118 Ebd., S. 86–90. 119 Werner 1998, S. 127. 120 Ebd., S. 128. 121 Brinkmann, 1956, S. 87.

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bezeichnet,122 scheint auch dem Erosion-Prozess zum Opfer gefallen: Er wird Teil der Textlandschaft, die den Naturgesetzen folgt. Die Wendung »Wort von der Herzwand« kann als Teil der Wortwelt auch deswegen gesehen werden, weil sie an die Topik der »Herzenschrift« erinnert – eines Topos, der sein Ursprung in der neutestamentlichen Paulus-Rede aus dem 2. Korinther-Brief hat.123 Er wurde in Philosophie, Psychologie und Theologie als lebendige, kreatürliche Artikulation der Wahrheit des »tödlichen Buchstaben« entgegengesetzt.124 Die Ersetzung des Kompositums »Herzwand« durch die Gedankenstriche kann auch grafisch den Vorgang darstellen, der zuvor sprachlich beschrieben wurde, nämlich das Abschneiden (oder Beschneiden) des Wortes, als ein »SichAuflösen des Satzgefüges.«125 Das letzte Wort der Totengemeinschaft zeigt also kein beklagendes Verstummen – die Abwesenheit der »Herzwand« gestaltet es in ein sichtbares Zeichen der Beschneidung um, die nicht im Geist, sondern in Buchstaben geschieht. Die »Herzenschrift« ist hier nicht unsichtbar, wie die christliche; sie wird visuell wahrnehmbar als Symbol des Abwesenden, wie ein buchstäbliches Fossil. Eine andere Profilierung enthält die Wortlandschaft in der zweiten Strophe durch das Motiv der Spur : Im Gegensatz zu der ersten, in der die Statik betont wird, sind es Zeichen vergangener Bewegungen, Spuren organischer Lebewesen im Watt – Relikte der durch die Meer-Änderungen verursachten Ablösungsprozesse an der Steilküste.126 Sie stehen aber, wie es Uta Werner bemerkt, der fossilen Rettung der letzten Strophe radikal entgegen: Die Überreste der wattbewohnenden Tiere sammeln sich zwar in Schichten am Strand, ihre kalkigen »Hartteile« sind aber nur kurzzeitig identifizierbar, während die versteinernde Satz-Fracht im »unbefahrbaren Schweigen« für immer lesbar bleiben soll.127 Das Überleben, auch wenn es nur in Gestalt eines Fossils möglich ist, ist nur am Ort des Schweigens möglich, zu dem die Textbewegung von Niedrigwasser führt. »Hier liegt das Unaussprechliche geborgen, um dessentwillen das Gedicht geschaffen scheint.«128 Der Satz wurde in den Raum des Schweigens gerettet. Im Gedicht wird eine Wirklichkeit erreicht, deren sprachlicher Ausdruck immer noch potenziell bleibt. Den Versuch, ihn zu gestalten, muss jeweils im Akt des 122 Bernhard Böschenstein: »Gespräche und Gänge mit Paul Celan«, in: Giuseppe Bevilacqua/ Bernhard Böschenstein (Hg.): Paul Celan: zwei Reden. Marbach am Neckar 1990, S. 11, 18. 123 »[…] dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, und geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens.« (2. Kor 3, 3). 124 Vgl. dazu Lehmann 2005, S. 411 und Werner 1998, S. 129–130. 125 Lehmann 2005, S. 415. 126 Ebd., S. 408. 127 Werner 1998, S. 137. 128 Ebd., S. 138.

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Lesens unternommen werden. Es ist zugleich ein Ort, wo der Sinn aufhört und die bildhafte Wahrnehmung beginnt. Im scheinbar Sprachlosen kommt das Unaussprechliche der Vergangenheit ans Licht: »Als vielsinniges palimpsesthaftes Schweigen«,129 als stummes, inneres Bild bleibt sie nur visuell erfahrbar.

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Paweł Piszczatowski

Prosopopöischer Dialog. Zwischen Celan, Walther von der Vogelweide und den Toten

ich wil in alter juden leben mich hinn.n fürwert ziehen Süezkint der Jude von Trimperg um 1280

Von Paul Celan im Kontext der Minnelyrik zu sprechen, scheint auf den ersten Blick womöglich etwas gewagt, ist aber, wie im Folgendem gezeigt wird, bei der Lektüre von zwei Gedichten aus dem Band Die Niemandsrose (1963) geradezu unumgänglich. Es handelt sich um die Gedichte Zweihäusig, Ewiger und Benedicta, die in der Struktur des Bandes eng beieinander liegen, durch einen dritten Text (Sibirisch) jedoch – dessen Funktion in einer möglichen TriptychonStruktur noch zu untersuchen wäre – voneinander getrennt sind.1 Zweihäusig, Ewiger, bist du, unbewohnbar. Darum baun wir und bauen. Darum steht sie, diese erbärmliche Bettstatt, – im Regen, da steht sie. Komm. Geliebte. Daß wir hier liegen , das ist die Zwischenwand -: Er hat dann genug an sich selber, zweimal.

