Deutschland in der Weltordnung 1945 - 1995 [1 ed.] 9783428487233, 9783428087235

Die große politische, militärische und moralische Katastrophe, in die der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg D

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Deutschland in der Weltordnung 1945 - 1995 [1 ed.]
 9783428487233, 9783428087235

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Deutschland in der Weltordnung

1945-1995

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 47

Deutschland in der Weltordnung

1945-1995 Herausgegeben von

Eckart Klein und Karl Eckart

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Deutschland in der Weltordnung 1945 · 1995 I hrsg. von Eckart Klein und Karl Eckart. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 47) ISBN 3-428-08723-2 NE: Klein, Eckart [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Alle Rechte vorbehalten

© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-08723-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

INHALT Eckart Klein Einführung ......................................................................................................... 7 Jens Hacker Die Fremdbestimmung: Übernahme der obersten Gewalt und Potsdamer Konferenz ... ........................................................... ............................ .............. 13 Hans Buchheim Der staatliche Wiederaufbau: Voraussetzungen- Alternativen (Bundesrepublik Deutschland) ......................................................................... 37 Manfred Wilke Voraussetzungen und Bedingungen der Entstehung der Deutschen Demokratischen Republik ................................................................................ 49 Karl-Rudolf Korte Die allgemeine politische Rolle Deutschlands in der Ost-West-Auseinandersetzung: Probleme einer angemessenen Bewertung ........................................ 71 Hans Willgerodt Der wirtschaftspolitische Einfluß Deutschlands auf die internationalen Beziehungen seit 1945 ..................................................................................... 81 Günther Altenburg Der Wandel der Vereinten Nationen und die Möglichkeit deutscher Mitgestaltung ................................................................................................. 10 1 Christian Hacke Die Außenpolitik des vereinigten Deutschlands angesichts neuer Krisen und Kriege .......................................................................................... 111 Lothar Rühl Chancen und Risiken einer Brückenfunktion gegenüber Osteuropa ............. 139 Verfasser und Herausgeber .................................... ........................................ 149

Eckart Klein

EINFÜHRUNG Namens des Vorstandes, besonders auch unseres Vorsitzenden, Herrn Kollegen Eckart, eröffne ich unsere 17. Wissenschaftliche Jahrestagung und begrüße Sie alle sehr herzlich. Unser Gruß gilt vor allem denen, die auch eine weite Anreise nicht gescheut haben, in erster Linie aber natürlich unseren Vortragenden, die sich trotz großer anderweitiger Belastung zur Übernahme eines Referats freundlich bereiterklärt haben. Wir sind sehr stolz darauf, daß es uns gelungen ist, in jedem Fall so hochkarätige Sachkenner zu gewinnen. Ich bin sicher, wir werden eine besonders fruchtbare, weiterführende und anregende Tagung erleben. Unser Dank geht auch an den Berliner Senat, der uns wie schon im letzten Jahr die Gelegenheit bietet, im Schöneberger Rathaus zusammenzukommen. Unsere früheren Tagungen im Reichstag und - nach der Wiedervereinigung im Roten Rathaus sind freilich unvergessen. Der Regierende Bürgermeister, Herr Diepgen, hat uns freundlicherweise ein Grußwort zukommen lassen, das ich Ihnen zur Kenntnis geben darf: Ich heiße Sie sehr herzlich in Berlin, der Werkstatt der deutschen Einheit, willkommen. Berlin spiegelt wie keine andere Stadt das Schicksal Deutschlands wider, denn fast 50 Jahre war es eine geteilte Stadt mit geteilten Erfahrungen in einem geteilten Land: Die DDR wurde mit allen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen in dem sowjetischen Machtbereich verankert. In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich mit Unterstützung der westlichen Nachbarn ein demokratisches und marktwirtschaftliches System, das den Menschen politische, wirtschaftliche und persönliche Freiräume eröffnete. 50 Jahre Kriegsende bedeuten daher auch 50 Jahre Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft in Deutschland. Nach der Vollendung der Wiedervereinigung und dem Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin wird Deutschland auch international neue Aufgaben übernehmen müssen. Deutschlands neue Verantwortung wird es sein, die bewährten westlichen Bindungen und Bündnisse nach Mittel- und Osteuropa zu erweitern. Wir müssen unsere Nachbarn, die mit uns auf gemeinsame Geschichte und Kultur zurückblicken, in die europäische Union integrieren. Deutschland wird - aufgrund seiner Erfahrungen als geteilter

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Eckart Klein

Staat, dessen Teile den feindlichen Machtblöcken des Kalten Krieges angehörten - eine maßgebliche Rolle bei der Verständigung und dem Dialog in Europa übernehmen. Die 17. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung kann Denkanstöße zu der zukünftigen Rolle Deutschlands in der internationalen Gemeinschaft geben. Sie fmdet statt in Berlin, am Brennpunkt des Geschehens der inneren Wiedervereinigung, also am richtigen Ort. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer Veranstaltung - und nach der Arbeit interessante Stunden in Berlins Theatern, Konzertsälen, Restaurants und auf seinen Boulevards. Wir haben unsere diesjährige Jahrestagung unter das Thema "Deutschland in der Weltordnung 1945- 1995" gestellt. Fünfzig Jahre sind viel, im Leben eines einzelnen Menschen, aber auch im Leben eines Volkes und Staates. Fünfzig mag eine zufällige Zahl sein (wie andere auch), aber die zeitliche Einteilung hilft dabei, sich die Zeit begreifend anzueignen. Es schärft das Verständnis für die Weite dieses Zeitraums, wenn wir uns klarmachen, welches Bild sich den politischen Akteuren bot, die von 1945 aus auf die letzten 50 Jahre zurückblickten. Für sie war der Friede von Shimonoseki 1895, mit dem Japan gegen China die Vorherrschaft in Sildostasien gewann, so weit oder so nahe wie uns heute die Ereignisse von 1945 sind. Deutschland war 1895 bereits auf dem geflihrlichen Weg in die Rivalität mit den Westmächten, vor allem Großbritannien. Die Jahre danach brachten den Ersten Weltkrieg, das Ende des Kaiserreiches, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, die bedingungslose militärische Kapitulation und den totalen politischen Zusammenbruch Deutschlands. Der Endpunkt der fünfzigjährigen Rückschau aus der Perspektive von 1945 ist der Ausgangspunkt unserer Tagung. Der mit ihr erfaßte Zeitraum (1945 1995) ist gleichfalls voller Dramatik - für Deutschland freilich, und das verdient der ausdrücklichen Hervorhebung: kriegsfrei- gewesen, und die Welt hat sich in dieser Periode nachhaltig verändert. Wollte man die pralle Fülle der Veränderung, des Neuen, erfassen, müßte man sehr viel weiter ausholen, als es uns in diesen eineinhalb Tagen möglich ist. Wir mußten uns auf eine politischrechtlich-ökonomische Betrachtungsweise beschränken und können den gesellschaftlich-kulturellen ebenso wie den umwälzenden technischen Wandel, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg vollzog, in unsere Betrachtung leider nicht miteinbeziehen. Wir haben unsere Jahrestagung in drei Arbeitssitzungen eingeteilt, deren jeweilige Thematik die aus der Rückschau wohl wichtigsten politischen Entwicklungen erfaßt. Heute morgen wollen wir uns mit der Niederlage und dem Wiedereintritt Deutschlands in die Staatengemeinschaft befassen. Drei Referate werden uns in diese Problematik einführen. Herr Prof. Hacker, den

Einführung

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ich Ihnen als unseren früheren Vorsitzenden nicht vorzustellen brauche, wird zum Thema "Die Fremdbestimmung: Übernahme der obersten Gewalt und Potsdamer Konferenz" sprechen. Die totale militärische Niederlage und der sich im Mai 1945 vollziehende vollständige Wegfall politischer Gesamtstrukturen fiihrte zu der in vielerlei Hinsicht einmaligen Berliner Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands vom 5. Juni 1945 und zu der von dieser Legitimationsbasis aus operierenden Potsdamer Konferenz, deren Bedeutung naturgemäß sehr verschieden politisch beurteilt und rechtlich gewertet wird. Obwohl der offizielle Bericht über die Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 vorsah, daß gewisse wesentliche Verwaltungsstellen fiir ganz Deutschland, insbesondere im Bereich Finanzen, Transport, Verkehr und Kommunikation, Außenhandel und Industrie zu schaffen seien, ist es zu dieser alle Besatzungszonen überwölbenden staatlichen Reorganisation nicht gekommen. Der durch das gemeinsame Ziel der Niederwerfung Deutschlands nur vordergründig verdeckte geistige und machtpolitische Konflikt zwischen den Westmächten und der Sowjetunion brach bald nach Kriegsende offen aus und bestimmte die weitere Entwicklung Deutschlands, Europas und der Welt fiir über 40 Jahre. Es ist die Frage, ob es unter diesen Voraussetzungen überhaupt denkbare, politisch-realistische, ggf. aber auch wünschbare Alternativen zur Entstehung der beiden Staaten auf deutschem Boden, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, gegeben hat. Wie stark waren die Abhängigkeiten der handelnden deutschen Politiker von beiden Seiten, wie sehr entsprach die tatsächliche Entwicklung ihrem eigenständigen, klaren Zielvorstellungen entspringenden politischen Wollen? Wir sind außerordentlich dankbar, daß sich die Herren Professoren Buchheim, den ich aus langer Zusammenarbeit an der Universität Mainz kenne und herzlich begrüße, und Wilke, von der Freien Universität Berlin und Vorstandsmitglied unserer Gesellschaft, dieser wichtigen Problematik annehmen wollen. Der Wiedereintritt Deutschlands - in gedoppelter, weil geteilter Gestalt - in die Gemeinschaft der Staaten war durch den Ost-West-Konflikt erschwert, aber auch erleichtert. Herr Dr. Korte, mir aus Mainzer Zeiten ebenfalls wohl bekannt und ein ausgewiesener Sachkenner, wird über die Rolle sprechen, die Deutschland bzw. den beiden deutschen Staaten in dieser globalen Auseinandersetzung zukam. Es wird von großem Interesse sein zu sehen, ob und wie Bundesrepublik Deutschland und DDR aus Objekten zu Subjekten in den internationalen Beziehungen wurden, innerhalb ihres Blocks und blockübergreifend. Es ist evident, daß bei dieser Rollenfindung die ökonomische Bedeutung, die die beiden deutschen Staaten in die Waagschale werfen konnten, erhebliches Gewicht hatte, daß aber auch die zu erwartende Wirtschaftskraft eines geeinigten Deutschland auf die Haltung vieler, auch verbündeter Staaten zu

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Eckart Klein

einer Wiedervereinigung nicht ohne Einfluß war - ungeachtet der sehr unterschiedlich intensiven Integration in die EWG einerseits, den RGW andererseits. Wir freuen uns sehr, daß wir mit Herrn Prof. Wi/lgerodt einen besonders profilierten Fachmann für diese Fragen gewinnen konnten. Die Wiedervereinigung und die sie ermöglichende politische Umwälzung in den Jahren 1989/90 hat Deutschland aus der besonders gefährdeten Lage an der Schnittstelle der Einflußzonen der beiden Supermächte herausgenommen. Zugleich sind damit aber auch die Gründe in Wegfall gekommen, die eine auf sich selbst konzentrierte, introvertierte Politik rechtfertigen konnten. Die mit der Wiedervereinigung gewonnene nationale und internationale Normalität fordert ihren Preis, der in der Bereitschaft besteht, politische Verantwortung bei der Lösung der Probleme des nächsten Jahrhunderts mit zu übernehmen - als Stichworte für solche Probleme nenne ich Friedenswahrung und Menschenrechte, Umwelt, Bevölkerungswachstum, Ernährung und Entwicklung. Es handelt sich um die Erledigung fundamentaler Aufgaben unter gewandelten Bedingungen. Viele Aufgaben, und dazu gehören die genannten, können heute nur noch im regionalen oder universellen Zusammenwirken gemeistert werden. Dabei werden internationale Organisationen immer unverzichtbarer. Herr VLR I Dr. Altenburg vom Auswärtigen Amt hat sich dankenswerterweise bereitgefunden, über den Wandel der Vereinten Nationen und die Möglichkeiten deutscher Mitgestaltung zu referieren. Die Vereinten Nationen geben derzeit- nach einer Phase der Euphorie - einen stark überforderten Eindruck. Sind sie in der Lage, die Erwartungen der Völkerrechtsgemeinschaft und die Hoffnungen der Menschen zu erfüllen? Welche Strukturänderungen und organisatorische Anpassungen an die Zeit nach dem kalten Krieg (ist er wirklich auf Qauer vorbei?) sind erforderlich? Soll Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat als ständiges Mitglied- mit Vetorecht- einnehmen? Die enge Einbindung Deutschlands in die Europäische Union, NATO und WEU schränken die Möglichkeiten zu allzu eigenständiger Außenpolitik deutlich ein. Das völlige Einschwenken der deutschen Haltung im kriegerischen Konflikt auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ist dafür ein deutlicher Beleg. Herr Prof. Hacke von der Universität der Bundeswehr in Harnburg wird zu diesem Thema sprechen. Eng mit dieser Einbindung verknüpft ist die Frage, ob Deutschland - angesichts seiner geographischen Lage, seines politischen und wirtschaftlichen Gewichts und seiner Geschichte - eine Brückenfunktion zwischen den west- und osteuropäischen Staaten übernehmen kann. Dabei kann es nach allen Erfahrungen schwerlich darum gehen, eine neue Auflage einer Schaukelpolitik zu kreieren, sondern nur darum, aus der festen Verankerung im Gedankengut und im Kreis der westlichen Demokratien heraus Hilfestellung bei der Erfüllung der Aufgabe zu leisten, die die Präambel des EU-Vertrags als "Überwindung der

Einführung

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Teilung des europäischen Kontinents und Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen" definiert. Wir sind sehr dankbar, daß Herr Prof. Rühl von der Universität Köln, den ich Ihnen ebensowenig wie die anderen Referenten eigens vorstellen muß, das Referat zu diesem Thema übernommen hat.

Jens Hacker DIE FREMDBESTIMMUNG: ÜBERNAHME DER OBERSTEN GEWALT UND POTSDAMER KONFERENZ I. Einleitung

Das Jahr 1995 ist gespickt mit zeithistorisch bedeutsamen Daten: den Konferenzen der "Großen Drei" von Jalta (4.-11. Februar) und Potsdam (17. Juli - 2. August), der militärischen Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7./8. Mai und der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen (UNO) in San Francisco am 26. Juni 1945. Man könnte weitere und wichtige Ereignisse benennen. Dazu gehört beispielsweise der 25. März 1945, als die sowjetische Regierung von allen zuvor getroffenen Abmachungen und Absprachen über eine "Zerstückelung" Deutschlands prononciert abrückte und sich zum entschiedenen Anwalt der Einheit Deutschlands machte. Prüft man die zeitgeschichtliche Forschung daraufhin, wie sie die von den Hauptalliierten, der "Anti-Hitler-Koalition", über "Deutschland" 1944/45 erzielten Regelungen eingeordnet hat, dann fällt auf, daß die Beschlüsse von Jalta und Potsdam einen besonderen Stellenwert besaßen und teilweise sogar isoliert betrachtet wurden. Das gilt vor allem für die Interpretationen der UdSSR und der DDR - teilweise aber auch für die westliche zeithistorische Forschung, nicht jedoch für die bundesdeutsche Völkerrechtswissenschaft. Eine zu starke Fixierung auf die zweite und dritte Konferenz der "Großen Drei" oder gar isolierte Bewertung der Ergebnisse der Konferenzen von Jalta und Potsdam waren und sind verfehlt, da die rechtlich verbindlichen Abmachungen über Deutschland in den Berliner Feststellungen vom 5. Juni 1945 getroffen wurden. In der Deutschland-Politik der Sowjetunion und der SBZ/DDR spielten bis 1989 die Potsdamer Beschlüsse eine herausragende Rolle, da sie geeigneter erschienen, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen in der SBZ und späteren DDR als Ausdruck der gemeinsamen Politik der "Großen drei" erscheinen zu lassen. Noch 1985 anläßlich der vierzigjährigen Wiederkehr der Berliner- und Krim-Konferenz argumentierten die UdSSR und die DDR- wie gewohnt- einseitig und selektiv. Sie verschwiegen oder verdrängten jene Absprachen der Hauptsiegermächte über Deutschland, die nicht in das vorgegebene Geschichtsbild paßten. Der am 11 . März 1985 zum KPdSU-Chef gewählte Michail Gorbatschow erweiterte seine frühzeitig proklamierte Pere-

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stroika-Politik erst später durch den "Giasnost"-Aspekt. Kennzeichnend fiir die Einordnung der zweiten und dritten Konferenz der "Anti-Hitler-Koalition" waren zwei Bücher, die W.J. Sipols, l.A. Tschelyschew und V.N. Belezki verfaßt hatten; eine Zusammenstellung einiger Kapitel daraus wurde 1985 unter dem bezeichnenden Titel "Ja1ta-Potsdam: Basis der europäischen Nachkriegsordnung" in Berlin (Ost) herausgebracht. So ist es auch kein Zufall, daß sich der Kreml mit der Öffnung der einschlägigen Konferenz-Dokumente außerordentlich schwer tat. Nachdem 1957 eine Dokumentation erschienen war, die nur über den Verlauf der Vollsitzungen der drei Gipfelkonferenzen der "Großen Drei" in Teheran, Jalta und Potsdam informierte, dauerte es bis 1984, als sich Moskau entschloß, umfangreiche Dokumentationen über diese Konferenzen vorzulegen. Dankenswerterweise entschloß sich der Herausgeber, das Ministerium fiir Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, die Reihe "Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945" mit dem Band "Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30. Oktober 1943)" zu eröffnen. Diese erste DreierKonferenz der Alliierten - übrigens die einzige Außenminister-Konferenz während des Zweiten Weltkrieges auf dieser Ebene - wurde und wird auch gerne in westlichen Darstellungen der "deutschen Frage" übersehen oder zu knapp behandelt, da nach weitverbreiteter Ansicht die Konferenz von Teheran vom 28. November bis zum 1. Dezember 1943 den Auftakt der DreierKonferenzen bildete. 1 Im Staatsverlag der DDR ist dann die deutsche Übersetzung der sowjetischen Edition 1986 publiziert worden. Nützliche Dokumentensammlungen gab das Ministerium fiir Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR gleichfalls 1984 über "Die Konferenz der Repräsentanten der UdSSR, der USA und Großbritanniens in Dumbarton Oaks (21. August- 28. September 1944)" und "Die Konferenz der Vereinten Nationen von San Francisco (25. April- 26. Juni 1945)" heraus? Zur "Hauptredaktions-Kommission" dieser sowjetischen Edition gehörte auch der langjährige Außenminister Andrej Gromyko. Die historische Wahrheit gebietet festzustellen, daß Charles de Gaulle, Führer der Widerstandsbewegung, 1944-1945 Chef der Provisorischen Regierung und 1945-1946 französischer Ministerpräsident, auch als Präsident der Französischen Republik (1958-1969) sein "Jalta"-Trauma sorgfiiltig gepflegt hat. Für ihn haben in Jalta Präsident Roosevelt und Stalin die Welt und damit auch Europa in zwei 1

Die Bände 1: "Die Teheraner Konferenz 1943", 2: "Die Krim (Jalta) konferenz 1945" und 3: "Die Potsdamer (Berliner) Konferenz 1945" hat 1986 gleichzeitig der Kötner Verlag PahiRugenstein herausgebracht. 2 Die deutschen Übersetzungen erschienen 1988 im Staatsverlag der DDR.

Übernahme der obersten Gewalt

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Einflußsphären geteilt, eine These, die den Fakten - und darauf wird noch zurückzukommen sein - diametral widerspricht. 11. Von der Atlantik-Charta zur Casablanca-Formel

Zunächst möchte ich kurz darlegen, wie die "Anti-Hitler-Koalition" während des Zweiten Weltkrieges die Fremdbestimmung über Deutschland vereinbart hat. In der gemeinsamen amerikanisch-britischen Verlautbarung vom 14. August 1941 über die Ziele ihrer Politik, die als "Atlantik-Charta" in die Geschichte eingegangen ist und die in zentralen Punkten mit den von Präsident Roosevelt am 6. Januar 1941 verkündeten "Vier Freiheiten" übereinstimmte, erklärten er und Premierminister Churchill, ihre Länder suchten "keine territoriale oder sonstige Vergrößerung. Sie wünschen, daß keine territorialen Veränderungen zustande kommen, die nicht mit den frei geäußerten Wünschen der betroffenen Völker übereinstimmen" (Ziffer 1 und 2). In Ziffer 3 verkündeten beide, sie "achten das Recht aller Völker, sich diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen ... " Wichtig war auch die Ziffer 6 der Atlantik-Charta: "Nach der endgültigen Vernichtung der nationalsozialistischen Tyrannei hoffen sie, einen Frieden aufgerichtet zu sehen, der allen Nationen die Möglichkeit geben wird, in Sicherheit innerhalb ihrer Grenzen zu leben, und der die Gewähr dafür bieten wird, daß alle Menschen in allen Ländern ihr ganzes Leben lang frei von Furcht und Not leben können". 3 Auch wenn Inhalt und Rechtsnatur der Atlantik-Charta immer strittig waren, gilt festzuhalten, daß sie noch nicht zwischen "Feinden" und "friedliebenden Nationen" differenzierte. Die einzelnen Punkte der Atlantik-Charta bezogen sich entweder auf "alle Staaten", "alle Nationen" oder "alle Menschen in allen Ländern". Auf der interalliierten Konferenz vom 24. September 1941 in London stimmten die Regierungen weiterer zehn Staaten - u.a. der Sowjetunion, Polens und der Tschechoslowakei - den allgemeinen politischen Grundsätzen der Atlantik-Charta zu. Die UdSSR und Polen machten jedoch ihren Beitritt von der Bedingung abhängig, die Prinzipien der Charta sollten "den Umständen, Notwendigkeiten und historischen Besonderheiten ihrer Länder" angepaßt werden. Diese Einschränkung der universellen Geltung der Atlantik-Charta

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Texte der "Vier Freiheiten" Präsident Roosevelts und der Atlantik-Charta, in: Europa-Archiv,

Jg. I, 1946/47, S. 342 f.

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Jens Hacker

bezog sich nicht auf das schon damals prekäre sowjetisch-polnische Verhältnis, sondern auf die spätere Regelung der "deutschen Frage".4 Auf die Atlantik-Charta berief sich die Washingtoner Erklärung der 26 Staaten vom I. Januar 1942, die sich mit den Achsenmächten im Kriegszustand befanden. Sie bildete den Ausgangspunkt für die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO). Mit Recht hat Alexander Uschakow in einer malerialreichen Analyse darauf hingewiesen, daß um diese Zeit, also Anfang 1942, noch nicht entschieden war, ob sich Deutschland nach seiner militärischen Niederlage auf die in der Atlantik-Charta verkündeten "Grundrechte" werde beziehen können, um möglichen belastenden Eingriffen der Siegermächte zu entgehen.5 In der Washingtoner Deklaration brachten die 26 Signatare ihre Überzeugung zum Ausdruck, daß "der vollständige Sieg über ihre Feinde notwendig ist, um Leben, Freiheit, Unabhängigkeit und religiöse Freiheit zu verteidigen und die Menschenrechte und Gerechtigkeit in ihren eigenen Ländern wie auch in anderen Ländern zu erhalten. Sie sind überzeugt, daß sie sich jetzt in einem gemeinsamen Kampf gegen wilde und brutale Kräfte befinden, die die Welt zu unterwerfen suchen".6 Nach dem Wendepunkt der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Vernichtungssehtacht von Stalingrad, die Ende Januar 1943 abgeschlossen wurde, gewann die "deutsche Frage" nicht nur für den Kreml, sondern auch für die beiden angelsächsischen Mächte eine zusätzliche politische Dimension. Sie mußten sich von nun an - notwendigerweise - intensiver der Frage zuwenden, auf welche Weise Deutschland am schnellsten militärisch besiegt und wie es nach der militärischen Niederlage zu behandeln sei. Neben der militärischen Kooperation rückten im Verlauf der erfolgreichen militärischen Operationen immer mehr politische Aspekte in den Vordergrund- vornehmlich die Frage nach der Behandlung Deutschlands nach dessen Kapitulation. Die beiden Hauptverbündeten der UdSSR, die USA und Großbritannien, haben sich mit ihrer am 24. Januar 1943 in Casablanca proklamierten Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" frühzeitig auf eine bestimmte Form der Kriegsbeendigung festgelegt und damit jede Möglichkeit eliminiert, mit Hitler, 4

Vgl. dazu mit Nachweisen Alexander Uschakow: Zur Entstehung der Feindstaatenklauseln der VN-Satzung, in: Dietrich Frenzke, Jens Hacker, Alexander Uschakow: Die Feindstaatenartikel und das Problem des Gewaltverzichts der Sowjetunion im Vertrag vom 12.8.1970. Berlin 1970, S. 11-26 (12 f.); Jens Hacker: Der Ostblock- Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980. Baden-Baden 1983, S. 45-49. 5 A.Uschakow, ebenda, S. 14. Vgl. dazu auch Heinrich Bodensieck: Provozierte Teilung Europas? Die britisch-nordamerikanische Regionalismus-Diskussion und die Vorgeschichte des Kalten Krieges 1939-1945. Opladen 1970. 6 Text der Erklärung in: Europa-Archiv, Jg. I, 1946/47, S. 343.

Übernahme der obersten Gewalt

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einer anderen deutschen Regierung oder der deutschen Widerstandsbewegung in separate Waffenstillstands- oder Friedens-Verhandlungen zu treten. Die Doktrin von der "bedingungslosen Kapitulation" wurde verkündet, teils - wie Conrad F. Latour betont- "als vorbeugende Maßnahme, um in Zukunft nicht noch einmal, wie nach dem Ersten Weltkrieg, in Deutschland eine Dolchstoßlegende aufkommen zu lassen, teils um die Beziehungen zu den mißtrauischen Sowjets zu festigen, denn Stalin war aufs höchste ergrimmt, weil die Westmächte damals, 1943, noch keine zweite Front am Kanal errichten konnten". 7 So verbanden Roosevelt und Churchill mit ihrer kompromißlosen "Unconditional Surrender"-Forderung drei Ziele: Einmal wollten sie bei Stalin jeglichen Verdacht und jegliches Mißtrauen zerstreuen, sie könnten hinter seinem Rücken zu einem Kompromiß mit Deutschland bereit sein. Andererseits zielte dieses Konzept auch darauf ab, Stalin davon abzuhalten, mit dem Deutschen Reich eine separate Regelung über einen Waffenstillstand zu treffen. Schließlich verfolgten Roosevelt und Churchill das Ziel, das deutsche Volk von der "Neu- und Umgestaltung seines gesamten öffentlichen Lebens im Augenblick seiner Niederlage auszuschalten"; die "dadurch hervorgerufene Notidentifizierung zwischen Volk und Regime in Deutschland blieb dabei unberücksichtigt".8 Stalins zwiespältige Einstellung zur Casablanca-Formel ist in der zeitgeschichtlichen Forschung häufig kommentiert worden und braucht hier nicht im einzelnen rekapituliert zu werden. Prüft man seine Äußerungen zu Roosevelts und Churchills "Unconditional Surrender"-Forderung, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: Auch wenn Stalin in seinem Tagesbefehl vom I. Mai 1943 die Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" übernahm, verfolgte er 7

Conrad F. Latour: Amerikas Weg nach Potsdam. Wie die Vereinigten Staaten sich die Gestalt Deutschlands nach dem Kriege vorstellten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 1965, S. II f. Vgl. zur Deutschland-Planung der Alliierten auch Heinrich Bodensieck: Rahmenbedingungen und Weichenstellungen filr das besiegte Deutschland, in: Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins. Hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis. Berlin 1994, S. 7-36. Vgl. zur Entstehung und Entwicklung der Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" auch die materialreiche Analyse von Burkhard Schöbener: "Unconditional Surrender" - Entwicklung, Inhalt und Konsequenzen der sog. Casablanca-Formel, in: Der Staat, Bd. 34/1995, S. 163-181 . 8 So Ernst Deuerlein: Das Problem der "Behandlung Deutschlands", in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 18 vom 5.5.1965, S. 26-46 (29); A. Uschakow, a.a.O. (Anm. 4), S. 14 mit weiteren Nachweisen: "Bei der militärischen Kapitulation, handelt es sich im Grunde um den Akt der militärischen Unterwerfung ohne Beteiligung des Besiegten." Vgl. dazu auch Anne Armstrong: Bedingungslose Kapitulation Die teuerste Fehlentscheidung der Neuzeit. Wien/München 1961 ; Ulrich Meister: Zur deutschen Kapitulation 1945, in: Zeitschrift filr ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. XIII, 1950/51, S. 393-410; Alfred Vagts: Unconditional Surrender -Vor und nach 1943, in: Vierteljahrshefte filr Zeitgeschichte, Jg. 7/ 1959, S. 280-309.

2 Klein I Eckart

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Jens Hacker

weiterhin eine "taktisch-bewegliche Politik"9 , indem er sich alle Möglichkeiten offenhielt Dies galt sowohl fiir die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme mit Hitler als auch fiir die Förderung einer nationalen deutschen Opposition, die fiir die sowjetische Nachkriegspolitik wertvoll werden konnte. 10 Mit der Konferenz von Casablanca war entschieden, daß die Hauptsiegermächte die Prinzipien der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 und der Washingtoner Erklärung vom I. Januar 1942 nicht mehr auf Deutschland anzuwenden bereit waren. Nun bahnte sich "die klare Differenzierung der Rechtsstellung von ' friedliebenden Staaten' und 'Feindstaaten' im Hinblick auf die Grundsätze der Atlantik-Charta und der Washingtoner Erklärung... an". 11 111. Deutschland als "Feindstaat"

In den folgenden Monaten konkretisierten die Staats- und Regierungschefs der "Anti-Hitler-Koalition" die weitreichende Wende in der Deutschland-Politik, die mit der Konferenz von Casablanca eingeleitet worden war. So erklärte Premierminister Churchill am 15. Juli 1943 im Unterhaus: "Die Atlantik-Charta war kein Vertrag, welcher der Ratifikation oder irgendeiner formellen verfassungsmäßigen Anerkennung bedurfte. Sie war vielmehr die Festlegung bestimmter breiter Grundansichten und Prinzipien, die unsere gemeinsamen Leitsätze auf dem Marsche vorwärts sind". 12 Die "Gemeinsame Vier-Nationen-Erklärung" der Moskauer AußenministerKonferenz vom 19.-30. Oktober 1943 stellte in Punkt 4 die Notwendigkeit fest, "zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine allgemeine internationale Organisation zur Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu schaffen, die auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Staaten beruht und zu der die Mitgliedschaft fiir alle diese Staaten, groß oder klein, offen sein soll". 13 9

So zutreffend Reimer Hansen: Das Ende des Dritten Reiches- Die deutsche Kapitulation 1945. Stuttgart 1966, S. 23. Weitere Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 4), S. 186-190. 10 So Andreas Hillgruber: Der Zweite Weltkrieg, 1939-1945, in: Dietrich Geyer (Hrsg.): Osteuropa-Handbuch: Sowjetunion - Außenpolitik 1917-1955. Köln/Wien 1972, S. 270-342 (307). 11 So Georg Ress: Kommentierung des Art. 53 UNO-Charta, in: Bruno Simma (Hrsg.): Charta der Vereinten Nationen. Kommentar. MOnehen 1991, S. 676-696 (679); A.Uschakow, a.a.O. (Anm. 4), S. 15. 12 Text in: Europa-Archiv, Jg. I, 1946/47, S. 18. 13 Text bei Ernst Deuerlein: Die Einheit Deutschlands. Band 1: Die Erörterungen und

Entscheidungen der Kriegs- und Nachkriegskonferenzen 1941-1949. Darstellung und Dokumente. 2., durchges. und erw. Aufl. Frankfurt M./Berlin 1961, S. 308-310 (309); Ministerium ftlr Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.): Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30. Oktober 1943).

Übernahme der obersten Gewalt

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Der "auf britischen Vorschlag statt 'nation' aufgenommene Begriff 'peaceloving states' (gemeint waren damit die gegen die Achsenmächte verbündeten Staaten) sollte jedoch nicht zu einem dauerhaften Ausschluß der Besiegten führen, sondern nur klarstellen, daß an eine Aufnahme als gleichberechtigtes Mitglied in naher Zukunft nicht gedacht war. Die sog. 'Achsenmächte' sollten zumindest zeitweilig außerhalb der zu schaffenden Weltorganisation stehen". 14 In einem anderen Dokument der Moskauer Konferenz vom I. November 1943 war sogar von der "Behandlung Deutschlands und der anderen Feindländer in Europa" und von den "Feindstaaten" die Rede. 15 Es blieb dem britischen Premierminister überlassen, die mit der Casablanca-Formel vollzogene Wendung in der Deutschland-Politik der Alliierten in der Folgezeit mehrfach zu spezifizieren. So erklärte er beispielsweise am 12. Februar 1944 vor dem Unterhaus, es könne zum Beispiel keine Frage danach geben, "ob die AtlantikCharta auf Deutschland als Rechtsgrundsatz ihre Anwendung finden soll und Gebietsveränderungen oder Berichtigungen in irgendwelchen Ländern unmöglich machen" .16 Der britische Außenminister Eden führte in seiner Rede vom 23. Februar 1944 gleichfalls vor dem Unterhaus aus, "gewisse Teile der Atlantik-Charta sprechen ... von Siegern und Besiegten in gleicher Weise, so z.B. der Artikel 4. Aber wir können, was immer unsere Verpflichtung sein mag, nicht zulassen, daß Deutschland von Rechts wegen behau.ften kann, irgendein Teil der Atlantik-Charta beziehe sich auf Deutschland". 1 Während Präsident Roosevelt "in keiner seiner späteren Äußerungen ausdrücklich seine 1941 und 1942 wiederholt proklamierten Auffassungen von dem universellen, niemanden ausschließenden Charakter der in der AtlantikCharta enthaltenen Verheißungen" widersprach und es seinem Staatssekretär Hull überließ, in einer Rundfunkrede vom 9. April1944 "die wesentlich engere Interpretation der späteren Jahre zu formulieren", 18 nahm Churchill am 24. Mai 1944 die spätere Fassung der Feindstaaten-Klausel des Art. 107 der UNOCharta vorweg: "Die Atlantik-Charta... bindet uns in keiner Weise in bezugauf die Zukunft Deutschlands, und sie ist auch kein Handel oder Vertrag mit unseren Feinden ... " 19 Dokumentensammlung. Moskau!Berlin 1988, S. 301 f. (302). Signatare waren neben den Außenministern Cordeil Hull, Anthony Eden, Wjatscheslaw Molotow der chinesische Außenminister Fu Bing Chang. 14 SoG. Ress, a.a.O. (Anm. II), S. 679 mit weiteren Nachweisen. 15

Text in: Die Moskauer Konferenz ..., a.a.O. (Anm. 13), S. 297,299.

16 Text 17 Zit.

in: Europa-Archiv, Jg. I, 1946/47, S. 18.

bei J.W. Brügel: Die Atlantik-Charta, in: Europa-Archiv, Jg. 6/1951, S. 4219-4226 (4224).

18

So J.W. Brüge1, ebenda.

19

Text, ebenda. Vgl. dazu auch A. Uschakow, a.a.O. (Anm. 4), S. 16 f.

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Alexander Uschakow bemerkt dazu, aus den Kommentaren der alliierten Politiker sei "schon während des Krieges sichtbar geworden, daß mit der Bezeichnung 'Feindstaat' vor allem Deutschland gemeint war, obwohl die späteren Bestimmungen der VN-Satzung in den Art. 53 und l 07 keine solche Unterscheidung zwischen dem 'Hauptfeind' und seinen Satelliten machen, zu denen außer den europäischen Verbündeten auch Japan gehörte"?° Folgt man Anne Armstrong, die 1961 die informative Studie "Bedingungslose Kapitulation Die teuerste Fehlentscheidung der Neuzeit" verfaßt hat, dann wurde die Formel "bedingungslose Kapitulation" gegenüber Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Finnland aufStalins Einfluß hin weggelassen.21 Ihre endgültige Fassung erhielten die Feindstaaten-Klauseln der UNOCharta auf den Konferenzen von Dumbarton Oaks (21. August - 28. September 1944) und San Francisco (25. April - 26. Juni 1945). Die am 9./l 0. Oktober 1944 gleichzeitig in Großbritannien, den USA, der UdSSR und China veröffentlichte Mitteilung über die Ergebnisse der Dumbarton Oaks-Konferenz dokumentierte, daß die im Kapitel XII "Bestimmungen filr die Übergangszeit" formulierte Klausel weitgehend dem späteren Art. I 07 der UNO-Charta entsprach: "Keine Bestimmung der Charta schließt Maßnahmen aus, die gegen die Feindstaaten, die Teilnehmer am gegenwärtigen Krieg sind, von den Regierungen ergriffen oder genehmigt werden, welche die Verantwortung filr solche Maßnahmen tragen". 22 Die Hauptalliierten wollten also "größtmögliche Handlungsfreiheit bei der Durchsetzung der Kapitulationsbedingungen gegenüber den Feindstaaten behalten und dabei weder durch die Charta noch durch das in den Vorschlägen konzipierte System kollektiver Sicherheit der neuen Organisation gehindert sein. Eine dem Art. 53 Abs. 2 entsprechende Legaldefinition des 'enemy state' fehlte noch in den Dumbarton Oaks-Vorschlägen". 23 Die Konferenz der Vereinten Nationen von San Francisco (25. April - 26. Juni 1945), auf deren Einberufung sich die "Großen Drei" in Jalta geeinigt hatten und die die letzte Phase des Entstehungsprozesses der UNO einleitete, bekräftigte das Prinzip der Universalität der zu errichtenden Organisation durch die Möglichkeit, "friedliebende Staaten" später aufzunehmen, die "die Verpflichtungen aus dieser Charta übernehmen und nach dem Urteil der Organisation fiihig und willens sind, diese Verpflichtungen zu erfilllen" (Art. 4 Abs. l ). Georg Ress stellt dazu fest: 20 A. 21 22

Uschakow, ebenda, S. 17.

A. Armstrong, a.a.O. (Anm. 8), S. 67-69 (69 mit Nachweisen in Anm. 92).

Text in: Ministerium ftlr Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.): Die Konferenz der Repräsentanten der UdSSR, der USA und Großbritanniens in Dumbarton Oaks (21 . August - 28. September 1944). Dokumentensammlung. Moskau!Berlin 1988, S. 198. 23 SoG. Ress, a.a.O. (Anm. II), S. 679.

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"Trotz einiger Kritik wurde die Regelung der Ziff. 2 Kap. XII der Dumbarton Oaks-Vorschläge als Art. I 07 in die Charta übernommen. Der Vorschlag, die Materie in einem besonderen Protokoll zu regeln, da sich beim Völkerbund die Verbindung der VB-Satzung 24 mit dem Versailler Friedensvertrag nachträglich als Fehler herausgestellt habe, konnte sich nicht durchsetzen. Bemängelt wurde auch, daß der SR 25 an der Regelung über die Beziehung der Alliierten zu den Achsenmächten nicht beteiligt werden sollte und daß eine zeitliche Grenze dieser Ausnahmeregelung fehle. Den filnf Großmächten schien eine wesentliche Änderung der Vorschläge von Dumbarton Oaks jedoch nicht opportun. Der abschließende Bericht stellt fest, daß zwar die Festlegung einer Zeitspanne filr derartige Maßnahmen erörtert worden sei, daß es jedoch unmöglich erschien, eine solche bestimmt festzulegen. Im Abschlußbericht wird betont, daß die Feindstaaten des Zweiten Weltkrieges nicht das Recht haben sollten, sich auf die Charta zu berufen, bis der SR ihnen dieses Recht ge"26 währe. Die zweite Sonderbestimmung über die "Feindstaaten" bildet Art. 53 der UNO-Satzung. Diese Ausnahmevorschrift ist - im Gegensatz zu Art. I 07 nicht im Kapitel XVII, "Übergangsbestimmungen", sondern im Kapitel VIII "Regionale Abmachungen" formuliert. Für regionale Abkommen sahen die Dumbarton Oaks-Vorschläge eine Regelung vor, die der späteren Fassung des Art. 53 Abs. 1 Satz 2 entsprach. Der Sicherheitsrat "nimmt gegebenenfalls diese regionalen Abmachungen oder Einrichtungen zur Durchfilhrung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch". 27 Hingegen enthielten die Dumbarton Oaks-Vorschläge noch keine dem Art. 53 Abs. I Satz 2 der UNO-Charta entsprechende Ausnahme bezüglich der Stellung der Feindstaaten. Gemäß dieser Klausel sind aufgrund von Regionalabkommen solche Zwangsmaßnahmen erlaubt, die sich entweder aus Art. 107 ergeben oder gegen die "Wiederaufnahme der Angriffspolitik" eines Feindstaates gerichtet sind. Da weder Frankreich den mit der UdSSR am 10. Dezember 1944 geschlossenen Bündnisvertrag noch die Sowjetunion die mit der Tschechoslowakei am I2. Dezember I943 und Großbritannien vom 26. 24

=Völkerbund-Satzung =Sicherheitsrat 26 G. Ress, a.a.O. (Anm. II), S. 679 f. mit zahlreichen Nachweisen. Text der Mitteilung über die Ergebnisse der Vorverhandlungen der Delegationen der Regierungen der UdSSR, der USA und Großbritanniens in Washington über die Gründung einer internationalen Sicherheitsorganisation vom 10. Oktober 1944, in: Ministerium ftlr Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hrsg.): Die Konferenz der Vereinten Nationen von San Francisco (25. April - 26. Juni 1945). Dokumentensammlung. Moskau!Berlin 1988, S. 511-521 (521 ). 27 Vgl. dazu Abschnitt C "Regionale Abkommen" in der Mitteilung über die Ergebnisse der Vorverhandlungen der Konferenz von Dombarton Oaks. Text, in: Die Konferenz der Repräsentanten ..., a.a.O. (Anm. 22), S. 187-198 (195). 25

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Mai I942 unterzeichneten Bündnisverträge gegen eine mögliche Wiederaufnahme der Aggressionspolitik Deutschlands der Kompetenz des Sicherheitsrats der UNO unterwerfen wollten, einigte man sich auf der Konferenz von San Francisco auf eine Formulierung, die im wesentlichen der Fassung des Art. 53 Abs. I Satz 2 der UNO-Charta entsprach. 28 Die zweite Feindstaaten-Klausel des Art. 53 Abs. I Satz 2 der UNO-Charta geht vornehmlich auf Stalin zurück, der am 2I. April I945, vier Tage vor Beginn der Konferenz von San Francisco, demonstrativ in Moskau einen weiteren Anti-Aggressionspakt mit der provisorischen polnischen Regierung schloß. 29 Da Stalin bestrebt war, die bis zum Frühjahr I945 von der Roten Armee besetzten Staaten Ostmittel- und SUdosteuropas soweit wie möglich dem eigenen Machtbereich einzuverleiben, konnte er kein Interesse daran haben, das von ihm errichtete und später ergänzte Ostpaktsystem den Vereinten Nationen zu unterstellen. In General Charles de Gaulle, dem Chef der Provisorischen französischen Regierung, fand Stalin einen Verbündeten in der Frontstellung gegen Deutschland.30 Erst zum Abschluß der Konferenz von San Francisco wurde der Begriff "Feindstaat" (Art. 53 Abs. 2) definiert, ohne andererseits den Ausdruck 'Zweiter Weltkrieg' durch ein Anfangs- oder Enddatum zu bestimmen: 31 Der Ausdruck 'Feindstaat' in Absatz 1 bezeichnet jeden Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war. Vergleicht man das in der UNO-Charta geschaffene Friedensicherungssystem mit dem in der Satzung des Völkerbundes, dann fällt auf, daß man in San Francisco zwischen Siegern und Besiegten wesentlich schärfer differenziert hat als nach dem Ersten Weltkrieg. Neben den Feindstaaten-Klauseln der Art. 53 und I 07 ist zu beachten, daß gemäß Art. 4 der UNO-Charta Mitglieder der UNO nur "friedliebende Staaten" werden können, die "die Verpflichtungen aus dieser Charta übernehmen und nach dem Urteil der Organisation fähig und willens sind, diese Verptlichtungen zu erfüllen". Damit war eine Friedensordnung geschaffen, die- wie der Staats- und Völkerrechtler Dieter Blumenwitz betont- "noch deutlicher als in der Völkerbundsatzung die Staatengemeinschaft für unabsehbare Zeit in die Klasse der Sieger und die der Besiegten unterteilte und die Besiegten nicht nur bis auf weiteres von der neuen Gemeinschaft ausschloß, sondern als habituelle Angreifer 28

Vgl. dazu die detaillierte Analyse bei A. Uschakow, a.a.O. (Anm. 4), S. 21-26; G. Ress, a.a.O. (Anm. II), S. 680 mit weiteren Nachweisen. 29 Vgl. dazu A. Uschakow, ebenda, S. 24 f. ; J. Hacker: Der Ostblock, a.a.O. (Anm. 4): Sowjetpolnischer Vertrag vom 21.4.1945. 30 Vgl. dazu die Nachweise bei A. Uschakow, ebenda, S. 23-25. 31

SoG. Ress, a.a.O. (Anm. II), S. 681 mit weiteren Nachweisen.

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abqualifizierte und in den Art. 53 und I 07 zu weitgehend rechtlosen Objekten von Kriegsfolge- und Präventivmaßnahmen herabstufte, ohne den Siegern hierbei irgendwelche zeitlichen Beschränkungen aufzuerlegen". 32 Zusammenfassend läßt sich hierzu feststellen, daß die Besiegten weder an der Schaffung der Satzung des Völkerbundes noch der Charta der UNO beteiligt waren: "Der Gegensatz der beiden Friedenssicherungssysteme bestand jedoch u.a. darin, daß der Völkerbund mit den Friedensverträgen (Versailles, St. Germain) nicht nur in engem zeitlichen, sondern auch sachlichem Zusammenhang stand. Dem Völkerbund kamen Aufgaben bei der Durchfilhrung der Friedensverträge zu. In bewußter Abkehr von der Regelung im Völkerbund wurde die neue Organisation von jeglicher Verantwortung filr die zu schaffende Friedensregelung mit den besiegten Feindstaaten freigestellt und den verantwortlichen Hauptsiegermächten Handlungsspielraum ohne Beschränkung durch die Charta belassen". 33 Wichtig ist auch die weitere Feststellung Georg Ress': "Die Feindstaatenartikel sind das Ergebnis der Abwägung zwischen zwei von den Teilnehmern der Konferenz von San Francisco angestrebten Zielen: Die strikte Respektierung der Normen der Charta und der wirksame Schutz vor einer Friedensbedrohung durch die Feindstaaten des Zweiten Weltkriegs. Das Ergebnis zeigt, daß die Furcht vor den Feindstaaten größer war als das Vertrauen in den Friedenssicherungs-Mechanismus der normalen Charta-Bestimmungen". 34 So faszinierend sich die von der amerikanischen Historikerin Anne Armstrang verfaßte Studie auch liest, vermag sie nicht schlüssig die Frage zu beantworten, ob die Casablanca-Formel von der "bedingungslosen Kapitulation" wirklich "die teuerste Fehlentscheidung der Neuzeit" war. Hitler war gewillt, den Krieg auch nach der militärischen Wende mit der Schlacht von Stalingrad "bis zum grausamen Ende fortzusetzen ... Das Volk hatte so gut wie keinen Kontakt zum Widerstand und ertrug in beispielloser Schicksalsergebenheit das Schreckliche, ohne sich gegen Hitler und seine Kreaturen aufzulehnen. Daran hätte sich auch bei einem Verzicht der Alliierten auf die 'bedingungslose Kapitulation' nichts geändert, und es ist fraglich, ob er dem deutschen Widerstand zum Erfolg verholfen hätte. Für den Aufbau der deutschen Demokratie brachte es jedoch Vorteile, daß der Zusammenbruch des Dritten

32

Dieter Blumenwitz: Feindstaatenklauseln, in: RUdiger Wolfrum (Hrsg.): Handbuch Vereinte Nationen. 2., völlig neu bearb. Aufl. München 1991, S. 143-148 (143 f.). 33 SoG. Ress, a.a.O. (Anm. 11), S. 681 mit weiteren Nachweisen. 34

G. Ress, ebenda.

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Reiches total war. Die bedingungslose Kapitulation bedeutete, daß die Nazis endgültig ausgespielt hatten". 35 IV Die Festlegung des Rechtsstatus Deutschlands Die Qualifizierung Deutschlands als "Feindstaat" mit dem Dispens der Siegermächte von der Verpflichtung, sich der Androhung und Anwendung von Gewalt nach Art. 2 Ziffer 4 UNO-Charta zu enthalten, befreite die "Anti-Hitler-Koalition" nicht von der Aufgabe, darüber nachzudenken, was mit "Deutschland" nach dessen militärischer Niederringung geschehen solle. Die ersten offiziellen und gemeinsamen Verlautbarungen über die Behandlung Deutschlands verkündeten die Außenminister der drei Großmächte auf der - bereits erwähnten - Moskauer Konferenz vom 19.-30. Oktober 1943. Hull, Eden und Molotow einigten sich darauf, eine "Europäische Beratende Kommission" - die European Advisory Commission (EAC) - mit Sitz in London zu errichten. Die Kommission, der Vertreter Großbritanniens, der USA und der UdSSR und ab 27. November 1944 auch Frankreichs angehörten, sollte den drei Regierungen Vorschläge über die Probleme ausarbeiten, die mit der Beendigung des Krieges in Europa im Zusammenhang stehen. Dazu gehörte vor allem die Behandlung Deutschlands nach dessen militärischer Niederlage. Die EAC, die nur technische Vorfragen behandeln und den drei Regierungen entsprechende Empfehlungen vorlegen sollte, war "das entscheidende - und auch einzige - Instrument zur Vorbereitung und Festlegung der alliierten Nachkriegspolitik in Deutschland".36 Auch auf der ersten Konferenz der "Großen Drei" in Teheran vom 28. November bis 1. Dezember 1943 wurde die Deutschland-Frage zwar erörtert, aber noch keine Entscheidung getroffen: "Es wurde Einmütigkeit über die Absicht festgestellt, Deutschland aufzuteilen. Es bildete sich auch eine gemeinsame Auffassung, die Heimstätte des polnischen Volkes nach dem Westen zu verlagern, um die Westgrenze der Sowjetunion zu verschieben. Über Form und Umfang der Aufteilung Deutschlands bestanden unklare und uneinheitliche Vorstellungen". 37 Der Verlauf der Konferenz von Teheran zeigte deutlich, wie sehr die Erörterung über die künftige Westgrenze Polens mit dem DeutschlandProblem verklammert war; im Gegensatz zu den beiden angelsächsischen 35

So Walter Euchner in seiner Rezension "Bedingungslose Kapitulation -War die Forderung der Alliierten ein Fehler?" der Studie von Anne Armstrong, a.a.O. (Anm. 8), in: Stuttgarter Zeitung vom 21. August 1965. 36 So Ernst Deuerlein, a.a.O. (Anm. 13), S. 36. Text der gemeinsamen Verlautbarung Uber die Drei-Machte-Konferenz in Moskau vom 19.-30. Oktober 1943 mit den dabei abgegebenen Erklärungen, ebenda, S. 308-310 (308) und in: Die Moskauer Konferenz..., a.a.O. (Anm. 13), S. 293-295 (294); Text des gesonderten Protokolls Uber die Errichtung der EAC, ebenda, S. 303 f. 37 So E. Deuerlein, ebenda, S. 44.

