Das Tor zur Weltmacht : Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen 3764618507

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Das Tor zur Weltmacht : Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen
 3764618507

Table of contents :
Vorwort XI
Einleitung 1
Thematische Zielsetzung 1
Methodische Bemerkungen 5
Forschungsstand 6
I. Die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik gegenüber Sowjetrußland
und der Weimarer Revisionismus 13
A. Die Bemühungen um eine ökonomische Einflußnahme in Sowjetrußland
1919-1925 13
1. Spekulationen über Zukunft und Bedeutung der deutschrussischen
Beziehungen 13
2. Ansätze zu einem ökonomischen Revisionismus 27
3. Das Konzept wirtschaftlicher Einflußnahme in Sowjetrußland
43
a) Die politische Ausgangslage 43
b) Die Konzessionsangebote Lenins 45
4. Die Herausbildung politisch-ökonomischer Einflußsphären 50
a) Das wirtschaftspolitische Kalkül 50
b) Sozialstrukturelle Ansatzpunkte 54
c) Stützung privatwirtschaftlicher Elemente 57
d) Ökonomische Schlüsselstellungen 59
e) Langfristige wirtschaftspolitische Zielsetzungen . . . . 61
5. Die Abwehr wirtschaftlicher Interventionspläne der Entente-
Mächte 66
a] Das deutsche Kalkül am Vorabend der Genua-Konferenz
66
b) Der Rapallo-Vertrag 71
6. Das Scheitern der ökonomischen Allianz 77
a) Der Entwurf eines formellen Rahmens 77
b) Der Handelsvertrag mit Sowjetrußland 82
c) Der Rückschlag in der Konzessionspolitik 93
VII
B. Deckname „Kupferberg Gold" 96
1. Die Aktivierung der Ost-Option im Sommer 1922 . . . . 98
2. Die Entsendung Brockdorff-Rantzaus 103
3. Die „Mission Heller/Morsbach" 110
4. Der „große Befreiungskrieg" wird aufgeschoben 132
C. Kontinuität und Wandel der Ost-Option während der Locarno-
Ära 1925-1932 149
1. Die Neuordnung der deutschen Rußlandinteressen im Zeichen
des Berliner Vertrages 149
a) Die politisch-diplomatischen Grundlagen 149
b) Die Bedeutung des Rußland-Handels 152
c) Die Konzessionsfrage 166
d) Die militärpolitischen und rüstungswirtschaftlichen Interessen
170
e) Die Abwehr paneuropäischer Ideen 174
2. Weltwirtschaft und Ostpolitik 180
a) Die deutsche Neutralität im britisch-sowjetischen Konflikt
1927 180
b) Modifikationen im wirtschaftspolitischen Kalkül . . . 187
c) Die Fortsetzung der Rüstungskooperation 1927—1931 . . 209
3. Das Ende der Rapallo-Politik 222
a) Die Weltwirtschaftskrise 222
b) Die Wiederbelebung ostimperialer Wirtschafts- und
Herrschaftskonzepte 235
c) Letzte Irritationen der Rapallo-Politik 239
IL Die Rolle der Sowjetunion als ökonomischer Ergänzungsraum der
deutschen Wehrwirtschaft 1933-1939 245
A. Ostpolitik unter dem Primat der Ideologie 245
1. Hitlers Lebensraum-Programm 245
2. Die Kursänderung der deutschen Rußland-Politik . . . . 253
3. Variationen nationalsozialistischer Ostpolitik 262
4. Der Handelsaustausch als Kontinuitätsfaktor 268
B. Aufrüstung und Ostpolitik 275
1. Die Bedeutung der UdSSR während des „Neuen Plans" . 275
2. Die Sowjetunion als möglicher Versorgungsraum . . . . 278
C. Vierjahresplan und Rußland-Handel 289
1. Der Notbehelf einer verstärkten Autarkisierung 289
2. Der weitere Abbau des Rußland-Handels 299
D. Der wirtschaftliche „Lebensraum im Osten" 305
1. Die ersten Sdiritte nach Mittel- und Osteuropa 305
2. Die Suche nach einem Rückhalt im Osten 309
3. Die Wiederbelebung des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbündnisses
322
III. Zusammenfassung und Ausblick 341
Abkürzungen 349
Quellen- und Literatur 353
Register 399

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WEHRWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGEN Abteilung Militärgeschichtliche Studien herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt

ROLF-DIETER MÜLLER

Das Tor zur Weltmacht Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen

HARALD BOLDT VERLAG

BOPPARD A M RHEIN

WEHRWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGEN Abteilung Militärgeschichtliche Studien Die Reihe eröffnet einen Zugang zur militärgeschichtlichen Forschung der Gegenwart. Das zeitlich und räumlich, methodisch und thematisch weitgespannte Programm legt Hochschulergebnisse vor, die für die heutige wissenschaftliche Arbeit beispielhaft und maßgebend sind. Sie informieren über aktuelle Forschungsrichtungen und -methoden ebenso wie über militärgeschichtliche Archivbestände des In- und Auslandes. Jeder Band enthält eine Einführung in die jeweilige Thematik und ihren Forschungsstand sowie einen umfangreichen Apparat mit Bibliographie und Register. Wie der Krieg nicht mehr als legitimes Mittel der Politik gelten kann, ist auch die Militärgeschichte nicht mehr die ausschließliche Domäne von Fachmilitärs. Clausewitz hat den Krieg dem Bereich des gesellschaftlichen und politischen Lebens zugeordnet. In der Tat ist das Militärwesen auch im Gefüge der modernen Industriegesellschaft ein nicht zu übersehender Faktor. Zwischen der politischen, wirtschaftlichen, verfassungsrechtlichen und sozialen Struktur der Gesellschaft einerseits und ihren militärischen Elementen andererseits besteht ein enger Zusammenhang, etwa zwischen

HARALD BOLDT VERLAG BOPPARD/RHEIN

Z

68.313-32 Das Tor zur Weltmacht Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen

WEHRWISSENSCHAFTLICHE

FORSCHUNGEN

Abteilung MILITÄRGESCHICHTLICHE

STUDIEN

Herausgegeben vom MILITÄRGESCHICHTLICHEN

FORSCHUNGSAMT

durch. Othmar Hackl und Manfred Messerschmidt in Verbindung mit Rainer Wohlfeil, Werner Gembruch und Andreas Hillgruber

Bayerische Staatsbibliothek München

32 ROLF-DIETER

MÜLLER

Das Tor zur Weltmacht Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen

MILITÄRGESCHICHTLICHE STUDIEN herausgegeben vom MILITÄRGESCHICHTLICHEN

FORSCHUNGSAMT

32

ROLF-DIETER MÜLLER

Das Tor zur Weltmacht Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen

HARALD BOLDT VERLAG

B O P P A R D A M RHEIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Müller, Rolf-Dieter: Das Tor zur Weltmacht: d. Bedeutung d. Sowjetunion für d. dt. Wirtschafts- u. Rüstungspolitik zwischen d. Weltkriegen / Rolf-Dieter Müller. - Boppard am Rhein: Boldt, 1984. (Wehrwissenschaftliche Forschungen: Abteilung militärgeschichtliche Studien; 32) ISBN 3-7646-1850-7 NE: Wehrwissenschaftliche F o r s c h u n g e n / A b t e i l u n g militärgeschichtliche Studien

ISBN: 3 7646 1850 7 © Harald Boldt Verlag Boppard am Rhein 1984 Alle Rechte v o r b e h a l t e n Printed in Germany Herstellung: boldt druck b o p p a r d gmbh

Für Ursula

INHALT

Vorwort Einleitung Thematische Zielsetzung Methodische Bemerkungen Forschungsstand I. Die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik gegenüber Sowjetrußland und der Weimarer Revisionismus A. Die Bemühungen um eine ökonomische Einflußnahme in Sowjetrußland 1919-1925 1. Spekulationen über Zukunft und Bedeutung der deutschrussischen Beziehungen 2. Ansätze zu einem ökonomischen Revisionismus 3. Das Konzept wirtschaftlicher Einflußnahme in Sowjetrußland a) Die politische Ausgangslage b) Die Konzessionsangebote Lenins 4. Die Herausbildung politisch-ökonomischer Einflußsphären a) Das wirtschaftspolitische Kalkül b) Sozialstrukturelle Ansatzpunkte c) Stützung privatwirtschaftlicher Elemente d) Ökonomische Schlüsselstellungen e) Langfristige wirtschaftspolitische Zielsetzungen . . . . 5. Die Abwehr wirtschaftlicher Interventionspläne der Entente-Mächte a] Das deutsche Kalkül am Vorabend der Genua-Konferenz b) Der Rapallo-Vertrag 6. Das Scheitern der ökonomischen Allianz a) Der Entwurf eines formellen Rahmens b) Der Handelsvertrag mit Sowjetrußland c) Der Rückschlag in der Konzessionspolitik

XI 1 1 5 6

13 13 13 27 43 43 45 50 50 54 57 59 61 66 66 71 77 77 82 93 VII

B. Deckname „Kupferberg Gold" 1. 2. 3. 4.

Die Die Die Der

Aktivierung der Ost-Option im Sommer 1922 Entsendung Brockdorff-Rantzaus „Mission Heller/Morsbach" „große Befreiungskrieg" wird aufgeschoben

96 . . . .

C. Kontinuität und Wandel der Ost-Option während der Locarno-Ära 1925-1932 1. Die Neuordnung der deutschen Rußlandinteressen im Zeichen des Berliner Vertrages a) Die politisch-diplomatischen Grundlagen b) Die Bedeutung des Rußland-Handels c) Die Konzessionsfrage d) Die militärpolitischen und rüstungswirtschaftlichen Interessen e) Die Abwehr paneuropäischer Ideen 2. Weltwirtschaft und Ostpolitik a) Die deutsche Neutralität im britisch-sowjetischen Konflikt 1927 b) Modifikationen im wirtschaftspolitischen Kalkül . . . c) Die Fortsetzung der Rüstungskooperation 1927—1931 . . 3. Das Ende der Rapallo-Politik a) Die Weltwirtschaftskrise b) Die Wiederbelebung ostimperialer Wirtschafts- und Herrschaftskonzepte c) Letzte Irritationen der Rapallo-Politik

IL Die Rolle der Sowjetunion als ökonomischer Ergänzungsraum der deutschen Wehrwirtschaft 1933-1939 A. Ostpolitik unter dem Primat der Ideologie 1. 2. 3. 4.

Hitlers Lebensraum-Programm Die Kursänderung der deutschen Rußland-Politik Variationen nationalsozialistischer Ostpolitik Der Handelsaustausch als Kontinuitätsfaktor

. . . .

1. Die Bedeutung der UdSSR während des „Neuen Plans" . 2. Die Sowjetunion als möglicher Versorgungsraum . . . .

1. Der Notbehelf einer verstärkten Autarkisierung 2. Der weitere Abbau des Rußland-Handels

149 149 149 152 166 170 174 180 180 187 209 222 222 235 239

245 245

B. Aufrüstung und Ostpolitik

C. Vierjahresplan und Rußland-Handel

98 103 110 132

245 253 262 268 275 275 278 289 289 299

D. Der wirtschaftliche „Lebensraum im Osten" 1. Die ersten Sdiritte nach Mittel- und Osteuropa 2. Die Suche nach einem Rückhalt im Osten 3. Die Wiederbelebung des deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbündnisses

305 305 309 322

III. Zusammenfassung und Ausblick

341

Abkürzungen

349

Quellen- und Literatur

353

Register

399

IX

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 16 der Johannes-GutenbergUniversität zu Mainz 1980 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Philosophie angenommen und mit einem Preis ausgezeichnet. Angeregt und betreut hat sie Professor Dr. Hans-Erich Volkmann. Mein Dank gilt außerdem der Technischen Universität Braunschweig für die Gewährung eines Graduierten-Stipendiums und insbesondere meinem früheren Lehrer Professor Dr. Werner Pols. Unter den zahlreichen Kollegen und Freunden, die meine Arbeit mit Wohlwollen, Anregungen und Kritik begleitet haben, möchte ich Herrn Fregattenkapitän Dr. Gerhard Schreiber besonders hervorheben. Rolf-Dieter Müller

XI

EINLEITUNG

Thematische Zielsetzung Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit zwischen der — vom wilhelminischen Deutschland geförderten — Oktoberrevolution des Jahres 1917 und der Eroberung Berlins durch die Rote Armee im Jahre 1945 sind wohl eines der facettenreichsten Kapitel der Zeitgeschichte. Höhepunkte der politischen Entwicklung bildeten einerseits die Epochen der Zusammenarbeit in der Rapallo-Ära und in den Jahren des Hitler-Stalin-Paktes sowie andererseits der erbarmungslose Zusammenprall beider Völker, der durch Hitlers Überfall auf die UdSSR ausgelöst wurde und mit der Zerschlagung des preußisch-deutschen Nationalstaates sowie der Eingliederung Mittel- und Ostdeutschlands in den kommunistischen Machtbereich endete. Das universalhistorische und politisch nach wie vor aktuelle Ergebnis war die Aufteilung der Welt in zwei einander feindselig gegenüberstehende Lager unter der Vorherrschaft der beiden Weltmächte USA u n d UdSSR 1 . Mit derartigen Akzentsetzungen ist die Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen in zahlreichen Untersuchungen aus den verschiedendsten Perspektiven analysiert worden. Im Mittelpunkt stand dabei meistens der Versuch, im Rahmen einer interpretierenden Darstellung von Teilaspekten zum Verständnis des gesamthistorischen Prozesses beizutragen. Umfassendere Themenstellungen begrenzten sich meist auf die Deutung des Denkens und Handelns der wichtigsten Kontrahenten, Hitler und Stalin, sowie auf diplomatiegeschichtliche Abhandlungen. Der Komplex der Wirtschafts- und Rüstungspolitik ist dabei weitgehend vernachlässigt und allenfalls punktuell behandelt worden. Wenn hier versucht werden soll, die gesamte Spannbreite der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen den Weltkriegen aus dieser spezifischen Perspektive zu beleuchten, so liegt dem die Absicht zugrunde, nicht nur eine wesentliche Lücke zu schließen, sondern auch einen neuen Zugang zum Verständnis der deutschen Ostpolitik in dieser Zeit zu

1

Zum historischen Hintergrund siehe u. a. Laqueur, Deutschland, und die Überblicke von Kluke, Deutschland und Rußland; Mißtrauische Nachbarn; Kuhn, Das nationalsozialistische Deutschland; Rauch, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen; Krummacher/Lange, Krieg; Haffner, Teufelspakt; Conze, Das deutschrussische Verhältnis; Rauch, Zur Geschichte, sowie Meissner, Die deutschsowjetischen Beziehungen. 1

finden. Dabei soll insbesondere die Frage von Kontinuität und Diskontinuität im Groß- und Weltmachtstreben deutscher Führungseliten am Beispiel des wirtschafts- und rüstungspolitischen Kalküls gegenüber Rußland beantwortet werden. Schon in der Diskussion über die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg nahm Rußland eine zentrale Stellung ein 2 . Die Beherrschung und Ausbeutung des russischen Raumes betrachtete man als Voraussetzung einer blokkadefesten Kontinentalherrschaft. Da es darüber hinaus eine weithin gesicherte Erkenntnis ist, „daß die bis 1918 erwogenen, mit wechselndem Erfolg propagierten und erprobten Variationen des deutschen Weges zur Position einer kontinentalen Großmacht auch unter den gänzlich veränderten politischen Verhältnissen der Weimarer Republik das Denken und Handeln der politischen Parteien" bestimmten 3 , drängt sich fast zwangsläufig die Frage nach dem Schicksal der ostimperialen Zielsetzungen in der Weimarer Republik und im Dritten Reich auf. Das Überdauern der alten Machtstrukturen in Staat und Gesellschaft läßt vermuten, daß die von dem „Bündnis der Eliten" auch weiterhin maßgeblich beeinflußte Außen- und Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches — nun im Dienste eines weitgreifenden Revisionsanspruches 4 — Kontinuitätselemente auch und gerade gegenüber Rußland aufzuweisen hatte. Dabei ist daran zu denken, daß der Außenwirtschaftspolitik in der Zwischenkriegszeit eine erhöhte Bedeutung zufiel, weil sie den Ausfall des militärischen Instruments bei der Durchsetzung außenpolitischer und ökonomischer Interessen kompensieren sollte. So kann gefragt werden, ob die Außenwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches gegenüber der Sowjetunion, die bisher von der historischen Forschung zumeist als bloßes handelsgeschichtliches Phänomen begriffen worden ist 5 , nicht vielmehr in den Traditionsbahnen eines östlich orientierten Wirtschaftsimperialismus gesehen werden muß, der sich mit rüstungspolitischen und kriegswirtschaftlichen Erwägungen verband. Bei dem Bestreben politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führungseliten, mit Hilfe der Außenwirtschaft das Machtpotential und die internationale Stellung Deutschlands zu erhöhen, um auf diese Weise die neugeschaffenen europäischen Machtverhältnisse zu revidieren, mußten die in den ersten Nachkriegs jähren als chaotisch und unsicher geltende staatliche und gesellschaftliche Ordnung in Rußland einerseits und die als unerschöpflich

2

Fischer, F., Griff nach der Weltmacht, S. 477 ff., und Borowsky, Deutsche Ukrainepolitik. s Deist, Weg, S. 5. 4 Dazu grundlegend Fischer, F., Bündnis, und Salewski, Weimarer Revisionssyndrom. 5 Siehe z. B. Pogge von Strandmann, Großindustrie, und Helmer, Handelsverkehr. 2

angesehenen wirtschaftlichen Möglichkeiten im russischen Raum andererseits ebenso eine „Versuchung" darstellen wie die militärischen Bündnisangebote der Bolschewisten und das Interesse der Roten Armee an der Zusammenarbeit mit der Reichswehr. So gesehen befriedigt es nicht, w e n n die Verträge von Rapallo (1922) und Berlin (1926) hauptsächlich aus diplomatiegeschichtlicher Perspektive und unter der Prämisse deutsch-sowjetischer Ausgleichspolitik 6 , nicht aber als mögliche signifikante Höhepunkte einer revisionistischen deutschen Ost-Option abgehandelt werden. Ebenso unzureichend scheint es zu sein, die Ostpolitik des Dritten Reiches vorwiegend oder gar ausschließlich im Hinblick auf Hitlers ideologisch-machtpolitisches Kalkül zu beurteilen 7 . Freilich ist es auch nicht das Hauptanliegen dieser Arbeit, die an sich wünschenswerte Gesamtdarstellung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen oder gar eine umfassende Abhandlung der deutschen RußlandPolitik in der Zwischenkriegszeit zu versuchen. Ausgehend von dem schon erwähnten Problem der Kontinuität eines deutschen Groß- und Weltmachtstrebens, das über die Niederlage von 1918 hinaus bis zur Katastrophe des Jahres 1945 andauerte 8 , sollen vielmehr Konstanten in den Motiven und Zielsetzungen deutscher Ostpolitik herausgearbeitet werden, in denen sich machtpolitische Ambitionen und ökonomische Interessen zu einem wirtschaftsimperialistischen Konzept verbanden, das sich, ungeachtet aller Modifikationen und Brüche von Brest-Litovsk bis zum Unternehmen „Barbarossa", auf die Gestaltung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses von 1918 bis 1939 auswirkte. Die damit vorgenommene thematische Einengung auf die Darstellung der Entwicklung aus deutscher Sicht rechtfertigt sich zum einen aus der speziellen Fragestellung, und zum anderen war sie, solange westlichen Historikern der Zugang zu sowjetischen Archiven versperrt ist, nicht zu vermeiden. Mit dieser Einschränkung soll durch die Auslotung der machtpolitischen Implikationen wirtschaftspolitischer Zielsetzungen gegenüber der Sowjetunion insgesamt ein Beitrag zur historischen Bewertung deutscher Ostpolitik von Brest-Litovsk bis zum Hitler-Stalin-Pakt geleistet werden. Im Zusammenhang mit der Kontinuitätsproblematik geht es außerdem um die Abklärung eines wichtigen Teilbereichs, in dem sich über wirtschaftsspezifische Aspekte hinaus Charakteristika für das Handeln und Denken der nationalkonservativen Führungseliten im Deutschen Reich gewinnen lassen. Die Be-

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Siehe etwa Heibig, Träger; Schieder, Probleme; Kochan, Rußland, sowie den Überblick von Alter, Rapallo; Hildebrand, Das Deutsche Reich. So z. B. bei Hildebrand, Deutsche Außenpolitik, und Hillgruber, Hitlers Strategie. Zur Problemstellung siehe weiter bei Schreiber, Zur Kontinuität; Messerschmidt, Außenpolitik, S. 546 ff.; Hillgruber, Kontinuität, und ders., Großmachtpolitik. 3

rücksichtigung der Frage nach Ursachen u n d Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges wird schließlich die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in die kontroverse Forschungsdiskussion einbringen, die sich über den Stellenwert und die Interdependenz der politischen, ideologischen, militärischen und nicht zuletzt auch sozioökonomischen Faktoren entwickelt hat 9 . Eine Beschränkung der Darstellung auf die Zwischenkriegszeit ergab sich aus den inhaltlichen Zielsetzungen der Arbeit. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiegne am 11. November 1918 wurde die kriegerisch-expansive Phase des deutschen „Drangs nach Osten" unterbrochen. Gleichzeitig begann allerdings die Suche nach neuen Anknüpfungspunkten, Methoden und Zwischenzielen in der Ostpolitik, zu der auch der Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes — sozusagen als ihr Höhepunkt — zählt. Damit war die Basis geschaffen für eine erneute kriegerische Expansionspolitik, mit der in einem ersten Schritt die deutsche Vorherrschaft in Europa angestrebt wurde, dem die Realisierung lang gehegter ostimperialer Zielsetzungen folgen sollte. Die Analyse der unmittelbaren Vorbereitungen für den Lebensraumkrieg im Osten und seiner Durchführung auf wirtschaftspolitischem Gebiet bedarf einer eigenen Darstellung. Sie ist bereits an anderer Stelle geleistet worden 1 0 . Überraschend erwies sich die Quellenlage auch ohne Zutritt zu sowjetischen Archiven insgesamt als ergiebig. Durch die Sichtung der Bestände im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn, im Bundesarchiv Koblenz, im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg sowie — im begrenzteren Maße — in den Staatsarchiven Nürnberg und Wolfenbüttel sowie im Konzernarchiv der Salzgitter A. G. konnten Dokumente erschlossen werden, die von der deutschen Geschichtsschreibung bisher entweder überhaupt nicht oder nur fragmentarisch und unter anderen Fragestellungen ausgewertet worden sind. Befragungen von Zeitgenossen erwiesen sich in Anbetracht des Zeitabstandes als wenig fruchtbar. Ein Gewinn war hingegen die umfassende Auswertung der zeitgenössischen Publizistik, vor allem der Wirtschaftspresse und nationalökonomischer Forschungen. Hinzuweisen ist darüber hinaus auf die zahlreichen und meist guten Quelleneditionen, die insbesondere für die Zeit der Weimarer Republik in den letzten Jahren erschienen sind u n d eigene frühere Archivfunde bestätigen.

9

Dazu Kriegsbeginn 1939; Nationalsozialistische Außenpolitik; Hillgruber, Forschungsstand, und die Zusammenfassung in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 1. i° Siehe Müller, R., Von der Wirtschaftsallianz, und ders., Scheitern. 4

Methodische Bemerkungen Folgt man der üblichen Einteilung der Wirtschaftspolitik nach Zielen, Mitteln und Trägern 11 , so öffnet sich ein breites interdisziplinäres Untersuchungsfeld. Bei der Aufarbeitung der Wirtschaftsgeschichte ergibt sich hier für den Historiker ein wichtiges Aufgabenfeld, da der historisch tätige Wirtschaftswissenschaftler in der Regel dazu neigt, das wirtschaftspolitische Geschehen überwiegend aus ökonomischer Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit zu bewerten, wodurch dann das Problem immaterieller Zielsetzungen in der Wirtschaftspolitik als unerheblich erscheint 12 . Demgegenüber sucht der Historiker hinter dem wirtschaftlichen Geschehen die politisch gewollte Aktion von Gruppen und Einzelpersonen 13 . Die Frage nach letzten Zielen staatlicher und privater Einwirkung auf die Gestaltung der außenwirtschaftlichen Beziehungen sowie die Untersuchung ihrer Interdependenz mit den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen können zu historischen Erklärungsmodellen führen, deren Anwendungsmöglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft zu sein scheinen. Es entspricht diesem Eindruck, daß die Wirtschaftspolitik in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion unter diesen Aspekten zunehmend Beachtung findet. Die bislang vorherrschende handelsgeschichtliche und wirtschaftswissenschaftliche Betrachtungsweise wurde zu einem umfassenderen Forschungsansatz erweitert, der die Außenwirtschaft als Instrument der Außenpolitik begreift und in den Kontext innenpolitischer Entscheidungsstrukturen sowie ökonomischer Interessen stellt 14 . In der vorliegenden Arbeit rückt dementsprechend die Analyse des wirtschaftspolitischen Meinungsbildungsund Zielsetzungsprozesses in den Vordergrund, d. h., es soll versucht werden, Erwartungen, Überlegungen und Entscheidungen der wichtigsten Träger der Außenwirtschaftspolitik Deutschlands gegenüber der UdSSR und die Interdependenz mit der Militär- sowie Rüstungspolitik sichtbar zu machen. Dabei gilt es, über die reinen Spekulationen, Absichten und Pläne hinaus auch die praktische Gestaltung der deutsch-sowjetischen Wirtschafts- und Rüstungsbeziehungen vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Geschichte des Deutschen Reiches mit einzubeziehen. Fragt man mit einem derartigen Verständnis nach dem Eigengewicht wirtschaftlicher Ziele, Interessen und Aktivitäten sowie ihrem Einfluß auf die

" Siehe hierzu neuerdings Einführung in die Wirtschaftspolitik; zur Themenstellung grundlegend auch Glastetter, Außenwirtschaftspolitik; Külp, Außenwirtschaftspolitik, sowie Bordiert, Außenwirtschaftslehre. 12 Einführung in die Wirtschaftspolitik, S. 24. Zur Positionsbestimmung s. auch Kruedener, Die moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Volkmann, Wirtschaft, S. 4. 14 Als Beispiele siehe insgesamt Schröder, Politische Bedeutung, und Volkmann, Ökonomie. 5

politischen Entscheidungsprozesse, so ist — wie D. Lorenz gezeigt hat — davon auszugehen, daß es ein permanentes Dominanzverhältnis weder in der einen noch in der anderen Richtung gibt 15 . Die Frage, ob der Handel der Flagge folgt oder eher ein umgekehrtes Verhältnis gegeben ist, bzw. die Frage nach dem Primat der Politik oder der Ökonomie, läßt sich also nicht generell beantworten. Es wurde schon hervorgehoben, daß das Desiderat der Forschung, eine ausgewogene Gesamtdarstellung aller Elemente, im Rahmen dieser Arbeit nicht zu erfüllen ist. Mit der Herausstellung bestimmter Denk- und Handlungsmuster in der Außenwirtschafts- und Rüstungspolitik gegenüber der UdSSR treten alternative Überlegungen, Strategien und Aktivitäten auf wirtschaftlicher und politischer Ebene zwangsläufig in den Hintergrund. So gesehen kann die Untersuchung nur einen Beitrag zu einer am historischen Ablauf zu verifizierenden Gewichtung der verschiedenen Einflußfaktoren leisten.

Forschungsstand Über die Deutung der deutschen Außenpolitik und die Kontinuitätslinien vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zum Zusammenbruch des NS-Staates entstehen immer wieder heftige Kontroversen 1 6 . Aber selbst jene Historiker, die geneigt sind, in Adolf Hitler einen „Betriebsunfall" deutscher Geschichte zu sehen und die Singularität seiner Ideen und Ziele hervorzuheben, verkennen doch nicht, daß seine Außenpolitik an frühere Zielsetzungen deutscher Politik anknüpfte und auch seine Programmatik auf älteren Wurzeln beruhte 1 7 . Andere Historiker betonen deshalb die zumindest partielle Interessenidentität der national-konservativen Führungseliten mit der Politik Hitlers. Zu ihnen gehört auch Fritz Fischer, der seine Analyse des Zusammenspiels politischer und militärischer Ziele mit ökonomischen Interessen, die auf die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg so furchtbar gewirkt hat 18 , auf dem Hamburger Historikertag 1978 in groben Skizzen auch auf die Weimarer Republik und das Dritte Reich angewendet 1 9 hat.

Lorenz, D., Außenwirtschaft, S. 267. Dazu den Überblick von Hillgruber, Tendenzen; Hildebrand, Nationalsozialismus, sowie die Einleitungen in: Nationalsozialistische Außenpolitik, und Grundfragen der deutschen Außenpolitik seit 1871. 17 Beispiele bei Hildebrand, Hitlers Ort; Hillgruber, Kontinuität, S. 22; Jäckel, Hitlers Weltanschauung, S. 29ff.; Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik, und ders., Zur Kontinuität. Bei Hillgruber, „Revisionismus", wird neuerdings eine noch stärkere Betonung der Kontinuitätselemente in der Außenpolitik der Weimarer Republik sichtbar. Dazu Berghahn, Fischerkontroverse. Fischer, F., Bündnis. 6

In einer Reihe von Spezialstudien ist diese Problematik für die deutschsowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit bereits aufgegriffen worden. Borowsky stellt etwa das Überleben der ostpolitischen Konzepte des wilhelminischen Deutschland in den ersten Jahren der Weimarer Republik heraus und bestätigt jetzt in einem weiteren Beitrag die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in einem Teilbereich, nämlich für das Auswärtige Amt und die Heeresleitung in den Jahren 1918 bis 1923 20 . Die amerikanischen Historiker George R. Himmer sowie Gordon H. Mueller haben einen ähnlichen Ansatz schon vor mehr als einem Jahrzehnt verfolgt, ohne daß ihre Arbeiten in Deutschland Resonanz fanden 21 . Nur Andreas Hillgruber hat die historische Entwicklung antisowjetischer Denkmuster speziell für die militärische Führungselite am Vorabend des Unternehmens „Barbarossa" skizziert 22 . In einem wesentlich erweiterten Rahmen widmet sich jetzt der von G. Niedhart herausgegebene Sammelband der Geschichte des Rußlandbildes der westlichen Großmächte seit 1917. Für die Zwischenkriegszeit stellt er als konstante Faktoren die ideologische Frontstellung und ein starkes Interesse für die innere Entwicklung, insbesondere die ökonomischen Triebkräfte des Sowjetsystems fest. Frontlinien der weitläufigen Forschungskontroverse um Kontinuität oder Diskontinuität in der deutschen Zeitgeschichte entwickeln sich allmählich auch auf dem Felde der Wirtschaftspolitik 23 . Nachdem dieser Bereich von der historischen Forschung lange vernachlässigt und lediglich von einigen Wirtschaftshistorikern als isolierte Spezialdisziplin bearbeitet wurde 2 4 , hat seit Mitte der sechziger Jahre, nicht zuletzt auch unter dem Einfluß der Faschismusdiskussion, ein stärkeres Bemühen um die längst fällige Aufarbeitung der Wirtschafts- und Rüstungspolitik des Dritten Reiches eingesetzt 25 . Die Diskussion um die historischen Wurzeln des NS-Regimes hat seit Beginn der siebziger Jahre zu einem wachsenden Interesse auch für die

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Borowsky, Die „bolschewistische Gefahr"; ders., Sowjetrußland. In einer an der Universität Mainz entstehenden Dissertation werden die ostpolitischen Konzepte konservativer Zirkel wie des Juni-Klubs und des Herrenklubs untersucht: Höfer, Konservative Konzeptionen. Siehe Himmer, German-Soviet Economic Relations, und Mueller, G., The Road to Rapallo. Hillgruber, Rußlandbild; siehe auch Hildebrand, Die ostpolitischen Vorstellungen, für den Bereich der zeitgenössischen Historiographie Wippermann, Der „deutsche Drang nach Osten", sowie zur teilweise parallelen Einschätzung der UdSSR im Urteil der westlichen Großmächte jetzt: Der Westen und die Sowjetunion, dort auch Hinweise auf den Stand der Perzeptionsforschung. Dazu den Überblick von Wehler, Theorieprobleme. Auf der Linie traditioneller Wirtschaftsgeschichtsschreibung liegt auch die jetzt vorliegende kurze Abhandlung von Fischer, W., Weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Zum Forschungsstand siehe Volkmann, NS-Wirtschaft. 7

Wirtschafts- und Handelspolitik der Weimarer Republik geführt 26 . Der Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der Sozialpolitik und der Analyse der wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse 2 7 . Die Aufarbeitung der Außenwirtschaftspolitik konzentriert sich derzeit auf die Phase der weltwirtschaftlichen Öffnung Deutschlands in der LocarnoÄra und die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich und den USA als den für die Außenpolitik der Weimarer Republik wohl wichtigsten Mächten 28 . Unter Kontinuitätsaspekten findet außerdem die deutsche Südosteuropa-Politik besondere Beachtung 29 . Die Erforschung der deutschen Handelspolitik in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre hingegen befindet sich noch in ihrem Anfangsstadium 3 0 . In diesen Arbeiten bleibt jedoch der Stellenwert Rußlands ebenso periphär wie in neueren Darstellungen zur Rüstungspolitik der Weimarer Republik 31 . Insgesamt läßt sich feststellen, daß die der Kontinuitätsproblematik gewidmeten Arbeiten immer wieder auf eine zentrale Fragestellung stoßen: Waren in der Wirtschafts- und Rüstungspolitik der Weimarer Republik nicht weitreichende, genuin machtpolitische Zielsetzungen angelegt, die es erforderlich machen, den ökonomischen Revisionismus und die Militärpolitik der zwanziger Jahre als Vorstufe zum kriegerisch-expansiven Kurs der NSFührung zu bezeichnen 32 ? Im Hinblick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit steht eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung bis heute aus. Bemühungen einiger Publizisten auf diesem Gebiet 33 können dem ebensowenig entsprechen wie die Überblicksdarstellungen z. B. von Kluke, Jacobsen und Kuhn 34 , die vorliegenden Sammelbände zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen 35 oder die übergreifenden Arbeiten zur Außen-, Wirtschafts- und Militärpolitik Deutschlands in der Zwischenkriegszeit. Das besondere Dilemma diplomatiegeschichtlicher Betrachtungsweise, die dem Ineinandergreifen ökonomischer Interessen, mili-

20

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Siehe u. a. Industrielles System, insbesondere die Beiträge von Milward, Der deutsche Handel, und Fischer, W., Die Weimarer Republik. Siehe etwa Gessner, Agrarverbände, und Pohl, K., Weimars Wirtschaft.

28 Dazu Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik, und Pohl, K., „Stresemannsche Außenpolitik". 29 30

31 32

33 34 35

8

Siehe Schröder, Deutsche Südosteuropapolitik, und Radkau, Renovation. Schröder, B., Die politische Bedeutung. In der Studie von Witt, Staatliche Wirtschaftspolitik, bleibt der Einfluß außenpolitischer Zielsetzungen auf die Wirtschaftspolitik der Weimarer Regierungen unberücksichtigt. Siehe Hansen, Reichswehr, und Geyer, Aufrüstung. Stegmann, Mitteleuropa, S. 203; siehe auch Frommelt, Paneuropa, und Europastrategien. Fabry, Sowjetunion; Krummacher/Lange, Krieg, und Haffner, Teufelspakt , Siehe Anm. 1. Rauch, Zarenstreich; Deutsch-russische Beziehungen; Deutschland und Rußland.

tärischer Planungen und politischer Zielsetzungen nicht gerecht wird, verdeutlicht die kurze Abhandlung Hildebrands zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen während der Weimarer Republik 36 . Bemüht um die Hervorhebung der Singularität Hitlerscher Ostpolitik wird die Rußland-Politik der Weimarer Republik hier als Musterbeispiel einer „echten" Friedens- und Ausgleichspolitik begriffen. Vereinzelte Ansätze in der Forschung, die revisionspolitischen Implikationen der Rapallo-Politik zu beleuchten, bleiben unbeachtet 37 . Von der These eines strikten Gegensatzes zwischen Rapallo-Politik und Hitlers Lebensraum-Programm ist auch die ideologie- und diplomatiegeschichtliche Arbeit von McMurry über die Anfangsphase nationalsozialistischer Rußland-Politik bis 1936 geprägt 38 . Wirtschaftspolitische Aspekte finden demgegenüber ebensowenig Beachtung wie die Kontinuitätsproblematik. Bei der umfangreichen Literatur über den Hitler-Stalin-Pakt überwiegt vielfach das Interesse daran, die Mitschuld Stalins an der Eröffnung des Zweiten Weltkrieges nachzuweisen 39 . Dabei führt die Darstellung selten über die Diplomatiegeschichte und das politisch-strategische Kalkül der beiden Diktatoren hinaus. Verbindungslinien von Brest-Litovsk und Rapallo zum Hitler-Stalin-Pakt werden deshalb nicht gezeichnet, und die Vorgeschichte dieser „erstaunlichsten" politischen Konstellation der Weltgeschichte 40 wird zumeist auf die Ereignisse des Jahres 1939 beschränkt. Die für die vorliegende Arbeit skizzierte Thematik wurde in der nur teilweise gedruckten Dissertation von Bulthaupt 1973 angerissen 41 . Mit der Konzentration auf politisch-ideologische Aspekte, dem völligen Verzicht auf einschlägige Archivstudien und einem dezidiert vorgetragenen parteilichen Standpunkt vermag das Ergebnis freilich nicht zu überzeugen. Ebenso unbefriedigend wie im Bereich der politischen Geschichtsschreibung stellt sich die Forschungslage auch im Hinblick auf die Außenwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches gegenüber der Sowjetunion dar. Hier liegt eine größere Zahl wirtschaftswissenschaftlicher Studien unterschiedlicher Qualität vor, in denen häufig nur Ausschnitte behandelt werden, die ohne überzeugende Einbindung in die historische Gesamtentwicklung bleiben.

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Hildebrand, Das Deutsche Reich. Hervorzuheben sind in diesem Kontext die Arbeiten von Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen; Wengst, Graf Brockdorff-Rantzau, und Graml, RapalloPolitik. 38 McMurry, Deutschland; dies gilt auch für die in ihrer Anlage unzureichende Arbeit von Richter, Die deutsche Ostpolitik, die den Abschnitt 1938/39 behandelt. 39 Zum Forschungsstand jetzt Hillgruber, Hitler-Stalin-Pakt, und ders./Hildebrand, Kalkül. 4 ° Birkenfeld, Stalin, S. 477. 41 Bulthaupt, Die deutsche Gefahr. 37

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Als Beispiel sei hier auf die neueste Bearbeitung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen während der Weimarer Republik verwiesen, in der Beitel/Nötzold mit einem politikwissenschaftlichen Ansatz und unter anwendungsorientierten Prämissen die historischen Dimensionen ihres Themas vernachlässigen 42 . Dies gilt auch für eine politikwissenschaftliche Habilitationsschrift, in der die Zusammenarbeit von Unternehmen, Verbänden und Staat in der Projektierung und Realisierung der Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik im Vergleich und mit Hilfe eines spieltheoretischen Simulationsmodells dargestellt werden sollen 43 . Vorrangig für den Politiker und Juristen geschrieben ist auch die Arbeit von Osthoff über die deutsch-russischen Vertragsbeziehungen 44 . Die marxistische Historiographie kann zwar eine größere Zahl von Veröffentlichungen über die Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen — auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Aspekte — vorweisen, die durch zahlreiche Dokumentationen ergänzt wurden 4 5 . Ihrem dogmatisierten Interpretationsschema und den parteilichen Propagandaformeln unterworfen, feiert sie aber den Rapallo-Vertrag noch immer als Musterbeispiel deutsch-sowjetischer Partnerschaft und verdeckt damit die Tatsache, daß seine eifrigsten Förderer auf deutscher Seite jene Protagonisten einer nationalistischen Revisionspolitik waren, die mit ihren Hegemonialzielen gegenüber Mittel- und Osteuropa Hitlers Programmatik beeinflußt haben 4 6 . Die deutsche Einflußpolitik gegenüber der UdSSR in den zwanziger Jahren, z. B. auf rüstungspolitischem Sektor, bleibt unbeachtet. Insgesamt sind derartige Darstellungen der Ostpolitik des Dritten Reiches von einem simplifi-

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Siehe Beitel/Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, und dies., Les relations. Bellers, Zusammenarbeit. Osthoff, Die deutsch-russischen Vertragsbeziehungen. Weitere Aufschlüsse für die Thematik können hingegen von einer soeben vollendeten Dissertation erwartet werden, die sich mit einem der wichtigsten Gremien für Wirtschaftspolitik gegenüber der UdSSR befaßt: Perrey, Rußlandausschuß. Überblick bei Suchorukov, Sovetsko-germanskie otnošenija und Gielke, Bibliographie. Gewisse Differenzierungen finden sich bei Brühl, Zur Vorbereitung. In der offiziellen Moskauer Geschichte der sowjetischen Außenpolitik (S. 319) wird die Rapallo-Politik so bewertet: „Die deutsche Regierung blieb, obgleich nicht ohne innere Kämpfe, bis 1932 im Prinzip auf den Positionen gutnachbarlicher Beziehungen und der friedlichen Zusammenarbeit mit der UdSSR". Eine außergewöhnlich differenzierte, gut informierte Darstellung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Rapallo-Ära liefert jetzt Rosenfeld, Sowjetunion und Deutschland, die für die vorliegende Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden konnte und - trotz teilweise abweichender Interpretationen - zahlreiche Ergebnisse bestätigt.

zierenden und unfruchtbaren Faschismus-Begriff beeinflußt, wobei Hitler jegliche eigenständige Gestaltungskraft abgesprochen wird. Er gerät zum „Agenten der Monopole", der — und in diesem Kontext greift man nun auch auf „Kontinuitäten" zurück — lang gehegte Expansionsziele führender deutscher Wirtschaftskreise vollstrecken half47. Die Vernichtung des Kommunismus in der Sowjetunion als dem Hauptfeind des Kapitalismus sei schon seit 1917 eines der wichtigsten Ziele deutscher Kapitalisten gewesen, die damit den Interessen des Weltkapitalismus folgten 48 . Ergänzt wird diese selten näher ausgeführte These, die den Rapallo-Komplex ausspart, durch die Behauptung, daß die westlichen Großmächte Deutschland bereits in den zwanziger Jahren, verstärkt aber nach 1933, als Bollwerk und Stoßkeil gegen den „aufblühenden" Kommunismus in der UdSSR einzusetzen bemüht waren 4 9 . In dieser Sicht gerät der Hitler-Stalin-Pakt zu einem rein diplomatischstrategischen Ereignis, das auf die außenpolitische Krise des Jahres 1939 zurückzuführen ist und als Akt der Notwehr gegen die Absicht der Westmächte begriffen wird, Hitlers Expansionsdrang nach Osten abzulenken 5 0 . Unbeachtet bleiben dabei Hitlers Intentionen und Ziele, die er mit dem Pakt verfolgte. Gleiches gilt hinsichtlich der Frage, ob es nicht Kontinuitätslinien für ein deutsch-sowjetisches Bündnis gegen die westlichen Großmächte gab, dessen Ziel die Neuverteilung der Machtverhältnisse auf dem europäischen Kontinent war. Auf Grund ihrer systemimmanenten Funktion hat die marxistische Historiographie ein verständliches Interesse daran, Parallelen und Traditionslinien zwischen Rapallo und dem Hitler-StalinPakt zu leugnen und so den historischen Charakter beider Ereignisse zu verfälschen. Dieser zwangsläufig grobmaschige Überblick zeigt, daß trotz vielfältiger Forschungsaktivitäten zur politischen und wirtschaftlichen Geschichte Deutschlands in der Zwischenkriegszeit der Bereich der deutschen RußlandPolitik nur ungenügend abgedeckt ist. Eine Analyse der Außenwirtschaftspolitik gegenüber der UdSSR erscheint in diesem Kontext als dringlichstes Desiderat. Bezogen auf den weitgefaßten Aspekt des wirtschaftspolitischen Kalküls von Politikern, Offizieren und Unternehmern — und zwar sowohl im Hinblick auf langfristige politische, wirtschaftliche und militärische Zielsetzungen eines deutschen Groß- und Weltmachtstrebens als auch bezüglich

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Busse, Die faschistische Lüge. Dazu z. B. Hass, Zum 30. Jahrestag. Brühl, Zur Vorbereitung; Parotkin, Scheitern; Vietzke, Deutschland; Schunke, Probleme, und Rosenfeld, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen und der Kampf. Nikonow, Die politische Vorkriegskrise, und Sipols, Vorgeschichte. 11

seines Einflusses auf die außen- und wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse — sollen unter anderem folgende Fragen untersucht werden: 1.

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Welche Motive — insbesondere revisionspolitischer Art — haben auf seiten der national-konservativen Führungseliten Deutschlands die deutsch-sowjetische „Freundschaft" der zwanziger Jahre beeinflußt? Zielte die pro-sowjetische Option der Rapallo-Ära tatsächlich auf ein Bündnis gleichrangiger Partner, auf die „friedliche Koexistenz" zweier Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und auf eine defensiv verstandene Ausbalancierung des europäischen Kräfteverhältnisses? Läßt sich im wirtschaftspolitischen Kalkül national-konservativer Führungseliten eine Kontinuität wirtschaftsimperialistischer und letztlich auch machtpolitisch-militärischer Vorstellungen gegenüber Rußland aufdecken, die Hitlers Lebensraumprogramm trotz seiner primär rassenideologischen Determinierung in neuem Licht erscheinen lassen? Welche Rolle spielte die Beherrschung und Ausbeutung der russischen Wirtschaft in den langfristigen revisions- und machtpolitischen Plänen deutscher Führungskreise in der Zwischenkriegszeit? Welche Funktion besaß in diesem Zusammenhang die Gestaltung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen? Gab es eventuell wirtschaftspolitische Vorstellungen, die als Konsequenz divergierender militärischer, privatwirtschaftlicher und ideologischer Interessen der offiziellen Rußland-Politik widersprachen? Vermochten sich diese zu verselbständigen und in irgendeiner Weise den ostpolitischen Kurs des Deutschen Reiches vor und nach 1933 zu beeinflussen? Welches Gewicht hatte die Kontinuität antisowjetischer Einstellungen und Ideologien auf den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß? Letztlich sollen sich alle Erörterungen mit der Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den deutsch-sowjetischen Beziehungen von Brest-Litovsk bis zum Hitler-Stalin-Pakt verbinden.

Zur Straffung des Anmerkungsapparates wurde eine verkürzte Zitierweise gewählt und nur zeitgenössische Publikationen unter vollständiger Titelangabe zitiert. Hinweise auf weiterführende Literatur sowie wissenschaftliche Kontroversen sollten möglichst knapp gehalten werden. Russische Namen und Begriffe erscheinen durchgängig in der Form der Transkription, Abweichungen in Quellenzitaten werden unverändert wiedergegeben.

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I. DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFTS- UND RÜSTUNGSPOLITIK GEGENÜBER SOWJETRUSSLAND UND DER WEIMARER REVISIONISMUS

A. DIE BEMÜHUNGEN UM EINE ÖKONOMISCHE EINFLUSSNAHME IN SOWJETRUSSLAND 1919-1925 1. Spekulationen über Zukunft und Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen Die formelle Anerkennung der militärischen Niederlage im Waffenstillstandsvertrag von Compiegne schuf für das Deutsche Reich eine völlig neue Lage. Eine innenpolitische Reaktion w a r die Bildung des Bündnisses EbertGroener. Die Koalition zwischen sozialdemokratischer Parteispitze und den alten Führungseliten im Militär- und Staatsapparat stellte sich die Aufgabe, im Innern die revolutionären Umtriebe zu bekämpfen und in der auswärtigen Politik den Status quo auf der Basis von Woodrow Wilsons Friedensbedingungen mit allen Mitteln zu verteidigen 1 . Anfängliche Hoffnungen, größere Machteinbußen gegenüber den Siegermächten verhindern zu können, sollten sich bald als illusionär erweisen. Wegen der katastrophalen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Lage des Reiches besaß eine solche in traditionellen Machtkategorien befangene deutsche Politik keine ausreichende Grundlage. Die Entente-Mächte zeigten sich nämlich entschlossen, ihren militärischen Sieg auch auf wirtschaftlichem Gebiet zu ihrem Vorteil auszunutzen und schwächten Deutschland durch die Aufrechterhaltung der Blockade 2 . Umso dringlicher war es aus deutscher Sicht, alle sich bietenden Möglichkeiten zur Stabilisierung der von Kriegs- und Revolutionsfolgen bedrohten wirtschaftlichen Basis des Reiches zu nutzen und damit die Stellung Deutschlands bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen zu stärken. Dieser instrumentelle Charakter der deutschen Wirtschaftspolitik wurde von führenden Regierungsvertretern wiederholt hervorgehoben. Außenmini-

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Boll, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 271 ff. und umfassend Krüger, Deutschland und die Reparationen 1918/1919; Schwabe, Deutsche Revolution; Eiben, Problem. Zur Dokumentation siehe: Die Regierung der Volksbeauftragten. Heide, Blockade. 13

ster Ulrich Graf v. Brockdorff-Rantzau w a r der Meinung, „daß wir alles daransetzen müssen, um Amerika zu überzeugen, daß wir leistungsfähig sind" 3 . Die Hoffnung, durch eine wirtschaftliche Interessenverbindung mit den USA die Front der Siegermächte aufspalten und wieder „große Weltpolitik" treiben zu können, wurde selbst von führenden Sozialdemokraten formuliert 4 . Auch in Kreisen der einflußreichen Eisen- und Stahlindustrie erkannte man die Vorteile, die dem Reich bei einer Verwirklichung der amerikanischen Friedensbedingungen verbleiben würden, befürchtete allerdings eine weitgehende politische Abhängigkeit von England und Frankreich, so daß jegliche deutsche Bewegungsfreiheit von vornherein ersticken müsse 5 . Die aus Expansions- und Annexionsträumen gerissene Industrie forderte ohnmächtig einen „neuen zündenden Gedanken", damit „dieser Gedanke die Welt ergriffe und daß die Macht des Gedankens uns die Stellung in der Welt wieder eroberte, die das schmähliche Wegwerfen unseres Schwertes uns entrissen hat" 8 . Bei der fieberhaften Suche nach einer erfolgversprechenden Gegenstrategie mußte sich in Deutschland zwangsläufig der Blick auf den mittel- und osteuropäischen Raum richten. Hier w a r die deutsche Macht- und Wirtschaftspräsenz noch immer ungebrodien, und die deutschen Kriegszielplanungen während des Ersten Weltkrieges hatten sich vor allem auf diese Gebiete gerichtet 7 . In Mittel- und Osteuropa lagen die einzigen Versorgungsquellen, über die das Reich unter den Blockadebedingungen noch verfügen konnte. Der Versuch, durch den Anschluß Deutsch-Österreichs Einfluß auf den Gä-

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Äußerung Brockdorff-Rantzaus in der Kabinettssitzung am 21. 1. 1919, in: Die Regierung der Volksbeauftragten, Teil II, Nr. 115. Zu der Gruppe von Finanzund Wirtschaftssachverständigen, zu denen u. a. auch Rathenau gehörte, die Deutschlands tiefgreifende ökonomische Probleme durch eine Zusammenarbeit mit den USA und eine weltwirtschaftliche Orientierung lösen wollte, siehe weiter bei Haupts, Deutsche Friedenspolitik. 4 Äußerung Erzbergers in der Kabinettssitzung am 21. 1. 19, in: Die Regierung der Volksbeauftragten, Teil II, Nr. 114. 5 Siehe z. B. Rasch, Gustav, Gedanken über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands, in: Stahl und Eisen 39(1919], Nr. 51, S. 1612-1614. In einem Vortrag auf der 16. ordentl. Hauptversammlung des Verbandes sächsischer Industrieller forderte Gustav Stresemann am 5. 5. 1920 dazu auf, die Interessengegensätze zwischen den Siegermächten für das Reich zu nutzen: Stresemann, Gustav, Der Wiederaufbau Deutschlands und die Industrie, in: Sächsische Industrie 16(1920), Nr. 34, S. 442-451. 6 Hugenberg, Alfred, Sozialisierung, in: Stahl und Eisen 39(1919), Nr. 34, S. 973-977. 7 Hierzu umfassend Fischer, F., Griff nach der Weltmacht, und aus sowjetmarxistischer Sicht u. a. Basler, Deutschlands Annexionspolitik. Zur Politik gegenüber Rußland siehe außerdem den Überblick von Hillgruber, Deutsche Rußlandpolitik. 14

rungsprozeß in den sich bildenden Nachfolgestaaten der Donaumonarchie zu gewinnen, scheiterte aber schon im Ansatz am Widerspruch der Entente 8 . Aus wirtschaftspolitischer Sicht richteten sich die größten Hoffnungen auf Rußland. Die Besinnung auf die Möglichkeiten, die der russische Markt auch in Zukunft bergen werde, lag auf der Hand, war Rußland doch schon vor dem Weltkrieg wichtigster Rohstofflieferant und Absatzmarkt für die deutsche Wirtschaft gewesen 9 , die noch im letzten Kriegsjahr stärkstes Interesse an der Durchdringung und Beherrschung des russischen Marktes gezeigt hatte. Einer ihrer einflußreichsten politischen Interessenvertreter, Gustav Stresemann, war überzeugt davon gewesen, daß die deutsche Weltmachtstellung nur durch die Ostexpansion erreicht werden könne. Im osteuropäischen Raum schienen die Rohstoffe, Nahrungsmittel und Arbeitskräfte verfügbar zu sein, um den Bedarf der deutschen Wirtschaft zu decken, und sie lagen, anders als beim überseeischen Kolonialbesitz, im Bereich der deutschen Waffen. Nach einer siegreichen Beendigung des Krieges sollten deshalb die früheren weltwirtschaftlichen Bindungen Deutschlands in keinem Falle wieder erneuert werden. Der Außenhandel sollte sich statt dessen auf die Produktions- und Absatzgebiete um das Schwarze Meer (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei, Kaukasus] konzentrieren 1 0 . Trotz der Niederlage lebten solche Vorstellungen weiter, und sie wurden durch die Verhältnisse in Rußland gefördert. Deutschland hatte sich gegens Als Beispiel für die Anschluß-Propaganda siehe Huth, Walter, Die wirtschaftlichen Kräfte Deutschösterreichs und sein Anschluß an das Deutsche Reich, Berlin 1919. 9 Siehe vor allem Borowsky, Deutsche Ukrainepolitik, S. 27 ff. und Kap. IV, sowie zu einzelnen Bereichen Mai, Das deutsche Kapital; Holzer, The German electrical industry; Kirchner, One hundred years, und: Deutschland und Rußland. In ähnlicher Weise bemühten sich die Westmächte während des Ersten Weltkrieges darum, ihr Bündnis mit dem Zarenreich für eine Öffnung und Beherrschung des russischen Marktes auszunutzen; hierzu Bonwetsch, B., Kriegsallianz. w Vortrag von Stresemann, Gustav (Führer der Nationalliberalen Partei am 1. 6. 1918): Die Mittelmächte und der Ostfriede, in: Sächsische Industrie 14 (1918), Nr. 6, S. 135-140, in dem er ausdrücklich die alte konservative Vorstellung eines deutsch-russischen Bündnisses zugunsten eines rücksichtslosen Dekompositions- und Ausbeutungskonzeptes im Osten verwarf. Im gleichen Sinne auch die Ausführungen des bekannten Wirtschaftspublizisten Dix, Arthur, Rohstoffversorgung nach dem Kriege, in: Sächsische Industrie 14(1918), Nr. 4, S. 71 f. Mitte 1919 versuchte Stresemann dann namens des Deutsch-Russischen Bundes, die deutsche Friedensdelegation für ein Zusammengehen mit den konterrevolutionären Kräften in Rußland zu gewinnen; Schreiben des Leiters der Deutschen Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, Johann Heinrich Graf v. Bernstorff an Dr. Stresemann, vom 26. 5. 1919, PA-AA, Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, Bd 56. 15

über den Alliierten verpflichten müssen, den Vertrag von Brest-Litovsk aufzukündigen und wegen der „bolschewistischen Gefahr" seine militärischen Positionen erst nach späteren Weisungen der Entente zu räumen 1 1 . Damit schien sich die Möglichkeit zu bieten, auf der Grundlage einer gemeinsamen antibolschewistischen Politik mit den Siegermächten die „Einstellung der gesamten Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen" zu erreichen 12 . In der Zeit von November 1918 bis zum Mai 1919 wurden die Varianten eines solchen Programms in verschiedenen alten Führungszirkeln des Reiches intensiv diskutiert und in die praktische Politik eingebracht. Wichtigste Kennzeichen waren die enge Verknüpfung ökonomischer und militärisch-machtpolitischer Aspekte einerseits, und die Verbindung kurzfristig-taktischer Gesichtspunkte mit den alten Kriegszielvorstellungen andererseits. Vor allem die Oberste Heeresleitung (OHL) verfolgte, nachdem sie ihre innenpolitische Position wieder gefestigt hatte, mit Nachdruck die „Kreuzzugs"Idee. Sie entwickelte sogar einen Operationsplan für eine direkte Intervention der Alliierten und Deutschen im russischen Bürgerkrieg, der allerdings nicht die erhoffte Unterstützung des amerikanischen Hauptquartiers fand 13 . Die Weigerung der Alliierten, auf das deutsche „Liebeswerben" einzugehen, war nur allzu verständlich, denn es ging den alten kaiserlichen Generalen offenkundig nicht so sehr um die „Rettung des Abendlandes" als vielmehr darum, einen Weg aus der Niederlage zu finden. Tatsächlich setzte die Oberste Heeresleitung darauf, daß ihr die Gesamtleitung eines „Kreuzzuges" zufallen werde und die Siegermächte im Gegenzug auf einen Gewaltfrieden verzichten würden. Als weitere Schritte schlug der Erste Generalquartiermeister, Generalleutnant Wilhelm Groener, eine rasche Wiederaufrüstung und wirtschaftliche Erholung Deutschlands vor, um dann Zug für Zug die alte Machtstellung auf dem Kontinent zu erneuern 14 . Trotz ihres Scheiterns blieb die „Kreuzzugs"-Idee bis Ende der zwanziger Jahre eine Variante im politischen Denken der deutschen Rechten. Ihr eifrigster Verfechter wurde der letzte Befehlshaber des Ostheeres, Generalmajor Max Hoffmann, der einen politisch und militärisch einflußreichen Kreis um sich sammelte 15 .

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Dazu weiter bei Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 21 ff., und Borowsky, Die „bolschewistische Gefahr". 12 Telegramm Brockdorff-Rantzaus vom 15. 1. 1919, zit. bei Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 38. 13 Dazu Guth, Loyalitätskonflikt, S. 115 f. Zur Haltung der militärischen Führung vgl. insgesamt auch das abweichende Urteil von Rakenius, Wilhelm Groener; weitere Quellen liefert die Dokumentation: Zwischen Revolution und KappPutsch. 14 Entsprechende Ausführungen Groeners in einem Brief an Erzberger, zit. bei Könnemann, Einschätzung, S. 63. 15 Zu Hoffmanns Wirken und Bedeutung siehe auch: Die Aufzeichnungen des 16

Auch wenn ein militärisches Zusammengehen mit den Alliierten 1919 nicht zustande kam, so boten doch die im Osten eingesetzten deutschen Truppen eine wichtige Trumpfkarte für die OHL. Dies galt nicht nur für den inneren Machtkampf im Reich, sondern auch für den Fall einer möglichen Wiederaufnahme der Kampfhandlungen gegen die Westmächte. Die Ostverbände schützten außerdem die Reichsgrenze vor dem bolschewistischen Ansturm und sicherten die Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe und Nahrungsmittel. Nicht zuletzt aber verschafften sie der OHL auch die Möglichkeit, die Entwicklung im Osten aktiv zu beeinflussen. Dem Befehlshaber Ober-Ost wurde deshalb mitgeteilt, daß eine schnelle Räumung der Ukraine und des Baltikums „keinesfalls im nationalen und wirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegt. Gelingt es uns, in der Ukraine auch nach dem Friedensschluß noch Truppen zu haben, so ist das volkswirtschaftlich von großem Werte 1 6 ." Für die Zusammenarbeit mit Rußland boten sich im wesentlichen zwei Optionen an, die während der Brest-Litovsk-Ära nebeneinander praktiziert worden waren: die Kooperation mit den Bolschewisten oder mit den bürgerlichen Kräften. Im Frühjahr 1919 schien nach der Intervention der Alliierten ein Sieg der Konterrevolution gewiß zu sein. In Berlin setzte man deshalb zunächst auf die Karte eines bürgerlich-demokratischen Rußlands der Zukunft 17 . Eine spezielle Variante entwickelten die deutschen Repräsentanten im Baltikum. Der deutsche Geschäftsträger bei der Regierung Lettlands und Estlands, August Winnig, entwarf in Übereinstimmung mit dem Befehlshaber der deutschen Freikorps, Generalmajor Rüdiger Frhr. v. d. Goltz 18 , im März Generalmajors Max Hoffmann. Hrsg. von Karl F. Nowak, 2 Bde, Berlin 1929, Bd 2. " Schreiben an den Befehlshaber Ober-Ost vom 16. 11. 1918, zit. in: Die Regierung der Volksbeauftragten, Teil I, S. 143, Anm. 5. Siehe zu diesem Komplex auch die Arbeiten von Zürrer, Kaukasien; Volkmann, Die deutsche Baltikumpolitik; ders., Das Deutsche Reich; Fischer, K., Deutsche Truppen, und: Militarismus gegen Sowjetmacht. " Der Ukraine-Fachmann des Auswärtigen Amts warb öffentlich für eine Unterstützung der weißgardistischen Armee Denikin in Südrußland, um über das Angebot wirtschaftlicher Kooperationsbereitschaft an die südrussischen Kapitalisten, die von französischen Kreisen unterstüzt wurden, für Deutschland Möglichkeiten zu schaffen, in Rußland Fuß zu fassen. Treuenfels, Bernhard, Die Reste der russischen Volkswirtschaft, Stuttgart 1920 [= Finanz- und Volkswirtschaftliche Zeitfragen, H. 64). Zur Kontroverse in deutschen Führungskreisen über die keineswegs unproblematische Unterstützung der antikommunistischen Kräfte Rußlands siehe Carsten, Reichswehr, S. 76 ff. 18 In einem Schreiben an Seeckt wies von der Goltz am 2. 11. 1919 noch einmal mahnend darauf hin, daß nach „Ansicht unzähliger Wirtschaftspolitiker [...] unsere ganze staatliche Zukunft mit der deutsch-russischen Brücke" stehe oder falle. Die Generaldirektoren der ostpreußischen Holzindustrie z. B. hätten ihm versichert, daß ihr Wirtschaftszweig binnen Jahresfrist ruiniert sein werde, 17

1919 ein umfassendes Programm für die langfristige Sicherung des deutschen Einflusses in Osteuropa. Ihm kam es vor allem darauf an, die baltischen Staaten als Brücken nach Rußland zu erhalten 19 . Da Deutschland hierfür auf absehbare Zeit ausreichende militärische Mittel nicht einsetzen konnte, setzte Winnig auf den Ausbau des politisch-kulturellen und ökonomischen Einflusses in den baltischen Staaten. Dazu sollte auch die weitere Förderung einer Ansiedlung von Deutschen gehören. Hier konnten im kleinen überschaubaren Rahmen jene Instrumente erprobt werden, mit deren Hilfe in einem späteren Stadium auch Rußland erschlossen werden sollte. Winnig war davon überzeugt, daß der Bolschewismus „in absehbarer Zeit totgeschlagen oder überwunden" sein werde. Die Zwischenzeit müsse zum Aufbau der baltischen Vorposten genutzt werden. Der Wiederaufbau Rußlands werde dann ein ungeheures Betätigungsfeld für „unternehmende, fleißige und kultivierte Personen" bieten, die Deutschland zur Verfügung stellen könne. Eine enge deutsch-russische Verbindung werde nicht nur einen unschätzbaren wirtschaftlichen Nutzen für das Reich bringen, sondern auch politisch bedeutsam sein. „Dieser Bund könnte ein so großes Schwergewicht erhalten, daß alle zwischen den beiden großen Kraftzentren liegenden Gebilde mitergriffen werden, daß sich ein Kontinentalblock vom Osten Rußlands bis zum Westen Deutschlands erstreckt, der an Fläche, an Menge und Güte der Bevölkerung, an Naturschätzen den Vergleich mit der Macht einer anglo-amerikanischen Völkervereinigung oder einer japanisch-chinesischen Völkervereinigung durchaus vertragen kann 2 0 ." Winnigs Vorstellungen unterschieden sich kaum von denen der deutschen Friedensdelegation. W e n n diese den Gedanken der wirtschaftlichen „Expansion nach Osten" in den Vordergrund stellte, dann wollte sie ihn eingeordnet wissen als ersten Schritt einer weitgespannten Strategie. Ihr Ziel war der Neuaufbau des deutschen Machtpotentials mit Hilfe des Ausbaues „des künftigen osteuropäischen Marktes für den deutschen Absatz und die Bestätigung des Deutschtums[!]" sowie den von Deutschland gelenkten „Wiederaufbau Rußlands" 2 1 . Die Diplomaten in der Ostabteilung des Aus-

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wenn es nicht gelinge, den russischen Markt zu öffnen, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/179. Zu den Auffassungen von der Goltz' siehe jetzt Guth, Loyalitätskonflikt, S. 165 ff. Zu entsprechenden Überlegungen hinsichtlich der Ukraine siehe die Schriften des in Kreisen des konservativen Bürgertums einflußreichen Ukraine-Propagandisten Paul Rohrbach, u. a. Polengefahr und Ostpolitik, in: Deutsche Politik 4 (1919), Nr. 14, S. 419-423. Schriftleiter dieser Zeitschrift war übrigens Theodor Heuss, später einer der führenden Köpfe des deutschen Liberalismus. Denkschrift Winnigs über die Zukunft Lettlands und Estlands vom 14. 3. 1919, PA-AA, Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, Bd 56. Siehe hierzu auch Volkmann, Das Deutsche Reich, S. 393. Schreiben der deutschen Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen vom 19. 3. 1919, DSB 1919-1922, Nr. 31.

wärtigen Amtes arbeiteten deshalb weiter, „als ob nichts geschehen" sei und es vor allem darauf ankomme, „die Folgen des Zusammenbruchs vom Osten fernzuhalten" 2 2 . Sie wurden dabei auch von Vertretern der Wirtschaft unterstützt, die, wie der Direktor der Nationalbank für Deutschland, Hjalmar Schacht, später Hitlers Wirtschaftsminister, „als Hauptwirtschaftsgebiet für die nächste Zukunft in erster Linie das große russische Reich mit seinen überaus reichen, unerhobenen Naturschätzen und seinen fast unbegrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten ins Auge" faßten 23 . Auch wenn in Industriekreisen nüchtern konstatiert wurde, daß der Osten „noch in vollem Aufruhr" sei, Rußland, Deutschlands „zukunftsreichstes Betätigungsfeld", sich unter der kommunistischen Wirtschaftspolitik „verblute", die Randstaaten noch kein festes staatliches Gefüge böten und ebenso im Südosten, „im nahen Orient noch alles im Fluß" sei 24 , so verbanden sich dennoch mit der Ostpolitik die größten Erwartungen. Bei der intensiven Diskussion in der Rechtspresse um die außenpolitische Orientierung spielten die ökonomischen Aspekte immer wieder eine zentrale Rolle. Da die Aussichten auf eine Wiedergewinnung der überseeischen Märkte äußerst gering eingeschätzt wurden, forderte man unablässig einen Ausgleich im Osten durch die Angliederung der als komplementär verstandenen russischen Wirtschaft 25 . Führende konservative Politiker scheuten sich auch nicht, den gegen die Westmächte gerichteten Charakter der deutschen Ostorientierung einzugestehen. Nach Otto Hoetzsch ging es letztlich um den Versuch, „mit der West- und ostslawischen Welt in ein festes politisches Verhältnis zu kommen, das wir wirtschaftlich zu unserer Existenz brauchen, um dem Angelsachsentum ein Paroli zu bieten" 26 . In alldeutschen Kreisen dachte man sogar noch immer an utopische Grenz-

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Blücher, Deutschlands Weg, S. 34. Siehe auch Borowsky, Deutsche Ukrainepolitik, S. 284, und zu den ostpolitischen Grundlinien im Jahre 1918 Baumgart, Deutsche Ostpolitik. Zur Kontinuität in der deutschen Außenpolitik außerdem Doß, Das deutsche Auswärtige Amt, und Krüger, Deutschland und die Reparationen 1918/19; einschränkend dagegen Schwabe, Versailles. 23 Leitartikel von Schacht, Hjalmar, „Bolschewistische Auflösung oder internationale Zusammenarbeit", in: Berliner Tageblatt vom 2. 4. 1919, abgedr. in: Weltherrschaft im Visier, Nr. 61. 24 Ausführungen von März, Johannes, Syndicus des Verbandes sächsischer Industrieller: Die Aussichten der deutschen Exportindustrie, in: Sächsische Industrie 15(1919], Nr. 24, S. 501-503, hier S. 502. 25 Die verrammelte Tür nach Osten, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 230, 13. 5. 1919. 26 Witt, Denkschrift, hier S. 351. Die Denkschrift war für Kuno Graf v. Westarp bestimmt, den Führer der Deutschkonservativen Partei (später DNVP). Hoetzsch wurde in den zwanziger Jahren der führende Rußland-Experte der DNVP und beeinflußte in dieser Stellung maßgeblich die ostpolitischen Vorstellungen konservativer Führungskreise. 19

Ziehungen im Osten und an den Ural als „natürliche Grenze" eines auch rassenideologisch begründeten deutschen Weltmachtanspruches 2 7 . Solche Gedankenspiele waren sicherlich nicht gemeint, wenn Winnig im Reichskabinett noch einmal den Ruf nach „Entwicklungsfreiheit im Osten" erhob 28 , aber die OHL unterließ es tunlichst, ihre ostpolitischen Absichten gegenüber dem Rat der Volksbeauftragten zu konkretisieren. Die militärische Führungsspitze konnte sich darauf verlassen, daß die traditionell antibolschewistisch eingestellte sozialdemokratische Parteiführung 29 den Generalen in der Verwendung und im Einsatz des Ostheeres nahezu freie Hand ließ, solange jedenfalls dadurch nicht der Friedensprozeß blockiert wurde. Mit dem Scheitern der „Kreuzzugs"-Idee aber gerieten die Bestrebungen der Obersten Heeresleitung in einen immer deutlicher werdenden Gegensatz zu den Siegermächten. Mit wachsender Sorge beobachtete man in Berlin vor allem die französischen Bemühungen zur Stabilisierung des polnischen Staates und vermutete dahinter die Absicht, „die politische und wirtschaftliche Einkreisung Deutschlands weiter fortzusetzen" 3 0 . Die Gefahr, daß das „Tor im Osten" endgültig versperrt würde, machte nicht nur die weitgespannten machtpolitischen Ambitionen auf deutscher Seite zunichte, sondern aktualisierte zugleich das alte Einkreisungssyndrom des deutschen Generalstabs, der sich nun in zunehmendem Maße dem Gedanken zuwandte, Polen auf dem Weg über ein deutsch-russisches Bündnis in die Zange zu nehmen 3 1 . Dieser Gedanke wurde schließlich zur wichtigsten Säule der Ostpolitik der Weimarer Republik. Das Reich konnte kein Interesse daran haben, daß sich eine eng mit den Alliierten verbundene östliche Großmacht herausbildete, die den „Einkreisungsring" der Entente verstärken und Deutschland mit Reparationsforderungen belasten konnte. Außenminister Brockdorff-Rantzau sprach sich in einer im April 1919 verfaßten Denkschrift über „Ostpolitik" deshalb dafür aus, diejenigen bürgerlichen Gruppen in Rußland zu fördern, die an der Überwindung des Bolschewismus arbeiteten und dem deutschen Interesse

27 Alldeutsche Blätter vom 16. 2. 1919, zit. in: Predki, Verhältnis, S. 127 2 8 Ä u ß e r u n g Winnigs in der Kabinettsitzung vom 24. 4. 1919, in: Das Kabinett Scheidemann, Nr. 52b, S. 223. 29

Siehe hierzu den Überblick von Matthias, Die deutsche Sozialdemokratie, und Lösche, Bolschewismus. 30 Aufzeichnung einer Erklärung Groeners vor den Mitgliedern der Friedensdelegation am 15. 5. 1919, in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Nr. 32. Zum Hintergrund siehe auch Hovi, Cordon Sanitaire. 31 Denkschrift des Majors v. Stülpnagel über die Haltung des Deutschen Reiches auf der bevorstehenden Friedenskonferenz, vom 5. 4. 1919, in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Nr. 23. Stülpnagel wurde unter Seeckt Leiter der Abt. T 1 des Truppenamtes und war damit für die grundlegenden militärpolitischen Fragen zuständig. 20

an einem „neuen demokratischen Rußland, das uns politisch und wirtschaftlich nahesteht", entgegenkämen 32 . Dabei konnte man sich in Deutschland allerdings nicht dem Dilemma entziehen, zwischen großrussischen Vertretern, die offenbar mehr zu den Entente-Mächten tendierten, und den nationalistisch-separatistischen Elementen, die noch am ehesten als deutschfreundlich anzusehen waren, zu optieren. Mit der Räumung der deutschen Positionen in Rußland und den Randstaaten schwanden freilich die Möglichkeiten einer aktiven politischen Einflußnahme. Der Gedanke, das deutsche Gewicht im internationalen Kräftespiel durch eine Kontaktaufnahme mit den russischen Bolschewisten wieder zu stärken, fand in dem Maße Anklang, wie die Siegermächte erkennen ließen, daß sie am Ziel eines Siegfriedens unbedingt festhalten und selbst in Osteuropa Fuß fassen wollten. Erste Kontakte fanden bereits im Frühjahr 1919 statt, die aber keine Unterstützung offizieller deutscher Regierungsstellen gefunden hatten 3 3 . Diese Bemühungen aber waren der Entente nicht verborgen geblieben und verstärkten bei den Siegermächten die Furcht vor einem riesigen deutsch-russischen Block mit 300 Millionen Menschen, „die von deutschen Generälen, von deutschen Instruktoren zu einer roten Riesenarmee geschult wären, ausgerüstet mit deutschen Kanonen, mit deutschen Maschinengewehren, jeden Augenblick bereit, den Angriff auf Westeuropa zu erneuern" 3 4 . Völlig unbegründet war diese Furcht nicht, wie die ersten Reaktionen auf deutscher Seite nach der Vorlage der alliierten Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 und ihrer ultimativen Durchsetzung zeigten. Der Leiter der deutschen Außenpolitik, v. Brockdorff-Rantzau, w a r zwar grundsätzlich bereit, Deutschland nach Osten wie nach Westen offenzuhalten, hatte sich aber zuvor schon zu der Auffassung bekannt, „die ganz großzügige Politik für Deutschland wäre zweifellos die, mit Sowjetrußland zusammen gegen die Entente. Auch er denke an eine solche Politik, ja es sei die, die er am liebsten machen möchte." Wegen der Schwierigkeiten und Hemmungen sei er bisher davor zurückgeschreckt: „Wenn uns aber die Entente zur Verzweiflung treibe, wenn wir doch den Bolschewismus ins Land bekämen, dann werde er diesen Weg gehen, dann wolle er sich an die Spitze der Bewegung setzen und sie auswerten 3 5 ." 32

Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom April 1919. PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 3 und 4. Hierzu auch Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 46. 33 Seeckt, Hans v., Aus meinem Lehen 1918-1936. Hrsg. von Friedrich Rabenau, Leipzig 1940, S. 305 ff. Zur ablehnenden Haltung des A. A. siehe Niederschrift über eine Besprechung im A. A. betr. private Versuche der Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Rußland vom 11. 4. 1919, DSB 1919-1922, Nr. 34. 34 Memorandum des britischen Premierministers Lloyd George vom 25. 3. 1919, zit. in Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 44 f. 35 Gespräch mit Graf Kessler am 22. 2. 1919, ebd., S. 35. 21