Benedicta Zu ken men arojfgejn in himel arajn Un fregn baj got zu’s darf asoj sajn? Jiddisches Lied Getrunken hast du, was von den Vätern mir kam und von jenseits der Väter : – Pneuma.

1 Insbesondere in den späten Gedichten Celans sind solche »Gedichtstriptycha« nicht selten, etwa das den Band Lichtzwang abschließendes Meister-Eckhart-Triptychon. Siehe auch meinen Artikel zu drei weiteren Gedichten (Streu Ocker, Schwanengefahr und Schaltjahrhunderte) aus demselben Band (Paweł Piszczatowski: »Tam, gdzie zamarzaja˛ uczucia, czyli trauma narodzin i przymus z˙ycia. Ambiwalencje rytuałjw odrodzenia w trzech wierszach Celana z tomu Przymus ´swiatła«, w: Teksty Drugie 5 (2014), S. 213–229).

254 Laß ihn, er habe sich ganz, als das Halbe und abermals Halbe. Wir, wir sind das Regenbett, er komme und lege uns trocken.

Paweł Piszczatowski

Gesegnet seist du, von weit her, von jenseits meiner erloschenen Finger.

.................. Er kommt nicht, er legt uns nicht trocken.2

Gesegnet: Du, die ihn grüßte, den Teneberleuchter. Du, die du’s hörtest, da ich die Augen schloß, wie die Stimme nicht weitersang nach: ’s mus asoj sajn. Du, die du’s sprachst in den augenlosen, den Auen: dasselbe, das andere Wort: Gebenedeit. Getrunken. Gesegnet. Gebentscht.3

Was die durchaus nicht symmetrischen Gedichte miteinander verbindet, sind – allem voraus – die bereits im Titel bzw. Incipit direkt genannten religiösen Bezüge. Allerdings scheinen sie auf den ersten Blick weit auseinander zu liegen, da im ersten der beiden Gedichte der Gott des hebräischen Tanach – in der Tradition der Mendelssohn’schen Haskala als »Ewiger« – angerufen wird, im zweiten dafür – Maria, die Mutter Gottes der christlichen MenschwerdungTheologie in der Ausprägung der katholischen Marienfrömmigkeit. Beim genaueren Betrachten schwindet diese Diskrepanz, sobald man erkennt, dass es sich in beiden Texten um eine weibliche Gestalt handelt, und zwar nicht nur die einer Gottheit. Diese weibliche Gestalt, die – bald als Schwester, bald als Mutter oder Geliebte durch viele Gedichte Paul Celans wandelt, erscheint hier – gemäß der Celan’schen Theo/Poetologie der Brocken4 – als das weibliche Moment in der

2 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 143–144. 3 Ebd., S. 145. 4 Vgl. Paweł Piszczatowski: »Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan aus dem Band

Prosopopöischer Dialog

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Gottheit, wie Gershom Scholem die Schechina bezeichnete (das Passive in Scholems Bezeichnung lasse ich bewusst, als auf Celan nicht zutreffend, aus).5 Zu den zahlreichen Vorstellungen der Schechina gehört – neben der für den gesamten Band und speziell für die Deutung von Psalm ausschlaggebenden Identifikation mit der Gemeinde Israels (kneset Israel) in der Bildlichkeit der »Rose unter den Dornen« des Hohenliedes6 – die der Mutter Rachel, »die um ihre Kinder weint«, die nicht nur »Königin, Tochter und Braut Gottes, sondern auch […] Mutter eines jeden Einzelnen in Israel« ist.7 Von dieser Vorstellung ist es nicht mehr so weit zu der christlichen Theotokos-Lehre, die in der Volksfrömmigkeit zu dem Bild einer ihre irdischen Kinder beschützenden himmlischen Mutter wurde. Letztendlich hat der in der Nachfolge von Sabbatai Zwi stehende Gründer einer einflussreichen jüdisch-christlichen messianischen Sekte Jakob Frank, der – wie Celan – in Czernowitz aufwuchs und der im 18. Jahrhundert nicht nur in Polen, sondern auch am Wiener Kaiserhof für manchen Tumult sorgte, nach seiner Inhaftierung im Kloster Jasna Gjra in der berühmten dortigen Ikone des Schwarzen Madonna eine Inkarnation der Schechina erblickt.8 Die Geschlechtlichkeit des göttlichen Wesens wird gleich im ersten Satz des Gedichts zur Sprache gebracht. Die Zweihäusigkeit des Ewigen ist nämlich selbst zweifacher Natur: die literare Bedeutung führt zu der Vorstellung zweier göttlicher Wohnstätten, womöglich einer himmlischen und einer irdischen (die Schechina ist die Präsenz Gottes in der geschaffenen Welt), die beide unbewohnbar sind. Damit wird auch das Thema der unüberwindbaren Obdachlosigkeit eingeleitet, welche die gesamte erste Strophe prägen wird. Die andere, wohl weniger offensichtliche Bedeutung des Anfangswortes in diesem Gedicht, führt – wie so oft bei Celan – auf das Gebiet der Botanik, in deren Fachsprache Zweihäusigkeit für die Diözie steht, für eine Geschlechterverteilung im Pflanzenreich, bei welcher männliche und weibliche Geschlechtsorgane sich in Blüten

