Deutsches Fremdwörterbuch: Band 6 U - Z
 9783110866568, 9783110097092

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der zitierten Zweitquellen
U
V
W
X
Y
Z

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Deutsches Fremdwörterbuch Sechster Band

Deutsches Fremdwörterbuch Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler weitergeführt im Institut für deutsche Sprache

Sechster Band

u-z bearbeitet von Gabriele Hoppe, Alan Kirkness, Elisabeth Link, Isolde Nortmeyer, Gerhard Strauß unter Mitwirkung von Paul Grebe

W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1983

Wissenschaftlicher

Beirat:

Joachim Bahr, Bernhard Gajek, Wolfgang Müller, Peter von Polenz, Heinz Rupp

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Deutsches Fremdwörterbuch / weitergef. im Inst, für Dt. Sprache. Begonnen von Hans Schulz. Fortgef. von Otto Basler. — Berlin ; New York : de Gruyter Bis Bd. 2 u.d.T.: Schulz, Hans: Deutsches Fremdwörterbuch NE: Schulz, Hans [Begr.]; Basler, Otto [Bearb.]; Institut für Deutsche Sprache (Mannheim) Bd. 6. U —Z / bearb. von Gabriele Hoppe . . . unter Mitw. von Paul Grebe. - 1983. Abschlußaufnahme von Bd. 6 ISBN 3-11-009709-5 NE: Hoppe, Gabriele [Mitverf.]

© 1983 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Mit diesem 6. Band liegt der alphabetische Lexikonteil des Deutschen Fremdwörterbuchs nach mehr als 70jähriger Entstehungszeit fertig vor. In der Geschichte des Wörterbuchs lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die Buchstaben A — K wurden von Hans Schulz (f 1915) bearbeitet, die Buchstaben L — Q von Otto Basler (•f 1975), und die Buchstaben R — Z von einer Arbeitsgruppe des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. Allen Bearbeitern gemeinsam war das Bestreben, die Geschichte der Fremdwörter im Deutschen, insbesondere der geläufigen bzw. in die Standardsprache integrierten, zu beschreiben und zu belegen. Das so entstandene Wörterbuch versteht sich als eine entwicklungsbezogene wissenschaftliche Dokumentation des deutschen Fremd Wortschatzes. Dem Zweck der Dokumentation des Fremdwortschatzes dient ebenfalls ein 7. Band, der voraussichtlich 1983 erscheinen wird. Er wird neben einem Nachwort, in dem auf lexikologische und lexikographische Aspekte des deutschen Fremdwortschatzes und auf die Stellung des Deutschen Fremdwörterbuchs unter den Fremdwörterbüchern des Deutschen eingegangen werden soll, das Quellenverzeichnis für das Gesamtwerk und systematische Wortregister enthalten. Quellenverzeichnis. Das Deutsche Fremdwörterbuch beruht auf einer breiten Material- und Quellenbasis. Das im 1. Band gedruckte Verzeichnis der von Hans Schulz exzerpierten Quellen enthält mehr als 500 Einträge, darunter vor allem schöngeistige und (populär-)wissenschaftliche Literatur, aber auch Briefe, Periodika und Trivialliteratur. Das von Schulz für das ganze Alphabet verzettelte Material stand auch den späteren Bearbeitern zur Verfügung. Sein Quellenverzeichnis wird deshalb im 7. Band wieder abgedruckt. Bei der Übernahme des Werks erweiterte Otto Basler die Quellenbasis systematisch, vor allem um ältere und jüngere Zeitschriften, (Tages-)Zeitungen, kleinere Traktate, Flugschriften, Briefe, Memoiren, zeitgenössische Trivialliteratur u.ä.m. 1930 stellte er ein erstes Verzeichnis von etwa 1700 Titeln zusammen. Bis zum Jahre 1972 exzerpierte er unablässig weiter. Neben den regelmäßig verzettelten Zeitungen, denen der größte Teil, mit Sicherheit 75%, des Belegmaterials für das 20. Jahrhundert (ab etwa 1920) entnommen wurde, zog Basler mehr als 8000 Quellen aus. Das Verzeichnis der von ihm benutzten Quellen umfaßt somit insgesamt ca. 10000 Werke, die auch für die dritte Bearbeitungsphase den Grundstock bildeten. Die wenigen nach 1972 exzerpierten Werke werden deshalb nicht extra verzeichnet, sondern dem Baslerschen Gesamtverzeichnis einverleibt. Das Quellenverzeichnis ist primär als Arbeitsinstrument für den Benutzer des Deutschen Fremdwörterbuchs konzipiert. Es enthält die vollständigen bibliographischen Angaben der verwendeten Quellen, die im Wörterbuch selbst in gekürzter Form zitiert werden. Systematische Wortregister. Der im Deutschen Fremdwörterbuch verzeichnete Fremd Wortschatz wird einem mehrfach, auch in Rezensionen geäußerten Wunsch entsprechend nach verschiedenen Kriterien in Registern geordnet. Vorgesehen sind folgende fünf Register, die alle Haupteinträge und diejenigen Subeinträge erfassen sollen, die Simplizia und Ableitungen sind:

VI

Vorwort

(1) Alphabetisch: Das erste Register dient als alphabetischer Index zum Wörterbuch. Das Deutsche Fremdwörterbuch ist nämlich nicht streng alphabetisch angeordnet, sondern durch eine modifizierte Stammwortlemmatisierung gekennzeichnet, so daß nicht alle beschriebenen Stichwörter über das Alphabet direkt auffindbar sind. Das gilt z . B . für Präfixbildungen wie weg-, fort-, hin- und dahinvegetieren, die beim Stichwort vegetieren verzeichnet sind. Subeinträge werden mit einem Verweis auf den jeweiligen Haupteintrag versehen. (2) Rückläufig: Hauptzweck dieses Registers ist das Sichtbarmachen von suffixalen Wortbildungsstrukturen. So werden z . B . alle Stichwörter auf -ierung und -(i)ation zusammengestellt, so daß Belegmaterial für eine Untersuchung dieser beiden Formen bei Verbalsubstantiven zu Verben auf -¡eren unmittelbar zugänglich wird. (3) Chronologisch: Durch Angabe des Datums der Erstbelegung können z . B . (in Verbindung mit 1 oder 2) zeitliche Schwerpunkte bei der Herausbildung von präfixalen oder suffixalen Wortbildungsreihen ermittelt oder (in Verbindung mit 4) lateinische, französische, englische u.ä. Entlehnungsschübe bzw. deutsche Lehnwortbildungsschübe festgestellt werden. (4) Nach Herkunftssprache: Ziel dieses Registers ist eine Zusammenstellung der lexikalischen Latinismen, Gallizismen, Anglizismen u.a. im Deutschen, so wie sie im Deutschen Fremdwörterbuch erfaßt sind. Zentrales Anliegen ist der Nachweis, daß ein Großteil der Fremdwörter im Deutschen nicht aus anderen Sprachen übernommen, sondern im Deutschen, (partiell) mit entlehnten Komponenten, gebildet wird. Deshalb ist auch eine Rubrik „deutsch" vorgesehen. (5) Nach Wortklassen: Im letzten Register werden Substantive, Verben, Adjektive und/oder Adverbien und Präpositionen sowie als Haupteinträge lemmatisierte Wortbildungsmorpheme und Syntagmen zusammengestellt. Die Register richten sich zwangsläufig primär nach der Ausdrucksseite, sie sind aber auch insofern inhaltsbezogen, als die einzelnen Bedeutungen eines polysemen Stichworts separat verzeichnet werden, wenn sie im Wortartikel klar differenziert sind. Jedes Register enthält, soweit sinnvoll, Informationen aus den anderen Registern. Beim rückläufigen z . B . erscheinen auch jeweils Datum und Herkunftssprache des Stichworts, ggf. der betreffenden Bedeutung. Bei den -ismen wird es also möglich sein, Entlehnungen (aus welcher Sprache auch immer) und Lehnwortbildungen auseinanderzuhalten und Entlehnungs- bzw. Lehnwortbildungsschübe zu erkennen. Die Register haben somit nicht nur eine Hilfsfunktion für die Benutzung des Deutschen Fremdwörterbuchs Band 1—6, sondern einen Eigenwert im Zusammenhang historisch-entwicklungsbezogener Untersuchungen der deutschen Sprache. Sie werfen vielfach ein neues Licht auf die etymologischen Strukturen des deutschen Wortschatzes, insbesondere auf den traditionellen Fremdwortbegriff. Mit Nachwort, Gesamtquellenverzeichnis und systematischen Wortregistern ergänzt der 7. Band die Wortartikel in den ersten sechs Bänden und bildet einen integralen Bestandteil der entwicklungsbezogenen wissenschaftlichen Dokumentation des deutschen Fremdwortschatzes. Mit seinem Erscheinen wird das Deutsche Fremdwörterbuch abgeschlossen. Mannheim, Dezember 1982

Für die Mitarbeiter Alan Kirkness

Verzeichnis der zitierten Zweitquellen Die im Text verwendeten Kurztitel erscheinen eingeklammert in Versalien jeweils am Ende der bibliographischen Angaben. Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Ndr.), Hildesheim 1963 ( B E N E C K E / M Ü L L E R / Z A R N C K E ) Hans Holm Bielfeldt, Die Entlehnungen aus verschiedenen slawischen Sprachen im Wortschatz der neuhochdeutschen Schriftsprache, Berlin 1965 ( B I E L F E L D T ) Richard Brunt, The Influence of the French Language on the German Vocabulary (1649—1748), Diss. Oxford 1979 ( B R U N T ) Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Braunschweig 2 1813 ( C A M P E ) Broder Carstensen, Englische Einflüsse auf die deutsche Sprache nach 1945, Heidelberg 1965 ( C A R STENSEN) —, und Hans Galinsky, Amerikanismen der deutschen Gegenwartssprache. Entlehnungsvorgänge und ihre stilistischen Aspekte, Heidelberg 1963 ( C A R S T E N S E N / G A L I N S K Y ) Carl Creifelds, Rechts Wörterbuch, München 3 1973 ( C R E I F E L D S ) Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich 1976ff. ( D U D E N ) Kristi Friman, Zum angloamerikanischen Einfluß auf die heutige deutsche Werbesprache, Jyväskylä 1977 (FRIMAN) Peter Ganz, Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz 1 6 4 0 - 1 8 1 5 , Berlin 1957 ( G A N Z ) Goethe-Wörterbuch, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966 ff. ( G W B ) Alfred Götze (Hrsg.), Trübners Deutsches Wörterbuch, Berlin 1939ff. ( T R Ü B N E R ) E. G . Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache (Ndr.), Hildesheim 1963 ( G R A F F ) Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff. ( D W B ) Moriz Heyne, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1890ff. ( H E Y N E ) William Jervis Jones, A Lexicon of French Borrowings in the German Vocabulary (1575 — 1648), Berlin/New York 1976 ( J O N E S ) Joseph Kehrein, Fremdwörterbuch mit etymologischen Erklärungen und zahlreichen Belegen aus Deutschen Schriftstellern, Stuttgart 1876 ( K E H R E I N ) Ortrud Keil, Die italienischen Lehn- und Fremdwörter im Deutschen, Diss. Innsbruck 1944 ( K E I L ) Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz (Hrsg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Berlin 1961 ff. ( W D G ) Friedrich Kluge, Deutsche Studentensprache, Straßburg 1895 ( K L U G E , Studentensprache) —, Seemannssprache. Wortgeschichtliches Handbuch deutscher Schifferausdrücke älterer und neuerer Zeit, Halle 1911 ( K L U G E , Seemannssprache) - , Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 2 0 1967 (bearbeitet von W. Mitzka) (KLUGE) - , (Hrsg.), Zeitschrift für deutsche Wortforschung Bde. I - X V , Straßburg 1901 ff. ( Z F D W ) Siegfried Kohls, Russisches lexikalisches Lehngut im deutschen Wortschatz (der letzten vier Jahrhunderte), Diss. Phil. Leipzig 1964 ( K O H L S ) Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg/Berlin 1906 ( L A D E N D O R F ) Heidi Lehmann, Russisch-deutsche Lehnbeziehungen im Wortschatz offizieller Wirtschaftstexte der D D R (bis 1968) ( = Sprache der Gegenwart 21), Düsseldorf 1972 ( L E H M A N N ) Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Leipzig 1872 ff. ( L E X E R ) Daniel Malherbe, Das Fremdwort im Reformationszeitalter, Freiburg i/B. 1906 ( M A L H E R B E ) Paul Möller, Fremdwörter aus dem Lateinischen im späteren Mittelhochdeutschen und Mittelniederdeutschen, Gießen 1915 ( M Ö L L E R ) Wolfgang Müller, Leicht verwechselbare Wörter ( = Duden Taschenbücher 17), Mannheim 1973 (MÜLLER) Solmu Nyström, Die deutsche Schulterminologie in der Periode 1 3 0 0 - 1 7 4 0 , Helsinki 1915 ( N Y S T R Ö M ) Philip Motley Palmer, Der Einfluß der neuen Welt auf den deutschen Wortschatz ( = Germanische Bibliothek 35), Heidelberg 1933 ( P A L M E R )

Vili

Verzeichnis der zitierten Zweitquellen

Jürgen Pfitzner, Der Anglizismus im Deutschen. Ein Beitrag zur Bestimmung seiner stilistischen Funktion in der heutigen Presse, Stuttgart 1978 (PFITZNER) Michael Pflaum, Geschichte des Wortes „Zivilisation", Diss.Phil. München 1961 (PFLAUM) Johanna Rütter, Das Fremdwort bei Fischart, Staatsexamensarbeit München 1963 (RÜTTER) Daniel Sanders, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Leipzig 1863 ff. (SANDERS DWB) - , Fremdwörterbuch, Leipzig 1871 (SANDERS 1871) Paul Scheid, Studien zum spanischen Sprachgut im Deutschen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Wortforschung (= Deutsches Werden, Heft 4), Greifswald 1934 (SCHEID) Alfred Schirmer, Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache auf geschichtlichen Grundlagen, Straßburg 1911 (SCHIRMER, Kaufmannssprache) — , Der Wortschatz der Mathematik nach Alter und Herkunft untersucht (= Beiheft zur ZfdW 14), Straßburg 1912 (SCHIRMER, Mathematik) Hugo Suolahti, Der französische Einfluß auf die deutsche Sprache im dreizehnten Jahrhundert, Helsinki 1929 (SUOLAHTI) A. Walde und J. B. Hofmann, Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 3 1954 (WALDEHOFMANN) Karl Weigand, Deutsches Wörterbuch, Gießen 5 1910 (hrsg. von Herman Hirt) (WEIGAND) Marjatta Wis, Ricerche sopra gli italianismi nella lingua tedesca. Dalla metà del secolo XIV alla fine del secolo XVI, Helsinki 1955 (WIS) Johann Jacob Woyt, Gazophylacium medico-physicum oder Schatzkammer medicinisch- und natürlicher Dinge, Leipzig 1709 (WOYT)

Wir danken Herrn Professor Dr. Broder Carstensen (Paderborn), der uns unveröffentlichtes Belegmaterial für sein projektiertes Wörterbuch der Anglizismen im heutigen Deutsch zur Verfügung gestellt hat. Ebenfalls danken wir Herrn John Bennett für die Benutzung des Belegmaterials aus seiner Oxforder Dissertation The Influence of English on the German Vocabulary 1800—1850 (in Vorbereitung). Dieses Material wird mit (CARSTENSEN) resp. (BENNETT) gekennzeichnet.

u ultimativ Adj., im frühen 20. Jh. aufgekommene Ableitung zu —»Ultimatum; meist im politisch-diplomatischen Bereich in der Bed. 'in Form eines Ultimatums, als Ultimatum (ausgesprochen); durch Ausübung eines starken (politischen, wirtschaftlichen u. ä.) Drucks eine Entscheidung erzwingen wollend', auch nachdrücklich, unwiderruflich, definitiv, letztmalig (Bedingungen stellend, Forderungen erhebend)5, bes. in der Wendung ultimative Forderung. Münch. N. N. 28. 10. 1925 Der Sachverständige . . . fragte, ob nicht ein Zusammenhang zwischen dem Ausbruch der Revolution in Berlin am 9. Nov. und der ultimativen Forderung Scheidemanns nach Abdankung des Kaisers . . . bestehe; Voss. Ztg. 19. 4. 1929 daß Dr. Schacht weiterhin erklärt habe, der deutsche Vorschlag sei anzunehmen oder abzulehnen, [habe] also ultimativen Charakter; Berl. Illustr. Nachtausg. 4. 12. 1929 Mit Rücksicht darauf, daß die Forderung der sehnsüchtigen Braut in ultimativer Form gestellt wurde und sie gleichzeitig ihre Liebe als kündbar anzeigte, strauchelte Waldemar so lange über seine Gewissensqualen, bis er kopfüber stürzte; Voss. Ztg. 22. 11. 1930 Während der Senat diese in ultimativer Form gestellte Forderung beriet, wurde in der Universität ein unbeschreiblicher Radau mit Sprechchören inszeniert; 1931 Marine-Rundschau 100 erreichte durch tatkräftiges ultimatives Vorgehen innerhalb 24 Stunden, was auf anderem Wege jahrelang unmöglich war; Lokal-Anz. 11. 1. 1933 Die Bauernschaft von Vorau in der Oststeiermark hat . . . ein Programm aufgestellt, dessen Erfüllung ultimativ bis zum 8. Februar von der Regierung verlangt wird; ebd. 28. 1. 1933 In später Nachtstunde schickten sie eine Abordnung zu dem Sozialistenführer . . . und ließen ihm ultimative Forderungen stellen; Münch. N. N. 11. 1. 1942 wurden . . . seitens der Kongreßpartei den britischen Behörden gewisse ultimative Forderungen zugeleitet; ebd. 12. 5. 1944 Nach dem Betragen, das sich Engländer und Amerikaner gegenüber nichtkriegführenden Staaten geleistet haben, kann man annehmen, daß die Forderung ultimativen Charakter getragen hat; ebd. 17.118. 6. 1944 Es ist bekannt, daß Roosevelt und Churchill vor Teheran die Invasion nicht ernstlich wollen und 1 Fremdwörterbuch

daß sie dort von Stalin ultimativ gezwungen wurden, auf diesen Kurs einzuschwenken; Süddtsch. Ztg. 26. 5. 1951 In ultimativer Form wiederholte der sowjetische Delegierte Gromyko . . . seine Forderung nach Aufnahme des Atlantikpaktes in die Tagesordnung; ebd. 10. 6. 1954 Einer Intervention von westlicher Seite würde fraglos eine ultimative Warnung an die Kommunisten vorausgehen, etwa: nicht nach Laos einzufallen; ebd. 11. 9. 1958 Erst als Peking im Juli ultimativ darauf drang, benannte Washington einen neuen Mann; Stuttgarter Ztg. 7. 1. 1959 Vorbehaltlose Aussprache ohne ultimative Forderungen (Überschr.); ebd. 15. 6. 1959 Man kann nur hoffen, daß Debres jüngste Erklärungen keinen ultimativen Charakter haben, sonst stünden dunkle Wolken über der Allianz; ebd. 16. 12. 1959 Das klassische Beispiel war der ultimative Griff nach Berlin vom November 1958; Süddtsch. Ztg. 6. 2. 1961 In einer Sondersitzung des Senats . . . wurde dieses Programm konkretisiert und ultimativ mit der Erklärung veröffentlicht, daß nur auf dieser Grundlage eine Einigung möglich sei; Erlanger Tagbl. 27. 7. 1965 Kunstvoller Diplomatie ist dabei der Vorzug vor plumper Ultimativpolitik zu geben; Offenburger Tagebl. 19. 1. 1966 Was geschehen soll, wenn man sich nicht einig wird, darüber wagt niemand eine Prognose zu stellen. Frankreichs Arbeitskalender wirkt ultimativ; FAZ 16. 1. 1970 Harte Streikdrohungen sowie vom Zaun gebrochene wilde Streiks in Bereichen, die den Bürger aufs empfindlichste treffen, schufen zusammen mit ultimativen Forderungen einen Stil, der an amerikanische Vorbilder erinnert; ebd. 26. 2. 1971 Die Regierung nimmt israelische Drohungen durchaus ernst, seit Israel Mitte Januar in ultimativer Form angekündigt hatte, es werde

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Ultimatum

den Süden des Libanon . . . ständig besetzen; Bad. Ztg. 14. 2. 1972 Ultimative Note aus Athen — Makarios: Unannehmbar (Oberschr.); Die Zeit

20. 3. 1981 Unsere acht Prozent sind Forderungen und kein ultimatives Festhalten.

Ultimatum N. (-s; -s, auch Ultimaten), im frühen 18. Jh. aufgekommen, zurückgehend auf gleichbed. mlat. ultimatum (subst. Part. Perf. von kirchenlat. ultimare 'zu Ende gehen, zu einem Ende kommen; im letzten Stadium sein' < gleichbed. lat. ultimare, zu ultimus '(der Zeit und Reihenfolge nach) der äußerste, letzte'), im 18. Jh. vereinzelt Ultimat und im 19. Jh. Ultimatium; vor allem im politisch-diplomatischen Bereich in der Bed. mit der Androhung von drastischen, repressiven Maßnahmen verbundene, endgültig letzte, definitive (Auf-)Forderung (eines Staates an einen anderen), etwas innerhalb einer festgesetzten Frist zu tun oder zu unterlassen', auch allgemeiner für 'letzter Vergleichsvorschlag zur Beilegung einer schwebenden Angelegenheit; (eine unwiderrufliche Entscheidung beinhaltende) allerletzte, befristete Aufforderung, Mahnung, Erklärung', gelegentlich auch abgeflacht verwendet für letztes Wort (in einer Angelegenheit)' und früher vereinzelt im Sinne von 'das Letzte, das Nonplusultra, das Entweder-Oder'; bes. im Syntagma (jmdm.) ein Ultimatum stellen, setzen; dazu in neuester Zeit die vereinzelte Präfixbildung Prä-Ultimatum 'einem Ultimatum unmittelbar vorausgehende (politische) Forderung'; daneben im 19. Jh. gelegentlich nachgewiesenes Ultimatissimum 'allerletzte Erklärung (nach einem Ultimatum)', vereinzelt übertragen verwendet. Ultimatum: Sperander 1728 A la mod Sprach 788 Ultimatum, dasjenige, über welches man nichts mehr erlangen noch setzen kan; Schlözer 1780 Briefw. histor. Inh. VI 152 Erlauben Sie mir nun . . . dies Ihnen freimütig zu gestehen: diese beide HauptErfordernisse eines BündnisEntwurfs, hab ich in dem Ultimatum Sr. AllerChristl. Majest. . . . beinahe durchgehends vermißt; Musäus 1781 Reisen IV 233 Eigentlich aber hatte mir Balthasar Koch den Kohl versalzen, dessen ultimatum zu eben der Zeit einging; Wall 1787 Bagatellen II 203 Ultimatum; Schubart vor 1791 Sehr. V160 Wer sie gehört hat, der hat das Ultimatum im musikalischen Vortrag gehört; Kappermann 1792 Jurist. Wh. o. S. Ultimatum, Ultimat, letzter, endlicher Entschluß; Lavater 1798 Br. a. Bremer Freunde 51 Sie gaben ihr Ultimat; Schelle 1805 Br. (Schütz, Lehen II 417) Hätte doch M. L. sein Ultimatum gegeben; dann ließe sich vielleicht in Würzburg etwas Näheres wirken; Goethe 1808 Br. XX 265 Unter uns wenigstens ein aufrichtiges Wort! in einer Sache die eigentlich blos hinter dem Mantel gespielt wird. Ich übersende mein Ultimatum; 1813—15 Prinzenbr. 154 Aus Wien weiß man, daß dort nichts zu wissen ist, da nichts geschieht; Man spricht, den 25ten würde das allerseitige Ultimatum erwartet; Bauer 1836 Üherschw. II 130 Es regnete Adressen und der Departementschef konnte nicht

umhin, eine zweite Erklärung als Ultimatium zu geben; Pückler 1840 Bildersaal I 241 Man wird nun dafür sorgen, daß die Antwort auf dieses Ultimatum, wenn der Paladin sie nicht selbst schuldig bleibt, was sehr möglich wäre, jedenfalls unterwegs verloren geht, et tout sera dit; Burckhardt 1842 Br. I 211 die [Prinzipalin] mir noch keinen Tag Ferien gegönnt hat, [daher will ich ihr] ein Ultimatum stellen; Boretius 1850 Br. 14 Österreich habe Preussens Ultimatum angenommen; Wachenhusen 1865 Ballet 115 Zerline habe ihm ein Ultimatum gestellt; Dahn 1870 Kriegsrecht 2 wenn ein Ultimatum unter Kriegsandrohung gestellt . . . ist; Meysenhurg 1876 Mem. I 374 Ultimatum; Röse 1884 Revanche 61 sandten schliesslich . . . ein Ultimatum; Brandt 1901 OstAsien II 175 zog der Oberbefehlshaber der Armee . . . in Jedo ein und stellte ein Ultimatum, durch das die Übergabe des Schlosses und die Auslieferung aller Waffen und Schiffe gefordert wurde; Bierbaum 1907 Musenkrieg 124 dass das judicatum Des Comissarii Geachtet werde als ein Ultimatum Und also respektiert; Franken 1913 Schneide 41 Der Berliner Hochfinanz gehörte seine Familie an; dorthin strebte er zurück. Heut hatte er sein Ultimatum gestellt: nun bitte — ja oder nein; Fendrich 1915 Frankreich 7 Ultimatum heisst auf Deutsch: Entweder — oder!; Kjellen

Ultimatum 1921 Grossmächte W. 125 tödliches Ultimatum gegen das napoleonische Kaisertum in Mexiko; Hardert 1927 Versailles 62 das an Serbien gerichtete Ultimatum; Voss. Ztg. 20. 4. 1929 Dr. Schacht hat einem Vertreter des „Journal" erklärt, er habe niemals das deutsche Memorandum als das letzte Wort oder als ein Ultimatum angesehen; Diesel 1930 Völkerschicksal 114 Alles in der Welt scheint sich auf ein grauenhaftes Ultimatum hinzubewegen . . . ein unvorstellbares Chaos; Lokal-Anz. 17. 1. 1933 Mit diesem Ultimatum hat Präsident Roosevelt den ihm von den Stahlkönigen hingeworfenen Fehdehandschuh aufgenommen; Asbeck 1933 Das Ultimatum im modernen Völkerrecht (Titel); Lokal-Anz. 7. 6. 1934 Ein dem Staatspräsidenten gestelltes Ultimatum ist am Mittag abgelaufen, aber offenbar verlängert worden; ebd. 19. 10. 1934 Das Herz eines kleinen Mädchens brach, aber eine Krone wurde gerettet, mehr noch vielleicht, ein Reich. Denn Napoleons Brautwerbung war ein Ultimatum, keine Frage; 1935 Volk u. Reich 282 Ultimaten folgten auf Ultimaten; Hoche 1936 Weg 54 [ein] Ultimatum an den Himmel; Münch. N. N. 20. 5. 1938 Ultimatum Deutschlands an die Tschechoslowakei; ebd. 1. 12. 1939 Aus den neuesten Erklärungen . . . geht eine harte Entschlossenheit hervor: Annahme der Forderung des Kongresses, eine verfassungsgebende und wirklich indische Nationalversammlung einzuberufen, oder Rebellion! Das ist ein Ultimatum; Weizsäcker 1950 Erinn. 318 [Die Russen hatten] mit dem herkömmlichen, also einem stufenförmigen diplomatischen Ablauf gerechnet, d.h. mit Beschwerde, Replik, Ultimatum, Kriegsausbruch; Bonn 1953 Gesch. 180 Denn ein König von Preussen, der sich von einem seiner Generale ein Ultimatum stellen läßt . . . hat abgewirtschaftet; Süddtsch. Ztg. 6. 7. 1954 Die Tragweite der Erklärung des Bundeskanzlers ist noch gar nicht abzuschätzen. Vielleicht wird der französische Unwille über ein deutsches Ultimatum durch den Ärger über die von Amerika und Großbritannien in London eingesetzte Kommission zum Studium der Frage der deutschen Souveränität . . . zu unserm Vorteil wettgemacht; ebd. 9. 4. 1958 Ultimatum der Ehemänner (Uberschr.) Alle Frauen sollte es interessieren, welche Wünsche in einer großen Befragung 1000 Männer äußerten. Es zeigt sich, daß herzhaft-kräftige Hausgerichte . . . besonders gefragt sind . . . Sollte die Hausfrau nicht daraus lernen?; Stuttgarter Ztg. 2. 2. 1959 wenn . . . Meinungsunterschiede zwischen London und Paris hinsichtlich der Verhandlungsbereitschaft mit dem Osten beim Bestehenbleiben des BerlinUltimatums beglichen werden; Süddtsch. Ztg. 6.

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3. 1959 Das bis zum 27. Mai 1959 befristete Berlin-Ultimatum der Sowjetunion existiert nicht mehr; Stuttgarter Ztg. 2.' 11. 1959 Brandt: Der Westen soll sich nicht selber Berlin-Ultimatum stellen (Überschr.); ebd. 2. 6. 1969 Ultimatum (Uberschr.) Die Tänzerinnen an den VarieteTheatern . . . haben in einer Urabstimmung drastische Schritte beschlossen, um ihren Forderungen auf höhere Gagen Nachdruck zu verleihen: Wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden, wollen sie in voller Kleidung auf den Bühnen erscheinen; ebd. 9. 2. 1961 Das deutsche Finanzangebot sei keineswegs als Ultimatum gedacht gewesen, sondern als eine Verhandlungsgrundlage; FAZ 3. 3. 1969 Chruschtschow . . . mußte auf seine Kosten entdecken, daß seine Drohungen und Ultimaten nichts fruchteten; Offenburger Tagebl. 8. 3. 1969 Das Bundesverfassungsgericht . . . hat dem Gesetzgeber . . . ein „Ultimatum" gesetzt, bis zum Ablauf der fünften Legislaturperiode des Bundestages im Herbst das Recht . . . in verfassungskonformer Weise zu reformieren; ebd. 16. 4. 1969 Der amerikanische Handelsminister . . . ist mit einem Ultimatum nach Europa gekommen: Entweder bauen die europäischen Länder Einfuhrschranken für amerikanische Importe ab, oder Amerika muß zu protektionistischen Einfuhrsperren greifen; FAZ 7. 4. 1971 Der Geschäftsleitung von Pan American World Airways war Dienstag zunächst noch keine offizielle Mitteilung der DAG über ihr Ultimatum zugegangen; Offenburger Tagebl. 7. 12. 1971 Das Vorstandsmitglied des Verbands . . . erklärte . . . solange die IG Metall ihr, wie er sagte, „Ultimatum" nicht fallen lasse, würden die Arbeitgeber kein neues Angebot machen; Bad. Ztg. 14. 2. 1972 Makarios habe eine ihm am Vortag . . . überreichte Note als ein völlig unannehmbares und demütigendes Ultimatum bezeichnet.

Ultimatissimum: 1855 Histor. Jahrbuch 1854/55 73 Ultimatissimum; 1855 Prutz' Museum 1844 An das Gerede von einem „Ultimatissimum", welches Oestreich Rußland gestellt haben soll und nach dessen Verwerfung es unmittelbar zum Schwerte greifen würde, glaubt hier Niemand; Kladderadatsch 15 (1862) 110 Ultimatissimum; Bios 1891 Dtsch. Revol. 371 Als er später in Noth gerieth, ging er Manteuffel um Unterstützung an und erhielt . . . im Ganzen 1000 Thaler, zuletzt 300 als „Ultimatissimum" ausbezahlt. Prä-Ultimatum: Misch 1952 Gesch. 214 Prä-Ultimatum an Russland.

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Ultimo

Ultimo M. (-s; -s), Anfang 16. Jh. entlehnt aus gleichbed. ital. ultimo (zurückgehend auf lat. ultimo (mense Iunio) am letzten Tag (des Monats Juni)', zu ultimus, —» Ultimatum), früher vereinzelt die Form ultima und abgekürzt Ult.; im Börsen- und Bankwesen in der Bed. 'der letzte Tag eines Zeitabschnitts', bes. Monatsletzter, -ende; Zahltag', vereinzelt auch verkürzt für am, zum Ultimo'; in präpositionalen Syntagmen wie am, bis, per, zum Ultimo am, zum Monatsletzten' und in Zss. wie Ultimogeschäft am Monatsende fälliges Börsentermingeschäft', Ultimogeld 'Monatsgeld', Ultimoliquidation, -regulierung 'Abrechnung der laufenden Ultimogeschäfte am Monatsende', gelegentlich auch bildlich verwendet. 1509 Rem 13 Und adi ultimo Ottob. kam wir mit heftigem Sturmwind for Lixbona; ebd. 1518 (21) Adi 17 Mayo . . . und adi ultimo dito hetten wir hochzet; 1527 Fuggerinventur 59 bis ultimo Jungno (alle SCHIRMER, Kaufmannssprache); 1552 (Hähnle, Fürstenkrieg 23) ultima dis monats; Federmann 1557 Reisen 16 biss ultimo Julio; Meder 1558 Handel Buch 19" muß sich einer schicken/das er auff Vltimo Septembris vnfehrlich darniden sey; 1560 (Mitt. V. fGNürnbergs 11 (1895) 169) sider vltimo kein schreiben von euch empfangen; Carolus 1609 Relation Nr. 6e demnach der mit den Evangelischen Ständen biß hero gemachte anstand sich biß Ultimo diß endet; Hainhof er 1612 Corr. 207 vnterm dato Ultimo; 1660 (1869 Magazin d. Auslandes 256) Vom 1. July biss ultimo December; Schurtz 1662 Buchhalten 69b Ult: oder ultimo, den letzten Monats-Tag; 1762 Einl. i. d. Handlungsw. 158 Das letzte, ultimo currente, der letzte Tag dieses Monats; Bretzner 1787 Lehen II 282 Unglücklicher Weise hatten indeß einige protestirte Wechsel die Kasse des christlichen Bruder Levy's erschöpft, so daß er, da der Ultimo vor der Thüre war, sich selbst genöthiget gesehen Kapitale aufzunehmen; 1821 (Corti 1927 Rothschild) 371 bis Ultimo November; Müller 1859 Stadtschultheiss 242 ultimo; 1864 V'j'schr. Volkswirtschaft 143 am Ultimo; Röse 1884 Revanche 32 vergessen wir die Wunden, die wir uns zu Ultimo geschlagen!; Franzos 1884 Liebe. Novellen 192 am Ultimo des September; Technik u. Wirtsch. 5 (1912) 381 An den deutschen Börsen gilt der Regel nach für derartige Abschlüsse als Zeitpunkt der Erfüllung der Monats-Ultimo, weshalb man auch die Bezeichnung „Ultimo-Geschäft" gebraucht; Voss. Ztg. 21. 4. 1929 allein 300 Mill. M. beträgt der Ultimobedarf für Beamtengehälter und sonstige regelmäßige Verpflichtungen; ebd. 1. 11. 1929 Die Kredite seien regelmäßig Ultimo abgedeckt worden; Berl. Morgenpost 15. 12. 1929 - Gerade die Banken werden zum Jahresultimo von Handel und Gewerbe . . . in Anspruch genommen; ebd. 29. 1. 1931 waren zwei Angestellte der Bank . . . mit Abrechnungsarbeiten für den Ultimo beschäftigt;

Arnholds Wochenber. 20. 6. 1931 Schon jetzt zeigt der Geldmarkt deutliche Spuren dieser Entwicklung, zumal die erwähnte Ultimovorsorge diesmal . . . besonders früh einsetzte; ebd. 5. 9. 1931 hat die Notenbank . . . eine Besserung auf zuletzt 39,3% in der Ultimowoche erfahren können; Berl. Illustr. Nachtausg. 9. 8. 1933 die Ultimo-Beanspruchung ist zu etwa 60% abgedeckt worden; Lokal-Anz. 24. 9. 1934 Auf den meisten Gebieten des Aktienmarktes erfolgten . . . einige Ultimoglattstellungen; ebd. 28. 12. 1934 Wo Material an die Märkte gelangte, handelte es sich fast ausschließlich um Verkäufe der Kulisse, für die der heutige Tag bereits der Börsenultimo war; Dtsch. AZ. 3. 1. 1935 Bei den deckungsfähigen Wertpapieren sind Steuergutscheine mit ferner liegenden Fälligkeiten zur Ultimofinanzierung von der Wirtschaft abgegeben worden; ebd. 31. 8. 1935 Strammer Ultimo (Uberschr.) Der Geldmarkt wurde zum Ultimotage noch überraschend stark in Anspruch genommen; Grüne Post 6. 10. 1935 Recht deutlich spricht auch die Tatsache, daß die Stadt am Ultimo kaum noch Bargeld pumpen muß, was seit 1931 sonst mit völliger Regelmäßigkeit nötig war; ebd. 19. 10. 1944 Von 2,02 Mrd. RM. zu Ende 1939 erhöhten sie [Guthaben] sich auf 5,29 Mrd. RM. zu Ende 1942, welcher vorher niemals erreichte Stand damals mit den ausnahmsweise großen Ultimobereitstellungen . . . erklärt wurde; Münch. Stadtanz. 23. 4. 1954 Der Ultimo (Überschr.) Ist Ihnen auch schon aufgefallen, wie leer kurz vor dem Letzten die Straßen sind? . . . In den großen Kaufhäusern kann man in diesen letzten Monatstagen die Rolltreppen benutzen ohne die Gefahr, zerdrückt zu werden; Offenburger Tagebl. 3. 1. 1959 Ultimo ist der Tag der offenen Hände. Da gibt's Pinkepinke für das, was man im vergangenen Monat geleistet hat . . . Ultimo ist immer Zahltag. Wir denken dabei nur an die Einnahmen und Ausgaben . . . bis wir eines Tages keine Zeit mehr haben, weil unseres Lebens Ultimo gekommen ist; FAZ 27. 3. 1965 Wenn Sie von harmonischem Wesen . . . sind und eine Ehe mit Humor u. Liebe wünschen, auch am Ultimo, würde ich . . . mich über Ihren Brief sehr freuen

Ultra (Anzeige); Süddtsch. Ztg. 1. 10. 1965 Kurserholung an den Ultimobörsen (Uberschr.); FAZ 21. 12. 1971 Leichter Jahresultimo 1971 (Uberschr.) Am Euromarkt hatte man bereits am Donnerstag

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den Ultimo überwunden; Die Zeit 27. 11. 1981 Geld aber ist für den verlustreichen Elektrokonzern kurz vor Ultimo das Wichtigste.

Ultra M. (-(s); -s), Pl. früher auch —, im frühen 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. ultra (Kurzform für ultraroyaliste oder subst. Verwendung von lat. ultra, —» Ultra-); anfangs auf französische Verhältnisse bezogen als Bezeichnung für die Ultraroyalisten als extreme Verfechter des ancien régime in der Restauration, dann im politisch-ideologischen Bereich als je nach politischem Standpunkt unterschiedlich wertende, meist pl. verwendete Personenbezeichnung in der Bed. ejmd., der (relativ zu einer als gesellschaftlich verbindlich angesehenen politischen Norm) eine in der einen (konservativen) oder andern (progressiven) Richtung das übliche Maß überschreitende extreme, radikale politische (ideologische, soziale u. ä.) Einstellung hat, solche Prinzipien vertritt, einer solchen Strömung, Richtung, Tendenz oder Partei angehört und/oder revolutionäre, den Status quo (einseitig) bewahrende oder in Frage stellende politische Ziele (wenn nötig mit Gewalt) durchzusetzen versucht; Anhänger, Vertreter politischer Radikalismen; jmd., der die politischen Grundsätze seiner Partei bis zum Exzeß treibt; politischer Heißsporn, politischer (Links-, Rechtsextremist', anfangs vereinzelt übertragen verwendet, in neuester Zeit im Zuge einer Verschärfung der (welt-)politischen Konfrontationen international verbreitet und immer (ab-)wertend gebraucht; auch im Sinne von TJntergrundkämpfer, Terrorist' und im Sprachgebrauch der DDR bezogen auf politische Gruppierungen in der BRD für '(militanter) Revanchist, Faschist'. Dazu Mitte 19. Jh. die subst. Gelegenheitsableitung Ultratum 'Wesen, Treiben der Ultras'. Ultra: Gentz 1817 Br. a. Pilat I 258 Die französische Staats-Maschine ist jetzt in so gutem Gange, daß nur allein eine Kammer, in welcher die Ultras das Ubergewicht hätten — und diese werden wir so bald nicht wieder erleben — sie verrücken könnte; Görres 1819 Teutschl. u. d. Revolution 55 So säete man mit erlaubtem Kunstgriff eine heilsame Zwietracht zwischen ihm und dem dritten Stande aus, indem man rechts und links theilte und unterschied, zwischen Ultra's, die Alles ohne das Volk thun wollten, und Jacobinern, die Alles durch das Volk zu ertrotzen sich vorgesetzt; ebd. 93 stritten in Strophe und Gegenstrophe Ultra's mit Liberalen; 1819 Br. a. u. v. Fr. Schlegel 236 In Frankreich liegen sich Ultras und Citras in den Haaren; Creuzer 1820 Br. a. Boisseree (ZGOberrhein 90 (1937) 250) Demokraten und Ultra's sind uns nicht gut [gesinnt]; Plane 1820 Br. 70 im Politischen gehört er mehr zu den Liberalen als ich, im Religiösen . . . hat er eine gewisse Hinneigung zu den Ultra's; beydes aber . . . im mildesten und besten Sinne genommen; Spaun 1821 Umtriebe 47 die französischen Ultra; ebd. 63 den Ultra, den Ichtiophagen an der Isar,

den Drohnen in unserem Bienstocke; Lady Morgan 1821 Frankreich (Ubers.) 1105 Die Ultras, aus jüngeren Männern bestehend und von jungen Anführern geleitet, mehr ergeizig als karg, mehr der bourbonischen Faction als den Repräsentanten der Bourbonen ergeben, suchten das Staatsruder zu leiten; ebd. 133 Die Royalisten schimpften auf die Ultra's; die Ultra's schmähen die Regierung; die Constitutionalisten lachen über beide; Buchholz 1821 Taschenb. 90 Jene sagten: lieber Jacobiner, als Ministerielle; diese drückten sich eben so aus, nur daß sie Jacobiner in Ultra's verwandelten; Spaun 1822 (II Vorr. III) dass die Ultra, welche mit solcher Anstrengung daran arbeiten, die Hand des französischen Königs mit dem zweyschneidigen Schwerdte des Despotismus zu bewaffnen; Weber 1823 Ritter-Wesen II 325 eine Handvoll Ultra; 1823 ZfForstw. 12, 43 die Revolution in der teutschen Forstwelt, welche anfängt, sich in Ultra's (Femler), Aristokraten (Staatsforstmänner), gemässigte Republikaner (Waldbauisten) und Jakobiner (Pfeilisten) abzutheilen; Goethe 1827-42 (W. LVIII171) Wie man jetzt nach allen Seiten hin Ultras hat, liberale sowohl als königli-

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Ultra

che, so war Schelver ein Ultra in der Metamorphosen-Lehre (KEHREIN); 1829 Thür. Volksfreund 288 den Unwillen der portugiesischen Ultra's; Prokesch v. Osten 1830 Tagebücher 23 Er schildert Chateaubriand als einen leidenschaftlichen Ultra während des Kongresses von Verona; 1830 Jahrbücher d. Gesch. II 521 nach der Besiegung der revolutionairen Ultra's blieb noch der hartnäckige Kampf gegen die Reaction; ebd. 533 den Bedingungen der zu viel verlangenden Ultra's des Liberalismus; Wit v. Dörring 1830 Fragm. I 84 doch leider war dieser im wüthendsten Grade Ultra; Lady Morgan 1831 Frankreich (Ubers.) 179 erzählte ein Abentheuer, das mir 1819 auf einem Maskenball begegnete, als zwei Ultras . . . unterstützt von einem Ex-Protégé der Familie Bonaparte, mich . . . mehr mit bourbonischem Eifer als Galanterie angriffen; 1832 Kunstbl. 232 Es gibt ästhetische Aristokraten und Ultra; sie gehen auf Namen, Autoritäten, Form; 1836 ConversationsLex. XI469 Ultra nennt man jetzt überhaupt Alle, die aus Vorurtheil und Leidenschaft in Dem, was sie wollen, weder Maß noch Ziel halten . . . indem sie über dasselbe hinausstreben. Die Benennung ist aus dem Worte Ultrarevolutionnairs entstanden, womit man in Frankreich seit 1793 Diejenigen bezeichnete, die in ihrem republikanischen Eifer die Grenzen der angenommenen Verfassungsgrundsätze überschritten . . . Das . . . Revolutionstribunal war die Giftfrucht jener Tollheit der schwarzen Jakobiner. Seit der Rückkehr der Bourbons auf den Thron von Frankreich bildeten sich die Parteien der Ultraroyalisten und der Ultraliberalen: Gegensätze, die sich aus dem Meinungskampfe der Revolutionnairen und Antirevolutionnairen entwickelt und sich mehr oder weniger über einen großen Teil Europas verbreitet haben. Beide sind überspannte Wortkämpfer, jene für die alte, diese für die neue Zeit; Tieck 1839 briefl. (Tiecks Novellenzeit 136) von diesen verwirrten Ultras; Raumer 1842 England III 512 liesse sich Belgien für Deutschland gewinnen, wenn unsere [deutschen] Ultras ihre Abneigung gegen diesen Staat überwinden könnten; 1848 Grenzboten 1 2, 164 die Ultras des neuen republikanischen Olymps; 1848 Bayer. Annalen 33 Es ist ein Unglück in aller Welt und durch alle Zeiten gewesen, wenn an der Spitze geistlicher oder weltlicher Regierungen Ultras standen, weil Extreme . . . immer zum Unheil führen; Bühlau 1857 Rittergüter 55 Er ist derselbe, der jetzt als ein Vorkämpfer der angeblichen „feudalen Tendenzen", als ein Führer der ritterschaftlichen „Ultras" bezeichnet wird; Raumer 1861 Lebenser. II 102 Die Ultras aller Parteien; Reumont 1862 Zeitgenossen I 309 nebst allen Ultras der Partei; Hesslein 1867 Neger-Bar. 512 Ultras oder Feuer-

fresser; Reichard 1877 Selbstbiogr. 63 politische Umtriebe kannte man damals auf deutschen Universitäten noch nicht; wir waren weder „Liberale" noch „Ultras"; Buhl 1921 Reden 283 dass diese Staatskunst einmal immer mehr Wähler in das Lager der Ultras von rechts und links treibt; Misch 1925 Varnhagen 117 ich fürchte, die durchgesetzte Veränderung dient und taugt am Ende den Ultras; Schmalenbach 1926 MA. 31 die französischen „Theokraten", die . . . von dem alten Friedrich Schlegel und Adam Müller als absolutistische „Ultras" heftige Ablehnung erfuhren; Ahrens 1930 Lamennais 75 die französischen „Ultras" (Traditionalisten im angefochtenen Sinne); Friedeil 1931 Kulturgesch. III 29 vermochte [Ludwig XVIII] dem frechen . . . Treiben der „Ultras" nicht Einhalt zu tun; Kluckhohn 1941 Ideengut 124 da die französischen Traditionalisten und ihre deutschen Geistesverwandten . . . als „Ultras" abgelehnt wurden; Misch 1952 Gesch. 87 Die hohe Schule der Politik wurde Frankreich, wo die „Liberalen", mit einem aus Spanien übernommenen Namen belegt, gegen die „Ultras" antraten; Offenburger Tagebl. 13. 4. 1961 Schlupfwinkeln führender Ultras in Algerien; ebd. 27. 4. 1961 Ein letzter verzweifelter Versuch der französischen „Ultras", mit aller Gewalt das französische Algerien zu erhalten, ist endgültig gescheitert; Frankf. Ztg. 16. 6. 1961 Er strich den Verhandlungspartner „auf internationaler Ebene" heraus, die Polemik gegen die „westdeutschen Ultras" hielt sich in Grenzen; Stuttgarter Ztg. 9. 10. 1961 Die Festnahme . . . der . . . französischen „Ultras" in Spanien gilt in Paris als erster kapitaler Erfolg im Kampf gegen die OAS-Untergrundbewegung; Offenburger Tagebl. 13. 4. 1962 Diese bombenlegenden, vorzugsweise splitternackt demonstrierenden christlichen „Ultras" lehnen alles ab, was mit Privatbesitz . . . und dem Staat zu tun hat; Süddtsch. Ztg. 28. 6. 1962 Die Regierung der DDR wird sich aber von den Frontstadtultras nicht provozieren lassen; Offenburger Tagebl. 14. 4. 1964 Aus dieser nicht vorhandenen „Studie" entwickelten die Kommunisten angebliche „Pläne der Bonner Ultras" und nannten . . . den Generalinspekteur einen Prototyp dieser gefährlichen Gruppe; FAZ 18. 3. 1970 Moskau: Tendenz zu Verhandlungen wächst. Ein Kommentar zum Erfurter Treffen. Die Bonner „Ultras" (Uberschr.) Was die sogenannten „Ultras" in der Bundesrepublik betreffe, die verständlicherweise tobten, so hätten sie eine gründliche Niederlage erlitten. Um Revanche zu nehmen, eröffnen sie jetzt eine neue lärmende Kampagne; ebd. 12. 12. 1970 Pompidou hat es schwer mit seinen Ultras; ebd. 20. 2. 1971 Der jetzt zwischen Chaban-Delmas und den „Ultras" aufgerissene Graben sei kaum überbrückbar.