Eine Gruppe von Offizieren um den Preußischen Kriegsminister, Oberst Walther Reinhardt, w a r in Übereinstimmung mit einigen konservativen Politikern und „ostelbischen Junkern" entschlossen, den Friedensvertrag abzulehnen und notfalls einen Aufstand im Osten des Reiches zu inszenieren, um durch die Gründung eines Oststaates zwischen Oder und Weichsel das Fundament zur „Erneuerung" Deutschlands nach dem Beispiel Preußens in der Zeit zwischen 1807 und 1813 zu errichten 36 . Die wirtschaftlichen Ressourcen hierfür sollten aus dem darniederliegenden und deshalb leicht zu kontrollierenden Rußland gezogen werden. Welche katastrophalen Folgen solche Verzweiflungsschritte, ob sie nun mit den Bolschewisten oder den Weißgardisten zusammen unternommen werden sollten, angesichts der bestehenden Machtverhältnisse haben mußten, w a r zumindest Groener offensichtlich klar. Zwar sah er in einer denkbaren militärischen Zusammenarbeit mit den Bolschewisten durchaus einige Vorteile, immerhin hatte er in den vergangenen zwei Jahren — seit der kaiserliche Generalstab Lenin nach Petrograd entsandt hatte — häufig in engem Kontakt zu ihnen gestanden; aber im Augenblick schien ihm eine militärische Lösung völlig aussichtslos zu sein. Er warb deshalb im Generalstab — schließlich erfolgreich — für eine Annahme des Friedensdiktates. Mit Blick auf die Situation vor dem Ersten Weltkrieg stellte er fest: „Wenn man um die Weltherrschaft kämpfen will, muß man dies von langer Hand her vorausschauend mit rücksichtsloser Konsequenz vorbereiten. Man darf nicht hin und her schaukeln und Friedenspolitik treiben, sondern man muß restlose Machtpolitik treiben. Dazu gehört aber, daß der Grund und Boden, auf dem man steht, im Innern wie nach außen fest und unerschütterlich bleibt 37 ." Die Durchsetzung einer realistischen Militärpolitik stieß auf vielfältige Widerstände und Probleme. Hinsichtlich Rußlands forderte sie die Bereitschaft, ein längerfristig angelegtes Konzept der Zusammenarbeit mit allen Kräften, also auch den Bolschewisten, zu entwickeln. Ein Teil des Offizierkorps allerdings weigerte sich, die Niederlage zu akzeptieren und sympathisierte offen mit den Bestrebungen der Freikorps, sich im Baltikum festzusetzen und von dort — mit Hilfe der konterrevolutionären Kräfte — den Brückenschlag nach Rußland zu versuchen. Diese Offiziere scheiterten schließlich im Kapp-Putsch vom März 1920. In den Fernzielen unterschied sich das von Groener repräsentierte Programm kaum von dem seiner Opponenten. Aus der Erkenntnis, daß Deutsch-

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Hierzu ausführlich Schulze, Der Oststaat-Plan. Vortrag des Ersten Generalquartiermeisters, Generalleutnant Groener, vor den Offizieren der Obersten Heeresleitung über die Lage, 19./20. 5. 1919, abgedr. in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Nr. 35. Im gleichen Sinne äußerte er sich auch bei einem weiteren Vortrag vor Generalstabsoffizieren im Juli 1919, siehe Nuss, Grundlagen, S. 463.

land als Industriestaat auf auswärtige Versorgungsquellen angewiesen blieb und diese nach den Erfahrungen des Weltkrieges besser in Osteuropa als in Übersee zu suchen waren, ergab sich die klare Forderung, die „Finger vom Osten zu lassen" und Frieden mit den Russen zu schließen. In der ersten Etappe des „Wiederaufstiegs" galt es, alle Kräfte für die Auseinandersetzung mit Frankreich zu sammeln, um danach den deutschen Machtbereich auch nach Süden und Osten zur Kontinentalherrschaft auszuweiten 3 8 . Eine Wiederbelebung der Zusammenarbeit mit den russischen Bolschewisten w a r seit März/April 1919 Gesprächsthema in militärischen Kreisen 39 gewesen und die Bereitschaft dazu von deutscher Seite durch die Friedensbedingungen erheblich gefördert worden. Erschwert wurde die Wende allerdings durch die großangelegte und im wesentlichen von der Großindustrie finanzierte Propagandakampagne gegen den Bolschewismus 40 . Sie verhärtete die ideologischen Frontstellungen und verbreitete negative Werturteile und Klischees über Rußland in der deutschen Bevölkerung, auf denen dann später die Nationalsozialisten aufbauen konnten 4 1 . „Kein bolschewistisches Rußland ist bündnisfähig oder kann Rußland aus dem tiefsten Elend herausführen", so lautete auch und gerade in der Wirtschaftspresse die vorherrschende Meinung 42 . Ebenso wie die Offiziere mußten auch die Unternehmer im Sommer 1919 umdenken lernen, hatte doch die deutsche Friedensdelegation nach der Analyse der alliierten Friedensbedingungen feststellen müssen: „Der Wiederaufbau des deutschen Außenhandels und die Wiederbelebung unserer Industrie ist damit auf unbestimmte Zeit gegenüber den Alliierten und Assoziierten Mächten differenziert und auf eine völlig unsichere Basis ge-

38 Entwurf eines politischen Programms der OHL vom 24. 6. 1919, BA-MA, Nachlaß v. Schleicher, N 42/12. Zur Bewertung dieser Quelle siehe auch Guth, Loyalitätskonflikt, S. 141 f. 39 Der damalige Hauptmann Eduard Wagner, im Zweiten Weltkrieg Generalquartiermeister, schrieb bereits am 3. 4. 1919: „Man hört und liest so viel von einem Bündnis, das mit den russischen Sowjets abgeschlossen sei oder werde": Der Generalquartiermeister, S. 25. 40 Als Beispiel siehe Lessing, Walter, Der Bolschewismus in Rußland u n d seine Wirtschaftspolitik, Berlin 1919 ( = Revolutions-Flugschriften des Generalsekretariats zum Studium des Bolschewismus, H. 1). 41

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Zu den Folgen dieser Kampagne siehe Nolte, Die faschistischen Bewegungen, S. 33 ff. Dabei konnte man auf ein breites Spektrum rassistischer und sozialdarwinistischer Ideologiesplitter zurückgreifen, deren antirussische Tendenz weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Hierzu Braatz, Antisemitismus; Döring, H , Deutsche Professoren; Wiegand, Zum deutschen Rußlandinteresse; Epstein, Komplex, sowie den Sammelband Rußland und Deutschland, mit den Beiträgen von Liszkowski, König und K. Meyer. Mohr, Paul, Bolschewistische Wandlungen?, in: Stahl und Eisen 39(1919), Nr. 22, S. 618 f. 23

stellt 43 ." Es schien kaum ein anderer Weg offenzustehen als die vielbeschworene Ostorientierung. Gehe auch noch der russische Markt verloren oder entstehe dort mit Hilfe westlichen Kapitals eine Konkurrenz für Deutschland, dann sei das Reich wohl ganz auf die Gnade der Siegermächte angewiesen 44 . Einige Industrielle, wie der AEG-Präsident Walther Rathenau, hatten sich deshalb schon seit April 1919 um Kontakte zu den bolschewistischen Machthabern bemüht 4 5 . In der Wirtschaftspresse glaubte man nun Zeichen zu erkennen, daß das Sowjetregime unter dem wachsenden Druck von innen und außen weitreichende Zugeständnisse an das Kleinbürgertum und das ausländische Kapital machen könne, die auf längere Sicht zur Überwindung des Bolschewismus führen müßten und „eine jahrzehntelange Herrschaft des ausländischen Kapitals in Rußland" zur Folge haben würden 4 0 . Warum sollte dies kein Weg für Deutschland sein, um durch eine wirtschaftliche Kontaktaufnahme den russischen Markt durchdringen und beherrschen und auf diese Weise weitergespannte ökonomische und politische Ziele verfolgen zu können? Es war dabei keineswegs an eine Aufwertung des bolschewistischen Regimes gedacht, das man ohnehin für unfähig hielt, einen größeren Warenaustausch zu organisieren. Gefördert werden sollten vor allem Kontakte auf unterer Ebene zwischen Kaufleuten und Genossenschaften, um trotz der wirtschaftlichen Misere in Rußland vorhandene Rohstoffe und Nahrungs43

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Denkschrift der deutschen Friedensdelegation zu den Friedensforderungen der Entente, vom 17. 6. 1919, in: Das Kabinett Scheidemann, Nr. 113, S. 472. Roellinghoff, Willy R., Die wirtschaftliche Neuorientierung in Rußland, in: Vossische Zeitung, 12. 3. 1919, 2. Beilage, S. 1. Wirtschaftsexperten beurteilten die Entwicklung allerdings weniger dramatisch und rechneten nicht mit einer rasch wachsenden russischen Konkurrenz: Siehe Berg, Georg, Die Eisenerzlagerstätten der ehemals russischen Gebiete [Groß-Rußland, Ukraine, Finnland, Sibirien, Polen), in: Stahl und Eisen 39(1919), Nr. 8, S. 186-196. Siehe Schreiben des Unterstaatssekretärs Toepffer an den Außenminister vom 3. 5. 1919 über eine Unterredung mit AEG-Generaldirektor Rathenau, PA-AA, Nachlaß Brockdorff-Rantzau, Az. 19. Rathenau drängte sich in den Vordergrund, da die AEG schon vor dem Weltkrieg massiv auf dem russischen Markt vertreten gewesen war. (Zum politischen Wirken Rathenaus jetzt auch Hekker, G., Walther Rathenau). Zum Einfluß der deutschen Großindustrie auf die weitere Entwicklung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen bis 1926: Pogge von Strandmann, Großindustrie, der für seine Arbeit die Archive einiger Konzerne auswerten und die aktive Rolle führender Industrieller an der Konzipierung und Durchsetzung der Rapallopolitik belegen konnte. Er vermag aber bei der Konzentration auf Geschäftsdetails nicht immer zu einer adäquaten Einordnung in größere historische Fragestellungen vorzudringen. Rußlands wirtschaftlicher Kampf, in: Hamburger Fremdenblatt Nr. 407, 12. 8. 1919, S. 1.

mittel zu mobilisieren, die eine zumindest vorübergehende Entlastung für die deutsche Wirtschaft bringen konnten. Zwar schien für Brockdorff-Rantzau „die Ausbeutung Rußlands solange ausgeschlossen, als die Sowjetregierung in Rußland besteht" 4 7 , doch stelle sich die Frage, ob Deutschland es sich nicht leisten könne, schon jetzt erste Schritte zu unternehmen. Solche Überlegungen erhielten seit Juni 1919 ein stärkeres Gewicht. Es waren nun nicht mehr allein Konzerne wie Siemens und AEG, die schon vor dem Kriege eine beherrschende Position auf dem russischen Markt eingenommen hatten und diese notfalls auch mit Hilfe der Bolschewisten zu verteidigen hofften. Auch in breiteren Kreisen der deutschen Wirtschaft registrierte man den immensen Warenhunger in Rußland, der Exportchancen vor allem für den Maschinenbau, die die Elektro- und Chemieindustrie zu bieten schien. Aus dieser Sicht war es nicht angebracht, erst den Sturz des Bolschewismus abwarten zu wollen und sich damit derzeitige und künftige Geschäftschancen unnötig zu verderben 4 8 . Als schließlich der Reichswirtschaftsminister auf Druck privatwirtschaftlicher Kreise, die der Krupp-Konzern anführte, aktiv wurde und auf die in Rußland vorhandenen großen Rohstoffmengen und vermutlichen Absatzchancen verwies, während doch die bisherige abwartende Haltung gegenüber Moskau keinerlei Entgegenkommen der Westmächte bewirkt hatte, gab auch Brockdorff-Rantzau, einer der entschiedensten Vertreter des bisherigen antibolschewistischen Kurses, seinen Widerstand auf und befürwortete nun zusammen mit dem Reichskabinett die Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen mit Sowjetrußland, „so bald wie möglich und in so weitem Umfange wie irgend erreichbar", weil „das weite russische Gebiet für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft" eine „ganz hervorragende Bedeutung" habe 4 9 . Bereits wenige Wochen später lag ein konkretes Angebot Moskaus vor, das den Austausch von Rohstoffen im Wert von 300 Millionen RM gegen landwirtschaftliche Maschinen, Medikamente und Lokomotiven offerierte 50 . Um ihren dringenden Wünschen Nachdruck zu verleihen, verwiesen die Russen

« Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom April 1919 (wie Anm. 32). Er stand damit in Übereinstimmung mit weiten Kreisen des Bürgertums, die, geprägt von einer massiven antibolschewistischen Propaganda, Rußland „von den Schauern eines bluttriefenden Bolschewismus barbarisch-tatarischer Art befallen" sahen, die nicht nur Ost- sondern auch Mitteleuropa bedrohten, in: Politische und wirtschaftliche Zukunft Rußlands, in: Der Tag, Berlin, 6. 4. 1919. 48 Macht, O., Die Wiederanknüpfung der Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland, in: Vossische Zeitung, 10. 7. 1919. 49 Briefwechsel zwischen Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell und Außenminister Eduard David vom 4. und 12. 6. 1919, in: DSB 1919-1922, Nr. 52 u. 54. 50 Schreiben des Reichswirtschaftsministers an den Reichsministerpräsidenten vom 2. 8. 1919, in: Das Kabinett Bauer, Nr. 38. 25

auf die ihnen zustehende Kriegsentschädigung, die wohl nur mit der Abtretung Ostpreußens kompensierbar sei. Sollte sich hingegen die deutsche Seite zu einem Entgegenkommen bereitfinden, könne man sich sogar über die Frage der Randstaaten einigen. Zwar brachten die auf zahlreichen Ebenen durchgeführten deutsch-sowjetrussischen Kontakte, von einigen kleineren Geschäften abgesehen, zunächst keine greifbaren Ergebnisse 51 , die für die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik von entscheidendem Gewicht hätten sein können, aber eine Aufforderung von alliierter Seite, sich der Blockade gegen Sowjetrußland anzuschließen, wurde von der Reichsregierung strikt abgelehnt. Die Debatte in der Nationalversammlung zu diesem Thema offenbarte schließlich die mangelnde Bereitschaft einer großen Mehrheit, in der Ostpolitik riskante Abenteuer einzugehen 52 . Die Forderung der USPD nach sofortiger Wiederaufnahme offizieller Beziehungen zu Moskau fand nur wenig Resonanz. Der Sprecher der SPD-Fraktion erklärte sogar, angesichts der unsicheren politischen Zustände in Rußland und des unübersehbaren wirtschaftlichen Ruins könne man sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Vorteil von einer Annäherung an Sowjetrußland versprechen. Dies schloß aber keineswegs aus, die potentiellen ökonomischen Möglichkeiten in Rußland einer nüchternen wirtschaftswissenschaftlichen Analyse zu unterziehen, denn auf diese Weise konnte das Fundament gelegt werden, um unter günstigeren Umständen die gewünschte deutsch-russische Verbindung zu schaffen 53 . Insgesamt hatte die bei den traditionellen Führungseliten vorherrschende und auch vom Rat der Volksbeauftragten weitgehend übernommene Hoffnung, die Folgen der Niederlage und eine über den Vorkriegs status hinausgehende Neuverteilung der europäischen und weltpolitischen Machtverhältnisse vermeiden zu können, nach dem Waffenstillstand zu einer hektischen und oftmals spekulativen Suche nach einer der Entente-Politik angemessenen Gegen-Strategie geführt. Sowohl aktuelle als auch langfristige wirtschaftliche Interessen, mit denen vielfach weitreichende machtpolitische Kombinationen verbunden worden waren, hatten die Besinnung auf eine

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Im einzelnen Schüddekopf, Karl Radek; Goldbach., Karl Radek, sowie übergreifend Klein, F., Die diplomatischen Beziehungen; Rosenfeld, Sowjetrußland; Kochan, Rußland, und Rauch, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen. 52 Wagner, G., Deutschland, S. 41. 53 Hier betätigte sich das 1918 an der Universität Breslau gegründete OsteuropaInstitut. Als erste Studie veröffentlicht wurde: Russisches Wirtschaftsleben seit der Herrschaft der Bolschewiki, nach russischen Zeitungen mit einer Einleitung hrsg. von Wlad. W. Kaplun-Kogan, Leipzig 1919 (= Osteuropa-Institut in Breslau. Quellen und Studien, 1. Abt.: Recht und Wirtschaft, H. 1). Wegen der starken Nachfrage erlebte die Schrift noch im selben Jahr zwei Auflagen. 26

modifizierte Fortsetzung der Brest-Litovsk-Politik gefördert und das Gewicht Rußlands für die augenblickliche und zukünftige deutsche Wirtschafts- und Außenpolitik sichtbar werden lassen. Die Metamorphose von einer militärisch durchgesetzten Einflußnahme auf Rußland, wie sie noch im letzten Kriegsjahr einen Höhepunkt erreicht hatte, in eine der deutschen Machtlosigkeit nach dem Waffenstillstand angemessene Strategie vorrangig wirtschaftspolitischer Kombinationen befand sich 1919 erst in ihrem Anfangsstadium, parallel zu der Entschärfung des militärischen Instruments; und wenn es auch zu keinem entsprechenden Aufbau einer deutsch-russischen Wirtschaftsverbindung gekommen war, so sind die geistig-politischen Grundlagen hierfür doch bereits sichtbar geworden.

2. Ansätze zu einem ökonomischen Revisionismus Die Notwendigkeit, die innere Lage des Reiches so rasch wie möglich zu stabilisieren und alle Kräfte für eine Revision des von allen Parteien in Deutschland abgelehnten Versailler Vertrages zu mobilisieren, hatte der Wirtschaftspolitik eine herausragende Stellung im Rahmen der Gesamtpolitik verschafft. Wollte man auf den Weg „wirtschaftsfriedlicher Eroberungen" zurückkehren, auf dem das Deutsche Reich vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges so erfolgreich gewesen war 54 , dann hing alles von den Möglichkeiten ab, die der Versailler Vertrag und die Haltung der Siegermächte gegenüber einem wirtschaftlich wieder aufstrebenden Deutschland offenließen. Die ökonomischen Bestimmungen des am 1. Januar 1920 in Kraft getretenen Friedensvertrages boten indes keinen Anlaß zu Optimismus 5 5 .

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Der Großindustrielle Stinnes, in den zwanziger Jahren einflußreicher Förderer der Stresemann-Partei, beschrieb diesen Weg kurz vor Ausbruch des Weltkrieges in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes so: „Die Franzosen sind hinter uns zurückgeblieben, die Engländer sind zu wenig arbeitslustig. Sonst gibt es in Europa niemanden, der uns den Rang streitig machen könnte. Also noch drei oder vier Jahre Frieden, und ich, ich sichere die deutsche Vorherrschaft in Europa im Stillen." Class, Heinrich, Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932, S. 217. Zu Stinnes siehe jetzt die Biographie von Wulf, Hugo Stinnes. Siehe zu diesem Komplex u. a. Zimmermann, Alfred, Deutschlands handelspolitische Lage nach dem Versailler Vertrage, Berlin 1921 (= Volkswirtschaftliche Zeitfragen, hrsg. von der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, H. 317, und den Sammelband mit Urteilen führender deutscher Wirtschaftler: Der Friedensvertrag und Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft. Beiträge von Moritz Julius Bonn, Hans Bredow u. a., Berlin 1921. 27

Paris und London trachteten unverhohlen danach, Deutschland die eigenen Kriegs- und Folgekosten aufzubürden und den Wiederaufbau einer beherrschenden ökonomischen Position des Reiches auf dem Kontinent und einer führenden Rolle auf dem Weltmarkt zu verhindern. Die Auslieferung der deutschen Handelsflotte, die noch unabsehbare Belastung durch Reparationen, die zwangsweise Abgabe von Rohstoffen und Industrieprodukten, die zolltechnischen Diskriminierungen gegenüber den abgetrennten ehemaligen Reichsteilen, vor allem aber die bis 1925 befristete einseitige Meistbegünstigung, die das Reich zwang, mögliche bilaterale Handelskonzessionen einseitig allen anderen Mächten ebenfalls einzuräumen — was eine konstruktive deutsche Handelspolitik auf Jahre hinaus hemmen mußte —, konnten die deutsche Wirtschaft derartig schwächen, daß ihr ein Fußfassen auf auswärtigen Märkten fast unmöglich gemacht wurde. Vor allem Frankreich bemühte sich, seine errungene politische und militärische Hegemonie auf dem Kontinent zur Förderung seiner gegenüber Deutschland unterlegenen Industrie nutzbar zu machen und die deutsche Absicht, mit Hilfe eines wirtschaftlichen Rekonstruktionsprozesses die im Versailler Vertrag festgeschriebene Neuregelung der europäischen Machtverhältnisse zu revidieren, zu durchkreuzen 38 . Diesem Ziel dienten auch die auf Rußland bezogenen Artikel des Vertrages, die insbesondere einen Reparationsanspruch Moskaus verankerten. Georges Clemenceau begründete dies ausdrücklich mit dem Willen, verhindern zu wollen, daß Deutschland Rußland zu seiner Kolonie mache und dadurch wieder zur furchtbarsten Macht Europas werden könne 5 7 . Auf die deutsche Wirtschaftspolitik wirkte es sich darüber hinaus erschwerend aus, daß das Reich im Verlaufe des Weltkrieges seine führende Stellung auf dem Weltmarkt weitgehend eingebüßt hatte 5 8 . In allen Teilen der Welt hatte sich ein beschleunigter Industrialisierungsprozeß vollzogen, der jetzt im Zeichen der Nachkriegsrezession durch protektionistische Maßnahmen geschützt wurde. Die Kapitalströme verlagerten sich in die USA, die zum Weltfinanzier geworden waren, der sich aber den deutschen Wünschen verweigerte. Die traditionell exportorientierten deutschen Industriezweige

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Eine hervorragende Analyse der französischen Strategie gegenüber dem zwar militärisch besiegten, ökonomisch aber noch immer überlegenen Reich liefert Bariety, Les relations. Zur Rolle der Reparationsfrage für die Außenpolitik der Weimarer Republik siehe auch den Überblick von Krüger, Deutschland, die Reparationen und das internationale System, der allerdings von einem Streben nach Interessenausgleich auf deutscher Seite ausgeht und weitergehendere machtpolitische Intentionen in Abrede stellt. Zit. bei Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 50 f. Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte der zwanziger Jahre siehe u. a. Petzina, Die deutsche Wirtschaft, S. 75 ff.; Fischer, W., Die Weimarer Republik, und den Überblick von Aldcroft, Die zwanziger Jahre.

(Chemie-Elektro-Maschinenbau] waren durch Enteignungen ihrer Auslandspatente und auswärtigen Vermögens- und Kapitalanlagen stark geschwächt. Wie sollte unter diesen Umständen eine Nachkriegskonjunktur der ohnehin stark zerrütteten deutschen Wirtschaft in Bewegung gebracht werden, konnten in ausreichendem Maße Investitionsgüter für Ersatz- und Erweiterungszwecke sowie vor allem Exportgüter produziert und abgesetzt werden, durch deren Verkauf allein die dringend benötigten Devisen für Reparationszahlungen und lebenswichtige Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte zu erwirtschaften waren? Der Reichsfinanzminister hatte errechnet, daß Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren allein für 76 Milliarden RM Rohstoffe importieren müsse, um seine wirtschaftliche Existenz zu sichern 58 . Dafür sei eine Starthilfe von mindestens 25 bis 30 Milliarden Goldmark unerläßlich. Doch waren diese Mittel weder im Reich vorhanden, noch fand sich zunächst ein entsprechender ausländischer Kapitalgeber. Schon bei Vorlage der Friedensbedingungen hatte daher die exportstarke sächsische Industrie beklagt, daß alle „Hoffnungen, in absehbarer Zeit wieder als gleichberechtigter Faktor auf dem Weltmarkte zu erscheinen, mit diesem Friedensvertrage völlig vernichtet" seien 60 . Betrachtete man die binnenwirtschaftlichen Faktoren, so hatte Deutschland 1 3 % seiner Fläche, 1 0 % seiner Bevölkerung, 2 6 % seiner Steinkohlenproduktion, 2 6 % seiner Stahlerzeugung, 7 5 % seiner Eisenerzlager, 8 0 % der Zinklager, 1 6 % seiner Weizen- und Roggenerzeugung und 1 8 % seiner Kartoffelanbaugebiete verloren. Die deutsche Rüstungsindustrie, ebenfalls ein traditioneller Exportfaktor, wurde, überwacht von den Alliierten, weitgehend demontiert. Der Binnenmarkt als mögliches Regenerationspotential lag gegenüber den Eingriffen der Siegermächte fast schutzlos offen. So blieb letztlich nur der Export, der mit Hilfe einer schleichenden Geldentwertung gefördert wurde. Die Inflation erleichterte die Umstellung der Produktionstätigkeit und sicherte Wachstum und Vollbeschäftigung in den ersten Nachkriegsjahren, als zu den inneren Unruhen und den Demobilmachungsproblemen noch depressive Einflüsse der Weltkonjunktur kamen 01 . Während der Weltwirtschaftskrise 1920/21 spielte die inflationsbelebte deutsche Volkswirtschaft zeitweilig sogar die Rolle einer „Lokomotive", insbesondere durch den stark ansteigenden Rohstoff- und Nahrungsmittelimport aus den USA. Die deutsche Nachfrage wirkte sich auf die amerikanische Gesamtwirtschaft prozentual nicht geringer aus als die Volumina moderner Konjunkturprogramme in Relation zum Sozialprodukt. Durch die Inflation ergab sich noch ein anderer Effekt: die Entwertung der Auslandsguthaben bei deutschen Banken nach

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Ausführungen des Reichsfinanzministers Wissell vor dem Reichskabinett über die finanzielle Leistungsfähigkeit des Reiches, 26. 4. 1919, in: Das Kabinett Scheidemann, Nr. 54b, S. 242. Sächsische Industrie 15(1919), Nr. 18, S. 373. Zum folgenden Holtfrerich, Die konjunkturanregenden Wirkungen. 29

dem Ersten Weltkrieg brachte Deutschland einen Gewinn, der — unter Berücksichtigung der Preissteigerungen — höher w a r als der Betrag, den Westdeutschland in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an Marshallplanhilfe erhielt 62 . Die Inflation diente also in besonderem Maße den außen- und wirtschaftspolitischen Interessen der Weimarer Republik, da Importe und Reparationen für eine begrenzte Zeit aus ausländischen Ressourcen finanziert und einige Weltmarktpositionen wiedergewonnen werden konnten, die w ä h r e n d des Krieges verlorengegangen waren. Der revisionspolitische Nutzen jedoch blieb gering. Hoffnungen darauf, daß durch die Dumping-Exportoffensive nach England und in die USA die dort herrschende Arbeitslosigkeit verstärkt und so die Bereitschaft dieser Länder zu einem Entgegenkommen, insbesondere in der Reparationsfrage, gefördert werden könne, scheiterten rasch an den Gegenmaßnahmen der Westmächte. Dieser erste Vorstoß eines Revisionismus mit ökonomischen Mitteln schlug letztlich auf Deutschland zurück, denn er beschleunigte den Marksturz und führte letztlich zu einer weiteren Auszehrung der deutschen Wirtschaftskraft 63 . Auch der Plan, das verbliebene Anlagevermögen im Ausland für eine größere Goldanleihe zu verpfänden und so durch die Bindung ausländischer Kapitalinteressen Deutschlands internationale Stellung zu stärken, mißlang 64 . Solange die USA, aus wirtschaftlicher Sicht der eigentliche Kriegsgewinner, zögerten, in die europäische Nachkriegspolitik einzugreifen und die von Berlin erhoffte gemeinsame Front mit den Angloamerikanern gegen Frankreich ein Wunschtraum blieb, rückte Rußland zwangsläufig immer wieder in den Vordergrund des Interesses. Aus deutscher Sicht boten sich im wesentlichen drei geo-strategische Leitlinien für eine Revisionspolitik mit ökonomischen Mitteln an 65 : erstens die Anlehnung an die USA, zweitens die Durchdringung der neutralen Märkte, z. B. des wegen seines Rohstoffreichtums und seiner Mittlerfunktion gegenüber Südamerika geschätzten Spaniens 66 , und drittens die Erringung einer marktbeherrschenden Stellung in Ost-Mittel-Europa. Selbst in Kreisen des liberalen Bürgertums, die eher für einen Anschluß an England und die USA plädierten, setzte sich Anfang der zwanziger Jahre immer stärker die Überzeugung durch, daß unter den gegebenen Umständen die Ostorientierung den einzig offenstehenden Ausweg zu bieten schien. Carl Melchior, einflußreicher Bankenvertreter und Mitglied der Deutschen Friedens-

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Ebd., S. 293. Besprechung mit Vertretern der Industrie und der Gewerkschaften, 10. 11. 1921, in: Das Kabinett Wirth I, Nr. 133. 64 Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften, 11. 1. 1921, ebd. Nr. 137. 05 Eine Erörterung dieser Linien findet sich in der damals von der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft herausgegebenen Broschüre von A. Zimmermann, Deutschlands handelspolitische Lage (wie Anm. 55). 6 6 Siehe hierzu Volkmann, Politik. 63

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delegation, versuchte ebenso wie andere, beide Gedanken miteinander zu verbinden, indem er eine Zusammenarbeit mit westlichen Kapitalgebern in Rußland vorschlug 67 . Diese Kooperationshoffnungen stießen allerdings in London und Washington auf wenig Gegenliebe. Zu Beginn des Jahres 1920 verstärkte sich in Deutschland die Einsicht, daß in der Ostpolitik die Zeit des Abwartens zu Ende ging. Die britisch-sowjetrussischen Handelsgespräche in Kopenhagen 68 , die schließlich den Abschluß eines Handelsvertrages brachten, signalisierten die Bereitschaft der EntenteMächte, ihre Blockade und Intervention abzubrechen und von der militärischen Einflußnahme auf den Gärungsprozeß in Rußland zu politisch-ökonomischen Instrumenten zu wechseln. Aus deutscher Sicht war zu befürchten, daß bei einem eventuellen Vorstoß der Westmächte auf den russischen Markt die deutschen Wirtschaftsinteressen und die mit ihnen verbundenen politischen Einwirkungschancen ins Hintertreffen geraten könnten. Eine mögliche Annäherung Sowjetrußlands an das Versailler System barg darüber hinaus die Gefahr zusätzlicher schwerer Reparationslasten für das Reich 69 . Wie sich bald erweisen sollte, waren solche Befürchtungen überflüssig, weil die Gegensätze zwischen dem Sowjetregime und den Siegermächten fast unüberwindlich waren. In Berlin jedenfalls sah man keinen Grund mehr, sich dem Werben Moskaus etwa aus Rücksicht auf die Westmächte weiter zu verschließen. In dieser Situation wurden durch den Ausbruch des sowjetrussisch-polnischen Krieges 70 und den Vormarsch der Roten Armee gegen Warschau im Sommer 1920 neue Hoffnungen und Erwartungen vor allem in militärischen und wirtschaftlichen Führungskreisen geweckt. Plötzlich glaubte man, Anzeichen für eine Stabilisierung der bolschewistischen Herrschaft feststellen zu können. Die Eingliederung ehemaliger zaristischer Offiziere in die Sowjetarmee und die Belebung nationaler Ideen wurden als Zeichen dafür gewertet, daß sich in Rußland eine allmähliche Abkehr vom radikalen „Kriegskommunismus" vollzog 71 . Unter diesen Umständen hielt man in der Reichswehrspitze selbst eine direkte militärische Zusammenarbeit mit Mos-

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Vortrag „Zur Auswärtigen Politik" von Dr. Carl Melchior bei der DDP in Hamburg am 20. 2. 1920 [Druck], mit handschriftlichen Randbemerkungen Seeckts versehenes Exemplar: BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/93. Siehe weiter bei Garamvölgyi, Aus den Anfängen; Gaworek, From Blockade to trade; Šiškin, Sovetskoe gosudarstvo. Wagner, G., Deutschland, S. 43 f., und Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 106 ff. Zu diesem Komplex siehe insgesamt Wagner, G., Deutschland; Shewchuk, Russo-Polish War, und Kleßmann, Der polnisch-sowjetische Krieg. Siehe Denkschrift aus dem Stabe des Reichswehrministers Gustav Noske vom 24. 1. 1920 über die politische Lage, in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Nr. 161. Siehe auch Bugai, Rolle. 31

kau für möglich. Sollte es z. B. der Roten Armee gelingen, Polen zu zertrümmern, würden sich für die deutschen Revisionsansprüche unerwartet rasch günstige Voraussetzungen ergeben: „Denn die Entente ist sich darüber völlig klar, daß nur ein von allen Seiten durch die Randstaaten, im Westen durch sie selbst, eingeklammertes deutsches Reich unfähig ist, sich gegen den Vertrag von Versailles zu wehren. Eine unmittelbare Berührung zwischen Deutschland und Rußland bietet beiden Ländern neue Entwicklungsmöglichkeiten, von denen das deutsche Reich zweifellos den größeren Vorteil und größeren Nutzen ziehen muß, als Hauptziel: Änderung des Versailler Vertrages 72 ." Regten sich in Teilen der Reichswehr wieder „nationalbolschewistische Ideen", die in die Vorstellung eines deutsch-russischen Militärbündnisses mündeten 7 3 , so wurden andererseits aber auch zugleich wieder ideologisch und sicherheitspolitisch begründete Zweifel laut, weil man im Falle eines bolschewistischen Erfolges gegen Polen um die Stabilität des eigenen Herrschaftssystems bangen mußte. Extrem nationalistische Kreise um Erich Ludendorff und den Industriellen Arnold Rechberg, denen zu diesem Zeitpunkt auch Gustav Stresemann nahestand, erneuerten sogar die antibolschewistischcn Kreuzzugspläne 74 . Andere militärische Kreise hegten keinen Zweifel daran, daß der Bolschewismus schon in kurzer Zeit am Ende sein werde und jegliche Verbindungsaufnahme mit Moskau deshalb taktisch unklug sei 75 . Da sich die nationalistischen Kräfte in der Ukraine als nicht lebensfähig erwiesen hatten, vertraute man in dieser Hinsicht wieder mehr auf das großrussische Bürgertum, „um alte, von der geographisch-politischen Lage Deutschlands gebieterisch geforderte Beziehungen zum Osten aufzunehmen und sich für eine starke Politik gegen ihre westlichen Bedränger" zu rüsten 7 6 .

72 Denkschrift v o m 24. 1. 1920 (wie A n m . 71), S. 322. 3 Bericht des Landeshauptmanns der Einwohnerwehren Bayerns, Escherich an den Reichskanzler vom 27. 7. 1920, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 35, S. 87. 74 Höhne, Zur Haltung. Zur Diskussion in Rechtskreisen siehe insbesondere den Bericht des Staatssekretärs Albert an den Reichskanzler vom 7. 8. 1920, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 46. Zum sowjetischen Urteil vgl. Farbmann, U istokov. 75 Koch, Friedrich, Rußlands Zusammenbruch und augenblickliche politische Gestaltung, in: Wissen und Wehr 1(1920), S. 69-88. 76 Heinrich, Friedrich, Waffenstillstand und Frieden, Rückblicke und Ausblicke, in: Wissen und Wehr 1(1920), H. 3, S. 235-257, hier S. 242. In anderen Presseberichten wurde immer wieder die Hoffnung belebt, daß die konterrevolutionären Kräfte in Rußland ihre Verbindungen zur Entente kappen und Anschluß an Deutschland suchen könnten; siehe z. B.: Wer wird der Verbündete des zukünftigen Rußlands sein? Von einem Offizier im Stabe der Armee Wrangel, in: Deutsche Tageszeitung 27 (1920), Nr. 475, S. 1 f. 7

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Es fehlte auch nicht an weitergehenden Überlegungen. Der inoffizielle Vertreter der Reichswehr in Moskau, Oskar Ritter v. Niedermayer, schlug ein getarntes deutsch-sowjetisches Vorgehen in Persien und Mesopotamien vor 77 . Durch Einsatz der Kaukasus-Deutschen sollten nach einem großen einheitlichen Plan örtliche Aufstände unterstützt und Diversionsunternehmungen durchgeführt werden, um England einen „empfindlichen Schlag beizubringen. [. . .] Das letzte Ziel muß immer die Vertreibung Englands aus Indien sein 78 ." Angesichts dieser Meinungsunterschiede und ins Utopische ausufernder Spekulationen wies der Chef der Heeresleitung, General Hans v. Seeckt, immer wieder auf die langfristige Perspektive des Ostproblems hin. Seeckt, der 1915 als hoher Stabsoffizier einen umfassenden Kriegszielplan aufgestellt hatte, der die Schaffung eines Gürtels deutscher Satellitenstaaten vom Atlantischen Ozean bis nach Persien vorsah 79 , erklärte die „zukünftige politische und wirtschaftliche Einigung mit Groß-Rußland als unverrückbares Ziel unserer Politik" 80 . Zugleich aber klagte er darüber, daß „über unsere im Osten einzuschlagende Politik [...] feste Richtlinien der Regierung nicht erkennbar oder vorhanden" sind 81 ; u n d weil er die drohende Vernichtung des polnischen Staates begrüßte, setzte er sich — erfolgreich — für eine Neutralitätserklärung der Reichsregierung ein 82 . Zugleich warnte er in diesem Zusammenhang in einem Rundschreiben an die Kommandeure des Reichsheeres vor Spekulationen über ein deutsch-sowjetrussisches Waffenbündnis gegen die Entente 83 . Auf diese Weise sei, schon wegen des unzureichenden Rüstungspotentials Sowjetrußlands, eine wirksame militärische Kräftigung Deutschlands nicht zu erreichen. Dagegen liefere man das Reich der sicheren Gefahr einer „Bolschewisierung" aus. Seeckt, der die Haltung der Reichswehrführung in den zwanziger Jahren maßgeblich beeinflußte und dadurch entscheidend auf die Ostpolitik der Weimarer Republik einwirkte, machte hier gegenüber den Kommandeuren

77 Denkschrift Oskar Ritter v. Niedermayers über die Lage in Afghanistan, Turkestan und Persien, um 1920, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/204. 78 Ebd.

79 Craig, Die preußisch-deutsche Armee, S. 342. so Brief Seeckts vom 31. 1. 1920, Aus meinem Leben (wie Anm. 33), S. 252. si Zit. in Wagner, G., Deutschland, S. 45. 82 Der Streit über die erfolgversprechendste Taktik gegenüber dem Sowjetregime ging noch ein halbes Jahr später quer durch das Reichskabinett, nachdem man von der Drohung der Russen erfahren hatte, notfalls einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland herbeizuführen; siehe Kabinettssitzung vom 5. 7. 1920, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 13, und Bericht über die Tätigkeit eines russischen Agenten in Brandenburg vom 4. 6. 1920, in: Das Kabinett Müller I, Nr. 128. Die Neutralitätserklärung wurde in der Ministerratssitzung am 20. 7. 1920 beschlossen; siehe Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 29. 83 Schreiben Seeckts vom 31. 7. 1920, in: Die Anfänge der Ära Seeckt, Nr. 117. 33

— wie auch in mehreren Denkschriften für die politische Führung — den Vorrang eines längerfristigen Kalküls deutlich. Einer Strategie wirtschaftspolitischer Einflußnahme in Rußland fiel darin eine Schlüsselrolle für den deutschen „Wiederaufstieg" zu. Nach der inneren Festigung des Reiches, so führte Seeckt aus, müsse man mit Rußland „in einen freundschaftlichen wirtschaftlichen Austausch treten [und] ihm bei seinem inneren Wiederaufbau helfen" 84 . Hier liege „die einzige Zukunftshoffnung" Deutschlands, „die ihm nach zwei Kriegen bleibt" 85 . Rußland könne, „sobald seine zerrüttete Wirtschaft wiederhergestellt" sei, „Lebensmittel und Rohstoffe in Fülle hervorbringen". Rußland brauche Deutschland als „Lieferanten von Intelligenz und Organisation". Ebenso wie die revisions- und machtpolitischen Zielsetzungen der OstOption von Seeckt nur angedeutet wurden, blieben auch die letzten Ziele gegenüber Rußland verschleiert. Klar w a r allerdings, daß es nicht um die Erhaltung des Status quo ging, weder im europäischen Kräftespiel noch im Sinne einer Förderung des bolschewistischen Systems. Nicht nur in militärischen Kreisen bestand die Gewißheit, daß die angestrebte Kooperation mit dem Sowjetregime nur vorübergehender Natur und lediglich Mittel dafür sein konnte, die konterrevolutionären Kräfte innerhalb des Sowjetstaates zu stärken und die Wiederherstellung eines bürgerlichen Regimes zu fördern. Die Liquidation des Bolschewismus als einer Gefahr für die „europäische Kultur", so hieß es in der Militärpresse, dürfe man in der deutschen Ostpolitik nicht aus den Augen verlieren 80 . Der Weg über die wirtschaftliche Einflußnahme in Rußland schien dazu die größten Erfolgsaussichten zu bieten. Das Reichskabinett sah in der Anknüpfung von Wirtschaftsbeziehungen zu Sowjetrußland außerdem eine Möglichkeit, offizielle politische Beziehungen vorerst zu umgehen, die wegen der absehbaren außenpolitischen Verwicklungen, insbesondere bei den sdiwierigen Reparationsverhandlungen mit den Siegermächten, als „ungeheuer gefährlich" eingestuft wurden 8 7 . Die Regierung entsprach damit zugleich auch dem zunehmenden Druck von Handels- und Industriekreisen, die ebenso wie die Heeresleitung auf eine stärkere Annäherung an Sowjetrußland drängten. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang AEG-Präsident Walther Rathenau 8 8 . In s* Ebd. 85 Denkschrift Seeckt über die russische Frage vom 26. 7. 1920, in: Ursachen und Folgen, Bd 7, Nr. 13960, S. 561. 80 Heinrich, Friedrich, Waffenstillstand und Frieden, Rückblicke und Ausblicke, in: Wissen und Wehr 1(1920), H. 3, S. 235-257, hier S. 236. 87 Kabinettssitzung vom 13. 2. 1920, in: Das Kabinett Bauer, Nr. 169. 88 Zu Rathenaus Rolle in der deutschen Politik siehe insgesamt jetzt Hecker, G., Walther Rathenau, sowie den Essay von Pogge von Standmann, Rathenau. Die Haltung Rathenaus zum Rußlandproblem erläutert zutreffend Himmer, Rathenau. 34

seiner Eingabe an den Reichspräsidenten vom Februar 1920, mit der er sich für die Wiederaufnahme offizieller Beziehungen zu Moskau einsetzte, stellte er nicht die Frage eines rein ökonomischen Nutzens in den Vordergrund, sondern das grundlegende Problem deutscher Revisionspolitik, das „nach einer Entscheidung drängt und durch deren Lösung die politische und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands bestimmt" werde 8 9 . Die von ihm repräsentierten Industriekreise seien der Auffassung, „daß ein politisches und wirtschaftliches Zusammenwirken mit unseren östlichen Nachbarn das Ziel der deutschen Politik sein sollte; sie wissen, daß dieses Ziel weniger umstritten ist als die Möglichkeit, es baldigst zu erreichen". Die bisher abwartende Haltung der Reichsregierung wurde als unbegründet und leichtsinnig eingestuft. Nur durch eine sofortige entschlossene Initiative ließe sich jetzt noch die Hinwendung der östlichen Staaten zur Entente verhindern. Demgegenüber hätten alle Bedenken ideologischer, innenpolitischer und diplomatischer Art zurückzustehen. An einen raschen Zusammenbruch des bolschewistischen Systems sei nun nicht mehr zu denken. Wegen der künftigen Entwicklungsmöglichkeiten wurde deshalb die Aufnahme einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Moskau befürwortet. In Gleichklang zu den Überlegungen Seeckts stellten sich die Industriellen auf den Standpunkt, daß sich Rußland bald von seinem Niedergang erholen könne und dazu deutscher Techniker und Fachleute bedürfe: „Wenn deutsche landwirtschaftliche Sachverständige die russische Landwirtschaft wieder aufbauen und intensiver Betriebsweise entgegenführen, wenn deutsche Ingenieure das russische Eisenbahnwesen in Ordnung bringen und deutsche Techniker ihre Kraft dem Aufbau der russischen Industrie und der Bergwerke widmen, so ist das die beste Methode der Anbahnung zukünftigen Warenaustausches 9 0 ," schrieb Rathen.au. Es galt, so lautete die Schlußfolgerung, durch die „Wiedererweckung des deutschen Einflusses in Rußland [...] ein tragfähiges Gerüst deutscher Außenpolitik zu schaffen". Entweder Deutschland werde zur „Kolonie der europäischen Ententestaaten, deren Ausbeutungsobjekt [...] oder es gelingt ihm, die im Osten Europas vorhandenen politischen Möglichkeiten zu verwirklichen und ein bescheidenes Maß von Selbständigkeit und Freiheit zu erringen". Als Ergebnis ist festzuhalten, was die „Sozialistischen Monatshefte" Anfang März 1920 sarkastisch so umschrieben: „Wir haben in Deutschland plötzlich eine nahezu geschlossene Einheitsfront der Ostorien-

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Hier und im folgenden: Schreiben Rathenaus an Reichspräsident Ebert vom 18. 2. 1920, in: DSB 1919-1922, Nr. 84. Ebd. S. 189. In diesem Zusammenhang berief man sich in Deutschland gern auf den englischen Wirtschaftstheoretiker Keynes, der den gleichen Gedanken vertrat, siehe John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München und Leipzig 1920, S. 240. 35

tierung [...] von den Militärs (die mit Hilfe eines Bündnisses mit den Bolschewisten nach Tschitscherin'scher Verheißung einen Revanchekrieg am Rhein führen wollen] über das deutsche Bürgertum (das in Rußland ein weites Exploitationsfeld für geschäftliche Tüchtigkeit sieht) bis zu den Kommunisten (die in verhängnisvoller, aber begreiflicher Verkennung des Charakters der bolschewistischen Herrschaft in den Bolschewisten die Avantgarde des menschheitserlösenden Kommunismus sehen) 91 ." Seit der Jahresmitte 1920 erlebten die Aktivitäten von Regierung, Reichswehr, Industrie und Presse einen Höhepunkt. Nachdem die deutsch-sowjetrussischen Beziehungen durch den Abschluß eines Abkommens über die Frage der Kriegsgefangenen intensiviert worden waren 9 2 , wurden unter Mitarbeit des Auswärtigen Amtes in einer breiten wirtschaftlichen Publizistik die ökonomischen Möglichkeiten in Rußland bekannt gemacht 93 . Im August 1920 konstituierte sich eine „Studiengesellschaft der Deutschen Industrie für den Handel mit dem Osten", die sich zum Ziel setzte, über Sowjetrußland und Asien „eine Hauptstraße aus der wirtschaftlichen Umklammerung Deutschlands" zu öffnen und damit „der deutschen Industrie ein ungeheures, von Valutaschwankungen unbeeinflußtes Absatzgebiet" zu schaffen 94 . Immer wieder wiesen Bank- und Industriekreise auf den vermeintlich „unendlichen" wirtschaftlichen Reichtum Rußlands hin, der es möglich machen könne, „alle Rohstoffe, die die europäischen Staaten gebrauchen, mit Ausnahme von Kautschuk, zu liefern" 95 . Rußland galt „als

9i Zit. in Wagner, G., Deutschland, S. 42 f. 92 Hierzu u. a. Zelt, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen. 93 Siehe z. B. Huth, Walter, Deutsch-russischer Wirtschaftsausschuß. Rußland und der deutsch-russische Warenaustausch. Ein Handbuch für den Kaufmann und Fabrikanten, Nieder-Ramstadt 1920; Klein, Hugo, Die südrussische Eisenindustrie, Düsseldorf 1920; Flegel, Kurt, Wirtschaftliche Bedeutung der Montanindustrie Rußlands und Polens und ihre Wechselbeziehungen zu Deutschland, Leipzig 1920 (= Osteuropa-Institut in Breslau, Quellen und Studien, Abt. 3, H. 1). - In der vom A. A. herausgegebenen Reihe „Tagesfragen der Auslandswirtschaft" erschien die Schrift von Walter Weyrauch, Das Eisen in Rußland. Eisenerzvorkommen, Eisenerzförderung, Eisen- und Stahlerzeugung, Leipzig 1920. 94 Schreiben der Gesellschaft an den Minister des Auswärtigen, Dr. Simons, vom 6. 8. 1920, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Verhandlungen mit Sowjet-Rußland, Bd 1. 95 Denkschrift über die Organisation des Handels mit Rußland und den Randstaaten durch Amerika und Deutschland, von Dr. Kurt Braun, ehem. Chef der deutschen Kriegsverwaltung in Livland, Estland und Riga, unter Berufung auf deutsche Bank- und Industriekreise und auf ausdrücklichen Wunsch zweier zuständiger Herren der amerikanischen Botschaft in Berlin, 28. 6. 1920, BA R 43 I/130. 36

das größte Rohstofflager für die Industrie und als der aufnahmefähigste Absatzmarkt für die fertigen Industrieerzeugnisse" 9 6 . Während Wirtschaft und Reichswehr auf eine politische Unterstützung ihrer Kontaktanbahnungen zu Sowjetrußland drängten, hielt sich das Auswärtige Amt in der Frage offizieller Beziehungen merklich zurück. Man war sich in der Wilhelmstraße darüber im klaren, daß ein politischer Vertrag mit dem Sowjetregime erst in dem Moment in Betracht gezogen werden konnte, wenn sich durch überzeugende Tatsachen ein grundlegender Wandel des bolschewistischen Systems ankündige 97 . Sollte dieser Fall nicht eintrete und die Bolschewisten ihren weltrevolutionären Kurs offensichtlich fortsetzen, dann müsse man die Entente davon überzeugen, daß Deutschland als Wall gegen den Bolschewismus benötigt werde und dafür eine gründliche Revision von Versailles verlangen könne. Es fehlte auch nicht an weitgespannten Entwürfen, um die Wirtschaftspolitik gegenüber Rußland in eine deutsche Revisionsstrategie einzubauen. Der führende liberale Nationalökonom Ludwig Pohle gehörte zu einer Gruppe von Theoretikern, die die Interessen der Schwerindustrie wissenschaftlich untermauerte. Diese Gruppe wurde daher von der Industrie zumindest ideell gefördert. Pohle faßte seine Überlegungen zu einem Konzept zusammen, das sich, kaum verändert, einige Jahre später in Hitlers „Mein Kampf" wiederfand. Demnach hätte Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg statt einer schwankenden politischen Orientierung ein Arrangement mit England suchen müssen, um unter Verzicht auf Flottenbau und Kolonien seine kontinentale Stellung auszubauen und „die Gebiete für die wirtschaftliche Ausdehnung und Bestätigung Deutschlands im Osten zu suchen" 98 . Das Reich müsse daher künftig darauf verzichten, den Schwerpunkt seiner wirtschaftlichen Entwicklung im überseeischen Export zu

96 Kann Rußland heute Rohstoffe liefern?, in: Leipziger Neueste Nachrichten (9. 11. 1920), Nr. 309, 2. Beilage, S. 9. 9 ? Siehe eine Mitte 1920 entstandene Denkschrift aus dem Stresemann-Nachlaß, die vermutlich von einem dem A. A. nahestehenden Journalisten stammt: Heibig, Träger, S. 41 f. os Es handelt sich hierbei um die Vortragssammlung von Pohle, Ludwig, Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im letzten Jahrhundert. Fünf Vorträge, Leipzig u. Berlin 1920 (= Aus Natur und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen, Bd 57), die als Broschüre erschien und von der Industrie wärmstens zur Verbreitung empfohlen wurde, speziell in Kreisen der Arbeiter und Angestellten. Ein Auszug mit dieser Empfehlung erschien unter dem Titel: Die Lage der deutschen Volkswirtschaft nach dem Weltkriege, in: Sächsische Industrie 16(3. 7. 1920), Nr. 40, S. 551553. Es läßt sich vermuten, daß sich Hitler diese Empfehlung zu eigen gemacht hat und aus der Schrift Pohles, die 1923 bereits in der 5. Auflage erschien (6. Auflage 1927) und mit mehr als 30 000 Exemplaren verbreitet wurde, den Schatz seiner wirtschaftspolitischen Erkenntnisse zog. 37

bilden. Dadurch könne man die englische Konkurrenz beschwichtigen, wobei gleichzeitig die Binnenwirtschaft zur Blüte und Autarkie zu bringen sei. Insgesamt gelte es, die wirtschaftliche Expansionskraft nach Osten zu lenken, denn nicht „drüben über dem Weltmeer, sondern im Osten Europas liegen die Gebiete, auf deren wirtschaftliche Eroberung Natur und Geschichte die deutsche Volkswirtschaft" verweise. Eine Anknüpfung und Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Oststaaten sei deshalb das Gebot der Stunde. „Gelingt uns das und gelingt es uns infolgedessen, in den weiten Gebieten Osteuropas und den ihnen benachbarten Gebieten Asiens, in denen noch ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten liegen, eine führende wirtschaftliche Stellung zu erlangen, so ist nicht nur unsere wirtschaftliche Zukunft, die jetzt einen so schweren Schlag empfangen hat, gesichert, sondern wir dürfen auch hoffen, allmählich wieder eine größere politische Unabhängigkeit zu erringen, als sie uns im Frieden von Versailles zugedacht ist 99 ." An den Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Verbindung mit Sowjetrußland und eine politisch-ökonomische Einflußnahme hatte sich bisher allerdings kaum etwas gebessert. Wegen des Ausbruchs einer verheerenden Hungersnot 1 0 0 war zwar einerseits zu erwarten, daß die bolschewistischen Führer zu weitgehenden Zugeständnissen in der Wirtschaftspolitik bereit sein würden, aber andererseits konnte man unter den herrschenden katastrophalen Wirtschaftsverhältnissen nicht an eine baldige Rohstoff- und Nahrungsmittelausfuhr Sowjetrußlands denken. So fanden die Kritiker und Zweifler — in Anbetracht der dort andauernden unübersichtlichen politischen Lage — wieder Argumente gegen einen wirtschaftlichen Vorstoß nach Rußland. Zwar erkannten auch sie: „Rußland bildet für sämtliche Naturprodukte ein fast unerschöpfliches Reservoir. Rußland wird einmal auch imstande sein, das Ernährungsproblem Mitteleuropas restlos zu lösen. Ob dies in absehbarer Zeit möglich sein wird, ist zu bezweifeln 101 ." Ihre Schlußfolgerung zielte darauf, erst einmal den anscheinend unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Sowjetsystems abzuwarten, und dann in Rußland unter vermutlich günstigeren Bedingungen Fuß zu fassen. In der bürgerlichen Presse hieß es z.B.: „[Für] Rußland kann nur von außen Hilfe kommen, wird es sich selbst überlassen, dann ist keine Hoffnung vorhanden, in absehbarer Zeit von da Rohstoffe zu beziehen. Um aber diese zu bekommen, muß sich erst ein Systemwechsel vollziehen, denn ein Land, in dem das Privateigentum abgeschafft ist und wo individuelle Arbeit nicht zugelassen wird, das wird nie in der Lage sein, Mehrwerte zu produzieren.

9» Pohle, Lage (wie Anm. 98), S. 553 (Hervorhebungen im Original). Siehe hierzu weiter bei Rauch, Geschichte, S. 144 ff. ioi Rosenberg, Max, Die Hoffnung Mitteleuropas auf Rußlands Agrarprodukte, in: Die Wage, N.F.I. (23. 10. 1920), S. 48-50, hier S. 50. 100

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W e r auf Rohstoffe aus Rußland hofft, wird nur bittere Enttäuschungen erleben 102 ." Somit läßt sich, cum grano salis, feststellen, daß es in Deutschland zwar Meinungsverschiedenheiten über die künftige Richtung in der Ostpolitik gab, die sich in unterschiedlichen Erwartungs- und Zeithorizonten ausdrückten, aber hinsichtlich der grundlegenden Ziele, die mit einer wirtschaftlichen Penetrationspolitik, wie sie zumindest im Entwurf immer deutlichere Konturen annahm, verfolgt werden sollten, gab es keine gravierenden Differenzen. Wichtigste Träger der Einflußnahme auf die Entwicklung Rußlands würden, unter welchen Vorzeichen auch immer, deutsche Techniker und Wirtschaftler sein, die für den russischen Wirtschaftsaufbau als unentbehrlich galten. Ihre Aufgabe war es nach allgemeiner Auffassung, wie es extrem nationalistische Kreise überpointiert formulierten, den Untergang des „jüdisch-bolschewistischen Davidsterns" zu beschleunigen und mit dem Selbstbewußtsein einer überlegenen Kultur und Rasse die deutsche „Sendung" zur Neuordnung und Organisation des Ostens wahrzunehmen 1 0 8 . Dann komme der Augenblick, um unter dem Druck einer deutsch-russischen Zangenbewegung sowohl den Anschluß Deutsch-Österreichs, als auch die Einflußnahme auf Polen und die Tschechoslowakei zu erzwingen, was den „von der Donau gewiesenejn] Weg nach dem Schwarzen Meer" öffnen werde 1 0 4 . Gerade in Regierungskreisen hielten die Zweifel über die Zweckmäßigkeit einer sofortigen politischen und wirtschaftlichen Offensive nach Osten jedoch an. Konnte man es wagen, unter den gegebenen machtpolitischen Verhältnissen die Siegermächte unverhohlen zu provozieren und eine offene Konfrontation zu riskieren? Namentlich das Auswärtige Amt bemühte sich, bei allem Verständnis für die immer drängendere Forderung von Industrie und Militär, die Versailler Fesseln zu sprengen, auf die möglichen außenpolitischen Gefahren eines solchen Unternehmens hinzuweisen, denn mit einiger Berechtigung konnte erwartet werden, daß die Entente eine massive Ausdehnung der politisch-ökonomischen Einflußsphäre Deutschlands nach Osten nicht hinnehmen würde, denn dadurch mußte die neu etablierte Machtverteilung in Europa über kurz oder lang wieder in Frage gestellt werden. Wenn man sich aber auf eine Intervention der Westmächte einzu-

102 Kann Rußland heute Rohstoffe liefern (wie Anm. 96). los Boehm, Max H., Ost und West, in: Die wirtschaftliche Zukunft des Ostens. Hrsg. von der Genossenschaft Wegweiser für wirtschaftliche Interessenten des Ostens, Leipzig 1920, S. 1-14, hier S. 13 f. Die in dieser Schrift veröffentlichten Beiträge lassen die Erwartung erkennen, daß der Bolschewismus bald durch ein wiedererstarktes Bauerntum überwunden und Großrußland im Verlaufe eines Dekompositionsprozesses in seine einzelnen nationalen Bestandteile zerfallen werde. 104 Heinrich, Waffenstillstand, S. 236 (wie Anm. 86). 39

richten hatte, dann w a r zu fragen, ob und wie das Deutsche Reich ihr begegnen könne. Wäre es nicht besser, jede auch nur geringe Chance zu nutzen, um das Mißtrauen der Siegermächte zu besänftigen, ihre jetzt noch festgefügte antideutsche Front aufzuweichen und auf dem Weg über Kooperationsangebote den außen- und wirtschaftspolitischen Spielraum Deutschlands zu erweitern? Selbst in deutsch-nationalen Kreisen neigte man durchaus zu der Einsicht, daß es unzweckmäßig sei, „den Gedanken der Revanche auffällig in den Vordergrund zu schieben". Bei allen Friedensbeteuerungen konnte man dennoch „innerlich den Vorbehalt machen, daß, wenn friedliche Mittel nicht zum Ziele führen, nötigenfalls auch andere ergriffen werden müssen" 1 0 5 . Die abwartende Fraktion Berliner Diplomaten und Politiker konnte sich schließlich dem ständig wachsenden Druck von seiten industrieller und militärischer Führungsgruppen nicht länger widersetzen. Reichsaußenminister Walther Simons (parteilos) erklärte am 20. Oktober 1920 im Reichstag: „Wenn man einem Winter entgegengeht, wie das deutsche Volk, wenn man es mit einer Erschwerung der Produktionsverhältnisse zu tun hat, wie das deutsche Volk, dann kann m a n auch phantastisch ausschauende Versuche, wirtschaftlich mit einem großen wirtschaftlichen Gremium wie dem russischen Volke in nähere Verbindung zu bringen, nicht von der Hand weisen 106 ." Der parteilose Politiker Friedrich Rosen, der wenige Wochen später als Nachfolger Simons die Aktivierung der deutschen Ostpolitik mitverantwortete und als Teilnehmer der deutschen Brest-Litovsk-Delegation über einschlägige Erfahrungen verfügte, resümierte im Winter 1920/21, daß die deutsche Politik der „Unterwürfigkeit" gescheitert sei und man nicht länger auf einen Sinneswandel der Westmächte warten könne 107 . Jetzt drohe bereits die Gefahr, daß die Alliierten Deutschland bei der Einflußnahme auf die osteuropäischen Staaten zuvorkämen, womit das Reich völlig isoliert dastehen werde. Rosen wollte zwar in der deutschen Ost-Option vor allem den Gedanken der Prävention sehen, bekannte sich aber auch zu den längerfristigen revisionspolitischen Überlegungen und erwartete von einer deutsch-russischen Verbindung einen so starken Druck auf Polen, daß die Entente ihren östlichen Vorposten aufgeben müsse 108 . Seien dann die

Schreiben des außenpolitischen Experten der DNVP, Oskar von der OstenWarnitz, an Siegfried v. Kardorff, 9. 1. 1920, zit. in Weltherrschaft im Visier, Nr. 17, Anm. 34. 106 Verhandlungen des Reichstags, Bd 345, S. 761. 107

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Die für den Rußlandreferenten im A. A., Ago v. Maltzan, bestimmte Denkschrift findet sich in Rosen, Aus einem diplomatischen Wanderleben, Bd 3/4, S. 409-417. Zum Hintergrund siehe Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 289. Zur Entwicklung der Entente-Politik in Osteuropa siehe Wandycz, France.

deutschfeindlichen Kräfte erst einmal auf dem Rückzug, werde sich auch das Problem der deutschen Westgrenze aufrollen und die Revisionspolitik noch erheblich forcieren lassen. Aus diesem außenpolitischen Kalkül erhielt die Idee einer „Wiederbelebung und Kräftigung" Deutschlands durch eine Verbindung mit Rußland Bestätigung und Auftrieb. Rosen sah in ihr sogar ein mögliches Vehikel, um eine deutsch-britische Annäherung zu erreichen und damit die französische Hegemonie auf dem Kontinent endgültig zu zerbrechen. Stärkste Unterstützung erhielten solche Überlegungen zweifellos aus militärischen Kreisen, die sich in ihrer selbstgewählten Distanz zur parlamentarisch-politischen Führung leicht über mißliebige innen- sowie außenpolitische Rücksichtnahmen und Bedenken hinwegsetzen konnten. Zwar forderte die Marineführung aus ihrer navalistischen Perspektive eine, wenn auch nur zeitweilige, enge Kooperation mit England und den USA, um auf diese Weise eine größere — zunächst gegen Frankreich gerichtete — Seemachtstellung und darüber hinaus auch die Möglichkeit einer atlantischen Kriegführung zu erlangen. Sie lehnte deshalb, nicht zuletzt auch in Anbetracht des englisch-sowjetrussischen Gegensatzes, die Rußlandorientierung der Heeresleitung ab 109 . Da aber General Seeckt in den ersten Jahren der Weimarer Republik für die Reichsregierung als maßgeblicher Repräsentant der Reichswehr galt, erhielten seine Ansichten über den deutschen Revisionskurs größeres Gewicht, wonach Deutschland „nur im festen Anschluß an ein Groß-Rußland die Aussicht auf Wiedergewinnung seiner Weltmachtstellung" habe. Die sich stets erneut belebenden Bedenken über die Risiken einer Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Regime hielt er für hinfällig, denn „ob uns das heutige Rußland in seinem inneren Aufbau gefällt oder nicht, das spielt jetzt keine Rolle. [...] Wir haben keinen anderen Weg offen 110 ." In der historiographischen Diskussion ist der Begriff „Revision" als Kennzeichen für die Zielsetzung deutscher Politik in der Zwischenkriegszeit zumeist unreflektiert verwendet worden. Er wird vielfach als „ein hervorragendes Instrument zur Deutung der Individualität Weimars" verstanden, um die vermeintlich „gemäßigten" Ziele einer wilhelminisch geprägten und auf die Wiederherstellung des Status quo von 1914 gerichteten Außenpolitik von der ungezügelten aggressiven Dynamik des Dritten Reiches abzugrenzen 111 . Die Frage nach Verbindungslinien zwischen beiden ist je10» Siehe hierzu weiter bei Schreiber, Zur Kontinuität, S. 112 ff., und Post, CivilMilitary Fabric, S. 249 f. no Seeckt in seinen Niederschriften Anfang 1920, zit. bei Seeckt, Aus meinem Leben (wie Anm. 33], S. 252. Zur geistesgeschichtlichen Einschätzung Seeckts siehe auch Guske, Das politische Denken; Meier-Welcker, Seeckt, und die zutreffende Charakterisierung von Hallgarten, General. 111 Salewski, Weimarer Revisionssyndrom, S. 15. Richtungsweisend in dieser Diskussion war besonders Hillgruber, Kontinuität. 41

doch heftig umstritten. Es scheint sich aber die Einsicht durchzusetzen, daß die alten bürgerlich-nationalen Führungskreise, deren Einfluß weder durch die Revolution von 1918/19 noch durch Hitlers Machtübernahme 1933 beseitigt wurde, das Ziel verfolgten, die deutsche Großmachtposition über die bloße Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages hinaus auszuweiten, „mit Blick auf Osteuropa, auf ein Ostimperium, das die wehrwirtschaftliche Autarkie sicherte" 112 . Diese Präsenz national-konservativer und wirtschaftsimperialistischer Zielvorstellungen 113 , die sich nach 1933 mit der Politik Hitlers verbanden, trat schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik besonders deutlich bei der Entwicklung einer deutschen Ost-Option in Erscheinung. Sie verbarg in ihrem Kern einen dynamisch verstandenen Revisionismus, dem es letztlich weder um einzelne Zugeständnisse der Siegermächte, noch um die Wiederherstellung eines europäischen Gleichgewichts ging 114 . Fernziel w a r vielmehr, wie Seeckt stellvertretend für die traditionellen Führungseliten zum Ausdruck gebracht hatte, der Wiederaufbau einer deutschen „Weltmachtstellung" auf dem Weg über die politische und wirtschaftliche Einflußnahme auf Rußland. Gerade die von Rechtskreisen als „Erfüllungspolitiker" diffamierten Repräsentanten der Weimarer Republik bemühten sich, einer solchen Ostpolitik geeignete Voraussetzungen zu schaffen. W e n n dabei auch der defensive Aspekt oftmals im Vordergrund zu stehen schien — etwa mit der Absicht, eine Eingliederung Rußlands in den Kreis deutscher Reparationsempfänger und als Teil des französischen Hegemonialsystems zu verhindern —, so w a r doch stets eine darüber hinaus zielende Dynamik intendiert. Das Hauptziel deutscher Revisionspolitik in den zwanziger Jahren, mit Hilfe der Wirtschaft eine innere und äußere Kraftentfaltung des Reiches zu erzielen, bedingte im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu Sowjetrußland: a) die Ausnutzung aktueller Marktchancen in Rußland zur Befriedigung kurzfristiger deutscher Wirtschaftsinteressen, b) die Erweiterung der ökonomischen Basis des Reiches auf lange Sicht durch den Aufbau einer marktbeherrschenden Stellung in Sowjetrußland und endlich c) eine allmähliche ökonomische Stärkung Deutschlands durch die Ausnutzung der russischen Wirtschaftsressourcen, um auf diese Weise den Übergang zu einer aktiven Außenpolitik zu ermöglichen 115 . Ein solcher ökonomischer Revisionismus 116 schloß den Einsatz des militärischen Instruments keineswegs prinzipiell aus, sondern verschob ihn nur auf eine spätere Etappe.

"2 Deist, Weg, S. 14. Messerschmidt, Außenpolitik, S. 554. i14 Hier nach Salewski, Weimarer Revisionssyndrom, S. 17, und gegen die These von Alter, Rapallo. 115 Zu den wirtschaftsimperialistischen Strategien der Weimarer Republik siehe auch Radkau, Renovation. U« Zum Begriff siehe Fischer, F., Bündnis, S. 65.

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3. Das Konzept w i r t s c h a f t l i c h e r Einflußnahme in Sowojetrußland a) Die politische Ausgangslage Trotz der Vorstöße von militärischer und industrieller Seite gelang es in den ersten beiden Nachkriegsjahren nicht, die Hemmungen und Bedenken, die bis auf Regierungsebene gegen eine Intensivierung der Kontakte zum Sowjetregime geltend gemacht wurden 1 1 7 , völlig zu überwinden und die Verwirklichung der Ost-Option entschlossen in Angriff zu nehmen. Als dann die Entente-Mächte zu Beginn des Jahres 1921 damit drohten, 50 Prozent der deutschen Exporterlöse in ihren Ländern, in die damals immerhin 37 Prozent der Gesamtausfuhr Deutschlands floß, zu beschlagnahmen, um damit ihre Reparationsansprüche zu befriedigen, verstärkten die Befürworter einer aktiven Ostpolitik ihren Druck auf die Reichsregierung, um endlich einen Wandel der bisher dilatorischen Wirtschaftspolitik gegenüber Sowjetrußland zu erreichen und damit der gewünschten Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten näherzukommen 1 1 8 . Inoffizielle Kanäle für Verhandlungen mit Moskau waren bereits geschaffen worden 1 1 9 . Die wichtigsten Anstöße dafür kamen von militärischer Seite. Der Chef des Truppenamtes, Generalmajor Otto Hasse, führte mehrere interne Gespräche über einen Vorstoß der deutschen Industrie nach Rußland und informierte Seeckt über die Aussichten. Erste Kontakte mit den Russen über eine rüstungstechnische Zusammenarbeit betrafen die Produktion von Geschützen und Munition. Seeckt persönlich bat in einem Schreiben den Krupp-Konzern, die sowjetrussischen Angebote wohlwollend zu prüfen. Das Unternehmen jedoch zögerte, da „es sich um Projekte von sehr großem Ausmaß, erheblicher finanzieller Tragweite handelt, die sich zudem auf derartig verschiedene Betriebszweige erstrecken, daß wir allein hierfür überhaupt nicht in Frage kommen können". Das Drängen der Heeresleitung stand unter dem Eindruck der zunehmenden Spannungen um Oberschlesien, die einen kriegerischen Konflikt mit Polen von Tag zu Tag wahrscheinlicher werden ließen.

i " So etwa der bürokratische Vorbehalt, Rußland müsse vor einer Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen Satisfaktion für die Ermordung des deutschen Gesandten v. Mirbach im Jahre 1918 geben; vgl. Kabinettssitzung vom 27. 11. 1920, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 122. lis Sitzung des wirtschaftlichen Ausschusses (des Reichskabinetts) am 12. 3. 1921, ebd., Nr. 203, S. 559. "o Siehe hierzu auch die Klage des A. A., das sich hierbei übergangen fühlte, in einem Schreiben an den Reichskanzler vom 19. 5. 1920, in: Das Kabinett Müller I, Nr. 108. Zum nachfolgenden siehe Aufzeichnungen Liebers (30. 3. 1921 und 16. 4. 1921), BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, S. 83 u. 85, sowie die Telegramme des Krupp-Direktors Otto v. Wiedfeldt an Seeckt vom 16. 6. 1921, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/175. 43

Nach der Lagebeurteilung der Heeresleitung hatte Polen durch die anhaltende Schwäche Sowjetrußlands die Möglichkeit bekommen, zwei Drittel seiner Militärmacht im Westen zu konzentrieren. Die Reichswehr bereitete sich nun darauf vor, im Falle eines französischen Eingreifens im westlichen Teil des Reiches auszuweichen, im Osten aber unter allen Umständen Widerstand zu leisten. Eine Entlastung durch die Rote Armee bot die einzigen Erfolgsaussichten, die allerdings in Berlin nicht überschätzt wurden. Vorsichtshalber bemühte man sich auch um Kontakte mit dem ukrainischen Nationalistenführer Skoropadskij. Der aktuelle Anlaß für das Interesse der Heeresleitung an Sowjetrußland förderte in jedem Falle auch die Realisierung der längerfristigen Ambitionen. Reichskanzler Josef Wirth entschloß sich jetzt in Absprache mit Seeckt und dem Leiter der Rußland-Abteilung im Auswärtigen Amt, Ago v. Maltzan, einen Alleingang in der Ostpolitik zu unternehmen und damit Zeichen zu setzen. Gegen die sicherheitspolitischen Bedenken des Innenministers 1 2 0 und ohne Reichspräsident Friedrich Ebert zu informieren, wurde als Reaktion auf das Londoner Ultimatum, mit dem die Entente im Mai 1921 die Annahme ihrer Reparationsforderungen erzwingen wollte, ein erstes Abkommen mit Moskau über die Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen abgeschlossen 121 . Auf Druck der Großindustrie, die ihre Interessen politisch stärker abgesichert sehen wollte, wurde Stresemanns Deutsche Volkspartei in die Regierungskoalition aufgenommen, jene nationalliberalen Kräfte also, die sich einem mittel-osteuropäischen Wirtschaftsimperialismus verpflichtet fühlten, wie er von Friedrich Naumann im Jahre 1915 entworfen und von Stresemann selbst wiederholt bestätigt worden war 122 . Bei den Koalitionsverhandlungen herrschte deshalb Einmütigkeit darüber, die „Frage des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Rußlands [. . .] als offenes Ziel der deut-

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Siehe Schreiben von Erich Koch(-Weser), DDP, an Staatssekretär Albert vom 25. 3. 1921, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 217. i2i Ebert mußte den Zeitungen entnehmen, daß das Abkommen ohne seine Konsultation und ohne eine Beschlußfassung des Kabinetts abgeschlossen worden war; siehe Schreiben des Reichspräsidenten an den Reichskanzler vom 8. 5. 1921, in: Das Kabinett Fehrenbach, Nr. 251. Als Monate später die bayerische Regierung gegen den weiteren Ausbau der Sowjetvertretung in Berlin protestierte, weil sie darin eine Gefährdung der inneren Sicherheit sah, mußte auch sie sich dem häufig gebrauchten Argument „wirtschaftlicher Gründe" beugen; siehe Chefbesprechung mit dem Bayerischen Gesandten am 5. 12. 1921, in: Das Kabinett Wirth I, Nr. 162. 122 Siehe Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915. Siehe hierzu auch umfassend Meyer, H., Mitteleuropa, und Kluke, Deutschland und seine Mitteleuropapolitik, der das Buch Naumanns als die „wichtigste politische Broschüre aus deutscher Feder während des Weltkrieges" ansieht und ihm einen aufsehenerregenden Erfolg bescheinigt. 44

sehen Politik" anzusehen 1 2 3 . Nach der Einschätzung von Herbert v. Dirksen, einem führenden Vertreter der späteren Rapallo-Fraktion im Auswärtigen Amt, brachte die Deutsche Volkspartei (DVP) „der Bedeutung Sowjetrußlands im weltpolitischen Spiele Deutschlands" besonderes Verständnis entgegen 1 2 4 . Damit waren die politischen Voraussetzungen für einen Kurswechsel gegenüber Sowjetrußland geschaffen. Er lag schon aus ökonomischen Gründen nahe, weil die Deutschland auferlegte Reparationsschuld von 132 Milliarden Goldmark durch eine jährliche Zahlung von 2 Milliarden Goldmark plus 26 Prozent des jährlichen Wertes der deutschen Ausfuhr beglichen werden sollte, womit eine Fortsetzung der Exportoffensive in die westlichen Länder für die Reichspolitik an Attraktivität verlor. Hinsichtlich Rußlands bedeutete dies zugleich, daß das Exportinteresse zurücktrat hinter die Bemühungen, durch die Bereitstellung von technisch-organisatorischem Wissen u n d von Fachleuten die russische Produktion zu dirigieren und sich einen billigen Lieferanten von Rohstoffen u n d Nahrungsmitteln zu schaffen.

b) Die Konzessionsangebote

Lenins

Als die Weichen in der deutschen Wirtschafts- und Rüstungspolitik gestellt wurden, kam die innere Entwicklung Sowjetrußlands dem deutschen Drang nach einem politisch-ökonomischen Engagement im Osten entgegen. Der radikale Kriegskommunismus hatte sich außerstande gezeigt, die katastrophale Lage in der russischen Wirtschaft zu bewältigen 1 2 5 . Eine Mißernte im Herbst 1920 verschärfte die Situation für die hungernde Bevölkerung derartig, daß die Industrie aus Mangel an Arbeitskräften zum Erliegen kam und in zahlreichen Landesteilen Hungerrevolten ausbrachen. Oppositionelle Gruppen innerhalb der Partei forderten eine Abkehr vom radikalen Kurs in der Innen- u n d Wirtschaftspolitik. Höhepunkt dieser Bewegung war der Kronstädter Matrosenaufstand im Frühjahr 1921, der das Regime in äußerste Bedrängnis brachte. Vladimir Lenin versuchte, dieser Entwicklung mit der Verkündung der „Neuen ökonomischen Politik" [NEP] zu begegnen, die den privatkapitalistischen Elementen im Lande größere Zugeständnisse machte und die Bereitschaft der Sowjetregierung anzudeuten schien, ausländischen Geschäftsleuten auf dem russischen Markt Privilegien einzuräu-

123 Vorbesprechungen zwischen Vertretern der Koalitionsparteien und der Deutschen Volkspartei über die Erweiterung der Koalition am 28. 9. 1921: Das Kabinett Wirth I, Nr. 102, S. 292. 124 Dirksen, Moskau, S. 62. 125 Zur Phase des sog. „Kriegskommunismus" in Rußland siehe Lorenz, R., Sozialgeschichte, S. 94 ff., und den Überblick von Raupach, Wirtschaft. Zur offiziellen sowjetischen Darstellung siehe Istorija socialističeskoj, sowie Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, S. 381 ff. 45

men 126 . Der innerrussische Handel sollte auf privater Basis wieder zugelassen, die Zwangsbewirtschaftung von Getreide und Kartoffeln abgebaut und den halbstaatlichen Genossenschaften größere Bewegungsfreiheit, auch im Verkehr mit dem Ausland, zugestanden werden. Ausländische Kapitalinteressen wollte man durch umfangreiche Konzessionsangebote ködern 127 . Bereits im Januar 1921 waren erste Projekte angekündigt worden, die im Ausland große Beachtung fanden 128 . Es handelte sich hierbei um die Nutzung riesiger Waldgebiete in Westsibirien und Nordrußland, die Bewirtschaftung von rund 3 Millionen Hektar Land in Südwestrußland und bergbauliche Projekte in Sibirien, die fast die Hälfte der russischen Kohlevorräte und Eisenerzlager umfaßten. Für die deutsche Wirtschaft boten sich damit die lang erhofften Versorgungs- und Expansionschancen. Die vom Rückgang der inländischen Kohle- und Stahlerzeugung stark betroffene Maschinenbau-Industrie rechnete sich bereits aus, daß auf der Basis der bergbaulichen Konzessionen in Mittelasien eine Roheisenerzeugung von jährlich fast einer Million Tonnen möglich sein werde 1 2 9 . Der deutsche Außenhandels-Verband ermutigte deshalb die deutschen Unternehmer, warteten doch „die Kohlen im Donetz-Becken, die Eisenerze von Krivoi Rog, das Mangan von Nicopol, Kupfer und Eisen im Ural, Kalisalze in Perm, Kohle und Eisen im Kusnetzky-Bezirk und viele andere kleinere Vorkommen von Eisen, Kohle, Kupfer, Aluminium" nur auf „Kapital und Unternehmungsgeist" 1 3 0 . Im Verein Deutscher Ingenieure zeigte man sich überzeugt, „daß durch die Entsendung einer großen Zahl deutscher Ingenieure nach dem Donezgebiet dort in wenigen Jahren die größte Eisenindustrie der Welt ins Leben gerufen werden könnte" 1 3 1 .