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Die Niemandsrose«, in: Tim Lörke, Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Göttingen 2015, S. 335–352. Vgl. Gershom Scholem: »Schechina; das passiv-weibliche Moment in der Gottheit«, in: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt am Main 1977, S. 135–191. Das Passive betrachte ich im Zusammenhang der beiden zu analysierenden Gedichte als unzutreffend, weil die weibliche Gestalt bei Celan, besonders in den zwei letzten Strophen von Benedicta, eine durchaus aktive Rolle spielt. Vgl. Sohar. Schriften aus dem Buch des Glanzes, übers. und hg. v. Gerold Necker. Frankfurt am Main 2012, S. 9. Beide Zitate: Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 2013, S. 251. Vgl. Paweł Maciejko: The Mixed Multitude: Jacob Frank and the Frankist Movement, 1755–1816. University of Pennsylvania Press 2011, S. 167–179. Zu den Parallelen von Marienkult und der kappalistischen Schechina-Konzeption siehe vor allem Arthur Green: »Shekhinah, the Virgin Mary, and the Song of Songs: Reflections on a Kabbalistic Symbol in Its Historical Context«, AJS Review, vol. 26, No. 1 (Apr. 2002), S. 1–52.

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von zwei verschiedenen Individuen einer Gattung entwickeln, sodass es zu keiner Befruchtung innerhalb eines pflanzlichen Organismus kommen kann. Unter diesem Aspekt gesehen variiert auch die theologische Aussage des ersten Satzes. Wie die Schechina-Konzeption bereits suggeriert, ist die Zweigeschlechtlichkeit innerhalb der Gottheit ein fester Bestandteil der kabbalistischen Spekulation. Allerdings ist der Lebensbaum der Kabbala, das grundlegende Denkmuster jüdischer Mystik, alles andere als zweihäusig. Wenn er es wäre, müsste es auch noch einen anderen Lebensbaum geben, damit die Welt erhalten bliebe, was in der kabbalistischen Auffassung von ungestörtem Hinunterfließen der Lebenssäfte von den obersten drei Sephirot Keter, Bina und Chochma, die bereits untereinander weiblich oder männlich geprägt sind, über die neunte Sephira Jessod, die Sephira des Gerechten (zaddik), welcher in der kabbalistischen Körperentsprechung des Etz Chaim für den Phallus steht, in den Schoß der untersten Sephira Malchuth, der weiblichen Schechina, einer Wohnstätte Gottes im Reich des Geschaffenen. Der Kreislauf der Lebenspotenz vollzieht sich innerhalb eines perfekten Organismus, welcher der Lebensbaum ist. Die Zweihäusigkeit bedeutet angesichts der pankosmischen Ausmaße des Etz Chaim zwangsläufig einen Bruch in der Integrität der Lebenssubstanz schlechthin. Gott wird somit in die Lage versetzt zwischen scheinbarem Überfluss seiner Doppelnatur und der tatsächlichen Entbehrung als »das Halbe und abermals Halbe«, dessen Ganzheit zu einer monadisch abgeschiedenen Abwesenheit wird, jenseits der einzigen Wand innerhalb dieser schmerzhaft offenen Raumstruktur der Obdachlosigkeit. Die Wand trennt den Ewigen, der »genug an sich selber« hat, von der erbärmlichen und durch eine neue Sintflut heimgesuchten Welt. Es gibt nach der Schoah keine Gemeinde Israels mehr. Die Schechina zog sich aus der Welt zurück. Ihr Fehlen, die Wunde nach der Ausrottung des jüdischen Volkes macht die Erde unfruchtbar. Die Unbewohnbarkeit von Himmel und Erde gleicht der Unfruchtbarkeit im Lande der Toten. Diesem Tatbestand kann man nur auf eine Weise entgegen kommen: durch die Zeugungskraft einer sexuell erfüllten Liebe, da die Potenz des irdischen Gerechten mit dem phallischen Gerechten der Sephira Jessod aufs Engste verbunden ist. Das Buch Sefer ha-Bahir sagt dazu: Eine Säule geht von der Erde bis zum Himmel, und »Gerechter« ist ihr Name, nach den [irdischen] Gerechten. Und sind Gerechte auf Erden, so wird sie stark, wenn aber nicht, so erschlafft sie, und sie trägt die ganze Welt, denn es heißt: Der Gerechte ist der Grund der Welt. Ist sie aber schlaff, so kann die Welt nicht bestehen Darum […]: Ist auch nur ein einziger Gerechter auf Erden, so erhält er die Welt.9