Ultra - ultra Ultratum: Laube 1849 Pari. I 105 Wie viel oder wenig sie [Magna charta] Gültigkeit habe bei den Wechselfällen der Herrschaft, sie werde doch immerdar ein Mittelpunkt bleiben für das Rechtsbewußtsein, man werde sich doch in guten wie in

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schlimmen Tagen darauf beziehen und berufen, und gerade weil das Ultrathum nicht durchgedrungen beim Vorparlamente, gerade darum würde eine Magna charta des Vorparlaments von unauslöschlicher Bedeutung werden.

Ultra-, ultra- Präfix, seit Anfang 16. Jh. in den auf das Mlat. zurückgehenden Entlehnungen —»ultramarin, —»ultramontan, Ende 18. Jh. in aus dem Frz. übernommenen Entlehnungen wie ultrarevolutionär, Ultrarevolutionär, ultraroyalistisch, Ultraroyalist nachgewiesen, erst seit Anfang 19. Jh. wohl unter frz. Einwirkung als Präfix in im Dtsch. gebildeten subst. und adj. Ableitungen produktiv, zurückgehend auf lat. Adv. ultra 'jenseits, darüberhinaus' und Präp. ultra 'über . . . hinaus'; 1 zunächst im politisch-ideologischen Bereich, vgl. —» ultramontan b, in der Bed. einen extremen Grad oder eine übertriebene, übersteigerte Haltung, Einstellung anzeigend; über etwas hinausgehend, etwas übertrieben, extrem vertretend; übertrieben, überspannt, das übliche Maß (bei weitem) übersteigend', bezogen auf Meinungen und Strömungen, in häufig schlagwortartig und leicht pejorativ verwendeten Bildungen wie ultrarevolutionär, -radikal, -konservativ, -reaktionär, Ultraroyalist, -liberalismus, -demokrat, -deutscher; in neuester Zeit vor allem ultralinks, -rechts, Ultralinker, -rechter; vgl. -»Ultra. 2 Seit frühem 19. Jh. allgemein verwendet als Steigerungspräfix in der Bed. "höchst, äußerst, sehr stark, übermäßig, allzuviel; hoch-, hyper-', vgl. —» super, in Adj. wie ultrakritisch, -korrekt, -modern. 3 Seit Mitte 19. Jh. selten im geographischen Bereich (vgl. —> ultramarin, —» ultramontan a) in der Bed. '(vom jeweiligen Standort aus gesehen) jenseits, drüben liegend', in Adj. wie ultramarin, -rhenan. 4 Seit Ende 19./Anfang 20. Jh. im Bereich von Technik und Physik in der heute dominanten Bed. '(aufgrund außerordentlicher Schnelligkeit oder geringer Lautstärke) nicht mehr wahrnehmbar, das sinnliche Wahrnehmungsvermögen (bei weitem) übersteigend', bezogen auf elektrische Schallwellen oder Lichtstrahlen, bes. in den Adj. ultrarot unsichtbare Wärmestrahlen betreffend, die im Lichtspektrum unterhalb des Bereichs der roten Strahlen liegen, infrarot' und ultraviolett 'die unsichtbaren Strahlen betreffend, die im Lichtspektrum jenseits des Bereichs der violetten Strahlen liegen und starke chemische/biologische Wirkung haben' und in den Subst. Ultrakurzwelle (UKW) 'elektromagnetische Welle des Frequenzbereichs 30 bis 100 Megahertz (1 bis 10 Meter) und der entsprechende Wellenbereich (im Rundfunk)' und Ultraschall 'Schall mit Frequenzen von mehr als 20 Kiloherz (vom menschlichen Ohr nicht wahrnehmbar)'. Ultra-, ultra- 1: 1794 Polit. Journal 61 Diese Parthey [Colliot, Hebert, Pachet, Bouchotte] wurde die Ultra-Revolutions-Parthey genannt (ZFDW XIII 281); Schwarzkopf 1795 Über Zeitungen 47 ultrarevolutionärer Griffel; 1797 Geissei 163 Dergleichen Jakobiner haben uns deutsche Fürsten und England als verfolgte Freiheitsprediger zugeschickt. Narren . . . die freilich keine

Rojalisten waren, schlössen sich an die Häupter an. Man brauchte sie, und zerbrach sie dann, als Ultrarevolutionairs, so wie man die wahren Republikaner als Aristokraten guillotinirte; Heinzmann 1800 Frühst. 159 Anm. Ultra-Revolutionär; Gentz 1815 Br. a. Pilat I 180 Ultra-Royalisten; Steffens 1819 Caricaturen I 211 gibt es ein verzerrtes Deutschthum und Deutsch-thun, Ultra-Deutsche

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Ultra - ultra

oder nicht?; Lady Morgan 1821 Frankreich (Übers.) I 125 ultraroyalistische Damen; 1826 Briefw. Ludwig I./Schenk III 35 Luden in Jena, der jedoch zu sehr Protestant und Ultraliberaler ist, um an einer katholischen Universität in einem monarchischen Staate . . . angestellt zu werden; Wit v. Döring 1827 Lucubrationen 55 Ultraroyalisten . . . wie Frankreich deren allein noch hat; 1830 Jahrbücher d. Gesch. II 532 Ja selbst ultraliberal kann der Jesuit sein, um den gemässigten Liberalismus zu bekämpfen; 1830 Thüring. Volksfreund 55 [der] ultraroyalistischen Partei; 1832 Jahrbücher d. Gesch. I 51 dafür beehrt man sich jetzt in den politischen Tageblättern und Gesprächen um so häufiger mit den Schlagnamen: Liberaler, Serviler, Ultraliberaler; ebd. 1832 (I 58) Die Quelle des Ultraliberalismus liegt in der unklugen Reaction mancher Regierungen gegen die zeitgemässen Forderungen des Liberalismus; Schneller 1834 Gesch. III 7 einer der Veteranen der ultraroyalistischen Phalanx; Döderlein 1838 Reden u. Aufs. I 250 Es giebt keine flachere Einwendung gegen den Werth klassischer Studien . . . als die, dass sie die Jugend für den Ultraliberalismus stimmen; Bacherer 1840 Stellungen I 218 [die] ultrakatholischen . . . Tractätlein; 1852 Prutz' Museum II 73 ultrakatholischer und ultraprotestantischer Heilsverkündiger; Bülau 1857 Rittergüter 99 ultrareactionäre Tendenzen; Preuss. Jahrbücher 2 (1858) 475 in ultrademokratischen Blättern; 1864 (Bismarck-Neue Tischgespr. 18) ultrareaktionärer und gedankenarmer Junker; Fröbel 1866 Polit. Sehr. II 27 die ultrarevolutionären Hoffnungen auf eine radicale und plötzliche Umwandlung menschlicher Zustände stellen auf politischem Grund und Boden nur eine Wiederholung religiöser Secten dar; Schneller 1866 waelschtirol. Frage 21 von den wälschen Ultranationalen; 1866 (Hehn 1892 Tagebuchblätter 116) Russland ist ein Land des ewigen Wechsels und völlig unconservativ und ein Land — ultraconservativen Herkommens, in dem die Urzeit lebendig ist; Duckwitz 1877 Denkw. 317 In Baden . . . [ist] eine provisorische Regierung von Ultrademokraten eingesetzt; Dingelstedt 1879 Bilderbogen 116 Ultraliberalismus hat . . . in Bayern schärfer und strenger regiert als der Clericalismus in Österreich; Bodenstedt 1890 Erinn. II 367 Reden und Aufsätze . . . in Blättern von ultraroyalistischer wie ultrademokratischer Richtung abgedruckt; Lombroso 1894 Antisemitismus (Übers.) 39 Der dorische Stamm . . . wahrte seine rauhe, kriegerische, ultrakonservative Natur; Diederichs 1910 Br. 184 Reykjavik [ist] . . . ganz im Gegensatz zum Land . . . ultraradikal; 1916 Franzosen 33 Selbst die französische Ultra-Demokratie hat . . . die Unzulänglichkeit der wenig zahlreichen Familie . . . aner-

kannt; Bibl 1925 Herzog v. Reichstadt 215 der bourbonischen Ultraroyalisten; ebd. 330 Regierung der ultrareaktionären Bourbonen; Friedeil 1928 Kulturgesch. II 447 Dort gibt es jetzt nur noch „Dantonisten": die gemäßigten Radikalen . . . und die „Hebertisten": die Ultrarevolutionären; 1934 Hindenburg-Denkmal Erg'bd. 76 Wer . . . einen deutschen Intellektuellen vom Schlage eines Heinrich Mann gefragt hätte, wo denn in Deutschland der Geist beheimatet sei, der hätte die rasche Antwort bekommen . . . Der Geist steht links! In Wahrheit steht er „ultra-rechts"; Hellpach 1949 Pax 301 Anm. Das Unheilsjahr brachte nicht nur die Weltwirtschaftskatastrophe, sondern auch die defenitive Entkonservativierung und ultranationalistische Fanatisierung der Deutschnationalen Partei; Hiller 1950 Köpfe 29 Die Unterlassung geschieht aus Furcht, durch eine Gegenkandidatur den Ultrarechten zum Siege zu verhelfen; NZ. (Basel) 3. 5. 1950 Diese Mentalität finden wir nicht nur in ultraklerikalen, ultraroyalistischen Kreisen verbreitet, sie reicht weit ins liberale Lager hinein; Neue Ztg. 28. 6, 1951 Deutschland könne leicht zu einer großen Gefahr für den Westen werden, falls „ultranationale Elemente an die Macht kommen"; Offenburger Tagebl. 18. 2. 1959 die algerischen wie die französischen Ultranationalisten; ebd. 20. 5. 1969 den deutschen Widerstand zu verniedlichen und ihn als unzulänglich und ultranationalistisch abzuwerten; FAZ 18. 12. 1970 Nach Ansicht Angermanns ist es unverkennbar, daß die immer wieder von „ultralinks" vorgetragenen Forderungen . . . ein . . . Grund für die starke Nervosität ist; ebd. 24. 6. 1971 es liege . . . im Interesse der SED, daß doch lieber eine ultrakonservative CDU/CSU-Regierung in der Bundesrepublik, am Ruder wäre; Bad. Ztg. 19. 10. 1971 Solche Vokabeln seien bisher . . . von ultralinken Gruppen im Munde geführt worden; ebd. 22. 10. 1971 diesen ultrarechten Löwenthal jeden Mittwoch im ZDF-Magazin über sich ergehen lassen zu müssen; FAZ 22. 1. 1972 legten sie es unter Mitwirkung von „Ultralinken" darauf an, eine „revolutionäre Stimmung" zu erzeugen; N. Z. Z. 1. 3. 1972 Manifestation der Ultralinken. Zehn Organisationen der Radikalen Linken . . . marschierten. 11 Ultra-, ultra- 2: Heidelberg. Jahrbücher (1818) 464 ultrakritische Kleinmeisterey; 1818 Wessenberg-Briefw. 151 Dieser Teil [der bayerischen Geschichten] wird schwerlich diejenigen frommen Herren in Bayern mit mir aussöhnen, welche vermutlich durch das Concordat herzhafter geworden, aus Ultrapatriotismus und Ultrakatholizismus die ersteren Teile anfangen zu den ketzerischen Schriften zu zählen; 1832 Jahrbücher

Ultra - ultra d. Gesch. I 155 der Ton der guten Gesellschaft . . . der in unserer Zeit so häufig gegen die Männer des entgegen gesetzten Systems, um nicht blos „pikant", sondern oft „ultrapikant" zu seyn, geltend gemacht wird; Glasbrenner 1836 Bilder I 128 aus ihren ultralangen, buntbewickelten . . . Pfeifen [rauchen]; Steffens 1841 Was ich erlebte IV 132 [den] ultrarationalen Predigern; Gurowski 1845 Tour d. Belgien 80 die vielen Kirchen- und Festtage . . . hindern das ultrakatholische Belgien nicht, wohlhabender auszusehen, als manche Gegend der Doktorenherrschaft; Gutzkow 1848 Deutschland 58 die Soldaten und die deutschen Bewohner, ultraloyal und reaktionär, wie sie sind; Unruh 1851 Erfahrungen 161 Die neueste Geschichte Preussens gäbe vortrefflichen Stoff zu einem politischen Romane, der einen heimlichen . . . Republikaner in die oberste, bestimmende Region stellt und dort, vom ultrapessimistischen Standpunkte aus, die Massregeln der Regierung leiten lässt; Burckhardt 1855 Br. III 233 zu Ihrem ultrabyronesken Faustcharakter; Wallner 1874 Land 262 Tirol mit seiner ultrafrommen Einwohnerschaft; Eckstein 1892 Dombrowsky 139 [einen] ultraverzwickten Schluss; Lanin 1893 Russ. Zustände II 197 erklärte eine Anzahl von Blättern ultrapatriotischer Richtung . . . daß sie gar nicht einsähen, weshalb sich Finnland nicht gedulden könne; Chamberlain 1903 Br. II 197 Alle Leute die Ultramodernen sowie die Rückläufigen — preisen höchlich diesen Kopf [Goethes]; Huet 1906 Holzsäbel (Übers.) 123 [die] ultraeleganten Lokale; Stimmen d. Zeit 77 (1909) 464 Ein Ultramoderner über „ultramontane" Weltanschauung (Überschr.); Voss 1920 Leben 399 [ein] berüchtigter Lebemann und in jedem Sinn ein Ultramoderner; Bahr 1927 Zauberstab 273 ultramoderne Musik; Moreck 1928 Liebe 260 [in] ultraobszönen Filmen; ebd. 286 in den kleineren kirchlichen Institutionen, die sich rühmen, ultrareligiös zu sein; Voss. Ztg. 4. 4. 1929 Wie kommt es . . . daß in Deutschland, diesem Dorado der Sozialversicherung, viele Leute . . . hungern müssen? Das müßte doch in dieser „ultramodernen Weltstadt" . . . unmöglich sein; ebd. 6. 12. 1930 immer noch besser ein ultrabigotter Frömmling . . . als ein politischer Römling; Z/rz. Spr. 54 (1931) 55 Anm. in einer Beschreibung des ultramodernen théâtre Pigalle; Lokal-Anz. 16. 8. 1934 ein halbverfallenes Bojarenschlößchen . . . auf das . . . der verschachtelte Würfelbau einer ultramodernen Villa verächtlich herabblickt; NZ. (Basel) 20. 12. 1949 Ultraleichte statt schwere Strassenbahnmotorenwagen (Überschr.); Süddtsch. Ztg. 10. 9. 1953 Außer Ibsen, Hauptmann . . . ist auch mancher noch Lebende . . . für die heutige Bühne ein Klassiker geworden . . . Selbst einem der

ultramodernen von 1930, Eugène O'Neill, ergeht es so; Münch. Merkur 28. 5. 1955 Wir dürfen aus München keine altertümliche Stadt mit Museumcharakter machen und ebenso keine hypermoderne. In der Baukunst gelte es daher eine gediegene Mitte zwischen konservativ und ultramodern zu finden; Offenburger Tagebl. 6. 5. 1960 Ein heftiger Meinungsstreit in der Schweizer Gemeinde Oberwil über „ultra-modeme" Kirchenkunst ist vorläufig durch einen Vergleich beigelegt worden; FAZ 23 . 5. 1968 Thermal-Kurort . . . Ultramodernes Thermal-Kurhaus. Das schönste Haus der Kultur Frankreichs. Moderner Strand (Anzeige); Offenburger Tagebl. 29. 7. 1969 [das] Verkehrsmittel . . . das 1890 als ultramodern und fortschrittlich galt: die Eisenbahn; Weltschau 8. 1. 1970 Man nennt heute Jacqueline . . . und Ari Onassis das ultra-verschwenderischste Ehepaar der Welt; FAZ 14. 11. 1970 Nach seiner Meinung sollte sie . . . ultramodernen Lebensidealen kritisch gegenüberstehen, einem gepflegten Haushalt Behaglichkeit geben können (Anzeige). Ultra-, ultra- 3: Marbach 1848 Wiedergeburt 6 Alles Welschthum sei verbannt, das französische (ultrarhenane), wie das römische (ultramontane); ebd. 7 Das ultrarhenane Welschthum . . . oder wie wir es fast lieber nennen möchten, das ultramosane; Schlözer 1874 Amerikan. Br. 135 Mit Amerika verbindet man [in Deutschland] leicht den Begriff europaferner Freiheit, ohne zu ahnen, dass z.B. ultramontane, antideutsche Intrigen gerade hier gesponnen werden. Nur heissen sie hier „ultramarin"; Kjellen 1916 polit. Probleme (Übers.) 126 zu Englands ultramarinem System; 1951 Saeculum 164 Karls des Großen Kaiserkrönung signalisiert den politischen Dualismus zwischen „citramariner" und „ultramariner" Welt, der im Zeitalter der Kreuzzüge seinen Gipfelpunkt erreichte. Ultra-, ultra- 4: Hermann 1896 Physiologie 568 Das ultrarothe Licht erregt die Netzhaut nicht, sondern kann nur durch seine erwärmenden Wirkungen auf die thermoelectrische Säule nachgewiesen werden; das ultraviolette Licht . . . ist bei Abbiendung des übrigen Spectrums schwach sichtbar; Pringsheim 1910 Physik d. Sonne 87 Die Strahlen, deren Wellenlänge kleiner ist als die der äußersten sichtbaren violetten Strahlen, bezeichnet man als ultraviolette Strahlen; Voss. Ztg. 26. 9. 1929 daß die Bestrahlung mit ultravioletten Strahlen die Krankheit heilt; ebd. 6. 8. 1931 Dem Deutschen Museum wurde . . . ein Demonstationsapparat für 14 Zentimeter-Ultrakurzwellen gestiftet, mit dem Musik übertragen werden kann; ebd. 22. 8. 1931 setzen diese hochwertigen Bilder

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zweifellos die Inbetriebnahme eines Ultrakurzwellen-Senders voraus; Lokal-Anz. 26. 1. 1933 Ihre Strahlen (die langwelligen, roten, ultraroten = Wärmestrahlen, die kurzwelligen, violetten und ultravioletten = chemisch wirkende Strahlen) regen die Blutbildung an; Berl. Illustr. Nachtausg. 7. 2. 1933 hatte ich doch an die Mär von dem ultravioletten Licht der weißen Indianer geglaubt; ebd. 14. 3. 1933 Ultraviolette Strahlen ziehen Insekten an; Lokal-Anz. 18. 11. 1934 Erinnert sei nur an die nicht sichtbaren Rundfunkund Röntgenstrahlen, an das mystische Ultrarot; 1935 Reichsverband 69 Ultrakurzwellen . . . d . h . . . . die Wellen von weniger als 10 Meter Länge; Dtsch. AZ. 8. 8. 1935 Mit Hilfe von Ultra-Schallwellen ist es gelungen, eine gleichmäßige Verteilung des Korns auf dem Kinofilm zu erzielen; ebd. 22. 8. 1935 Ein Ultrakurzwellen-Empfänger mit rückgekoppeltem Audion und zwei Niederfrequenzstufen ist für den Tonempfang vorgesehen; Münch. N. N. 2. 6. 1938 Ultraschall zur Werkstoffprüfung (Uberschr.) In der Röntgenabteilung werden Werkstoffe und Werkstücke . . . untersucht; ebd. 21. 12. 1939 Die Eicheln . . . werden zunächst ultrarotem Licht ausgesetzt, um das Keimen . . . herbeizuführen; ebd. 29. 12. 1939 es wird dazu . . . die Bildung des Rachitisschutzstoffes im Körper selber durch Bestrahlung mit ultraviolettem Licht (Höhensonne) angeregt; ebd. 10. 2. 1940 Unhörbarer Schall (Uberschr.) Das menschliche Ohr vermag Schallwellen bis zu etwa 20000 Schwingungen je Sekunde aufzunehmen. Schallwellen mit höherer Schwingungszahl hören wir nicht mehr. Solche „Ultraschallwellen" können aber auch durch Ultraschallgeneratoren bis zu Frequenzen von mehreren hundert Millionen Schwingungen in der Sekunde erzeugt werden; ebd. 24. 5. 1940 daß die aus dem Kühlhaus

gekommene Butter . . . sehr schnell verderben kann, wenn sie allzu sehr den ultravioletten Strahlen der Sonne ausgesetzt wird; 1944 Geist d. Zeit 132 der Einfluß des Ultraschalls auf Bakterien und Viren ist untersucht worden; Weizsäcker 1949 Weltbild 46 verschwindet die gesamte Wärmeenergie in die unendlich vielen Schwingungen von sehr kleiner Wellenlänge (dies ist genau dieselbe Paradoxie, die in der Strahlungstheorie als „Ultraviolettkatastrophe" bekannt ist); Neue Ztg. 5. 4. 1950 die Behandlung der Fischkonserven durch Ultrarot-Bestrahlung; Stadtbl. (Berlin) 10. 5. 1950 Telegrammverkehr über Ultra-Kurz-Welle . . . Der größte Teil der Telegramme wird jetzt drahtlos nach dem Harz gestrahlt; Süddtsch. Ztg. 16./ 17. 9. 1950 Es wird eine große Zahl von bisher unbekannten elektrischen Neuheiten gezeigt: von der Ultraschall-Waschmaschine bis zum Eierkocher; ebd. 30. 5. 1952 Europa-Rundfunkkonferenz soll Ultrakurzwelle aufteilen (Uberschr.) einen Wellenverteilungsplan für Fernsehsendungen und für Rundfunksendungen mit sehr hoher Frequenz ausarbeiten; ebd. 13. 7. 1954 Das modern ausgestattete Haus mit . . . Ultrarot-Strahlenheizung; Stuttgarter Ztg. 4. 9. 1962 Durch Ultraschall verfeinerte Damenstrümpfe bieten zwei deutsche Strumpffirmen; FAZ 25. 3. 1970 sind mit Unterwasser-Ortungsgeräten [auf Fischereiforschungsschiffen] aller Art (die mit Ultraschall-Echo arbeiten), mit verbesserten GroßNetzen . . . zahlreiche Baueinheiten für ein vollautomatisiertes Fangsystem geschaffen; ebd. 7. 4. 1971 Mit Hilfe von Ultraschall-Kleinstsendern, die Meerestieren angeheftet werden, will die Biologische Anstalt . . . das Verhalten einzelner Meerestiere . . . erforschen; Die Zeit 4. 7. 1980 In Jahren der unruhigen Sonne . . . erreichen mehr schädliche ultraviolette Strahlen die Erde.

Ultraismus M. (-; ohne PI.), im frühen 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu —» Ultra; 1 im politisch-ideologischen Bereich in der veralteten Bed. 'Gesinnung, Grundsätze von Ultras; extreme, radikale politische Einstellung, Strömung, Tendenz'; vom früheren 19. Jh. (bei Heyse 1838) bis ins 20. Jh. die nur gebuchte Nebenform Ultrazismus mit dazugehörigem, vereinzelt belegtem Subst. Ultrazist 'Anhänger des Ultraismus 1 . 2 In neuester Zeit neuentlehnt aus gleichbed. span. Ultraísmo, auch in der span. Form nachgewiesen, als Bezeichnung für eine literarische Richtung in der spanischen und lateinamerikanischen Dichtung, die die Lyrik stark auf Bildwirkung aufbaute, mit der vereinzelten adj. Ableitung ultraistisch auf den Ultraismus bezogen'. Ultraismus 1•.Ludwig I./Schenk 1828 Briefw. 46 Männer von Intelligenz und Erfahrung, von flek-

kenlosem Charakter, von ungeheuchelter, fester Anhänglichkeit an die Person Euerer Majestät und

Ultramarin an Allerhöchst Ihre Regierungsgrundsätze, fern von Ultraismus jeder Art und Gestalt, — solcher Männer bedarf die Nation zur Vertretung, die Regierung zur Stütze, — und solche sind die neuernannten Reichsräte; 1830 Jahrbücher d. Gesch. II 529 den klaren, durch kein Vorunheil, durch keine Leidenschaft, und weder durch den Ultraismus, noch durch die Reaction getrübten Blick; ebd. 1833 (I 358) ein klarer, freisinniger Denker, ohne doch zu irgend einem Ultraismus sich hinzuneigen; vor 1841 Baader (Zges. Staatswiss. 81 (1926) 465) Gegen einen dreifachen „Ultraismus" kehrt er [Baader] die Waffe: die Illiberalen, die alles beim Alten lassen, die Säumigen, welche die als notwendig erkannte Reform hinausschieben, die Liberalen, die alles Alte stürzen wollen; Hensel 1903 Lebensbild 2 Frankreich . . . in beständigem inneren Kampf gegen Jesuitismus und Ultraismus (Beranger). Ultrazist: Bacherer 1840 Stellungen I 248 den Nürnberger Correspondenten festhaltend, weil er

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kein Ultracist ist und gerne bei der Wahrheit bleibt. Ultraismus 2: Krauss 1949 Aufs. 310 Stilelemente des Ultraismus und des Expressionismus; RF 70 (1958) 99 [den] Schlagwörtern Ultraísmo (oder Creacionismo) und Superrealismo; FAZ 30. 6. 1970 In der literaturästhetischen Avantgarde kommt dem „Ultraismus" für die spanischsprachige Literatur etwa die Bedeutung des Futurismus . . . zu; ebd. 20. 1. 1971 Guillermo de Torre . . . Lyriker, Theoretiker des „Ultraismus", der wichtigsten literarischen Bewegung im Vorbürgerkrieg; Offenburger Tagebl. 20. 1. 1971 Borges . . . brachte den Ultraismus von Spanien nach Lateinamerika, wo er eine Blütezeit erlebte. ultraistisch: FAZ 30. 6. 1970 hatte sich [der] von Jorge Luis Borges aus Spanien gebrachten „ultraistischen" Bewegung angeschlossen; Offenburger Tagebl. 20. 1. 1971 schrieb er das „Vertikale ultraistische Manifest".

Ultramarin N. (-s; -e), früher vereinzelt M., Anfang 16. Jh. aufgekommen, über gleichbed. ital. (azzurro) oltramarino zurückgehend auf mlat. ultramarinus '(von) jenseits des Meeres (kommend)'(< lat. ultra 'jenseits' und marinus 'zum Meer gehörig', zu mare TVieer'), anfangs auch in der Form Ultermarin; Bezeichnung für eine kostbare, (von jenseits des Meeres) aus Asien eingeführte, ursprünglich aus Lasurstein (Lapislázuli) gewonnene, dann durch Zusammenschmelzen/Brennen von Ton, Kieselsäure, Schwefel und Soda künstlich hergestellte leuchtend-, azurblaue, in der Malerei verwendete Mineralfarbe, überaus häufig als Bestimmungswort der gleichbed. Zs. Ultramarinblau, auch als Adj. ultramarinblau; daneben fachspr. in der Chemie zur Bezeichnung eines schwefelhaltigen Natrium-Aluminium-Silikats. Dürer 1508 briefl. a. Heller (Zucker 75) Wisset, daß ich nimm die allerschönesten Farben, so ich haben mag. Mir gebührt allein dazu für 20 Dukaten Ultermarin, ohne die ander Kostung; ebd. 76 Ultramarin; Boltz 1559 Illuminier Buch G 2h Vitra Maryn Blaw. Wirdt für das aller köstlichts geacht / doch in hoch Teutschlanden wenig vnd selten gesehn; Thurneisser 1583 Onomast. II 16 die schöne blawe Färb, so hie bey vns sehr thewer, vnd sonst Vitramarin genent; Glauber 1653 Mir. Mundi 47 Vitramarin, schöne blawe Schmalta, Carmasin lacea, Kupffergrün; Schurtz 1672 Materialienkammer 79 Ultra Maryn-Blau / wird für das allerköstlichste geacht / jedoch in Hochteutschland wenig gesehen; Ahr. a S. Clara 1688 Judas I 191 Freylich wol ist einer solchen armen Haut das Heyrathen versalzen / wann er ihr immerzu die ultra marin Färb in das Gesicht streicht; ebd. II 375 aber forderist schmertzte sie

der Verlust ihrer schönen Haaren, Ultramarin vmb die Augen; Bruns 1693 Die große Welt 7 Zur blauen Farbe seyn bequäm Ultramarinblau / Schmeltze / deutsche und englische Asch und Indigo; ebd. 43 darnach mit Ultramarin und Weiß überstrichen; Woyt 1709 Gazophylacium 967 Ultramarin ist nichts anders als ein sehr zarter Schlick, welcher von dem calcinirten Orientalischen Lasur-Stein zubereitet, vermittelst eines gewissen Teigs oder Pastae abgefermet, und nachmals von diesem wieder abgewaschen wird; Key ssler 1730 Reisen (Ausg. 1776) II 1119 Ich füge hiebey noch, daß allhier die beste blaue Farbe, so den Namen von Ultramarin führet, verfertiget werde; Cröker 1736 Mahler 114 Ultramarin (Uberschr.) Diese ist an Farbe noch viel schöner, und am Werth viel höher als das Bergblau; Hagedorn 1762 Mahlerey II 685 den meisterhaftesten Gebrauch des Ultramarins; Halle 1776 Werk-

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State d. Künste I 300 Ultramarin wird aus dem lichtblauen Lasursteine gemacht. Dieses teuerste Blau kan auch aus dem Reste dünner Silberbleche . . . nachgemacht werden; Beckmann 1790 Beytr. z. Gesch. d. Erfindungen III 176 Die allerschönste und kostbarste blaue Mineralfarbe, das aus dem Lazursteine fabricirte Ultramarin, ist wahrscheinlich zuerst in Persien verfertigt worden; Goethe 1809 Tagebücher IV 47 Gespräche über Landschaftsmalerey, über niederländische Malerey, Ultramarin, andre Farben und Technik; Accum 1822 Verfälschung d. Nahrungsmittel (Übers.) 19 Ultramarin, wenn es acht ist, muß schnell seiner Farbe beraubt werden, wenn es in concentrirte Salpetersäure gethan wird; Goethe 1827—42 (W. XLIII 185) Da wir kein Kyanometer bei uns hatten, so schätzten wir die Erscheinung nach Ultramarin (KEHREIN); ebd. 196 Die Bläue des klaren Himmels schätzten wir nach Ultramarin auf 30 Scudi (KEHREIN); ebd. LIX 287 Daß das rothe Licht ganz anders vom Zinnober als vom Ultramarin, das blaue Licht ganz anders vom Ultramarin als vom Zinnober zurückgeworfen werde (KEHREIN); Carus 1835 Reise I 267 ein mildes, aus Ultramarin gebrochenes, spiegelndes Violetgrau; Liebig 1851 Chem. Br. 60 Wir stellen eine der kostbarsten Mineralsubstanzen her, den Ultramarin, fabrikmäßig her; Bibra 1862 Chili I 130 immer blauer ward die See, flüssigem Ultramarin gleich; 1863 Bilder a. Paris I 17 Auf den verschiedenen Paketen prangt in ultramarinblauen Lettern . . . der Name Giroux; Banck 1863 Alpenbilder II 6 [die] ultramarinblauen Buchten; Carus 1866 Lebenserinn. III 37 [die] ultramarinblauen

. . . Schatten; Schlägel 1868 Soldat 64 Schneider war halbinvalid . . . und dreißig Jahre Schnapstrinker und trug eine Nase vom tiefsten Ultramarin in seinem rothen Gaunergesicht; Griepenkerl 1868 Novellen 255 Seines prachtvollen Ultramarins sich entkleidend, hüllte sich das Meer in einen Mantel glänzenden Purpurs; Winter 1888 Unbeflügelte Worte 160 ultramarin; Technik u. Wirtschaft 7 (1914) 437 1 kg' Ultramarin [kostet] heute 50 Pfennig, im Jahre 1820, als man noch das natürliche Ultramarin, den Lasurstein, verwendete, 4000 M; Gebauer 1932 Kulturgesch. 538 Die Leuchtkraft seiner hellen Farben, zumal seines wundervollen Ultramarins, ist nicht zu übertreffen; Lokal-Anz. 11. 9. 1934 Der auf den 16. 10. einzuberufenden H.-V. der Vereinigte Ultramarinfabriken A.-G.; 1939 Forschungen u. Fortschritte 418 Von den undurchsichtigen Halbedelsteinen ist der lapis lazuli, auch Lasurstein oder natürliches Ultramarin genannt, wegen seiner leuchtend blauen Farbe schon von den Völkern des Altertums begehrt gewesen . . . Vor einem Jahrhundert gelang es dem deutschen Gelehrten Gmelin (1828) und gleichzeitig dem Franzosen Guimet, Verfahren zur Herstellung künstlicher Ultramarine zu finden; Münch. N. N. 15. 7. 1942 Da leuchten weite Flächen ultramarinblau auf, es blüht die Sibirische Schwertlilie; Süddtsch. Ztg. 5. 3. 1970 Die Zwischenholding Geigy-International . . . hat jetzt die Einzelheiten des Ubernahmeangebots für die restlichen Anteile an den Vereinigten Ultramarinfabriken AG vormals Leverkus . . . bekanntgegeben.

ultramontan Adj., im frühen 18. Jh. aufgekommen, über gleichbed. ital. ultramontano, oltramontano, frz. ultramontain zurückgehend auf mlat. ultramontanus 'jenseits der Berge, des Alpengebirges' (zu (m)lat. ultra 'jenseits, über . . . hinaus' und mons 'Berg, Gebirge'), bis ins frühe 19. Jh. meist in der Form ultramontanisch; a in der veraltenden Bed. 'jenseits der Alpen (wohnend, lebend), transalpin; von jenseits der Alpen stammend, herkommend' von Völkern, Personen und 'jenseits der Alpen liegend' von Ländern, zunächst bezogen auf die geographische Lage Italiens relativ zu Deutschland und umgekehrt, dann auch übertragen verwendet im Sinne von (aus italienischer Sicht) 'düster; barbarisch, (kulturell, zivilisatorisch) rückständig' und (aus deutscher Sicht) 'italienische, südländische, römische Lebensart und Kultur betreffend, aufweisend, zeigend', b Seit spätem 18. Jh. speziell auf das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma und Jurisdiktionsprimat und allgemein auf die Machtpolitik des römischen Kirchenstaates und der katholischen Kirche bezogen in der heute meist historisierend verwendeten Bed. 'die Interessen der katholischen Kirche/der päpstlichen Macht den staatlichen/nationalen Interessen überordnend, die Machtpolitik der katholischen Kirche/des Papstes unterstützend, für sie eintretend', im 19. Jh. im Gefolge der kirchlich-politischen Restauration und

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Reaktion (Ultramontanismus) sowie bes. während des Kulturkampfes schlagwortartig und häufig polemisch verwendet im Sinne von liurialistisch; antipatriotisch, reichsfeindlich, national unzuverlässig', vor allem im Syntagma ultramontane Partei, im 20. Jh. selten und abgeflacht für '(streng) päpstlich, katholisch (gesinnt), (politisch) an der katholischen Kirche orientiert'. Daneben seit spätem 18. Jh. das Subst. Ultramontane M. (-n; -n), früher auch Ultramontan(er), Oltramontane(r), meist pl. als gelegentlich auch übertragen und wertend verwendete Bezeichnung für die jeweils jenseits der Alpen lebenden Völker (Italiener bzw. Deutsche), selten auch als auf die mittelalterliche Bildungstradition zurückgehende, historisierende Bezeichnung für die deutschen Studenten an den oberitalienischen Universitäten, vgl. die gleichzeitig nachgewiesene, selten bildungsspr. gebrauchte Form Ultramontani (zu a); seit Ende 18. Jh. im kirchlichen und politischen Bereich in der Bed. an den politischen Interessen und Zielen der katholischen Kirche orientierter Mensch, Anhänger des Ultramontanismus' und 'strenggläubiger Katholik', im 19. Jh. auch schlagwortartig und polemisch verwendet für 'Vaterlands-, Reichs-, Staatsfeind', dafür auch gelegentlich die Kurzform —* Ultra (zu b); seit späterem 18. Jh. die seltene, veraltete subst. Ableitung Ultramontanist, anfangs Ultromontanist '(radikaler) Vertreter der politischen Machtziele der katholischen Kirche, Anhänger des Ultramontanismus' (zu b); seit Anfang 19. Jh. (vgl. älteres frz. ultramontanisme) die subst. Ableitung Ultramontanismus M. (-; ohne PI.) im kirchenpolitischen Bereich in der Bed. 'radikale, streng päpstliche, katholische Gesinnung, Einstellung', vor allem im 19.Jh. Bezeichnung einer Strömung innerhalb des politischen Katholizismus für das gegen die nationale Selbstbestimmung und staatlich-nationale Einheit Deutschlands gerichtete Streben der katholischen Kirche nach Unterwerfung der katholischen Nationalkirchen und nach Unterdrückung des religiösen und kirchlichen Liberalismus innerhalb der katholischen Kirche (zu b); im frühen 20. Jh. das vereinzelte Verbalsubst. Ultramontanisierung als historische Bezeichnung für die Unterwerfung, Unterordnung staatlicher, territorialer Institutionen unter die Oberhoheit der katholischen Kirche (zu b). ultramontan a : Sperander 1728 A la mod Sprach 788 ultramontain, tramontain nennen die Italiener alle diejenigen, so ausser Italien wohnen und durch die Alpen von ihnen geschieden seyn; Goethe 1786 Tagebücher 1304 wir Deutschen, so ultramontan wir sind, sind doch in unsern Sammlungen, Akademien, Lehrarten . . . weiter vorgerückt; Knigge 1788 Umgang I 49 ultramontanische Waare [aus Italien]; Neues Gotting, histor. Magazin 2 (1793) 261 schilderten die Italiänischen Schriftsteller des Mittelalters alle ultramontanische Nationen als dem Trünke ergeben; Müller 1820 Rom I 253 Der Italiener reist über die Alpen fast nie: was soll ihn auch dazu reizen? Welche Genüsse könnte ihm das ultramontane Land bieten, die er nicht . . . reichlicher in seiner Heimath fände (ZFDW III 336); Goethe vor 1832 (IV 8, 176) ich hoffe, man soll künftig meinen Sachen das ultramontane [den Geist Italiens] ansehen (DWB); ebd. XXX 149 jawohl ist dem Italiäner das

ultramontane eine dunkle Vorstellung, auch mir kommt das jenseits der Alpen nun düster vor (DWB); Marbach 1848 Wiedergeburt 6 Alles Welschthum sei verbannt, das französische (ultrarhenane), wie das römische (ultramontane), aber auch alles Unedle; ebd. 83 Ultramontanes Welschthum; 1852 Steub 1161 intramontanen und den ultramontanen Etruskern; Rost 1914 Parität 47 [der] sogenannte „ultramontane" Gelehrte; Bahr 1925 Liebe I 260 wenn niemals Goten ultramontan geworden wären. Ultramontane: Wieland 1777 W. XXIV 158 die excesse der tafel und das trinken über bedürfnis und vermögen, das unsern biderben vorfahren von den nüchternem ultramontanen ehedem so sehr vorgeworfen wurde (DWB); Heinse 1782 Br. 161 Ich bin . . . in Italien nie krank gewesen, und die Oltramontanen, welche da grün und gelb werden, können sich nicht genug über meine blühende