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Siehe V. I. Lenin, Die Vorbedingungen und die Bedeutung der Neuen Politik Sowjetrußlands, Leipzig, Berlin 1921. Zum Widerhall seiner Ankündigungen in deutschen Wirtschaftskreisen siehe beispielhaft: Rückkehr zum freien Handel?, in: Deutscher Außenhandel 21(1921), Nr. 7, S. 376. Zur innerrussischen Diskussion siehe Gottheit, Außenhandelsentwicklung, S. 42 ff. 127 Dazu Šiškin, Protokoly, und ders., V. I. Lenin. 128 Zum Echo in der deutschen Presse siehe u. a. Der Konzessionsplan der Sowjetregierung, in: Deutscher Außenhandel 21(1921), Nr. 2, S. 67 f.; Die Konzessionen in Sowjetrußland, in: Sächsische Staatszeitung, 8. 1. 1921, S. 1; Die Zukunft des sowjetrussischen Außenhandels, in: Rheinisch-Westfälisch Zeitung, 18. 5. 1921. 129 Der Konzessionsplan der Sowjetregierung (wie Anm. 128). 13 » Exportfähige Rohstoffvorräte Rußlands?, in: Deutscher Außenhandel 21(1921), Nr. 2, S. 69 f., hier S. 70. Siehe ebenso Westenberger, Hans, Ostexport!, in: Deutscher Außenhandel 21(1921), Nr. 5, S. 256 ff. 131 Wiener, F., Deutsch-russische Handelsbeziehungen, in: Technik und Wirtschaft, Monatsschrift des VDI, 14(1921), S. 438-440. 46

Umfangreiche wirtschaftswissenschaftliche Erhebungen unterstützten diese Aussagen 132 . Ihnen zufolge schien es nur eine „Frage der Technik und Organisation" zu sein, „ob diese ungeheuren Naturreichtümer der deutschen Industrie, die ihrer nach den durch den Versailler Vertrag bedingten Abtretungen deutscher Erz- und Kohlelager dringender denn je" bedurfte, zugeführt werden konnten 1 3 3 . Nach Ansicht der Wirtschaftsexperten seien vergleichbare Rohstoffreservoire und Absatzgebiete, die man unbedingt benötige, weder in Westeuropa noch in den USA zu erhalten 134 . Nur wenn es gelinge, die valutaschwachen osteuropäischen Länder, vor allem Rußland, als Lieferanten und Absatzmarkt zu gewinnen, könne durch die Ankurbelung der Produktion im Reich die innerdeutsche Lebenshaltung verbilligt und damit der soziale Verteilungskampf gemindert werden. Aus der wirtschaftlichen Verbindung mit dem Osten könne dann allmählich auch die gewünschte politische Annäherung entwickelt werden, die als Waffe gegen den Versailler Vertrag eingesetzt werden sollte. Als Voraussetzungen für den Erfolg einer solchen ökonomischen Strategie galten die freie Betätigung der Privatwirtschaft in Rußland und die Organisation eines Handelsverkehrs, wie er sich in der Brest-Litovsk-Ära so vorteilhaft für Deutschland entwickelt hatte. Solche Erwägungen in Kreisen der deutschen Wirtschaft beeinflußten in starkem Maße auch die politische Debatte. Die Exportwirtschaft beklagte

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Siehe die vom Osteuropa-Institut in Breslau herausgegebenen Schriften von Danckwortt, Peter W., Sibirien und seine wirtschaftliche Zukunft. Ein Rückblick und Ausblick auf Handel und Industrie Sibiriens (= Quellen und Studien, Abt. 7, H. 2); Flegel, Wirtschaftliche Bedeutung (wie Anm. 93); Köhler, Siegfried, Die russische Industriearbeiterschaft von 1905-1917 (= Quellen und Studien, Abt. 1, H 5]; Behrend, Fritz, Die Kupfer- und Schwefelerze von Osteuropa ( = Quellen und Studien, Abt. 3, H. 3); von zur Mühlen, Leo, Die Ölschiefer des europäischen Rußlands (= Quellen und Studien, Abt. 3, H. 4); Cloos, Hans/Ernst Meister, Bau und Bodenschätze Osteuropas. Eine Einführung (= Quellen und Studien, Abt. 3, H. 2); Gisevius, Paul, Die Ostländer als internationale Produktionsgemeinschaft in der Bodenproduktion (= Vorträge und Aufsätze, Abt. 2, H. 1); Friebel, Otto, Der Handelshafen Odessa (= Quellen und Studien, Abt. 7, H. 1); Litinsky, Leonid, Die Nebenproduktenkokerei in Südrußland. Entwicklung, Stand, Organisation und Aussichten der russischen Teer-Kokerei ( = Vorträge und Aufsätze, Abt. 3, H. 1); Behaghel, Georg, Die Eisen- und Manganerze Osteuropas (= Quellen und Studien, Abt. 3, H. 5), (alle Leipzig 1921); Fuckner, Ernst, Rußlands neue Wirtschaftspolitik, Leipzig 1922 (= Vorträge und Aufsätze, Abt. 1, H. 5). Lehrfreund, Ludwig, Die Entwicklung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen, Leipzig 1921, S. 98. Das Vorwort zu dieser Schrift schrieb M. Busemann, Syndicus des deutsch-russischen Vereins zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen e. V. Ebd., S. 92. 47

längst die unbewegliche antisowjetische Frontstellung der Rechtsparteien 135 , denn es ging ja nicht nur darum, durch einen raschen Vorstoß auf den russischen Markt „sagenhafte Vorräte an Rohstoffen und Lebensmitteln" für Deutschland verfügbar zu machen, sondern auch um die künftigen politischen Aussichten, die aus einer Intensivierung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen erwachsen konnten 136 . Die im Reichstag vertretenen Parteien hatten das auffällige Echo, das Lenins Konzessionsangebote fanden, bereits Ende Januar 1921 zum Anlaß genommen, um über die grundsätzliche Bedeutung einer möglichen Wiederaufnahme offizieller Beziehungen zum Sowjetregime zu debattieren 1 3 7 . Die verschiedenen Standpunkte und Bedenken wurden dabei noch einmal deutlich. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) befürworteten die offizielle Anerkennung der Sowjetregierung vor allem aus außenpolitischen und ökonomischen Gründen. Wenn aber die sozialdemokratische Leipziger Volkszeitung nicht ohne Häme bereits von einer „Wiedergeburt des Kapitalismus" in Sowjetrußland sprach 138 und auch im Reichstag unverhüllte Hoffnungen auf einen baldigen Sturz des bolschewistischen Regimes geäußert wurden, so wandten sich die Sprecher der Linksparteien doch zugleich nachdrücklich gegen die versteckten revisionspolitischen Erwägungen des bürgerlichen Lagers und forderten deshalb, daß sich eine künftige deutsch-russische Allianz nicht gegen Polen richten dürfe 139 . Die Zentrums-Partei, die den damaligen Reichskanzler stellte, beurteilte die konkreten Möglichkeiten für ein wirtschaftliches Engagement in Rußland eher skeptisch, sah aber in der Konzessionsfrage gewisse Erfolgsaussichten. Sie erwartete, daß über die systemdestabilisierenden Folgen der Konzes-

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s Zur Haltung der DNVP in der Frage einer Annäherung an Sowjetrußland weiter bei Schlösser, DNVP. Die Propagandisten des von der Großindustrie finanzierten „Generalsekretariats zum Studium des Bolschewismus" riefen in ihren öffentlichen Vorträgen weiterhin dazu auf, die innere Entwicklung in Rußland abzuwarten und die deutsch-russischen Handelsbeziehungen vorerst ruhen zu lassen; siehe Lessing, Walter, Deutschland und Ost-Europa, Vortrag gehalten auf dem Liga-Kursus, 13. 1. 1921, Berlin 1921 und oben, Anm. 40. 13 » Das neue Abkommen mit Rußland, in: Deutscher Außenhandel 21 (1921), Nr. 10, S. 509. 137 Siehe Aussprache über die Interpellation Aderhold etc: Aufnahme der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland, am 21./24. 1. 1921, Verhandlungen des Reichstags, Bd 346/347, S. 1982 ff. 138 Wiedergeburt des Kapitalismus, in: Leipziger Volkszeitung, 7. 1. 1921. is» Siehe die Reden von Wels (SPD) und Crispien (USPD) am 21. 1. 1921, Verhandlungen des Reichstags, Bd 346, S. 1996 ff., 1982 ff. Schärfer noch als Wels verurteilte Crispien die Konzessionsangebote Moskaus, die nach seiner Auffassung den russischen Arbeiter dem ausländischen Kapitalisten ausliefern würden. 48

sionspolitik über kurz oder lang der Sturz des Bolschewismus herbeigeführt werden könne 140 . Auf gleicher Linie lag die Stresemann-Partei, die zwar diplomatische Beziehungen zum Sowjetstaat aus prinzipiellen Gründen ablehnte, aber über die Konzessionen ebenfalls den Zusammenbruch des Regimes beschleunigen wollte, um dann einen Dreibund zwischen Deutschland, England und einem neuen bürgerlichen Rußland zu schmieden, der es Berlin erlauben würde, den Versailler Vertrag zu annulieren, damit „der Reichsadler wieder mächtig seine Schwingen regen" könne 141 . Die bürgerlich-liberale Deutsdie Demokratische Partei [DDP] zeigte sich in der taktischen Frage flexibler und hielt es keineswegs für zweckmäßig, „jetzt schon mit einem bürgerlichen Rußland der Zukunft zu rechnen" 142 . Um möglichen Risiken eines wirtschaftlichen Engagements in Sowjetrußland abzumildern, schlug sie u. a. die Gründung einer Treuhandgesellschaft vor, die das russische Gold als Pfand für deutsche Investitionen und Kredite verwalten sollte. Die nationalistisch-konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP] hingegen lehnte mit aller Schärfe die Aufnahme offizieller Beziehungen zu den Bolschewisten ab. Sie erkannte aber — wie die DVP — prinzipiell die Chance an, auf dem Umweg über die Konzessionspolitik das Regime zu stürzen und ein bürgerliches Rußland zu schaffen, mit dem sich Deutschland dann verbünden könne 143 . Während die Bereitschaft, die Ost-Option auf neuen Wegen endlich zu realisieren, durch die anhaltenden inneren Kämpfe in Sowjetrußland und den gleichzeitigen Aufstandsversuch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Reich, der die ideologischen und sicherheitspolitischen Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit Moskau erneut zu bestätigen schien 144 , Mitte 1921 merklich gedämpft wurde, gelang der deutschen Wirtschaft mit dem Hapag-Lloyd-Abkommen vom Mai des Jahres ein entscheidender Vorstoß zur Erschließung des russischen Marktes. Es sicherte ihr

140 Rede v o n Fleischer (Zentrum), ebd., S. 2001 ff. Als Beispiel für die eher skep-

tischen Stimmen in der bürgerlichen Presse zu dieser Zeit siehe: Die beiden Deutsch-russischen Handelsabkommen und ihre wirtschaftliche Bedeutung, in: Sächsische Industrie 17(1921), Nr. 39, S. 658-662; Pesterschatzny, D., Konzessionen der russischen Sowjetregierung, in: Deutsche Tageszeitung, 13./14. 7. 1921 und die Warnungen des auch vom A. A. konsultierten Experten für die ukrainischen Wirtschaftsverhältnisse Jenny, Ernst, Auf nach Sowjetrußland!?, in: Tägliche Rundschau 41(1921), 9. 11. 1921, Nr. 517, S. 1 f. 141 Rede v. Kemnitz (DVP) am 21. 1. 1921, Verhandlungen des Reichstags, Bd 347, S. 2051. 142 Rede des ehemaligen Reichsschatzministers Gothein (DDP), ebd. S. 2052. "3 Rede von Neuhaus (DNVP), ebd., Bd 346, S. 2005 ff. Zu den Erörterungen über die Zukunftsaussichten des Bolschewismus in deutschen Rechtskreisen siehe weiter bei Doeser, Das bolschewistische Rußland, S. 67 ff. 144 Hierzu Krummacher/Lange, Krieg, S. 106 ff. 49

das für die Entwicklung künftiger Handelsbeziehungen wichtige Seeverkehrsmonopol zwischen beiden Staaten 145 . In Kreisen der rheinisch-westfälischen Industrie w a r man daraufhin überzeugt, daß Sowjetrußland jetzt tatsächlich „den Weg zum Kapitalismus zurückgefunden" und den „Grundstein zum Wiederaufbau" gelegt habe 140 . Hapag-Direktor Wilhelm Cuno, der an dem Abschluß maßgeblich beteiligt gewesen war, vermochte bald danach auch als Reichskanzler den Ausbau der Beziehungen zu Sowjetrußland voranzutreiben.

4. Die Herausbildung politisch-ökonomischer Einflußsphären a] Das wirtschaftspolitische Kalkül Die weitreichenden ostpolitischen und ökonomischen Ambitionen deutscher Führungskreise in Militär, Wirtschaft und Politik besaßen spätestens gegen Ende des Jahres 1921 nicht mehr den Charakter eines „Illusionstheaters" 1 4 7 . Als Ergebnis einer langwierigen und von inneren und äußeren Bedingungsveränderungen beeinflußten Konzeptionsphase hatten sich die Grundrisse einer politisch-ökonomischen Penetrationsstrategie herausgebildet. Statt den für wahrscheinlich gehaltenen und prinzipiell durchaus erwünschten Zusammenbruch des Sowjetregimes abzuwarten, galt es nun, den bereits im Gang befindlichen ökonomischen Wandel in Rußland zu unterstützen und als Transmissionsriemen eines allgemeinen Systemwandels zu nutzen, der die beabsichtigten deutschen Investitionen und die Kontinuität deutscher Einflußnahme unberührt ließ. Die Restauration einer kapitalistischen Wirtschaft in Rußland sollte sich auf die deutsche Wirtschaftstätigkeit im Lande stützen können, so daß der Vorsprung Deutschlands gegenüber den sich eher abwartend verhaltenden Westmächten zur Schaffung eines engen deutsch-russischen Bündnisses mit seinen revisionspolitischen Implikationen genutzt werden konnte. In diesem Lichte ist der von AEG-Direktor Rathenau schon Anfang 1920 geäußerte Gedanke, deutsche Führungskräfte und Spezialisten an die Schaltstellen des russischen Wirtschaftsaufbaues zu dirigieren, zu sehen, der im November 1921, nachdem die Sowjetregierung mit der Linie der NEP alle „Schleusen" zu öffnen schien, konkrete Gestalt gewann. Das Auswärtige Amt blieb allerdings bemüht, den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Sowjetrußland nicht zu einem Störfaktor für Deutschlands 145 146

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Siehe weiter bei Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 143 f. Zur wirtschaftlichen Neuorientierung in Rußland. Abkommen der Hapag mit Sowjetrußland, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 15. 8. 1921. Zum Hintergrund siehe auch Wolf, Schwerindustrie. Kennzeichnung von Radkau, Renovation, S. 199, der hier die deutschen Aktivitäten in Mittel- und Südosteuropa im Auge hat.

internationale Beziehungen, insbesondere zu den Siegermächten werden zu lassen. Der im Mai 1921 als Leiter der Deutschen Vertretung in Moskau ernannte Professor Kurt Wiedenfeld, ein renomierter Wirtschaftsexperte, sollte sich ausschließlich den wirtschaftlichen Belangen widmen 1 4 8 . Es war vor allem der Generalkonsul in Moskau, Karl Graap, der sich darum bemühte, die scharfe antibolschewistische Stimmung in der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes zu beeinflussen und sich für eine politische Annäherung zwischen beiden Staaten einsetzte. Er war Ende 1921 davon überzeugt, daß es nunmehr sichere Zeichen für eine unaufhaltsame Evolution des kommunistischen Systems in Sowjetrußland gab 149 . Da er bereits enge Kontakte mit Vertretern der früheren Bourgeoisie geknüpft hatte, die den Obersten Volkswirtschaftsrat weitgehend beherrschten, sah er hoffnungsvolle Aussichten, durch eine Zusammenarbeit mit diesen nicht-bolschewistischen Führungskreisen, die nach seinem Eindruck immer stärker in den Vordergrund drängten, den evolutionären Prozeß in Rußland zu beschleunigen. Eine radikale antibolschewistische Politik, wie sie z. B. die westlichen Großmächte betrieben, würde hingegen einen plötzlichen Zusammenbruch bewirken können, der sich verhängnisvoll für die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen Deutschlands auswirken müßte. Nach einer zeitweiligen Anarchie „werden Elemente platzgreifen, die von der Entente beeinflußt, Rußland zum Koloniegebiet machen werden ohne es vielleicht zu wollen", schrieb er im November 1921 nach Berlin. „Diese Periode würde auch kaum eine dauernde sein, sie wird deutsch-feindliche Orientierung haben und neuere innere Reibungen und Bürgerkriege mit sich bringen 150 ." Am 10. Dezember 1921 wies er noch einmal nachdrücklich darauf hin, daß der seit langem in Deutschland erwogene Vorstoß der deutschen Industrie nach Rußland nicht länger hinausgeschoben werden dürfe 151 . Es gelte jetzt, durch die Übernahme und Wiederherstellung einzelner Betriebe die allgemeine Produktionsfähigkeit Rußlands zu fördern. Dabei verkannte Graap nicht die enormen Schwierigkeiten, die sich einer deutschen „Entwicklungshilfe" entgegenstellen mußten. Jede nüchterne Betrachtung der Lage führte zwangsläufig zu der Frage, ob die Bolschewisten tatsächlich bereit und fähig seien, einen effektiven Warenaustausch zu organisieren 152 . Wie konnte man dafür Sorge tragen, daß

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Helbig, Träger, S. 52 f. i « Abschrift eines Schreibens der Deutschen Vertretung in Rußland vom 27. 11. 1921, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 279/5. »so Ebd., S. 3. isi Abschrift des Berichts der Deutschen Vertretung in Rußland, Tgb. Nr. II, 10. 12. 1921, ebd. (z. T. abgedr. in: DSB 1919-1922, Nr. 237). isä Als Beispiel für negative Erwartungen vgl. den Artikel von Boujansky, Josef, Die wirtschaftliche Lage Rußlands und die deutsch-russischen Handelsbezie51

Moskau nicht am Ende, um sich dem deutschen Einfluß zu entziehen, einen Frontwechsel ins Lager der Entente unternahm? Wie ließen sich die deutschen Fachleute und Investitionen gegen eine denkbare neuerliche Radikalisierung der sowjetrussischen Innenpolitik schützen? Weiterhin ließ sich fragen, ob nicht Deutschland nach einem Zusammenbruch des Sowjetregimes, den die meisten Experten für unausweichlich hielten 153 , jeglichen Kredit gegenüber einem nach-revolutionären Rußland verspielt hätte, wenn es jetzt mit den bolschewistischen Machthabern paktierte. Doch dessenungeachtet blieb Graap bemüht, gegenüber solcher grundsätzlich als berechtigt anerkannter Bedenken die Vorteile der von ihm propagierten Strategie wirtschaftspolitischer Intervention herauszustellen. Wenn das Reich kein Interesse daran haben könne, daß sich durch einen plötzlichen Umsturz eine außen- und wirtschaftspolitische Neuorientierung Rußlands vollziehe, dann müsse alles daran gesetzt werden, den gewünschten und für den Erfolg deutscher Wirtschaftstätigkeit erforderlichen Wandel der innerrussischen Verhältnisse durch eine allmähliche Umwandlung des Sowjetsystems zu fördern. Durch den Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen gelte es dabei, „Ansatz- und Stützpunkte für die Entwicklung weiterer Tätigkeit" Deutschlands zu bilden. In einer Art von „Partisanenkampf" zwischen kapitalistischer und bolschewistischer Wirtschaftsweise müsse sich das Reich am „Lebensnerv des russischen Wirtschaftslebens" festsetzen, durch Einzelangriffe und mühselige Kleinarbeit das kommunistische System allmählich aushöhlen und damit „Projekte auf weite Sicht und von politischer Kombination" vorbereiten, wie Graap erläuterte 154 . Derartigen Überlegungen entsprach eine schon seit dem Frühjahr 1921 laufende breite publizistische Kampagne, die zum Teil von der Großindustrie gefördert wurde. Die sächsische Industrie z. B. regte an, sich endlich „in Rußland ein Feld für kolonisatorische Arbeit zu öffnen" 155 . In der großbürgerlichen Frankfurter Zeitung nannte man in diesem Zusammenhang eine Reihe von Rahmenbedingungen, die sich auch in Graaps Vorstellungen

hungen, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, N. F. 12(1921], S. 441-450. Hier wurde davon ausgegangen, daß Rußland ökonomisch ruiniert und der Sturz des Bolschewismus unabwendbar sei. Deshalb gelte es von Anfang an, auf die richtige Karte zu setzen und eine Zusammenarbeit mit konterrevolutionären russischen Kreisen vorzubereiten. 153 Segnungen der Bolschewistenherrschaft in Rußland. Bericht von Kaufleuten aus Moskau, in: Hanomag-Nachrichten 7 (1920], Beilage zu H. 2, S. 17-19. In diesem Bericht wurde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß Deutschland Ruhe und Ordnung in Rußland wiederherstellen und die Herrschaft von Juden und Bolschewisten beenden werde. 154 Bericht der Deutschen Vertretung in Rußland, 10. 12. 1921 (wie Anm. 151). iss Die russischen Handelsübereinkommen, in: Sächsische Industrie 17(1921), Nr. 29, S. 501-503, hier S. 501. 52

wiederfanden 1 5 6 . Danach seien umfassende Ausnahmerechte für die nach Rußland gehenden deutschen Wirtschaftler erforderlich, ebenso eine weitere Reprivatisierung der russischen Industrie bis hin zu einer völligen Wiederherstellung des Privatbesitzes; außerdem wurden die Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols und die Auflösung der Geheimpolizei „Tscheka" erwartet. Unter diesen Voraussetzungen konnte Rußland mit seinen unermeßlichen Reichtümern zu einem unbegrenzten Tätigkeitsfeld deutschen Unternehmertums werden. Die Deutschen, so hieß es abschließend in entlarvender Diktion, hätten als „Erlöser" in das östliche „Kolonialgebiet" zu gehen und dort nach dem Vorbild von „Überseefahrern u n d Kolonisatoren" das vom Bolschewismus asiatisierte Rußland wieder zu zivilisieren. In Kreisen der Exportindustrie sprach man in diesem Sinne ebenso deutlich von „Schatzgräbern", die sich in Rußland der angebotenen Konzessionen annehmen sollten 157 . In der regierungsnahen Vossischen Zeitung hieß es dazu nüchterner: „Wir müssen den Mut haben, die Entwicklung in die Hand zu nehmen und, an die Gesetzmäßigkeit der geläutert-individualistischen Wirtschaftsform glaubend, Handel mit Rußland auch dann zu riskieren, wenn er im Augenblick noch nichts einbringt. Die deutsche Industrie muß mit den von ihr in die Fabriken und auf das Land eingeführten Maschinen sich selbst die Bezahlung zurückarbeiten. Das ist aber ein Wagnis, das auch der kühnste und kapitalkräftigste deutsche Kaufmann nur dann unternehmen wird, wenn er die deutsche Außenpolitik für lange Sicht festgelegt weiß auf die russische Politik 158 ." An der letztgenannten Voraussetzung mangelte es jedoch noch immer. Die Reichsregierung zögerte, nicht zuletzt wegen der unkalkulierbaren Risiken, die Ost-Option notfalls auch zu Lasten anderer außenpolitischer Varianten zu realisieren. Ohne ausreichende politische Rückendeckung aber vermochten Reichswehr und Wirtschaft nicht, ihre vielfältig geknüpften Kontakte zu Sowjetrußland weiter auszubauen. Es kam unter diesen Umständen um so mehr darauf an, konkrete Ansatzpunkte sowie Hilfskräfte in Rußland selbst zu finden und diese für den Annäherungsprozeß zwischen beiden Staaten nutzbar zu machen.

186 Deutschland und der Handel mit Sowjet-Rußland, in: Frankfurter Zeitung, 30. 7. 1921, S. 1. 157 Trott-Helge, Erich, Weltversorgung und russische Rohstoffe, in: Deutsche Exportrevue Nr. 1987, 1. 8. 1921, S. 2410 f. 158 Medem, Walter, Frhr. v., Intervention oder aktive Politik, in: Vossische Zeitung, 4. 11. 1921, S. 1-2, hier S. 2. Medem war 1919 Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Legion in Kurland gewesen. 53

b) Sozialstrukturelle Ansatzpunkte In der Sozialstruktur des Sowjetstaates 1 5 9 und der Mentalität seiner überwiegend slawischen Bevölkerung glaubte man in Deutschland schon früh, Schwachstellen des Sowjetregimes erkennen zu dürfen. Und eine zeitgenössische Dissertation wertete noch im Jahre 1924 die gängigen, ideologiebelasteten Vorurteile gegenüber der russischen Bevölkerung uneingeschränkt im Sinne der wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der deutschen Ostpolitik aus 160 . Die Passivität der Russen und ihr Mangel an Bildung und industriellen Fähigkeiten verlangten demnach nach strenger Führung und Aufsicht, wie sie die bolschewistischen Parteifunktionäre nicht zu leisten vermochten. Dies sei vielmehr eine Aufgabe für Deutsche, die sich als Träger eines neuen Herrentums notfalls auch mit der Knute durchsetzen müßten. Neben reichsdeutschen Spezialisten, die nach Sowjetrußland geschickt werden sollten, böten sich hierfür auch die rußlanddeutschen Kolonisten durch ihre „sittliche Überlegenheit" gegenüber der russischen „Masse" an 161 . So wird verständlich, daß die Frage der deutschen Kolonisten in Rußland in den ersten Jahren der Weimarer Republik weite Kreise in Deutschland, von den völkischen bis zu den liberalen Nationalen, in auffälliger Weise interessierte 1 6 2 . Der Wirtschaftler Ernst Jenny beispielsweise nahm schon im Juli 1919 die alldeutsche Tradition wieder auf und erklärte in seinen weit verbreiteten Publikationen die fast zwei Millionen Rußlanddeutschen zu einem „Quickborn deutscher Kraft", der, unabhängig von der jeweiligen politischen Verfassung Rußlands, den deutschen Einfluß im Osten garantiere 163 . Jetzt gelte es, die wirtschaftliche Macht der Kolonisten zu bündeln und einen direkten Wirtschaftsaustausch mit dem „Mutterland" zu organisieren. Auf diesem Wege könne auch die deutsche Industrie auf dem russischen Markt Fuß fassen u n d die beständige Ausbreitung der Kolonien in Südrußland unterstützen. 158 Zur Lage in Sowjetrußland zu Beginn der NEP-Periode siehe auch Lorenz, R., Sozialgeschichte, S. 94 ff. 160 Mueller-Schlomka, Gerhard, Die wirtschaftliche Bedeutung Rußlands in Vergangenheit und Gegenwart, Diss., Würzburg 1924. 161 Ebd., S. 45. Siehe in gleichem Sinne auch die umfassende Studie von Rummel, Fritz, Die Bedeutung der Deutschen für die russische Volkswirtschaft, Diss., Berlin 1924, sowie die rassenpolitische Betrachtung von Reimesch, Fritz H., Auslandsdeutschtum und Rassenkunde, in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923], Nr. 15/16, S. 201-203, sowie Fischer, Otto, Vom Deutschtum in Rußland, in: Wirtschaftliche Nachrichten aus dem Ruhrbezirk 4(15. 10. 1923), S. 332-336, 359-367. 162 Hierzu jetzt Fleischhauer, Das Dritte Reich, S. 34 ff. los Siehe Jenny, Ernst, Die künftigen Beziehungen der deutschen Kolonisten in Rußland zu ihrem Stammlande, in: Weltwirtschaft 9(1919), Nr. 7, S. 201-205, und ders., Die Deutschen im Wirtschaftsleben Rußlands, Berlin 1920. 54

Von selten der Ruhrindustrie wurden solche Überlegungen Mitte 1921 erneut in die Diskussion um eine wirtschaftspolitische Strategie gegenüber Sowjetrußland eingebracht 164 . Den geplanten massiven Vorstoß der deutschen Wirtschaft auf den russischen Markt wollte man durch die Kolonisten unterstützt und gefestigt wissen. Es gab in Sowjetrußland, wie noch 1923 festgestellt wurde, „Stützpunkte deutschen Lebens", die es im Interesse der deutschen Ostpolitik zu aktivieren galt 165 . Im Reich widmete man daher — was sich für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg insgesamt sagen läßt — der Behandlung der Rußlanddeutschen durch die bolschewistischen Machthaber größte Aufmerksamkeit 166 und bemühte sich, die ökonomische Entwicklung der Kolonien mit allen Mitteln zu fördern. Gegen die Bedenken von Finanzminister Hermes bewilligte z. B. die Reichsregierung 1922 einen Kredit in Höhe von 100 Millionen RM, um für die notleidenden deutschstämmigen Wolga- und Schwarzmeerkolonisten Saatgut zu beschaffen 167 . Mehr als 100 000 Dollar wurden von ehemaligen Rußlanddeutschen gespendet, die nach Übersee geflüchtet waren 1 6 8 . Das Deutsche Rote Kreuz hatte bereits im Jahr zuvor, auf dem Höhepunkt der russischen Hungerkatastrophe, eine Ukrainische Hilfsexpedition eingerichtet, die sich ausschließlich an die deutschen Kolonisten wandte und „Grundlagen für eine in die Breite gehende Auswirkung in caritativer, Staats- und wirtschaftspolitischer Hinsicht" schaffen sollte 169 . Durch eine eigene Zeitschrift bemühte man sich in der Folgezeit um eine weitere Festigung der Verbindungen zwischen Kolonisten und Mutterland 170 . i«4 Litinsky, Leonid, Die Wirtschaftslage Rußlands und die Aussichten Deutschlands für Wiederanknüpfung von Wirtschaftsbeziehungen, in: Wirtschaftliche Nachrichten aus dem Ruhrbezirk, 2(1921), S. 869-879, hier S. 878. 165 Schleuning, Johannes, Deutsches Leben in Rußland, in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923), Nr. 1/2. lco Weber, Friedrich, Die Landordnung der deutschen Kolonisten Rußlands und die russische Agrarpolitik, Diss., Tübingen 1922. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Rußlanddeutschen findet sich bei Stumpp, Deutschtum. Zur Entwicklung der Wolgadeutschen Sowjetrepublik siehe auch Schulze-Mölkau, Rudolf, Die Grundzüge des Wolgadeutschen Staatswesens im Rahmen der russischen Nationalitätenpolitik, München 1931. 167 Kabinettssitzung vom 6. 3. 1922, Das Kabinett Wirth I, Nr. 219, S. 607. 168 Tätigkeitsbericht des Vereins der Wolgadeutschen über das Jahr 1922, in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923), Nr. 3/4, S. 40 f. 16» Grundsatzerklärung des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes für den Reichskanzler vom November 1921, zit. in: Jähn, Über das Hilfswerk, S. 131. Siehe zeitgenössisch auch den Bericht in Deutsches Leben in Rußland 1(1923), Nr. 1/2, S. 17, und zur Darstellung weiter bei Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen, S. 144 ff. wo Siehe die bereits mehrfach zitierte Zeitschrift „Deutsches Leben in Rußland. Zeitschrift für die Kultur und Wirtschaft der Deutschen in Rußland, hrsg. vom Zentral-Komitee der Deutschen aus Rußland" (von Mai 1923 bis Dezember 55

Selbst Hunderttausende von Rußlanddeutschen, die vor dem bolschewistischen Terror des Bürgerkrieges ins Reich geflüchtet waren, dort auf ihre Rückkehr warteten, spannte man in die wirtschaftspolitischen Überlegungen und Aktivitäten ein. Sie galten als Reservoir für den Fall, daß sich die innerrussische Entwicklung beschleunigen und zum Sturz des Sowjetregimes führen würde. Die Sprecher der Rückwanderer selbst lehnten eine Zusammenarbeit mit den Bolschewisten strikt ab und forderten eine möglichst rasche Abwicklung ihrer Entschädigungsforderungen durch die Reichsregierung, um nach einem Umsturz in Rußland mit neuer wirtschaftlicher Kraft die Kolonisationsarbeit wieder aufnehmen zu können 171 . Künftige Siedler wurden von deutschen Agrarkreisen, die fest damit rechneten, daß die Auswanderer schon bald nach Rußland gehen konnten, um dort mitzuhelfen, die Überreste des Bolschewismus zu beseitigen und den deutschen Einfluß zu verstärken, mit der Aussicht geworben, daß man bei entsprechendem Einsatz „Wunder schaffen und einen Bombenerfolg erzielen und nach Jahren ein gemachter Mann" sein könne 172 . Es blieb keineswegs bei solchen Spekulationen. Der schlesische Großgrundbesitzer Werner Frhr. v. Rheinbaben bemühte sich als Reichstagsmitglied der DVP sowie als Staatssekretär unter Stresemann intensiv um die Förderung entsprechender Aktivitäten. Im Herbst 1923 gründeten führende Großagrarier unter seiner Leitung die „Deutsch-Russische Agrarge s ellschaft", an der auch die „Finanzvertretung deutscher Grundbesitzer A.G." beteiligt wurde. Zusammen mit der „Wolgadeutschen Bank für landwirtschaftlichen Kredit" schloß sie mit der Sowjetregierung einen Konzessionsvertrag über die Bewirtschaftung von 24 000 Desjatinen Land in Südrußland ab 173 . Rheinbaben hielt sich selbst im Jahre 1923 für längere Zeit in Sowjetrußland auf und bezeichnete es danach vor der Generalversammlung der

1924), die immer auch in den Zeitschriftenspiegel des Militär-Wochenblatts aufgenommen wurde. " i Borbanski, Iwan, Der Deutsche in Sowjet-Rußland, in: Deutsche Tageszeitung vom 22. 5. 1921. Kontroversen über die Haltung gegenüber dem Sowjetregime gab es auch innerhalb der in Rußland verbliebenen Deutschen. Es gab vereinzelt Stimmen, die eine Anpassung an die bestehenden politischen Verhältnisse und eine Modernisierung überholter Lebensweisen der Kolonisten forderten, wie etwa Korbach, Otto, Die Rückkehr nach Rußland, in: Deutsches Leben in Rußland 2(1924), Nr. 3/4, S. 28 f., und andere, die vor einer allzu positiven Einschätzung der Lage in Rußland warnten und sich für eine Beibehaltung der überkommenen Lebens- und Wirtschaftsformen einsetzten, siehe z. B. Pauli, J., Die Rückkehr nach Rußland, in: Deutsches Leben in Rußland 2(1924), Nr. 5/6, S. 55 f. 172 Höltzermann, Felix, Wann und wie sollen deutsche Landwirte nach Rußland gehen?, in: Deutsche Landwirtschaftliche Presse 50(1923), Nr. 25, S. 220 f. 17 s Vgl. die Notiz über die Gründung der Gesellschaft in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923), Nr. 15/16, S. 209. 56

Deutsch-Russischen Agrar A.G., an der auch Regierungsvertreter teilnahmen, als die „historische Aufgabe Deutschlands, sich an Rußland anzulehnen und schleunigst in Handelsbeziehungen mit ihm zu treten, ehe uns andere Staaten zuvorkämen" 1 7 4 . Diese Auffassung wurde auch vom Auswärtigen Amt geteilt, das in einer Denkschrift an das Wirtschaftsministerium im Jahre 1924 empfahl, „die Kolonisten mit möglichst zahlreichen wirtschaftlichen Banden an deutsche Unternehmen, deutsche Firmen, an die Wirtschaft des Mutterlandes zu knüpfen. [...] Bei der zweifellos einmal später kommenden Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse in diesem Land wird es dann ein leichtes sein, die bereits bestehende Organisation auch für den Export von Getreide und Vieh und für den Import der den Kolonisten notwendigen Massenbedarfsmittel zu erweitern." Es war also mehr Heuchelei, wenn das MilitärWochenblatt gut informierte Meldungen der französischen Presse über die geheimen deutschen Rüstungen in Sowjetrußland, in denen die große Zahl gutsituierter Rußlanddeutscher und reichsdeutscher Spezialisten als besonders gefährlich eingestuft wurde, als bloße „Märchen" bezeichnete.

c) Stützung privatwirtschaftlicher

Elemente

Als möglicher Ansatz für eine wirtschaftspolitische Einflußnahme in Rußland galten neben den deutschstämmigen Bevölkerungselementen vor allem die Reste der früheren bürgerlichen und großbäuerlichen Führungsschicht, denen Lenins NEP neuen Bewegungsraum verschaffte. Ihr Einfluß schien sich in Armee und Wirtschaft Sowjetrußlands besonders deutlich auszuwirken 173 . Ein Blick auf den Anteil des Privatkapitals am sowjetrussischen Wirtschaftsleben zum damaligen Zeitpunkt macht allerdings deutlich, daß der private Sektor vor allem Klein- und Mittelbetriebe umfaßte und seine Bedeutung weniger in der Produktion als im Handel fand.

174 Notiz über die Generalversammlung in: Deutsches Leben in Rußland 2(1924), Nr. 1/2, S. 13. Zu den nachfolgenden Zitaten siehe Fleischhauer, Das Dritte Reich, S. 39, und Militär-Wochenblatt Nr. 29 vom 18. 6. 1924, S. 701 f. i75 Dieses Urteil findet sich z. B. in der Denkschrift von Kurt Braun (wie Anm. 95) und im Bericht der Deutschen Vertretung in Rußland, Tgb. Nr. II, 10. 12. 1921, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 279/5. Zur zeitgenössischen Sicht in Deutschland siehe auch Palitser, Voldemar, Die Wirtschaftspolitik Sowjet-Rußlands in Bezug auf Landwirtschaft, Industrie und Handel. (Eine Skizze des Kampfes der privatwirtschaftlichen Kräfte in R. S. F. S. R. Von der Oktoberrevolution 1917 bis 1924), Diss., Frankfurt/M. 1924. Zur marxistischen Darstellung dieses Komplexes siehe u. a. Bauernfeind, KPdSU. 57

Industriezählung in Sowjetrußland Anfang 1923

Quelle: Hurwicz, Elias, Der neue Osten. Wandlungen und Aussichten, Berlin 1927, S. 161. Die Rücksichtnahme auf die russische Bourgeoisie veranlaßte die Reichswehrführung zu der Empfehlung, daß sich die deutsche Industrie bei der Übernahme von Konzessionen zunächst auf reine Regierungsobjekte beschränken solle, um unnötige Rivalitäten zu vermeiden 176 . Diese Kooperationsbereitschaft erstreckte sich auch auf die russische Emigration in Deutschland, aus der die Führungskräfte für ein künftiges bürgerliches Rußland erwachsen konnten. An der Gründung und Förderung zweier russischer Gymnasien und des „Russischen Wissenschaftlichen Instituts" in Berlin waren deutsche Regierungskreise und die Privatwirtschaft maßgeblich beteiligt 177 . Noch 1927 berichtete die Presse über die Studenten, daß die meisten von ihnen „nach Klärung der Verhältnisse in Rußland in die Heimat zurückkehren und an der Wiederaufrichtung des so schwer leidenden Vaterlandes mitwirken" wollten 178 . Für die deutschen Konzessionen sollte es sich langfristig allerdings als erhebliche Belastung erweisen, ein Übermaß an Vertretern der ehemaligen russischen Bourgeoisie und des Adels zu beschäftigen. In einigen Konzessionen waren 30 bis 35 Prozent Akademiker und teilweise bis zu 60 Pro-

170

Reichswehrministerium, Chef der Marineleitung, No.B.S. 6350. VII, Betr.: Wirtschaftspolitik mit Rußland, vom 22. 7. 1921, BA, R 43 1/131. Es handelte sich hierbei um eine Denkschrift von „zuverlässiger" Seite aus Rußland, offenbar aus konterrevolutionären Kreisen. 177 Notiz über die Gründung in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923), Nr. 1/2, S. 17. Siehe hierzu weiter bei Volkmann, Die russische Emigration, S. 132. 178 G e r m a n i a , N r . 193, 27. 4. 1927. 58

zent Absolventen höherer Lehranstalten tätig, was zu Reibereien mit der einheimischen Arbeiterschaft führte und damit dem Sowjetstaat Interventionsmöglichkeiten verschaffte 179 . Diese Stützung der alten Führungsschichten in Sowjetrußland und in der russischen Emigration war zweifellos eine Option für die Zukunft, deren Erfolg oder Belastung allein von der weiteren Entwicklung des Sowjetregimes abhängig sein mußte. d) Ökonomische Schlüsselstellungen Während es das erklärte Ziel der Sowjetführung war, die Zugeständnisse an das in- und ausländische Privatkapital auf die weniger bedeutsamen Sektoren der Volkswirtschaft zu beschränken und die „Kommandohöhen", d. h. die wichtigsten Industriebetriebe, unter eigener Kontrolle zu behalten, war das wirtsdiaftspolitisdie Kalkül in Deutschland schon vor Verkündung der NEP vorrangig auf die Übernahme bzw. Beeinflussung dieser Schlüsselstellungen in der russischen Wirtschaft gerichtet. Einflußreiche Bank- und Industriekreise wollten in einer Denkschrift für die Reichsregierung Rußland „als eine unerschlossene Kolonie" ansehen 180 . Und wie man eine Kolonie wirtschaftlich nur erschließen könne, indem man von den „Rändern aus ins Innere schrittweise vordringe und an den geeigneten Plätzen Stützpunkte anlege," so müsse man auch jetzt die Wiederaufrichtung des russischen Wirtschaftslebens in die Hand nehmen. Solche wirtschaftskolonialistischen Ambitionen stießen nicht nur auf den Widerstand des Sowjetstaates, sondern wurden in ihrer Entfaltung auch durch eine Unsicherheit darüber gehemmt, in welchen Bereichen und Objekten der russischen Wirtschaft mit den äußerst begrenzten deutschen Investitionsmitteln der größtmögliche Erfolg im Sinne einer Durchdringung und Beherrschung des russischen Marktes erreicht w e r d e n konnte. Die Deutsche Botschaft in Moskau warnte z. B. schon bei den ersten Ansätzen deutschrussischer Wirtschaftsbeziehungen davor, sich vorrangig auf die Erschließung von Rohstoff- und Absatzgebieten zu stürzen 181 . Um sich an den „Lebensnerven" des sowjetrussischen Wirtschaftslebens festsetzen zu können, sei es wichtiger, sich zunächst in der Landwirtschaft zu engagieren, denn von ihr — so meinte man — würde letztlich eine Gesundung der russischen Volkswirtschaft ausgehen 182 . Als Vorreiter einer solchen Strategie

179 Basseches, Nikolaus, Russische Konzessionspolitik und -praxis, in: Der deutsche Volkswirt 4(1930), Nr. 15, S. 474-477. Zur zeitgenössischen Begründung eines vorrangigen Einsatzes von Deutschen auf den Konzessionen: Goebel, Otto, Zur russischen Konzessionspolitik, in: Technik und Wirtschaft 14(1921), S. 368-373. ist» Denkschrift von Kurt Braun (wie Anm. 95). ist Bericht der Deutschen Vertretung in Rußland 10. 12. 1921 (wie Anm. 175). 182 Denkschrift von Kurt Braun (wie Anm. 95). 59

bewährte sich der Krupp-Konzern, der 1922 einen Konzessionsvertrag über die Bewirtschaftung von mehr als 50 000 ha Land im Salsker Gebiet des Don-Gouvernements auf 24 Jahre abschloß und das Unternehmen einem ehemaligen Reichswehroffizier unterstellte 1 8 3 . Die Marineleitung regte an, nur autarke und gewinnbringende Konzessionen in Sowjetrußland zu übernehmen, in denen der deutsche Konzessionär „durch seine eigene Organisation Rohstoffe und Halbfabrikate für einen Export nach Deutschland gewinnen kann" 184 . Als unbestritten bedeutsam galt eine Einflußnahme auf die Wiederbelebung des sowjetrussischen Verkehrswesens 1 8 3 . Ebenso wie Rathenau in seiner Denkschrift Anfang 1920 schlug auch das Auswärtige Amt vor, zunächst einmal deutsche Ingenieure und Vorarbeiter zur Instandsetzung des russischen Eisenbahnnetzes einzusetzen 186 . Zum einen ergaben sich dadurch für die an Auftragsmangel leidende deutsche Eisen-, Stahl- und Maschinenbauindustrie konkrete Geschäftsmöglichkeiten. Die Firma Hanomag z. B. hatte bei einer Analyse des sowjetrussischen Lokomotivbestandes errechnet, daß gegenüber einem Vorkriegsstand von 16 930 derzeitig nur noch 8 971 Lokomotiven in Sowjetrußland vorhanden waren, von denen aber mehr als 50 Prozent als reparaturbedürftig galten 187 . Hier boten sich also Absatzchancen auf einem Markt, der vor dem Ersten Weltkrieg fest in der Hand westlicher Konkurrenten gewesen war. Daneben konnte ein deutsches Engagement im sowjetrussischen Verkehrswesen als eine wichtige Voraussetzung dafür gelten, um dem deutschen Kaufmann „Zutritt und Bewegungsfreiheit" auf dem russischen Markt zu verschaffen 188 .

183

Siehe hierzu Renz, Wilhelm, Die russische Getreideausfuhr, ihre Grundlagen und ihre Bedeutung für Deutschland. Diss., München 1927, S. 49 f. Der Einfluß Krupps bei der Ausgestaltung der deutsch-russischen Beziehungen dokumentierte sich z. B. auch durch die Freigabe der ehemaligen russischen Botschaft in Berlin, nachdem die Russen den Konzern in dieser Frage eingeschaltet hatten; siehe Kabinetts Sitzung vom 1. 4. 1922, Das Kabinett Wirth II, Nr. 238. 184 Denkschrift der Marineleitung vom 22. 7. 1921 (wie Anm. 176]. !S5 Mueller-Schlomka, Wirtschaftliche Bedeutung (wie Anm. 160], S. 234. 186 Aufzeichnung der Handelsabteilung des A. A. über die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit Sowjetrußland vom 20. 2. 1920, in: DSB 1919-1922, Nr. 84; siehe auch ebd., Nr. 80. 1

87 Kreutzer, Rudolf, Lokomotiven u n d Lokomotivbau in Rußland, in: HanomagNachrichten 7(1920), H. 82/83, S. 97-110, 127-134. Zu den Verhandlungen um

das Lokomotivgeschäft siehe weiter bei Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 284 ff. und Achtamzjan, Rapallskaja politika, S. 45 f. Der Auftrag zur Lieferung von 700 Lokomotiven stellte den größten Exportauftrag für die deutsche Lokomotivindustrie dar. 188 Ernst, Friedrich, Wie helfen wir Rußland und damit uns? Ein Merkblatt für den deutschen Kaufmann, hrsg. vom Deutsch-Russischen Wirtschafts-Verband, Berlin 1923, S. 34. Für den Bereich des Luftverkehrs siehe Weinschenk, Al60

Die Hoffnungen auf einen dauerhaften deutschen Einfluß in den Schlüsselstellungen der sowjetrussischen Wirtschaft sollten sich allerdings rasch als verfehlt erweisen. Gleiches galt für die Erwartung, daß von den privatwirtschaftlich organisierten Teilsektoren in Kleingewerbe, Landwirtschaft und Handel ein immer stärker werdender Sog auf die Staatsbetriebe ausgehen werde und auf diese Weise schließlich auch die „Kommandohöhen" der bolschewistischen Wirtschaftspolitik ins Wanken geraten würden 1 8 9 . e) Langfristige wirtschaftspolitische Zielsetzungen Die hier dargestellten Ansätze für eine Schaffung deutscher Einflußsphären in Sowjetrußland sind keineswegs ausschließlich als illusionäre Fortsetzung wirtschaftsimperialistischer Zielsetzungen zu verstehen, die unter den völlig veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit belanglos für die offizielle Außenpolitik Deutschlands gewesen wären. Sie sind ebensowenig ausschließlich unter dem Gesichtspunkt kurzfristiger Marktstrategien individueller Kommerzinteressen im Rahmen einer „normalen" Handelspolitik anzusehen. Vielmehr müssen sie als Elemente eines wirtschaftspolitischen Programms begriffen werden, das bei allen Widersprüchen und undeutlichen Konturen auf die ökonomischen Kriegszielvorstellungen des Ersten Weltkrieges zurückgeführt werden kann. Im Falle Rußlands ging es dabei um das Konzept einer wirtschaftlichen Arbeitsteilung zwischen beiden Ländern. Angesichts der schwierigen Umstellung auf die Nachkriegswirtschaft und geringer Absatzchancen auf dem Weltmarkt bedurfte die deutsche Volkswirtschaft keiner zusätzlichen Industriekapazitäten, sondern eines gesicherten, ausbaufähigen Absatzmarktes und eines zuverlässigen Rohstofflieferanten 190 . Das deutsch-russische Warenlieferungsabkommen vom 1. März 1923 kann in diesem Sinne als ein erster konkreter Erfolg angesehen werden. Es deckte nämlich einerseits den gesamten deutschen Einfuhrbedarf an

brecht, Die Luftfahrt und der Wiederaufbau Rußlands. Eine Denkschrift betreffend die wirtschaftliche Bedeutung von Flugzeug und Luftbild für die Neuordnung der russischen Verhältnisse unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Luftfahrt, Diss., Berlin 1925. 189 Palitser, Wirtschaftspolitik [wie Anm. 175), S. 119 ff. 190 Siehe Mueller-Schlomka, Wirtschaftliche Bedeutung (wie Anm. 160], S. 20 ff., 80, 143-217, und die Aussage in einer regierungsamtlichen Broschüre, in der es hieß, in Deutschland habe sich bis zum Ende des Weltkrieges eine Industrie entwickelt, „die in innigsten Austauschbeziehungen zu den ganzen Gebieten des europäischen Ostens stand, dem es seine Rohstoffe abnahm, um ihm Fabrikate dafür zu geben": Die Zerstörung der Weltwirtschaft, Einzeldarstellungen über die Wirtschaftslage der wichtigsten Länder. Hrsg. von der Reichszentrale für Heimatdienst, Berlin, März 1922, S. 8. Solche Vorstellungen einer „natürlichen" Arbeitsteilung vertrat auch Walther Rathenau bei zahlreichen Gelegenheiten. Siehe Himmer, Rathenau, S. 149 ff. 61

Getreide- und Futtermitteln sowie andererseits die sowjetrussischen Agrarexporte, die die ländliche Kaufkraft in Rußland stärkten und damit der deutschen Industrie neue Absatzchancen eröffneten 101 . In späteren Jahren sollte es sich als sehr nachteilig erweisen, daß diese Möglichkeiten in den ersten Nachkriegsjahren in einer Weise genutzt worden sind, wie es dem Verhalten gegenüber einem „Kolonialgebiet" entsprach. Die Russen erhielten anfangs Maschinen, Werkzeuge und andere Waren, „deren Qualität selbst für schwarze Völkerstämme kaum ausreichend gewesen wäre" 1 9 2 . Im Sinne der von deutscher Seite angestrebten ökonomischen Arbeitsteilung nutzte die Sowjetregierung zwar die Erlöse ihres Agrar- und Rohstoffexports zur Finanzierung deutscher Industrieprodukte, doch führten die Agrarexporte gleichzeitig auch zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise auf dem vom Privatkapital beherrschten sowjetrussischen Binnenmarkt. Dadurch wurde ein erheblicher Lohnanstieg verursacht, der die Produktivität der einheimischen Industrie und damit die industrielle Selbstversorgung schwächte 193 . Ein ungehemmter industrieller Aufbau in Sowjetrußland aber, soweit er über eine Verbesserung der Infrastruktur, der Produktions- und teilweise auch der Verarbeitungsmöglichkeiten für Rohstoffe und Nahrungsmittel hinausging, entsprach ja auch nicht den wirtschaftspolitischen Interessen des Reiches. Dies traf zumindest solange zu, wie man 1. die Abhängigkeit Sowjetrußlands von deutschen Industriewaren als wichtiges Instrument deutscher Ostpolitik betrachtete, 2. das Entstehen einer möglichen industriellen Konkurrenz in Rußland vermeiden wollte und 3. die Lieferfähigkeit des russischen Handelspartners für gefährdet hielt, wenn durch eine rasche Industrialisierung und durch wachsende Kaufkraft der Eigenverbrauch an Nahrungsmitteln und Rohstoffen ansteigen würde und die Ausfuhrüberschüsse entsprechend reduziert würden. Solche Überlegungen standen vermutlich auch hinter der Denkschrift, die in der Marineleitung Zustimmung gefunden hatte, in der es als vordringlichste

191

Zu diesem Komplex weiter bei Palitser, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 175), S. 187, 197 ff. Von diesem Kaufkraftzuwachs versuchten mittelständische deutsche Unternehmen der Konsum- und Gebrauchsgüterindustrie vergeblich zu profitieren, da die staatlichen Außenhändler Moskaus an der Einfuhr von Nähmaschinen, Porzellan, Mineralwasser, Tischdecken u. ä. kein Interesse zeigten. Anfragen im Bestand PA-AA, Politische Abteilung IV, Wirtschaft, Az. Handel 24 Nr. 8, Absatzangelegenheiten in Rußland, Bd 1. Die deutsche Vertretung in Moskau sah sich deshalb veranlaßt, vor einem allzu kurzsichtigen Gewinnstreben zu warnen, das bei Rückschlägen nur zu unnötiger Resignation führen müsse; Telegramm vom 19. 12. 1921, zit. bei Anderle, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, S. 361 f. 182 Feyerabend, Julius, Die Organisation des Außenhandels der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken und die Entwicklung der Handelsbeziehungen zum Auslande, Diss., Frankfurt/M. 1932, S. 132. 193 Siehe hierzu weiter bei Palitser, Wirtschaftspolitik (wie Anm. 175), S. 197 ff. 62

Aufgabe Deutschlands bezeichnet wurde, Sowjetrußland als „Rohstofflieferanten zu exploitieren, wobei der von dem deutschen Konzessionär evt. in Angriff zu nehmende Wiederaufbau der eigenen russischen Industrie vorwiegend diesem deutschen Zwecke zu dienen hätte, d. h. der Schaffung von Exportobjekten für Deutschland" 104 . Das Prinzip einer für Deutschland vorteilhaften ökonomischen Arbeitsteilung w a r eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Errichtung eines deutsch-russischen Wirtschaftsblockes, in dem Rußland als „natürliches Hinterland" der deutschen Industrie, als blockadesicherer Ergänzungsraum angesehen wurde, der die Ausbildung einer künftigen deutschen Großmachtstellung im mittel- und osteuropäischen Raum begünstigen würde 1 9 5 . Eine solche Instrumentalisierung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zielte im geopolitischen Rahmen auch auf die Festigung des deutschen Einflußes in den osteuropäischen Randstaaten, die als wichtige Brücken zum russischen Wirtschaftsraum galten 196 . Ein weiterer wichtiger Aspekt betraf wegen der unzuverlässigen Seeverbindung mit dem Fernen Osten — eine Folge der Auslieferung der deutschen Handelsflotte und des Verlustes der überseeischen deutschen Stützpunkte — die Schaffung einer sicheren, den Eingriffsmöglichkeiten der Entente entzogenen Landverbindung durch Sowjetrußland. Seeckts Vertreter in Moskau hatte schon 1920 in seinem Vorschlag für ein gemeinsames Diversionsunternehmen gegen Persien und Afghanistan auf diese Zusammenhänge hingewiesen 197 . Auf diese Weise sollte eine „Bresche in die britische Seeherrschaft" geschlagen werden. Daß sich Sowjetrußland nach dem Scheitern des Feldzugs gegen Polen der Stabilisierung seiner Südgrenze zuwandte und mit der Türkei sowie mit Afghanistan enge Beziehungen knüpfte, wurde von aufmerksamen Beobachtern in Deutschland bereits als die „Konstituierung eines mächtigen innerasiatischen Dreibundes" gedeutet, der sich „naturgemäß" gegen die britische Position in Asien richten müsse. Wirtschaftsund machtpolitische Gründe sprachen aus dieser Sicht für die Schlußfolgerung: „Wenn Deutschland wieder Weltgeltung erlangen will, so ist dies nur

194 Siehe Anm. 176. 193 Siehe Ernst, Wie helfen wir Rußland {wie Anm. 188], S. 21 f., und Sauer, Eberhard/Eugen Rosenstock/Hans Ehrenberg, Osteuropa und wir: Das Problem Rußland, Schlüchtern 1921 [= Neuwerk Bücherei, Bd 2). 196 Zu den entsprechenden Aktivitäten in den baltischen Staaten siehe Grundmann, Deutschtumspolitik. 197 Denkschrift Oskar Ritter v. Niedermayer über die Lage in Afghanistan, Turkestan und Persien, um 1920, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/204. Niedermayer durfte im Herbst 1939 seine Vorstellungen noch einmal für das OKW fixieren, die damit zum Gegenstand ernsthafter operativer Überlegungen gemacht wurden. Siehe hierzu Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 3, S. 155 ff. 83

möglich im engsten Anschluß an Rußland und die übrigen Völker des Ostens 1 9 8 ." Mit der Gründung einer „Deutsch-Russischen Transithandelsgesellschaft" versuchten deutsche Wirtschaftskreise einen ersten praktischen Schritt. Bereits im Sommer 1922 hatte ein deutsches Schiff eine Probefahrt über das Marienkanalsystem von Petrograd über die Wolga nach Persien unternommen. Die Frage einer Landverbindung zu den fernöstlichen Märkten, insbesondere zu China, blieb bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Verhandlungspunkt in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Neben Spekulationen über die Möglichkeiten eines offensiven Zusammengehens mit Sowjetrußland blieb auch die gegenteilige Variante einer Fortsetzung der Dekompositionspolitik des Ersten Weltkrieges im Gespräch. Sollte das bolschewistische System schließlich doch zusammenbrechen und das frühere russische Reich weiter zerfallen, dann biete es sich an, die deutsche Einflußerweiterung über die sich vermutlich bildenden bürgerlichnationalistischen Nachfolgestaaten — insbesondere die Ukraine und Kaukasien — zu versuchen. Als bekanntester und einflußreichster Protagonist dieser Richtung, die im Widerspruch z. B. zu Seeckts Bündnisplänen mit einem Großrußland stand, übte Paul Rohrbach, 1918 Abgesandter des Auswärtigen Amtes in der Ukraine und schon damals im Konflikt mit dem Ostkonzept der Armee, in den zwanziger Jahren im großindustriellen Naumann-Kreis und in der Rechtspresse einen erheblichen Einfluß aus 199 . Von ihm läßt sich eine Traditionslinie über Alfred Rosenberg und Hitler zur deutschen Ostpolitik im Zweiten Weltkrieg ziehen. In einer von interessierten Industriekreisen geförderten Schrift wurde bereits Ende 1921 die Ukraine als besonders aussichtsreiches „Arbeitsfeld für Deutsche und deutsches Kapital" empfohlen und „Wege für ein erfolgreiches und dauerndes Eindringen deutscher finanzieller und industrieller Kreise in die ukrainische Volkswirtschaft" abgesteckt 200 . Mit der Förderung der Separationstendenzen, gleich, ob sich die russische Zentralgewalt nun in Händen der Bolschewisten oder der Bürgerlichen befand, sollte ein „Schlüssel zur wirtschaftlichen Erschließung Osteuropas" gewonnen werden. Die Ukraine galt als „Land reicher industrieller Ausbeutungsmöglichkeiten und als Brücke für eine wirtschaftliche Erfassung Mittel- und Vorderasiens". 198 Herlt, Gustav, Deutschlands Zukunft liegt im Osten, in: Der neue Orient, Bd X, Nr. 416, 6. 3. 1922; siehe auch als Stimme aus dem regierungsnahen Zentrumslager Menenius, Weltspiegel in: Die Grenzboten 80(1921), S. 280-283, und zum nachfolgenden die Meldung im Militär-Wochenblatt Nr. 11 vom 9. 9. 1922, S. 217. ioo Baumgart, General Groener, insbesondere S. 333 f. Zu seinem Wirken siehe weiter bei Mogk, Paul Rohrbach; Borowsky, Paul Rohrbach, und Bieber, Paul Rohrbach. 2oo Daskaljuk, Orestes W., Die Ukraine als Arbeitsfeld für Deutsche und deutsches Kapital, Berlin 1922. 64

Wenn sich solche vereinzelten Spekulationen auch zunächst als illusionär erweisen sollten, so gewannen sie doch schon zu Beginn der dreißiger Jahre bei der Ausprägung der Großraumpläne des Nationalsozialismus ein erhebliches Gewicht. Ein derartig weitgespannter Erwartungshorizont im wirtschaftspolitischen Kalkül gegenüber Sowjetrußland und entsprechende erste, noch zaghafte Ansätze in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen wurden von der Wirtschaftswissenschaft nachdrücklich befürwortet, wie z. B. die bereits zitierte Schrift von Pohle aus dem Jahre 1920 beweist. Die im Ersten Weltkrieg verfolgten wirtschaftsimperialistischen Zielsetzungen hatten eine umfassende neo-merkantilistische Theoriebildung bewirkt 201 , die noch lange fortwirkte. Bei Kriegsende fand sich kaum ein Vertreter des Wirtschaftsliberalismus und Freihandels an den deutschen Hochschulen. Nach dem Waffenstillstand mehrten sich dann eher noch die Stimmen, die wegen des verdeckten Wirtschaftskrieges der Siegermächte auf der Fortführung der außenwirtschaftlichen Konzepte des Weltkrieges beharren wollten 202 . Im Vordergrund der Wirtschaftspolitik Deutschlands in der Nachkriegszeit sollte ausschließlich die Förderung nationalwirtschaftlicher Interessen und ihre Absicherung durch abhängige Rohstoff- und Absatzmärkte stehen 203 . Walther Rathenau war der vermutlich prominenteste Anwalt solcher Überlegungen. Auch an den Hochschulen dominierten bis in die Mitte der zwanziger Jahre die Verfechter des Neo-Merkantilismus, der insbesondere in bürgerlich-intellektuellen Kreisen ein wirtschaftspolitisches Denken schuf, auf das der Nationalsozialismus zurückgreifen konnte und in dessen Mittelpunkt die enge wirtschaftliche Verbindung zwischen Deutschland und Rußland stand 204 . 201

202

Siehe hierzu umfassend Biechele, Kampf, und den Überblick von Barkai, Wirtschaftssystem, S. 77 ff. Siehe z. B. Willisen, Ferdinand Frhr. v., Begriff und Wesen des Wirtschaftskrieges, Jena 1919 (= Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena, Bd 15, H. 3], und Goerke, Erwin, Die Autarkie der Landwirtschaft als oberstes Ziel der zukünftigen deutschen Volkswirtschafts-Politik, Diss., Frankfurt/M. 1921. Zur Darstellung auch Eulenburg, Franz, Die handelspolitischen Ideen der Nachkriegszeit, in: Weltwirtschaftliches Archiv 25(1927] I, S. 59-103.

203 Siehe z. B. Haußleiter, Otto, Der Gedanke der A u t a r k i e als Leitsatz der auswärtigen Handelspolitik und seine Begründung. Umrisse zur Geschichte einer wirtschaftspolitischen Idee, in: Jahrbücher für Nationalökonomie u n d Statistik, Bd 120, III. F. (1923), S. 193-241, und Brinkmann, Carl, Imperialismus als Wirtschaftspolitik, in: Die Weltwirtschaft nach dem Kriege. 29 Beiträge ü b e r den Stand der deutschen u n d ausländischen sozial-ökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag. Hrsg. v o n Moritz Julius Bonn und Melchior Palyi, Bd 1, München 1925, S. 79-105.

204 Erst nach 1925 bekannte sich eine Mehrheit deutscher Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler zum Freihandel und zum weltwirtschaftlichen Engagement; hierzu Weber, Adolf, Der Anteil Deutschlands an der nationalökonomischen 65

5. Die Abwehr

wirtschaftlicher Interventionspläne der Entente-Mächte

a) Das deutsche Kalkül am Vorabend der

Genua-Konferenz

Im Unterschied zu den anderen Industrieländern der Welt war es Deutschland während der Weltwirtschaftskrise von 1920/21 mit Hilfe einer inflationären Geldpolitik gelungen, seine Industrieproduktion zu erhöhen, ohne jedoch dafür einen sicheren Absatz schaffen zu können 205 . Zieht man dazu noch den Verlust des oberschlesischen Reviers mit seinen Kohle-Exporten in Betracht, dann wird verständlich, daß Deutschland über kurz oder lang die Fähigkeit zur Zahlung von Reparationen verlieren mußte. In London und Washington setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, daß nur durch eine wirtschaftliche Gesamtlösung Europa wieder gesunden und Deutschland in die Weltwirtschaft eingebunden werden konnte. Diese Tendenzen wollte Walther Rathenau, seit Januar 1921 Außenminister des Reiches, für die deutsche Revisionspolitik nutzbar machen. Über die generelle Zielrichtung herrschte zwischen ihm und Seeckt, bei allen persönlichen Differenzen, offenbar weitgehend Einigkeit: „Deutschland müsse sich innerlich kräftigen und einen geeigneten Zeitpunkt zum Losschlagen abwarten." Die ökonomischen Kolonisationspläne gegenüber Rußland spielten in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. In den Jahren 1920/21 w a r der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Sowjetrußland nicht zuletzt auch an der deutschen Kapitalschwäche gescheitert. Eine Zusammenarbeit mit englischen und amerikanischen Kapitalgebern hätte im wesentlichen zwei Vorteile geboten: erstens konnte dadurch der

Forschung seit dem Weltkrieg, in: Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Moritz J. Bonn und Melchior Palyi, Bd 2, München u. Leipzig 1925, S. 3-29. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise jedoch setzten sidi die neo-merkantilistischen und autarkistischen Vorstellungen wieder stärker durch und fanden schließlich eine Verbindung zu den wirtschaftspolitischen Ideen des Nationalsozialismus. Für die Wirtschaftswissenschaften war diese Traditionslinie bis in die Gegenwart ein Tabu; zum historischen Selbstverständnis siehe beispielsweise Geschichte der Volkswirtschaftslehre; vgl. dagegen die neueren historisch-kritischen Arbeiten von Krohn, Wirtschaftstheorien, und aus marxistischer Sicht Krause/Rudolph, Grundlinien. In beiden beschränkt sich die Untersuchung im wesentlichen auf die Theorienbildung der zwanziger Jahre, insbesondere die ordnungspolitischen Vorstellungen. Die außenwirtschaftlichen Probleme bleiben dabei unterbelichtet. 205 Zum Hintergrund Holtfrerich, Die konjunkturanregenden Wirkungen, S. 206 ff. Nachfolgendes Zitat über die Position Rathenaus in den Aufzeichnungen Liebers, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, S. 101. 66

enorme Kapitalbedarf für den Wiederaufbau der russischen Wirtschaft gedeckt werden, und zweitens entstand auf diese Weise zwangsläufig auch eine außenpolitische Interessengemeinschaft, die sich gegen die französische Hegemonie auf dem Kontinent einsetzen ließ. Im Mai 1921 hatte die deutsche Großindustrie dem Vorsitzenden des Rates für Außenhandel Leonid Krasin, einen entsprechenden Plan vorgelegt und als Preis für ein von Deutschland geführtes Konsortium die Kontrolle von Schlüsselbereichen der sowjetrussischen Wirtschaft verlangt 200 . Obwohl Moskau ablehnte, verfolgte Rathenau weiterhin seinen Plan. Er versprach Großbritannien die Hälfte des Gewinns eines solchen Konsortiums als Reparationszahlung. Es gelang ihm zwar, auf diese Weise auf der Konferenz von Cannes, Anfang 1922, ein Moratorium für Deutschlands Reparationsverpflichtungen zu erreichen; aber es blieb eine offene Frage, ob die zum 10. April nach Genua einberufene europäische Wirtschaftskonferenz tatsächlich zu einem Interessenausgleich führen würde, da die USA eine Senkung der britisch-französischen Kriegsschulden ablehnten. London und Paris hatten deshalb kein Interesse an einer Senkung der deutschen Reparationsschuld. Verhandlungen des Großindustriellen Hugo Stinnes in London über eine britische Kapitalbeteiligung an den deutschen Rußlandplänen blieben ergebnislos 207 . Mit der Einladung Sowjetrußlands deuteten die Entente-Mächte allerdings an, daß sie eine Lösung ins Auge gefaßt hatten, die Deutschlands ostpolitische Ambitionen in ihrem Kern treffen mußten. Anfang 1922 versammelten sie in London eine Gruppe von Sachverständigen, die in Vorbereitung der Genua-Konferenz Vorschläge für eine gemeinsame Aktion der kapitalistischen Großmächte in Rußland ausarbeiten sollten. Ihre Vorstellungen zielten darauf ab, dem Sowjetregime einen Handelsaustausch anzubieten, unter der Voraussetzung, daß Moskau die Vorkriegsschulden des Zaren-Reiches anerkannte und sich zum Zwecke ihrer Begleichung des im Versailler Vertrag festgeschriebenen russischen Reparationsanspruches gegenüber Deutschland bediente. Von Sowjetrußland wurde darüber hinaus eine Rückgabe des verstaatlichten Privateigentums gefordert, was den Westmächten mit einem Schlag einen dominierenden Einfluß auf die russische Industrie- und Rohstoffwirtschaft verschafft hätte. Außerdem sollten die sowjetrussischen Finanzen unter Kuratel der Entente gestellt werden. Ein Syndikat interessierter Mächte würde dann die Vormundschaft über den russischen „Wiederaufbau" übernehmen. Ein Erfolg dieser Pläne mußte also nicht nur die Reparationslast des Reiches beträchtlich erhöhen, und dies zu einem Zeitpunkt, da sich Berlin ohnehin zahlungsunfähig wähnte. Da Deutschland keine Aussicht auf die Führungs2

°s Himmer, Rathenau, S. 155. Russische Briefe. Deutschland und die russische Wirtschaft, in: Frankfurter Zeitung, 15. 1. 1923, S. 1 f.

207

G7

Position in dem geplanten Syndikat hatte, liefen die Absichten der Entente allem Anschein nach darauf hinaus, mit Hilfe deutscher Reparationsleistungen den Wiederaufbau der russischen Wirtschaft einzuleiten und nach eigenen Interessen zu dirigieren. Ob Deutschland dafür eine Öffnung des Weltmarktes für seine expansionshungrige Industrie einhandeln konnte, war mehr als zweifelhaft 2 0 8 . Dagegen wäre auf jeden Fall der deutsche Alleingang nach Osten beendet, die in Deutschland befürchtete Einkreisung durch die Siegermächte vollendet und das „Tor im Osten" verriegelt worden. Dies hätte einer künftigen deutschen Revisionspolitik jegliche Aussichten genommen, da das Reich für unabsehbare Zeit an das Versailler System gekettet worden wäre. Wollte aber die Reichsregierung Deutschland möglichst rasch wieder zu einem „selbständigen Element europäischer Politik" 2 0 9 machen und „nach irgendeiner Seite den Ring des Versailler Vertrages zu durchbrechen" 2 1 0 trachten, dann blieb offensichtlich kein anderer Weg, als auf ein „wiedererstarktes u n d wirtschaftlich erwachendes Rußland" unter deutschem Einfluß zu setzen. Dabei konnte man darauf hoffen, daß es das bolschewistische Regime riskieren würde, sich eher mit den deutschen Penetrationsbemühungen auseinanderzusetzen als mit einer kapitalistischen „Einheitsfront", denn nach Moskauer Einschätzung war Deutschland zwar „wirtschaftlich tüchtig, politisch aber vor der H a n d ohnmächtig" 2 1 1 . Führende Vertreter der großbürgerlich-liberalen DVP zeigten sich davon überzeugt, daß alle politisch Verantwortlichen das Scheitern der Erfüllungspolitik erkannt hatten und deshalb eine selbständige Ostpolitik anstrebten, die sich auf die „längst und allen Schwierigkeiten und Hemmungen zum Trotz im Gange befindliche wirtschaftliche Entwicklung" stützen konnte, denn ohne eine solche „direkte deutsch-russische Politik" könne Deutschland „nicht wieder hoch k o m m e n " 2 1 2 .

208 Hoffnungen dieser wirtschaft in Kiel: gehalten auf dem Weltwirtschaftliches

Art formulierte z. B. der Leiter des Instituts für WeltHarms, Bernhard, Die Krisis der Weltwirtschaft. Vortrag, Wirtschaftskongreß der Übersee-Woche in Hamburg, in: Archiv 18 [1922), S. 267-314.