9 Scholem 2013, S. 90.

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Postapokalyptischer Minnesang Wie so oft in seinen Texten aus Die Niemandsrose unternimmt Celan auch in diesem Gedicht also den Versuch einer Wiederbelebung durch hierogamische Erotik. Er knüpft dabei auf die wohl reinste Form der deutschen Liebeslyrik, die in den Liedern Walthers von der Vogelweide einen unnachahmlichen Höhepunkt erreichte. Zu denken ist vor allem an das berühmte Gedicht Walthers Under der linden,10 welches in vieler Hinsicht die Struktur von Celans Text mitbestimmt. Das Lied weist eine in der späteren Liebeslyrik kaum noch anzutreffende Eigenschaft auf, das Vergangene eines Liebeserlebnisses ohne jegliche Melancholie ins Präsentische der sprechenden Instanz zu integrieren. Überall sind noch sichtbare Spuren der Begegnung der Liebenden erhalten, der Mund der Geliebten ist immer noch rot von den leidenschaftlichen Küssen, sie fühlt sich immer noch »sælic« nach ihrem Empfang durch den »friedel«. Als gäbe es nur den Eros. Als gäbe es den Thanatos nicht. Allem Schein zum Trotz ist es nicht Celans Anliegen diese Vitalität Walthers auf dem Weg einer alles mitreißender Inversion ins Vergebliche zu »thanatisieren«. Viel mehr geht es darum, jene »edle Herrin« literarisch zu verorten, die bei Walther so heiter von ihrer Liebeserfüllung berichtet. Eine Frau, die sowohl als vornehme Geliebte, als auch Unsere Liebe Frau begrüßt werden kann, gemäß der Semantik der Anrufung »hÞre frowe«.11 Diese Verortung geschieht in Celans Gedicht mittels Raumgestaltung in direkter Anlehnung an Walthers Linden-Lied. Der Begegnungsort der Liebenden ist dort eine »ouwe«, was meistens mit dem neuhochdeutschen Wort »Aue« wiedergegeben wird, im Mittelhochdeutschen durchaus aber auch ein vom Wasser umflossenes Land, eine Insel oder Halbinsel also, oder gar einen Fluss oder Strom bedeuten kann.12 Es wird bei Walther wohl eher eine in einem Flusstal abseits gelegene Wiese mit »bluomen unde gras« gewesen sein, in Celans Auenlandschaft herrscht dagegen eine verheerende Überschwemmung. Aber in beiden Gedichten findet das Liebesabenteuer unter freiem Himmel statt, in einer offenen durch Wasser geformten Landschaft. Der intertextuelle Spielraum verengt sich wesentlich im Bild des weiblichen Du aus dem Gedicht Benedicta, welches dort durch die »augenlosen Auen« wandelt. Bis dahin aber – angenommen, dass zwischen den beiden Gedichten aus Die Niemandsrose tatsächlich 10 Siehe Deutsche Lyrik der frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Ingrid Kasten, Frankfurt am Main 2014, S. 396–399. 11 Vgl. ebd., S. 913–914. 12 Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Leipzig 1854–1866, verfügbar unter : http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=BMZ& mo de=Vernetzung& lemid=BO00267#XBO00267 [27. 11. 2017].