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Gesundheit verwundern; Rehfues 1809 Br. a. Italien I 14 Für die Italiener ist der höchste Grad der Schönheit [blond], wenn uns Ultramontanen schon ihre Haare etwas roth dünken; Goethe vor 1832 (IV 21,97) sie wissen ja schon, dasz jeder ultramontane eine eigne tournüre mitbringt (DWB); Paulsen 1897 G. U. II 431 Das philologische Seminarium in München und die Ultramontanen; Rapp 1910 Württemberger 302 [die] Ultramontanen des Südens; 1954 Sprachgesch. 57 die Hyperboreer (die Ultramontanen, wenn balkan. bora = slaw. gora "Berg' ist). Ultramontaner: Archenbolz 1787 Italien I 146 Ultramontaner; Neues Gotting, histor. Magazin 2 (1793) 261 Der Unterschied der sogenannten Ultramontaner in Ansehung des Hanges zum Vieltrinken; Gleim vor 1803 Briefw. II 391 ein vortreffliches werk, das den oltramontanern, die nicht nach Italien reisen können, einigermaszen ersatz gäbe (DWB); Arndt 1807 Geist d. Zeit 1221 die roheren ultramontaner, welche der Italiener zum theil mit recht barbaren schalt (DWB); 1893 Altes ». Neues II 38 in Bologna waren mehrere Universitäten, die sich nach dem Vaterland der Studenten schieden, und zwar in die der citramontaner, d. h. der Italiener, und Ultramontaner, d. h. der Nichtitaliener; 1925 Geschichtswissenschaft I 131 beriet mich nicht ganz glücklich, als er mich vor Carl Adolf Cornelius als einem „Ultramontaner" warnte. Ultramontani: Schlözer 1780 Briefw. histor. Inh. VII 147 Ultramontani; Arndt 1801-3 Reisen II 201 ich wünschte, ich könnte eine Abhandlung schreiben als Ehrenrettung der Italiäner gegen die Jenseits der Berge (Ultramontani), wie sie uns nennen (ZFDW III 336); Bertalot 1910 Humanist. Studienheft 68 1460 waren die Ultramontani [Studenten aus Deutschland] an der Ferrareser Universität in stattlicher Zahl vertreten; Meinecke 1924 Idee 114 was diese Italiener an den Höfen ihrer eigenen Fürsten . . . vor sich hatten, was sie hören konnten von den Monarchien der Oltramontani, war nicht geeignet zu begeistern und einen politischen Idealismus zu entzünden. Es war allenfalls geeignet, wie wir an der ganzen Schule der ragione di stato sahen . . . den Intellekt zu reizen; Peter 1926 Informationen 21 ultramontani; Muth 1948 Universitas 7 [ in Bologna] zwei grosse Universitates, nämlich Citramontani, Ultramontani. ultramontan b: Nicolai 1785 Reise V 123 die ultramontanischen und jesuitischen Grundsätze, welche jetzt so tief eingewurzelt sind; ebd. V 151 bey dem ganz blind ultramontanisch oder römisch gesinnten katholischen Deutschlande; ebd. VI 389

Alle Schulbücher in den lateinischen Klassen sind von ihnen [den Jesuiten], und alle sind voll von den härtesten ultramontanischen Lehren; Forster 1791 Ans. v. Niederrhein II 49 Löwen, diese alte, einst berühmte Universität, die jetzt in den Pfuhl des ultramontanischen Verderbens gesunken war; 1802 Neuer Teutsch. Merkur 63 Wenn Ihnen mehrere französische Journale zu Gesicht kommen, so werden Sie gewiß eine gewisse Tendenz darin entdecken, die mir an einem ultramontanischen Faden zu hängen scheint (alle ZFDW III 335f.); Görres 1811 Br. a. Perthes 23 Theologische [Schriften], in denen man etwa ultramontanische Grundsätze wittert, da diese . . . Spürerey jetzt beim Streite mit dem Pabste an der Tagesordnung ist; Rehfues 1813 Spanien 1132 trotz dem Hass der Mönche gegen Alles, was ultramontanisch ist; Heine 1834 Salon IV 195 der natürliche Schirmvogt unserer protestantischen Denkfreiheit hat sich zur Unterdrückung derselben mit der ultramontanen Partei verständigt; Schlesier 1836 Obd. Staaten 71 dies ist die Herrlichkeit, welche die ultramontane Politik restauriren will; Pipitz 1838 Fragm. 199 So kommt es, daß die ultramontanen Tendenzen bei Oesterreichs Klerus und Volk wenig Anklang finden; Bacherer 1840 Stellungen I 149 Der siegreiche Obscurantismus in seiner ultramontanischen Ausmündung hatte [ihn] um sein Lehramt gebracht; Heine 1840 Börne VII 40 die giftigen Jämmerlichkeiten, welche die ultramontane aristokratische Propaganda . . . gegen mich . . . ausübte; Steinmann 1842 Mefistofeles V 189 Machinationen der ultramontanen Rotte in Deutschland; Burckhard 1845 Br. II 152 die Demokratie, welche so gut im ultramontanen als im radikalen Sinne ausgebeutet werden kann; 1848 Grenzboten I 2,239 Der Süden Frankreichs hat grösstentheils legitimistisch, d.h. ultramontan gewählt; Laube 1849 Pari. I 261 Das Wort „Ultramontan" ist ein schlimmes Wort geworden, sogar das Wort „fromm" verdächtigt heut zu Tage. Ultramontan ist doch noch etwas anderes, es deutet „über die Berge" des Vaterlandes nach einem kirchlichen Staatswesen, welches die eigenthümliche Entwickelung der Völkerschaften nicht nur leiten, sondern fesseln will. Geheime Zwecke, geheimes Ordenswesen, das ganze tausendmaschige Flechtwerk einer Herrschaft, die Niemand übersehen kann, ist damit verbunden. Das Pfaffenthum, das Jesuitenthum wird als unzertrennlich davon betrachtet . . . Die Bezeichnung „ultramontan" hatte in der Paulskirche von Anfang bis zu Ende etwas ganz Besonderes; Stahr 1850 Italien III 123 katholischen Tendenzschriften ultramontanster Färbung; 1853 Prutz' Museum I 338 wenn sie die jetzige Vermischung der politischen Fragen mit den confessionellen als ungeheu-

ultramontan ern Sieg der Katholischen Kirche (i.e. der ultramontanen Bestrebungen) . . . preisen; Daumer 1862 Mansarde VI 36 Dem Katholizismus hat er . . . durch . . . ultramontane Hinweisung auf Italien, Rom und den Papst gehuldiget; Frantz 1862 Kritik 143 In seinem ursprünglichen Sinne bezieht sich das Wort „ultramontan" nicht sowohl auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, als vielmehr auf das Verhältnis des Katholischen Episkopats zum Papstthum; Banck 1863 Alpenbilder 197 dem ultramontanen Höhenrausch der Intoleranz; 1866 Grenzboten III 220 Partei der ultramontanen Reaction; Vischer 1867 Altes u. Neues N.F. 87 die ultramontanen Werkzeuge der Kurie; Schmettan 1867 Neugestaltung Deutschlands 277 die katholische Parthei, welche man die ultramontane nennt, d.h. diejenige, denen die äussere Gestaltung der Kirche das Wichtigste ist; Steub 1869 Culturbilder 225 Unser Clerus ist von Natur aus nicht so beschränkten Geistes, nicht so ultramontan, als er jetzt erscheint; Wuttke 1875 Zeitschr. 268 Bedeutung hat die den katholischen Standpunkt betonende ultramontan genannte Presse; Preuss. Jahrbücher 40 (1877) 123 Brentano's katholischer — oder geradeheraus : ultramontaner — Weltanschauung; Dahn 1894 Erinn. IV 1,28 ultramontan im heutigen staatsfeindlichen Sinn; Kraus 1895-99 Br. Beil. 175 Ultramontan ist, wer die Wiederherstellung des Kirchenstaats . . . als Gebot göttlicher Gerechtigkeit verlangt; Fontane 1896 Br. II 2,381 wandelt schon unter transalpinen oder — in dem stark katholischen Meran — auch ultramontanen Mandelbäumen; Büchner 1898 Sterbelager 10 das immer keckere und selbstbewußtere Auftreten ultramontaner Anmassung und kirchlicher Herrschsucht; ZfPhil. 37 (1905) 198 das Unheil ultramontaner Politik; Gebauer 1932 Kulturgesch. 333 Das schöne und eitle Weib [Lola Montez] hätte aber wenigstens das Verdienst gehabt, 1847 das ultramontane Ministerium Abel zu stürzen, welches das Land tyrannisiert; Armbruster 1952 Lux 41 Abhold dem ultramontanen Wesen, wie der Sprachgebrauch jener Zeit zu sagen pflegte; Süddtsch. Ztg. 27. 7. 1957 Der Landesvorsitzende . . . wird bezichtigt, die evangelischen Mitglieder an den ultramontanen Klerus zu verkaufen; Histor. Jb. 81 (1962) o. S. Zur Geschichte und Bedeutung des Schlagwortes „ultramontan" im 18. und frühen 19. Jh. (Uberschr.).

Ultramontan: Laube 1849 Pari. I 261 Der Ultramontan hat grundsätzlich kein Vaterland. Wenigstens geht ihm das Reich seiner Kirche darüber; ebd. 262 wird der Ultramontan immer doppelt misstrauisch angesehn, wenn eine politische und besonders wenn eine nationale Bewegung aus-

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bricht; Stahl 1863 Parteien 4 die Parteirichtungen in jeder Kirche selbst . . . dort Episkopale, Ultramontane, hier Pietisten und Kirchliche, Unionisten und Konfessionelle. Ultramontane: Creuzer 1825 briefl. a. Boisserée (ZGOberrhein 90 (1937) 256) Ultramontanen; 1845 (1833 -47 Literar. Geheimberichte II 231) Ultramontanen und Jesuiten; Stahr 1847 Italien I 321 in Rom . . . diese deutschen Ultramontanen (denn die meisten dieser römischen Menschenfischer sind Deutsche); Weimar. Jahrbuch 5 (1856) 10 Die Ultramontanen (Uberschr.) Freilich fahret auch ihr mit Dampf auf der eisernen Weltbahn / Aber ihr bleibt trotzdem stets auf demselben Fleck; Vischer 1860 Krit. Gänge N.F. I 19 Von Preußen her klang es nur immer, wie wenn es da nichts als Ultramontane und darum blinde Anhänger Österreichs gäbe; 1864 (ZGOberrhein 90 (1938) 417) Die Ultramontanen haben . . . in erschreckender Weise an Boden gewonnen; Treitschke 1866 Jahre 95 Der Ultramontane . . . hasst den preussischen Staat; Steub 1869 Altbayr. Culturbilder 12 Diese kriegerischen Schriftgelehrten — die Ultramontanen — sie nannten sich mit Vorliebe bayerische, altbayerische Katholiken; 1874 Grenzboten IV 438 Der Weg der Ultramontanen führt zum Vaterlandsverrath in der schwärzesten Gestalt; Spitzer 1879 H. V Die Liebe ist nach der Ansicht der Ultramontanen sündhaft; Hertling 1896 Kl. Sehr. 422 die Ultramontanen in allen Ländern; Friesen 1910 Erinn. III 329 das ganze deutsche Volk sei mit der von dem Reichskanzler beabsichtigten Maßregel einverstanden, nur „Partikularisten und Ultramontane" seien dagegen; Stimmen d. Zeit 86 (1914) 325 darauf hinweisen, daß sein Vaterland, das ganz katholische Belgien, das toleranteste Land Europas ist. Und die „Ultramontanen", die dort am Ruder sitzen, denken gar nicht daran, diesen Zustand zu ändern; Baumgarten 1917 Erziehungsaufgabe 126 Von „Ultramontanen" oder „vaterlandslosen Gesellen" . . . zu reden; Misch 1925 Varnhagen 7 [hat] in Görres den Ultramontanen entdeckt; Heilborn 1929 Revolutionen II 36 Ultramontanen; Valjavec 1945 Josephinismus 73 Anm. Auch unter den Vertretern der Oberschicht spricht man bereits seit Anfang des 19. Jh.s von den „Ultramontanen". Ultramontaner: Wieland 1796 W. XXIX 83 besteurungen und tribute . . . welche [die Päpste] . . . von dem blinden glauben . . . der ultramontaner bisher gezogen haben (DWB); Eichendorff 1854 Drama 212 ein Dutzend wirklicher Katholiken oder sogenannter Ultramontaner; Rindfleisch 1870 Feldbr. 231 Da hatte er als tapferer Legitimist

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und Ultramontaner natürlich gleich die Hosen bis zum Platzen voll; 1870 Humor i. Felde I 28 ein krasser Ultramontaner; Gervinus 1872 Hinterlass. Sehr. 31 Ich bin kein Aristokrat und kein Demokrat, kein Ultramontaner und kein Grossdeutscher. Ultramontanisierung: Solomon 1922 Mittelalter 80 Die Säkularisierung trieb zur Ultramontanisierung. Ultramontanismus: Niebuhr 1807 Br. I 396 Ich verachte den Ruf: „Kein Papst! Kein Ultramontanismus!" Es ist einer der niedrigsten und gemeinsten Kunstgriffe, um den Abschaum der Bevölkerung irrezuleiten; Görres 1821 Europa u. d. Revol. 221 die alte einheit ist . . . entzweyt in einen politischen ultramontanism . . . dann . . . auf der anderen seite ein gleicher politischer protestantism (DWB); Menzel 1828 DLitt. 1108 Der Ultramontanismus hat es seit der Reformation wohl gefühlt, daß er mit doppelter Zunge reden müsse; Ludwig I./Schenk 1828 Briefw. 45 [dass] sein Katholizismus bis zum Ultramontanismus gesteigert ist; Görres 1831 Polit. Sehr. V 451 Das fortdauernde Geheule jener Schakale von Jesuitismus, Ultramontanismus, Theokratie und Fanatismus (ZFDW III 335); Gegenwart 1839 Vorr. o.S. Die zwei Dämonen, welche den Frieden unterwühlen und die geregelten, gesetzlichen Zustände umzustürzen sich anstrengen, sind die Demokratie und der Ultramontanismus; Bacherer 1840 Stellungen 1150 Dr. von Ringseis, ein gepropfter Schössling am Baume des Ultramontanismus und des politischen Obscurantismus; Steinmann 1842 Mefistofeles I 144 Ultramontanismus in seiner grellsten Färbung; Stahr 1847 Italien I 27 Lyon scheint ein Hauptlager des jesuitischen Ultramontanismus; 1848 An das Volk 37 Doch wer hat überhaupt eine Zeit lang häufiger den Vorwurf des Ultramontanismus im Munde geführt, als die Lolamontanen?; 1853 Prutz' Museum 1339 der bamberger und der Würzburger Ultramontanismus; ebd. 1854 (I150) [Zeitungen als] Schildträger des crassesten Ultramontanismus; Wischer 1860 Krit. Gänge N.F. 177 Die Geschichte predigt, wohin der Absolutismus führt, der sich mit dem Ultramontanismus verbündet; Frantz 1862 Kritik 143 Was wir unter Ultramontanismus verstehen, ist also eine kirchlich-politische Partei, deren Grundproblem das Verhältnis der Kirche zum Staat ist; ebd. 181 streitet . . . gegen den Romanismus, d.h. gegen den Ultramontanismus, mag er als kirchliche oder als politische Partei auftreten; Döllinger 1865 Kl. Sehr. 226 dass das Wort „Ultramontanismus" bloss eine gehässige zu Parteizwecken ersonnene

Bezeichnung der katholischen Lehre, Anschauung und Praxis sei; Westermann's Jahrbuch 30 (1871) 543 Der leitende Gedanke der neuen Zeit, das Princip der nationalen Selbstbestimmung, hat seinen tödtlichen Feind im Ultramontanismus; Preuss. Jahrbücher 42 (1878) 101 ist die Socialdemokratie nicht kulturfeindlich wie der Ultramontanismus ?; Scherr 1885 Germania o. S. Einfuhr des modernen Ultramontanismus aus Frankreich, wo er sich als Rückschlag gegen die atheistischen Saturnalien der Schreckenszeit zuerst systematisch ausgebildet hatte; Salomon 1893 Parteiprogr. II 85 „Ultramontanismus" drängt die Regierung zu schädlicher Nachgiebigkeit; Mittelstaedt 1904 Krieg von 1859 25 Anm. Der vielgelästerte Ultramontanismus ist es, der die heilige Flamme der germanischen Staatsidee vor den Wasserströmen der Zeitphilosophie gerettet hat; Schmidt 1909 Mönch 261 sie [die katholische Kirche] hat im Ultramontanismus den Anspruch formuliert, das Heil, das nicht von dieser Welt ist, durch eifersüchtige Herrschaftsgelüste in dieser Welt befördern zu wollen; Naumann 1911 Geist 214 Wo der Ultramontanismus herrscht, zerdrückt er den deutschen Einheitsgeist; Jodl 1911 Vom Lebenswege 112 Hier [in München] machte . . . Döllinger in seinen . . . Vorlesungen über Kirchengeschichte jene Wandlung von einem der eifrigsten Vorkämpfer des Ultramontanismus zum geistigen Führer des Altkatholizismus durch; MüllerFreienfels 1922 Psych. 35 die weltlichen Ansprüche des päpstlichen Stuhls bedeuten für Deutschland nur eine zweite internationale Gefahr . . . die . . . als Ultramontanismus noch immer zahllose Deutsche in ihren Bann zwingt; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 46 Görres, dem Philosophen des Ultramontanismus und „katholischen Luther"; Dürr 1937 Burckhardt 12 Die eine [Zeitung] visierte den Radikalismus, die andere den sogenannten Ultramontanismus, sie beide zwei Extreme, zwei Radikalismen, der eine rationalistischer Herkunft, der andere irrational fundiert, mit stärkstem Einschlag politischer Bewusstheit; Kühnemann 1937 Stirn 124 Absicht, den Katholizismus in Deutschland national zu machen und ihn vom Ultramontanismus zu befreien; ZGO 90 (N.F. 51) (1938) 391 dass Sybel . . . trotz des Kampfes gegen Feudalismus, Radikalismus und Ultramontanismus, den sich die Historische Zeitschrift zum Ziele gesetzt hatte; Uhde-Bemays 1947 Im Lichte 48 das Erstarken des Ultramontanismus in Bayern, dem die Herrschaft über das Kultusministerium zufiel; Siemens 1947 Leben 22 dass die Kirche ein Machtinstrument von Kreisen ausserhalb des Deutschen Reiches [1870] sei (Ultramontanismus); Histor. Jahrbuch 78 (1959) 104 Machtgelüste des sogen. Ultramontanismus; Buchheim 1963 Ultramonta-

Understatement nismus und Demokratie. Der Weg der Katholiken im 19. Jh. (Titel).

deutschen

Ultramontanist: 1770 Br. e. Baiern 21 dieses sind meine Gedanken von der Kirche, die ihr gewiss mehr Ehre machen, als das ungereimte System der Ultromontanisten, welche sich nicht scheuen, aus der Braut Jesu Christi eine Sclavin des römischen Bischofes zu machen; ebd. 79 ob der römische Pabst in Entscheid der Glaubensartickel unfehlbar sey? Die Ultromontanisten eignen ihm diese Gabe ohne weiteres zu; Picard 1926 Minard I 209 Das

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Wort Ultramontanisten, oder die Ultramontan Kirche, gilt in Frankreich im Gegensatze mit der Gallicanischen Kirche; diese Worte erinnern an den erloschnen und neu wieder auferweckten Krieg der Jesuiten und Jansenisten; Frankf. Ztg. 1. 6. 1935 Die Status quo-Richtung bedeutet nichts anderes als: Wir [das Saarland] wollen zwar zu Deutschland, aber in einem Augenblick, wo der Zugang zu Deutschland uns als Demokraten oder Marxisten oder Ultramontanisten überhaupt gestattet ist auf der Grundlage unserer Weltanschauung und allgemeinen politischen Überzeugung.

Understatement N. (-(s); selten -s), in neuester Zeit entlehnt aus gleichbed. engl. Understatement (aus under unter, unterhalb von' und Statement 'Behauptung, Aussage; offizielle, amtliche Erklärung, Verlautbarung, Darstellung'); häufig auf angelsächsische Verhältnisse bezogen, eher bildungsspr. verwendet in der Bed. Untertreibung, Herunterspielung; Abschwächung, Milderung', vor allem zur Bezeichnung einer Verhaltens- und Handlungsweise (als Ausdruck einer Lebenseinstellung, eines Lebensstils) mit dem Ziel, weniger zu scheinen als zu sein, vereinzelt auch für '(bewußt) zurückhaltende, untertreibende Aussage, Verlautbarung; maßvolle Darstellung'; auch fachspr. gebucht in der Literaturwissenschaft zur Bezeichnung einer modernen Darstellungstechnik in Erzähl- und Schauspielkunst für nüchterne, unpathetische, untertreibende, Gefühle bewußt unterdrückende oder nur andeutende (ironische) Ausdrucksform, Redeweise'. 1956 Politik-Wirtsch.-Kultur Juli-h. o. S. Die Liebe zum „understatement", zur ständigen Unterbewertung wichtiger und bedeutsamer Ereignisse schreibt man vornehmlich den Engländern zu. Immer mehr zeigt es sich jedoch, daß diese Neigung auch hierzulande weit verbreitet ist; Sprache 3 (1957) 256 „Hyperbel" als Antipode des „Understatement"; Kayser 1957 Groteske 128 wie es ja den Understatement-Witz als eigenen Typus gibt; Stuttgarter Ztg. 26. 2. 1959 Manfred Boehm spielte den jungen Mann richtig mit angelsächsischem Understatement und nahm ihm dadurch einiges von seinem Schwärmertum; Süddtsch. Ztg. 16. 10. 1961 Nun mag bei diesen Äußerungen das typisch britische Understatement, die bewußte, fast kokette Untertreibung, eine wesentliche Rolle gespielt haben; ebd. 6. 11. 1961 Was . . . auf dem schauspielerischen Sektor . . . nicht Wunder nimmt, wo filmischer Personenkult den einzigen Konkurrenten in puncto Understatement-Charme, Werner Finck, wohlweislich in den Hintergrund verbannte; Stuttgarter Ztg. 18. 10. 1962 des Urteils . . . das Churchill mit vollendetem „understatement" einst über ihn fällte; Spiegel31. 10. 1962 Trotzdem nähert der Autor sein PhantasieWerk mit erzenglischem Understatement der klassischen Mischung von militärischer Pendanterie 2 Fremdwörterbuch

und latenter Selbstfaszination an (CARSTENSEN); Constanze 1962 H. 13 in kunstvoller „Untertreibung" (Understatement); Süddtsch. Ztg. 28. 3. 1963 Die [Mode-]Kollektion hat sich komplett dem Understatement, dem Wenigerscheinen-als-Sein, verschrieben; Hilpert 1963 Liebe 83f. Einen jungen Schauspieler, der auf einer ersten Probe ärgerlich vor sich hin murmelte, bat ich, doch schon immer mit seinem Text anzufangen. Darauf sagte er mir, er sei schon lange dabei. Auf meine Frage, warum ich das bis jetzt nicht gemerkt hätte, erwiderte er: „Understatement" . . . S o ! Also der junge Mann hatte wirklich seine Rolle schon zu spielen angefangen, und seine Nuschelei war nur der Ausdruck eines modischen Stils . . . ich finde gerade das Understatement völlig ungeeignet, eine Figur klar und wahr zum Ausdruck zu bringen. Die Sucht, alles so weit wie möglich zu untertreiben, ist ein Spiegelbild unserer modernen Zivilisation, der konformistischen Auslaugung aller wirklichen Gefühlsäußerungen . . . Man hält es eben für schick, an allen Gefühlsäußerungen vorbeizugehen, weil man sich fürchtet, ein wirkliches Gefühl zum Ausdruck zu bringen. Oder weil man das für verlogen und pathetisch hält. Aber zwischen dem Understatement und dem falschen Pathos, also der Verlogen-

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uni — Unifikation

heit, liegt die Wahrhaftigkeit einer klaren, richtigen Aussage; Offenburger Tagebl. 21. 8. 1964 Hanns Lothar war mit seinem unübertrefflichen Understatement . . . gerade der richtige Mann für diese Rolle; Fischer 1966 Kunst 14 neigt zum angelsächsischen Understatement; Stuttgarter Ztg. 11. 2. 1967 Kossygins Londoner Ein-MannSchau. Das Understatement im Auftreten des sowjetischen Regierungschefs gefällt den Briten (Oberschr.); ebd. 1. 3. 1968 vier [obszöne] Bilder, die — wie es mittlerweile in notwendigem Understatement allgemein heißt — „Paare in perverser Umarmung"; FAZ 4. 3. 1970 Nixon führte Pompidou beim Galadiner im feudalen Waldorf-Astoria ein, mit einem Witz, einem Understatement; ebd. 16. 4. 1970 Kamera und Dialoge . . . die

kühles Understatement betreiben; 1971 Zeitmagazin o. Nr. Tüchtige Norddeutsche mühen sich um „Understatement", „fair play" und „common sense". Hier fühlen sich Briten weniger im Ausland als irgendwo außerhalb Englands; Offenburger Tagebl. 2. 11. 1971 In Understatement ihres Wissens um das unerschöpfliche Thema Mode meinte sie . . . es werde über Mode so viel gesprochen, daß man sich wundern müsse, wenn man überhaupt noch darüber reden könne; Mannh. Morgen 1. 8. 1980 Dieser und einige andere Höhepunkte kamen um so stärker zur Wirkung, als das Spiel im ganzen sehr nobel, dezent, beinahe mit englischem Understatement ablief.

uni Adj. (indeklinabel), im späten 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. uni, eigentlich einfach, glatt; ebenmäßig (gesponnen)' (adj. Part. Perf. von unir verbinden, vereinigen; ebnen, glätten' < lat. untre vereinigen', zu unus einer'); anfangs vereinzelt für '(der Substanz nach) gleich(-artig), einheitlich', dann in der Textilverarbeitung bezogen auf Stoffe in der Bed. 'einfarbig, nicht gemustert', auch in der Zs. unifarben; in jüngster Zeit gebucht als Uni N. (-s; -s) einheitliche Farbe'. Saussure 1781 Reise durch d. Alpen (Übers.) I 86 Das Korn dieser Steinart ist am Bruche fein, gleich (uni), dicht; Timme 1785 Luftbaumeister I 419 Sind die Kleider Uni Mode: so trage sie mit Doublüren und Parements; 1786 Journal d. Moden I 21 Eben solche Bänder werden auch getragen; entweder Couleur uni, oder gar mit obigen 3 Haupt-Farben; ebd. 1787 (II 204) mit blau oder rosa uni Bande; ebd. II 331 Uni, ist alte Mode, die unser Geschmack nicht mehr verträgt; Campe 1813 Wb. 597 Uni, einfach, schlicht; auch einfarbig; Prechtl vor 1863 (VIII 139) Die Zeuge für gleichfärbige oder Uni-Gründe mit. . . der Farbe zu imprägnieren (SANDERS DWB); Kretschman 1870— 71 Kriegsbr. 245 Ich habe sie [ein paar Stunden] benutzt Dir ein himmelblaues Kleid zu

kaufen; uni, das liebe ich mehr als alle Schnurrpfeifereien; Brieger/Wasservogel 1911 Gesellschaft 39 Der uni Gekleidete ist zugleich der selbstbewussteste und stolzeste; Berl. Nachtausg. 4. 11. 1929 Das Geschäft . . . hat sich bei der Mechanischen Weberei . . . recht gut angelassen. Der Hauptfabrikationsartikel, der glatte Sammet (Uni), werde im Ausland . . . stark gebraucht; 1964 Sibylle o. S. Weiße Anzughemden, glatt uni oder in sich gemustert (WDG); Mannh. Morgen 30. 7. 1980 Die knapp viertellange Jacke aus Glenscheck oder Schottenstoffe in Seide, aus Pepita oder Streifen hat immer einen Rock in anderem Muster. Pepita zu Streifen oder Schotten zu uni; ebd. Herren-Sommer-Hosen vollwaschbar, in breiter Uni-Farbpalette (Anzeige).

Unifikation F. (-; -en ungebr.), im früheren 19. Jh. aufgekommen, über mlat. unificare eine Einheit herstellen, vereinigen' zurückgehend auf lat. unus 'ein(er)' und facere machen'; als Nomen actionis/acti, meist fachspr., in der Bed. 'Vereinigung; Vereinheitlichung; Konzentration' in unterschiedlichen Bereichen verwendet, z.B. in der Politik für '(Ver-)Einigung, Zusammenschluß, Integration, Zentralisation' (Ggs. —» Separation) und in der Finanzwirtschaft für 'Vereinheitlichung, Konsolidierung'von Staatsschulden, Anleihen u. ä., gleichbed. mit gleichzeitig nachgewiesenem Unifizierung F. (-; -en ungebr.), mit dem Anfang 20. Jh. im Sinne einer Rückbildung aufgekommenen Verb unifizieren V. trans. '(ver-)einigen,

Uniform

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zusammenschließen, eine Einheit bilden5, speziell in der D D R für '(Anlagen, Geräte u.ä.) vereinheitlichen, standardisieren'. Unifikation: Corres 1836-42 Mystik 1347 Dann ist statt der rechten Unification eine falsche eingetreten; ebd. III 585 Daher im letzten und äußersten sie in Unification verbindet (KEHREIN); Schneller 1866 waelschtirol. Frage 44 Idee der starrsten denkbaren Unifikation; Kraus 1885 Tagebücher 494 Unifikation Italiens; VSozialgesch. 1 (1903) 525 die durch Gesetz . . . über die Unifikation der Staatsschulden ausgeschriebene freiwillige Anleihe; Lamprecht 1913 DGjV II 528 unter starker Unifikation der Verkaufsbedingungen und daher wesentlichen Vereinfachung des Schreibund Rechnungswesens; Gottl-Ottilienfeld 1925 W. 255 Unifikation der Erkenntnis; Bamberger 1932 Tagebücher 239 Verantwortlichkeit für das Misslingen der deutschen Unifikation; Burckhardt 1942 Fragm. 74 Idee der Unifikation [Frankreichs].

machte gleichsam die ganze Wahl zu einem einzigen Marktplatz; Deckert 1914 Paulatinismus 6 die unifizierende Religion; 1962 Union o.S. die Verwendung unifizierter Bauelemente (WDG); 1969 Tagesztg. o.S. ein einheitliches System von unifizierten funktionellen Grundprozessen (WDG). Unifizierung: Görres 1836-42 Mystik III 330 In die Bedingung hier herrschender Concentration und Unificirung eingetreten (KEHREIN); 1888 Wien I 61 Unificirung der [österreichischen] Staatsschuld; Voss. Ztg. 25. 6. 1929 Im Zusammenhang damit hat der Abg. Schnee auch die britischen Unifizierungspläne in Ostafrika erwähnt; Kaegi 1942 Med. I 32 [des] jakobinischen Unifizierungsprogrammes; Süddtsch. Ztg. 15. 9. 1950 Europäische Rechtseinheit heiße nicht einfach „Unifizierung", sondern „Harmonisierung der Prinzipien".

unifizieren: Lamprecht 1912 DGjV 162 unifizierte . . . in seiner extremsten Ausbildung am Markt:

Uniform F. (-; -en), im früheren 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. uniforme (zu Adj. uniforme, —* uniform), anfangs auch in der frz. Form mit PI. -s und vereinzelt als N. und M.; in der Bed. 'für alle Träger mit derselben Dienstfunktion in Material, Form und Farbe einheitlich gestaltete(s) typische(s) Kleidung(-sstück)', bes. des Militärs, aber auch verschiedener Berufsgruppen, die in einem öffentlichen Dienstverhältnis stehen (Eisenbahn-, Postbeamte, Polizisten u. ä.) (Ggs. —» Zivil), auch für 'Einheits-, Gemeinschaftstracht1 und allgemeiner gebraucht, selten als Personenbezeichnung für Uniformierter' und 'Soldaten(-stand), Militär', auch bildlich verwendet und auf abstrakte und konkrete Gegenstände bezogen im Sinne von '(von anderen nicht unterschiedene, einheitliche) äußere Hülle, Schale, Verhüllung', positiv assoziiert mit Würde, Autorität, Respekt, auch negativ assoziiert mit Einförmigkeit, Eintönigkeit, Monotonie, Schablonenhaftigkeit; häufig als Grundund Bestimmungswort in Zss. wie Polizei-, Ausgeh-, Gala-, Parade-, Matrosenuniform; Uniformträger, -zwang, -rock, in Wendungen wie die Uniform an-/ ausziehen 'in den Militärdienst eintreten / aus dem Militärdienst ausscheiden', in voller Uniform 'in Uniform mit allem Zubehör', auch ugs. in der Uniform stecken "Soldat sein' und in neuester Zeit in der schlagwortartigen Wendung ( S t a a t s b ü r ger in Uniform 'Soldat eines demokratischen Staates, der prinzipiell alle Rechte und Pflichten des Staatsbürgers wahrnehmen soll, soweit sie mit seinem militärischen Auftrag vereinbar sind'. Dazu im 19. Jh. die seltene adj. Ableitung uniformmäßig 'wie eine Uniform, einer Uniform'ähnlich', vereinzelt bildlich verwendet. Uniform: Fäsch 1735 Kriegslex. 964 Üniforme; Zedier 1744 Universallex. XLIX 1637 Uniforme; Zinzendorf 1746 Amerikan. Reden I 78 das ist ihr 2*

priesterrock, ihr zeichen, dasz sie dem heiland angehören, ihre uniforme (alle DWB), 1759 (Wolf, Hofleben Maria Theresias 185) was für Cammer-

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Uniform

herrn mit den uniformes würklich versehen seind; seiner Uniform und ich schritt ihm voran; Goethe Moser 1759 Herr u. Diener 402 man sieht wohl vor 1832 (XXIV 258) der uniform sind wir zehnerley Uniformen an den Officiers; ders. 1761 durchaus abgeneigt, sie verdeckt den charakter Beherzigungen 35 so bekämen wir vielleicht in 50 (DWB); Goethe-Riemer vor 1832 Briefw. XIII96 oder hundert Jahren hie und da Pfarrer, Professoda stehn sie [Philemon u. Baucis in Gestalt von res, Aerzte und Kaufleute, die in Grenadier-MütBäumen] nun in grünen uniformen auf's munterste zen und Uniformen ihre Dienste verrichten; mit epheu decorirt (DWB); Jäger 1835 F. Schnabel Lessing 1761 (XVIII 410) die uniform der Towar41 Die Chargirten waren in Uniform, die übrigen schis (DWB); Moser 1776 Patriot. Phantasien II in beliebiger, aber gewöhnlich sehr bunter und 60 die Vorteile einer allgemeinen Landesuniforme, auffallender Tracht; Kurz 1843 Schillers Heimatdeclamirt von einem Bürger; 1775 Teutsch. Merjahre III 11 wahre Uniform des Genies; Frey tag kur III 53 Sie tragen kein gewisses Uniform 1855 Soll u. Haben 329 Uniform; Rodenberg 1856 (ZDWF VII 58); Goethe 1779 Theatr. Sendung Bilderbuch 70 Der Rothwein war gut, er war recht 136 Jede Gattung Menschen, die Uniform trägt, von der alten Garde und trug eine Uniform von imponiert dem grossen Haufen; Müller 1786 Kom. 20jährigem Staube; Kretschman 1866 Kriegsbr. 17 Romane 1231 der liebe gott verzeiht manches, was alles, was nur in dem bunten Gewühl der Armee die uniform nicht verzeiht (DWB); 1790 Journal zum Uniformtragen berechtigt ist, fand sich . . . d. Moden V 634 Wir erhielten . . . vor einigen ein, um Neues zu hören; Schartenmeyer 1873 Tagen die Zuschrift einer . . . Dame . . . die als Krieg 75 In dem Uniformenwesen hat der neue, Sprecherin ihrer Provinz mit der Klage auftritt, scharfe Besen, manches, was zu bleiben werth, daß man ihnen seit kurzem mit einem beyspielloohne Not hinausgekehrt; Wickede 1878 Leutnant sen Eifer, eine Frauenzimmer-Uniforme, Natio49 verblichen, hart mitgenommen ist meine Wanal- oder Provinzial-Tracht, aufdringen, und ihchuniform; ebd. 53 die alten glanzlosen kupfrigen nen dadurch die Freyheit, sich nach eigenem Epaulettes auf dem verblichenen, abgeschabten Geschmacke und Bedürfnisse zu kleiden, beUniformrock; Geibelvor 1884 (118) ich tauge nun schränken und rauben wolle; Laukhard 1792 einmal nicht in diese uniform von frömmigkeit Leben I Vorr. XII bis ich endlich aus Noth und (DWB); Noe um 1885 Alpenbuch II 1, 263 nicht Verzweiflung . . . die blaue Uniform anzog; ebd. nur eine körperliche, sondern auch eine für das II 273 in meiner Soldaten-Uniform; Moser vor Individuum noch lästigere . . . Gesellschafts-Toi1794 (I 134) die allezeit in einerlei gemüthsunilette . . . die man mit noch mehr Recht als das form erscheinende hofleute; ders. 1278 den bürger Soldatengewand Uniform nennen sollte; 1893 in uniform setzen (DWB); Brandes 1802 LebensZschr. f . dtsch. Kulturgesch. 233 Warum behandelt gesch. I 150 Uniform anziehen; Herder vor 1803 sie [die Gesellschaft] den jüngsten Leutnant anders (V 539) jeder in der uniform seines standes; ebd. als alle hochangesehene Nichtuniformträger?; LuXV 137 es ist längst geklagt worden, dasz . . . bliner 1896 Riviera 17 In Beaulieu ist der Fremdcultur und aufklärung uns eine uniform anziehn ling nicht gezwungen, am Abend die internationa(DWB); Schiller vor 1805 Br. V 407 die ankunft le Reiseuniform anzulegen; Bismarck 1898 Ged. u. von zwei preuszischen uniformen (DWB); ders. Erinn. II 62 der einzige civilist in uniform (DWB); vor 1805 (S. W. X 124) Diese Uniform, die nicht Brandt 1901 Ost-Asien I 285 suchten in unseren von deinem Regiment ist (KEHREIN); Beck 1806 Taschen nach blanken Uniformknöpfen; Bloem Quälgeister 3 die uniformen unsers humors 1910 Sommerlt. 117 sich von Kopf bis zu Füßen (DWB); Mayr 1809 Gen.-Index Baiern 724 Unibei dem ersten Uniformschneider der Garnison form der Bürger Militärs; Kerner 1811 Reiseneu einkleiden lassen; Kanner 1922 Katastrophenschatten 51 kamen zwey Laufer in Uniform, so • pol. 4 war . . . General ohne Kommando, Unidem König vorausgeeilt waren; Pfeffel 1812 (II form-General; Csokor 1924 Schuss 61 entwindet 162) die uniform sprengt alle thüren (DWB); man ihm die Waffen . . . und dann sagt eine Ritter 1822 Erdkde I 31 wenn viele der . . . Uniform: „Im Namen des Gesetzes"; Thiess 1927 resultate . . . demjenigen widersprechen werden, Gesicht 37 „Uniform" ins Geistige übertragen was dem heere unsrer karten in beziehung auf die wurde „Pensum". Jeder Einzelne, der darüber abbildung der erdoberfläche als uniform dient hinausbegehrte oder darunter wegdachte, wurde (DWB); Hauff 1826 Mem. d. Satans I 15 in verworfen; Lokesch 1927 Fortf. v. Scherr, Kulturreicher Jagduniform . . . ein Oberforstmeister aus gesch. 698 Es war der Reiz der „Uniform", der dem Nassauischen; Goethe 1827-42 (W. XVII merkwürdigerweise . . . auch auf Männer wirkt; 278) Da sie [die Gartenknaben] sich denn in ihrer Voss. Ztg. 13. 6. 1930 Man sollte eine Art Uniform heitern reinlichen Uniform sehr gut ausnehmen bevorzugen. Das hätte, bei der Riesenzahl, die (KEHREIN); Wit v. Dörring 1828 Fragm. III 259 diese Uniform zwangsläufig anzulegen hätte, vielMüller ging als sei er in Dienstgeschichten in leicht noch einen praktischen Vorteil: daß gewisse

uniform Leute mit der Uniformspielerei aufhören würden; Berl. Illustr. Nachtausg. 16. 6. 1932 Dann wird betont, daß das . . . Uniformverbot in die neue Notverordnung nicht wieder aufgenommen worden sei; Lokal-Anz. 24. 2. 1932 ein junger Offizier in Meldeuniform; Berl. Illustr. Nachtausg. IS. 5. 1933 in den Friedensuniformen der Garde-Kavallerie; B. Z. am Mittag 30. 5. 1934 Durch diese . . . Maßnahme gelten für die mit Uniform verabschiedeten ehemaligen Angehörigen der alten Armee in Zukunft die gleichen Bestimmungen über das Tragen der Uniform, wie für das Reichsheer und die Reichsmarine; Dtsch. AZ. 3. 8. 1935 Die „Kamera", Unter den Linden . . . zeigte im Rahmen ihrer Festspielwochen den bekannten Film „Mädchen in Uniform"; ebd. 9. 8. 1935 Uniformzwang für rumänische Schüler auch in den Ferien (Überschr.); Jahn 1937 "Weisheit d. Soldaten 128 Die Uniform, die Gleichtracht, gehört . . . zu den Wesenszügen des Soldatentums; Münch. N. N. 7. 5. 1942 Seien wir Soldaten, wenn wir auch keine Uniformträger sind; Süddtsch. Ztg. 27. 8. 1951 Neu ist am Uniformrock die Golffalte, die den Offizieren vorbehalten bleibt; Neue Ztg. 20. 4. 1952 interpretiert das Blatt

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[Stars and Stripes] seine Aufgabe in dem Sinne, der für die amerikanische Vorstellung vom Soldaten als Bürger in Uniform kennzeichnend ist; Süddtsch. Ztg. 23. 7. 1955 Als sich . . . die ersten „Uniformträger" durch die . . . Flure des Bundeshauses bewegten; ebd. 18. 9. 1959 Das Ideal des „Staatsbürgers in Uniform" ist freilich . . . in Schweden noch nicht so arg alt; Stuttgarter Ztg. 1. 6. 1960 wie sehr die Bundeswehr bemüht sei, dem Schlagwort vom „Bürger in Uniform" Leben einzuhauchen; FAZ 27. 7. 1970 Der Verteidigungsminister will einen Staatsbürger in Uniform mit idealen Zügen; 1971 Zeitmagazin o.S. Nichts ist in der Geschichte des bekleideten Menschen beständiger gewesen als die Mode „Uniform". Die Farben und der Schnitt der Uniformen wechselten, nicht ihr Zweck: die Egalisierung ihrer Träger. Wer den „bunten Rock" anzog, rief sich stets selbst zur Ordnung. uniformmäßig: Arnim vor 1831 (II 8) uniformmäszig; Riehl 1853 Naturgesch. d. Volkes 148, die pappel . . . ist der uniformmäszige bäum (beide DWB).

uniform Adj., im frühen 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. uniforme einförmig, gleichförmig, einheitlich' ( < gleichbed. lat. uniformis, aus unus einer' und forma 'Gestalt, Form'); in der Bed. einheitlich, gleich (aussehend, gestaltet)', meist abwertend verwendet im Sinne von 'in der Form ohne Abwechslung, in der äußeren Gestaltung gleichförmig; eintönig, einförmig, monoton, langweilig, stereotyp', zunächst bes. auf Kleidung bezogen, dann zunehmend allgemeiner verwendet. 1720 Straßburg. Stud. III 136 über das hab ich gar nicht uniform und gleichlautend geschrieben; 1765 Allg. dtsch. Bibl. 83, 128 uniforme tracht (beide DWB); Goethe 1781 Neueste XVI 49 uniformen; 1783 Krünitz XXIX 1745 einige [Knaben] mit uniformen, Kitteln, mit bunten Cocarden oder Sträußen an den Hüten; 1786 Journal d. Moden I 82 bey einer uniformen National-Kleidung; Mutius 1810 Br. 116 uniformen Häusern; Heine 1830 Italien 215 uniforme Häuser; Pückler 1840—41 Bildersaal 1380 uniform gekleidet (DWB); Hildebrand 1867 Sprachunterricht 64 auch in wichtigeren dingen hat die spräche . . . dafür gesorgt, dasz sie nicht zu soldatisch uniform wurde (DWB); Peltzer 1872 Sanitätszüge 9 in uniformer Weise; Ziegler 1895 Student 42 Unsere Bildung und gebildete Sitte ist fraglos uniform, schablonenhaft, ist Massenbildung geworden, und darum fehlt es uns so sehr an Charakteren; Mönckeberg 1918 Stellungskämpfe 60 sind die Gedanken . . . der Leute nicht so uniform, wie man . . . annehmen

möchte; Lokesch 1927 Fortf. v. Scherr, Kulturgesch. 726 in den ersten Jahren sah man auf den Straßen kolonnenweise Mädchen mit blauweißen Gesichtern und einem knallroten Mund. Dies hatte zur Folge, daß sie alle uniform aussahen; Berl. Tagebl. 7. 7. 1929 Durchschnitt für den Durchschnitt, Filme von technischer Qualität, aber ganz uniform; 1932 Jüd. Wohlfahrtspflege 183 die Abnehmerschaft als uniforme Masse; Picht 1940 Soldat. Mensch 17 von der uniformen und doch so bunten Tatsächlichkeit des „Volkes in Waffen"; Münch. N. N. 22. 2. 1944 Die Uniformherstellung ist zunächst alles andere als uniform. Die deutsche Wehrmacht trägt und braucht schon für die einzelnen Wehrmachtteile unterschiedliche Uniformen; Süddtsch. Ztg. 16. 3. 1951 sprach Dr. W. Schwarz über „Uniforme oder individuelle Ordnung der Gemeinden"; Münch. Stadtanz. 1. 1. 1960 Nicht alle neuen Glashäuser sind schön . . . auch nicht alle modernen Betonbauten, die oft recht uniform wirken und in jede Großstadt

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uniformiert

„passen"; 1962 Sprachspiegel (Schweiz) o.S. die Aufstellung eines uniformen Alphabets für alle Sprachen, die sich der lateinischen Buchstaben bedienen (WDG); Kant 1965 Aula 384 die uniformen Posen der geübten Konzertbesucher (WDG);

Offenhurger Tagehl. 6. 2. 1968 Das zottelige Fastnachtskostüm, mit dem sich eine Gruppe Jugendlicher . . . uniform ausgestattet hat; Stuttgarter Ztg. 28. 2. 1969 nichts ist uniform an der neuen Mode.

uniformiert Adj., Anfang 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu —» Uniform; a anfangs häufiger, später seltener auf (Dienst-)Kleidung bezogen in der Bed. in Uniform, einheitlich gekleidet'; im 20. Jh. gelegentlich auch als Subst. Uniformierter M. (-n; -n) TJniformträger, Person in Uniform', vor allem von Polizisten; b von daher seit Mitte 19. Jh. allgemeiner in der Bed. einheitlich gestaltet, vereinheitlicht' und zunehmend abwertend verwendet im Sinne von gleichförmig (gemacht), egalisiert, reglementiert, normiert, genormt und dadurch nivelliert, schabionisiert; monoton, eintönig, stereotyp; unspezifisch, unindividuell, langweilig, gesichtslos', vor allem bezogen auf soziokulturelle Phänomene, gelegentlich gleichbed. mit —* uniform. Dazu seit frühem 19. Jh. das Subst. Uniformierung F. (-; -en), häufig abwertend in der Bed. 'Vereinheitlichung, Normierung und dadurch bewirkte Gleichmacherei, Monotonisierung, Nivellierung' (zu b), selten auch bezogen auf (Dienst-)Kleidung für 'Ausstattung mit einer Uniform' (zu a); seit Mitte 19. Jh., wohl im Sinne einer Rückbildung von uniformiert, Uniformierung, selten nachgewiesenes uniformieren V. trans., meist in der Bed. einheitlich gestalten, vereinheitlichen' und abwertend für '(alles) gleichförmig machen, egalisieren, reglementieren, normieren und dadurch nivellieren, schabionisieren; monoton, eintönig, stereotyp machen', bes. von soziokulturellen Phänomenen (zu b) und vereinzelt auf (DienstKleidung bezogen für alle Personen derselben Dienstfunktion einheitlich, in eine Uniform kleiden' (zu a); seit späterem 19. Jh. (gebucht 1863 bei Kaltschmidt) die seltenen subst. Ableitungen Uniformismus M. (-; ohne PI.) "Streben nach Einheitlichkeit, Einförmigkeit, nach einheitlicher, gleichförmiger Gestaltung' (zu b) und nur gebuchtes Uniformist M. (-en; -en) Terson, die nach Einheitlichkeit, Einförmigkeit, nach einheitlicher, gleichförmiger Gestaltung strebt' (zu b). uniformiert a: 1804 Heidelhg. Urkundenh. 1454 eine angemessene sowohl als auch feierliche uniformirte Kleidung; Goethe 1817 Anford. a. e. mod. Bildhauer XLIX 2 wohl uniformirte, regelmäßige, kräftig bewaffnete Truppen; Heine 1831 Italien 406 uniformiert, gekleidet; Lewald 1837 Aquarelle III 19 Man konnte wahrlich keine . . . unvorteilhafter uniformirte [Truppe sehen] als die damaligen preussischen Garde du Corps; Lindenberg 1883 Berlin 28 der blau uniformirten Schutzleute; Lokal-Anz. 12. 8. 1933 Er erließ einen . . . Marschbefehl, aus dem hervorgeht, daß er [das] Verbot einer uniformierten Parade nicht beachten will; ebd. 27. 7. 1934 Während noch beraten wurde, erschienen plötzlich einige Automobile mit bewaffneten, uniformierten Leuten im Hof des Bundeskanzleramtes.