209 Aufzeichnung des Reichskanzlers a. D. W i r t h v o m 2. 9. 1933, zit. i n : Das Ka-

binett Wirth I, Einleitung S. LXIV. Siehe in gleichem Sinne auch seine Ausführungen als Reichskanzler in der Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder am 27. 3. 1922, ebd., Nr. 232. Dabei erklärte er ausdrücklich, daß man das Ostprogramm durchführen müsse, gleich welche Regierung in Rußland am Ruder sei, S. 646. 2io Aufzeichnung Wirths vom 2. 9. 1933, ebd. 211 Telegramm Brockdorff-Rantzaus über ein Gespräch mit Čičerin am 29. 3. 1924, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußlands zu Deutschland, Bd 5 und 6. 212 Rheinbaben, Werner C. F. Frhr. v., Zur russischen Frage, in: Der Tag, Berlin, 25. 2. 1922. 68

Es gab allerdings in Berliner Regierungskreisen auch vereinzelte Stimmen, die die Chancen für einen weiteren Alleingang nach Osten gering einschätzten, da die gewünschte „wirtschaftliche Vormachtstellung", trotz aller Absichtsbekundungen und Aktivitäten, bisher noch nicht erreicht worden war 213 . Zumindest solange die „außenpolitische Ohnmacht Deutschlands besonders" evident war 214 , sei eine einseitige Rußland-Option taktisch unklug. Außerdem war nicht auszuschließen, daß man doch noch zu einer Verständigung mit den Westmächten kommen könne, um dann mit Hilfe englischen und amerikanischen Kapitals — gestützt auf eine politisch und ökonomisch gestärkte Stellung Deutschlands gegenüber dem Westen — einen Weg zur Überwindung der französischen Hegemonie zu finden. Für den Wirtschaftsexperten der SPD, Rudolf Hilferding, der 1923 unter Stresemann Finanzminister wurde, stand Frankreich in diesem Sinne bereits unter einer „hydraulische[n] Presse, die sich nur langsam, aber ungeheuer wuchtend senkt", weshalb er zur Geduld aufforderte, denn das Schwergewicht der Ökonomie arbeite für Deutschland 215 . Aber in einer breiten öffentlichen Debatte am Vorabend der Genua-Konferenz wurden solche kritischen Stimmen, die Deutschland nicht an den offensichtlich unabwendbaren wirtschaftlichen Ruin Rußlands binden wollten, sondern zum Abwarten und zum Bemühen um eine allmähliche Lockerung der Versailler Fesseln rieten 216 , von der Front derjenigen überstimmt, die auf eine entschlossene Durchführung des Ostprogramms drängten. Nach ihrer Einschätzung drohte die Gefahr, daß in Rußland „die deutsche Arbeitskraft und Intelligenz bald als Ausbeutungsobjekt in die Hände des französischen, englischen oder amerikanischen Kapitals" gelangen werde 2 1 7 .

213

Denkschrift Schlesingers vor der Genua-Konferenz für den Reichskanzler, BA, R 43 1/132. Hier ist daran zu erinnern, daß Schlesinger bisher zu den Protagonisten einer Verständigung mit Moskau gehört hatte. Zu den Kritikern eines Ostkurses gehörte z. B. auch Landwirtschaftsminister Hermes (Zentrum), der es für wichtiger hielt, durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Westmächten die Reparationsfrage zu lösen, als auf die ungewissen Früchte einer Kooperation mit Sowjetrußland zu vertrauen; siehe Kabinettssitzung am 18. 4. 1922, Das Kabinett Wirth II, Nr. 248, S. 710 f. Als Beispiel für kritische Pressestimmen aus dem deutsch-nationalen Lager siehe: Rußland als europäischer Wirtschaftsfaktor, in: Dresdner Nachrichten, 5. 1. 1922, S. 1.

214 Denkschrift Schlesingers für Genua (wie Anm. 213). 215

210 217

Hilferding, Rudolf, Die Weltpolitik, das Reparationsproblem und die Konferenz von Genua, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 46(1922), H. 3, S. 1-28. Rußland und die Weltwirtschaft, in: Der Tag, Berlin, 23. 2. 1922. Ernst, Wie helfen wir Rußland (wie Anm. 188), S. 2. In gleichem Sinne äußerte sich z. B. auch Georg Gothein als führendes Mitglied der Regierungsfraktion der DDP im Reichtage: Deutschlands Beteiligung am Wiederaufbau Rußlands, in: Neue Freie Presse, Wien, 14. 3. 1922, S. 2 f. 69

Wenn man aber weiterhin durch eine enge ökonomische und politische Verbindung zwischen Deutschland und Rußland den Wiederaufstieg des Reiches erreichen wollte, dann mußte rasch eine Antwort auf die wirtschaftlichen Interventionspläne der Entente gefunden werden. Pläne zu einem gemeinsamen militärischen Kreuzzug der kapitalistischen Großmächte gegen Sowjetrußland, wie sie vom bürgerlich-deutschnationalen Rechberg-Kreis erneut propagiert wurden, stießen in Regierungskreisen auf eindeutige Ablehnung, da die führende Rolle Deutschlands bei einem solchen „Kolonialkrieg" nicht sichergestellt war. Ein einflußreicher Vertreter der Stresemann-Partei meinte dazu: „Auch wenn es also zwar richtig wäre, auf diesem Wege über einen kriegerischen Angriff gegen die Bolschewisten den Wiederaufbau Rußlands herbeizuführen, so muß doch aus dem dargelegten Grunde dieser Plan als zurzeit ganz u n d gar aussichtslos aufgegeben werden 2 1 8 ." Rechberg selbst vermochte schließlich auch in einer wirtschaftspolitischen Intervention, wie sie in Deutschland seit dem Jahre 1919 vorbereitet worden war, positive Folgen im Sinne seiner Pläne zu sehen. Wenn nämlich erst einmal die in Sowjetrußland investierten Gelder durch das Sowjetregime verwirtschaftet seien, so seine Spekulation, dann drängten „auch die Führer der europäischen Industrien auf den Sturz der Sowjetregierung durch Gewalt" 219 . General Max Hoffmann, militärisches Haupt dieser einflußreichen Gruppe, hielt es für möglich, daß die „durch den Ausfall des russischen Wirtschaftsgebiets bedingte steigende Not die europäischen Völker zwingen wird, diese letzte Karte [eines militärischen Vorgehens] der Zivilisation gegen den Bolschewismus auszuspielen" 2 2 0 .

218

219

220

70

Maretzky, Oskar, Weltwirtschaftskrise und Rußlands Wiederaufbau, in: Der Tag, Berlin, 2. 2. 1922, S. 1. Maretzky war MdR der DVP, gehörte zur innerparteilichen Fronde gegen Stresemann und wechselte 1924 zur DNVP. Otto Hoetzsch, Ostexperte der DNVP, sah keine Chance für eine völlige Beseitigung des Bolschewismus in absehbarer Zeit und eine Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände. Seine Erwartung zielte eher auf eine Verbindung von Kapitalismus und nationalistischem Bolschewismus in Rußland, also auf eine Art von Arbeitsteilung, bei der die deutschen Kapitalisten die russische Wirtschaft, die Bolschewisten aber die Arbeiterschaft kontrollierten; siehe Hoetzsch, Otto, Der Zusammenbruch der Sowjets und die wirtschaftliche Wiederherstellung von Rußland, in: Bank-Archiv 21 [1922), S. 348-350. Rechberg, Arnold, Wirtschaftsverhandlungen der Sowjetregierung, in: Nationalzeitung, Berlin, 20. 1. 1922. Hoffmann, Max, Ist eine militärische Intervention in Rußland notwendig?, in: Nationalzeitung, Berlin, 20. 1. 1922. Er formulierte seine Vorstellungen Ende 1922 noch einmal in einer Denkschrift, die wegen der Ruhrkrise erst Anfang 1925 veröffentlicht wurde. Darin hielt er die Hoffnung auf eine Evolution des bolschewistischen Regimes für verfehlt. Statt dessen sollte Deutschland einen Zusammenschluß aller europäischer Mächte mit Hinweis auf die wirtschaft-

Diese Kampagne der extremen Rechten veranlaßte Reichskanzler Wirth immerhin dazu, vor allzu leichtfertigen Illusionen zu warnen 2 2 1 . Er hielt es für undenkbar, daß die Siegermächte auf diesem Wege Deutschlands Wiederaufstieg begünstigten. Die Gefahr, daß die Westmächte dem Reich bei einem weiteren Zögern auf dem russischen Markt zuvorkämen, schätzte er hingegen überaus hoch ein. Wirth befand sich mit dieser Lagebeurteilung in Übereinstimmung mit den wichtigsten Vertretern der deutschen Großindustrie, die für eine außenpolitische Neuorientierung, wie es die Zurückstellung einer unabhängigen deutschen Ostpolitik bedeutet hätte, weder Anlaß noch Erfolgsaussichten sahen. Für sie w a r die Konferenz von Genua vielmehr eine Tagung, bei der der „Hauptgläubiger der Welt, Amerika, fernbleibt, auf der die Reparationsfrage nicht behandelt werden kann, auf der die Alliierten eng zusammenstehen" 2 2 2 . Deutschland müsse sich deshalb um den „Aufbau Osteuropas" bemühen und dadurch die „Schaffung großer und einheitlicher Wirtschaftsgebiete" mit gesicherter Rohstoffversorgung und Absatzchancen zu erreichen suchen 223 . b) Der

Rapallo-Vertrag

Obwohl Reichspräsident Ebert die deutsche Delegation für Genua ermahnt hatte, keine feste Vereinbarung mit den sowjetrussischen Vertretern zu treffen und auch Außenminister Rathenau anfänglich entschlossen war, eine mögliche Verständigung mit den Westmächten nicht durch voreilige deutsche Eigenmächtigkeiten in der Ostpolitik zu behindern, setzten Reichskanzler Wirth und der Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt, v. Maltzan, am Vorabend der Konferenz den lange vorbereiteten Abschluß einer Sondervereinbarung mit Moskau durch. Sie sollte die Basis für die künftige deutsche Ostpolitik im Sinne der weitgespannten wirtschafts- und revisionspolitischen Zielsetzungen werden 2 2 4 . In dem am 16. April 1922 unterzeichne-

lichen Zwänge und die ständige kommunistische Bedrohung erreichen und eine Expeditionsarmee gegen Rußland aufstellen, die von den USA finanziert werden sollte; siehe: Die Aufzeichnungen des Generalmajors Max Hoffmann [wie Anm. 15), S. 339-371. 221 Aufzeichnung der Braunschweigischen u n d Anhaltischen Gesandtschaft Nr. 1781 vom 17. 1. 1922 ü b e r eine Sitzung des Reichsratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten im A. A. am 16. d. M., S. 7. Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 A Neu 13, Nr. 37507. 222

Ausführungen Rathenaus im Ministerrat vom 5. 4. 1922 beim Reichspräsidenten, Das Kabinett Wirth II, Nr. 241b, S. 684.

223

Ebd., S. 687 f.

224

Zum Hintergrund Schieder, Entstehungsgeschichte. Pogge von Strandmann, Rapallo, widerlegt jetzt die weitverbreitete Legende einer spontanen, diplomatisch-präventiven Entscheidung der deutschen Delegation zum Vertragsabschluß. Im historischen Gesamturteil ist insgesamt Graml zuzustimmen, der 71

ten Vertrag von Rapallo verzichteten beide Staaten gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten u n d vereinbarten die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Besonderes Gewicht für die wirtschaftlichen Beziehungen hatte die Übereinkunft, den Grundsatz der Meistbegünstigung gelten zu lassen und „den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegen[zu]kommen" 2 2 5 . Damit w a r e n die Syndikatspläne der Entente gesprengt u n d die GenuaKonferenz zum Scheitern verurteilt. Deutschland hatte sich u m den Preis einer weiter verhärteten Haltung der Siegermächte zur Fortsetzung seines Rußland-Abenteuers bekannt. Das Bemühen der Reichsregierung, insbesondere Frankreichs Mißtrauen gegen die deutsche Ostpolitik zu besänftigen 2 2 6 u n d anglo-amerikanische Kapitalhilfe zu erhalten 2 2 7 , blieb aussichtslos. Um

es allerdings - und hier ist ihm zu widersprechen - für „mehr als problematisch hält, die deutschen Wirtschaftsinteressen zur Erklärung der RapalloPolitik heranzuziehen". Graml, Rapallo-Politik, S. 379. Auch Freund, Unholy Alliance, S. 113, und Himmer, Rathenau, sehen in den ökonomischen Motiven die eigentlichen Beweggründe für den deutschen Vertragsabschluß. Beitel/ Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 28, hingegen wollen den Rapallo-Vertrag nicht als Ostoption sondern als Instrument des Ausgleichs zwischen Ost und West interpretiert wissen. 225 Zur umfangreichen Literatur des Rapallo-Problems siehe u. a. Schieder, Probleme, wo der Vertrag allerdings allein unter außenpolitischen Gesichtspunkten behandelt wird. Zur Beurteilung durch das westliche Ausland, für das Rapallo noch heute die Gefahr eines deutsch-russischen Bündnisses gegen den Westen symbolisiert, siehe z. B. Freund, Unholy Alliance; Kochan, Rußland; Rosenbaum, Community, und Bournazel, Rapallo. Die sowjetmarxistische Geschichtsschreibung hat bisher nicht aus ihrem Dilemma herausfinden können, aus parteilichen Gründen die damalige Haltung der Sowjetregierung zu rechtfertigen, was sie auch daran hindert, das volle Ausmaß der deutschen Ostpläne wahrzunehmen. Für sie ist der Vertrag „zweifellos der klügste und realistischste politische Akt, zu dem sich deutsche imperialistische Staatsmänner jemals als fähig erwiesen haben". Puchert, Zu den Handelsbeziehungen, S. 210. Erschwerend wirkt sich für sie aus, daß Rapallo ein Propagandakürzel für die deutsch-sowjetische Kooperation war und ist. Siehe hierzu z. B. Gorski, Deutsch-sowjetische Freundschaft; Rosenfeld, Rapallo-Partner; Rapallo und die friedliche Koexistenz; Anderle, Vertrag; ders., Die deutsche Rapallo-Politik. Zur gleichlautenden sowjetischen Auffassung siehe etwa Achtamzjan Genuezskaja konferencija. 220 Bernhard, Georg, Die Brücke nach Rußland, in: Vossische Zeitung, 18. 4. 1922, S. 1 f., wies z. B. darauf hin, daß Frankreich an einem wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands durch das Reich interessiert sein müsse, weil Rußland dadurch in die Lage versetzt werde, seine Vorkriegsschulden zurückzuzahlen. 2?7 Siehe z. B. die Äußerungen Reichskanzlers Cuno gegenüber dem Volkskommissar f. Auswärtige Angelegenheiten Čičcerin, zit. im Telegramm Außenministers Rosenberg vom 1. 12. 1922, DSB 1922-1925/1, Nr. 36, sowie den Be72

so mehr kam es aus deutscher Sicht darauf an, die Wirtschaftsoffensive in Rußland mit allen Mitteln zu fördern, um auf diese Weise das politische und ökonomische Gewicht des Reiches im internationalen Kräftespiel wieder zu erhöhen. In diesem Entschluß wurde man durch die offensichtlich steigende Bereitschaft Moskaus, sich ausländischen Investoren weiter als bisher zu öffnen, noch bestärkt 2 2 8 . Innenpolitisch war der eingeschlagene Kurs durch breite Zustimmung abgesichert, die von den Kommunisten bis zu den Rechtsradikalen reichte, auch wenn die Motive dafür bei den einzelnen politischen Gruppierungen unterschiedlich waren 2 2 9 . Obwohl nicht nur in sozialdemokratischen Kreisen Zweifel existierten, ob Moskau zu einer gedeihlichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit überhaupt willens und fähig sei 230 , ermunterten Regierungskreise die Privatwirtschaft, die mit dem Rapallo-Vertrag gewonnene „Bewegungsfreiheit" im Osten nunmehr intensiv zu nutzen und alle bisherigen Bedenken zurückzustellen, denn Rußland sei „mit seinen natürlichen Hilfsquellen nicht nur ein Land unbegrenzter Möglichkeiten, sondern auch für die Zukunft ein Land unbegrenzten Bedarfes" 231 . Dabei wurde unterstrichen, daß man hier nicht mit dem Maßstab „normaler" Handelsbeziehungen messen dürfe, weil die Beziehungen zu Rußland „unabhängig von kleinlichen alltäglichen Erwägungen unter dem Gesichtspunkt einer weitschauenden Wirt-

richt des sowjetischen Botschafters in Berlin über eine Reihe von Gesprächen mit Regierungsvertretern vom 2. 12. 1922, ebd. Nr. 39. Zum Niederschlag in der Presse siehe z. B. Gothein, Georg, Die wirtschaftliche Bedeutung des Vertrages von Rapallo, in: Neue Freie Presse, Wien 17. 5. 1922, S. 2. 22

8 Die sowjetrussische Regierung gab jetzt z. B. ein w e l t w e i t verbreitetes Wirtschaftsblatt h e r a u s , das auch an die Leiter v o n Wirtschaftsbetrieben im eigen e n Land verteilt w u r d e ; siehe: Der W e g zum Osten. Wochenschrift für den Wirtschaftsverkehr mit R u ß l a n d u n d den R a n d s t a a t e n 1 (1922]. 229 Siehe die E r w a r t u n g R a t h e n a u s auf der Kabinettssitzung am 17. 4. 1922 in Genua, Das Kabinett W i r t h II, Nr. 246, S. 706. Zur b r e i t e n Zustimmungsk a m p a g n e der Rechtspresse vgl. Doeser, Das bolschewistische Rußland, S. 55 ff. Für ostdeutsche Historiker p a ß t gerade dieses F a k t u m nicht in ihr Bild eines „vorbildlichen" V e r t r a g e s : Anderle, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, S. 375 ff., leugnet deshalb einfach die Zustimmung der Rechtsparteien u n d sieht „die wirklichen Machthaber Deutschlands, die V e r t r e t e r der Schwerindustrie u n d der Großagrarier [...] auf die Z u s a m m e n a r b e i t mit dem USA-Finanzkapital eingestellt".

230 Stimmungsbericht des DVP-Politikers Hans v. Raumer in einem Schreiben an Außenminister Rathenau vom 9. 5. 1922, DSB 1922-1925/1, Nr. 12 und Schützinger, Hermann, Sowjetrußland im Rahmen der Weltwirtschaft, in: Die neue Zeit, Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie 40(1922), S. 586-592. 231 Ansprache des Mitglieds der deutschen Genua-Delegation, Julius v. Meinel, vor der Geschäftsführung des RDI im Juni 1922, DSB 1919-1922, Nr. 312, S. 687. 73

schaftspolitik" gesehen werden müßten. Das Engagement sei deshalb z. B. auch nicht von Schadensersatzansprüchen und „rasch zu erwartenden Gewinnen" abhängig zu machen 232 . Ähnliche Überlegungen vertrat Generalkonsul Karl Graap in einem Vortrag im Deutsch-Russischen Verein im April 1922. Er wies bei dieser Gelegenheit noch einmal auf die entscheidende Bedeutung des wirtschaftlichen Vorstoßes nach Rußland für die politische und ökonomische Zukunft des Reiches hin 233 . Man müsse sich von aller verständlichen subjektiven Verbitterung und Skepsis freimachen und unbeirrt auf den weitschauenden wirtschaftspolitischen Standpunkt bauen, um die enormen wirtschaftlichen Reichtümer Rußlands für Deutschland erschließen zu können. Diese Aufgabe, für die eine großzügige Planung und Investitionsbereitschaft nötig seien, könnten nur die Großkonzerne übernehmen. In einer umfassenden Aktion müßten endlich Ansatzpunkte geschaffen und ausgebaut werden, um zunächst die Infrastruktur Rußlands aufzubauen und dann größere Wirtschaftsgebiete zu übernehmen. Dabei sei auch an die Einschaltung der Randstaaten zu denken, die unentbehrliche Ausgangsstützpunkte, Tore und Brücken nach Rußland darstellten. Vorbereitungen hierfür waren schon vor dem Rapallo-Vertrag getroffen worden. So zeigte sich z. B. das Auswärtige Amt unter dem massiven Druck von Industrie und Handel bereit, bei den laufenden Wirtschaftsverhandlungen mit Lettland größtmögliche Zugeständnisse zu machen, „weil Lettland für Deutschland das wichtigste Einfalltor für Rußland" sei und mit Libau und Riga die beiden besten Häfen an der baltischen Ostseeküste besitze 234 . Dieser Rückgriff auf bereits im Jahre 1919 erörterte Pläne, die baltischen Staaten als Einfalltore nach Rußland zu gewinnen, dokumentiert die zurückhaltende Einstellung des Auswärtigen Amtes gegenüber den Aussichten eines sofortigen Vorstoßes auf den russischen Markt. Außenminister Rathenau glaubte nur an eine kurzfristige Übereinkunft mit den Bolschewisten und sah erst nach einer vollständigen Transformation Rußlands zum Kapitalismus größere Chancen für Deutschland 235 . In dieser Sicht kam es zunächst einmal darauf an, günstige Startbedingungen zu schaffen. Auch der

2 2

3 Informatorische Aufzeichnung des A. A. Nr. 19 vom 27. 5. 1922, zit. nach Anderle, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, S. 374.

233

Siehe nachfolgend Stenogramm des von Graap im April 1922 im DeutschRussischen Verein improvisierten Vortrags, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 279/5.

234 Ausführungen des zuständigen Referenten des A. A. bei einer Besprechung im A u s w ä r t i g e n Ausschuß des Reichsrates am 13. 3. 1922, Aufzeichnung der Braunschw. u. Anhalt. Gesandtschaft Nr. 743, Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 A Neu 13, Nr. 37507.

235 Himmer, Rathenau, S. 182. 74

designierte Deutsche Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau, warnte in einer Denkschrift zur Ostpolitik vor übertriebenen Erwartungen und hielt ein stärkeres deutsches Auftreten im Osten derzeit für verfrüht, weil das Deutsche Reich „wirtschaftlich ebenso wie Rußland noch außerstande" sei, sich „auf ein derartiges Experiment einzulassen" 236 . Die im Deutsch-Osteuropäischen Wirtschaftsverband zusammengeschlossenen über 500 Firmen sahen jedoch schon günstige Arbeitsbedingungen. In einer Resolution forderten sie die Reichsregierung dazu auf, nach dem politischen Schritt des Rapallo-Vertrages die Wirtschaft bei ihrem Bemühen um ein Vordringen auf den russischen Markt zu unterstützen 2 3 7 . Zu den Unternehmen, die jetzt ihren „Willen zur Tat" bekundeten, gehörte z. B. die Automobilfirma Mercedes 238 . Die Deutsche Bank konnte sich bei der Abwehr eines Vorstoßes der Shell-Gruppe in den Kaukasus auf die Hilfe von Regierungsstellen verlassen, um das zukunftsträchtige Ölgeschäft in eigene Hände zu bekommen 239 . Aus Kreisen der Ruhrindustrie wurde die Hoffnung geäußert, daß die deutsche Industrie vor allem als Hauptlieferant von Maschinen und anderen Produktionsmitteln in Rußland auftreten könne 240 . Die oberschlesische Industrie hoffte als Ersatz für die an Polen verlorenen Gruben auf einen ungehinderten Zugang zu den russischen Eisenerzen, vor allem zu den wichtigen Manganerzen im Kaukasus und den Gruben in Krivoij Rog, an denen sie schon vor dem Ersten Weltkrieg beteiligt gewesen war. Außerdem erwartete man vorteilhafte Ausfuhrmöglichkeiten von Eisen-, Zink- und Zementerzeugnissen 2 4 1 . Auch die Chemieindustrie erkundete die Zukunftsaussichten des russischen Marktes und zeigte ein lebhaftes Interesse 242 . Verständlich wird dies, wenn man bedenkt,

236

Promemoria Brockdorff-Rantzaus über Ostpolitik vom 15. 8. 1922, in: Ursachen und Folgen, Bd VII, Nr. 1407c. 237 Schreiben des Deutsch-Osteuropäischen Wirtschaftsverbandes an Reichskanzler Wirth vom 2. 5. 1922, DSB 1922-1925/1, Nr. 10. 288 Schreiben Katzensteins (Mercedes] an Maltzan vom 15. 9. 1922, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 3 und 4. Siehe auch ein weiteres Schreiben Katzensteins vom 26. 2. 1924, DSB 1922-1925/1, Nr. 150. 239 K a b i n e t t s s i t z u n g v o m 6. 5. 1922, i n : D a s K a b i n e t t W i r t h II, Nr. 262, S. 760. 240 Siehe Baare, F., Die Aussichten der deutschen Industrie in Rußland, in: Wirtschaftliche Nachrichten aus dem Ruhrbezirk 8(1. 7. 1922), S. 7-10. 24i Schreiben des DIHT an das A. A. betr. Ausgestaltung des Rapallovertrages, vom 14. 12. 1922, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 280/4. 242 Siehe z. B. Haken, Heinrich v., Rohstoffwirtschaft und chemische Industrie Rußlands im letzten Jahrzehnt, Diss., Erlangen 1923. Auch in der Fachpresse anderer Industriezweige läßt sich in dieser Zeit eine auffällige Häufung von Rußland-Artikeln feststellen, in denen das vorrangige Interesse an russischen Rohstoffen erkennbar wird. Zum Vorstoß der Chemieindustrie siehe Stellungnahme des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie 75

daß im Jahre 1922 der Höhepunkt des industriellen Wachstums in Deutschland nach Kriegsende erreicht worden war. Die Produktionsrate w a r doppelt so groß wie 1919 und wurde erst 1925 wieder übertroffen 2 4 8 . Abgesehen von solchen konkreten ökonomischen Interessen belebte der Abschluß des Rapallo-Vertrages erneut frühere Hoffnungen, mit einer wirtschaftspolitischen Einflußnahme in Sowjetrußland den sich scheinbar schon vollziehenden Regimewandel beschleunigen zu können. Auf diese Weise hatten sich die ökonomischen u n d außenpolitischen Interessen des Reiches absichern lassen, die von einer dauerhaften Gestaltung enger Beziehungen mit einem Rußland ausgingen, das von einer „gemäßigten" und deutschen Einflüssen geneigten Regierung geführt wurde. So gesehen überrascht es nicht, daß sich in der deutschen Presse jetzt Nachrichten und Kommentare häuften, die ein gesteigertes Interesse für das Deutschtum in Rußland, die Entwicklung einer neuen russischen Bourgeoisie und an der Kirchenfrage zeigten. Daß die am Rußland-Geschäft interessierte deutsche Wirtschaft nicht nur kurzfristige Absatzerwartungen hegte, sondern die längerfristigen politischen Implikationen im Auge behielt, zeigten mehr als tausend Anfragen, die allein im Jahre 1922 an die wirtschaftliche Beratungsstelle des Breslauer Osteuropa-Instituts gerichtet wurden und Auskunft verlangten über die zu erwartende innere Entwicklung Sowjetrußlands 2 4 4 . Wie die Antworten des Leiters der Beratungsstelle zeigten, w a r dieser überzeugt davon, daß mit der Freigabe des Binnenhandels in Rußland bereits eine Evolution vom Kommunismus zum Kapitalismus eingeleitet worden sei. Diese Entwicklung sah er als zwangsläufig an und hielt sie für unumkehrbar, da Rußland ohne ausländisches Kapital dem wirtschaftlichen Ruin entgegengehe. Der Einzug ausländischer Investoren aber habe schon jetzt die „Todesstunde" der kommunistischen Diktatur eingeläutet, denn die nach kapitalistischen Grundsätzen betriebenen Wirtschaftsunternehmen erwiesen sich auf die Dauer gegenüber den staatlichen Betrieben als weit überlegen und riefen einen immer stärker werdenden Sog zur Re-Privatisierung hervor 2 4 5 . Solche Vorstellungen w u r d e n auch auf Seiten der Industrie als Teil einer weitgespannten Revisionspolitik begriffen. Man war sich zwar bewußt, daß

Deutschlands e. V. für das A. A. vom 1. 11. 1922, betr. Wirtschaftsverhandlungen mit Rußland, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 280/4. Siehe hierzu auch Rosenfeld, Auswirkungen, und Grottian, Genua, der nachweist, daß die anfänglichen Hoffnungen der deutschen Exportwirtschaft „sehr enttäuscht" wurden. Zur Haltung einzelner Unternehmen und Wirtschaftszweige siehe weiter bei Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 293 ff. Zur sowjetischen Einschätzung vgl. u. a. Kobljakov, Načalo Rapall'skogo perioda. 243 Holtfrerich, Die konjunkturanregenden Wirkungen, S. 179. 2« Siehe Fuckner, Rußlands neue Wirtschaftspolitik [wie Anm. 132). 2« Ebd. 76

Deutschland in nächster Zeit „aktive Politik so gut wie nicht machen" konnte, hielt es aber für unverantwortlich, nicht alles zu tun, „was einer späteren Generation dies wieder gestatten wird" 246 . Die Visionen von Hugo Stinnes spiegelten zweifellos weitverbreitete Auffassungen wider. Ein amerikanischer Diplomat charakterisierte sie so: „Er sieht, wie der Weg gen Osten sich wieder öffnet, das Verschwinden von Polen, die deutsche wirtschaftliche Ausbeutung von Rußland und Italien. Seine Absicht ist friedlich und auf Wiederaufbau gerichtet. Wird sie nicht vielleicht doch zu einem neuen Krieg führen, falls wir und der Rest der Welt nicht gewillt sind, uns unter deutsche Oberherrschaft zu begeben 2 4 7 ?"

6. Das Scheitern der ökonomischen Allianz a) Der Entwurf eines formellen

Rahmens

Auch wenn das Vertrauen auf die allmähliche Rückkehr Rußlands zu kapitalistischen Wirtschaftsformen noch unerschüttert war, so wollten sich politische und wirtschaftliche Führungskreise in Deutschland doch keineswegs auf den als „natürlich" verstandenen Ablauf der Entwicklung verlassen. Die Bildung von sieben Kommissionen im Auswärtigen Amt während des Sommers 1922 diente dem Ziel, in engem Kontakt mit Expertengruppen und interessierten Wirtschaftskreisen ein groß angelegtes wirtschaftspolitisches Programm zu erarbeiten, um die mit dem Rapallo-Vertrag geschaffenen politischen Rahmenbedingungen für die Festigung und Vertiefung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen auszunutzen 2 4 8 . In einem ersten Schritt handelte es sich darum, den mit der Russischen Sozialistischen Förderativen Sowjet-Republik abgeschlossenen Rapallo-Vertrag auf die anderen Sowjet-Republiken auszudehnen 2 4 9 . Die Reichsregierung beabsichtigte zwar wegen der angespannten Beziehungen zu Frankreich zunächst keinen raschen Abschluß des Ausdehnungsvertrages, doch sah sie sich unter dem Druck zahlreicher deutscher Firmen, die ihre anlaufenden

246 Schreiben des Berliner Verbindungsmanns der GHH, Emil Guggenheimer, an Konzernchef Paul Reusch vom 24. 10. 1922, zit. bei Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 312. 247 Tagebuch-Eintrag v o n William R. Castle, Chef d e r W e s t e u r o p ä i s c h e n Abteilung d e s U.S. D e p a r t m e n t of State, v o m 19. 11. 1922, nach einem Gespräch mit Stinnes, zit. nach Hallgarten, Hitler, S. 60. 248 Unterlagen und Protokolle im Bestand PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 278/1. Eine entsprechende Darstellung und Würdigung dieser Vorgänge findet sich weder in der einschlägigen Rapallo-Literatur noch in der umfassenden Abhandlung von Pogge von Strandmann, Großindustrie. 249 Hierzu die Dokumente in DSB 1922-1925/I, z. B. Nr. 24. 77

Geschäftsverhandlungen völkerrechtlich abgesichert sehen wollten, bald zum Handeln gezwungen 250 . Berlin wurde dabei auch von der Zusicherung des englischen Botschafters ermutigt, daß es London begrüßen werde, „wenn die deutsche Industrie sich noch mehr als bisher und weiter als bisher in Rußland betätige. Dies sei der beste Kampf gegen den Marxismus in Rußland. England würde derartige Bestrebungen von jetzt ab nur unterstützen 251 ." Bei der Schaffung eines formellen Rahmens für die deutsche Wirtschaftstätigkeit in Sowjetrußland ging es vordergründig zwar um die Klärung von Niederlassungs-, Aufenthalts- und Rechtsschutzfragen, tatsächlich w a r die deutsche Vertretung in Moskau aber bemüht, die übergeordneten Gesichtspunkte durchzusetzen. Man müsse „in Deutschlands und Rußlands Wirtschaft ein Gemeinsames, zusammenhängende Teile eines Wirtschaftskörpers [... und] in der wirtschaftlichen Unterstützung Rußlands, sei es in Arbeit, Lieferungen oder Kreditleistung in Wirkung und Endresultat ein gemeinsames Interesse und die Sicherung der deutschen Zukunft sehen" 252 . Während einer interministeriellen Besprechung im Auswärtigen Amt am 19. August 1922 hatte man sich zunächst darauf geeinigt, die bestehenden Rechtsvorschriften in Sowjetrußland zu sichten, um die Haupthindernisse für eine Ausweitung der deutschen Wirtschaftstätigkeit festzustellen und Lösungsvorschläge zu entwickeln 253 . Aus den nachfolgenden Absprachen mit der Privatwirtschaft läßt sich als Forderungskatalog zusammenstellen: 1. die Beseitigung bzw. allmähliche Auflösung des sowjetrussischen Außenhandelsmonopols; 2. die Gewährleistung eines direkten, unbehinderten Verkehrs mit russischen Firmen und deutschen Niederlassungen; 3. die absolute Verfügungsgewalt der deutschen Konzessionäre über die von ihnen übernommenen Unternehmungen und 4. die ungehemmte Bewegungsfreiheit für deutsche Wirtschaftsvertreter in Sowjetrußland. Das Auswärtige Amt griff mit diesen unverhüllten Penetrationszielen auf das Vorbild deutscher Wirtschaftsexpansion während der Brest-Litovsk-Ära zurück. Zu denen, die dieses Maximalprogramm vorbehaltlos unterstützten, zählte neben anderen die Chemie-Industrie sowie der Deutsche Industrie-

250 Siehe Entwurf Maltzans für eine Rede Reichsaußenministers Rosenberg v o r dem A u s w ä r t i g e n Ausschuß des Reichstages vom 30. 11. 1922, ebd., Nr. 35. 251 Aufzeichnung eines Telefongesprächs zwischen Maltzan und dem englischen Botschafter in Berlin Viscount Edgar Vincent D'Abernon vom 6. 11. 1922, ebd., Nr. 28. 252 Abschrift IVa Ru 8235, M e m o r a n d u m der Deutschen Vertretung in Rußland vom 3. 8. 1922, Ziele deutscher Betätigung in der russischen Wirtschaft, P A - A A , G e h e i m a k t e n 1920-1936, Bd 279/5. 253 Abschrift IVa Ru 7388, Aufzeichnung ü b e r eine Besprechung im A. A. am 19. 8. 1922, ebd., Bd 283/8. 78

und Handelstag (DIHT) 254 . Die Großbanken hingegen zeigten sich angesichts der augenblicklich äußerst geringen Geschäftsmöglichkeiten in Sowjetrußland vorerst an einem Engagement nicht interessiert 255 . Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) gab sich in einem ersten Gutachten ebenfalls zurückhaltend. Anstatt sich mit ungewissen Erfolgsaussichten auf langwierige Verhandlungen mit Moskau einzulassen, sei es die bei „weitem wichtigere und für die deutsche Wirtschaft nützlichere Aufgabe der deutschen Regierung, den Rapallovertrag so auszugestalten, daß es der deutschen Industrie ermöglicht wird, sich Rußland sowohl als Absatz- wie als Produktionsgebiet für Rohstoffe zu erschließen und ihre Tätigkeit nach dieser Richtung hin so bald als möglich aufzunehmen" 2 5 6 . Die auftretenden Meinungsunterschiede waren vor allem durch divergierende Geschäftsinteressen verursacht. In den einzelnen Konzernführungen wurde darum gerungen, ob man vorrangig kurzfristige Gewinne im Rahmen eines Warenaustausches oder langfristige Investitionsmöglichkeiten anstreben sollte und konnte 257 . Das vom Auswärtigen Amt konsultierte „Wirtschaftsinstitut für Rußland und die Oststaaten" in Königsberg riet zu einem überlegten Vorgehen 258 . In Anbetracht der noch offenen Entwicklung in Sowjetrußland sei es klüger, die Forderungen gegenüber Moskau zu beschränken und auf diese Weise zu rasch wirksamen Vereinbarungen zu kommen. Der deutsche Vorstoß solle dort ansetzen, wo die geringsten Schwierigkeiten zu erwarten seien, d. h. bei der Organisation des Handelsverkehrs. Die Regelung eines freien Güter- und Personenverkehrs, die Gestaltung des sowjetrussischen Zolltarifs und der ungehinderte Devisentransfer für die in Rußland tätigen Unternehmer wurden als erste Ansatzpunkte für die Aus-

254

Stellungnahme des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands vom 1. 11. 1922 (wie Anm. 242] und Stellungnahme des DIHT für das A. A. vom 1. 11. 1922, betr. Ausgestaltung des Rapallovertrages, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd. 280/4. 255 Abschrift, Vertrauliche Aufzeichnung ü b e r die Besprechung m i t d e n H e r r n Vertretern der an der Wiederaufnahme des Bankverkehrs mit Rußland interessierten Berliner Großbanken im Reichsbank-Direktorium am 30. 11. 1922, ebd., Bd 284/6. 256 Abschrift zu IVa R u 162, Reichsverband d e r Deutschen Industrie T g b . Nr. 602 RI v o m 10. 12. 1922, betr. W i e d e r h e r s t e l l u n g privatrechtlicher Schuldverhältnisse mit Rußland, ebd., Bd 283/8.

257 Zur Politik verschiedener U n t e r n e h m e n siehe Pogge v. Strandmann, Großindustrie, S. 299 ff., der hier allerdings nicht die Ebene des Geschäftskalküls verläßt u n d die Kooperation mit dem A. A. u n d die langfristigen M a r k t s t r a t e gien unberücksichtigt läßt.

258 Siehe Stellungnahme des Wirtschaftsinstituts für Rußland und die Oststaaten und des Meßamts Königsberg Pr. vom 5. 9. 1922, PA-AA, Geheimakten 19201936, Bd 280/4. 79

gestaltung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen verstanden. Auch die deutsche Vertretung in Moskau wies nachdrücklich darauf hin, daß man mit Maximalforderungen an das Sowjetregime nur unnötigen Widerstand und damit Zeitverluste provozieren würde 2 6 9 . Diese Mahnung erwies sich bald als begründet, denn die vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) [KPR[B]] am 6. Oktober 1922 beschlossene Lockerung des Außenhandelsmonopols wurde nach einer heftigen Debatte in der Moskauer Führungsspitze bereits im Dezember 1922 wieder zurückgenommen 260 . Dessenungeachtet fixierte das Auswärtige Amt am 11. Dezember 1922 noch einmal die Maximalforderungen und faßte sie in einem Entwurf zu „Normativ-Bestimmungen für Konzessionsverträge oder Verträge entsprechender Art mit Rußland" zusammen 261 . Angesichts dieser politischen Entschlossenheit wollte auch der RDI nicht zurückstehen. In einer erneuten Stellungnahme Anfang 1923 faßte er die „Wünsche der deutschen Industrie" in der Forderung zusammen, „daß alles getan werden müsse, um dem privatwirtschaftlichen Prinzip in Rußland zum Sieg zu verhelfen" 262 . Der vierzehn Tage zuvor in Berlin verkündete passive Widerstand gegen die Ruhrbesetzung und die krisenhafte Zuspitzung der Lage Deutschlands hatten die Bedeutung der Ost-Option unterstrichen, was verständlich macht, daß die deutsche Industrie ihren Blick verstärkt auf den russischen Markt richtete. Der RDI stellte sich auf das Maximalprogramm des Auswärtigen Amtes ein und forderte umfassende Privilegien für die deutsche Wirtschaft in Sowjetrußland. Diese sollten gegenüber Moskau mit dem Hinweis auf die unsicheren politischen Verhältnisse im Lande und mit dem in Rapallo vereinbarten Prinzip der Meistbegünstigung gerechtfertigt werden. Besonderes Gewicht legte der RDI auf eine Ausdehnung der vorgesehenen Pachtzeiten auf 99 Jahre und die Unterbindung jeglicher Kontroll- und Einspruchsrechte von Seiten zentralstaatlicher und lokaler Autoritäten. Derartige Planungen erhielten weitere Anstöße auch durch die Rückkehr des Geheimrates Rudolf Asmis, der im Auftrag des Auswärtigen Amts während einer Reise durch Sibirien, China, Japan und die Mongolei neue Projekte

259 Schreiben der Deutschen Vertretung in Rußland an den Minister des A u s w ä r tigen vom 10. 9. 1922, ebd., Bd 278/1. 260 Siehe hierzu Gotthelf, Außenhandelsentwicklung, S. 45 ff. 201 Abschrift, Entwurf Normativ-Bestimmungen für Konzessionsverträge oder Verträge entsprechender Art mit Rußland, vom 11. 12. 1922, P A - A A , Geheima k t e n 1920-1936, Bd 284/8. 262 Reichsverband der Deutschen Industrie Tgb. Nr. 655/II vom 26. 1. 1923, Betrifft: Ausgestaltung des Rapallo-Abkommens, ebd., Bd 279/7.

80

für die deutsche Wirtschaft erkundet hatte 268 . Auch der „Sachverständige für wirtschaftliche Angelegenheiten des Auswärtigen Amts", Moritz Schlesinger, w a r im Auftrage eines von der AEG geleiteten Syndikats nach Moskau gereist, um Möglichkeiten für die lange geplante und strategisch wichtige Beteiligung deutscher Firmen am Wiederaufbau des sowjetrussischen Eisenbahnwesens zu eruieren 264 . Dabei kam es ihm besonders darauf an, die auf deutscher Seite gehegten „Vorstellungen finanziellen, politischen und militärischen Charakters zu berücksichtigen" 265 . Außerdem bemühte sich der Generaldirektor der AEG selbst darum, den deutschen Botschafter in Moskau zu einer Intervention gegen die schwedische Konkurrenz beim Ausbau der sowjetrussischen Energiewirtschaft zu bewegen 266 . Diese vielfältigen Aktivitäten veranlaßten schließlich den Botschafter zu dem dramatischen Appell, über alle retardierenden Vorbereitungen und Bedenken hinweg das ökonomische Engagement des Reiches in Sowjetrußland unverzüglich auszuweiten: „Nutzen wir die Zeit der ,Kompromisse', auf die die Sowjetregierung nach ihrem eigenen Eingeständnis nicht verzichten kann, für unsere Ziele 267 ." Jegliches Zögern und Taktieren, das auf den baldigen Zusammenbruch des Sowjetstaates setze und daher Zugeständnisse an die derzeitigen Machthaber vermeiden wolle, sei verfehlt. Auch wenn „rein wirtschaftlich orientierte Kreise bezweifeln, schnelle Gewinne erzielen zu können", müsse zu allererst bedacht werden, daß es um die Schaffung einer „politisch-wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Deutschlands und Rußlands" als Fundament für den Wiederaufstieg des Reiches gehe.

2

°3 Aus der Aufzeichnung des amtierenden Leiters der Unterabteilung Mitteleuropa der Westabteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR Štange über eine Unterredung mit dem Geheimrat im A. A., R. Asmis, über die Möglichkeiten zur Entwicklung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen, vom 25. 12. 1922, DSB 1922-1925/1, Nr. 44. {Rudolf Asmis betätigte sich später als kolonialpolitischer Experte der NSDAPReichsleitung.) Ein Überblick über bereits abgeschlossene Verträge mit deutschen Firmen findet sich im Schreiben des Handelsvertreters der RSFSR in Deutschland, B. S. Stomonjakov, an Lenin vom 13. 12. 1922, ebd., Nr. 41.

264 Siehe Note des A. A. an die Bevollmächtigte Deutschland vom 9. 1. 1923, ebd., Nr. 50.

Vertretung

der

RSFSR

in

265

Aufzeichnung des amtierenden Leiters der Unterabteilung der Westabteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR, A. A. Štange, über eine Unterredung mit dem Sachverständigen des Auswärtigen Amts M. Schlesinger vom 24. 1. 1923, ebd., Nr. 54. 266 Schreiben des Generaldirektors der AEG F. Deutsch an den Deutschen Botschafter in Moskau vom 6. 2. 1923, ebd., Nr. 59. 267 Aus dem Bericht des Deutschen Botschaflers in der RSFSR, U. v. BrockdorffRantzau, an das Auswärtige Amt vom 6. 12. 1922, ebd., Nr. 40, S. 134. 81

b] Der H a n d e l v e r t r a g mit

Sowjetrußland

Dieses Drängen Brockdorff-Rantzaus auf eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen zu Sowjetrußland, das im Gegensatz zu seiner abwartenden Haltung im Sommer 1922 stand, erklärt sich aus der schwierigen außenpolitischen Lage Deutschlands am Vorabend der Ruhrbesetzung. Sie war aus dem Bemühen der Reichsregierung entstanden, gestützt auf die mit dem Rapallo-Vertrag sowie den daraus resultierenden wirtschaftlichen und militärischen Abmachungen erreichte Rückendeckung im Osten, in der Reparationsfrage endlich einen Durchbrach zu erzielen und Frankreich eine diplomatische Niederlage beizubringen 208 . Die deutsche Industrie wollte das Reparationsproblem mit einer Revision der handelspolitischen Beschränkungen des Versailler Vertrages verbinden, um damit die Voraussetzungen für eine machtvolle Expansion auf dem Weltmarkt zu schaffen. Ihre Bemühungen zur Erlangung einer marktbeherrschenden Position in Rußland waren also nur Teilschritte zur Durchsetzung einer globalen Strategie, mit der Deutschland seine Vorkriegsposition in der Weltwirtschaft zurückerlangen sollte. Das Vertrauen auf die angelsächsischen Mächte in der Reparationsfrage erwies sich jedoch als trügerisch. Die USA verhielten sich passiv, während Großbritannien eine Gesamtlösung unter Einbeziehung der Kriegsschuldenfrage anstrebte, was von Washington aber abgelehnt wurde. So gewann die von Raymond Poincare geführte nationalistische Politik Frankreichs Spielraum, um Deutschland zur Fortsetzung der Reparationszahlungen zu zwingen. Als französische und belgische Truppen Mitte Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten und Deutschland an der Schwelle eines Krieges zu stehen schien, verstärkte sich die Fluchtbewegung des deutschen Kapitals nach Osten und die Suche nach langfristigen Anlagemöglichkeiten in Sowjetrußland 269 . Damit in Übereinstimmung standen wiederholte Kommentare der deutschen Wirtschaftspresse, daß Deutschlands wirtschaftliche Zukunft von der Erschließung des russischen Marktes abhänge und die Voraussetzungen dafür außerordentlich günstig seien 270 . Ein dem Auswärtigen Amt nahestehender Publizist registrierte auf einer Reise durch Sowjetrußland erneut positive Ansätze für eine deutsche Wirtschaftstätigkeit. Rußland, so lautete

208

Siehe hierzu umfassend Rupieper, Cuno Government, insbes. S. 31 ff. Schreiben des Handelsvertreters in Deutschland, B. S. Stomonjakov, an das Zentralkomitee der KPR(B] über die Konzessionsverhandlungen, vom 9. 2. 1923, DSB 1922-1925/I, Nr. 60. 270 Siehe z. B. Steinert, Hermann, Deutschland und der russische Markt, in: Schiffahrts-Jahrbuch 4(1923), S. 245-250, und Fischer, Otto, Der heutige Stand der russischen Industrie, in: Deutsches Leben in Rußland 1(1923], Nr. 1/2, S. 20-23.

209

82

seine Prognose, werde „eine politische und wirtschaftliche Entwicklung nehmen, die selbst Optimisten in Erstaunen setzen muß" 2 7 1 . Berlin bemühte sich in diesem Sinne darum, erste Kontakte mit SowjetVertretern für Verhandlungen über eine Ausgestaltung des Rapallo-Vertrages zu intensivieren. Die deutschen Diplomaten waren unter den veränderten Umständen bereit, auf Maximalforderungen zu verzichten und durch eine Einigung in konkreten Einzelfragen möglichst schnell eine bessere Rechtsbasis für die deutsche Wirtschaftstätigkeit in Sowjetrußland zu schaffen 272 . Das Fehlen verbindlicher bilateraler Abmachungen hatte in der Vergangenheit nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß viele Interessenten wegen der unwägbaren Risiken vor dem Rußland-Geschäft zurückschreckten. Der Abschluß des Warenlieferungsabkommens vom 1. März 1923 w a r ein erstes positives Signal gewesen. Man erreichte damit die Lieferung russischen Getreides gegen Papiermark, bzw. die Verpflichtung Moskaus, diese Erlöse zur Finanzierung deutscher Industriewaren zu verwenden und auf diese Weise einen Beitrag zur Belebung der deutschen Wirtschaftskonjunktur zu leisten 273 . Auf Drängen von Industrie und Handel hatte die Reichsregierung — trotz erheblicher Bedenken einiger Ressorts — mit einem Reichskredit den Abschluß des Abkommens ermöglichen müssen 274 . Mit der Bildung eines Firmenkonsortiums hoffte man, die bisher uneinheitliche Haltung der deutschen Wirtschaft überwinden und damit den Ausbau der deutsch-sowjetrussischen Wirtschaftsbeziehungen erleichtern und beschleunigen zu können 275 .

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272

273 274

2

75

Ross, Colin, Der Weg nach Osten, Reise durch Rußland, Ukraine, Transkaukasien, Persien, Buchara und Turkestan, Leipzig 1923, S. 9. Ein Auszug erschien auch unter ders., Deutsch-ukrainische Wirtschaftsmöglichkeiten, in: Deutsches Leben in Rußland 1 (1923), Nr. 3/4, S. 57 f. Der Verfasser durfte seine Reiseeindrücke 20 Jahre später, am 15. 3. 1940, Hitler und Goebbels vortragen, die sich dadurch in ihrem Urteil über das Sowjetregime bestätigt fühlten; Tagebuch Goebbels, Eintrag vom 15. 3. 1940, BA, Nachlaß Goebbels, Nl 118/66. Schreiben des Reichsaußenministers Rosenberg an den Deutschen Botschafter in Moskau vom 16. 5. 1923, in: DSB 1922-1925/1, Nr. 86. Zu den weiteren Verhandlungen siehe ebd., Nr. 61 und 97. Vorl. Verständigung über ein deutsch-sowjetisches Warenlieferungsabkommen vom 1. 3. 1923, ebd., Nr. 63. Siehe Niederschrift über das Ergebnis der im Reichswirtschaftsministerium stattgefundenen Besprechungen am 27./28. 4. 1923, ebd., Nr. 82, und Vertrag zwischen der Handelsvertretung der RSFSR und der Reichskreditgesellschaft vom 3. 7. 1923, ebd., Nr. 100. Schreiben des Staatssekretärs im A. A., v. Maltzan, an den Staatssekretär in der Reichskanzlei Frhr. v. Rheinbaben, vom 4. 7. 1923, ebd., Nr. 105. 83

Gesamteinfuhr Sowjetrußlands und der deutsche Anteil [nach Angaben der sowjetischen Statistik)

Jahr

Gesamteinfuhr davon aus Deutschland in 100 Goldrubeln %

1913 1921 1922 1923 1924

1 374 034 210 003 269 799 144 056 217 543

652 209 54 360 88 337 49 707 45 910

47,4 25,8 32,7 34,5 21,1

Quelle: Denkschrift Stresemanns vom 26. Januar 1926, ADAP, B, II/l, Nr. 50. Der Fortgang der Handelsvertrags-Verhandlungen wurde dann aber durch die Neuorientierung der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik nach Einstellung des Ruhrkampfes Ende 1923 erheblich tangiert. Nachdem Außenminister Stresemann Mitte 1924 auf der Londoner Konferenz eine Räumung des Ruhrgebietes und die Annahme des Dawes-Plans erreicht hatte, der die Reparationsverpflichtungen erstmals unter dem Kriterium der deutschen Zahlungsfähigkeit festlegte und durch eine internationale Anleihe erleichterte, waren die Weichen für eine politische und wirtschaftliche Annäherung Deutschlands an die Westmächte gestellt. Zur gleichen Zeit entlarvte eine Polizeiaktion die sowjetrussische Handelsvertretung in Berlin als geheime Steuerungszentrale kommunistischer Aktivitäten und Aufstände im Reich. Damit erreichten die deutsch-russischen Beziehungen einen deutlichen Tiefpunkt, der sich lähmend auf die Handelspolitik und den Warenaustausch auswirkte. Die von Moskau geforderte Exterritorialität seiner Berliner Handelsvertretung wollte die Reichsregierung aus innenpolitischen Rücksichten nicht gewähren, so daß die Vertragsverhandlungen schließlich ins Stocken gerieten 270 . In helle Aufregung geriet die Wilhelmstraße, als von sowjetischer Seite unverblümte Drohungen geäußert wurden, man werde beispielsweise

270 Als die Verhandlungen im November 1924 wieder aufgenommen wurden, warnte der Reichsminister des Innern, Karl Jarres, das Auswärtige Amt in einem Schreiben vom 31. 12. 1924 davor, zur „Erlangung fragwürdiger Vorurteile auf dem Gebiete der Außen- und Wirtschaftspolitik" innenpolitische Belange in einer Weise zu opfern, „die den Bestand seiner Verfassung in Gefahr bringen können", ebd., Nr. 252. In der z. T. öffentlich geführten Debatte fehlte es nicht an Stimmen, die zu einem radikalen Bruch in der deutschen Politik rieten; siehe die Ausführungen des bekannten Ostexperten Seraphim, Ernst, Deutsch-russische Beziehungen 1918-1925, Berlin 1925, der von einer „gewissen wirtschaftlichen Illusionspolitik" spricht (S. 11). 84

den deutschen Konzessionären größte Schwierigkeiten bereiten u n d sich nicht scheuen, die geheimen militärischen Vereinbarungen zwischen beiden Staaten bekannt zu machen 2 7 7 . Eine schriftliche Entschuldigung der Sowjetregierung für diese Vorfälle, für die sie untergeordnete Stellen verantwortlich machte, konnte das deutsch-sowjetische Verhältnis nicht entkrampfen. Eine derartige Entwicklung w a r im Auswärtigen Amt nicht erwartet worden. Noch Anfang 1924 hatte m a n sich in einer überlegenen Verhandlungsposition geglaubt. In einem Gespräch mit Georgij Čičerin am 29. März hatte der Deutsche Botschafter mit Nachdruck eine ständige Unterrichtung über die laufenden sowjetisch-britischen Wirtschaftsverhandlungen verlangt u n d die Erwartung geäußert, daß Deutschland eine vermittelnde Rolle übernehmen k ö n n e 2 7 8 . Dem Vorwurf Brockdorff-Rantzaus, daß der RapalloVertrag Deutschland bislang keinen wirtschaftlichen Vorteil gebracht habe, hielt Cičerin mit Recht entgegen, daß sich die Verhältnisse in Rußland in den letzten zwei Jahren wesentlich geändert hätten. „Vor zwei Jahren sei noch die Rede davon gewesen, daß große deutsche Konzerne, Stinnes, Krupp, A.E.G., Rußland bedeutende Kredite gewähren würden, m a n habe aber, weil m a n der Stabilität der russischen Verhältnisse nicht traute", in Deutschland allzu lange gewartet, „bis die russische Regierung u n d das russische Volk zu der Überzeugung gekommen seien, den Wiederaufbau des Landes allein durchführen zu k ö n n e n " . Die immer spürbarer werdende „Emanzipation" des sowjetischen Verhandlungspartners war in Berlin noch immer nicht wahrgenommen worden. Der Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt, Wilhelm Wallroth, setzte auf eine weitere Zuspitzung der politischen u n d ökonomischen Krise in der UdSSR, um die deutschen Verhandlungsziele erreichen zu können. „Vor Eintritt dieses anscheinend nicht mehr fernen Zeitpunktes ist jeder Versuch einer Überbrückung der beiderseitigen Staats-, Rechts- und Wirtschaftssysteme mehr oder weniger gleichbedeutend mit der Lösung der Quadratur des Zirkels", meinte er 2 7 9 . Die augenblickliche politische Zurückhaltung 277 Aufzeichnungen Brockdorff-Rantzaus ü b e r seine Gespräche in Moskau v o m 3. 7. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 1, und vom 18. 7. 1924, ebd., Bd 3. 278 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus v o m 29. 3. 1924, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 5 u n d 6. Sowjetmarxistische Historiker pflegen in diesem Zusamm e n h a n g darauf hinzuweisen, daß sich die UdSSR in ihrer b e d r ä n g t e n Lage „selbstverständlich" u m die Ausnutzung der Gegenstände im imperialistischen Lager b e m ü h e n mußte, so Rosenfeld, Sowjetisch-deutscher Wirtschaftsverkehr, S. 50. Zu den diplomatiegeschichtlichen Aspekten siehe aus dieser Sicht auch Eichwede, Eintritt. 279 Schreiben Ministerialdirektor Wallroths an den Deutschen Botschafter in London, Friedrich Sthamer, vom 7. 4. 1924, in: DSB 1922-1925/1, Nr. 159. 85

sollte seiner Auffassung nach allerdings nicht die Tätigkeit deutscher Wirtschaftskreise in Sowjetrußland behindern. In diesem Sinne wurden auch die britischen Bemühungen um Übernahme sowjetrussischer Konzessionen begrüßt, denn eine solche wirtschaftliche statt der früheren politisch-militärischen Intervention werde „wahrscheinlich unter kapitalistischem Diktat den Wandlungsprozeß in Rußland zu aller Nutzen beschleunigen". Auch die Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft waren noch im Mai 1924 davon überzeugt gewesen, ein solches „Diktat" erreichen zu können. Hauptangriffspunkt sollte nach ihrer Meinung das Außenhandelsmonopol der UdSSR sein, das den bilateralen Warenaustausch von den Moskauer Staatshandelsorganen abhängig machte und es der Sowjetregierung ermöglichte, die Tätigkeit ausländischer Unternehmen im Lande zu steuern 280 . Während alle russischen Einkäufe in Deutschland von der Handelsvertretung in Berlin zentral gelenkt und die Konkurrenz deutscher Anbieter geschickt genutzt werden konnte, war deutschen Firmenvertretern in der Sowjetunion ein direkter, ungehinderter Verkehr mit einheimischen Geschäftspartnern nicht gestattet. Von sowjetischer Seite warb man für das Außenhandelsmonopol mit dem Hinweis, daß eine totale Öffnung des russischen Marktes nicht im wohlverstandenen Interesse Deutschlands liegen könne, weil dann unter dem Einfluß von Spekulanten künstliche Schwankungen im Wirtschaftsverkehr entstünden, die dann den deutschen Absatz und Rohstoffbezug gefährden würden 2 8 1 . Industriekreise hingegen wollten im staatlichen Außenhandelsmonopol der UdSSR nur ein Hindernis sehen, das geschäftliche Nachteile für deutsche Firmen bedingte und geeignet war, ihre marktbeherrschenden Strategien in Rußland zu durchkreuzen. Ein offizieller Handelsvertrag aber, daran ließ Moskau bei allen Zugeständnissen in Einzel-

sso Siehe hierzu die Schrift des Leiters der Handelsvertragsabteilung im Volkskommissariat für Außenhandel, Kaufman, M, Organizacija irregulirovani vnesnej torgovli Rossü, Moskva 1925; außerdem Schenk, Johannes, Das Außenhandels-System Sowjet-Rußlands unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-russischen Import- und Exporthandels, Diss., Marburg 1926; Seraphim, Hans-Jürgen, Wesen und Entwicklung des Außenhandels Sowjetrußlands, in: Neue Grundlagen der Handelspolitik. Wissenschaftliche Gutachten von Eugenio Anzelotti u. a., hrsg. von Franz Eulenburg, 2. Teil: Ausland, München und Leipzig 1925 (= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd 171), S. 170225; Mainz, Karl, Die Auswirkungen des Außenhandelsmonopols der UdSSR auf die deutsch-sowjetrussischen Wirtschaftsbeziehungen. Eine Untersuchung unter dem Gesichtspunkt handelspolitischer Gegenseitigkeit, Berlin 1930 (= Königsberger sozialwissenschaftliche Forschungen, Bd 3); Freymuth, Historische Entwicklung, und Smith, Soviet foreign Trade. 281 Ausführungen des Wirtschaftssachverständigen der Komintern, Prof. Eugen Varga, Die deutsch-russischen Handelsvertrag-Verhandlungen, in: Der Weg nach Osten 1(1922), Nr. 14/15, S. 3 f. 86

fragen keinen Zweifel, war nur denkbar bei einer Anerkennung des Außenhandelsmonopols. Eine Anhörung der wichtigsten Industrievertreter im Auswärtigen Amt machte deutlich, daß es keine einheitliche Auffassung über das weitere Vorgehen gab. Der Konzernchef Werner v. Siemens vertraute ganz auf den Erfolg des bisherigen Kurses und drängte auf handelsvertragliche Absicherung und Ausweitung der deutschen wirtschaftlichen Einflußsphären in der UdSSR, um für den erwarteten baldigen Regimewechsel gewappnet zu sein 282 . Der Vorsitzende des Präsidiums des RDI, Krupp-Direktor Kurt Sorge, Reichstagsabgeordneter für Stresemanns DVP, hielt demgegenüber das augenblickliche Interesse der deutschen Industrie an einem wirtschaftlichen Engagement im bolschewistischen Rußland für so gering, daß man in Ruhe den Ausgang der inneren Umwälzungen abwarten könne, ohne die derzeitigen Machthaber durch eine vertragliche Anerkennung zu stützen 283 . In diese Situation hinein platzte der Streit um die sowjetische Handelsvertretung. Angesichts zunehmender Spannungen im deutsch-sowjetischen Verhältnis und zeitweilig erfolgreich scheinender Bemühungen Moskaus um eine Annäherung an England lenkte das Auswärtige Amt ein. Wallroth kam in einer Zwischenbilanz der Vertragsverhandlungen Anfang September 1924 zu dem Ergebnis, daß ein baldiger Abschluß wünschenswert und notwendig für Deutschland sei 284 . Wenn sich Moskau zuvor mit London verständige, werde man auf deutscher Seite keine Zugeständnisse der Sowjetregierung mehr erwarten können. Dank seiner größeren Kapitalkraft werde England dann eine größere Bewegungsfreiheit auf dem russischen Markt erlangen und Deutschland verdrängen. Selbst bei einem Scheitern der sowjetischbritischen Verhandlungen sei eine weitere Zurückhaltung Deutschlands nicht zu rechtfertigen, denn wenn Rußland schließlich in eine wirtschaftliche Agonie gerate und seine letzten Kräfte verbrauche, dann bleibe Moskau früher oder später nur noch der „Rettungsanker einer internationalen Wiederaufbaukonferenz unter amerikanisch-englischer Führung", dem sich Deutschland „bedingungslos als willenloser Diener" anbieten müsse. Es sei jetzt die letzte Chance gegeben, „selbständig eine ausreichende wirtschaftliche Bewegungsfreiheit in Rußland zu erlangen". Bei einer Besprechung am 15. Oktober 1924 stimmten Vertreter der beteiligten Reichsressorts, von Handel, Gewerbe, Banken und Industrie nach einer teilweise kontroversen Debatte schließlich darin überein, den Abschluß eines Handelsvertrages anzustreben, auch unter Anerkennung des sowjeti-

282 Deutsch-russische Vertragsverhandlungen [Wirtschaftsverkehr), Anhörung von Interessenten, Fr. v. Siemens am 5. 5. 1924, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 280/4. 283 A n h ö r u n g Dr. Sorge a m 30. 5. 1924 u n d G e h e i m r a t Bücher a m 13. 6. 1924, e b d . 284 Aufzeichnung W a l l r o t h s für Körner vom 11. 9. 1924, P A - A A , Botschaft Moskau, Schriftwechsel des Botschafters mit Ministerialdirektor v. Körner (1925). 87

schen Außenhandelsmonopols 2 8 5 . Es sollten allerdings möglichst zahlreiche Ausnahmeregelungen erreicht werden. Auf kurze Sicht wurde der Wert eines solchen Vertrages zwar gering eingeschätzt, denn unter dem derzeitigen bolschewistischen Regime glaubte man kaum, die deutschen Vorstellungen verwirklichen zu können. Im Hinblick auf künftige Chancen sei es jedoch notwendig, so zu handeln, „daß im Falle einer Aufhebung des Außenhandelsmonopols oder einer wesentlichen Änderung der russischen Regierungsform der deutsche Handel und die deutsche Industrie die Möglichkeit hätten, sofort die früher von ihr in Rußland behaupteten Plätze wieder einzunehmen, ohne daß es dann noch neuer längerer Handelsvertragsverhandlungen bedarf". W e n n Moskau seinerseits Ende 1924 zu größeren Zugeständnissen und zur Wiederaufnahme der Verhandlungen bereit war, dann lag dies nicht nur an der erneuten Verschlechterung des sowjetisch-englischen Verhältnisses, sondern auch im Zusammenhang mit dem Bemühen zu sehen, nach der Dawes-Plan-Einigung, die Deutschland stärker als bisher auf die Kooperation mit den USA anwies, ein weiteres Abschwenken des Reiches in die antisowjetische Front der westlichen Großmächte zu verhindern 2 8 6 . Die neugewonnene Handlungsfähigkeit verstärkte allerdings in Berlin die Neigung, bei den Verhandlungen mit Moskau wieder mit Maximalforderungen aufzutreten 287 . Wallroth jedenfalls schwenkte erneut um und wollte zwar die Kompromißbereitschaft der Sowjetführung ausloten, aber die derzeitigen Machthaber in Moskau nicht durch vertragliche Verpflichtungen und Zugeständnisse Deutschlands gestärkt wissen 288 . Demgegenüber bemühten sich der Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation, Ministerialdirektor Paul v. Körner, und der Botschafter in Moskau darum, eine realistische Einschätzung der Lage in Rußland zu verbreiten 289 . Nach ihrem Eindruck saß die Sowjetregierung trotz erheblicher ökonomischer

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Vermerk des Landrates im Reichsministerium des Innern, Dr. Haentzschel, über eine Besprechung im A. A. am 15. 10. 1924, in: DSB 1922-1925/I, Nr. 228. Zum außenpolitischen Hintergrund der Handelsvertragsverhandlungen siehe auch Morgan, The political significance, und Anderle, Die deutsche RapalloPolitik, S. 101 ff. Siehe Richtlinien des A. A. für die Fortführung der Vertragsverhandlungen mit der UdSSR vom Februar 1925, in: DSB 1922-1925/II, Nr. 262. BrockdorffRantzau, der für einen Verhandlungsfortschritt deutsche Zugeständnisse für unabdingbar hielt, kommentierte dieses Programm mit bissigen Bemerkungen, ebd.

288 Aufzeichnung W a l l r o t h s vom 5. 4. 1925, ebd., Nr. 282. 289

88

Schreiben Körners an Brockdorff-Rantzau ben Brockdorff-Rantzaus an Körner vom kau, Schriftwechsel des Botschafters mit und den Bericht über eine Besprechung 1922-1925/II, Nr. 256.

vom 5. und 7. 1. 1925, sowie Schrei14. 1. 1925, PA-AA, Botschaft MosMinisterialdirektor v. Körner (1925), im A. A. am 12. 1. 1925, in: DSB

Schwierigkeiten „fest im Sattel"; mit einem Umsturz sei entgegen landläufiger Erwartungen nicht zu rechnen. Man müsse daher vom deutschen Standpunkt aus die Verhältnisse in Sowjetrußland nehmen wie sie seien und mit ihrer Dauer rechnen. Unter diesen Umständen und mit Rücksicht auf die Bedeutung Rußlands für die Stellung Deutschlands in der Welt sei ein Vertragsabschluß auch unter Einräumung von Zugeständnissen an die sowjetische Seite unumgänglich. In einem Gesamtvotum des RDI wurde schließlich Ende April 1925 der Abschluß eines Handelsvertrages mit der UdSSR abgelehnt 290 . Der Eigeninitiative der deutschen Wirtschaft sollten „nicht durch Staatsverträge Riegel vorgeschoben werden, die zu öffnen sie einfach nicht imstande ist. In den beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen arbeitet die Zeit ganz entschieden für Deutschland, und es liegt keineswegs in unserem Interesse, die Verhandlungen zu forcieren." Wenn die Reichsregierung dennoch vier Wochen später in neuen Richtlinien für die Verhandlungsführung in Moskau eine „Konkretisierung" des deutschen Verhältnisses zu Rußland als dringend geboten ansah und deshalb auf einen Vertragsabschluß auch unter weitgehenden Zugeständnissen an Moskau drängte 291 , dann lag dem nicht nur die Erkenntnis zugrunde, daß „die deutschen Wünsche nach freier Betätigungsmöglichkeit in Sowjetrußland und einer Bindung des russischen Marktes an Deutschland auf unüberwindbare Hindernisse stießen" 292 , sondern auch die Absicht, die weitere Aktivierung der Westpolitik durch eine sichtbare Übereinkunft mit der UdSSR abzustützen. Die Locarno-Konferenz Anfang Oktober 1925 führte zu einer Reihe von Verträgen, die es Stresemann und Aristide Briand ermöglichten, die deutsch-französischen Beziehungen zu normalisieren 293 . Der beiderseitige Verzicht auf gewaltsame Änderungen des territorialen Status quo im W e sten dokumentierte, daß die deutsche Regierung der inneren Stabilisierung des Reiches gegenüber einer auf waghalsigen Spekulationen gebauten und offensichtlich erst langfristig wirksamen Ost-Option den Vorrang einräumte. Stresemann wies im Reichstag darauf hin, daß man „nicht Rußland zuliebe das Rheinland ständigen Vexationen aussetzen" dürfe und daß durch die Locarno-Verträge ein Abbau der Besatzungsverwaltung im wichtig-

290

Reichsverband der Deutschen Industrie Nr. 1500 VII, Stellungnahme der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft über die Frage der Fortsetzung der deutsch-russischen Vertragsverhandlungen, vom 29. 4. 1925, BA, R 43/1 1112. 291 Entwurf von Richtlinien für die Führung der weiteren politischen Besprechungen mit der UdSSR vom 29. 5. 1925, in: DSB 1922-1925/11, Nr. 296. 292 Aufzeichnung des Reichsministers des Auswärtigen über die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen vom 29. 9. 1925, in: Das Kabinett Luther I, Nr. 165, S. 588. 29 s Siehe hierzu ausführlich Megerle, Deutsche Außenpolitik. 89

sten deutschen Industrierevier erreicht sei 294 . Der Ausgleich mit Frankreich schaffe darüber hinaus die Voraussetzung für einen verstärkten Zufluß des dringend benötigten amerikanischen Kapitals 295 . Im Auswärtigen Amt w a r zwar ein Jahr zuvor die Warnung ausgesprochen worden, sich durch die vorbereiteten Locarno-Verträge nicht eine einseitige Option für den Westen aufzwingen zu lassen, gleichzeitig wurde aber auch eingeräumt, daß die Annäherung an die westlichen Großmächte die deutsche Position gegenüber der Sowjetunion stärken könne 296 . Vielleicht ließen sich auf diese Weise die bislang mit der Rapallo-Politik im Alleingang angestrebten Einflußmöglichkeiten in Rußland besser erreichen. Die neue Westorientierung bedeutete also keine Absage an revisions- und wirtschaftspolitisch motivierte Ambitionen in der Ostpolitik. Dies gilt auch für Stresemann, selbst wenn er in diesem Bereich vorsichtiger und zurückhaltender operierte, als es vielen seiner politischen Freunde recht war. Für ihn aber hatte die Öffnung zum Westen unter den gegebenen Umständen Priorität. Immerhin spielte auch er gegenüber sowjetrussischen Verhandlungspartnern gern mit der antipolnischen Karte, dem wichtigsten Faktor in den beiderseitigen Beziehungen. Stresemann erklärte offen, daß mit den Locarno-Verträgen keine deutsche Garantie für die Grenzen Polens verbunden sei 297 . Der von ihm erwartete baldige Zusammenbruch des polnischen Staates konnte ein Signal sein, um die Ost-Option zu reaktivieren. Vielleicht w a r dies auch einer der Gründe dafür, daß Stresemann der Heeresleitung bei ihren militärischen und rüstungstechnischen Geheimkontakten mit Moskau einen relativ großen Spielraum ließ 298 .

204

Ausführungen Stresemanns während der Besprechung der Reichsregierung mit Reichstagsabgeordneten der DNVP am 2. 4. 1925, in: Das Kabinett Luther I, Nr. 62, S. 223. 295 Siehe hierzu weiter bei Krohn, Stabilisierung, und Wandel, Bedeutung. 296 Abschrift einer ungezeichneten Denkschrift vom 22. 8. 1924, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Bd 279/6. 29 ? Aufzeichnung Stresemanns über eine Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter Nicolai Krestinski vom 10. 3. 1925, in: DSB 1922-1925/11, Nr. 274. Stresemanns Geschick, das Minderheiten-Problem als Instrument einer verstärkten außenpolitischen Aktivität des Reiches zu nutzen, wird jetzt von Fink, Stresemann, herausgestellt. Zur Problematik siehe auch Höltje, Weimarer Republik, und Enssle, Stresemann's Territorial Revisionism. 298 Die von Stresemann geführte Ostpolitik ist von der historischen Forschung lange als Teilstück einer „echten" Friedenspolitik interpretiert worden; siehe z. B. Klepsch, Deutsche Rußlandpolitik; Joachim, Vom Bündnisprojekt, und Gatzke, Von Rapallo nach Berlin; in diesem Sinne jetzt auch Erdmann, Gustav Stresemann. Eine Differenzierung dieser oberflächlichen diplomatiegeschichtlichen These versuchte Walsdorff, Westorientierung. Turner, Stresemann, sieht „verschiedene Strömungen" um die Führung der deutschen Außenpolitik ringen, wobei er zwar Stresemann als kompromißbereit einstuft, 90

In einem Brief an Kronprinz Wilhelm von Preußen warnte er die Rechtsparteien allerdings davor, in Illusionen über die derzeitigen Möglichkeiten eines deutsch-russischen Bündnisses zu schwelgen und allzu auffällig mit Moskau zu „kokettieren" 299 . Die Deutschnationalen, die wegen der Locarno-Verträge ihren Austritt aus der Regierungskoalition verkündeten, waren dennoch fest davon überzeugt, daß das politische Interesse Deutschlands nach Osten weise, wofür „bei der gegenwärtigen Lage des Weltmarktes auch das wirtschaftliche Interesse" spreche 300 . Sie schwankten allerdings ständig „zwischen einer gefühlsmäßigen Abneigung gegen den Bolschewismus" und einer „verstandesmäßigen Überzeugung von der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Rußland hin und her" 301 . Vertreter der bürgerlich-liberalen Parteien im Reichstag meinten zwar, daß unter den gegebenen Umständen nicht an eine einseitige Ausrichtung der deutschen Politik nach Rußland zu denken sei. „Aber wohin", so fragten auch sie voller Zweifel, „soll denn deutscher

ihm aber unterstellt, er habe den 'Westen besänftigen wollen, um freie Hand für territoriale Revisionen im Osten zu bekommen. Den Kontinuitätsgedanken lehnt Turner indes aus Furcht vor der „Versuchung" deterministischer Formeln ab. Dagegen meint Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 861, daß Stresemanns Revisionspolitik nach 1925 zeige, wie stark die Überschätzung der deutschen Führung weiterlebte, den Osten beherrschen zu können. Hier ist auch an die zitierten Äußerungen Stresemanns in den ersten Nachkriegsjahren zu erinnern. In diesem Sinne setzt sich vor allem Pohl, K., „Stresemannsche Außenpolitik", kritisch mit der älteren und biographischen Stresemann-Literatur auseinander. Die Thesen von Megerle, Deutsche Außenpolitik, wonach die Ansätze zu einem aktiven Revisionismus bereits 1926 mit dem Abschluß des Berliner Vertrages wieder „eingeschlafen" seien, Stresemann in jedem Falle keine europäische Vormachtstellung Deutschlands angestrebt habe, ist so ebenfalls unhaltbar. Zum Stand der Diskussion s. jetzt den Sammelband Gustav Stresemann. Die von W. Michalka in seiner Einleitung getroffene Feststellung Stresemann habe „ausdrücklich [!] machtpolitische Konzepte jener Gruppen in der Reichswehr, im Auswärtigen Amt und in der Industrie, die im Bündnis mit dem sowjetischen Rußland mit kriegerischen Mitteln eine Revanchepolitik betreiben wollten, um letztlich an die deutschen Kriegsziele anzuknüpfen", verworfen, läßt sich in dieser Eindeutigkeit nicht verifizieren. 2 89 Schreiben Stresemanns an Kronprinz Wilhelm vom 7. 9. 1925, abgedr. in: Stresemann, Gustav, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, hrsg. von Henry Bernhard, unter Mitarbeit von Wolfgang Götz und Paul Wiegler, Berlin 1932 ff., Bd II, S. 553 f. 3oo Ausführungen des Reichstagsabgeordneten Graf Westarp [DNVP] in der Reichstagsdebatte am 23. 11. 1925, Verhandlungen des Reichstags, Bd 388, S. 4496. 30i Notiz Dirksens über ein Gespräch mit Vertretern der DNVP vom 17. 3. 1925, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 5 und 6. 91

Fleiß, deutsche Intelligenz, deutsche Produktion auf die Dauer überhaupt gehen, wenn nicht nach dem Osten? Der ganze Westen ist doch überindustrialisiert, ist doch die Konkurrenz, die uns in Deutschland auf den Nägeln brennt. Der Weg nach Osten ist der einzige, der uns überhaupt noch offen steht 302 ." In diesem Spannungsfeld zwischen Wunschvorstellungen und Realitätssinn versuchte die Reichsregierung einerseits einen Weg zu finden, der im Interesse einer langfristigen Revisionspolitik und der wirtschaftlichen Belange eine „dauernde Bindung gegenüber den Westmächten — selbst die Bereitwilligkeit der anderen Seite vorausgesetzt" 3 0 3 — vermied und die Ost-Option so weit wie möglich offenhielt, andererseits aber Stresemanns Sicherheitspolitik gegenüber den Westmächten nicht behinderte. Den demonstrativen Abschluß eines deutsch-russischen Handelsvertrages noch während der offiziellen Verhandlungen in Locarno betrachtete man unter diesen Gesichtspunkten als ein geeignetes Instrument 3 0 4 . Der Vertrag vom 12. Oktober 1925 war zwangsläufig ein Kompromiß, der, bestimmt vom außenpolitischen Kalkül, wirtschaftspolitische Nachteile in Kauf nahm 305 . Er umfaßte einerseits eine Reihe von Abkommen, z. B. zu Niederlassungs- und Rechtsschutzfragen, die den ursprünglichen deutschen Verhandlungszielen durchaus entgegenkamen und den in der UdSSR tätigen deutschen Wirtschaftlern umfassende Rechte und Privilegien einräumten. Rudolf Wisseil, der Wirtschaftsexperte der SPD-Fraktion im Reichstag, erklärte deshalb, daß ihn die Abkommen an „Verträge mit halbkolonialen Staaten" erinnerten und er deshalb verstehen könne, daß „alles in der deutschen Wirtschaft nach Osten [dränge]. Dort ist ein großes Absatzgebiet.