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eine strukturelle Verwandtschaft besteht – bleibt es eine bis zur Unerträglichkeit wasserreiche Landschaft mit einer für die Liebenden parat stehenden Bettstatt. Ist es bei Walther »unser zweier bette« und eine »von bluomen r%che bettestat«, die der Geliebte eigenhändig für seine »hÞre frowe« vorbereitet hat, so wirkt die Bettstatt der Liebe bei Celan nur noch erbärmlich. Sie steht, wie alles in der Welt des Gedichtes im Regen. »Da steht sie« – wie das Nichts in der Mandel, wie der König im Nichts der Mandorla,13 als hätte sie da schon immer gestanden. Als hätte man, über dasselbe Pfad gehend, tatsächlich noch die Stelle sehen mögen, an der das Haupt der Geliebten lag. Aber in Celans Gedicht werden alle Spuren durch das ansteigende und strömende Wasser verwischt und weggespült. Eine »minnecl%che« Idylle wird somit zur Kulisse der Sintflut. Spurenfestigkeit, die bei Walther eine Mediationsebene zwischen der Vergangenheit der Begegnung und der Gegenwart des Gedichtes bildete, gibt es nicht bei Celan, da alles in seinem Gedicht nur ein Schein des Lebens ist. Dass wir uns hier in einem Totenreich befinden, ist gleich beim Auftreten des »Wir« als lyrisches Subjekt im dritten Vers klar. Bei Celan reden die Toten immer als »wir«: von der Todesfuge, über Tenebrae und Psalm, bis hin zu dem Lichtzwang-Gedicht Wir lagen. Man kann somit den Eindruck gewinnen, dass Celan auch hier, wie im Gedicht Chymisch, eine Konjunktion inszeniert, die sich am Ende als »chymische Hochzeit« von König und »l%che« (mhd. für Leiche) erweist.14 Dem wäre es auch vielleicht so, wenn Celan die Konventionen der Liebeslyrik-Tradition zum Aufbau seiner Begegnungstätte, die laut Meridian, jedes Gedicht sein will,15 nicht bemüht hätte. Die Zweisamkeit bedarf eines Ausstiegs aus dem unbestimmten Wir, einer Auskristalisierung von Ich und Du, die im ersten Vers der zweiten Strophe sich auch tatsächlich in der Einladung »Komm, Geliebte, / Daß wir hier liegen« ereignet. »Daz er b% mir læge, / wessez iemen« ist für die Geliebte aus Walthers Lied Grund zu einer leichten, etwas kokett anmutenden Beschämung, bei Celan wäre es ein Schlüsselwissen, welches durch das Gedicht jedoch nicht gegeben wird. Niemand weiß, ob das als Geliebte angesprochene Du wirklich der Einladung folgte. Die Geliebte schweigt, ist abwesend, vielleicht doch eine tote »l%che«. Und doch macht das Lied von Walther es möglich, sich für einen Augenblick einer lebenden Geliebten zu entsinnen und sie sprechen zu hören, wie sie von der Bettstatt inmitten der Auen singt. Dieser Augenblick der Inszenierung einer erfüllten Liebe verleiht dem Ich des Gedichts eine Souveränität und Widerstandskraft gegen alle äußeren Missstände, gegen Gott und die Welt, eine Kraft, wie es einem allein die Liebe geben kann. Und doch reicht sie nur bis zum Ende 13 Vgl. Celan 2005, S. 142. 14 Vgl. Jürgen Lehmann (Hg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg 2003, S. 129. 15 Vgl. Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien, hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull. Frankfurt am Main 1999, S. 8–9.

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der dritten Strophe, die in der Hoffnung auf eine göttliche Rettung aus der Sintflut kulminiert, die durch die Versifikation sogar zu einer imperativischen Beschwörungsformel wird: »komme und lege uns trocken!« Er kommt nicht und legt uns nicht trocken – ist die ernüchternde Feststellung eines endgültigen Versagens. Das Gedicht geht dabei soweit, dass die beiden Liebenden am Ende eins mit der Bettstatt und mit der ganzen Landschaftskulisse werden: »Wir sind das Regenbett« bedeutet auch: wir sind das Flussbett, das in der Trockenzeit austrocknet, um sich dann rasch mit Regenwasser zu füllen.16 Wir sind Teil dieser Totenlandschaft, in der – kraft der poetischen Performanz – für einen Augenblick eine Landschaft der Minne aufblitzte. Wir sind das Flussbett, aus dem der Regen alle unseren Überreste wegspült, bis nichts am Ende bleibt: weder Erde, noch Lehm, Staub oder Sand aus den Urnen. »Die Dichtung, meine Damen und Herren –: diese Unendlichkeitssprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst«!«17 Dem wäre es auch vielleicht so, wenn Celan in seinen Gedichten nicht stets darum bemüht wäre, die Sterblichkeit aus der Nachbarschaft des Umsonst herauszulösen. Dem wäre es so, wenn die Landschaft mit der Bettstatt der Minne nicht punctus contra punctum aufgeblitzt hätte. Celans kontrapunktische »Kunst der Fuge« schafft in dem Gedicht einen Resonanzraum, in welchem die männliche Rede und das weibliche Schweigen seiner eigenen Szene sich mit dem männlichen Schweigen und der weiblichen Rede in Walthers Lied als Variationen des gleichen Soggetto überschlagen. Bei der akustischen Wahrnehmung dieser Polyphonie sind also nur die Stimmen des männlichen Celan’schen Ich und der »frowe« aus Walthers Minne-Lied hörbar. So gelesen, erweist sich letztendlich das Gedicht Celans auch als ein Versuch, diese fremde Stimme in seiner textuellen Welt akustisch wahrnehmbar zu machen. Darin erschöpft sich weitgehend der Begriff des prosopopöischen Dialogs, den ich an Celans Poetik der Dialogizität anwende. Die Erörterung dieses Themas gehört bekanntlich zu den wichtigsten Ausführungen der Meridian-Rede. Celans dialogisches Prinzip basiert auf seiner Konzeption des Anderen. »Das Gedicht – sagt Celan – will zu einem Anderen, er braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. […] Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.«18 Die Ausrichtung des lyrischen Textes auf das Andere macht ihn – so Celan – zu einem Gespräch. »Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein 16 In dieser Bedeutung wird das Wort »Regenbett« in der älteren Reiseliteratur verwendet. Vgl. etwa Theodor von Heuglin: Reise in das Gebiet des Weissen Nil und seiner westlichen Zuflüsse in den Jahren 1862–1864. Heidelberg/Leipzig 1869, S. 151. 17 Celan 1999, S. 11. 18 Ebd., S. 9.