Uniformierter: Hegeler 1908 Ärgernis 263 erhoben sich vom Polizeitisch die beiden Uniformierten, setzten ihre Helme auf; Lokal-Anz. 31. 1. 1933 Größere Lücken, die zwischen den SA.-Formationen . . . entstanden, wurden dann von Nichtuniformierten ausgefüllt; Berl. Illustr. Nachtausg. 8. 3. 1933 Zwei Uniformierte kamen und holten den Strolch ab; Lokal-Anz. 27. 7. 1934 das . . . von Uniformierten besetzte Gebäude.

uniformieren: Braun 1881 Bilder III 273 das Uniformieren von . . . Leuten; Stuttgarter Ztg. 20. 1. 1959 daß erwogen wurde, die zivilen Beamten, die bei der Truppe der Bundeswehr Dienst tun, zu uniformieren.

uniformiert Uniformierung: Wickede 1854 Soldaten-Leben III 221 so wurde denn dieß neu errichtete Cavalleriecorps ein Uhlanen-Regiment, das man in der Uniformirung . . . dem Reglement. . . ganz nach dem Muster der polnischen Reiterei organisirte; Roggenbach 1866 Br. 52 sofortige Uniformierung der Administration der annektierten Staaten; Goldmann 1915 Militär. 9 die zwei Leitideen alles Militärischen . . . die eine heisst Uniformierung, die andere Subordination; NZ. (Basel) 27. 5. 1949 Pläne für die Neu-Uniformierung ihrer [der Straßenbahn] Beamtenschaft. uniformiert b: Kurz 1843 Schillers Heimatjahre II 35 der Besuch des Gottesdienstes trug denselben uniformierten und kommandierten Charakter wie das übrige Getriebe der Anstalt; die Haltung in der Kirche . . . alles hatte seinen vorgeschriebenen, gleichmäßigen, militärischen Gang; Scherr 1865 Blücher II 26 [eine] uniformirte Nation; Meyr 1866 Gespr. 359 Ich fordere nun aber, daß man nicht blos aus Selbstsucht das uniformirte Deutschland hindere, sondern daß man die gesetzlich geregelte . . . Verbindung selbständiger Glieder herbeiführe; Scherr 1870 Farrago 37f. dass wir, statt freie Menschen, harmonisch entwickelte . . . Persönlichkeiten zu werden, uniformirte Staatsatome, willenlos brauchbares und verbrauchbares Staatsvieh seien?; Homberger 1885 Selbstgespr. 113 Als die Rahel schrieb, war die deutsche Sprache noch nicht so diszipliniert, so uniformiert wie heute; Meysenburg 1898 Lebensabend II 383 die öden Systeme des uniformierten, bureaukratischen Kommunismus und der destruktiven Gleichmacherei; Liman 1904 Kaiser 300 eine uniformierte Kunst; Naumann 1911 Geist 182 Uniformierte Frömmigkeit; Schicksale 1920 Mädchen 38 [die] uniformierte Menge; N. Z. Z. 2. 5. 1943 Die Flucht ins uniformierte Leben. Es gibt solche . . . die ihre innere Freiheit . . . nur in der größten Einschränkung ihrer äußeren Freiheit finden. Geregelter Stundenablauf, Gebundenheit ans Programm; Frankel 1964 Deutschland 42 Uberbau eines uniformierten und reglementierten Gemein willens. uniformieren: 1855 Prutz' Museum II 933 der Geist des bureaukratischen, akademischen Frankreich, dass es Alles zu uniformiren, in Rangordnung zu bringen und officiell zu stempeln sich berechtigt wähnt; Riehl 1861 Land 17 Es geht durch diese Zeit ein mächtiger Zug zum Aufbau des Allgemeinen, Einheitlichen, zur ausebnenden, uniformirenden Politik, zur theoretischen Construktion in der Wissenschaft; Berlepsch 1875 Schweizerkunde 587 den bedeutenden uniformirenden, jede Selbständigkeit verdrängenden Ein-

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flüssen . . . unterliegen; Lamprecht 1912 DGjV I 62 [dies alles] uniformierte . . . die industrielle Seite des Unternehmens; Bäumler 1934 Männerbund 38 Ein Tanzsaal, in welchem sich die Geschlechter und die Lebensalter mischen, ist das Abbild der uniformierenden Gesellschaft. Uniformierung: Ritter 1822 Erdkde VI 116 die uniformierung der Vegetation (DWB); Reichensperger 1845 Verm. Sehr. 403 das leidige Uniformirungssystem [im Restaurieren kirchlicher Bauwerke]; Riehl 1861 Land 153 Die Uniformirung des Gemeindewesens läuft jenem germanischen Freiheitssinn geradezu wider die Natur; 1861 Staats-Wb. VI 223 Uniformirung der Landesverfassung; Windelband 1909 Phil. 113 Uniformirung der geistigen Bildung; Naumann 1911 Geist 154 Die wachsende Uniformierung des Lebens; Lamprecht 1912 DGjV I 62 eine Uniformierung der kommerziellen Tätigkeit des Unternehmers; ebd. 475 gesellschaftliche Uniformierung des Mittelstandes, die heute im allgemeinen besteht; Schmitz 1914 Land 154 rationalisierende Uniformierung; Goldmann 1915 Militar, 15 Prinzipien der demokratischen Uniformierung und der aristokratischen Subordination; 1918 Deutschland 95 Mangel der „Uniformierung" Deutschlands; Fränzel 1919 Volksstaat 12 Uniformierung . . . der Berufe; Müller-Freienfels 1922 Psych. 141 dass unter dem Druck zwanghafter Bindung auch eine besonders schroffe Unterdrückung der Individualität in Gestalt der oft gerügten „Uniformierung" stattfindet; Ber. d. Dtsch. Hochsch. f. Politik 8 (1930) 1 Uniformierung der Gesellschaftlichkeit; Volk ». Heimat 20. 8. 1932 Der Puritanismus ist auch eine der Hauptursachen der Uniformierung des seelischen Lebens geworden, jenes Massenempfinden, das heute in Amerika seine Orgien feiert; 1933 Dtsch. Rundschau (Juni) 203 In diesem Zusammenhang mag auch ein Wort zu der politischen Uniformierung gestattet sein; Uniformierung wörtlich genommen. Immer mehr tritt diese Uniformierung in die Erscheinung; das Straßenbild erhält davon ein immer stärkeres Gepräge; Volk. Beob. (Münch.) 13. 10. 1936 zur Vermeidung der Uniformierung der Presse dahin zu streben, daß der Presse nicht druckreife und fertig abgeschlossene Artikel zugehen; Schmidt 1937 Handbuch (Reg.) Uniformierung der Kulturen; Frankf. Ztg. 2. 4. 1937 Uniformierung der deutschen Gemeinden; Weltwirtsch. Archiv 59 (1944) 267 Vorstellungen . . . die bislang mit Schlagworten wie „Uniformierung" und „Primitivierung" des Bedarfs [bezeichnet wurden]; Sedlmayr 1948 Verlust 64 Bauaufgaben, deren natürliche Ansprüche nicht erfüllt, sondern einer gewaltsamen „Uniformierung" unterworfen . . . werden; Rein-

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Uniformität

hold 1953 Arbeiterbewegung II 297 Uniformierung des religiösen Bewusstseins der Menschen; Süddtsch. Ztg. 29. 8. 1955 Eine Uniformierung der Bauten wurde nicht bemerkt, da die immer noch große Zahl der Bauelemente die individuelle Gestaltung jedes Hauses zuließ; 1957 Hambg. Forschungen 138 bei aller Ablehnung . . . der einseitigen politischen Uniformierung [des Menschen] im bolschewistischen Sinne; Stuttgarter

Ztg. 23. 3. 1959 Diese Erstarrung sei eine Folge der Preisbindung und der zwangsweisen Uniformierung der Bedingungen. Uniformismus: Ratzel 1907 Raum 146 Da für unsere Auffassung, die von den Katastrophen so weit entfernt ist wie vom Uniformismus, das Leben an der Erde, vergleichbar dem Meere . . . von ungünstigen zu günstigeren Stellen flutete.

Uniformität F. ( - ; -en ungebr.), Anfang 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. uniformité (zurückgehend auf lat. uniformitas 'Einförmigkeit', zu uniformis, —» uniform), anfangs vereinzelt in der lat. F o r m ; in der Bed. 'Gleichförmigkeit, Einheitlichkeit; Einheit; Ubereinstimmung', vor allem bezogen auf staatlich-politische und soziokulturelle Phänomene, von daher seit dem 19. Jh. auch leicht abwertend verwendet im Sinne von 'durch Egalisierung, Schabionisierung, Nivellierung erreichte Einheitlichkeit, Ein-, Gleichförmigkeit (im Denken, Handeln oder der äußeren Erscheinung)', auch 'Eintönigkeit, Monotonie', zuweilen im Ggs. zu Mannigfaltigkeit, Variabilität, Abwechslung u.ä. verwendet. 1703 Ztg.-Lex. O.S. Uniformität (WEIGAND); Naudé 1706 Messkunst 156 Die überall-Gleichförmigkeit und uniformitas der geraden Linie und der ebenen Fläche; Menantes 1713 Curiosité 107 uniformität, einträchtigkeit, gleichheit (DWB); Sperander 1728 A la M od Sprach O.S. Uniformität, die Gleichförmigkeit, Einträchtigkeit, Gleichstimmigkeit, gleicher Sinn, gleiches Gemüth, Ubereinkommung; Abbt vor 1766 (VI 4, 105) eine gewisse uniformität in der abwechselung der positiven und negativen zeichen (DWB); Haller 1820 Restauration II 371 Anm. Uniformität; Goethe 1827-42 (W. LH349) So daß man anstatt der Totalität eine Uniformität hervorbrachte (KEHREIN); 1833—36 Histor.-polit. Zschr. II 13 In Frankreich war alles Uniformität, Unterordnung und Abhängigkeit eines höchst ausgebildeten, sittlich verderbten Hofwesens; Goldmann 1839 Pentarchie 76 Wo es rivalisirende Mächte gibt, da verlangt eine jede Uniformität (Gleichheit), weil jede die Präponderanz der andern befürchtet; Kohl 1841 Reisen i. Südrussland II 236 Uniformität der pontischen Steppen; Stahl 1845 Princip Vorr. XVI bei der entschiedensten Ablehnung seiner [des Staates] Uniformität; Hausser 1851 Denkw. 13 In Verwaltung und Gesetzgebung [war] das Streben nach bureaukratischer Uniformität und möglichster Centralisation . . . dasjenige Mass von Aufklärung . . . das sich mit dem aufgeklärten Despotismus vertrug; ebd. 35 Mit der festen Einigung und Uniformität des Staatswesens hat sich . . . jene Verwaltung entwickelt, die man unter dem Namen der bureaukratischen begreift; Fontane

1854 Sommer (II, IV 211) Wie Mannigfaltigkeit und Uniformität stehen sie sich einander gegenüber; Görtz 1854 Reise III 72 Gleichheit und Uniformität [des chinesischen Lebens]; 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 46 so würde die äusserste Consequenz des Herrschtriebes zur Uniformität eines Universalstaates, eines Universaldespotismus . . . führen, und damit . . . die Vernichtung des Mannigfaltigen . . . bezeichnen; Riehl 1861 Vortr. I 267 Uniformität der Staatsform; 1863 V'j'schr. f . Volkswirtsch. IV 195 Monotonie und Uniformität des Lebens; Schlözer 1866 Rom. Br. 289 die allgemeine Uniformität der katholischen Kirche; 1866 Grenzboten I 153 [durch den Konstitutionalismus] ist . . . eine geisttödtende Uniformität erzielt worden; Baumgarten 1870 Volk 39 barbarische Uniformität des Orients; Lindau 1877 Blätter I 29 Uniformität . . . des Deutschen Reichs; Preuss. Jahrbücher 110 (1902) 342 Uniformität ist ja im Bildungswesen überhaupt kein erstrebenswertes Ziel; Windelband 1909 Phil. 114 Uniformität des Daseins; Stern 1915 Weltmode 40 bei aller von der Mode vorgeschriebenen Uniformität; Lothar 1916 Sehr. 15 die deutsche Uniformität . . . die deutsche Nüchternheit . . . der deutsche Gewaltsinn; Troeltsch 1916 Geist 87 Wir wissen nichts von jener Tyrannei und Uniformität der öffentlichen Meinung, die nur Zeitungen und keine Bücher liest; Vierkandt 1923 Gesellschaftslehre 369 weitgehende Uniformität der Mitglieder der Gruppe; Dtsch. AZ. 16. 8. 1935 Die Uniformität der Typen und Preise wird aber durch die individuelle Ausführung des äußeren

Unikum Bildes der Apparate abgewandelt; Burckhardt 1942 Fragm. (1865-85) 184 dieser französische Uniformitäts- und Jesuitengeist; Röpke 1946 Civitas 219 Anm. Uniformität der Anschauungen; Süddtsch. Ztg. 13. 12. 1950 Die Uniformität der Musikprogramme der Rundfunksender . . . erstreckt sich auch auf den Typus des „Symphoniekonzerts". Diese traditionell gewonnene Form der Musikdarbietung . . . hat der Rundfunk ziemlich gedankenlos vom öffentlichen Konzertbetrieb übernommen; Lieb 1952 München 186 die Uniformität spätbarocker und moderner Pendantsbauten; Saeculum 6 (1955) 337 Uniformität der Weltmachtideologien; Süddtsch. Ztg. 30. 4. 1955 Höchstes Glück der Erdenkinder sei doch die Persönlichkeit, hat der Dichter gesagt, doch das 08/15-Lokal beweist: Es ist die Uniformität; Newcomb 1959 Sozialpsych. (Übers.) 51 Uniformität und Variabilität innerhalb verschiedener Kulturen; Arbeitgeber 20. 12. 1960 Die Leistungslohnsysteme weisen in den USA in einigen'Betrieben eine weitgehende Uniformität auf; Hobsbawn 1962 Sozialrebellen 29 denn die überraschendste Eigen-

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schaft des Sozialbanditentums ist seine bemerkenswerte Uniformität und Standardisierung; 1965 Aspekte 22 Sprachnorm wird Daseinsnorm, und in einer Welt der erzwungenen äußerlichen Uniformität wird genormt gesprochen und genormt gelebt; ebd. 39 Die Uniformität unter den Menschen nimmt zu, ihre Rechte gleichen sich an, ihre Ansichten und Verhaltensweisen; Offenburger Tagebl. 19. 10. 1965 Die Orientierung am Recht sei wichtiger als das Streben nach Einheit um jeden Preis. Heute gelte es . . . sich der Unduldsamkeit zu widersetzen, die Uniformität fordere.; Stuttgarter Ztg. 24. 2. 1969 Das notwendige Rüstzeug wird den Beamten auf der Polizeischule vermittelt, die durch militärähnliche Uniformität, Absitzen und Durchpauken von Lehrgängen und Prüfungen eher auf Kommando denn auf Diskussion ausrichtet; Mannh. Morgen 22. 10. 1980 Was mit Beethoven geht, mit dem Zusammenspannen . . . der Fünften und Sechsten für einen Abend, geht mit Schubert nicht unbedingt. Da könnte leicht die Gefahr der Uniformität im seelischen Grundklang aufkommen.

U n i k u m N . ( - s ; U n i k a , a u c h -s), im f r ü h e n 1 9 . J h . a u f g e k o m m e n , z u r ü c k g e h e n d auf lat. A d j . unicus

einzig (in seiner A r t ) , v o r z ü g l i c h , a u s g e z e i c h n e t ; a u ß e r o r d e n t -

lich, u n g e w ö h n l i c h ' ( z u unus

e i n e r ' ) ; a in d e r allgemeinen B e d .

seiner B e s c h a f f e n h e i t , Q u a l i t ä t n a c h E i n m a l i g e s , E i n z i g a r t i g e s ,

e t w a s seiner A r t , Unvergleichbares',

gelegentlich mit d e r A s s o z i a t i o n des Seltenen, B e s o n d e r e n , Beispiellosen a u c h im Sinne v o n

w e r t v o l l e Seltenheit, R a r i t ä t ' , a u c h f a c h s p r . i m K u n s t h a n d e l , in d e r

N u m i s m a t i k u . ä . v e r w e n d e t für

n u r in e i n e m einzigen E x e m p l a r

vorhandenes

P r o d u k t ; E i n z e l e x e m p l a r , - s t ü c k (einer S a m m l u n g ) ' , bes. v o n M ü n z e n , g r a p h i s c h e n K u n s t w e r k e n u . ä . ; d a n e b e n das seltene, w o h l in A n a l o g i e z u älterem D u p l i k a t gebildete, f a c h s p r . v e r w e n d e t e gleichbed. Subst. U n i k a t N . ( - ( e ) s ; - e ) ; b seit M i t t e 1 9 . J h . auf P e r s o n e n ü b e r t r a g e n u n d häufig ugs. v e r w e n d e t in d e r B e d . Einzigartigkeit, Mensch,

ungewöhnliche

Ausnahmeerscheinung',

verschrobener,

Eigenschaften,

besondere

v o n d a h e r a u c h für

sonderbarer M e n s c h ; Sonderling,

Kauz,

Eigenart

eigenartiger,

schrulliger,

T y p e ' und

origineller,

lustiger, jederzeit z u Späßen u n d S c h e r z e n aufgelegter M e n s c h , Unikum a: Mendelssohn-Bartholdy 1829 Reisebr. 18 [habe ich] einen Auftrag erhalten . . . der mich freut, weil er ein unicum ist und nur in London möglich. Ich komponiere ein Festlied für eine Feier, die in . . . Ceylon stattfinden soll; Rosenkranz-Varnhagen 1843 Briefw. 99 Ich wüsste nicht, dass es dessengleichen in unsrer Litteratur gäbe. Es ist ein unicum [ein seltsamer Titel], solchen Gegenstand aus höherem Geiste behandelt zu sehen; Fontane-Lepel 1853 Briefw. II 45 ein Gedicht. . . seinem Stoff nach ein Unicum; Ritter 1861 Erdkde 107 spielt der Bernstein in der

'durch

auffallender

Spaßvogel'.

Geschichte der Länderentdeckungen eine merkwürdige Rolle; zumal, da er fast ein Unicum genannt werden kann, dessen häufiges Vorkommen nur auf eine sehr kleine, die baltische, Erdstelle beschränkt ist; 1872 Kladderadatsch-Kalender 83 Liechtenstein . . . dieses Unicum unter den souverainen Staaten Deutschlands; Nordau um 1880 K II 379 Dieses Blatt ist . . . nicht blos wegen seiner starken Auflage und seiner geräuschvollen Vertriebsmethode merkwürdig, sondern auch wegen seines literarischen Charakters. Es ist ein journalistisches Unicum; Stieler 1885 Kultur-

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Union

bilder 194 [Judengasse] ist ein Unikum in der Kulturgeschichte unseres bairischen Hochlandes; Kretzer 1887 Timpe 259 Zuletzt betrachteten es [ein altes Häuschen] sämtliche Bewohner des Viertels wie ein Unikum, das die Lächerlichkeit . . . herausforderte; Kirst 1888 Erlebnisse 59 Die . . . Begebenheit dürfte wohl als ein unicum zu betrachten sein, da man in den Annalen der Völker- und Kriegsgeschichte vergeblich ein Beispiel ähnlicher Art . . . suchen wird; West 1891 Vogelhändler 32 [die Tatsache, daß manche Ministerialbeamte Bauern sind, sei] ein wahres Unikum; Kartinger 1920 Aus Altbayem 87 Dass Regensburg ein archäologisches Unikum ist mit romanischen Bauten und sonst wichtigen Daten für Kunst und Geschichte; Simmel 1923 Fragm. 247 dass die schauspielerische Aufgabe gar kein solches künstlerisches Unikum ist, sondern sich . . . auf einer . . . Vorform erhebt; Erman 1929 Werden 134f. Als die kleinen deutschen Händler [um 1870—80] anfingen, die nur in einem Exemplar vorhandenen Münzen nicht mehr „Unikum" sondern „Unikat" zu nennen; Voss. Ztg. 10. 9. 1929 [St. Germain ist] Ein Unikum in der Geschichte der Völker und ein Hohn auf den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker; 1934 Novellen 70 [Frühdrucke] Objekte von ausserordentlichem Seltenheitswerte, meist Unika; Offenburger Tagebl. 31. 10. 1960 Die Überraschung und das Unikum dieser Wahlkampagne ist der Vizepräsidentschaftskandidat der Republikaner; FAT. 27. 10. 1970 Für ein Unikum, die erste gedruckte Abhandlung über Eisen und Stahl, führt der . . . Katalog einen Schätzpreis von 6000 Mark auf. Unikat: Erman 1929 Werden 134f. Als die kleinen deutschen Händler [um 1870—80] anfingen, die nur in einem Exemplar vorhandenen Münzen nicht mehr „Unikum" sondern „Unikat" zu nennen; Finke 1941 Angesicht 115 Der Herr Kommerzialrat hat mir . . . eine größere Anzahl von Lichtbildern seiner schönsten Unikate [aus einer Sammlung von Gemmen] zur Verfügung gestellt; FAT. 20. 1. 1971 Erstaunlich ist immerhin, daß bisher zahlreiche Apologeten seines Werkes . . . übersehen haben, daß . . . das handgefertigte Tafelbild als Unikat diesen Intentionen am wenigsten entspricht.

Unikum b: Burckhardt 1848 Br. III 105 [ein Freund B.s] dieses Unikum der Natur; Bülow 1865 (Zentner, München 148) [König von Bayern] Das ist ein Unikum; er sieht auch ganz tropisch aus, oder exotisch; 1869 Gartenlaube 442 [er] ist . . . im Improvisieren heiterer Tischreden ein Unicum; Scherr 1870 Farrago 82 Elagabal war geradezu ein Unikum. Er hätte von rechtswegen in Spiritus aufbewahrt und der Nachwelt als das seltenste Naturspiel moralischer Missgestaltung überliefert werden sollen; Kist 1888 Erlebnisse 277 [Fremdenführer] war ein Unikum, eine Abnormität seiner Menschenklasse; Spielhagen 1890 Finder 1102 diesen merkwürdigen Mann, der als ein Unikum dastand; Rüstige um 1895 Maler 41 ich stehe als ein Liebling der Kamöen in der ganzen Welt als ein Unikum da!; Fontane 1897 Stechlin 196 Und von diesem Unikum erzählen Sie uns erst heute; Eckstein 1897 Roland 18 Das macht das Kostüm . . . Die kann thun, was sie will. Alles steht ihr entzückend. Aber sie weiß auch, daß sie in dieser Hinsicht ein Unikum ist; 1904 (Beurmann 1942 Von Leuten 49) Jeder Mensch ist ein Unikum; 1905 A. d. Papieren Schleinitz 3 dass er als aktiver Offizier geradezu ein Unikum in der preussischen Armee bildet; Lasker-Schüler 1909 Wupper (Dichtungen 354) Ein Unikum ist die Olle; Farinelli 1912 Aufs. 51 dass er [Gott] ihn [Rousseau] als Sonderling, ein Unikum unter Millionen, gestaltete; Bahr 1917 Schwarzgelb 105 auch heute noch fühlt sich der Salzburger, ganz wie die Tiroler, Österreicher und Steyrer als ein ureignes . . . Geschöpf, ja sozusagen als ein Unikum, das er bleiben will; Schüttel 1925 Humor 146 Unser Zahlmeister — von uns kürzer „Zahlrat" genannt — war ein Unikum; Csokor 1933 Zeuge 45 [ein] bibliophiles Unikum; Lokal-Anz. 7. 2. 1933 Längst schon ist das Gedicht zu seinem 100. Geburtstag fertig. Es beginnt folgendermaßen: Hundert Jahre sind nun um. Noch lebt das alte Unikum; Lutz 1956 Volkssänger 30 im Gschlössl in Schwabing, dessen Wirt als Unikum galt; Stuttgarter Ztg. 1962 Nr. 165 In Schaffhausen lebt der 81jährige Kürschnermeister Carl Stemmler, ein Unikum, das als der beste Vogelkenner der Schweiz gilt; Kapeller 1964 Schimpfbuch o. S. Unikum.

Union F. (-; -en), im frühen 16. Jh. entlehnt aus (flekt. Form von) lat. unio "Einheit; Vereinigung' (zu unus einer'); als Nomen actionis/acti in der allgemeinen Bed. 'Vereinigung, Verbindung; Bund, Verband', bes. im staatlich-politischen und kirchlichen Bereich für auf Vertrag beruhende, zur Verfolgung gemeinsamer politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Ziele gebildete Vereinigung von

Union

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Personen(-gruppen), Institutionen, Staaten zu einem Interessenverband mit gemeinsamen (Verwaltungs-)Einrichtungen; politischer, wirtschaftlicher, kultureller Zusammenschluß, Bund; Bündnis, Allianz'; häufig als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Bekenntnis-, Kultusunion, Personalunion als historische Bezeichnung für die Verbindung mehrerer Staaten durch die Person eines Monarchen unter fortbestehender staatsrechtlicher Trennung, Realunion verfassungsmäßig festgelegte Vereinigung zweier selbständiger Staaten unter demselben Herrscher und mit gemeinsamen Einrichtungen', Montanunion europäische Gemeinschaft mit gemeinsamem Markt für Kohle und Stahl'; Unionsbestrebung zur Bezeichnung der im 19. Jh. aufkommenden Einigungsbestrebungen im Zuge der ökumenischen Bewegung und im Rahmen des Weltrats der Kirchen nach konfessionellen Weltbünden, und als Eigenname in Syntagmen verwendet wie UdSSR TJnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken', C D U 'Christlich-Demokratische Union', CSU 'Christlich-Soziale Union' und als Kurzform für C D U und CSU (Unionsparteien). Dazu im 19. Jh. die adj. Gelegenheitsbildung unionsmäßig nach dem Brauch, Kult der Unionskirche'; seit späterem 19. Jh. die subst. Ableitung Unionismus M. (-; ohne PI.) 'Streben nach (staatlicher/kirchlicher) Einheit, Bündnisstreben' und seit frühem 20. Jh. Unionist M. (-en; -en) 'Anhänger einer Union', auch Mitglied einer der Unionsparteien', auch als historische Bezeichnung für die Anhänger unterschiedlicher Konföderationsbestrebungen und gelegentlich allgemeiner verwendet; seit Mitte 19. Jh. die seltene adj. Ableitung unionistisch '(im staatlichen/kirchlichen Bereich) nach Einheit strebend'. Union: um 1522 Etlich artickel A2b Weil durch die vnion, die commenden, die regressus, die accessus, die gemütlichen, die brüstlichen die hertzlichen die sonderlichen vn gemeine reseruation oder vor behaltung der ordentlich gerichts zwang vnd gewalt vermindert; ebd. A3" Auff das hinfür in den Kirchen bekante vnd tüchtiger menner verordnet vnd gesetzt werden vnd domit nit die Ordinarien durch allerley reseruation oder vorbehaltung, Exception oder ausszuge, vnion oder Vereinigung . . . jrer ordentlichen gewalt beraubt . . . werden; Paracelsus 1538 Def. 52 Union; 1610 (A.D.B. XXXIII 482) [Plan eines] allgemeinen Unionswerkes von allen christlichen katholischen Potentaten; Mallinger 1613—60 Tagebücher (Mone, QS. II 530) 125000 Reichsthaler, so meisttheils die newe Union contribuiert [hatte]; 1618 Acta Publica Schles. (Palm) 82 [der] confirmirten Vnion; 1621 (Weller, Lieder 30jähr. Kr. II 20) Kurtzer Bericht, wie des treves in Niederlandt Schwester, die Union in ober Teutschland gestorben und ihrem Bruder dem Treves jämmerlich im todt nachfolgen thut; 1621 (Aretin 1839 Bayerns auswärt. Verh. I Urkd. Bd. 99) Catholische Vnion; 1630 (Albrecht 1962 Politik 228 Anm.) haubt fundament diser Französischen union; Greflinger 1657 Dreyssig-Jahr. Krieg A3t Nur kurz vor diesem Streit, Wurd' auch die Union, zu deutsch, die Einigkeit, Aus vielen Mächtigen, die

vor des Keysers Waffen Ihr und der Unterpfaltz wolt Hilff und Rettung schaffen, Vom Bürger aufgelöst; Leibniz 1670 Denkschr. Reich II 23 Union der Stände; 1709 Neue Bibl. II 147 wird . . . von der zu Königsberg Ao. 1707 zwischen Lutheranern und Reformirten eingeführten Union geredet; 1711 Gelehrte Fama 488 Unions-Händeln zwischen der Griechischen und denen Abendländischen, so wohl der Römischen als denen Protestirenden, öffentlichen Kirchen, Büchern und Confessionen; 1717 (Buchner, Religion 20) Der König soll intendiren, eine Union unter der Lutherischen und Reformirten religion hier in Berlin zu machen; Grynaeus 1722 Sendschr. 23 Wozu dienet es denn, daß man mit ihnen der Vnion wegen tractiret?; 1731 Struve Reichs-Historie 307 Vnion zwischen denen Lutherischen und Reformirten; 1741 Helvet. Bibl. VI 263 ein Wort von der Eidgenössischen Union; Philippi 1743 Reimschmiedekunst 125 Union oder Frieden; Kreittmayr 1769 Grundriss I (Reg.) Frankfurter Union; Schiller 1790-92 GKr (VIII 49) [die] evangelische Union; Fessmaier 1801 Staatsrecht 57 Unionsgeschichte des baierischen Staates; Schiller vor 1805 (X 36) Deutschland theilt sich in zwei Unionen, die einander gewaffnet gegenüber stehen (KEHREIN); 1834 Jahrbücher d. Gesch. II 431 die Union der Lutheraner und Reformirten in manchen Ländern; 1842 Hofdamen-Br. 381 die

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Union

sogenannte preussische Unionspolitik, d.h. das Streben Preussens nach einem Kleindeutschen Bundesstaat; Haym 1849 Nationalvers. II Vorw. II Die Herstellung des deutschen Bundesstaates unter der einheitlichen Leitung Preussens und gleichzeitig möglichst innigen Unionsverhältnisses zu Österreich; Stahl 1856 Staatslehre 133 machte man . . . damit jeden Franzosen zum souveränen Staat und Frankreich zu einer völkerrechtlichen Union dieser zwanzig Millionen Franzosen; Fischer 1860 Preussens und Baiems Union (Titel); Frantz 1862 Kritik aller Parteien 220 eine Union, d.h. ein Aufgehen aller confessionen in die römisch katholische Kirche; Büschel 1886 Erinn. IV 4 sie glaubten, dass [in einer Predigt] die Lehre vom heiligen Abendmahle überwiegend in reformierter Weise behandelt sei, und nannten sie eine „Unionspredigt"; 1888 Grenzboten I 387 die sogenannten preussischen Unionsbestrebungen; Kaiser 1911 Lehenserinn. 72 Die im Jahre 1827 von der Generalsynode in Karlsruhe entwickelte Union der beiden protestantischen Kirchen des Landes; Oncken 1914 Aufs. I 99 von diesen demokratischen Anfängen und Unionsanläufen; Schacht 1931 Rep. 223 wünscht Briand eine moralische Union Europas; Lokal-Anz. 10. 10. 1934 Wenn zwei oder mehr Staaten übereinkommen, den Warenaustausch untereinander zollfrei zu lassen . . . dann liegt eine Zollunion vor; Kleinmann 1936 Von der Unionskirche zur Reichskirche (Titel); Münch. N. N. 19. 6. 1940 Die beiden Regierungen erklären, daß Frankreich und Großbritannien nicht länger zwei Nationen, sondern eine französisch-britische Union sein werden; ebd. 15. 3. 1945 daß England die Gründung einer „Union der Mittelmeerinseln" plane; Süddtsch. Ztg. 30. 11. 1945 [er] sprach . . . in einer Gründungsversammlung der Christlich-Sozialen Union; ebd. 21. 4. 1951 wie mannigfaltig die Kräfte sind, die nach dem ersten Schritt der Montan-Union nun auch den zweiten der Agrar-Union wagen wollen; ebd. 9. 12. 1952 Zu einer „Union der Herzen" auch in diesem Jahr rufen die SteubenSchurz-Gesellschaft . . . die Deutsch-Kanadische Gesellschaft . . . auf: Als Zeichen des Dankes für die Weihnachtsfreude, die Dienststellen und Einheiten der Besatzungstruppen deutschen Kindern und alten Leuten bereiten, wird die Bevölkerung aufgerufen, wiederum alliierte Truppenangehörige in deutsche Familien einzuladen; Offenburger Tagebl. 12. 5. 1962 sie sind enttäuscht über den Stillstand der Verhandlungen über eine politische Union; Süddtsch. Ztg. 9. 2. 1963 Politisches Lexikon (Uberschr.) Westeuropäische Union: die WEU wurde am 5. 5. 1955 gegründet. Sie entstand aus der 1948 gegründeten Westunion; ebd. 27. 3. 1963 „Bayerische Union" aus CSU und BP?

(Uberschr.); Offenburger Tagebl. 18. 11. 1963 Das Europäische Parlament will die Diskussion um die Politische Union wieder beleben; ebd. 27. 6. 1964 [der] deutsche Dichter Stefan Andres hatte in einem Brief an [den] . . . Vorsitzenden der Humanistischen Union mitgeteilt, er sei aus der Humanistischen Union ausgetreten; ebd. 30. 8. 1965 Den führenden Unionspolitikern müsse . . . geraten werden, sich sofort zu einer Klausurtagung zusammenzufinden; Welt 26. 1. 1970 Studenten gründen Bühnen-Union (Uberschr.); FAZ 10. 11. 1970 Ein arabischer Unionsplan (Uberschr.) Die Staatsoberhäupter . . . haben nach längeren Beratungen . . . erklärt, einen Plan über die Vereinigung ihrer drei Länder vorzubereiten; ebd. 1. 12. 1970 Barzel wies noch einmal in dem Schreiben darauf hin, daß die Unionsfraktion an einem Entwurf für einen Antrag arbeite; Offenburger Tagebl. 27. 1. 1971 Das . . . deutsch-französische Konsultationstreffen hat. . . den Weg zu Fortschritten in der europäischen Wirtschaftsund Währungsunion geöffnet; ebd. 6. 7. 1971 Ausstellung „150 Jahre badische Unionskirche" in Karlsruhe (Überschr.) verweilt man ein wenig an den neun Vitrinen . . . der Ausstellung, dann vermag man diesen kirchengeschichtlichen Zeitraum seit der Unterzeichnung der Urkunde zur Kirchenvereinigung von Lutheranern und Reformierten in Baden . . . sicherlich besser zu ermessen; Süddtsch. Ztg. 13. 1. 1972 Rückschau auf sein 25jähriges Bestehen hält der Bundesverband der Jungen Union am kommenden Wochenende; FAZ 24. 1. 1972 Die politische Union bleibt unser Ziel; Die Zeit 27. 11. 1981 Eine Besonderheit besteht dabei darin, daß die Unions-Länder bei den Gesetzen, denen der Bundesrat zustimmen muß, auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses verzichten wollen . . . Die unionsregierten Länder werden vielmehr ihre Mehrheit nützen, um die starke Position auszuspielen, über die der Bundesrat in der Gesetzgebung verfügt; ebd. Der Begriff der „Europäischen Union" hat inzwischen seine eigene, wechselvolle Geschichte . . . die Staatsund Regierungschefs . . . wollten bis 1980 „die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedsstaaten in eine Europäische Union umwandeln". Mit dem Begriff der „Europäischen Union" war indessen lediglich eine diffuse Perspektive fixiert. unionsmäßig: Büchsei 1886 Erinn. IV 4 ob ich nicht habe versprechen müssen unionsmässig zu predigen, was bei ihnen so viel hiess, als den Herrn Jesum verleugnen und Gottes Wort verdrehen. Unionismus: Douai 1864 Union 112 Mit der freien Presse des Pfarrers Brownlow in Ost-Ten-

unisono nessee stand und fiel der Unionismus von OstTennessee; 1897 (Ostdtsch. Wiss. 7 (1960) 228) Geist des Unionismus; Frankf. Ztg. 29. 10. 1927 die zukünftige Politik der Partei. Er beschäftigte sich . . . mit der These . . . Bouillons und bezweifelte, daß dessen Wunsch, die Sozialisten zur Macht zu bringen, ernst gemeint sei, da . . . Bouillon ja deren Grundsätze selbst in den letzten Monaten . . . bekämpft habe. Dem Redner erscheint der Gedanke des Unionismus phantastisch . . . Die Partei kann ohne Unterstützung der Sozialisten nicht leben . . . Mit den Sozialisten zu brechen, hieße der eigenen Partei einen tödlichen Schlag versetzen. Unionist: Kircher 1926 Engländer 60 Unionisten; Harden 1927 Versailles 519 Chamberlain rühmt in Wakefield das neue anglodeutsche Abkommen als einen wichtigen Erfolg der Unionistenregierung; Gebauer 1932 Kulturgeschichte 473 Dafür aber bildeten sich unter den Anhängern der verschiedenen kirchlichen Richtungen durch ganz Deutschland große kirchliche Parteien, die „Lutheraner" 1849, die Unionisten 1857 und die Liberalen 1865; Drascher 1936 Vorherrschaft 267 Mit besonderem Recht nannten sich die bekehrten Konservativen

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später „Unionisten" — sie, die nun die Vertreter des Imperialismus waren, kämpften für eine Idee, in der sich der starre Herrscherwille der Angelsachsen mit dem Pflichtgefühl dem Wohle der ganzen Menschheit gegenüber zusammenfand; Bonn 1953 Gesch. 90 Horace war 1895 zum Abgeordneten des „vornehmen" Viertels von Dublin gewählt worden . . . Damals war er Unionist; Offenburger Tagehl. 10. 3. 1970 Auf eine andere Weise wird die Christlich-Demokratische Union von den Richtungskämpfen erfaßt. Dort tut sich eine Kluft auf zwischen den bayrischen Unionisten und denen der übrigen Bundesrepublik; Bad. Ztg. 14. 1. 1972 Unionisten überall (Uberschr.) Es fällt auf, daß die Union Bildender Künstler in Freiburg Zuzug erhalten hat . . . es gibt landauf landab Unionisten, die malen wie anno dazumal. unionistisch: Prokesch v. Osten 1852 Br. 247 Was ihn [Manteuffel] hält, ist hauptsächlich die unionistische Richtung seiner Handelspolitik; Kircher 1926 Engländer 61 unionistische Partei; Frankf. Ztg. 29. 10. 1927 kritisierte . . . die nationale Einigkeit . . . Er forderte . . . in klaren Worten die Verurteilung des unionistischen Grundsatzes.

unisono Adv., Ende 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. ital. unisono (zurückgehend auf (m)lat. unisonus einstimmig', aus lat. unus einer' und sonus Tilang, Schall, Ton'), früher vereinzelt auch in der Form unison-, 1 in der Musik in der Bed. einstimmig, nur eine (in der Partitur aufgezeichnete) Stimme, auf demselben Ton oder in der Oktave, im Einklang (singend/spielend)', auch als Vortragsanweisung in Partituren (Unisonosatz), früher selten auch bildlich verwendet im Sinne von '(mit etwas) in (harmonischem) Einklang (stehend)' (vgl. 2). 2a Seit Anfang 19. Jh., bezogen auf verbale Äußerungen, in der Bed. zu gleicher Zeit, gemeinsam (sprechend), (wie) aus einem Mund, im Chor', in Syntagmen wie unisono sprechen, rufen, schreien, selten auch für alle miteinander, zugleich'; b seit späterem 19. Jh. übertragen verwendet in der Bed. einmütig, geschlossen (etwas vertretend, sich verhaltend), (in Auffassung, Verhaltensweise) übereinstimmend, einträchtig; eines/gleichen Sinnes; in das gleiche Horn blasend', in Syntagmen wie etwas unisono billigen, erklären, vertreten, unisono in etwas einstimmen, häufig auf publizistische Verlautbarungen bezogen. Dazu seit frühem 17. Jh. das Subst. Unisono N . (-(s); -s, Unisoni), zunächst aufgekommen in der gelehrtenlat. Form Unisonus, vor allem in den Syntagmen in unisono, in unisonum, im 18. Jh. vereinzelt in der Form Unison und als M., in der Musik in der Bed. 'Einklang, Gleichklang von mehreren (Vokal-, Instrumental-) Stimmen, Tönen', früher zuweilen bildlich verwendet (zu 1), seit Mitte 19. Jh. gelegentlich auch für '(gleichzeitiges) Sprechen, Schreien im Chor' (zu 2a) und selten für 'Ubereinstimmung, Einstimmigkeit (von Meinungen), Einmütigkeit; (herrschender) Tenor' (zu 2b); im 19. Jh. das seltene, auch übertragen verwendete Adj. unison einstimmig'.