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Mächten handelte es sich dabei fiir Stalin um eine "fundamentale Frage seiner weit vorausschauenden Europa-Politik".38 Obwohl Churchill, Roosevelt und Stalin in Teheran die Teilung Deutschlands ernsthaft diskutiert hatten, einigte sich die EAC, die am 14. Januar 1944 ihre Arbeit in London aufgenommen hatte, frühzeitig auf ein Konzept, das die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und nicht die Teilung des Landes in Einzelstaaten oder in staatsähnliche Gebilde vorsah. Festzuhalten gilt dabei vor allem, daß der Plan, Deutschland in Besatzungszonen einzuteilen, zuerst aufbritischer Seite entworfen worden ist. Am 15. Januar 1944 trug die britische Delegation der EAC ihre Vorstellungen vor, die denen der UdSSR so sehr entsprachen, daß sie sich ihnen in ihrem Entwurf eines Abkommens zwischen den drei Hauptalliierten vom 18. Februar 1944 fast vorbehaltlos anschloß. Der britische Entwurf sah die Einteilung des Deutschen Reiches in militärische Besatzungsräume, in Besatzungszonen vor. 39 Die EAC legte am 25. Juli 1944 einen Urkunden-Entwurf über "Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands" vor, der ausschließlich militärischen Charakter hatte und sich daher nicht zu einer Aufteilung Deutschlands äußerte40 . Die Beratungen über eine Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen schloß die EAC am 12. September 1944 mit der Unterzeichnung des Protokolls zwischen den drei Großmächten über die Besatzungszonen in Deutschland und über die Verwaltung von Groß-Berlin ab. Darin wurde die Einteilung Deutschlands in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 in Besatzungszonen festgelegt. Die drei Alliierten änderten das Londoner Protokoll vom 12. September 1944 am 26. Juli 1945 dahingehend ab, daß Frankreich eine eigene Besatzungszone in Deutschland und einen eigenen Sektor in Berlin ausschließlich auf Kosten der fiir die beiden angelsächsischen Mächte vorgesehenen Besatzungsräume erhielt. 41 Das Protokoll vom 12. September 1944 ergänzten die drei Großmächte am 14. November 1944 durch das Londoner Abkommen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland, dem Frankreich am 1. Mai 1945 wiederum ohne Vorbehalte beigetreten ist. Darin vereinbarte die "Anti-Hitler-Koalition", daß die oberste Gewalt in Deutschland von den vier Zonen-Befehlshabern je einzeln in den entsprechenden Zonen und gemeinsam in den "Deutschland als Ganzes" 38 So

39

zutreffend A. Hillgruber, a.a.O. (Anm. I 0), S. 316.

Vgl. dazu und über den weiteren Verlauf der Verhandlungen die instruktive Studie von Tony Sharp: The Wartime Alliance and the Zonal Division ofGermany. Oxford 1975, S. 56-89. 40 Dt. Text bei E. Deuerlein, a.a.O. (Anm. 13), S. 311-314. Vgl. dazu im einzelnen die Darstellung, ebenda, S. 16-62. Weitere Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 4), S. 189-191. 41 Vgl. dazu die Nachweise bei Jens Hacker: Die Nachkriegsordnung filr Deutschland auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam, in: Winfried Becker (Hrsg.): Die Kapitulation von 1945 und der Neubegin in Deutschland. Symposium an der Universität Passau 30.-31.10.1985. Köln/Wien 1987, S. 1-30 (5 mit Anm. 10).

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betreffenden Fragen ausgeübt wird. Die vier Oberbefehlshaber bildeten, als einheitliches Organ handelnd, das oberste Kontrollorgan, den Kontrollrat. 42 Auf der Konferenz von Jalta genehmigten Churchill, Roosevelt und Stalin die von der Europäischen Beratenden Kommission getroffenen Vereinbarungen.43 Die Provisorische Regierung der Französischen Republik war aufgrund der Übereinkunft der Krim-Konferenz zur Beteiligung an dem Besatzungs- und Kontrollsystem in Deutschland eingeladen worden. Stalin stimmte der Hinzuziehung Frankreichs als vierter Besatzungsmacht mit Sitz und Stimme im Alliierten Kontrollrat fiir Deutschland erst zu, nachdem sichergestellt war, daß die französische Besatzungszone ausschließlich aus Gebieten der britischen und amerikanischen Zone und nicht im Wege einerneuen Festlegung des gesamten Besatzungsbereichs gebildet werden sollte, die auch die fiir die UdSSR vorgesehene Zone betroffen hätte. Stalin, der in Jalta die Frage der Zerstückelung Deutschlands verbindlich zu klären verlangte, akzeptierte die Forderung Präsident Roosevelts, in den Entwurf der deutschen Kapitulationsurkunde den Begriff "Zerstückelung" aufzunehmen. Das "Studium des Vorganges fiir die Zerstückelung Deutschlands" wurde einem Ausschuß übertragen, dem Anthony Eden, John W. Winant und Fedor T. Gusev angehörten. 44 Auch wenn die drei Hauptalliierten in Jalta im Prinzip die staatliche Zergliederung Deutschlands bejahten, haben sie in ihren Beschlüssen die Konkretisierung dieser Absicht offen gelassen. Für diese These spricht auch, daß man mit dem "Studium des Vorgangs fiir die Zerstückelung Deutschlands" ein spezielles "dismemberment-committee" und nicht die Europäische Beratende Kommission beauftragte, die aufgrund ihrer Vorarbeiten in der Lage gewesen wäre, schnell einen konkreten Plan über die Zerstückelung Deutschlands auszuarbeiten. So regte der amerikanische Außenminister Edward Stettinius in der Sitzung der Außenminister am 6. Februar 1945 an, "die Frage der Aufstückelung Deutschlands der EAC zum Studium zu übertragen". Außenminister 42

Text bei Dietrich Rauschning: Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands. Frankfurt M./Berlin 1962, S. 83-85; ders.: Rechtsstellung Deutschlands - Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte. 2., erw. Aufl. München 1989, S. 11-14. 43 Vgl. dazu die Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 41), S. 6 mit Anm. 12. Vgl. zu den deutschlandpolitischen Überlegungen der Alliierten die materialreiche Studie von Albrecht Tyrell: Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941-1945. Frankfurt M. 1987; ders: Die deutschlandpolitischen Hauptziele der Siegermächte im Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 13 vom 30. März 1985, S. 23-39; Wolfgang Krieger: Deutschland als Prüfstein einerneuen Weltordnung. Nicht der Morgenthau-P1an bestimmte die US-Politik 1944/45, sondern die Hoffnung auf Zusammenarbeit mit Stalin, in: Die Welt vom 4. März 1995. 44 So das Jalta-Protokoll. Text bei E. Deuerlein, a.a.O. (Anm. 13), S. 329. Vgl. dazu E. Deuer1ein, ebenda, S. 69-71. Weitere Nachweise bei J. Hacker, ebenda, S. 7 mit Anm. 13.

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Molotow schlug vor, diese Frage zu einer späteren Zeit aufzugreifen: "Da sie eine besondere Angelegenheit sei, wäre es besser, eine Sonderkommission zum Studium dieser Frage zusammenzustellen".45 Nur auf den ersten Blick ist das Verhalten der UdSSR in Jalta schizophren: Einerseits segnete der Kreml mit den beiden westlichen Hauptverbündeten die von der EAC am 12. September und 14. November 1944 getroffenen Festtegungen über die Zukunft Deutschlands ab, nach denen das militärisch besiegte Land staatlich nicht zergliedert werden sollte. Auf der anderen Seite war Stalin in Jalta bestrebt, die Frage der Zerstückelung Deutschlands verbindlich zu vereinbaren. Der amerikariische Außenminister Stettinius hatte die Logik auf seiner Seite, als er vorschlug, die Frage der Zerstückelung Deutschlands der EAC anzuvertrauen. Stalin schien sich in Jalta aufgrund der sich auch ständig zugunsten der UdSSR entwickelnden kriegerischen Situation mehr davon zu versprechen, sich beide Optionen in der "deutschen Frage" offenzuhalten. Berücksichtigt man den Umstand, daß sich Fedor Gusev, der Vertreter der UdSSR in der EAC, im Frühjahr 1945 neun Wochen lang nicht in der Lage sah, zu einer Sitzung zu erscheinen46 , gewinnt- wie Ernst Deuerlein zutreffend bemerkt hat - "die Vermutung an hinreichend begründeter Wahrscheinlichkeit, Stalin habe in Jalta zwar eindeutig von der Teilung Deutschlands gesprochen, jedoch danach ein anderes Ziel verfolgt".47 Nach der Konferenz von Jalta sollte sich bald zeigen, warum sich Stalin im Februar 1945 nicht mehr auf eine klare und eindeutige Position in der Frage der staatlichen Zerstückelung Deutschlands festlegen wollte. Am 25. März 1945 teilte die sowjetische Regierung den beiden Westmächten mit, sie verstehe die in Jalta getroffene Abmachung über die "Zerstückelung" Deutschlands "nicht als obligatorischen Plan fUr eine Teilung, sondern als eine Möglichkeit, Deutschland unter Druck zu setzen, um es unschädlich zu machen, falls andere Mittel versagten".48 Ernst Deuerlein hat denjähen Gesinnungswandel Stalins so umschrieben: e Dt. Text in: Die Konferenzen von Malta und Jalta. Ubersetzung durch K.G. Wemer, G. Ehlen

u.a. DUsseldorfo.J., S. 615. Vgl. dazu die ausfilhrliche Darstellung bei Lord William Strang: Horne and Abroad. London 1956, s. 191-225 (206). 47 E. Deuerlein, a.a.O. (Anm. 13), S. 93. 48 Zit. in der instruktiven Analyse von Philip E. Mosely: Die Friedenspläne der Alliierten und die Aufteilung Deutschlands. Die alliierten Verhandlungen von Jalta bis Potsdam, in: EuropaArchiv, Jg. 5/1950, 5. 3032-3043 (3039); Frank Roberts: Dealing with Dictators ·The Destruction and Revival ofEurope 1930-70. London 1991, 5. 71-77. Mit Nachdruck betont auch Roberts, daß in "Jalta" keine Vereinbarung über die Aufteilung Europas in Interessensphären getroffen worden ist. Vgl. dazu mit Nachweisen auch J. Hacker: Integration und Verantwortung • Deutschland als europäischer Sicherheitspartner. Bonn 1995, 5. 161-163; A. Tyrell, a.a.O. (Anm. 43); W. Krieger, a.a.O. (Anm. 43). 46

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"Nur Stalin hat in Jalta eindeutig die Teilung Deutschlands verlangt. Als er mit der Forderung, darüber möglichst sofort Beschluß zu fassen, allein blieb, vollzog er die große Änderung seiner Deutschland-Politik. Nachdem ihm die Gewinnung eines deutschen Teilstaates versagt blieb, richtete sich sein Interesse auf ganz Deutschland. Das Wort 'Zerstückelung' verschwand aus der sowjetischen Politik. An seine Stelle trat Wohlwollen fiir die Einheit Deutschlands. Hier liegt die Peripetie der Deutschland-Politik Stalins... Aus dem leidenschaftlichen Verfechter der Teilung Deutschlands ist der sich väterlich-besorgt gebende Schirmherr der Einheit Deutschlands geworden ... Welche Absicht verfolgt Stalin mit seinem Eintreten fiir die Einheit Deutschlands? Doch wohl nur die, nicht nur ihr Beschützer, sondern vor allem ihr Nutznießer zu sein. Die sowjetische Deutschland-Politik schlägt im Frühjahr 1945 in der Weise um, daß nicht mehr ein deutscher Separatstaat, sondern Deutschland in der von der Sowjetunion festgelegten Einheit in ihrem weltpolitischen Zielbild steht."49 Nach der zweimaligen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. u.8. Mai 1945 setzten die Oberbefehlshaber am 5. Juni 1945 mit ihren Berliner Vier-Mächte-Erklärungen - also unter Einschluß Frankreichs - die Abmachungen der Europäischen Beratenden Kommission über die Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen und die Kontrolleinrichtungen in Deutschland in Kraft. Es ist das Verdienst von Klaus Altmeyer, schon 1955 die völkerrechtliche und politische Bedeutung der Dokumente vom 5. Juni 1945 mustergültig in der Zeitschrift "Europa-Archiv" herausgearbeitet zu haben. 5° In einem ausruhrliehen Leserbrief in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hat Altmeyer die instruktive Analyse Günther Gillessens über die Einordnung der Konferenz von Jalta nach 50 Jahren51 ergänzt und mit Recht auf die wichtigen Beschlüsse der Moskauer Außenminister-Konferenz vom 19. bis 30. Oktober 1943 hingewiesen. 52 Es verstand sich nun von selbst, daß weder diese Dokumente noch die Berliner Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands vom 5. Juni 1945

49

E. Deuerlein, a.a.O. (Anm. 13), S. 191.

°Klaus Altmeyer: Die Dokumente vom 5. Juni 1945 und die politische Einheit Deutschlands, in:

5

Europa-Archiv, Jg. 10/1955, S. 7365-7376. Vgl. dazu auch die instruktive Vorbemerkung des Herausgebers des "EuropaArchivs", Wilhelm Comides, ebenda, S. 7365. 51 Günther Gillessen: Mit Polen ging Europa verloren. Die Jalta-Konferenz und ihr Platz im Drama der Anti-Hitler-Koalition, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.Februar 1995. 52 Klaus Altmeyer: Die Rote Armee 600 km an Paris herangelassen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom II . Februar 1995 (Leserbrief).

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Hinweise auf die "Zerstückelung" Deutschlands enthielten. 53 Ehe die Frage geprüft werden kann, welche Vorstellungen die "Anti-Hitler-Koalition" über die innere Struktur Deutschlands auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam gehabt hat, ist zu fragen, von welchem "Deutschland" die "Großen Drei" damals ausgegangen sind. In den Vereinbarungen über die Besatzungszonen in Deutschland vom 12. September 1944 und 5. Juni 1945 haben die drei Hauptsiegermächte die Formel "Deutschland... innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden" haben, verwandt; die Formel "Deutschland als Ganzes" ist in den Abmachungen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. November und 5. Juni 1945 sowie in der Amtlichen Verlautbarung über die Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 enthalten. Während bestimmte Teile der Abkommen über das Kontrollverfahren in Deutschland und der Potsdamer Absprachen nur fiir eine Übergangsperiode gelten sollten, waren das Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin vom 12. September 1944 und die Feststellung über die Besatzungszonen in Deutschland vom 5. Juni 1945 zeitlich nicht begrenzt. 54 Den Vereinbarungen der Alliierten aus den Jahren 1944/45 ist zu entnehmen, daß fiir sie Deutschland als Rechtsbegriff 1945 nicht zu existieren aufgehört hat. Auch wenn sie die Defmition "Deutschland" in erster Linie zur Klarstellung der Rechtsgrundlagen fiir eine Grenzregelung verwandten, "unterstreicht der ganze Vorgang, daß auch damals der Begriff 'Deutschland' ein Rechtsbegriffwar und noch weiterhin als solcher verstanden wurde". 55 Otto Kimminich hat mit Recht darauf hingewiesen, daß es ein Völkerrechtssubjekt mit dem offiziellen Namen "Deutschland" in der Geschichte nie gegeben hat. Da der offizielle Titel des Völkerrechtssubjekts, gegen das die Alliierten Krieg gefiihrt haben, "Deutsches Reich" lautete, verwandten sie den Ausdruck "Deutschland" offenbar als Synonym. Gerade die Tatsache, daß die Alliierten Deutschland weder annektieren noch aufteilen wollten, sondern von "Deutschland" in den Grenzen vom 31 . Dezember 1937 ausgegangen sind, bedeutet, daß fiir sie das Deutsche Reich fortbestand. Der von den Alliierten gebrauchte Begriff "Deutschland als Ganzes" ist inhaltlich identisch mit den Begriffen "deutsches Völkerrechtssubjekt" oder "Deutsches Reich".

53

Dt. Text der Berliner Vier-Mächte-Erklärungen und Feststellungen vom 5. Juni 1945 bei D. Rauschning: Gesamtverfassung, a.a.O. (Anm. 42), S. 86-93; ders.: Rechtsstellung Deutschlands, ebenda, S. 15-20. 54 Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 41), S. 9 mit den Anm. 20 f. 55 So Otto Kimminich: Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR, in: Deutsches Verwaltungsblatt, Jg. 85/1970, S. 437-445 (438); ders.: Ein Staat auf Rädern? Zur verfassungsrechtlichen Lage der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Studien, Jg. 2311972, Oktober, Sonderheft S. 11-25 (13-15).

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Eine ausschließliche oder weitgehende Fixierung auf die Beschlüsse von Jalta und Potsdam ist auch deshalb verfehlt, da die drei Hauptalliierten und Frankreich in ihrer Berliner Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands vom 5. Juni 1945 bestimmten, die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, später festzulegen. Auf der Konferenz von Jalta wurde - wie dargelegt - ein Beschluß über die "Zerstückelung Deutschlands" getroffen und vereinbart, Polen müsse einen "ansehnlichen Gebietszuwachs im Norden und Westen bekommen". Außerdem bekundeten die drei Regierungschefs ihre Ansicht, "daß die Meinung der neuen polnischen Regierung der nationalen Einheit zur gegebenen Zeit betreffend die Ausdehnung dieser Gebietszuwächse eingeholt werden solle, und daß danach die endgültige Festsetzung der Westgrenze Polens die Friedenskonferenz abwarten solle". Auf der Konferenz von Potsdam haben die "Großen Drei" ihre Absprachen hinsichtlich Polens konkretisiert und einen zusätzlichen Passus über "Stadt Königsberg und das anliegende Gebiet" in die beiden offiziellen Dokumente aufgenommen. Während die Häupter der drei Regierungen ihre Auffassung bekräftigten, "daß die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll", erklärten der Präsident der USA und der britische Premierminister hinsichtlich Königsbergs und des anliegenden Gebiets, "daß sie den Vorschlag der Konferenz bei der bevorstehenden Friedensregelung unterstützen werden". V. Die Beschlüsse von Ja/ta und Potsdam

Die Beschlüsse der Konferenzen von Jalta und Potsdam unterscheiden sich hinsichtlich Deutschlands einmal dadurch, daß sich erstere nicht nur zur Besetzung und Kontrolle, sondern auch zur militärischen Niederwerfung Deutschlands äußerten und mit ihnen Frankreich eingeladen wurde, eine Besatzungszone zu übernehmen und als viertes Mitglied an der Kontrollkommission teilzunehmen, "falls es dies wünschen sollte". Außerdem bekundeten die drei Hauptalliierten ihren "unbeugsamen Willen, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafiir Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören ... Es ist nicht unsere Absicht das deutsche Volk zu vernichten, aber nur dann, wenn der Nationalsozialismus und Militarismus ausgerottet sind, wird filr die Deutschen Hoffnung auf ein würdiges Leben und einen Platz in der Völkergemeinschaft bestehen".

Übernahme der obersten Gewalt

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Auch wenn die "Anti-Hitler-Koalition" in Jalta in zentralen Fragen - wie der Festlegung der künftigen deutsch-polnischen Grenze und der Reparationen Deutschlands - weit von einem Konsens entfernt war, kam es nicht zu einer grundsätzlichen Konfrontation, da vor der militärischen Niederlage und Kapitulation Deutschlands die Hauptsiegermächte verbindlichen Entscheidungen in zentralen Fragen noch ausweichen und strittige Einzelpunkte ausklammem konnten. So war "zwar im Ergebnis die Anti-Hitler-Koalition durch die KrimKonferenz gefestigt, wesentliche Fragen hinsichtlich der Neuordnung in Europa blieben jedoch ungelöst. Trotz des bevorstehenden militärischen Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Deutschlands fehlte es den Alliierten noch immer an einem konkreten gemeinsamen deutschlandpolitischen Programm".56 Auf der Potsdamer Konferenz blieb nun - nach der militärischen Kapitulation Deutschlands - den drei Hauptsiegermächten gar nichts anderes übrig, als prinzipielle gemeinsame Beschlüsse über die Behandlung Deutschlands anzustreben, wenn sie ihrer selbstgestellten Aufgabe, eine dauerhafte Friedensordnung für und in Europa zu schaffen, gerecht werden wollten57. Hier können wichtige juristische Vorfragen - wie die Problematik der Rechtsnatur, des Inhalts und der Gültigkeit der Potsdamer Beschlüsse sowie die Frage nach der Bindung Deutschlands und Frankreichs an das "Abkommen" vom 2. August 1945 - nicht erörtert werden.58 Für mein Thema "Die Fremdbestimmung: Übernahme der obersten Gewalt und Potsdamer Konferenz" gilt festzuhalten, daß sich die "Großen Drei" darin einig waren, Deutschland als eine ungeteilte wirtschaftliche und politische Einheit zu behandeln. Daß das Potsdamer "Abkommen" den Fortbestand der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands postulierte, ging aus mehreren Abschnitten hervor. Unter anderem hieß es: "Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten". Der späteren Spaltung Deutschlands leistete jedoch eine andere zentrale Aussage Vorschub: "Bis auf weiteres wird keine Jedoch werden einige wichtige richtet werden, an deren Spitze bieten des Finanzwesens, des

zentrale deutsche Regierung errichtet werden. zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen erStaatssekretäre stehen, und zwar auf den GeTransportwesens, des Verkehrswesens, des

56

So Michael Antoni: Das Potsdamer Abkommen. Trauma oder Chance? Geltung, Inhalt und staatliche Bedeutung. Berlin 1985, S. 30-34 (31). 57 Vgl. dazu die Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 41), S. 13 f.

58

Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker: Einfilhrung in die Problematik des Potsdamer Abkommens, in: Friedrich Klein und Boris Meissner (Hrsg. ): Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage. I. Teil: Geschichte und rechtliche Grundfragen. Wien/Stuttgart 1977, S. 5-41; ders., ebenda, S. 14-28.

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Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen werden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein". Bei der Prüfung der in den "Politischen Grundsätzen" der Potsdamer Übereinkunft enthaltenen Klauseln darf nicht daran vorbeigegangen werden, daß sie den Fortbestand der Einheit Deutschlands nicht ausdrücklich und unmittelbar postulierten, sondern nur mittelbar und nicht ohne mancherlei Verklausulierungen. In politischer Hinsicht stand im Vordergrund das Ziel der "De-zentralisation der politischen Struktur" und "Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung". Und wenn den gesamtdeutschen Staatssekretariaten zwar offensichtlich die Eigenschaft als Vorläufer einer deutschen Zentralregierung zugedacht war, so läßt der Satz: "Bis auf weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errichtet werden", im Zwielicht, ob und wann es zu einer Zentralregierung kommen soll und wird. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die Bildung einer zentralen deutschen Regierung die politische Einheit Deutschlands voraussetzt. Die Frage, warum die in "Potsdam" postulierten politischen und wirtschaftlichen Prinzipien die spätere Spaltung Deutschlands nicht aufzuhalten vermochten, kann nur beantwortet werden, wenn man das Londoner Abkommen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. November 1944 und die Feststellung über das Kontrollverfahren in Deutschland vom 5. Juni 1945 beachtet. In den "Politischen Grundsätzen" der Potsdamer Übereinkunft wurde festgelegt, daß "entsprechend der Übereinkunft über das Kontrollverfahren in Deutschland... die höchste Regierungsgewalt in Deutschland" durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der USA, Großbritanniens, der UdSSR und Frankreichs "nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen ausgeübt werde, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone, sowie gemeinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen". Als besonders folgenschwer sollte sich die Vorschrift in der Abmachung vom 14. November 1944 erweisen, daß der Kontrollrat nur einstimmig entscheiden konnte. Durch die Verankerung des Vetorechts war für jede der vier Besatzungsmächte sichergestellt, daß sie ihr nicht genehme Vorschläge und Maßnahmen, die für Deutschland als Ganzes gedacht waren, nicht hinzunehmen brauchte. Da jeder Zonen-Befehlshaber über die unumschränkte Macht in seiner Besatzungszone verfügte, konnte er seine Politik nach Vorstellungen entwickeln, die nicht mit denen der drei übrigen im Kontrollrat vertretenen Mächte übereinstimmen mußten. Die politische Entwicklung ab Mitte 1945 sollte schnell zeigen, wie sehr gerade die UdSSR nach eigenem Ermessen und ohne Rücksicht auf die anderen drei Besatzungsmächte in ihrer Zone agierte. Die bisherige Auswertung der nun zugänglichen SED- und DDR-

Übernahme der obersten Gewalt

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Archive zeigt das ganze Ausmaß der zielgerichteten sowjetischen DeutschlandPolitik seit 1944/45.59 VI. Schlußbemerkung

Dieses Schicksal blieb Österreich, das bereits auf der Moskauer Konferenz der Außenminister der USA, Großbritanniens und der UdSSR vom 19.-30. Oktober 1943 aus der "deutschen Frage" ausgeklammert und von vomherein nicht mit dem Makel der "Feindstaatlichkeit" versehen wurde60, erspart, obwohl das Land ebenfalls in vier Besatzungszonen und Wien in fünf Sektoren eingeteilt worden waren. Während die Konstruktion des Vetorechts eine gemeinsame Politik der vier Besatzungsmächte im Kontrollrat filr Deutschland von Anfang an außerordentlich erschwerte und damit keine Garantie für eine Erhaltung der Einheit Deutschlands, wohl aber für die Möglichkeit zu deren Auflösung bot, konnte der filr Österreich verantwortliche Alliierte Kontrollrat ebenfalls nur einstimmig entscheiden- freilich vor einem anderen Hintergrund. 61 Die Entwicklung in Österreich verlief von Anfang an deshalb anders, da dort die Sowjets nach ihrem Einmarsch in Wien bereits im April 1945 eine Provisorische Regierung unter dem Sozialdemokraten Karl Renner eingesetzt hatten. Die Regierung, in der die Christdemokraten (ÖVP), Sozialdemokraten (SPÖ) und Kommunisten (KPÖ) zu gleichen Teilen vertreten waren, verfügte über eine - wenn auch beschränkte - Entscheidungsfreiheit, die der Kontrollrat 59

Vgl. über die Deutschland-Planung des Kreml und der in Moskau während des Zweiten Weltkriegs verweilenden deutschen Kommunisten den informativen Band von Peter Erler, Horst Laude, Manfred Wilke (Hrsg.): "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 ftlr Nachkriegsdeutschland. Berlin 1994. Die Frage nach der Rechtsnatur der Besatzungsherrschaft, der "Übernahme der obersten Regierungsgewalt" und dem Kontrollrats-Regime kann hier nicht erörtert werden. In zahlreichen staats- und völkerrechtlichen Untersuchungen ist seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre immer wieder untersucht worden, ob die vier Besatzungsmächte bis zur Wiederherstellung einer deutschen Souveränität gemeinsam die Souveränität über Deutschland ausgeübt haben? Manche Autoren sprachen von einem "Kondominium", andere von einem "Koimperium" und wieder andere von einer "Treuhandschaft" oder "treuhänderischen Besetzung". Die weitere Frage ging dahin, ob die drei Westmächte und die UdSSR deutsche oder ausländische Staatsgewalt innegehabt haben? Vgl. dazu mit Nachweisen Jens Hacker: Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR. Köln 1974, Kap. 8. Vgl. zur Entwicklung und zu den Kontroversen im Kontrollrat die materialreiche Studie von Elisabeth Kraus: Ministerien ftlr das ganze Deutschland? Der Alliierte Kontrollrat und die Frage gesamtdeutscher Zentralverwaltungen. München 1990. 60 Vgl. dazu die "Erklärung über Österreich"; Text in: Die Moskauer Konferenz..., a.a.O. (Anm. 13), s. 308. 61 Vgl. dazu ausftlhrlich Theodor Eschenburg: Das Problem der Deutschen Einheit nach den beiden Weltkriegen, in: Vierteljahrshefte ftlr Zeitgeschichte, Jg. 5/1957, S. 107-133; Nachdruck in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 23 vom 12. Juni 1957. Weitere Nachweise bei J. Hacker, a.a.O. (Anm. 4), S. 207 mit Anm. 3; ders., a.a.O. (Anm. 41), S. 21 f. mit Anm. 43.

3 Klein I Ecka-t

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nur durch einstimmiges Veto von Fall zu Fall einengen konnte. Theodor Eschenburg hat 1957 in seinem instruktiven Aufsatz "Das Problem der Deutschen Einheit nach den beiden Weltkriegen" die unterschiedlichen Ausgangssituationen Deutschlands und Österreichs auf diese Formel gebracht: "In Österreich wirkte die Vorschrift der Einstimmigkeit als Schutz gegen partikulare Interessen der Zonen-Befehlshaber, weil eine Regierung existierte, in Deutschland wirkte dieselbe Vorschrift als Förderung des Zonen-Partikularismus, weil eine Zentralregierung fehlte". 62 Wilhelm G. Grewe hat 1985 in einem höchst beachtlichen Vortrag mit dem Titel "Friede durch Recht?" die "Friedenssicherung in der europäischen Geistesgeschichte und im Völkerrecht" analysiert und zunächst die wichtigsten Friedensschlüsse bis zum Ende des Ersten Weltkriegs miteinander verglichen. Er gelangte zu diesem Schluß: "Wenngleich man sich in dieser Epoche nicht berufen ftlhlte, im Friedensvertrag ein allgemeines Gerechtigkeitsprinzip zu verwirklichen, so gab es doch einen Komplex von Rechtsnormen, sittlichen Geboten, Anstandsregeln, Forderungen der Billigkeit, Regeln der Vernunft und Maximen der praktischen Staatskunst, denen die inhaltliche Gestaltung des Friedensvertrages unterworfen war, denen sich die Vertragschließenden verpflichtet ftlhlten und an denen ihr Werk gemessen wurde." Die Entwicklung seit 1918/19 kennzeichnete Grewe so: "Seit dem Ende des 1. Weltkrieges haben wir einen ständigen Niedergang dieser großen europäischen Tradition des Friedensschlusses - die man mit Recht eine "verlorene Kunst" genannt hat - erlebt. Die Friedensverträge von 1919 wurden nicht wirklich verhandelt, sondern praktisch dem Besiegten einseitig auferlegt. Statt Amnestie enthielten sie Kriegsschuldartikel, Bestimmungen über die Auslieferung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, drückende Reparationslasten. Aus der Zerschlagung der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und der Fortexistenz eines einheitlichen, aber isolierten, diskriminierten und entmilitarisierten Deutschlands zwischen Ost und West ging kein stabiles neues Gleichgewichtssystem hervor. Der Genfer Völkerbund erwies sich als unflihig, die ihm zugedachte Aufgabe der Friedenssicherung zu erftlllen. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges konnten sich die Siegermächte auf keine Friedensverträge mehr einigen. Zwar schloß man 1947 mit Italien, Finnland und den Balkanstaaten sogenannte 'Friedensverträge' ab - diese waren jedoch ihrem Rechtscharakter nach mehr einseitige Deklarationen als Verträge. Der ftlr die Neuordnung Europas entscheidende Friedensvertrag mit Deutschland 62

Th. Eschenburg, ebenda.

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kam nicht zustande. Der Friedensvertrag mit Japan mußte ohne Beteiligung der Sowjetunion geschlossen werden." 63 Das deutsche Volk durfte dankbar sein, daß die "Anti-Hitler-Koalition" ihm nach der militärischen Niederschlagung Deutschlands und seiner Verbündeten in "Potsdam" - im Gegensatz zu "Jalta"- wenigstens zutraute, sich zumindest auf längere Sicht wieder einen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt zu erobern. Da die drei Hauptsiegermächte die baldige Bildung einer gesamtdeutschen Regierung ausgeschlossen hatten, hätte nur der Alliierte Kontrollrat Garant nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Einheit Deutschlands sein können. Die von deutscher Seite gehegten Hoffnungen auf die in Potsdam beschlossene und endgültig im Dezember 1947 am Einspruch Frankreichs gescheiterte Errichtung "zentraler deutscher Verwaltungsabteilungen" waren. von Anfang an trügerisch, da diese "unter Leitung des Kontrollrates" tätig sein sollten. Die staatliche Spaltung Deutschlands geht daher nicht auf Vereinbarungen der Alliierten zurück, sondern ist eine Folge der 1945 einsetzenden politischen Entwicklung, die im Laufe des Kalten Krieges zur Teilung Europas und zu der damit verbundenen Schaffung des "Ostblocks" und der westlichen Verteidigungs- und Wertegemeinschaft unter Führung der USA gefilhrt hat und die die zwischen den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands und der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) verlaufende Demarkationslinie zur ost-westlichen Grenze in Mitteleuropa werden ließ. Die Spaltung Deutschlands wurde somit auch zu einer Funktion des Ost-West-Konflikts. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre sollte sich bald herausstellen, daß eine einheitliche Behandlung Deutschlands nicht möglich war. Die Gegensätze zwischen den Vorstellungen der drei Westmächte und der Sowjetunion zeigten sich nicht nur in der Arbeit des Kontrollrats, sondern auch im Rat der Außenminister, der auf der Potsdamer Konferenz beschlossen worden war und unter anderem eine "friedliche Regelung filr Deutschland" vorbereiten sollte. Während der abrupte Abbruch der 5. Konferenz des Rats der Außenminister in London am 15. Dezember 1947 das Scheitern der Vier-Mächte-Politik gegenüber Deutschland manifestiert, markiert der 20. März 1948 - an jenem Tag verließ die sowjetische Delegation den Alliierten Kontrollrat in Berlin - das Ende der Vier-Mächte-Verwaltung rur Deutschland. Stalin wußte das Verhältnis zu den drei Westmächten noch insofern erheblich zu belasten, als er am 24. Juni 1948 - am 16. Juni hatte die UdSSR ihre Mitarbeit in der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin eingestellt - die vollständige Blockade der drei Westsektoren Berlins mit dem Ziel anordnete, die drei westlichen Alliierten aus der Stadt zu vertreiben. Stalin hatte jedoch die entschiedene Haltung der drei Westmächte, vor allem der USA, und den Selbstbehauptungswillen der 63

Wilhelm G. Grewe: Friede durch Recht? Berlin!New York 1985, S. 12 f.

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Berliner Bevölkerung falsch eingeschätzt, so daß er im Mai 1949 die Blockade wieder aufheben mußte. Als sich 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR konstituierten, tangierte dies nicht die fortbestehenden Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten. Während die drei Westmächte in dem am 5. Mai 1955 in Kraft getretenen Deutschland-Vertrag ihre "Deutschland als Ganzes" und Berlin betreffenden Vorbehaltsrechte festgeschrieben haben, legte auch die UdSSR größten Wert darauf, sich in allen wichtigen politischen Verträgen mit der DDR ihr Mitspracherecht in der "deutschen Frage" zu sichern. Das galt sowohl fiir den "Souveränitätsvertrag" vom 20. September 1955 als auch filr die bilateralen Bündnispakte vom 12. Juni 1964 und 7. Oktober 1975.64 Bei den Verhandlungen über den Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 12. August 1970 war der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko zwar bemüht, gegenüber der Bundesregierung die Vier-Mächte-Rechte zu relativieren, ohne sie jedoch rechtlich in Frage zu stellen. Die Nichtberührungsklausel des Artikels 4 des Moskauer Vertrags stellte den Fortbestand der Vier-MächteVerantwortung sicher.65 Für das am 3. Oktober 1990 staatlich vereinte Deutschland waren die Beendigung der Vier-Mächte-Rechte und die Wiedererlangung der vollen Souveränität von zentraler Bedeutung. Gemäß Artikel 7 des "Vertrags über die abschließende Regelung in bezugauf Deutschland" vom 12. September 1990 beenden die Vier Mächte "ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der vier Mächte aufgelöst". Das Außerkrafttreten der besatzungsrechtliehen Akte aus den Jahren 1944/45 war Voraussetzung, um im Zwei-plus-Vier-Vertrag klarzustellen, "das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten".66

64

Vgl. zu den Rechtspositionen der drei Westmächte, der UdSSR sowie Bonns und Ost-Berlins J. Hacker, a.a.O. (Anm. 41); ders.: Die deutschlandrechtliche und deutschlandpolitische Funktion der Vier-Mächte-Verantwortung, in: Dieter Blumenwitz und Boris Meissner : Staatliche und nationale Einheit Deutschlands- ihre Effektivitat. Köln 1984, S. 75-96. 65 Vgl. dazu mit NachweisenD. Frenzke; J. Hacker; A. Uschakow, a.a.O. (Anm. 4). 66 Vgl.

dazu J. Hacker, a.a.O. (Anm. 48), S. 102-110.

Hans Buchheim DER STAATLICHE WIEDERAUFBAU: VORAUSSETZUNGENALTERNATIVEN (BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND) Die Erstursache dessen, was mit Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschah, war der fundamentale Gegensatz zwischen der Sowjetunion und den seinerzeit sogenannten "westlichen Demokratien". Er war während des gemeinsam gegen Nazi-Deutschland gefiihrten Krieges überdeckt, brach aber noch im Krieg als Konflikt über das politische Schicksal Polens wieder auf. Für Polens Existenz und Freiheit war England in den Krieg eingetreten; Stalin befreite das Land von der deutschen Besetzung, unterwarf es aber zugleich einer kommunistischen Diktatur und sowjetischer Vorherrschaft. Als die ersten russischen Panzer das östliche Ufer der Weichsel erreicht hatten, begann am I. August 1944 der Warschauer Aufstand der nicht-kommunistischen Untergrundarmee. Ihr kam Stalin nicht nur nicht zu Hilfe, sondern er behinderte sogar die Hilfsflüge der Briten und Amerikaner. An Churchill schrieb er am 22. August, die Aufständischen seien eine Verbrecherbande. Mit ihrer Kapitulation am 2. Oktober war die nicht-kommunistische polnische Widerstandsbewegung vernichtet. Für den amerikanischen Präsidenten Roosevelt war das Ereignis Anlaß, sich filr die Zeit nach dem Krieg zu einer langfristigen Präsenz der USA in Buropa zu entschließen. Bereitsam 12. Mai 1945 sah Churchill sich veranlaßt, in einem Brief an Truman festzustellen, daß ein Eiserner Vorhang vor der russischen Front niedergegangen sei: "was dahinter vorgeht, wissen wir nicht". In Deutschland konnte unter diesen Umständen keiner der sich verfeindenden Verbündeten das Reich ganz dem anderen überlassen. Ihr auf der Potsdamer Konferenz eingesetzter "Rat der Außenminister" vermochte seinen Auftrag, einen Friedensvertrag fiir Deutschland vorzubereiten, nicht zu erfilllen. So wurde Deutschland schließlich nicht planmäßig geteilt, sondern es zerbrach an der Uneinigkeit der Sieger. Für die USA und England bedeutete dies, daß sie ihre Absicht, Deutschland konsequent als Feindstaat zu behandeln und auf Jahrzehnte hinaus völlig zu entmachten, nicht mehr verwirklichen konnten. Diese Absicht hatte ihren Ausdruck gefunden in der berühmten JCS 1067 sowie in dem weniger bekannten Plan, den der amerikanische Außenminister Byrnes im "Rat der Außen-minister" vorgelegt hatte.

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In der JCS I 067 hieß es u. a.: "Es muß den Deutschen klar gemacht werden, daß Deutschlands rücksichtslose Kriegsfiihrung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht haben ... Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat ... Sofern es nicht zum Schutz der Streitkräfte vor Unruhen und Krankheit oder fiir Reparationsleistungen notwendig ist, soll die Militärregierung keine Schritte unternehmen, die zur wirtschaftlichen Wiederaufrichtung Deutschlands fiihren könnten oder geeignet sind, die deutsche Wirtschaft zu erhalten und zu stärken." Der Plan, den Byrnes dem Rat der Außenminister auf dessen zweiter Konferenz am 29. April 1946 vorlegte, sah vor, daß Deutschland fiir 25 Jahre total abgerüstet sein solle. Zur Überwachung dieser Bestimmung sollte eine VierMächte-Kontrollkommission eingesetzt werden; praktisch bedeutete das, daß Deutschland 25 Jahre lang überhaupt unter Vier-Mächte-Kontrolle gestanden hätte. Molotow lehnte den Plan ab mit der Begründung, die Kontrolle müsse mindestens 40 Jahre währen und mit einer "Demokratisierung" Deutschlands verbunden werden, natürlich im sowjetischen Sinn dieses Begriffs. Außerdem müsse die Sowjetunion an einer Besetzung des Ruhrgebietes beteiligt werden. Anstatt im Sinne dieser beiden Dokumente zu verfahren, sahen sich die USA und England gezwungen, ihre Besatzungszonen politisch zu stabilisieren und das industrielle Potential Deutschlands zu reaktivieren. Es gab übrigens noch einen weiteren Grund, die Besatzungspraxis grundlegend zu ändern. Die Sieger hatten sich nämlich mit der Absetzung der Reichsregierung unter Schwerin-Krosigk am 23. Mai 1945 die unmittelbare Verantwortung fiir das deutsche Volk aufgeladen. Jetzt waren filr sie die Deutschen nicht mehr die Feinde und "die anderen", sondern sie waren ihnen so anvertraut, wie eine Bevölkerung seiner Regierung anvertraut ist. Um es drastisch auszudrücken: die amerikanischen und englischen Steuerzahler mußten nicht mehr fiir viele Tausende von Tonnen Spreng- und Brandbomben, sondern filr viele Tausende von Tonnen Nahrungsmittel fiir ihre bisherigen Feinde aufkommen. Die Initiative, einen westdeutschen Staat zu gründen und diesen in den beginnenden Zusammenschluß der Staaten Westeuropas einzubeziehen, ging also unter diesen Umständen von den Siegern aus. Westdeutschland bedurfte einer staatlichen Organisation, wenn es nicht in Anarchie versinken oder in Richtung Sowjetunion abdriften sollte; es mußte durch Wiederbelebung seiner industriellen Produktion in die Lage versetzt werden, sich selbst zu ernähren und zum Wiederaufbau Europas beizutragen. Das alles aber konnten die Sieger sich nur unter der Voraussetzung zumuten, daß ihnen Sicherheit davor gewährleistet war, daß Deutschland nicht erneut zur Gefahr filr sie würde. Deshalb war es

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zwingend notwendig, den neuzugrUndenden Staat in dem Maße, in dem er selbständig wurde, in die Integration Westeuropas einzubinden, sowie ihn auf eine demokratische und föderale Verfassung zu verpflichten. Eine solche Verfassung war also keineswegs nur eine eigene Angelegenheit der Deutschen, sondern war vom Sicherheitsinteresse der Sieger und Nachbarn gefordert. Schließlich war die Zerstörung der Verfassung der Weimarer Republik die erste Voraussetzung fiir Hitlers auf den Krieg zusteuernde Herrschaft und Politik gewesen. Daher enthielten sowohl das am 21. September 1949 in Kraft getretene Besatzungsstatut als auch die Präambel der ersten Fassung des Deutschlandvertrags vom 20. Mai 1952 eine völkerrechtlich verbindliche Garantie der im Grundgesetz niedergelegten Verfassung der Bundesrepublik. So erweisen sich die Einbeziehung Deutschlands in die westeuropäische Integration wie auch seine Verfassung, wie sie im Grundgesetz ihre Ausgestaltung gefunden hatte [insbesondere die "Ewigkeitsgarantie" ftlr den föderalen Aufbau] als Entscheidungen, ftlr die es keine Alternative gegeben hatte. Es handelte sich um "Diktate" der Sieger. Daß dieser Zwang kaum als zwingend empfunden wurde, lag daran, daß er in die gleiche Richtung wies, die auch die Deutschen selbst ansteuerten: "Volenti non fit iniuria". Mit Sicherheit aber wäre anderes zu wollen uns verboten gewesen. Weil aber der Zwang kaum gespürt wurde, fehlt es an dem Bewußtsein, daß es keine Alternative gab; bzw. wäre die Alternative ein Zustand Deutschlands gewesen, wie sie im ByrnesPlan vorgesehen gewesen war. Das heißt auch, daß Deutschland, wäre es nicht auseinandergebrochen, längst nicht so schnell rehabilitiert worden wäre, wie es tatsächlich der Fall gewesen ist. Wie auf Seiten der Sieger das Scheitern des Byrnes-Plans beweist, daß es keine Alternative zu der politischen Entwicklung gab, die tatsächlich angesteuert wurde, so auf deutscher Seite das Scheitern Jakob Kaisers. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die Einheit des Reiches zu erhalten und forderte zu diesem Zweck, Deutschland habe "Brücke" zu sein zwischen Ost und West. Berlin sei fiir diese Aufgabe des Vermitteins der geeignete Ort: es stehe "in geschichtlicher Mission inmitten der großen geistigen Auseinandersetzung zwischen Ost und West". Hier in Berlin habe der Ausgleich der politischen Ströme und Kräfte zu erfolgen. Außenpolitisch sei es Deutschlands Aufgabe, im Zustand der Blockfreiheit "ehrlicher Mittler zwischen Ost und West zu sein". "Warnen möchten wir" schrieb Kaiser auch: "vor einem reinen Weststaat Nur kühl rechnender Verstand kann sich ihn ausdenken, der das lebendige Geftlhl eines Volkes übersieht"! Daß solche Vorstellungen und seine Politik keine realistische Alternative waren, mußte Kaiser erkennen, als die SED mit dem Aufruf zum "Deutschen Volkskongreß" vom 27. Februar 1947 den Gedanken der Einheit Deutschlands zur Parole ihrer Politik machte, die damals auf kommunistische Vorherrschaft in ganz Deutschland zielte. - Im Rückblick schrieb Kaiser: "Wir aber hätten es ftlr frivol gehalten, nicht alles zu versuchen, Ge-

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gensätze abzuschwächen, deren gewaltsame Austragung dazu führen könnte, daß unser unglückliches Land tödlich getroffen werden müßte. Erst als wir erkennen mußten, daß für die Sowjetmacht grundsätzlich nur Feindseligkeit oder Beherrschungswille gegenüber Völkern und Parteien gilt, die sich der von ihr vertretenen Doktrin nicht unterwerfen oder zum mindesten nicht bereit sind, ihrer erstrebten Vorherrschaft zu dienen, erst da blieb uns nichts anderes übrig, als Ablehnung dieser Politik". Ebenfalls keine Alternative gab es für den militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Verteidigung Europas sowie dazu, diesen als Mitglied der NATO zu leisten. Als Adenauer von den Alliierten eine Sicherheitsgarantie für das Territorium der Bundesrepublik forderte [das heißt eine Verteidigung erst am Rhein anstatt an der Eibe auszuschließen], waren die Amerikaner und Engländer dazu nur unter der Bedingung bereit, daß die Deutschen zu ihrer Verteidigung mit eigenen Streitkräften beitrügen. Als Gegenleistung dafür wiederum forderte Adenauer die Wiederfreigabe der Souveränität der Bundesrepublik, wofür die Alliierten deren Einbeziehung in ein vereinigtes Europa verlangten. So kam es zum Junctim zwischen dem Abschluß des "Deutschland-vertrags" und dem deutschen Verteidigungsbeitrag. Für diesen schlug im Interesse der Sicherheit Frankreichs vor Deutschland der französische Ministerpräsident Rene Pleven am 25. Oktober 1950 eine europäische Verteidigungsgemeinschaft vor, deren ursprünglicher Plan schwerwiegende Diskriminierungen Deutschlands enthielt. Nachdem diese im Verlauf sich lange hinziehender schwieriger Verhandlungen ausgeräumt waren, lehnte die französische Nationalversammlung die so ausgestaltete "Europäische Verteidigungsgemeinschaft" am 30. August 1954 ab. Allerdings wäre auch andernfalls die EVG nicht realisierbar gewesen, weil das vorgesehene Ausmaß supranationaler militärischer Strukturen einen Grad politischer supranationaler politischer Strukturen vorausgesetzt hätte, der noch nicht einmal heute erreicht ist. Man erkennt das, wenn man die damals ausgearbeitete Verfassung einer "Europäischen Politischen Gemeinschaft" mit dem heutigen EU-Vertrag vergleicht. - So blieb am Ende keine andere Möglichkeit als Deutschlands Beitritt zur NATO. Aus Anlaß der Verabschiedung des Grundgesetztes durch den Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 sprach u. a. Theodor Heuß. Er sagte in Bezug auf das vier Jahre zurückliegende Ende des Krieges: es sei "die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns: weil wir erlöst und vernichtet in einem sind".- Für die Radikalität dieser Niederlage hätte es nicht der von Roosevelt und Churchill in Casablanca beschlossenen Forderung einer bedingungslosen Kapitulation bedurft. Denn Deutschland war an jenem 8. Mai 1945 gar nicht mehr in der Lage, irgendwelche Bedingungen zu stellen. Hitler hatte den Krieg, als dieser bereits offenkundig verloren war, auf eine Weise weitergeführt, die in der Selbstzerstörung des nationalsozialistischen Regimes

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und damit des Deutschen Reiches enden mußte. Charakteristisch dafiir war es, daß Hitler im April 1945 die beiden nach ihm mächtigsten Männer, den Reichsmarschall Göring und den Reichsfiihrer SS und Chef der Deutschen Polizei Himmler aus der Partei ausstieß und sie ihrer Staatsämter enthob "wegen geheimer Verhandlungen mit dem Feind" und des Versuchs, "die Macht im Staate an sich zu reißen". Daß so die Hitler-Herrschaft an ihrer eigenen Logik zugrunde ging, hatte zwei fiir Deutschlands Zukunft günstige Folgen: es konnte erstens diesmal keine neue "Dolchstoßlegende" entstehen, und zweitens war der Nationalsozialismus so unbezweifelbar und gründlich gescheitert, daß Raum entstand fiir grundlegend neues politisches Denken. Trotz dieses totalen Zusammenbruchs und Umbruchs gab es im Frühjahr 1945 doch keine "Stunde Null", obgleich das, was wir Deutsche in den letzten Wochen vor und in den ersten Wochen nach der Kapitulation erlebt haben, diesen Eindruck entstehen lassen konnte. Es war damals ja nicht auszuschließen, daß alle gewohnten Verhältnisse in Staat und Gesellschaft ein fiir alle mal ihr Ende flinden; es war nicht abzusehen gewesen, was an deren Stelle treten würde. Man erlebte einen Zusammenbruch, der hoffen, und eine Befreiung, die befiirchten ließ. Es gab nichts Schlimmes, was einem vielleicht bevorstehen würde, wie etwa ftlr junge Menschenjahrzehntelange Zwangsarbeit. So wurde gewissermaßen eine kurze "Zeitspanne Null" erlebt. Sehr bald aber erwies sich als Schlüsselwortjener Zeit das Wort WIEDER: -endliche wieder Versorgung mit elektrischem Strom - die Eisenbahn fährt wieder - wieder eine lokale Verwaltung - Wiedereröffnung der Schulen - wieder das erste Konzert -wieder politische Parteien - Wiederzulassung der im Dritten Reich verbotenen Vereinigungen - Wiederaufbau und Wiedergutmachung Der Bedarf an politischer Dynamik war 12 Jahre lang überreichlich gedeckt gewesen. Jetzt nach den perversen Auswirkungen einer totalitären Despotie und nach dem Chaos der Schlußphase des Krieges strebten die Menschen nicht zu neuen Ufern, sondern sie hatten das dringende Bedürfnis, zu einem normalen Alltagsleben zurückzukehren. Das war praktisch ein Wiederanknüpfen an die Verhältnisse vor dem Krieg bzw. vor 1933. Soweit letzteres in der Politik geschah, wird es zu Unrecht nachträglich als Restauration im schlechten Sinn des Wortes kritisiert. Denn es handelte sich um Rückkehr aus einem Zustand fmsterer Verleugnung europäischer politischer Zivilisation zu