3°2 Ausführungen Dr. Bredt (Wirt. Vereinigung), Verhandlungen des Reichstags, Bd 388, S. 4543. 303 Aufzeichnung D i r k s e n s „Die R a p a l l o l i n i e " v o m M a i 1925, i n : D S B 1922-1925/11, Nr. 299. 304 Siehe Ministerbesprechung am 24. 6. 1925, Das Kabinett Luther I, Nr. 110.

305 Der Vertragstext ist abgedr. in: DSB 1922-1925/11, Nr. 398. Zur Bedeutung des Vertrages und der weiteren Entwicklung der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen siehe u. a. Glanz, Rafael, Deutsch-russisches Vertragswerk vom 12. Oktober 1925. Für den praktischen Gebrauch der am deutsch-russischen Handel beteiligten Kreise, Berlin 1926; ders., Grundtatsachen zur Beurteilung der Wirtschaftslage in Sowjetrußland und die deutsch-russischen Handelsbeziehungen, Leipzig 1925. (Glanz war Syndicus des Deutsch-Russischen Vereins zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen von 1899, zu dessen Mitgliedern auch Stresemann zählte.) Siehe weiterhin Haas, Curt, Das deutsch-russische Wirtschaftsabkommen vom 12. 10. 1925, Diss., Würzburg 1928, und Eichhorn, Louis, Die Handelsbeziehungen Deutschlands zu Sowjetrußland (unter besonderer Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse des deutsch-russischen Wirtschafts-Abkommens vom 12. 10. 1925), Diss., Rostock 1930. 92

Dort sind alle Vorbedingungen gegeben, mit Deutschland in enge Handelsbeziehungen zu treten 306 ." Diese Einschätzung w a r zweifellos allzu optimistisch, wie die Reaktion der deutschen Wirtschaft auf den Handelsvertrag und die vorangegangenen Verhandlungen zeigte. Der Vertrag beinhaltete, was vom RDI befürchtet worden war, die Anerkennung des staatlichen Außenhandelsmonopols der UdSSR und die exterritoriale Stellung der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, auch wenn sie der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen blieb. Ob man auf der Basis dieses umstrittenen Erfolgs deutscher Handelsvertragspolitik, die sich dem Primat einer mittelfristig orientierten Anlehnung an die Westmächte unterordnete, über die Entwicklung eines „normalen" bilateralen Handelsverkehrs hinaus auch die längerfristigen wirtschaftspolitischen Ambitionen gegenüber Rußland würde durchsetzen können, mußte sich an der praktischen deutschen Wirtschaftstätigkeit in der UdSSR erweisen. c] Der Rückschlag in der Konzessionspolitik Die seit dem Herbst 1923 allmählich wieder radikaler werdende bolschewistische Innenpolitik hatte nach dem Tode Lenins Anfang 1924 die innerparteilichen Machtkämpfe zeitweilig verschärft und die auf eine stärkere politisch-ökonomische Einflußnahme zielenden deutschen Absichten erfolgreich durchkreuzt. Eine zunehmende Rückbesinnung auf die revolutionären Ziele engte den Spielraum ausländischer Investoren immer weiter ein. Die Säuberung des Binnenmarktes von privatwirtschaftlichen Elementen u n d eine striktere Durchsetzung des staatlichen Außenhandelsmonopols waren Zeichen für eine Umkehr der sowjetischen Führung auf ihrem von deutscher Seite erhofften „evolutionären" Weg. Durch die Entschlossenheit Moskaus, die Industrialisierung des Landes mit allen Mitteln voranzutreiben, Rußland vom Agrar- zum Industriestaat zu entwickeln und damit von ausländischen Abhängigkeiten zu befreien 307 , wurden die längerfristigen wirtschaftspolitischen Interventionsabsichten Deutschlands in Frage gestellt. Im Rahmen der deutschen Konzessionen mußte sich jetzt erweisen, ob für eine Fortführung der bisherigen ökonomischen Penetrationspolitik überhaupt noch realistische Erfolgsaussichten bestanden. Das Sowjetregime hatte der Gelsenkirchener Bergwerks A.G. und dem Kaukasischen Grubenverein in Hamburg die Fortführung ihrer noch unter der

so« Ausführungen von Dr. Wisseil bei der ersten Beratung der deutsch-russischen Verträge vom 12. 10. 1925, am 1. 12. 1925, Verhandlungen des Reichstags, Bd 388, S. 4675. 307 Siehe hierzu weiter bei Erlich, Industrialisierungsdebatte; Meyer, G., Studien; Nienhaus, Revolution, und Carr, E., Russische Revolution. 93

menschewistischen Regierung Georgiens begonnenen Arbeit gestattet 308 und am 20. Juli 1922 eine Bergbau-Konzession auf 50 Jahre gewährt, da es selbst nicht in der Lage war, die Förderung der Bodenschätze in eigener Regie rasch voranzutreiben. Als „Pioniere deutscher Wirtschaft" 309 konnten diese Firmen die Manganerzförderung im Kaukasus und ein Exportmonopol an sich ziehen, das der deutschen Schwerindustrie diesen zur Stahlherstellung wichtigen Rohstoff sichern sollte. Der Konzern der Gutehoffnungshütte (GHH) hatte während der Ruhrkrise eine Kommission nach Grusinien entsandt, die sich über weitere Vorkommnisse an Bodenschätzen und Verarbeitungsanlagen informierte. Ihr Interesse galt insbesondere der Ausbeutung von Kohle und Naphta sowie der Ferromangan-Herstellung 310 . Lokale Behörden schienen zunächst auch bereit, den deutschen Wünschen weitgehend zu entsprechen. Wenig später entdeckten die Russen jedoch eine Möglichkeit, selbst Geschäfte mit dem Manganerz-Abbau zu betreiben und drängten deshalb darauf, größeren Einfluß auf die Exportpolitik des deutschen Konzessionärs zu nehmen. Schließlich wurden die erst am 17. Oktober 1923 erteilten bzw. bestätigten Konzessionen von Moskau liquidiert und die deutschen Firmen aufgefordert, ihre Ansprüche in eine Produktionsgesellschaft mit sowjetischer Majorität einzubringen. Das Auswärtige Amt bemühte sich vergeblich um den Schutz der deutschen Interessen. Man mußte bald erkennen, daß die deutsche Position wegen der damals noch ausstehenden handelsvertraglichen Sicherungen in solchen Streitfällen äußerst schwach war. Diese Erkenntnis wurde drastisch bestätigt, als die sowjetrussischen Behörden im Jahre 1925 die Arbeit deutscher Firmen im Kaukasus gänzlich unterbanden und die Mangankonzession kurzerhand dem amerikanischen Harriman-Konzern anboten 311 . Moskau wollte damit offensichtlich seinen Souveränitätsanspruch unterstreichen und zugleich die Beziehungen zu den USA verbessern. Ein Gegenangebot der Deutschen Bank, das vom Aus-

sos Hierzu weiter bei Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 280, und Rosenfeld, Sowjetrußland, S. 94 f. Zur Tradition wirtschaftlicher Einflußgebiete Deutschlands im Kaukasus siehe Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 741 ff. und Baumgart, Deutsche Ostpolitik, S. 174 ff. 309 Aufzeichnung über die Frage der Gewährung einer finanziellen Hilfe an die deutschen Kaukasusfirmen vom 29. 5. 1925, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 30. 3io Protokoll der Kommission betr. Ferro-Mangan-Fabrikation und Ausnutzung der Bodenschätze Grusiens, sowie kurzer Bericht über die besichtigten Lagerstätten, vom 12. 11. 1923, BA-MA, RW 19 Anhang 1/1514. 311 Siehe hierzu Aufzeichnung über die Lage der deutschen Manganfirmen im Kaukasus vom 18. 8. 1925, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 30, und den entsprechenden Notenwechsel, DSB 1922-1925/11, Nr. 254, 257 und 266. 94

wärtigen Amt massiv unterstützt wurde, mußte unter diesen Umständen fehlschlagen. Harriman bemühte sich allerdings um eine Einigung mit den deutschen Unternehmen, wodurch zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß die sowjetrussische Enteignungspolitik nicht gebilligt wurde. Die als „Vergewaltigung deutscher Interessen" empfundene Konzessionspolitik der UdSSR 312 minderte bei vielen Unternehmen, vor allem bei kleineren und mittleren Firmen, die Verluste und Risiken nicht auffangen konnten, die Bereitschaft zu einem Engagement im Rußland-Geschäft. Es verstärkte sich die Einsicht, daß die strikt sozialistische Wirtschaftspolitik Stalins die deutschen Einflußmöglichkeiten zunehmend beschnitt und bei der sowjetrussischen Konzessionspolitik nicht ökonomische, sondern zuallererst politische Gesichtspunkte maßgeblich waren 3 1 3 . Diese zielten offenkundig darauf ab, durch eine Kontaktaufnahme mit anderen Staaten und Firmen die Isolation der UdSSR zu überwinden und sich vom deutschen Monopolanspruch zu befreien. Vergeblich wartete man deshalb in Deutschland auf Anzeichen für eine „stärkere Heranziehung privaten Kapitals und eine weitergehende Entfesselung privater Unternehmerinitiative innerhalb Rußlands" 3 1 4 . Die NEPPeriode, die der wirtschaftlichen Einflußnahme Deutschlands Türen zu öffnen schien, war offensichtlich beendet. Es häuften sich die Klagen von Wirtschaftsexperten, daß der Rapallo-Vertrag die in ihn gesetzten ökonomischen Erwartungen nicht gerechtfertigt habe. Dies betraf sowohl die rückläufige Entwicklung des Handelsaustausches, der die anvisierte Vorkriegshöhe bei weitem verfehlte, als auch die weitgespannten wirtschaftspolitischen Ambitionen, für deren Scheitern die Konzessionsfrage nur ein Symptom war. In ökonomischer Hinsicht hatte sich die Hoffnung nicht erfüllt 315 , daß Rußland sich wie vor dem Ersten Weltkrieg in die Rolle eines Agrarstaates mit geringer Industrie und großen Naturreichtümern hineinfinden könne, der als wichtigstes Absatzgebiet für deutsche Waren und als Lieferant von Rohstoffen und Nahrungsmitteln zur Verfügung stand. In politischer Hinsicht erwiesen sich Hoffnungen auf einen allmählichen innerrussischen Wandel bzw. den Erfolg einer indirekten deutschen Einflußnahme auf diesem Weg zu einem bürgerlichen Rußland immer deutlicher als illusionär. Verbale Beteuerung von sowjetrussischer Seite, daß man wie bisher zur „Schaffung eines festgefügten deutsch-russischen wirtschaftlichen Blockes"

312 Aufzeichnung vom 18. 8. 1925, ebd. si3 Zadow, Fritz, Zum deutsch-russischen Handelsproblem, in: Deutsche Wirtschaftszeitung (2. 6. 1925], S. 526-530, hier 527. 3i* Seraphim, Wesen, S. 220 (wie Anm. 280]. 315 Ausführungen von Zadow (wie Anm. 313]. 95

bereit sei 3 1 0 und die Aufforderung, „in weiterem Maße und mit mehr Kapital als bisher auch in Rußland auf weitere Sicht hinaus sich wirtschaftlich zu betätigen" 3 1 7 , konnten bei nüchterner Betrachtung nicht länger über die unterschiedlichen Interessen beider Staaten hinwegtäuschen. Aus englischer Sicht w u r d e n sie durchaus zutreffend als zwei gegensätzliche Strömungen charakterisiert: „One is the Russian policy of systematic cultivation of Germany. The other is the German policy, more doubtful and less resolute, of systematic cultivation of Russia 3 1 8 ."

B. DECKNAME „KUPFERBERG GOLD" Die Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik gegenüber Sowjetrußland intendierte also von Anfang an mehr als nur die Anknüpfung regulärer Handelsbeziehungen. Mit dem Konzept einer politisch-ökonomischen Durchdringung Rußlands sollte nicht zuletzt auch eine machtpolitische Stärkung Deutschlands erreicht werden, um den Kampf u m die Revision des Versailler Vertrages erfolgreich führen zu können. Zu diesem Zwecke wurde auch eine enge militärpolitische Zusammenarbeit mit der Roten Armee u n d die Errichtung einer dem Zugriff der Entente entzogenen Versorgungs- und Rüstungsbasis im Osten angestrebt. Über die Reihenfolge der einzelnen Schritte hierzu und die Abstimmung mit der Gesamtpolitik herrschte zwischen militärischer und politischer Führungsspitze nicht immer Einmütigkeit. Die zivile Reichsleitung war sich wohl deutlicher darüber im klaren, daß angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse nur bei Unterstützung bzw. Neutralität des anglo-amerikanischen Lagers überhaupt eine Aussicht bestand, sich aus der französischen Umklammerung zu befreien. Da aber zwischen Sowjetrußland und Großbritannien ein besonders gespanntes Verhältnis bestand, durfte sich die Annäherung Deutschlands an das bolschewistische Rußland nur sehr vorsichtig vollziehen. Die Heeresleitung beurteilte die Lage zweifellos ähnlich wie Politiker u n d Diplomaten, dennoch drängte sie auf eine Intensivierung der militär- u n d rüstungspolitischen Beziehungen zwischen beiden Staaten, weil sie davon

3W Deutsches Konsulat Odessa, K/L K. Nr. 178, Bericht über eine Unterredung mit dem Vertreter des Außenkommissariats vom 21. 8. 1924, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 5 und 6. 317 Ebd. 318 Artikel des Daily N e w s , zit. in einem Schreiben des V o l k s k o m m i s s a r s für A u s w ä r t i g e A n g e l e g e n h e i t e n Čičerin an den Deutschen Botschafter in M o s k a u v o m 26. 11. 1924, DSB 1922-1925/1, Nr. 243.

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überzeugt war, daß eine militärische Zusammenarbeit nicht nur einen raschen Machtzuwachs für Deutschland sondern auch eine Förderung der politisch-ökonomischen Zielsetzungen gegenüber Sowjetrußland bedeute 3 1 9 . Dabei war keineswegs an den Abschluß eines formellen Bündnisses gedacht, da in einem solchen Falle mit einem französischen Präventivschlag gerechnet werden mußte, dem Deutschland und Rußland in ihrem damaligen geschwächten Zustand kaum etwas entgegensetzen konnten 320 . Abgesehen von der geringen Leistungsfähigkeit des bolschewistischen Regimes stellte man in Berlin in Rechnung, daß die russischen Kommunisten jede Gelegenheit zu einer Revolutionierung Deutschlands nutzen würden. Gelang es aber, auch im militärischen Bereich eine Art von Stützpunkt-Strategie gegenüber Sowjetrußland zu verfolgen, dann bestand die Aussicht, die Risiken einer militärischen Zusammenarbeit mit den Bolschewisten unter Kontrolle halten zu können. Es kam darauf an, in der darniederliegenden russischen Rüstungsindustrie Fuß zu fassen und den Wiederaufbau unter deutscher Anleitung und Aufsicht durchzuführen. Ein deutsches Rüstungsmonopol in Sowjetrußland versprach einerseits der Reichswehr wirksame materielle Unterstützung im Kriegsfall und einen Einfluß auf die Haltung des Offizierkorps der Roten Armee, dem man gemeinhin zutraute, die innere Entwicklung Rußlands im Sinne einer „Evolution" vorantreiben zu können; andererseits würde man dadurch in Schlüsselstellungen der sowjetrussischen Wirtschaft gelangen und von hier aus auch die wirtschaftliche Verbindung beider Staaten befestigen können. Erste Ansatzpunkte hatten sich 1920/21 ergeben, als Moskau nach dem gescheiterten Feldzug gegen Polen die Notwendigkeit einer Reorganisation sowie einer neuzeitlichen Ausrüstung und Ausbildung der Sowjetarmee erkannt hatte und hierfür die Unterstützung der Reichswehr erbat 321 . Die rigorose Entwaffnungspolitik der Siegermächte gegenüber Deutschland ließ der Heeresleitung indes kaum Möglichkeiten zu einer direkten Waffenhilfe. Im Gegenteil, wollte Seeckt seine Zielsetzung erreichen, den Aufbau eines 63-Divisionen-Heeres vorzubereiten, um dann bei einer günstigen internationalen Konstellation den Versailler Vertrag einseitig aufkündigen zu

319 Siehe oben, S. 33 f. 320 Zur deutschen Rüstungslage zu diesem Zeitpunkt siehe H a n s e n , Reichswehr, S. 42 ff., sowie die Darstellungen der DDR-Historiker Starck, Die technische, ökonomische u n d organisatorische Vorbereitung, S. 13 ff.; Nuss, Militär, S. 108 f. 32i Aufzeichnungen Generalleutnant Liebers, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, S. 99 ff. Lieber w e r t e t e hier Mitte der dreißiger Jahre für die gep l a n t e Seeckt-Biographie R a b e n a u s die h e u t e nicht m e h r v o r h a n d e n e n Tagebücher Seeckts u n d H a s s e s aus. Zur w e i t e r e n Entwicklung siehe auch Carsten, Reichswehr, S. 141 ff. 97

können 322 , dann mußte er in jedem Falle selbst Rüstungshilfe im Ausland suchen 323 . Bei den Kontakten mit der anderen Seite versuchten die Vertreter der Reichswehr deshalb, das Thema deutscher Waffenlieferungen möglichst zu umgehen und den Russen statt dessen Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Rüstungsindustrie anzubieten. Nachdem dann mit der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages eine politische Absicherung erreicht worden w a r und die Reichsregierung die russischen Pläne Seeckts gebilligt hatte, konnte die Heeresleitung daran gehen, ihren Einfluß auf die Gestaltung der Außenpolitik zu erweitern und die Kriegsvorbereitungen mit sowjetischer Hilfe zu intensivieren.

1. Die Aktivierung der Ost-Option

im Sommer 1922

Bereits im Vorfeld der Genua-Konferenz waren die militärischen Fragen bei den deutsch-russischen Kontakten in den Vordergrund gerückt 324 . Angebote Moskaus zu einem Offensivbündnis gegen Polen wurden zwar von Seeckt ausgeschlagen, weil dies seiner Meinung nach auch einen sofortigen Krieg mit Frankreich und der Tschechei zur Folge haben würde; ein Krieg gegen Polen wurde aber von der Heeresleitung wiederholt erwogen und in mehreren Kriegsspielen auf seine Erfolgschancen hin getestet 325 . Das Reichswehrministerium konzentrierte sich vorerst darauf, die Rote Armee für einen eventuellen Kampf gegen den gemeinsamen Feind auszurüsten. Reichskanzler Wirth stellte die finanziellen Mittel bereit, um von den Junkers-Werken innerhalb weniger Wochen eine Flugzeugproduktion in Fili bei Moskau errichten zu lassen. Auch die Albatros-Werke erklärten sich zu einer ähnlichen Betätigung bereit. Die rüstungspolitischen Aktionen wurden seitens der Reichswehr, die sich hierbei den Decknamen „Kupferberg Gold" in Anspielung auf den Namen Seeckts zulegte, durch die im Truppenamt gebildete „Sondergruppe R" gesteuert. Neben dem Hauptmann Herbert Fischer, dem Leiter der Gruppe und Vertrautem Seeckts, führten in den folgenden Jahren vor allem drei Männer die Verhandlungen in Moskau, die auch in ihrem weiteren Lebens-

322 Siehe Seeckts Studie ü b e r „Grundlegende G e d a n k e n für den Wiederaufbau u n s e r e r Wehrmacht" vom Januar 1921, zit. in: Seeckt, Aus m e i n e m Leben (wie Anm. 33), S. 474 f. 323 Die Notwendigkeit hierzu h a t t e schon Seeckts Vorgänger Groener in seinem Vortrag vor Generalstabsoffizieren am 18. 8. 1919 v o r a u s g e s e h e n : Zwischen Revolution u n d Kapp-Putsch, Nr. 75, S. 196. 324 Siehe Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, S. 111 ff., sowie Carsten, Reichswehr, S. 144 ff. 325 Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, Bl. 7, 13, 51 u n d S. 99. 98

weg den militärischen Rußlandambitionen eng verbunden bleiben sollten. Hauptmann Oskar Ritter v. Niedermayer, im Ersten Weltkrieg als Militäragent im Nahen Osten eingesetzt 3 2 6 , sah sich in der Rolle eines deutschen „Lawrence", der seine sowjetrussischen Gesprächspartner mit derartig weitschweifenden Bündnis- u n d Kriegsplänen einzunehmen versuchte, daß diese — nachdem sich gezeigt hatte, daß er oft ohne Auftrag Berlins operierte — bald auf Distanz gingen. 1923 wurde er nur auf hartnäckigen Druck des Reichswehrministeriums wieder als Resident in Moskau akzeptiert, wo er bis Ende der zwanziger Jahre tätig war. In den dreißiger Jahren vermittelte er dann seine Erfahrungen als östlich ausgerichtete „Wehrgeographie" an der Kriegsakademie in Berlin. Im Zweiten Weltkrieg kommandierte er die aus russischen Überläufern gebildeten Osttruppen der Wehrmacht 3 2 7 . Der frühere Militärattache in Moskau, Oberstleutnant Wilhelm v. Schubert, w a r ebenso wie der dritte, Hauptmann Fritz Tschunke, Seeckt von seiner Tätigkeit als Generalstabschef der Türkischen Armee im Ersten Weltkrieg her vertraut. Nach Schwierigkeiten mit den Russen trat Schubert in der „Zentrale Moskau" der Reichswehr bereits 1922 wieder in den Hintergrund u n d betätigte sich dann hauptsächlich als Verbindungsmann führender deutscher Rüstungskonzerne 3 2 8 . 1941 wurde er Leiter des „Wirtschaftsstabes Ost", der die kriegswirtschaftliche Ausnutzung der okkupierten sowjetischen Gebiete dirigierte. Wichtigster Mittelsmann zwischen Reichswehr, Roter Armee u n d deutschen Rüstungskonzernen war Tschunke, Schwager von Paul Reusch, Generaldirektor der Gutehoffnungshütte; 1923 wurde Tschunke Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen m. b. H. (Gefu), einer Reichswehr -Tarngesellschaft, die am 9. August 1923 gegründet wurde und für die rüstungsindustriellen Projekte in Sowjetrußland zuständig war; nach deren Auflösung im Jahre 1927 trat er an die Spitze des neugebildeten „Rußland-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft", dem er bis zum Überfall auf die UdSSR als Geschäftsführer diente. Obwohl es in Genua nicht um spezielle militärische Fragen ging, wurde der Chef des Truppenamtes, Generalmajor Otto Hasse, von Wirth und Rathen a u als Berater der deutschen Delegation herangezogen und in die Verhandlungen eingeweiht. Nach dem Abschluß der politischen Übereinkunft mit den Russen fand zwischen dem Reichskanzler und dem sowjetrussischen Delegationsleiter Čičerin eine lange Besprechung statt, bei der auch über die Wiederherstellung der gemeinsamen Grenze von 1914 gesprochen wurde. Seeckt, der sofort von Hasse über das Ergebnis unterrichtet wurde, begrüßte es, daß „endlich der Versuch zu aktiver Politik" gemacht worden sei. Er w a r sich mit Wirth darüber einig, daß nun die militärische Zusammen-

326

Dazu umfassend Vogel, Persien- und Afghanistanexpedition. s 2 ' Siehe Hallgarten, General, S. 31; Dirksen, Moskau, S. 133 f., und Hilger, Wir und der Kreml, S. 104 f. 328 Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 293. 99

arbeit mit Sowjetrußland ausgebaut werden könne, um Polen als Eckpfeiler der französischen Vorherrschaft so schnell wie möglich zu beseitigen 329 . Das Angebot der Ruhrindustrie zur Finanzierung von Rüstungprojekten in Rußland schien ein weiteres Hindernis bei der Realisierung der Ost-Option aus dem Weg zu räumen. Am 29. Juli 1922 konnte ein rüstungstechnischer Vorvertrag zwischen beiden Staaten unterzeichnet werden, der von russischer Seite ausdrücklich mit eigenen Angriffsabsichten gegenüber Polen begründet wurde 3 0 0 . Während Seeckt mit Rückendeckung der Reichsregierung, aber unter bewußter Umgehung des Auswärtigen Amtes, den Ausbau der Militärbeziehungen betrieb, konzentrierte sich Reichskanzler Wirth darauf, als Auftakt einer aktiven Revisionspolitik den Druck auf Frankreich in der Reparationsfrage zu verstärken. Es ging dabei nicht nur darum, durch eine Minderung der Reparationslasten die infolge des raschen Währungsverfalls nachlassende Expansionskraft der deutschen Industrie wieder zu stärken, sondern auch darum, der seit dem „Paukenschlag" von Rapallo zunehmend verhärteten französischen Politik unter Poincaré 3 3 1 eine diplomatische Niederlage beizubringen und Frankreich von seinen westlichen Alliierten zu isolieren. Der Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik mit der Öffnung nach Osten und der Konfrontationshaltung gegenüber Frankreich fand in der politischen Führungsspitze freilich auch Widerspruch. Reichspräsident Ebert (SPD) lehnte den Ausbau des Rapallo-Vertrages in militärischer Hinsicht ab und wurde daraufhin von Wirth nicht mehr über die Absprachen mit der Heeresleitung unterrichtet 332 . Es gelang Ebert aber immerhin, den als Verfechter einer vorsichtig taktierenden Ostpolitik und als Kritiker militärischer „Desperadopolitik" bekannten Grafen Brockdorff-Rantzau als künftigen Botschafter in Moskau designieren zu lassen. Brockdorff-Rantzau, der seine Mission durchaus als Wendepunkt deutscher Außenpolitik im Sinne einer härteren Haltung gegenüber Frankreich begreifen wollte und in den Grundlinien des deutschen Rußlandengagements mehr mit Seeckt übereinstimmte, als die persönlichen Konflikte zwischen beiden deutlich werden lassen 333 ,

3

20 Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, Bl. 52 f., S. 120. sso Ebd., Bl. 60. 331 Zum Hintergrund siehe auch Bournazel, Rapallo, S. 168 ff.; Bariéty, Les relations, S. 91 ff., sowie Zimmermann, Frankreichs Ruhrpolitik, S. 83 ff. Zur deutschen Seite siehe insgesamt Favez, Reich. 332 Zum folgenden Helbig, Träger, S. 120 ff. 8S3 Die älteren biographischen Skizzen, in denen Brockdorff-Rantzau zum Friedenskämpfer stilisiert und der Gegensatz zu Seeckt allzu scharf betont wurde, sind überholt; siehe Stern-Rubarth, Graf Brockdorff-Rantzau, und Helbig, Träger. Eine kritische Würdigung findet sich dagegen bei Wengst, Graf Brockdorff-Rantzau. 100

äußerte in seiner bekannten August-Denkschrift 334 , die von Ebert gebilligt wurde, schwerwiegende Bedenken gegen eine allzu rasche Verfestigung der deutsch-russischen Allianz. Nach seiner Meinung gab es keine realistische Aussicht, um in absehbarer Zeit offensiv gegen Frankreich und Polen vorgehen zu können. Allerdings sah auch er den gegenwärtigen Zustand des Reiches als unhaltbar an und verlangte ein Einlenken der Entente, da es sonst zur Katastrophe komme. Sollten Paris und London wirklich entschlossen sein, Deutschland zu vernichten, so führte er aus, „dann sollen sie gewahr werden, daß ein 60 Millionen Volk sich nicht widerstandslos seinen Henkern ausliefert und auch nicht freiwillig Selbstmord begeht; sie werden dann das Chaos haben, und sie sollen selbst mit hineingerissen werden." Das war letztlich nichts anderes als die Anerkennung eines der wichtigsten Motive für Seeckts Rußlandpläne. Was aber nach Brockdorff-Rantzau ein Akt letzter Verzweiflung sein sollte, wollte der Chef der Heeresleitung positiv gewendet wissen und für eine zielgerichtete, aktive Außenpolitik einsetzen. In seinem Gegenmemorandum vom 11. September 1922 bekräftigte er seine seit 1920 vertretene Position, daß sich nämlich mit russischer Hilfe Polen als eine der „stärksten Säulen des Versailler Friedens" beseitigen lasse 335 . „Wir wollen zweierlei", erklärte er, „erstens eine Stärkung Rußlands auf wirtschaftlichem und politischem, also militärischem Gebiet und damit indirekt die eigene Stärkung, indem wir einen zukünftigen möglichen Bundesgenossen stärken; wir wollen ferner, zunächst vorsichtig und versuchend, die unmittelbare eigene Stärkung, indem wir eine uns im Bedarfsfall dienstbare Rüstungsindustrie in Rußland heranbilden helfen." Den russischen Wünschen nach weiterer Unterstützung auf militär-technischem Gebiet könne — soweit dies vorteilhaft erscheine — entsprochen werden, doch müsse bei allen diesen Unternehmungen die deutsche Regierung offiziell ausgeschaltet bleiben, u m unliebsame internationale Komplikationen zu vermeiden. Seeckts Lagebeurteilung und seine daraus abgeleiteten Absichten traten klar zutage: „Kommt es zu kriegerischen Verwicklungen — und sie erscheinen heute greifbar nah —, dann wird es nicht Aufgabe der leitenden Staatsmänner bei uns sein, Deutschland aus dem Konflikt herauszuhalten — das wird vergeblich oder Selbstmord sein — sondern so stark wie möglich auf die richtige Seite zu treten." Der kriegerische Konflikt, an den Seeckt dabei dachte, war offenbar ein erneuter sowjetrussisch-polnischer Krieg 336 . Die 334

335

336

Promemoria Brockdorff-Rantzaus vom 15. 8. 1922, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3, Auszug abgedr. in: Ursachen und Folgen, Bd VII, Nr. 1407c. Memorandum Seeckts „Deutschlands Stellung zum russischen Problem", vom 11. 9. 1922, abgedr. in: Seeckt, Aus meinem Leben (wie Anm. 33], S. 316 ff. Hier gegen die Deutung von Meier-Welcker, Seeckt, S. 347. Zum folgenden siehe: Strategisches Kriegsspiel der Marineleitung Winter 1922/23 vom 23. 10. 1922, BA-MA, RM 20/999. 101

Marineleitung ging deshalb bei ihrem Kriegsspiel 1922/23 von folgender Ausgangslage aus: nach einer Kriegserklärung Rußlands an Polen verlangt Frankreich erneut von Deutschland ein Durchmarschrecht, um Warschau unterstützen zu können; anders als 1920 wird dies jetzt von Berlin abgelehnt, worauf Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärt; Großbritannien verhält sich neutral. Der Gegensatz zwischen Seeckt und Brockdorff-Rantzau tangierte sicher auch den Primat der Politik, der durch die in die Außenpolitik eingreifenden Offiziere in Frage gestellt zu werden drohte 3 3 7 ; es ging dabei aber auch um unterschiedliche Zeithorizonte und das Risikobewußtsein, außerdem um die Präferenz militärpolitischer bzw. wirtschaftspolitischer Aktionsfelder in der Ostpolitik. Brockdorff-Rantzau war an sich nicht gegen den Ausbau der Militärbeziehungen, er wollte vor allem bindende Verpflichtungen Deutschlands vermeiden, um zu verhindern, daß die deutsche Außenpolitik in das Fahrwasser Moskaus geriet. Statt dessen sollte das Angebot deutscher Wirtschaftshilfe — auch im Rüstungsbereich — das Sowjetregime zu einer Anlehnung an Deutschland und zu einseitigen Bindungen veranlassen. Rüstungshilfe sollte also eingefügt werden in das „Programm des wirtschaftlichen Wiederaufbaues Rußlands" 3 3 8 . Gerade weil Brockdorff-Rantzau ebenso wie Außenminister Rathenau 3 3 9 nicht an die Möglichkeit einer langfristigen Übereinkunft mit den Bolschewisten glaubte und so wie dieser annahm, daß erst die vollständige Transformation Rußlands zum Kapitalismus eine engere wirtschaftliche, politische und militärische Verbindung beider Länder ermögliche, plädierte er für ein vorsichtiges Vorgehen, das im militärischen Bereich kaum möglich erschien. Wie realistisch aber war die Vorstellung Brockdorff-Rantzaus, den russischen Markt für die deutsche Wirtschaft öffnen zu können und damit eine politische Abhängigkeit des Sowjetregimes herbeizuführen? Im Herbst 1922, als die Bemühungen um eine Ausgestaltung des RapalloVertrages auf wirtschaftspolitischer Ebene gerade anliefen, genügte dem Militär diese ungewisse Perspektive nicht. Sie wollten möglichst schnell wieder Machtpolitik treiben, und von daher gesehen war die Annahme, mit Hilfe der Bolschewisten über kurz oder lang Polen vernichten zu können, viel zu verlockend, um sich gegenüber Moskau dilatorisch zu verhalten. Auch in der Militärpresse machte sich ein deutlicher Stimmungsumschwung bemerkbar. Den russischen Emigranten wurde nunmehr eine deutliche Ab-

33" Seeckt beklagte in diesem Zusammenhang die „Ressort-Dummheit" des A. A., das eine politische Betätigung der Generale ablehne; Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, Bl. 59. 338 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzau S. 122.

von 27. 8. 1922, zit. nach Helbig, Träger,

339 Rede Rathenaus am 9. 2. 1922, zit. bei Himmer, Rathenau, S. 182. 102

sage erteilt. Selbst wenn es zu einem Zusammenbruch des bolschewistischen Systems komme, so das Militär-Wochenblatt im Oktober 1922, dann sei schon wegen der Zersplitterung der Emigranten nicht mit ihrer bedeutenden Mitwirkung beim Neuaufbau des russischen Staatswesens zu rechnen. Aus den vorliegenden militärpolitischen Berichten ergab sich ohnehin ein anderes Bild. Bereits im Juli, als der deutsch-russische Geheimvertrag abgeschlossen wurde, meldete das Militär-Wochenblatt eine fieberhafte Aufrüstungstätigkeit in Sowjetrußland und die Verstärkung der Truppen an der polnischen Grenze. Im August w u r d e n weitere Aufmärsche von Verbänden der Roten Armee, die unter dem Befehl Tuchačevskijs standen, registriert, insbesondere eine ungewöhnlich hohe Zahl technischer Truppen. Sowohl ein möglicher erneuter sowjetisch-polnischer Zusammenprall als auch ein polnischer Angriff auf Oberschlesien oder ein französischer Präventivschlag schienen in der Luft zu liegen. Auch diese Eventualfälle sprachen für engere militärische Kontakte mit Sowjetrußland, notfalls unter Zurückstellung „ängstlicher" politischer Bedenken. Außerdem, wenn Seeckt von einer Stärkung Rußlands sprach, dann dachte er sicher nicht daran, das bolschewistische System — dessen baldiges Ende damals alle Welt erwartete — mit deutscher Hilfe überlebensfähig zu machen. Nach seiner Anschauung war es letztlich gleich, ob in Rußland die Bolschewisten oder etwa die Monarchisten herrschten 3 4 0 . Die ums Überleben kämpfenden Bolschewisten schienen sich eher noch als willfährige Verhandlungspartner anzubieten. Wenn die Reichswehrführung diese Verhandlungen „von Soldat zu Soldat" unter weitgehender Ausschaltung der politischen Organe führte, dann konnte sich dies einmal als nützlich erweisen, wenn die hauptsächlich von ehemaligen zaristischen Offizieren geführte Rote Armee als entscheidender Machtfaktor bei einer innerrussischen Umwälzung auftreten würde.

2. Die Entsendung Brockdorff-Rantzaus Daß Brockdorff-Rantzau erst nach monatelangem Tauziehen genügend Unterstützung für seinen Kurs zu haben glaubte, um nach Moskau abreisen zu können 3 4 1 , macht das Gewicht der Heeresleitung im politischen Entscheidungsprozeß noch einmal deutlich. Zwar hatte sie scheinbar BrockdorffRantzau endlich akzeptiert, aber sie war nach wie vor nicht bereit, sich die Verhandlungsführung mit Moskau aus der Hand nehmen zu lassen. Der neue Botschafter freilich wollte sich keineswegs allein auf die laufenden

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Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, Bl. 71. Vorstehende Zitate in Militär-Wochenblatt Nr. 5 vom 29. 7. 1922, S. 76, Nr. 6 vom 5. 8. 1922, S. 106, Nr. 15 vom 11. 10. 1922, S. 289 ff. 34 i Dazu Helbig, Träger, S. 126 ff. 103

Wirtschaftsverhandlungen beschränken, auch wenn er annahm, hier rasch zu einem überzeugenden Erfolg kommen zu können. Er bemühte sich zugleich um den Ausbau der militärischen Vereinbarungen zwischen beiden Staaten. In einem Gespräch am 22. Dezember 1922 w a r er sich mit Lev Trockij ( = Trotzki) darüber einig, daß die rüstungsindustrielle Kooperation nur ein Teilaspekt des langfristigen wirtschaftlichen Aufbaus beider Länder sein könne 342 . Sodann stellte Brockdorff-Rantzau die seiner Meinung nach drängendste militärpolitische Frage, wie sich Sowjetrußland im Falle eines französischen Vorgehens gegen Deutschland stellen werde. Trockij wich der Frage zwar aus, gab aber eine Beistandserklärung für den Fall ab, daß Polen in einer solchen Situation über Schlesien herfalle. Brockdorff-Rantzau hielt diese ohne Verpflichtungen deutscherseits erreichte Zusage für eine ausreichende Rückendeckung, die es der Reichsregierung ermöglichen sollte, den Widerstand gegen die „Reparationserpresserpolitik der Entente" weiter zu verschärfen. Die neue Regierung Cuno, das bis dahin am weitesten rechts stehende Kabinett der Weimarer Republik, w a r eben erst mit dem Versuch gescheitert, in der Reparationsfrage einen Fortschritt zu erzwingen und sah sich französischen Interventionsdrohungen ausgesetzt 343 . Der Botschafter in Moskau plädierte in dieser angespannten Lage dafür, die „russische Karte" als Druckmittel gegenüber den Westmächten auszuspielen. Die Anlehnung an den Osten wollte er aber nicht so weit treiben, daß daraus eine Allianz entstehen könne, denn die Entente könne ein ungleich größeres Gewicht auf die Waagschale legen als Rußland, „und Deutschland würde, falls es zu den letzten Folgen käme, nur als Kampfplatz zwischen dem Osten und Westen ausgeliefert werden. Die Verantwortung für eine derartige Möglichkeit kann eine ihrer Pflicht bewußte Regierung nur übernehmen, wenn überhaupt kein anderer Ausweg mehr vorhanden ist 344 ." Nun, diese „letzte Möglichkeit" nahm schneller konkrete Gestalt an, als Brockdorff-Rantzau vielleicht angenommen hat und als es der Reichsregierung sowie der Heeresleitung ins Konzept paßte. Die rasche Verschärfung der jetzigen Lage veranlaßte dann die Reichswehrführung, noch im Dezember 1922 die Rüstungsverhandlungen mit Moskau abzuschließen 345 . Als am 4. Januar 1923 die Pariser Konferenz scheiterte, besprachen Cuno und Seeckt das weitere Vorgehen. Ein deutsches Nachgeben in der Reparationsfrage stand überhaupt nicht zur Debatte, so daß sich die Reichswehr darauf einstellen mußte, das Reichsgebiet gegen den drohenden Einmarsch der Franzosen zu verteidigen und gleichzeitig mögliche innere Unruhen zu bekämp-

342 Persönliches Schreiben Brockdorff-Rantzaus v o m 23. 12. 1922, P A - A A , Botschaft Moskau, Schriftwechsel mit Reichsminister v. Rosenberg 1923. 343 Zum Hintergrund siehe ausführlich Rupieper, Cuno Government. 344 Schreiben v o m 23. 12. 1922 [wie A n m . 342). 345 Aufzeichnungen Lieber, B A - M A , Nachlaß v. R a b e n a u , N 62/39, H. 5, Bl. 71. 104

fen 346 . Am 11. Januar marschierten französische und belgische Truppen wie angekündigt ins Ruhrgebiet ein, um sich Faustpfänder für die Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu verschaffen. Deutschland stand an der Schwelle eines Krieges, eine Situation, an deren Zustandekommen die deutsche Politik mit ihrem in Rapallo vollzogenen Kurswechsel nicht ganz unschuldig war. Ob man sich nun dazu entschließen konnte, die Ost-Option ganz auszuspielen und den Kampf mit russischer Unterstützung aufzunehmen, hing entscheidend von der Einschätzung des sowjetrussischen Militärpotentials ab. Und in dieser Hinsicht waren die Aussichten nicht eben rosig. Nach dem Urteil des Truppenamtes befand sich der Neuaufbau der Roten Armee noch in den Anfängen. Ihre Stärke betrug kaum mehr als 400 000 Mann. Ohne Einfuhr von Kriegsmaterial aus dem Ausland galt sie nur als beschränkt einsatzfähig. Sie w a r bestenfalls — so meinte man in Berlin — in der Lage, Feindkräfte an der russischen Westgrenze zu binden. Sollten allerdings die Randstaaten neutral bleiben und nur Polen als Gegner auftreten, dann war eine stärkere Schlagkraft nach Westen zu erwarten 3 4 7 . Unzureichend wie die sowjetrussischen waren zweifellos auch die deutschen Möglichkeiten. Der Rüstungsstand der Reichswehr wurde als so niedrig eingeschätzt, daß im Augenblick noch nicht einmal ein erfolgversprechender Widerstand gegen Polen möglich schien. Dennoch verbreitete sich in Berlin nach der Verkündung des passiven Widerstandes an der Ruhr zunehmend Optimismus. Das Militär-Wochenblatt schleuderte dem Feind entgegen, daß er „durch seinen frechen Einfall das Friedensdiktat zerrissen und uns in den Befreiungskrieg hineingezwungen" habe. Deutschland sei nicht wehrlos, sondern sogar zum Angriff befähigt. „Dazu brauchen wir eine Stimmung wie im August 1914". Die Heeresleitung erörterte die Aufstellung eines Operationsplanes und trieb die Aufrüstung energisch voran 348 . Als noch im Januar 1923 eine russische Abordnung unter der Führung des Staatskommissars für die Rote Armee und Flotte E. M. Skljanskij in Berlin erschien, um eine ganze Reihe beträchtlicher Aufträge an Rüstungsmaterial in Deutschland unterzubringen, mußte die Reichswehr hinhaltend taktieren, da ein Entgegenkommen zwangsläufig zur Belastung für die eigene Aufrüstung werden mußte 340 . Andererseits lie-

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Aufzeichnungen Generalleutnant Liebers, ebd., N 62/40, H. 6, Bl. 3. Ebd., Bl. 9. Nachfolgendes Zitat aus dem Leitartikel des Militär-Wochenblatts Nr. 24 vom 15. 1. 1923. Ebd., Bl. 7. Zu den Rüstungsanstrengungen siehe Geyer, Aufrüstung, S. 22 ff.; Hansen, Reichswehr, S. 51 ff. und für die Fragen des Gaskampfes speziell Müller, R., Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen, S. 26. Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 1, sowie Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 21. 2. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 105

ßen die Russen durchblicken, daß sie erst nach der Zusage deutscher Waffenlieferungen bereit sein würden, über die Frage zu verhandeln, für die sich die Reichswehrführung am meisten interessierte, ob die Sowjetregierung willens sei, ihre öffentlich abgegebene Solidaritätserklärung 1550 zu erhärten und im Ernstfalle mit Deutschland gegen Polen und Frankreich zu gehen. Das von russischer Seite gewünschte Kriegsmaterial im Wert von etwa 300 Millionen Goldmark sollte selbstverständlich Berlin finanzieren, w a s bedeutet hätte, daß die Reichswehr ihren gesamten geheimen Rüstungsfond für die Bewaffnung der Roten Armee zur Verfügung stellen mußte. Die Besprechungen wurden — wie nicht anders zu erwarten — unterbrochen und sollten vierzehn Tage später in Moskau fortgesetzt werden. Trotz dieses unbefriedigenden Ergebnisses glaubte sich Seeckt nach wie vor der russischen Karte sicher. Wenn auch noch weiter u m den Preis zu feilschen war, so konnte doch schon jetzt ein russisches Eingreifen gegen Polen u n d damit eine entscheidende Entlastung im Osten einkalkuliert werden 3 5 1 . Ernsthafte Anzeichen für eine polnische Angriffspolitik sah man in Berlin ohnehin nicht 352 , so daß nun in die eigenen Kriegsplanungen auch eine offensive Komponente eingebaut werden konnte. Drei Optionen, die sich leicht zu einem Gesamtkriegsplan verbinden ließen, wurden in der militärischen Führungsspitze erörtert und zumindest ansatzweise vorbereitet 353 : 1. Die Möglichkeit eines militärischen Widerstandes bei einem weite-

350 Aufruf des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees an die Völker aller Länder vom 13. 1. 1923, abgedr. in: DSB 1922-1925, Bd I, Nr. 52. Dazu Krummacher/Lange, Krieg, S. 142 und aus sowjetmarxistischer Sicht Dawidowitsch, Die sowjetisch-deutschen Beziehungen. S. 139 ff., sowie Ruge, Stellungnahme. asi In der Deutschen Botschaft in Moskau war man sich dessen Ende Januar 1923 keineswegs sicher. Nach dort vorliegenden Informationen hatte Trockij gegenüber Fridtjof Nansen, dem Hohen Kommissar des Völkerbundes für Kriegsgefangene und Flüchtlinge, erklärt, daß nur ein polnischer Angriff auf Rußland den Krieg bei den Massen populär machen und ihm damit Erfolgsaussichten geben könne; sollte Polen nach gänzlicher Ausschaltung Deutschlands mit Rumänien gegen Rußland vorgehen, werde sich die Rote Armee auf die Linie Smolensk-Moskau zurückziehen, weil Rußland noch nicht einmal für die ersten Kriegsvorbereitungen genügend Geld besitze; Blücher, Deutschlands Weg, S. 173. Die russische Seite bemühte sich aber seit Anfang Februar, diese angeblichen Äußerungen Trockijs zu leugnen und zu versichern, daß Rußland nicht ruhig zusehen werde, falls Polen nach irgendeiner Richtung den Status quo zu ändern versuche; siehe Grieser, Sowjetpresse, S. 37f. 352 Aufzeichnung Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/40, H. 6, Bl. 9. 353 Ebd., Bl. 3. u. 4. Hinter d e n folgenden Überlegungen stand vor allem der Chef

der Heeresabteilung T 1, Oberstleutnant Joachim v. Stülpnagel; siehe Aufzeichnungen Generalleutnant Liebers, ebd., N 62/39, H. 5, S. 148 ff., und Nuss, Militär, S. 123. Sie wurden aber auch von Repräsentanten der rheinischen Großindustrie an Seeckt herangetragen. Die abschwächende Interpretation von Meier-Welcker, Seeckt, S. 350 f., vermag auch hinsichtlich der offensiven Kom106

ren Vordringen der französischen Expeditionsarmee; 2. die Entfesselung eines Volkskrieges im besetzten Gebiet mit einer Ausweitung zum allgemeinen „Befreiungskrieg" und 3. der Übergang zu einer begrenzten Offensive zur Inbesitznahme der oberschlesischen und nordböhmischen Industriereviere. Seeckt war durchaus geneigt, unter günstigen Umständen für den letzten Fall einen Krieg zu provozieren und hierzu nicht nur Rußland, sondern auch Österreich und Ungarn als Bundesgenossen zu gewinnen. Am 9. Februar 1923 hielt der Chef der Heeresleitung bei einer Besprechung in der Reichskanzlei eine „große Rede für [den] Krieg", fand aber nicht die ungeteilte Zustimmung des Kabinetts 354 . Solange noch Aussicht bestand, Frankreich mit friedlichen Mitteln zum Einlenken zu bewegen, gab es sicher guten Grund, einer uferlosen Ausweitung des Widerstandes und der um sich greifenden Kriegshysterie zu begegnen. Außerdem w a r zu berücksichtigen, daß die sozialdemokratische Regierung Preußens und die Gewerkschaften trotz der momentanen Einheitsfront aller Parteien gegen jedes militärische Abenteuer und die geheimen Kriegsvorbereitungen eingestellt waren. Rückhaltlose Unterstützung fand Seeckt allein bei den Rechtsparteien. Deren Wehrverbände schlossen sich zu einem „Deutsch-Russischen Bund" zusammen, um den gemeinsamen „Befreiungskrieg" beider Staaten vorzubereiten. Selbst bei den Nationalsozialisten war „die Abneigung, mit den Bolschewisten zu paktieren, in Folge der sich überstürzenden Ereignisse der letzten Zeit geschwunden" 355 . Auf dem „linken" Flügel der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), die damals einen großen Einfluß auf die politische Szene in Bayern ausübte, sowie bei den in konservativ-intellektuellen Kreisen einflußreichen „Nationalbolschewisten", den „Revolutionären Nationalisten" um Ernst Jünger und den „Konservativen Revolutionären" um Arthur Moeller van den Bruck gab es sogar unverhohlene Sympathie für das Sowjetregime 356 . Bei Hitler und den völkischen Splittergruppen hingegen herrschte eine starke rassistische Einstellung vor, so daß diese statt eines Zusammengehens mit dem „jüdischen Bolschewismus" die Kooperation mit rus-

ponente nicht zu überzeugen, bedenkt man Seeckts damaligen Briefwechsel mit dem ungarischen Ministerpräsidenten, Stefan Graf Bethlen von Bethlen, und den großen Rückhalt, den deutschvölkische Gruppen zu dieser Zeit in der böhmischen Industriearbeiterschaft besaßen. 354 Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, S. 149, sowie Rahn, Reichsmarine, S. 209.

355 Aufzeichnung über ein Gespräch des Bundes im A. A. vom 18. 1. 1923, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 5 und 6. 358 Dazu umfassend Niekisch, Erinnerungen; Paetel, Versuchung; Schüddekopf, Nationalbolschewismus, sowie zum Niederschlag in der zeitgenössischen Rechtspresse Doeser, Das bolschewistische Rußland, S. 55 ff. 107

sischen Emigrantengruppen bevorzugten, die anläßlich der Ruhrkrise neue konterrevolutionäre Pläne — insbesondere für die Ukraine — schmiedeten 357 . Sie fanden allerdings nicht die Unterstützung Seeckts, der nicht an einer zusätzlichen Schwächung Rußlands interessiert war 358 . Die Mitarbeit der deutschen Kommunisten bei der Organisation des passiven Widerstands und deren nationalistische Propaganda waren aus der Sicht der Reichswehrführung zweifellos ein Geschenk von fragwürdigem Wert. Wenn die Kommunisten auf Anregung Moskaus plötzlich das Bündnis mit dem nationalen Bürgertum in Deutschland suchten 359 , so war dies für die Erhaltung der inneren Stabilität und für die Gewinnung der Arbeiterschaft sicherlich von großer Bedeutung. Andererseits bestand die Gefahr einer kommunistischen Unterwanderung auch der Reichswehr, und damit konnte eine Bedrohung des bestehenden politischen Systems und ein möglicher Bürgerkrieg entstehen. Dem Deutschen Botschafter erklärte jedenfalls Karl Radek, Mitglied des Zentralkomitees der KPR(B), die deutschen Arbeiter müßten mit dem Militär zusammengehen. „Sie können noch einige Überraschungen auch bei den höheren Offizieren der Reichswehr in dieser Richtung erleben. Seeckt ist ein sehr kluger Mann, ob er diese Strömung vollkommen verstanden hat, weiß ich nicht 360 ." Die moralische Unterstützung Deutschlands im Ruhrkampf durch die Sowjetregierung wurde in jedem Falle dankbar begrüßt. Das Militär-Wochenblatt räsonierte: „An eine militärische Hilfe ist zunächst! nicht zu denken. Zwar wurden Reden von russischen Truppenführern bekannt, daß sie ihre Pferde gern im Rheine tränken würden, aber praktisch ausführbar ist dieser Gedanke heute noch nicht." Die Rote Armee sei zwar recht brauchbar und den Polen allemal gewachsen, der Entschluß zum Eingreifen werde der sowjetischen Führung aber vermutlich nicht leicht fallen. Kurz darauf konnte die Meldung nachgeschoben werden, daß Sinov'ev, der Leiter der Komintern, erklärt habe, der „kommende Krieg", von dem alle Leute sprächen, habe

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" Dazu weiter bei Thoß, Ludendorff-Kreis, S. 442 ff., und Fleischhauer, Das Dritte Reich, S. 34 ff. 35 s Seeckt hatte schon früher zum Ausdruck gebracht, daß es für die deutschen Interessen gleichgültig sei, welche Regierungsform in Rußland herrsche; s. auch Aufzeichnungen Generalleutnant Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/40, H. 6, Bl. 9. Über die Lebensfähigkeit des bolschewistischen System war er sich mit dem ehemaligen bulgarischen Zaren Ferdinand in einem Gespräch am 27. 5. 1923 einig; Aufzeichnungen Lieber, ebd., Bl. 17. 350 Dazu Goldbach, Karl Radek, S. 49 ff. und zur sowjetmarxistischen Sicht Dawidowitsch, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen. 36 " Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus über eine Unterredung mit Radek am 7. 6. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 1. Nachfolgende Zitate in Militär-Wochenblatt Nr. 28 vom 15. 3. 1923, S. 588, und Nr. 31 vom 1. 5. 1923, S. 666. 108

bereits zwischen Deutschland und Frankreich begonnen; Rußland werde möglicherweise spät, aber auf jeden Fall an diesem Kriege teilnehmen. Die Motive u n d Ziele der sowjetrussischen Außenpolitik ließen sich auch damals nicht eindeutig bestimmen 3 6 1 . Moskau kam die Verschärfung des deutsch-französischen Gegensatzes durchaus ungelegen. Angesichts der englisch-russischen Spannungen, die mit dem Curzon-Ultimatum im Mai 1923 ihren Höhepunkt erreichten, suchte die Sowjetführung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich einen Verbündeten, zumals sich auf dem nahöstlichen Interessenfeld bereits eine gegen England gerichtete Gemeinsamkeit der französischen und sowjetrussischen Diplomatie zu entwickeln schien. Andererseits wurde ein mögliches deutsch-französisches Zusammengehen von Moskau aus Furcht vor einer Einheitsfront der kapitalistischen Großmächte bekämpft, so daß sich die Sowjetführung in einem Knäuel sich gegenseitig aufhebender Bestrebungen befand. Außerdem w a r keineswegs sicher, daß die Ruhraktion die deutsche Revolution beschleunigen konnte. Bestand die Aussicht, so mußte man sich in Moskau fragen, Deutschland durch eine Sowjetisierung zum verläßlichen Bundesgenossen zu machen? W a s würde geschehen, wenn die bürgerlichen Kräfte bei einem Umsturzversuch Sieger blieben? Vor dem Hintergrund der prekären innenpolitischen Situation im Reich und der mit letzter Sicherheit nicht zu bestimmenden Absichten Moskaus war es verständlich, daß Seeckt einerseits die rechten Wehrverbände zu stärken versuchte und andererseits in Sowjetrußland weniger „einen Verbündeten als ein Ersatzlager oder ein Hinterland mit Rohstoffen" suchte, um die im Gang befindliche deutsche Aufrüstung zu beschleunigen 362 . In diesem Punkt traf er sich mit den Vorbehalten Brockdorff-Rantzaus, so daß eine zumindest oberflächliche Aussöhnung zwischen beiden möglich wurde 3 6 3 . Unterstützung fand Seeckt auch beim Reichspräsidenten, dem er seine Pläne vortrug. Ebert gab seine Zustimmung zur Durchführung der ersten Option, das heißt, zur Führung eines Abwehrkampfes im Falle weiteren französischen Vordringens bzw. bei ultimativen Forderungen Frankreichs 364 . Es ging nun darum, eine kriegerische Entscheidung so lange wie möglich hinauszuschieben, bis Deutschland ausreichend gerüstet war. Der Grundgedanke, von dem sich die Reichswehrführung leiten ließ, bestand darin, den passiven Widerstand zu organisieren, parallel dazu die Aufrüstung zu

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Im folgenden nach Grieser, Sowjetpresse, S. 32 f. 362 Tagebuch-Eintrag des Seeckt-Adjutanten v. Selchow am 7. 2. 1923, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/11, S. 10. Berechnungen des Nachschubstabes vom Februar 1923 zeigten deutlich, daß mit wenigen Ausnahmen der Heeresbedarf an Rohstoffen aus dem Ausland eingeführt werden mußte; siehe Aufstellung in BA-MA, RH 8/v. 914. 363 Die Begegnung fand am 27. 1. 1923 statt; siehe Helbig, Träger, S. 151. 364 Rahn, Reichsmarine, S. 211. 109

forcieren, bis es zu Verhandlungen komme, bei denen man den Franzosen einen Machtfaktor entgegensetzen könne, „der in der Drohung bestand: Wir halten solange durch, bis wir in der Lage sind, euch mit Waffengewalt wieder herauszuschmeißen 365 ." Sollte es vor diesem Zeitpunkt bereits zum Kampf kommen, dann mußte die Reichswehr wenigstens zu einem Verzweiflungskampf mit ungewissem Ausgang bereit sein. In jedem Falle hing alles davon ab, ob es Deutschland gelingen würde, sich in Sowjetrußland einen ausreichenden militärischen Rückhalt zu verschaffen, ohne durch eine allzu enge Verbindung mit Moskau die Amerikaner und Engländer, die den Deutschen derzeit mit wohlwollender Neutralität begegneten, unnötig zu brüskieren. Die Regierung Cuno stand damit vor der schwierigen Aufgabe, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um mit Hilfe des passiven Widerstandes zu einem diplomatischen Erfolg zu gelangen — dazu mußten die internen aggressiven Impulse gezügelt werden —, gleichzeitig mußte sie auch die militärischen Optionen vorbereiten, ohne daß dadurch die vorrangig zu verfolgende politische Kampflinie gefährdet wurde.

3. Die „Mission Heller/Morsbach" In zwei Verhandlungsrunden versuchte die Heeresleitung im Frühjahr 1923, ihre russische Position so weit auszubauen, daß sie für eine eventuelle gemeinsame Kriegführung tragbar wurde. Seeckt unterrichtete BrockdorffRantzau am 15. Februar 1923 über den vom Reichspräsidenten und vom Reichskanzler gebilligten Auftrag an den Chef des Truppenamtes, Generalmajor Otto Hasse, der mit einer von ihm geleiteten Militärdelegation nach Moskau unterwegs war 366 . Sie sollte, ohne schon zu einem Abschluß zu 366 Tagebuch Selchow (wie Anm. 362), S. 13 (resümierende Notiz vom 20. 9. 1923). so» Schreiben Seeckts an Brockdorff-Rantzau vom 15. 2. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. Der Botschafter erhielt das Schreiben vier Stunden vor dem Eintreffen der Delegation, was ihm zu erneuter Verstimmung Anlaß gab. Die im folgenden geschilderten Militärverhandlungen sind im groben bereits in der älteren Literatur behandelt worden; z. B. bei Helbig, Träger, S. 151 ff., Meier-Welcker, Seeckt, S. 353 ff. Dort stützt sich die Darstellung im wesentlichen auf die Berichte Brockdorff-Rantzaus an Maltzan. Die Auswertung der jetzt zugänglichen vollständigen Aufzeichnungen des Botschafters im Politischen Archiv des A. A., die im Bestand Botschaft Moskau unter dem Aktentitel „Kupferberg Gold" bislang unbeachtet geblieben sind, ergeben ein umfassenderes Bild von der Bedeutung, dem Ablauf und den Ergebnissen dieser Verhandlungen. Dazu tragen auch andere Quellen, insbesondere aus dem militärischen Bereich bei, u. a. das ausführliche Tagebuch von Oberstleutnant Mentzel (BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3), sowie die Lebenserinnerungen von Kapitän z. S. Wülfing v. Ditten, der als Marinevertreter die erste Verhandlungsrunde miterlebte (BA-MA, Nachlaß Wülfing v. Ditten, N 166/2). 110

kommen, den Russen die Erfüllung ihrer Rüstungswünsche in Aussicht stellen, wenn die Rote Armee ihrerseits zu operativen Absprachen für den Fall eines Krieges gegen Polen bereit sei. Die Moskauer Führung müsse außerdem dafür sorgen, so schrieb Seeckt, daß die „Kräfteentfaltung Deutschlands" nicht durch den Kommunismus behindert werde. Ob sich aber mit dem bloßen Angebot technischer Hilfeleistung auf dem Rüstungsgebiet Sowjetrußland als willfähriger Vasalle gewinnen lassen würde, w a r doch sehr zweifelhaft. Bei seinem Antrittsbesuch vor Verhandlungsbeginn erklärte Hasse, der als Geodät unter dem Decknamen Professor Heller gereist war, dem Botschafter, daß die Heeresleitung selbstverständlich nicht daran denke, die russische Armee soweit zu reorganisieren und auszurüsten, daß sie gegebenenfalls gegen Deutschland verwendet werden könne. Er begegnete damit der Sorge Brockdorff-Rantzaus, die Sowjetführung könne Deutschland im Ernstfalle im Stich lassen, um ihre eigenen weltrevolutionären Ziele zu verfolgen. Hasse machte deutlich, daß es sich vorrangig darum handele, zu sehen, „wie weit man russischerseits im Falle kriegerischer Verwicklungen mit uns gehen wolle. Der Krieg könne, unvermutet, sehr bald kommen, man müsse jedenfalls mit dieser Möglichkeit rechnen und zwischen ihr und dem 'großen Befreiungskrieg', der wohl in 3—5 Jahren kommen werde, unterscheiden 307 ." Der Botschafter machte keinen Hehl aus seiner skeptischen Haltung und meinte, daß nur eine langfristig angelegte und politisch abgesicherte Kriegsvorbereitung sinnvoll sei. Ein „Nachlaufen" gegenüber den Bolschewisten, nur um fragwürdige Zusicherungen für den Eventualfall zu erhalten, hielt er dagegen für verfehlt. „Daß Niemand schärfer als ich trotz der charmanten Verläumdung über Defaitismus und Pazifismus ein Zusammengehen mit Rußland befürwortet, um den Schandvertrag von Versailles über den Haufen zu werfen, werde vielleicht einmal erwiesen werden," so erklärte er unter Anspielungen auf die Vorurteile der Offiziere ihm gegenüber, im gegenwärtigen Augenblick rate er aber zur größten Vorsicht und empfahl dringend Zurückhaltung. Schon in der ersten Verhandlungsrunde mit der Führungsspitze der Roten Armee scheiterte Hasse mit seinem Konzept, Rüstungsangebote und operative Absprache miteinander zu koppeln 368 . Skljanskij, der den erkrankten Trockij vertrat, beharrte darauf, zuerst über die sowjetrussische Wunschliste und die geforderte deutsche Finanzhilfe zu sprechen, um danach den Politikern Vorschläge für ein militärisches Zusammengehen machen zu können. Zugeständnisse beider Seiten verhinderten den Abbruch der Verhandlungen. Hasse stellte eine deutsche Unterstützung — auch finanzieller Art — grundsätzlich in Aussicht, während die Gegenseite ihre Bereitschaft er367 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 21. 2. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 308 BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3. 111

klärte, russische Waffenkäufe in Deutschland zwar nicht — wie von Berlin gewünscht — mit Öl und Rohstoffen, sondern mit Juwelen aus dem Kronschatz des Zaren zu bezahlen. Damit w a r der Weg frei für die intensive Erörterung operativer Fragen. Es ging hierbei u. a. um die Festlegung der Truppenstärken für einen Aufmarsch, gemeinsame Operationen gegen Polen unter Einbeziehung Litauens 3 6 9 als möglichen Bundesgenossen und um den Aufmarsch der russischen Ostseeflotte in deutschen Häfen südlich der dänischen Engen 370 . Die Forderung von Kapitän z. S. Paul Wülfing v. Ditten, Chef des Stabes des Chefs der Marineleitung, die Schiffe mit deutschem Führungspersonal zu bemannen — eine im nachhinein betrachtet geradezu absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, daß die deutschen Marineoffiziere während des KappPutsches 1920 von ihren Mannschaften abgesetzt worden waren —, wurde von sowjetrussischer Seite zurückgewiesen. Zugestanden wurde lediglich die Entsendung deutscher Verbindungsoffiziere und von Signalpersonal. Die Marine zeigte sich außerdem am Bau von U-Booten in Petrograd interessiert 871 . Bei den anschließenden Gesprächen um die Errichtung einer gemeinsamen Rüstungsindustrie auf russischem Boden überraschte der Staatskommissar für die Volkswirtschaft, Aleksandr Bogdanov, die deutsche Delegation mit der Erklärung, Deutschland solle sich vor allem an der Wiederinbetriebnahme bestehender Rüstungsbetriebe mit der Bereitstellung von Fachpersonal und Aufträgen beteiligen 872 . Der Chef des Stabes im Heereswaffenamt,

369 Zwischen Litauen u n d Polen w a r e n im Streit u m das Memelgebiet bereits Kämpfe ausgebrochen. Auch in diesem Falle lehnte Seeckt ein Bündnis mit offensivem C h a r a k t e r ab, d a sich - so seine Begründung - „die deutsche Politik nicht in die Abhängigkeit v o n den Wünschen u n d I n t e r e s s e n dieses kleinen, militärisch w e n i g leistungsfähigen Landes b e g e b e n kann", Seeckt in einem Schreiben an Stresemann, zit. nach Carsten, Reichswehr, S. 155. M a n geht w o h l nicht fehl mit der Vermutung, daß dies in gleicher Weise auch für die Einstellung gegenüber Sowjetrußland galt. 370 BA-MA, Nachlaß Wülfing v. Ditten, N 166/2, S. 88. Hier b e s t a n d offenbar ein Z u s a m m e n h a n g mit dem Kriegsspiel der Flottenabteilung im W i n t e r 1922/23, in d e s s e n Mittelpunkt die A b w e h r einer möglichen französischen Landung an d e r schleswig-holsteinischen O s t k ü s t e g e s t a n d e n h a t t e ; siehe Rahn, Reichsmarine, S. 149. A u ß e r d e m ist d a r a n zu denken, daß die F r a n z o s e n im Kriegsfalle selbstverständlich versuchen mußten, den Seeweg zu i h r e m wichtigsten V e r b ü n d e t e n - Polen - zu öffnen, um diesen u n t e r s t ü t z e n zu k ö n n e n . 371 Rahn, Reichsmarine, S. 212 u n d Carsten, Reichswehr, S. 156 f. Da sich die

Russen hierbei nicht festlegen wollten, blieben die Gespräche ergebnislos und die Marineleitung in Berlin ging infolgedessen auch nicht auf die Wünsche Moskaus nach Überlassung von Konstruktionsplänen sowie taktischen und operativen Kriegserfahrungen ein. 372 Siehe Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 17. 112

Oberstleutnant Wolfgang Mentzel, der unter dem Decknamen Morsbach reiste, sah kaum Chancen, daß die Reichsregierung und die deutsche Industrie unter solchen Umständen in das Geschäft einsteigen würden. Für die Erteilung großer Produktionsaufträge besaß die Reichswehr damals nicht die Mittel, und die Industrie w a r hauptsächlich am Export von Maschinen und Anlagen sowie bestenfalls am Erwerb profitabler Beteiligungen interessiert. Als Brockdorff-Rantzau und Hasse am 24. Februar 1923 eine Zwischenbilanz zogen, fiel diese keineswegs ermutigend aus 3 7 3 . Der Botschafter sah sich in seiner Auffassung bestätigt, sich besser zunächst um eine politische Übereinkunft beider Regierungen zu bemühen. Bloße Absprachen mehr oder minder unverbindlichen Charakters mit der Führungsspitze der Roten Armee seien angesichts unterschiedlicher Strömungen in der Sowjetführung wenig verläßlich. Die rüstungsindustriellen Bestrebungen beurteilte Brockdorff-Rantzau durchaus positiv, auch wenn man sich darüber im klaren sein müsse, „daß wir unter Umständen bei einer Unterstützung der russischen Kriegsindustrie die Weltrevolution fördern. Ich stehe aber auf dem Standpunkt," so erklärte er, „daß wir auch diese letzte Konsequenz angesichts unserer nahezu verzweifelten Lage auf uns nehmen müßten, um uns von dem Joch der sadistischen Franzosen u n d skrupellosen Engländer zu befreien." W e n n auch die Verhandlungen auf dem Rüstungssektor noch immer wenig erfolgversprechend waren, konnte sie der Botschafter mit seinen politischen Bemühungen auch nicht aus der Sackgasse führen. In seinem Gespräch mit dem Leiter des Außenkommissariats Georgij V. Čičerin, das er am nächsten Tage führte, erfuhr er, daß die Russen die Rüstungsfrage als „Kardinalpunkt" ansahen 3 7 4 . Trockij lege den größten Wert darauf, jetzt endlich Klarheit zu erhalten. Er betrachte die gegenwärtigen Verhandlungen als einen „Prüfstein", habe aber leider den Eindruck, daß die deutschen „Militärs bestrebt seien, ihr früheres, weitgehendes Programm einzuschränken und überhaupt nicht mehr, wie vor IV2 Jahren, entgegenzukommen". Auf den Einwurf des Botschafters, daß zunächst einmal die Gesamtrichtung der russischen Politik erkennbar sein müsse, wies Čičerin zu Recht darauf hin, daß man in Berlin nach seinem Eindruck doch ein Stillhalten Sowjetrußlands in der polnischen Frage gar nicht ungern sehe, um nicht England und Amerika gegenüber kompromittiert zu werden. Im übrigen seien Deutschland und Rußland zusammen heute wohl noch längst nicht in der Lage, „einen aussichtsreichen Krieg gegen die Entente zu führen". Dem stimmte

373 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 24. 2. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, 374

Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. Hier und im folgenden: Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 25. 2. 1923, ebd. Erreicht worden war bis zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen nur eine Abstimmung der beiderseitigen Wunschlisten. 113

auch Brockdorff-Rantzau zu und erklärte, „beide Länder müßten zunächst wieder aufbauen, um dann mit den sympathischen Alliierten eine andere Sprache reden zu können". Seine Devise sei: „Erst bauen, dann hauen!" Da die deutsche Seite über ein formelles Bündnis nicht verhandeln wollte, obwohl es Anzeichen dafür gab, daß Moskau dazu bereit war 375 , und eine substantielle Rüstungshilfe — zumindest auf kurze Sicht — nicht leisten konnte und wollte, war kaum damit zu rechnen, daß die aufgenommenen operativen Absprachen jenes Maß an Verbindlichkeit erreichten, auf das Seeckt offenbar hoffte. Dennoch war die Reichswehr-Delegation überrascht, als der sowjetrussische Generalstabschef Pavel Lebedev die zweite Verhandlungsrunde mit der Feststellung eröffnete, die bisherigen Verhandlungen hätten ihm die Augen geöffnet und er sei erschüttert 376 . Deutschlands Lage sei im Grunde genommen aussichtslos und deshalb könne man überhaupt nicht daran denken, die Waffen zu ergreifen. Wollten die Deutschen aber einen erfolgreichen Befreiungskrieg führen, dann seien intensivere Vorbereitungen nötig als jetzt geplant. Vergeblich wies Hasse am nächsten Tag in einem wohlvorbereiteten Statement auf mögliche Mißverständnisse hin. Der sowjetrussische Verhandlungsführer Arkadij P. Rozengolc aber, Leiter des Luftfahrtwesens und Staatskommissar der Finanzen, lehnte bindende Zusagen für gemeinsame Operationen gegen Polen ab, solange die Aufrüstung Deutschlands und Rußlands nicht abgeschlossen sei 377 . Als die deutsche Delegation am 28. Februar 1923 aus Moskau abreiste, nahm sie den Eindruck mit, zumindest einen positiven Anfang gesetzt zu haben. Die Russen schienen zu einem schnellen Abschluß bereit zu sein, wenn Deutschland in der Rüstungsfrage größere Zugeständnisse machen würde. Damit bestand einerseits die Möglichkeit, im Eventualfalle die militärischen Kontakte rasch auf die Ebene einer Koalitionskriegführung anzuheben. Andererseits konnte man die Vorbereitungen für den „Befreiungskrieg" in aller Ruhe in Angriff nehmen. Auf die Enttäuschung des Führers der konservativen DVP, Gustav Stresemann, der mit einem schriftlichen Vertrag

"5 So z. B. eine Andeutung Radeks am 28. 2. 1923 nach dem Bericht BrockdorffRantzaus in seinem Schreiben an Reichskanzler Cuno am 1. 3. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 876 Vgl. T a g e b u c h M e n t z e l , B A - M A , Nachlaß M e n t z e l , N 415/3, S. 19. 877 Die Äußerung Lebedevs ist Brockdorff-Rantzau von Mentzel erst bei dessen zweitem Aufenthalt im April eher beiläufig mitgeteilt worden. Obwohl diese Einstellung der sowjetrussischen Seite dem Botschafter durch seine eigenen Gespräche längst bekannt war, bauschte er den Vorgang in der Folgezeit gewaltig auf und benutzte ihn als Beweis für seine Behauptung, er sei von den Militärs hintergangen und nicht umfassend informiert worden; siehe z. B. sein Schreiben an den Reichskanzler vom 23. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 114

gerechnet hatte, reagierte Seeckt mit der nüchternen Bemerkung, man könne sich „das Spind voll schöner Verträge legen, aber Wert haben sie nicht, wenn sie vom Russen kommen. Wenn der Bündnisfall eintritt und der Augenblick paßt dem Russen und er ist bereit, dann marschiert er auch ohne schriftlichen Vertrag. Ist er aber nicht bereit oder paßt ihm der Zeitpunkt aus einem anderen Grunde nicht, so marschiert er nicht, auch wenn Sie einen schönen Vertrag mit vielen Paragraphen in Ihrem eisernen Schrank haben 378 ." Ob Deutschland allerdings, wie vor allem Brockdorff-Rantzau annahm, in der vorteilhafteren Position w a r und mit dem weiteren Ausbau der Militärbeziehungen abwarten konnte, bis die Sowjetführung von sich aus weitreichende politische, ökonomische und militärische Zugeständnisse anbot, hing entscheidend vom weiteren Verlauf des Ruhrkampfes ab. Gelang es dem Reich, mit anglo-amerikanischer Unterstützung zu einem diplomatischen Erfolg zu kommen und Frankreich zum Nachgeben zu zwingen, dann konnte man zweifellos auch mit Moskau in einer anderen Sprache sprechen. Brockdorff-Rantzau bemühte sich auf seine Weise darum, hierzu den Weg zu ebnen. In Berichten an den Reichskanzler und an den Außenminister trachtete er zunächst danach, die Mission Hasses in Mißkredit zu bringen 379 . Sein wichtigster Vorwurf richtete sich dabei gegen die angebliche Eigenmächtigkeit der Heeresleitung, die — ohne ihn vorher zu konsultieren — zur Unzeit eine übertrieben große Delegation nach Moskau entsandt habe. Diese habe es dann versäumt, den eigentlich zuständigen Botschafter ausreichend zu unterrichten und sich von ihm beraten zu lassen, so daß einerseits bei den Russen der für die deutsche Sache unvorteilhafte Eindruck eines „Nachlaufens" entstanden sei und andererseits unheilvolle Rückschläge im Verhältnis Deutschlands zu den Westmächten zu befürchten seien. Ersichtlich ging es Brockdorff-Rantzau in erster Linie darum, die Verhandlungen mit Moskau künftig selbst zu übernehmen, allenfalls unterstützt von einem ihm genehmen und ihm ausdrücklich unterstellten militärischen Vertreter. Zu den anstehenden sachlichen Problemen fielen seine eigenen Vorstellungen kaum anders aus als die der Heeresleitung, wie überhaupt zu bemerken ist, daß sich Brockdorff-Rantzau im Verlauf des Ruhrkampfes immer mehr den Gedanken Seeckts annäherte 3 8 0 . So hielt er zwar die Be378 Erinnerungen Wülfing v. Dittens (wie Anm. 366), S. 91. Zu Stresemanns Haltung in der Ruhrkrise s. auch Cornebise, Gustav Stresemann, der allerdings die ostpolitischen Aspekte übersieht. 3™ Siehe seine Schreiben vom 1. 3. 1923, zit. bei Gatzke, Collaboration, S. 571, bzw. in PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 380 Hier gegen Heibig, Träger, S. 206 und in Übereinstimmung mit Freund, Unholy Alliance, S. 218 und Schieder, Probleme, S. 56, die sich auf eine entsprechende Äußerung Hilgers berufen. 115

kanntgabe der deutschen Operationspläne für verfrüht, plädierte aber ebenfalls für die Unterstützung der russischen Rüstungsindustrie. Ansonsten glaubte er in seiner Selbstüberschätzung daran, mit dem am 1. März 1923 abgeschlossenen Getreideabkommen einen Schlüssel für die weitere Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Hand zu halten, w a r ihm doch in Moskau bedeutet worden, daß die Durchführung dieses Abkommens wichtiger sei als der Rapallo-Vertrag 3 8 1 . Daß aber auf dem Umweg über den Ausbau der Wirtschaftskontakte, selbst ein äußerst brüchiges Werk, die brennenden militärischen Fragen nicht beantwortet werden konnten, verdeutlichte ein Gespräch des Botschafters mit Čičerin über die Hasse-Mission 3 8 2 . Dabei k a m die Enttäuschung Moskaus noch einmal zum Ausdruck. Erstens, so hieß es, habe die deutsche Seite die früher in Aussicht gestellten Waffenlieferungen nun vollkommen abgelehnt, zweitens seien die Reichswehrvertreter auch bei der Erörterung der operativen Fragen sehr zurückhaltend gewesen. Besonders groß sei die Enttäuschung hinsichtlich der Aufrüstungspläne gewesen. „Aus allen ganz großen Plänen ist eine lächerliche Maus geboren", erklärte Čičerin. Brockdorff-Rantzau begegnete diesen Vorwürfen mit dem Hinweis, daß es für ein gemeinsames Rüstungsprogramm noch keine ausreichende politische Basis gebe. Da er von Trockij bereits im vergangenen Dezember eine Beistandszusage gegen Polen erhalten hatte, ging der Botschafter nun einen Schritt weiter u n d wollte von der Sowjetregierung wissen, wie sie sich im Falle polnischer Passivität u n d kriegstreibender Pressionen Frankreichs verhalten werde. Čičerin fiel es leicht, dieser auf ein deutsch-russisches Kriegsbündnis gegen Frankreich zielenden Frage auszuweichen, da er darauf verweisen konnte, daß man die Rote Armee wohl kaum mit Enthusiasmus auf deutschem Boden begrüßen würde. Brockdorff-Rantzaus Anregung, Moskau solle zumindest in der Öffentlichkeit den Eindruck eines möglichen Zusammengehens erwecken, konterte Čičerin mit dem treffenden Argument, daß man doch derzeit in der Wilhelmstraße ein „Säbelrasseln" Rußlands mit Rücksicht auf die Westmächte für unerwünscht halte. So blieb als einzig greifbares Ergebnis die Versicherung Čičerins, daß eine Verständigung zwischen Frankreich u n d Rußland auf Kosten Deutschlands vollkommen ausgeschlossen sei — eine Gefahr, die zwar in Berlin erörtert wurde und für die es einige Anhaltspunkte zu geben schien, die Brockdorff-Rantzau aber selbst je nach Opportunität zu beschwören oder zu leugnen pflegte 3 8 3 . Damit war der Botschafter schon am Ende seines politischen Lateins. Es bleibt unklar, welche Art von Zusicherungen Moskaus er eigentlich noch

38i Äußerung Radeks gegenüber dem Botschafter am 25. 4. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 1. 382 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 6. 3. 1923, ebd. 383 Siehe z. B. sein Schreiben a n d e n Reichskanzler v o m 21. 3. 1923, ebd., Bd 3, sowie Aufzeichnungen v o m 19. u n d 25. 4. 1923, ebd., Bd 1.