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unisono

unisono 1: Nicolai 1790 Anekdoten I 259 [die] Stelle, wo Er nicht Unisono konnte gemeint haben, und der Baß ging auch herunter; 1792 Wiener Musenalmanach 54 Such' Einklang in des Ehkonzerts Andante stäts zu bringen: Unisono muss Herz an Herz im Ehestande klingen; 1799 Journal d. Moden XIV 152 auf der Geige, über 2 am schmalen Ende des Kastens befindliche niedrige . . . Stege, und stimmte die Saiten im Einklang (unisono); Herder vor 1803 (III 20) Daß auf der runden Erde alles noch so ziemlich unison geschaffen und gestimmt ist (KEHREIN); Goethe vor 1832 (LII 311) Man identificirt sich alsdann mit der Farbe; sie stimmt Auge und Geist mit sich unisono (KEHREIN); Pückler 1840 Bildersaal II 61 eine tief melancholische Melodie unisono von dort herabsangen; Seefeld 1895 Reisestudien 70 Wenn in Paris mehrere zusammen singen, so geschieht dies unisono; Imago 12 (1926) 24 Er erkennt es selbst als etwas Infantiles an, so wie ein Kind mit zwei Händen eine Melodie unisono spielt; Stuttgarter Ztg. 29. 10. 1959 Ungewohnte Tonreihen, Unisonosätze, harmonische Rückungen meisterte der Chor in erstaunlicher Tonreinheit; ebd. 7. 8. 1968 sollen dieses Mal die präzisen Attaca-Einsätze und das schöne Unisono-Piano gerühmt sein.

Theorie II 18" im Unisonus; Wezel 1776 Tob. Knaut IV 304 Beide Nymphen stiessen im Unison einen grossen lauten Seufzer aus; Maass 1797 Einbildungskraft 88 erhellet zugleich, warum das Unisono ästhetisch möglich sey. So lange ein Ton bloß mit seiner Octave empfunden wird, ist der Dreiklang und die Tonleiter noch völlig unbestimmt; Hoffmann 1814 Kreisler I 25 Unisono; Gerstenberg 1816 Verm. Sehr. III 395 eine blosse Folge zusammenstimmender gleichartiger Töne, was wir jetzt Unisono nennen; Goethe-Zelter 1819 Briefw. III 7 Der Refrain wird vom Chore, jung und alt, in Unisono gesungen; Wieland 1824 (S. W. XIII 235) Um irgend eines zufälligen Unisono willen . . . Jeder Ton einer singenden Nachtigall ist der lebende Ausdruck einer Empfindung und erregt in der zuhörenden unmittelbar den Unisono dieser Empfindung (KEHREIN); Hauff 1826 Mem. d. Satans I 76 Unisono; vor 1863 Salon II 56 Die Geigenunisonos im Orchester (SANDERS DWB); Imago 12 (1926) 23 Über das Unisono in der Komposition (Überschr.) Die . . . Art des Unisonos darf wohl Anlaß sein, hier eine tiefere Bedeutung zu suchen, um so mehr, als der Komponist dieses Unisono gar nicht bewußt niedergeschrieben hat.

unison: Herder vor 1803 (VIII 328) Consone Töne müssen es sein, die die Melodie des Lebens und des Genusses geben, nicht unisone; Goethe vor 1832 (XII 228) Es sind im Rohr die unisonen Dommein (beide KEHREIN); Spiegelhagen 1862 Naturen II (V 37) zur gemeinschaftlichen unisonen Absingung des beliebten Volksliedes.

unisono 2a: Kerner 1811 Reiseschatten 62 da brüllten auf einmal die vierzig Studenten unisono; 1839 Badegäste I 47 schrien unisono; Kohl 1852 südöstl. D. I 109 unisono; Tietz 1859 Erinn. 52 stimmen unisono ein . . . Gelächter an; Kist 1888 Erlebnisse 149 fassten diese heillosen Weiber Posten und führten unisono ein Konzert unter mimischen Produktionen und deklamatorischen Aktionen auf; Kacziany 1891 ö-u. Montur (Übers.) 89 seufzten unisono alle Chargen; Derblich 1895 Militärarzt I 55 schrieen unisono die jüngeren Offiziere; Kolb 1914 Wege 271 dienstbeflissene Adjutanten, dekolletierte Hofdamen, schüchterne Prinzessinnen, sie alle, unisono, wie eine glänzende, bewegte Mauer, versperten ihr . . . den Weg; Meggendorfer Blätter 1925 Nr. 1808 Darauf seufzten beide unisono; Siiddtsch. Mon'h. 26 (1929) 501 es schlang sich durcheinander, es war ein Kanon, und die Stimmen fanden sich erst unisono in dem Anruf: „Säulengetragenes herrliches Dach"; S. Fischer-Korrespondenz 1 (1931) Nr. 3 hatten die fünf Zeitungsverkäufer . . . den Inhalt ihres Unisonogebrülls geändert; Purzelbaum 1939 Humor 51 unisono brüllte; Schallück 1962 Reineke 196 Und wir alle . . . erwiderten unisono: Bei-lei-be-nicht! (WDG); Die Zeit 8. 1. 1982 Ihr Ja klang überraschend unisono.

Unisono: Praetorius 1619 Syntagm. Mus. 94 daß in der zusammenfugung der Choren / diese Stimmen / welche bey eim jeden Chor die tieffsten seyn / nemblich die Bässe allzugleich in Vnisono moduliren vnd einstimmen alsdann die Bässe alle in Vnisonum gesetzt werden; 1638—50 Ged. d. Königsb. Dichterkreises 69 pfeift . . . ein Lied immer in unisono; Mayr 1683 Unisonus oder tausendfältige Ein-Stimmung auf den ElectionsTag Marquardi Bischoven zu Eystatt (Titel); Speer 1687 Unterr. mus. Kunst 72 eines Gesanges in unisono; Richter 1736 Von Fenstern 28 Unisono; Gottsched 1754 Auszug a. Batteux 208 der Einklang (das Unisono); 1766 Allg. dtsch. Bibl. III 2, 131 im 6. und 7ten Tacte des zweyten Systems ist das vincere i nemici . . . sehr nachdrücklich durch einen Unison, welcher durch die Violinen etwas verzieret wird, ausgedrükt; ebd. Anm. Wir werden uns . . . künftig des Worts Unison bedienen, wenn wir von Stimmen, die im Einklänge, oder in einer, oder zwo, oder gar drey Octaven mit einander fortgehen, zu reden haben; Sulzer 1775

Unisono: Steinmann 1842 Mefistofeles 1225 Geld und Geld und abermals Geld und wiederum Geld

Unitarier schreit's und klingelt's durch alle Zeilen im Unisono; Röse 1884 Revanche 140 Im Takt wird getrampelt und der Name des zurückgesetzten Lieblings im furchtbaren Unisono geschrieen; Sieburg 1930 Jahre 112 die Stimmen mischten sich zu einem Chor, der zu freudigem Unisono anschwoll, als der Diener ein . . . Dessert . . . hereintrug. unisono 2b: 1863 Bilder a. Paris II 83 Die Regierungsblätter stimmten unisono, eines lauter als das andere, in diese triumphirenden Tiraden ein; ebd. I 363 Die Tagesblätter thaten nachher unisono alles Mögliche, um Wagner und seine Oper vollends todtzuschlagen; Schert 1870 Farrago 491 Die schweizerischen [Zeitungen] behandeln lebhaft das Thema der Unverletzlichkeit des französischen Gebiets und plaidiren unisono dafür; 1873 Dtsch. Rundschau III 479 so dass sie [die englische Presse] fast unisono mit den französischen Tagesorganen gegen Deutschland Partei ergriff; 1916 Deutschland I 33 Schlagworte und Theorien . . . mit denen unisono die niedere Presse arbeitet; Siiddtsch. Ztg. 27. 12. 1961 Die

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Pensionisten erklärten unisono, zu sehr mit Arbeit überlastet zu sein; Bad. Ztg. 2. 7. 1966 dank der uralten Berlin-Streitereien zwischen Ost und West, dank der parteilich verordneten Solidarität aller Oststaaten, die unisono schmollend daheim blieben; FAZ 20. 2. 1971 Fast unisono hat sie [Verwaltung] eine Umfrage dieser Zeitung . . . mit der Feststellung beantwortet, daß Abiturienten kaum noch für den gehobenen . . . Dienst zu gewinnen seien; Die Zeit 6. 3. 1981 werden die großen Entscheidungen wohl erst nach dem ersten Wahlgang . . . fallen, auch wenn heute alle Kandidaten unisono beteuern, von einem Kuhhandel wollten sie nichts wissen. Unisono: 1873 Dtsch. Rundschau III 320 Die französische Presse beantwortete die besorgten Auslassungen deutscher Zeitungen in einem auffallenden „Unisono" der Friedensschalmeien; Scheler 1929 Weltansch. 34 In dies bewundernswerte Unisono der neuabendländischen Anthropologie und Gesellschaftslehre; N. Z. Z. 23. 12. 1943 das Unisono der Zeitungsartikel.

Unitarier M. (-s; -), Anfang 18. Jh. in der gelehrtenlat. Form unitarius aufgekommen (zurückgehend auf lat. unitas, —» Unität); meist pl. verwendet und früher auch auf englische und amerikanische Verhältnisse bezogen, als (historische) Bezeichnung für die Anhänger protestantischer Richtungen, Sekten, die die Einheit Gottes betonen und die Trinitätslehre ablehnen (Ggs. Trinitarier), gelegentlich im politischen Bereich nachgewiesen für "Zentralist' und selten allgemeiner verwendet als Bezeichnung für den Anhänger eines wissenschaftlichen Einheits-, Ganzheitsdenkens. Gundling 1702 Sehr. 22 Die so genannte Pietisten sind . . . impii, Vnitarii, Sociniani, Haeretici, die da alle Glaubens-Articul umstossen; Herrliberger 1746 Ceremonien I 21 Unitarier; Laukhard 1792 Lehen I 164 die Unitarier in Polen; Herder vor 1803 (XLI437) Unitarier, im guten Verstände des Worts, müssen wir alle sein (KEHREIN); Rivinus 1824 Darstellung 130 Die Sekte der Unitarier hat sich besonders im nördlichen und westlichen England sehr ausgebreitet (BENNETT); 1828 Jahrbücher d. Gesch. III 40 Katholiken, Evangelische und Reformirte drückten ihren besonderen Abscheu gegen die Socinianer oder Unitarier aus; Poppe 1837 Erfindungen 482 Franklin aber erfand das System der Unitarier, welches nur einen Stoff annimmt, der durch Uberschuß andere Erscheinungen, als durch Mangel. . . zeigt; Histor.-polit. Blätter 13 (1844) 837 Unitarier, Quäker, Shaker, Universalisten, Mormoniten [in Amerika]; Fröbel 1866 Kl. polit. Sehr. 1233 Will man der Partei, von

welcher hier die Rede ist, einen Namen geben, der ihr politisches Wesen scharf . . . bezeichnet, so muß man sie die Partei der deutschen Centralisten oder Unitarier nennen; Schmidt 1878 Portraits 163 Die Unitarier stehn ungefähr auf gleichem Boden mit der äußersten Linken unsers Rationalismus; sie gehn aber viel weiter in der Lösung von allen Cultusformen. Gleichwohl scheint auch diese Richtung . . . zu theologisch gewesen zu sein; Mon'schr. (Nathusius) 3 (1880) 413 Unitarier nennt sich in Amerika eine Religionsgenossenschaft; Grimm 1882 Essays III 14 Channing, der „Apostel der Unitarier"; Kaiser 1911 Lebenserinn. 126 Die Radikalen, unter Führung Obermüllers, eines Unitariers und Burschenschafters . . . versuchten die badische Fahne wegzureißen und dieselbe durch die verpönte schwarz-rot-goldene Flagge zu ersetzen; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 341 Er [Sozinianismus] ist dezidiert antitrinitarisch, weshalb seine Anhänger sich auch

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Unitarismus

Unitarier nannten; Dibelius 1929 England II 54 Auch die Unitarier, die von Fausto Sozzini . . . in Polen begründete Sekte, welche die Gottheit Christi leugnet, haben in England einen Boden gefunden; Lerchenfeld-Köfering 1935 Erinn. Einltg. XVII die psychologisch falschen Versuche schematischer Unitarier, die Entwicklung in ihre Ideologie zu zwängen; 1949 Goethe u. Hdlbg. 307 Einst hat F. Th. Vischer die Faustforscher in „Stoffhuber" und „Sinnhuber" eingeteilt; Rickert hat eine ähnliche Unterscheidung zwischen „Uni-

tariern" und „Fragmentariern" gemacht; Süddtsch. Ztg. 17. 4. 1951 Der „Unitarier" Blücher (Uberschr.) Vizekanzler Blücher sprach sich auf einer Wahlkundgebung . . . im Interesse einer einheitlichen politischen Linie für eine zentrale deutsche Regierung aus; Stuttgarter Ztg. 7. 10. 1965 Vortragsreihe der Deutschen Unitarier (Uberschr.) Die Deutschen Untarier veranstalten . . . eine Vortragsreihe, in der sie ihre Grundgedanken zu der Welt von morgen darlegen wollen.

U n i t a r i s m u s M . ( - ; o h n e P L ) , i m frühen 19. J h . a u f g e k o m m e n e Ableitung zu —» U n i t a r i e r ; v o r allem im staatlich-politischen Bereich z u r B e z e i c h n u n g eines (zentralistischen) Bundesstaats o d e r Staatenbundes, in d e m die Selbständigkeit der Gliedstaaten stark eingeschränkt ist ( G g s . F ö d e r a l i s m u s , Partikularismus), heute v o n —» Zentralismus z u r ü c k g e d r ä n g t , selten auch als B e z e i c h n u n g für die kirchliche L e h r e o d e r B e w e g u n g der —> U n i t a r i e r ; d a z u seit Mitte 19. J h . die adj. Ableitung u n i t a r i s c h , v o r allem im politischen B e r e i c h für nach Einigung, Einheit strebend, sie betreffend' und zuweilen für 'die L e h r e der U n i t a r i e r betreffend'; im frühen 2 0 . J h . die vereinzelte subst. Ableitung U n i t a r i s t M . ( - e n ; - e n ) 'Anhänger politischen Einheitsstrebens'; in neuerer Zeit die vereinzelte verbale Ableitung u n i t a r i s i e r e n V . t r a n s . mit d e m Verbalsubst. U n i t a r i s i e r u n g F . ( - ; - e n ) 'Streben nach staatlich-politischer Einheit, Zentralisierung'. Unitarismus: Brauns 1827 Auswanderung 624 Anm. Daß der Unitarismus und der in Deutschland jetzt herrschende Rationalismus nicht Eins sey, ist mir wohl bekannt; indessen kommen doch die Unitarier . . . den Rationalisten ziemlich nahe; ders. 1829 Prakt. Belehrungen 306 Da der Unitarismus sich auch . . . stark ausbreitet . . . so frage ich an, ob es nicht . . . besser gewesen wäre . . . die Namen der Socinianer und Unitarier . . . unter den bezeichneten Irrlehrern wegzulassen (beide BENNETT); Haym 1849 Nationalvers. II 87 Kämpfe zwischen Unitarismus und Partikularismus; 1852 Prutz'Museum I 130 [System des] industriellen Unitarismus; 1866 (Rapp 1910 Württemberger 163) der preussische Unitarismus; Gervinus 1872 Hinterlass. Sehr. 14 Es liegt in der Taktik des Unitarismus, Bedenken auszustreuen über die zweifelhafte Macht der brüderlich geordneten Staaten; 1874 Grenzboten IV 397 Walter Scott's Romane stellten . . . das particulare Selbstgefühl der schottischen Hochlande in bewußten . . . Gegensatz zum nivellirenden Unitarismus des dreieinigen Königreiches; Yorck v. Wartenburg 1897 Weltgesch. 110 dass gerade für Deutschland die Gefahr eines öden Unitarismus gar nicht besteht, wohl aber sehr die des Auseinanderfallens in seins Teile; Buhl 1920 Reden 220 hat es fertiggebracht, im Norden die Abneigung gegen

den Süden zu wecken und zu gleicher Zeit durch einen plumpen Unitarismus, der nichts weiter wollte als die Mehrheit . . . das Reich . . . zu unterwerfen, auch den bayerischen Partikularismus zu hellsten Flammen anzufachen; 1920— 21 Süddtsch. Mon'h. XVIII 1, 245 „Unitarismus" und Zentralismus . . . seien die Staatsformen für ein Reich, das den Machtzweck in den Vordergrund stellt; Buhl 1921 Reden 282 Abneigung gegen Berlin und den dortigen Unitarismus; 1923 Polit. Handwb. II 835 Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich; Voss. Ztg. (Febr.) 1926 Unitarismus ist nicht gleichbedeutend mit Zentralisation. Dezentralisierter Unitarismus oder gegliederte Einheit ist die einzig mögliche Grundlage für einen Großstaat; Gerstenhauer 1927 Führer 77 Der Unitarismus, wie ihn die Franzosen und überhaupt die romanischen und slavischen Völker haben; Fleischmann 1928 Verfassungserbgut 21 vermag . . . in unumstößlicher Unterscheidung zu sagen, wo ein Föderalismus aufhört und ein Unitarismus anhebt; 1930 Bayer. Verw'bl. 65 Deshalb pflegt man das bundesstaatliche System auch mit dem Namen „Dualismus" zu bezeichnen im Gegensatz zum einheitsstaatlichen System, das den Namen „Unitarismus" führt; Gothein 1931 E. Gothein 293 den Warnungsruf „Unitarismus" können wir ruhig über uns ergehen lassen; Demm-

Unität ler 1934 Bismarcks Gedanken 84 Einheitsstaatlichkeit (Unitarismus); Münch. N. N. 1. 1. 1944 womit General Franco ganz die Grundsätze der Gründer der nationalen Einigung Ferdinands und Isabellas fortführt. Der Unitarismus dieses Landes ist so alt wie die Geschichte Spaniens selbst; Spindler 1949 Erbe 12 [Bayern konnte] selbst vom Nationalismus und Unitarismus des vergangenen Jahrhunderts staatlich nicht gänzlich entrechtet werden; Süddtsch. Ztg. 24. 7. 1951 Blücher gegen öden Unitarismus (Überschr.) Blücher verwahrt sich . . . gegen Berichte, er habe . . . den „dezentralisierten Einheitsstaat" gefordert; Müller 1952 Himmel 58 der erste Weltkrieg, der den deutschen Unitarismus heraufführte; Herzfeld 1954 Aufs. 65 Überwindung des deutschen Kapitalismus durch ein „höheres Mass von Unitarismus im Inneren"; Greyerz 1961 Schweiz 21 Wirkung des rücksichtslosen nationalsozialistischen Unitarismus, der 1934 die Länder der Weimarer Republik durch Gaue der Weimarer Republik ersetzte. unitarisieren: Vietsch 1936 Reichskanzleramt (Diss. Leipzig) 27 Wenn also der Bundesrat „unitarisiert" wurde, so umgekehrt das Bundeskanzleramt als ursprünglich „unitarisch" gedachtes Organ gleichzeitig „föderalisiert". Unitarisierung: Glum 1930 Deutschland 116 Sorge vor der trockenen Unitarisierung . . . Man fürchtet die Bürokratisierung durch eine in Berlin befindliche Zentralregierung; 1931 Bayer. Verw'hl. 127 Er erkennt, wieviel wertvolle Energien für das Reich durch die trockene Unitarisierung verloren gegangen sind. unitarisch: Frantz 1850 Politik 70 alle unitarischen . . . Ideen [in einem preußischen Deutschland]; 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 158 der unitarische Socialismus; Fröhel 1866 Polit. Sehr. II 216 Einer unitarischen Bewegung des deutschen Volksgeistes vermag aber Österreich nicht zu

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folgen; Strauss 1871 Br. 531 Stellung des unitarischen Doctrinärs [Treitschke]; Syhel 1871 Vorträge 320 [Neues deutsches Reich habe den] unitarischen Namen von Kaiser und Reich; Gervinus 1872 Hinterlass. Sehr. 11 in der neuen Pflanzung des unitarischen Nordbundes; Dingelstedt 1879 Bilderbogen 129 [des] unitarischen Programms des jungen National-Vereins; Lamprecht 1913 DGjV II 13 im unitarischen Staate; Buhl 1921 Reden 282 die unitarische Idee; Fleischmann 1928 Verfassungserbgut 30 darf man sagen, dass die Wirklichkeit des Staatslebens im Kaiserreich stärker unitarisch war als die Worte der Verfassung zeigten; Köllreutter 1929 Integrationslehre 28 All das scheint mir in der Polarität von Unitarismus und Föderalismus die Jugend auf die unitarische Seite zu drängen; 1933 Volk u. Reich 185 Gegen den unitarischen Radikalismus, der sich jederzeit mit einer Republik abfinden konnte; B. N. 2.13. 4. 1934 Die Verfassung . . . stellt einen Kompromiß dar zwischen der unitarischen und föderativen Gestaltung der Kirche; Süddtsch. Ztg. 29. 3. 1949 Reichsgewalt, Reichsministerium, Reichstag und Reichsgericht waren die „unitarischen" (so sagte man damals) Säulen der Verfassung; De Man 1951 Vermassung 14 Auffassungen der Kultur. Die eine, die man die unitarische nennen könnte . . . die andere . . . die wir die pluralistische nennen wollen; Homans 1960 Theorie 327 Die unitarische Bewegung, deren Manifest in der 1819 von W. E. Channing in Baltimore gehaltenen Predigt bestand. Unitarist: Frankf. Ztg. 11. 10. 1927 Baden und der Einheitsstaat (Uberschr.) Die „Karlsruher Zeitung" . . . bringt an der Spitze des . . . Blattes den Artikel „Die Unitaristen an der Arbeit", der sich gegen Auslassungen der „Vossischen Zeitung" über die beabsichtigte Einberufung einer Sonderkonferenz von Vertretern der Reichs- und Länderregierungen richtet.

Unität F. (-; selten -en), im frühen 16. Jh. entlehnt aus lat. unitas 'Einheit; Gleichheit', früher vereinzelt in der lat. Form; 1 zunächst fachspr. in der Mathematik in der veralteten Bed. arithmetische Grundeinheit, Größe, Zahl'. 2a Seit frühem 17. Jh. auch allgemeiner verwendet in der Bed. ^Einheit; Einigkeit, Ubereinstimmung, Einklang'; daneben Anfang 19. Jh. die vereinzelte Nebenform Unizität; b im 18./19. Jh. vereinzelt in der Bed. 'Brüdergemeinde'. Daneben das seit 17. Jh. selten nachgewiesene, auf lat. unire vereinigen' zurückgehende Verbaladj. uniert vereinigt', heute nur noch im Syntagma unierte Kirche als Bezeichnung für die im 19. Jh. durch Vereinigung von Lutheranern und Reformierten geschaffene Evangelische Kirche in Deutschland. 3 Fremdwörterbuch

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universal

Unität 1: Grammateus 1518 kunstl. Buech G3* Numerus bedewt nichts anders dan ain vnitet oder 1. darein werden resoluirt alle andere quantitet (SCHIRMER, Mathematik); Rudolff-Stifel 1553 Coss 7" vnitet; ebd. 10h vnitet; Faulhaber 1604 Arithmet. Lustgarten 4" eine Geometrische Progression, mit 5. terminis, an einer Vnität anfallend, wann man je 4. Termin, zusamen addiert; Kepler 1616 Weinvisierbuch (Goetze 183) Unität. Unität 2a: Schweighart 1617 Pandora 14 Suche nuhn was die Concordantz kan? Warlich ich sag dir die warheit / denckstu den Sachen nach / läßt dir Gottes Wort / der Natur Unitet vnd deß nechsten nutzen angelegen sein in simplicitate, veritate, humilitate; Hirsch 1662 Kirchers Musurgia 348 Dises unum können wir nicht anderster / als sub specie & sub nomine plurium fassen und verstehen. Weil dann in disen 6. Eigenschaften alles begriffen ist / ergo so hat das 1. alles in sich / gleich wie auch die Unität vor aller Viele ist; Sonntag 1714 Voc. pseudomyst. 67 Uniformitas, Unitas, Einheit / der Grund der ewigen Dreyheit / allwo das Wollen sey der Vatter / oder die Bewegung der Einheit / da sich die Einheit eröffnet / und in die Dreyheit will; Fleming 1726 Soldat 17 Unitäten; Herrliberger 1746 (B) 8 Unität (also nennen sie ihre Kirche); Scherer 1747PrinitzPredigen 8 Unitas ist die Tugend Einigkeit, so nothwendig diese Tugend, so rar und selten ist sie anzutreffen; 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 157

das Cabet'sche Prinzip der „Unität" oder die Forderung . . . das Gemeinwesen müsse der einzige Unternehmer sein; ebd. 164 Unität und Gemeinsamkeit; Heinrichs 1952 Preussen 283 Gegenüber dem Hauptübel der Zersplitterung, der Zerrissenheit auf allen Lebensgebieten, der Uneinigkeit von Politik . . . gegenüber dieser universellen partialitas stellt er die universelle Unität heraus, die letztlich in der Identität der menschlichen Natur begründet ist; Niebelschütz 1961 Spiel 110 entdeckt die gewaltigen Zusammenhänge des Universums und schmilzt sie ein in die Unität seines grenzenlosen Sendungsglaubens. Unizität: Herder vor 1803 (XIV 289) Trotze also nicht auf die Einheit oder Unicität deiner denkenden Natur (KEHREIN). Unität 2b: Böttiger 1794 Literar. Zustände 1152 Bruderunität; Küttner 1801 Reise III 47 die oberste Regierung der Herrnhuter . . . Man nennt diese Obern die Unitätssynode, die gewöhnlich aus 12 . . . Personen besteht. uniert: Hainhof er 1610 Br. 10 den unierten Fürsten; Carolus 1614 Relation 18" die Vnirte Fürsten; 1621 (Aretin 1839 Bayerns auswärt. Verh. I Urk. Bd. 100) der Protestirenden Vnirten; Laukhard 1796 Reichsarmee 246 neuuniirten Provinzen; Schiller vor 1805 (XIV 68) Die unirten Fürsten (KEHREIN).

universal Adj., im frühen 16. Jh. entlehnt aus (m)lat. universalis zur Gesamtheit gehörig; allgemein' (zu universus zu einer Einheit zusammengefaßt; ganz, sämtlich; allgemein; umfassend', zurückgehend auf lat. unus einer' und vertere Itehren, wenden'), früher gelegentlich in der lat. (flekt.) Form, im 19. Jh. auch die Nebenform universalisch; in den unterschiedlichsten (Fach-) Bereichen verwendet und häufig konkurrierend mit allgemein a in der Bed. 'auf das Ganze / ein Ganzes (in seiner Vielfalt) bezogen; eine Vielheit/Mannigfaltigkeit in eine Einheit zusammenfassend, alles umfassend, allumfassend, total; gesamt, Gesamt-, All(-ein)-' (vgl. b), häufig im Ggs. zu —* partikular-, —» spezial-, —* speziell nachgewiesen, bes. als Bestimmungswort in den Zss. Universalbibliothek wissenschaftliche Bibliothek, die Bücher aller Fachrichtungen systematisch sammelt' und Universalerbe 'Alleinerbe, Erbe des gesamten Nachlasses'; b von daher seit früherem 16. Jh., häufig auf räumlich-geographische und zeitliche Phänomene bezogen, in der Bed. 'die ganze Welt umfassend, weltumspannend, weltweit, Welt-', dann auch für 'überall / an vielen Orten gleichermaßen vorhanden, weitverbreitet (und von daher) überall / an vielen Orten gebräuchlich, gültig; allgemein gültig' (vgl. c) und 'übernational; international, global' (vgl. —» Universum), häufig im Ggs. zu —» spezial-, —» regional, national verwendet, als Bestimmungswort in Zss. wie Universalgeschichte 'Weltgeschichte', Universalsprache als (historische) Bezeich-

universal

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nung für ein von Leibniz angeregtes Zeichensystem, mit dessen Hilfe alle Objekte und ihre Beziehungen untereinander abgebildet werden sollten und das die Grundlage für eine Universalwissenschaft bilden sollte, heute auch für 'Welt(-hilfs-) spräche', Universalinstrument, fachspr. in der Geographie für 'transportables Instrument mit Horizontal- und Vertikalkreis zur Gestirnshöhenmessung, astronomischen und geographischen Orts- und Zeitbestimmung'; dazu im 20. Jh. vereinzelt das Subst. Universal N . (-s; -en) TJniversalinstrument'; c seit Ende 16. Jh., vor allem in Logik und Philosophie, für 'das (logische, durch gedankliche Abstraktion erschlossene) Allgemeine betreffend; allgemein, generell, Allgemein-; infolge logischer Allgemeinheit überall gültig, allgemeingültig' (vgl. b) (Ggs. individuell), bes. in der Zs. Universalbegriff, —» Universalien a; früher gelegentlich auch als Adv. nachgewiesen für Iturz und bündig, insgesamt, alles in allem, zusammenfassend' (vgl. a); d seit Mitte 17. J h . , im Sinne einer Weiterentwicklung von a, zunächst vor allem in der Medizin, dann zunehmend allgemeiner, bes. im technischen Bereich verwendet in der Bed. 'für alle/viele Zwecke/Gelegenheiten/Bedürfnisse verwendbar, brauchbar; allen Ansprüchen genügend; sämtliche/viele Funktionen auf einmal erfüllend; überall anwendbar, Allzweck-', auch 'alles Notwendige enthaltend', als Bestimmungswort bes. in Zss. wie Universalmittel, -medizin 'Allheil-, Allerweltsmittel', Universalmotor "Motor, der sich sowohl an Gleich- als auch an Wechselstrom anschließen läßt', gelegentlich auch scherzhaft/ironisch verwendet im Sinne von 'Einheits-', z . B . in Zss. wie Universalsauce, -kleidung; dazu vom späteren 16. bis ins späte 18. Jh. das Subst. Universal(e) "Universalmittel, -medizin'; e gleichzeitig, ebenfalls im Sinne einer Weiterentwicklung von a, auf Personen bezogen in der Bed. '(schöpferisch) vielseitig, auf den verschiedensten (Fach-)Gebieten bewandert, beschlagen, allseitig gebildet' (Ggs. —* spezial-), bes. in Syntagmen wie (ein) universaler Kopf, Geist, Mensch und als Bestimmungswort in der Zs. Universalgenie 'das gesamte Wissen seiner Zeit beherrschender, auf vielen (Fach-) Gebieten versierter, schöpferisch tätiger Mensch', selten auch für 'praktischer, patenter Mensch' und ironisch verwendet im Sinne von 'Alleskönner, Tausendsassa'; gelegentlich auch von den geistigen Fähigkeiten des Menschen für auf die verschiedensten (Fach-)Gebiete bezogen; die verschiedensten (Fach-)Gebiete umfassend', in Syntagmen wie universales Wissen, universale Begabung und in der Zs. Universalbildung. Dazu im 17./18. Jh. das aus dem Lat. übernommene Adv. universaliter 'insgesamt; ganz, total; allgemein, generell; überall gültig' (vgl. a, b und c). universal a: Luther-Emser 1521 Str. II 206 Zum dritten so wilt du ex puris particularibus schliessen Vniversalem, Welches so ein loß argument ist, das ich mich schier von deynetwegen scheme; Paracelsus 1536 Wundartzney II Der dritt [Traktat] zayget an dreyerlay haylung imm Vniuersal, vnnd inn zway Particular (Oberschr.); Wallhausen 1615 Kriegskunst zu Fuß 152 Gleich wie nun die Parade ist zweyerley, particular vnd universal, vnd die Ablossung der Wachten auch zweyerley: Eine mit getheilten Truppen: Die ander mit vnzertheiltem Corpo; 1648 (Wigand, Denkwürdige Beitr. 70) Märsche, Rückmärsche, Universal- und Partiku3

lar-Durchzüge der Truppen; Seckendorf/ 1665 Fürstenstaat II 74 [ist] an vielen Orthen ein universal-Werk entstanden, daß also gantz Provincien in ein corpus zusammen gewachsen; A. v. Frankenberg 1667 V. d. rechten Kirchengehen 22 so man alle dinge in und mit dem grossen universal Geist des Herrn in seiner Majestät ansiehet und betrachtet; 1703 Gefährtin z.d. Isar-Gesellschafft III 39 Declarirung dess offenbarlichen UniversalReichs-Krieg wieder Spanien; 1733 Gedanken ü. Verfall d. Buchhandlung 29 Universalwercke . . . Die gantze Welt mit allen . . . merckwürdigkeiten soll künftig in einigen folianten gleichsam concen-

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universal

trirt zu sehen seyn; Maister 1750 Maria Majer 4 zur Universal-Erbin eingesetzt; Schlözer 1775 Briefw. statist. Inh. Vorr. 2" da auser Teutschland kein Reich Universal-Messcatalogos hat; Pfennig 1783 Erdbescbr, 1 Universalkarten [umfassen] die ganze Oberfläche der Erde; 1786 Journal v. u. f . Deutschland II 478 die Herausgabe eines Universilidiotikons, oder eines aus Vergleichung aller Provincialidiotikons entstandenen deutschen Idiotismlexikons; Vico 1822 Leben (Übers.) 36 angefangen, seine Seele universal zu bilden; Friederich 1825 Ebrard 217 Eine Universal-Bibliothek wäre eine andere Leidenschaft von mir; 1829 Baier. Int'Bl. (Isar) 586 Das königl. Landgericht hat. . . die Eröffnung des Universal-Concurses beschlossen; Westenrieder 1828 Mü. II 263 Universallexika für alle menschlichen Bedürfnisse; Kohl 1845 Paris II 246 Versailles ist gleichsam die UniversalVolksgeschichte Frankreichs; Hettner 1850 Schule 57 Die romantische Poesie will . . . „progressive Universalpoesie" sein; Raumer 1861 Leben I 125 es soll . . . an die Stelle der Universal- eine Particularaccise treten; Rose 1884 Revanche 197 Universalerben der alten Meister des Helldunkels; Liman 1904 Kaiser 296 Der Universalgedanke des alten römischen Reiches deutscher Nation liess eine Entwicklung im deutschnationalen Sinne nicht zu; Massow 1913 Politik 55 Die römisch-katholische Kirche ist . . . eine Universalkirche . . . laut Dogma; Franken 1913 Schneide 93 Köppensche Lebensauffassung, die sich zutraute, mit allem fertig zu werden, was des Eingriffs verlohnte, ein universales Lebensgefühl; Oncken 1914 Aufs. I 213 Der Politiker ist national, der Historiker ist universal; Jäger 1914 Reden 5 Konzeption der Idee einer universalen Altertumsforschung; Hefte f . Büchereiwesen 12 (1928) 274 könnten wir für die einzelnen Kunst-, Kultur- und Wissensgebiete Universalverzeichnisse herausbringen, die alles enthalten; Brandl 1936 Inn 238 Trübners Sinn für das Universale; Köln Ztg. 27. 6. 1944 Der Universalarzt für den Betrieb (Oberschr.); Neue Ztg. 11. 11. 1946 Damals war der Kellner noch der Universalerbe eines inzwischen kriegsverkrachten Millionärs; Gmelin 1950 Zyklenroman 10 die Idee des Romans als eines Universalkunstwerkes; Stuttgarter Ztg. 10. 11. 1967 weil das Große Duden-Lexikon das Universal-Kompakt-Werk neuen Stils ist. universal b: Luther 1539 Konziliis 522 Die grossen Concilia odder die Universalia haben solchen namen daher, da die Bisschove von dem Monarchen, dem grossen heubt oder universal, sind aus allen Landen zusammenberufft; ebd. 531 des Concilium zu Nicea nicht vergessen, welchs das beste und erste universal ist, nach der Apostel

Concilium; Münster 1544 Kosm. 18 Soliche halbe Kugel habe ich beschriben nach der vniuersal tafel; Mithobius 1552 Seuche d. Pestilentz B2" den lauff des Himels, welchen auch Aristoteles uniuersalem heist; 1637—48 Instruktionen 389 die praeliminaria zue diessen universal fridenstractaten; Borne 1641 Consultatio D2h Die Universal verwüstunge giebet genugsamb zuerkennen, daß Gott auch an vns wahr gemachet; ebd. D3h Das dritte Laster . . . ist zwar nicht so universal vnd offenbahr; 1649 Ber. v. d. Kriegen L3" Es sol sein ein Christlicher Vniversal, überall gemein vnnd ewiger Friede; Wegelin 1681 Gottes Finger 42 dess Universal-Ruins, der ersten und anderen Welt; Sturm 1702 Arch. mil. 28 Diese Constitution . . . ist artig gemachet, und desswegen sonderlich zu loben, weil sie universal [ist]; 1712 Diogenes A2" umb zu der erhofften Universal-Monarchia zu gelangen; Bertram 1728 Einleitg. 153 Unter den Compendiis der Universal-Historie verdienen im lateinischen Boxhornii . . . die erste Stelle; Hübner 1729 Bibl. Gen. 6 Von der Universal-Genealogie. Das Wort Universal wird entweder in einem geographischen, oder in einem chronologischen Verstände genommen; Biantes 1731 Historicus 137 bey der universal gewordenen Quacksalberey; Beust 1743 Consiliarius 76 dieses Universal- oder allgemeine allen Völckern vorgeschriebene, also aller Völcker Recht, oder Jus Gentium; ebd. 77 wird das göttliche Universal oder allgemeine und aller Völcker Recht, in das Natural- und MoralRecht getheilet; Philippi 1743 Witz u. Geschmack 250 Universal- und Special-Historie; Ludewig 1747 Discours 368 eine uniuersal-monarchie auf dem Erdkreiss einzuführen; Joseph II. 1785 Br. 76 Die deutsche Sprache ist Universalsprache meines Reichs; Moritz 1786 Reiser II (LD XXIII 132) trug . . . eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor; Müller 1788 Fürstenbund 16 Es giebt nur ein Mittel wider Universaldespoten; 1796 Berl. Archiv. II 27 Vorschläge . . . zu einer Universal-Schrift oder einem Pangraph; Nicolai 1799 Bildung 36 dass ich in der deutschen Geschichte nicht fortkommen konnte, ohne von der Universalhistorie einen Begriff zu haben; Klüber 1809 Kryptographik 235 Die Finger- und Geberdensprache, gehörig ausgebildet und verbreitet, könnte als Universalsprache dienen; Athenstädt 1823 Eur. II 196 Glaubt man das Glück der Nationen etwa in Universal-Republiken zu finden; Savigny 1828 Beruf. Vorr. IX worin ich gegen den oberflächlichen Gebrauch der Universalrechtsgeschichte gewarnt habe; Schleiermacher 1829 Lehre III 565 Diese Frage bezieht sich auf die Ideen von Universalstaat und von allgemeinem Staatenbund; 1840 DVjS 1151 Die ganze Welt. . . muss als eine Universalrepublique von Kaufleuten

universal betrachtet werden; Görres 1845 Wallfahrt 55 Der Graal ist also ein universalhistorisches Symbol; Seyffarth 1855 Paris 12 der für 1855 angesagten Universal-Ausstellung in Paris; 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 46 so würde die äusserste Consequenz des Herrschtriebes zur Uniformität eines Universalstaates, eines Universaldespotismus, eines Universalbekenntnisses führen; Scherr 1868 Von 48 II 1, 2 Bis einmal etwa ein . . . Komet das kleine Erdennichts im grossen Universalnichts verschwinden macht; Rümelin 1875 Reden II 5 Ausbildung eines universalen und weltgiltigen Rechts; 1884 Gaea 226 Auf dem Gebiete der Eisenbahneinrichtungen erscheint . . . auf den ersten Blick die Einführung einer Universalzeit (das Universaldatum an sich hat dort überhaupt keine erhebliche Bedeutung) . . . schwieriger; Euchen 1901 Wahrheitsgehalt 59 Begründung der universalen Religion; Marcuse 1905 geogr. Ortshest. 98 die transportabeln, also kleineren Instrumente dieser beiden Gattungen, welche als Theodolite oder besser Universalinstrumente, Sextanten oder allgemeiner Spiegelinstrumente . . . in der astronomischen Meßkunst vorkommen; Hettner 1915 Englands Weltherrschaft 253 Heute liegt die ozeanische Periode der Weltgeschichte hinter uns und wir befinden uns inmitten der Periode, die ich als die universale bezeichnet habe; Spann 1923 Fundament 188 die universale Lebendigkeit aller Wirtschaft; Curtius 1925 Geist 257 In der Sphäre der universalen Kulturtheorie ist also Deutschland der einzige Konkurrent Frankreichs ; Zimmermann 1936 Bildungsaufgabe d. Gesch. 7 ein Nationalismus . . . der in Christentum und Humanismus universal begründet und universal ausgerichtet ist; 1941 Geopolitik 21 Im Gegensatz zu dem universalen Herrschaftsanspruch Englands hat Deutschland sich als Ziel die Schaffung einer neuen regionalen europäischen Wirtschaftsordnung gesetzt; Münch. N. N. 24.125. 10. 1942 Paris ist plötzlich voll von Flöhen. Es scheint sich um eine ganz besonders blutdürstige Art von Universalfloh zu handeln; Kaegi 1946 Meditationen I 49 A m Anfang der jüngern europäischen Geschichte steht ein universaler Großstaat; Süddtsch. Ztg. 21. 6. 1952 So wirken die besten Werke sowohl französisch, englisch oder deutsch wie europäisch und sie unterliegen einer Universalströmung; Tritsch 1954 Erben 204 Geld als Universalaustauschmittel; Rosenstock-Huessy 1955 Mensch (Übers.) 162 U m 1000 ist die Kirche universal; das Wirtschaften ist individuell. Heute ist die Wirtschaft universal; Kirchen sind individuell; Jünger 1956 Sprache 6 [Leibniz'] Entwürfen zu einer Universalsprache und Universalschrift; Stuttgarter Ztg. 26. 3. 1962 hätten Gelehrte die konservative Behauptung von der Besonderheit der japanischen

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Geschichte verneint und diese . . . in die Universalgeschichte eingegliedert; FAZ3. 2. 1971 daß der technische und organisatorische Rahmen der klassischen Leipziger Universalmesse mehr und mehr gesprengt wird; Offenburger Tagebl. 5. 11. 1971 Unesco kann nicht Universalkultur verbreiten (Uberschr.); Mannh. Morgen 2. 12. 1980 Universal in der Form, indisch im Inhalt (Uberschr.) Kunst ist international, erklärt er . . . Indisch sei allenfalls der geistige Inhalt. Universal: Marcuse 1905 geogr. Ortsbest. 177 Ist das Universal zu Beobachtungen in den Polargegenden bestimmt; ebd. 181 was schließlich die Preise von Reise-Universalen und Libellenquadranten betrifft, so kann hierfür nur ein beiläufiger Anhalt gegeben werden; ebd. 211 Werden die Messungen mit einem Universal ausgeführt. universal c: Wasserleiter 1590 Logica 30h Vniuersal, Das das End mancherley sey, vnd das eines dings mehr Ende oder Ziel sein, leret neben der Erfarung auch Rodolphus; Florentinus de Valentia 1617 Rosa C4b durch natürliche Chymische Universal-Kunst; Böckler 1683 Haus- u. Feldschule 469 daß wir hierinnen nicht gesinnet, eine Universal-Anweisung zu thun, nemlich wie der WeinBau an allen und jeden Orten . . . sole geführet werden; 1710 Antwort Schreiben Vorr. 2a Es kommet darinnen [in einem philos. System] auff eine vniuersal Proposition an, und derselbigen sind sehr wichtig. Etliche sagen, es wäre gar keine in der Welt; Bertram 1728 Einleitg. 25 die in allen Sprachen vorkommende Uniuersal-Regeln, von der Buchstaben, Sylben, Wörtern und derselben richtiger Zusammensetzung; 1754 Possen 13 Universal-Beobachtungen durch das ganze Reich der Wissenschaften; Basedow 1764 Philatelie II 44 wodurch die Gelehrten gehindert werden, der Welt feststehende Universal-Begriffe mitzutheilen; Dorner 1864 Rede Univ. Berlin 5 [ist es] Zweck der Universität, Wissen zu erzeugen, Wissen aber ist wesentlich universaler Art; Dilthey 1867 (V 12) die universale Aufgabe der Philosophie; Lange 1866 Materialismus II 74 Die neue Philosophie machte . . . die Anthropologie . . . zur „Universalwissenschaft"; 1874 Grenzboten IV 450 die universale Auffassung, die es versteht von verschiedenen Standpunkten aus eine Sache zu sehen; Lokal-Anz. 17. 3. 1931 Das große, ständig welterobernde England verläßt heute den universalen Begriff und beginnt sich . . . zu spezialisieren; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 59 enthält eine Grammatiktheorie auch Aussagen über die Formulierung universaler grammatischer Gesetze, die einen Teil der Sprachtheorie ausmachen, nämlich den Teil, den