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einem Stand des Fortschrittes dieser Zivilisation der mit der Weimarer Republik schon einmal erreicht gewesen war. Ein weiteres kommt hinzu: Bei aller Anomalie der NS-Herrschaft und des Krieges erstreckte sich doch auch ein massiver Sockel von Normalität über die Zeitspanne jener 12 Jahre, so vor allem im unpolitischen Alltagsleben. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hatte die Jahre vor 1933 bereits als Erwachsene erlebt und konnte damit ftlr sich selbst die NS-Herrschaft wie eine Episode behandeln. Das gilt nicht zuletzt ftlr diejenigen, die schon bis 1933 politisch aktiv gewesen waren und es nun wieder wurden. Wer z. B. 1933 mit 35 Jahren Abgeordneter gewesen war, war nun mit 47 Jahren voll befähigt, die alten Fäden wieder aufzugreifen. Viele hatten sich ja von Anfang an darauf eingestellt, daß die Hitler-Zeit nicht lange währen könne, gerade weil sie mit einem Krieg enden werde, der nicht zu gewinnen sein würde. Hier kann ich eine eigene Erfahrung beisteuern. Als ich seit 1956 viele Vorträge über die NS Herrschaft zu halten hatte, mußte ich meinen Zuhörern immer wieder klarmachen, daß damals die Verhältnisse nicht so normal waren, wie sie sie erlebt hatten; heute dagegen muß ich den Nachgeborenen sagen, daß seiner Zeit der Alltag nicht so anomal war, wie sie es sich vorstellen. Der Widerspruch in dem, was hier über normale und anomale Verhältnisse gesagt wird, liegt in der Sache selbst. Erstens erlebt der Mensch einen Zustand schon dann als völlig anomal, wenn er dies auch nur zu Hälfte ist; und zweitens ergibt sich aus der Eigenart der totalitären Despotie, daß sie auf eine Perversion des gesamten Soziallebens angelegt ist, diese aber nicht vollkommen durchzusetzen vermag. Gerade dies, daß immer Normalität verbleibt, trägt allerdings erheblich zur intellektuellen und moralischen Verwirrung bei, die dazu verfUhrt, vor den Anomalien die Augen zu verschließen. Jedoch: trotzder Jahre im Zeichen des Wortes WIEDER undtrotzdem die Zeit von 1933 bis 1945 überdauernden Kontinuum an Normalität haben sich im Bewußtsein unseres Volkes teils unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Verbrechen des Regimes teils weil man erlebt hatte, wie dieses an seinen eigenen Konsequenzen zugrunde ging, zwei fundamentale Veränderungen vollzogen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß sie historischen Rang haben: eine Trennung von über Generationen bestehenden Selbstverständlichkeiten des Denkens und der Eintritt in neue Selbstverständlichkeiten des Denkens und der Überzeugung. Der erste Fall war die Überwindung fragwürdiger, jedoch über Generationen nicht in Frage gestellter Traditionsbestände durch die Männer und Frauen des bürgerlich-adligen Widerstandes. Das begann bald nach 1933 mit einer politisch begründeten Kritik an einer Politik, die dem deutschen Nationalstaat schaden mußte. Es folgte seit spätestens 1937 das Bestreben, die immer bedrohlicher werdende Gefahr eines Krieges abzuwenden. Entscheidend aber war

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schließlich die Einsicht, daß die von Hitler befohlenen Verbrechen an die Wurzeln der sittlichen Existenz des Menschen gingen. Treffend hat das Dietrich Bonhoeffer fonnuliert mit dem Satz: "Hitler ist der Antichrist. Wir müssen daher weitergehen mit unserer Arbeit, einerlei ob er erfolgreich ist oder nicht." So fiel die Entscheidung, Hitler zu beseitigen nicht aus politischen Erwägungen, sondern wegen derjenigen Untaten, die jenseits der Sphäre von Politik überhaupt liegen. Das bürgerliche Deutschland, welches vom Widerstand des "20. Juli" repräsentiert wurde, mußte unter Hitler erfahren, welche verheerenden Folgen gewisse Ideen der eigenen geistigen Tradition haben konnten bzw. welchen Möglichkeiten des Mißbrauchs diese Tradition ausgesetzt war. Aus ihr hatten nicht wenige, die sich später dem Widerstand anschlossen, dem NS-Regime anfangs loyal z. T. sogar zustimmend und bereitwillig gedient. Für jeden einzelnen von ihnen, der sich Vernunft und moralisches Bewußtsein bewahrt hatte, mußte aber dann der unheilvolle Weg der Nation früher oder später auch zum brennenden persönlichen Problem werden. An irgendeinem Punkt mußte er sich fragen, ob er es noch verantworten könne, w~iter mitzumachen, und welche seiner eigenen Denkgewohnheiten er revidieren müsse. So waren es bei diesen Männern und Frauen gerade die teilweisen Gemeinsamkeiten mit dem Regime, die eine radikale geistige Auseinandersetzung unausweichlich forderten. Da erwies sich, daß diese Repräsentanten deutscher bürgerlicher Tradition noch über die geistige und moralische Substanz verfUgten, um die unheilvollen Teile ihres Erbes zu überwinden. Ihre anflingliche Zustimmung und Mitwirkung an der nationalsozialistischen Herrschaft sind deshalb keine "Schönheitsfehler", die man schamhaft verbergen müßte; sondern im historischen Urteil macht gerade das den Rang und die Bedeutung ihrer Leistung aus, daß sie aus eigener Kraft ein Werk des Umdenkens und der moralischen Erneuerung filr die gesamte Nation erbrachten. Die zweite grundlegende Veränderung vollzog sich im Bewußtsein des deutschen Volkes insgesamt. Die Folgen der NS-Herrschaft waren so katastrophal, ihr Scheitern gerade durch die Verwirklichung ihrer eigenen Parolen [insbesondere am sog. Führerprinzip] war so unbezweifelbar, daß es im Frühjahr 1945 zu einer mutationsartigen Veränderung der allgemeinen Mentalität kam. Es war die begierige, dabei unreflektierte Hinwendung zur "westlichen" Demokratie und damit zum neuzeitlichen Verfassungsstaat. Das deutsche Volk mußte nicht von den Siegern umerzogen werden; die Geschichte selbst hat ihm die notwendige Lektion erteilt. Ob "Mutation" filr das, was sich da vollzog, die bestmögliche Bezeichnung ist, mag dahingestellt bleiben. Daß es sich in der Tiefenschicht der Mentalität vollzog, findet auch bei Hans-Ulrich Weher seinen Ausdruck. Er schrieb [FAZ v. 6. Mai 1994]: "Die betäubende Wucht der Erfahrungen zwischen 1933 und 1949 ließen endlich keine andere realistische Option mehr übrig". Es habe sich vollzogen "ein mentalitätsgeschichtlicher

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Umbruch von prägender Tiefenwirkung. Binnen kurzer Zeit empfand sich die erdrückende Mehrheit in der Bundesrepublik als Bürger eines durch und durch westlichen, weltoffenen Landes". Schon 1974 hatte Richard Löwenthai geschrieben: "Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte akzeptierten die besitzenden Oberschichten und die beamteten Träger der staatlichen Exekutive, die in der Mehrheit der ersten deutschen Republik von Beginn an als Feinde gegenübergestanden hatten, die demokratischen Regeln mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie dies in den alten angelsächsischen Demokratien der Fall ist." Die Bewerkstelligung des Übergangs von der Behandlung Deutschlands als besiegtem Feindstaat zum Mitglied eines vereinigten Westeuropa und zum Verbündeten der atlantischen Allianz erforderte eine Politik, fiir die charakteristisch war, was ich als Gleichzeitigkeit von NOCH und SCHON bezeichnen möchte. Das erste und zugleich besonders ausgeprägte Beispiel bietet das Ruhrstatut Damals war das Ruhrgebiet noch das Herzstück des industriellen Potentials Deutschlands. Die Engländer und Amerikaner lehnten sowohl die Forderung der Sowjetunion ab, an der politischen Kontrolle beteiligt zu werden, als auch die französischen Pläne, dieses Gebiet aus dem deutschen Staatsverband herauszulösen. Dagegen wollten sie die Rohstoffe und die Produktion der Ruhrindustrie fiir den Wiederaufbau der Staaten heranziehen, die Hitler überfallen hatte. Oie Lösung war eine Internationalisierung eben der Produktion (anstatt des Gebietes). Zu diesem Zweck errichteten sie eine internationale Ruhrbehörde, eine Deutschland ohne Zweifel diskriminierende Einrichtung, mit der jedoch wesentlich gravierendere Forderungen abgewehrt werden konnten. Vor allem aber war das Statut jener Behörde so konzipiert, daß es auch als Vorform der 1950/51 geschaffenen "Europäischen Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl" angesehen werden konnte. NOCH überwog die Tatsache, daß Deutschlands wichtigstes Industriepotential unter Besatzungsrecht gestellt wurde, aber SCHON hieß es im Gründungs-Kommunique, "if wisely operated" könne die Regelung zu einer gedeihlichen internationalen Zusammenarbeit fuhren, an der Deutschland gleichberechtigt beteiligt wäre. Gerade weil damals die Politik der Sieger darauf ausgerichtet war, Deutschland zu rehabilitieren, konnten die Deutschen eine vorübergehende Diskriminierung in Kauf nehmen. Die SPD warnte seinerzeit, wenn die Bundesregierung den filr Deutschland vorgesehenen Sitz in der Ruhrbehörde einnähme und damit das Ruhrstatut anerkenne, werde die Diskriminierung Deutschland sanktioniert; sie beschwor die Annahme des Versailler Vertrags als warnendes Beispiel. Jedoch machte nach dem Ersten Weltkrieg dieser Vertrag Deutschland erst zum Objekt der Diskriminierung, während die Mitwirkung in der Ruhrbehörde [filr die es keine Oberaufsicht der Besatzungsbehörde gab] ein erster Schritt aus dem Objekt-Sein heraus war. Zutreffend sagte Thomas Dehler damals, das Ruhrstatut sei nicht Grundstein eines Gebäudes, sondern Meilenstein eines Weges.

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Der Leiter der Deutschlandabteilung des State Departments, Henry A. Byroad, charakterisierte die Entwicklung vor amerikanischen Zeitungsverlegern am 31. Oktober 1949 wie folgt: Die westlichen Regierungen hätten mit dem Besatzungsstatut unwiderruflich einen neuen Kurs eingeschlagen. Es könne letzten Endes keine halben Lösungen geben; ein Volk könne nicht halb versklavt und halb frei sein. Amerika könne zwar das Tempo der Entwicklung nicht bestimmen, es sei aber fest entschlossen, alles zu tun, was in seiner Macht liege, um die Assimilation Deutschlands in ein freies Europa zu bewerkstelligen. - Nach Wilhelrn Grewes Urteil hat die Gleichzeitigkeit von NOCH und SCHON ihren Ausdruck auch in der Textgestaltung des Ruhrstatuts gefunden, die in wichtigen Punkten eine eindeutige Interpretation nicht zulasse: "Man steht hier vor der gleichen Erscheinung, die sich auch am Text des Besatzungsstatuts oder des Dreimächtekontrollabkommens oder sonstiger auf Deutschland bezüglicher Abkommen seit 1945 beobachten läßt: alle diese Dokumente weisen eine Sprache auf, welche die exakten Formulierungen der Gesetzessprache weitgehend vermissen läßt, aber auch die elastischere Sprache völkerrechtlicher Verträge durch Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit um ein Mehrfaches übertrifft." Der deutsche Politiker habe aus diesem Befund schließen dürfen, daß er sich von den einschränkenden Bindungen nicht den Blick dafiir verstellen lassen durfte, welche Möglichkeiten der Weiterentwicklung sich boten. Ein drastisches Beispiel fiir den Übergang vom NOCH zum SCHON bietet die Umwandlung des Dünkirchner Vertrags zwischen Frankreich und England vom März 1947 zum Brilsseler Vertrag [der BENELUX einbezog] vom März 1948 und dann zum WEU-Vertrag [der Italien und Deutschland beteiligte] vom Oktober 1954. Im Dünkirchner Vertrag vereinbaren Frankreich und England, sie werden, falls die Sicherheit eines von ihnen dadurch bedroht würde, daß Deutschland eine Angriffspolitik einschlägt oder irgendwelche Initiativen ergreift, die eine solche Politik möglich machen, gemeinsam diejenigen Maßnahmen treffen, "die am geeignetsten sind, einer solchen Bedrohung ein Ende zu setzen". Dieses NOCH fmdet sich im Brüsseler Vertrag zu einer Gleichzeitigkeit des NOCH und SCHON umformuliert: "Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines bewaffneten Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile .. . alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten." In der zum WEU-Vertrag geänderten Fassung des Brüsseler Vertrags ist schließlich das SCHON erreicht: "Die Bundesrepublik Deutschland und die Italienische Republik treten hiermit dem Vertrag in der durch dieses Protokoll geänderten Fassung bei ... Der Absatz der Präambel des Vertrags: "alle Maßnahmen zu treffen, die im Fall der Wiederaufnahme einer deutschen Angriffspolitik als notwendig erachtet werden", wird wie folgt geändert: "Die Einheit Europas zu fördern und seiner fortschreitenden Integrierung Antrieb zu geben."

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In Bezug unmittelbar auf den staatlichen Wiederaufbau war die Gleichzeitigkeit von NOCH und SCHON besonders ausgeprägt und von nachhaltiger Wirkung im Verhältnis zwischen der Alliierten Hohen Kommission einerseits und dem Bundestag und der Bundesregierung [praktisch aber nur dem Bundeskanzler] andererseits. Am 20. September konstituierte sich die Bundesregierung, am Tage darauf trat das Besatzungsstatut in Kraft, mit dem anstelle der Militärregierung eine zivile Alliierte Hohe Kommission eingesetzt wurde. Von nun an standen untereinander in Konkurrenz die auf die Volkssouveränität zurückgehende Regierungsgewalt und die auf Siegerrecht beruhende Besatzungsgewalt. Jene war das SCHON, die beginnende Zukunft, diese war das NOCH, weil früher oder später mit Sicherheit ein Ende findend. Jene besaß den höheren Rang der Legitimation und den Vorteil der Normalität, diese hatte den Nachteil, Ausnahme zu sein. So war jede Forderung oder Maßnahme der AHK ein Eingriff, der der Begründung und Rechtfertigung bedurfte und überdies geeignet war, das politische Ansehen der Regierung und des Parlaments zu schwächen, das doch gerade zu stärken auch im Interesse der Besatzungsmächte lag. Folglich mußten die Hohen Kommissare offene Intervention tunliehst vermeiden und ihre Wünsche in das Gewand von Empfehlungen kleiden. Zwar kam es zwischen Adenauer und den drei Hohen Kommissaren nicht selten zu scharfen Auseinandersetzungen, nicht nur wegen der Interessengegensätze in der Sache, sondern weil bei den Vertretern der Besatzungsmacht die Mentalität des Vorrangs und der Überlegenheit noch nachwirkt. Im Ganzen charakteristischer war jedoch die Praxis der informellen Absprachen. So schlug z. B. Adenauer, als es um die Form ging, wie Deutschlands Beitritt zur Ruhrbehörde vollzogen werden sollte, den Kommissaren vor, ihm einen Brief zu schreiben sowie was in diesem Brief stehen sollte. Daraufhin bemerkte Fran~ois Pon~et: "Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein ... obwohl ein gewisses Paradoxon darin liegt, daß Sie uns sagen, was wir Ihnen zu schreiben haben. Aber wir nehmen dieses Paradoxon gern auf uns. Dann werden wir Ihnen sagen, was Sie uns zu antworten haben." In der Praxis war der Bundeskanzler der alleinige Verhandlungspartner auf dem Petersberg, dem Sitz der AHK. Er sprach dort ftlr die Regierung wie auch ftlr das Parlament. Er übermittelte diesen Verfassungsorganen die Forderungen und Wünsche der Hohen Kommission und mußte dieser ftlr alle Angelegenheiten der Staatstätigkeit Rede und Antwort stehen. Folglich mußte er von allen Ressorts zuverlässige Information bis in die Einzelheiten fordern und überbrachte ihnen Weisungen, gegen die es im Prinzip keinen Widerspruch geben konnte. So war er in der Lage, mit der auctoritas der AHK zu regieren wie einst die römischen Konsuln mit der auctoritas des Senats. Das verschaffte dem Kanzler von Anbeginn an gegenüber Kabinett und Parlament ein zusätzliches Maß an Macht, das die seinem Amt von der Verfassung verliehenen Zuständig-

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keiten zwar nicht überschritt, sie aber so auszuschöpfen nicht nur erlaubte, sondern auch zwang, wie das unter anderen Verhältnissen nicht möglich gewesen wäre. Hier also trug die Gleichzeitigkeit von NOCH und SCHON zur Ausbildung der sog. Kanzlerdemokratie erheblich bei. Ich möchte zum Schluß noch einmal darauf zurückkommen, daß die Hinwendung unseres Volkes zur Demokratie sich mutationsartig vollzog und daher auch mehr oder weniger unreflektiert. Man wollte Demokratie, hatte jedoch keine klaren Vorstellungen, was zu einem demokratischen Staat gehört, und keine Erfahrung mit demokratischer Praxis. Unter diesen Umständen bildete sich eine Auffassung heraus, die erheblich beeinflußt war von der akuten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die damals keineswegs nur von den Besatzungsmächten gefordert wurde, sondern durchaus auch aus eigener Initiative stattfand. Diese Auseinandersetzung war geprägt von der Frage nach der Mitverantwortung des Einzelnen: -hast du vor 1933 die NSDAP gewählt und, wenn ,ja", warum? - hast du durch Mitmachen das Regime unterstützt? - hast du dich durch Unterlassen mitschuldig gemacht? Und daran schloß sich die Mahnung an, sich in Zukunft persönlich verantwortlich zu filhlen, das daß, was geschehen war, nie wieder möglich werden dürfe. So stand die Auffassung von Demokratie ganz im Zeichen der Mitverantwortung des Einzelnen, und zwar betont moralisch und seine tatsächlichen Einflußmöglichkeiten überschätzend. Es war so, als wollte man dem Johann Gottlieb Fichte zugeschriebenen, eigentlich ganz undemokratischen Vierzeiler beherzigen: "Und handeln sollst Du so als hinge von Dir und Deinem Tun allein das Schicksal ab der deutschen Dinge, und die Verantwortung wär Dein." Demgegenüber wurde zu wenig bedacht, daß Demokratie eine Staatsform ist; Freiheit und Gleichheit also eine staatliche Ordnung und das Handeln von Staatsorganen zur Voraussetzung haben. "Ohne Zusammenhang mit der verfassungsmäßigen Ordnung", so kann man in Konrad Hesses "Grundzügen des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland" lesen: "würden die Grundrechte nicht Wirklichkeit werden können." Ich meine, daß bei uns das subjektiv-moralische Moment der Demokratie nach wie vor überbetont wird und das Verständnis filr das objektiv-staatliche Moment zu kurz kommt. So gilt noch immer die Mahnung, die Theodor Heuß schon 1919 formulierte: "Denn kein Staat, auch der demokratischste, kann der Obrigkeit, des Befehlens und Gehorchens entbehren, wenn er nicht zur Karikatur entarten will".

Manfred Wilke VORAUSSETZUNGEN UND BEDINGUNGEN DER ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK I. Die geschichtspolitische Aktualität des Themas: Der Platz der DDR in der deutschen Nationalgeschichte

Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer erinnern sich die Deutschen und die Völker der Welt an das Ende des Zweiten Weltkrieges, an die Befreiung von Auschwitz und den Sieg über die Hitler-Diktatur in Deutschland, die diesen Krieg entfesselte. Im Sommer dieses Jahres werden wir uns an den Abwurf der amerikanischen Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki erinnern, die den Zweiten Weltkrieg schließlich im Pazifik beendeten. Vor allem die Existenz der Atomwaffen sollte in Europa die Führung des Kalten Krieges zwischen dem Westen und der Sowjetunion prägen, zur "Koexistenz" zwingen und die deutsche Einheit über vier Jahrzehnte verhindern. Die Austragung der innerdeutschen Systemauseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur war erst möglich, als das sowjetische Imperium zerfiel. Die Vergewisserung der historischen und weltpolitischen Voraussetzungen der deutschen Teilungsgeschichte ist unerläßlich, wenn wir heute den Weg zur Deutschen Demokratischen Republik, einem untergegangenen Staat, ergründen wollen. Mit der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die alliierten Sieger und der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht schied Deutschland als souveräner Staat aus der Völkergemeinschaft aus. Am 5. Juni 1945 übernahm der alliierte Kontrollrat die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, und das Land wurde faktisch und rechtlich zum Objekt der Politik von vier Siegermächten. Sie legten die neuen Grenzen des deutschen Staatsgebietes fest, verfUgten einzeln und gemeinsam den Verlust der östlichen Provinzen des Reiches ebenso wie die Aussiedlung der deutschen Bewohner und bestimmten im Inneren des Landes Struktur und Tempo des staatlichen Neuautbaus. Die demokratische Ordnung in den westlichen Besatzungszonen wurde ebenso von den alliierten Siegermächten verordnet wie die Errichtung einer kommunistischen Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone. Der Bundespräsident Roman Herzog hat in seiner Antrittsrede am 5. Juli 1994 die alliierte

4 Klein I Eckort

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Geburtshilfe filr die westdeutsche Demokratie deutlich angesprochen, als er die Deutschen aufforderte, auf den Sturz der SED-Diktatur im Herbst 1989 stolz zu sein und dieses Ereignis als erste siegreiche demokratische Revolution in Deutschland zu begreifen. Diese Position des Bundespräsidenten beinhaltet weitreichende Implikationen filr das Verständnis von der Geschichte der demokratischen Ordnung in unserem Land: Bedeutet sie doch, erst durch die Einheitsbewegung der Deutschen in der DDR 1989/90, die die deutsche Teilung überwand, wurde die demokratische Staatsordnung des wiedervereinigten Deutschland vom Volk, dem Souverän, selbst legitimiert. Aber filnf Jahre nach der Wiedervereinigung sah sich der Bundespräsident auch genötigt, darauf aufmerksam zu machen, daß diese politische Leistung der Ostdeutschen "weder im Westen noch im Osten bisher ausreichend gewürdigt" 1 wird. Diese Tagung der Gesellschaft filr Deutschlandforschung ist ein bewußter Beitrag zur laufenden geschichtspolitischen Diskussion in Deutschland, in der es um nichts weniger geht als um das Geschichtsbild filr ein neues politisches Nationalbewußtsein. Die Deutschen müssen heute die weltpolitischen Erfahrungen von vierzig Jahren Teilungsgeschichte in der alten Bundesrepublik und der früheren DDR besprechen und verarbeiten. Im Geschichtsbewußtsein eines selbstbewußten demokratischen Deutschland müssen die Erfahrungen mit zwei Diktaturen, dem Verlust der Souveränität als selbstverschuldete Folge der nationalsozialistischen Kriegs- und Rassenpolitik ebenso präsent sein, wie die Genugtuung über die demokratischen, ökonomischen und sozialen Aufbauleistungen der Bundesrepublik Deutschland als Teil der westlichen Werte- und Bündnisgemeinschaft, die Freude über die demokratische Revolution des Herbstes 1989 in der DDR und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Erst mit ihr gewannen die Deutschen ihre Souveränität vollends zurück. Der spanische Schriftsteller Jorge Semprun hat die Deutschen daran erinnert, daß sie das einzige Volk in Europa sind, "das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muß: Dem Nazismus-Faschismus und dem Stalinismus". 2 Semprun flthrt fort: "In seinem Kopfund Körper hat es diese Erfahrungen erlebt und kann sie nur überwinden - und ohne daß daraus ein Präzedenzfall wird, könnte man in diesem Zusammenhang einmal den Hegelschen Begriff der Aufhebung verwenden - kann sie also nur überwinden, indem es beide Erfahrungen kritisch übernimmt und akzeptiert, um so die demokratische Zukunft Deutschlands zu bereichern. Von dieser hängt ja, wie

1Ansprache

von Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bulletin Nr. 64, S.601, Bonn, den 5. Juli1994. 2Jorge Semprun: Buchenwald - Ein doppeltes Symbol, in: Die Politische Meinung, 40. Jg., Osnabrück, 211995, S. 65.

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ich schon gesagt habe - aber man soll es ruhig wiederholen -, die Zukunft eines demokratisch wachsenden Europas zu einem großen Teil ab". 3 Den von mir vorgetragenen Eckpunkten eines republikanischen Nationalbewußtseins fühle ich mich verpflichtet, und sie sind ftlr mich erkenntnisleitend in meiner zeitgeschichtlichen Forschungsarbeit zur deutschen Teilungsgeschichte. Die quellengestützte Erarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur konnte erst nach der Öffnung ihrer Geheimarchive beginnen. Bezogen auf den Forschungsprozeß heißt das, wir stehen immer noch am Anfang. Und über diesen Anfang der DDR in der Sowjetischen Beatzungszone werde ich - gestützt auf eigene Forschungsarbeiten-vor allem sprechen. "Wesentliche Grundlage der über vierzigjährigen SED-Diktatur war der totalitäre Machtanspruch der sowjetischen und deutschen Kommunisten."4 Mit dieser Feststellung aus dem Bericht der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" sind die Verantwortlichen ftlr die Errichtung der SED-Diktatur benannt, und über ihre Politik gilt es, Klarheit zu gewinnen, und auf ihr Planen und Tun habe ich mich konzentriert. 1/. Die alliierten Vereinbarungen von 1945 als Grundlage und Grenze sowjetischer Politik in Deutschland nach Hit/er

Die alliierten Vereinbarungen über die Nachkriegsordnung in Deutschland erwiesen sich nur in den Punkten als konsensflihig, in denen es um gemeinsame Sicherheit vor erneuter deutscher Aggression ging. So heißt es in der Mitteilung über die Potsdamer Konferenz von 1945: "Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann".5 Zugleich bekundeten sie ihre Absicht, das deutsche Volk weder zu versklaven noch zu vernichten. Die Sieger wollten ihm "die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wieder aufzubauen". 6 Die Siegermächte versprachen die 3Jorge

Semprun, a.a.O., S. 65 f. Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/7820, S. 18. 5Mitteilung der Drei-Mächte-Konferenz von Berlin (Potsdamer Protokoll), Potsdam, 2. August 1945, Signata-Staaten: Sowjetunion, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten, in: Dietrich Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Deutschland. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, NOrdtingen 1985, S. 6. 6 Ebd.

4Bericht der

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Gleichbehandlung der Bevölkerung in ganz Deutschland. Der demokratische Neuaufbau eines deutschen Staatswesens war ein Besatzungsziel, zu ihm sollte eine Dezentralisierung der politischen Strukturen ebenso gehören, wie die kommunale Selbstverwaltung, die Zulassung demokratischer Parteien und die Errichtung von Parlamenten auf Gemeinde-, Kreis- und Länderebene. Eine deutsche Zentralregierung sollte es nicht geben, wohl aber Zentralverwaltungen fiir Finanzen, Transporte, Verkehr, Außenhandel und Industrie, die unter direkter Leitung des Kontrollrates tätig werden sollten. Ein französisches Veto hat ihre Errichtung verhindert. Allein die Konstruktion der alliierten Besatzungsgremien in Deutschland verdeutlichte aber bereits die bestehenden Interessengegensätze unter den Alliierten. Jede Besatzungsmacht übte in ihrer Zone die unumschränkte Regierungsgewalt aus, Probleme, die ganz Deutschland betrafen, sollten im Kontrollrat im Konsensprinzip geregelt werden. Aufstieg und Niedergang von Weltmächten sind die einzige Gesetzmäßigkeit, die die Weltgeschichte kennt, und unter diesem Blickwinkel betrachtet teilten sich die alliierte Kontrolle über das besiegte Deutsche Reich zwei niedergehende europäische Kolonialreiche mit zwei aufstrebenden Weltmächten. Allein schon aus diesem Kräfteungleichgewicht ergaben sich unterschiedliche Zielsetzungen der Mächte hinsichtlich der Nachkriegsordnung in Europa. Die von Henry A. Kissinger vorgenommene Beschreibung der weltpolitischen Ordnungsvorstellungen, von denen sich die Politik der drei Großmächte nach dem Krieg leiten ließ, scheint mir plausibel. Die Ordnungsvorstellungen defmieren gewissermaßen Inhalt und Ziele der alliierten Auseinandersetzungen um Deutschland nach dem Krieg. Nach der Analyse von Kissinger wollte Großbritannien das traditionelle Gleichgewicht der Kräfte wiederherstellen, "um so, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, ein Gegengewicht zum sowjetischen Großreich im Osten zu bilden".7 Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion dagegen hatten andere Vorstellungen über die globale Zukunft. Roosevelt wollte, daß Großbritannien, die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und China im Rahmen der zu gründenden Vereinten Nationen die Rolle von "vier Weltpolizisten" übernehmen, die den Frieden gegen jeden potentiellen Aggressor verteidigen. Stalins Plan schließlich "war ebenso von der kommunistischen Ideologie wie von den Traditionen russischer Außenpolitik geprägt. Ihm kam es vor allem darauf an, im Falle eines sowjetischen Sieges gleichsam die Gewinne einzustreichen und den sowjetischen Einfluß bis weit nach Mitteleuropa hinein auszudehnen. Die Territorien, die die sowjetischen Armeen erobern konnten, sollten zu Satellitenstaaten

7Henry A. Kissinger: Die Vernunft der Nationen über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S.

420.

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umgestaltet werden, um die Sowjetunion mit Hilfe dieser Pufferzone vor einem weiteren AngriffDeutschlands zu schützen".8 Die Interessengegensätze der alliierten Sieger machten es ihnen zunehmend unmöglich, eine gemeinsame Grundlage fUr einen Friedensvertrag mit Deutschland zu fmden. Die Frage, welche Macht wird über das deutsche Potential verfUgen, verdrängte in dem ausbrechenden Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den Westmächten zunehmend die gemeinsame Furcht vor erneuter deutscher Aggression. Für beide Machtgruppierungen wurde jetzt die Frage immer wichtiger, wo orientieren sich die Deutschen hin, nach West oder Ost? Solange aber der Alliierte Kontrollrat fUr alle vier Besatzungszonen zuständig blieb, bestand die Hoffuung, daß Deutschland zumindest als einheitliches Wirtschaftsgebiet erhalten blieb. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte die Sowjetunion in der Verfolgung ihrer Reparationsforderungen auch em sehr materielles Interesse an der Aufrechterhaltung der Vier-Mächte-Verwaltung. Sie war 1945 und noch 1946 bestrebt, inneralliierte Konflikte in der Verwaltung von Vier-Zonen-Deutschland zu begrenzen. Die Sowjetisierung der eigenen Besatzungszone - als unaufgebbares Faustpfand des eigenen Sieges - mußte in Formen erfolgen, die eine "antifaschistische" Einflußnahme auf ganz Deutschland nicht ausschlossen. 9 Aber der Bruch unter den alliierten Siegern war unaufhaltsam, in der Reparationsfrage erfolgte er bereits 1946, und im gleichen Jahr vereinbarten die Amerikaner und Briten die Bildung dt:r Bi-Zone. 1947 scheiterten die alliierten Außenministerkonferenzen über Deutschland, und 1948 fielen mit der Währungsreform, der sowjetischen Berlin-Blockade und der Entscheidung der Westmächte ftlr den Weststaat die alliierten Würfel in der Teilungsgeschichte. Aus den Grenzen der Besatzungszonen von 1944 wurde 1948 eine Teilungsgrenze zwischen den Westzonen und der SBZ. Die 1949 entstandenen beiden deutschen Teilstaaten waren eingebunden in die weltpolitische Systemauseinandersetzung, beide erhoben wechselseitig als demokratischer oder diktatorischer Kernstaat filr das ganze Deutschland einen Alleinvertretungsanspruch. l/1. Die Planungfor den Kalten Krieg durch die exilierte

KPD-Führung in Moskau 1944/45

Die deutschen Kommunisten waren auf den alliierten Kampf um Deutschland eingestellt. Noch während der alliierten Gipfelkonferenz von Teheran 1943 zitierte G. Dimitroff die Moskauer KPD-Führung zu einem Gespräch. Der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Internationale war 8Henry

A. Kissinger, a.a.O. S. 420 f. Andreas Hillgruber: Deutsche Geschichte 1945-1986. Die "deutsche Frage" in der We1tpolitik, Stuttgart, 1983, zit. nach der 7. Auflage 1989, S. 19.

9Vgl.

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auch nach ihrer formalen Auflösung im Juni 1943 als Funktionär der KPdSU weiterhin verantwortlich ftir die "Anleitung" 10 der KPD. Dimitroff eröffuete W. Pieck, W. Florin, A. Ackermann und Walter Ulbricht, das Ende der nationalsozialistischen Diktatur wird wahrscheinlich nicht durch einen von der KPD geftihrten revolutionären Umbruch in Deutschland herbeigefilhrt, sondern allein durch den militärischen Sieg der alliierten Armeen. In Florins Notizen heißt es: "Das bedeutet die Okkupation durch die Mächte"!' Diese Prognose über das Ende der nationalsozialistischen Diktatur und die Folgen filr Deutschland bestimmten in der Folgezeit die politischen Planungen der KPDFührung ftir die innere Umgestaltung Deutschlands, mit denen sie, beauftragt durch Dimitroff, im Februar 1944 begann. Die Mitglieder der damals geschaffenen zwanzigköpfigen Arbeitskommission waren ausschließlich langjährige erprobte Funktionäre der KPD, die zumeist auch im Apparat der Kommunistischen Internationale gearbeitet und ihre Schulen durchlaufen hatten. Es waren Kader, die aus den Stalinschen Kommunistenverfolgungen der dreißiger Jahre "linientreu" und diszipliniert hervorgegangen waren. 12 Parallel mit dem Beginn der Kommissionsarbeit stellt die Moskauer Exilregierung Überlegungen darüber an, welche Kader die erarbeitete "Linie" in die politische Gestaltung Nachkriegsdeutschlands einbringen sollten. 13 Schon in dem programmatischen Referat von Florin vom 6. März 1944 geht die KPD davon aus, die Gestaltung der inneren Ordnung Deutschlands und seine außenpolitische Orientierung sind nach dem Ende des Krieges offen und Gegenstand der zukünftigen innen- und 10"Anleitung"

und das dazugehörende Verb sind Schlüsselworte in der Parteisprache der Kommunisten. Von "Anleitung" ist immer dann die Rede, wenn Befehlen und Kommandieren gemeint ist. 11 Peter Erler/ Horst Laudei Manfred Wilke (Hg.): Nach Hitler kommen wir. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-FUhrung 1944/45 ftlr Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 73, künftig zit. nach: Nach Hitler kommen wir. 12Kader ist ein SchlUsseibegriff kommunistischer Herrschaftsorganisation, er stammt aus der Militärsprache und bezeichnet dort den Stammbestand einer Annee und insbesondere die zu ihrer Führung erforderlichen Offiziere und Unteroffiziere. Eine analoge Bedeutung hat der Kaderbegriff bei Stalin: "Die Parteikader sind der Kommandobestand der Partei, und da unsere Partei sich an der Macht befindet, stellen sie zugleich auch den Kommandobestand der leitenden Staatsorgane dar. Nachdem eine richtige politische Linie ausgearbeitet und in der Praxis erprobt ist, sind die Parteikader die entscheidende Kraft der Partei- und Staatsftlhrung. ... Um aber die richtige politische Linie in die Tat umzusetzen, braucht man Kader, braucht man Menschen, die die politische Linie der Partei verstehen, die diese Linie als ihre eigene Linie betrachten, die bereit sind, sie in die Tat umzusetzen, die es verstehen, sie in der Praxis zu verwirklichen, und fllhig sind, diese Linie zu verantworten, zu verfechten, ftlr sie zu kämpfen. Sonst läuft man Gefahr, daß die richtige politische Linie auf dem Papier bleibt." J. Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag Uber die Arbeit des ZK der KPdSU (B), 10. März 1939, in: J. Stalin, Fragen des Leninismus, Moskau 1947, unveränderter Nachdruck 1950, zit. nach 4. Auflage, Berlin (Ost) 1951, S. 715. 13 Vgl. Peter Erler: Heeresschau und Einsatzplanung. Ein Dokument.zur Kaderpolitik der KPD aus dem Jahre 1944, in: Klaus Schroeder (Hg.): Geschichte und Transfonnation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 52 ff.

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weltpolitischen Auseinandersetzungen. Zu einem Zeitpunkt, da die zweite Front in Frankreich noch nicht eröffnet ist, hat Florin bereits die kommende Auseinandersetzung in Europa zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im Blick. Für ihn steht schon fest: Die Systemauseinandersetzung zwischen West und Ost wird die künftigen Konflikte in Deutschland um seine "innere Umgestaltung" prägen. Er bringt die Einordnung der politischen Kräfte in Deutschland auch auf die außenpolitisch bestimmte Grundfrage: Ost- oder Westorientierung? Zugleich formuliert er die taktische Sprachregelung, mit der die deutschen Kommunisten künftig diese Grundfrage umschreiben werden: "Wir stellen nicht die Frage so: Ost- oder Westorientierung? Wir sagen: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und besonders enge Freundschaft mit der Sowjetunion. Wir müssen uns heute schon darauf einstellen, daß das Problem enger Freundschaft mit der Sowjetunion morgen noch viel mehr ein Problem der Lebensexistenz des deutschen Volkes und Deutschlands ist, und daß das noch viel schärfer als Scheidelinie zwischen Reaktion und Fortschritt hervortritt als heute". 14 Zugleich lieferte aber die Existenz der Anti-Hitler-Koalition auch die Begründung filr den Verzieht auf eine sozialistische Programmatik der KPD und für ein schrittweises Vorgehen auf dem Weg zur Macht. Florin sagte am 6. März 1944 in Moskau: "Die innere Umgestaltung Deutschlands wird stark beeinflussen, wie die Völkergemeinschaft in Europa aussehen wird. Reaktionäre Kreise in den Vereinigten Staaten und England betrachten mit äußerstem Mißtrauen, welche Schritte die KPD macht, und welche Politik das Nationalkomitee 'Freies Deutschland' betreibt. Ihre eigenen Pläne sind gegen unsere nationalen und sozialen Interessen und gegen eine wirklich demokratische Völkergemeinschaft gerichtet. Vor uns stehen deshalb eine Reihe Aufgaben, die alle miteinander verquickt sind. I. Das Bündnis der drei Großmächte weiter zu unterstützen und nichts zu unternehmen, was der Reaktion in den Vereinigten Staaten und England erlauben könnte, dieses Bündnis zum Bruch zu treiben; 2. Doch gleichzeitig die Pläne der reaktionären Kräfte hinsichtlich Deutschlands zu durchkreuzen und 3. hinsichtlich der inneren Umgestaltung Deutschlands das weitgehendste, was die internationale Lage und die Kräfteverhältnisse in Deutschland selbst erlauben, zu erreichen. Wenn wir dem Drängen von Kriegsgefangenen heute nachgeben und ein sozialistisches Aktionsprogramm aufstellen würden, so könnte ein solcher Fehler schon der Reaktion erleichtern, den Sturz Roosevelts herbeizuführen, was auch unser Schaden wäre. Alle unsere zentralen Programmlosungen können und dürfen deshalb nur ausgerichtet sein auf den Sturz des Faschismus, die

14Wilhelm

Florin: Die Lage und die Aufgaben in Deutschland bis zum Sturz Hitlers handschriftliche Ausarbeitung ftlr das Referat vor der Arbeitskommission, auf der Sitzung am 6. März 1944, in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 144.

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Niederringung der aggressiven imperialistischen Kräfte und die Erkämpfung der bürgerlichen Demokratie als die Herrschaft des Volkes". 15 Wenn uns auch keine sowjetischen Anleitungsdokumente zugänglich waren, so umschreibt Florin doch deutlich das Kernproblem, vor dem die sowjetische Politik in Deutschland nach Besetzung des Landes stehen wird: Bewahrung der alliierten Koalition, um in Deutschland selbst, geftlhrt von den deutschen Kommunisten, die innenpolitischen Kräfteverhältnisse so zu verschieben, daß die Ostorientierung des Landes durchgesetzt wird. Eine solche Position ermöglichte der Sowjetunion die Verfolgung verschiedener deutschlandpolitischer Optionen. Das wichtigste Kriterium ftlr die Unterscheidung der politischen Kräfte im Vier-Zonen-Deutschland war ftlr und von der KPD formuliert: Wie ist ihre Haltung zur Sowjetunion. Diese Grenzlinie galt natürlich zuerst und vor allem ftlr die deutschen Kommunisten und ihre Bündnispolitik Florin weiß 1944, wer in diesem Spiel der Herr und der Knecht ist, er bestimmt Rolle und Bedeutung der KPD nach Hitler nicht aus der Interessenlage der deutschen Arbeiterklasse, sondern aus ihrer Funktion ftlr die sowjetische Deutschlandpolitik Kurz und bündig befindet er: "Deutschland ohne starke KP ist eine Gefahr ftlr die Sowjetunion". 16 In einer Lektion in der Parteischule der KPD im März 1945 skizziert Pieck das unterschiedliche Verhältnis der Besatzungsmächte zur KPD. In den westlichen Besatzungszonen rechnet er damit, daß die Besatzungsmächte die Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft stärken, um damit "ein Gegengewicht gegen den wachsenden Einfluß der SU zu schaffen". 17 Ganz anders sah ftlr Pieck die Perspektive ftlr seine Partei in der sowjetischen Besatzungszone aus, "sowohl was den Einsatz unserer Kader angeht, als auch die Zusammenarbeit und die Übereinstimmung in Ziel und Durchftlhrung unserer Aufgaben". 18 Das Referat von Pieck erläutert die Beschlüsse der Konferenz von Jalta und bereitet die Parteischüler auch darauf vor, daß die Kommunisten selbst in der sowjetischen Besatzungszone unmittelbar nach dem Krieg Beschränkungen erfahren werden, und alle Macht in den Händen der Besatzungsmacht liegen wird. Zugleich ist aber auch die Anwesenheit sowjetischer Truppen in Deutschland ftlr Pieck die Garantie ftlr die Eroberung der Macht durch die KPD, deren Spielraum aber begrenzt wird durch die Vorgaben der sowjetischen Politik. 19 15 Wilhelm Florin: Die Lage und die Aufgaben in Deutschland ..., a.a.O., S. 142 f. 16Wilhelm 17Wilhelm

Florin: Die Lage und die Aufgaben in Deutschland, a.a.O., S. 156.

Pieck: Probleme des Kampfes filr ein neues Deutschland- handschriftliche Disposition ftlr eine Lektion auf dem zweiten Lehrgang der Parteischule der KPD, am l. März 1945 vorgetragen, in: Peter Erler, Horst Laude, Manfred Wilke (Hg.): Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S.371 18 Ebd. 19In einem Diskussionsbeitrag von Pieck auf einer Veranstaltung der 7. Abteilung der politischen Hauptverwaltung der Arbeiter-und-Bauern-Armee (PURKKA) im November/Dezember 1944

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IV. Der Weg zur DDR

Die Stationen auf dem Weg zur Deutschen Demokratischen Republik, die 1949 als zweiter deutscher Teilstaat entstand und Bestandteil des sowjetischen Imperiums war, sind bekannt. Umstritten ist bis heute die Deutung dieses Weges: War es eine "antifaschistisch-demokratische Umgestaltung", oder wurde die Herrschafts- und Gesellschaftsordnung der Stalinschen Sowjetunion auf eine bürgerliche Gesellschaft nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewa:ltherrschaft von den deutschen Kommunisten übertragen? Noch vor der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht werden von der sowjetischen Besatzungsmacht in Berlin und anderen Zentren ihrer Besatzungszone deutsche Verwaltungen geschaffen, bei deren personeller Besetzung deutsche Kommunisten bereits mitwirken und Schlüsselstellungen übertragen bekommen. "Erstmals erhielten Kommunisten in Deutschland filhrende Verwaltungspositionen, und das, bevor ihre Partei offiziell zugelassen war". 20 Unmittelbar nach Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Alliierten entstand im Juni in der sowjetischen Besatzungszone die "Sowjetische Militäradministration in Deutschland" (SMAD). Bis zu ihrer Auflösung im Oktober 1949 war sie in allen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturpolitischen Fragen die oberste Instanz in ihrer Besatzungszone. In ihrem Befehl Nr. 2, der einen Tag nach ihrer Konstituierung erlassen wurde, erlaubte die SMAD die Bildung von antifaschistisch-demokratischen Parteien, und ermöglichte so ein pluralistisches Parteiensystem. Gestützt auf die "Aktionseinheit" zwischen KPD und SPD schlossen sich die vier von der SMAD genehmigten Parteien (CDU, LDPD, KPD, SPD) im Juli zu einer "Einheitsfront der antifaschistischdemokratischen Parteien" zusammen. In diesem Block wollten sich die Parteifilhrungen auf eine gemeinsame Politik verständigen. Nicht der Konkurrenzkampf, der zwischen parlamentarischen Parteien üblich ist, stellte die Verfahrensregel dar, sondern das Konsensprinzip.

gab Pieck Auskunft Uber Geist und Perspektive der KPD-Politik: "Wir Kommunisten sind Marxisten/Leninisten und kämpfen ftlr die Verwirklichung der Lehren von Marx-Engels-Lenin u. Stalin. Aber wir unterscheiden zwischen Weltanschauung und politischem Kampfprogramm. Wir werben ftlr unsere Weltanschauung und suchen das werktätige Volk zum Sozialismus zu filhren. Das werden wir auch im neuen Deutschland tun, aber immer in Gemeinschaft mit allen, die unserem Volk helfen wollen, aus dieser Misere herauszukommen, und aufgrund der vom Volk selbst gemachten Erfahrungen. Daß dieser Weg zu Größe, Kraft und Wohlstand fUhrt, daftlr hat das Sowjetvolk den Beweis erbracht - und warum sollten wir unser Volk nicht auch dahin bringen." Wilhelm Pieck: Über das Verhältnis von Kommunisten und Kriegsgefangenen im NKFD - handschriftliche Disposition ftlr eine Rede auf einer Zusammenkunft mit Vertretern der PURKKA und Mitgliedern des NKFD o.D. (November/Dezember 1944), in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 309. 20Hemnann Weber: Die DDR 1945-1986, München 1988, S. 3.

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In dem vom Krieg verwüsteten Land war die Koordination der Kräfte geboten, und der Block der Parteien stellte gewissermaßen eine Notstandskoalition dar. Aber die Kommunisten verstanden ihn keineswegs als Koalition, sondern auf der Grundlage ihrer Programmatik beanspruchten sie, die anderen Parteien zu fiihren.

Im Juli ernannte die SMAD Landesverwaltungen fiir die Länder Sachsen, Thüringen und Mecklenburg sowie Provinzialverwaltungen fiir die Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Noch vor Zusammentritt der alliierten Konferenz von Potsdam errichtete die SMAD außerdem deutsche Zentralverwaltungen, die aber nicht mit der Aufgabe betraut wurden, die Landesverwaltungen in der SBZ "anzuleiten". Die Etablierung von 11 Zentralverwaltungen, in denen die Kommunisten entscheidende Positionen besetzten (aus ihren Reihen kamen die Präsidenten fiir Volksbildung, Finanzen, Arbeit- und Sozialfilrsorge sowie Landwirtschaft), besaßen in der damaligen Situation eine Doppelfunktion. Zum einen nahmen sie die von den Alliierten diskutierten deutschen Zentralverwaltungen filr das Reich vorweg, und zum anderen dienten sie als "Hilfsorgane der Militäradministration"/ 1 in denen die notwendige Fachkompetenz versammelt war, um die administrative Umgestaltung der deutschen Staatsorgane durch die SMAD in Angriff nehmen zu können. Bis Mitte 1947 werden filnf weitere Zentralverwaltungen eingerichtet, so u.a. im Juli 1946 die Deutsche Zentralverwaltung des Inneren, in der Erich Mielke bereits Vizepräsident war. 22 Das Beispiel der Zentralverwaltungen verweist zugleich auf den zentralen Widerspruch in der sowjetischen Besatzungspolitik, sie verfolgte sowohl die Sicherung ihrer Besatzungsmacht in der eigenen Zone als auch eine gesamtdeutsche Option, die der Sowjetunion ein Mitspracherecht über Gesamtdeutschland sichern sollte. In dem Maße, wie die westlichen Alliierten demokratische Strukturen in ihren Besatzungszonen zuließen, und die nichtkommunistischen Parteien sich auf einen antikommunistischen Konsens einigten, mußte diese gesamtdeutsche Option, die in den Zentralverwaltungen von 1945 lag, notwendigerweise verkümmern. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird dieser Widerspruch zugunsten der Sicherung des Erreichten von der Sowjetunion aufgelöst, und hierfilr sind die Zentralverwaltungen ein gutes Beispiel, aus ihnen erwächst der zentrale Staatsapparat der DDR. Dieser Weg beginnt im Juli 1947, als die SMAD eine "Deutsche Wirtschaftskommission" (DWK) einsetzt, die zunächst die Länder- und Zentralverwaltungen koordinieren soll, und vor allem die Aufgabe hat, die zentrale Wirtschaftsplanung aufzubauen. Damit entstand in

21 Herrmann

Weber: Die DDR 1945-1986, a.a.O., S. 8. Dieter Mare Schneider: Innere Verwaltung/Deutsche Verwaltung des Inneren (DVdi), in: Martin Broszat/Herrnann Weber: SBZ-Handbuch, München 1990, 5. 207 ff.

22Vg1.