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Anderssein mit.«19 Das Gedicht als Dialog ist demnach eine Suche nach der »Gestalt des Anderen«, nach eine Form der Prosopopöie als Verleihung eines Gesichts oder einer Stimme an die Abwesenden. Sehr prekär ist in Celans Ausführung die Figur des dialogischen Du aufgefasst: sein Erscheinen ist nicht eine Voraussetzung des Gesprächs, sondern dessen Ergebnis. In dieser Inversion vollzieht sich die dialogische Atemwende zu dem Anderen, das nirgends sonst existiert als in dem Gedicht selbst, kraft seiner prosopopöischen Performativität. Es ist allerdings weit entfernt von der Vorstellung eines ins Leere führenden rhetorischen Spiels. Das Andere bringt doch sein Anderssein mit ins Gedicht, auch das dem Anderen Eigenste: »dessen Zeit«.20 Das Andere erscheint in seiner Gestalt und macht die Gestalt des Gedichts mit aus. Das Andere mit seiner Zeit »im Hier und Jetzt des Gedichts«, welches »immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart« hat,21 wird so – dank den »Möglichkeiten eingedenk bleibende[r] Individuationen« zu einer »gestaltgewordenen Sprache eines Einzelnen«.22 Das Gedicht also ist auch dadurch gekennzeichnet, das es den Abwesenden, den Toten, die ihnen eigenen Stimmen verleiht, um »auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache«.23

Der Segenspruch Im Gedicht Benedicta sprechen von Anfang an die ganz Anderen. Das ganz Andere ist der jiddische Text des Mottos gegenüber dem lateinischen Titel des Gedichts. Die ganz Anderen sind die toten Juden aus dem Ghetto in Wilna, wo die angeführten Verse entstanden.24 Es handelt sich um ein religiöses Lied aus der Gattung der Selichot, jüdischer Bußgesänge, die an den Assereth Jemej Teschuwa gesungen werden, den zehn Tagen der Umkehr vor Jom Kippur, dem höchsten Festtag des jüdischen Kalenders, dem Tag des Gerichts Gottes, an dem er die Namen der Juden in sein Sefer Ha-Chaim, das Buch des Lebens einschreibt, oder aber in das Buch des Todes, was nicht etwa als ewige Verdammung, sondern Urteil über den baldigen Tod innerhalb des Jahres vor dem nächsten Jom KippurFest zu verstehen ist. In den Selichot drückt man Hoffnung auf die milde

19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebenda, S. 8. Vgl. John Felstiner : Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2010, S. 233.

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Barmherzigkeit Gottes, wie auch Furcht vor seiner Vergeltung in Anlehnung an die Middot Ha-Rachamim, die 13 Attribute der göttlichen Barmherzigkeit: HERR, HERR, GOTT, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue! der da bewahrt Gnade in tausend Glieder und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, und vor welchem niemand unschuldig ist; der die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied. (Ex 34, 6–7)

Die von Celan angeführte Selicha aus dem Wilnaer Ghetto reflektiert nicht über Gottes Milde, sondern klingt wie die naive Frage eines Kindes: Tsu ken men aroyfgeyn in himl arayn Un fregn bay got, tzu s’darf azoy zayn?

auf welche die erbarmungslose Antwort folgt: Es darf azoy zayn, Es muz azoy zayn, S’ken oyf der velt dokh gor andersh nit zayn!25