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man Theorie der grammatischen Universalien nennen könnte. universal d: Sebiz 1647 Sauerbrunnen 78 Nun ist die trink Cur ein solch universal mittel, welches den gantzen Leib beides alterirt vnd vacuirt; Glauber 1655 Op. Min. 151 ein universal Medicin in allen Kranckheiten; 1715 Glauberus Conc. 11 Dass das Nitrum das wahre Solvens universale sey; ebd. 595 Wann eine Medicin den Namen Universal führen solle, so muss dieselbe nicht nur universaliter auf die 3. Reiche würcken, als die höchste Artzney; Marperger 1716 KUchendict. 976 Sonderlich ist der Bircken-Safft eine UniversalMedicin wider den Stein; 1718 abentheuerl. Welt II 16 Dort findet man genug Universal-Tincturen, womit man schon gethan viel tausend WunderCuren; Schaarschmidt 1742 Med. Nachr. 1236 die Nichtigkeit derer allgemeinen, oder sogenannten Universal-Mittel; Geliert 1751 Br. IV 208 Ich habe mir immer sagen lassen, dass ein Kuss von einem lieben Mädchen eine halbe Universalmedizin seyn soll; Michaelis 1770 Raisonnement II 90 [er] sieht aus wie der Mann mit dem gestickten Kleide, der eine Universalmedicin verkauft; Volkmann 1778 Italien III 53 Anm. So wie bey uns mancher Arzt durch ein Universalpulver, Tinctur oder Balsam Geld zu verdienen sucht; Schubart 1780 Originalien 23 zugeschnittene Universalkleidung der Herren und Damen; Saussure 1781 Reisen durch d. Alpen (Übers.) I 26 Der verstorbene Micheli du Crest, der durch sein Universalthermometer bekannt ist; Lavater 1793 Nachgel. Sehr. II 97 Er bereitete sich selbst durch seinen Tod zu einem Universal-Arzt, ja zu einer Universal-Arzney für die sündige . . . Menschheit; Sintenis 1796 Dialogen 1187 wenn . . . ein . . . Arzt die Kartoffeln als Universalmittel empfiehlt; Lavater 1798-1800 Nachgel. Sehr. I 307 von diesem Ihrem geistigen Universal-Heilmittel unsers kranken Staates; Raumer 1849 Br. Frankf.-Paris I 70 G. hatte freilich ein Universalmittel in der Tasche; Willkomm 1857 Ammer 485 Willst du mich als solches Universalmittel für innere und äußere Schäden in Lohn und Brod nehmen; Banck 1863 Alpenbilder II 51 Das Universalkaffeegeschirr steht häufig die ganze Woche hindurch auf dem erhitzten Herd der . . . Küchen; Kümberger 1874 Siegelringe 244 Wenn Franklin nicht den Blitzableiter erfunden hätte, so hätter er den österreichischen Staat erfunden, diesen vortrefflichen Universal-Blitzableiter für Alles, auf was der moderne Staat blitzen und donnern muß; 1901 Brandenburgia 66 dass die Restaurants nicht einer der in manchen Speisewirtschaften üblichen sogen. „Universalsaucen" geliefert bekommen, sondern dass für jede Speise die geeignete „Tunke" besonders hergestellt werde;

Auffarth 1910 Offizier 125 mit dem in weiten Kreisen sich grosser Sympathie erfreuenden „Universalhemd"; Bahr 1925 Liebe 1149 Durch Gebet erlangt man alles, Gebet ist eine universale Arznei; B. Z. am Mittag 24. 2. 1931 Man fand bei ihm eine Brennerzange und mehrere Universalschraubenschlüssel; Berl. Illustr. Nachtausg. 1. 4. 1932 Manche Staubsauger- und Küchenmotoren sind . . . als . . . „Universal-Motoren" ausgeführt; Dtsch. AT.. 6. 7. 1935 In London sind über die bereits festgelegte Quote für Universaleisen . . . hinaus keine weiteren zahlenmässigen Festlegungen erfolgt; M.-A. Abendztg. 6. 11. 1944 hat in jahrelanger Arbeit einen Universalstuhl für Beinversehrte entwickelt; Süddtsch. Ztg. 8. 2. 1946 Universalmöbel für Ausgebombte (Uberschr.); ebd. 15. 7. 1955 eine Universal-Reinigungsmaschine mit vier Dutzend Hebeln, Knöpfen und Rädern säubert in einer Stunde alles, was man ihr anvertraut; Stuttgarter Ztg. 20. 5. 1958 Für die einzelnen Nationen oder Völkergruppen plant man vierzehn Restaurants, die allen Küchen und Geschmacksrichtungen der Welt Rechnung tragen, daneben aber ein riesenhaftes Universal-Restaurant, in dem alles aufgetragen wird, was Menschenhirne jemals an gastronomischen Kapricen ausgedacht haben. Der internationale Geist soll auch bei der Verteilung der Quartiere herrschen; Süddtsch. Ztg. 22. 1. 1959 hat die Beschaffungsstelle des Innenministeriums die Lieferung von . . . Universal-Taschenmessern ausgeschrieben. Sie sollen Klinge, Säge, Schraubenzieher, dreikantigen Pfriem, runden Pfriem und Korkenzieher enthalten; Stuttgarter Ztg. 31. 3. 1960 Bei der Küchenmaschine bevorzuge man . . . neuerdings die Spezialmaschine; der Umsatz der großen Universalküchenmaschinen gehe zurück; ebd. 11. 3. 1968 Alle neuen Aktivitäten werden mit dem verstärkten Trend zur Universalbank begründet, der im Wunsch der Kundschaft zum Ausdruck komme, alle Dienste einer Bank möglichst unter einem Dach in Anspruch nehmen zu können. Universal(e): Paracelsus 1570 Archidoxa A2b vnd zu widerstehn den kranckheiten: wölches sie durch dieses Vniuersal am trefflichsten erlangt; Florentinus de Valentia 1617 Rosa C4* werden mit Universali . . . (experimento) gross wunder und erschröcklich thaten verricht; Ettner 1715 Hebamme 805 gleichwie bey denen Kindern D. Ettners Hertz-Pulver ein rechtes Universal ist; 1787 Journal d. Moden II 159 Sie meynen endlich im Magnetismus ein Universale gegen den Hunger gefunden zu haben. universal e: Schupp 1658 Rel. a. d. Parnass 21 dann auff diese Weiß würde er universal und

Universalien begriffe alle Menschen; 1743 Reimschmiedekunst 216 ein solcher Universal-Kopf, der alle Wissenschaften ins Große überschauet; Schubart 1780 Originalien 164 Die Universalgenie sind verzweifelt rar; Schlegel 1801 Ehrenpforte 97 Doch glaubten diese Heiden, acht katholisch, An meines Universal-Geists Offenbarung; Waagen 1837 Kunstwerk I 217 Das universale Kunstgenie von Rubens; 1852 Prutz'Museum II 712 der universalste und grossartigste Dichter; Lühke 1892 Lebenser. 111 ein fast universales Wissen; Spranger 1927 Lebensformen 142 Unterschied zwischen spezialistisch und universal gerichteten Denkern; Ernst 1944 Essays III 298 Universal war sein Sinnen, universal war sein Trachten, universal war seine Wirkung; Neue Ztg. 9. 8. 1952 Schweitzers biographisches Interesse gilt weniger der Individualität als dem Gesamtgeist, der Universalpersönlichkeit Bach; Süddtsch. Ztg. 24. 8. 1957 Weder im praktischen Leben noch in der Wissenschaft gibt es heute noch universale Menschen, die sich rühmen dürften, den ganzen Bereich des menschlichen Denkens und Handelns zu beherrschen. Spezialisierung ist ein Merkmal unserer Zeit; Stuttgarter Ztg. 23. 1. 1962 Im kleinen

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Kreise . . . ist Kunstmann ganz der universal gebildete Mann des Ausgleichs; Offenburger Tagebl. 8. 9. 1964 Wenn auf irgendeine menschliche Gestalt der Weltgeschichte die Bezeichnung „Universalgenie" angewendet werden kann, dann auf niemanden als auf . . . Leonardo da Vinci; FAZ 21. 11. 1970 Universal-Genies [Goethe, Shakespeare, Einstein]. Trotzdem besaßen diese Männer zusammen nicht annähernd so viel Wissen wie Ihnen dieses neue Großlexikon bietet (Anzeige). universalisch: Schiller-Körner vor 1805 Briefw. I 136 Herder gibt ihm [Goethe] einen klaren universalischen Verstand, das wahrste und innigste Gefühl, die größte Reinheit des Herzens (KEHREIN). universaliter: 1683 Klatschmaul 26 universaliter; 1684 Zusahmen-Sprach v. d. Biicherschr. 64 universaliter; 1715 Glauberus Conc. 595 Wann eine Medicin den Namen Universal führen solle, so muss dieselbe nicht nur universaliter auf die 3. Reiche würcken, als die höchste Artzney; Glaser 1728 Kriegs-Bau-Kunst 22 die . . . universaliter angenommene militair Maxime.

U n i v e r s a l i e n PL, seit spätem 16. J h . selten, seit späterem 18. J h . häufiger nachgewiesene Entlehnung aus gleichbed. mlat. universalia (N. PI. v o n universalis < gleichbed. lat. universalis, —» universal), bis heute auch in der lat. (flekt.) F o r m nachgewiesen; a v o n der scholastischen Philosophie eingeführter, dann auch allgemeiner verwendeter Fachausdruck f ü r die als Abstraktionen aus Klassen v o n Gegenständen b z w . als Sprachzeichen zur Zusammenfassung v o n Einzelnem verstandenen (fünf obersten: Gattung, A r t , Unterschied, notwendige/zufällige Eigenschaft) Allgemeinbegriffe b z w . Prädikatoren (im Unterschied zu Individualbegriffen b z w . Eigennamen), bes. in der Zs. U n i v e r s alienstreit zur Bezeichnung der (in der Scholastik aufgekommenen und bis heute geführten) philosophischen Auseinandersetzungen um den Realitätscharakter der Universalien (vgl. —» Realismus); b in neuester Zeit als Fachausdruck der Linguistik in der Bed. Verschiedenen Einzelsprachen oder sprachlichen Subsystemen einer Einzelsprache gemeinsame semantische, grammatische u . ä . Strukturen'. Universalien a: Helmreich 1588 Rechenbuch Vorr. a3h Eudoxus Cnidius . . . hat am ersten die Meinung derselben Theorematum / welche vniuersalia genandt werden / noch besser gemehret / vnnd den dreyen proportionibus noch drey andere zugethan . . . Theudius ist ein fürtrefflicher Mathematicus vnd Philosophus gewesen / denn er zierlich vnnd wol die Elementa zusammen gesetzt / vnnd aus viel particularibus vniuersalia gemacht hat; Albertinus 1615 Gusman v. Alfarche 218 An andern / mustu nit allein die generalia oder

vniuersalia Juris wissen; 1702 Monat!Auszug 74 Universalia; Brucker 1731 Fragen I 559 Wie war seine Philosophie beschaffen? Man hat von ihm angemerckt: I. Daß er vorgegeben: es gebe keine universalia . . . II. Ingleichem: es könne nichts von dem andern praedicirt werden . . . Vielleicht hat Stilpo damit eben dieses gewollt, was die Secta Nominalium unter den Scholasticis behauptet; Diderot 1774 (Ubers.) I Vorher. 13 Jene erleuchteten Lehrer, die die Logik von den Universalibus und den Kategorien . . . gereinigt; Herder 1799

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Vernunft XXI 212 Von den Zeiten der Griechen an, durch alle Jahrhunderte der Scholastiker hindurch ist also eine Menge Universalien in Gang gebracht; Schopenhauer 1819 Welt II 215 Allgemeinbegriffe (Universalia); Goethe 1826 Br. XLI 90 Nun hat sich Zelter bey mir eingefunden, da denn das Particulare der Musik und die daran sich knüpfenden Universalia zur Sprache kommen; Schreiher 1857 GUFr. 59 in den Ideen, als in allgemeinen Urbildern der Dinge in Gott (Universalibus); Lange 1866 Materialismus I 173 der Gegensatz von Form und Stoff . . . die Frage der Existenz der Universalien; Kaufmann 1888 Gesch. d. Univ. 151 Die einen faßten nur die Einzeldinge als objektiv gegeben oder wirklich vorhanden, die Allgemeinbegriffe (Universalien), das sind die Bezeichnungen der Arten, Familien, Eigenschaften als Abstraktionen der Sprache und des Denkens. Sie wurden Nominalisten oder Terministen genannt, von nomen oder terminus. Die anderen faßten die Universalien als Sachen, res, und hießen danach Realisten; Willmann 1896 Gesch. II 597 Streit über die Universalien; Erdmann 1924 Kunst 262 Schlagworten der Nominalisten und Realisten: Universalia ante rem! Universalia post rem! Universalia in re!; Schott 1925 Sehr. 142 Wiederholung des mittelalterlichen Universalienstreites; Schmitz 1926 Dämon 49 den Universalienstreit der Scholastiker; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 99 Entthronung der Universalien; ZfMenschenkunde 4 (1928-29) 108 Universalienstreit der Antike; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 470 ein malender Realist, aber nicht im sensualistischen Sinne der Neuzeit, sondern im mittelalterlichen der universalia sunt realia; Münch. N. N. 29. 5. 1938 einen psychologisch überzeugenden Aufriss über die Entwicklung der Persönlichkeit aus der mit der heutigen Gemeinschaft nicht vergleichbaren Gemeinschaft des Mittelalters, das die „Universalien" zuungunsten des Persönlichen fast als das Allgemeingültige ansah; Blätter f . dtsch. Philos. 17 (1943) 396 Ein weiterer Fehler liegt in dem Harmonismus und Unitismus (bzw. Monismus) vieler moderner naturontologischer Erklärungen.

Die Morphologie gerät . . . in einen „Ideenrealismus", der den scholastischen Universalienrealismus von neuem aufleben läßt; 1957 Kathol. Glaube I 139 Die Universalien, der Inhalt der Allgemeinbegriffe, ist Berührung des Intellekts mit dem Sein schlechthin; Kamiah/Lorenzen 1973 Propädeutik 32 Es soll hier nur . . . auf jene Unterscheidung von Prädikatoren und Eigennamen aufmerksam machen, die seit Sokrates und Piaton durch die Jahrhunderte diskutiert worden ist: In beiden Fällen handelt es sich um „Namen" . . . für Gegenstände. Aber nur die Prädikatoren (die in der Tradition „universalia" heißen), werden „allgemein" verwendet; ebd. 172 Wir . . . überlegen noch, wie eine kritische Interpretation der traditionellen Lehre von den „Universalien", insbesondere der Platonischen Ideenlehre, anzusetzen ist. Indem wir uns mit generellen Sätzen über nichtendliche Gegenstandsbereiche befaßt haben, ist uns . . . klar geworden . . . daß auch Prädikatoren wie „Stadt", „Baum", „Atom" als „generell" bezeichnet werden können (die Tradition sagte: als „universalia"). Universalien b: 1979 Spr. d. Gegenwart XLVI 213 Oft fällt die Zuordnung [eines Wortes] zu einer Fachsprache schwer, nicht nur weil die Entlehnung aus dem bildspendenden Bereich historisch nicht mehr festzustellen ist, sondern auch, weil es Entlehnungen zwischen den einzelnen Fachsprachen gibt, die ein Verbindungsnetz von Universalien entstehen lassen. Soll man ein Wort wie Krise der Philosophie, der Medizin, der Politik oder der Wirtschaft zuordnen; Althaus/ Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 59 Eine Grammatiktheorie im Sinne Liebs ist eine Metatheorie, d.h. eine Theorie über Grammatiken, d.h. über Theorien von Einzelsprachen und über eine Sprachtheorie selbst. Damit enthält eine Grammatiktheorie auch Aussagen über die Formulierung universaler grammatischer Gesetze, die einen Teil der Sprachtheorie ausmachen, nämlich den Teil, den man Theorie der grammatischen Universalien nennen könnte.

Universalismus M. (-; vereinzelt Universalismen), Anfang 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu —» universal (und älterem Universalist, vgl. unten); in den verschiedensten (Fach-)Bereichen verwendet, a zunächst in der Theologie nachgewiesen und bis heute gebucht als Bezeichnung für eine Glaubenslehre, derzufolge der Heilswille / die Gnade Gottes sich unterschiedslos auf alle Menschen erstreckt; b seit früherem 19. Jh. vor allem im Bereich der Staats- und Gesellschaftstheorie in der Bed. ubernationales Denken, Kosmopolitismus; Supranationalismus, Uberstaatlichkeit' (Ggss. Nationalismus, Partikularismus, Föderalismus), gelegentlich auch auf die politischen Ziele von Staat oder Kirche bezogen für universeller Geltungsan-

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spruch', speziell '(imperialistischer) Weltherrschaftsanspruch, Imperialismus; Expansionsstreben; Weltherrschaftsdenken' (vgl. —» universal b); c seit Mitte 19. Jh. allgemeiner verwendet, bes. im Bereich von Kunst und (Geistes-)Wissenschaft, in der Bed. 'Streben, alles zu umfassen, Streben nach Einheit, Totalität; Ganzheitslehre' (vgl. —* universal a), auch für 'Streben nach Verallgemeinerung' und von daher 'Allumfassendheit; Vielfältigkeit, Mannigfaltigkeit; Allgemeingültigkeit, Allgemeinheit' (vgl. —» universal c), auch im Sinne von 'Vielseitigkeit', speziell von Personen für 'allumfassendes Wissen, allseitige Bildung; Weitläufigkeit' (Ggs. Spezialismus, —* Spezialist) (vgl. —> universal e), auch fachspr. in der Philosophie verwendet zur Bezeichnung einer Lehre, die den Vorrang des Allgemeinen/Ganzen gegenüber dem Besonderen/Einzelnen betont (Ggs. Individualismus) (vgl. —> universal c). Dazu schon seit spätem 17. Jh. belegtes, Universalismus in seiner Bed. a zugrundeliegendes, aus gleichbed. engl, universalist übernommenes Subst. Universalist M. (-en; -en) für 'Anhänger der theologischen Lehre, nach der der Heilswille Gottes sich auf alle Menschen ohne Unterschied erstreckt', speziell, meist pl., zur Bezeichnung der Mitglieder einer nordamerikanischen religiösen Sekte, die den theologischen Universalismus vertritt (vgl. —* Unitarier) (zu a), dann vor allem im Bereich von Kunst, Wissenschaft und Philosophie für 'jmd., der den Vorrang des Allgemeinen/ Ganzen gegenüber dem Besonderen/Einzelnen betont', auch 'jmd., der den Zusammenhang der Wissenschaft(en) vertritt' und Universalgenie, universaler Mensch, Geist' (Ggs. —* Spezialist) (zu c), und vereinzelt im politischen Bereich im Sinne von 'Kosmopolit, Weltbürger' (Ggs. Nationalist) (zu b); Mitte 19. Jh. die adj. Ableitung universalistisch, vor allem in der Bed. 'die Welt, die Geschichte in ihrer Gesamtheit umfassend, beherrschend' (Ggs. partikularistisch) und 'übernational, überstaatlich, kosmopolitisch' (Ggs. national(-istisch)) (zu b), dann auch, bes. in Wissenschaft und Philosophie, für 'das Allgemeine/Ganze dem Besonderen/Einzelnen überordnend; nach Allgemeingültigkeit strebend; allgemeingültig', auch '(eine Vielfältigkeit, Mannigfaltigkeit enthaltende/umfassende) Ganzheit, Totalität anstrebend' und 'den Zusammenhang aller Wissenschaften betonend; universale Tendenzen vertretend; enzyklopädisch' (Ggss. individuell, spezialistisch), gelegentlich auch von Personen für 'nach allseitiger, umfassender Bildung strebend, sie besitzend; auf allen/vielen (Fach-)Gebieten tätig, bewandert' (zu c), vereinzelt auch für 'den theologischen Universalismus vertretend, betreffend' (zu a). Daneben seit Anfang 19. Jh. die (wohl nach gleichbed. frz. universaliser gebildete und) selten nachgewiesene verbale Ableitung universalisieren V.trans., für verallgemeinern; nach dem Allgemeinen/Ganzen streben; etwas (z.B. eine Idee) weltweit verbreiten, für die ganze Welt, überall verbindlich, allgemeingültig machen; vereinheitlichen' (Ggs. individualisieren), vereinzelt auch reflex. verwendet (zu c), und vereinzelt für 'nach Uberstaatlichkeit streben' (zu b), mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Universali(si)erung F. (-; ohne PI.) für 'Verallgemeinerung; Streben nach universeller Gültigkeit; Vereinheitlichung; Vereinigung' (zu c) und vereinzelt für '(Streben nach) Uberstaatlichkeit, Entnationalisierung' (zu b).

Universalismus a: Herder vor 1803 (XLIV 109) Den christlichen Universalismus (KEHREIN); Campe 1813 Wb. 598 Universalismus, die kriti-

sche Lehre von der Allgemeinheit der Gnade Gottes gegen alle Menschen, weß Volks oder Glaubens sie auch sein mögen, entgegengesetzt

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dem Particularismus der ehemaligen Juden, welche sich für Gottes Lieblingsvolk hielten, und ihm zutrauten, daß er alle andere Völker verabscheue. Universalist: 1684 Zusahmen-Sprach v. d. Bücherschr. 69 Universalisten; Seckendorf"f 1685 Christenstaat I 619 Universalisten; Campe 1813 Wb. 398 Universalist, Einer, der eine allgemeine, zum Heil der Menschen angebotene Gnade Gottes behauptet, ein Allbegnadiger; Histor.-polit. Blätter 13 (1844) 837 Unitarier, Quäker, Shaker, Universalisten, Mormoniten; Görtz 1852 Reise I 271 Universalisten, einer gemüthlichen Sekte, in welcher jeder Mensch mit dem Tode selig wird; Bamum 1853 Leben 42 Mein Großvater war ein Universalist, und aus verschiedenen Gründen . . . ein heftiger Gegner des presbyterianischen Dogmas, wiewohl mit dessen Bekennern stets befreundet. universalistisch: Süddtsch. Ztg. 13. 11. 1953 wie in Amerika . . . universalistische Gedanken von der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden . . . stärker geworden seinen. Universalismus b: 1893 DVjS I 9 der Universalismus, oder wie er sonst genannt wurde, Kosmopolitismus, zu dem unsere Nationalität sich hinneigt; 1848 Denkschr. Gründung 7 Prozess der ideellen Selbsterzeugüng und Selbsterziehung des deutschen Volksbewußtseyns, in seinem Zuge zum Universalismus des Weltgeistes; Gutzkow 1875 Säkularbilder VIII59 Das Gefühl der Nationalität schwindet und macht einem Universalismus Platz; Hofmannsthal 1891-1901 Prosa I 18 als der Hellenismus der Diadochenzeit mit dem zäsarischen Universalismus Roms zu einem . . . Meer von Kulturelementen zusammenkam; Meinecke 1924 Idee 405 Der Universalismus der Aufklärung nährte also den Partikularismus des Staates; V'j'schr. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 18 (1925) 375 Nationen sind an sich Bewußtseinshöhepunkte . . . Es ist hier aber nicht der Ort, das Problem der „Europäismen" und „Universalismen" neu aufzurollen; Schmalenbach 1926 MA. 76 Der den nationalen Gedanken in der Auffassung des Mittelalters . . . übergreifende Universalismus; Harden 1927 Versailles 131 Der ausschweifende Universalismus dieses begabten Mannes [Barbarossa] hat zum Zerfall des Reiches nicht wenig beigetragen; Curtius 1930 frz. Kultur 7 Alle Geltungsansprüche des Universalismus sind auf die Nationalidee übertragen worden; 1932 Volk u. Reich 456 Österreich und sein Universalismus, der nach Ost und West ausgreift; Wilhelm 1933 Fortleben 16 im deutschen Reiche fehlte . . . die nationale Einheit, die sich . . . dem päpstlichen Universalismus hätte

entgegenstemmen können; 1939 Bücherkunde 335 Er sieht in ihr [Kirche] die Fortsetzung des altrömischen Imperialismus, eine großartige politische Erscheinung des Universalismus; Giuliano 1941 Latinität 41 den geistigen Universalismus Italiens zu bekämpfen; Näf 1845 Schweiz 36 Als Erben des kaiserlichen Reichsuniversalismus empfanden die Eidgenossen noch immer eine Verpflichtung für das Ganze; Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1946 Universalismus und Föderalismus (Überschr.) So lautet der Titel einer Schrift, die Franz Josef Hylander . . . veröffentlicht hat; Buber 1952 Gesellschaft 21 Das christliche Mittelalter nahm . . . den Grundbegriff des stoischen Universalismus in einer christianisierten Form auf . . . Weltstaat; Bonn 1953 Gesch. 103 erdumspannenden Universalismus der grossen Kirche; Saeculum 6 (1955) 106 die Ablehnung des kaiserlichen Universalismus der deutschen Herrschaft [im Mittelalter]; Curtius 1960 Büchertagebuch 31 Nationalismus und Universalismus sind im französischen Bewußtsein zu völliger Deckung gebracht; Andreas 1962 Napoleon 200 dieser glutvolle . . . Einsatz von Gentz gegen den fremdländischen Universalismus blieb wirkungslos; Winter 1964 Frühhum. 59 durch seine [Böhmens] enge Verbindung mit dem Reich, diesem schon damals in seinem mittelalterlichen Universalismus überholten Staatengebilde; FAZ 25. 3. 1970 Nur wer einem verlogen-lyrischen Kulturbegriff anhängt, der die Tatbestände in Wahrheit niemals traf, oder auch, wer einem unverbindlichen Universalismus huldigt, der die Verantwortung der geschichtlich fortgeschrittenen Kulturen nicht sehen will. universalisieren: Schmalenbach 1926 MA. 76 soll sich . . . alles Nationale, Temporelle, Lokale, Individuelle universalisieren lassen . . . wird . . . dem dieserart „Universalisierten" und . . . der . . . an sich schon universalen „Deutschheit" alle Kraft der Gegensätzlichkeit genommen. Universalisierung: Francisci 1941 Geist 200 der Entnationalisierung Italiens und der Universalisierung des [römischen] Reichs. Universalist: Keyserling 1926 Welt 72 Deshalb sind dessen [des ökumenischen Zustands] Wegbereiter nicht die Ausgleichspolitiker, sondern allein die heroischen Universalisten. universalistisch: Falke 1858 Trachten- u. Modenwelt II 14f. Wir sehen daher in der ganzen Welt, soweit sie der Mode folgt, seit der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts die nationalen Unterschiede verschwinden, bis Ludwig XIV., der Schöpfer des französischen Hofwesens und des

Universalismus französischen Absolutismus, auf Jahrhunderte hin Paris und seinem Hofe die unbedingte Herrschaft im Reich der Mode begründet. Aber dieser universalistischen Richtung tritt eine andere, die particularistische, gegenüber. Es war eine der Folgen der großen Umgestaltung im sechszehnten Jahrhundert gewesen, daß mit der Schwächung des Reichsoberhaupts die Landeshoheit der Fürsten sich festigte und erweiterte, und somit die einzelnen größeren oder kleineren Herrschaften an Selbständigkeit gewannen; Riehl 1864 Vortr. 1379 der moderne Geist des Parteiwesens war in seiner universalistischen Tendenz erweckt, er mußte sich nothwendig aus dem religiösen auch auf das staatliche Volksleben fortpflanzen; Eiserne Blätter 2 (1921) 7 Die jahrhundertelange Geschichte hat . . . dahin gewirkt, daß wir universalistisch sein müssen und kein dummstolzes, nationalstolzes, tierisch zusammengeschartes . . . Volk; 1928 ZfPolitik 362 Anm. Die universalistische Politik Karls V. und Philipp II.; Heinrich 1928 Grundlagen 8 Aus den Einsichten der universalistischen Krisenlehre . . . ergaben sich . . . neue Gesichtspunkte für eine Politik der Krisenverhütung; Niekisch 1929 Gedanken 5 der universalistischen Politik des mittelalterlichen Kaisertums; Deutsch 1938 Weg 13 Der universalistische Gedanke, der das deutsche Königtum zur Kaiserwürde führte; Träger 1940 römische Weltreich 9 die abendländische Form des universalistischen Wohlfahrtsreiches; Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1946 Hylander sieht die exemplarische Zeit deutscher Geschichte im Mittelalter: in der Epoche eines universalistischen Begriffs von der deutschen Aufgabe . . . Das universalistische Reich stand, von nationalistischen Verengungen noch unbedrängt, auf der christlichen Lehre und der . . . humanistischen Uberlieferung; Näf 1954 Bilder 166 dem universalistischen und vergleichenden Historiker; Wagner 1965 Historiker 51 Das alte Reich, der letzte Rest universalistischer Rechtsvorstellungen, bis zuletzt als Modell eines Klein-Europa hochgeschätzt. Universalismus c: 1854 Prutz'Museum II 702 die deutsche Literatur, die . . . am Fehler eines abstracten Universalismus leidet; Rümelin 1863 Reden III 389 Anm. kann sich der Schwabe . . . eines gewissen Universalismus, der in der Fruchtbarkeit und den klimatischen Verschiedenheiten des Landes seine Stütze findet, rühmen; Schöer 1870 Br. 463 Mit jenem deutschen Universalismus, der sich in jede fremde Individualität zu versetzen weiß, gab er die nordische Ballade und die südliche Romanze in deutscher Form wieder; Mommsen 1874 Reden 48 der Universalismus in dem Gebiet der Wissenschaft ist nicht einheimisch; Gutzkow 1875 Säkularbilder VIII 54 dass

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im Universalismus selbst das Individuum dadurch wieder erkannt wird, dass es eine isolierte Stellung erhält; Riehl 1885 Vortr. II 504 Im Lessingschen Geiste macht sie [die philos. Fakultät] den Universalismus spezialistisch und den Spezialismus universal; Schmidt 1886 Charakteristiken I 485 Goethes Universalismus keimt in der Epoche, da er, neue Bahnen suchend, dem Pfadfinder Herder begegnet; Meyer 1903 Studien 303 das völlig moderne, mehr politische Bürgertum in dem Sinne eines Trägers der Bewegung, der die schroffen Scheidungen der historischen Gesellschaft überbrückenden Verbindung, des Universalismus des heutigen gesellschaftlichen Lebens; Joachimi 1905 Weltanschauung 11 sein rastloses Einheitsbedürfnis und sein nimmersatter Universalismus; Kircher 1906 Philosophie 148 Indem so seine Gedanken immer mehr der Vermischung der Kunst und Wissenschaften zustreben, zieht der Universalismus seine letzten Konsequenzen; ebd. 263 Universalismus, Totalität war die Losung, kein trüber Ausgleich, Unger 1914 Studien 140 Der geistesgeschichtliche Universalismus im Sinne Goethescher Weltliteraturbetrachtung; Spann 1914 System 94 aus dem kosmologischen Universalismus folgt der ethische Universalismus, mit diesem ist dann von selbst der gesellschaftstheoretische Universalismus gegeben; Curtius 1921 Barrés 83 die geistige Richtung der jungen Generation. Sie stellt sich dar als kontemplativer pantheistisch gefärbter Universalismus; Borries 1925 Romantik 220 Der Universalismus, der ihrem Bildungsstreben innewohnte, drängte die Romantiker von Anbeginn aus der Beschränkung, in der auch sie Meister waren, heraus auf das gefahrvolle Meer der Universalgeschichte; 1929 Jahrbuch Dichtung 142 In einem seit Leibniz nicht mehr gekannten Universalismus der Interessen . . . befindet er [Lessing] sich selbst in einer ruhelos vorwärtsstrebenden Entwicklung; Muth 1948 Universitas 30 Wir erleben heute nach dem furchtbaren Geschehen des zweiten Weltkriegs eine Abkehr vom Materialismus und eine Rückkehr zu einem Idealismus und Universalismus; Hiller 1950 Köpfe 56 dass der Kerngedanke dieses Werks die Negation des „Individualismus" oder der „Einzelheitslehre" und die Position des „Universalismus" oder der „Ganzheitslehre" bildet; Horkheimer 1955 Reden 123 Vor seinem [Kants] Erbe . . . hält der Psychologismus so wenig stand wie der soziale Universalismus jeder Art; 1963 Definitionen 41 Wir leben aber nicht mehr im Zeitalter des Universalismus, sondern unter einer fortschreitenden Spezialisierung.

universalisieren: Wieland vor 1813 (XLII 174) Da sie ihre chymischen Arzneien zu sehr universalisirten (KEHREIN); Prokesch-Osten um 1850

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Kl. Sehr. IV 168 Sind . . . die Worte . . . Universalisiren und individualisiren verschieden; 1856 Mon'sehr. Wiss. V. Zürich 45 jeder Organismus will in seinem Kreise das Ganze werden, Alles an sich ziehen, sich universalisiren; Höhne 1928 Reportage 35 Alle Weiber haben das, was Schlegel an der schönen Seele tadelt. Sie sind vollendeter als wir . . . Sie sind geborene Künstlerinnen. Sie individualisieren, wir universalisieren; Paltz 1934 Renouvier 39 die religiöse Idee zu universalisieren; König 1935 Univ. 112 Es gelingt Fichte also nicht, die Idee des Kulturstaates zu universalisieren. Universali(si)erung: Schiller vor 1805 (XVIII15) Ist der innere Mensch mit sich einig, so wird er auch bei der höchsten Universalisirung seines Betragens seine Eigenthümlichkeit retten (KEHREIN); 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 45 Jeder Einzelne und jede Partei, jeder Staat und jedes Volk, jedes Glaubensbekenntniss und jede Staatsgewalt, jede Richtung in Kunst und Wissenschaft, folgt bewusst oder unbewusst diesem Universalisirungs- oder Herrschtriebe; Herrmann 1877 Miniaturbilder 160 die Nichtrücksichtnahme auf ein unbedeutendes Zuviel oder Zuwenig der Reisenden und die Zuführung des Transportes jeder Menge [kann man] Universalisirung nennen; ebd. 170 Individuenvereinigung oder Universalisirung; Berolzheimer 1914 Moral 58 die Ausbildung und Universalisierung der Menschheitsidee bleibt das Verdienst des Christentums; Keyserling 1926 Welt 61 Dieser Prozeß kann im Gang der Universalierung . . . an Intensität zunehmen . . . daß die künftige Vereinheitlichung der Menschheit zu einer in der Geschichte unerhörten Höherentwicklung . . . des Individuums führen muß; Schmitt 1939 Grossraumordnung 24 „Universalisierung" der Monroedoktrin durch Roosevelt und Wilson . . . war die Verfälschung eines echten Grossraumprinzips; Ryffel 1951 Ursprung 20 Die Relativierung der [philos.] Theorie hat zugleich deren Universalisierung gefördert. Universalist: Zincke 1751 Camer. Bibl. I 71 So kan man auch die Unterscheidung der Cameralisten in Universalisten und Particularisten . . . verstehen; 1750 Leipziger Sammlgn. VI 910 zu einem vollkommenen Baumeister oder Universalisten; Goethe 1809- 29 M. u. R. Nr. 419 Diejenigen, welche ich die Universalisten nennen möchte, sind überzeugt und stellen sich vor: daß alles überall, obgleich mit unendlichen Abweichungen und Mannichfaltigkeiten, vorhanden . . . sei; Riehl 1869 Vortr. I 10 Himmelweit davon verschieden ist der wahre Universalismus, welcher . . . die Wissenschaftsgröße eines Zeitraums kennzeichnet. Er gründet nicht im Vielwissen als solchem, sondern in der weitragenden Gedanken-

macht schöpferischer Geister, welche Resultate und Methoden verschiedener Wissenskreise verbinden . . . Das vermochten die Scholastiker nicht, eben wegen ihres Specialismus der Vielwisserei, aber echte Universalisten wie Kant, wie Lessing und Humboldt vermochten es; Dtsch. Dichtung 1 (1886) 123 Wir leben in einer Zeit, welche die Forschungsgebiete immer mehr abgrenzt und einengt und die Spezialitäter und Spezialisten in der Wissenschaft allein gelten läßt. Scherer war nicht bloß Universalist seiner Begabung und Neigung nach, er war auch ein solcher Spezialist; Friedeil 1931 Kulturgesch. II 451 Der Spezialist hat seine Seele hingegeben, ja man darf sagen, dass der Teufel ein Spezialist ist, wie Gott sicher ein Universalist ist; Brandl 1936 Inn 104 [des] Universalisten Leibniz; Zischka 1936 Monopole 269 Universalisten; Hinrichs 1952 Preussen 283 haben [Comenius] ganz zum Universalisten und Pansophen gemacht. universalistisch: Windelband 1894 Präludien II 130 Die wechselnde Vorherrschaft, welche . . . Philologie, Mathematik, Naturwissenschaft . . . ausgeübt haben, spiegelt sich in den verschiedenen Entwürfen zum „System der Wissenschaften" . . . Viel wurde dabei durch die universalistische Tendenz gefehlt, welche . . . alle Gegenstände dem Zwange einer und derselben Methode unterwerfen wollte; Joachimi 1905 Weltanschauung 31 [die Frühromantik] ist universalistisch in ihrer Tendenz; Spann 1914 System 261 Der universalistische Begriff des Individuums; ders. 1919 Geist 370 Sozialismus. Er ist, sofern er eine durchgängige Vergemeinschaftung der Volkswirtschaft . . . an die Stelle der autarken Wirtschaftsfreiheit setzen will, universalistisch; Vossler 1923 Universität 5 Die Polyhistorie des 17. und der Enzyklopädismus des 18. Jahrhunderts sind solche Versuche allseitiger Geistesbildung. Sie sind . . . zumeist aber gescheitert an zwei Klippen . . . mit denen man noch heute die Szylla und Charybdis des universalistischen Bildungsstrebens zu bezeichnen pflegt: pedante und dilettante; Lewy 1927 Soziolog. Methode 3 Die Herkunft der sogenannten universalistischen Soziologie aus der Romantik; Westphalen 1931 Grundlagen Vorw. VI der Wirtschaftsbegriff des universalistischen Lehrgebäudes . . . faßt [die Wirtschaft als organische Einheit, als gesellschaftliche Erscheinung] auf; Dtsch. AZ. 18. 1. 1935 Der deutsche Nationalismus, die aus Blut und Boden begründete Weltanschauung, ist nicht universalistisches Dogma; 1939 Geopolitik 738 das . . . nach „universalistischer" Allgemeingültigkeit strebende Ideal Spanns; 1947 Strömungen 141 sich auch . . . eine Abwendung vom positivistischen Wissenschaftsbegriff und eine Hinwendung zur universalistischen Auffassung bemerkbar macht.