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der SBZ die erste zentrale deutsche Instanz fiir die gesamte Zone, der dann im Februar 1948 von der SMAD gesetzgeberische Vollmachten übertragen wurden. Die Gründung der DWK erfolgte unmittelbar nachdem in Frankfurt der Wirtschaftsrat fiir das "Vereinigte Wirtschaftsgebiet" aus britischer und amerikanischer Besatzungszone seine Tätigkeit aufnahm, der filr die Länder dieser beiden Zonen Gesetze und Ausfilhrungsbestimmungen erlassen konnte. Wirtschaftsrat und DWK sind Synonyme filr das Auseinanderdriften der Besatzungszonen in die beiden deutschen Teilstaaten mit unterschiedlicher Wirtschaftsordnung. Scheinbar tun die westlichen Alliierten ab 1946 die ersten Schritte zur Verfestigung der Teilung. Geht man nach den Proklamationen, so treten die Sowjetunion und die KPD/SED immer als Hüter der deutschen Einheit auf; nimmt man aber die politische Praxis als Maßstab fiir das Urteil, so bereiten SMAD und KPD/SED praktisch mit jedem ihrer Schritte die Spaltung vor und stellen die Nichtkommunisten immer wieder vor die Frage: Unterwerfung oder Widerstand. Augenflillig wird dies bereits im Herbst 1945, als die anderen Parteien in der SBZ die Privilegierung der Kommunisten durch die Personalpolitik der sowjetischen Militäradministration in den neu entstehenden deutschen Verwaltungen diskutieren. So schreibt beispielsweise Otto Buchwitz, Landesvorsitzender der SPD in Sachsen, im September 1945 an Otto Gratewohl, dem Vorsitzenden des Zentralausschusses der SPD in der SBZ: "Die Personalpolitik in Sachsen ist bald nicht mehr tragbar. Eine ganze Menge unserer Genossen in leitenden Stellungen in größeren und mittleren Städten sind von den russischen Kommandanten abgesetzt und durch Kommunisten ersetzt worden. Aus der Polizei werden fortlaufend unsere Leute entfernt und Korn. . "23 mumsten erngesetzt . Bei der Besetzung von Schlüsselpositionen in der deutschen Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone war es nach unseren derzeitigen Erkenntnissen im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin die Führung der KPdSU, die entschied. So teilt Dimitroff in einer Notiz filr Molotov und Malenkov im März 1945 mit, daß Hans Mahle im Rundfunk eingesetzt wird?4 Wir haben es hier mit einer Kaderabstimmung unter sowjetischen Instanzen zu tun. Jan Foitzik schreibt, daß mit der Planung der sowjetischen Nachkriegspolitik im August 1943 ein kleiner Stab des Volkskommissariats filr auswärtige Angelegenheiten die Arbeit aufnahm und beim Rat der Volkskommissare unter der Leitung des stellvertretenden Außenministers Iwan M. Maiski eine Sonder23 Schreiben

von Otto Buchwitz an Otto Grotewoh1 vom 23. September 1945, in: Andreas Malycha: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokraten und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ, Bonn 1995, S. 87. 24Michae1 Kubina: Der Aufbau des Zentralen Parteiapparates der KPD, a.a.O., S. II.

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kommission fiir Reparationsfragen gebildet wurde. "Die Planung und Koordinierung der ökonomischen ·Entwaffnung' oblag einem ebenfalls schon 1943 beim Rat der Volkskommissare der UdSSR gebildeten 'Komitee zur Wiederherstellung der Volkswirtschaft in den befreiten Gebieten' unter der Federführung von Georgie M. Malenkov, damals Sekretär und Leiter der Kaderverwaltung des ZK der KPdSU. Eine Kommission für die Arbeit in den befreiten Gebieten bestand ab 1943 auch beim ZK der KPdSU. In ihr hatten die ehemaligen Spitzen-Funktionäre der Komintern, Dimitrij S. Manuilski, und Georgi Dimitrov, leitende Positionen inne".25 Die Gebietskörperschaften in der SBZ entstehen als Gemeinde- und Landesverwaltungen scheinbar in gewohnter Form, sie werden von den Nationalsozialisten gesäubert und neu besetzt. Die von Buchwitz im Herbst 1945 angesprochene Personalpolitik der sowjetischen Militärverwaltung verweist aber bereits auf ein anderes Strukturmodell staatlicher Ordnung, nach dem hier vorgegangen wird. Schlüsselpositionen der Verwaltung werden von Kommunisten, im Verständnis der SMAD also von Kadern besetzt. Zwar hatten sowohl die Sowjets als auch die KPD eine erneuerte parlamentarische Republik als deutsche Staatsform versprochen, aber die Konflikte um die Wahlen und die Veränderungen im Parteiensystem der SBZ zeigten den Konflikt um die künftige deutsche Staatsform in aller Schärfe. Eine entscheidende Zäsur im deutschen Parteiensystem geschieht mit der Ausschaltung der Sozialdemokratie als eigenständige Partei durch die Fusion mit der KPD zur "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) im Jahre 1946. Das Bekenntnis der KPD zum Parlamentarismus in ihrem Gründungsaufruf vom Juni 1945 meinte immer einen Scheinkonstitutionalismus, das erwies sich im Vorfeld der anstehenden Kommunal- und Landeswahlen im Vier-ZonenDeutschland. Als die SPD in der SBZ die KPD an Mitgliedern und Einfluß im Herbst 1945 zu übertreffen begann, betrieben die Kommunisten jetzt die von ihnen im Juni 1945 noch abgelehnte Vereinigung der beiden Arbeiterparteien, die damals von den Sozialdemokraten vorgeschlagen wurden. Die Machtsicherung der KPD vertrug keine Parteienkonkurrenz. Aber so wichtig die Initiativen von Pieck und Ulbricht auch gewesen sein mögen, entschieden haben sie diesen Kurs nicht. Die Frage der Vereinigung von KPD und SPD wurde seit dem Oktober 1945 innerhalb der SMAD beraten, im November war man im Militärrat der SMAD zu der Überzeugung gekommen, "daß, wenn die politische Ver25Jan

Foitzik: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD), in: Martin Broszat!Hennann Weber: SBZ-Handbuch, a.a.O., S. II f. Somit infonniert Dimitrov als Verantwortlicher ftlr den Einsatz der KPD-Funktionäre in Deutschland die verantwortlichen Politbüromitglieder Molotov, Außenminister, und Malenkov über seine Kaderentscheidung bezüglich der Besetzung der Leitung des Berliner Rundfunks.

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einigung der Arbeiterpartei nicht zustande kommt, wir bei diesen Wahlen eine Niederlage erleiden werden". 26 Der Militärrat wandte sich in dieser Frage an Stalin, und bis zum Mai 1946 tut die SMAD alles, um die Parteien zu vereinigen. Die Gründung der SED gelang für die SBZ, und sie wurde ihrer "filhrenden Rolle" gerecht; zugleich mobilisierte die Unterdrückung der SPD in der SBZ ein Jahr nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur den Willen zur antikommunistischen Selbstbehauptung der Partei in den Westzonen und den Westsektoren von Berlin, und damit wird die SED-Gründung zu einer Zäsur der Teilungsgeschichte. Besonders die Wahlen in Berlin im Oktober 1946, die die SED verlor, zeigten der SMAD und der SED sehr deutlich, daß die SED in freien Wahlen in Deutschland keine Chance besaß, die angestrebte politische Hegemonie mit der freiwilligen Zustimmung einer Mehrheit der Wähler zu verbinden. Die programmatisch geforderte parlamentarische Republik erwies sich nun in der Realität der SBZ als ein Scheinkonstitutionalismus, der die politische Macht des nur von der KPdSU kontrollierten zentralen Parteiapparates der SED öffentlich kaschieren sollte. Die deutschen Kommunisten beschritten nun offen den Weg der weiteren Umwandlung der sowjetischen Besatzungszone in eine "Volksdemokratie" nach dem Muster der Staaten, die in Europa von der Sowjetunion beherrscht wurden. Dieser Weg zur offenen Übertragung des sowjetischen Referenzmodells auf die SBZ wurde aber propagandistisch verknüpft mit einer plebiszitären gesamtdeutschen Initiative: Der Volkskonkreßbewegung. Ende Oktober 1947 drängte die SED im zentralen Blockausschuß darauf, zur bevorstehenden Londoner Außenministerkonferenz der alliierten Mächte über Deutschland eine gesamtdeutsche Willensmanifestation zu organisieren, um die auf Vereinigung .gerichtete Deutschlandpolitik der Sowjetunion zu unterstützen. Die Volkskongreßbewegung, als außerparlamentarische Massenbewegung organisiert, veranstaltete im Dezember 1947 ihren ersten Kongreß in Berlin. Über 2.000 Personen, darunter einige hundert aus den Westzonen, versammelten sich und forderten den Abschluß eines Friedensvertrages, die Einsetzung einer gesamtdeutschen Regierung und die Einheit Deutschlands. Die Volkskongreßbewegung mündet in die Gründung der DDR und verlieh ihr eine demokratische Scheinlegitimation. 27 Die DDR wird bei ihrer Gründung als sozialistischer Kernstaat fiir ganz Deutschland proklamiert, die Wiedervereini-

26Sergej

Tjulpanov: Rechenschaftsbericht auf der Sitzung der Kommission des ZK der KPdSU (B) zur Kubina: Der Aufbau des Zentralen Parteiapparates der KPD -vom Gründungsaufruf der KPD im Juni 1945 bis zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD im April 1946 in der SBZ, unveröffentlichtes Manuskript, S. 6. 27Vgl. Manfred Koch: Volkskongreßbewegung und Volksrat, in: Martin Broszat/ Hermann Weber (Hg.): SPB-Handbuch, a.a.O., S. 349 ff.

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gung auf sozialistischer Grundlage wird als Option bis 1989 von der SED nicht aufgegeben. Die einzelnen Stationen auf dem Weg zur DDR zeigen, daß die Sowjetunion nach 1945 im Vier-Zonen-Deutschland keinen Teilungsplan verfolgte. Die Machtsicherung in ihrer Besatzungszone, ausgeübt durch ihre deutschen Kader von der KPD, kombinierte sie in den alliierten Verhandlungen mit der Aufrechterhaltung ihres Kontroll- und Mitspracheanspruchs auf ganz Deutschland. Die Sicherung ihrer Besatzungsmacht in der eigenen Zone und diese gesamtdeutsche Option, die nur als Neutralisierung eines nichtkommunistischen Deutschlands vorstellbar war, gerieten immer mehr in Widerspruch, als sich der westalliierte Wiederstand gegen die sowjetische Politik in Europa mit der Ablehnung des sowjetischen Referenzmodells durch die Mehrheit der Deutschen miteinander verband. Die Entstehung der DDR bedeutet das Ende der sowjetischen Option, die Kontrolle über Gesamtdeutschland aufrecht zu erhalten. Aber die DDR war nur ein Teilstaat in einer gespaltenen Nation, und ihre Labilität sollte sich sehr schnell erweisen. Die Bauarbeiter der Berliner Stalinallee machten am 16. Juni 1953 die mangelnde Legitimität der SED-Herrschaft in der DDR vor aller Welt deutlich, und nur das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht verlängerte ihre Existenz um 36 Jahre. Und ohne die Unterstützung der Sowjetunion hätte die DDR auch niemals ihre internationale Anerkennung als souveräner Staat und die Aufnahme in die UNO durchsetzen können. Der SED-Führung war ihre Abhängigkeit vom sowjetischen Schutz bis zu ihrem Ende bewußt, und in den Blockkrisen 1968 in der Tschechoslowakei und in Polen 1980/8e8 agierte die SED als treuer Vasallenstaat, der jede nationale Eigenständigkeil ihrer "Bruderstaaten" entschlossen bekämpfte. V Das sowjetische Reforenzmode/1 Die Weichen filr die Entstehung der DDR als zweiter deutscher Teilstaat werden bereits mit der Bildung der Sowjetischen Besatzungszone gestellt. Um die immer noch strittige Frage zu beantworten, ob die sowjetische Besatzungsmacht eine "antifaschistisch-demokratische Neuordnung" den Deutschen gestattete, oder ob wir von einer "Sowjetisierung" dieses Teils von Deutschland sprechen müssen, ist es notwendig, auf einige Elemente der despotischen Herrschaftsstruktur der Stalinschen Sowjetunion einzugehen, die filr die sowjetischen Politfunktionäre in Uniform, aus denen die SMAD bestand, und der aus dem Moskauer Exil zurückkommenden KPD-Führung verbindliche Vorbildfunktion besaß. Meine These: Die sowjetischen und deutschen Kader folgten in

28Vgl.

Michael Kubina/ Manfred Wilke (Hg.): Hart und kompromißlos durchgreifen. Die SED kontraPolen 1980/81, Berlin 1995.

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ihrem Herangehen an die Lösung filr ihre demokratische Neuordnung Deutschlands dem Geist dieses sowjetischen Referenzmodells. Charakteristisch und offenkundig filr die Organisation der sowjetischen Gesellschaft war die "filhrende Rolle" der Kommunistischen Partei. In den Worten von Stalin: "Die Partei ist die grundlegende filhrende Kraft im System der Diktatur des Proletariats". 29 Der Staat ist filr die Marxisten-Leninisten Klassenstaat, gegründet auf Gewalt und in seiner Aufgabendefmition negativ auf Unterdrückung ausgerichtet. Für Stalin ist der Staat "eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstandes ihrer Klassengegner. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats ihrem Wesen nach durch nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie".30 Die "filhrende Rolle der Kommunistischen Partei", die Auffassung vom Staat als Klassenstaat, waren ebenso Bestandteile des Referenzmodells, wie die Orientierung am Scheinkonstitutionalismus der Stalinschen Verfassung von 1936, die der Diktator als Sieg der "restlos konsequenten Demokratie in der Sowjetunion"31 feierte. Aber ein Aspekt des sowjetischen Referenzmodells bedarf der besonderen Hervorhebung, und das ist der strukturelle Universalismus der sowjetischen Kaderverwaltung, deren Prinzipien die Priorität der Macht und der Willenseinheit des Systems verkörperten. Die Personalbesetzung von Schaltstellen in Staat, Wirtschaft und Kultur wurden zentral und einheitlich behandelt. An dieser Stelle ist es angebracht zu zitieren, was Borys Lewytzkyj über die Konzeption von Kaderpolitik im System der Stalinschen Despotie schrieb. Stalin ging von der richtigen These aus, "daß die Schlüsselpositionen in wirtschaftlichen, staatlichen und sogar gesellschaftlichen Organisationen mit Fachleuten besetzt werden sollten, die das volle Vertrauen der Partei genossen. Durch ständige sorgfältige Auslese entstand bereits Ende der dreissiger Jahre eine ziemlich geschlossene Gruppe von Fachleuten auf technischem Gebiet und in der Verwaltung. In Gestalt einer in keinem Gesetz vorgesehenen Institution, der sogenannten Nomenklatura, schuf sich die Parteibürokratie ein Instrument, um in der ganzen sowjetischen Gesellschaft Auslese, Einsatz und Verteilung der Kader unter ihre Kontrolle zu bringen .... Die Nomenklatura ... ist eine Liste von Personen und Posten, auf die die Partei Verfilgungsanspruch erhebt"32 • Voraussetzung filr die Umsetzung der universellen Kaderverwaltung war ein auf diese Aufgabe hin strukturierter Parteiapparat. 29Josef

W. Stalin: Zu den Fragen des Leninismus, in: J. Stalin: Fragen des Leninismus, Berlin (Ost) 1951, S. 150. 301. Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus, a.a.O., S. 43. 3 11. Stalin: Über den Entwurfder Verfassung in der UdSSR, a.a.O., S. 645. 32Borys Levytzkyi: Die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Portrait eines Ordens, Stuttgart, 1967, S. 165.

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Nach dem Massenterror, der sich in den Jahren 1936 bis 1938 gegen die eigene Partei und ihre Funktionäre richtete, reorganisierte Stalin 1939 den zentralen Apparat der KPdSU. Er forderte eine strenge Zentralisierung der Tätigkeit der einzelnen ZK-Abteilungen, "wie er sagte, 'von oben nach unten'. Auf dem Gebiet der Kaderpolitik verlangte er zum Beispiel, daß beim ZK der KPdSU (B) eine Kaderverwaltung geschaffen werde und entsprechende Kaderabteilungen bei den Zentralkomitees der KP der Republiken wie auch bei den Gebiets- und Landesparteikomitees. Diese sollten die gesamte Kaderpolitik in allen Branchen und Bereichen in ihren Händen konzentrieren".33 Die Gültigkeit des Referenzmodells fiir die deutschen Kommunisten läßt sich jetzt anhand der bis 1989 unter Verschluß gehaltenen Dokumente der Moskauer KPD-Führung belegen. So verwies Pieck in seiner Lektion über die Organisationsfragen der KPD an der Moskauer Parteischule im Oktober 1944 die Kursanten nicht nur auf den Rechenschaftsbericht von Stalin an den XVIII. Parteitag, sondern zitierte auch die Passagen über die Organisationsprinzipien der KPdSU: "Straffster Zentralismus in der Tätigkeit der Parteiorganisationen, bewußte innere Disziplin, Einheit des Willens und Einheit der Aktion. Unzulässigkeit von Fraktionen und Gruppierungen, sorgfältige Auslese der in die Partei eintretenden ... " 34 Dies von Pieck als Richtlinie vorgetragene Stalin-Zitat ist ein Hinweis darauf, welchen Stellenwert die Programmarbeit der KPD-Führung im Moskauer Exil 1944/45 fiir die etappenweise Übertragung des sowjetischen Referenzmodells auf ihren Machtbereich besaß: Es war die konzeptionelle Vorbereitung auf eine in den Lehrbüchern des Marxismus-Leninismus nicht vorgesehene Situation: Die Machtergreifung einer kommunistischen Partei unter den Bedingungen sowjetischer Okkupationspolitik. Die Orientierung in einer unübersichtlichen Situation, in der der Weg zur Macht unter den Bedingungen einer Drei- bzw. Vier-Mächte-Kontrolle über Deutschland begonnen werden mußte, und die KPD vor allem auf die Macht und die Politik der Sowjetunion angewiesen war, benötigte eine Linie fiir das "einheitliche Handeln" der Partei. Dies tat die Moskauer Exil-Führung 1944/45 in ihrer programmatischen Arbeit. An den Beispielen "Sowjetstaat" oder erneuerte parlamentarische Republik, der Konzeption des Parteiensystems als "Block" und schließlich die Reorganisation der KPD soll diese These erhärtet werden.

33 Borys

Levythkyi, a.a.O., S. 59.

34Wilhelm

Pieck: Der Aufbau der KPD und ihre organisationspolitischen Probleme handschriftliche Rededisposition filr eine Lektion vor dem ersten Lehrgang der Parteischule der KPD, am 31 . Oktober 1944 vorgetragen, in: Nach Hit1er kommen wir, a.a.O., S. 276. Bleibt noch nachzutragen, daß dieser Teil der Lektion in der von der SED besorgten Veröffentlichung fehlte.

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VI. Kein Sowjetstaat - eine erneuerte parlamentarische Republik

Die KPD-Funktionäre begannen ihre Beratungen im Bewußtsein, die Partei erflihrt nach dem Krieg eine Statusveränderung, sie wird zur neuen deutschen "Regierungspartei". Ihr Ziel blieb unverändert "ein sozialistischer Staat, ein Sowjetstaat", wie es in einer Ausarbeitung von Florin hieß, in der er zugleich die Gründe aufführte, die die Partei daran hinderten, dieses Ziel direkt anzustreben. Nach seiner Meinung fehlten der KPD sowohl international als auch national die Voraussetzungen um die "ungeteilte Macht" der Partei zu etablieren, und das war das wichtigste Kriterium für den "Sowjetstaat".35 Ein Schwerpunkt der Moskauer Debatten war das künftige Parteiensystem, die Kommunisten konzipierten es als "Block der kämpferischen Demokratie". Er sollte sich möglichst noch in konkreten Widerstandsaktionen gegen die nationalsozialistische Diktatur im Lande konstituieren und auf der Basis eines von den Kommunisten vorgelegten Aktionsprogramms die "antifaschistischen Parteien" zusammenschließen. Den Begriff "Block der kämpferischen Demokratie" hat nach dem Zeugnis von Ackermann Dimitroff geprägt. Der Konsens der Parteiführer im "Block", der von der KPD geführt werden sollte, drängt die freien Parlamentswahlen schon in der Konzeption in den Hintergrund. Eine solche Konstruktion des Parteiensystems lief von vomherein auf die Schwächung der Stellung des frei gewählten Parlaments im politischen System zugunsten des "Blocks" hinaus, der in seiner Willensbildung den Wählervoten entzogen war, und in dem die Parteien konsensuale Entscheidungen treffen mußten. Die Kommunisten verstanden den "Block" nicht als Koalition gleichberechtigter Parteien, das wird in der Diskussion über die anderen Parteien sehr deutlich, die sie 1944 fiihrten. Zu Beginn der Beratungen der Arbeitskommission wird von Mitgliedern in der Diskussion die Existenz anderer Parteien neben der NSDAP in Deutschland bezweifelt und die Frage aufgeworfen, ob die Kommunistische Partei überhaupt für die Neugründung konkurrierender Parteien eintreten sollte. Diesen Überlegungen wird von Florin entschieden widersprochen und mit Blick auf die aktuelle italienische Entwicklung festgestellt, daß die "alten Parteien im Bewußtsein des Volkes weiterleben". Sie werden somit nach Ende der Diktatur wiedererstehen. Florin rät, die KPD soll das Richtige tun, um diese Parteien "zu entlarven, einzuengen oder in die gemeinsame Front zu verlagem". 36

35Vgl.

Wilhelm Florin: "Was würde sein, wenn Deutschland ein Sowjetstaat werden würde?'' Maschinenschriftliche Ausarbeitung, ohne Datum (1944), in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 125 ff. 36Wilhelm Florin: Alle illegalen Parteien und Gruppen sollen sich rasch in einem Kampfblock vereinigen - handschriftliche Ausarbeitung fllr das Schlußwort zum ersten Thema der S Klein I Eckort

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Die Basis fiir den konzipierten Block war fiir die KPD die Politik der "Aktionseinheit" gegenüber den Sozialdemokraten. Eine organisatorische "Einheit der Arbeiterklasse" in Gestalt einer Partei sollte aber erst in der sozialistischen Etappe der Entwicklung herbeigefUhrt werden. Am klarsten hat das Mitglied der Arbeitskommission Sepp Schwab im April 1944 ausgesprochen, was die KPD gegenüber den Sozialdemokraten nach Kriegsende tun mußte, wollten sie die angestrebte "Aktionseinheit" als Etappe auf dem Weg zur Einheit der Arbeiterklasse auf der Basis des Marxismus-Leninismus durchsetzen. Schwabs Überlegungen illustrieren auch, wie sich die Kommunisten das "Einwirken" auf konkurrierende Parteien dachten: "Wir müssen selbst Hand anlegen in der Schaffung einer solchen Sozialdemokratie, die mit uns zusammenarbeitet". Um dieses Ziel zu erreichen, sollte die KPD bereit sein, in der Zusammenarbeit mit der SPD auch programmatische Kompromisse zu schließen. Wichtiger als Programme war fiir Schwab das gemeinsame Auftreten der beiden Parteien in der Öffentlichkeit, um die "Einheit der Arbeiterklasse" zu demonstrieren. Schon im April 1944 macht sich Schwab aber keine Illusionen darüber, daß die Schaffung einer solchen "Einheit", wie sie der KPD vorschwebte, auf Widerstand stoßen wird, und der muß notfalls gewaltsam gebrochen werden: "Die Einheit der Arbeiterklasse ist mit allen Mitteln (auch mit dem Einsatz von Heer und Polizeiposition) zu verteidigen". 37 Den Führungsanspruch der KPD im "Block der antifaschistischen Parteien" zu legitimieren, wird historisch begründet. Im Dezember 1944 entsteht ein kurzer Leitfaden zur Geschichte und Gegenwart der KPD, in dem besonders der Kampf der Partei gegen die nationalsozialistische Diktatur hervorgehoben wird. Die Grundkonstruktion dieses antifaschistischen Geschichtsbildes liegt in den Behauptungen, allein die kommunistische Partei sei von den Nationalsozialisten nicht zerschlagen worden, und der Widerstand vieler Mitglieder sei unter der zentralen Anleitung der Parteifiihrung erfolgt. Voraussetzung fiir eine erfolgreiche kommunistische Politik war und blieb aus der Sicht ihrer exilierten Führung aber der rasche Wiederaufbau der eigenen Partei. Anfang 1944 bekräftigte Pieck das "Gelöbnis" der deutschen Kommunisten, "durch die Schaffung einer mächtigen, vom Geiste des Marxismus, Leninismus, Stalinismus, erftlllten einheitlichen Kampfpartei der deutschen Arbeiterklasse die Voraussetzung zum Sieg unserer großen Sache zu schaffen".38 Gegenüber den Kommunisten, die in Deutschland in den Gefiingnissen Arbeitskommission auf der Sitzung am I 0. April 1944 vorgetragen, in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 159. 37Sepp Schwab: Strategie und Taktik der MachtUbernahme - Stenographische Notizen fllr einen Diskussionsbeitrag zum Referat Walter Ulbrichts vor der Arbeitskommission auf der Sitzung am 24. April 1944 vorgetragen, in: Peter Erler, Horst Laude, Manfred Wilke (Hg.): Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 168. 38Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 99.

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und Lagern saßen oder die sich in der westlichen Emigration befanden, traten Pieck und Ulbricht als legitime Parteifilhrung auf. Sie gaben die Programmatik vor, bestimmten die Regularien des organisatorischen Wiederaufbaus der Partei und die "Kaderpolitik". Nach den von Ulbricht im Februar 1945 entworfenen Anweisungen sollte filr jeden Parteibezirk eine zeitweilige Kommission zur Leitung des Aufbaus der Parteiorganisation eingesetzt werden, die die Parteileitungen in jedem Ort zu "bestätigen" hatte. 39 Nicht nur in den Betrieben und Wohngebieten sollten erneut Parteiorganisationen entstehen, sondern auch sofort in den neu zu schaffenden "Verwaltungsorganen", den Keimzellen des künftigen Staates, der auch einen großen Teil der Wirtschaft kontrollieren und lenken sollte. Mit der Rekonstruktion der KPD sollte zugleich eine erste "Parteiüberprüfung" vorgenommen werden. KPD-Mitglieder aus der Zeit vor 1933, die wieder als Mitglieder anerkannt werden wollten, mußten über ihre Aktivitäten in der illegalen Arbeit gegen die nationalsozialistische Diktatur und ihr Verhalten in Geflingnissen und Konzentrationslager Rechenschaft ablegen. Zwei Kategorien von KPD-Mitgliedern aus der Zeit vor 1933 sollten nicht wieder in die Partei aufgenommen werden: Solche, die zu den Nationalsozialisten übergelaufen waren, und die, die "parteifeindlichen Gruppierungen" angehört hatten. Unter diese Kategorie fielen die Anhänger der unterschiedlichen kommunistischen Parteioppositionen gegen "Bolschewisierung" und "Stalinisierung" der KPD aus den zwanziger Jahren. 40 Von Anfang an sollte aber die soziale Basis der KPD erweitert werden, neben Arbeitern und Bauern wollte die Partei vor allem Ingenieure, Lehrer und andere "Geistesschaffende" gewinnen. Somit sollte sich die Rolle der KPD als neue Staatspartei sofort in ihrer Mitgliederstruktur widerspiegeln. Von zentraler Bedeutung filr die Realisierung dieses Ziels war die Gewinnung neuer Mitglieder und die Ausbildung von geeigneten "Kadern" filr die Besetzung gesellschaftlicher Führungspositionen durch die Partei. Pieck überlegte in einer Lektion an der KPD-Parteischule in Moskau Ende Oktober 1944, ob es nicht sinnvoll sei, filr die rasche Ausbildung von eigenen Kadern auf Erfahrungen der Nationalsozialisten bei der Schulung ihres Führungsnachwuchses zurückzugreifen: "Ich denke da an ähnliche Einrichtungen, wie sie die Nazi-Partei auf ihren Ordensburgen filr reaktionäre Zwecke geschaffen hat". 41 Der Führungsanspruch der Kommunisten im Staat wurde 1945 zwar 39"Bestlltigt"

bedeutet in der Parteisprache, diese Kommissionen besaßen die Kontroll- und Personalhoheit bei der Zusammensetzung der örtlichen Vorstände. 40Vgl. Walter Ulbricht: Anweisung ftlr die Anfangsmaßnahmen zum Aufbau der Parteiorganisation - maschinenschriftlicher Entwurf vom 15. Februar 1945, in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 329. 41 Wilhelm Pieck: Der Aufbau der KPD und ihre organisationspolitischen Probleme ... , in: Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 288. Auch diese Passage aus Piecks Lektion fehlt in der von der SED verantworteten Ausgabe von Piecks gesammtelten Reden und Schriften.

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nicht proklamiert, aber alle Schritte zur Rekonstruktion der Partei zielten auf einen zuverlässigen Apparat, der flihig war, die "Linie" der Partei in Staat und Gesellschaft zentralistisch durchzusetzen. VII. Stalin und "der antifaschistisch-demokratische" Neuanfang der KPD im Juni 1945

Die Frage, ob wir die Anfänge der DDR im Frühjahr 1945 als eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung begreifen können, oder ob wir bereits von der Übertragung des sowjetischen Referenzmodells sprechen müssen, ist abschließend sicher noch nicht zu entscheiden. Die Archive der sowjetischen Militäradministration sind in Moskau noch verschlossen. Aber es gibt einen Prüfstein, der von außerordentlichem Gewicht ist, um diese Frage zu beantworten. Und das ist die Behandlung der KPD durch die sowjetische Besatzungsmacht im Vergleich zu den anderen politischen Parteien. Zeitgleich mit der Übernahme der obersten Regierungsgewalt der Alliierten in Deutschland beauftragt Stalin die KPD-Führung in Moskau, sich mit einem Manifest an die deutsche Öffentlichkeit zu wenden. Ackermann schreibt den Text in der Nacht vom 4. zum 5. Juni auf der Grundlage der in Moskau 1944 erarbeiteten Programmatik. Am 6. Juni werden der Entwurf des "Aufrufs" und andere mit der Zulassung der KPD verbundene Fragen mit Dimitroff besprochen. Wenigstens der Ablauf der Gespräche läßt sich anband des Terminplans von Ackermann nachvollziehen, der zu Zeiten der DDR nicht veröffentlicht wurde. Am späten Nachmittag des 7. Juni fmdet erneut eine Begegnung mit Stalin und Mitgliedern des Politbüros der KPdSU statt. Die Endfassung des Aufrufs, den die KPD am 11 . Juni 1945 veröffentlicht, wird bestätigt. Nach den Besprechungen mit Stalin werden noch in Moskau die zentralen Personalentscheidungen im Hinblick auf die Führung der KPD vorgenommen. Das provisorische Zentralkomitee der Partei ist mit den Unterzeichnern des Aufrufs identisch. Von den 15 Unterzeichnern kamen lediglich 2 aus den Haftanstalten des nationalsozialistischen Deutschlands, die anderen 13 aus der sowjetischen Emigration. Am 11. Juni gibt Pieck nach Berlin noch den Namen von Franz Dahlem als ZK-Mitglied durch, der, aus dem KZ Mauthausen befreit, in Moskau eingetroffen war. Die Schlüsselpositionen in der Parteiführung sowie das provisorische Sekretariat des Zentralkomitees und die Reaktion des Zentralorgans der Partei werden mit Moskauer Politemigranten besetzt. Hinsichtlich der Personalentscheidungen filr die Spitze der KPD drängt sich die Frage auf, ob diese Funktionäre nicht von der KPdSU als ihre Nomenklaturkader betrachtet wurden, über deren Verwendung die deutsche Partei bei aller nominellen Selbständigkeit nicht zu entscheiden hatte. Diese These läßt sich

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aus den Materialien der KPD nicht verifizieren und muß bis zur Publikation der entsprechenden sowjetischen Akten offen bleiben. Am 13. Juni veröffentlichte die "Deutsche Volkszeitung", das Zentralorgan der KPD, in ihrer ersten Nummer den Aufruf, der auf den 11. Juni datiert war. Bleibt noch anzumerken: das Original dieses wichtigen Dokuments der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde von uns im SED-Archiv nicht gefunden. Lediglich die letzte Seite einer russischen Fassung des Textes fand sich als Anlage zu Ackermanns Notizen über seine Moskauer Termine im Juni 1945; auf dieser Seite ist die Einsetzung von Franz Dahlem als Unterzeichner und damit als ZK-Mitglied handschriftlich vermerkt. 42 Stalin hatte sein deutsches Personal bestimmt, mit dem er die "Ostorientierung" Deutschlands durchzusetzen gedachte. Und es waren die Kader, die alles entschieden.

42Vgl.

Nach Hitler kommen wir, a.a.O., S. 115 ff.

Karl-Rudolf Karte DIE ALLGEMEINE POLITISCHE ROLLE DEUTSCHLANDS IN DER OST-WEST-AUSEINANDERSETZUNG: PROBLEME EINER ANGEMESSENEN BEWERTUNG Große Ereignisse wirken wie eine Wasserscheide der historischen Kausalität. Sie verleiten dazu, ihnen alles, was nach ihnen geschieht, ursächlich zuzurechnen. So ist es auch mit der deutschen Einheit. Sie dient als Problemasyl: Zufluchtsort für alles, was kritisierbar ist. Die Kosten der Einheit verdrängen im öffentlichen Bewußtsein die Vorteile der Vereinigung. Elends-Realisten und öffentliche Trübsal haben Konjunktur. Die Epochenwende rückt selbst bereits ins Licht der Geschichte. Trost bietet allenfalls noch die Nostalgie. Derzeit fmden Ost- und Westdeutsche Gemeinsames vor allem im verklärenden Rückblick auf die getrennten Vergangenheiten. Märchenhaft verklärt wird dabei die angeblich glückliche westdeutsche Gesellschaft bis 1989. Man konnte den Eindruck gewinnen, der Zusammenbruch des SED-Regimes habe das politische System Westdeutschlands über Nacht geadelt. Romantisierende Rückblenden beobachtet man allerdings auch in Ostdeutschland. Unter nachträglich positiven Vorzeichen meldet sich der gewesene Staat zurück. Das ist Grund genug, um Strukturbedingungen, Rollenmuster und Zeitläufte während des Kalten Krieges in Erinnerung zu rufen. Bekanntlich verändern jedoch historische Zäsuren immer den Blick auf die Vorgeschichte. Darin liegt aus heutiger Sicht die Gefahr, die Vorgeschichte der Einheit auf die Vorahnungen des Umsturzes zu begrenzen oder gar die Geschichte der DDR auf einen Countdown zu reduzieren, an dessen Ende notwendigerweise der Untergang stehen mußte. Der Rückblick hat trotz der vielen Probleme im Einzelnen und der individuell leidvollen Erfahrungen mittlerweile fast Märchenglanz, wenigstens aber jenen Status der Entrücktheit, der der Folklore zugebilligt wird. 1 Da kann man merkwürdige Verschiebungen beobachten: Damals galt es in Westdeutschland als besonders progressiv, fortschrittlich, zukunftsgewandt eine aktive Ostpolitik zu betreiben. Willy Brandt wurde zur Symbolfigur der Reformbewegungen und der Aussöhnung mit dem Osten. Die heutige jüngere Generation fmdet es ge1Zum

RUckblick auf den Einigungsprozeß vgl. Karl-Rudolf Korte: Die Chance genutzt? Die Politik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt/New York 1994.

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radezu verwerflich, eine aktive Vertragspolitik mit dem SED-Regime und anderen real-sozialistischen Systemen betrieben zu haben. Progressiv ist heute eher die Verweigerung, der Boykott gegenüber Gesprächspartnern aus nichtdemokratischen politischen Systemen. Mit moralischem Allmachtsanspruch wird alles verworfen und abgelehnt, was in allen Zeiten des Kalten Krieges mittels Geheimdiplomatie die einzige Möglichkeit war, um politische Ziele zu erreichen. Zu dem Perzeptionswandel gehört noch etwas anderes: Auch von außen betrachtet war die ehemalige Bundesrepublik vielleicht der sympathischste deutsche Staat, den es je gab. Das neue vereinigte Deutschland ist größer, souverän, mächtiger. Etwas Unheimliches mischt sich unter die Vorbehalte gegenüber deutscher Stärke. Wir hatten uns an die Normalität der Teilung gewöhnt und in ihr bequem eingerichtet. Im Kalten Krieg war alles viel einfacher. In Ost wie in West regierte der Glaube an die Überlegenheit des jeweiligen Systems. Heute ist der Glaube an die Perfektion und an die Perfektionierbarkeit der eigenen Ordnung erloschen. Der Kalte Krieg war, wie wir heute erkennen, eine abnormale Pause internationaler Unbeweglichkeit im Kontinuum des normalen historischen Chaos. Die gewaltige Konfrontation überlagerte und verdeckte alle kleinen Friktionen. Das Weltrnuster, geprägt von der Rivalität der Supermächte, trug glatte und scharfe Kanten. Heute gibt es wieder Unschärfen: Bisher bindende Interpretationen verlieren ihre ordnende Wirkung. Seit der staatlichen Einheit Deutschlands ist es aus mit dem bequemen Trittbrettfahren durch die Weltpolitik. Die veritable Mittelmacht Deutschland lenkt Ansprüche auf sich, fordert Rechte und wird in die Pflicht genommen. 2 Die Bringschuld auch seitens der Europäer verlagert sich auf die Bundesrepublik. Sie muß erheblich größere außenpolitische Lasten tragen. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über internationale Einsätze der Bundeswehr vom 12. Juli 1994 ist die Rolle relativer Abstinenz bei großen Konflikten der internationalen Politik für die Deutschen zu Ende gegangen. Mit dem Ende der Nachkriegszeit und der Zeitenwende in Buropa verstärkte sich filr die Deutschen der Konflikt zwischen der Außenerwartung der europäischen Staatengemeinschaft und den Innenerwartungen der Bürger. Die Diskrepanz zwischen der außenpolitischen Rolle der Bundesrepublik und dem Rollenbewußtsein der Deutschen vergrößerte sich. Denn die Deutschen haben sich das Denken in machtpolitischen Kategorien abgewöhnt. Weltpolitische Ambitionen gerieten in der Geschichte der Deutschen zum Desaster. Andererseits verschaffte die Abstinenz den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg den erfolgreichsten Abschnitt ihrer kurzen nationalstaatliehen Geschichte. Diese friedvolle Selbstfindung, jahrzehntelang von den Nachbarn 2Dazu

Themenausgabe der Zeitschrift: Internationale Politik, 1995, H.4; vgl. Manuel Fröhlich u. Jürgen Gros: Außenpolitik erfahren und verstehen, Mainz 1995.

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gefordert und einvernehmlich mit ihnen auch praktiziert, hat sich mittlerweile generationsübergreifend in das kollektive Geschichtsbewußtsein der Deutschen eingeprägt. Für die deutsche Außenpolitik war gerade die breite Akzeptanz der eingeschränkten Souveränität im geteilten Deutschland innerhalb der Bevölkerung ein Aktivposten der politischen Kultur. Die veränderten Außenerwartungen angesichts vollständiger Souveränität seit 1990 zielen auf größere internationale politische Mitverantwortung auch außerhalb der EU. Wer somit eine allgemein politische Rolle der Deutschen heute beschreiben will, muß zunächst einmal lernen, eigene deutsche Interessen zu defmieren. I. Außenpolitische Denkschulen und Handlungsmaximen der Bundesrepublik Deutschland seit 1949

Die Bundesrepublik war die deutschlandpolitische Konkretisierung des OstWest-Konflikts, jenes ordnungs- und machtpolitischen Gegensatzes, der durch die Weltkriegsallianz überlagert worden war und strukturbestimmend wurde. Die Grundproblematik der westdeutschen Außenpolitik bestand in der Notwendigkeit, sich der jeweiligen internationalen Konstellation möglichst aktiv anzupassen.3 Als außenpolitische Handlungsmaximen, die rollenbestimmend wirkten, kristallisierten sich heraus: Geschichtsbewußtsein und historische Verantwortung, Grundgesetz-Vorgaben, Exportnation, Westbindung und Ostverbindungen. a) Westbindung als Wertbindung Die europäische Integration ist der Kern der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Nur die solidarische Einbindung der Deutschen in eine europäische Gemeinschaft konnte nach 1949 das Vertrauen gegenüber den Deutschen zurückgewinnen. Aufgabe von staatlicher Souveränität durch Integration in eine Gemeinschaft gehörte zur Maxime der westdeutschen Außenpolitik. Mit der Einbindung eines Teils Deutschlands in die EG gelang es zudem, eine tragflihige Grundlage der Demokratie zu sichern und wirtschaftlichen Wohlstand zu schaffen. Wirtschaftliche Prosperität, Sicherung des Friedens, internationale Achtung und Anerkennung, Einbindung der Deutschen und Verpflichtung der Partner auf das Ziel der Wiedervereinigung, so kann man die 3Vgl. zum folgenden in der Begrifflichkeit und 8ystematisierung Wemer Link: Die Außenpolitik

und internationale Einordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Weidenfeld/Zimmermann (Hrsg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, 8.571-588; KariRudolf Korte u. Wemer Weidenfeld, Deutsche Einheit, in: Dies. (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt/New York 1993,8.130-139.

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zentralen Interessen der Bundesregierungen am europäischen Integrationsprozeß charakterisieren. Für die Regierung Adenauer ergaben sich mehrere praktische Aufgaben der Deutschlandpolitik: die westlichen Alliierten auf das Ziel der Wiedervereinigung zu verpflichten, die Vier Mächte unter keinen Umständen aus ihrer Verantwortung fiir Deutschland als Ganzes zu entlassen, jegliche Sanktionierung des Status quo der Teilung zu verhindern, keine Lösung zuzulassen, die nicht letztlich die freie Zustimmung des deutschen Volkes fand. Die Bundesrepublik Deutschland wurde eingebettet in europäisch-atlantische Bündnissysteme. Die Westverankerung war eine Absage an eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Westintegration griff dabei über den geographisch- und bündnisstrategischen Aspekt hinaus. Gemeint war damit eine neue geistig-politische Standortverankerung der Bundesrepublik im freiheitlichen Westen. b) Status-Fragen und Aussöhnung Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre waren es das StatusThema- Anerkennung der DDR und Vertragsabschlüsse- sowie die Verständigung mit dem Osten, die die Schwerpunkte der außen- und deutschlandpolitischen Rolle markierten. Bei Beibehaltung des Alleinvertretungsanspruchs und der Nichtanerkennung der DDR versuchte die Regierung Kiesinger/Brandt, menschliche Erleichterungen im gespaltenen Deutschland zu erreichen, wenn nicht die Forderung nach staatlicher Einheit kurzfristig erreichbar war. Entscheidender deutschlandpolitischer Einschnitt nach Beendigung der Ära Adenauer war der Übergang zum Zwei-Staaten-Konzept in der Bundesrepublik Deutschland nach 1969. Auf der Grundlage des neuen internationalen Sicherheits- und Entspannungsklimas leitete die sozial-liberale Koalition 1969 ihre neue Ost- und Deutschlandpolitik ein. Der 1972 unterzeichnete Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten vollzog eine tiefgreifende Zäsur: den Übergang vom Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland zum Prinzip und Status der Gleichberechtigung zwischen beiden Staaten. Die Konkretisierung der Ostverbindungen bestand aus der EinfUgung der deutschen Osteuropapolitik in die amerikanisch-sowjetische Entspannungspolitik. 4 Diese beruhte auf der Respektierung der Teilung Europas. Die Priorität zugunsten dieser Anpassung an die amerikanische Entspannungspolitik hatte die Regierung der Großen Koalition im Prinzip bereits gesetzt. Die sozial-liberale Koalition unter Brandt und Scheel ging noch einen Schritt weiter. Aus den Verhandlungen um ein Netz von Gewaltverzichten entwickelte sich die neue Ostpolitik, die dem Führungsanspruch der Sowjet4 Link

a.a.O., S. 579.

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union in Osteuropa Rechnung trug und gleichzeitig die DDR als Staat in Deutschland konsequent einbezog. Die europäische Friedensordnung durfte nicht am deutschen Interesse scheitern. Eine außenpolitische Isolierung durfte verhindert werden. c) Dominanz des sicherheitspolitischen Denkens aber auch Freiheit und Menschenrechte Die Rollenbestimmung der Bundesrepublik Deutschland sowie der DDR war in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren auch eng mit sicherheitspolitischen Fragestellungen verwoben. 5 Entspannungspolitik durfte den Rüstungsbereich nicht ausklammern. Doch gerade neue Waffensysteme schienen die Gefahr eines atomaren Krieges in Europa bedrohlich zu erhöhen. Deshalb überschattete seit dieser Zeit besonders die Problematik der Mittelstreckenwaffen die Ost-West-Beziehungen und parallel auch das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. Das gesamte Beziehungsgeflecht zwischen den beiden deutschen Staaten schien in der öffentlichen Meinung allein in sicherheitspolitischen Kategorien denkbar. Alle Neutralitätskonzepte, auf die das Bestreben der Friedensbewegung hinauslief, gingen, wo immer sie ansetzten, von der irrigen Voraussetzung aus, daß die Teilung des Landes eine der wesentlichen Ursachen der Spannung sei und nicht deren Folge. Friedensbewegung und Nachrüstungsdebatte waren die Katalysatoren der neuen Deutschlandbilder, die auch eine neue außenpolitische Rollenbestimmung enthielten.6 Die Selbstbilder und die konkreten Deutschlandmodelle rekurrierten auf traditionellen neutralistischen, nationalistischen oder antimodernistischen Strömungen. Daraus resultierten die entsprechenden Angebote nationaler Orientierungsmuster abseits der Blöcke: das Primat der Nation, Antiamerikanismus als Westprotest und Brücken- bzw. Mittlerpositionen. Die Regierung unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls seit 1982 hat die Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Vorgängerregierung, mit all seinen Instrumenten und Mitteln, modifiziert fortgeftihrt. Vor allem wurde die innerdeutsche Vertragspolitik intensiviert. Diese Politik wurde flankiert durch Verweise auf die Rechtspositionen, die von einer formellen Offenheit der Zukunft Deutschlands als Ganzes ausgingen. Zugleich verfocht die Regierung das Konzept einer europäischen Einordnung der deutschen Frage. Die westeuropäische 5Vgl. Bemd Faulenbach: Zur Beurteilung der Bonner Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, in:

RUck-Sicht auf Deutschland. Beiträge zur Geschichte der DDR und zur Deutschlandpolitik der SPD, in: argumente, SPD-Bundestagsfratkion, Bonn 1993, S.l8ff; Dazu auch Heinrich Potthoff: Die Koalition der Vernunft. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995. 6Vgl. Kari-RudolfKorte: Der Standort der Deutschen, Köln 1990, S.82 ff.

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Einigung wurde als bedingender Teilschritt zur Vereinigung Deutschland erachtet. Das Bekenntnis zum westlichen Bündnis und zur westlichen Wertebindung avancierte zum Kernbestand aller außenpolitischen Regierungserklärungen. Die Weiterentwicklung der Vertragspolitik zur DDR war nur möglich, weil die Regierung Kohl unmißverständlich den normativen Kern des Dissenses, die deklaratorischen Differenzen zwischen beiden Staaten betonte: Freiheit hier und Unfreiheit dort; Verwirklichung der Menschenrechte im Westen und fehlende Durchsetzung der Menschenrechte in der DDR. d) Identitätssuche der Deutschen Seit Abschluß des Grundlagenvertrages zeigten sich politisch-kulturelle Akzentverschiebungen der deutschen Frage, die auch die Linkage-Problematik zwischen Innen- und Außenpolitik verdeutlichten. So wurden in der Bundesrepublik Deutschland erneut Fragen gestellt, von denen man im Zuge der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu einer westlichen Industriemacht hätte glauben können, sie stellten sich im westlichen Deutschland nicht mehr. Es ging um die Frage, wer wir eigentlich sind. Was war die Eigentümlichkeit der Bundesrepublik, die sie haben muß, um von ihren Bürgern als die ihre akzeptiert werden zu können? Selbstdefinition und Selbstabgrenzung waren fiir die Bundesbürger nach dem Grundlagenvertrag offenbar noch vager geworden. Gesucht wurde eine tiefer grundierte Identität, ein neuer Standort. Es ging um das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu sich selbst: es integrierte die Debatte über die deutsche Rolle in der internationalen Politik; die Frage nach den West-Ost-Koordinaten der Bundesrepublik zwischen Westbindung, Ostverbindung und Mittellage tauchte auf; Traditionslinien deutscher Standortsuche wurden mit der Identitätssuche aktiviert. Auch in der DDR gab es fast zeitgleich das Bemühen, das sozialistische Vaterland nicht nur mit gesellschaftspolitisch-ideologischem, sondern auch mit geschichtlichem Inhalt auszufiillen. Das Konzept der Herausbildung der sozialistischen Nation in der DDR, durch die die deutsche Frage endgültig beantwortet sei, war gescheitert. e) Rollenbestimmung der DDR Zu den Höhepunkten der DDR-Außenpolitik gehörte zweifelsohne die Reise des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs der DDR, Erich Honecker, 1987 in die Bundesrepublik Deutschland. 1988 erfolgte schließlich die erste offizielle Visite in Paris, andere westliche Hauptstädte wären sicher gefolgt, wenn nicht die Revolution der DDR 1989 ein Ende gemacht hätte. 7 Gerade die acht7Zum

folgenden Bemard von Plate: Die Außenpolitik und internationale Einbindung der DDR, in: Weidenfeld/Zimmermann, a.a.O., S.589-604.

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ziger Jahre zählen zur Erfolgsgeschichte der DDR-Außenpolitik. Unverkennbar stand im Zentrum der blockpolitischen Rückversicherung der DDR der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen Moskau und Ost-Berlin vom Oktober 1975 und damit die strukturelle Unselbständigkeit der DDR-Außenpolitik. Dennoch scheute sich die DDR nicht, ihren Bewegungsspielraum gegenüber Moskau neu auszuloten und Dissonanzen mit der sowjetischen Vormacht in Kauf zu nehmen, wenn dies die eigene Staatsräson und Rollendefmition zu raten schien. Diese Staatsräson hieß dabei nicht nur: strikte Loyalität gegenüber Moskau, wenn dies mit den eigenen Interessen unvereinbar war. Internationale Anerkennung war das Ziel der DDR. Dabei war die DDR nach Abschluß des Grundlagenvertrags in ihrer Außenpolitik in weitaus größerem Maße auf die Bundesrepublik bezogen als auf jeden anderen Staat der nicht-sozialistischen Welt. Auch in der DDR zeigte sich besonders in den achtziger Jahren, daß die Außenpolitik von ihrer innenpolitischen Funktion nicht zu trennen war. Das außenpolitische Prestige war fiir die SED-Führung ein wichtiges Mittel, um die Vertrauensbasis in der Bevölkerung zu verbreitern. Zu den außenpolitischen Themen von hoher innenpolitischer Attraktivität zählte deshalb immer wieder der Beitrag der DDR zur Sicherung des Friedens in Europa. 2. Was sind adäquate Bewertungsmaßstäbe der Deutschland- und Ostpolitik bis 1989?