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mit Realitätssinn anstreben konnte, ohne mit dem außenpolitischen Kurs der Reichsregierung und mit den auch von ihm unterstützten Rüstungsbestrebungen in Konflikt zu geraten. Der letzte Fall war besonders akut, da er das Rüstungsproblem zwar so schnell wie möglich lösen wollte, als Voraussetzung dafür aber auf unbestimmten außenpolitischen Festlegungen der Sowjetregierung beharrte, wozu diese allenfalls nach der Erledigung der Rüstungsfragen bereit war. Das offensichtliche Dilemma einer Aktivierung der deutschen Ostpolitik resultierte jedenfalls nicht aus der von BrockdorffRantzau so oft beschworenen „Desperadopolitik" der Heeresleitung, die zu bremsen er als seine Pflicht vorzugeben pflegte, eher aus dem sowohl in politischen als auch militärischen Führungskreisen vorherrschenden Zögern vor den möglichen Konsequenzen einer ausschließlichen deutschen Ostorientierung. Dieses Zögern hatte außen- und rüstungspolitische Ursachen, lag aber nicht zuletzt auch in der zunehmend schwieriger werdenden innenpolitischen Situation Deutschlands begründet. Der anfängliche Optimismus schwand im Frühjahr 1923 dahin. Der Reichsmarkkurs brach infolge des Devisenmangels Mitte April endgültig zusammen. Nach dem Eindruck der Heeresleitung w a r die Regierung nicht mehr Herr der Lage und ein längeres Durchhalten des passiven Widerstandes schien immer unwahrscheinlicher 384 . Seeckt unterstrich zwar noch einmal in einer Denkschrift das Recht und die Notwendigkeit, Deutschland auf einen Verteidigungskrieg vorzubereiten 385 , doch die militärischen Möglichkeiten hatten sich trotz fieberhafter Mobilmachungsarbeiten nicht entscheidend gebessert. Bei nüchterner Betrachtung der Lage mußten sie nach wie vor als aussichtslos eingeschätzt werden. Die Munitionsvorräte z. B. reichten allenfalls für wenige Kampftage, und Nachschub aus deutschen Fabriken bzw. aus Sowjetrußland wäre erst nach Wochen und Monaten zu erwarten gewesen 386 . Innerhalb des wahrscheinlichen Verteidigungsraumes zwischen Weser und Oder hätten allerdings nur 4 Prozent der Kapazitäten zur Toluol-Herstellung zur Verfügung gestanden, weshalb verständlich ist, daß die Heeresleitung in den nächsten Jahren stärker auf chemische Kampfstoffe als auf herkömmliche Sprengstoffe setzte. Aber auch die Fähigkeit zum Giftgas-Krieg mußte erst noch entwickelt werden. Schon jetzt aber verstärkte sich die Gefahr eines militärischen Zusammenpralls von Tag zu Tag, denn zum einen drängten die radikalen Kräfte der politischen Rechten in Deutschland zunehmend auf eine gewaltsame Lösung des Konflikts und konnten von der Reichsführung kaum noch gezügelt wer-

884 Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/40, H. 6, Bl. 6. S85 Denkschrift Seeckts zu Fragen der Landesverteidigung vom 16. 4. 1923, abgedr. in: Das Kabinett Cuno, Nr. 124. sso Aufzeichnung Staatssekretär Hamms über Besprechungen in München, 2. 4. 1923, abgedr. ebd., Nr. 113, hier S. 359. Zu den Rüstungsanstrengungen siehe auch Nuss, Militär, S. 127 ff. 117

den, zum anderen rechnete man allgemein mit einem polnischen Eingreifen Anfang Mai im Zusammenhang mit dem Nationalfeiertag in Polen und dem gleichzeitigen Besuch des französischen Marschalls Ferdinand Foch. Auch ein weiteres Vorrücken der Franzosen schien nicht mehr ausgeschlossen zu sein. W e n n die Heeresleitung dennoch in ihrer Lagebeurteilung schwankend blieb und sogar zeitweilig die Kriegsaussichten günstig einschätzte, dann lag dies nicht nur daran, daß ihr Nachrichten über den schlechten Zustand der französischen Armee zugingen 3 8 7 , sondern auch an der positiven Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen. Die Wiederaufnahme der Rüstungsverhandlungen in Moskau bot einen letzten Hoffnungsschimmer, w e n n die Regierung den passiven Widerstand fortsetzen u n d sich für einen möglichen Verzweiflungskampf rüsten wollte 3 8 8 . Die Voraussetzungen dafür entwickelten sich durchaus günstig, denn Brockdorff-Rantzau wurde bereits von Čičerin mit Hinweis auf die verstärkten polnischen Mobilmachungen zu einem raschen Vertragsabschluß gedrängt 3 8 9 . Moskau zeigte sich außerdem darum bemüht, die deutschen Besorgnisse hinsichtlich der kommunistischen Aktivitäten im Reich zu zerstreuen 3 9 0 . Bei den Vorgesprächen versuchte der Botschafter noch einmal, die Sowjetregierung auf einen antifranzösischen Kurs u n d zur Vorbereitung militärischer Maßnahmen gegen Polen zu verpflichten 3 9 1 . In einem Gespräch mit Radek erklärte er, daß er es bedauerlich finde, „daß wir nicht zwei Jahre zum gegenseitigen Wiederaufbau Zeit haben würden, wenn der polnische, von Frankreich hervorgerufene Angriff jetzt erfolge", und bat für diesen Fall zumindest u m eine sowjetrussische Interventionsdrohung 3 9 2 . Radek sagte dies zu, konnte aber nicht mehr versprechen, denn es gebe zwar einflußreiche Politiker in Sowjetrußland, „die eine baldige Abrechnung mit Polen für erwünscht hielten", m a n müsse aber die Mentalität der russischen Landbevölkerung in Rechnung stellen, die einen unprovozierten Krieg nicht unterstütze. Umso dringlicher sei ein Erfolg der bevorstehenden Rüstungsverhandlungen. Die Rote Armee erwarte von Deutschland eine spürbare Hilfe bei ihrer Ausrüstung, insbesondere die Lieferung von Gewehren,

387 Aufzeichnungen Lieber (wie Anm. 384), Bl. 14. 388

389

390

391

Die Entschlossenheit hierzu bekundete Reichswehrminister Geßler in der Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder am 1. und 2. 5. 1923: Das Kabinett Cuno, Nr. 146, hier S. 454. Schreiben Brockdorff-Rantzaus an Reichskanzler Cuno vom 21. 3. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. Aufzeichnung Brockdorff-Rantzau über ein Gespräch mit Radek vom 25. 4. 1923, ebd., Bd 1. Ebd., sowie Gesprächsprotokoll vom 19. 4. 1923, außerdem Aufzeichnung für den Reichskanzler vom 26. 4. 1923, ebd., Bd 3.

392 Aufzeichnung v o m 25. 4. 1923, ebd.

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Patronen und Artilleriegeschossen. Bezahlen wolle man mit Edelsteinen aus dem Kronschatz 393 . Nachdem Hasse in einem Brief an Rozengolc entsprechende Zusagen gemacht hatte, ohne sich freilich im einzelnen festzulegen, konnte eine zweite Delegation des Reichswehrministeriums nach Moskau fahren 394 . Sie stand unter der Leitung von Mentzel und setzte sich hauptsächlich aus Vertretern der Privatwirtschaft zusammen, wie Direktor Schmerse (Gutehoffnungshütte), Dr. Thiele (Rheinmetall) und Dr. Hugo Stoltzenberg (Chemische Fabrik Stoltzenberg). Obwohl Brockdorff-Rantzau in diesem Falle selbst auf die Entsendung der Expertengruppe gedrängt hatte und es von daher eigentlich zu erwarten gewesen wäre, daß sich die starken Spannungen, die schon die Hasse-Mission begleitet hatten, nicht wiederholten, bot sich bei dieser Verhandlungsrunde das gleiche Bild. Die Ursachen dafür lagen weniger darin begründet, daß der Botschafter dieses Mal massiv in die Verhandlungen eingriff und sich ergänzend zu den Expertengesprächen um die Klärung politischer Fragen bemühte. An mangelnder Kooperationsbereitschaft Mentzels lag es ebenfalls nicht, denn dieser unterrichtete den Botschafter laufend und ließ sich von ihm beraten. Auch im Grundsätzlichen herrschte weitgehend Übereinstimmung zwischen der zivilen und der militärischen Seite, versicherte doch Brockdorff-Rantzau ausdrücklich, daß ihm nichts näher am Herzen liege, als den „Schandvertrag" von Versailles „über den Haufen zu werfen. [...] Seit dem 1. Oktober 1918, an dem Tage, an dem ich unsern Zusammenbruch zuerst vertraulich erfahren, habe ich keine frohe Stunde erlebt und sinne auf nichts anderes als auf Rache, infolgedessen sei ich ja Pazifist 395 ." Die heftigen Spannungen entwickelten sich vielmehr im Atmosphärischen. Gleich in seinem ersten Gespräch mit dem Botschafter gewann Mentzel einen vernichtenden Eindruck von der Persönlichkeit des Grafen. Er glaubte, „mit einem alten, vollkommen abgewirtschafteten hysterischen Frauenzimmer zusammen zu sein" 396 . Noch Jahre danach hielt sich als Erklärung für

398 Aufzeichnung vom 26. 4. 1923, ebd. 394 Einzelheiten zum Ablauf der Reise: BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 28 ff. 395 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus über ein Gespräch mit Mentzel am 13. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 396 Tagebuch Mentzel (wie Anm. 394), S. 39. Mentzel liefert hier eine beeindrukkende Schilderung auffälliger Arbeits- und Verhaltensweisen des Botschafters, doch ist dabei natürlich zu berücksichtigen, daß er dem Grafen nicht unbefangen gegenüber getreten ist; ebd., S. 32 f. Dieser wiederum hatte von Mentzel einen besseren Eindruck als von Hasse, sah aber auch ihn am „Beginn progressiver Megalomanie"; siehe Aufzeichnung vom 6. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. Die unkritische Beurteilung der Persönlichkeit Brockdorff-Rantzaus bei Helbig, Träger, ist in jedem Falle unhaltbar. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der 119

die exzentrischen Verhaltensweisen Brockdorff-Rantzaus in Moskau das Gerücht, er sei hochgradiger Morphinist 897 . Es ist bezeichnend für das tiefe Mißtrauen der Offiziere gegenüber dem Diplomaten, daß Major Tschunke, Mentzels rechte Hand, seine Aufzeichnungen über die Gespräche mit sowjetrussischen Vertretern einem Kurier der russischen Botschaft in Berlin mit der Bemerkung übergab, er vertraue lieber ihm die Akten an als der Deutschen Botschaft, weil man nicht wisse, was dort damit geschehe 398 . Als die Akten dann aber nicht in Berlin ankamen und Tschunke im Moskauer Außenministerium, das vorgab, nichts von der Angelegenheit zu wissen, den Verlust vergeblich reklamierte, brachte er Brockdorff-Rantzau in eine peinliche Lage. Der Botschafter wurde dadurch in seinen Vorurteilen gegenüber dem Militär noch weiter bestärkt. Er ging in anderem Zusammenhang sogar soweit, General Hasse wegen seines Briefes an Rozengolc als „Esel" zu bezeichnen, da man sich mit diesem schriftlichen Dokument in die Hand der Bolschewisten begeben habe, und er w a r bereit, dieses Urteil notfalls in einem Duell zu verteidigen 399 . In diesem Falle aber hatte es sich nicht um eine Leichtfertigkeit politisch unerfahrener Offiziere gehandelt, wie der Graf behauptete, denn es kann kein Zweifel daran bestehen, daß erst dieser Brief die sowjetrussische Seite zur Wiederaufnahme der Verhandlungen veranlaßt hatte. Auch die zweite Verhandlungsrunde kam erst in Bewegung, als Mentzel dem Drängen der anderen Seite nachkam und den Russen die Summe von 35 Millionen Goldmark als deutschen Finanzierungsbeitrag schriftlich in

Nachruf auf Brockdorff-Rantzau in der Pravda vom 11. 9. 1928: „Der ehrgeizige, aristokratisch hochfahrende Graf erwies sich als der allerloyalste, allerwohlwollendste, allerzugänglichste und daher allerangenehmste bürgerliche Botschafter im Roten Moskau [...] Wenn Mitglieder des Außenkommissariats im Vestibül den ihnen wohlbekannten alten Grafen im dicken Pelz bemerkten, wie er ächzend versuchte, hohe Gummischuhe einer ganz eigenartigen Konstruktion über seine Füße zu ziehen, dann entbrannten sie merkwürdigerweise nicht in Klassenhaß, wie es sich beim Anblick einer Person gräflicher Abstammung gehört hätte. [...] Dieser Graf hatte begriffen, daß die Sowjetunion eine gewaltige Macht ist, mit der man in Freundschaft und Eintracht zu leben versuchen muß." Zit. nach Krummacher/Lange, Krieg, S. 213 f. s»7 Siehe Hilmar Ritter v. Mittelberger, Wanderer in 4 Welten, Erinnerungen, 2. Teil [1919-1933], S. 114, BA-MA, Nachlaß v. Mittelberger, N 40/11. Mittelberger bezieht sich hier auf seine Reise nach Moskau im Jahre 1927 als Inspekteur des Ausbildungswesens des Reichswehrministeriums. 398 Bericht Brockdorff-Rantzaus vom 16. 7. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach. Zu den nachfolgend geschilderten Vorgängen siehe Aufzeichnung von 5. 8. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 399 A u f z e i c h n u n g v o m 13. 5. 1923 ( w i e A n m . 395]. 120

Aussicht stellte 400 . Nur unter dieser Voraussetzung erhielten die deutschen Rüstungsexperten die Möglichkeit, in einer dreiwöchigen Rundreise die wichtigsten Rüstungsbetriebe Sowjetrußlands zu besichtigen. Dazu gehörten u. a. die Pulverfabrik in Schlüsselburg, die Putilov-Werke mit der Zünderund Geschützfabrik sowie der Baltischen Werft in Petrograd, außerdem die Patronen- und Gewehrfabriken in Tula und Brjansk. Zur Überraschung der deutschen Experten befanden sich die Anlagen durchweg in gutem Zustand. Trotz reichhaltiger Maschinenausstattung und großer Vorräte an Rohmaterialien arbeiteten sie damals allerdings nur in geringem Umfang 401 , was den Wunsch Moskaus nach deutschen Aufträgen und Finanzhilfen verständlich machte. Die Bestelliste der Reichswehr, die hauptsächlich Handfeuerwaffen, Geschütze und Munition umfaßte, sollte nach den Vorstellungen von Rozengolc wesentlich erweitert werden, und zwar um Flugzeugmotore, chemische Kampfstoffe und Gasmasken. Er versprach sich davon auch eine Belebung der industriellen Produktion in Sowjetrußland, die um so dringlicher erschien, da die Großbetriebe wegen fehlender Binnennachfrage und mangelnder Exportmöglichkeiten nur zu einem Viertel ihrer Kapazität ausgelastet waren und deshalb mit hohen Unkosten arbeiteten. Rozengolc erläuterte Mentzel in diesem Zusammenhang seine allgemeinen Wirtschaftspläne, die darauf abzielten, die Preise landwirtschaftlicher Produkte zu erhöhen, um die Kaufkraft der Bauern zu stärken und auf diese Weise den Absatz der Industrie zu beleben 402 . Mentzel w a r sehr davon beeindruckt und stellte sich die Aufgabe, den Botschafter und die Industrievertreter zu überzeugen, daß die russische Industrie nach ihrer Entwicklung dränge und durch nichts aufzuhalten sei. „So schwierig es auch vielleicht für uns Deutsche in diesem Augenblick ist, solchen Entschluß wie den Aufbau der russischen Industrie zu fassen, wir müssen es tun, wenn wir nicht verschulden wollen, daß ein Anderer sich in Rußland festsetzt 403 ." Über diese Frage kam es zu einem heftigen Streit mit Direktor Schmerse, der die Geschäftsaussichten durchaus positiv beurteilte, ein eigenständiges Engagement seines Konzerns aber ablehnte 404 . Erst müsse der Staat entsprechende Aufträge, z. B. über die Lieferung von

*o° Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 39. 401 Einzelheiten ebd., S. 49 ff., sowie in den Aufzeichnungen Brockdorff-Rantzaus vom 5. und 6. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. "02 Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 64. *03 Ebd., S. 54. 404 Siehe ebd., S. 72 und Schreiben Brockdorff-Rantzaus an den Reichskanzler vom 23. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 121

Waffen, erteilen, dann könne sich die Industrie um die Übernahme von Betrieben in Sowjetrußland bemühen. Im übrigen habe man natürlich kein Interesse daran, sich hier eine mögliche Konkurrenz großzuziehen. Oberstleutnant Mentzel hielt dies angesichts der augenblicklichen Notlage des Reiches für eine „staatsgefährdende Gesinnung". Es sei „immer das alte Lied mit der deutschen Industrie. Das Hemd ist ihr näher als der Rock, und das Gedeihen des eigenen Unternehmens ist immer noch oberstes Gebot, und wenn das Reich darüber in Stücke geht 405 ." Um Schmerse zu „bekehren", arrangierte er schließlich ein Gespräch mit dem Leiter der JunkersFiliale in Moskau, Direktor Schubert, der die Aussichten deutscher Niederlassungen positiv beurteilte. Man müsse sich eben solche Industriezweige heraussuchen, „in denen uns die Russen so leicht nichts nachmachen können" — ein Ratschlag, der kein Patentrezept darstellte, wie der Zusammenbruch des Junkers-Zweigbetriebes zwei Jahre später beweisen sollte. Auf der anderen Seite klang der Hinweis Schmerses auf die Kapitalnot der deutschen Industrie wenig überzeugend. So spricht einiges für den Eindruck Brockdorff-Rantzaus, Schmerse sei hauptsächlich an den 35 Millionen Goldmark interessiert, die von der Reichswehr zu vergeben waren. Dies wurde ihm von dem Chef der Transitfirma Wönckhaus & Co, Braun, bestätigt, der während des Weltkrieges zum Stabe Seeckts in der Türkei gehört hatte und nun vom Chef der Heeresleitung nach Moskau geschickt worden war, um unabhängig von der Mentzel-Mission Möglichkeiten zur Gründung einer Tarngesellschaft im Rüstungsbereich zu erkunden 406 . Dahinter standen Pläne Hasses, eine deutsch-russische Bank zu gründen und von dieser gemischtwirtschaftliche Betriebe in Sowjetrußland finanzieren zu lassen, ein Vorhaben, daß wegen der Zurückhaltung der deutschen Industrie und der katastrophalen Finanzlage des Reiches kaum Erfolgsaussichten besaß. Außerdem suchten die Russen zumindest für die bereits bestehenden Rüstungsfabriken in erster Linie Auftraggeber und keine Teilhaber. Das zeigte sich besonders deutlich in der Frage des U-Boot-Baus, über die der Chef des Seetransportwesens der Marineleitung, Kapitän z. S. Walter Lohmann, schon seit längerem in Moskau verhandelte 4 0 7 . Brockdorff-Rantzau erfuhr in diesem Zusammenhang von Skljanskij, daß die russischen Werften in der

405 406

Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 55. Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 1. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. Die von Braun geleitete Bank war deutscher Vertragspartner der „Russisch-deutschen Transit-Handelsgesellschaft" (Russtransit), die am 10. 4. 1922, bei Beginn der Konferenz von Genua, auf Drängen Maltzans gegründet worden war und strategisch wichtige Aufgaben erfüllte (siehe oben, S. 64).

407 Dazu Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus Reichsmarine, S. 176.

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vom 25. 4. 1923, ebd., und

Rahn,

Lage seien, U-Boote auch ohne fremde Hilfe zu bauen, entscheidend sei auch hier allein das Finanzierungsproblem 4 0 8 . Während die Frage möglicher Organisationsformen für das deutsche Rüstungsengagement zunächst dilatorisch behandelt wurde, erwies sich dies bei den dringenden Wünschen Moskaus nach deutschen Waffenlieferungen als nicht möglich. Es ging den Russen dabei vor allem um die von Seeckt bereits im Frühjahr 1922 versprochenen 100 000 Gewehre, eines keineswegs unerhebliche Größenordnung, w e n n man bedenkt, daß der Versailler Vertrag der Reichswehr einen Höchstbestand an Gewehren und Karabinern von 102 000 Stück gestattete 409 . Daß die Heeresleitung jetzt außerstande war, diese Zusage einzuhalten, wurde von Moskau nicht akzeptiert. Die Russen machten geltend, daß erst vor kurzem die gleiche Anzahl von Gewehren von Deutschland nach China verkauft worden sei. Dabei handelte es sich fraglos um private Schiebergeschäfte, aber dennoch erschien es BrockdorffRantzau unerläßlich, den russischen Wünschen in irgendeiner Form entgegenzukommen, um eine Vertrauensbasis zu finden. Der Botschafter mußte sich aber davon überzeugen lassen, daß sich außer den von der „SchweineEntente konzedierten Waffen" nur noch geringe illegale Bestände in Deutschland befanden 410 . Die Möglichkeit, mit Hilfe russischer Edelsteine Waffen in Drittländern einzukaufen, schied wegen der unübersehbaren politischen Risiken aus. Da die Rote Armee auf sofortige Lieferungen größten Werte legte, bot sich auch das von Mentzel ins Auge gefaßte Verfahren, nämlich nach der Inbetriebnahme der russisdien Rüstungsindustrie die Gewehrfabrikation unter deutscher Leitung mit Vorrang zu betreiben, keinen Ausweg, da mit der Fertigstellung der ersten Gewehre frühestens nach etwa neun Monaten zu rechnen war. Dieser Verhandlungspunkt wurde schließlich ganz fallengelassen. Über die deutsche Wunschliste einigte man sich dagegen relativ rasch. Bereits am 14. Mai 1923 wurde der Bau einer Kampfstoff-Fabrik vertraglich festgelegt 411 . Der russische Vertragsentwurf für Lieferungen, die später auf Grund deutscher Bestellungen vorzunehmen waren, wurde hingegen von Mentzel zunächst zurückgewiesen. Auf ausdrückliche Weisung Trockijs und Michail Kalinins, dem ZK-Vorsitzenden, sollte die Reichswehr zu denselben Bedingungen beliefert werden wie die Rote Armee, d. h. zum Selbstkostenpreis. Die von russischer Seite veranschlagten Herstellungskosten waren aller-

408

400 410

411

Schreiben Brockdorff-Rantzaus an den Reichskanzler vom 1. 5. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. Siehe Vertrag von Versailles, S. 220 (Tafel 3). Schreiben vom 1. 5. 1923 (wie Anm. 408) und Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 6, 5. 1923, ebd., Bd 2. Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 15. 5. 1923, ebd., Bd 2, und Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 78. 123

dings bei Munition und Kampfstoffen wesentlich höher als von deutscher Seite erwartet worden war. Da Mentzel aber die Berechtigung der russischen Vorstellungen durchaus anerkannte, unterschrieb er nach einigem Feilschen den Vertrag, der einen Wert von 35 Millionen Goldmark hatte. Die von der deutschen Delegation verlangten schriftlichen Garantien für die Lagerung und Auslieferung des bestellten Materials wollten die Russen erst erteilen, wenn der kaufmännische Liefervertrag von Berlin ratifiziert sei, was Mentzel für Mitte Juni in Aussicht stellte. Die von BrockdorffRantzau mehrfach beschworene Gefahr, daß im Kriegsfalle eine Blockade die Auslieferung verhindere, wurde von den Reichswehrvertretern nicht gesehen. Sie waren vielmehr davon überzeugt, daß es Deutschland im Ernstfalle gelingen werde, zusammen mit Rußland die Ostsee zu beherrschen und damit die reibungslose Durchführung der Transporte zu gewährleisten 412 . Die russische Verhandlungskommission erklärte ihrerseits die Absicht, Aufträge zur Lieferung von allgemeinem Heeresgerät in Höhe von 35 Millionen Goldrubel an Deutschland zu erteilen. Ein Vertrag darüber kam später allerdings nicht zustande, vermutlidr deshalb, da m a n auf deutsdier Seite nach dem Abbruch des Ruhrkampfes an einem solchen Kompensationsgeschäft wegen der politischen Risiken kein Interesse mehr hegte. Auch der Wunsch Moskaus, deutsche Generalstabsoffiziere zur Führerausbildung der Roten Armee abzukommandieren, blieb unerfüllt. Mentzel hatte sich entgegen dem Rate Brockdorff-Rantzaus zum Vertragsabschluß nicht zuletzt auch deshalb entschlossen, um — wie er meinte — die Russen „bei der Stange zu halten" 4 1 3 . Er w a r sich dabei im klaren, daß die größten Schwierigkeiten in Berlin auf ihn warteten, denn ob Heeresleitung und Reichsregierung in ihrer zögernden, schwankenden Haltung überhaupt zu einem Entschluß kommen würden, schien ihm ungewiß. Das in Moskau erzielte Ergebnis umfaßte zwar nur ein relativ bescheidenes Rüstungsvolumen, aber es konnte zweifellos der Einstieg in das „große" Rüstungsprogramm der Heeresleitung für den geplanten „Befreiungskrieg" werden. Brockdorff-Rantzau beurteilte die Situation in Berlin ähnlich wie Mentzel und sah darin seine Chance, die vermeintlich eigenständige Politik Seeckts endlich zu Fall zu bringen. Da ihm von militärischer Seite wiederholt und glaubhaft versichert worden war, daß der Reichskanzler und der Reichspräsident voll über die Absichten Seeckts informiert seien, verlegte sich der Botschafter darauf, die Verhandlungsführung der Heeresleitung in Mißkredit zu bringen. In einem Schreiben beklagte er sich über die „leichtfertige Kurzsicht" und das „eigenmächtige Vorgehen verantwortungsloser

412 Nach einem späteren Bericht Brockdorff-Rantzaus an den Reichskanzler vom 29. 7. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach. «3 Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 79. 124

Militärs", die mit ihren schriftlichen Festlegungen gegenüber Moskau die Sicherheit des Reiches aufs äußerste gefährdet h ä t t e n 4 1 4 . „Zweck und Ziel unserer Politik Rußland gegenüber mußte es sein", so führte er weiter aus, „uns die Unterstützung Rußlands durch gemeinsame Wiederaufbauarbeit auf wirtschaftlichem u n d politischem, in der letzten Konsequenz auch auf militärischem Gebiet zu sichern". Ökonomische Bindungen seien in der augenblicklichen Lage unbedenklich, politische dürften auch unter normalen Verhältnissen nur vorsichtig eingegangen werden, völlig ausgeschlossen bleibe aber jede schriftliche Festlegung auf militärischem Gebiet. Er habe von Anfang an den Standpunkt vertreten, daß zur Wahrung der deutschen Interessen die Verhandlungen besser in Berlin geführt werden sollten, weil dann im Falle ihres Bekanntwerdens die Russen u n d nicht die Deutschen als Bittsteller u n d Kompromittierte darstünden. Diese Einlassung des Botschafters klingt wenig überzeugend, denn auch ihm war bekannt, daß Trockij darauf bestanden hatte, die Verhandlungen in Moskau „von Soldat zu Soldat" zu führen, was von der Heeresleitung aus den gleichen Bedenken, wie sie Brockdorff-Rantzau hegte, nur widerstrebend und mit Rücksicht auf die Dringlichkeit einer Übereinkunft mit den Russen akzeptiert worden war. Dies hat vermutlich auch Reichskanzler Wilhelm Cuno so gesehen, denn der Wunsch des Botschafters nach Unterstützung seines Standpunktes blieb unerfüllt. Wie Mentzel erwartet hatte, konnte sich die Heeresleitung wochenlang nicht dazu entschließen, die Moskauer Verträge zu bestätigen. Hauptgrund dafür war, daß man sich wegen der katastrophalen Lage der Reichsfinanzen nicht getraute, mit der Bitte um Bewilligung der benötigten Gelder an den zuständigen Minister heranzutreten 4 1 5 . Das Zögern resultierte nicht zuletzt auch aus einem Kurswechsel der Reichswehrführung in der Rüstungsfrage. Ende Mai 1923 wurden nämlich die Mobilmachungsarbeiten eingestellt und der Gedanke aufgegeben, den passiven Widerstand fortzusetzen und gleichzeitig permanent aufzurüsten 4 1 8 . Als Čičerin sich Mitte Juni 1923 bei Brockdorff-Rantzau wegen der ausstehenden Antwort beschwerte, setzte sich dieser erneut beim Reichskanzler dafür ein, die Russen nach Berlin einzuladen, u m die Rüstungsgespräche dort fortzusetzen. Auswärtiges Amt u n d Reichswehrministerium hatten sich darauf verständigt, die Militärbeziehungen zu Sowjetrußland weiterzuführen und auszubauen. Die den Russen versprochene schriftliche Bestätigung der Verträge sollte aber vorläufig ausgesetzt werden, um ein Druckmittel für die vorgesehenen Verhandlungen in Berlin in der H a n d zu behalten 4 1 7 . Es 414

Schreiben an den Reichskanzler vom 23. 5. 1923 (wie Anm. 404). «5 Aufzeichnung des Attachés Andor Hencke vom 23. 7. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 4 ie Tagebuch-Notiz v. Selchows zum 20. 9. 1923, S. 13, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/11. 4 i7 Siehe Gatzke, Collaboration, S. 572. 125

bereitete dem Botschafter in Moskau allerdings einige Mühe, Rozengolc zur Annahme der Einladung zu überreden, konnte dieser doch darauf verweisen, daß Tschunke dem russischen Geschäftsträger in Berlin erklärt hatte, die Mission sei eigentlich überflüssig. So zögerte die sowjetrussische Seite also verständlicherweise und drang auf eine vorherige Zusage, daß in Berlin tatsächlich ein positives Ergebnis zustande komme 418 . Als Basis für die weitere Ausgestaltung der Militärbeziehungen sah man auf russischer Seite die Bestätigung des Gasvertrages und der Munitionsbestellungen an 419 . Mitte Juli reiste Brockdorff-Rantzau nach Berlin, um mit Seeckt zu einer Aussprache zu kommen und seine Beschwerden über die Missionen Hasse/ Mentzel anzubringen sowie sich in die Verhandlungen mit Rozengolc einzuschalten. In der Reichshauptstadt waren unterdessen die Weichen für eine Übereinkunft gestellt worden. Der Reichskanzler hatte am 11. Juli 1923 in einem Gespräch mit Seeckt versichert, daß er zum Durchhalten im Ruhrkampf entschlossen sei, und einen Tag später eine wichtige Voraussetzung dafür realisiert, nämlich das leidige Finanzproblem der Rußlandkontrakte gelöst 420 . Nach der Ankunft Brockdorff-Rantzaus wurden in mehreren Konferenzen die Einzelheiten besprochen. Auf Vorschlag des Botschafters n a h m das von Reichsschatzminister Heinrich Albert geleitete Gremium, zu dem u. a. der Reichsminister des Auswärtigen Frederic v. Rosenberg, der Reichsminister der Finanzen Andreas Hermes (Zentrum), Direktor Henrich (Deutsche Werke), Kommerzienrat Paul Reusch (Gutehoffnungshütte), General Hasse und Oberstleutnant Mentzel gehörten, eine Erweiterung des Volumens um 40 Millionen auf insgesamt 75 Millionen Goldmark in Aussicht 421 . Da eine Bestätigung der Mentzel-Verträge kaum zu umgehen war bzw. zur Debatte gestellt werden konnte, wollte man sich in Berlin mit dem erwei-

"18 Siehe Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 13. 7. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. In den Aufzeichnungen des Botschafters ist im Zusammenhang mit der Entsendung von Rozengolc häufig nur vom „Schwager" die Rede - eine Anspielung auf das Verhältnis zwischen Rozengolc und Trockij. «s Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 29. 7. 1923 über ein Vorgespräch mit Rozengolc in Moskau, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/ Morsbach. 42 ° Siehe Meier-Welcker, Seeckt, S. 368, und Gatzke, Collaboration, S. 572. 42i Hinweis in der rückblickenden Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus für Reichskanzler Stresemann vom 10. 9. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach. Um die Bedeutung der Summen ermessen zu können, sei daran erinnert, daß es der Regierung Anfang August nur mit Mühe gelang, Industrie und Banken zur Zeichnung der letzten Dollarschatzanweisungen in Höhe von 50 Millionen Goldmark zu bewegen, um die dringend benötigten Devisen für Lebensmittelimporte bereitstellen zu können; Das Kabinett Cuno, S. XLIII. 126

terten Angebot einen Verhandlungsspielraum schaffen. Das von BrockdorffRantzau formulierte und vom Reichskanzler übernommene Konzept sah vor, den Abschluß der Rüstungsverträge von politischen Zugeständnissen Moskaus abhängig zu machen 422 . Zwei Ziele wurden angestrebt: erstens ein deutsches Rüstungsmonopol in Sowjetrußland, d. h. die Verpflichtung der Moskauer Führung, in den mit deutscher Hilfe in Gang gesetzten und betriebenen Fabriken, insbesondere in der Flugzeugindustrie keine fremden Staatsangehörigen zu beschäftigen und eine finanzielle Beteiligung anderer Staaten nur nach Zustimmung Berlins anzustreben. Da das bolschewistische Rußland ein stärkeres Interesse an den Abmachungen habe als Deutschland und andere Partner in der westlichen Welt nicht finden werde, so meinte Brockdorff-Rantzau, sei diese Bedingung wohl leicht durchzusetzen. Zweitens sollte die Sowjetführung endlich die von Deutschland seit langem angestrebte einseitige Beistandserklärung gegen Polen abgeben. Da mit einem isolierten polnischen Angriff auf das Reich nicht zu rechnen sei, schütze eine derartige Abmachung Deutschland indirekt auch gegen eine französische Aggression. Das informelle Treffen zwischen Rozengolc, dem sowjetrussischen Botschafter in Berlin, Nikolaij Krestinskij, und Botschaftssekretär Ustinov auf der einen, Cuno und Brockdorff-Rantzau auf der anderen Seite fand am 30. Juli 1923 in einer Berliner Privatwohnung statt 423 . Der Reichskanzler bestätigte zunächst die Zusage der 35 Millionen Reichsmark, machte aber jede weitere Hilfe — gemeint war das von deutscher Seite ins Auge gefaßte erweiterte Programm — von der Erfüllung der beiden Bedingungen abhängig. Während die Russen die Monopolforderung schweigend zur Kenntnis nahmen, reagierte Rozengolc auf das Beistandsverlangen gegen Polen mit dem bekannten Einwand, daß man erst für eine ausreichende Rüstung Sorge tragen müsse und deshalb ein Abwarten erforderlich sei. Cuno stimmte dem zu und erklärte: „Wir müssen unbedingt den Eindruck, einen Revanchekrieg vorbereiten zu wollen, vermeiden. Je unauffälliger sich die Vorbereitungen vollziehen, desto günstiger ist es." Es stehe aber „leider nicht in unserer Macht, für die Auseinandersetzung den uns genehmen Zeitpunkt zu wählen". Diese Bemerkungen machen deutlich, daß zwar vordergründig von einem möglichen Verteidigungskrieg gesprochen wurde, zugleich aber auch Raum blieb für andere Varianten. Der Hinweis Cunos, daß jede verantwortungsbewußte deutsche Regierung natürlich bestrebt sein müsse, eine friedliche Entwicklung zu ermöglichen, muß sicher relativiert werden, denn daß eine 42

2 Aufzeichnung

423

Brockdorff-Rantzaus

für Reichskanzler Cuno vom 29. 7. 1923

und Gesprächsvorschlag vom 30. 7. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach. Zum Verlauf siehe das Protokoll Brockdorff-Rantzaus vom 31. 7. 1923, PA-AA, Büro des Staatssekretärs, Az. Osec, Militärische Angelegenheiten mit Rußland, Bd 1. 127

„friedliche", d. h. ungestörte, Vorbereitungsphase für den „Befreiungskrieg" im deutschen Interesse lag, stand außer Frage. Rozengolc hatte allerdings den Eindruck, daß sich Deutschland auf diese langfristig „unvermeidliche" kriegerische Auseinandersetzung derzeit nicht genügend vorbereite. Wenn der neuernannte Chef des sowjetrussischen Luftfahrtwesens vor allem die Luftrüstung bemängelte, dann sprach er nicht nur in eigener Sache und mit Blick darauf, daß wegen der Versailler Restriktionen eine deutsche Luftwaffe nur auf ausländischen Terrain, also in Rußland entstehen konnte. Es handelte sich vielmehr, wie BrockdorffRantzau einen Tag später erfuhr, um einen grundsätzlichen Dissenz zwischen beiden Generalstäben 4 2 4 . Moskau hielt den Plan Hasses, einen systematischen, daher langsamen Gesamtaufbau der deutschen Streitkräfte durchzuführen, für verfehlt. Um das in Rußland bestellte Kriegsmaterial im Ernstfall sicher nach Deutschland zu bringen, sei es sinnvoller, zunächst die Luftwaffe und die U-Boot-Flotte aufzubauen. Denn das Kriegsmaterial nütze dem Reich nicht, „wenn feindliche Luftstreitkräfte, ohne auf Widerstand zu stoßen, die wichtigsten deutschen militärischen Stützpunkte und Städte vorher in Trümmer legten" 425 . Es war verständlich, das Rozengolc abschließend eine Fortsetzung der militärpolitischen Gespräche mit einem Vertreter des Reichswehrministeriums in Moskau vorschlug. Brockdorff-Rantzau ließ sich aber sofort vom Reichskanzler ermächtigen, selbst die dem Sowjetregime abverlangten Vorschläge für einen Beistandspakt entgegenzunehmen. Im Anschluß an die Aussprache mit dem Reichskanzler traf Rozengolc mit den Abgesandten Seeckts zusammen, um zwei vorbereitete Verträge über den Aufbau der russischen Rüstungsindustrie und die Herstellung von Kriegsmaterial für Deutschland zu paraphieren 4 2 6 . Anwesend war dabei auch Direktor Henrich, der die Aufgabe übernehmen sollte, eine Tarngesellschaft zur Abwicklung der Vorhaben zu schaffen. Als Garantie für die eingegangenen finanziellen Verpflichtungen erklärte sich die Reichswehr bereit, einen Goldfond im Wert von 2 Millionen Reichsmark einzurichten 427 . 424

Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus für den Reichskanzler vom 1. 8. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach.

425 Ebd. Das v o n russischer Seite beklagte U n v e r s t ä n d n i s H a s s e s k a n n auch mit d e s s e n strikter Ressortpolitik z u s a m m e n h ä n g e n , die sich z. B. auch gegen die Reichsmarine richtete u n d den Führungsanspruch der Heeresleitung b e t o n t e ; siehe BA-MA, Nachlaß Wülfing v. Ditten, N 166/2, S. 92. Die A n k ü n d i g u n g v o n Rozengolc, selbst ein umfassendes Programm auszuarbeiten und in etwa einem Vierteljahr in Berlin vorzulegen, ist in Folge der Aufgabe des Ruhrkampfes nicht m e h r zur Ausführung gelangt. 426 427

Hinweis in der Aufzeichnung vom 10. 9. 1923 (wie Anm. 421). Hinweis in der Anlage zu einem Schreiben des ehemaligen Gefu-Direktors Eckardt an Reichswehrminister Geßler vom 8. 2. 1927, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/4.

128

Dieses von beiden Seiten positiv beurteilte Verhandlungsergebnis ermutigte die Heeresleitung, rasch weitere Fortschritte anzustreben. Die Geschäftsführer der im August gegründeten Gefu42S trafen noch im Laufe desselben Monats in Moskau ein, um weitere finanzielle Vereinbarungen zu treffen und einen zusätzlichen Liefervertrag — in diesem Falle über Gasmasken — abzuschließen 429 . Dermaßen militärisch abgesichert, hielt es Hasse für möglich, den Ruhrkampf fortzusetzen, dabei im Innern die Ordnung aufrechtzuerhalten und sich um eine wirtschaftliche Hilfestellung durch England zu bemühen 4 3 0 . Reichskanzler Cuno neigte hingegen wegen seinen gescheiterten Reparationsangeboten und der sich zuspitzenden innenpolitischen Situation, die u. a. durch kommunistisch gesteuerte Unruhen verschärft wurde, immer mehr zur Resignation. Nachdem ihm die Reichstagsfraktion der SPD das Vertrauen entzogen hatte und ein Generalstreik gegen die Politik der Regierung zu erwarten war, trat Cuno überraschend von seinem Amt zurück 431 . Die noch am 13. August 1923 von Gustav Stresemann gebildete Regierung der Großen Koalition unter Einschluß der SPD ging entschlossen daran, einen grundlegenden Kurswechsel einzuleiten und nunmehr ernsthaft einen Ausgleich auch mit Frankreich zu suchen. Brockdorff-Rantzau nutzte sofort die Chance, um sich mit mehreren Denkschriften für den neuen Reichskanzler ins rechte Licht zu setzen 432 . Er unterrichtete Stresemann aus seiner Sicht über die militärpolitischen Verhandlungen der letzten Monate, wobei er verständlicherweise vor allem auf das vermeintlich eigenständige und dilettantische Vorgehen der Offiziere abhob. Er hoffte allem Anschein nach darauf, Stresemanns Unterstützung gegen die Politik des Reichswehrministeriums zu bekommen. Und er schien mit seinem Bemühen Erfolg zu haben, denn am 15. September 1923 kam es zu einer Aussprache mit Ebert und Stresemann, die darauf bestanden, die direkten militärischen Kontakte zu Sowjetrußland mit Rücksicht auf Deutschlands Verhältnis zu den Westmächten auf das unbedingt

42

8 A n g a b e in der Klageschrift Eckardts gegen den Reichsfiskus vom 21. 2. 1929, ebd. 429 Aufzeichnung Henckes vom 21. 9. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, A k t e n

betr. „Kupferberg Gold", Bd 2, und Gatzke, Collaboration, S. 575 f. «o Aufzeichnungen Lieber, H. 6 (wie Anm. 384), Bl. 14. « i Zum politischen Hintergrund siehe Das Kabinett Cuno, S. XLIII und Rupieper, Cuno Government, S. 174 ff. 432 Siehe Aufzeichnungen Brockdorff-Rantzaus für den Reichskanzler vom 1. und 10. 9. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Mission Heller/Morsbach. Es sind vor allem diese Rechtfertigungsschriften, denen Anfang 1924 weitere folgen sollten, die in der Literatur das Bild von den Militärverhandlungen geprägt haben, so z. B. bei Helbig, Träger; Gatzke, Collaboration, und Carsten, Reichswehr, ohne daß diese Quellen bislang kritisch hinterfragt worden sind. 129

notwendige Maß einzuschränken 433 . Auch hinsichtlich der Behandlung der Rüstungsprojekte folgten beide den Vorstellungen des Botschafters, d. h. statt einer militärischen Tarngesellschaft sollte möglichst eine rein privatwirtschaftliche Lösung gefunden werden und statt direkter Kriegsmaterialbestellungen sollte eine unauffälligere und politisch unbedenklichere Beteiligung an der russischen Rüstungsindustrie gesucht werden. Da sich die Ereignisse in Deutschland in diesem Augenblick überstürzten, gab es ohnehin Veranlassung, den Stellenwert der deutsch-sowjetrussischen Beziehungen im Rahmen der Gesamtpolitik zu überdenken. Stresemann, der als „letzte Hoffnung" der Konservativen angetreten war, sah keinen anderen Weg, als den passiven Widerstand an der Ruhr aufzugeben und damit die Voraussetzung für eine politische und ökonomische Stabilisierung des allmählich im Chaos versinkenden Reiches herbeizuführen. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands im Ruhrkampf ist in der Reichswehrführung nicht zu Unrecht als ein „neuer verlorener Krieg" 434 aufgefaßt worden. Der mit dem Rapallo-Vertrag eingeleitete Versuch, abgesichert durch eine politische, ökonomische und vor allem militärische Anlehnung an Sowjetrußland, eine schärfere Gangart gegenüber Frankreich einzuschlagen, um ausgehend von einer Lösung der Reparationsfrage letztlich den Versailler Vertrag insgesamt ins Wanken zu bringen und damit die Machtverhältnisse auf dem europäischen Kontinent grundlegend zu verändern, w a r kläglich fehlgeschlagen. Bereits der erste Schritt, das Standhalten gegenüber französischen Pressionen, hatte die Bereitschaft und die Fähigkeit zum militärischen Widerstand vorausgesetzt. Die Unterstützung Sowjetrußlands war dafür unentbehrlich, ebenso wie für den zweiten Schritt, der nach dem ersten nur noch sehr zaghaft unternommen und bald wieder zurückgenommen worden w a r : die rasche militärische Erstarkung und Mobilmachung des von den Versailler „Fesseln" befreiten Deutschland. Der Höhepunkt der Zusammenarbeit wäre mit der Ausschaltung Polens erreicht worden, die dem Reich die Möglichkeit verschafft hätte, den „großen Befreiungskrieg" gegen Frankreich zu führen und die deutsche Vormachtposition auf dem Kontinent zurück zu erlangen. Die seit Frühjahr 1922 intensivierten deutsch-russischen Militärbeziehungen traten damit in ihre — wenngleich nach der Sicht beider Seiten vorzeitige — Bewährungsphase. Den Schritt zum Abschluß eines formellen Kriegsbündnisses wollte freilich weder Moskau noch Berlin wagen. Zu einem kriegerischen Abenteuer waren Lenin und Trockij angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse ebensowenig aufgelegt wie Seeckt und Cuno. So belauerte man sich gegenseitig und versuchte, die jeweils andere Seite zu

433 Erwähnt in der rückblickenden Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 20. 2. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. «4 Aufzeichnungen Lieber, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, H. 5, S. 152. 130

Vorleistungen zu animieren, ohne sich selbst binden zu wollen. Das Feld für diese taktischen Manöver waren die Rüstungskontakte, an derem Ausbau beide Seiten gleichermaßen interessiert waren. Fragt man nun, welchen Nutzen Deutschland aus der Verbindung zu Sowjetrußland während des Ruhrkampfes ziehen konnte 435 , so wird man erstens nicht umhin können festzustellen, daß Paris und Warschau wohl kaum durch die Drohung einer deutsch-russischen Militärallianz von einem Angriffskrieg abgeschreckt worden sind. Ihre Zurückhaltung dürfte viel eher innenpolitisch begründet gewesen sein. Andererseits kann davon ausgegangen werden, daß die deutsch-russischen Militärkontakte, die ja nicht geheim gehalten werden konnten, nicht unwesentlich zur Verhärtung der westlichen Haltung gegenüber Deutschland beigetragen haben, die russische Karte also zu keiner Zeit ein „Atout" für Berlin war, wie Brockdorff-Rantzau noch im Dezember 1922 angenommen hatte. Was nun zweitens das deutsch-russische Verhältnis selbst anbelangt, so läßt sich erkennen, daß weder die von Berlin angestrebte politische Ausrichtung Sowjetrußlands auf das Deutsche Reich, noch eine enge ökonomische Verklammerung beider Länder erreicht worden war. Die deutschen Monopolansprüche und wirtschaftlichen Penetrationsbemühungen blieben ebenso erfolglos wie die handelspolitischen Bestrebungen. Der Getreidevertrag vom 1. März 1923 wurde nicht — wie Brockdorff-Rantzau gehofft hatte — zum Modellfail für die weitere Entwicklung der Handelsbeziehungen. Er schützte Deutschland keineswegs vor dem wirtschaftlichen und finanziellen Bankrott. Damit entfiel zugleich die wichtigste Grundlage für das Verhandlungskonzept des Deutschen Botschafters in Moskau. Für massive deutsche Investitionen in Sowjetrußland gab es unter den Bedingungen des Ruhrkampfes weniger Anreize und Möglichkeiten denn je. Sie wären auch keineswegs der politisch unverfänglichere Teil der bilateralen Beziehungen gewesen, wie Brockdorff-Rantzau meinte, hätte doch ein auffälliger Kapitalabfluß nach Rußland den in der Reparationsfrage vertretenen Stand-

es Ohne die militärische Zusammenarbeit und die gemeinsamen Kriegspläne zu würdigen, kommt die sowjetmarxistische Historiographie zu folgender Antwort: „Die Ereignisse des Jahres 1923 zeugen davon, daß der Rapallo-Vertrag seine erste Prüfung glänzend bestand. Die Sowjetunion hat, so wie sie es immer tut, alle ihre aus dem Vertrag sich ergebenden Verpflichtungen erfüllt und hat darüber hinaus Deutschland große Hilfe erwiesen. Von allen Ländern der Welt trat einzig die Sowjetunion, die konsequent die Leninsche Politik des Friedens und der Freundschaft zwischen den Völkern verficht, mit nachdrücklichem Protest gegen die Aggression der französischen Imperialisten und ihrer militärischen Vasallen auf. Sie nahm das deutsche Volk unter ihren Schutz und erwies ihm, als es um Freiheit und nationale Unabhängigkeit kämpfte, große materielle und moralische Hilfe." Dawidowitsch, Beziehungen, S. 151. 131

punkt einer vermeintlichen deutschen Zahlungsunfähigkeit ad absurdum geführt. Ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit zu einer nennenswerten Wirtschafts- und Militärhilfe hatte die Weimarer Republik aber keine Aussicht, die bolschewistische Führung zu entsprechenden Gegenleistungen zu veranlassen. So verschlechterte sich die deutsche Position gegenüber Sowjetrußland während des Ruhrkampfes unaufhaltsam. Waren bislang die Russen als Bittsteller aufgetreten, so gerieten nun die Deutschen immer mehr in diese Rolle. Auch im Rüstungsbereich blieb der Nutzen begrenzt. Die Gespräche und Vereinbarungen schufen immerhin eine Basis, die im Eventualfälle, d. h. bei einem plötzlichen Kriegsausbruch, leicht zu einer Militärallianz ausgebaut werden konnte. Der größte Nutzen für Deutschland hätte sich auf längere Sicht ergeben können, wenn man an dem Ziel festgehalten hätte, die Rüstungsbasis rasch zu erweitern, um in etwa drei bis fünf Jahren einen „Befreiungskrieg" mit Aussicht auf Erfolg führen zu können. Doch blieb freilich zu bedenken, daß wegen der alliierten Kontrolle das in Rußland produzierte Kriegsmaterial dort zunächst zwischengelagert werden mußte und mit einer Auslieferung im Kriegsfalle wohl nur zu rechnen war, wenn es doch noch zu einer formellen Allianz zwischen beiden Staaten kam. Wich man dagegen von einem konkreten Zeitplan ab und zog eine zeitlich unbestimmte Aufrüstungs- und Vorbereitungsphase in Betracht, dann konnte die in Rußland geschaffene Rüstungsbasis leicht zu einem Hemmschuh und Risikofaktor werden. Abgesehen davon, daß man sich mit der Herstellung und Lagerung von deutschem Kriegsmaterial auf russischem Boden zweifellos in eine starke politische Abhängigkeit von den Bolschewisten begab, die den außenpolitischen Spielraum in der Vorbereitungsphase eines „Befreiungskrieges" von vornherein stark einengte, blieb zu beachten, daß die Waffen- und Munitionsvorräte nicht unbeschränkt gelagert werden konnten (Kampfstoffe) bzw. mit der Zeit technisch veralten würden (Flugzeuge]. Die Projekte in Rußland bargen außerdem die Gefahr, zu einem bodenlosen Faß zu werden, das einer systematischen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in Deutschland selbst wertvolle Mittel entzog und möglicherweise der Roten Armee stärker zum Nutzen geriet als der Reichswehr.

4. Der „große Befreiungskrieg" roird aufgeschoben Der Abbruch des Ruhrkampfes verlagerte den Brennpunkt der Krise auf die Auseinandersetzung im Innern. Die Reichswehr war vollauf damit beschäftigt, Umsturzversuche von Links und Rechts zu zerschlagen. Mit der Übertragung der vollziehenden Gewalt bot sich aber auch der Reichswehrführung selbst die Chance, das verhaßte demokratische System auszuhöhlen und die für den Befreiungskrieg der Zukunft für notwendig erachtete innere „Neuordnung" Deutschlands durchzuführen. Seeckt freilich verhielt sich in die132

sem Falle ebenso zögernd und abwägend wie zuvor bei den Rußlandunternehmungen. Seine Diktaturpläne bildeten im Herbst 1923 sicher die größte Gefährdung der Weimarer Republik. Wenn es schließlich bei theoretischen Erörterungen blieb, dann lag dies vor allem daran, daß die Heeresleitung den Machtkampf gegen die demokratisch-sozialistischen Kräfte, insbesondere der organisierten Arbeiterschaft, letztlich scheute. Ihr vorrangiges Augenmerk auf die Innenpolitik minderte aber in jedem Falle das Interesse an Rußland. Die bestehenden Beziehungen zu Sowjetrußland erwiesen sich, je mehr sich die Reichsregierung um die Bewältigung der Folgen des Ruhrkampfes und um einen Ausgleich mit den Westmächten bemühte, immer mehr als Ballast, ja als eine brisante Hypothek. Die Entlarvung des russischen Agenten Michail Petrov, der über die sowjetrussische Botschaft in Berlin illegal Waffen — angeblich für die Rote Armee — aufgekauft und damit die deutschen Kommunisten versorgt hatte 436 , machte sowohl die innenpolitischen Risiken als auch die Unzuverlässigkeit des „roten" Bundesgenossen deutlich. Immerhin hatte die Sowjetführung in den vergangenen Monaten hoch und heilig versprochen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Deutschlands einzumischen. Der Fall Petrov w a r sicher mehr ein Vorwand als ein ernsthafter Beweggrund für die Reichsregierung, im Verhältnis zu Sowjetrußland auf Distanz zu gehen. Es w a r jedenfalls nicht zu übersehen, daß jetzt außenpolitische Erwägungen gegenüber unmittelbaren militärischen Interessen stärker in den Vordergrund rückten. Für die weitere Gestaltung der deutsch-sowjetrussischen Beziehungen bedeutete dies, daß nun das Auswärtige Amt das Heft wieder in die Hand nahm. Die Sowjetführung reagierte auf diese Entwicklung mit einem plötzlichen Entgegenkommen in der Bündnisfrage, um die Annäherung Deutschlands an die Westmächte zu blockieren. Berlin wurde, worauf Brockdorff-Rantzau seit seinem Amtsantritt vergeblich gewartet hatte, mit politischen Angeboten regelrecht bestürmt. Bereits einen Tag nach der offiziellen Einstellung des passiven Widerstandes an der Ruhr kündigte Radek überraschend eine baldige Antwort auf die von Reichskanzler Cuno am 30. Juli genannten

«c Zum Hintergrund siehe Hilger, Wir und der Kreml, S. 125, und die Darstellung Stresemanns in einem Schreiben an den Deutschen Botschafter in Moskau vom 1. 12. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. Die von Brockdorff-Rantzau geforderte öffentliche Distanzierung der Sowjetregierung von der Politik der III. Kommunistischen Internationale, die für den Zwischenfall verantwortlich gemacht wurde, war sicher von vornherein illusorisdr, doch wurde zumindest eine formelle Entschuldigung Moskaus erreicht; siehe Aufzeichnungen des Botschafters vom 27. 9., 7. 10. und 8. 12. 1923 sowie vom 25. 1. 1924, ebd., Bd 1. 133

Vorbedingungen für den Ausbau der Militärbeziehungen an 4 3 7 . Er beklagte in diesem Zusammenhang, daß die bisherigen Leistungen Deutschlands in der Rüstungsfrage so minimal seien, daß man dafür einseitige Zugeständnisse Rußlands wohl nicht verlangen könne. „Sie k ö n n e n uns nicht zumuten, daß wir uns für die lumpigen Millionen, die Sie bieten, einseitig politisch binden, und, was das Monopol betrifft, das Sie für die deutsche Industrie in Anspruch nehmen, so denken wir nicht entfernt daran, uns darauf einzulassen; im Gegenteil, wir nehmen alles, was wir militärisch brauchen können, wo wir es finden. So haben wir in Frankreich Flugzeuge gekauft und werden uns auch von England liefern lassen 4 3 8 ." Nach dieser Abfuhr an überzogene deutsche Forderungen ließ Radek aber durchblicken, daß sich die Situation anders darstellen werde, w e n n Deutschland sich entschließe, „großzügige Politik auf weite Sicht mit Rußland zu machen" 4 3 9 . Moskau sei bereit, „auf lange Sicht, mindestens auf fünf Jahre, einen Vertrag mit Deutschland zu schließen und es gegen französische und polnische Angriffe zu schützen, es müsse dafür aber auch die Unterstützung Deutschlands gegen England und Frankreich verlangen". Auf den Einwand des Botschafters, daß bei Abschluß einer formellen Militärallianz Deutschland Gefahr liefe, sich als Kriegsschauplatz für eine Auseinandersetzung zwischen Ost u n d West auszuliefern, daß dann nicht nur die Existenz des Reiches, sondern auch des gesamten deutschen Volkes auf dem Spiele stehe, entgegnete Radek kühl mit dem Hinweis, „man müsse eben den Mut haben, großzügige Politik zu machen". Die Sorgen der Moskauer Führung, die hinter solchen zweifelhaften Avancen steckten, erläuterte Čičerin einige Tage später. Man befürchte, so erklärte er dem Botschafter, daß die deutsche Schwerindustrie auf eine Verständigung mit Frankreich hinarbeite u n d es in Deutschland zu einer Diktatur kommen werde. Diese könnte sich dann an einem Feldzug der Entente gegen die „letzte Hochburg des Sozialismus" — Rußland — beteiligen 4 4 0 . Von solchen Kombinationen w a r die Reichsregierung bei ihrer stärkeren Westorientierung tatsächlich aber weit entfernt. Die Möglichkeit, die deutschen Revisionsziele durch eine Allianz mit den früheren Feindmächten anzusteuern, war in den Führungskreisen Deutschlands schon seit 1919 sorgsam erwogen und spätestens am Vorabend des Rapallo-Vertrages schon deshalb als untauglich verworfen worden, weil es überhaupt keine entsprechenden Angebote von westlicher Seite gab 4 4 1 . Wenn seit Herbst

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Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 27. 9. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 1. 438 So die wörtliche Wiedergabe in der späteren Aufzeichnung des Botschafters vom 20. 2. 1924, ebd., Bd 3. «9 Aufzeichnung vom 27. 9. 1923, ebd., Bd 1. «o Aufzeichnung vom 7. 10. 1923, ebd. 4 « Siehe oben, S. 16, 70 f. 134

1923 von deutscher Seite auf eine Abkühlung des Verhältnisses zum bolschewistischen Rußland hingearbeitet wurde, dann verband selbst Gustav Stresemann, der Protagonist des neuen Kurses, damit weder eine prinzipielle Absage an die traditionelle Machtpolitik, noch an die Ost-Option. Nach seinem parlamentarischen Scheitern als Regierungschef nahm der neuernannte Außenminister im Kabinett Marx in seiner ersten Amtshandlung — eine Unterrichtung Brockdorff-Rantzaus — hierzu eindeutig Stellung. Der Hauptfeind Deutschlands, daran bestand für Stresemann kein Zweifel, sei und bleibe Frankreich, dessen Bemühungen um Rußland allein von der Furcht vor einer etwaigen deutsch-russischen Allianz diktiert seien. Da Paris aber wohl kaum die beiden Todfeinde Polen und Rußland zusammen auf seine Seite ziehen könne, drohe von dieser Seite nur geringe Gefahr. Der Botschafter solle deshalb in Moskau unbesorgt mit Festigkeit auftreten und das schlechte Gewissen der dortigen Machthaber in der Affäre Petrov nach Kräften ausbeuten, um die deutsche Position wieder zu stärken. Die Misere des Reiches sei nur vorübergehender Natur. „Jede Zukunftspolitik muß mit Deutschland rechnen. Der starke Rückgang des Sozialismus, die gewaltige Erstarkung aller nationalen Organisationen bürgt dafür, daß wir in geschichtlich absehbarer Zeit wieder zu Kräften kommen, bündnisfähig für unsere Freunde und gefährlich für unsere Gegner werden können 442 ." Bei zukünftigen „Freunden" dachte Stresemann stärker als Seeckt vor allem an England, das, wie er meinte, sich wohl in einigen Jahren zu dem unausweichlichen Waffengang gegen Frankreich entschließen werde. Wollte man aber Englands Freundschaft gewinnen, daran konnte angesichts des unüberbrückbar erscheinenden englisch-russischen Gegensatzes kein Zweifel bestehen, dann mußte in Zukunft zunächst einmal alles getan werden, um jeden Verdacht einer konspirativen deutsch-russischen Militärkooperation zu vermeiden 443 . Anfang 1924 entwickelte Brockdorff-Rantzau entsprechende Leitlinien, die der veränderten Situation Rechnung trugen, ohne zugleich den Grundgedanken einer deutsch-russischen Zusammenarbeit gegen die Siegermächte aufzugeben. Er wies dabei auf die Erfolge der Vergangenheit hin, die insbesondere im Wirtschaftsbereich erzielt worden seien und in denen er noch immer die größten Entwicklungsmöglichkeiten sah. Bei einer völligen Neuorientierung der deutschen Rußlandpolitik gehe nicht nur das bereits Erreichte, sondern auch der mäßigende Einfluß Deutschlands auf die revolutionären Aktivitäten der Kommunistischen Internationale verloren. Äußer-

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Schreiben Stresemanns vom 1. 12. 1923 (wie Anm. 436). Daß man entsprechende englische Pressemeldungen im A. A. mit Besorgnis registrierte, zeigt z. B. die Behandlung eines Artikels in der Morning Post vom 16. 8. 1923; siehe PA-AA, Politische Abteilung IV, Po 13, Militärangelegenheiten (Rußland), Bd 3. 135

dem sei daran zu denken, daß eine allzu starke Abkühlung der Beziehungen nur der Entente in die Hände spielen würde. „Zur Freude aller unserer Gegner würden wir des letzten Rückhalts, den wir außenpolitisch noch gerettet haben, vor aller Welt beraubt werden. Man mag über die Stütze, die wir im Ernstfalle bei Rußland finden können, urteilen wie man will, die Tatsache, daß wir in dem kritischen letzten Jahre seit dem französischen Einbruch in die Ruhr mit Rußland allein auf gleichem Fuße von Großmacht zu Großmacht verkehrt haben, stellt ein Imponderabile dar, das wir für unsere internationale Politik unmöglich missen können. Ein Bruch der Beziehungen zu Rußland würde ferner mit Naturnotwendigkeit eine Annäherung Rußlands an Frankreich, auf unsere Kosten, zur Folge haben 4 4 4 ." Da aber die von Reichskanzler Cuno gestellten Forderungen von Moskau nicht erfüllt worden seien, entfalle auf der anderen Seite die Grundlage für das ursprünglich anvisierte „große" Rüstungsprogramm. Man dürfe deshalb keinen weiteren Pfennig für Kriegsmaterial in Rußland ausgeben. Alle Bestellungen müßten auf das Mindestmaß zurückgeführt und der vom Reich bereits bewilligte 35-Millionen-Kredit ausschließlich zur Unterstützung der deutschen Industrie in Sowjetrußland verwendet werden, „und zwar nicht nur für militärische Zwecke, sondern für Industrien, die mittelbar Rüstungszwecken dienen und im Notfalle auf Kriegsindustrie umgestellt werden können. Andernfalls besorgen wir ausschließlich fremde Geschäfte, während wir bei einer angemessenen Verwendung der sehr erheblichen Kredite unserer Industrie wesentlichen Vorteile sichern können, zumal das Kriegskommissariat genügend Einfluß besitzt, um der deutschen Industrie auch auf Gebieten in Rußland Eingang zu verschaffen, die nur in losem Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie stehen 445 ." Die Heeresleitung zögerte zwar, sich der außenpolitischen Kurskorrektur anzupassen, in der Rüstungspolitik jedoch wurden die Weichen rasch in eine neue Richtung gestellt. Da nach der Beendigung des Ruhrkampfes die unmittelbare Kriegsgefahr weggefallen war, schwanden sowohl die Dringlichkeit der Rüstungsprojekte und Bestellungen in Sowjetrußland als auch der finanzielle Spielraum, der bisher in Gestalt verschiedener geheimer Fonds zur Verfügung gestanden hatte. Die Folge war, daß nun die langfristig und systematisch angelegte Aufrüstung in Deutschland selbst immer mehr in den Vordergrund rückte. Damit wurden zwar die Stützpunkte in Rußland nicht wertlos, aber mit dem Abrücken von einem vorwiegend auf externen Hilfsquellen basierenden Rüstungsplanes verminderte sich zwangsläufig die Bereitschaft, weitere Risiken und finanzielle Belastungen zur Stützung der russischen Unternehmungen zu übernehmen.

444 Hier und im folgenden: Geheime Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 4. 2. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 445 A u f z e i c h n u n g v o m 20. 2. 1924, e b d . 136

In dem Regierungsprogramm 446 , das Seeckt im November 1923 für den Fall seiner diktatorischen Machtübernahme, die damals in den Bereich des Möglichen zu rücken schien, entworfen hatte, wurde der weitere Weg Deutschlands so skizziert: Schaffung einer autoritären Ordnung im Innern, Anerkennung der Reparationspflicht und des Versailler Vertrages sowie Abstand von einer „offen auf Angriff gerichteten Militärpolitik", bis eine „neue außenpolitische Konstellation" andere Möglichkeiten eröffne. Gegenüber den Westmächten solle das Reich auf Distanz bleiben und die Konfrontationspolitik gegenüber Polen unbedingt fortsetzen. Für diese Linie sei der Ausbau der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Beziehungen zu Sowjetrußland eine unbedingt notwendige Voraussetzung. Zugleich warnte er aber auch vor einer kommunistischen Propaganda im Offizierkorps. Er verwarf die die anscheinend gängige These, daß der Befreiungskampf gegen Frankreich im Bündnis mit Rußland nur möglich sei, wenn Deutschland zum Kommunismus übergehe. Er habe schon mehrfach vor einer Überschätzung der russischen Kraft gewarnt, erklärte Seeckt in einer internen Verlautbarung. Trotz der unleugbaren militärischen und technischen Vervollkommnung sei die russische Armee auch heute gegenüber den westlichen Militärmächten noch kein ausschlaggebender Faktor. „Es soll dabei nicht verkannt werden," so führte er weiter aus, „daß Rußland auch in seinem jetzigen Zustand als Wirtschafts- und Weltmacht etwas bedeutet. Falsch wäre es nur, alles auf eine Karte zu setzen und uns dem Kommunismus zu überliefern, um dafür die russische Hilfe, ungewiß und unzulänglich wie sie ist, einzutauschen 447 ." Diese Absage an nationalbolschewistische Tendenzen bedeutete kein Abrücken von der Ostorientierung der Reichswehr. Es kam, so der Chef der Heeresabteilung T 1, Oberstleutnant Joachim v. Stülpnagel, zunächst darauf an, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, zwei gegensätzliche Pflichten erfüllen zu müssen: „Schutz der Verfassung, also eines kranken Systems, und Vorbereitung des Befreiungskampfes, welchen das System verhindert" 4 4 8 . Um die „krankhaften parlamentarischen Zustände" zu beseitigen und das deutsche Volk auf den Krieg vorzubereiten, dachten Männer wie Stülpnagel nicht an den Kommunismus. Es sei ein Unglück, so meinte er vielmehr, „daß wir in Deutschland keinen Mann großer Qualitäten haben, der diktatorisch regieren kann und will. Diesen Mann würden roir unterstützen, aber den Mann selbst spielen wollen, können wir nicht. Ehe das System Severing und die Ententekontrolle nicht beseitigt sind, ist der Weg für unsere Arbeit nicht frei 449 ."

446 Kessel, Seeckts politisches Programm. « Befehl Seeckts vom 27. 2. 1924, abgedr. in: Das Krisenjahr 1923, Nr. 199. 4« Tagebuchnotiz zum 25. 9. 1923, BA-MA, Nachlaß v. Rabenau, N 62/39, S. 152. 440 Privatbrief Stülpnagels vom 12. 1. 1924, in: Das Krisenjahr 1923, Nr. 163. 4

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In einem Vortrag vor den Offizieren des Reichswehrministeriums am 8. Januar 1924, der allgemein Zustimmung fand, erläuterte Stülpnagel noch einmal sein Gedankengebäude über den „Krieg der Zukunft" 460 . Er verband dabei die kurzgesteckten Kriegspläne der vergangenen Monate mit der nun neueröffneten Möglichkeit einer längerfristigen Vorbereitungsphase. Wenn die innenpolitischen Voraussetzungen geschaffen worden seien, könne man daran gehen, die Gegensätze in der europäischen Politik auszunutzen. Es gelte, mit England und Rußland eine Linie zu suchen und den „Krieg mit Frankreich solange hinauszuschieben, bis in der Welt der Eindruck hervorgerufen ist, daß wir als souveränes Volk nach Versagen aller anderen Mittel nur durch eine Volkserhebung das französische Sklavenjoch abwerfen können". Um wieder „Kontinentalmacht" werden und „Weltpolitik" treiben zu können, müsse man gegen den „Todfeind" Frankreich die Unterstützung Englands und gegen Polen die Hilfe Rußlands suchen. Rußland könne außerdem große Kraftquellen auf kriegswirtschaftlichem Gebiet zur Verfügung stellen. Sodann entwickelte er in seinem Vortrag die einzelnen Voraussetzungen für eine „gewollt herbeigeführte Aufnahme des Krieges" und die „Führung des planmäßig vorbereiteten Befreiungskrieges". Allzu leicht kann sich rückblickend der Eindruck von Phantasiegebilden aufdrängen 451 . Mit einem solchen Verdikt würde man den Ausführungen Stülpnagels aber sicher nicht gerecht werden. Sie enthalten einerseits zahlreiche Elemente eines rationalen militärischen Kalküls, können aber andererseits durchaus als repräsentativ für die Gedankenwelt des höheren Offizierkorps angesehen werden, davon einmal abgesehen, daß Stülpnagel kein unwichtiger Mann im Reichswehrministerium war. Es war aber wohl selbst in seiner Position damals nicht leicht, den Widerstand zwischen der augenblicklichen Lage Deutschlands und den weitgespannten machtpolitischen Zielsetzungen seiner Führungsschichten mit Augenmaß und Realitätssinn zu überbrükken. Sicherlich kamen hier auch ein tief sitzender Bedrohungskomplex und die traumatische Erfahrung des verlorenen Krieges zum Ausdruck. Die alte „Einkreisungspsychose" und die „Präventivkriegs-Gedankenspielereien" des preußisch-deutschen Generalstabes (K.-J. Müller] wurden durch die Gefahr einer Intervention der Versailles-Mächte angesichts deutscher Vertragsbrüche und einer unberechenbaren Politik des Reiches aktualisiert.

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Ausgearbeiteter Vortragstext vom Februar 1924, BA-MA, Depot v. Stülpnagel, N 5/10, z. T. abgedr. in: Das Krisenjahr 1923, Nr. 163. Stülpnagels Vorstellungen waren deutlich von historischen Vorbildern geprägt; s. seinen Artikel: Der Volkskrieg in Spanien 1807 bis 1814, in: Wissen und Wehr 3 (1922), S. 211-221. So meint beispielsweise Hürten (Einleitung zu Das Krisenjahr 1923), S. XVIII, es handele sich um „bramarbasierende Äußerungen einzelner", die nicht als Ausdruck formulierter Politik der Heeresleitung genommen werden dürften. Das folgende Zitat bei Müller, K.-J., General Ludwig Beck, S. 159.