In Celans Gedicht bricht sie nach der ersten Zeile ab. Im Wilnaer Ghetto »kann es nicht anders sein«: Diejenigen, die den einzigen Jom Kippur in der Zeit, in der das Ghetto bestand, am 21. September 1942 überlebt haben, waren vor dem nächsten Fest am 9. Oktober 43 bereits tot, da das Ghetto kurz davor, am 23. September gänzlich geräumt wurde. Celans Gedicht inszeniert ihren Tod in einer Prosopopöie der Stimme, die »nicht weitersang nach: ’s mus asoj sajn«. Das Gedicht spricht jedoch weiter. Genauer gesagt: Es wird weiter gesprochen in ihm. Außer dem sehr mehrdeutigen Ich mit seinen erloschenen Fingern, welches sich selbst an der Schwelle von Leben und Tod platziert und diese auch – die Augen schließend – passiert, sowie der fernen Stimme aus dem Ghetto, gibt es in dem Text noch eine weitere sprechende Stimme: die des weiblichen Du, »die du’s hörtest«, »die du’s sprachst in den augen- / losen, den Auen; / dasselbe, das andere / Wort: / Gebenedeiet«. In dieser weiblichen Figur überlagern sich Bilder der augenlosen Schechina, die sich im Exil die Augen ausgeweint hat,26 der »hÞren frowe«, die zu der Aue gegangen kam (»abermals kommst du gegangen!«,27 um einen Vers aus Celans Gedicht Und mit dem Buch aus Tarussa anzuführen) und der im Titel genannten Benedicta, Unserer Lieben Frau der Verkündingsszene und der Piet/ – mit der Stimme von Celans Mutter, der ihr Sohn als junger Dichter »dasselbe, das andere Wort: Gebenedeiet« in den Mund legte, als es dazu gekommen war, aus den 25 Yehudah Leib Cahan: Yidishe Volkslieder mit Melodyen, ed. by Maks Weinreich. New York 1957, Nr. 498. Zit. nach: Lehmann 2003, S. 207. 26 Vgl. Jürgen Lehmann: Kommentar… (Anm. 26), S. 206. Zu der Gestalt der Schechina mit ausgeweinten Augen siehe Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 2013, S. 251. 27 Celan 2005, S. 165.

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schwarzen Schneeflocken »aus ukrainischen Halden« die Botschaft abzulesen über ihren Tod: Denk, daß es wintert auch hier, zum tausendstenmal nun im Land, wo der breiteste Strom fließt: Jaakobs himmlisches Blut, benedeiet von Äxten…28

So »versammelt […] sich [das Du] um das ansprechende und nennende Ich« und so bringt es/sie auch ihre Zeit mit ins Gedicht. So wird das Gedicht zu einer »gestaltgewordenen Sprache des Einzelnen«. So wird das Gedicht – »unter welchen Bedingungen!« – ein Gespräch. Ein verzweifeltes Gespräch – da es zu keiner direkten Aussprache von Ich und Du kommen kann. Aber doch ein Dialog, welcher die Kontinuität der Kommunikation über den Tod und die Zeit hinweg aufrechterhält. Eine Kommunikation zwischen dem participium perfecti passivi des Titels und dem indicativus praesenti activi, in welchen das Gedicht in seinem letzten Vers mündet. Es ist dasselbe und doch das andere Wort des Segens, bei dem in seinem jiddischen Klang, sowohl das Latein des »benedicere«, als auch das Deutsch des »benedeien« mitschweben. Das jidische »bentschn«, eines der wenigen romanischen Relikte in dieser Sprache, verweist zugleich aber auch auf seine Entsprechung im Hebräischen, wo das Wort »segnen«, barach, wörtlich »mehr Leben« bedeutet.29 Es ist Jom Kippur. Der einzige Tag, an welchem vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels der Hohepriester in das Allerheiligste eintrat und während des birkat kochanim, des Aaronitischen Priestersegens, den unaussprechlichen Namen Gottes flüsterte. Das führt zu dem am 20. September 1961, dem Tag des Jom Kippur vollendeten Gedicht Einem, der vor der Tür stand aus dem gleichen zweiten Zyklus der Niemandsrose, wo der Priestersegen mit dem »halb- / schürigen, dem / im kotigen Stiefel des Kriegsknechtes / geborenen Bruder« in Verbindung gebracht wurde: Diesem spreize die zwei Krüppelfinger zum heilbringenden Spruch.30

28 Celan 2005, S. 19. 29 Vgl. The Book of J, translated from the Hebrew by David Rosenberg; interpreted by Harold Bloom. New York 1990, S. 211, Harold Bloom: »Freud and Beyond«, in: ders.: Ruin the Sacred Truths. Poetry and Belief from the Bible to the Present. Cambridge 1987, S. 143–204, hier S. 160. Siehe auch: Agata Bielik-Robson: »Na pustyni«. Kryptoteologie pjz´niej nowoczesnos´ci, Krakjw 2008, S. 328–338, 342, Adam Lipszyc: Mie˛dzyludzie. Koncepcja podmiotowos´ci w pismach Harolda Blooma, Krakjw 2005, S. 122–123. 30 GKG, s. 141. Zum Entstehungsdatum siehe Felstiner, S. 239.