Die Deutschland- und Ostpolitik vor 1989 wirkt wie Petitessen angesichts der Dramatik der Veränderungen in den zwölf Monaten zwischen Fall der Mauer und dem Tag der deutschen Einheit. Dennoch hat sich in den Jahrzehnten zuvor sehr viel im innerdeutschen Verhältnis bewegt. Es gehört zu den Fehldeutungen und Legenden der noch dampfenden Zeitgeschichte, daß man, gemessen an den Umbrüchen 1989/90, der Zeit davor große Statik und Bewegungslosigkeit unterstellt. Dabei lebt fast alle Kritik an der Deutschland- und Ostpolitik vom einfachen Vorteil derer, die eben heute wissen, daß 1990 die deutsche Vereinigung kam. Wie schützt man sich vor derartigen Fehldeutungen? Was können aus wissenschaftlicher Sicht Kriterien einer adäquaten Bewertung dieser Zeitspanne sein? a) Zeitrelevanz Es muß fairerweise der Informationsstand der politischen Akteure berücksichtigt werden, den sie zum damaligen Zeitpunkt hatten. Was waren aus der Sicht der beteiligten Akteure und vor dem Hintergrund der damals vorliegen-

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den Informationen die Entscheidungsalternativen? Hypothetische Alternativen - noch dazu aus heutiger Zeit rekonstruiert - helfen hingegen nicht weiter. b) Geheimdiplomatie Es ist sehr schwierig, sich in die merkwürdige konfliktträchtige Zeit zurückversetzen, als es zwischen Ost und West vielschichtige politische Kontakte gab, amtliche und geheime. Wenn wirklich Wichtiges ausgetauscht wurde zwischen Bonn und Ostberlin oder Moskau und Bonn, bedienten sich die Regierungen kaum der offiziellen diplomatischen Verbindungen. Meistens wurden Sonderkanäle genutzt. Leute, die einander kannten und vertrauten, waren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die Informationsträger. Man kann sogar die These aufstellen, daß je geheimer die Kanäle gehalten werden konnten, desto effektiver die Ergebnisse waren. Insbesondere auf dem Feld der sogenannten humanitären Erleichterungen Familienzusammenfilhrungen, Häftlingsfreikäufe - war man auf Geheimdiplomatie angewiesen. Zur Anbahnung von Verhandlungen wurden diese Kanäle benutzt und auch dazu, politische Hürden, die sich durch öffentliche Kontroversen aufgebaut hatten, schnell und möglichst geräuschlos wieder abzubauen. Der DDR gelang es auch auf diese Weise, der Sowjetunion gezielter und dosierter als von ihr gewünscht, Informationen vorzuenthalten. Persönliche Korrespondenz, Kurierdienste und informelle Emissäre gehörten zu den Instrumenten dieser Geheimdiplomatie. Nur in diesem konspirativen Klima war es offenbar möglich, Themen anszusprechen, die man bei offiziellen Gesprächen unmöglich diskutieren konnte. Noch wichtiger aber war, daß dieser Stil die Bundesrepublik in die Lage versetzte, Vorschläge zu machen, und die DDR, Vorschläge anzunehmen, die sie offiziell unmöglich billigen konnte. Immer wieder wurden beispielsweise die Verknüpfung von Devisenzahlungen mit Verbesserungen im Reiseverkehr junktimhart vereinbart, ohne dies in irgendeiner Weise schriftlich festzuhalten. Wer heute diese Verhandlungsfilhrung brandmarkt oder sensationell darüber berichtet, ignoriert die Zeitläufte des Kalten Krieges. Alle politischen Akteure waren sich durchaus bewußt, in welchen parlamentarischen Grauzonen die ständigen Verhandlungen gefilhrt wurden. 8 c) Sprachanalyse Deutschlandpolitik gehörte zum Filetstück der Diplomatie. Sie war besonders im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt Sprungbrett filr diplomatische Höhenflüge. Das hing mit den Taktiken der Vorsicht zusammen, wie sie sich 8Vgl.

auch dazu Peter Bender: Bitterer Eifer, in: Die Zeit v. 24.2.1995, Nr. 9.

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aus den konspirativen Geheimkontakten ergaben. Aber auch mit Stil und Sprache der Deutschlandpolitik Jedes kleinste Detail bei Äußerungen oder der Gestik wurde genauestens beäugt und anschließend von großen Abteilungen analysiert. Hypersensibilität war die Meßlatte, an dem Fortschritte gemessen wurden. Die Sprache ist das wichtigste Herrschaftsinstrument der Politik. Ein falscher Satz auf dem Parkett der Deutschlandpolitik, und die Gespräche stockten. Andererseits zeigt gerade die Sprachanalyse deutschlandpolitischer Texte den Wandel in den innerdeutschen Beziehungen sehr deutlich an, ebenso wie auch konzeptionelle Veränderungen in bestimmten Phasen. Die mittlerweile frei zugänglichen SED-Akten belegen, in welchem Ausmaß Sprachvariationen in Bonner Texten nicht nur wahrgenommen, sondern auch als Mittel der eigenen operativen Politik gezielt eingesetzt wurden. d) Quellen-Mix Es besteht eine Pflicht zum Abgleichen der Materialbasis und damit zu den Grundsätzen der historischen Quellenkritik. Es ist ganz leicht, heute PR-Erfolge zu erzielen oder Konferenzen zu sprengen mit dem gezielt einseitigen Hinweis: "Wie ich den Akten entnommen habe". Die oft gepflegte Monotonie der Konferenz ist dann meist beendet. Das ist jedoch billige Effekthascherei. Alle geschriebenen oder erzählten Quellenbeiträge sind wechselseitig zu prüfen, zu relativieren oder zu ergänzen. Ich glaube weder einzelnen Aktenfunden noch zärtlich vergoldeten Erinnerungsberichten. In der abwägenden Summe vieler einzelner Quellen ganz unterschiedlicher Textsorten liegt der Erkenntnisgewinn. Die Akten sind filr die politische Geschichtsschreibung sicher unentbehrlich. Sie verhindern, wie Jürgen Haberrnas sagte, das Arrangieren der Wirklichkeit von gestern. Sie werfen nämlich nicht Schatten, sondern Licht auf die historische Wahrheit. 3. Abschließende Schlußthesen

a) Warnung vor Verklärungen Der Ost-West-Konflikt war nicht statisch. Und schon gar nicht heimeliger als die politische Lage heute. Nicht das Ende der Geschichte ist angesagt, wohl aber der Verlust an Orientierungssicherheit Über die Unsicherheiten des Neuen sollten wir nicht die Brutalitäten der Unfreiheiten vergessen, die der Ost-West-Konflikt filr Millionen Menschen bedeutete. Unterhalb der Statik des Konfliktes gab es, wie die verschiedenen Deutschlandbilder und Rollenkonstellationen zeigen, durchaus viel Bewegung, viele Veränderungen, besonders im politisch-kulturellen Selbstverständnis.

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b) Disziplinierung Der Ost-West-Konflikt hat die Deutschen jahrzehntelang im Denken und Handeln diszipliniert. Mit dem Zusammenbruch des traditionellen Feindbildes lockerten sich angestammte oder bisher geschützte Positionen. Zugehörigkelten bedürfen im neuen Koordinatensystem einer aktuellen Begründung aus sich selbst heraus. Warum sollen sich die Deutschen weiter in Europa integrieren? Wie wird die Integration ausgestaltet? Welche Staaten müssen sich weiter integrieren? Bisher orientieren sich die professionellen Antworten noch an den Kategorien, die aus der Wahrnehmungsflihigkeit und politischen Prioritätensetzung in Zeiten der Bipolarität resultierten. Notwendig sind neue Kategorien der Konflikt- und Integrationsmuster der Internationalen Politik. c) Überschätzung In den achtziger Jahren fand eine bemerkenswerte Umkehr in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten statt. Man glaubte, daß die DDR stärker wurde und die Oberhand in den Beziehungen erzielte. Die Wahrnehmung der DDR ging ganz eindeutig in die Richtung, daß man den zweiten deutschen Staat immer stärker und mächtiger einschätzte. Die geschichtliche Realität lehrt jedoch gerade das Gegenteil, daß die DDR in dieser Zeit immer schwächer und vor allem auch ökonomisch abhängiger von der Bundesrepublik wurde. Nur vor der Folie dieser Fehlperzeption des Westens werden nachträglich viele politische Entscheidungen angemessen interpretierbar. Dennoch bleibt die Frage, inwieweit die politischen Akteure in Bonn über die Geheimkanäle und Geheiminformationen sich auch an diese Fehlperzeption klammerten. d) Anpassung Der Weg der Außenpolitik der Bundesrepublik ist weder gekennzeichnet durch Machtvergessenheit noch durch Größenwahn, sondern durch aktive Anpassung an die Haupttendenzen der internationalen Politik und Einflußsteigerung mittels internationaler Zusammenarbeit. Dies hat jedoch oftmals verhindert, die politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in der DDR und in Osteuropa früher in den Blick zu bekommen. Allzuoft bestand die allgemein-politische Rolle Deutschlands in dieser Zeit aus parteipolitisch oder wahlorientierten Motiven. Profilsuche erfolgte häufig durch Ausklammem der Probleme.

Hans Willgerodt

DER WIRTSCHAFTSPOLITISCHE EINFLUß DEUTSCHLANDS AUF DIE INTERNATIONALEN BEZIEHUNGEN SEIT 1945 1 I. Ausgangsbedingungen: Deutschland als Objekt der internationalen Politik

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges war Deutschland vom Subjekt zum Objekt internationaler Beziehungen geworden. Trotzdem hat es diese Beziehungen durch sein bloßes Vorhandensein erheblich beeinflußt. In einem besiegten Land muß nach wie vor gewirtschaftet werden, und die Frage, in welcher Weise darin die gesellschaftliche Arbeitsteilung geordnet sein soll, muß beantwortet werden. Die Antwort hatten im deutschen Fall die vier Besatzungsmächte zu geben. Sie hatten im Potsdamer Abkommen beschlossen, "Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu betrachten",2 obwohl sie es gleichzeitig in vier Besatzungszonen aufgeteilt hatten. Vielleicht wollten sie die innerdeutsche Arbeitsteilung trotz dieser Aufteilung nicht zerstören, um die ohnehin katastrophale Versorgungslage nicht noch weiter zu verschlechtern. Wenn Deutschland als wirtschaftliche Einheit behandelt werden sollte, standen dafilr grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten zur Verfilgung: Entweder hätte man filr Deutschland im ganzen die aus der Kriegswirtschaft stammende Zentralverwaltungswirtschaft mit Veränderungen beibehalten können, deren Grundkonzept zugleich demjenigen der Sowjetunion ähnlich war. Oder man hätte filr das ganze Land ein marktwirtschaftliches System einfUhren können, mit einer Markt- und Zahlungsgemeinschaft bei freien Preisen und stabiler Währung. Hierzu hätte nicht nur bei den Westmächten eine entsprechende ordnungspolitische Konzeption vorhanden sein müssen, sondern sie hätten auch die Sowjetunion dazu bringen müssen, filr die sowjetische Besatzungszone auf die Einfilhrung des sowjetischen Wirtschaftssystems zu verzichten. Weder hatten die Westmächte ein

1Für

Kritik bin ich Herrn Diplom-Volkswirt ChristofSchares dankbar. Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam (2.8.1945) Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, 1945, Ergänzungsheft S. 13, abgedruckt in: Beck-Texte, Völkerrechtliche Verträge, (Hrsg.): Friedrich Berber, München 1973, III, Ziffer 14, S. 340.

2Amtliche

6 Klein I l'.cltlllt

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marktwirtschaftliches Konzept, noch war damit zu rechnen, daß sie die Sowjetunion dafllr gewinnen konnten. Damals waren die Westmächte keineswegs prinzipielle Gegner zentraler staatlicher Wirtschaftslenkung. Das galt selbst fllr die amerikanische Besatzungsmacht. Im State Department leitete der Nationalökonom John Kenneth Galbraith die fllr Deutschland zuständige Abteilung. Noch im Frühjahr 1948 empfahl er fllr Deutschland eine Fortsetzung der bis dahin angewandten erfolglosen Planwirtschaft, die er lediglich entschiedener und effizienter machen wollte.3 Von der britischen Labour-Regierung war zu jener Zeit keine Abkehr von planwirtschaftliehen Konzepten zu erwarten. Denn man war in Großbritannien gerade damit beschäftigt, in der Kriegswirtschaft angewandte Lenkungsmethoden auf die Friedenswirtschaft zu übertragen. In Frankreich begann zur gleichen Zeit eine Periode umfassender planification fllr den Wiederaufbau und die Modernisierung der Wirtschaft. Es bestanden also zwischen den Westmächten und der Sowjetunion kaum unüberbrückbare Differenzen über das anzuwendende Prinzip der Wirtschaftsordnung. Die Westmächte setzten die nationalsozialistische Zwangswirtschaft trotz erheblicher Zerfallserscheinungen fort, erhöhten durch Ausgabe von Besatzungsgeld den Inflationsdruck und schränkten die Wirtschaftsleistung durch Produktionsverbote und Demontagen ein; aber da die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone ähnlich verfuhr, ist zu fragen, weshalb man sich nicht mit ihr auf eine gemeinsame Zentralverwaltungswirtschaft einigen konnte. Dies war nicht nur deswegen ausgeschlossen, weil sich alsbald die Unmöglichkeit einer politischen Zusammenarbeit mit der totalitären Sowjetunion herausstellte, und der amerikanische Außenminister Byrnes schon am 6. September 1946 in seiner Stuttgarter Rede ernüchtert den Kurswechsel in der amerikanischen Deutschlandpolitik verkündet hatte. Selbst wenn die Westmächte unter Hintanstellen ihrer demokratisch-rechtsstaatliehen Tradition bereit gewesen wären, fllr Deutschland eine Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zu errichten, hätte dies die Einigung mit der Sowjetunion keineswegs erleichtert. Zwischen den vier Militärgouverneuren wäre es mit Sicherheit zum Konflikt darüber gekommen, wie der gemeinsame Zentralplan fllr Deutschland aussehen sollte. Dies war jedenfalls zu erwarten, solange die Gleichberechtigung der vier Besatzungsmächte erhalten blieb und keine dominierende Macht vorhanden war, die den übrigen Teilnehmern ihre Planvorstellungen hätte auf-

3J.K.

Galbraith, The Gennan Economy, in: Foreign Economic Policy for the United States, ed. by S.E. Harris, Cambridge (Mass.) 1948, S. 94 f.: "The question is not whether there must be planning - the assignment of priorities to industries for reconstruction and rehabilitation, the allocation of materials and manpower, the supplying of incentive goods and all the rest - but whether that planning has been fortright and effective".

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zwingen können. 4 Daß sich die Sowjetunion westlichen Planungsvorstellungen gebeugt hätte, war illusorisch. Auch eine umgekehrte Kapitulation war ausgeschlossen. Also war eine Zentralverwaltungswirtschaft fiir ganz Deutschland nicht möglich und die wirtschaftspolitische Spaltung Deutschlands filr Jahrzehnte besiegelt. Zwar hatten die angelsächsischen Besatzungsmächte fiir ihre Zonen erhebliche Probleme und Kosten hinzunehmen. Die Westmächte waren aber trotzdem nicht bereit, ihre militärisch-politische Position in Deutschland aufzugeben. Auch die Westdeutschen konnten nicht dazu verleitet werden, auf sowjetische Angebote fiir die Einheit Deutschlands einzugehen; die Sowjetunion wollte und konnte nicht ihr System fiir die Deutschen so anziehend machen, daß sie deswegen bereit gewesen wären, die Einheit unter sowjetischem Vorzeichen anzustreben. Außerdem war damit zu rechnen, daß die Westmächte schließlich einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vollziehen würden, wodurch der Bruch mit der Sowjetunion endgültig werden mußte. Da in das dicht besiedelte Westdeutschland mit seinen Kriegszerstörungen 6,7 Millionen Vertriebene und weitere Millionen Zuwanderer vorwiegend aus der Sowjetzone hineingeströmt waren, mußten angelsächsische Steuerzahler filr eine Überlebenshilfe sorgen. Für sie war das eine Art von ärgerlicher Reparation mit umgekehrtem Vorzeichen. Auch filr die Empflinger war diese Hilfe solange ärgerlich, wie sie durch eine degenerierte staatliche Wirtschaftslenkung und einen weitgehend überhaupt ordnungslosen Zustand daran gehindert wurden, sich durch produktive Arbeit selbst zu helfen. 5 Nachdem alle Versuche fehlgeschlagen waren, mit der Sowjetunion eine gemeinsame Politik festzulegen, entschlossen sich die Westmächte unter amerikanischer Führung zu der Währungsreform von 1948. Dabei wurden deutsche Instanzen zwar schon angehört, das Entscheidungsrecht lag aber noch allein bei den Besatzungsmächten.

4Über

diesen allgemeinen Zusammenhang: Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung - heute, 3. Aufl Bern 1979, S. 148 ff.; ders., Wirtschaftssystem und internationale Ordnung. Prolegomena, Ordo Bd. 4 1951, S. 261-297, insbesondere S. 288 ff. 5Zur damaligen Situation: Walter Eucken, Deutschland vor und nach der Währungsreform, in: Albert Hunold (Hrsg.), Vollbeschäftigung, Inflation und Planwirtschaft, Erlenbach-Zürich 1951, S. 134-183; Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, 3. Aufl. Erlenbach-Zürich 1948, 3. Teil, 2. und 3. Kapitel.

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Il. Deutschlands Wandlung zum Subjekt der Politik

Gleichwohl setzte sich allmählich bei den Westmächten die Überzeugung durch, daß ein deutscher Einfluß auf die strategischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen notwendig war, schon um die eigene Verwaltung zu entlasten. So war nach Wiedererrichtung der deutschen Länder für die britisch-amerikanische Besatzungszone eine Art von Parlament mit Gesetzgebungsbefugnis eingerichtet, der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, ergänzt durch den Länderrat als einen Vorläufer des heutigen Bundesrates. Der zuständige Direktor der Verwaltung für Wirtschaft zum Zeitpunkt der Währungsreform war Ludwig Erhard. Er ergänzte die Währungsreform durch eine Wirtschaftsreform, ohne auf das alliierte Einverständnis zu warten.6 Diese Reform bestand vor allem im sofortigen Übergang zu freien Preisen und zur Beseitigung der Bewirtschaftung, also zur Marktwirtschaft. Dabei war dieser Übergang zwar radikal genug, um eine genügend große kritische Masse von Gütern zu erfassen, aber nicht so radikal, daß die politischen Widerstände dagegen übermächtig werden konnten.7 Dieser Übergang zur Marktwirtschaft bedeutete einen Affront gegenüber den Besatzungsmächten und den Beginn einer selbständigen deutschen Politik mit eigener Strategie überhaupt. Dies war nur in Westdeutschland möglich; in der Sowjetzone blieb ein selbständiges Handeln deutscher Instanzen nur in dem taktischen Spielraum möglich, den die Besatzungsmacht gelassen hatte. Erst die DDR hat ihn in begrenztem Umfang erweitert. Der Übergang Westdeutschlands zur Marktwirtschaft hatte auch einen außenpolitischen Akzent. Denn er war gegen den Willen der Besatzungsmächte vollzogen worden, die ihn als vollendete Tatsache hinnehmen mußten. Über die Wirtschaftspolitik begann Deutschland wieder zum Subjekt der Politik und der internationalen Beziehungen zu werden. Dieser Weg ist nicht zufällig. Nach einem politischen Zusammenbruch, der wie im deutschen Falle zugleich ein totaler wirtschaftlicher Zusammenbruch gewesen ist, braucht jede Politik zunächst wieder eine wirtschaftliche Basis. Konrad Adenauer hatte rechtzeitig erkannt, daß hierfür das Konzept Ludwig Erhards aussichtsreich war. Deswegen hatte er es zusammen mit dessen Urheber filr die CDU adoptiert.8 An die Stelle des unbrauchbaren Ahlener Programms trat eine etwas unterkühlte Vernunftehe mit der Marktwirtschaft. 6 Vgl.

Volkhard Laitenberger, Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker. Göttingen, ZUrich 1986, S. 69 ff. 7Zu den Einzelheiten: Hans Willgerodt, Westdeutschland auf dem Wege zu "richtigen" Preisen nach der Reform von 1948, in: Hans-JUrgen Wagener (Hrsg.), Anpassung durch Wandel, Schriften des Vereins ftlr Socialpolitik, Band 206, S. 175-208. 8Volkhard Laitenberger, a.a.O., S. 76 ff

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Die Unterkühlung besteht seitdem fort. Marktwirtschaftliche Ordnungsgrundsätze gelten als pragmatisch zu handhabende Verfilgungsmasse, die politischen Tageserwägungen dienstbar gemacht werden kann. Die langfristig orientierte ordnungspolitische Unbeirrbarkeit Erhards wurde als Mangel an Realismus und politischem Zweckmäßigkeitsdenken ausgegeben. Daran änderte sich auch nichts, als Erhard damit eine Wahl nach der anderen gewann. Verkürzt ausgedrückt: Nachdem Erhard mit seinem Konzept Wirtschaftswachstum und Wohlstand mit sozialem Ausgleich möglich gemacht hatte, wurde er zunehmend lästiger. Ähnliches widerfuhr später den marktwirtschaftlich denkenden Ministern Kar! Schiller und Graf Lambsdorff. Marktwirtschaftliche Konzepte konnten daher nur lückenhaft durchgesetzt werden. Trotzdem wurde der außerordentliche Erfolg Erhards ein gewichtiger Faktor der internationalen Beziehungen. Die neue deutsche Wirtschaftspolitik widersprach den damals international vorherrschenden inflationär-kollektivistischen Tendenzen. Trotz dringender ausländischer Ratschläge9 weigerte sich Erhard, eine inflatorische Vollbeschäftigungspolitik zu betreiben, da die westdeutsche Arbeitslosigkeit strukturell bedingt war. In einem internationalen Umfeld, in dem noch jahrelang Maßnahmen der Devisenzwangswirtschaft und der protektionistischen Abschließung beibehalten wurden, wurde in Westdeutschland die Befreiung des Außenwirtschaftsverkehrs zur Richtschnur der Politik. Das Ziel der vollen Konvertierbarkeit der deutschen Währung wurde beharrlich angestrebt und früher erreicht als in anderen Ländern. 10 So wurde den Deutschen im westlichen Teil des Landes das Tor zur Welt geöffnet, das jahrzehntelang verschlossen gewesen war. Davon gingen auf das Ausland unmittelbare Wirkungen aus: • Zunächst konnten die Westdeutschen wieder ohne ausländische Hilfe auskommen, die Belastung der angelsächsischen Steuerzahler durch die geleistete Überlebenshilfe entfiel. •

Der ständig wachsende deutsche Markt wurde ausländischen Anbietern geöffnet, nicht nur, weil die auch Westdeutschland zugute kommenden Hilfen aus dem Marshallplan an eine solche Öffnung gebunden waren, sondern auch wegen der absichtsvoll betriebenen Liberalisierungpolitik West-

9Dsgl.,

S. 90 ff.; Wilhelm Röpke, Das deutsche Wirtschaftsexperiment Beispiel und Lehre, in: Albert Hunold (Hrsg.), Vollbeschäftigung, Inflation und Planwirtschaft, a.a.O., S. 264,286, 302. 10Die volle Konvertierbarkeit der DM ftlr alle Verwendungszwecke wurde praktisch Ende 1958 erreicht. Andere Länder in Europa gingen im gleichen Jahr erst zur Ausländerkonvertierbarkeit über, versagten aber den eigenen Bürgern den freien Umtausch eigener Währung in Devisen. Der freie Kapitalverkehr mit dem Ausland wurde in vielen Ländern erst nach weiteren Jahrzehnten zugelassen.

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deutschlands. 11 Um so anachronistischer wirkten deutsche Handelshemmnisse in einigen Bereichen, etwa der Landwirtschaft, in der die Politik des ehemaligen Reichsnährstandes nahezu unverändert fortgesetzt wurde. • Nach der Überwindung der westdeutschen Zahlungsbilanzkrise von 1950/5 I konnte die westdeutsche Leistungsbilanz mit geringfilgigen Unterbrechungen bis I 990 chronische Überschüsse ausweisen. Von den Mißverständnissen, die mit solchen Überschüssen verbunden waren und sind, wird noch zu sprechen sein. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß Westdeutschland durch diese Überschüsse mehr Güter an das Ausland geliefert als von dort bezogen hat; das bedeutet nichts anderes als daß Westdeutschland damit dem Ausland Kapital zur VerfUgung gestellt hat. Im Normalfall ist dies filr den Empfänger ein Vorteil. •

Seit 1953 leistet Westdeutschland mehr unentgeltliche Wertübertragungen an das Ausland, als es von dort empflingt. Hervorzuheben sind dabei Wiedergutmachungszahlungen, erhebliche Nettozahlungen an den EG-Haushalt und Überweisungen von Gastarbeitern in ihre Heimat.

Im ganzen ist nicht zu erkennen, daß dem Ausland aus der deutschen Öffnung ein Schaden entstanden wäre, im Gegenteil. Deutschland hat auch als Lieferant, insbesondere von Industrieprodukten, zum Wohlstand der Umwelt beigetragen. Wenn es anders wäre, könnte man fragen, weshalb das Ausland deutsche Güter gekauft hat. Sicher nicht, um sich selbst zu schädigen, so sehr ausländische Konkurrenten auch den deutschen AnbieteTWettbewerb als unbequem empfunden haben mögen. Europa und der Welt ist im ganzen kein Nachteil daraus entstanden, daß Westdeutschland wieder in die internationale Arbeitsteilung eingegliedert ist, anstatt ein Herd des Massenelends zu bleiben, wie es von 1945 bis zur Reform von 1948 geherrscht hat. Für die internationalen Beziehungen ist aber noch wesentlich wichtiger, daß Westdeutschland auf diese Weise fest an die westliche Welt gebunden war. 12 Es verdankt seinen Wohlstand zu einem dominierenden Anteil dem Außenhandel in Waren und Dienstleistungen. Eigentlich kann die deutsche Politik seitdem Gedanken an Rückflille in nationalsozialistische Autarkietendenzen überhaupt nicht in Erwägung ziehen. Soweit, etwa in der Landwirtschaft oder im Kohlebergbau und neuerdings sogar im Bereich der sogenannten Hochtechnologie, 11 Die

westdeutschen Einfuhren stiegen dem Volumen nach, also bei den Mengen bewertet mit Durchschnittswerten von 1980, von 21,478 Mrd. DM im Jahre 1952 auf616,418 Mrd. DM im Jahre 1992. Vgl. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1993/94, Zeit zum Handeln - Antriebskräfte stärken, Stuttgart 1993, S. 388, Tabelle 65*. 12Zu dem politischen Argument, Deutschland durch eine hoch entwickelte Wirtschaft stark vom Außenhandel abhllngig zu machen, zu "einer Art von größerem Belgien", vgl. schon Ende 1945: Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, 2. Auf!. Erlenbach-Zllrich 1945, Epilog, S. 257.

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solche Selbstversorgungsziele vorgeschoben werden, handelt es sich um kostspielige Illusionen. 13 1/l. Die deutsche Wirtschaftspolitik zwischen Weltoffenheit und innenpolitischen Ansprüchen

Die Weltoffenheit der Erhardschen Wirtschaftspolitik hat zur Rückkehr Deutschlands zum Weltmarkt 14 gefilhrt. Sie paßte insofern zu der von Konrad Adenauer betriebenen Rückkehr Deutschlands in die westliche Gemeinschaft freier Völker. Allerdings bedeutet eine Öffnung des eigenen Landes zum Weltmarkt einen teilweisen Verzicht auf Politik. An ihre Stelle tritt das Recht im Sinne dauerhafter Freiheiten der Bürger. Der Außenhandel ist dann in seiner Größe und Richtung nicht mehr Regierungsangelegenheit und Staatsaktion, sondern wird den freien Entscheidungen privater Wirtschaftseinheiten über den Verkehr mit Ausländern überlassen. Dabei wird Außenpolitik auf die Funktion beschränkt, die Ordnung des internationalen Wirtschaftsverkehrs rechtlich und tatsächlich zu sichern. Gegen eine solche Neutralisierung der Außenwirtschaftspolitik richten sich zunächst zahllose innenpolitische Interessen. Denn der Verzicht auf regulierende und protektionistische Eingriffe des Staates in den außenwirtschaftliehen Verkehr bedeutet, daß inländische Interessengruppen sich in höherem Maße durch Leistung am Markt bewähren müssen, weil sie nicht mehr vom Staat vor 13 Das

Argument, die deutsche Landwirtschaft müsse zur Versorgungssicherheit im bisherigen Umfang Protektion erhalten, muß unterstellen, daß der "gemeinsame Markt" fllr Agrarprodukte in der EG mit seinen Überschußproblemen als Versorgungsquelle unsicher ist. Außerdem muß angenommen werden, daß die Versorgung einer vor Auslandswettbewerb geschützten Landwirtschaft mit Produktionsmitteln aus der Industrie, etwa Mineralölprodukten, weniger unsicher ist als eine Zufuhr von Agrarprodukten aus dem Ausland. Beide Annahmen sind abwegig. Im Wirtschaftsjahr 1992/93 betrugen die Vorleistungen in der deutschen Landwirtschaft 52,8% des Produktionswertes, davon Oberwiegend BezUge aus anderen Wirtschaftszweigen. Der unmittelbare Energieaufwand betrug 8,35 %vom Produktionswert (also ohne die in anderen Vorleistungen enthaltene Energie); berechnet nach: Agrarbericht 1994 der Bundesregierung, Materialband, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/6751, Tabellen 22 und 23.- Für den deutschen Kohlenbergbau wird ftlr 1987 ein Subventionsbetrag je Beschäftigten von 51.542 DM angegeben: Deregulierungskommission, Marktöffnung und Wettbewerb, Stuttgart 199I, S. 73; der Betrag dUrfte inzwischen wesentlich gestiegen sein. - Eine Subventionierung oder Einfuhrbehinderung von Produkten der Hochtechnologie setzt voraus, daß sie privatwirtschaftlich nicht oder noch nicht rentabel ist und der Erfolg einer protektionistischen Erziehung die Kosten Obersteigt. Der Nachweis wurde bisher nicht gefllhrt. Vgl. Jorgen B. Donges, Nach der UruguayRunde: Alte und neue Bedrohungen fllr den freien Handel. Egoo-Sohmen-Vorlesung 1994 an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes, 27 .Juni 1994 14Vgl. Ludwig Erhard (Bearb.: Herbert Gross), Deutschlands RUckkehr zum Weltmarkt, DUsseldorf 1953.

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Auslandskonkurrenz geschützt werden. Solange es noch eine selbständige deutsche Außenwirtschaftspolitik gab und Zuständigkeiten nicht an die EG abgetreten waren, wurden protektionistische Ansinnen unter dem Einfluß Erhards möglichst weitgehend zurückgedrängt. Teilweise hat die deutsche Exportwirtschaft erkannt, daß sie diese Politik unterstützen mußte; denn über den langfristigen Zahlungsbilanzzusammenhang sind die Möglichkeiten des Exports davon abhängig, ob dem Ausland Gelegenheit gegeben wird, die zur Bezahlung deutscher Güter erforderlichen Mittel durch Lieferung eigener Güter nach Deutschland zu verdienen. Auf zahlreichen Gebieten konnte dieses freihändlerische Prinzip jedoch nicht durchgesetzt werden. Die Landwirtschaft erschien trotz ständig schrumpfenden Anteils an der Bevölkerungszahl wahltaktisch und emotional so wichtig, daß die westdeutsche Agrarpolitik extrem protektionistisch war und noch ist. Sie hat die europäische Agrarpolitik nach ihrem eigenen zwangswirtschaftliehen Bilde maßgeblich beeinflußt. Das außerökonomische Ziel eines höheren Pro-KopfEinkommens aus landwirtschaftlicher Tätigkeit wurde ebenso verfehlt wie das ökologische Ziel eines stärker umweltschonenden Landbaus. 15 Da der Agrarprotektionismus der EG nicht zuletzt auf deutschen Einfluß zurückgeht, 16 ist es nur folgerichtig, wenn Deutschland zum Hauptnettozahler der Gemeinschaft geworden ist. Denn die Agrarausgaben stellen den größten Teil der Gemeinschaftsausgaben dar. Es hätte nicht viel gefehlt, um die Uruguay-Runde des GATT am Agrarprotektionismus der Europäischen Gemeinschaft scheitern zu lassen, hinter dem sich neben anderen Kräften auch die deutsche Agrarpolitik verbirgt. Erfolglos blieben ferner eigene Versuche Westdeutschlands, die Energiewirtschaft, den Kohlenbergbau, das Versicherungswesen, die Verkehrswirtschaft, das öffentliche Beschaffungswesen und manches andere voll dem internationalen Wettbewerb auszusetzen. In der Verkehrswirtschaft hat die EG inzwischen eine Marktöffnung erzwungen, im Dienstleistungsbereich wird vielleicht das neue GATT-Abkommen einen Wandel bringen. Trotz aller wirtschaftspolitischen Liberalisierungen setzte sich bei den "Generalisten" der westdeutschen Politik die Ansicht fest, eine ordnungspolitische Rationalität der Wirtschaftspolitik, soweit man sie überhaupt anerkannte,

15 Die

Politik überhöhter Erzeugerpreise in Verbindung mit amtlich angeordneter und subventionierter Zwangsbrache ftlhrt zu überintensiven Anbaumethoden und Überdüngungen auf den Restflllchen. Ein großer Teil der Interventionskosten kommt weder direkt noch indirekt den Landwirten zugute. Zur Kritik am EG-Agarsystem: Hans Willgerodt, Die- Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft in der Krise, Ordo Bd. 34 1983, S. 97-139. 16Vgl. Alfred Mllller-Armack, Auf dem Weg nach Europa, Stuttgart 1971, S. 114 f. Die im EWGVertrag als Möglichkeit vorgesehene marktwirtschaftliche Lösurig hatte nur deklamatorischen Charakter.

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habe im Zweifel hinter anderen politischen Zielen zurückzustehen. 17 In ständig zunehmendem Umfang haben punktuelle Staatsinterventionen 18 und Gruppenbegünstigungen in Verbindung mit einer ungehemmten Expansion des Sozial-, Abgaben- und Steuerstaates die wirtschaftspolitischen Entscheidungen bestimmt. In einer weltoffenen Volkswirtschaft müssen diese neumerkantilistischen Maßnahmen außenwirtschaftlich abgesichert werden. Da durch die liberalisierende Politik zur Abschaffung von Kontingenten und Zöllen diese Instrumente nicht mehr allgemein zur VerfUgung stehen, muß man zu den oft versteckten Methoden des administrativen Protektionismus und sonstiger nichttariflirer Handelshemmnisse greifen. Besonders interessant ist hierbei neuerdings der Protektionismus der Lohntarife: Die von deutscher Seite geforderte Entsenderichtlinie der EG soll dafür sorgen, daß ausländische Firmen, die in Deutschland tätig werden, ihre Arbeitnehmer zu deutschen und nicht zu ihren eigenen Lohntarifen entlohnen sollen. Der Zweck dieser Maßnahme ist die Sicherung des nationalen Lohnkartells vor ausländischem Wettbewerb, der von beiden Tarifpartnern gemeinsam bekämpft wird. Die internationale Arbeitsteilung soll insoweit verweigert werden. Man sieht an diesem Beispiel, daß Innenpolitik vielfach, wenn nicht immer, zugleich auch Außenpolitik ist. Besonders deutlich wird dies an den Segnungen des deutschen Wohlfahrtsstaates. Sie kommen nur Inländern oder zugelassenen Einwanderem zugute. Es könnte zu einer Finanzkatastrophe führen, soweit bei völlig offenen Grenzen jeder, der sie überschreitet, zum Beispiel Anspruch auf Alimentierung erwirbt. 19 Wer dem Staat eine umfassende "Daseinsvorsorge" anvertraut, muß wissen, daß er das damit verbundene Finanzierungsproblem nur lösen kann, wenn man einen Zahler findet. Eine Lösung ergibt sich, wenn Leistungen nur noch nach dem Äquivalenzprinzip abgegeben werden, also nur an den Kreis derjenigen, die auch einzahlen. Anderenfalls muß man diejenigen, denen man - etwa im Wege sogenannter Generationenverträge- Lasten aufbürden will, an der Flucht vor diesen Lasten hindern. Die DDR hat mit dem Bau der Mauer die Logik dieses Sachverhaltes nur auf die Spitze getrieben. Wie sich dieser Wohlfahrtsstaat mit der Weltoffenheit einer liberalen Wirtschaftspolitik vereinbaren läßt, wird früher oder später zum Problem werden. Dabei handelt es sich auch um ein Problem der Dosierung und Struktur solcher 17Vgl.

im einzelnen: Hans Willgerodt, Konkurrenz von politischer und ökonomischer Rationalität im Transforrnationsprozeß: Helmut Jäckel (Hrsg.), Die neue Bundesrepublik, Baden-Baden 1994, S. 33-52. 18Zur Kritik am punktuellen Denken und Verfahren in der Wirtschaftspolitik: Waller Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl. TUbingen 1990, S. 195, 251 und passim. 19Zu der daraus folgenden nationalen Abschließung: Wilhelm Röpke, Die Nationalisierung des Menschen, in: ders., Maß und Mitte, 2. Aufl. Bem und Stuttgart 1979, Kapitel X.

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Regelungen. Bei maßvoller Anwendung und Annäherung an das Prinzip von Leistung und Gegenleistung sowie bei Wahlmöglichkeiten, die dem Bürger gelassen werden, entschärft sich der Konflikt, national wie international. Auch Sozialpolitik kann nicht mehr ohne Rücksicht auf ihre internationalen Folgen betrieben werden. Für alle ins Gewicht fallenden innenpolitischen Begünstigungen gilt: Sie belasten oder begünstigen in der offenen Volkswirtschaft so gut wie immer nicht nur andere Inländer, sondern direkt oder indirekt auch Ausländer. IV. Die deutsche Außen- und Europapo/itik zwischen Weltoffenheit und Geschlossenheit

Wirtschaftspolitik und natürlich Außenwirtschaftspolitik haben also erhebliche außenpolitische Bezüge. Außenpolitik ist aber noch immer in erheblichem Grade auch Machtpolitik. Hinter ihr muß ein Handlungspotential stehen, das eine wirtschaftliche Grundlage hat. Darüber verfUgen meist Nationalstaaten. Dieses Potential wird zunächst durch Machtanwendung gegenüber den eigenen Bürgern mobilisiert, sei es durch Abgaben, sei es durch Dienstpflichten oder Anordnungen und Verbote. Man braucht hierzu Institutionen und gesetzgebende oder anordnende Bürokratien. Die Erfahrungen, die die Deutschen in diesem Jahrhundert in dieser Hinsicht mit ihrem Nationalstaat gemacht haben, sind vom Trauma zweier totalitärer Regime geprägt. Um dieses Trauma zu überwinden, boten sich zwei Möglichkeiten an, die nur teilweise miteinander harmonieren. Nach beiden Konzepten soll die deutsche nationalstaatliche Souveränität beschränkt werden. Das traditionellmachtstaatliche Konzept enthält dazu den Vorschlag, daß bisher vom Nationalstaat ausgeübte Souveränitätsrechte auf eine supranationale Ebene übertragen werden sollen, die den bisherigen Nationalstaat mehr oder weniger ersetzen soll. Da die Übertragung solcher Souveränitätsrechte an die UNO eine allzu abenteuerliche Vorstellung wäre, ist Europa als realistische Alternative gewählt worden. Viele deutsche Europapolitiker möchten nicht nur möglichst viel von der deutschen Souveränität auf irgendeine Europa-Instanz übertragen, sondern dieser Instanz auch noch zusätzliche Souveränitätsrechte verschaffen, die die Nationalstaaten bisher nicht gehabt oder in Anspruch genommen haben. Man glaubt, auf diese Weise das deutsche Potential einbinden und Europagegen einen neuen deutschen Nationalismus stärken zu können. Die zweite Möglichkeit und damit auch das Konzept Ludwig Erhards besteht darin, Entscheidungsrechte, vor allem in der Wirtschaft, die der Staat an sich gezogen hat, den Bürgern wieder zurückzugeben. Elemente der Staatssouve-

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ränität sollen also nicht auf eine andere Ebene verlagert, sondern überhaupt abgebaut werden?0 Man kann die erste Möglichkeit machtstaatlich-verwaltungswirtschaftlich nennen, die zweite zivilrechtlich-marktwirtschaftlich. Der Machtstaatler möchte die außenpolitische Reintegration Deutschlands eher in staatlichen Institutionen repräsentiert sehen. Eine bloße freihändlerische Bürgerfreiheit als funktionale Integration in eine weltweite Markt- und Zahlungsgemeinschaft erscheint ihm zu wenig faßbar, das dazu erforderliche Privatrecht ist ihm zu wenig politisch. Europa dürfe nicht zu einer bloßen Freihandelszone verkommen, heißt es dann. Man will einen institutionell greifbareren Adressaten, der als Machtkörper auf der Weltbühne mit anderen Gebilden, etwa den USA und Japan, auftreten könne. Mit bloßer Bürgerfreiheit könnten sich die Konturen dieses Machtgebildes Europa auflösen wie der Zucker im Tee. 21 Ob Europa eine militärisch-außenpolitische Macht werden soll, ist hier nicht weiter zu erörtern. Jedenfalls ist die unmittelbare außenpolitisch-militärische Union Europas bisher allenfalls in mehr der Optik dienenden Demonstrationen zustande gekommen. Man hat deswegen geglaubt, die Wirtschaftspolitik als Harmonisierungsinstrument benutzen zu sollen. Der hiermit gewählte Umweg war und ist problematisch. Es mußte dabei der geschilderte Gegensatz zwischen dem machtstaatlichen und dem liberalen Konzept in voller Schärfe hervortreten. Dieser Gegensatz erklärt auch einen Teil des Konfliktes zwischen Adenauer und Erhard. Das von Erhard vertretene marktwirtschaftliche System erfordert einen rechtlich-institutionellen Rahmen, der eine Privatrechtsgesellschaft22 zuläßt. Dazu ist eine staatliche Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt erforderlich. Von ihr muß vor allem das Privatrecht gepflegt werden, wenn sich ein Markt und die mit ihm verbundene wohlstandsfordernde Arbeitsteilung im Wettbewerb entwickeln sollen. Man hat sogar davon gesprochen, daß diese Arbeitsteilung von der Reichweite eines Rechtssystems abhängt, das der Privatrechtsgesellschaft angemessen ise3 . Diese staatliche Ordnungsfunktion hat Ludwig Erhard stark betont, aber dabei nicht in räumlichen Beschränkungen gedacht, etwa in dem Sinne, daß nur bestimmte Länder zu der marktwirtschaftliehen Privatrechtsge20Zum

Verhältnis von Nation, Souveränität und Weltwirtschaft: Wilhelm Röpke, Nation und Weltwirtschaft, Ordo Bd. 17, 1966, S. 37-56. 21 Dieses Bild soll ein bekannter deutscher Europapolitiker gebraucht haben, als zu entscheiden war, ob die EWG durch eine große Freihandelszone ergänzt werden sollte. Eine widerlegende Antwort hat in klassischer Fonn Ludwig Erhard 1959 gegeben: Ludwig Erhard, Deutsche Wirtschaftspolitik, DOsseidorf-Wien/Frankfurt am Main 1962, S. 450 ff. 22Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo Bd. 17 1966, S. 75-151 . 23 Dieter Schmidtchen und Jörg Schmidt-Trenz, The Division ofLabor is Limited by the Extent of the Law - A Constitutional Economics Approach to International Private Law, in:Constitutional Political Economy, Vol. I, No. 3, Fall1990, S. 49-71.

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sellschaft zugelassen werden sollten. Einer über die Ordnungsfunktion hinausgehenden Präsenz des Staates in der Wirtschaft stand er ablehnend gegenüber, so sehr er auch im politischen Alltag zu Konzessionen gezwungen war. Adenauer und sein Staatssekretär Hallstein hatten hier weniger Bedenken. Ihrem machtstaatlich-verwaltungswirtschaftlichen Konzept entsprach die schon 1951 gegründete Montanunion. Man erhoftte sich von ihr eine politische Aussöhnung mit Frankreich, weil die Unterstellung der europäischen Schwerindustrie unter eine gemeinsame Steuerungs- und Uberwachungsbürokratie einen kriegerischen Konflikt zwischen den Beteiligten unmöglich mache. Weder kann jedoch die nationale Rüstungswirtschaft von der Montanunion wirksam gehemmt werden noch hat die Montanwirtschaft heute die kriegswirtschaftliche Bedeutung, die ihr zugeschrieben wurde. Wirtschaftspolitisch handelte es sich um eine interventionistische Fehlkonstruktion, von der kaum noch jemand spricht24 . Sie stellte eine Konzession an das seinerzeit in Frankreich herrschende dirigistische Denken dar. Dessen Hauptvertreter war der frühere Leiter der französischen Planwirtschaft Jean Monnet, der erster Präsident der Hohen Behörde der Montanunion wurde. Diese institutionell-machtwirtschaftliche Konstruktion stellt sich die Einigung Europas in Form gemeinsamer "Hoher Behörden" oder auch von Industriekartellen vor.25 Die marktwirtschaftliehen Elemente des Montanunionsvertrages erwiesen sich als weitgehend bedeutungslos. In der Europapolitik wirkten jedoch starke Gegentendenzen. Dies zeigte sich im EWG-Vertrag von 1957. Auf ihn nahmen deutsche Vertreter einer marktwirtschaftlichen Auffassung wie Alfred Müller-Armack stärkeren Einfluß. 26 Die im Vertrag vorgesehenen Freiheiten ftlr den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, ftlr die Bewegung von Arbeitskräften und ftlr die Niederlassung im Gesamtgebiet der Mitgliedstaaten entsprachen liberalen Grundsätzen einer Zurücknahme staatlicher Eingriffsansprüche. Auf der anderen Seite hat auch die westdeutsche Europapolitik Maßnahmen hingenommen oder gar angeregt, mit denen die liberalen Komponenten des Gemeinsamen Marktes wieder zurückgenommen werden oder gar nicht entstehen. Neben der Agrarpolitik, dem vielfältigen Streben nach Beihilfen und der Forderung nach einer Entsenderichtlinie sind hier die industriepolitischen Bestimmungen des Maastrichter Vertrages zu nennen. Auch das von manchen deut24Zu

den Einzelheiten: Hans Willgerodt, Wirtschaftspolitische Grundbedingungen der Europäischen Gemeinschaft, in: Gesellschaft ftlr Rechtspolitik Trier, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1991/1, Mün-chen 1991, S. 51 ff. 25Der Montanunionsvertrag verbot private Kartelle, sie wurden aber unter behördlicher Aufsicht nicht nur zugelassen, sondern angeregt. Das entsprach älteren französichen Vorstellungen: Edouard Herriot, Vereinigte Staaten von Europa, Leipzig 1930. 26Alfred MUIIer-Arrnack, Auf dem Weg nach Europa, a.a.O.

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sehen Europapolitikern vertretene Prinzip, sämtliche Unterschiede rechtlichinstitutioneller Regelungen innerhalb der Gemeinschaft schlechthin als Wettbewerbsverzerrungen auszugeben und entsprechende Angleichungen zu verlangen, gehört in diese Kategorie. Eine totale rechtliche Uniformierung aller Vorschriften einschließlich technischer Standards würde den Wettbewerb eher unterbinden. Auch der auf vielen Gebieten durchaus sinnvolle Wettbewerb politischer und institutioneller Systeme würde unterbunden. Seit ihrer Gründung streiten in der Europäischen Gemeinschaft verwaltungswirtschaftliche und marktwirtschaftliche Konzepte miteinander. Dies kam auch in dem wirtschaftspolitischen Streit zum Ausdruck, den Ludwig Erhard mit dem ersten Präsidenten der EWG-Kommission Hallstein ausgefochten hat. 27 Dabei ging es nicht nur um die planerische Prozeßsteuerung, mit der die EGKommission in ihrem Aktionsprogramm für die zweite Stufe die Wirtschaft der Gemeinschaft lenken wollte. Das im Hintergrund stehende machtstaatlichverwaltungswirtschaftliche Konzept strebte nach Abgrenzungen gegenüber der Außenwelt und ist bis heute wirksam. Es soll allenfalls ein regulierter Binnenmarkt zugelassen werden, der möglichst fiir die Mitglieder reserviert bleiben soll. Nur dann läßt sich etwa eine "gemeinsame Politik" ähnlich der EGAgrarmarktregulierung durchsetzen. Politik nach dieser Auffassung heißt immer Eingriff und obrigkeitliche Lenkung. Die EG-Behörden möchten weitere "Politikbereiche" nach diesem Muster vergemeinschaften, von der Hochtechnologie und der Forschung bis zur Regionalpolitik, wobei das Sinnvolle nicht sorgfältig vom weniger Sinnvollen getrennt wird. Die damit verbundene Desintegration gegenüber der Außenwelt wird in Kauf genommen. Unter der vielfach geforderten "Vertiefung" der Gemeinschaft wird weniger eine Vollendung der innergemeinschaftlichen Freiheiten verstanden als eine weitere verwaltungswirtschaftliche Verfestigung. Dies hat außenpolitische Folgen. Gegenüber Beitrittskandidaten wird damit der Anspruch verbunden, nicht nur die liberal-rechtsstaatliehen Clubregeln der Gemeinschaft zu akzeptieren, sondern auch diesen verwaltungswirtschaftlichen "Besitzstand". Das bedeutet ein künstliches Beitrittshindernis fiir solche Länder, die zum Beispiel die Agrarmarktregulierung der EG nicht übernehmen können. Würde die jetzige Agrarpolitik der EG auf Länder wie Polen oder Ungarn übertragen, so käme es zu einer Finanzkatastrophe im EG-Haushalt und zu einer strukturellen Fehlorientierung in diesen Ländern. Da die deutsche Außenpolitik eine Erweiterung der EG fördern will, müßte sie eigentlich die marktwirtschaftliehen Elemente der EG verstärken. Denn der Beitritt zu einem

27Vgl.

Ludwig Erhard, Planification -kein Modell filr Europa, in: Ludwig Erhard, Gedanken aus filnf Jahrzehnten. Herausgegeben von Karl Hohmann, DUsseldorf, Wien, New York 1988, S. 770-780; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.11.1962, Freiheitliche Wirtschaftspolitik in Europa. Das Rededuell zwischen Erhard und Hallstein im Europäischen Parlament.