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Wie schon vor 1924 ging es auch in der Ära Seeckt freilich um wesentlich mehr als den Schutz der eigenen Grenzen, um Wege nämlich, den „Wahn vom Weltreich" in die Tat umzusetzen. Es ist bemerkenswert, daß zur gleichen Zeit, als Stülpnagel die Überlegungen der Heeresleitung darlegte, in der Festung Landsberg ein noch unbedeutender Politiker sich auf gleichen Gedankenbahnen bewegte und die Schlüsselrolle Rußlands für den „Wiederaufstieg" Deutschlands ähnlich beurteilte. Doch während Adolf Hitler in Rechnung stellte, daß es unmöglich war, mit Rußland und England zugleich zusammenzugehen und sich aus verschiedenen Gründen für England u n d gegen Rußland entschied, setzte die Heeresleitung auch nach dem Ruhrkampf weiterhin auf eine enge Kooperation mit Sowjetrußland, auch wenn man sich den verlockenden Bündnisangeboten der Bolschewisten verschloß. Noch im Vorfeld des Locarno-Vertrages bot die sowjetische Führung den Abschluß eines Bündnisvertrages mit der Erklärung an, daß sich die UdSSR verstärkt in Richtung Asien engagieren wolle und dort mit England zusammenstoßen werde; wenn es aber zur Entscheidung komme, dann werde England von Frankreich unterstützt, und um diese Hilfeleistung zu paralysieren, sei Deutschland für Rußland als Bundesgenosse unentbehrlich 4 5 2 . Da nach der Einschätzung sowohl der Wilhelmstraße als auch der Reichswehrführung Deutschland noch auf lange Sicht der Zusammenarbeit mit England dringender bedurfte als der mit Sowjetrußland, blieben solche Angebote ohne Widerhall. Auch w e n n Brockdorff-Rantzau den geheimen Rüstungsprojekten der Reichswehr mit Mißtrauen begegnete, den vorsichtig lavierenden Kurs Seeckts in der Bündnisfrage unterstützte er vorbehaltlos. Er lehnte ebenso wie der Chef der Heeresleitung eine einseitige Bindung Deutschlands nach Ost oder West unter den damals gegebenen Bedingungen ab. „Das Ziel der Heeresleitung stimme mit dem seinen völlig überein", erklärte er Seeckts Adjutanten, Major Fischer, am 17. Mai 1924. „Er habe den Posten hier nur übernommen, u m ,Versailles über den Haufen zu rennen'." Was er nicht billigen könne, seien die bisher eingeschlagenen Wege zur Erreichung dieses Zieles 4 5 3 . Bedenkt man, daß Brockdorff-Rantzau zeitweilig als Kandidat der DNVP für die Nachfolge Stresemanns im Gespräch war 4 5 4 , und daß der Widerstand gegen die Öffnung nach Westen nicht nur vom Botschafter in Moskau und vom Chef der Heeresleitung, sondern auch von großen Teilen des Regie-

«2 Politischer Bericht Nr. 2 der Deutschen Botschaft in Moskau vom 24. 2. 1925 mit entsprechenden Äußerungen des Präsidenten des Rats der Volkskommissare Rykov und den Politischen Bericht Nr. 4 vom 9. 3. 1925 mit der Bestätigung des Angebots durch den Außenkommissar Čičerin: PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 4

53 Aufzeichnung des Attachés Hencke v o m 19. 5. 1924, ebd.

454 Stresemanns Bericht über die Situation im Kabinett in seinem Schreiben an Brockdorff-Rantzau vom 24. 4. 1924, ebd., Bd 3. 139

rungslagers, der bürgerlichen Parteien und natürlich auch von den Kommunisten getragen wurde, dann wird verständlich, wie schmal der Grat war, auf dem sich Stresemanns Westpolitik entwickelte. Die Ostorientierung in ihren unterschiedlichen Schattierungen blieb also weiterhin im politischen Spiel, auch wenn sie in ihrer Aktualität nachließ. Eine Folge davon war, daß den engen militärischen und rüstungspolitischen Beziehungen zur UdSSR immer mehr der Boden entzogen wurde. Die Arbeitsaufnahme der Gefu im Frühherbst 1923 hatte von Anfang an unter keinen günstigen Auspizien gestanden. Vor allem die Kapitulation Deutschlands im Ruhrkampf schränkte ihr Aufgabenfeld zwangsläufig ein, noch bevor es überhaupt endgültig abgesteckt werden konnte. Tschunke als Geschäftsführer und Mentzel als Aufsichtsratsvorsitzender verhandelten in Moskau zunächst einmal um die Absicherung und Weiterführung der bestehenden Projekte 455 . Dabei ging es hauptsächlich um die Ausgestaltung des Gasvertrages, dem bedeutungsvollsten Unternehmen, und um die Etablierung der Gefu in Moskau. Die Russen boten außerdem ein Entgegenkommen auf dem Gebiet der Gas Schutzmittel und der Gewehrfabrikation an und waren bereit, die deutsche Patronenform u n d das Maschinengewehr als Vorbild zu übernehmen. Eine Einigung in solchen Detailfragen wurde aber ebenso wenig erreicht wie in den grundsätzlichen Organisationsproblemen. Moskau bestand hartnäckig auf der Errichtung von gemischten Gesellschaften mit gleichen Garantieaufträgen von beiden Seiten. Die Reichswehr konnte jetzt allerdings kaum noch Aufträge vergeben, so daß für die geplanten Unternehmen keine gesunde Produktionsgrundlage vorhanden war. Die Hoffnung Tschunkes, zusätzliches Betriebskapital durch Spenden der deutschen Industrie auftreiben zu können, erwies sich als illusorisch 456 . Auch der Versuch, neben der Gefu eine eigene Konzessionsgesellschaft zu errichten und damit eigene Einnahmequellen zu erschließen, schlug fehl. Dahinter verbarg sich die Absicht, nicht nur die rüstungswirtschaftlidien Projekte, sondern sämtliche kommerziellen Interessen der Deutschen in Rußland zu vertreten. Die Geschäftsführung der Gefu wollte neben Regierungsaufträgen auch Handelsgeschäfte jeglicher Art durdiführen, um die Stützpunkt-Strategie endlich voranzubringen. Sie hoffte, auf diese Weise „ganz Rußland wirtschaftspolitisch eine andere Form geben zu können und das einheitliche kommunistische Wirtschaftsprogramm durch das Schwergewidit eines militär-politischen Bündnisses Deutschland-Rußland durch-

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Einzelheiten dazu in der Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 28. 9. 1923, ebd., Bd 2, sowie im Tagebuch Mentzel, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3, S. 80 ff. «6 Aufzeichnung vom 28. 9. 1923, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. 140

brechen zu können" 4 5 7 . Von russischer Seite wurde die Errichtung einer zentralen Konzessionsgesellschaft zwar nicht prinzipiell abgelehnt, man bestand aber darauf, künftig weiterhin mit einzelnen Firmen unmittelbar Geschäfte tätigen zu können. Mit ihren wirtschaftspolitischen Ambitionen w a r die Heeresleitung ebenso wenig erfolgreich wie das Auswärtige Amt. Ein deutsches Rüstungsmonopol in Sowjetrußland wurde von Moskau eindeutig abgelehnt 458 . Im übrigen vermied man auf der russischen Seite nach Möglichkeit jede offene Brüskierung und verlegte sich vorzugsweise auf eine Hinhaltetaktik, bis der Elan auf deutscher Seite verebbt war. Außerdem verstand man es, die verschiedenen deutschen Verhandlungspartner gegeneinander auszuspielen. Beim Giftgasgeschäft etwa bezog man insgeheim auch den Oberst Max Bauer ein, Verbindungsmann rechtsextremer Kreise in Deutschland, der sich anheischig gemacht hatte, nicht nur eine Kampfstoffproduktion aufzuziehen, sondern auch die deutsche Großchemie zu Investitionen auf dem russischen Markt zu veranlassen 4 5 9 . Das Scheitern der Gefu vollzog sich in einem langwierigen Prozeß. Die Triebkräfte lagen keinesfalls nur in den überspannten Projekten der Geschäftsführung und in dem allzu geringen Spielraum, den Moskau ihr einzuräumen bereit war. Zum mangelnden Erfolg trugen zahlreiche andere Gründe bei: 1. Eine tiefgreifende Mißwirtschaft und Korruption innerhalb der Gefu 460 ; die Direktoren ließen sich großzügige Abfindungen und Provisionen bewilligen, die den Drang zu waghalsigen Geschäften, auch außerhalb des Rüstungsbereiches und in Drittländern, erklären; der Aufsichtsratsvorsitzende, zugleich Chef des Stabes im Heereswaffenamt, ließ sich beispielsweise einen privaten Kredit zur Finanzierung seines Hauses von der Gefu geben; die Direktoren nahmen bedenkenlos Schmiergelder von privaten Firmen, die mit Moskau ins Geschäft kommen wollten; Diese Praktiken zehrten die ohnehin knappe finanzielle Basis der Rüstungsprojekte auf, so daß — nach einem Reingewinn von 170 000 Rentenmark im ersten Geschäftsjahr — schließlich nur noch Verluste eingefahren wurden;

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Nach der Erinnerung Stoltzenbergs, wiedergegeben in seinem Schriftsatz vom 19. 11. 1925, im Schiedsgerichtsverfahren gegen die Gefu, BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/4, S. 24 ff. «s Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus vom 20. 2. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3. 459 Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus über eine Unterredung mit Volkskommissar Trockij am 9. 6. 1924, ebd.; zu Bauers Reise in die Sowjetunion siehe auch Vogt, Oberst Max Bauer, S. 385 ff. 460 Belege zu den folgenden Beispielen: BA-MA, Nachlaß Mentzel, N 415/3. 141

2. das Reichswehrministerium zog sich aus dem Unternehmen allmählich zurück, nachdem die Umorientierung der Außen- und Rüstungspolitik die riskanten Auslandsunternehmen überflüssig und gefährlich zu machen schien; hinzu kamen aufreibende interne Rivalitäten zwischen dem Truppenamt mit seiner „Sondergruppe R" auf der einen, dem Heereswaffenamt mit der Gefu auf der anderen Seite sowie als drittem Kontrahenten die Zentrale Moskau, in der sich Tschunke, Niedermayer und Major Fischer mit ihren Intrigen gegenseitig behinderten 4 0 1 ; 3. die Verselbständigungstendenzen der Gefu wurden vom Reichswehrministerium nicht gebremst, da sich auf diese Weise finanzielle Belastungen und Verantwortlichkeiten verlagern ließen, zumal auch das Auswärtige Amt und Brockdorff-Rantzau ständig darauf drängten, die Gefu als militärische Tarngesellschaft aufzulösen und eine rein private Lösung zu finden, um mögliche außenpolitische Verwicklungen zu umgehen; eine privatwirtschaftliche Form der Betätigung besaß aber unter den bestehenden Verhältnissen keine Überlebenschance, weil sich den wenigen deutschen Rüstungsfirmen im Reich angesichts des geringen Auftragsvolumens und der unsicheren Arbeitsbedingungen in Sowjetrußland keine interessante Anlagemöglichkeit bot; die Bereitschaft der meisten anderen Industriellen, mit dem Militär zusammenzuarbeiten und die illegalen Rüstungsprojekte zu unterstützen, w a r nur gering; nach den vielfach negativen Erfahrungen im bisherigen Rußlandgeschäft bestand auch kaum ein Anreiz, in das russische Abenteuer einzusteigen; 4. die Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung der vertraglich vereinbarten Projekte wuchsen der Gefu schließlich über den Kopf; zu dilettantisch und unvorteilhaft abgefaßten Verträgen 462 kamen unvorhergesehene kostenbelastende Hindernisse und die Hinhaltetaktik der Russen, die auf das nachlassende Engagement der Reichswehr mit Starrsinn und immer neuen Ansprüchen reagierten; ohne ausreichende Aufträge von Reichswehr und Roter Armee bzw. die Möglichkeit, auf zivile Märkte im In- und Ausland auszuweichen, konnten die Unternehmen nicht kostendeckend arbeiten. Der letzte Punkt betraf hauptsächlich die beiden einzigen Projekte, für sich eigenverantwortliche Privatunternehmer hatten finden lassen. Der Zweigbetrieb der Junkerswerke bei Moskau geriet nach einer verheißungsvollen Aufbauphase 1922/23, als die Heeresleitung alle Kosten zu übernehmen versprach und die Rote Armee große Aufträge in Aussicht stellte, rasch in

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Siehe die Berichte Brockdorff-Rantzaus an Stresemann vom 18. 3. und 9. 4. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 3, sowie seine Aufzeichnung vom 18. 8. 1925, ebd., Bd 2. So die interne Kritik im Reichswehrmimsterium; siehe Schreiben BrockdorffRantzaus an Stresemann vom 3. und 9. 4. 1924, ebd., Bd 3.

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den Abwind der sich abkühlenden Militärbeziehungen. Obwohl sich Abgesandte der Sondergruppe im Winter 1923/24 mehrfach von der Leistungsfähigkeit des Betriebes überzeugen konnten, blieben die versprochenen Aufträge aus. Die Reichswehr stattete ihre Fliegerschule in Lipeck mit in Holland gekauften Fokker-Flugzeugen aus und die Rote Armee deckte sich ebenfalls im westlichen Ausland ein. Um den Betrieb aufrecht erhalten zu können, forderte Hugo Junkers daraufhin einen sofortigen Zuschuß von 10 Millionen Goldmark 463 , einen Betrag, den die Reichswehr 1924 nicht aufbringen wollte und konnte. Die Sondergruppe faßte stattdessen den Plan ins Auge, die russischen Junkerswerke in eine gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft umzuwandeln, um die Russen stärker in die Pflicht zu nehmen, auch auf die Gefahr hin, daß damit die deutsche Geschäftsführung in Frage gestellt werden würde 4 6 4 . Die russische Seite wies demgegenüber auf die Nichteinhaltung deutscher Verpflichtungen hin und weigerte sich, dem Werk die für seine Sanierung notwendigen Aufträge zu erteilen und entsprechende Anzahlungen zu leisten. Durch Vermittlung des Deutschen Botschafters wurde eine Übergangslösung gefunden, die eine Stillegung des Betriebes vorerst verhinderte 4 6 6 . Er bestand allerdings nachdrücklich darauf, daß die Geschäftsführung in deutscher Hand blieb, weil sonst die seiner Meinung nach ohnehin geringe Wahrscheinlichkeit, in Rußland hergestellte Flugzeuge und Motore im Ernstfalle nach Deutschland zu bringen, gänzlich verloren gehen könne. Der Konkurs der russischen Junkerswerke, in den schließlich auch das Dessauer Stammhaus hineinzugeraten drohte, war dennoch unabwendbar, da in der Folgezeit weder von russischer noch von deutscher Seite namhafte Aufträge oder Zahlungen erfolgten. In ähnlicher Weise vollzog sich auch der Niedergang des StoltzenbergProjekts bei Samara in der Wolgadeutschen Sowjetrepublik 466 . Die Gefu und ihr sowjetrussisches Pendant Metachim hatten zur Durchführung der vereinbarten Kampfstoffproduktion die Aktiengesellschaft Bersol gegründet.

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465 466

Politischer Bericht Nr. 17 der Deutschen Botschaft in Moskau vom 30. 4. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. Politische Berichte 1924. Zur Geschichte der Junkers-Unternehmung siehe auch weiter die Denkschrift: Entwicklung der Beziehung zwischen Junkers und dem Reich bezüglich der Zusammenarbeit in Rußland (1926); ADAP, B, II/2, Anhang I. und die Stellungnahme des Heereswaffenamtes Nr. 770/Wa.B.6/28g.K. Die Beziehungen des Rw.Min. zur Firma Junkers, vom 6. 7. 1928, BA, Nachlaß Dietrich, Nr. 333. Aufzeichnung des Attaches Hencke über ein Gespräch des Botschafters mit Major Fischer vom 15. 5. 1924, PA-AA, Botschaft Moskau, Akten betr. „Kupferberg Gold", Bd 2. Aufzeichnung Henckes vom 19. 5. 1924, ebd. Zum folgenden siehe ausführlich Kunz/Müller, Stoltzenberg, sowie Müller, R., Die deutschen Gaskriegsvorbereitungen, S. 27 ff. Die wichtigsten Dokumente zu diesem Komplex sind jetzt veröffentlicht in: Chemische Kriegführung, Kap. I. 143

Weniger schnell und eindeutig als beim Standort konnten sich die Partner über Kosten und Einzelheiten des Vertrages verständigen. Stoltzenberg bezifferte den Finanzbedarf auf mindestens 13,2 Millionen Goldmark, wovon Gefu und Metachim jeweils die Hälfte übernehmen sollten. Es w a r vorgesehen, daß die Russen die Gebäude und die notwendige Infrastruktur wie Gleisanlagen sowie Energie- und Wasserversorgung erstellten, darüber hinaus aber auch einen finanziellen Beitrag für die von Stoltzenberg zu liefernden modernen Anlagen beisteuern sollten. Aus seinem zu erwartenden Gewinn wollte Stoltzenberg nach Absprache mit dem Leiter der russischen Kriegschemie eine „Notgemeinschaft" zur Förderung von Chemikern in beiden Ländern gründen. Schon über den anzurechnenden Wert der bereits vorhandenen Betriebsanlagen sowie der vorgesehenen Neubauten gab es erhebliche Differenzen zwischen den Vertragspartnern. Einvernehmen herrschte im Herbst 1923 lediglich in einem Punkt: mit dem Bau der Bersol-Fabriken sollte unverzüglich begonnen werden. Es handelte sich darum, die bestehende Chloranlage wieder in Betrieb zu nehmen und zu erweitern, die Errichtung einer Superphosphat-Fabrik für den zivilen Markt sowie einer Phosgen-Fabrik und einer Großanlage zur Herstellung von Lost, dem „König der Kampfstoffe", für die Stoltzenberg neue Produktionstechniken einsetzen wollte. Für beide Kampfstoff-Anlagen sollten Abfülleinrichtungen geschaffen werden, mit denen die Reichswehr zunächst einmal rund eine Million Gasgranaten einsatzfertig machen wollte. Damit wäre der Bestand an chemischer Munition größer gewesen als an Brisanzmunition, ein Indiz für die große Bedeutung, die seitens der Heeresleitung der Gaswaffe bei ihren strategischen Überlegungen eingeräumt wurde. Die laufende Friedensproduktion sollte u. a. 1230 Tonnen Lost umfassen, wovon die Hälfte der Reichswehr zur Verfügung stehen würde. Als Mindestabnahme in den ersten drei Jahren waren jährlich 48 Tonnen Lost oder entsprechende Vorprodukte sowie Phosgen und Lost im Gesamtwert von 500 000 Goldmark festgesetzt. Dieses Geschäft sollte von der Chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg als Generalunternehmer durchgeführt werden. Es lagen sowjetische Zusagen vor, diese Ausfuhren nicht mit Zöllen zu belasten, solange die Chemikalien für militärische Zwecke Verwendung fanden. Während die Bauarbeiten für Bersol anliefen, bemühte sich das Heereswaffenamt bereits darum, die Kampfstoffrüstung auf eine breitere Basis zu stellen und sich von den geplanten Lieferungen vom fernen Wolgastrand unabhängig zu machen. Zu groß erschien nun plötzlich das Transportrisiko, und das Vertrauen in den Geschäftspartner auf russischer Seite w a r nicht mehr allzu fest. Nach einer Grundsatzbesprechung im Truppenamt 1924 entschloß man sich dazu, eine Großanlage zur Herstellung von Kampfstoffen in Gräfenhainichen bei Halle zu bauen. Es war eine Kapazität von 7000 Tonnen Lost pro Jahr geplant, mehr als im Ersten Weltkrieg 144

insgesamt in Deutschland produziert worden war. Zur Tarnung und als wirtschaftliche Grundlage des Unternehmens sollte die Erzeugung unverdächtiger chemischer Zwischenprodukte, hauptsächlich Chlor dienen. Damit rief m a n allerdings sofort die deutsche Großchemie auf den Plan, die offiziell bei der Reichsregierung Protest einlegte, daß in dem von Stoltzenberg mit Reichsmitteln zu errichtenden Werk trotz eines allgemeinen Chlorüberschusses auf dem deutschen Markt Chlor produziert werden sollte. Sie weigerte sich außerdem, Stoltzenberg mit Rohstoffen und Vorprodukten zu beliefern. Zur gleichen Zeit geriet auch das Rußlandprojekt in immer größere Schwierigkeiten. Unvorhergesehene Verzögerungen, Nachforderungen der Russen, Probleme mit der neuentwickelten Verfahrenstechnik sowie umfangreiche Zerstörungen durch eine Überschwemmung der Wolga im Frühjahr 1926 verhinderten eine termingerechte Fertigstellung. Hinzu kam das offensichtliche Bemühen der sowjetischen Seite, Stoltzenberg als Privatunternehmer aus dem Geschäft zu drängen und die Anlagen in eigene Hände zu nehmen, so daß schließlich der finanzielle Bankrott des Unternehmens drohte. Der Versuch der Gefu, sich von den kostenträchtigen und riskanten Projekten Stoltzenberg und Junkers lautlos zu trennen und sich damit selbst wieder finanziell zu sanieren, schlug fehl. Das Heereswaffenamt bestand darauf, daß die Gefu die Verantwortlichkeit für die Rüstungsprojekte nicht aus der Hand gab. Nachdem sich Stoltzenberg und Junkers mit Schadensersatzansprüchen an den Reichsfiskus wandten und beide Unternehmungen in der Öffentlichkeit bekannt wurden, zog man es vor, diesem Teil der Rüstungsbasis aufzugeben. Die Heeresleitung hatte sich schon im Jahre 1925 entschlossen, „die Methode der Arbeit zu ändern", zugleich aber die Zusammenarbeit mit der Roten Armee zu verbreitern 4 6 7 . Dies bedeutete eine Schwerpunktverlagerung vom Rüstungsbereich zum Ausbildungs- und Erprobungssektor, der nicht nur geringere politische und finanzielle Risiken barg, sondern dessen Nutzung auch besser der neuen Linie einer systematischen und langfristigen Kriegsvorbereitung entsprach. Eine Aufgabe der russischen Option stand für die Reichswehrführung auch im Zeichen der Stresemannschen LocarnoPolitik nicht zur Debatte, zumal man wieder einmal positive Anzeichen eines „beginnenden gesunden Auftriebes in Rußland" — einer „Evolution" — zu erkennen glaubte. Bei einer Besprechung mit dem sowjetischen Botschafter Krestinskij, dem Leiter der Handelsvertretung Stomonjakov und mit Rozengolc am 15. Januar 1925 wies Seeckt die russischen Zweifel über die deutsche Politik und

467 Vortragsnotizen zur Orientierung des Herrn Reichswehrminister über die militärische Zusammenarbeit mit Rußland, vom 23. 1. 1928, BA, Nachlaß Hermann Pünder, Nr. 116. 145

die weitere militärische Zusammenarbeit zurück. Offenbar ermutigt durch die Andeutung der Russen, daß sie bei einer befriedigenden Auskunft weitergehendere Vorschläge machen würden, entwickelte Seeckt seine Richtlinien für die deutsche Politik. Da weder ein Anschluß an Großbritannien noch an Frankreich möglich sei, werde Deutschland zwangsläufig an der Zusammenarbeit mit Sowjetrußland festhalten. Es komme darauf an, abzuwarten und einen möglichen britisch-französischen Gegensatz auszunutzen. Als Ziel im Osten bezeichnete Seeckt die Wiederherstellung der Grenze von 1914 408 . Das Auswärtige Amt war unter der Führung Stresemanns zwar weniger denn je bereit, die eigenständige und abenteuerliche Außenpolitik der Heeresleitung zu tolerieren oder gar zu fördern, bestand aber lediglich darauf, neue Organisationsformen für die Rüstungsprojekte in Rußland zu finden. Brockdorff-Rantzaus Vorschlag, eine rein privatwirtschaftliche Lösung zu suchen und in Sowjetrußland unverdächtige zivile Anlagen zu bauen, „die im Ernstfall von den Russen auf Kriegsmaterial umgestellt werden können" 460 , war nach den Erfahrungen mit Stoltzenberg und Junkers wohl kaum realistisch zu nennen. Die Heeresleitung behalf sich zunächst damit, die Gefu umzustrukturieren 4 7 0 und das bereits produzierte Kriegsmaterial möglichst rasch nach Deutschland zu schaffen. Es handelte sich dabei vor allem um die Überführung von 300 000 Granaten, die in Leningrad, Tula, Petrokrepost' und Zlatoust auf deutsche Rechnung hergestellt worden waren 471 . Daneben wurden aber auch noch weitere Waffengeschäfte angebahnt. So bot die Reichswehr Panzerwagen zum Verkauf an, die in Deutschland nicht länger versteckt werden konnten, und die Russen zeigten sich bereit, Geschütze abzugeben, die ihnen Krupp während des Krieges mit Japan im Jahre 1905 geliefert hatte. Insgesamt 112 derartige Geschütze, die sich problemlos in den Artilleriepark der Reichswehr einstellen ließen und eine beachtliche Verstärkung bedeuten konnten (Höchstbestand an Feldartillerie nach dem Versailler Ver-

«s Tagebuchartige Notizen Seeckts vom 15. 1. 1925, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/19. 469 Ganz geheime Aufzeichnung Dirksens nach einer Besprechung mit dem Leiter der deutschen Militärdelegation in Rußland am 18. 12. 1925, PA-AA, Büro des Staatssekretärs, Az. Osec, Militärische Angelegenheiten mit Rußland, Bd 2, Gespräch Brockdorff-Rantzaus mit Reichswehrminister Geßler am 19. 11. 1926, ebd., Bd 3. «o Befehl vom 11. 3. 1926, BA-MA, Nachlaß v. Niedermayer, N 122/3. 471 Tschunke urteilte rückblickend: „Bei der damaligen Beschränkung unserer Munitionsherstellung war die in Rußland gefertigte und nach Deutschland gebrachte große Zahl von Granaten hervorragender Qualität nicht zu überschätzen." Bericht vom 13. 2. 1939, in: Ursachen und Folgen, Bd VII, Nr. 1407 f., S. 511. 146

trag: 288 Geschütze], waren in der Sowjetunion vorhanden 4 7 2 . Mit der Arbeit der Gefu aber zeigten sich die Russen unzufrieden. Bei einem Gespräch mit Seeckt und Hasse in der sowjetischen Botschaft am 30. Januar 1926 wurden das langsame Tempo der Arbeiten, die geringe finanzielle Ausstattung und die Uneinigkeit der deutschen Stellen beklagt. Man verständigte sich darauf, eine Aussprache auf höchster Ebene und einen Kredit von 300 Millionen Reichsmark an die Sowjetunion anzustreben, wovon 20 Millionen für militärische Zwecke vorgesehen sein sollten. Moskau w a r nach wie vor dringend an einer Intensivierung der Rüstungskooperation interessiert, trotz aller Schwierigkeiten, die sich in der Vergangenheit ergeben hatten. Neben außenpolitischen Erwägungen waren es sicherlich auch die gravierenden Mängel in der sowjetischen Rüstungsindustrie, die dazu Veranlassung gaben. Bei einem Besuch des stellvertretenden Volkskommissars für Kriegswesen, Josef Unšlicht, Ende März 1926, am Vorabend der Unterzeichnung des Berliner Vertrages, einigte man sich darauf, daß erstens die beiden obersten Militärbehörden künftig ohne Einschaltung der Gefu direkt miteinander verhandeln sollten, daß zweitens die Fliegerschule erweitert, eine Tankschule errichtet und drittens die gegenseitige Beteiligung an Manövern, Generalstabsreisen, Kriegsspielen usw. realisiert werden sollte. Auf dem Rüstungsgebiet sagte Seeckt zwar die Hilfe beim Bau einer Gasmasken- und einer MG-Fabrik zu, weitere sowjetische Wünsche nach Fabriken für Panzer, Flugzeuge und schwerer Artillerie — den für Deutschland verbotenen Waffen also — lehnte er aber mit Hinweis auf finanzielle Schwierigkeiten ab. Auch ein Angebot Moskaus zur Zusammenarbeit beim U-Boot-Bau und in anderen Marinebereichen wurde trotz einer Besichtigungsreise von Experten nach Moskau, Leningrad und Kronstadt nicht weiter verfolgt 473 . Diese Zurückhaltung zahlte sich aus, als wenige Monate später die Munitionstransporte aufgedeckt wurden und eine Enthüllungskampagne der inund ausländischen Presse einsetzte. Mit ihrer umfangreichen Dokumentation über die illegalen Rüstungspraktiken der Reichswehr 472 konnte die Reichstagsfraktion der SPD zwar die Mitte-Rechts-Regierung von Wilhelm Marx stürzen und die Reichswehrführung in eine peinliche Lage bringen. Neben

472

Siehe Stab T.-A. Nr. 581/26 geh. R., Ergebnis einer in Moskau und Leningrad durchgeführten Inspektion, vom 21. 10. 1926, BA-MA, RH 8/v. 901. Nachfolgend Notizen Seeckts vom 30. 1. 1926, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/19. «3 Siehe Aktennotiz für den Chef der Marineleitung und den Reichswehrminister über die Rußlandreise von Konteradmiral a. D. Spindler und Kapitän z. S. Kinzel vom 2. 6.-18. 6. 1926, BA-MA, RM 20/907, sowie Carsten, Reichswehr, S. 256 und Gatzke, Collaboration, S. 581. 474 Siehe Materialien vom 6. 12. 1926, BA, R 43 1/686, sowie die Rede Scheidemanns (SPD) am 16. 12. 1926, Verhandlungen des Reichstags, Bd 391, S. 8577 ff. Zum Hintergrund siehe auch Hansen, Reichswehr, S. 114. 147

den Kommunisten, denen die Enthüllungen ebenfalls höchst unangenehm erscheinen mußte, w a r vor allem auch Stresemann als Reichsminister des Auswärtigen betroffen, der eben erst den Friedensnobelpreis erhalten hatte und u m die Glaubwürdigkeit seiner Westpolitik zu bangen hatte. Ein grundlegender Kurswechsel in der Militärpolitik wurde aber nicht erreicht. Das neue Kabinett Marx erweiterte seine parlamentarische Basis durch die Einbeziehung der Deutschnationalen, und nach diesem Rechtsruck konnte die Reichswehr ihre Ostpolitik unbehelligt fortsetzen. Eine Einigung mit dem Auswärtigen Amt wurde rasch gefunden, denn auch die Wilhelmstraße w a r keineswegs an einem völligen Rückzug aus der Rüstungskooperation mit Moskau interessiert, weil dies „1. nicht möglich, 2. nicht nötig, 3. nicht durchführbar" 475 sei. Nachdem dann der Reichswehrminister im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages beschwichtigend erklärt hatte, es hätten sich bei den Rüstungsaktivitäten deutscher Industriekreise (!) in Rußland Schwierigkeiten ergeben, „die eine Lösung der geschlossenen Verträge als notwendig erscheinen ließen", einigten sich beide Ressorts in einem gemeinsamen Protokoll am 26. Februar 1927 auf die endgültige Liquidation der Gefu470. Die Organisation blieb praktisch bestehen und wurde lediglich in Wirtschaftskontor (Wiko) umbenannt. Sie erhielt den Auftrag, die laufenden Geschäfte abzuwickeln. Gleichzeitig erfolgte eine Verlagerung der Verantwortung vom Heereswaffenamt zum Truppenamt. Abschließend läßt sich feststellen, daß das Scheitern einer getarnten deutschen Aufrüstung auf russischem Boden in erster Linie aus einem Kurswechsel der deutschen Politik nach dem Fehlschlag des Ruhrkampfes resultierte, dem sich die Reichswehr mit ihrer Rüstungsstrategie anzupassen hatte. Die mit dem Abschluß des Rapallo-Vertrages stärker nach Osten ausgerichtete Wirtschafts- und Rüstungspolitik Deutschlands hatte also ihre erste Bewährungsprobe nicht bestanden. Mit der vorsichtigen Öffnung nach Westen und dem Primat der inneren Stabilisierung lockerten sich zwangsläufig die engen Bande zu Sowjetrußland. Das von Seeckt maßgeblich inaugurierte Konzept, über eine rasche militärische Erstarkung und eine darauf abzielende Bündnispolitik den deutschen Wiederaufstieg zur Weltmacht zu ermöglichen, wurde vorerst ad acta gelegt.

475

Ganz geheime Aufzeichnung über die deutsch-russischen militärischen Beziehungen vom 24. 12. 1926, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 12. «« Auszug aus den Ausführungen Geßlers am 23. 2. 1927, BA, R 43 1/136, und Protokoll vom 26. 2. 1927, PA-AA, Handakten Direktoren, Dirksen, Militärische Zusammenarbeit mit Rußland.

148

C. KONTINUITÄT UND WANDEL DER OST-OPTION WÄHREND DER LOCARNO-ÄRA 1925-1932 1. Die Neuordnung der deutschen Rußlandinteressen im Zeichen des Berliner Vertrages a] Die politisch-diplomatischen Grundlagen Deutschlands Annäherung an die Westmächte in der Locarno-Ära resultierte aus sicherheitspolitischen und ökonomischen Erwägungen, die dem Scheitern der Obstruktionspolitik gegenüber der Entente und einer illusionären Ostpolitik Rechnung trugen. Hoffnungen auf einen raschen Erfolg der wirtschaftspolitischen Einflußnahme auf den „evolutionären" Prozeß in Sowjetrußland hatten sich zerschlagen. Die gewünschte ökonomische, militärische und außenpolitische Stärkung des Reiches als Voraussetzung für eine aktive Revisionspolitik war auf diesem Wege nicht weiter vorangekommen. Stresemanns „Außenpolitik eines waffenlosen Volkes" 4 7 7 setzte nach Abschluß der Locarno-Verträge deutlicher als zuvor auf den Primat der Ökonomie. Der Wandel vollzog sich also weniger im instrumenteilen Bereich, als vielmehr in der Hauptrichtung des damaligen Interesses der Reichspolitik, d. h. die deutschen Bemühungen zielten nun vorrangig auf eine Ausnutzung der weltwirtschaftlichen Chancen, die sich für Deutschland mit dem Wegfall der Versailler Handelsrestriktionen Anfang 1925 boten. Auf diesem Wege hoffte man, über die ökonomische Stärkung hinaus auch das politische Gewicht Deutschlands im internationalen System zu erhöhen. Mit dem Abschluß des deutsch-sowjetrussischen Handelsvertrages hatte Berlin zugleich ein Zeichen dafür gesetzt, daß mit der außen- und wirtschaftspolitischen Neuorientierung nach Westen keine Absage an die OstOption verbunden war. Die Politik der „Ost-West-Balance" 4 7 8 beabsichtigte deshalb, den angestrebten deutschen Völkerbundsbeitritt durch eine entsprechende Geste gegenüber Moskau zu ergänzen, um so Befürchtungen der Sowjetführung, Deutschland könne damit endgültig in die antisowjetische Front der westlichen Großmächte einbezogen werden, entgegenzuwirken 479 . In dem am 24. April 1926 unterzeichneten „Berliner Vertrag" wurden dementsprechend die bisherigen „freundschaftlichen" Beziehungen zwischen beiden Staaten bestätigt und eine Neutralitätspflicht für den Fall verabredet,

477

Rede Stresemanns in Elberfeld am 17. 2. 1924, zit. in: Stresemann, Vermächtnis, Bd 1 (wie Anm. 299], S. 299. 47 s Siehe Entwurf von Richtlinien für die Führung der weiteren politischen Besprechungen mit der UdSSR vom 29. 5. 1925, DSB 1922-1925/11, Nr. 296. 479 Erklärungen Stresemanns in der Ministerbesprechung am 24. 2. 1926, Das Kabinett Luther II, Nr. 299. Zur sowjetmarxistischen Sicht siehe auch Hampel, Außenpolitik. 149

daß einer der Vertragspartner „trotz friedlichen Verhaltens" von dritter Seite angegriffen oder Ziel eines Wirtschaftsboykotts sein werde 4 8 0 . Mit bemerkenswertem Nachdruck bemühte sich das Auswärtige Amt darum, den Berliner Vertrag als Signal für das Offenhalten der Ost-Option zu interpretieren, denn die neuerdings versöhnlich erscheinende Haltung Frankreichs hielt man lediglich für einen Versuch, die deutsche Politik auf die Festschreibung des territorialen und machtpolitischen Status quo in Europa einzuschwören 481 . Sofern Deutschland aber an seinen revisionspolitischen Zielen festhalten wollte, so der Beauftragte für russische Wirtschaftsfragen Schlesinger, durfte die deutsch-russische Zusammenarbeit nicht vernachlässigt werden. Da die Ostexperten außerdem noch immer davon ausgingen, daß Rußland trotz aller Rückschläge über kurz oder lang das bolschewistische System überwinden werde 4 8 2 , mußte sich Deutschland auch aus diesem Grunde weiterhin darum bemühen, auf die Entwicklung Einfluß zu nehmen. Anderenfalls konnte die Gefahr entstehen, daß ein späteres bürgerliches Rußland die Bindungen an das Reich lösen und Anschluß an die kapitalkräftigeren Westmächte suchen könne, was sowohl unter außenpolitischen als auch wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten für den deutschen „Wiederaufstieg" verhängnisvoll sein mußte. Auch wenn es Deutschland nach dem Eindruck Stresemanns nicht mehr nötig hatte, Rußland „zu sehr nachzulaufen" 483 , kam man im langfristigen deutschen Interesse nicht umhin, sich um den Erhalt und Ausbau der Einflußsphären in Sowjetrußland zu bemühen. Eine durch Deutschland vermittelte Bindung wirtschaftlicher Interessen Dritter, vor allem der USA und Englands, war nach wie vor wünschenswert, um die deutsche Ostpolitik auf ein breiteres Fundament zu stellen und damit Voraussetzungen für eine deutsche „Weltpolitik" zu schaffen 484 . Bei der Diskussion des Berliner Vertrages im Reichstag zeigte sich — anders als bei den Locarno-Verträgen — eine überwältigende Zustimmung aller Parteien, da diese zumindest teilweise von ganz ähnlichen Überlegungen beeinflußt waren. Vor allem die 48(

> Siehe hierzu Krummacher/Lange, Krieg, S. 181 ff. Zur Entstehungsgeschichte, Bedeutung und Auswirkung des Vertrages siehe auch die Aufzeichnung Brockdorff-Rantzaus für den Reichspräsidenten, ADAP, B, II/2, Nr. 41. Zum sowjetmarxistischen Urteil vgl. u. a. Ruge, Zur Problematik, und Suchorukov, Berlinskij dogovor. « i Aufzeichnung Schlesingers vom Juli 1926, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 38. 482 Siehe z. B. Memorandum von Ministerialdirektor Wallroth über „Wesen und politische Bedeutung der russischen Wirtschaftskrise" vom 26. 5. 1926, ebd., Bd 37. 483 Rede Stresemanns am 22. 11. 1925 vor dem Zentralvorstand der DVP, abgedr. in: Turner, Rede, hier S. 421. 484 Schreiben Schlesingers vom 2. 7. 1926 an den Staatssekretär des A. A., v. Schubert, ADAP, B, II/2, Nr. 32. 150

Rechtsparteien wollten den Vertrag ausdrücklich im Sinne der Ost-Option interpretiert wissen und wiederholten bei dieser Gelegenheit ihre weitgespannten politisch-ökonomischen Ambitionen. Der Vertreter der Schwerindustrie, Dr. Jakob Reichert [DNVP], sprach die Hoffnung aus, daß mit dem baldigen Verschwinden des polnischen Staates und der Wiederherstellung einer deutsch-russischen Grenze eine aktivere Ostpolitik als Alternative zur Anlehnung an den Westen, wie sie vom national-konservativen Bürgertum strikt abgelehnt wurde, möglich werde 4 8 5 . Derartige Überlegungen gründeten sich vor allem auf ein ökonomisches Kalkül. Es werde einmal die Zeit kommen, so Reichert, in der der natürliche Reichtum Rußlands, seine großen Bodenschätze und die Riesenanbauflächen für die deutsche Wirtschaft nutzbar gemacht werden könne. Für die radikale Rechte führte Ernst Graf zu Reventlow weiter aus, daß Deutschlands Zukunft nicht im Westen liege, da die Westmächte deutsche Expansionsbestrebungen blockierten, sondern allein im Osten, wobei er unter dem Begriff Osten nicht allein Rußland, sondern den gesamten nahen und fernen Osten verstanden wissen wollte 486 . Es fehlte in diesem Zusammenhang auch nicht an utopisch erscheinenden Entwürfen für ein machtpolitisches deutsches Ausgreifen nach Rußland, wie sie zu dieser Zeit auch Hitler in seinem Buch „Mein Kampf" entwickelte. In Rechtskreisen wurden z. B. die alten Siedlungspläne des Ersten Weltkrieges weiter diskutiert und nun an die „idealistische" Hoffnung gebunden, daß Moskau seine „wahre völkische Bestimmung" im Fernen Osten erkennen und so für eine deutsche Expansion in das europäische Rußland „Platz" schaffen werde 4 8 7 . Selbst in regierungsnahen Kreisen stellte man, völlig im Gegensatz zu den augenblicklichen deutschen Möglichkeiten, Überlegungen an, wie zu einem noch unbestimmbaren Zeitpunkt der Bolschewismus restlos beseitigt und die deutschen Macht- und Wirtschaftsinteressen mit Hilfe bürgerlich-nationalistischer Kräfte in Rußland durchgesetzt werden könnten 488 . Schon jetzt, so wurde vorgeschlagen, sollte man dazu die Voraussetzungen für eine Aufstellung bewaffneter Freiwilligenformationen ukrainischer Nationalisten schaffen 489 . Wenn auch die konkreten Aussichten für eine deutsche Ost-Option immer mehr zu schwinden schienen und für die Reichsregierung im Rahmen ihrer

«5 Ausführungen am 1. 12. 1925 bei der Beratung der deutsch-russischen Wirtschaftsverträge, Verhandlungen des Reichstags, Bd 388, S. 4675 ff. «6 Ebd., S. 4689. 487 Siehe die Schrift von A. Volck, Die Tragödie des russischen Volkes und die Schuldlüge, Lüneburg 1926, von der Hitler stark beeindruckt war. 488 Siehe z. B. eine Denkschrift Groeners, der wenig später zum Reichswehrminister ernannt wurde, aus dem Jahre 1926, zit. in Nuss, Militär, S. 207 f. 489 Siehe Briefwechsel zwischen Schleicher und Werner v. Alvensleben aus dem Jahre 1926, BA-MA, Nachlaß v. Schleicher, N 42/35. 151

Gesamtpolitik an Bedeutung verloren, so waren diese Planungen für eine politisch-wirtschaftliche Einflußnahme auf die russische Entwicklung dennoch keineswegs eine Angelegenheit politischer Außenseiter und Phantasten. Solche Vorstellungen wirkten vielmehr mit wechselnder Intensität auch auf die offizielle Rußlandpolitik ein u n d bildeten wie bisher einen politischideologischen Hintergrund 490 . Bestätigung fand die Reichsregierung in diesem Kontext sogar bei ihrem Werben für eine deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Gegenüber dem neuen Deutschen Botschafter in Washington, Maltzan, der zu den wichtigsten Initiatoren der Rapallo-Politik gehört hatte, äußerte sich US-Präsident Calvin Coolidge zustimmend zu den wirtschaftspolitischen Ambitionen des Reiches in Rußland. Berlin besitze nach Abschluß der Locarno-Verträge gegenüber dem Westen „Sicherheit und Ruhe" und habe damit die Hände frei für eine weitere „Betätigung im Osten". Seiner Auffassung nach hatte Deutschland eine „große Mission" zu erfüllen und darauf hinzuwirken, daß in Rußland „wieder normale wirtschaftliche und soziale Zustände eingeführt würden" 4 9 1 . Eine solche „Mission" aber, darüber bestand in den Führungskreisen von Politik, Militär und Wirtschaft eine weitgehende Übereinstimmung, konnte nicht uneigennützig sein, sondern mußte als Instrument einer längerfristig orientierten deutschen Revisionspolitik eingesetzt werden, deren Ziel der Wiederauf- und -ausbau einer deutschen Weltmachtposition war. b) Die Bedeutung des Rußland-Handels Die Ambivalenz der deutschen Rußlandpolitik fand in den Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR ihre Entsprechung. Aktuelle Absatzinteressen und weiterblickende ökonomische Marktstrategien korrespondierten in vielschichtiger Weise mit dem politischen Bemühen um eine Ausnutzung und Lenkung der Wirtschaftsbeziehungen sowohl im diplomatischen „Tagesgeschäft", als auch mit Blick auf ihre möglichen langfristigen revisionspolitischen Implikationen. So wurden die mit der Locarno-Politik eröffneten Chancen für eine Verstärkung der deutschen Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt von der deutschen Wirtschaft massiv genutzt 492 , auch wenn damit eine Verschärfung widersprüchlicher Interessen einzelner Wirtschaftszweige u n d Branchen verbunden war, die entsprechend dem jeweiligen Grad an Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zum liberalen Freihandel oder zum Protektionismus neigten. Ihren Niederschlag fand diese unterschiedliche Interessenlage besonders deutlich in der Frage eines wirtschaftlichen Engagements in Rußland. Die «o Zur weiteren Entwicklung der diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur UdSSR siehe Dyck, Weimar. 4 oi Der Staatssekretär des A. A., v. Schubert, an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Kempner, vom 8. 1. 1926, ADAP, B, II/l, Nr. 32. «2 Siehe zum folgenden u. a. Stegmann, Deutsche Zoll- und Handelspolitik. 152

Akzentuierung differenzierter Standpunkte innerhalb der deutschen Wirtschaft, wie sie schon bei den Verhandlungen um den Handelsvertrag mit Moskau zum Ausdruck gekommen waren, tangierte freilich nicht die Grundlinie der wirtschaftspolitischen Strategie gegenüber der UdSSR. In Frage stand lediglich, in welchem Ausmaß und unter Inkaufnahme welcher Risiken einzelne Unternehmen und Branchen am derzeitigen Rußland-Geschäft interessiert und bereit waren, die übergeordneten wirtschaftspolitischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Es handelte sich, kurz gesagt, darum, die „Diskrepanz zwischen bürokratisch-ökonomischer Revisionismusidee und kapitalistischen Marktgesetzen" 4 9 3 zu überwinden. Jenen Industriezweigen, die mit ihren hochtechnisierten Produkten schon vor dem Ersten Weltkrieg eine führende Rolle auf dem Weltmarkt eingenommen hatten (Chemie-Elektro-Maschinenbau), gelang auch unter den veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit zumeist eine rasche Rückkehr in die früheren Positionen. Für sie war zugleich auch Rußland stets ein wichtiger und prinzipiell ausbaufähiger Absatzmarkt gewesen. So zählten schon seit Beginn der zwanziger Jahre u. a. AEG, Siemens und der Maschinenbau-Konzern Gutehoffnungshütte zu jenen eifrigen Förderern des Rußland-Geschäfts, die eine abwartende oder gar ablehnende Haltung gegenüber Sowjetrußland, wie sie von anderen in Erwartung eines raschen Systemwandels propagiert wurde, abgelehnt hatten 494 . Ihr Interesse richtete sich dabei vorrangig auf den Verkauf hochwertiger Industrieanlagen, nicht aber auf die Suche nach langfristigen und primär wirtschaftspolitisch motivierten Anlagemöglichkeiten, etwa durch die Übernahme von Konzessionen. Dennoch war auch ihre Tätigkeit wichtig für eine ökonomische Einflußnahme auf die UdSSR. Eine Ausstattung der sowjetrussischen Wirtschaft mit deutschen Maschinen konnte zweifellos gewisse Abhängigkeiten schaffen, deren politische Implikationen evident waren. Die deutsche Industrie setzte sich nämlich im Sinne einer marktbeherrschenden Strategie zum Ziel, daß bei einem möglichen Auftreten ausländischer Konkurrenz auf dem russischen Markt die einheimische Industrie „bereits mit möglichst vielen deutschen Maschinen ausgestattet [...] der russische Bauer bereits an deutsche Fabrikate gewöhnt und der russische Nachwuchs an Arbeitern, Technikern und Ingenieuren bereits an deutschem Material geschult" sein sollte 495 . Für die deutsche Elektroindustrie und den Maschinenbau blieb Rußland auch nach 1925 der beste Auslandskunde, der auf Grund der enormen Indu-

493

Geyer, Mitteleuropapläne, S. 137. Zum Problem ökonomisch begründeter Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Wirtschaftsfraktionen mit ihren Auswirkungen auf unterschiedliche politische und ideologische Einstellungen siehe Abraham, Hegemony. 494 Siehe Pogge von Strandmann, Großindustrie, S. 282 ff. 49 s Westenberger, Hans, Die Finanzierung des Geschäfts mit Rußland, in: Magazin der Wirtschaft 2(1926), S. 130. 153

strialisierungspläne des ersten Fünfjahresplans und der wachsenden Kaufkraft der staatlichen Wirtschaftsorgane sichere und ausbaufähige Geschäftschancen bot. Sie fanden ihren Niederschlag in einem steigendem Anteil hochwertiger Industriewaren bei der deutschen Ausfuhr in die UdSSR 490 . Ausfuhr aus Deutschland nach der UdSSR [europ. Teil] von 1924 bis 1927 (In Millionen Reichsmark)

Warenbenennung

Wolle Kupfer Blei Zinn Zink Aluminium Sonst. unedle Metalle Sonst. ehem. Rohstoffe Wollgarn Filme Farben Sonst. ehem. u. p h a r m a z . Erzeugnisse R ö h r e n u. W a l z e n Kessel u. Maschinenteile Sonst. E i s e n w a r e n Werkzeugmaschinen Landmaschinen Sonst. Maschinen Elektr. Maschinen Elektrotechn. Erzeugnisse Kraftfahrzeuge Feinmechanik

In Prozent d. deutschen Gesamtausfuhr 1927*

1924

1925

1926

1927

4,9 0,6 0,1

7,8 2,5 0,7 0,2 1,2 0,8 0,9 1,7 3,6 2,4 28,2

11,9 4,7 1,2 1,6 0,6

1,4 0,7 0,8 13,2

10,8 1,8 1,0 0,1 1,6 1,1 0,4 1,7 0,4 2,3 32,8

2,0 6,4 3,9 4,2 10,4

6,7 15,4 11,5 5,9 2,8 0,7 13,3 5,1 4,1 13,4 3,1

9,9 0,2

22,1 0,4

17,4 4,6

20,3 11,3

4,5 9,3

1,6 4,5 1,6 1,6 6,2 0,6 7,3 1,1 3,0

3,9 22,4 4,2 10,5 18,8 0,7 11,5 4,7 4,8

9,2 28,8 13,5 12,5 20,4 3,9 9,8 6,0 7,3

20,7 20,7 38,2 5,5 50,2 14,8 16,0 2,4 6,3

12,1 19,7 28,2 16,1 12,5 20,5 4,9 7,8 7,8

0,2

-

-

259,6 183,6 158,2 In Prozent der deutschen Gesamtausfuhr nach der UdSSR (europ. Teil):

22 Waren insgesamt**

59,6

66,9

%

63,3

%

69,4

%

78,8 %

* Inclusive Reparationen. ** Die Gruppensummen sind durch Fortlassung von Dezimalen bei den Einzelposten etwas höher als die summierten Einzelposten. Quelle: Anders, Handelsverkehr (wie Anm. 533], S. 49. «»o Zur handelspolitischen Bedeutung des Warenaustausches siehe u. a. Puchert, Entwicklung, S. 21 ff. und Beitel/Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 125 ff. 154

In dieser Entwicklung waren allerdings widersprüchliche Interessen des Reiches enthalten. Während die Produzenten hochentwickelter Technologien mit ihrem Export in die UdSSR ein profitables Geschäft machten, unterstützten sie damit zugleich Stalins Industrialisierungspolitik, die darauf abzielte, einfache und höherwertige Industriewaren in steigendem Maße im Lande selbst zu erzeugen 497 . Dies bedeutete, daß für eine wachsende Zahl deutscher Produzenten die Aussichten für ein Geschäft mit den sowjetrussischen Staatshändlern schwanden. Wenn es ihnen nicht gelang, ihre Produktion entsprechend anzupassen oder neue Abnehmer zu finden, was unter den konjunkturellen und weltwirtschaftlichen Bedingungen der zwanziger Jahre keineswegs immer leicht war, dann vergrößerten sie den Kreis derjenigen, die das Geschäft mit dem bolschewistischen Regime grundsätzlich und mit starkem ideologischem Ressentiment kritisierten und dem Modell eines deutschrussischen Wirtschaftsblockes der wilhelminischen Kriegszielplanung nachtrauerten. Dazu gehörte beispielsweise die lederverarbeitende Industrie, die bisher Rohleder aus Rußland bezogen und nach der Verarbeitung z. T. wieder dorthin verkauft hatte 488 . Mit dem Aufbau sowjetischer Verarbeitungsanlagen fiel nicht nur dieses profitable Geschäft weg. Die Russen gingen außerdem dazu über, sich in Deutschland mit Gerbereirohstoffen einzudekken, so daß für die deutschen Betriebe eine preistreibende Verknappung eintrat. Betroffen von dem Strukturwandel der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen war insbesondere der deutsche Großhandel, der darüber klagte, daß die UdSSR in steigendem Maße überseeische Rohstoffe, deren Vermittlung bisher in deutschen Händen gelegen hatte, selbst beim Erzeuger einkaufte und mit ihrer eigenen Handelsflotte ins Land holte. Die Eisen- und Stahlindustrie als Eckpfeiler der deutschen Volkswirtschaft nahm im Rußland-Geschäft eine eher vermittelnde Position ein. Sie befand sich in der Mitte der zwanziger Jahre noch immer in einer tiefgreifenden Strukturkrise, die der Wegfall der schon vor dem Kriege überdehnten Rüstungsproduktion und die gesunkene zivile Nachfrage — besonders im Schiffs- und Eisenbahnbau sowie in der Bauwirtschaft — hervorgerufen hatten 489 . Eine Rückkehr auf den internationalen Eisenmarkt wurde ihr unter den Nachkriegsbedingungen nicht zuletzt auch durch die neuentstandene bzw. gestärkte Konkurrenz in Polen und Frankreich erschwert. Die Absicht, auf dem Wege einer Beibehaltung von Überkapazitäten die deutsche Revisionspolitik zu unterstützen und das Ziel des Versailler Ver-

497

Siehe hierzu umfassend Beitel/Nötzold, Les relations. Zum folgenden: Rußlands Bedeutung für die deutsche Wirtschaft, in: Hamburger Fremdenblatt, Nr. 202, 22. 7. 1928, 2. Beilage, S. 9. 499 Weiter bei Weisbrod, Schwerindustrie, und Pohl, Weimars Wirtschaft, S. 15 ff. 498

155

trages, Deutschland industriell zu schwächen, durchkreuzen zu wollen 500 , wirkte sich als zusätzliche Belastung aus. Die Konzentration und Kartellierung des Binnenmarktes, in deren Gefolge Flicks Vereinigte Stahlwerke als größter europäischer Montankonzern entstanden, konnte nur ein erster Schritt aus der Krise sein. Das „von vornherein klar erkannte Ziel war vielmehr die Ordnung der Verhältnisse auf den wichtigsten Absatzmärkten der Welt überhaupt", wie Flick-Direktor Ernst Poensgen erklärte 501 . In Anbetracht der international geschwächten Position der deutschen Eisen- und Stahlindustrie bot der weltwirtschaftliche Freihandel keine größeren Expansionsaussichten. Man bemühte sich deshalb vorrangig um eine Abschottung des Binnenmarktes. Durch die Mitarbeit in internationalen Kartellen hoffte man auf den europäischen Märkten mithalten zu können 502 . Der endgültige Ausweg aus der Krise w a r jedoch in Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb eines erweiterten deutschen Wirtschaftsraumes in Mittel- und Osteuropa zu suchen 503 . Es ging also längerfristig um die Schaffung eines geschützten großen Ausfuhrmarktes, den die deutsche Industrie kolonialartig durchdringen und beherrschen konnte, um auf diese Weise „Reichtümer" zu schaffen 504 . In diesem Koordinatenfeld nahm Rußland einen wichtigen Platz ein. Zum einen war die Montanindustrie als Zulieferer für den Maschinenbau indirekt am derzeitigen Export in die UdSSR interessiert. Zum anderen weckten die russischen Erz- und Kohlelager mehr denn je Interesse, da sie einen möglichen Ersatz für den Verlust deutscher Rohstoffquellen im Gefolge des Versailler Vertrages bieten konnten 5 0 5 . Dies betraf insbesondere das südrussische und kaukasische Manganerz, da dieser für die Erzeugung hochwertigen Stahls unentbehrliche Rohstoff sonst aus nur schwer zugänglichen überseeischen Quellen zu beziehen war.

500

Siehe nachfolgend Bariéty, Zustandekommen, und Pohl, Stresemannsche Außenpolitik. 5 °i Poensgen, Ernst, Gegenwartsfragen der deutschen Eisenindustrie, in: Europas Volkswirtschaft in Wort und Bild, hrsg. von der Frankfurter Zeitung, 1925/26, S. LVII-LXI, hier S. LX. 502 Reichert, Jakob, Die Festländische Rohstahlgemeinschaft, in: Weltwirtschaftliches Archiv 25(1927], I, H. 2, S. 340-376 und zur historischen Bewertung siehe umfassend Pohl, Weimars Wirtschaft. 503 Siehe Frommelt, Paneuropa, S. 46 ff. 504 Reichert, Jakob, Internationale Wirtschaftsverbände (Kartelle, Syndikate, Trusts), in: Das Werden in der Weltwirtschaft, Berlin 1926, S. 168-192, hier S. 176 ff. Siehe auch Nussbaum, Unternehmenskonzentration. 505 Siehe z. B. Bubnoff, Serge v., Der russische Bergbau, Leipzig 1927 (= Osteuropa-Institut in Breslau, Das heutige Rußland, Bd 8). 156

Die deutsche Einfuhr von Manganerzen (1927) insgesamt:

373 183 t

davon aus der UdSSR Ägypten Indien

210 683 t 46 842 t 76 657 t

Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1928, S. 216. Daneben versprach der sowjetische Industrialisierungsprozeß riesige Absatzchancen für deutsche Eisen- und Stahlerzeugnisse, da die Eigenerzeugung der UdSSR den wachsenden Bedarf des Landes auf längere Sicht noch nicht zu decken vermochte 500 . Konkurrenzfurcht bestand auf deutscher Seite in dieser Hinsicht nicht, da die in Rußland vorhandenen Anlagen technisch veraltet waren. Selbst unter Berücksichtigung der in Angriff genommenen Neuaufbauten lagen die Produktionskosten infolge hoher Ausgaben für Arbeitslöhne, Roh- und Brennstoffe und einer uneffektiven Wirtschaftsbürokratie zwei- bis dreimal so hoch wie in den westlichen Ländern 507 . Den Ausbau und die rasche Modernisierung der sowjetischen Schwerindustrie, wie sie von Stalin zum wichtigsten Ziel seiner Wirtschaftspolitik gemacht wurden, beobachtete man in Deutschland dennoch mit einigem Mißtrauen. Weil erkannt worden war, daß angesichts der großen Konkurrenz auf dem Weltmark „der aufnahmefähige russische Markt und seine Beherrschung durch Deutschland geradezu eine Existenznotwendigkeit" geworden war 508 , gehörte die deutsche Schwerindustrie insgesamt gesehen zu den wichtigsten Protagonisten des Rußland-Geschäfts und zu den Trägern der längerfristigen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen gegenüber Sowjetrußland. Stimmen im schwerindustriellen Lager, die eine abwartende Haltung in der Frage einer Kooperation mit dem Sowjetregime empfahlen 500 , blieben gegenüber jenen, die auf den Erfolg der wirtschaftlichen Einflußpolitik Deutschlands setzten, Einzelerscheinungen. Häufiger wurde aber gefordert, die ideologischen Hemmungen zu überwinden und den vermeintlich „evolutionären" Prozeß in Rußland zu unterstützen 5 1 0 .

500

Siehe S. v. Bubnoff, Serge v., Grundlagen der russischen Schwerindustrie, Berlin 1925 (= Osteuropa-Institut in Breslau, Das heutige Rußland, H. 1). 507 Lorenz, Sozialgeschichte, S. 128 f. BOS Magnus, Julius, Die deutsch-russischen Verträge vom 12. 10. 1925, Berlin 1926, S. 257. 500 Eckardt, Hans v., Was kann uns Rußland bieten?, in: Deutsche Bergwerkszeitung 26(1925), Nr. 237. 510 So etwa von dem Hauptgeschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Dr. Reichert, Wirtschaftsverbände (wie Anm. 504), S. 183. 157

Die Reichsregierung bemühte sich im Zeichen des Berliner Vertrages darum, das Interesse der Schwerindustrie am Rußland-Geschäft mit allen Mitteln zu stärken. Reichswirtschaftsminister Julius Curtius und Außenminister Stresemann befürworteten 1926 eine bevorzugte Vergabe von Kreditgarantien des Reiches an die eisen- und metallerzeugenden sowie verarbeitenden Industriezweige, „welche wohl noch geraume Zeit hindurch infolge der weltwirtschaftlichen Verhältnisse einer besonderen Stützung bedürfen" 511 . Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit machte die Schwerindustrie nicht nur zur zuverlässigsten Stütze der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen bis in die dreißiger Jahre hinein, sondern war zugleich auch Teil einer neugeschaffenen innenpolitischen Machtkonstellation, „die — zusammen mit dem Offenhalten der deutschen Revisions- und Großmachtansprüche auf diplomatischer Ebene — der deutschen Außenpolitik die entscheidende Virulenz und, auf das europäische Staatensystem bezogen, eine eminete Gefährlichkeit gab" 512 . W a s den Agrarsektor betraf, so lagen hier die Verhältnisse völlig anders 513 . Die deutsche Landwirtschaft war in überwiegendem Maße auf den Binnenmarkt orientiert, den sie gegen ausländische Einfuhren zu verteidigen suchte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg waren aus diesen protektionistischen Neigungen heftige Widersprüche gegen den deutsch-russischen Handel entstanden. Als nach dem Kriege die Agrarproduktion in Deutschland einen absoluten Tiefstand erreichte, die Getreideerzeugung etwa war nur noch halb so groß wie in der Vorkriegszeit, ließ der Druck der Agrarier zunächst nach. Nach der weltwirtschaftlichen Öffnung Mitte der zwanziger Jahre jedoch mußte die deutsche Landwirtschaft mit den westlichen Agrarproduzenten konkurrieren, die den deutschen Markt mit ihren billigen Erzeugnissen überschwemmten. Unter diesen Umständen steigerte sich der Kampf der landwirtschaftlichen Interessenverbände gegen das liberalistische Freihandelssystem 514 .

Denkschrift vom 26. 1. 1926, ADAP, B, II/l, Nr. 50. Zum Anlaß siehe auch Pohl, Finanzkrise. Die von Knitter/Müller, Russengeschäft, editierte Liste von Firmen, die auf Grund des Kreditabkommens von 1925 Aufträge Moskaus erhalten haben (Stand November 1926), enthält 141 Positionen. 512 Pohl, Weimars Wirtschaft, S. 266 f. In der kommunistischen Geschichtsschreibung wird dieser Zusammenhang völlig verkannt, wenn es z. B. bei Knitter/ Müller, Zum „Russengeschäft", S. 150, heißt: „Die ,Russengeschäfte' waren ein mustergültiges Beispiel friedlicher Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, sie waren ein Friedensprogramm der internationalen Arbeiterklasse." 5is Zum folgenden siehe Boelcke, Wandlungen; Bertold, Entwicklung, und zeitgenössisch Roediger, Werner, Die deutsche Agrarkrise der Nachkriegsjahre, Diss., Greifswald 1927. 514 Siehe weiter bei Gessner, Agrardepression. 158

Ein Schwerpunkt der agrarwissenschaftlichen Forschung in Deutschland richtete sich damals auf die Frage, in welchem Umfange und unter welchen Bedingungen Rußland wieder wie vor dem Ersten Weltkrieg als ein den deutschen Wünschen und Bedürfnissen sich anpassender Partner in Erscheinung treten könne 515 . Der europäische Einfuhrbedarf an Brotgetreide z. B. war vor dem Krieg zu 40 Prozent aus Rußland und Südosteuropa gedeckt worden. Rußlands zeitweiliger Ausfall nach Kriegsende wurde zwar rasch durch die USA ausgefüllt, unterwarf aber die europäische Versorgung sehr viel stärker den künstlichen und natürlichen Schwankungen des Weltagrarmarktes 5 1 6 . Auf diese Zusammenhänge wies auch der Präsident des Reichslandbundes hin und forderte deshalb dringend, Deutschland vom Weltmarkt abzuschließen und „Entwicklungsmöglichkeiten [...] nach dem bisher wenig erschlossenen Osten" 517 zu öffnen. Die Zufuhr sowjetrussischer Agrarprodukte hatte sich in der Nachkriegszeit keineswegs in dem erwarteten Ausmaß entwickelt. Der Getreideimport w a r von 9 Millionen t (1913) auf 2 Millionen t (1926) gesunken und erreichte schließlich 1928/29 einen absoluten Tiefstand von 139 t.

515

Siehe z. B. Lurch, Hans, Deutschland als Getreidezuschußgebiet. Die Bedeutung des ausländischen Getreides für Deutschland, Diss., Heidelberg 1977; Metzner, Helmut, Die landwirtschaftliche Selbstversorgung Deutschlands, Diss., Berlin 1926 (= Arbeiten aus dem Institut für Wirtschaftslehre des Landbaues der Universität Breslau); Stieda, Wilhelm, kann die russische Konkurrenz der deutschen Landwirtschaft gefährlich werden?, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 48(1924), S. 135-138; Steciuk, Gregor, Die Entwicklung der Getreideausfuhr der Ukraine (mit Berücksichtigung der Agrarfrage), Diss., Frankfurt/M. 1926; Veit, Friedrich, Landwirtschaft und Agrarverfassung der Süd-Ukraine (Neu-Rußland) unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung, Diss., Berlin 1927 (= Sozialwissenschaftliche Forschungen, Abt. 2, H. 3); Kaysenbrecht, Richard, Rußlands Landwirtschaft im XX. Jahrhundert, Diss., Königsberg 1926; Rosenberg, Wladimir, Der Getreideexport aus Sovetrußland, Berlin 1925; ders., Die Veränderungen des Getreideausbaues in Sovetrußland, Berlin 1926 (= beides: Osteuropa-Institut in Breslau, Das heutige Rußland, H. 5 und H. 6). Eine Dissertation, die 1926 von der Göttinger Universität abgelehnt wurde, erschien erst 1941 in Berlin; Backe, Herbert, Die russische Getreidewirtschaft als Grundlage der Land- und Volkswirtschaft Rußlands. Ihr Verfasser war unterdessen zum Staatssekretär im Ernährungsministerium avanciert und bestimmte maßgeblich die Vorbereitung und Durchführung der deutschen Agrarpolitik in den besetzten Ostgebieten. 510 Pieper, Werner, Die Versorgung Deutschlands mit Brotgetreide während des Weltkrieges 1914/1918 und der Übergang zur freien Wirtschaft in den folgenden Jahren, Diss., Berlin 1927. 517 Kalckreuth, Eberhard, Graf, Westeuropäische Zollunion - osteuropäische Zollunion?, in: Europäische Zollunion. Beiträge zu Problem und Lösung, hrsg. von Hanns Heimann, Berlin 1926, S. 83-95, hier S. 94 f. 159

Deutsche Getreideeinfuhr

(Anteil der UdSSR in %) 1924/25

Weizen u n d Spelz Roggen Gerste Hafer

0,1 4,4 5,2 1,1

1925/26 5,5 13,3 32,7 0,5

1926/27 7,6 20,8 20,9 4,2

1927/28 1,5 5,3 0,9 8,9

1929

-

1930 4,1 29,8 26,9 15,0

Quelle: Germer, Entwicklung (wie Anm. 740), S. 80. Andererseits bestanden die sowjetischen Staatshändler immer nachdrücklicher darauf, zur Bezahlung deutscher Industrieexporte in die UdSSR auch höherwertige Agrarerzeugnisse nach Deutschland einführen zu dürfen, was eine ernstzunehmende Konkurrenz für die deutsche Landwirtschaft bedeuten konnte. Hier entwickelte sich allmählich ein Gegensatz zwischen der deutschen Exportindustrie, die an der Zahlungsfähigkeit Moskaus interessiert sein mußte, u n d den protektionistischen Neigungen vor allem der ostelbischen Großgrundbesitzer — ein Gegensatz, der sich nach 1926 als Folge einer tiefgreifenden Agrarkrise, die in Deutschland bis in die dreißiger Jahre hinein andauerte, ständig verschärfte. Die landwirtschaftlichen Verbände gehörten bald zu den entschiedendsten Gegnern einer Intensivierung des deutsch-sowjetischen Handelsverkehrs 5 1 8 . Die politische Führung sah sich wiederholt vor die Aufgabe gestellt, Industrie und Handel in ihrem Bestreben zu unterstützen, dämpfend auf die Schutzzollforderungen der Agrarier einzuwirken 519 . Dieser Konflikt berührte aber nicht, das muß festgehalten werden, das grundsätzliche Interesse der deutschen Landwirtschaft an einer arbeitsteiligen Kooperation mit Rußland. Man ging dabei von dem Vorbild früherer Jahre aus, das heißt, die Rohstoffquellen nach Rußland, Rumänien und Ostdeutschland zu legen, die Veredelungswirtschaft hingegen als Enklave der Industriebezirke in Mitteleuropa zu konzentrieren. Das Arbeitskräfteproblem der ostdeutschen Gutswirtschaften sollte wie vor dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe von Millionen „slawischer Wanderarbeiter" gelöst werden 520 . 518 Ihre F o r d e r u n g e n zielten vor allem auf die Einstellung sowjetrussischer Viehexporte auf den bereits gesättigten deutschen M a r k t ; siehe hierzu Anderle, Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, S. 394 f.