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Bei seiner Deutung dieses Gedichtes konzentriert sich Jacques Derrida nicht auf den Segenscharakter des Spruches, schreibt dafür von dem »heilbrigenden Wort« als einem Gedicht. Er bringt das sehr plausibel in Verbindung mit der im Gedicht postulierten »Beschneidung des Wortes« als einer Initiation der aus Lehm golemisch gekneteten Sprache des Gedichts.31 Spruch ist auch ein Gedicht und zwar so alt, wie der Minnesang. Walthers Reichsspruch ist nicht minder bekannt als seine Minnelieder. Würde man diesem Gedanken folgen, wären Walthers Spuren bei Celan ein Belebungsversuch der golemischen Sprache durch Konjugation, in der Einzeller zum Zwecke einer »verjüngenden« Rekombination der Gene in eine parasexuelle Situation geraten, indem sie sich über eine Plasmabrücke verbinden. Eine Urform der Zweihäusigkeit. Die Revitalisierung der zerstörten Sprache durch Konjugation mit seiner jugendlichen Frische. Kein zu weit gehender Vergleich, wenn man bedenkt, dass eines aus den wichtigsten Gedichten des Bandes Fadennsonnen von einem Pantoffeltierchen handelt in Anlehnung an die von Freud in Jenseits von Lustprinzip zitierte These von der Unsterblichkeit der Protisten.32

Bibliografie Bielik-Robson, Agata: »Na pustyni«. Kryptoteologie pjz´niej nowoczesnos´ci, Krakjw 2008. Bloom, Harold: »Freud and Beyond«, in: ders.: Ruin the Sacred Truths. Poetry and Belief from the Bible to the Present. Cambridge 1987, S. 143–204. Cahan, Yehudah Leib: Yidishe Volkslieder mit Melodyen, ed. by Maks Weinreich. New York 1957. Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung – Vorstufen – Materialien, hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull. Frankfurt am Main 1999. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005. Derrida, Jacques: Schibboleth. Pour Paul Celan. Paris 1986. Deutsche Lyrik der frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Ingrid Kasten. Frankfurt am Main 2014. Felstiner, John: Paul Celan. Eine Biographie, übers. v. Holger Fliessbach. München 2010. Green, Arthur : »Shekhinah, the Virgin Mary, and the Song of Songs: Reflections on a Kabbalistic Symbol in Its Historical Context«, AJS Review, vol. 26, No. 1 (Apr. 2002), S. 1–52. Heuglin, Theodor von: Reise in das Gebiet des Weissen Nil und seiner westlichen Zuflüsse in den Jahren 1862–1864. Heidelberg/Leipzig 1869. Lehmann, Jürgen (Hg.), Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg 2003.

31 Jacques Derrida: Schibboleth. Pour Paul Celan. Paris 1986, S. 104–109. 32 Vgl. das Gedicht Wirf das Sonnenjahr, in: Celan 2005, S. 254.

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Lipszyc, Adam: Mie˛dzyludzie. Koncepcja podmiotowos´ci w pismach Harolda Blooma, Krakjw 2005. Maciejko, Paweł: The Mixed Multitude: Jacob Frank and the Frankist Movement, 1755–1816. University of Pennsylvania Press 2011. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Leipzig 1854–1866, verfügbar unter : http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=BMZ& mode=Vernetzung& lemid=BO00267#XBO00267 [27. 11. 2017]. Piszczatowski, Paweł: »Tam, gdzie zamarzaja˛ uczucia, czyli trauma narodzin i przymus z˙ycia. Ambiwalencje rytuałjw odrodzenia w trzech wierszach Celana z tomu Przymus ´swiatła«, w: Teksty Drugie 5 (2014), S. 213–229. Piszczatowski, Paweł: »Theologische Brocken in Gedichten von Paul Celan aus dem Band Die Niemandsrose«, in: Tim Lörke, Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Göttingen 2015, S. 335–352. Scholem, Gershom: »Schechina; das passiv-weibliche Moment in der Gottheit«, in: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt am Main 1977, S. 135–191. Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 2013. Sohar. Schriften aus dem Buch des Glanzes, übers. und hg. v. Gerold Necker. Frankfurt am Main 2012. The Book of J, translated from the Hebrew by David Rosenberg; interpreted by Harold Bloom. New York 1990.