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freien Markt ist leichter als die Unterordnung unter eine gemeinsame Zwangswirtschaft. 28 Auf den ersten Blick scheint das zivilrechtlich-marktwirtschaftliche Konzept dem Ziel einer politischen Vereinigung zu widersprechen. Denn sein geographischer Integrationsbereich ist nicht regional und staatsrechtlich genau abgegrenzt; prinzipiell könnte er die ganze Welt umfassen, soweit sie marktwirtschaftliehen Ordnungsregeln zugänglich ist. Weltweiter Handel schließt aber politische Zusammenschlüsse keineswegs aus, sondern mindert nur ihre wirtschaftliche Bedeutung. Gleichzeitig unterwirft er staatliches Handeln insofern einer internationalen Qualitätskonkurrenz, als freie Bewegungen von GUtem, Kapital und Menschen auf nachteilige Maßnahmen von Regierungen empfmdlich reagieren. Es trifft auch nicht zu, daß eine verwaltungswirtschaftliche Abschließung zusammen mit ihrer Politisierung des Außenwirtschaftsverkehrs einen höheren Machtzuwachs bringt. Dies gilt, selbst wenn nach nationalsozialistischem oder sowjetischem Vorbild versucht wird, den Verlust an internationaler Arbeitsteilung dadurch wettzumachen, daß man sich einen imperialistisch beherrschten Großraum unterwirft?9 Die marktwirtschaftliehen USA haben den Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion gewonnen, weil ihr relativ offeneres Wirtschaftssystem überlegen war und eine größere militärische Last tragen konnte. Wenn im übrigen gesagt wird, bei zuvielen Mitgliedern sei die Europäische Gemeinschaft nicht mehr effizient und handlungsflihig genug, so ist die Gegenfrage zu stellen, wofilr sie denn schlagkräftig sein soll. In der Wirtschaft jedenfalls weniger, soweit die Zuständigkeit filr Handlungen bei den Partnern marktwirtschaftlicher Verträge angesiedelt ist. Das Recht einer marktwirtschaftliehen Privatrechtsgesellschaft besteht bereits in allen die Marktwirtschaft zulassenden Ländern. Der Bedarf an Vereinheitlichung ist dabei weitaus geringer, als juristische Fachleute oft annehmen. An sinnvollen Harmonisierungen sind hier die Staaten schon aus innenpolitischen Gründen interessiert, um wettbewerbsfahiger zu werden. Zwar können ihnen dabei Gruppeninteressenten in den Arm fallen, aber diese werden vom internationalen marktwirtschaftliehen Wettbewerb in Schranken gehalten, sofern man die Grenzen offen hält.

28Vgl.

Hans Willgerodt, Armut als Integrationshindemis? Zum Konflikt zwischen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Zeitschrift ftlr Wirtschaftspolitik, 41 Jg. 1992, S. 95-123. 29Zur Kritik am Konzept der "Großraumwirtschaft": Wilhelm Röpke, Internationale Ordnung, Erlenbach-Zürich 1945.

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V. Die deutsche Währungspolitik zwischen Autonomie und Integration

Für eine weltweite Wirtschaftsintegration fehlt aber ebenso wie fiir eine europäische Marktwirtschaft ein Währungssystem, das in allen Ländern sowohl Zahlungsfreiheit als auch Geldwertstabilität verbürgt. Die internationale Zahlungsfreiheit besteht weitgehend, aber von Geldwertstabilität kann weithin noch keine Rede sein. Sie ist fiir eine funktionsfähige Marktwirtschaft notwendig. Daran ändern alle Verbannlosungen der Inflation nichts. Deswegen hat die westdeutsche Notenbank nach der Reform von 1948 zunächst im Alleingang fiir Geldwertstabilität gesorgt. Jedenfalls gelang ihr dies fiir das Jahrzehnt von 1951 bis 1961 sehr weitgehend und seitdem mindestens besser als den Notenbanken vieler anderer Länder. Dort war die Geld- und Währungspolitik ein Gegenstand der unmittelbaren Tagespolitik, die im allgemeinen die Inflation begünstigt. Solange an einem System stabiler Wechselkurse festgehalten wurde, ergaben sich aus der Inflationsdifferenz zwischen Deutschland und dem Ausland westdeutsche Devisenüberschüsse, die von der westdeutschen Notenbank angekauft werden mußten. Die Folge waren inflationistische Tendenzen, die mühsam mit einer restriktiven Geldpolitik zu Lasten des Inlandskredits bekämpft wurden. Das Problem wurde durch ausländische Abwertungen und schließlich die deutschen Aufwertungen von 1961 und 1969 sowie weitere Mischungen von Kontrollen und Paritätsänderungen nur teilweise gelöst, bis man zu flexiblen Wechselkursen übergegangen ist. Dies wurde überlagert von mehrfachen Versuchen, innerhalb der EG wieder zu festeren Wechselkursen zurückzukehren, etwa im Europäischen Währungssystem, aber schließlich sind auch diese Versuche gescheitert, soweit die Teilnehmer nicht bereit waren, der weniger aufgeweichten, wenn auch keineswegs Preisniveaustabilität erreichenden deutschen Währungspolitik zu folgen . Die Verbindung von größerer Geldwertstabilität und weltoffener Marktwirtschaft versetzte die westdeutsche Bundesrepublik in die Lage, nicht nur Altschulden zurückzuzahlen und erhebliche Zahlungen fiir Wiedergutmachung zu leisten, sondern auch Rüstungslasten zu übernehmen und den Besatzungsmächten und späteren Bundesgenossen erhebliche Ausgleichsbeträge zukommen zu lassen. Die Meinung jedoch, westdeutsche DevisenüberschUsse seien ein Beweis fiir westdeutschen Kapitalreichtum gewesen und Anlaß, weitere Ausgleichszahlungen von Deutschland zu verlangen, beruht auf einem elementaren Irrtum über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge: Pennanente DevisenüberschUsse im Festkurssystem beruhen darauf, daß die Geldpolitik des Überschußlandes weniger inflationistisch ist als die Geldpolitik der Partnerländer. Ein kapitalarmes Land wie in den 50er Jahren noch Westdeutschland kann infolge seiner Stabilitätspolitik ebenso Devisenüberschüsse erzielen wie ein kapitalrei-

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ches Land, das stabileres Geld bevorzugt. Völlig abwegig war die damalige Forderung der amerikanischen Regierung, Westdeutschland solle wegen seiner Devisenüberschüsse noch einmal Ausgleichszahlungen leisten. Devisenüberschüsse stellen einen unfreiwilligen Export von Realkapital dar. Sie sind durch Bezahlung gelieferter Güter entstanden. Wer anschließend die Herausgabe der Devisenüberschüsse verlangt, verhält sich wie ein Bananenkäufer am Wochenmarkt, der nach dem Einkauf den Händler mit dem Hinweis anbettelt, dessen Liquidität habe sich ja durch die Bezahlung erhöht, während der Käufer dadurch in Geldnöte geraten sei. 30 Die deutsche Politik relativ größerer Geldwertstabilität hat die DM nach dem amerikanischen Dollar zu einer international angesehenen Weltwährung gemacht. Ihr gegenüber haben einige europäische Länder freiwillig stabile Wechselkurse gewählt, so daß ein DM-Block entstanden ist. Ihm hat sich seit einiger Zeit auch Frankreich angeschlossen. Aber das deutsche Beispiel wird als unangenehm empfunden. Um die Bundesbank zu einer stärker inflationistischen Gangart zu veranlassen, wird ihr unsolidarisches Verhalten vorgeworfen. Sie solle ihre Zinsen senken und ihre geldpolitischen Zügel lockern. In versteckter Form ist diese Forderung auch in den Plänen zu einer Europäischen Währungsunion enthalten, wie sie der Vertrag von Maastricht vorsieht. Wenn einmal den Deutschen die bisherige Führungsposition der DM entwunden ist, so hofft man vielfach, wird man mit Mehrheitsentscheidungen und Dispositionen über das Leitungspersonal einer Europäischen Zentralbank weitersehen. Wie hier nicht im einzelnen gezeigt werden kann, ist der Vertrag gegen solche Pläne . kemeswegs wasserd"tcht. 3 1 Das Motiv des Auslandes, die DM durch eine europäische Einheitswährung zu ersetzen, dürfte zum geringsten Teil auf Erwägungen beruhen, daß innereuropäische Transaktionskosten gesenkt werden könnten. Nicht glaubwürdig ist bisher auch der Wunsch, eine eigene unstabile Währung durch eine stabilere Währung zu ersetzen. Eine solche Stabilität könnte man auch jetzt schon haben, wenn man zu der monetären Disziplin überginge, die man von der Buropawährung angeblich erwartet. Die Hoffnung, europäischer Zwang werde zu einer fundamental anderen Innen- und Finanzpolitik fUhren, unterschätzt die an der 30Vgl.

Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Auf!. Bem und Stuttgart 1979, 4. Kapitel, Abschnitt 7, insbesondere S. 307 ff. ; Helmut Gröner, Zur Theorie und Praxis des Zahlungsbilanzausg1eichs, Ordo 13 1962, S. 173-198, insbesondere S. 193 ff.; ders., Devisenausgleich - ein wirksames Instrument des Zahlungsbilanzausgleichs? ln: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Festgabe ftlr Fritz W. Meyer, Wirtschaftspolitische Chronik Heft 213 1967, S. 209-240. 31 Vgl. Manfred J.M. Neumann, ln die Ära der Euro-Mark, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 1992; Rolf H. Hasse, Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages: Können sie Glaubwürdigkeit erzeugen? Diskussionsbeiträge zur Wirtschaftspolitik Nr. 32 (1993), Institut ftlr Wirtschaftspolitik, Universität der Bundeswehr Hamburg.

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Inflation interessierten politischen Kräfte. Als letztes Motiv bleibt dann nur die Erwartung, den bisher schon als störend empfundenen stabilitätsfördernden Zwang abzuwerfen, der von der deutschen Währung ausgeht und sich in Zinssteigerungen und Abwertungen der Inflationsländer bemerkbar macht. Was aber ist das deutsche Motiv, die bewährte eigene Währung über Bord zu werfen und in einer Währungsunion aufgehen zulassen? Man glaubt, vor allem ein mit der deutschen Vereinigung größer gewordenes Land stärker international binden zu müssen. Das soll ausgerechnet auf einem Gebiet geschehen, wo die deutsche Politik bisher relativ vorbildlich gewesen ist, also eher eine Bindung anderer an dieses Vorbild angebracht wäre. Es ist viel getan worden, um Eigenschaften dieses Vorbildes in die Vertragsbestimmungen über die Währungsunion hinüberzuretten. Aber nach einem Wort de Gaulies können Verträge welken wie junge Mädchen, zumal wenn das deutsche Streben anhält, sich durch Mehrheitsentscheidungen überstimmen zu lassen. Ein anderes deutsches Motiv besteht in der Hoffnung, daß eine gemeinsame Währung eine politische Union erzwingt, so daß die ungeliebte deutsche Nationalität in einer europäischen Nationalität aufgehen kann. Diese monetaristische Hebeltheorie ist um so richtiger, je weniger stabil und damit je politischer das neue Geld sein soll. Ist es ein möglichst neutrales Maßstabgeld, wie es der Maastricht-Vertrag angeblich vorschreibt, ist es also vor politischen Pressionen geschützt, dann taugt es als Hebel zur politischen Union immer weniger und ähnelt in seiner Politikfeme dem Metermaß oder dem Kilogramm. 32 VI. Von der DDR über die deutsche Ostpolitik zur deutschen Vereinigung

Der Wunsch, Deutschland politisch zu binden, hat mit der deutschen Vereinigung weiter zugenommen. Die Vereinigung ist von den Ostdeutschen ausgegangen, die der DDR entfliehen wollten. Diese DDR befand sich im wirtschaftlichen Wettbewerb mit Westdeutschland wegen ihres ineffizienten Systems in aussichtsloser Lage. Sie hat freilich den Spielraum filr erpresserische Manöver voll genutzt, um aus Westdeutschland Zahlungen zu erlangen. Auch der Umstand, daß sie im Verkehr mit Westdeutschland von der EG nicht als Ausland angesehen wurde, kam ihr zugute33 • Innerhalb des Ostblocks konnte sie filr einige Zeit die Rolle eines Hoflieferanten filr höherwertige Investitionsgüter erlangen, verlor sie aber mit dem Übergang des COMECON zur Abrechnung in konvertierbarer Währung, weil damit bessere Produkte direkt in west32Vgl.

Hans Willgerodt, Das Problem des politischen Geldes, in: Hamburger Jahrbuch ftlr Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 35. Jg. 1990, S. 129-147. 33Vgl. Reinhold Biskup, Deutschlands offene Handelsgrenze. Die DDR als Nutznießer des EWGProtokolls Ober den innerdeutschen Handel, Berlin, Frankfurt/M, Wien 1976. 7 Klein I Eckart

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Iichen Ländern gekauft werden konnten. Eine radikale Umstellung wäre ihr auch dann nicht erspart geblieben, wenn die deutsche Vereinigung nicht stattgefunden hätte. 34 Die westdeutsche Ostpolitik war durch erhebliche Konzessionsbereitschaft gekennzeichnet, die gelegentlich wie bei dem Erdgas-Röhrengeschäft zu Konflikten mit den Westalliierten ftlhrte. 35 Eine Ausdehnung auch des innerdeutschen Handels scheiterte jedenfalls nicht an der westdeutschen Politik bei solchen Gütern, die nicht dem Embargo ftlr strategische Produkte unterlagen. Die westdeutsche Ostpolitik wollte vor allem menschliche Erleichterungen ftlr Ostdeutsche erlangen und war darin teilweise erfolgreich. Den Ostdeutschen ging dies nicht weit genug, so daß sie die deutsche Vereinigung erzwungen haben. Damit erhielt die westdeutsche Wirtschaftspolitik eine besondere Dramatik. Ganz im Gegensatz zu den Plänen ftlr eine europäische Währungsunion war die innerdeutsche Währungsunion ein wesentlicher Bestandteil der politischen Vereinigung. Denn mit ihrer Währung verlor die DDR ein wichtiges Steuerungsinstrument ftlr ihre Zentralplanung. Die DDR-Bürger konnten mit der neu eingeftlhrten DM frei einkaufen, und zwar auch in Westdeutschland. Die offene Westgrenze schloß Kontrollen aus, und mit der Zentralplanung brach zugleich das politische System zusammen. Gleichwohl war weniger die Währungsunion mit Westdeutschland entscheidend als vielmehr die sie begleitende Einftlhrung der Marktwirtschaft. Die von der deutschen Vereinigung hervorgerufene Umkehr der deutschen Leistungs- und Kapitalbilanz von einem hohen Kapitalexport zum Kapitalimport hat international irritiert. Sie hat der Deutschen Bundesbank den Vorwurf eingebracht, in ihrer Zinspolitik auf konjunkturpolitische Wünsche anderer Länder keine Rücksicht zu nehmen. Diesem Vorwurf ging eine entgegengesetzte Beschwerde über angeblich zu hohe westdeutsche Leistungsbilanzüberschüsse voraus.36 In Wirklichkeit entsprach die deutsche Zinspolitik den stabi34Vgl.

Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen. Vorlage ftlr das Politbüro der SED vom 30.10.1989, erstellt vom Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Gerhard Schorer. Deutschlandarchiv, 25. Jg., Nr.ll, 1992, S. 1112-1120. 35Vgl. Manfred Knapp, Divergenzen zwischen den USA und dem westlichen Europa. In: Internationale Politik 1983-1984, Jahrbücher des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft ftlr auswärtige Politik, MOnehen 1986, S. 130 f. 36Sofem die These richtig ist, deutsche LeistungsbilanzüberschUsse bis 1990 hätten im Ausland konkurrenzverschärfend und beschäftigungsmindernd gewirkt, hätte ihr Wegfall begrOßt werden müssen. Der Wegfall des deutschen Kapitalexports, der nur ein Spiegelbild des Wegfalls der LeistungsbilanzüberschUsse darstellt, hat allerdings zinssteigernd gewirkt; der Klage darOber liegt die Vorstellung zugrunde, Deutschland dürfe Ober seine eigenen Ersparnisse nicht ftlr eigene Zwecke verftlgen und sich nicht wie andere Länder im Ausland verschulden. Die konjunkturpolitischen und geographischen Effekte der Umkehr der Leistungs- und Kapitalbilanz erfordern eine detaillierte Analyse, auch wegen verschiedener Wechselkurssysteme. Am

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litätspolitischen Notwendigkeiten und der durch die deutsche Vereinigung entstandenen größeren Knappheit an leihbarem Kapital. Im In- und Ausland wird letztlich von der Bundesbank nur deswegen eine stärkere Lockerung der geldpolitischen Zügel verlangt, weil man mit ihrer Stabilitätspolitik nicht einverstanden ist. Dies läßt Rückschlüsse auf die politische Ernsthaftigkeit zu, die man den Stabilitätsvorschriften des Maastrichter Vertrages zubilligen kann. VII. Die deutsche Wirtschaftspolitik zwischen Europäischem Machtstaat und weltoffenem Rechtsstaat

Ein Rückblick auf mehr als 40 Jahre deutscher Wirtschaftspolitik und ihre internationalen Bezüge erlaubt einige Folgerungen: Die Ergebnisse dieser Politik beruhen nicht darauf, daß Deutschland wieder zu einem Faktor der Weltpolitik geworden ist, sondern der Kausalzusammenhang ist genau umgekehrt. Um wohlhabend zu werden, brauchte Deutschland freilich niemanden machtstaatlich zu bedrohen, und die wenig kluge Formel, Deutschland sei zwar wirtschaftlich ein Riese, politisch aber ein Zwerg, bringt bis zu einer bestimmten Grenze eher einen erwünschten Bruch mit der deutschen Vergangenheit zum Ausdruck. Der deutsche Wirtschaftsaufstieg ist nämlich ein Ergebnis rechtsstaatlich gebundener Freiheit, gestützt auf eine Öffnung zur übrigen Welt, ohne sich diskriminierend auf Europa oder gar einzelne bevorzugte europäische Länder zu beschränken. Diese kosmopolitische Orientierung am Ziel eines freien Welthandels widerspricht dem Konzept eines Machtstaates, also auch eines europäischen Machtstaates mit seiner Gemeinschaftspräferenz, seiner Furcht vor Öffnungen gegenüber neuen Mitgliedern und gegenüber dem Weltmarkt. Nicht nur aus wirtschaftspolitischen Gründen ist ein solches Konzept fatal. Der Versuch, es mit einer deutsch-französischen Union durchzusetzen, muß den Widerspruch Großbritanniens herausfordern. Es ist wenig zweckmäßig, ein Land unbeachtet zu lassen, das mehr politische Erfahrungen und Traditionen der Freiheit einzubringen hat als die meisten kontinentalen Mächte. Gerade in diesen Tagen muß bei aller Kritik an falschen britischen Kriegshandlungen daran erinnert werden, daß die Saat des Hasses von Deutschland gesät worden ist. Es waren Deutsche, die den totalen Krieg erklärt und gewollt haben. Sie haben bekommen, was sie wollten, zusammen mit den Unschuldigen, die das nicht gewollt haben. Auch bleibt es eine Tatsache, daß ohne die angelsächsischen Mächte Europa und auch Deutschland ihre Freiheit nicht wiedererlangt hätten. Für die deutsche Wirtschaftspolitik folgt daraus, daß sie nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen schlecht beraten wäre, das Grundsätzlichen ändert das nichts: Es war legitim, eigenes und geliehenes Kapital fllr den Aufbau im deutschen Osten zu verwenden.

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britische Konzept weltweiter Liberalisierung und rechtsstaatlicher Grundsätze gegen einen kontinentalen Machtstaat einzutauschen. Der europäische Kontinent muß wieder lernen, daß Europa nur in Vielfalt und Offenheit geeinigt werden kann. Dabei wäre es töricht, das bewährte Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu lockern oder gar in ein machtstaatliches Konkurrenzverhältnis zu verwandeln.

Günther Altenburg DERWANDEL DER VEREINTENNATIONEN UND DIE MÖGLICHKEIT DEUTSCHER MITGESTALTUNG 1 Das mir gestellte Thema atmet noch den zuversichtlichen Optimismus, der vor etwa zwei Jahren den Vereinten Nationen galt: Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen endlich die Voraussetzungen dafiir gegeben zu sein, daß sie, insbesondere der Sicherheitsrat, die in der UNO-Charta vorgesehene Rolle übernehmen konnten. 1995, im Jahre ihres 50. Jubiläums, stellen jedoch der Wandel der internationalen Beziehungen und das Verhalten der Großmächte, insbesondere das der USA, die Vereinten Nationen vor fundamentale Herausforderungen. Zwar wird dadurch nicht die Existenz der UNO in Frage gestellt, aber ihre Funktionsfähigkeit und bisher als wesentlich angesehene Tätigkeiten wie die friedenserhaltenden Maßnahmen werden wesentlich beeinträchtigt. Die Bundesrepublik Deutschland ist durch die deutsche Einheit zum drittgrößten Beitragszahler der UNO geworden. Sie hat in dieser Situation und als derzeit nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat offensichtliche Möglichkeiten der Mitgestaltung. Es wird darauf ankommen, ob sie bereit ist, diese zu nutzen und sich ihrer damit verbundenen Verantwortung - im eigenen Interesse zu stellen. I.

Wenden wir uns zunächst dem Wandel der UNO zu. Es geht einmal um die Organisation des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die Bewältigung von Krisen und Konflikten, Hauptaufgabe des UNO-Sicherheitsrates, ist ein hoch aktuelles, die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse vor Ort und die jeweiligen Beziehungen und Interessen der Sicherheitsrat-Mitglieder, insbesondere ihrer ständigen Mitglieder, reflektierendes Geschäft. Darüber hinaus sind die langfristigen wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Entwicklungen zu berücksichtigen. Beide Aspekte sind vermittelt und zusammengefaßt im System der Vereinten Nationen, das einen großen Teil, aber bei weitem nicht alle Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft, erfaßt. Der

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Beitrag gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

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weltpolitische Wandel, der zum Zusammenbruch des sowjetischen Systems und zum Ende des Ost-West-Konflikts fiihrte, wirkt sich in beiden Bereichen aus. Das internationale System hat in den letzten ftlnf Jahren tiefgreifende Umwälzungen erfahren. Grob vereinfacht war es während des Kalten Krieges auf Konfliktkontrolle angelegt und bestand darin, daß Supermächte und Blöcke bemüht waren - und zwar nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern durch immer umfassendere, auf Wirtschaft, Wissenschaft, Entwicklung etc. einschließende Systeme - fiir Ruhe und Ordnung in den eigenen Einflußbereichen zu sorgen. Es gab keinen weißen Flecken oder graue Zonen. Alles war wichtig. Konflikte an den Schnitt- und Grenzstellen wurden - meist unter Einschaltung der UNO - eingefroren und neutralisiert, um destabilisierende Rückwirkungen auf das Ostwest-Gleichgewicht, insbesondere um Entwicklungen zu verhindern, die zur Eskalation im Rahmen der nuklearen Abschreckung hätten fUhren können. Inzwischen sind nicht nur der Kalte Krieg und die Gefahr eines globalen, wahrscheinlich nuklearen Ostwest-Konfliktes gebannt. Zugleich sind die Steuerungs- und Kontrollmechanismen samt ihres bis in die Innenpolitik der Staaten reichenden Disziplinierungszwanges außer Kraft gesetzt und - im Bereich des früheren Warschauer Paktes und des Comecon - auch die Wirtschaftssysteme im Umbruch. Die Aufhebung der nuklearen Zielplanungen einerseits und die sprunghafte Zunahme begrenzter, meist ethnischer Konflikte und Bürgerkriege überall auf der Welt zeigen dies beispielhaft. Diese Entwicklung hat zunächst einerseits dazu gefiihrt, daß die Vereinten Nationen von einem Meinungsforum zu einem immer wichtigeren Akteur auf der internationalen Bühne wurden. Der Sicherheitsrat ist vom Ostwest-Konflikt nicht mehr gelähmt, sondern hyperaktiv und vorübergehend völlig überlastet, das UNO-Sekretariat überfordert. Von 1945 bis 1989 gab es 646 SR-Resolutionen, in den fiinf Jahren seither bereits über 300 weitere. Zwischen 1948 und 1988 haben die VN 15 friedenserhaltende Maßnahmen (FEM) organisiert, in den Jahren seither bereits noch einmal so viele. Ende August 1994 waren bei 16 FEM, an denen sich 73 Staaten beteiligten, über 76.000 Soldaten, Militärbeobachter und Polizisten eingesetzt. 1993 hatte die UNO viermal so viel Truppen, siebzigmal so viel Polizei und hundertmal so viele sonstiges Zivilpersonal stationiert wie 1987. Daranistauch der folgende Wandel abzulesen: Handelte es sich in den klassischen Fällen der friedenserhaltenden Maßnahmen wie Zypern, Golan oder Südlibanon um rein militärische Überwachungsaufgaben, wurden inzwischen oft - z. B. in Namibia, Kambodscha, Mosambik umfassende zivile Komponenten einbezogen: Polizeiausbilder, Wahlhelfer, Verwaltungsfachleute. Über die Überwachung von Waffenstillständen hinaus beinhaltete das Mandat von FEM den Aufbau von Polizei und Verwaltung, Wiederaufbau und Entwicklung der Wirtschaft, Flüchtlingsrepatriierung und

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sonstige humanitäre Hilfe, Wahlhilfe etc. Die jährlichen Kosten der Operationen haben sich von 364 Mio. US Dollar im Jahre 1987 auf mehr als 3,6 Mrd. US Dollar im Jahre 1993 erhöht und damit verzehnfacht Die Zahlen belegen jedoch andererseits auch, daß die UNO trotz größter Anstrengungen nur in etwa einem Drittel der rund 40 bis 45 Krisen und Konflikten auf der Welt engagiert sind. Es gibt z.B. keine UNO-Operationen in Sudan oder Afghanistan, wo die Situation in vieler Hinsicht an Jugoslawien erinnert. Und in Tschetschenien besteht keine Aussicht auf eine VN-Friedensmission. Die Diskussion über die Rolle UNPROFOR's im ehemaligen Jugoslawien und die Diskussion des vergangeneo Jahres um den Einsatz der UNO in Somalia, machen seit etwa 2 Jahren deutlich: Die Vereinten Nationen sind an die Grenze ihrer Leistungsfllhigkeit geraten. Die mitunter euphorische Hoffnung, die sich seit 1989/90 auf die Vereinten Nationen als dem Garanten kollektiver Sicherheit richtete, ist der Ernüchterung gewichen.Vor allem die verbale Abkehr der USA von den VN-Friedensmissionen im Gefolge des von ihnen selbst verursachten Scheiteros der Operation in Somalia und die jüngsten UNO-feindlichen Gesetzesinitiativen der republikanischen Mehrheit im US-Kongress haben noch nicht absehbare Folgen fUr die UNO-Friedensmission und die Funktionsfllhigkeit der UNO in weiten Bereichen. Wie so oft, droht jetzt das Kind - die kollektive Sicherheit unter dem Dach der Vereinten Nationen- mit dem Bade- der berechtigten Kritik an Fehlschlägen und mangelhafter Konzeption sowie Organisation - ausgeschüttet zu werden. Wichtig erscheint mir deshalb, das Augenmerk auf folgende drei Gesichtspunkte zu lenken: Erstens: Die Masse der Konflikte, in denen die Vereinten Nationen in den vergangeneo Jahren engagiert waren und in denen sie gescheitert sind, mindestens erhebliche Defizite haben erkennen lassen, waren innere Konflikte, nicht die klassischen Staatenkonflikte, zu deren Bewältigung und Vermeidung die Vereinten Nationen ursprünglich gegründet wurden. Unzweifelhaft brauchen die Vereinten Nationen dringend größere Klarheit, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen sie in derartige Konflikte eingreifen. Zweitens: Ebenso wichtig scheint mir die Erkenntnis, daß die Vereinten Nationen weder von ihren Fähigkeiten noch von ihrem Anspruch her die Nachfolge der Blöcke in Ost und West angetreten haben oder antreten können. Dies ist nicht eine Frage von Übergangsschwierigkeiten, vielmehr kann Sicherheit in einem System lückenloser Abschreckung nicht deckungsgleich sein mit Sicherheit, die nach Prinzipien kollektiver Partnerschaft organisiert ist. Die jüngste, unter dem Stichwort Glaubwürdigkeit gefilhrte Diskussion zwischen der NATO und den Vereinten Nationen über

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Ziele, Grundsätze und Kontrolle von Luftwaffeneinsätzen im ehemaligen Jugoslawien zeigt, daß die Mitglieder der Vereinten Nationen sich gerade im Bereich der Friedenssicherung in jedem Einzelfall aufs neue und unter erheblichen Mühen über Ziele, Grundsätze und die Steuerung von Friedensoperationen verständigen müssen. Anders als in klassischen Verteidigungsbündnissen gibt es keine automatische Verpflichtung und damit auch keine automatische Verfilgungsbefugnis des Sicherheitsrates oder des Generalsekretärs der Vereinten Nationen über Truppen und Gerät. Deshalb steht den Vereinten Nationen das Instrument glaubwürdiger Abschreckung zur Friedenssicherung nur begrenzt zur Verfilgung. Deshalb sehen sie sich in einem grundsätzlichen Dilemma im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Frieden und internationale Sicherheit zu wahren. Drittens zeigt sich, daß weder die Verteidigungsbündnisse noch die Großmächte, vor allem nicht die USA, bereit sind, sich in dem von der UNO nicht abgedeckten und von ihr nicht abdeckbaren Bereich von Konflikten zu engagieren. Es ist Augenwischerei, wenn einige Politiker und Autoren darlegen, die NATO sei nach dem Washingtoner Vertrag und der UNOCharta berechtigt und besser als die UNO in der Lage, filr kollektive Sicherheit zu sorgen. Hier werden Erdäpfel statt Kartoffeln geboten: Abgesehen von der Unanwendbarkeit des Art. 51 UNO-Charta über die kollektive Selbstverteidigung filr das Eingreifen fremder Staaten in interne Konflikte in anderen Staaten ist politisch klar: Auch die größten und leistungsfiihigsten NATO-Staaten - z.B. USA und Deutschland - sind nicht bereit, Krieg zur zwangsweisen Durchsetzung wünschenswerter, im Sicherheitsrat beschlossener politischer Ziele mit Bodentruppen zu führen - und zwar weder im UNO- noch im NATO-Rahmen- wenn keine ihrer unmittelbaren vitalen Interessen auf dem Spiel stehen. Die Diskussion über Grenzen und Leistungsfähigkeit kollektiver Sicherheit ist derzeit in vollem Gange. Dabei sind die Grenzen der UNO erkennbar geworden. Die Grenzen der Fähigkeiten der NATO werden folgen. Anlässe für die Erkenntnis werden sich bei der NATO-Erweiterung nach Osten und wiederum in den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien ergeben. In seinem Ergänzungsbericht von Anfang Januar 1995 zur Agenda für den Frieden hat der UNO-Generalsekretär die Konsequenzen aus der neuen Lage gezogen und darauf hingewiesen, daß die UNO nicht in der Lage ist, in eigener Regie militärische Zwangsmaßnahmen, d.h. im Klartext Kriege durchzufilhren, sondern dazu auf Mitgliedstaaten und deren Bündnisse angewiesen ist. Die UNO wird sich daher insofern auf friedenserhaltende Maßnahmen beschränken. Der Sicherheitsrat muß für andere Maßnahmen die geeigneten Entscheidungen treffen, insbesondere Ermächtigungen geben.

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Die Reduzierung dessen, was von den großen Mächten und Militärbündnissen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts als vitales Interesse wahrgenommen wird, hat zu einer erkennbar größer werdenden Grauzone geftlhrt. Die Konflikte in dieser Grauzone bleiben mit klassischen sicherheitspolitischen Mitteln international weitgehend unbearbeitet. Besonders diesbezüglich müssen daher stärker die Mittel der Konfliktprävention eingesetzt werden. Allerdings geht es dabei um eher mittel- und langfristige Entwicklungen und entsprechende Lösungsansätze. Die notwendige und richtige Betonung verstärkter Konfliktprävention darf allerdings nicht zu einem rhetorischen Alibi verkommen und sich der Einsicht verschließen, daß sicherheitspolitische Konzepte zu ihrer Verwirklichung sowohl der Anreize wie auch der Abschreckung bedürfen. Im Klartext: Wenn es um Glaubwürdigkeit und Erfolg internationaler Friedensbemühungen geht, kann militärisches Engagement ebenso wenig ausgeklammert werden, wie etwa wirtschaftliche Hilfe, mit der gezielt die Kooperation von Konfliktparteien, etwa bei Implementierung vereinbarter Friedenspläne honoriert wird. Wer fiir kollektive Sicherheit plädiert, ohne zu militärischem Beistand bereit zu sein, der täuscht sich über die Konsequenzen und über die ethische Problematik dieses Ordnungskonzepts. Auch im Verlauf der rapiden Ausweitung der UNO-Friedensmissionen war immer klar, daß es sich dabei um Feuerwehraufgaben handelt und daß Frieden dauerhaft nur durch umfassende Konfliktprävention gesichert werden kann. Am 31 . Januar 1992 haben die Teilnehmer am Gipfeltreffen des Sicherheitsrates erklärt: "Auch wenn kein Krieg oder militärischer Konflikt zwischen Staaten vorliegt, sind der internationale Frieden und die Sicherheit nicht notwendigerweise garantiert. Die nichtmilitärischen Ursachen von Instabilität im wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Bereich sind zur Bedrohung des Friedens geworden." Dieser umfassende Sicherheitsbegriff-der nach westlicher Auffassung auch die Destabilisierung durch massive Menschenrechtsverletzungen einschließt - erfordert eine weltweit orientierte Politik der Sicherheitsvorsorge, insbesondere in den Bereichen Abrüstung, Bevölkerungsund Entwicklungspolitik, Umwelt, Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Das Ende des Kalten Krieges hat uns vielleicht gerade noch rechtzeitig die Möglichkeit gegeben, die jenseits der ideologischen Auseinandersetzung liegenden globalen Probleme in ihrem ganzen Ausmaß zu erkennen und global, d.h. durch die gesamte internationale Gemeinschaft in den VN anzugehen: Rund 1,4 Mrd. Menschen leben heute in absoluter Armut. Die Weltbevölkerung hat sich seit Gründung der Vereinten Nationen 1945 verdoppelt und wächst jeden Tag um 250.000 Menschen, also um etwa 90 Millionen Menschen in jedem Jahr. Die Zahl derer, die keine Arbeit haben, liegt allein in

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Asien, Afrika und Lateinamerika bei 400 Millionen. Das entspricht der Gesarntbevölkerung West- und Nordeuropas. Nur um den bisherigen Sockel der Arbeitslosigkeit zu halten, geschweige denn ihn abzubauen, ist die jährliche Schaffung von 40 Millionen Arbeitsplätzen nötig, eine Chance, die angesichts der gegenwärtigen Disparitäten im Weltwirtschaftsgefilge zwischen Nord und Süd auch nicht im entferntesten verwirklicht werden kann. Dazu kommen die Problerne aus dem Bereich der Umwelt, z.B. die Abholzung der tropischen Regenwälder mit ihren unabsehbaren Folgen filr Klima und Biosphäre. Kein Land, keine Region in der Welt ist heute in der Lage, allein mit den globalen Problernen fertig zu werden, denen wir uns gegenübersehen. Die Vereinten Nationen können allerdings auch auf diesen Gebieten nur das leisten, was ihre Mitglieder beizusteuern bereit sind. Sie haben sich der erwähnten Problerne seit Anfang der 90er Jahre in einer Serie globaler Konferenzen angenommen. Ich erinnere an die Umweltkonferenz in Rio, die Weltbevölkerungskonferenz im September 1994 in Kairo, an die Wiener Menschenrechtsweltkonferenz in Wien 1993, an die bevorstehenden Konferenzen in Kopenhagen und Peking zu Sozialfragen und zur Stellung der Frau sowie an die Überprüfungskonferenz zum Atornsperrvertrag. Hier werden die Grundlagen geschaffen filr eine einheitliche Meinungsbildung zu den globalen Problernen und damit die Voraussetzung filr ein gerneinsames Anpacken der Probleme, filr die Schaffung der einen Welt. Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Vereinten Nationen haben sich nach dem Ende des Kalten Krieges im wesentlichen entsprechend langjährigen westlichen, insbesondere amerikanischen Forderungen gewandelt. Die ideologisch überfrachteten Abstimmungsrituale in der Generalversammlung zu Fragen der Abrüstung, zum Nahostkonflikt, zu Entwicklung und Zusammenarbeit sind konkreter Sacharbeit gewichen. Im UNO-Sekretariat konnte eine Reform nach Gesichtspunkten der Effizienz- und Kostensenkung eingeleitet werden. Zugleich wurden die Arbeiten zu einer Finanzreform eingeleitet, die zu einer besseren Lastenteilung filhren soll. Der Sicherheitsrat beschloß vorn Golfkrieg über die Libyen-Sanktionen, von den Operationen in Namibia, Kambodscha, im ehemaligen Jugoslawien, in Somalia, Angola, Ruanda und Haiti im wesentlichen das, was nach westlichen Vorstellungen erforderlich war. Vor diesem Hintergrund müssen die Entscheidung der US-Administration gesehen werden, ab 01. Oktober 1995, den nach der Beitragsskala filr friedenserhaltende Maßnahmen geschuldeten US-Finanzbeitrag von rund 32 % einseitig auf 25 % zu reduzieren sowie die republikanische Gesetzesinitiative, gegenüber einem noch unter 25 % zu reduzierenden US-Beitrag zum peacekeeping mit freiwilligen, nicht-erstattungsflthigen Aufwendungen der USA im Zusammenhang mit Friedensoperationen aufzurechnen. Damit stürzen die USA die UNO in eine Finanzkrise mit unabsehbaren Folgen. Ganz offensichtlich

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werden friedenserhaltende Maßnahmen der UNO ab Herbst 1995 auf eine neue, stark reduzierte Grundlage gestellt werden müssen. Insgesamt wird das Konzept der kollektiven Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen einen schweren Schlag erleiden. II.

Auch ohne die - infolge der amerikanischen Politik - demnächst zu erwartende dramatische Entwicklung stellen die deutschen Pflichten zur Mitwirkung in der gewandelten UNO und damit auch die Möglichkeiten Deutschlands zur Mitgestaltung der Vereinten Nationen und ihrer Aktivitäten die deutsche Außenpolitik vor große Herausforderungen. Deutschland ist seit dem 0 l. Januar 1995 für zwei Jahre nicht-ständiges Mitglied des - nach Ende des Kalten Krieges hochaktiven - Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Dies wird zugleich eine Bewährungsprobe für die Bereitschaft und Fähigkeit des neuen, vereinten Deutschlands werden, verantwortlich an der Gestaltung und Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit mitzuwirken. In den kommenden zwei Jahren muß die Bundesregierung sowohl die Lasten schultern, die sich aus der Erledigung der täglich anfallenden Arbeit, d.h. der Mitwirkung an den Entscheidungen des Sicherheitsrates ergeben als vor allem auch die Suche nach einer angemessenen Rolle der UNO in der Weltpolitik und d.h. im wesentlichen eine Klärung des Verhältnisses der G (7+1)-Länder und der fUhrenden Vertreter der Dritten Welt sowie der regionalen Institutionen und Bündnisse zu den Vereinten Nationen ilirdern und selbst gestalten. Die Mitwirkung an den Entscheidungen des Sicherheitsrats und die Mitarbeit in den Nebenorganen, insbesondere den Sanktionsausschüssen, kann nur zu den gewünschten Ergebnissen führen, wenn die Vereinten Nationen von den Mitgliedstaaten die hierfür nötigen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Diesbezüglich richten sich hohe Erwartungen an Deutschland als einem der leistungsflihigsten Mitgliedsländer. Es wäre übertrieben zu sagen, daß die Bundesregierung hier bereits im wünschenswerten Umfang ihrer Verantwortung und den Erwartungen der Vereinten Nationen an sie gerecht geworden ist. Die deutsche Außenpolitik und Verteidigungs- wie Finanzpolitik sind gefordert. Aus unserer Geschichte resultierende verständliche und grundsätzlich durchaus berechtigte Vorbehalte gegen jede Form von militärischem Engagement, eine sehr angespannte Haushaltslage sowie ein ausgeprägter Ressortegoismus, dem das Bewußtsein von der Notwendigkeit einheitlichen Auftretens nach Außen fehlt, haben zu einer unguten Gemengelage gefiihrt, die derzeit nicht den Schluß zuläßt, daß Deutschland das

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im Rahmen seiner Möglichkeiten Liegende beiträgt. Ich möchte mich zur Erläuterung mit dem Hinweis begnügen, daß wir uns derzeit mit rund 50 Mann an Friedensoperationen der Vereinten Nationen beteiligen, während das Engagement unserer europäischen Nachbarn und Verbündeten und übrigens so manchen Drittweltstaates im Durchschnitt bei 1.500 Mann liegt. Auch nach über einjähriger Prüfung und nach Klärung der Verfassungslage sieht sich die Bundesregierung noch nicht in der Lage, anders als alle unsere wichtigen Verbündeten und europäischen Partner, eine klare Zusage zur Beteiligung an den stand-by-arrangements der Vereinten Nationen zu treffen, die diese in die Lage setzten soll, schnell und zügig auf Krisen zu reagieren. Deshalb scheint es mir wichtig daran zu erinnern, daß Bundesminister Kinkel vor der 48. Generalversammlung nachdrücklich die besondere Bedeutung des Multilateralismus gerade filr Deutschland hervorgehoben hat, einem Land, das mehr als manches andere im Schnittpunkt vielfältig vernetzter Interessen steht. Deutschland braucht deshalb im wohlverstandenen Eigeninteresse bewußtes und profiliertes UNO-Engagement. Es geht filr uns letztlich darum, ohnehin erforderliche, wenn nicht unvermeidliche Maßnahmen mit einer positiven außenpolitischen Zielsetzung, der Stärkung der Vereinten Nationen zu verbinden. Wir dürfen die Wahrnehmung auswärtiger Beziehungen nicht länger als lästige Pflichtübung verstehen, filr die es gilt, die möglichst billigste Lösung zu fmden. Dies gilt verschärft filr die UNO-Politik der ganzen Bundesregierung. Es erscheint mir deshalb unverständlich und widersprüchlich, wenn die Ansätze im Bundeshaushalt filr den Einsatz der Bundeswehr im Ausland vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Juli 1994 höher waren als dies filr die kommende Zeit vorgesehen ist. Dabei geht es nicht einmal in erster Linie um Geld, sondern darum, die Pflege auswärtiger Beziehungen nicht zurückzustellen, weil man ihrer nach der Überwindung der deutschen Teilung nicht mehr im gleichen Maße zu bedürfen glaubt. Wenn nichts anderes, dann verbietet zumindest die Erkenntnis der von Bundesminister Kinkel hervorgehobenen Interdependenz dieser Welt, daß wir uns auf die Pflege der Beziehungen zu den europäischen Nachbarn beschränken und abwarten, bis eine sich erweiternde und wandelnde EU zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gefunden hat. Wenn wir so tun, als genüge es, das eigene Haus in Ordnung zu halten und die Grenzen zu überwachen, stehen wir in der Gefahr, wie Manfred Stürmer feststellte, autistisch zu werden, bestimmt von Haushaltszwängen, Koalitionskalkülen, Beschlußlagen und Medienstimmungen. Sicherheit in einer veränderten Welt, kollektive partnerschaftliehe Sicherheit zumal, ist auf diese Art nicht zu verwirklichen. Diese Erkenntnis scheint mir außerhalb des Auswärtigen Amts noch nicht immer hinreichend verbreitet zu sein.

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Die nicht-ständige Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat ab 01. Januar d.J. stellt die Bundesrepublik Deutschland vor die Bewährungsprobe verantwortlich an der Gestaltung eines neuen partnerschaftlieberen Systems internationaler Beziehungen und internationaler Sicherheit mitzuwirken. Die aus mentalen, haushaltspolitischen, koalitionspolitischen und ressortegoistischen Gründen schwierige Ausgangslage wirft die berechtigte Frage auf, ob diese Bewährungsprobe erfolgreich bestanden wird. Die Herausforderungen, die im Sicherheitsrat und bei den Friedensopertionen der UNO selbst anstehen, müssen diese Fragestellung noch verschärfen. Anlaß zur Besorgnis muß hier insbesondere eine Rückkehr zu klassischen Konfliktlagen, etwa zwischen den USA und Rußland und traditioneller Hegemoniepolitik im Sicherheitsrat geben. Deutsche Mitarbeit im Sicherheitsrat muß deshalb darauf hinwirken, daß die Ansätze zu einem glaubwürdigen System kollektiver Sicherheit unter dem Dach der Vereinten Nationen gelingen. Dies liegt in unserem ureigenen Interesse. Mitgliedschaft im Sicherheitsrat, auch im Rahmen einer künftigen ständigen Mitgliedschaft, ist deshalb alles andere als eine Rückkehr zu traditioneller deutscher "Großmachtpolitik". Die Reform des Sicherheitsrates, im Rahmen deren allein die Verwirklichung ständiger Mitgliedschaft zu erreichen ist, ist vielmehr ein Baustein der Gesamtrevision des internationalen Systems nach dem Ende des Kalten Krieges. Es war die Dritte Welt, die die Reform des Sicherheitsrates angestoßen hat, weil sie sich zurecht in diesem wichtigen Gremium nicht angemessen vertreten sieht. Wie die Europäische Union und die NATO müssen sich auch die VN den veränderten Realitäten und Kräfteverhältnissen der heutigen Zeit anpassen. Ebenso wie eine adäquate verbesserte und angemessene Vertretung der Dritten Welt filr einen leistungsflihigen Sicherheitsrat im Sinne der Zielsetzung der Charta unverzichtbar ist, wäre es abwegig, eine Leistungssteigerung der Vereinten Nationen ohne die adäquate Berücksichtigung einer der größten Beitragszahler und einer der größten und potentesten Wirtschaftsmächte zu leisten. Dies scheint vielen Mitgliedern der Vereinten Nationen klarer zu sein als uns. Es muß sehr deutlich und nachdrücklich festgestellt werden: Die Vereinten Nationen sind auch im Hinblick auf die Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat angesichts der Fülle der vor ihnen liegenden Aufgaben nicht an deutscher Vergangenheitsbewältigung und Nabelschau interessiert. Im Gegenteil: Die Völkergemeinschaft wünscht ein verstärktes internationales Engagement, die Übernahme von mehr politischer Verantwortung des vereinigten Deutschlands. Wir können diese Erwartung nicht ohne Schaden filr uns selbst und unsere Sicherheit enttäuschen. Ich möchte nicht schließen ohne darauf hinzuweisen, daß die Bemühung um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat auch darauf abzielt, gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einen Nachholbedarf an Integration auszugleichen, der sich aus der Entstehung der Vereinten Nationen, der späten

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Vollmitgliedschaftzweier deutscher Staaten in den Vereinten Nationen und der Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten und dem gegenwärtigen Status des wiedervereinigten Deutschlands in der durch ihre neuen Aufgaben überlasteten Organisation entwickelt hat. Der Vergleich zwischen dem Stand der Integration Deutschlands in EU, WEU und NATO, aber auch z.B. in den Bretton Woods Institutionen einerseits und der heutigen Position Deutschlands in den Vereinten Nationen macht dies deutlich. Der wiedervereinigte deutsche Staat braucht aus Gründen globaler wie europäischer Sicherheitspolitik und damit im Interesse der vertrauensbildenden Prävention vor neuen Sonderwegen und neuer Isolierung die adäquate Einbettung in das System der Vereinten Nationen ebenso wie umgekehrt die Vereinten Nationen darauf angewiesen sind, die Leistungsflihigkeit Deutschlands optimal zu nutzen.

Christian Hacke DIE AUßENPOLITIK DES VEREINIGTEN DEUTSCHLANDS ANGESICHTS NEUER KRISEN UND KRIEGE I. Einleitung: Die außenpolitischen Startbedingungen des wiedervereinigten Deutschlands

Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher betonten sofort nach der Wiedervereinigung die Bereitschaft zur Übernahme verstärkter außenpolitischer Verantwortung: "Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt fiir die Wahrung des Weltfriedens. Wir werden dieser Verantwortung sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz als auch in unserem Verhältnis zu einzelnen Ländern gerecht werden." 1 Für diese neue internationale Verantwortungsbereitschaft hatte sich der Handlungsspielraum seit der Vereinigung auf den ersten Blick deutlich vergrößert: 1. Die ideologische Frontstaatenkonstellation, in der die Bundesrepublik und die DDR die jeweiligen Speerspitzen der BUndDissysteme gebildet hatten, ist verschwunden. Das vereinigte Deutschland kann nun im Herzen Europas ein völlig anderes machtpolitisches Kraftfeld entwickeln und zugleich neue integrationspolitische und ökonomische Impulse aufnehmen und abgeben. 2. Deutschland ist nicht mehr Aufmarschgebiet und potentielles Nuklearkriegsfeld in Europa, auf dem über Jahrzehnte circa 1,5 Millionen Soldaten stationiert waren, sondern Deutschland hat sich auch zum Vorbild fiir internationale Abrüstung entwickelt. Die Perspektive scheint günstig: 1994 sind nur noch circa 470 000 Mann nichtdeutseher Soldaten auf deutschem Boden stationiert. 3. Mit der Vereinigung Deutschlands wurde einer der kompliziertesten und gefährlichsten Konfliktstoffe der Weltpolitik seit 1945 ausgeräumt. 4. Seit der Wiedervereinigung gibt es keine alliierten Vorbehaltsrechte mehr. Deutschland ist wieder vollständig souverän. 1Bundeskanzler Kohl

am 3. Oktober 1990.

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5. Die außenpolitischen Rivalitäten zwischen der Bundesrepublik und der DDR, die jahrzehntelang die außenpolitischen Interessen entscheidend eingeengt hatten, sind verschwunden. Auch kann das vereinigte Deutschland nicht mehr - wie früher die Teilstaaten - von dritter Seite ökonomisch und politisch gegeneinander ausgespielt werden. Auch geopolitisch hat sich seit der Vereinigung Deutschlands vieles verändert: Die deutsche Bevölkerung hat sich von 63 auf knapp 80 Millionen Menschen vergrößert. Das Territorium des wiedervereinigten Deutschlands ist von 248 000 auf 357 000 Quadratkilometer angewachsen. Geopolitisch erfuhr Deutschland eine Schwerpunktverlagerung nach Nordosten. Das Land wird durch die Verlängerung der Ostseeküste wieder maritimer in seinem Grundcharakter. Die territoriale und bevölkerungspolitische Vergrößerung bzw. Vereinigung deutet langfristig auf ein größeres MachtpotentiaL Man war sich im klaren, daß Deutschland im Inneren einen schwierigen Übergangsprozeß zu meistem habe, aber nur wenige zweifelten daran, daß es zum neuen politischen Kraftzentrum in Europa aufsteigen würde. Man erwartete, daß die europapolitische und weltwirtschaftliche Schlüsselrolle der alten Bundesrepublik weiter an Bedeutung gewinnen würde. Die Deutschen empfanden ganz besonders den revolutionären Zusammenbruch des Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands als "glückliche Krise". Glücklich, weil filr die befreiten Menschen und Staaten die materielle und geistige Wertepalette der westlichen Zivilisation Wirklichkeit werden sollte. Glücklich auch deshalb, weil nun die Überwindung der Teilung des Landes zum herausragenden Moment der revolutionären Veränderungen geworden war. Der Krisenaspekt hingegen bezog sich auf die Unwägbarkeiten der Übergangsperiode des Vereinigungsprozesses selbst. Dabei erwarteten die Deutschen ursprünglich, daß diese selbstverständlich zur Demokratie fUhren werde und nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft ebenso selbstverständlich die freie und soziale Marktwirtschaft an ihre Stelle treten würde. In wenigen Jahren, so die ursprüngliche Hoffnung, würden Dresden oder Rostock aussehen wie Lübeck oder Wiesbaden. Mittel- und Osteuropa würden sich ganz ähnlich wie Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg schnell erholen. Erst einmal frei, würden diese Länder sich demokratisch, marktwirtschaftlich und gutnachbarschaftlieh entwickeln. So entstand die Vision eines geeinten Europas, die offensichtlich mit dem neu erwachten nationalstaatliehen Stolz im Osten sinnvoll und konstruktiv verknüpft werden könnte. Die Deutschen wurden nicht nur angehalten, das neue Deutschland politisch, militärisch und ökonomisch ins Gleichgewicht zu bringen. Deutschland sollte sich selbst in den Dienst einer neuen Sicherheitsstruktur fiir Europa stellen. Gemeinsam wollte man den Grundriß fllr das neue europäische Haus entwerfen, damit möglichst bald alle frei und kooperativ dieses bewohnen können.