519 Die „Ruhrlade", ein 1928 gegründetes Absprachegremium der Ruhrindustrie, bemühte sich lange Zeit erfolgreich darum, den Reichslandbund zur Mäßigung im Interesse des Rußland-Geschäfts zu bewegen. Verhandlungsführer war dabei Krupp-Schwager v. Wilmowsky, der als Großgrundbesitzer auch über einen entsprechenden Einfluß bei den Agrariern verfügte; siehe hierzu weiter bei Turner, Ruhrlade, und Geßner, Industrie. 520 Siehe die Ausführung des Bonner A g r a r e x p e r t e n Fritz Beckmann: Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion, in: Europas Volkswirtschaft in

160

Mitte der zwanziger Jahre war bereits deutlich erkennbar, daß die Rückkehr zu einer solchen Arbeitsteilung, die insbesondere die ostelbischen Großagrarier begünstigte, am Autarkiestreben der Sowjetführung scheiterte. Von daher erklären sich auch die vielfachen Hoffnungen deutscher Agrarexperten auf die „politische Macht des russischen Bauern", der man zutraute, „die Fesseln der kommunistischen Wirtschaftspolitik abzustreifen" 521 . Rußland als „natürlicher" Komplementär Deutschlands, der seine Leistungsfähigkeit durch eine „Entfesselung der Privatinitiative" und die Übernahme europäisch-amerikanischer Produktionsmethoden noch gewaltig steigern konnte 5 2 2 — dieses Leitbild blieb unbeeinflußt von allen Rückschlägen und Wandlungen in der Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen. Das Interesse der deutschen Wirtschaft am Rußland-Geschäft, so läßt sich resümieren, hielt auch unter den veränderten politischen und ökonomischen Bedingungen der Locarno-Ära an — ungeachtet aller Differenzen und Widersprüche, die sich bei der Frage nach seinem jeweiligen aktuellen Wert ergaben. Diese auch im politischen Sinne bedeutsame Kontinuität lag hauptsächlich in einem globalen wirtschaftspolitischen Kalkül begründet. In ihm hatte das Ziel einer Intensivierung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen ein besonderes Gewicht, denn es mußten „die Handelswege über Rußland und den Balkan bis nach der Türkei, Persien, Afghanistan und dem fernen Osten hin für Deutschland offen bleiben, wenn es hoffen will, seiner Bevölkerung wieder einmal eine gesicherte wirtschaftliche Existenz zu schaffen" 523 . Es gab deshalb auch in Kreisen, die der Exportindustrie nahestanden, Stimmen, die bei allen Vorbehalten die Erfolgsaussichten einer ökonomischen Expansionspolitik gegenüber Rußland langfristig höher ansetzten als ein weltwirtschaftliches Engagement. Sie sahen unverändert die wirtschaftspolitische Hauptaufgabe Deutschlands darin, „den großen Vermittler zwischen West und Ost abzugeben, darüber hinaus aber auch den großen Wirtschaftsblock vorzubereiten, der bei Aufteilung der Weltwirtschaft in einige große Zonen, zu unserem unmittelbaren Handelsgebiet gehören wird" 524 . So wie sich die USA primär auf Kanada und Südamerika einzuWort und Bild, Beiträge zur Wirtschaftserkenntnis, hrsg. von der Frankfurter Zeitung 1925/26, S. XXXIX-XLI. 521 Lurch, Deutschland (wie Anm. 515), S. 50 f. 522

Procopowitsch, S., Rußland, in: Europas Volkswirtschaft in Wort und Bild, S. XII-VIII. 523 Die Handelspolitik der weltwirtschaftlichen Großmächte und der europäische Zollverein, in: Sächsische Industrie 22(1926], Nr. 1, S. 7. Der Artikel wurde anonym von „hervorragender industrieller Seite" geschrieben, wie es in einem Zusatz heißt. «24 Der Wirtschaftliche Wiederaufbau Rußlands und die Weltwirtschaft, in: Hansa 61(1924), S. 583-584. 161

stellen begannen, England die Wirtschaftseinheit mit seinen Dominions anstrebte und Italien sich im Mittelmeerraum entwickelte, werde auch Deutschland seine „Domäne regster Handelstätigkeit gleichfalls spezialisieren, also nach Osten hin, in Osteuropa, Rußland, Mittelasien, Sibirien, im Amurgebiet ausbauen müssen, will es seine Kräfte nicht zersplittern und vergeuden". Es handele sich hierbei um entscheidende Zukunftsfragen. Die „Außenpolitik, wie die Weiterführung der Industrialisierung, das Auswanderungsproblem wie der Ausbau der Verkehrssysteme, Schutz der Landwirtschaft, wie Fortführung der Sozialpolitik — all dieses gewinnt ein anderes Aussehen, je nach der Entscheidung: Weltwirtschaftliche Zersplitterung oder Konzentration auf den osteuropäisch-asiatischen Wirtschaftsblock 525 ." Solche weitschweifenden wirtschaftspolitischen Erwägungen müssen zwar deutlich von den konkreten Maßnahmen von Wirtschaftlern und Diplomaten abgehoben werden, aber sie waren dennoch keine Randerscheinungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Weimarer Republik. Die Interdependenz von Wirtschaft und Politik sowie ihre Einwirkung auf die praktische Ostpolitik werden gerade aus einer derartigen Perspektive in ihren Dimensionen erkennbar. So wies z. B. der Sachverständige des Auswärtigen Amtes für russische Wirtschaftsfragen kurz vor dem Abschluß des Berliner Vertrages auf die Bedeutung des Warentransits durch die UdSSR hin 526 . Nach seinen Vorstellungen sollte man in diesem Zusammenhang stärker auf Moskau einwirken, um der deutschen Wirtschaft einen Landweg zu den asiatischen Märkten zu öffnen und diesen von jeglicher Kontrolle freizuhalten. Die Sowjetregierung wollte er mit der Drohung gefügig machen, daß Deutschland anderenfalls auf die Seeverbindungen angewiesen sei, was zwangsläufig die politische Anlehnung an die Westmächte festigen würde. Zur gleichen Zeit forderte das Auswärtige Amt wiederholt zu einer verstärkten deutschen Wirtschaftsexpansion nach Rußland auf, um über die Einflußnahme auf die sowjetrussische Wirtschaftsentwicklung die politischen Einwirkungsmöglichkeiten Deutschlands zu festigen und auszubauen 527 . Die enge Verbindung aktueller Geschäftsinteressen und längerfristiger Marktstrategien mit den außenpolitischen Zielsetzungen zeigte sich besonders am Beispiel der Kreditfrage. Vordergründig gesehen ging es da«25 Ebd., S. 584. Siehe auch die Analyse von Schroeder, Herbert, Die wirtschaftsund verkehrspolitische Stellung Rußlands an der Ostsee mit besonderer Berücksichtigung des Randstaatenproblems, Diss., Freiburg 1925, in der ein deutscher Führungsanspruch für den mittelosteuropäischen Raum formuliert und der Bolschewismus in Richtung Asien verwiesen wurde. 62« Aufzeichnung des Generalkonsuls Schlesinger vom 10. 4. 1926, ADAP, B II/l, Nr. 122. 52" Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts v. Schubert an die Botschaft in London vom 7. 8. 1926, ADAP, B, II/2, Nr. 77. 162

bei um das Interesse der Exportindustrie an gewissen Finanzierungs- und Versicherungsusancen, wie sie bei der Ausfuhr von Investitionsgütern weltweit entwickelt worden waren; doch gerade beim Geschäft mit der UdSSR standen die in Deutschland gehegten Erwartungen über einen baldigen Zusammenbruch des Sowjetregimes hierzu in einem offenkundigen Gegensatz. Ihn vermochte die deutsche Wirtschaft nicht allein zu lösen 528 . In den ersten Nachkriegs jähren war Moskau zeitweilig bereit gewesen, Geschäfte auf der Basis einer Barzahlung oder kurzfristigen Finanzierung abzuschließen. Je mehr die UdSSR auf die Gewährung der international üblichen Kreditierung bei Investitionsgütern drang, die Banken jedoch das weniger risikoreich eingeschätzte Geschäft auf den westlichen Märkten bevorzugten, desto dringlicher sah sich die Reichsregierung aufgefordert, durch eine Kreditgarantie ihr Interesse am Ausbau der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen zu dokumentieren. Ein privater Kreditvorschlag, mit dem der Industrielle Hugo Stinnes, die AEG und die Deutsche Bank im Herbst 1923 sowjetrussische Bestellungen in Deutschland finanzieren wollten, war damals an der Zurückhaltung der Banken gescheitert. Wegen fehlender Kreditmöglichkeiten gerieten in der Folgezeit hauptsächlich kleinere Firmen im Rußland-Geschäft in Schwierigkeiten. Außerdem weigerten sich die Versicherungsunternehmen, gegen die Zahlungsunfähigkeit des bolschewistischen Regimes Schutz zu gewähren. Nachdem dann die UdSSR 1925 einen kurzfristigen Kredit über 100 Millionen RM zur Finanzierung sowjetischer Aufträge erhalten hatte, drängte Moskau in langwierigen Verhandlungen mit der deutschen Industrie darauf, das Kreditvolumen und die Anlagedauer des deutschen Kapitals erheblich auszuweiten. Obwohl sich die Regierung anfangs sträubte, das Risiko der Banken auszugleichen, übernahm sie schließlich aus gesamtpolitischen Erwägungen erstmalig eine Ausfallbürgschaft, die sich auf einen Gesamtlieferungsbetrag von 300 Millionen RM erstreckte. Die Reichsbürgschaft wurde durch eine weitere Bürgschaft der Länder ergänzt, so daß deutsche Exportfirmen eine 60-prozentige Garantieleistung im Rußland-Geschäft in Anspruch nehmen konnten. Damit hatte Deutschland dem Sowjetregime, dessen Umsturz eigentlich durch die deutsche Wirtschaftstätigkeit in Rußland gefördert werden sollte, eine Kreditwürdigkeit bescheinigt, die das im internationalen Rahmen bis dahin übliche Maß bei weitem überschritt. Darüber hinaus bemühte sich die Reichsregierung intensiv darum, britisches und amerikanisches Kapital für das deutsche Rußland-Geschäft zu interessieren, obwohl man im Auswärtigen Amt die Sorge hegte, daß dadurch der deutsche Vorsprung auf dem russischen Markt gefährdet werden könne 529 . 528

529

Siehe hierzu auch den Überblick bei Beitel/Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 60 ff. und umfassend Pohl, Finanzierung. Siehe Anmerkung des Staatssekretärs im A. A. zu einem Schreiben Generalkonsul Schlesingers vom 2. 7. 1926, ADAP, B II/2, Nr. 32, und zu den Verhand163

Die eigennützigen politischen Motive dieses Vorgehens wurden u. a. in der Aufforderung nach einer raschen Ausnutzung des Kreditprogramms sichtbar, da Deutschland sonst Mühe gehabt hätte, den damaligen Platz in der sowjetrussischen Einfuhr zu halten 530 . Sie zeigten sich aber auch in der Maxime, daß der mögliche Zustrom ausländischen Kapitals in die UdSSR unbedingt von deutscher Seite vermittelt und kontrolliert werden müsse, „damit die wirtschaftliche Erstarkung Sowjetrußlands nicht zu einer von uns unabhängigen politischen Entwicklung führt" 531 . Dagegen spielte das Versprechen des Kabinetts Marx, eine Wiederbelebung der deutschen Konjunktur durch eine Ausfuhrsteigerung nach Rußland zu fördern, offensichtlich nur eine zweitrangige Rolle 532 . Im Vordergrund standen eindeutig die längerfristigen wirtschaftspolitischen Interessen der Weimarer Republik gegenüber der UdSSR, weshalb die Kreditbürgschaften z. B. vorrangig für komplette Industrieanlagen oder Teileinrichtungen im Bereich der Rohstofferzeugung und -verarbeitung einzusetzen waren. Der Reichstag legte außerdem fest, daß ein Teilbetrag für die Unterstützung des Transitverkehrs durch die Sowjetunion nach dem Orient und zur Förderung deutscher Konzessionen verwendet werden sollte 533 . Der Berliner Ressortegoismus erwies sich indes bald als ernsthaftes Hindernis, um die außenwirtschaftspolitischen Zielsetzungen gegenüber der UdSSR durchzusetzen. Er machte es im Gegenteil den sowjetrussischen Unterhändlern vielfach möglich, Differenzen im deutschen Regierungsapparat für sich auszunutzen und ohne Einschaltung des Auswärtigen Amts einzeln und direkt mit den Wirtschaftsressorts zu verhandeln. Die Diplomaten beklagten sich deshalb, daß man wegen einer fehlenden zentralen Kompetenz zum Schaden des Reimes auf die „politische Ausnutzung" der außenwirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion verzichten müsse 534 . Der Nutzen der Kreditaktion für die Absatzinteressen der Exportwirtschaft war trotzdem beträchtlich. In einer Periode niedrigen Beschäftigungsgrades und krisenhafter Arbeitslosigkeit deckten die neuen Rußland-Aufträge etwa 8 bis 9 Prozent der jährlichen Gesamtproduktion des deutschen Maschinen-

lungen mit den Westmächten u. a. Abschrift III E 3908, Deutsche Botschaft in London, A. 2358, Aufzeichnung über die deutsch-britische Wirtschafts-Zusammenkunft in Broadlands vom 8. bis 11. 10. 1926, PA-AA, Geheimakten 19201936, Rußland-Handakten, Bd 38. «so Der Botschafter in Moskau an das A. A. vom 23. 7. 1926, ADAP, B, H/2, Nr. 16. «31 Schreiben Schuberts vom 7. 8. 1926, ebd., Nr. 77. 532 Schreiben Stresemanns an den Reichswirtschaftsminister im Juni 1926, ebd., Nr. 4. 533 Anders, Rudolf, Der Handelsverkehr der UdSSR mit Deutschland (statistische Materialien), Berlin 1928, S. 78 f. 534 IV Ru 5122, Aufzeichnung Schlesingers v o m 17. 8. 1926, P A - A A , G e h e i m a k t e n 1920-1936, R u ß l a n d - H a n d a k t e n , Bd 28. 164

baus und der Elektroindustrie, was nicht weniger als 25 Prozent des Exportwertes dieser Bereiche im Jahre 1925 ausmachte. Der volkswirtschaftliche Gewinn aus der Intensivierung des bilateralen Warenverkehrs drückte sich aber nicht nur in diesen Zahlen aus. Es muß außerdem zum einen an den indirekten rüstungswirtschaftlichen Effekt gedacht werden, der sich aus der Auslastung der Investitionsgüterindustrie ergab, so daß ihr personeller und substantieller Erhalt und der Ausbau ihrer Kapazitäten möglich wurde. Und zum anderen ist daran zu erinnern, daß für Moskau, unabhängig von der aktiven Gestaltung der Handelsbilanz, Zahlungsverpflichtungen an das Reich entstanden, die zum damaligen Zeitpunkt wertmäßig etwa 20 bis 25 Prozent des deutschen Rußland-Exports ausmachten. Z a h l u n g s v e r k e h r zwischen der UdSSR UdSSR und Deutschland Zahlungsverkehr andelsvertretung (1926/27, soweit soweit nicht nicht in der d e r Betriebsstatistik der sorojetischen sorojetischen H (1926/27, Handelsvertretung erfaßt] UdSSR Einkünfte der UdSSR

in T a u s e n d RM Tausend

1. Zinsen für G Guthaben u t h a b e n der UdSSR in Deutschland uund n d für für an deutsche Firmen gewährte g e w ä h r t e Kredite 2. Privatüberweisungen P r i v a t ü b e r w e i s u n g e n aus Deutschland Deutschland A u s g a b e n deutscher Staatsangehöriger in der UdSSR UdSSR 3. Ausgaben

2 200 3 200* 200* 2 100* 7 500 500

Einkünfte Deutschlands Deutschlands 1. Einkünfte aus Transportleistungen -. a] a) Frachteinnahmen deutscher Eisenbahnen Eisenbahnen 9 443 b) Frachteinnahmen deutscher Reedereien 13 253 c) Einnahmen E i n n a h m e n deutscher Speditions- und und c] l f Lagerfirmen 11 941 11941 d) Lagerfirmen E i n n a h m e n deutscher Häfen aus der d) Einnahmen deutscher Schiffahrt der UdSSR Häfen aus der 5 987 der UdSSR 5 987 2. E i n Schiffahrt n a h m e n deutscher Versicherer 2. Versicherer 3. Einnahmen Z i n s e i n n a h mdeutscher e n deutscher Banken und Firmen 3. Zinseinnahmen Banken Reichs und Firmen 4. S t e u e r e i n n a h m e ndeutscher des Deutschen 4. Steuereinnahmen 5. U n t e r h a l t u n g der des H a n dDeutschen e l s v e r t r e t uReichs ng und anderer kommer 5. Unterhaltung der Handelsvertretung und anderer kommerzieller Institutionen der UdSSR in Deutschland zieller UdSSR in Deutschland 6. P r i v a t ü bInstitutionen e r w e i s u n g e n der nach Deutschland u n d A u s g a b e n von 6. Privatüberweisungen nach in Deutschland und Ausgaben von Reisenden aus der UdSSR Deutschland UdSSR üinb e Deutschland 7. Reisenden E i n n a h m e n aus aus der Verträgen r technische Hilfeleistungen

in T a u s e n d RM Tausend

„„„„„

40 624 40 624

2 688 2 688 9150 29150 160

2 160 15 140

15 140 6 500* 500* 26 160

7. Einnahmen aus Verträgen über technische Hilfeleistungen 2 160 78 422 Summe: Summe: 78 422 Saldo zugunsten Deutschlands 70 922 Saldo zugunsten Deutschlands 70 922 Quelle: Anders, Handelsverkehr (wie Anm. 533), S. 97, Tabelle Nr. 29. (Anmerkung: Die mit einem * bezeichneten Ziffern sind Schätzungen, alle übrigen Ziffern sind Berechnungen). 165

Ob darüberhinaus auch für die längerfristigen außenwirtschaftspolitischen Zielsetzungen gegenüber der UdSSR eine tragfähige Basis gewonnen werden konnte, mußte sich in der Konzessionsfrage erweisen. c) Die Konzessionsfrage In einer ersten wissenschaftlichen Bilanz hatte man zu Beginn der LocarnoÄra beunruhigende Rückschläge in der deutschen Anlagepolitik gegenüber Sowjetrußland verzeichnet. Insgesamt gesehen wurden die Zukunftsaussichten dennoch optimistisch beurteilt 535 . Es war ein Wandel der deutschen Interessen erkennbar, die sich von den Erzeugerkonzessionen als langfristiger und risikoreicher Kapitalanlage immer mehr nach der Seite der Handelskonzessionen verlagerten. So bezogen sich am 1. Januar 1924 auf536 Handelskonzessionen 14 Verträge Montan und Industrie 12 Verträge Transport und Verkehr 10 Verträge Landwirtschaft 7 Verträge Wald 5 Verträge Jagd 3 Verträge. Nach der Nationalität entfielen dabei auf Deutschland 16 Verträge USA 9 Verträge Norwegen 4 Verträge Schweden 2 Verträge Polen 2 Verträge andere: je ein Vertrag.

5

35 Siehe Pander, Oskar, Die deutschen Konzessionen in Rußland, Diss., Frankfurt/M. 1925, und Gerschuni, Gerson, Die Konzessionspolitik Sowjetrußlands, Berlin 1927. Im A. A. schätzte m a n in einer Bilanz vom Juli 1926 den W e r t der gescheiterten Investitionen auf m i n d e s t e n s 50 Mill. Goldrubel; siehe undat. Aufzeichnung, ADAP, B, II/2, Nr. 73. 536 Folgende A n g a b e n nach Pander, Konzessionen (wie Anm. 535), S. 130. Eine

Aufstellung der bis Juli 1928 erteilten Konzessionen und Verträge über technische Hilfe gibt Lorenz, in: Handbuch des Außenhandels und Verkehrs mit der UdSSR und der Staats- und wirtschaftspolitischen Verhältnisse der Sowjetunion, hrsg. auf Grund amtlicher Unterlagen von Herbert Lorenz, Berlin 1930, S. 242. Zur Bewertung siehe auch Beitel/Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen, S. 110 f. und aus sowjetischer Sicht Stepanov, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen, S. 258 f. 166

Von den zum gleichen Zeitpunkt noch in Bearbeitung befindlichen Anträgen für Konzessionen bezogen sich auf Handel 2233 °/o % Industrie 21% 21 % Bergbau % 11 66% % Landwirtschaft 1166 % 9 % Transport 9% % Wald 6% und andere g %. andere 9%. Der Herkunft nach entfielen auf Deutschland England Frankreich USA Österreich, Italien, Holland je Schweden, Norwegen, Polen je

35% 13 % 10 % 9% 3% 2%.

Aus derartigen Zahlen wird der führende Anteil Deutschlands am sowjetrussischen Konzessionswesen erkennbar. Er läßt sich nicht nur aus spezifisch ökonomischen Interessen, sondern nicht zuletzt auch als Ergebnis der außenwirtschaftspolitischen Zielsetzungen deutscher Revisions- und Ostpolitik erklären. Dies zeigte sich auch im Zusammenhang mit dem Konzessionsvertrag der deutschen Mologa-Holzindustrie A. G., einem der wichtigsten deutschen Unternehmen in Rußland. Die Gesellschaft hatte im September 1923 den Bau einer 230 km langen Bahnlinie von Leningrad nach Rybinsk übernommen. Sie sollte außerdem entlang der Linie Sägewerke zur Ausnutzung von einer Million Hektar Waldgebiet erstellen. Als die Firma 1926 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, beantragte sie einen Unterstützungskredit aus der Reichskasse, den das Auswärtige Amt auf Grund seines strategischen Kalküls unterstützte. In seiner Denkschrift für den Reichskanzler wurden Ansatzpunkt und Zielsetzung deutscher Außenwirtschaftspolitik gegenüber der Sowjetunion erhellt 537 . Die deutschen Konzessionen seien „unendlich viel mehr als Rohstoffbezugsquellen", nämlich die „unerläßlichen und notwendigen Vor- und Beobachtungsposten Deutschlands in Rußland". Wenn man diese Funktion nicht gefährden wolle, dann seien die Konzessionen notfalls durch das Reich zu subventionieren, um

5

3? Denkschrift des A. A. über die Kreditgewährung an die Mologa vom 25. 2. 1927, BA, R 43 I/136. In diesem Bestand findet sich auch der Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand AG, der im Regierungsauftrag über die Rentabilität des Unternehmens angefertigt wurde. 167

die Risiken und Verluste auszugleichen, die sich aus den schlechter gewordenen Arbeitsbedingungen in Rußland ergeben hätten. In dem Augenblick, so hieß es weiter, da „durch innere Anwandlungen des russischen Wirtschaftssystems" die Möglichkeiten „für eine deutsche Arbeit in Rußland" stiegen — was wegen des raschen Tempos der innerrussischen Entwicklung bald eintreten könne —, seien die Konzessionen „die wichtigsten Stützpunkte", von denen aus sich Deutschland rascher als andere in den Besitz des russischen Marktes setzen könne. Die Strukturbedingungen für eine solche Politik des ökonomischen Einflusses wurden von den Experten wiederholt analysiert, wobei m a n ständig die entscheidende Bedeutung des Transportwesens hervorhob, von dessen Entwicklung und Durchführung jede Ausweitung des deutsch-russischen Warenaustausches abhängig war 5 3 8 . Daneben boten sich auch andere konkrete Ansatzpunkte an, so z. B. bei dem geplanten Wiederaufbau des russischen Kreditwesens 5 8 9 . Hier schienen sich die Bolschewisten bereits von „unvernünftigen" radikal-sozialistischen Ideen zu entfernen. In diesem Zusammenhang wurde es für möglich gehalten, daß der Versuch des Wiederaufbaus eines russischen Kreditwesens am Ende dazu führe, „alle Hindernisse für die Rückkehr des privatwirtschaftlichen Systems in Rußland zu beseitigen und die wirtschaftlichen Beziehungen Rußlands zum europäischen Westen wiederherzustellen" 5 4 0 . Eine Gesundung der russischen Finanzen, davon waren die Experten in Deutschland überzeugt, setze nun einmal die Freigabe der privatwirtschaftlichen Kräfte und eine rigorose Einschränkung des staatswirtschaftlichen Bereichs voraus. Unter dem Druck derartiger Sachzwänge, die man damals in Deutschland zu erkennen glaubte, werde Moskau zu immer größeren Zugeständnissen an das Privatkapital gezwungen — eine Entwicklung, an deren Ende die lange erhoffte „Gesundung des wirtschaftlich-politischen Systems" in Rußland stehen werde 5 4 1 . Solche Erwartungen hinsichtlich der künftigen innerrussischen Entwicklung, die das wirtschaftspolitische Kalkül in Deutschland immer wieder belebten, bezogen sich zum Teil auf Gegebenheiten, deren tatsächliche Bedeutung allerdings von fast allen sogenannten „Ostexperten" falsch eingeschätzt

538 Siehe etwa die vom Osteuropa-Institut in Breslau herausgegebene Studie von Seraphim, Peter H„ Das Eisenbahnwesen Sovětrußlands, Berlin 1925. 530 Seraphim, Hans-Jürgen, Die russische Währungsreform des Jahres 1924, Leipzig 1925 (= Osteuropa-Institut in Breslau, Vorträge und Aufsätze, Abt. 1, H. 6). 540 Markoff, Alex, Das K r e d i t w e s e n in Sovětrußland, Berlin 1926, S. 3. Siehe v o m

selben Autor, der Dozent am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin war, auch die Studie: Die finanziellen Probleme der sovetrussischen Kommunalwirtschaft, Berlin 1926 ( = beides: Osteuropa-Institut in Breslau, Quellen und Studien, Abt. Wirtschaft N. F., H. 4 und H. 5). 541 Markoff, Kreditwesen, S. 139 (wie A n m . 540).

168

wurde. So lagen zwar im Jahre 1927 immerhin noch 14 Prozent der sowjetrussischen Industrieproduktion, 35 Prozent des Einzel- und 5 Prozent des Großhandels in privaten Händen 5 4 2 ; aber in der festen Überzeugung, daß das kapitalistische System dem staatswirtschaftlichen überlegen sei, wurden daraus in Deutschland sogleich weitreichende Schlüsse gezogen. Die „unsichtbaren und unbesiegbaren privatwirtschaftlichen Kräfte" griffen den Staatskapitalismus immer von neuem an, schwächten ihn und zögen „ihn immer mehr in den privatwirtschaftlichen Verkehr hinein". Das Tempo dieser Entwicklung könne durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik des Staates verlangsamt werden. Insgesamt aber entspreche die Evolution des bolschewistischen Regimes einer „Lebensnotwendigkeit" 5 4 3 . Auch wenn sich im einzelnen nicht übersehen ließ, wie auf diese Weise die dringlich gewünschte „Bindung des russischen Marktes an Deutschland" 544 erreicht werden konnte, fehlte es nicht an wiederholten Initiativen von Politikern und Unternehmern, um insbesondere im Zusammenhang mit der Konzessionsfrage entsprechende Möglichkeiten auszuloten. Reichskanzler a. D. Wirth, der zusammen mit Seeckt 1921 die wirtschaftsund militärpolitische Einflußnahme in Sowjetrußland forciert hatte, teilte z. B. Anfang 1926 der Reichsregierung optimistisch mit, daß er aus den praktischen Erfahrungen der Mologa, „die immer wieder aus der russischen Wirtschaft Geld bekommen habe, die Überzeugung gewonnen habe, daß die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands im kapitalistischen Sinne hinreichend fortgeschritten sei, um die Gründung einer deutschen Bank in Rußland zu ermöglichen" 545 . Wirth rechnete hauptsächlich mit größeren Einlagen aus bäuerlichen Kreisen, die dazu dienen könnten, die deutsche Einflußnahme auf die sowjetrussische Wirtschaftsentwicklung weiter voranzutreiben. Seinen Vorstoß hatte er bereits mit dem Reichswehrminister abgesprochen, der großes Verständnis für die Bedeutung eines solchen Unternehmens zeigte. Das Projekt scheiterte letztlich daran, daß sich für die Zeichnung des vorgesehenen Startkapitals von 100 Millionen RM in deutschen Bank- und Wirtschaftskreisen — angesichts unzweifelhaft vorhandener Risiken — nicht genügend Interessenten fanden und die Reichsregierung, nach den negativen Erfahrungen mit den finanziellen Abenteuern der Gefu, vor einem derartig weitgehenden direkten Engagement zurückschreckte.

542

Angaben nach: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, S. 464. Siehe zum Komplex weiter bei Lorenz, Sozialgeschichte, S. 121 f. 5« Palitser, Wirtschaftspolitik, S. 217 (wie Anm. 175). s« Aufzeichnung des Staatssekretärs im A. A. vom 27. 8. 1926, PA-AA, Handakten, Ha.Pol., Ritter, Rußland, Bd 6. 545 Rk 1037, Aktennotiz vom 10. 2. 1926 über ein Gespräch mit Reichskanzler a. D. Wirth, BA, R 43 1/135. 169

d] Die militärpolitischen und rüstungswirtschaftlichen Interessen So wie die Locarno-Politik im politischen und wirtschaftlichen Bereich zwar zu einer Modifizierung der Haltung gegenüber Sowjetrußland geführt hatte, ohne die langfristigen Erwartungen und Interessen zu tangieren, waren auch die geheimen Beziehungen der Reichswehr zum Sowjetregime lediglich einem graduellen Wandel unterworfen. Beharrlicher noch als Politiker und Industrielle hielten militärische Führungskreise an der Zusammenarbeit mit den Bolschewisten fest. Diese Grundlage wurde zu keiner Zeit ernsthaft in Frage gestellt, obwohl der Sicherheitspakt mit den Westmächten, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund und das verstärkte Engagement in der Weltwirtschaft, insbesondere die Intensivierung der deutsch-amerikanischen Beziehungen, eine Neuorientierung der Militär- und Rüstungspolitik möglich und notwendig machten. Die Aussicht auf eine längere Phase außenpolitischer Stabilität bei relativ gesicherten Reichsgrenzen und vielversprechenden ökonomischen Wachstumschancen sowie der bis 1927 vollzogene Rückzug der alliierten Kontrollkommissionen in Deutschland 546 ließen es für die Reichswehrführung als möglich erscheinen, planmäßige Schritte zu einer Verbesserung des deutschen „Potentiel de guerre" einzuleiten. Der Nachschubstab im Waffenamt bemühte sich nun um eine „große rüstungswirtschaftliche Inventuraufnahme Deutschlands". Das Reich w a r ohne Zweifel trotz der provisorischen Rüstungsbasis in Rußland „unter den herrschenden Verhältnissen nicht zur Durchführung eines länger dauernden Krieges befähigt" 547 . Um die innere Mobilmachung und einen eventuell erforderlichen Übergang zur industriellen Kriegsproduktion in Deutschland vorzubereiten, suchte man jetzt verstärkt die Mitarbeit der deutschen Industrie, die diese Vorarbeiten zunächst in eigene Hände nehmen sollte 548 . Die Reichswehr verfolgte damit zwei Zielrichtungen. Zum einen sollte Deutschland im Falle eines unprovozierten Angriffs einer anderen Macht, z. B. Polens, zu einem begrenzten Verteidigungskampf imstande sein, bis sich die Hilfe des Auslandes — sei es durch eine Intervention des Völkerbundes oder durch ein Eingreifen der UdSSR — auswirken konnte. Zum anderen schufen die geheimen Mobilmachungsvorbereitungen, die durch den Versailler Vertrag ausdrücklich untersagt worden waren, die Voraussetzung dafür, um bei einer außenpolitisch günstigen Situation, z. B. im Falle eines kriegerischen Konflikts zwischen anderen Mächten, das deutsche Militärpotential rasch auszubauen und zur Durchsetzung revisionspolitischer Ansprüche in die Waagschale werfen zu können. 546

Hierzu umfassend Salewski, Entwaffnung. Siehe Thomas, Geschichte, S. 59. Zum folgenden auch Carroll, Design, S. 5472; Hansen, Reichswehr, S. 64 ff., und zum sowjetmarxistischen Urteil Starck, Die technische, ökonomische und organisatorische Vorbereitung, S. 30 ff. 5*8 Siehe weiter bei Hansen, Reichswehr, S. 120 ff. 547

170

Mochten die produktionstechnischen Grundlagen für ein solches Kalkül immerhin einige Aussichten auf Erfolg bieten, auf dem Gebiet der Rohstoffversorgung war Deutschlands Lage im Ernstfall unverändert als katastrophal anzusehen. Die innerdeutsche Rohstoffproduktion genügte nach den Erkundungen des Heereswaffenamtes noch nicht einmal für den Bedarf eines 21-Divisionen-Heeres, dessen Aufstellung für den Notfall geplant war, geschweige denn für die Ausstattung des langfristig angestrebten Kriegsheeres von mehr als 63 Divisionen 549 . Kurz vor Abschluß des Berliner Vertrages hatte man daher eine Bilanz über „Deutschlands Nachbarn als Kriegslieferanten von Kohle, Eisen und Metallen" 550 gezogen, die den diesbezüglich hohen Wert der deutsch-russischen Handelsverbindung herausstellte. Während die überseeischen Versorgungsquellen als unsicher und blockadegefährdet angesehen werden mußten, w a r Rußland — zumindest theoretisch — in der Lage, im Kriegsfall lebensnotwendige Mengen an Mangan, Molybdän, Nickel, Chrom, Wolfram und Bauxit zu liefern. Schon die bisherigen Friedenslieferungen aus Rußland machten mehr als 10 Prozent dessen aus, was als militärisch gesicherte Zufuhr errechnet worden war. Als besonders wichtig galt der Zugriff auf russische Manganerze, ohne die Deutschlands Stahlerzeugung rasch zum Erliegen kommen mußte. Mit großer Aufmerksamkeit beobachtete der Nachschubstab daher die wirtschaftliche Entwicklung in Rußland und konnte in diesem Zusammenhang notieren, daß im Laufe des Jahres 1926 mehr als 300 000 t Nicopol-Erze ausfuhrbereit seien 551 . Die in dieser Studie errechneten Zahlen wurden als „lebenswichtige" Mindestmengen angesehen. Für eine wünschenswerte Steigerung setzte man auf die Eroberung und Ausbeutung Polens und eine stärkere Ausnutzung der Länder des deutschen Machtbereichs. Hierbei spielte Rußland wiederum eine bemerkenswerte Rolle, obwohl oder gerade weil seine „Zukunft" als offen eingeschätzt wurde. Die in solchen rüstungspolitischen Überlegungen erneut bestätigte Bedeutung des deutschen Engagements in Rußland wurde zu einem gewichtigen Faktor, als die geheimen militärischen Verbindungen mit der UdSSR Ende 1926 in eine Krise gerieten. Neue Rüstungsprojekte, die von der Sowjetregierung vorgeschlagen wurden, lehnte Außenminister Stresemann zwar ab, weil er ein Bekanntwerden und damit unabsehbare Folgen für seine Westpolitik befürchtete 552 , aber entgegen allen offiziellen Verlautbarungen waren die illegalen Rüstungskontakte mit der Sowjetunion keinesfalls abgebrochen

5« Ebd., S. 63. 550 Studie des Nachschubstabes vom 26. 1. 1926, BA-MA, Wi/I. 79. ssi Ebd., S. 79. 552 Siehe hierzu ADAP, B, II/I, Nr. 94, 102 und 175. 171

worden 5 5 3 . Sie verlagerten sich vielmehr in den Bereich geheimer Ausbildungs- und Erprobungsarbeiten, da nach mehreren Friedensjahren die Einsatz- und Herstellungserfahrungen mit den verbotenen Waffensystemen verloren zu gehen drohten 554 . Zahlreiche Reichswehrangehörige durchliefen die neuerrichtete deutsche Panzerschule in Kasan, die Fliegerschule in Lipeck und die Gaserprobungsstelle Tomka 555 . Sie bildeten später das personelle Rückgrat für die Aufrüstungspolitik Hitlers. Bedeutungsvoll w a r in dieser Hinsicht auch die Fortsetzung der wissenschaftlich-technischen Rüstungsarbeiten Deutschlands in der Sowjetunion. Deutsche Waffentechniker, die auf Grund der Versailler Restriktionen nicht mehr im Reichsgebiet beschäftigt werden konnten, wurden nach Rußland geschickt. So blieb der deutschen Rüstungsindustrie das für den Kriegsfall unentbehrliche Fachpersonal und -wissen erhalten. Neuartige Waffensysteme, deren Entwicklung und Bau in Deutschland verboten waren, konnten in der UdSSR bis zur Serienreife entwickelt und erprobt werden. Damit behielt die Reichswehr zum einen Anschluß an die allgemeine waffentechnische Entwicklung und sicherte sich zum anderen die Möglichkeit, bei Ausbruch eines Krieges sofort mit der Massenproduktion von Panzern, Flugzeugen, Kampfstoffen und schweren Geschützen beginnen zu können. Grundlage für den Erfolg dieser Rüstungspolitik bildete eine vertrauensvolle und intensive Absprache zwischen Militär und Reichsregierung, die durch den Rücktritt Seeckts als Chef der Heeresleitung im Herbst 1926 erleichtert worden war 550 . Die neue Reichswehrspitze unter General Wilhelm Heye bemühte sich von nun an um einen größeren Konsens mit der zivilen Reichsleitung, der auch dazu führte, daß sich die Regierung in steigendem

553

Einen Überblick über die bestehenden militärischen Einrichtungen der Reichswehr in Rußland fertigte Dirksen am 12. 7. 1926 an: ADAP, B, II/2, Nr. 53. Parallel dazu machte das A. A. eine Aufstellung der damit verbundenen Verstöße gegen die Versailler Bestimmungen; ebd., Nr. 52.

554 Siehe hierzu w e i t e r bei Carsten, Reichswehr, S. 253 ff., dort mit H i n w e i s e n auf die ältere Literatur. Für die marxistische Geschichtsschreibung sind diese Vorgänge noch immer ein Tabu. Basler gehört zu den wenigen, die in ihrer Arbeit zumindest kurze Hinweise liefern, doch b e m ü h t er sich, die Bedeutung der geheimen R ü s t u n g s k o o p e r a t i o n herunterzuspielen. Vor allem seien sie ohne „ n e n n e n s w e r t e n Einfluß auf die politischen Beziehungen" geblieben u n d h ä t t e n den „deutschen Imperialisten bis zum Ende dieser Aktion praktisch keinen Nutzen" erbracht; Basler, Imperialismus, S. 52. 555

Siehe auch die Angaben zur personellen Stärke der Reichswehr in Rußland, die in der Kabinettssitzung am 18. 10. 1928 vorgetragen wurden: Das Kabinett Müller II, Nr. 42. Zu Tomka siehe die Ausarbeitung des ehemaligen Stationsleiters L. v. Sicherer: Tomka, BA-MA, Manuskript-Sammlung, MSg 2/782, und zu Lipeck: Dokumente und Dokumentarphotos zur Geschichte der Deutschen Luftwaffe, S. 58 ff. 566 Zum Zusammenhang siehe Hansen, Reichswehr, S. 115 f.

172

Bild 1: Das deutsche Versuchskommando in Tomka (2. v. 1. vorn: Ludwig v. Sicherer, Leiter)

Bild 2: Albatros L 78 für Absprühversuche mit chemischen

Kampfstoffen

Bild 3 u. 4: Verschießen von Gasmunition mit leichter Feldhaubitze

(Bildquellen-Nachweis Bild 1-4: BA-MA, 6 c k 1]

Maße für die militärischen Belange einspannen ließ 557 . Anfängliche Widerstände im Reichswehrministerium gegen die Locarno-Politik wurden rasch überwunden 5 5 8 , als die Reichsregierung mit dem Abschluß des Berliner Vertrages erkennen ließ, daß sie an der grundlegenden Bestimmung Rußlands im Rahmen einer auf den deutschen „Wiederaufstieg" gerichteten Revisionspolitik festhielt. Diese Übereinstimmung in den langfristigen Zielsetzungen deutscher Politik wird in der Stülpnagel-Denkschrift deutlich erkennbar 559 . Das Truppenamt formulierte darin einen revisionspolitischen Stufenplan, dessen erfolgreiche Verwirklichung entscheidend von der politischen, ökonomischen und militärischen Ausnutzung der deutsch-russischen Beziehungen abhängig war. Die laufenden Abrüstungsverhandlungen mit den Westmächten galten als ein erster Schritt, um die augenblickliche Ohnmacht des Reiches auszugleichen und „Frankreich seiner dominierenden militärischen Macht zu entkleiden". Nach der Wiedergewinnung der „vollen Souveränität", worunter die uneingeschränkte Rüstungsfreiheit und Wehrhoheit verstanden wurde, müsse man die „für das deutsche Wirtschaftsleben unentbehrlichen Teile" (Rheinland, Saargebiet, Korridor, Polnisch-Oberschlesien und Österreich) wieder angliedern. Dem werde dann eine Auseinandersetzung auf „friedlichem oder kriegerischem Wege" mit Frankreich, Belgien, Polen, Italien und der Tschechoslowakei folgen, um Deutschland eine „festgefügte europäische Stellung" zu schaffen. Auf längere Sicht müsse man sich danach auf den Kampf mit dem anglo-amerikanischen Machtbereich um die weltweite Beherrschung der Rohstoff- und Absatzmärkte einstellen 560 . Wenn Stülpnagel für seine — nach den Kriegsplänen 1923/24 — modifizierten Ideen im Auswärtigen Amt Zustimmung fand und die spätere Entwicklung tatsächlich den von ihm skizzierten Bahnen folgte, allerdings unter zeitweiliger Auflösung der deutsch-sowjetischen Gemeinsamkeit, dann können daraus natürlich keine direkten Schlüsse gezogen werden. Man geht aber sicher nicht fehl, hier Kennzeichen für ein im wesentlichen ungebrochenes Weltmachtstreben zu sehen, das sich den vorhandenen Aktionsmöglichkeiten anzupassen versuchte und in seiner Prägung keinesfalls auf einige wenige Repräsentanten von Militär, Wirtschaft und Staatsapparat beschränkt blieb. In der Reaktion breiter Führungskreise der Weimarer Republik auf die Pan-Europa-Idee als einer möglichen Alternative zur Ostorientierung wurde dies besonders deutlich. 55? Hier nach Geyer, Aufrüstung, S. 97 ff. Siehe Aufzeichnung des Wiss. Hilfsarbeiters Bernhard vom 6. 2. 1926 mit einem Vermerk Stresemanns, er habe den Eindruck, daß sein Telefon vom Reichswehrministerium überwacht werde, ADAP, B, H/1, Nr. 58, und weiter die Darstellung von Becker, Zur Politik.

558

559 Denkschrift des Oberst v. Stülpnagel für das A. A. vom 6. 3. 1926, ADAP, B, I/1, Nr. 144. SM Ebd., S. 345.

173

e] Die Abwehr paneuropäischer Ideen Europapolitik w a r seit der Mitte der zwanziger Jahre zu einem Brennpunkt des öffentlichen Interesses geworden. Die vielfältigen Bestrebungen, eine europäische Verständigungspolitik als Alternative zur nationalstaatlichen Machtentfaltung in Bewegung zu bringen, wurden von den Weimarer Kabinetten und den sie tragenden bürgerlichen Parteien insgesamt gesehen dilatorisch, z. T. sogar mit deutlicher Ablehnung behandelt 561 . Das schloß nicht den Versuch aus, den Gedanken der europäischen Einigung und die weitverbreitete Friedens- und Versöhungssehnsucht als Instrumente nationaler Politik, das heißt für eine Revision des Versailler Vertrages einzusetzen. Die vielfach erörterten Pan-Europa-Ideen von Richard Graf Goudenhove-Kalergi stießen allerdings schon deshalb auf strikte Ablehnung der politisch Verantwortlichen in Deutschland, weil sie auf die Integration der europäischen Staaten mit einer aggressiven Frontstellung gegen das bolschewistische Rußland zielten und damit dem ostorientierten Revisionsgedanken der Weimarer Republik entgegenstanden 5 6 2 . In einem von der Reichswehr beeinflußten Publikationsorgan wurden die Pan-Europa-Ideen folgerichtig als Zementierung der französischen Hegemonie und der Versailler „Fesseln" eingestuft. Dagegen stand der als „natürlich" empfundene Anspruch des Reiches auf die führende Rolle in Europa. Wolle aber Deutschland „den ihm gebührenden Platz auf dem Kontinent einnehmen, muß es darum streiten und kämpfen" 5 6 3 können. Gehe man jedoch davon aus, daß auf längere Sicht eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Siegermächten nicht auszuschließen sei, dann müsse eine über die derzeitige politische Öffnung hinausgehende politischökonomische Verflechtung Deutschlands mit dem Westen vermieden werden, da sie das deutsche „potentiel de guerre" beeinträchtigen würde. „Die Gefahr", so stellte man auf militärischer Seite fest, „daß die Reichsleitung immer mehr an Einfluß auf die Wirtschaftspolitik verliert und hierdurch nationale Fragen, bei denen die Landesverteidigung an erster Stelle steht, vernachlässigt werden, ist bei einer starken Interessenverflechtung der europäischen Wirtschaften besonders groß 564 ." So habe z. B. der Großhandel teilweise eine Haltung eingenommen, die ausschließlich von Gewinnab-

Vgl. weiter bei Frommelt, Paneuropa, S. 28 ff. 502 Siehe Coudenhove-Kalergi, Richard N., Pan-Europa, Wien 1923. Die antisowjetische Richtung seiner Ideen wird besonders deutlich in seiner Schrift: Stalin & Co., Wien 1931. 563 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Landesverteidigung, in: Deutsche Wehr 2(1929), Nr. 39, S. 856-858. 56* Denkschrift des HWaA vom 1. 4. 1927: „Die Bedeutung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für die Landesverteidigung und die sich daraus ergebenden Maßnahmen", BA-MA, RH 8/v. 890. 174

sichten diktiert werde und deren Durchführung zu schweren Schädigungen der deutschen Industrie und Landwirtschaft geführt habe 565 . Hier lag also eine strikte Absage an die einseitige Förderung des Exports vor, sofern sie zu Lasten protektionistischer, im Kriegsfalle lebenswichtiger Wirtschaftszweige erfolgte. Als wirtschaftspolitische Leitlinie sollte vielmehr ein Kurs gelten, der mit allen Mitteln die wirtschaftliche Selbständigkeit Deutschlands zu erlangen suchte. Nur durch eine „nationale Autarkie unter Ablehnung aller internationalen wirtschaftlichen Bedingungen" sei die angestrebte militärische Machtposition zu erreichen 500 . Das schloß eine vorübergehende Ausnutzung der weltwirtschaftlichen Möglichkeiten nicht aus, um die fehlenden, für den Fall eines Krieges unentbehrlichen Rohstoffe wie Eisenerze, Kupfer und Gummi in größeren Mengen lagern zu können 507 . Erst nach einer solchen ökonomischen und militärischen Kräftigung könne Deutschland dann den Kampf um eine Revision des Versailler Vertrages und den Aufstieg zur kontinentalen Führungsmacht wagen. Ein späterer Zusammenschluß der europäischen Staaten unter deutschem Patronat werde es schließlich möglich machen, die „verlorene wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt wieder zu erobern" 508 . Bemerkenswert ist in diesem Programm nationaler Expansionspolitik die Hoffnung auf die „unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten, welche in einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit Deutschlands und Rußlands immer noch liegen, obgleich die bisherigen Anfänge wenig ermutigend sind" 569 . Wie in der Reichswehrführung resultierte auch bei einem größeren Teil der deutschen Wirtschaft die Absage an die Pan-Europa-Ideen aus der Forderung, erneut deutsche Großmachtpolitik zu betreiben 570 . Diese ablehnende Haltung wurde entscheidend von den spezifischen deutschen Rußlandinteressen bestimmt. Für die weitere Entwicklung war es in diesem Zusammenhang wichtig, daß sich seit 1927 in den wirtschaftlichen Spitzengremien die Schwerindustrie mit ihren protektionistischen und ostexpansiven Interessen immer stärker gegenüber einseitigen, am Weltmarkt orientierten Exportinteressen durchsetzte. Sie beeinflußte so noch tiefgreifender die Zielsetzung der Gesamtwirtschaft 571 . Die Erweiterung des deutschen Wirtschaftsraumes nach dem europäischen Osten wurde damit gegenüber einer Verflechtung der nationalen Wirtschaft auf der Basis der derzeitigen Kräfteverhältnisse

565 Ebd., S. 46.

s°° Ebd., S. 59. s " Ebd., S. 75. 5°8 W i e Anm. 563.

5°9 Denkschrift HWaA vom 1. 4. 1927 (wie Anm. 564), S. 42. 570 Siehe weiter bei Frommelt, Paneuropa, S. 52 ff., Stegmann, Mitteleuropa, und die übergreifende Dokumentation Europastrategien. 571 Frommelt, Paneuropa, S. 68. 175

bevorzugt 572 . Statt durch eine europäische Verständigungspolitik den französischen Interessen zu entsprechen, sollte die Reichspolitik verstärkt danach trachten, die deutsche Einfluß- und Wirtschaftssphäre bis zum Altai auszudehnen. Dies forderte zumindest die Deutsche Bergwerks-Zeitung, das Sprachrohr der Schwerindustrie. Dann habe Deutschland „endlich die Weite und den Raum", um seine „überschüssige" Bevölkerung unterzubringen und „seine Kulturmission" ausführen zu können 573 . Die antirussische Frontstellung eines Pan-Europa unter französischer Ägide würde hingegen nicht nur Deutschlands „ganze Zukunft" gefährden, sondern auch den konterrevolutionären Kräften in Rußland geradezu in den Rücken fallen. Die deutschen Interessen, so lautete die Schlußfolgerung, wiesen jedoch auf den entgegengesetzten Weg. Rußland und Deutschland müßten sich gegenseitig in „jeder Hinsicht wirtschaftlich und geistig" nähern 5 7 4 . Als die Wirtschaftsverbände schließlich in einer offiziellen Eingabe die Reichsregierung aufforderten, die gestiegene deutsche Produktionskraft in greifbare machtpolitische und territoriale Erfolge umzusetzen, gingen sie wie bisher davon aus, daß „eine Liquidierung der Kriegsfolgen im ganzen zur Wiederherstellung einer gesicherten Leistungsfähigkeit Deutschlands [. . .] vor allem die Wiederherstellung eines geschlossenen Wirtschaftsgebietes im Osten" erfordere 575 . Da aber entscheidende Erfolge in der wirtschaftlichen Interventionspolitik gegenüber der UdSSR in der Vergangenheit ausgeblieben waren und die künftige Entwicklung weiterhin im Ungewissen lag, richtete sich der Blick wirtschaftlicher und politischer Führungskreise in Deutschland wieder verstärkt auf den mittel-, ost- und südosteuropäischen Raum. Die mit der Locarno-Politik zurückgewonnene, außenpolitische und ökonomische Bewegungsfreiheit schien eine konkrete Möglichkeit zu bieten, um mit der wirtschaftlichen — und damit einhergehend der politischen — Durchdringung der Randstaaten nicht nur eine wichtige Säule französischer Hegemonialpolitik zu erschüttern, sondern zugleich auch eine Brücke nach Rußland zu schlagen. Reichsregierung und Wirtschaft arbeiteten eng zusammen, um auf diese Weise den politischen und ökonomischen Einflußbereich Deutschlands auszuweiten. Auch wenn man sich

572

573

In diesem Sinne äußerten sich selbst prononcierte Vertreter des Wirtschaftsliberalismus; Vogel, Emmanuel, Nordamerikas Wirtschaftsaufstieg und das paneuropäische Problem, in: Weltwirtschaftliches Archiv 25(1927), I, S. 104-108 und Eulenburg, Franz, Pan-Europa (Der Gedanke einer europäischen Zollunion), in: Das Werden in der Weltwirtschaft, Berlin 1926, S. 227-255, hier insb. S. 248. Eckardt, Hans v., „Paneuropa" und die russische Frage, in: Deutsche Bergwerks-Zeitung 27(1926), Nr. 42, S. 1.

574 Ebd. 575

Denkschrift des Deutschen Industrie- und Handelstages an den Reichskanzler vom 1. 7. 1929, in: Das Kabinett Müller II, Bd I, Nr. 238.

176

dabei der Europa-Idee zu bedienen wußte, ging es doch vor allem um die Schaffung einer von den revisionspolitischen Interessen des Reiches geprägten überregionalen Einflußsphären 576 . Angeregt wurde diese Politik nicht zuletzt auf Grund des entscheidenden Gewichts, das der gesamte mittelund osteuropäische Raum, einschließlich Rußlands, für die deutsche Wirtschaft besaß. Der Stellenwert Osteuropas für die deutsche [1925-1927]

Volkswirtschaft

Einfuhr (in v. H.) 1925

1926

1927

Mittel- und Osteuropa» Nordeuropab Frankreich c Großbritannien

17,3 6,4 4,5 7,6

18,0 6,9 3,8 5,8

18,1 4,2 5,5 6,6

Europa insgesamt USA

52,8 17,8

50,9 16,0

52,9 14,7

1925

1926

1927

Mittel- und O s t e u r o p a Nordeuropa Frankreich Großbritannien

25,4 10,4 5,2 10,0

21,5 10,2 6,3 11,2

24,9 8,7 5,2 10,9

Europa insgesamt USA

74,1 6,5

72,2 7,2

73,8 7,2

Ausfuhr (in v. H.]

a

b c

umfassend Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Memelland, Litauen, Estland, Lettland, Rumänien, Ungarn, Danzig, Jugoslawien, Bulgarien und die UdSSR umfassend Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland einschließlich Elsaß/Lothringen

Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1928, S. 236 f. Wichtigstes Objekt des verstärkten Bemühens um den Ausbau und die Ausnutzung des deutschen Einflußes in Osteuropa war zunächst Polen, dessen schwierige Währungsprobleme und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Reich zu einer „Politischen Sanierung" ausgenutzt werden sollten 577 .

576 577

Radkau, Entscheidungsprozesse, S. 35; Heß, Europagedanke. Hierzu weiter bei Lippelt, Politische Sanierung; Megerle, Danzig, und übergreifend Krekeler, Revisionsanspruch. 177

Außerdem wurden die Beziehungen zu den baltischen Staaten intensiviert 578 und Anstrengungen unternommen, um die Pläne der Prager Regierung zu konterkarieren, Südosteuropa als Domäne der tschechischen Industrie aufzubauen. Dabei hoffte das Auswärtige Amt zeitweilig, mit dem Angebot eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses zwischen Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei das französische Bündnissystem in Osteuropa zerstören und Deutschlands Ausgreifen nach Osten und Südosten beschleunigen zu können 579 . Bei allen diesen Bestrebungen war unverkennbar, daß sie — über unmittelbare ökonomische und revisionspolitische Erwägungen hinaus — auch als Möglichkeit verstanden wurden, die Rußlandinteressen wieder stärker ins Spiel zu bringen. Es galt, die früheren Bastionen deutscher Vorherrschaft in Mittel-Osteuropa mit den zur Verfügung stehenden politisch-ökonomischen Mitteln erneut zu besetzen, um über die damit verbundene kontinentale Machtverlagerung die Ausgangsbasis für eine stärkere Einflußnahme auf die russische Entwicklung zu gewinnen. In diesem Sinne forderte beispielsweise die Organisation der auslandsdeutschen Vereine, der staatlich geförderte „Deutsche Schutzbund", in seinen „Grundsätzen für künftige Ostarbeit" vom März 1927 eine „ostgerichtete Europapolitik". Ihr Ziel müsse es sein, durch eine politische, geistigkulturelle und ökonomische Durchdringung den Anschluß der südosteuropäischen Staaten und Rußlands an das Reich zu realisieren 580 . Bei den internen Diskussionen in politischen Führungskreisen über Möglichkeiten zur Liquidierung Polens setzte sich der einflußreiche Zentrumspolitiker und spätere Reichskanzler, Franz v. Papen, dafür ein, erst den „Gesundungsprozeß" Rußlands abzuwarten, um dann in einer Zangenbewegung das gesamte Randstaatenproblem im deutschen Sinne lösen zu können 581 . In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung unterstützte man diese politische Grundströmung und widmete der Analyse ökonomischer Bedingungen für eine offensive deutsche Ostpolitik wieder breiten Raum. So wurden die Agrarreformen der osteuropäischen Staaten insgesamt verurteilt, weil sie zu einer „Verbäuerlichung" und zur Vernichtung des Groß-

578 579 380

581

Siehe u. a. Birke, Herder-Institut, und Hiden, The Baltic Problem. Siehe weiter bei Krüger, P., Beneš, und Fuchs, Planungen. „Grundsätze für künftige Ostarbeit" des Deutschen Schutzbundes vom März 1927, abgedr. in: Weltherrschaft im Visier, Nr. 72. Aufzeichnung v. Papens vom 31. 7. 1927, ebd., Nr. 75. Hierin lehnte er die Rapallo-Politik ab, da sie zu einer Stärkung des Sowjetregimes geführt habe. In seinem Briefwechsel mit dem Zentrumspolitiker Hans Graf v. Praschma erörterte dieser einige andere Varianten zur Liquidierung Polens und schloß sogar einen Pakt mit Warschau gegen die UdSSR nicht aus; ebd., Nr. 77.

178

grundbesitzes führten 582 . Dieser habe aber vor dem Ersten Weltkrieg in entscheidendem Maße die Produktion landwirtschaftlicher Überschüsse gesichert, was die bäuerlichen Einzelbetriebe nicht zu leisten vermochten. Weil dies vor allem auf Rußland zutraf, setzte man große Hoffnungen auf den Sturz des bolschewistischen Regimes, der den Großgrundbesitz und damit die früher so vorteilhafte agrarwirtschaftliche Arbeitsteilung zwischen Deutschland und Rußland wiederherstellen sollte. Wenn es gelinge, die Reste des einheimischen Privatunternehmertums und die Großbauern in Sowjetrußland bei ihrem Vormarsch zur Überwindung des Bolschewismus zu unterstützen und deutsche Fachleute an allen wichtigen Schaltstellen der russischen Wirtschaft zu plazieren, dann könne durch die deutsch-russische Verbindung ein gewaltiges Wirtschaftspotential entstehen 583 . Diese Beispiele machen deutlich, daß die Zielsetzungen einer politisch-ökonomischen Einflußpolitik gegenüber der Sowjetunion auch im Zeichen eines Primats deutscher Südosteuropa-Politik weitergeführt wurden. Mochten sie bei der Suche nach einer den sich wandelnden Umständen angemessenen Revisionsstrategie auch zeitweilig in den Hintergrund treten; sie blieben jederzeit aktualisierbar. Der Berliner Vertrag, so läßt sich resümieren, war mithin für einen größeren Teil der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungskreise in Deutschland nicht nur ein diplomatischer Schachzug im Sinne eines „Ausgleichs" hinsichtlich der Locarno-Verträge. Die Politik der „Ost-West-Balance" zielte — wie die weitgespannten deutschen Revisionsansprüche zeigen — keineswegs auf den Erhalt des Status quo in Europa. Es ging nicht um europäische Verständigungspolitik 584 . Vielmehr war ein Rahmen gesetzt worden, innerhalb dessen man die Voraussetzungen für eine deutsche Ost-Option weiterentwickeln konnte, auch wenn diese wegen des Primats weltwirtschaftlicher Orientierung und der zeitweiligen Annäherung an die westlichen Großmächte vorerst in den Hintergrund treten mußte. Insgesamt blieb Rußland im Kalkül deutscher Wirtschaftspolitik ein wichtiger Markt, und zwar sowohl im Hinblick auf aktuelle Geschäftsinteressen als auch bezüglich einer künftigen Erweiterung des deutschen Wirtschaftsraumes, dessen Durchdringung und Beherrschung den außen- und militärpolitischen Zielsetzungen entsprach.

582

583

584

Conrad, Max, Produktion und Ausfuhr der ost- und südosteuropäischen Landwirtschaft unter Einwirkung der Nachkriegsagrarreformen, Diss., Breslau 1928. Kaleko, Saul, Die Agrarverhältnisse in Weißrußland vor und nach der Umwälzung im Jahre 1917, Diss., Berlin 1929. Hier in der Bewertung gegen Hildebrand, Das Deutsche Reich, S. 38. 179

2. Weltwirtschaft

und

Ostpolitik

a) Die deutsche Neutralität im britisch-sowjetischen Konflikt 1927 Während die Weimarer Republik mit ihrem weltwirtschaftlichen Engagement einem ersten Höhepunkt zustrebte und die von Stresemann geführte Westpolitik immer mehr in Bewegung geriet; entstand für Berlin wiederholt die Notwendigkeit, den Stellenwert der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu überprüfen. Der durch die Aufdeckung der geheimen Rüstungen verursachte Regierungswechsel Ende 1926 führte zwar zu einigen organisatorischen Änderungen bei den deutschen Rüstungsaktivitäten in der UdSSR, beeinträchtigte aber nicht die Grundlinien deutscher Rußland-Politik. Bereits kurz danach war man erneut zu Feststellungen gezwungen. Bei einer Durchsuchung der Geschäftsräume der britisch-sowjetischen Aktiengesellschaft „ARCOS", zugleich Sitz der sowjetischen Handelsvertretung, fand Scotland Yard am 12. Mai 1927 eine Fülle von Hinweisen, daß es sich hier um eine von Moskau gesteuerte Zentrale für Spionage und Umsturzpropaganda handelte, die auch bei dem großen englischen Bergarbeiterstreik ein Jahr zuvor ihre Hand im Spiel gehabt hatte. Als daraufhin das Unterhaus den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion und die Kündigung des Handelsvertrages beschloß, entwickelte sich ein tiefgreifender Konflikt zwischen beiden Ländern, der erst im Dezember 1929 beigelegt werden konnte 535 . Deutsche Diplomaten hatten schon bei den vorangegangenen Spannungen in den britisch-sowjetischen Beziehungen die Gefahr erkannt, daß Berlin bei einer weiteren Eskalation zur Parteinahme und damit zu einer einseitigen Festlegung seiner außen- und wirtschaftspolitischen Interessen gezwungen werden könne 586 . Denn ohne Zweifel besaß Deutschland den „Schlüssel für eine gewaltsame Einwirkung Dritter auf Sowjetrußland" 587 . Ohne deutsche Beteiligung mußte selbst die von London ausgerufene Wirtschaftsblockade gegen die UdSSR am Ende wirkungslos bleiben. Zwar war das Reich durch eine entsprechende Klausel im Berliner Vertrag an sich zur Neutralität verpflichtet, doch andererseits stand die Glaubwürdigkeit der deutschen Westpolitik auf dem Spiel. Bei der Entscheidungsfindung der Reichsregierung spielte das wirtschaftspolitische Kalkül gegenüber der Sowjetunion eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite war zu fragen, was Berlin gewinnen könne, wenn es wegen einer pro-westlichen Parteinahme seine in Rußland mühsam errungenen

585

580

Hierzu weiter bei Krummacher/Lange, Krieg, S. 195 ff., Dyck, German-Soviet Relations, und Rosenfeld, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen und das Ostlocarno-Problem. Generalkonsul Schlesinger an den Staatssekretär des A. A. v. Schubert vom 15. 1. 1927, ADAP, B, IV, Nr. 34.

587 E b d .

180

Einflußsphären verlieren würde. Auf der anderen Seite w a r nicht auszuschließen, daß das bolschewistische System unter dem inneren und äußeren Druck zusammenbrach, so daß es sich empfahl, Deutschland so rasch wie möglich an einer bevorstehenden „Erbschaftsregelung" der Großmächte zu beteiligen. Die Antwort auf solche Fragen war offensichtlich davon abhängig, wie man die künftige Entwicklung der UdSSR sah, und ob man dem Sowjetregime innere Stabilität zuerkannte. Darüber hinaus war es natürlich entscheidend, wie die verschiedenen politischen Entscheidungsträger die Aussichten für ein weiteres deutsches Vordringen in Rußland einschätzten 588 . Bei allen Varianten, die in Regierungskreisen im Zusammenhang mit dem britisch-sowjetischen Konflikt erörtert wurden, stand das Problem im Vordergrund, wie das grundsätzliche ökonomische Interesse Deutschlands an einer politisch-ökonomischen Einflußnahme in Rußland am wirkungsvollsten durchgesetzt werden könne. Bemühungen konservativer Kreise in Großbritannien, einen antibolschewistischen Kreuzzug mit deutscher Beteiligung zu organisieren, stießen im Auswärtigen Amt zunächst auf Mißtrauen 589 . Als London aber durchblicken ließ, daß die Westmächte nicht abgeneigt seien, eine Parteinahme Deutschlands mit revisionspolitischen Zugeständnissen zu belohnen 580 , bildete sich eine pro-britische Fraktion, die unter diesen Umständen bereit war, die Ost-Option aufzugeben. Aus ihrer Sicht war das Sowjetregime kein Partner, „mit dessen Hilfe Deutschland die auf ihm lastenden politischen Probleme zu lösen vermöchte" 581 . Die Rote Armee sei unfähig, auch nur einen begrenzten Krieg gegen Polen durchzustehen. Auf ökonomischem Gebiet wurde der Sowjetunion eine bloße Scheinblüte attestiert, die bald zu einem finanziellen Bankrott und zur Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze führen werde. Der brutale Wille der herrschenden Schicht, der bisher über manche Schwierigkeiten hinweggeholfen hatte, schien bereits erschüttert zu sein. Außerdem rechnete man damit, daß die Sowjetführung Deutschland „bei der geringsten Gelegenheit ohne Zögern" verkaufen v/erde 592 . Aus dieser Analyse, in die offensichtlich die enttäuschten Erwartungen der Rapallo-Politik eingeflossen waren, wurde der Schluß gezogen, daß sich der deutsche Einfluß in Sowjetrußland bei einem möglichen Umsturz als wertlos erweisen werde. Wollte Deutschland den „Druck der Versailler Koali-

58s

Zu entsprechenden Spekulationen in der Rechtspresse siehe Doeser, Das bolschewistische Rußland, S. 68 ff., und umfassend Kretzschmar, Kampf. 588 Unsignierte Aufzeichnung des A.A. vom Juni 1927, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 9. so» Ebd. 591 Aufzeichnung des Gesandtschaftsrates Hahn vom 8. 8. 1927, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 7.

592 E b d .

181

tion" lockern und seine revisionspolitischen Ambitionen vorantreiben, sei eine deutsch-britische Allianz die aussichtsreichere Option. Dabei war von deutscher Seite freilich nicht an eine gemeinsame Militäraktion gegen Moskau gedacht. Zu dieser wäre das Reich in seiner damaligen Lage ohnehin nicht fähig gewesen. In einem Gespräch mit Briand erklärte Stresemann dazu, es gebe in Deutschland keinen Menschen, der sich an einem militärischen Vorgehen gegen Rußland beteiligen würde. Es bdeute dies ja doch dur, „daß man die Kastanien für die russischen Emigranten aus dem Feuer holen würde" 5 9 3 . Seeckt, der für einen wohldotierten Beratervertrag dem Außenminister zur Verfügung stand, beschränkte sich bei seinem Urteil auf die außenpolitischen Aspekte. In einem Gespräch mit Wirth am 19. Mai 1927 plädierte er dafür, die Entscheidung über eine aktive Teilnahme Deutschlands auf britischer Seite von einer nüchternen Betrachtung der Frage abhängig zu machen, welcher Preis vom Reich zu zahlen sei und wie groß die Sicherheit des Erfolgs sein würde. Wie man sich auch entscheide, das Ziel bleibe die Wiederaufrichtung Deutschlands als „Machtstaat". Im Auswärtigen Amt sah man zwar in diesem Kontext eine Chance, Deutschland militärisch aufzurüsten u n d Pressionsmöglichkeiten gegen Polen zu schaffen, um die deutschen Gebietsansprüche durchzusetzen 594 . Das ins Gespräch gekommene antisowjetische Bündnis mit den Westmächten sollte aber in erster Linie dazu dienen, den Systemwechsel in Rußland durch äußeren Druck und wirtschaftliche Einflußnahme zu beschleunigen. So konnte konkret das Bemühen der Sowjetregierung um eine internationale Anleihe ausgenutzt werden, um politische Zugeständnisse Moskaus zu erpressen, „die das System der Form nach vielleicht schonen, dem Inhalt nach umwandeln" könnten und sollten. Das gegenwärtige System in Rußland sei „keine Dauererscheinung", so lautete die Schlußfolgerung. Die kritische Einstellung zum kommunistischen Staatsaufbau als dem Haupthindernis für eine wirtschaftliche Gesundung des Landes wachse gerade in denjenigen Kreisen innerhalb Sowjetrußlands, „die voraussichtlich dazu berufen sein werden, die Erben des heutigen Systems zu sein". Dabei dachte man vor allem an Fachleute in der Staats- und Wirtschaftsverwaltung, die entweder aus der alten Bourgeoisie stammten, oder sich als Vertreter einer neuen „Klasse" bereits aus ihrer proletarischen Herkunft zu lösen schienen 595 . Eine Möglichkeit für Deutschland, diese Kreise zu unterstützen und für sich zu gewinnen, glaubte man u. a. im Ausbau der Beziehungen zu den russischen Genossenschaftsverbänden zu sehen 596 . 593 Aufzeichnung des wiss. Hilfsarbeiters Schmidt vom 5. 3. 1927, ebd. Nachfolgend siehe tagebuchartige Aufzeichnung Seeckts, BA-MA, Nachlaß v. Seeckt, N 247/19. s«' Siehe ADAP, B, XI, Nr. 97, 105 und 109. 595 Aufzeichnung Hahns vom 8. 8. 1927 (wie Anm. 591). 590 Aufzeichnung Hahns für Dirksen vom 7. 9. 1927, PA-AA, Geheimakten 19201936, Rußland-Handakten, Bd 36. 182

Demgegenüber beschwor die pro-russische Fraktion im Auswärtigen Amt die „Katastrophe", die sich für die bisherige ostpolitische Linie aus einem antisowjetischen Bündnis zwangsläufig ergeben mußte 597 . Den Westmächten rückhaltlos ausgeliefert, mit vagen Revisionsversprechungen abgespeist, werde das Reich alle Chancen für die Verwirklichung eigenständiger außenund wirtschaftspolitischer Zielsetzungen in Osteuropa verlieren. Das deutsche Verhältnis zum Sowjetstaat, so erklärte man, beruhe nicht auf der Sympathie für das Regime, sondern allein auf der „Erkenntnis der Parallelität der politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und Rußlands". Die Sowjetregierung sei nun einmal das „notwendige Übel", mit dem bei der Befolgung der Ost-Option gerechnet werden müsse. „Da die deutsche Außenpolitik nicht auf Monate, sondern auf Jahre hinaus eingestellt sein muß, wäre es ein unverzeihlicher Fehler, wegen der augenblicklichen Schwäche Sowjet-Rußlands die russische Politik zu ändern." Das Mißtrauen der Westmächte richte sich „nicht in erster Linie gegen die deutsch-sowjet-russische Freundschaft, sondern gegen jede deutsch-russische Freundschaft" 598 . Nachdem auf diese Weise die revisionspolitische Tragweite deutscher Rußlandpolitik noch einmal unterstrichen worden war, schlug man statt eines unsicheren und vermutlich wenig nützlichen Bündnisses mit dem Westen vor, die Beziehungen zur UdSSR auszubauen, Moskau durch wirtschaftliche Vorteile an die Reichspolitik zu binden und der deutschen Außenpolitik durch eine Vermittlerrolle neues Gewicht zu verleihen. Der Deutsche Botschafter in Moskau unterstützte diese Argumentation unter Hinweis auf die bestehenden wirtschaftspolitischen Interessen. Nach seiner Einschätzung gab es keinerlei Anzeichen dafür, daß es dem bolschewistischen Wirtschaftssystem gelingen könne, „aus eigener Kraft die unbegrenzten Möglichkeiten des riesigen Landkomplexes auszuwerten" 5 9 9 . Das gestattete die „Hoffnung auf ein weites Feld künftiger Arbeit, für die Deutschland günstige Voraussetzungen" besitze. Neuerlicher Anlaß für seine positiven Erwartungen waren die Entwicklung der sowjetrussischen Agrarpolitik und die alten Spekulationen über eine systemsprengende Kraft des russischen Bauerntums. Brockdorff-Rantzau nahm an, daß der russische Bauer seine Ernte — bisher wichtigster Valutabringer für die Sowjetregierung — nun nur noch gegen Waren abgeben werde, denn

597

Schreiben des Deutschen Botschafters in Moskau vom 6. 3. 1927, ADAP, B, IV, Nr. 217. 508 Ganz geheime Denkschrift Dirksens, ohne Datum, Dtsch. Deleg. Nr. 1148, Bemerkungen zur Aufzeichnung von Gesandtschaftsrat Hahn über die deutsche Rußland-Politik, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Az. Rußland Pol. 2, Politische Beziehungen Rußland zu Deutschland, Bd 7. 599 Schreiben der Deutschen Botschaft in Moskau an Dirksen vom 18. 6. 1927, PA-AA, Geheimakten 1920-1936, Rußland-Handakten, Bd 9. 183

der gekürzte Warenimport und die völlig unzureichende Eigenproduktion von Gebrauchsgütern treibe den allgemeinen Warenhunger in Rußland auf einen neuen Höhepunkt. Müsse sich dann die Regierung zu einer Warenintervention entschließen, für die Trockij schon vor Jahren eingetreten sei, dann werde auf der anderen Seite zwangsläufig die Einfuhr von Produktionsmitteln für die Industrie fallen und der Ausbau einer „sozialistischen Wirtschaft" ernsthaft behindert 600 . Auf deutscher Seite waren sich die Experten allerdings nicht darüber einig, ob eine solche unter Systemerschütterungen bzw. sogar politischen Umstürzen vollzogene Änderung der russischen Wirtschaftsverhältnisse überhaupt im derzeitigen deutschen Interesse liege. Einige hofften jedenfalls auf die Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Sowjetrußland, damit der deutschen Revisionspolitik möglichst rasch ein starker Bundesgenosse erwachse. Freilich setzten sie dabei voraus, daß die Beseitigung des staatlichen Außenhandelsmonopols den Weg zu einem stärkeren deutschen Einfluß auf den Ausbau des Wirtschaftsverkehrs zwischen beiden Staaten öffnen werde 6 0 1 . Josef Stalin machte allerdings in den folgenden Jahren deutlich, daß er bereit und fähig war, Widerstände in der Bauernschaft rücksichtslos zu brechen und die Landwirtschaft durch eine rigorose Zwangskollektivierung dem Primat einer auf Autarkie zielenden Industrialisierung zu unterwerfen. Im britisch-sowjetischen Konflikt des Jahres 1927 schloß sich die Reichsregierung nach einigem Zögern schließlich der prorussischen Argumentation an und bemühte sich erfolgreich um eine neutrale, vermittelnde Position. Die damit scheinbar dokumentierte deutsche „Friedensliebe" wertete die internationale Stellung des Reiches beträchtlich auf und entlastete zugleich Moskau von der Sorge vor einer kapitalistischen „Einheitsfront". Auf wirtschaftspolitischer Ebene bedeutete die Aufrechterhaltung der Beziehungen Deutschlands zur UdSSR einerseits einen unmittelbar ökonomischen Nutzen; andererseits boten die außenwirtschaftspolitischen Bestrebungen eine wichtige Argumentationshilfe für Stresemann, um die deutsche Haltung gegenüber den Westmächten zu rechtfertigen. Es gehe darum, so erklärte er den westlichen Außenministern, „Rußlands Wirtschaft so eng mit dem kapitalistischen System der westeuropäischen Mächte zu verknüpfen", daß dadurch der Weg für eine „Evolution in Rußland" geebnet werde. Allein eine Evolution biete nach seiner Meinung die Möglichkeit, „aus Sowjetrußland einen Staat und eine Wirtschaft zu machen, mit der [es] sich leben"

«oo Ebd. 601 i v Ru 3099 Ang. IV, Schreiben Dirksens an die Botschaften in Paris, Rom, London, Washington und die Gesandtschaft in Prag, vom 16. 7. 1927, ebd. Siehe hierzu auch die spätere Darstellung Dirksens in seinen Erinnerungen: Moskau-Tokio-London, S. 89 ff. 184

lasse 602 . Bereits in seinem Gespräch mit Briand in Thoiry am 17. September 1926 hatte sich Stresemann der Spekulationen über eine deutsch-französische Kooperation beim „Aufbau von Rußland" nach einem konterrevolutionären Umsturz zu bedienen gewußt, um die Geneigtheit seines Gesprächspartners zu gewinnen 603 . Eine solche Herausstellung gemeinsamer Interessen der kapitalistischen Großmächte an der Entwicklung und Evolutionierung Sowjetrußlands war von deutscher Seite aber nur vordergründig ins Spiel gebracht worden. Denn wenn sich ein Systemwandel in Rußland einmal tatsächlich vollziehen sollte, dann durfte ein derartiger Vorgang keinesfalls den beherrschenden politisch-ökonomischen Einfluß Deutschlands in Frage stellen. Anderenfalls verliere das Reich alle Aussichten für ein kontinentales Fundament künftiger deutscher Weltmacht. Diese Einstellung beherrschte auch die Debatte in politischen Führungskreisen. Wie Vertreter bürgerlichen Parteien im Reichstag meinten, stellte sich die Frage, ob Rußland für die gegenwärtigen und zukünftigen Interessen Deutschlands soviel wert sei, „daß sich die Aufwendung von politischen Unkosten" und Risiken lohne 604 . Die Antwort fiel positiv aus, weil man über Rußland ausgreifend bis nach China eine „große Zukunftsentwicklung" heranreifen sah 605 . Diese könne, wenn die deutsche Wirtschaft die sich anbietenden „Entfaltungsmöglichkeiten" nach Osten nutze, der Außenpolitik des Reiches ein größeres Maß an Aktionsfreiheit verschaffen 606 . Das Vorherrschen der Ostorientierung wurde auch in der Kolonialdiskussion deutlich, die insbesondere durch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, später Hitlers Wirtschaftsminister, angeregt wurde 6 0 7 . Er meinte, daß ein

602

Aufzeichnung Stresemanns, abgedr. in: Vermächtnis, Bd 3 (wie Anm. 299], S. 151. Zum Zusammenhang vgl. auch Weidenfeld, Englandpolitik, und MaxeIon, Stresemann. 003 zit. in Stresemann, Vermächtnis, Bd 3 (wie Anm. 299], S. 23. Speziell zu den französisch-sowjetischen Beziehungen in dieser Zeit siehe jetzt Girault, Les relations.

604 Brecht, Johann, Deutschlands außenpolitische Lage, in: Europäische Gespräche 5(1927], H. 3, S. 168-177. Brecht w a r als Vertreter der Wirtschaftspartei des deutschen Mittelstandes Mitglied im A u s w ä r t i g e n Ausschuß des Reichstages. In seinen Ausführungen wird eine deutliche Abneigung gegen die b e s t e h e n d e Abhängigkeit v o n der „New Yorker Bankwelt" erkennbar. 605

Dernburg, Bernhard, Deutschlands Zukunft im Osten, in: Neues Wiener Journal 36(15. 9. 1928), Nr. 12506, S. 1 f. Dernburg war Reichstagsmitglied der linksliberalen DDP. 606 Fischer, Max, Sowjetunion und Mitteleuropa, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 325, 14. 7. 1928, S. 1 f. 607 Soll Deutschland Kolonialpolitik treiben? (Eine Umfrage), in: Europäische Gespräche 5(1927), H. 12, S. 610-676. Darin äußerten mehr als 50 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihre Meinung zur Kolonialfrage. Der Zentrumspolitiker 185

nachhaltiger wirtschaftlicher Aufstieg Deutschlands neue Produktionsgebiete erforderlich mache, die dann von der deutschen Wirtschaft ausgebeutet und zur Lösung der Währungs-, Reparations- und Bevölkerungsprobleme dienen könnten 6 0 8 . Die Aussicht auf ein deutsch-englisches Zusammengehen gegen Moskau regte in diesem Zusammenhang zeitweilig zu Spekulationen über eine mögliche Rückgabe des früheren deutschen Kolonialbesitzes an. In Regierungskreisen ging man demgegenüber davon aus, daß Deutschland auf diese Weise in das Schlepptau Englands geraten müsse, bei gleichzeitiger Frontstellung gegen Rußland. Dies war vor allem deshalb unerwünscht, weil sich „immer noch die größeren Aussichten für das deutsche Volk als Gesamtheit im Osten, in Rußland, nicht aber an der Seite Englands" zu bieten schienen 009 . Insbesondere offeriere die Sowjetunion, „soweit überflüssiges Kapital und Organisationstalent" in Deutschland vorhanden sei, „ein viel aussichtsreicheres Betätigungsfeld als irgendein erreichbares koloniales Mandatsgebiet" 0 1 0 . Diese kaum verminderte Bereitschaft zu einem wirtschaftspolitischen Engagement in Rußland bedeutete keine Zustimmung zu weitschweifenden ostimperialistischen Vorstellungen, wie sie damals von rechtsradikalen Gruppen lauthals propagiert wurden. In der konservativen Presse bewertete man jede derartige Gedankenführung als „unzeitgemäße Fortsetzung der deutschen Kriegspolitik" 611 . Auch die idealisierten Vorstellungen über ein „Germano-slawisches Europa" auf der Basis deutsch-russischer Verbrüderung wurden abgelehnt 612 . Max Cohen-Reuß (SPD), Regierungsvertreter im Reichswirtschaftsrat, faßte die Diskussion dahingehend zusammen, daß er die Tendenz zur Bildung eines größeren Wirtschaftsraumes nicht mit illusionären Gedanken an eine deutsche Siedlungs- und Annexionspolitik im osteuropäisch-russischen Raum verbunden wissen wollte. Die Deutschen seien dort ebenso „ungebetene Gäste" wie im Ersten Weltkrieg und es sei eine „kaum faßliche Verirrung", wenn man die vor Jahrhunderten versuchte deutsche Kolonisierung des Ostens erneut in Angriff nehmen wolle. Der

und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer forderte beispielsweise „für unser Volk mehr Raum" und deshalb eine auf Kolonienerwerb gerichtete Politik, ebd., S. 611. 608 Schacht, Hjalmar, Neue Kolonialpolitik, in: Für oder gegen Kolonien. Eine Diskussion in 10 Aufsätzen von Freunden und Gegnern des Kolonialgedankens, Berlin 1928 (= Flugschrift des „Deutschen Gedankens"), S. 16-24. Siehe hierzu auch Radkau, Renovation, S. 208 ff. 609 Stellungnahme des Geh. Regierungsrats G. Cleinow in: Soll Deutschland Kolonialpolitik treiben? (wie Anm. 607), S. 619 f. 610 Stellungnahme des führenden DDP-Politikers Harry Graf Kessler, ebd., S. 645. Zur Bewertung siehe auch Heß, Das ganze Deutschland, S. 250.