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Universalität F. (-; ohne Pl.), Ende 17.Jh. (eventuell unter Einwirkung von gleichbed. frz. universalité) vereinzelt, seit späterem 18. Jh. kontinuierlich nachgewiesene Ableitung zu —» universal (vgl. lat. universalitas 'Gesamtheit, das Ganze', zu universalis, —> universal); eher bildungsspr. in den verschiedensten ( F a c h b e r e i chen verwendet, a zunächst in der Philosophie für '(durch logische Abstraktion/ Schlußfolgerung vom Individuellen/Besonderen oder von den Teilen auf das Ganze erreichte) Allgemeinheit; (durch logisches Schließen ermittelte) allgemeine Wahrheit', dann bes. im Bereich von Kunst und Wissenschaft, aber auch allgemeiner verwendet in der Bed. 'das uneingeschränkt, immer und überall überindividuelle Gültige; weltweite, allgemeine Verbindlichkeit' (vgl. d) und von daher für '(zeitlose) Allgemeingültigkeit', gelegentlich im Ggs. zu Individualität, Singularität, Spezialität (vgl. —» universal c); b seit spätem 18. Jh., vor allem bezogen auf (Bildung/Wissen/ geistige Fähigkeiten/Anlagen von) Personen, in der Bed. allseitige Bildung, alles umfassendes Wissen; Enzyklopädismus' und bes. auch für '(schöpferische) Viel-, Allseitigkeit; außergewöhnliche Schöpferkraft' (vgl. —» universal e); c seit Ende 18. Jh. selten nachgewiesen in der Bed. 'Gesamtheit; Totalität, Ganzheit; Unbeschränktheit, Unendlichkeit' (vgl. —» universal a), gelegentlich im Ggs. zu Individualität, Partikularität (vgl. d), im 19. Jh. vereinzelt auch kollektiv verwendet im Sinne von 'Gesamtheit aller (zu einer Institution, zu einem Verband o.ä. gehörenden) Personen'; d seit früherem 19. J h . , zunächst vor allem im politischen und gesellschaftlichen Bereich für 'weltbürgerliche Haltung, (Aus-)Richtung, kosmopolitisches Streben; Weltoffenheit; Weltbürgerlichkeit, Kosmopolitismus', dann auch allgemeiner verwendet für weltweite Verbreitung, Globalität, Internationalität' (vgl. a) und bes. für 'weltumfassender Charakter, Wirkungskreis von (politischen, kulturellen) Einrichtungen, Institutionen, Organisationen', in neuester Zeit vereinzelt für 'Uberstaatlichkeit' (vgl. —» universal b); e seit frühem 20. Jh. selten nachgewiesen in der Bed. vielseitige, -fältige An-, Verwendbarkeit, vielseitige Möglichkeit, eingesetzt zu werden' und 'umfassende Vielgestaltigkeit', bes. von technischen Geräten, Einrichtungsgegenständen o.ä. (vgl. —» universal d). Universalität a: Seckendorf 1691 Reden Vorr. 90 Universalität; Basedow 1764 Philatelie I 293 Ich will also die Schlußregeln vortragen, und ihnen bequeme Namen geben. Die Schlußregel aus der Universalität. Sie lautet: Was überhaupt wahr ist, das ist auch in besondern Fällen, oder von denjenigen wahr, was zur Gattung gehört . . . Ein Ding kann nicht zugleich seyn, und nicht seyn; also ist ein Theil eines Ganzen nicht zugleich kein Theil desselben. Die Schlüsse aus der Universalität sind also nur brauchbar, wenn die Universalerkenntniß früher da ist, als die Specialerkenntniß; 1800 Athenäum III 170 Goethe's Universalität ist mir oft von neuem einleuchtend geworden, wenn ich diese Art bemerkte, wie seine Werke auf Dichter und Freunde wirkten; Fichte 1801 Nicolais Leben VIII 82 mit den allgemeinen Recensionsanstalten, die auf Universalität der Wissenschaften . . . Anspruch machen; ders. 1807 Plan (Gedenkschr. I 93) dass der Ausdruck „Provincial-Universität"

einen Widerspruch enthielte, indem die Universalität [der Wissenschaft] das Besondere aufhebt; Bouterwek 1807 Ästhetik 267 Das Eigentümlichste der poetischen Schönheit ist ihre Universalität; Soden 1813 Ausführungen 12 die Universalität der Theorie des freyen Getreidt-Handels; Steffens 1817 gegenwärtige Zeit II 287 bei der anerkannten Universalität aller Wissenschaften; Tieck 1827 Krit. Sehr. IV158 Soll nun in dieser Haltlosigkeit, oder in dem Chaos . . . etwa die deutsche Freiheit und Universalität [des deutschen Theaters] bestehen?; Pückler-Muskau 1834 Briefw. III 87 Denn mit kühner Universalität malt er den süssen Duft der Blumen; Weimar. Jahrbuch 1 (1854) 205 Diese Universalität des [musikalischen] Styles; Scheidler 1859 Jen. Bl. I 28 die Universitäten sind Gesammtschulen wegen ihres Charakters der Universalität; 1860 SB. München 270 Universalität des Raumbegriffs; Mommsen 1887 Reden 154 Die Universalität und die Specialität, diese beiden

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Angelpunkte der Wissenschaft; Roscher 1899 Handel (System III 28) ist dasjenige, was wir jetzt Bildung nennen, diese eigenthümliche Mischung aus Universalität des Inhalts und persönliche Aneignung der Form, zuerst in den Städten herrschend geworden; Gröber 1910 Wahrnehmungen 20 Literatur und Kunst stellen nicht mehr Universalität und Individualität dar . . . sondern Singularität, das Absonderliche; Borchardt 1928 Handlungen 174 blieb ich . . . angeschlossen an die Poesie kraft ihres erneuerten Berufes zur Universalität; Delekat 1929 Gemeinschaft 7 Denn sobald ein Kulturideal mehr ist als bloss die theoretische Konstruktion eines einzelnen Philosophen, sobald es wirklich Fuss fasst in den Massen, verliert es sofort seine Universalität; Binding 1933 Br. 186 Ich glaube an die Universalität als Qualität des Geistigen; Balthasar 1947 Wahrheit I 15 Die Universalität derWahrheit is so umfassend, dass sie von keiner beschränkenden Definition umfasst wird; Schock 1952 Soziologie 307 Universalität der Psychologie und Soziologie; 1957 Beitr. GPhil. Fak. Freiburg 199 von philosophischem Universalitäts- bzw. Ganzheitsstreben; Mannh. Morgen 31. 7. 1980 Den seit rund einem Jahrhundert währenden Streit unter den Verhaltensforschern, ob die Universalität des [Gesichts-]Ausdrucks in der erbbiologischen Entwicklung oder im kulturellen Hintergrund begründet ist, entscheidet Ekman grundsätzlich zugunsten der Gene. Universalität b: Forster 1788 Kl. Sehr. 61 Ohnstreitig scheint aber auch unter uns diejenige Organisation den Vorzug zu behaupten, welche vor allen andern zu einer gewissen Universalität der Empfindungen . . . vorbereitet ist; Fr. Schlegel 1797-1800 Fragm. (Baxa, Ges. 51) [Richelieus] seltsame und beynah abgeschmackte Universalität erinnert an viele der merkwürdigsten französischen Phänomene nach ihm; 1798 Athenäum I 2,142 Urbanität ist der Witz der harmonischen Universalität; Schleiermacher 1799 Religion IV 72 Dass sie [Religion] allein dem Menschen Universalität gibt, habe ich . . . angedeutet; 1826 Kunstblatt 143 Universalität seiner Bildung; Oppenheim 1866 Verm. Sehr. 40 Denn die äusserste Individualität der Charaktere vereinigt sich in Deutschland mit der grössten Universalität des geistigen Lebens; Dtsch. Revue 25 (1900) I 288 Für uns Deutsche sind und bleiben Goethe und Wagner die leuchtendsten Beispiele fruchtbarer Universalität; Kircher 1906 Philos. 155 Shakespeares Universalität ist wie der Mittelpunkt der romantischen Kunst; Voss. Zig. 30. 3. 1932 Das ist ein Loblied auf die Universalität des Meisters; 1937 Literatur 563 es brauchte nur für die Universalität Liszts, für seine Geräumigkeit die entsprechende Weite;

Näf 1947 Univ. litt. 16 Wahre Universalität wird nicht durch Summierung von Einzelwissen zustandegebracht; Baden 1948 Sinn 152 Herder, der den Menschen noch in seiner ganzen Universalität repräsentiert; 1954 Begegnungen 146 beglückend, im Gespräch mit ihm zu erleben, dass es noch das gibt, war wir früher Universalität genannt haben; 1955 Dies Univ. III 46 Der Humanismus . . . ist der Lehrmeister der Universalität geblieben; Ritter 1958 Vergangenheit 262 Die „Universalität" des grossen Historikers zeigt sich . . . darin, dass er jedes Einzelproblem in einen universalen Zusammenhang zu stellen weiss; 1966 Leibniz 162 Der Inhalt der Briefe als Spiegel seiner geistigen Universalität; Stuttgarter Ztg. 4. 3. 1968 Werke, die die Universalität, Freiheit und Würde des Menschen zum Thema haben. Universalität c: Fr. Schlegel 1797-1800 Fragm. (Boxa, Ges. 67) ist ein gewisser gesetzlich organisirter Wechsel zwischen Individualität und Universalität der eigentliche Pulsschlag des höheren Lebens; Schwarzenberg 1844 W. I 118 Der Demos, die Universalität der Staatsbürger; Daumer 1862 Mansarde VI 152 die katholische Universalität, den ganzen Katholizismus; Liibke 1891 Lebenser. 272 wurde der Aufenthalt [in Rom] ein ganz andrer, als in jeder andren Stadt der Welt, dass eine volle Universalität des Studiums an die Stelle vereinzelter Betrachtung trat; Giuliano 1941 Latinität 109 Der deutsche Geist . . . scheint mit Vorliebe immer wieder von der Universalität der Schöpfung seinen Ausgang zu nehmen; Adorno 1958 Noten I 82 ein vollkommenes lyrisches Gedicht müsse Totalität oder Universalität besitzen; 1963 Märchen (Festg. v. d. Leyen) 24 In Goethes Roman drohte an die Stelle der transzendentalen Universalität die weltliche Totalität zu treten; FAZ 7. 12. 1970 Der Universalitätsanspruch der Kirche. Universalität d: Pfizer 1832 Briefw. 127 Universalität und kosmopolitische Richtung; Prutz 1854 Neue Sehr. 117 Jene ältere, die eigentlich gelehrte Journalistik, hatte . . . sich die Universalität zum Ziel gesetzt; Hundt v. Hafften 1864 Rechte II 206 „Universalität" der Menschenrechte; Imelmann 1877 70er Jahre 41 Fischart ist . . . in seiner weltoffenen Universalität . . . ein Typus germanischer Natur; Dingelstedt 1879 Bilderbogen 118 Lessing's Meisterwerk schien mir durch seinen Charakter reinster Humanität und kosmopolitischer Universalität eben auf diesen Tag zu passen; Tönnies 1906 Term. Vorr. XI die Universalität der englischen Sprache, als der Sprache des internationalen Verkehrs und Geschäftes; Rathenau 1917 Von kommenden Dingen 30 Denn das Wesen der

universell Mechanisierung schliesst Universalität ein; sie ist die Zusammenfassung der Welt zu einer unbewussten Zwangsassoziation; 1918 Deutschland u. Katholizismus II 24 die weltumfassende Universalität ist der deutschen Geistesart zweifellos eigen; 1923 Polit. Handwh. II 159 Universalität des Völkerbunds; Amholds Wochenher. 2. 5. 1931 daß gerade die Universalität der Krise auch eine Zusammenarbeit aller Länder zu ihrer Bekämpfung rechtfertigt; Friedrich 1937 Descartes 33 [Descartes] sprengt die lateinische Universalität durch die französische Sprache; Weizsäcker 1950 Erinn. 95 Ein nach Uberstaatlichkeit und Universalität strebender Bund; Münch. Stadtanz. 29. 1. 1960 In unserem Rechts- und Verfassungssystem gilt für

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die Gebietskörperschaften aller Ordnungen das Prinzip der Universalität ihres Wirkungskreises; FAT. 3. 9. 1971 die Universalität der schweizerischen Außenbeziehungen; ebd. 27. 10. 1971 Die Ankunft der Vertreter Pekings . . . nähert die Vereinten Nationen . . . jener Universalität, ohne die sie ihre Rolle nicht spielen können; 1972 Tagesztg. DDR o.S. die Notwendigkeit der Verwirklichung der Universalität der UNO (WDG). Universalität e: Brieger 1921 Pastell 127 ein gewisses Gefühl von der Universalität des Pastells, von den Möglichkeiten, mit ihm . . . alles auszudrücken; 1969 Kultur i. Heim o. S. Die Universalität unserer Möbelprogramme (WDG).

u n i v e r s e l l A d j . , A n f a n g 18. J h . u n t e r E i n w i r k u n g v o n gleichbed. frz. universel a u f g e k o m m e n e N e b e n f o r m v o n —> universal, anfangs vereinzelt in der frz. F o r m ; in den verschiedensten ( F a c h - ) B e r e i c h e n verwendet, a zunächst v o r allem auf (Bildung, Wissen und geistige Fähigkeiten v o n ) P e r s o n e n b e z o g e n in der B e d . '(schöpferisch) vielseitig, auf vielen/allen ( F a c h - ) G e b i e t e n b e w a n d e r t , beschlagen, versiert; allseitig (gebildet)' und gelegentlich auch für auf das G a n z e , die G e s a m t h e i t (der W i s s e n schaften) gerichtet; (all-)umfassend, weitgespannt' ( G g s . —» speziell); vgl. —> universal e ; b gleichzeitig in der B e d . 'die ganze W e l t umfassend, w e l t u m s p a n n e n d ; über die ganze W e l t , weltweit verbreitet, weitverbreitet', bes. auch für u b e r a l l / a n vielen O r t e n in gleicher Weise vorhanden (und daher) ü b e r a l l / a n vielen O r t e n in gleicher W e i s e gültig, allgemein verbindlich' (vgl. c) u n d global, international', bes. v o n kulturellen u n d gesellschaftlich-politischen P h ä n o m e n e n ; vgl. —* universal b, vereinzelt auch nachgewiesen für 'weltbürgerlich, k o s m o p o l i t i s c h ; überstaatlich, -national'; c seit späterem 18. J h . , bes. im Bereich v o n Philosophie, K u n s t und Wissenschaft, in der B e d . 'allgemein; prinzipiell, unbeschränkt, zeitlos gültig, verbindlich, allgemeingültig'; vgl. —> universal c ; selten auch für 'das ü b e r g e o r d n e t e G a n z e , Allgemeine betreffend; auf G a n z h e i t , Totalität gerichtet; g a n z , total', gelegentlich im G g s . zu partikulär und individuell v e r w e n d e t ; vgl. —> universal a; d seit E n d e 18. J h . selten belegt in der B e d . vielseitig, -fältig einsetzbar, b r a u c h b a r ; für alle/viele Z w e c k e , Bedürfnisse (zugleich) v e r w e n d b a r ' ; vgl. —» universal d. universell a: Thomasius 1701 Kl. Sehr. 11 erfordert er / daß ein Gelehrter / so sich dieses Titels würdig machen will / einen Verstand haben müsse / qui soit solide, brillant, penetrant, delicat . . . universel . . . daß er geschickt sey alle Sachen wohl zu unterscheiden; Schuhart 1771 Vorlesg. Mahlerey 24 Albrecht Dürer, dieses universelle Künstlergenie, war der erste, der die Ideen zu Kupferstichen hatte; Müller 1773-79 Br. 82 Dieser Sulzer, dieser liebenswürdige, dieser universelle, dieser tugendhafte Weise; Meusel 1788 Mag. I 19 Graf Bunau war eben ein universelles Genie, den nichts so leicht beschränken oder irre machen konnte; Fr. Schlegel 1801-2 Vorlesgn. 198 der

universelle Meister; Burckhardt 1844 Br. a. Kinkel 81 O diese verfluchte universelle Bildung, die man alle Tage in den Himmel erheben hört; Riehl 1859 Culturstudien 406 ein Mann von universeller Bildung; Strauss 1872 Glaube 306 Das ist . . . das Mindeste, dass er [Lessing] so universell auftritt: Kritiker und Dichter, Archäolog und Philosoph; Memminger 1878 Alpenbahnen 35 umfassende universelle Bildung; Heigel 1881 Charakterbilder 30 nur einem deutschen Gelehrten trat er [Prinz Eugen] näher, dem universellsten Geist des Jahrhunderts, Leibniz; Lübke 1891 Lebenser. 156 Kugler in seiner nahezu universellen künstlerischen Begabung; Janitschek 1916 Wildes Blut 37

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universell

Ich zweifle nicht an ihrer universellen Gelehrsamkeit; Hauptmann 1924 Insel 33 ein zum Universellen strebender Bildungsgang; Schweitzer 1924 Kindheit 46 ein hervorragender Schulmann, ein universell gebildeter Philologe und ein tiefer Mensch; Schmitz 1926 Dämon 17 mein Vater, selbst höherer Beamter, doch im Besitz einer universellen Geistes- und Weltbildung; Voss. Ztg. 19. 7. 1929 Hussein Suats Angriff gegen das „universelle Genie Shakespeares"; Süddtsch. Ztg. 21. 11. 1952 ein universeller Erforscher der geschichtlich-philosophischen und geistesgeschichtlich-ästhetischen Zusammenhänge innerhalb der europäischen Welt. universell b: 1705 Auserlesene Anm. II 203 So können auch solche die Apostel nicht absolute vor gut gehalten /sondern sie müssen entweder auff die schon einmahl eingerissene vniuerselle corruption oder nur auf die traditiones ludaeorum . . . reflectiret haben; Schiller 1789 Geisters. (13) 172 sich in einen gewissen Stand universeller Gleichheit begeben; Fr. Schlegel 1796—97 Fragm. (Baxa, Ges. 51) Man kann die französische Revolution als das grösste und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein universelles Erdbeben, eine unermessliche Überschwemmung in der politischen Welt; Steffens 1817 gegenwärtige Zeit 1171 Das Papstthum war seiner Idee nach universell; ebd. II 355 Entspringt der Handel, wenn auch seinem Ziele nach universell, aus der Nation selber; ebd. 437 Rom, in der glänzendsten Epoche seiner universellen Größe; Ranke 1829 Briefwerk 203 Auch ist die ganze [italienische] Nation weit mehr von landschaftlichem als vaterländisch universellem Sinn durchdrungen; Burckhardt 1839 Br. 1108 dass er . . . den universellen Cosmopolitismus gegen den Patriotismus in Schutz nahm; Hoffmann v. Fallersleben 1840 Unpolit. Lieder I 203 Geld und Brot, und Brot und Geld! So schreit die Welt; Das ist die einzige Mannigfaltigkeit In dem langweiligen Liede unsrer Zeit. Brot ist das einzige Universelle Unsrer Universitäten; Niendorf 1854 Paris 76 Dabei ist der Louvre Bühne überraschender Entdeckungen, universelles Stelldichein; Honegger 1865 Literatur 296 [nach 1848 beginnt] eine Umgestaltung universellsten Charakters; Hartmann 1891 Pessimismus 154 Steht nun der „universelle Weltschmerz" für die Uberzeugung des Dichters fest, so kann die pantheistische Wesenseinheit von Gott und Welt diesen Weltschmerz nur zum „Gottesschmerz" vertiefen; Kraus 1895-99 Br. Beil. Nr. 196 sie [Demokratie] sei . . . eine . . . sehr wandelbare, aber universelle Bewegung, welche darauf aus-

geht, alle Menschen . . . an den Wohlthaten der wissenschaftlichen Erkenntnis . . . theilnehmen zu lassen; Dtsch. AZ. 18. 1. 1935 Nach jahrhundertelangem Sieg der universellen Kirche kamen die verschiedensten Gegenbewegungen; Hinrichs 1952 Preussen 283 universelle Unität; 1964 Tagesztg. DDR o. S. [Die Bildung eines neuen Organs] in Form einer universellen internationalen Handelsorganisation, die bei der UNO wirken sollte (WDG). universell c: Goethe 1773 Fragm. (XXXII 180) Von der Pfropfung an wendet sich die ganze Sache. Lehre und Geschichte werden universell. Und obgleich jeder von daher veredelte Baum seine Specialgeschichte . . . hat, so ist doch meine Meinung: hier sei so wenig Particulares als dort Universelles zu vermuten; Fr. Schlegel 1796 Versuch (Baxa, Ges. 45) Der universelle und vollkommene Republikanismus, und der ewige Friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe; Bouterwek 1807 Ästhetik 303 In jeder vollkommenen lyrischen Composition muss ein universeller Gedanke herrschen, der aber als individuell erscheint; Harl 1812 Kriegs-Pol. Wiss. 12 ohne einen obersten Grundsaz sind keine universellen Gesetze (die allgemein gelten) denkbar; Peterssen 1870 Genrebilder 143 Das universelle Übel der Halbheit; Dtsch. AZ. 9. 1. 1935 Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß die Probleme und Resultate der Untersuchung universell seien. Ob freie Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, sei ohne prinzipielle Bedeutung; Heuss 1947 Gestalten 53 Das Grossartige seiner [Rankes] Vortragsart liegt in seiner universellen Betrachtungsweise; Eppelsheimer 1955 Schild 19 die europäische Leistung des universellen Ideals . . . die rationalen Leitideen augusteischer Prägunguniversell d: Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge II 221 Volkstäuschung, Maschinensklaverei waren die Hauptwörter, um durch zwar barbarisches, doch universelles Mittel dem kleinern Theile durch Aufopferung der größern Ruhe . . . zuzusichern; Dittmann 1858 Landw. 1 120 dass ein universeller Dünger nicht angenommen werden kann; Münch. Stadtanz. 7. 3. 1958 Papier — unverrückbares Fundament der Verpackungswirtschaft (Uberschr.) Von allen Verpackungswerkstoffen sind Papier und Pappe wegen ihrer universellen Verwendbarkeit am meisten gefragt; FAZ 17. 5. 1963 Universeller Maschinenbetrieb sucht Präzisionsfertigung für vorwiegend lohnintensive und komplette mechanische Bearbeitung.

Universität

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Universität F. (-; -en), im späteren 14. Jh. entlehnt aus mlat. universitas (magistrorum et scolarium) 'Körperschaft, Kooperation (der Professoren und Studenten); Rechtskollegium' ( U t i l i t ä t ) , i m s p ä t e n 1 9 . J h . gelegentlich die aus d e m E n g l , ü b e r n o m m e n e

N e b e n f o r m U t i l i t a r i a n i s m u s ; häufig auf englische Verhältnisse b e z o g e n e (historis c h e ) B e z e i c h n u n g für eine v o n J . B e n t h a m u n d J . St. Mill v e r t r e t e n e , gegen E n d e 1 8 . J h . a u f g e k o m m e n e , v o m p u r i t a n i s c h e n R a t i o n a l i s m u s beeinflußte R i c h t u n g d e r Sozial- u n d W i r t s c h a f t s e t h i k , die d e m g e m e i n n ü t z i g e n D i e n s t an d e r materiellen Wohlfahrt

aller M e n s c h e n h ö c h s t e n

Wert

zuspricht,

d a n n g a n z allgemein

zur

B e z e i c h n u n g einer ( p h i l o s o p h i s c h e n ) L e h r e , A n s i c h t , d e r z u f o l g e die M o t i v a t i o n menschlichen

Handelns

Nützlichkeitsdenken

im

besteht,

individuell häufig

und/oder

pejorativ

gesellschaftlich

verwendet

im

verstandenen

Sinne

praktisches, materialistisches N ü t z l i c h k e i t s - , Z w e c k m ä ß i g k e i t s d e n k e n ,

von

rein

Pragmatis-

m u s ; M a t e r i a l i s m u s (im D e n k e n u n d H a n d e l n ) ; Idealisierung, V e r h e r r l i c h u n g des

Utili tarismus

73

Nutzens, der Zweckrationalität', z. B. in Syntagmen wie platter, prosaischer Utilitarismus; dazu gleichzeitig die adj. Ableitung utilitarisch 'den Wert einer Sache/Person nach deren Nützlichkeit einschätzend, (einseitig) einem Nützlichkeitsstandpunkt verpflichtet, ausschließlich auf das Nützliche gerichtet' und 'die Lehre des Utilitarismus betreffend', gleichbed. mit seit Ende 19. Jh. nachgewiesenem Adj. utilitaristisch; seit späterem 19. Jh. die subst. Ableitung Utilitarier M. (-s; -) 'jmd., der einen Nützlichkeitsstandpunkt einnimmt, dessen Streben einseitig auf das Nützliche gerichtet ist, Materialist' und 'Anhänger (der Lehre) des Utilitarismus', gleichbed. mit seit spätem 19. Jh. selten nachgewiesenem Utilitarist M. (-en; -en); seit früherem 20. Jh. die seltene adj. Ableitung utilitär 'die Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit betreffend'. Utilitarismus: Buss 1843 Armenpflege I Vorw. XXXII die Tyrannei des ökonomischen Utilitarismus gegen alle höheren Culturen; Welti um 1860 Reden 7 [den] engherzigen Utilitarismus; Frantz 1870 Naturlehre 105 in der Weise des englischen Utilitarismus, der seinem Wesen nach alle tieferen Untersuchungen abschneidet oder umgeht, weil das Nützliche doch immer blos relativ ist; Welti 1879- 80 Reden 353 den Utilitarismus, den ärgsten Feind aller Wissenschaftlichkeit; Homberger 1889 Selbstgespr. 196 Auch in Carlyles Idealismus steckt im Grunde der englische Utilitarismus. Er idealisiert die Tüchtigkeit; Lübke 1891 Lebenser. 59 Verachtung der klassischen Studien, mit welcher sich der platte Utilitarismus unsrer Tage breit zu machen sucht; Seefeld 1895 Reisestudien 90 bei einem und demselben Volke [Franzosen] so viel Utilitarismus und Raffinement mit so viel Harmlosigkeit und kindlichem oder richtiger kindischem Sinn vereinigt zu finden; Ziegler 1895 Student 175 So bedroht ein flacher, platter Utilitarismus den höhen, freien Geist unserer Universitäten und arbeitet darauf hin, sie immer mehr zu einem blossen Aggregat von Fachschülern zu machen; Paulsen 1898 G. U. 1358 der mit dem 18. Jahrhundert aufkommende Geist . . . des polizeimässigen, prosaischen Utilitarismus; Engl. Studien 23 (1897) 333 wohin führt uns der Utilitarismus im Sprachunterricht?; HZ 81 (1898) 459 Sie [Renaissance] ist eben die Wiege des modernen Utilitarismus wie der modernen Kunst; Moll 1902 ärztl. Ethik 9 Auch mit anderen Moralsystemen, z.B. dem Utilitarismus, kommen wir bei einer ärztlichen Ethik nicht zum Ziel; Ziegler 1903 Kultur 29 leugnet der Mensch diesen letzten Zweck [seines Daseins] und setzt an dessen Stelle einen auf ihn selbst bezogenen alles umfassenden Utilitarismus; Paulsen 1907 Abhandlungen 523 Philologenregiment . . . das die Naturwissenschaft mit ihrem „Realismus" und „Utilitarismus" hasste; Jodl 1911 Vom Lebenswege I 16 Reicht der sokratische Utilitarismus zur Begrün-

dung des sittlichen Lebens aus?; 1913 Vorträge wiss. Probleme 121 Bildungsutilitarismus, der das leichter verwertbare rentable Englisch empfiehlt; Schaukai 1913 Zettelkasten 253 Bekenner des schnödesten Utilitarismus; Berolzheimer 1914 Moral 21 Lebe keusch, ruft der Utilitarismus, auf dass es dir wohl ergehe; ebd. 27 verkappter Utilitarismus, ein Nützlichkeitsstandpunkt; Schmitz 1914 Frankreich 51 den angelsächsischen Utilitarismus, den heute am rohsten Amerika vertritt; Lux 1915 Deutschland 134 alte, geheiligte Bäume vor dem Verderben durch den Utilitarismus zu schützen; Troeltsch 1916 Geist 124 Dem schroffen Supranaturalismus auf der religiösen Seite entspricht ein schroffer Utilitarismus und Praktizismus auf der weltlichen; 1918 Deutschland u. Katholizismus II 345 Die Ethik des Utilitarismus war nichts anderes als der ethische Niederschlag des Wirtschaftslebens; Spann 1923 Gesellschaftslehre 172 Des Benthamschen Grundsatzes, der die ausgebildetste Form des Utilitarismus darstellt; Meinecke 1924 Idee 521 Trocknete der Utilitarismus, den der moderne Grossbetrieb erzeugte, nicht die Quellen echter und lebendiger Geisteskultur aus?; Bahr 1925 Liebe I 262 An Utilitarismus kranken wir; 1926 Schule u. Wissenschaft 23 Die Psychologie des Utilitarismus lehnt es ab, in dem Menschen nur ein intellektuelles Individuum zu sehen; Harden 1927 Versailles 266 der Ausdruck eines frommen Utilitarismus, der in der Religion das nützlichste Werkzeug der Staatsraison sieht; Mayer 1927 Freihandelslehre 11 Bentham als Philosoph des Utilitarismus und Begründer des Manchesterliberalismus; Brie 1928 Strömungen 82 der Beginn des Viktoriazeitalters ist dadurch charakterisiert, dass der Utilitarismus weiter an Boden gewinnt; 1933 Melle-Festschr. 192 in ihrem [Aufklärung] bekannten eudämonistischen Utilitarismus; Stoye 1940 Spanien i. Umbruch 8 Ortega y Gasset . . . schreibt, die Annahme, nur grüne Landschaften seien schön, bedeute ein Vorurteil, und es sei ein Rest Utilitarismus im

74

Utilitarismus

Spiele, denn die grüne Landschaft verspreche ein bequemes, reichliches Leben; 1941 Grundformen. Leitaufs. XIX dass die Romantik für die Selbstgestaltung des englischen Wesens einen wichtigen Abschnitt bedeutet, so sicher ist sie nur eine Episode gewesen, die den Weg Englands in die Nüchternheit des platten Utilitarismus nicht . . . aufgehalten hat; 1950 Festschr. R. Thoma 117 der Utilitarismus, der mehr als irgend eine andere geistige Bewegung im 19. Jahrhundert in England zu einer Relativierung und Subjektivierung der absoluten Werte und damit der Auflösung des alten Vernunftglaubens geführt hat; 1953 Bildungsfragen 144 das Englische ist eine im Utilitarismus durch den Formenverfall abgesunkene Sprache; Tritsch 1954 Erben 224 Grundideen eines allgemeingültigen rationalen Utilitarismus; Fejtö 1956 Joseph II. (Übers.) 47 angeregt durch einen mehr praktischen als doktrinär begründeten „Staatsutilitarismus", begann sich die Verwaltung der Monarchie auf diese Weise von dem Wirrwarr mittelalterlicher Einrichtungen freizumachen; Schweitzer 1960 Kultur 252 biologisch-sozialwissenschaftliche Utilitarismus; Fischer 1966 Kunst 163 Utilitarismus der bürgerlichen Gesellschaft. Utilitarianismus: Lange 1866 Materialismus II 477 Selbst ein so stark zum Skepticismus neigender Schriftsteller, wie J. St. Mill, legt diese Grundanschauung in nahem Anschluss an Comte seinem ethischen System zu Grunde und verkennt nur in seinem „Utilitarianismus" das ideale . . . Element; Du Bois-Reymond 1874 Reden I 146 das Schleichgift des Utilitarianismus . . . Das Wort ist von John Stuart Mill eingeführt, wenn auch nicht erfunden; ebd. 1877 (I 273) Kein Wunder, dass Amerika die vornehmste Heimstätte des Utilitarianismus ward; Höffding 1896 Gesch. II (Reg.) Ebenso wie der Name: Positivismus bezeichnet auch der Name: Utilitarianismus ziemlich verschiedene Anschauungen, denn eine ethische Anschauung wird durch den zur Wertschätzung angewandten Maßstab nicht erschöpfend charakterisiert. utilitär: Lerchenfeld 1935 Erinn. 326 Der Revanchegedanke steckte doch allen Franzosen im Blut, wenn sie [ihn] auch aus utilitären Gründen zeitweise vergessen wollten; Zbinder 1969 Europa 63 von den USA in seinem utilitären Praktizismus bestärkt. Utilitarier: Douai 1864 Union 244 unter den Anglo-Amerikanern der Mittel- und Weststaaten, diesen Utilitariern par excellence; Scherr 1865 Blücher II 324 die Tiroler waren keine Klüglinge, keine Utilitarier, sondern nur ein naturwüchsiges

Volk, welches lange nicht gebildet genug war, um zu begreifen, daß es klug und praktisch, vor dem Erfolg und der Macht knechtisch-feig sich zu ducken; Homberger 1871 Selbstgespr. 248 [Emilia Peruzzi] ist . . . ganz Utilitarierin, nur dass es nicht so aussieht; Rümelin 1884 Reden III 125 die Utilitarier der Ehtik, die alles Angeborene leugnen; ebd. 133 die sittlichen Gebote, wie die Utilitarier und Materialisten sagen, [hätten] keine angeborene Wurzel im Menschengeist, sondern [wären] blosse Erfahrungssätze; Schmidt 1886 Charakteristiken I 423 Auch die Honoratioren nehmen der Poesie gegenüber meist den Standpunkt nüchterner Utilitarier ein; Jodl 1887 Vom Lebenswege I 104 Wenn die Erfolge, welche wir heute in der Leitung der Naturkräfte haben, weit über das hinausreichen, was jenen ersten „Utilitariern" erreichbar schien; 1916 Deutschland I 91 englische Utilitarier; Troeltsch 1916 Geist 71 der . . . durchschnittliche englische Utilitarier; ZGOberrhein 90 (1937) 247 Materialismus der Utilitarier; RF70 (1958) 35 ist doch im Gefolge Macauleys dieses Bild Bacons als eines („echt englisch", wie meist hinzugefügt wird) Utilitariers gang und gäbe geworden. utilitarisch: Cuendias 1847 Spanien 202 Der Fächer . . . dient ihr [Spanierin] — wie der norddeutsche Strickstrumpf, welcher utilitarischer und nicht ganz so hübsch ist — endlich als Liebestelegraph; Scherr 1870 Farrago 33 Ein mittels der Thätigkeit eurer exakten Wissenschaften recht utilitarisch sauber und bequem eingerichteter Schweinestall; Homberger 1875 Essays 297 utilitarische Bildung; ders. 1884 Selbstgespr. 65 das Unstoffliche, Unpuritanische, Unutilitarische der Moral Christi; Richter 1909 kunsterz. Ged. 244 Wenn sich die Kunsterziehung auch der Bildung der menschlichen Hand annimmt, so geschieht das . . . nicht in erster Linie zu utilitarischen Zwecken . . . sie verfolgt auch hier zuerst erziehliche Zwekke; Joel 1915 Weltkultur 32 Diese utilitarische Kultur des „Mittels"; Meinecke 1924 Idee 252 sah Naude das Problem der Religion ganz praktisch und utilitarisch an, — empirisch nüchtern, aber darum auch flach; 1950 Festschr. R. Thoma 119 trotz der schweren Erschütterung des Vernunftglaubens durch einen utilitarischen Subjektivismus und Relativismus im Sinne Benthams bis zum heutigen Tage. Utilitarist: Ihering 1884 Zweck i. Recht II Vorr. XXI Man wird ihn mit dem abgestandenen öden individuellen Utilitarismus verwechseln und mich schlankweg zum Utilitaristen . . . stempeln; Hofstätter 1956 Sozialpsych. 21 Mit der Aufklärung

Utilität einerseits und mit den englischen „Utilitaristen" andererseits. utilitaristisch: Ziegler 1895 Student 12 ein Geist des Strebertums sei auch unter Ihnen eingerissen und Sie denken bedenklich realistisch und utilitaristisch; Richter 1909 kunsterz. Ged. 43 im Zeichen ein utilitaristischer Zug, der den Übungsstoff lediglich mit der praktischen Brauchbarkeit im späteren öffentlichen Leben sichtet; 1907 Münch. Allg. Ztg. (Beil.) Nr. 157 daß der Gymnasiast über die Rüstung des römischen Kriegers genau orientiert wird, während es selbstverständlich als im höchsten Grade banal oder „utilitaristisch" oder „amerikanisch" gelten würde, ihm etwas über die moderne Armeeorganisation zu sagen; Meinecke 1915 Erhebung 89 Darum ist dem Individual- wie dem Staatenleben seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ausgesprochen voluntaristischer und utilitaristischer [Zug] zu eigen; Goldmann 1915

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Militär. 11 utilitaristisches Element; Meinecke 1924 Idee 382 seine [Friedrichs II.] Aussagen erwuchsen auf staatsutilitaristischem Boden; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 388 [die] utilitaristische Philosophie, die sich von Bacon herleitet; Spann 1929 Wissenschaft 5 Der Staat . . . als ein utilitaristisches Gebilde betrachtet; Brinkmann 1940 Liberalismus 34 ökonomisches und utilitaristisches Weltverständnis; Süddtsch. Ztg. 23. 1. 1959 Eine rein utilitaristische Kultur wird immer bis zum Ende gehen, das heißt, bis zu den Zwangsarbeitslagern; Schweitzer 1960 Kultur 240 Anm. Stuart Mill ist es, der den Ausdruck „utilitaristisch" als Bezeichnung der betreffenden Art von Ethik in die Philosophie eingeführt hat; Steenbeck 1967 "Wissen 124 Ich bedaure daher eine heute feststellbare utilitaristische Tendenz, die . . . nicht auf eine Stärkung der Universitas litterarum in der gemeinsamen Aufgabe zusteuert (WDG).

Utilität F. (-; selten -en), im frühen 18. J h . vereinzelt belegte Entlehnung aus lat. utilitas Brauchbarkeit, Nützlichkeit; Nutzen, Vorteil' (zu uti, Usus), im früheren 19. J h . neuentlehnt aus gleichbed. engl, utility ( < lat. utilitas); in der Bed. ^Nützlichkeit, Brauchbarkeit', häufig im Zusammenhang mit der Lehre des —* Utilitarismus, vor allem in Zss. wie Utilitätslehre, -prinzip, -denken, auch leicht pejorativ verwendet für reine Zweckrationalität, bloßer Materialismus', im 20. J h . vereinzelt bildungsspr. im lat. Syntagma sub specie utilitatis unter dem Aspekt der Nützlichkeit (betrachtet)'. Dazu Mitte 19. J h . aus gleichbed. frz. utiliser übernommenes, veraltetes, selten nachgewiesenes utilisieren TSJutzen aus etwas/jmdn. ziehen; nutzen' mit dem dazugehörigen, ebenfalls veralteten Verbalsubst. Utilisierung 'Nützlichkeitsstreben; Nutzbarmachung'; seit spätem 19. J h . die selten nachgewiesene, heute noch gebuchte subst. Ableitung Utili(ti)smus M. (-; ohne PI.) TJtilitarismus, Zweckmäßigkeitsdenken'; im frühen 20. J h . die vereinzelte adj. Ableitung utilistisch utilitaristisch' mit der in neuester Zeit vereinzelt nachgewiesenen Personalableitung Utilist M. (-en; -en) TJtilitarist'. Utilität: 1723 Gundlingiana XXXI 63 Ein jeder erkennet, daß er die Vtilität schon supponiret, und gleichwohl hat der die Ursache solcher Nutzbarkeit noch nicht entdecket; 1832 Jahrbücher d. Gesch. I 449 Benthams Utilitätslehre; Engels 1844 Lage Englands IV 308 stützte William Godwin . . . das republikanische System der Politik, stellte in gleicher Zeit mit J. Bentham das Utilitätsprinzip auf; Schwarzenberg 1844 W. I 10 Die grosse deutsche Vergangenheit mit ihren alten Städten, Mauern, Vesten, Burgen und Thürmen, — das jetzige Utilitäts-Leben mit seinen Weingeländen, Marktschiffen, Landhäusern und Stappelplätzen; 1854 Prutz'Museum II 949 kein (wahres oder vermeintliches) Utilitätsprincip; Banck 1863 Al-

penländer I 138 von dieser hölzernen Utilitätsfrage; Noe 1865 Voralpen 134 Auf dem grünen Plan, vor den Bäumen, grasen glockenläutende Kühe. Die Träger des Utilitätsprincipes dürften mir nicht in das Cabinetsstück; Scherr 1870 Farrago 442 die schändlichen Lehren einer seellosen Utilitätstheorie; Lecky 1870 Sittengesch. I 18 Utilitätsprincip der hobbes'schen Schule; Burckhardt 1879 Br. a. Alioth 87 was hilft den Londonern alle die hohe ästhetische Anregung, wenn dann doch um der blossen Utilität willen eine kolossale Verscheusslichung des Stadtanblickes entgegentritt; Rümelin 1880 Reden II 195 Erwägungen der Utilität; Zukunft 62 (1908) 137 [aus] Gründen wirtschaftlicher Utilität; Lokal-Anz. 26. 5. 1933 Dies ist

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Utopia

gleichbedeutend mit indirekter Bestechung, weil Coolidge . . . von großer Wichtigkeit für Morgans Utilitätsinteresse war; König 1935 Univ. 20 War in Halle ganz allgemein durch Thomasius und Franke der Utilitätsgeist des 18. Jahrhunderts geweckt worden; B. N. 21. 7. 1943 der militärischen Utilität; Muhs 1954 Gesch. II X, 194 Moral der Utilität; Wust 1947 Mensch IV 364 Der Grund dafür liegt darin, daß er sie nur vom Nützlichkeitsstandpunkt des Alltagslebens aus sieht („sub specie utilitatis"); Ritter 1958 Vergangenheit 31 Die bürgerliche Welt ist demgegenüber geistig wehrlos, solange sie auf dem Boden des rationalistischen Naturrechtes und der zugehörigen Utilitätsphilosophie verharrt; RF 70 (1958) 38 die „Hast der Utilität", die Windelband Bacon zum Vorwurf macht, wird für Bacon selbst ein Gegenstand des Tadels; Guggenheim 1961 Heimat 14 Ganz von der Utilität behaftet, materialistisch, teilnahmslos, unfähig zu höherem Gedankenflug; 1961 Haeresien 430 Der Drehpunkt des Umschlags vom autonomistischen Humanismus zu dieser mörderischen Entartung ist wohl dem Utilitätsdenken [zuzuschreiben]; Reitzenstein 1963 Städte 57 Es bedurfte der aus dem mittelständischen Süden vermittelten Stile, Renaissance, Barock, um dergleichen Blockformen gegen das Verdikt des Geschmacks (doch stets stärker als Utilitäten) zu behaupten. utilisieren: Schwarzenberg 1844 W. I 133 Rauschen des Nachtwindes in den schwarzen Locken

des Urwaldes, der noch nicht gestutzt ist durch die Friseurscheere moderner utilisirender Forstcivilisation; Hermann 1870 Staatswirthschaftl. U. 331 die Maschinenspinnerei utilisirt alle Fasern, welche bei der alten Handspinnerei verloren gingen. Utilisierung: Ranke 1854 Epochen W. G. IX 2, 4 Im 18. Jahrhundert gewann das Utilisirungsbestreben ein solches Terrain, dass vor ihr die Kunst und die ihr verwandten Thätigkeiten weichen mussten; vor 1863 Semilasso Afr. I 12 Besserung und Utilisirung solcher Menschen (SANDERS DWB). Utili(ti)smus: Schweichel 1873 Bildschnitzer 1275 sein schlichter Verstand wusste nichts von den Praktiken der jesuitischen Moraltheologie, von dem Probabilismus, der Leitung der Absichten, dem innern Vorbehalt und der Zweideutigkeit, von dem Utilitismus, Claudestinismus, Quietismus, Formalismus und wie die säubern, in ein System gebrachten Mittel alle heissen, welche durch den Zweck geheiligt werden; Moreck 1928 Liebe 26 der kapitalistische Utilismus. utilistisch: Baumgarten 1917 Erziehungsaufgaben 58 so muss . . . in allem Bildungswesen der utilistische sich mit dem idealistischen Gesichtspunkt innig verbinden. Utilist: RF 70 (1958) 36 Utilisten.