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Selten wurde deutsche und europäische Politik so ineinander übergreifend und hoffnungsvoll konzipiert. Die Bundesregierung KohVGenscher machte im Oktober 1990 sofort deutlich, daß das vereinigte Deutschland die wesentlichen außenpolitischen Grundlinien und Traditionen der alten Bundesrepublik fortsetzen würde. Kontinuität wurde zur außenpolitischen Losung: "Es ist ein weiter Weg, der uns aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs hierhergeführt hat. Es entstand die freiheitlichste und die sozialste Staats- und Gesellschaftsordnung unserer Geschichte. Die außenpolitischen Meilensteine dieses Weges sind die Mitgliedschaften im Europarat, im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Mit diesen Schritten kehrten wir zurück in die Gemeinschaft der Demokratien. Mit den Verträgen von Moskau und Warschau, mit dem Vertrag mit der CSSR und mit dem Grundlagenvertrag mit der DDR wurde die Grundlage für ein neues Verhältnis mit unserem östlichen Nachbarn gelegt und das Verhältnis der beiden deutschen Staaten filr die Zeit der staatlichen Trennung geregelt. Die Namen Konrad Adenauer, Willy Brandt und Walter Scheel stehen für die Grundentscheidungen der deutschen Nachkriegspolitik. Die deutsche Vereinigung eröffnet für uns Deutsche die historische Chance, gemeinsam unseren Beitrag filr ein friedliches, freies und vereintes Europa zu leisten. Mit dem europäischen Weg der Deutschen zu ihrer staatlichen Einheit vollendet sich, was in der Präambel unseres Grundgesetzes verankert wurde." 2 Mit diesen Worten machte Außenminister Genscher im Oktober 1990 auch deutlich, daß die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands auf den Traditionen der alten Bundesrepublik aufbauen werde. Implizit bedeutete dies, daß die Außenpolitik der DDR mit ihr untergegangen war. In der Tradition der alten Bundesrepublik sollte der Ausbau der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Union, beschleunigt werden, um damit auch die Einheit Gesamteuropas zu fördern. Außenminister Genscher betonte, daß Europa nicht durch eine Mauer unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen wieder geteilt werden dürfe und daß ein Rückfall in neuen Nationalismus verhindert werden müsse. Auch hier war die integrationspolitische Tradition der alten Bundesrepublik maßgebend. In diesem Sinne erhielt die Charakterisierung der Außenpolitik des neuen Deutschlands durch Außenminister Genscher als "Politik des guten Beispiels" vierfache Bedeutung: I. Historisch gesehen ist es ausschließlich die Außenpolitik der alten Bundesrepublik, die als gutes Beispiel filr die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands gelten kann.

2Vgl.

hierzu: Christian Hacke, Weltmacht wider Willen: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Frankfurt am Main 1993z I S. 466

8 Klein I Eckart

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2. Souveräne Außenpolitik des neuen Deutschlands heißt vor allem Kooperation und Integration mit den westlichen Partnern im Rahmen einer europäischen Friedensverantwortung. 3. Deutschland strebt mit seinem größeren ökonomischen, geopolitischen, bevölkerungspolitischen und gesamtpolitischen Gewicht nicht nach mehr Macht, wohl aber nach größerer Verantwortung. Daraus resultiert: 4. Deutschland will dazu beitragen, daß Europaseiner Verantwortung bei der Gestaltung einerneuen Weltordnung gerecht werden kann. 3 Bundeskanzler und Außenminister entwickelten unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine optimistische Perspektive. Dabei mischt der Außenminister auf geschickte Weise Bewährtes mit Neuem: Für ihn fllhrte die Wiedervereinigung nicht zwingenderweise zu grundsätzlich neuen Interessen und Strukturen in Europa. Sein vorsichtiges und umsichtiges Naturell setzte zunächst auf Stärkung der bewährten Institutionen EG und NATO. Neu war die globale Perspektive internationaler Verantwortungspolitik, so Außenminister Genscher - ganz im Dienst des Friedens, der Kooperation und im Bewußtsein weltweiter außenpolitischer Verantwortung. "Das geeinte Deutschland wird weltoffen sein und auch darin seiner größeren Verantwortung gerecht werden. .. . Die Politik des guten Beispiels verpflichtet uns, die globalen Herausforderungen anzunehmen." 4 Die KSZE-Charta von Paris vom 21. November 1990 symbolisiert die Hoffnung auf gesamteuropäischen Frieden und Wohlfahrt. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurden großartige Erwartungen von historischer Dimension in der Pariser Charta fllr ein neues Europa ausgedrückt: "Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an. Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfllllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit fllr unsere Länder". Neue Formen der gesamteuropäischen Zusammenarbeit sollten entstehen, um die Abwehr von Konflikten gemeinsam zu sichern. In Prag wurde ein KSZE-Sekretariat, in Wien ein Konsultativausschuß, in Warschau ein Büro fllr freie Wahlen institutionalisiert. Geregelte Treffen der Staats- und Regierungschefs und der Außenminister sollten den raschen Aufbau einer europäischen 3Vgl.

hierzu Bundesaußenminister Genscher am 26. September 1990 vor der 45. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. 4 Ebenda.

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Sicherheitsstruktur garantieren, eine parlamentarische Versammlung der KSZE den einzelnen Mitgliedsstaaten ein größeres Mitspracherecht geben. Gleichzeitig richtete die KSZE selbstbewußt an die NATO die Forderung, ihre Strategie und Struktur auf die neue Lage abzustellen. Nein, die Westeuropäer zeigten sich nicht kleinlich: Ein neues Modell kooperativer Sicherheit mit der KSZE als Kern und eine Arbeitsteilung zwischen KSZE und NATO schienen nach dem KSZE-Treffen in Paris auf Verwirklichung zu warten. Ganz in diesem Tenor würdigte auch die Bundesregierung das Gipfeltreffen als einen Markstein, als einen historischen Einschnitt in der Geschichte Europas. Selbstbewußt erklärte Bundeskanzler Kohl am 20. November 1990 in Paris: "Gemeinsam müssen- und werden- wir uns diesen Herausforderungen stellen." Die Realisierung weltpolitischer Verantwortung schien harmonisch und zivilisatorisch möglich. Gleichzeitig wollten die Deutschen mit ihrer eigenen friedenspolitischen Vorbildlichkeit die ganze Welt beglücken. Alles erschien so einfach. I/. Deutschland und der Golfkrieg

Bundeskanzler Kohl erklärte am 4. Oktober 1990 im Reichstagsgebäude: "Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt fUr die Wahrung des Weltfriedens." Damit erweckte der Bundeskanzler zunächst den Eindruck, daß die Deutschen ihren sicherheitspolitischen Horizont erweitern würden. Konsequenterweise forderte im Verlauf der sich zuspitzenden Krise am Golf der amerikanische Verteidigungsminister Cheney von seinem Amtskollegen Stoltenberg zur Unterstützung des Aufmarsches von UNO-Truppen am Golf folgende Maßnahmen der Bundesregierung: Entsendung von deutschen Streitkräften, Bereitstellung von Luft- und Seetransportkapazitäten, Bereitstellung von ABC-Abwehrgerät und fmanzielle Hilfe fUr die Türkei. Die USA zeigten zwar Verständnis dafUr, daß die Bundesregierung von den neuen Aufgaben der Verwirklichung der deutschen Einheit stark beansprucht war, andererseits hoffie man auf deutsche militärische Solidarität. Gerade vom deutschen Partner, den man 1989 als wichtigsten "partner in leadership" hervorgehoben hatte, erwarteten die USA eine neue Form internationaler Handlungsflihigkeit zum Schutz gemeinsamer Interessen und Werte im Rahmen gemeinsamer Risikobereitschaft. Aber die Bundesregierung reagierte mit der bekannten Kompensationsstrategie: fmanzielle und materielle Hilfe ja, aber keine Entsendung von deutschen Streitkräften. Folgende Gründe sprachen dabei gegen den Einsatz deutscher Soldaten im Golfkrieg: s•

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I. Unter den spezifischen Umständen der Vereinigung Deutschlands und der

tiefgreifenden Umgestaltung der inneren Ordnung hätte in diesem kritischen Moment des Zusammenschlusses zweier Gesellschaften eine innenpolitische Zerreißprobe gewaltigen Ausmaßes entstehen können.

2. Deutsche Streitkräfte im Krieg am Golf hätten nicht kalkulierbare sowjetische Reaktionen herausgefordert. Damit wäre auch Gorbatschows politisches Überleben aufs Spiel gesetzt worden. 3. Ein Einsatz der Bundeswehr auf unbekanntem Terrain, filr den sie in Ausrüstung, Training und politisch-psychologischer Schulung unvorbereitet war, hätte ihre ohnehin schwierige Umstrukturierung in der akuten Phase der Wiedervereinigung zusätzlich belastet. 4. Die öffentliche Meinung im Ausland- aber auch bei den Verbündeten- war auf eine militärische Rolle Deutschlands außerhalb der NATO nicht vorbereitet. Folglich hätte es bei deutschem Einsatz kritische Reaktionen gegeben. 5. Ein Kampfeinsatz von Soldaten der Bundeswehr im Golfkrieg war weder mit dem Selbstverständnis der Bundeswehr, noch mit der militärischen Tradition, noch mit den politischen Handlungsbedingungen in Deutschland vereinbar. 5 Aufgrund dieser und anderer Argumente entwickelte die Bundesregierung fernab der deutschen und internationalen Öffentlichkeit folgende Doppelstrategie: Mit einem umfassenden Programm unterstützte das vereinigte Deutschland den Krieg der Alliierten gegen Saddam Hussein. Der deutsche Beitrag entsprach fast einem Drittel des jährlichen Verteidigungsetats, nämlich circa 17 Milliarden DM. Zum zweiten setzte Deutschland auf diplomatischen Kompromiß. Man hoffi:e bis zum Schluß auf ein Einlenken von Saddam Hussein. Als aber klar wurde, daß Saddam Husseins Eroberungsfeldzug nach Kuwait nur durch militärische Gewalt rückgängig gemacht werden konnte, stieg der internationale Druck auf die Bundesrepublik weiter an. Die Bundesrepublik steigerte daraufhin jedoch lediglich den Umfang ihrer Hilfsleistungen, zeigte weiterhin aber keine Bereitschaft, deutsche Soldaten am Krieg zu beteiligen. Andere Länder- wie z. B. Italien - verhielten sich ökonomischer, optisch geschickter und militärisch mutiger: Italien stellte lediglich einige Düsenjäger bereit, kam aber niemals in den Verdacht der Drtlckebergerei. Deutschland hingegen zeigte sich völlig hilflos: Die Bundesrepublik war gegenüber den Alliierten devot bei der Erfilllung aller materiellen und fmanziellen Wünsche. Alle Finanzierungshilfen entpuppten sich als das sprichwörtliche Faß ohne Boden. 5Vgl.

hierzu: Karl Kaiser, Klaus Becher, Deutschland und der Irak-Konflikt, Arbeitspapiere zur Internationalen Politik Nr. 68, Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft ftlr Auswärtige Politik, Bonn 1992, S. 64.

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Weil die Bundesregierung keine Truppen zur Verftlgung stellte, keine eigene Interessenpolitik defmierte, kam es zum totalen Ausverkauf deutscher Finanzinteressen. Die Konsequenz war logisch: Je geringer die politische Solidarität Deutschlands, desto höher mußte die fmanzielle Unterstützungsleistung ausfallen. Wenn schon der eigene fmanzielle, materielle und organisatorische Beitrag kriegswichtig war, dann hätte die Bundesregierung versuchen müssen, auf die politische Planung des Krieges und auf die anschließende Politik des Westens in dieser Region Einfluß zu nehmen. Schließlich war die amerikanische NahOst-Politik- auch gegenüber dem Irak- vor August 1990 von Fehlern und Versäumnissen gekennzeichnet gewesen. Doch die Bundesrepublik entwickelte weder ein diplomatisch-militärisches Konzept zur politischen Einflußnahme der UNO im Nahen Osten noch zur Defmition der eigenen nationalen Interessen. Aus Furcht vor innenpolitischer Kritik wegen der gigantischen Hilfsleistungen genierte sich die Bundesregierung sogar, die Öffentlichkeit über diese Finanz- und Materialhilfe zu informieren. Das neue Deutschland handelte widersprüchlich und ohne klare Interessendefmition. Man begriff in der Bundesregierung den Golfkrieg als eine Art Katastrophe, aus der man sich freikaufen wollte, nicht aber als einen Vorgang, den mangemeinsam mit den Partnern und unter Opfern siegreich beenden mußte. So endete auch das deutsche Engagement am Golf typisch deutsch: als internationalisierte Sozialpolitik. Deutschland hatte seit Jahren Erfahrungen gesammelt in der Lieferung von Hilfssendungen. Ob in die hungernde Sowjetunion, ob zu den vom Irak verfolgten Kurden, ob später im Jugoslawienkrieg zu den Moslems und Kroaten. Ob aus echter Hilfsbereitschaft, aus Ratlosigkeit oder aus schlechtem Gewissen - jedenfalls war die Bundesregierung nicht bereit, an die Wurzeln des Problems heranzugehen, selbst darm nicht, als andere Staaten die Initiative ergriffen. Statt dessen schickte man Geld, Arzneien oder Zelte, bisweilen auch Grundnahrungsmittel, z. B. an die Kurden, oder später Fertiggerichte per Flugzeug nach Bosnien. Aber was Deutschland in seiner Außenpolitik als humanitären Aspekt in den Vordergrund schob, war fast immer Reflex schwerster Konflikte, die unter Zuhilfenahme militärischer Mittel hätten gelöst werden können, um Menschen aus Unterdrückung, Armut und Krieg zu befreien. Aber die Deutschen sorgten sich mehr um die eigene kollektive seelische Verfassung, die bei der Überwindung ihrer Konfliktscheuheil erschüttert worden wäre, als um die elende Verfassung der Staaten und Menschen, die der militärischen Hilfe dringend bedurften. Der Hauptfehler der Regierung KohVGenscher war, einen 'out-of-area'-Einsatz der Bundeswehr aus verfassungsmäßigen Beschränkungen wie auch aus politisch-historischen Gründen abzulehnen. Es wäre sinnvoll gewesen, von Anfang an zu einer Verfassungsinterpretation zu gelangen, die nicht notwendigerweise zu einer Gebietsbeschränkung ftlr den Einsatz der Bundeswehr ftlhren

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mußte. Eindeutig ist das Verbot des Angriffskrieges im Artikel 26 GG formuliert. Auch der Artikel 24 GG sagt klar und deutlich: "Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen. Er wird hierbei in der Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeifUhren und sichern". Die Frage, ob die Einsätze der Bundeswehr außerhalb der NATO und im Rahmen der UNO stattfinden sollen, ist weniger eine verfassungsrechtliche Frage, sondern vielmehr eine prinzipiell politische Entscheidung, zu der sich die Regierung Kohl!Genscher allerdings nicht durchringen konnte. Sie hatte es seinerzeit versäumt, gemeinsam und entschlossen deutlich zu machen, daß sie willens ist, deutsche Sicherheitspolitik so in Systeme kollektiver Sicherheit einzubetten, wie es nach Maßgabe der eigenen Gesetze möglich ist, wie es die Praxis der Bündnispartner seit Jahrzehnten gezeigt hat und wie es vor allem die konkrete politische Situation erfordert. Mit ihrem Beitritt hatte die Bundesrepublik auch die Charta der Vereinten Nationen anerkannt. Deutsche Sicherheitspolitik lief aber schon seit Mitte der 80er Jahre nach anderen Grundmustern ab: Die Bundesregierung zeigte sich entsetzt, forderte bündnispolitische Solidarität, verwies auf die eigenen verfassungspolitischen Grenzen, griff zum Scheckbuch und betonte anschließend den ungebrochenen Friedenscharakter deutscher Außenpolitik. Diese außenpolitische Handlungsweise hatte wenig mit politischer Solidarität, aber viel mit Solidarzahlung und Freikauf zu tun. Der gemeinschaftlichen Sicherheitspolitik mit allen Konsequenzen verpflichtete man sich nicht, sondern man klinkte sich aus. Wenn die Bundesregierung handelte, dann nur unter internationalem Druck. Die deutschen Beiträge kamen fast immer zu spät, wirkten nie freiwillig und waren in keinem Fall Ergebnis eigener deutscher sicherheitspolitischer Interessenbestimmung, eigener aktiver Sicherheitspolitik, sondern immer Reaktion auf äußere Anstöße, Beschwerden und Aufforderungen. Jetzt rächte sich, daß die Bundesrepublik schon in den 80er Jahren mehrfach Aufforderungen zur militärischen Hilfe 'out-of-area' negativ beschieden hatte. Der Druck der Partner war mittlerweile immer größer geworden. Im Golfkrieg hatte die Bundesrepublik fast keinen Spielraum mehr. Sie war nun - so kurios es klingen mag von den eigenen Partnern im Westen erpreßbar geworden. Wollte sie weiterhin keine Soldaten bereitstellen, dann mußte sie dafilr teuer bezahlen. Und dies nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die Lehren aus dem Golfkrieg waren deutlich. Außenpolitischer Einfluß der Deutschen auf das internationale Krisenmanagement ist nur dann zu erreichen, wenn Deutschland in Zukunft seinen Anteil an den Verpflichtungen und Lasten deutlich steigern würde. Die Teilnahme deutscher Soldaten ist hierftlr entscheidend. Wenn das Vertrauen in das vereinigte Deutschland in Zukunft gestärkt werden sollte, dann gilt es, Verläßlichkeit nicht nur zu demonstrieren, sondern,

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wie viele andere auch, durch eigenen Truppenbeitrag zu praktizieren. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik über den NATO-Rand hinaus ist offensichtlich nur fiir Schönwetterperioden geeignet. Harmonisierung, abstrakter Moralismus und gesinnungsethischer Pazifismus reichen aber nicht mehr aus. Kritische und kriegerische Perioden verlangen einen Sinn filr Gefahr, Standhaftigkeit und Bündnisloyalität Der Golfkrieg hatte den bodenlosen Zustand deutscher Sicherheitspolitik ins Bewußtsein gerufen. Außenminister Genscher, der den zivilen und unmilitärischen Charakter deutscher Außenpolitik Uber fast zwei Jahrzehnte anspruchsvoll und vorbildlich personifizierte, schien die entsprechenden Schlußfolgerungen ziehen zu wollen. Anfang 1991 erklärte er, daß wir "am Ende des aktuellen Golfkonfliktes auf eine Änderung unserer Verfassung hinwirken werden, die die Mitwirkung der deutschen Streitkräfte im Rahmen von Aktionen der Vereinten Nationen ermöglicht." Doch der nächste Konflikt zeichnete sich schon ab, bevor die 'out-of-area'-Debatte zu Ende gefilhrt war. Ill. Deutschland und der Krieg in Jugoslawien

Bis zum Sommer 1990 betrieb die Regierung KohVGenscher eine klassische Status-quo-Politik im Hinblick auf Jugoslawien. Besonders Außenminister Genscher hoffte auf eine friedliche Erneuerung eines umstrukturierten jugoslawischen Gesamtstaates. Dabei befand sich die Bundesregierung ganz in Übereinstimmung mit den EG-Staaten und den USA, die ausnahmslos den territorialen Status quo in Jugoslawien anerkannten und das Prinzip der Nichteinmischung gemäß der KSZE-Schlußakte befilrworteten. Die USA teilten diese Status-quo-Politik der EG und hielten mit ihrer Sympathie fUr die Zentralregierung in Belgrad nicht hinter dem Berg. Die Belgrader Zentralregierung wurde durch fmanzielle Hilfe und politische Gesten geistig und materiell aufgewertet und gestUtzt. Noch am 23. Juni 1990, zwei Tage vor der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien, hatte die EG erklärt, sie werde einseitige Unabhängigkeitserklärungen jugoslawischer Teilrepubliken nicht anerkennen. Am 25. Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien zu unabhängigen Staaten. Die jugoslawische Volksarmee intervenierte sofort in beiden Ländern. Danach bedrängten die Westeuropäer beide Staaten, ihre Unabhängigkeitserklärung filr drei Monate auszusetzen. Dieses Drängen und die fortgesetzte Finanzhilfe der EG an Belgrad hatten der Zentralregierung unter Führung der Serben in Belgrad den Eindruck vermittelt, die EG und der Westen als Ganzes verurteile die Sezessionspolitik und befilrworte statt dessen die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Einheit Jugoslawiens. Auch nach der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien und selbst nach Ausbruch der kriegerischen Aktionen der jugoslawischen Volksarmee und der Serben liefen alle Überlegungen und Vermittlungsvorschläge

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der EG, die von der Bundesrepublik unterstützt wurden, bis Ende 1991 darauf hinaus, die Einheit Jugoslawiens unter der Vorherrschaft der Serben aufrechtzuerhalten. Der Plan der Holländer sah eine militärische Intervention unter dem Dach der Westeuropäischen Union vor. Auf dem WEU-Außenministertreffen am 18./19. September drückte die Bundesregierung ihre volle Unterstützung für diesen Plan aus. Als Bonn bei seinem Vorschlag für militärische Intervention in Jugoslawien eine Beteiligung deutscher Truppen aus verfassungsrechtlichen Gründen ausschloß, reagierten die westeuropäischen Partner mit Kopfschütteln und Unverständnis. Ohne deutsche und ohne britische Beteiligung war der Plan undurchfilhrbar. Auch der Friedensplan der EG-Außenminister vom 13. Oktober 1991, der nach wie vor von der Einheit Jugoslawiens ausging, scheiterte. Die Sanktionen wirkten nicht. Die serbischen Nationalisten waren nicht bereit, ihre territorialen und politischen Ziele aufzugeben. So überrascht es nicht, daß die Bundesrepublik eine Neueinschätzung der Lage vornahm. Franzosen, Briten und Amerikaner blieben bei der Auffassung, daß Kroatien ein erhebliches Maß an Schuld bei der Eskalation des Krieges traf. Die serbischen Minderheiten in Kroatien hatten kein Mitspracherecht, geschweige denn einen gewissen Minderheitenschutz auf dem Weg zur kroatischen Unabhängigkeit erhalten. Die Deutschen dagegen entwickelten filr das Streben der Slowenen und Kroaten nach Selbstbestimmung wachsendes Verständnis. Ursprünglich hatten Kohl und Genscher die pro-jugoslawische Politik der EG und der USA geteilt. Aber unter dem Eindruck der Kriegsgreuel der jugoslawischen Bundesarmee, speziell der Serben, und beeindruckt durch das furchtlose Streben nach Selbstbestimmung der Slowenen und Kroaten, änderte die Bundesrepublik allmählich ihre Position. Angesichts der intensivierten militärischen Aggression Belgrads nahm die Forderung der breiten Öffentlichkeit nach Anerkennung von Slowenien und Kroatien in Deutschland zu. Der Druck auf Bundeskanzler und Außenminister verstärkte sich, beide sahen sich zunehmend gezwungen, ihre Meinung zu revidieren. Der Bundestag hatte schon mit seiner Entschließung vom 18. Juni 1990, in der das Recht auf Selbstbestimmung und Loslösung vom jugoslawischen Zentralstaat betont wurde, eine Kursänderung angezeigt. Von nun an gerieten Deutschland und die übrigen EG-Staaten in Sachen Anerkennung auf Kollisionskurs. Im Sommer 1991 entfernte sich die Bundesregierung von ihrer ursprünglichen Haltung und äußerte sich öffentlich zunehmend besorgt über die Haltung der Verbündeten, Amerika eingeschlossen. Das Rezept der USA filr Jugoslawien - mehr Demokratie, aber nicht auf Kosten der Einheit - hatte keine Besserung gebracht. Mit Ausnahme Sloweniens hatten die Republiken 1990 Wahlen abgehalten, die die nationalistischen und unabhängigen Gefilhle bestätigten. Im Sommer 1991, eine Woche vor der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens, hatte US-Außenminister Baker noch Belgrad be-

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sucht und sich nachdrücklich filr die Einheit und filr vermehrte Demokratie bei Präsident Milosevic ausgesprochen. Damit hatten die Amerikaner zu einem sehr späten Zeitpunkt ein falsches Signal gegeben. Daraus zogen die Serben den Schluß, daß sie den Zentralstaat weiter aufrechterhalten sollten und filr den Fall der Sezession auch kriegerisch einschreiten könnten, ohne auf allzuviel Kritik in den USA zu stoßen. Am Tag der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens sprachen sich Bundeskanzler und Außenminister filr die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Teilrepubliken aus. Völkerrechtliche Anerkennung von Slowenien und Kroatien war für die Serben in dieser Form unannehmbar. Dies wurde in der Regierung Kohl/Genseber und in der deutschen Öffentlichkeit zu wenig bedacht. Die Regierung von Bosnien-Herzegowina selbst bat inständig darum, von einer völkerrechtlichen Anerkennung durch die EG Abstand zu nehmen. Auch der deutsche Botschafter in Belgrad hielt dies filr eine schlechte Idee. Doch mittlerweile hatte sich Außenminister Genscher in der EG durchgesetzt. Anfang Dezember trafen sich die Staatschefs der EG in Maastricht. Nüchtern mußten sie erkennen, daß sie weder einzeln noch kollektiv die serbische Aggression eingedämmt hatten. Am 15. Januar 1992 wurden Slowenien und Kroatien völkerrechtlich anerkannt mit der Erwartung, daß dadurch die serbische Führung in Belgrad und die jugoslawische Volksarmee einlenken und nachgeben würden. In Wirklichkeit aber brachte diese Politik der Anerkennung Deutschland bzw. die EG-Staaten auch in eine konträre Position zu den USA und zur Jugoslawien-Politik der UNO. Deutschland hatte seine Handlungsfllhigkeit und seine machtpolitische Durchsetzungsflihigkeit innerhalb der EG gegenüber allen deutlich vorgefilhrt. Damit widersprach seine Vorgehensweise aber dem Prinzip der Gemeinsamkeit, als dessen Fürsprecher Deutschland in der Vergangenheit selbst immer aufgetreten war. 6 Diese Entscheidung markierte einen Wandel in Richtung Machtdemonstration des vereinigten Deutschlands. Die amerikanisch-englisch-französische Opposition wurde mit Unterstützung der Dänen, Holländer und Belgier überwunden. An der Jahreswende 1991/1992- so schienes-hatte die EG endlich eine Führungsmacht gefunden, die sich in einer zentralen Frage durchsetzte, nämlich Deutschland: Es hatte das Ziel deutlich gemacht, Partner gewonnen und hatte schließlich eine kollektive Entscheidung durch Kombination von Druck und Überredungskunst herbeigefilhrt. "Rüstete" sich Deutschland filr

6Vgl.

Michael Brenner, The EC in Jugoslavia: A Debut Performance, in: Security Studies, Vol. I, Nr. 4, Summer 1992, S. 586-609.

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eine neue Rolle in Europa und in der Welt? Wurde es fli.hig, die Gemeinschaft hinter sich zu sammeln und diesen Konflikt einzudämmen? Sehr schnell wurde klar, daß Deutschland bei weiterer Eskalation keine Verantwortung und vor allem keine Führung mehr übernehmen wollte. Deutschland befiirwortete zwar die Entsendung von Friedenstruppen zur Überwachung des Waffenstillstands nach Jugoslawien, schloß aber die Teilnahme eigener Streitkräfte von vornherein explizit aus. Mit diesem Motto aber, "Alle Mann nach vom, wir gehen zurück und bezahlen die Waffen", war kein Respekt zu erzielen. Deutschland schaffte es gerade noch - verfassungspolitisch abgesichert -, die ohnehin militärisch nutzlosen Awacs-Aufklärungsflugzeuge mit Bundeswehroffizieren zu besetzen, nachdem der Regierungskoalitionspartner FDP Klage beim Verfassungsgericht eingereicht hatte, damit aber vorerst gescheitert war. Hervorzuheben bleibt, daß die Bundesrepublik ein vorbildliches humanitäres Hilfsprogramm ftlr die Menschen in Jugoslawien verwirklichte. Aber auf realpolitischer Ebene war dies Augenwischerei: Die Bundesrepublik und genauso die anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft und der westlichen Welt hatten sich entschieden, die Wunden des todkranken Patienten Jugoslawien mit Heftpflastern zu verarzten, während der Patient weiterhin den Schlägen der Aggression ausgesetzt blieb. Wie schon im Golfkrieg, so wurde auch in der Jugoslawien-Politik der Bundesregierung geftlhlsmäßige Abscheu gegen den Krieg zum Leitmotiv des Handelns. Die Bundesregierung wurde von der Bevölkerung, den Medien und von allen Parteien massiv gedrängt, etwas Entscheidendes zu unternehmen, um den Krieg dort zu beenden. Aber in Jugoslawien sah sich Deutschland, wie übrigens das gesamte Westeuropa, seit Ende des Zweiten Weltkriegs zum erstenmal mit einem Krieg auf dem eigenen Kontinent konfrontiert, bei dem die üblichen Problemlösungsverfahren der vergangeneo 40 Jahre angesichts eines rücksichtslosen und entschlossenen Aggressors völlig versagten. Deutschland und die europäischen Staaten, daran gewöhnt die Leitlinien der Innenpolitik in der Außenpolitik fortzusetzen, reagierten lediglich mit Überlegungen, die dem innenpolitischen Friedensbedürfnis entgegenkamen, aber den wirklichen Krisenpunkt völlig aus den Augen verloren. Schlimmer noch: Die gutgemeinten Maßnahmen ftlhrten nicht zur Beendigung, sondern zur Ausdehnung und Eskalation des Krieges. Die Schere zwischen ursprünglicher Intention und objektiver Wirkung westeuropäischer und deutscher Entscheidungen klaffte immer weiter auseinander. Auch hatte die Bundesregierung Kohl/Genseber (ohne die Konsequenzen zu bedenken) zu bedingungslos Kroatien unterstützt, anstatt begründet klare politische Konditionen ftlr die Anerkennung zu verlangen. Statt dessen übergingen und diskriminierten die Kroaten die serbischen Minderheiten im Land. Diese wurden zur Unabhängigkeitserklärung nicht befragt.

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Dieser schwere Fehler lag in der mangelnden Sicherung von Minderheitenrechten. Die Außenpolitik des 'Guten Beispiels' leistete ihren Offenbarungseid: Die Maxime, Außenpolitik nur mit nichtmilitärischen Mitteln durchzusetzen, war anachronistisch geworden. Nur in Friedenszeiten konnte sich der 'Genscherismus' voll entfalten. Dies wurde jetzt endgültig deutlich. Angesichts von Krise oder gar Krieg war eine Außenpolitik der humanitären Intervention, die sich nur auf das diplomatische Instrumentarium der völkerrechtlichen Anerkennung und anderer nichtmilitärischer Instrumente stützte, den Konflikt auf völkerrechtliche Ebene anhob, dann aber keine militärischen Konsequenzen zeigte, zum Scheitern verurteilt. Eine sinnvolle Verbindung von Diplomatie und militärischer Aktion fehlte völlig. Auf dem Papier hatten die Westeuropäer den Begriff des Krisenmanagements in bi- und multilateralen öffentlichen Erklärungen immer wieder durchdekliniert. Die konkrete Anwendung hatten sie völlig verlernt. Der Kalte Krieg, der in Wirklichkeit eine jahrzehntelange Friedensperiode gebracht hatte, hatte alle realpolitisch-militärischen Reflexe gelähmt. Allein Helmut Schmidt hatte darauf gedrängt, auch in Zeiten der Entspannung sicherheitspolitische Maximen nicht zu vernachlässigen. Sein Nachfolger Helmut Kohl hingegen hatte kaum einen Grundsatz so hochgehalten wie "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen". Da verwundert es nicht, daß die Bevölkerung wirklich zu glauben begann, daß militärische Macht ein Relikt archaischer Zeiten sei. Pazifisten und Friedensbewegung hatten diese Grundströmung in Bewegung gesetzt. Aber der freundliche und friedliche Grundtenor in Deutschlands Außenpolitik, Grundlage für zivilisatorische Attraktivität zu Friedenszeiten, wurde angesichts der kriegerischen Entschlossenheit der Serben zur Achillesferse. Auf Plünderung, Mord, Vergewaltigung und Zerstörung aller menschlichen Werte waren NATO-Streitkräfte und Bundeswehr nicht vorbereitet. Die Konsequenz: Die Gangster und Desperados toben sich in Jugoslawien weiter ungehindert aus. Dies war um so weniger verzeihlich, weil die europäischen Staaten gerade erst in der Charta von Paris verbindliche Grundsätze feierlich vereinbart hatten. Auch war in Paris ein gemeinsames sicherheitspolitisches Vorgehen der EG mit den USA und der Sowjetunion verabredet worden. Die Charta von Paris hätte eine Eindämmung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien durch enge Zusammenarbeit der Europäer mit den USA und Rußland erfordert. Die Menschen- bzw. Minderheitenrechte wurden außerdem völlig mißachtet. Das gesamte Völkerrecht war auf dem Balkan nicht nur erschüttert, sondern mit Füßen getreten worden. Ein Eingreifen der Westeuropäer wäre von Anfang an nötig gewesen. Aber in der Jugoslawien-Politik brach der Gemeinsamkeitsanspruch westeuropäischer Außenpolitik zusammen: Statt potenziert handlungsfähig zu sein, zeigte sich Europa potenziert handlungsunfahig. Das organisierte freiheitliche Westeuropa, über Jahrzehnte Leuchtturm, Magnet und Träger der Hoffnungen von Menschen und Staaten in

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Mittel- und Osteuropa filr Auswege aus Unterdrückung, nationalistischem Chauvinismus, Krieg und Armut, verhielt sich erbärmlich. Es gibt in der europäischen Geschichte keine vergleichbare Konstellation, in der eine ökonomisch, militärisch und politisch so übermächtige Staatengruppe wie die EG und die NATO sich so zerstritten, hilflos und feige gezeigt hätte angesichts dieser Form eines rassistischen Eroberungskriegs nach faschistischem Vorbild. EG- oder UNO-Embargos, UNO-Soldaten aus aller Herren Länder, Flugverbot über Bosnien-Herzegowina, Seeblockade, humanitäre Hilfe filr Flüchtlinge, Aufklärungsflüge und der Abwurf von Fertiggerichten aus hoher und sicherer Flughöhe: Diese Aktionen waren Ausdruck von schlechtem Gewissen, Selbsttäuschung und realpolitischer Ohnmacht. Was sind die Lehren aus dem Jugoslawienkonflikt? I. Von Anfang an waren die einzelnen Staaten sich nicht darüber im klaren, ob sie die Einheit des jugoslawischen Zwangsstaates oder die Autonomie der Einzelrepubliken befilrworten sollten. Solange die politische Zielsetzung einer möglichen Intervention nicht klar war, konnte auch keine Einigkeit über den Einsatz und den Sinn militärischer Gewalt hergestellt werden. Wer aber kriegsbereite Parteien zu Verhandlungen und Waffenstillstand bringen will, der muß selbst bereit sein, mit militärischen Mitteln anzutreten. 2. Es fehlte nicht an gutem Willen, aber kein Land und keine Staatengemeinschaft der westlichen Welt war bereit, als 'Primus inter pares' in der Jugoslawien-Politik des Westens die Führung konsequent zu übernehmen und durchzuhalten. Vielleicht war dies der schwerste Fehler westlichen Kriserunanagements, der zum schließliehen Scheitern filhrte. Deutschland schien bereit, agierte aber nur halbherzig und gutgläubig. Das Vorpreschen der Bundesrepublik in der Anerkennungsfrage war kein Akt neuer deutscher Bevormundungspolitik in Europa und kein erster Schritt in Richtung hegemonialer Absichten. Es war ein blauäugiger Schritt, mit dem der innenpolitische Druck abgebaut werden sollte. 3. Die EPZ, das politische Zentrum gemeinsamer Außenpolitik der Westeuropäer versagte, obwohl Jugoslawien in die geographische und politische Verantwortung der Europäischen Gemeinschaft fiel. Immer wieder hatten EG, UNO und KSZE sowie die Vereinigten Staaten deutlich gemacht, zuletzt in Paris, daß sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als neue Machtzentren filr Frieden in Europa sorgen würden. Zu keinem Zeitpunkt waren die westlichen Staaten in der Lage, ihren Ansprüchen zu genügen. 4. Die Jugoslawienkrise legte auch bloß, daß die Europäer untereinander uneinig waren. Als einzelne und als Staatengruppen schätzten sie nach dem

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Zusammenbruch der Bipolarität die Lage und ihre Interessen unterschiedlich ein. 5. Die Krise legte bloß, daß zur Defmition einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mehr gehört als nur bürokratische Koordination und vollmundige Verantwortungspolitik ohne konsequente Taten. Was der Golfkrieg noch zu verdecken schien, wurde in der Jugoslawienkrise schonungslos sichtbar: Die Haltung, die man an Deutschland noch während des Golfkrieges kritisiert hatte, teilten nun ausnahmslos alle westeuropäischen Staaten. Um als außenpolitischer Akteur ernstgenommen zu werden, bedarf es der Entschlossenheit und des gemeinsamen Willens, notfalls Krieg mit Gewalt zu beenden. Der quasi 'liebenswürdige' Charakter der Zivilmacht Deutschland ist somit Reflex einer gesamteuropäischen Zustandsbeschreibung: Eine Zivilmacht Westeuropa reicht allein zur Selbstbehauptung und zur Sicherheit Gesamteuropas nicht mehr aus.

6. Der Golfkrieg hatte weiter gezeigt, daß die Vereinigten Staaten als Führungsmacht des Westens selbst bei eingeschränkten Kapazitäten einen unverminderten Willen offenbarten, den Aggressor Irak durch entschlossene militärische Reaktionen in die Schranken zu weisen. Beim Krieg in Jugoslawien hingegen nahm die Führung der USA weiter ab. Das Beispiel Jugoslawien demonstriert, daß der Grundcharakter der westeuropäischen Sicherheitspolitik anachronistisch, ahistorisch und unmoralisch bleibt, weil er im Kern durch die eigenen nationalen Interessen bestimmt wird, nicht aber durch couragierte Hilfestellung fiir andere. Die Westeuropäer sind zurückhaltend bei der Anwendung von militärischer Macht, es sei denn filr den Fall unmittelbarer Selbstverteidigung. Damit wird ein signifikanter Faktor deutlich, der historisch gesehen schon immer zum Niedergang von großen Zivilisationen gefilhrt hat. Nicht unbedingt kriegerische Eroberung von außen, sondern innenpolitische Stagnation, Selbstlähmung und Blockierung des eigenen politischen Willens sind hierfilr charakteristisch. 7. Der Krieg in Jugoslawien offenbart die Unfähigkeit zur Entscheidungsbildung in den westlichen Hauptstädten und in Brüssel. Außenpolitische Strukturen und Institutionen überlappen sich bzw. blockieren sich hier. Sie sind in Verbindung mit der Entscheidungsbildung in den einzelnen Hauptstädten integrationspolitisch, supranational, multilateral und bilateral angelegt, aber alle unfähig, eine gemeinsame Antwort auf die krisen- oder kriegspolitische Herausforderung zu finden. Die Jugoslawienkrise demonstriert eine außenpolitische Entscheidungsstruktur, die der politischen und militärischen Dynamik hinterherhinkte. 8. Eine kritische Untersuchung ist auch die Politik der UNO mit Blick auf Jugoslawien wert. Die hohen finanziellen Kosten und die krisenpolitische Ineffektivität stehen in keinem vertretbaren Verhältnis zueinander. Daß im

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Juni 1993 die NATO-Außenminister bei ihrem Treffen in Athen beschlossen, eventuell durch Luftstreitkräfte der NATO geflihrdete UNO-Kontingente zu schützen, kann als geradezu perverser Höhepunkt einer gescheiterten Jugoslawien-Politik des Westens interpretiert werden. 7 Folgende Alternativen bieten sich als Erfahrung aus der Jugoslawienkrise an: Ein Land in derEGoder im Westen muß die Führung in der Europäischen Gemeinschaft oder innerhalb der westlichen Allianz übernehmen. Deutschland hatte dies im Ansatz mit der Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung getan, als aber die außen- und sicherheitspolitische Sackgasse deutlich wurde, tauchten die Deutschen in die europäischen Institutionen ab. Als Alternative hätte Frankreich eine Führungsposition übernehmen können. Frankreich stellte schon das größte Truppenkontingent von UNO-Blauhelmen. Als Mitterrand im Juli 1992 das belagerte Sarajevo ostentativ besuchte und immerhin die Öffnung des Flugplatzes erreichte, sah es fast so aus, als ob er sich an die Spitze der europäischen Friedensbemühungen stellen wollte. Vielleicht hätte es keinen geeigneteren Politiker als Mitterrand gegeben, um die Krise einzudämmen. Frankreichs Beziehungen zu Serbien sind historisch völlig unbelastet, es ist ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates und unbefangen beim Einsatz von Truppen außerhalb des NATO-Gebietes. Nicht zuletzt besitzen die Franzosen ein ungebrochenes Nationalbewußtsein, das nicht von ständigen Selbstzweifeln geplagt ist wie das der Deutschen. Deutschland hätte sich verdient gemacht, hätte es Frankreich eine solche Führungsrolle angetragen, anstatt selbst anfangs unvorbereitet und unwissend in eine solche Rolle hineinzustolpern. Zum zweiten bietet sich an, die EG-Kommission als außenpolitisches Entscheidungszentrum auszubauen im sogenannten EPZ-Rahmen. Eine solche außenpolitische Führung durch die Kommission in Brüssel macht jedoch nur Sinn, wenn dort starke Persönlichkeiten handeln, die mit großem Entscheidungsspielraum ausgestattet sind und zugleich wissen, daß ihnen alle Einzelstaaten in der letzten außenpolitischen Entscheidung konsequent folgen. Eine solche Haltung ist nicht zu erwarten. Die Realitäten dagegen sehen heute bedrückend aus. Der Balkan steht im fiinften Jahr eines Krieges, der in seiner gesellschaftspolitischen Totalität an den 30jährigen Krieg erinnert. Circa 150.000 bis 200.000 Menschen sind bereits zum Teil aufbestialische Weise getötet worden. Millionen Menschen sind entwurzelt, ohne Hab und Gut, ohne Haus und Hof, oder sie befmden sich auf der Flucht. Der Balkan steht in Flammen. Andere Republiken wie Mazedonien könnten dasselbe Schicksal wie Bosnien-Herzegowina und Kroatien ereilen. Eine Aus7Vgl.

hierzu, Hacke, Weltmacht wider Willen, a.a.O., S. 500 f.

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weitung des Krieges auf dem Balkan könnte Griechenland, Bulgarien und Albanien, die Türkei und die islamische Welt hineinziehen. Ausgelöst werden könnte eine solche Eskalation durch eine serbische Invasion. Nicht auszuschließen ist, daß Griechenland und Serbien informell übereingekommen sind, Mazedonien zu teilen. Eine andere Eskalationsmöglichkeit ist ein Krieg in der Nachbarregion Kosovo, obwohl die Serben weniger als I 0 % der dortigen Bevölkerung stellen. Das Königreich Serbien wurde aber in Kosovo geboren, und die Serben betrachten Kosovo nach wie vor als Wiege ihrer Nation. Manche Beobachter nehmen deshalb an, daß die Serben es als Erfilllung eines "heiligen Auftrags" auffassen könnten, Kosovo zu erobern und von seinen zwei Millionen Muslimen zu "säubern". Dann würden die Albaner Mazedoniens, mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes, in den Kampf eingreifen. Griechenland würde an die Seite Serbiens treten und an diesem Punkt könnte auch Bulgarien, unter Druck gesetzt von den makedonischen Slawen, in den Krieg eintreten. Dann könnten sich die Türkei und die islamischen Staaten genötigt sehen, gegen die an den Muslimen begangenen Grausamkeiten vorzugehen. IV. Deutschland und die Katastrophe in Somalia

Schon ab 1991 war erkennbar geworden, daß große Teile der somatischen Bevölkerung akut vom Hunger bedroht wurden. 1992 gab es in Somalia keine organisierte zivile Gesellschaft mehr. Im Februar 1992 warnte das IKRK vor einer Tragödie: monatlich wurden 35.000 Tonnen Nahrungsmittel nötig, um die Bevölkerung vor dem Hungertod zu bewahren. Aber gleichzeitig hatte die um sich greifende Anarchie eine organisierte Hilfe von außen unmöglich gemacht. Somalia stand vor der größten Hungersnot seiner Geschichte. Nur durch Eingreifen der UNO konnte die Doppelkatastrophe von Bürgerkrieg und Hungersnot beendet werden. Raubritterbanden und Anarcho-Gangs waren noch mächtiger geworden als die sogenannten Bürgerkriegsparteien. Der Westen half nur dürftig. Das Massensterben ging in Somalia unvermindert weiter, weil rund die Hälfte aller Hilfsgüter aus dem Ausland gestohlen wurde oder zu spät kam. Am 9. Dezember landeten amerikanische Truppen und Einheiten aus Frankreich, Belgien und anderen Ländern in Somalia. Sie wurden am I. Mai 1993 durch Blauhelmtruppen der UN ersetzt. Was hat das wiedervereinigte Deutschland in dieser Zeit an Hilfe für Somalia geleistet? Die Bundesregierung KohVGenscher hatte sich nach der Vereinigung 1990 bekanntlich für eine neue globale Verantwortung Deutschlands ausgesprochen. Das galt insbesondere fllr die Rolle des vereinten Deutschlands in der UNO. Außenminister Genscher hatte schon im September 1991 erklärt, Deutschland werde alle Rechte und Pflichten übernehmen, die sich aus der UNO-Charta ergeben, "einschließlich der Maßnahmen der kollektiven Sicherheit, auch mit

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unseren Streitkräften. Wir wollen dafiir unsere Verfassung ändern". Die Realität sah anders aus. Am 21. August 1992 begann die Bundesluftwaffe mit einer Luftbrücke wie andere Staaten auch. Diese umfaßte 700 Flüge. Erst nach 8 Monaten wurde sie eingestellt. 6.500 Tonnen Versorgungsgüter wurden von den deutschen Soldaten per Flugzeug transportiert. Diese Einsätze wurden schließlich überflüssig, als ab März 1993 der Hafen von Mogadischu wieder geöffnet wurde. Versorgungsgüter konnten wieder per Schiff kostengünstiger transportiert werden. Als Präsident Bush alle wohlhabenden Industriestaaten, besonders Deutschland, im Dezember 1992 zur aktiven Mithilfe in Somalia durch eigenen Truppeneinsatz im Rahmen der UNO aufforderte, als dann Soldaten aus aller Herren Länder im Auftrage der UNO im Dezember 1992 in Somalia die Doppelkrise von Hunger und Bürgerkrieg bekämpften, fehlte das reiche Deutschland. Allerdings übte der deutsche Verteidigungsminister Rühe auf die Bundesregierung Druck aus. Er schlug vor, daß die Bundesrepublik in der zweiten Phase der internationalen Hilfsaktion filr Somalia Ende Januar 1993 deutsche Pioniere, Femrnelder, Sanitäter und andere Blauhelmsoldaten entsenden sollte. Diese deutschen Soldaten sollten zur "humanitären Hilfe" beitragen. Rübe erklärte, daß angesichts der dramatischen Lage in Somalia die Bundesregierung nicht darauf warten könne, bis Deutschland die verfassungsrechtlichen Grundsatzprobleme löse und plädierte vorab filr schnelle praktische Schritte. Er erhöhte die Zahl der Versorgungsflüge von zwei durch weitere sechs auf acht Flugzeuge und versuchte zugleich, die SPD in seine sicherheitspolitische Strategie einzubinden. In diesem Streit zwischen Bundesregierung und parlamentarischer Opposition über den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes wurde von der Bundesregierung allerdings verschwiegen, daß das Grundgesetz zumindest die Entsendung von Bundeswehrsanitätseinheiten zu einem früheren Zeitpunkt erlaubt hätte. Eine entsprechende Anfrage der UNO hatte die Bundesregierung im Sommer 1992 jedoch abgelehnt. Auch die Bundesregierung unterließ mögliche Initiativen in der UNO. Außenminister Kinkel wurde mehrfach von Dritte-Welt-Organisationen um ein stärkeres UNO-Engagement gebeten. Hätte er dies getan, wäre auch sein UNO-Engagement im In- und Ausland positiver bewertet worden. Aber Außenminister Kinkel war offensichtlich nicht in der Lage, zu erkennen, daß sein Wunsch nach einem Sitz filr Deutschland im ständigen Sicherheitsrat solange auf besonderes Unverständnis stieß, wie er selbst nicht Sorge trug, daß Deutschland zu UNO-Blauhelmeinsätzen bereitstehe. Alle Oppositionsparteien in der Bundesrepublik verschanzten sich hinter dem Argument, daß nur eine Grundgesetzänderung solche Einsätze ermögliche. Die SPD wollte lediglich friedensbewahrende UNO-Einsätze befiirworten, während die Unionsparteien in eine mögliche Grundgesetzänderung vor allem

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friedensschaffende Einsätze innerhalb und außerhalb der UNO miteinbezogen wissen wollten. Dieser Gegensatz blockierte die deutsche UNO-Politik grundsätzlich und konkret mit Blick auf Jugoslawien und Somalia. Rechtsstreit und moralische Rhetorik wurden zum Außenpolitikersatz. Eine handlungsfähige und verantwortungsbewußte Bundesregierung hätte ab Sommer 1992 selbst die Initiative in der UNO oder der WEU ergriffen. Warum waren beispielsweise gemeinsame Aktionen mit den französischen Streitkräften nicht möglich? Warum hat die Bundesregierung nicht schon im Sommer 1992, als die Hungerkatastrophe ein unglaubliches Ausmaß angenommen hatte, mit den USA eine Hilfsaktion in Somalia organisiert? Das wäre eine konkrete Umsetzung von "partnership in leadership" auf vorbildliche Weise gewesen. Es war doch nicht zwingend, daß die humanitäre Intervention in diesem dramatischen Fall und unter hohem Zeitdruck nur unter dem Dach der UNO stattfinden mußte. Seit Jahren entwickelte die Bundesregierung neue Organisations- und Kooperationsformen der Bundeswehr: Die deutsch-französische Brigade wurde zum Auftakt für weitere bilaterale militärische Zusammenarbeit auf mittlerer Ebene. Warum hat man diese Brigade nicht für eine gemeinsame Hilfe in Somalia eingesetzt? Es fehlte der Wille zu couragierter internationaler Verantwortungspolitik. Der Einsatz der Bundeswehr war zwar gut gemeint, aber er kam zu spät, war zu teuer und entwicklungspolitisch problematisch. Wäre die Bundeswehr bereits im Frühjahr 1992 beispielsweise der Aufforderung der Kirchen gefolgt, eine Luftbrücke nach Somalia einzurichten, um die hungernde Bevölkerung zu versorgen, so wäre dies damals eine glaubwürdige Aktion gewesen. Für die 1993 geplanten Aufgaben von Instandsetzungen von Brunnen, Straßenbau oder Aufbau von Krankenhäusern hingegen sind die Soldaten nicht angemessen ausgebildet. Mittlerweile hatten die nichtstaatlichen Hilfsorganisationen während der Somaliakrise erfolgreich bewiesen, daß sie erheblich billiger und effektiver arbeiten als militärische Verbände. Für die Nahrungsmittelverteilung waren andere Organisationen besser ausgebildet. Nach dem Scheitern deutscher Politik in der Jugoslawienkrise wurde auch Somalia zum Schauplatz versäumter außenpolitischer Gelegenheiten. Deutschlands Versäumnisse in den drei Krisen sind Reflex außenpolitischer Fehler. Im Golfkrieg zeigte sich Deutschlands Erschrockenheit und Ratlosigkeit angesichts der plötzlichen Forderung, nach der Vereinigung deutsche Truppen in einen Krieg zu schicken. Die Jugoslawienkrise verweist auf die ungelöste Frage, ob und inwieweit Deutschland im Rahmen einer gemeinsamen Außenpolitik der Westeuropäer zu fUhren und zugleich zu integrieren bereit ist. Deutschlands Versäumnisse in Somalia zeigen, daß das innenpolitische Ringen um eine neue globale Verantwortung noch nicht abgeschlossen ist und daß die Bundesregierung selbst den potentiellen Handlungsspielraum für humanitäre

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Intervention weder voll, noch rechtzeitig erkannte. Alle drei Krisen und Kriege haben alte Sicherheiten deutscher Außenpolitik in Frage gestellt: I. In allen drei Krisen, beim Goltkrieg, dem BUrgerkrieg in Jugoslawien und der Katastrophe in Somalia, hat das wiedervereinigte Deutschland außenpolitisch versagt. Die Maßstäbe der eigenen Verantwortungsrhetorik sowie die Erwartungen der Bündnispartner konnten in der Realität nicht umgesetzt werden. 2. Die Entscheidung des Bundeskanzlers, in Maastricht der Wirtschafts- und Währungsunion zuzustimmen, ohne daß die Partner gleichzeitig die politische Union mitverantwortlich realisieren, war problematisch. Die Zustimmung der Bundesregierung ftlr eine neue gesamteuropäische Währung ohne entsprechende Garantien fnr die Fortschritte in Richtung politische Union war zumindest verfiilht, wenn nicht sogar verfehlt. Das fmanzpolitische Gebaren der Bundesbank bei der Erhöhung der Zinssätze berücksichtigte zuwenig außenwirtschaftspolitische Gesichtspunkte. 3. Die Forderung Deutschlands nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO war im Kern verständlich und berechtigt, wurde jedoch undiplomatisch und unangemessen von Außenminister Kinkel in die Diskussion gebracht. Versäumnisse, Fehler und mangelnde Konzeptionsfähigkeit in der Außenpolitik der Bundesrepublik werden seit der Übernahme im Amt durch Außenminister Kinkel besonders deutlich. Fehlende Professionalität, mangelhafte außenpolitische Geschmeidigkeit sowie große Abhängigkeit vom Bundeskanzler mindern die Bedeutung des Auswärtigen Amtes fnr die Gestaltung der Außenpolitik der Bundesrepublik. 4. Das Verlangen der Bundesregierung, die Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament in Straßburg von 81 auf 99 zu erhöhen, ist im Kern berechtigt, aber ebenso wichtig wäre es gewesen, die Rechte des Europäischen Parlaments auszubauen und den Wildwuchs bürokratischer Regelungen in BrUssel einzudämmen.

5. Die Umstellung der Bundeswehr auf die neuen sicherheitspolitischen Anforderungen sind von der Bundesregierung nur unzureichend bewältigt worden. Struktur, Aufgabenstellung und Strategie bedürfen der dringlichen Weiterentwicklung. Weitere fmanzielle Einsparungen im Verteidigungshaushalt könnten die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik entscheidend untergraben. 6. Die innenpolitischen Grundlagen, die materiellen und geistigen Voraussetzungen in Deutschland ftlr eine verantwortliche Außenpolitik in Europa und in der Welt sind auf dramatische Weise gefährdet. Die Verschuldung Deutschlands, die Führungslosigkeit ihrer Eliten, das außenpolitische Desinteresse in der Bevölkerung und deren fundamentale Orientierungslo-

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sigkeit machen Deutschland derzeit zum Spielball innen- und außenpolitischer Kräfte, anstatt diese zu kontrollieren. 7. Deutschlands Ansehen in Europa und in der Welt ist an einem Tiefpunkt angelangt. Deutschland erscheint nicht in der Vision eines rechtsradikalen nationalistischen "Vierten Reiches", sondern als feige, unentschlossen, unsympathisch und selbstmitleidig. Dabei tut die politische Führung in Bonn alles, daß man in Europa und in der Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nun auf Deutschland mit Verachtung herabblicken kann. Es ist nicht die Last der Vergangenheit, unter der das vereinigte Deutschland leidet, sondern die Inkompetenz seiner Führung und die Passivität der Bevölkerung, die die Lösung der Probleme erschwert. 8. Mangelnde außenpolitische Führung zeigt sich auch im Fehlen klarer Richtlinien ftlr die außenpolitische Kompetenzverteilung im Kabinett und in den Ministerien. Viele der obengenannten außenpolitischen Krisen entstanden auch aufgrund von Unentschlossenheit und Unklarheit und aufgrund halbherziger Wahrnehmung der außenpolitischen Richtlinienkompetenz durch den Bundeskanzler. 9. Die innenpolitische Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr in Somalia und im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkonflikt zeigte gravierende Unklarheiten über die verfassungsmäßige Machtverteilung in Schlüsselfragen der Außenpolitik. Nirgendwo ist das Fehlen einer zentralen verantwortungsbewußten Führung im vereinigten Deutschland so deutlich geworden wie in der Außenpolitik. Deshalb sind Verläßlichkeit und Berechenbarkeit, bis 1989 herausragendes Kennzeichen deutscher Außenpolitik, ständigen Irritationen und Kursschwankungen gewichen. 10. Außenpolitische Fehler in der Jugoslawienkrise, im Golfkrieg und anderswo haben ihre Ursache in der Unfllhigkeit deutscher Politiker, den internationalen Aspekt der eigenen deutschen Identität nach 1990 angemessen machtpolitisch zu begreifen. Während Frankreich eine Großmachtpolitik betreibt, ohne die entsprechenden Mittel zu besitzen, während die USA militärisch oft Weltmachtpolitik betreiben, ohne die entsprechenden fmanziellen Mittel zu besitzen, hat Deutschland zwar die Voraussetzungen, als Großmacht zu handeln und verftlgt über die wirtschaftlichen Mittel, auch Weltmachtpolitik zu betreiben, aber es hat keine internationalen Ambitionen, es besitzt keinen entsprechenden Willen zur internationalen Verantwortung. 11. Die Bundesregierung hat die neuen realpolitischen Möglichkeiten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, nach der Vereinigung Deutschlands und angesichts der neuen außenpolitischen Herausforderungen konzeptionell noch nicht umgesetzt. Außenminister Kinkel betont die rechtliche Weltautorität der UNO und die Bedeutung schattenhafter Gebilde wie die

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Christian Hacke WEU oder die KSZE, anstatt eine realistische Balance zwischen integrationspolitischen und nationalpolitischen Interessen der Bundesrepublik vor allem in NATO und EG zu verwirklichen.

12. Pazifistische Alleingänge, wie von der Linken in Deutschland und in Europa vorgeschlagen, sind riskanter als reale sicherheitspolitische Integration. Nirgendwo auf der Welt wird soviel Geld fUr gute Zwecke gesammelt, nirgendwo werden so viele Päckchen gepackt wie in Deutschland. Mit diesem Drang, als effektivste, großzügigste und moralisch beste Nation zu gelten, kompensieren viele Deutschen das Fehlen klarer außenpolitischer Grundsätze. Karitativer Drang ist aber kein Ersatz ftlr notwendige europapolitische und weltpolitische Verantwortung. Kann man auf diesem Hintergrund von außenpolitischen Fehlern und Versäumnissen und dramatisch veränderten innenpolitischen Bedingungen überhaupt noch von Deutschland als "Weltmacht wider Willen" sprechen? Ähnelt sie nicht vielmehr seit der Wiedervereinigung einer Bananenrepublik, unfähig die innen- und außenpolitischen Herausforderungen zu meistem? V. Schlußfolgerungen

Distanziert beobachtete man im Westen den Niedergang der kommunistischen Staaten und Gesellschaften. Aber der Westen ist selbst Teil einer Krise geworden. Das wiedervereinigte Deutschland nimmt eine Ausnahmestellung ein: Es ist der einzige Staat der Welt, der gleichzeitig die Probleme des Westens und die Probleme des Ostens bewältigen muß. Deutschland muß simultan die Marktwirtschaft reformieren und die sozialistische Planwirtschaft transformieren. Nur in Deutschland muß man Systemanpassung und Systemüberwindung gleichzeitig durchsetzen. Nicht nur der Vereinigungsprozeß, sondern auch diese drei außenpolitischen Krisen haben die materiellen und geistigen Krisenaspekte der neuen Bundesrepublik bloßgelegt. Deutschland und die Deutschen erscheinen ftlnf Jahre nach der Vereinigung nicht mächtiger, sondern ohnmächtig, selbstmitleidig, entschlußlos, feige, ftlhrungslos und untereinander heillos zerstritten. Es ist nicht die Vision vom "Vierten Reich", die durch Europa geistert, sondern Enttäuschung dominiert, daß das wiedervereinigte Land sich nicht entschließen kann, im Inneren Recht, Ordnung und Toleranz neu zu begründen und gleichzeitig gemeinsam mit den Freunden und Partnern nach außen mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Außen- und innenpolitische Krisensyndrome vermischen sich zu einer gefährlichen Doppelkrise: Im Inneren blockiert der Staat sich selbst, die Gesellschaft zerflillt weiter.

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Ohne Klärung und Neubewertung zentraler außenpolitischer Kategorien wie Nation und Interesse ist der Schlüsselbegriff aller Außenpolitik, der Begriff des "Nationalen Interesses" nicht möglich. Deutschland wird sich angesichts der Renaissance von nationalstaatlichem Denken in West- und Osteuropa undangesichtsder neu- bzw. wiedererstandenen Nationalstaaten in Osteuropa nur behaupten können, wenn es Begriff und Inhalt von "Nation" und "Interesse" auch für sich selbst als legitim auffaßt. Antinationale Grundeinstellung der Westdeutschen ist dabei Chance und Risiko zugleich. Zum einen wird ein Rückfall in übersteigerten Nationalismus in Deutschland zum Glück erschwert, zum anderen aber auch sinnvolles Nationalbewußtsein nur langsam vermittelt. Maß und Balance sind wichtig. Die antinationale und antibürgerliche Wirkung der linken 1968er Generation, nicht selten im Schafspelz von Antifaschismus und Sozialismus, hat bürgerlich-nationale ldentitätsfmdung erschwert. Globale Moralisierung, geistige Arroganz und Ablehnung nationaler Kulturwerte sowie die Anerkennung der Teilung Deutschlands und Europas wurden als logische und gerechte Konsequenz deutscher Geschichte angesehen und sogar begrüßt. Marxismus, antibürgerliche und antinationale Ressentiments schufen ein weltfremdes, selbstzufriedenes und unhistorisches Bild, das zum Glück seit 1989 an Strahlkraft verloren hat. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind nicht nur andere Völker aus dem Gefrierfach dieser vierzigjährigen Etappe der Weltgeschichte aufgetaut worden. Auch bei den Deutschen wird die beschädigte nationale Identität sichtbar. Gesucht ist ein neues Verhältnis von "Nationalität" und "Integration". Es gibt auch dogmatische Europäer und liberale Anhänger eines kosmopolitischen Nationalgefühls. Der Streit zwischen liberalen Europäern und konservativen Nationalisten ist deshalb einseitig. Vielmehr muß von gegensätzlichen Polen in Deutschland und Europa in dieser Frage ausgegangen werden. Haben wir in Westeuropa zuviel bürokratische und zuwenig demokratische und historische Integrationsmuster, so sind in den fünf neuen Bundesländern und in Osteuropa Begriff und Inhalt von "Integration" völlig negativ besetzt. Erst eine neue Balance zwischen Integration und Nation bietet die Chance, "die ökonomische, soziale, politische, kulturelle Entwicklung in ein den Besonderheiten jedes Landes entsprechendes Modernisierungskonzept einzubinden und jene Identifikation des Bürgers mit seinem Staat zuwege zu bringen, die eine Grundbedingung für den Aufbau und die Existenz einer Zivilgesellschaft im Hegeischen Sinne darstellt", so August Pradetto8• Besteht in Osteuropa die Notwendigkeit einer forcierten Europäisierung und Integration, um Demokratie und materiellen Fortschritt und eine europäische Friedensordnung herzustellen, so ist im Westen eine gelassene Re-nationalisierung nicht unbedingt integrationshemmend. "Weltbürgertum und Nationalstaat" im Geiste von Friedrich Meinecke 8August

Pradetto, Internationale Politik osteuropäischer Staaten, in: österreischiche Osthefte, Jahrgang 33, Wien 1991, S. 675.

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sind auch an der Schwelle des 21. Jahrhunderts kein Gegensatz, sondern gehören ebenso zusammen wie europäischer Geist und nationale Bindung. Der pazifistisch-moralistische Internationalismus hatte schon die alte Bundesrepublik überfordert und eine realistische, d. h. angemessene Identitätsfmdung verhindert. Nirgendwo in Europa ist Skepsis gegenüber dem Nationalstaat so ausgeprägt wie in Deutschland. Das ist Chance und Risiko zugleich. Chance, weil den Deutschen zu Recht immer wieder eingeimpft wird, daß der Nationalstaat nirgendwo so furchtbar versagt hat wie in Deutschland. Diese Einstellung ist aber auch ein Risiko, weil nirgendwo wie in Deutschland internationale Ordnungsmodelle mit idealistischem Anspruch entworfen wurden, ohne Antwort auf die Frage zu geben, wie diese realisiert werden können. Deutschlands geistige Elite, die sich in großen Teilen in den vergangeneo Jahren auf einen imaginären Sockel höherer Moral gestellt hat, um dort dem wilden machtpolitischen Spiel von Krieg und Gewalt tatenlos und besserwisserisch zuzuschauen, hat nationalpolitisch versagt. Ein dramatischer Wirklichkeitsverlust wurde schon seit den siebziger Jahren sichtbar. Immer weniger waren Politikwissenschaftler in der Lage, nüchtern zu erkennen was ist, weil sie sich fast ausschließlich auf die Frage konzentrierten, wie es sein soll. Faktoren wie Nation, Macht, Interesse sowie die historische Dimension von Politik und internationaler Politik wurden als Barrieren angesehen, die es zu beseitigen galt. Die Geschichte von Diplomatie und Krieg wurde praktisch nicht mehr gelehrt. Deutsche Politikwissenschaft besitzt nicht selten Reformhauscharakter: Bisweilen nützlich, aber wie Dörrobst trocken und fad, meistens ohne Saft und Kraft. Diese Art von Politikwissenschaft ist kaum geeignet, die revolutionären Prozesse nach 1989 zu ertasten oder historische Kräfte zu erfassen. Alte und neue Probleme des Nationalstaats, sei es auf Deutschland oder auf Europa be. 9 zogen, wurden negiert. Aber eine vorurteilsfreie und realistische Definition des nationalen Interesses der Bundesrepublik ist vielmehr zwingend. Dies ist um so schwieriger, weil auch die Bürger selbst über Jahrzehnte nationale Werte minimalisiert haben. Liebe und Stolz zum eigenen Land wurden ebenso wie Einheit der Nation, Patriotismus, Traditionspflege oder nationale Interessen belächelt oder gar als rechtsradikal diffamiert. Hier liegt das eigentliche Versäumnis und die wirkliche Tragik bürgerlicher Politik in der Bundesrepublik vor 1989: Werte, die vor 1933 zum festen Bestandteil bürgerlichen Lebens und Denkens zählten, die dann ab 1933 bis 1945 mißbraucht wurden, wurden aus lauter Angst vor linker 9Vgl.

hierzu: Christian Hacke, Die neue Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen, in: Hartmut Jäckel (Hrsg.), Die neue Bundesrepublik (Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft filr Politikwissenschaft (DGfP) Band 11), Baden-Baden 1994, S. 57-95.

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Kritik in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend aufgegeben. Im bürgerlichen Lager wuchs die Neigung zu diffusem, internationalem Moralismus. Ahnungslos plapperte man Identifikationsmuster nach, die auf einen platten Verfassungspatriotismus der Bundesrepublik reduziert wurden. Politiker und Wissenschaftler übertrugen unkritisch politische Werte auf die Ebene der europäischen Integration oder auf funktionalistische Strukturgebäude. Die "gutbürgerlichen" Werte wurden vom Bürgertum selbst ausgehöhlt oder als sogenannte Sekundärtugenden diffamiert. Schließlich verloren Werte wie der Stolz auf das eigene Land, die Forderung nach der Einheit der Nation, Geschichtsbewußtsein und nationale Interessenbestimmung ihre demokratische Bindungen an bürgerliche Parteien. Sie wurden isoliert und schließlich mißbraucht. Wenn die Linke, die SPD, aber auch die bürgerlichen Parteien als Ganzes heute das Ansteigen von Rechtsradikalismus beklagen, so sind alle auf einem Auge blind. Sie haben selbst durch jahrzehntelange Vernachlässigung dieser Werte und durch Führungslosigkeit dafilr gesorgt, daß Rechtsradikalismus und Gewalt im Namen und mit Symbolen nationaler ,VIerte ansteigen konnten. Rechtsradikale Kreise und Parteien konnten Werte mißbrauchen, weil das Bürgertum und die tragenden Parteien nicht in der Lage waren, diese nationalen Werte und Tugenden in einen glaubwürdigen und legitimierten Zusammenhang von Demokratie und Integration zu stellen. Schuld trifft auch die Bundesregierung. Sie hat diesem Prozeß hilflos zugesehen. Der Mut, eine wirkliche Auseinandersetzung im Land über Schlüsselfragen der Innen- und Außenpolitik zu fUhren, hat seit 1982 gefehlt. Zu selten war diese Bundesregierung fähig, eine geistige Auseinandersetzung über bürgerliche Werte oder nationale Interessen zu fUhren. Nach innen und außen gestaltete sich die Politik von Bundeskanzler Kohl im wesentlichen als eine Politik der Anpassung. Das war mit Blick auf Entspannungspolitik nach Osten und auch mit Blick auf die Integration im Westen wichtig und richtig. Aber politisch-geistige Führung im lnnern wurde versäumt. Seit 1989 ist offensichtlich, daß es bürgerliche Vorbilder, Werte und Tugenden waren, die über Jahrzehnte die Völker in Osteuropa zur Widerstandsfähigkeit und schließlich zur erfolgreichen Revolution gegen die kommunistische Diktatur befähigt haben! Ohne Freiheit, nationale Selbstbestimmung, ohne Patriotismus und ohne Traditonspflege wären diese Menschen und Völker passiv im Kommunismus versunken. Deshalb gibt es im Westen wenig Grund, erwachendes Nationalbewußtsein, Ringen um Freiheit und Demokratie zu belächeln. Statt dessen müssen nationale und integrationspolitische Werte in West und Ost neu verkoppelt werden. Jetzt ist es nötig, ein modernes nationales Interesse in Deutschland in unsere integrationspolitischen Traditionslinien der Außenpolitik einzubetten. Deshalb ist es wichtig, daß die politische Führung in Deutschland den Sinn des nationalen Elements in der Politik mit dem Begriff des Interesses neu und verantwortlich koppelt.

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Was die Bevölkerung heute hören will, ist nicht, daß die Bundesrepublik neue Rollen spielen und größere Verantwortung übernehmen will, sie will nicht mehr nur die Absicht erkennen, sondern sie möchte nüchtern von der Bundesregierung erfahren, wie sie die globale Lage wirklich einschätzt und wie sie die Interessen des Landes vertreten will. Die Fehler und Versäumnisse seit 1989 zeigen auch, daß die Bundesregierung dringend einen Entwurf, ein Konzept deutscher Außenpolitik entwickeln muß, damit die eigene Bevölkerung wie auch das Ausland erkennen, welche Interessen die Bundesrepublik verfolgen will. Ständiges entschuldigendes Moralisieren, humanitäre Scheckhilfe aus schlechtem Gewissen, verspätete oder unzureichende Entsendung von Bundeswehreinheiten: diese kontinuierliche Präsentation des guten Willens ist unangemessen. Seit 1990 ist ein neuer Nationalstaat entstanden, nicht nur eine neue Bundesrepublik. Neue Erfahrungen und die Neubewertung von alten Traditionslinien werden zwingend. Vor allem die Aufarbeitung der Vergangenheit von 16 Millionen DDR-Bürgern gehört ebenso zur neuen Interessendefmition der Bundesrepublik. Die politische Kultur und das politische Spektrum des wiedervereinigten Deutschlands werden vielfältiger und spannungsreicher sein als die Kultur der alten Bundesrepublik. Dazu gehört auch, daß Deutschland außenpolitische Traditionen, außenpolitische Interessen und schließlich eine angemessene außenpolitische Kultur entwickelt. Vor 1989 war Nichteinmischung außenpolitisch für die Bundesrepublik zum Teil verständlich. Heute jedoch darf sich Deutschland und der Westen nicht verweigern, wenn Krieg, Vergewaltigung und Unterdrückung von Völkern und ethnischen Minderheiten mit der Waffe bekämpft werden muß. Aber wegen des zivilen Vorbildcharakters deutscher Politik darf das Spektrum der Maßnahmen zur internationalen Verantwortung nicht auf militärische Einsätze verengt werden.10 Deutschland ist eine "europäische Großmacht mit Weltgeltung". Sie war dies schon vor 1989, nur wollte es kaum jemand wahrhaben. Wirtschaftlich gesehen ist sie eine "Welthandelsgroßmacht". Im Kalten Krieg wurde sie von 1970 bis 1989 zur "europäischen Entspannungsvormacht". Zugegebenermaßen vermischt sich bei der Umschreibung der außenpolitischen Rollen nicht selten Analyse und politische Wunschvorstellung. Was sagt es schon aus, ob Deutschland eine Friedensmacht, ein Balancer, eine Zivilmacht, eine Großmacht oder eine Weltmacht darstellt? Zu allen Zeiten galt: ein Land hat dann Macht, wenn es nicht selbst davon spricht, aber den entsprechenden politischen Willen zeigt, mit einer oder mehreren außenpolitischen Leitideen auf die Staatengemeinschaft einzuwirken. War die wilhelminische Interpretation von 10Vgl. hierzu: Hans-Peter Schwarz. Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur

Machtvergessenheit Stuttgart 1985.

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Weltmachtrolle eine Mischung aus Wunschdenken, ungeschickter Rhetorik und Selbstüberschätzung, so liegt heute die Schwäche einer potentiellen Weitmachtrolle Deutschlands woanders: sie wirkt zwar zivilisatorisch als Vorbild, sie hat weltwirtschaftlich herausragenden Einfluß, aber den Deutschen fehlt der politische Wille. Das Wollen bleibt zentrale außenpolitische Kategorie. Aber das letzte, was die Deutschen schon vor 1989 wollten, war, als Großmacht angesehen zu werden. Dazu bemerkt Hans-Peter Schwarz: "Zu oft vergißt man die Tatsache, daß die Bundesrepublik auch schon vor dem 3. Oktober 1990 eine europäische Großmacht war, erst recht seither. Dieser Status muß also gar nicht erstrebt werden, er ist eine Tatsache. Die Frage ist nur, welchen Gebrauch wir von unseren Möglichkeiten machen. Großmacht sein heißt also nicht Großmachtpolitik nach Großväterart betreiben. Die gegen altmodische Machtpolitik gerichteten Beschwörungen wirken im kooperativen Klima Westeuropas so eigenartig, wie wenn sich einer unablässig gegen Raubrittertum, ritterliches Fehdewesen, Kabinettskriege und ähnliche Atavismen wendet, die in Europa auch einmal schlimme Wirklichkeit waren, inzwischen aber nur noch längst vergangene Geschichte sind. Doch es fehlt an der Erkenntnis, daß Deutschland die Zukunft maßgebend mitgestalten kann und mitgestalten muß. An internationaler Empathie, an Betroffenheit und an Besorgtheit fehlt es nicht -doch man entdeckt zuwenig außenpolitischen Gestaltungswillen." 11 Nach der amerikanischen und französischen Revolution vor 200 Jahren steht die atlantische Zivilisation heute inmitten einer dritten Revolution. Es gilt, den Freiheitsrevolutionen zum Erfolg zu verhelfen und dabei gleichzeitig eine neue Qualität der Selbstbestimmung zu entwickeln. Nicht weniger als ein Prozeß der "renovatio" ist gefordert, denn es ist absehbar, daß die globalen Probleme ein Ausmaß erreichen, welches das Überleben unserer Zivilisation auf der Schwelle ins dritte Jahrtausend geflihrden könnte. Daß eine sinnvolle Hilfe zur Selbsthilfe besonders schwierig ist, wenn Menschen und Gesellschaften über Jahrzehnte hinweg die materiellen, geistigen und psychologischen Voraussetzungen und Hilfsmittel geraubt wurden, ist verständlich. Was hingegen beschämt, ist die Tatsache, daß der reiche Westen sich selbst und damit auch die Hilfe filr andere weitgehend blockiert. Das vereinigte Deutschland muß deshalb in der Mitte Europas Zeichen setzen ftlr West- und ftlr Osteuropa. Die reichen westeuropäischen Demokratien dürfen nicht länger den Folgen des Zusammenbruchs in Mittel- und Osteuropa ratlos gegenüberstehen. Sie müssen konstruktiv mithelfen, um die zukünftigen Probleme zu meistern. Eine krisenartige Zuspitzung der Situation könnte sich ftlr die Deutschen dann ergeben, wenn im Innem schwere Erschütterungen eintreten - beispielsweise durch das Zusammentreffen von nachhaltig hohen finanziellen Bela11 Hans-Peter

Schwan. Deutsche Außenpolitik nach der Vereinigung, in: Peter Haungs u.a. (Hrsg.), Civitas. Festschrift filr Bemhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderbom 1992, S. 505.

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stungen durch den Vereinigungsprozeß und weiterhin ungehemmtem Zustrom von Zuwandererntrotz anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, politischem Radikalismus und einer nicht mehr regulierbaren Staatsverschuldung bei einer gleichzeitigen außenpolitischen Krise, die den Einsatz von Streitkräften zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Frieden aufgrund von UNO-Beschlüssen fordert. Deutschland wird vermutlich schneller als erwartet mit simultanen außenund innenpolitischen Krisen konfrontiert werden, bevor es den Vereinigungsprozeß konsolidiert hat und bevor es außenpolitisch angemessen gereift ist.

Lothar Rühl CHANCEN UND RISIKEN EINER BRÜCKENFUNKTION GEGENÜBER OSTEUROPA l Voraussetzungen • - "Osteuropa" als ideologisch-geopolitische Einheit besteht nicht mehr, also kann eine "Brücke" nicht länger zu einem osteuropäischen Partner oder einer Staatengruppe geschlagen werden. - Die Länder zwischen Deutschland und Rußland können unter keinem Aspekt oder nach keinem anderen politischen Kriterium als dem bloßen geographischen zusammengefaßt werden. Die Unterschiede zwischen ihnen machen Differenzierungen notwendig. Es sei denn: man sähe in ihnen vor allem ein Vorfeld Rußlands oder eine Zwischenzone zwischen Rußland und Westeuropa. - Da eine solche Sicht keine Projektion der Realität ist, muß die Differenzierung Platz greifen und damit die Unterteilung oder Einteilung der Zone nach Selektionskriterien, die filr die Politik relevant sind - dies ist die Logik der selektiven Aufuahmepolitik der EU-Erweiterung durch "integrative Assoziierung" und der Konzeption filr eine künftige Ost-Erweiterung der NATO. •

- Eine deutsche Brückenfunktion muß deshalb im Verhältnis zu den verschiedenen Regionen und Ländern im Osten Deutschlands oder anders gesagt östlich der EU- und der NATO-Grenzen defmiert werden.

DafUr bieten sich mehrere regionale Ländergruppen und außerdem Kriterien der Auswahl an: Wer eine Brücke bauen oder schlagen will, der muß das andere Ufer kennen und dort festen Baugrund fUr eine Rampe oder einen Pfeiler, außerdem zur Risikoabdeckung einen Sicherheitsraum fmden: Militärisch gesichert von einem "Brückenkopf'; dieses Bild eignet sich auch fUr die Politik, filr eine Erweiterung des "euro-atlantischen" Sicherheitsbereichs ist ein tragfähiges und abgeschirmtes Terrain mit einem kooperativen Partner ebenso wichtig wie filr einen Feldbrückenschlag ein gesicherter Brückenkopf, der dann ausgeweitet und ggf. auch gehalten werden kann.

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- Damit stellt sich die Frage nach dem Terrain und den Selektions-Kriterien fiir feste Partner: Belastbarkeit, Interessen und Wert fiir Westeuropa, das atlantische Bündnis und fiir Deutschland selber. - Zunächst stechen die "ostmitteleuropäischen" Länder hervor, die sich zeitweilig 1990/92 zur "Vi§egrad-Gruppe" zusammenschlossen und zunächst eine eigene Sicherheitspolitik außerhalb der NATO als Gruppe in der KSZE mit gemeinsamen rüstungskontrollpolitischen Interessen hatten betreiben wollen: Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, inzwischen Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Was verbindet diese vier Länder im Verhältnis zur EU, zur NATO in die sie streben, und zu Deutschland? Zwar ziehen diese vier Länder sich als ein Gürtel durch Ostmitteleuropa, aber sie haben kein durchgehend gemeinsames positives Interesse, sondern in erster Linie ein negatives: keine Zwischenzone minderer Sicherheit zu sein und nicht wieder ein westliches Vorfeld Rußlands zu werden. Dieses einzige gemeinsame Interesse einer Ausschließung des Rückfalls in eine Abhängigkeit von Rußland bestimmt ihre Politik als Gruppe. Im Westen wird daraus oft ein Zusammenhalt, eine politische Gemeinsamkeit konstruiert, die aber jedenfalls zwischen Ungarn und der Slowakei oder zwischen Tschechien und der Slowakei, schließlich zwischen Polen und Tschechien nicht besteht. Es ist auch nach ihrer geographischen Lage eine Raumeinheit nur im Verhältnis zu Deutschland und Österreich zu erkennen: "Mitteleuropa" im engeren Sinne, oder im kulturellen Sinne - die Mitte Europas vom Atlantik bis zum Urat liegt nicht in Deutschland, sondern weit östlich der alten preußischen Reichsgrenze am Rande der Habsburger Donaumonarchie im Dreieck zwischen Lemberg, Kiew und Minsk, etwa zwischen den Norkarpaten und den PripetSümpfen, d. h. heute östlich von Polen, ist mehr eine vorgestellte kulturhistorische denn eine reale politische Raumeinheit Wenn also in unserer Debatte über die deutsche und europäische Politik, also über eine "Brückenschlags-Funktion" nach Osten die Rede ist, dann bleibt die Geographie immer im Dunkel: wo "Mitteleuropa" aufhört, ist offen - die geographische Beschreibung ist abgekürzt, das Problem der Begrenzung zerfließt im Zwielicht der politischen Betrachtung. Die West-Ukrainer am Dnjepr und Galizier weiter im Westen verstehen sich wie die Polen, Ungarn und Slowaken als "Mitteleuropäer", obwohl sie ethnisch-kulturell Ostslawen sind und zum größeren Teil jenseits der Grenze zwischen dem lateinisch-katholischen Westeuropa der Renaissance-Zeit, die Polen kulturell prägte, und dem griechisch-orthodox und russisch geprägten Osteuropa dieser Epoche leben. Man soll diese alten Typisierungen nicht überbewerten, zumal sie niemals undurchlässig waren und auch Rußland römisch-katholischer Kultur und Tra-

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dition, damit westeuropäischen Einflüssen stets ausgesetzt und offen war, wie im 17. Jahrhundert noch vor Peter dem Großen. Doch die heutige Ukraine mit der angrenzenden Moldau und "Belarus" liegt in einer Zone des Übergangs, halb russisch, halb westukrainisch-galizisch mit allen litauisch-polnischen und später Österreichischen Charaktermerkmalen. Gehören Litauen, Weißrußland, die Ukraine oder Moldawien eher zu "Mitteleuropa" mit einem westlichen, oder mehr zu "Osteuropa" mit einem russischen Vorzeichen? Historisch waren sie seit dem 13. Jahrhundert etwa gleich lange Zeit auf der westlichen - litauisch-polnisch-österreichischen - und auf der östlichen - krimtatarisch-türkisch-russischen - Seite. Heute differenziert sich das Ensemble wieder stärker: die Ukraine in sich gespalten, Moldawien nach Rumänien hin, also nach Südosten zum unteren Donau-Raum, Belarus eher zurück nach Rußland, Litauen resolut nach Westen wie Estland im Nordosten mit Lettland dazwischen in einer politisch auch noch unbestimmten Situation. Wo also hört "Mitteleuropa" auf? Und wo soll der deutsche Brückenschlag enden? - In Polen, im Baltikum, in der Ukraine? Oder soll er über alle Unterschiede, politischen Verfassungen und Situationen der einzelnen Länder im Osten Europas hinweg nach Rußland ausgreifen, d. h. seine östlichen Pfeiler auf"neuen Ufern" im heutigen Rußland errichten? •

Damit stellt sich die Funktions-Frage: was soll, was kann die deutsche Politik künftig im Osten Europas bewirken?

Die Bundesregierung setzt die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die EU aus mehreren Gründen mit einem "deutschen Interesse" gleich. Sie gibt daftir als Gründe: - die deutsche Grenze zu Polen dürfe nicht auf Dauer die Ostgrenze der EU bleiben - die "Integration" der "Reformdemokratien" im Osten Europas sei ein prinzipielles Ziel der europäischen Politik - die Ausdehnung der NATO nach Osten diene einem "Transfer politischer Stabilität" auf die Länder im Osten Deutschlands und im weiteren östlichen Europa. Von diesen drei Argumenten bezieht sich nur das erste auf deutsche Interessen im engeren Sinne. Es sagt aus, daß Deutschland keine von der EU nicht von Osten her - gedeckte Ostgrenze haben soll. Es handelt sich also primär um ein defensives Argument: das vereinigte Deutschland soll auch an seiner Ostgrenze von Partnern und Verbündeten umgeben sein, deshalb Polen und Tschechien in die EU und früher oder später in die NATO. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Aufbruch (nach Osten), um einen "Brückenschlag" filr

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ein Ausgreifen nach dem nun offenen europäischen Osten, sondern um eine politische Grenzbefestigung. Die beiden weiteren Gründe, die Einordnung Polens u. a. neben Deutschland in Westeuropa und in die Allianz und die Stabilität im Osten Deutschlands sind keine ausschließlich deutschen Vorteile: Sie dienen auch der Konsolidierung und Strukturveränderung der EU. Hier zeigt sich, daß die Defmition des nationalen Interesses im Geflecht, d. h. im Koordinierungssystem der internationalen Beziehungen und der internationalen Abhängigkeiten vorgenommen werden muß. Dies gilt ftlr die deutsche Ostpolitik in besonderem Maße schon in Funktion der Geographie, aber auch als Lektion der Geschichte: Sobald Deutschland das Thema "Brücke zum Osten", d. h. letztlich zu Rußland anschlägt, belichtet die Retrospektive den historischen Treff in Rapallo: die erste deutsch-sowjetische Verständigung, politisch begrenzt, aber mit einer wohl offenen Perspektive, die sich dann einige Jahre später im Berliner Vertrag konkretisierte. Dieser Vertrag war ein allgemeines politisches Abkommen, das vor allem Teilnahme an Bündnissen, die gegen den Partner gerichtet waren, und an internationalen Sanktionen gegen den Partner untersagte und eine Konsultation über alle politischen Fragen von gemeinsamem Interesse, besonders in internationalen Krisen, vorsah. Auf ihm beruhte die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee zur Umgehung der Verbotsklauseln des Versailler Vertrags durch Deutschland, zur Erprobung neuer Waffen, zur militärischen Optimierung der Roten Armee wie der Reichswehr. Diese Kooperation wurde auf der Basis eines nicht formulierten Einverständnisses zwischen Moskau und Berlin organisiert, die von der Pariser Friedenskonferenz 1919 gezogenen Grenzen in Zukunft zu verändern. Dieser deutsch-sowjetische Revisionismus richtete sich in erster Linie gegen Polen und natürlich gegen Frankreich, den Erfmder des "Versailler Systems", wie man danach in Moskau sagte. "Die Politik von Rapallo" war also eine gegen den polnischen Nachbarn und eine französische Ordnung des Kontinents, gegen den Status Quo im Osten Deutschlands und im Westen Sowjetrußlands, später der UdSSR, gerichtet, dazu allgemein gegen die französische Vormachtstellung in Europa und die französischen Klientel in Mitteleuropa: Polen und die "petite entente", insgesamt in dem Teil Europas , den man in der Zwischenkriegszeit, 1919 bis 1939, "Zwischeneuropa" oder "Middle Europe" nannte. Es ist deshalb verständlich, daß seit 1990 ftlr alle anderen Länder Europas jede deutsch-russische Annäherung nicht nur als eine Gewähr gegen neue Konflikte erscheinen kann, sondern auch als Gefahr einer neuen Fremdbestimmung durch Rußland und Deutschland.

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Ein deutscher Brückenschlag nach Rußland würde eine raumgreifende politische Spannweite haben und das gesamte östliche Europa von Polen und Böhmen bis über das Baltikum, Belarus und die Ukraine hinweg überwölben. Der deutsch-sowjetische Vertrag von 1990 suggeriert nach dem Vorbild des Berliner Vertrags von 1926 deutsch-russische politische Verständigung wie im übrigen schon der Vertrag von 1970 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR. Es war darum im Juli 1990 im historischen Moment der Verständigung zwischen Gorbatschow und Kohl klar, daß von nun an die deutsche Ostpolitik eine Kompensation für die Länder des östlichen Mitteleuropa finden mußte, um eine Balance zwischen ihren Beziehungen zur UdSSR und denen zu den übrigen Staaten des Warschauer Pakts herzustellen. Diese Aufgabe hatte nach der Bewahrung der amerikanischen Präsenz in Europa, damit ·der NATO-Verankerung und der Wirkung des neuen Verhältnisses zu Moskau die dritte Priorität in der internationalen Politik des vereinigten Deutschland. Wenn man in der Außenpolitik Vorrang nach der Nähe oder Entfernung von Problemfeldem, Einfluß-Chancen oder Risiken bestimmen wollte, was eine realpolitische Defmition der nationalen Interessen ist, dann liegen -Konsolidierung der EU im Westen - Stabilisierung der Länder im Osten neben der Festigung und Öffnung der NATO auf einer Parallele der Prioritäten. Der Zerfall der UdSSR nach der Auflösung des Warschauer Pakts hat dieses 'Problemfeld Ost' verbreitert um die ehemaligen osteuropäischen Sowjetrepubliken der Sowjetunion: die drei baltischen Staaten, Belarus, die Ukraine, Moldawien, um nur von diesen, nicht von Transkaukasien zu reden. Damit wird das östliche Mitteleuropa in seiner geopolitischen Bedeutung zunächst verändert, zumal - wie gesagt - die geographische Mitte Europas im Osten des heutigen Polen liegt. Aber die Länder des sogenannten "Ostmitteleuropa" oder von "Vi~egn\d" liegen Deutschland und Westeuropa am nächsten, bedürfen also der vorrangigen Zuwendung, wenn es um "Stabilitätstransfer" geht. Dabei ist zu beachten, daß zwischen ihnen Rivalitäten, Differenzen und im Verhältnis zum Westen auch eine Konkurrenzlage bestehen: "Vi~egrad" ist keine politische Gruppierung. Damit sind die Probleme mit den inhärenten Risiken und Chancen der deutschen Ostpolitik bezeichnet.

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II. Aufgaben und Möglichkeiten

Ein "Brückenschlag" nach Osten bedarf einer Reihe von aufeinander folgenden Pfeilern zwischen Deutschland und Rußland, einer Aufbereitung des politischen Terrains und dessen politischer Markierung mit einer westlichen Signatur, einer tragflihigen Bauweise westlichen Vorbildes, also bestimmt nach westlichen Maßen und Gewichten. Deutschland kann allein ohnehin nicht Brücken nach Osten schlagen, denn es nimmt zwar keine neutrale Position in Europa ein, kann aber wegen seiner kritischen Exponiertheit filr äußere Risiken gegenüber seinen Nachbarn mangels räumlicher Dimension mit Sicherheitsrisiken an seinen Ostgrenzen im Falle einer politischen Krise im Osten Europas und wegen seiner kritischen Außenhandelsabhängigkeit, schließlich wegen seiner internationalen Bindungen im Westen nur mit starken Vorbehalten als "Zentralmacht Europas" angesehen werden. Dies ist kein Nachteil filr die deutsche Außenpolitik, sondern eher ein Vorteil und natUrlieh eine neue Realität filr Deutschland, das zum ersten Mal in seiner nationalstaatliehen Geschichte als Ganzes in Westeuropa verankert und deshalb nicht länger ein "Land des Übergangs" oder, wie in der Epoche zwischen Bismarck und Bülow Preußen-Deutschland, eine unabhängige "Kontinentalmacht" im Zentrum Europas, ist. Seine eigene geopolitische Situation ist fundamental verändert und von festem Rückhalt im Westen stabilisiert: Es steht in einem Bündnis als Ost-Teil des 'atlantischen Europa' mit Nordamerika und dem größten Teil Westeuropas, eine strategische Lage ohne Beispiel in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Also ist deutsche Politik naturnotwendig westeuropäisch-atlantische Politik. Eine weitere Stärkung der EU, die ja vom Maastrichter Vertrag als politisches GegenstUck zur Vereinigung Deutschlands geschaffen wurde, zu einer internationalen Aktionseinheit - dies ist im Prinzip das Ziel der GASP nach dem Vertrag - würde die Westbindung Deutschlands, eine wohltätige schützende, bewahrende, einigende Kraft, die filr Deutschlands und Westeuropas gemeinsame Sicherheit weiter stärken. Es liegt nicht im deutschen 'Interesse', diese bindende Kraft etwa durch eigene Sonderbeziehungen nach Osten zu schwächen. Diese Erkenntnis bestimmt auch die Politik der Bundesregierung seit 1990. Dabei muß nun Deutschland aber erkennen und beachten, daß daraus in der EU und NATO wie in der UNO filr Deutschland eine größere internationale Solidaritätspflicht aber auch eine Einengung des eigenen Handlungsspielraums erwächst. Aktive militärische Mitwirkung bei der Bewältigung internationaler Krisen außerhalb Europas wird nicht immer nötig werden; sie wird nicht quasiautomatisch sein, selbst nicht in der WEU und NATO oder in der OSZE. Aber

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Deutschland kann sie nicht länger im Prinzip oder auch nur als Regel ausschließen, um sie fiir "seltene Ausnahmen" zu reservieren, wie manche deutsche Politiker und Parteien es heute vorhaben. Vorbehalte können gemacht werden, wenn sie in der Sache und nach einer übergreifenden Interessenbestimmung wohl begründet sind; im übrigen wird Deutschland darauf ausgerichtet sein, zunächst in der EU und NATO Konsens mit den wichtigen Partnern zu fmden: Dies ist die Priorität der Prioritäten fiir jeden Anteil an internationalen Operationen der Friedenssicherung. Die derzeitigen gemeinsamen Verhandlungen in NATO, EU und WEU weisen auf die Problemstellung im Osten Europas, die sie zu bewältigen suchen: 1. die Osterweiterung von EU und NATO mit einem Integrationsbereich begrenzt auf Ostmitteleuropa und offenen Flanken im baltischen Nordosten und im südöstlichen Donau-Raum, 2. eine organisierte Kooperation mit Rußland, das nicht integrierbar ist, weder in die EU noch in die NATO, wenn beide nicht ihren politischen Charakter verändern sollen - dies würde sogar fiir ein demokratisches Rußland mit einer Marktwirtschaft und freiheitlich-rechtsstaatlicher Staatspraxis gelten. Quantitative Veränderungen fUhren hier zu qualitativen: Rußland würde alle europäischen Maßstäbe sprengen und eine ausgewogene innere Struktur westlicher Gemeinschaften aus den Angeln heben. Damit bleibt die Spannung in der westlichen und deutschen Ostpolitik gegenüber dem östlichen Mitteleuropa und gegenüber Ländern des Übergangs im Osten Polens und Ungarns, insbesondere gegenüber der Ukraine, schließlich gegenüber Rußland bestehen: Zielkonflikte zwischen den Interessen an den Beziehungen zu Moskau und denen zu Kiew oder Warschau können entstehen. Die oft gehegte Vorstellung, eine Politik könne diese Spannungen durch ein alternativloses 'Sowohl-als-auch' auflösen und Europa als Ganzes einigen, ist unrealistisch, zumal Prioritäten schon zur Ressourcen-Verteilung bei knappen Mitteln notwendig sind. Die Funktion des Brückenschlags wird nur nach Ländern und Regionen in einer zweckmäßigen Begrenzung differenzierend wirksam und sicherheitspolitisch nützlich sein können. Sie wird nur dank strategischer Prioritäten samt Ökonomie der Mittel möglich sein. Nicht die "Sicherheitsarchitektur" der Baumeister, sondern noch immer der Katastrophenschutz ist die Hauptaufgabe: Rußland, der Balkan, das Baltikum, die Ukraine, der Kaukasus, die Türkei zwingen dazu. Es ist dabei zu beachten, daß die seit 1991 entstandene europäische Situation nicht nur mehrere bisher unauflösliche Widersprüche aufweist, sondern auch keinen festen Baugrund fiir eine europäische "Sicherheitsarchitektur" und keine 10 Klein I Eclwt

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geopolitisch-ideologische Einheit fiir einen "Stabilitätsraum von Vancouver bis Wladiwostok" bietet. Hier ist auch anzumerken, daß Stabilität ein Begriff der Statik ist wie Architektur, eine gewisse "erdbebensichere Schwankungs-Kohäsion" eingeschlossen. Die europäische Situation ist seit den tektonischen Verwerfungen im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion noch immer eine labile Gemengelage, die Teil der historischen Entwicklung seit der Französischen Revolution und seit dem Fall der drei Imperien im Osten: Österreich-Ungarn, Osmanisches (türkisches) Reich und das Russische Reich, ist. Auch die Niederlagen Deutschlands 1918 und 1945 haben im Osten und im Zentrum Europas Trümmerfelder hinterlassen. Die Lage wird noch immer von dynamischen Kräften mehr oder weniger abrupter Veränderung bestimmt. IIJ. Schlußfolgerungen

Daraus ergibt sich eine Reihe von Notwendigkeiten 1. die der Begrenzung nach der Reichweite der eigenen, im europäischen Sinne gemeinsamen europäischen/atlantischen Mittel; 2. die strategische Deckung durch die USA in einer handlungsfähigen NATO, d. h. keine Unternehmungen, bei denen diese Deckung überdehnt und damit brüchig würde; 3. die Vermeidung von Interessenkonflikten in der Ostpolitik innerhalb von EU und NATO, also ein internes politisches Krisenmanagement, das besser funktioniert als im Fall Jugoslawien; 4. eine Verständigung mit Rußland über Abgrenzung ohne Isolierung, also ohne 'cordon sanitaire', aber mit Markierung einer Sphäre vitaler westlicher Interessen auf Gegenseitigkeit im Sinne der scharfen Unterscheidung von Integration und Kooperation; 5. eine Abstimmung westlicher Interessen und Aktionsbedingungen in der OSZE, was mit einer Verständigung mit Rußland über ein Lenkungsorgan in einem kleineren Kreis, also etwa USA, EU und Russische Föderation, verbunden sein müßte; 6. eine Methode kooperativer Konflikt- und Krisenbeherrschung mit flexiblen Mitteln zur Regulierung dynamischer Prozesse. Diese Methode würde allerdings nur als Aktion verantwortungsflihiger und relevanter Partner in einem Sicherheitsrat positive Wirkung haben können. Davon ist auch die EU noch weit entfernt, und selbst die GASP ist im Kern eine intergouvemmentale Methode gemeinsamer Interessenbestimmung und Zielfestlegung geblieben. Dasselbe gilt entsprechend filr die NATO.

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Die Erweiterung von EU und NATO wird diese Probleme nicht leichter lösbar machen. Diese Kohäsion- und Kohärenz-Problematik für die EU- und die NATO-Politik wird durch Erweiterung nicht vereinfacht noch abgeschwächt. Die Erweiterung als Ziel und Methode ist aber von den westlichen Partnern in Aussicht genommen und später zu ihrer Politik erhoben worden, weil EU und NATO anders die Dilemmata, vor denen sie im Osten Europas zwischen Rußland und den Ländern im Osten Deutschlands stehen, nicht neutralisieren oder jedenfalls beschränken können.

to•

VERFASSER UND HERAUSGEBER Dr. Günther Altenburg Auswärtiges Amt Bonn Prof (em.) Hans Buchheim Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof Dr. Kar/ Eckart Gerhard-Mercator-Universität Duisburg Vorsitzender der GtD (Mitherausgeber) Prof Dr. Christian Hacke Fachbereich Wirtschafts- und Organisationswissenschaften Institut fiir Internationale Politik Universität der Bundeswehr, Harnburg Prof Dr. Jens Hacker Institut fiir Politikwissenschaft Universität Regensburg Prof Dr. Eckart Klein (Herausgeber) Juristische Fakultät Lehrstuhl fiir Staatsrecht, Völkerrecht und Europarecht Universität Potsdam Dr. Kari-Rudolf Karte stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Deutschland und Akademischer Rat am Geschwister-Scholl-Institut fiir Politische Wissenschaft der Universität München Prof Dr. Lothar Rühl Universität zu Köln

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Verfasser und Herausgeber

Prof Dr. Manfred Wilke Freie Universität Berlin Prof Dr. rer. pol. Hans Willgerodt em. o. Prof. filr Wirtschaftliche Staatswissenschaften Universität zu Köln