U t o p i a N . ( - s ; o h n e PI.), auch (früher häufiges, heute seltenes) U t o p i e n N . ( - s ; o h n e P L ) , im frühen 16. J h . ü b e r n o m m e n aus gelehrtenlat. Utopia, von Thomas M o r u s 1 5 1 6 gebildetem N a m e n für das v o n ihm in seinem Staatsroman „ D e o p t i m o rei publicae statu deque n o v a insula U t o p i a " beschriebene, auf einer Insel angesiedelte ideale Staatswesen ( z u r ü c k g e h e n d auf griech. oi) n i c h t ' u n d T Ö J T O ^ ' O r t , Stelle, G e g e n d , L a n d ' ) , früher vereinzelt auch als F . , bis heute gelegentlich lat. flektiert; o h n e den b e s t i m m t e n , selten mit d e m unbestimmten A r t i k e l als E i g e n n a m e für das von T h o m a s M o r u s erdachte Inselstaatswesen, v o n daher allgemeiner für ' T r a u m l a n d , erdachtes L a n d , in dem ein gesellschaftlich-politischer Idealzustand herrscht, ein mustergültiges, v o l l k o m m e n e s Staatswesen verwirklicht ist', vereinzelt auch für T a r a d i e s ' und zuweilen gleichbed. mit —> U t o p i e , gelegentlich im Syntagma ( d a s ) L a n d U t o p i a , früher auch konkurrierend mit N i r g e n d l a n d , -reich, W o l k e n k u c k u c k s h e i m , Schlaraffenland, E l d o r a d o und zuweilen scherzhaft-ironisch v e r w e n d e t ; dazu in neuester Zeit die vereinzelte subst. Ableitung U t o p i e r M . ( - s ; - ) 'Bewohner Utopias, Utopiens'. Utopia, Utopien: Lützelburger vor 1526 (1825 Kunstblatt 21) Ain Innsei haist Utopian Die legt nit feer von Morian; Fischart 1575 Garg. 1 Köni-

gen in Utopien, Jederwelt . . . Nienenreich (RUTTER); Schweighart 1617 Pandora 7 Utopia; Zeiller 1641 Episteln II 431 dass die Insel Abraxa

Utopia von jhrem Reformatore Utopo, seye Utopia genannt worden; Mengering 1642 Quartiermeister 30 Utopia; Schupp 1663 (Ausg. 1701) lehrr. Sehr. 509 als ich noch ein Kind / die Wartfrau mir eine Fabel erzehlet hat von einem güldenen Berg unglaublicher Grösse in Vtopia; Stieler 1695 Auditeur 500 Aber, wo sind solche Auditor anzutreffen? In Utopia, zu Nirgendsheim, in der Nullibier Landschafft; Thomasius 1701 Kl. Sehr. 238 Es ist beynahe ein allgemeiner Mangel bey denen Vorschlägen / den die so genanten Gelehrten zu Beförderung des gemeinen Bestens thun / daß dieselbigen nicht practicabel sind / weil sie in Verfertigung derselben / nach dem Irrthum der im Schwang gehenden Philosophie eine ideam status perfecti, der nirgends als in Utopia anzutreffen ist / sich vor Augen stellen; Bertram 1728 Einltg. 22 so ist die praetendirte Erudition mere verbalis fast nirgend als in Utopien anzutreffen; Schröder 1737 Schatzkammer Vorr. o.S. ein Utopiam beschrieben; 1749 (Forschg. G Bayerns 7 (1899) 59) Zu Utopia, einer Lappländischen . . . ohnweit des unsinnigen Meeres gelegenen Stadt; ebd. 1750 (60) zu Utopia, einer allgemeinen Zuflucht-Stadt aller verrückten Köpfen; ebd. 1753 (60) Utopia ist die Haupt-Stadt in der Provintz gleichen Nahmens, von welcher der günstige Leser ein unumständlichere Känntniss bey Didaco Bemardino einholen kan; 1754 Possen 20 Etwas Geographisches. Gewisseste Erdbeschreibung von Utopien (Uberschr.) Dieses Land ist von ziemlicher Größe, und hat just nicht mehr Einwohner, als es ernähren kann. Es hat in beständigem Frieden gelebt; 1772 Frankf. gel. Anz. 223 lichtes Utopia; Wieland 1773 Agathon II 279 in ihren Utopien und Atlantiden zuerst die Gesetzgebung zu erfinden; Meiners 1775 Rel'gesch. 132 Erzählung . . . aus der man Egypten für eine Utopia halten solte, in welchem kein . . . Gesetz aus blossen Gebräuchen . . . entstanden; Engel 1786 Mimik II 200 Aber wenn es Bühnen dieser Art nirgends als in Utopien, wenigstens schier noch nicht bey uns giebt; Hermes 1791 liter. Märtyrer 304 darf ich Ihnen nicht bergen, daß ich zum Glauben an Ihre Topographie von Utopien mich nicht entschliessen kann; Laukhard 1792 Leben 1390 ich schrieb . . . Briefe aus Utopien (Schlaraffenland), worin ich die Leute gewaltig herunter machte; 1798 Merkur II 36 dass die Demokratie, die ich zu sehen wünsche, nur in Utopien zu suchen sey; Goethe 1872-42 (W. XXI215) Er erzählte mir gar manches von einer pädagogischen Verbindung, die ich nur für eine Art von Utopien halten korinte (KEHREIN); Menzel 1835 Geist 39 denn umsonst hofft man auf das tausendjährige Reich, auf die Tugend-Republik, auf Utopien; 1842 Dtsch. V'schr. IV 329 Anm. anzunehmen, was Smith von

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Grossbritannien sagte, dass es nämlich eben so thöricht wäre, die Hoffnung auf gänzliche Herstellung der Handelsfreiheit in Grossbritannien zu nähren, als zu hoffen, dass jemals eine Oceana oder ein Utopien daraus werde; Gutzkow 1846 Pariser Eindrücke 464 [ein] Utopien eines Gesamteigenthums; 1867 Gartenlaube 329 Mithin ist der Chiliasmus ungefähr dasselbe was das „goldene Zeitalter" nach der alten griechischen Sage, die „Messianischen Erwartungen" in dem Munde der Juden, ein „Utopien", ein „Eldorado" im Munde der Poesie sind; Scherr 1868 Won 48 II 1, 112 Wolkenwanderer aus Utopia; 1869 Gartenlaube 825 Der Name Utopien, der ein Land „Nirgendwo" bedeutet; Gutzkow 1875 Säkularbilder VIII 63 einen deutschen Standesherrn, den Herzog von Utopien; Jung 1875 Panacee I Vorr. IX [das Reich der Ideale ist] ein Utopien, ein Nebelland, ein Nebelnibel-Kukuksheim; Rutenberg 1877 Zinne 184 des . . . in unsrer Geographie noch nicht verzeichneten Landes: „Frauen-Utopien", wo die Frauen die Gesetzgebung und alle öffentlichen Ämter in Selbstverwaltung genommen haben; Die neueren Spr. 28 (1921) 425 Die Einheit der Menschheit ist das Stichwort, unter dem Wells . . . die ganze Geschichte von Genesis bis Utopia umreißt; Friedeil 1928 Kulturgesch. II 481 Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist; 1931 Schwarzburg 15 Ein Paradies, ein fernes Land „Utopia"; 1940 Geopolitik 99 [der] chinesischen Utopiapolitik; Münch. N. N. 9.110. 1. 1943 „Utopia", auf deutsch „Nirgendheim" oder „Irgendwo"; Süddtsch. Ztg. 28. 7. 1952 Mit dem Schauspiel „Gottes Utopia" wurde die Reihe der 18 Theateraufführungen . . . eröffnet; Wort u. Wahrheit 8 (1953) 357 Zu einer Zeit, wo er noch ganz in der Tradition des französischen Anarchismus seiner „Utopia", dem Wunschbild seiner „cite harmonieuse", nachhing, die an Kühnheit alles in den Schatten stellte, was je an Idealstaaten ersonnen wurde; Rosenstock-Huessy 1955 Mensch (Übers.) 169 Martin Bubers neue Schrift „Pfade in Utopia"; Süddtsch. Ztg. 5. 9. 1958 Seit vor 442 Jahren . . . Sir Thomas More seinen Roman über das ideale Staatswesen auf der nicht existierenden Insel Utopia erscheinen ließ, ist die Utopie zum Sammelbegriff für schriftstellerische und politische Illusionen geworden; 1958 Brot u. Wein 26 Skepsis . . . dass dies Utopia [Amerika] unerreichbar sei; Süddtsch. Ztg. 9. 4. 1959 [er] baute das Modell „Kurort Utopia", wo sich altes Zentrum und moderner Kurort ergänzen; Stuttgarter Ztg. 3. 3. 1961 Entlastungsstadt Utopia. Gelände nach wie vor noch unbekannt. Schlafstadt, Patenstadt oder sonst was? (Überschr.) Die neue Stadt, dazu ausersehen, die an der Wohnungsnot und noch mehr an der Wohnungs-

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Utopie

baugeländenot leidende Stadt Stuttgart zu entlasten, spukt . . . in vielen Köpfen herum; Amtzen 1962 Roman 115 Utopia in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften"; FAX 2. 9. 1970 Ein Fest für Utopia. Zu den vergangenen und künftigen Salzburger Festspielen (Überschr.) Soll es nicht einen Ort geben dürfen, ein „Sanktuarium der Phantasie", ein „Asyl für Festlichkeit und Fröhlichkeit" . . . an dem ohne Nebenabsicht und Nutzanwendung der menschliche Spieltrieb sich entfalten kann? Was wäre Utopia ohne Feste?; ebd. 17. 9. 1970 In Utopia gedeiht keine Kunst (Überschr.); Offenburger Tagebl. 12. 6. 1971 Kein Steuer-Utopia (Überschr.) Kein Steuerzahler sollte sich leichtfertigen Hoffnungen hingeben;

ebd. 12. 6. 1971 Reform-Eiferer werden . . . erkennen, daß, wer mit Geld und Zahlen operieren muß, kein ideologisches Utopia verwirklichen kann; Süddtsch. Ztg. 9. 7. 1971 Die Angriffe der beiden gegen eine Politik der „Großen Koalition" im Bildungswesen zeigten deutlich . . . daß sie noch im „Land Utopia" schweben würden; Die Zeit 10. 4. 1981 Schönes Nirgendwo (Überschr.) Das Wunderland Utopia ist älter als sein Name. Dieser wurde erst 1516 aus humanistischer Heiterkeit hervorgedacht. Der uralte Traum vom glücklichen Leben war auch zuvor zu allen Zeiten und Zonen bekannt. Utopier: Krauss 1963 Perspektiven

289 Utopier.

U t o p i e F . ( - ; - n ) , im früheren 19. J h . a u f g e k o m m e n zu —* U t o p i a , U t o p i e n T r a u m - , W u n s c h l a n d ' (vgl. gleichbed. frz. Utopie, engl, utopia); im politisch-ideologischen Bereich b e z o g e n auf die ( R e - ) K o n s t r u k t i o n einer erdachten, ersehnten anderen W e l t ( z . B . des Paradieses auf E r d e n ) in der B e d . '(vom F o r t s c h r i t t s g e d a n ken initiierte) meist v o n der (satirischen) Kritik an den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehende Darstellung einer nicht o d e r nur künftig u n t e r anderen historischen Bedingungen zu verwirklichenden idealen Staats- und Gesellschaftsordn u n g ' , gelegentlich gleichbed. mit —> U t o p i a , auch allgemeiner v e r w e n d e t für phantastische Vorstellung, u n d u r c h f ü h r b a r e r G e d a n k e , Plan, unrealisierbare I d e e ; unerreichbares Ziel, unerfüllbarer W u n s c h ' u n d zuweilen leicht abwertend i m Sinne v o n '(bloße) Einbildung, H i r n g e s p i n s t , ( Z u k u n f t s - , W u n s c h - ) T r a u m , Vision, C h i m ä r e , Illusion, T ä u s c h u n g , W a h n , F i k t i o n ' ; seit neuerer Zeit a u c h z u r B e z e i c h n u n g der L i t e r a t u r g a t t u n g des —* utopischen R o m a n s , speziell des (historischen) Staats- und des ( m o d e r n e n ) S c i e n c e - f i c t i o n - R o m a n s , w o b e i die dargestellte K o n t r a s t w e l t z u r faktischen Realität den C h a r a k t e r eines W u n s c h b i l d e s ( E u t o p i e ) o d e r Schreckbildes ( A n t i u t o p i e ) haben kann. Thürheim 1831—32 (Zentner, München 72) Der allgemeine Wohlstand war hier [in München] keine Utopie, ich sah neben den glänzenden, neuen Bauten nicht, wie in anderen Städten, da und dort ärmliche oder halbverfallene Häuser; 1846 Urania 350 einsehen . . . dass sich die Welt nicht nach ihren Utopien constituiren lässt; Marr 1848 Mensch u. Ehe 143 Anm. Die Philister und Ökonomen haben vollkommen Recht, wenn sie die socialistischen Gesellschaftsbilder Utopieen nennen; Treitschke 1859 Gesellschaftswiss. 72 Keine rein-politische revolutionäre Idee bedroht den Staat so furchtbar, wie die sozialen Utopien; Oppenheim 1866 Verm. Sehr. 177 nachdem er sich . . . feierlichst gegen alle Utopien verwahrt hat, gelangt [er] zu den Utopien aller Utopien; ebd. 334 „Hirngespinste" und „Utopien"; Treitschke 1874Jahre 535 So zeigen sich die wirtschaftlichen Pläne der Socialdemokratie . . . als leere Utopien;

Engels 1882 Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (Titel); Frary 1884 Nationalgefahr (Übers.) 11 Utopie des ewigen Friedens; Gregorovius 1890 Monarchien 25 Martens hat in seinem „Völkerrecht" erklärt, dass die Verwirklichung des Weltstaats angesichts der jetzigen internationalen Verhältnisse als Utopie erscheint; Büchner 1898 Sterbelager 298 lassen den Zukunftsstaat als dasjenige erscheinen . . . nämlich als Utopie; Dtsch. Revue 25 (1900) IV 209 eine Utopie, wenn . . . dem Problem einer einheitlichen Volksbildung nachgegangen wird; Ruppin 1903 Darwinismus 90 Staatsromane („Utopieen") . . . vom 16. bis zum 18. Jahrhundert; Schmitt 1904 Idealstaat 47 Die humanistische Utopie von Thomas Morus; Bodman 1906 Tagebücher 103 Utopien von Gleichheit; Schulze-Gaevemitz 1909 Marx 48 Sexuelle Disziplinierung in der Ehe, staatliche Disziplinierung im Volksheer

Utopie . . . ohne welche eine Annäherung an zukunftsstaatliche Ideale Utopie ist; Stavenhagen 1910 Befestigungslehre 77 Anm. Dass die . . . Luftschiffe und Flugzeuge die Festung entwerten könnten, ist . . . Utopie; 1910 Technik u. Wirtschaft 189 allen Arbeitern unterschiedslos gleichen Stundenlohn [zu gewähren] Sie haben heute bereits erkannt, daß diese Utopie für ihre Lebenshaltung nicht einen Fortschritt, sondern einen gewaltigen Rückschritt bedeuten würde; Pöhlmann 1912 Gesch. II 152 Frage . . . wer die „Utopie" als eine Verirrung, als das müssige Spiel einer ausschweifenden Phantasie verwirft; Oncken 1914 Aufs. III wiegte sich in phantastisch-dynastischen Utopien; Troeltsch 1918 Geist 179 Es ist die Welt der grossen Utopie und des Völkergegensatzes, die alle Kraft anspannt; Sombart 1919 Soz. 70 Soziale Ideen sind weltlose Utopien; Däbritz 1922 Essener Credit-Anstalt Ii Die sozialen Utopien traten zurück; Salomon 1922 Mittelalter 13 Auf Utopie, Traum und Wunsch nationaler Grösse wirkte die politisch inspirierte Poesie aus der Zeit des Augustus entscheidend ein; Bahr 1925 Liebe I 56 Der Pazifismus, unser Glaube und unsere Begeisterung darf nicht aus einer Utopie in eine Wirklichkeit verwandelt werden; Gerstenhauer 1927 Führer 104 einer Utopie zu Liebe; 1928 Nation u. Staat 913 eine gewaltsame . . . Slawisierung der Deutschen und Ungarn ist einfach eine Utopie; Voss. Ztg. 7. 3. 1930 er wies nach, wie häufig die „Utopie" realer gedacht habe als Fachwissenschaft; ebd. 15. 12. 1930 Volkswirtschaftler und Politiker, die von der „Utopie" des Fünfjahrplans sprechen; Kaltenboeck 1932 Armee i. Schatten 7 Deutschland ist eine Utopie! — Das war dieses verdammte Wort wieder und stand gross und quälend vor ihm; 1923 —33 Schweiz. Rundschau XXXII 2, 1117 der Kommunismus ist eine Utopie; Berl. Illustr. Nachtausg. 18. 1. 1933 Vielleicht wäre dieses Reich . . . nur ein Traum geblieben, eine Utopie; Freyer 1936 Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart (Titel); Giemen 1941 Lob 13 Aber der Titel . . . „Das lärmfreie Wohnhaus" ist ein Wunschbild und eine Utopie; Münch. N. N. 6.17. 4. 1944 Die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den Demokratien ist eine Utopie; Röpke 1946 Civitas 314 Utopien wie die einer Welt ohne Benzin; Ritter 1948 Machtstaat 54 Der Mann . . . dem Europa den Begriff und die neue Literaturgattung der politischen „Utopie" verdankt, der englische Staatsmann Thomas Morus; Baden 1948 Sinn 112 Wenn es eine historische Utopie gibt, dann ist es der Glaube an den Fortschritt des Menschen; ebd. 302 Das Korrelat der Zukunft ist die Utopie; Süddtsch. Ztg. 22. 12. 1950 Dieser Schlußstrich bedeutet das Ende der Utopie von

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der Aufrechterhaltung der freien Marktwirtschaft; Röpke 1950 Mass 223 [Nova Atlantis von Bacon war] das Vorbild aller späteren technokratischen Utopien bis zu Bellamy und Wells; Süddtsch. Ztg. 10. 8. 1951 Die Utopie des verlängerten Lebens (Uberschr.); ebd. 16. 7. 1952 Huxleys reizvoller, im Gegensatz zur grauenerregenden Utopie Orwells ganz im Ironischen schwebender Zukunftsroman; ebd. 5. 9. 1958 ist die Utopie zum Sammelbegriff für schriftstellerische und politische Illusionen geworden. Das Beste an Utopien ist meist, daß sie eben utopisch bleiben; 1961 Natur-Ordnung 259 [die] Utopie vom Paradies auf Erden; ebd. 339 Eigentumsbildung für alle im zeitlichen Sinn ist eine Utopie; Horkheimer 1961 Reden 124 Für Schopenhauer aber war die Gerechtigkeit der Nachwelt durch die sonst verhasste Geschichte gleichsam garantiert. Sie ist sein Heimweh, seine Utopie; Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1962 Die Utopie von gestern ist die Realität von morgen; Strauss 1963 Tyrannis 149 Denn das in Form einer Utopie dargelegte Ideal unterscheidet sich von dem gleichen Ideal, wie es als eine wirkende Idee . . . erscheint, genau deshalb, weil man, ausgehend von einer Utopie, nicht absieht, wie in der Gegenwart die gegebene konkrete Wirklichkeit umgewandelt werden muss, damit sie in der Zukunft dem in Frage stehenden Ideal angepasst werde; 1963 Märchen (Festg. v. d. Leyen) 23 Das Märchen vom Schlaraffenland ist nicht nur . . . Utopie, sondern auch archetypischer Wunschtraum; 1963 Hoffnungen 137 Der Weltfriede in einer kleiner gewordenen Welt ist keine Utopie mehr; Offenburger Tagebl. 6. 10. 1964 Was heute noch eine Utopie zu sein scheint, das kann morgen schon Wirklichkeit werden; 1965 Arbeitgeber 8 Die Preisstabilität wäre damit endgültig in das Reich der Utopie verbannt; 1965 Aspekte 21 In der Roman-Utopie einer verwalteten Welt beschreibt George Orwell diese Möglichkeit der Sprache als Sprache der Unvernunft; Offenburger Tagebl. 13. 2. 1967 Die Forderungen . . . nach einer 25prozentigen Erhöhung der Beamtenbezüge . . . bezeichnete Kiesinger als „glatte Utopie"; Bad. Ztg. 1. 2. 1968 Da Dahrendorfs Formel vom liberalen Anspruch, das Land zu regieren, mehr dem Bereich der Utopien als der realistischen Zukunftserwartungen zuzurechnen ist; Offenburger Tagebl. 5. 4. 1968 warnte . . . davor, sich von Fortschrittsutopien oder von einem zunehmenden Kulturpessimismus verführen zu lassen; FAZ 23. 3. 1970 [Piatons] Idealstaat aber blieb Utopie, weil aus der menschlichen Seele nichts mehr Gutes kommt; Freiburger Wochenber. 27. 4. 1970 Bisher noch Utopie — seit wenigen Tagen Wirklichkeit (Anzeige); Offenburger Tagebl. 29. 12. 1970 Bisher war dieser Bundesstaat in der EWG eine

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utopisch

Idee, ein Glaube, eine Utopie, ein politisches Fernziel, eine politische Deklamation; FAZ 9. 6. 1971 Kampf um die Verwirklichung der kommunistischen Utopie; Offenburger Tagebl. 13. 8. 1971 Ihr Traum von der eigenen Wohnung ist keine Utopie mehr (Anzeige); NZ. (Basel) 31. 12. 1971 Utopie: Nach Thomas Mores „Utopia" . . . jede erfundene, neue Welt, die — anders als die reine Phantasiewelt — bewusst als Kontrastmittel bei der kritischen Betrachtung des Bestehenden dient; ebd. 31. 12. 1971 Utopie und Science Fiction (Uberschr.) Utopien entstehen aus einer soliden Kenntnis der sogenannten Wirklichkeit;

Die Zeit 17. 10. 1980 wenn dann die Vision, eines Tages die Freien Demokraten zurückzugewinnen, mehr als eine Utopie sein will; ebd. 13. 2. 1981 Reine Utopie für die meisten, greifbarer Luxus nur für einige wenige — man sagt, es seien noch knapp zweitausend Kundinnen, die sich Haute Couture heute noch leisten können; ebd. 10. 4. 1981 Compendium Utopiarum — Typologie und Bibliographie literarischer Utopien (Titel) Kernstück des . . . Compendiums ist die chronologische Auflistung von rund 200 utopischen oder der Utopie nahestehenden Schriften.

utopisch Adj., im späten 17. Jh. aufgekommene Ableitung von —»Utopia (vgl. gleichbed. frz. utopique, engl, utopian), im 18.Jh. vereinzelt in der lat. (flekt.) Form utopicus nachgewiesen; zunächst auf die Verhältnisse des in Thomas Morus Staatsroman geschilderten Landes bezogen für '(das erfundene, unwirkliche Land) Utopia betreffend, zu ihm gehörig, für es charakteristisch' (vgl. —> Utopia), von daher vor allem im politisch-ideologischen Bereich, aber heute auch ganz allgemein verwendet in der Bed. nur in Gedanken, in der Vorstellung, Einbildung möglich; phantastisch, irreal, eingebildet; verrückt, absurd, verdreht; undurchführbar, unerfüllbar; (nur) erträumt, erhofft', auch mit den Gegebenheiten der jeweiligen Realität nicht vereinbar, nicht von dieser Welt' und leicht abwertend für nach dem Unmöglichen strebend, schwärmerisch, wirklichkeitsfremd' (vgl. —» Utopie); in neuerer Zeit die fachspr. Syntagmen utopischer Roman Homan, der einen erhofften oder befürchteten künftigen Gesellschaftszustand auf phantastische Weise schildert; technisch-naturwissenschaftlicher Zukunftsroman' (vgl. —* Utopie) und in der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie utopischer Sozialismus vormarxistische sozialistische Lehre, die im Unterschied zum wissenschaftlichen Sozialismus nicht oder noch nicht realisierbare Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft entwickelte' (vgl. —» Sozialismus). 1679 Corylo 112 Nun wüste ich nicht was es vor eine Cronik wäre, die der Author meynte, und muthmasste daher, es müste necessario ein non ens seyn, welches in den Utopischen Buchdruckereyen aufgeleget worden; Ettner 1715 Hebamme 49 gleich als wenn er ihre Häupter in seiner utopischen Anatomie und Entblössung gehabt; Mencke 1716 Charlatanerie 261 Utopische Sprache; Philippi 1743 Reimschmiede-Kunst 139 So wird es einem nicht zu sauer, dasjenige in Reime zu bringen, was einer immer vor Augen hat, als sich mit seinen Gedanken über alles hinweg zu schwingen . . . aus unserer Atmosphere in eine utopische Welt-Kugel zu verfallen; Meier 1754 Anfangsgründe I 204 utopische Dinge, Chimaeren, Träume (res utopicae, chimaerae, somnia obiective sumta); Riedel 1767 Theorie 336 Eine Würkung, die die Kräfte der menschlichen Natur übersteigt,

übersteigt auch unseren Glauben, und ist utopisch und nicht wunderbar; Herder 1774 Auch eine Philosophie V 520 wer sich überhaupt von Göttlichen Veranstaltungen in der Welt und im Menschenreich anders als durch Welt- und Menschliche Triebfedern Begriffe macht, ist wahrhaftig mehr zu utopischdichterischen, als zu philosophischnatürlichen Abstraktionen geschaffen; ders. 1780 Einfluß IX 313 Von Utopischen Träumen also hinweg, sehen wir auf die Geschichte der Regierung des menschlichen Geschlechts, wie sie ist, wie sie seyn muste; Forster 1789 Kl. Sehr. 119 Doch itzt zurük aus unsern utopischen Theorieen in die wirkliche sublunarische Welt; Pückler-Muskau 1834 Tutti V 116 wobei ich . . . seiner Meinung beistimme, daß alle großartigen Neuerungen, ehe sie in's Leben treten können, immer ein utopisches Ansehen haben müssen; Marx 1844

Utopismus Kritik III 33 Der unwissende Rezensent . . . der seine völlige Ignoranz und Gedankenarmut dadurch zu verbergen sucht, dass er die Phrase „utopische Phrase" oder auch Phrasen wie „Die ganz reine, ganz entschiedne, ganz kritische Kritik" . . . dem positiven Kritiker um den Kopf wirft; Gurowsky 1845 Tourd. Belgien 172 Mit den utopischen Bemühungen der Emigration; Stein 1848 Socialismus I Vorr. IX [diej utopischen Weltanschauungen; 1855 Prutz'Museum I 178 utopische Ideen; Scheffel 1856 Glück (Br.) 31 da ich eine weitfliegende Phantasie habe, male ich mir keineswegs ganz utopisch den Plan aus, mich mit August Möllenbeck] zu associiren; Rutenberg 1877 Zinne 182 utopischer Zustand; Meysenburg 1879 Stimmungsbilder 216 einer von den utopischen Träumen, welche die Phantasten aller Zeiten geträumt haben; Gildemeister 1888 Aus d. Tagen Bismarcks 208 utopisches Hirngespinst; Lange 1894 Arbeiterfrage 291 vage und utopische Zukunftsbilder, welche in den Massen durchaus keinen Widerhall finden; Schneider 1898 Paris 145 die meist in Unwissenheit und Leidenschaft verblendete Menge zur Erreichung ihrer utopisch unklaren Ziele; Zander 1904 Neue Welt 212 hatte doch ein Leben ohne Sorgen, wenn auch ohne den von ihr verlangten utopischen Inhalt; 1916 Deutschland II 654 [eine] allzu utopische Idee; Fendrich 1915 Krieg 18 Sendboten eines utopischen Sozialismus; Shaw 1919 Menschenverstand (Übers.) I 115 utopisch und unmöglich; 1922 Deutschlands Erneuerung 617 trotz der Unsinnigkeit ihrer [Lehre] utopischen Voraussetzungen und der Widersprüche in ihren wichtigsten Lehrsätzen; Lenz 1922 Staat 152 die friedensvollen Phantasien der „utopischen" Sozialreformer; Hauptmann 1924 Insel o. S. Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus; Brockhausen 1924 Europa 72 praktische, nicht utopische Wege zur Rettung Europas; 1924-25 Vortr. Bibl. Warburg 195 über diesen von Karl Marx so getauften „utopischen", besser ideologischen und konstruktiven Sozialismus; Curtius 1925 Geist 261 es sei utopisch zu glauben, dass Frankreich seine lateinische Zivilisationsidee und seinen weltanschaulichen Stabilismus je aufgeben werde; ders. 1930 frz. Kultur 193 Der Ausgang der Februarrevolution, ihr Umschlag in den Cäsarismus . . . bedeutete für den utopischen Messianismus des Zeitgeistes eine tiefe Enttäuschung; Deutschlands Erneuerung 16 (1932) 199 utopisch und unausführ-

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bar; B. Z. am Mittag 24. 6. 1933 hat seinem utopischen Roman . . . einen zukünftigen planetarischen Konflikt auf eine solche friedliche Flugdemonstration aufgebaut; Waldkirch 1936 Weltpresse 8 wirklichkeitsfremd oder utopisch; Münch. N. N. 14. 11. 1944 Schon kündigen sich Wolken am utopisch blau gefärbten Horizont der politischen Spekulationen . . . an; Süddtsch. Ztg. 23. 11. 1950 München ist . . . keine schlafmützige Stadt, aber sie will sparsam bauen. Schon deshalb fehlt bei uns die Neigung zu einer utopischen Planung; Solomon 1957 Fortschritt (Übers.) 16 Die marxistische Verdammung anderer sozialistischer Systeme durch die abwertenden Bezeichnungen „utopisch", „feudalistisch" oder „religiös"; Bense 1958 Ästhetik 11 eine echte, also realisierende utopische Funktion des Daseins; Ritter 1958 Vergangenheit 150 Das Utopische dieser Pläne; Süddtsch. Ztg. 5. 9. 1958 Das Beste an Utopien ist meist, daß sie eben utopisch bleiben; ebd. 19. 9. 1958 Er habe diese Forderungen schon einmal utopisch genannt und halte diese Bezeichnung aufrecht; Stuttgarter Ztg. 2. 3. 1959 die politische Satire, in der sich Elemente aus der Gogol-Tradition mit utopischen Gedanken . . . verbinden; Stuttgarter Nachr. 7. 4. 1960 den von moderner Technik und Forschung noch nicht völlig überholten utopischen Roman des Jules Verne; Stuttgarter Ztg. 17. 3. 1962 Er nannte darauf scherzhaft das in James Hiltons Roman erwähnte utopische Tal Shangri-La; Süddtsch. Ztg. 2. 10. 1963 Utopische Arbeitsbedingungen (Uberschr.) Allmählich steuern ganze Wirtschaftszweige auf die 40-StundenWoche zu; Surla 1963 Begegnungen 548 Dass diese Sehnsucht nach allumfassender Humanität auf dem Wege des utopischen Sozialismus erfüllt werden könnte; 1965 Aspekte 17 gesellschaftsutopische Literatur; Stuttgarter Ztg. 12. 1. 1965 utopische Verkehrsanlagen in die Welt setzen zu wollen; FAZ 12. 6. 1970 daß der Markt kein Spielplatz utopischer Preisträume ist; ebd. 18. 3. 1971 Der Arbeitskreis weiß, daß sich seine Vorstellungen, von denen er selbst zugibt, daß manches an ihnen „utopisch" erscheinen könnte, nur über einen langen Zeitraum verwirklichen lassen; ebd. 6. 8. 1971 Eine Erreichung der Viertagewoche über eine Arbeitszeitverkürzung sei „völlig utopisch"; Die Zeit 4. 7. 1980 Einige der Körper scheinen frei in einem unendlichen Raum zu schweben, lassen an die utopischen Entwürfe der Suprematisten denken.

Utopismus M. (-; ohne PL), Ende 18. Jh. vereinzelt, seit Ende 19. Jh. häufiger nachgewiesene Ableitung zu —» Utopie, —» utopisch; meist im politisch-ideologischen Bereich in der Bed. "Hang, Neigung zu utopischen Vorstellungen, Plänen, 6 Fremdwörterbuch

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Utopist

Zielen', gelegentlich auch für unbegründete Zukunftserwartung, -hoffnung; Illusionismus' und utopische Vorstellung'. 1796 Revolutionsalmanach 1 Politischer Utopismus. Geschrieben im August 1792 (Uberschr.); ebd. 20 Unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes und Herzens gibt es keine, die in ihren Grundsätzen falscher, in ihrem Zweck gefährlicher und mit dem Christenthum in jeder Rücksicht unverträglicher wäre, als politischer Utopismus; Ferri 1895 Socialismus (Übers.) 20 darf man für die Socialisten nicht den Vorwurf des phantastischen Utopismus herleiten; Oppenheimer 1899 Ges. Reden 162 Wenn Schulze den Konsumverein . . . in sein ursprünglich kleinbürgerliches System aufnahm, so wollte er damit die Kaufkraft des Lohns der ganzen Arbeiterschaft erhöhen . . . Seine Anhänger und Nachfolger bestreiten das . . . Sie erblicken darin . . . den Vorwurf des Utopismus, der törichten Schwärmerei und Träumerei; Stein 1903 Frage 6 Nicht nur in den schmucken Kabinetts der Diplomaten gibt es nämlich „grüne Tische", sondern auch in den prunklosen Dachkämmerchen sozialistischer Theoretiker. Ihr grüner Tisch heisst: Utopismus; Schmitt 1904 Idealstaat 110 Utopismus; SchulzeGaevernitz 1909 Marx 5 Man verdunkelte alle früheren Sozialisten, deren „Utopismus" nunmehr belächelt wurde; Pöhlmann 1912 Gesch. II 533 Demokratischer Sozialismus und romantischer Utopismus; Lamprecht 1913 DGjV. II 161 Utopismus der Sozialdemokraten; Niemann 1927 Revolution 11 Eine Revolution kann . . . nur dann sinnvoll sein . . . wenn . . . hinter dem Machtwillen der Revolutionsmänner etwas Grösseres steckt als innenpolitische Machtgier und chiliastischer Utopismus; Niekisch 1929 Gedanken 170 Illusionismus und Utopismus; ebd. 343 geriet . . . in die Gefilde des aussenpolitischen Utopismus; ebd. Der aussenpolitische Utopismus, der seine Wurzeln in humanitär-sittlicher Weltauffassung hat, nimmt in mitteleuropäischen Ländern immer die

Gestalt einer pazifistisch durchtränkten Volksverständigungspolitik an; Ber. Dtsch. Hochschule f. Politik 8 (1930) 45 daß der internationale Utopismus der Sozialdemokratie doch von sichererem Instinkt für die Weltentwicklung gewesen sei als die Vernunft der Naumannianer; Scheler 1931 Idee 58 ein konservativer großbürgerlicher internationaler Pazifismus mit der . . . Neigung, die dunkle Ruhe- und Friedenssehnsucht . . . ermüdeter Völkermassen auszunutzen, dazu allerhand literarischen Friedensutopismus vor den Wagen seiner Klasseninteressen zu spannen; 1932 Handb. d. Spanienkde. 169 was in der Grammatik als Reichtum an potentialen und hypothetischen Mitteln erscheint, ist ein und dasselbe wie das, was aus der Dichtung und Literatur als Utopismus hervortritt und z.B. von Miguel de Unamuno, dem größten Abenteurer des Gedankens im heutigen Spanien, wieder vertreten und betrieben wird; Horkheimer/Adorno 1947 Dialektik 56 Utopismus . . . der mythische wissenschaftliche Respekt der Völker vor dem Gegebenen; Salomon-Delatour 1959 Soz. 12 Rationalismus und Utopismus konnten den neuen Staatsbildungen nicht gerecht werden; 1961 Festg. a. Leschnitzer 93 der Utopismus des Paradiesmythos; Kofier 1962 Theorie 143 wegen seines [Hölderlins] notwendigerweise aus der Realität ins Phantastische ausweichenden revolutionären Utopismus; ebd. 145 Der mystische Utopismus, der mit Verachtung auf den Manischen herabzublicken pflegt; Trommler 1966 Roman 79 [Ulrich in Musils „Mann ohne Eigenschaften"] besitzt den „Utopismus", der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt; Fetscher 1967 Marx 91 Lukäcs unterscheidet eine erste, republikanische Epoche im Denken Hegels, deren „hellenischer Utopismus" mit einigen Erscheinungen der französischen Revolution verglichen werden könne.

Utopist M. (-en; -en), im früheren 19. Jh. (geb. 1838 bei Heyse) aufgekommene Ableitung zu —» Utopia, —* Utopie, —» utopisch (vgl. gleichbed. frz. utopiste, engl. utopian); anfangs vereinzelt nachgewiesen in der Bed. 'Bewohner Utopias, des Schlaraffenlandes', gleichbed. mit Utopier (—» Utopia), seit Mitte 19. Jh. häufig im politisch-ideologischen Bereich verwendet in der Bed. 'Vertreter des utopischen Sozialismus, utopischer Sozialist', auch allgemeiner für Träumer, Schwärmer, Phantast, Illusionist; wirklichkeitsfremder, überspannter Weltverbesserer' und gelegentlich für 'Verfasser, Verkünder einer Utopie, von utopischen Zielen'; dazu seit Mitte 19. Jh. die adj. Ableitung utopistisch, vor allem im politisch-ideologischen Bereich für 'die (Vorstellungen, Pläne, Lehren von) Utopisten betreffend' und

Utopist

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gelegentlich gleichbed. mit —>utopisch in den Syntagmen utopistischer Sozialismus und utopistischer R o m a n ; im frühen 20. Jh. die subst. Gelegenheitsableitung U t o pisterei '(Un-)Wesen von Utopisten'. Utopist: Blanc 1847 Organisation d. Arbeit (Übers.) 140 Man hätte ihn einen Träumer, einen Utopisten, einen Schwärmer und Gott weiss wie sonst noch genannt; Stein 1850 Gesellschaft 156 Eine zweite Klasse bilden diejenigen, die wir unter dem gemeinsamen Namen der Utopisten zusammenfassen. Die Utopien unterscheiden sich von der Klasse der administrativen . . . socialen Richtung dadurch, daß sie sich um den gegebenen Zustand durchaus nicht kümmern; Reichensperger 1872 Phrasen 160 Es gibt wenig ergiebigere Felder für die Intriganten, Utopisten und Agitatoren, als die . . . soziale oder Arbeiterfrage; Hillebrand 1876 England 63 die Gebildeten wenden immer skeptischer der Politik den Rücken zu und überlassen sie den Faiseurs, den Utopisten und der rohen Menge; S c h ä f f l e 1879 Quintessenz 60 Die socialistischen Utopisten von heute; Büchner 1898 Sterbelager 13 Befehl sozialdemokratischer Utopisten; Ruppin 1903 Darwinismus 154 Dennoch hat der marxistische Sozialismus vor dem der „Utopisten" einen Vorsprung; ebd. 154 Nach Engels sind die vormarxistischen Sozialisten „Utopisten" geVorw. XV der wesen; Schmitt 1904 Idealstaat erste Utopist, Plato [war] ein Schüler des Sokrates; Schmitz 1911 Brevier 369 ein unwissenschaftlicher Utopist; Steinmann-Bucher 1919 Sozialisierung 7 das gemeinschaftliche Wesen der phantastischen Zukunftsschilderungen der Utopisten aller Zeiten; Sombart 1919 Soz. 44 Man nennt die älteren Sozialisten „Utopisten"; Breysig 1925 Werden I 287 die Väter des Sozialismus, die er [Marx] Utopisten schilt; Voss. Ztg. 19. 8. 1928 Viel gefährlicher sind die Utopisten, die ungeduldigen Weltverbesserer, die an jedem Morgen den Anbruch des goldenen Zeitalters erwarten; Lerchenfeld 1935 Erinn. 175 [die] Proklamation Wilsons, in dem ich nur einen weltfremden Utopisten sehe; Frankf. Ztg. 12. 1. 1941 Der Florentiner ist seiner Natur nach nicht Utopist . . . aber er liebt immer den sinnreichen Streit der Worte; Ritter 1948 Machtstaat 54 Der Mann aber, dem Europa den Begriff und die neue Literaturgattung der politischen „Utopie" verdankt . . . war durchaus kein Utopist; NZ. (Basel) 16. 2. 1950 will ich fairer sein, als es die Welt- und Lokalpolitik im Allgemeinen ist, und will den Utopisten . . . selbst zu Worte kommen lassen; Adorno 1952 Reden 109 Weil er die Utopie und ihre Verwirklichung bitter ernst nimmt, ist er kein Utopist, sondern fasst die Realität ins Auge, wie sie ist; Süddtsch. Ztg. 5. 9. 1958 Seit einigen Jahren . . . sind auch durchaus

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seriöse Leute unter die Utopisten gegangen, und manche von ihnen sind heute keine Utopisten mehr, weil aus ihrer Idee eine Tatsache geworden ist; ebd. 11. 2. 1960 Ein Traum wohlmeinender Erziehungs-Utopisten, eine Versammlung von Staatsbürgern in Uniform; Diesel 1963 Menschheit 351 Wir sind Realisten, idealisierte Realisten vielleicht, jedenfalls keine Utopisten; Stuttgarter Ztg. 11. 3. 1968 Kritik übte Kiesinger an den politischen Utopisten in der Bundesrepublik; FAZ 9. 3. 1971 Bei aller Ungeduld . . . die Gesellschaft zu modernisieren, dürften wir uns jedoch nicht den Stempel von Illusionisten und Utopisten aufdrükken lassen; NZ. (Basel) 31. 12. 1971 der Utopist erfindet neue Welten. Aber seine Beziehung zu ihnen ist nicht die des Träumers zu seinen Wunschbildern; in mancher Hinsicht gleicht er mehr dem Theoretiker. Utopisterei: Förster 1922 Ethik 62 die wertvollen Charakterkräfte und Geistesbestrebungen, die oft hinter dumpfer und ungeschickter Auflehnung und Utopisterei nach Klarheit und Spielraum ringen. utopistisch: 1852 Prutz'Museum II 9 menschlicher Berechnung nach kam dieser Umsturz [von 1848] für Deutschland, das eben noch auf der Schulbank des politischen Unterrichts saß, viel zu früh, auch war er zu radical oder vielmehr zu utopistisch; Auerbach 1861 Gesellschaftswesen 1 [die] utopistischen Bestrebungen socialistischer communistischer Systeme; Hillebrand 1872 f a l sches 381 utopistische; Waldstein 1892 Erst wägen 55 Die Idee, den Krieg abschaffen zu können, sind utopistische Träume; Ferri 1895 Socialismus (Übers.) 123 der jungen Form des Socialismus, den Engels als den „utopistischen" bezeichnet, im Gegensatz zum wissenschaftlichen; Morf 1895 Dichtung I 393 utopistisches Gerede; Henne-am Rhyn 1897 Kulturgesch. VII 251 utopistischen Träume; Reichenau 1897 Kultur 86 Erreichung vermeintlich beglückender, thatsächlich aber unerreichbarer utopistischer Ziele; Goldmann 1915 Militär. 41 Nur muß dieser Gedanke [an den Frieden] richtig verstanden und nicht utopistisch entstellt werden. Einen ewigen, absoluten Frieden für die gesamte Menschheit für möglich zu halten, ist naturgemäß sinnlos; 1916 Festschr. a. Muncker 152 die Odyssee ein Vorbild für die späteren utopistischen Reiseromane; 1918 Deutschland 37 „utopistischer Pazifismus"; Reich 1928 Der deut-

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Utopist

sehe utopistische Roman von 1850 bis zur Gegenwart (Titel); Bergsträsser 1930 Frankreich II 53 Gattung utopistischer Literatur; Lokal-Anz. 15. 5. 1934 er bezeichnet das Mittel des Präventivkrie-

ges als utopistische Vorstellung; Cysarz 1950 Neumond 165 Nicht selten . . . sind auch erwiesene Tatsachen doktrinär bald utopistisch verfälscht worden.

V va banque, seit späterem 18. Jh. nachgewiesen, zurückgehend auf frz. va, 3. Pers. Sing. Präs. von aller gehen' und banque in seiner Bed. 'Spielbank', auch 'Geld-, Kreditinstitut' ( < gleichbed. ital. banca, eigentlich Tisch des Geldwechslers, Wechselstube; Sitzgelegenheit', german. Herkunft), anfangs vereinzelt in der Form va la banque und bis heute in unterschiedlicher Schreibweise; Ausruf beim Glücksspiel in der Bed. es geht um den gesamten Einsatz der Bank', auch bildlich verwendet für es geht um alles (oder nichts), es steht alles auf dem Spiel'; häufig adv. gebraucht im Syntagma va banque spielen um den gesamten Einsatz der Bank spielen', meist bildlich '(in einer unüberschaubaren, prekären, gefährlichen Situation) alles auf eine Karte, aufs Spiel setzen, aufs Ganze gehen, alles riskieren, wagen', und als Subst. N. (indeklinabel) im Sinne von '(gefährliches, leichtsinniges) Spiel, Wagnis; Unternehmen, bei dem alles riskiert, auf eine Karte gesetzt wird', dafür häufig auch die Zs. Vabanquespiel. Michaelis 1766 Phänomenogonie (W. 1791 I 156) Ein Spieler, den, nach manchen guten Karten, Ein schnell va Banque im Jubel niederschlägt; Bartels 1782 briefl. an Bodmer (ArchivfKulturgesch. J (1905) 234 Cagliostro spielt bey seinen Patienten meistens va la banque und macht quitt oder double; Hermes 1795 Für Eltern V 21 Aber jenes zweite Herz, kühl wie du, wenn ein Lai dir Va banque! ruft, gewann Zeit; Barne 1833 Br. a. Paris III 232 Die europäische Aristokratie spielt ein va banque. Desto besser; so werden wir ihrer in einem Satze los; Frey 1844 Bilder a. Welt u. Zeit 90 wie das Schicksal auszurufen mit lauter fester Stimme die fürchterlichen Worte va banque!; Fontane 1846 Br. II 1, 3 Mein Sang ist der Klang, mein Lieb ist das Gold, va banque!; Goltz 1847 Buch d. Kindheit 72 der Tod sagt überall va banque!; 1852 Prutz'Museum II 316 der ganzen gegenwärtigen Wirthschaft va banque bieten; Fontane 1857 Br. II 1, 193 Eggers stirbt an der Unfähigkeit eines Entschlusses. Die Götter sind solcher Gefahren entschieden abhold. Sie lieben kein va banque-Spiel, aber sie lieben den noch weniger, der sich . . . um den Spieltisch herumdrückt und nicht weiss, ob er setzen soll oder nicht; 1864 V'j'sch. Volkswirtschaft IV 202 natürlicher, als dass derjenige, welcher genöthigt ist, von der Noth in allen Gestalten gehetzt zu sein, der sich wenig aus den Verfolgungen einer Polizei

macht, und nachdem er unzählige Male va banque mit dem Hungertode gespielt hat, auch einen Einsatz gegen den Henker wagt?; Eberling 1869 Neue Bilder a. Paris I 217 Oft ist es auch nur ein letztes verzweifeltes Va-Banque; Gregorovius 1870 briefl. an Gervinus (ZGOberrhein 95 (1943) 634) Aber würde der Mann vom Dezember [Napoleon III.] dies verzweifelte va banque gespielt haben, um zu versuchen, ob er den Rhein erobern und dadurch seine Dynastie begründen könne?; Kretschman 1870— 71 Kriegsbr. 92 Die Franzosen führen den Krieg ohne Kopf, sonst würden sie, was sie haben, zusammennehmen und va banque spielen; Stern 1881 Gitter 263 Unglücklicher Gedanke, diesen Erwerb als Spielgewinn behandeln und mit einem übermüthigen Va banque auf eine Karte setzen zu wollen; Bleibtreu 1889 Nap. I. 24 Noch ehe der verblüffte Adjutant sich empfehlen konnte, sah er die mächtigen Anstalten des unerschütterlichen Va Banque-Spielers, mit den letzten Trümpfen sein Spiel doch zu gewinnen; Fontane 1893 Br. II 2, 311 Revolutionen gehen zum grossen Teile von Gesindel, Va banque-Spielern oder Verrückten aus, und was wären wir ohne Revolutionen!; ders. 1897 Stechlin 199 Interesse hat immer nur das va banque; Preuss. Jahrbücher 13 (1903) 364 denn ihre politische Leidenschaft kennt keine Grenzen, sie fühlt sich durch das tollste Vabanque-Spiel gehoben und befriedigt;

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Vademecum

Lamprecht 1912 DGjV. I 435 der halb Depossedierter, der sich anschickte, mit altem Einfluss und ererbtem politischem Sinn va banque zu spielen um ein Dasein; Zobeltitz um 1920 Gross-Q. 221 Dann würde ich alles, was noch an Jugendwünschen in mir lebt, auf eine Karte setzen und va banque spielen; Berl. Tagebl. 25. 8. 1929 Er wandte sich, das va-banque-Spiel mit der Ehe einzuleiten, an ein Budapester Blatt; nannte seinen ehrlichen Namen, seinen Beruf, sein Alter; Tempo 1936 No. 6 Friedel . . . zieht den Frack ihres Zwillingsbruders an, um ungeniert den Spielsaal von Nizza zu besuchen, und hat dabei Gelegenheit, dem Va-Banque-Spieler diese Lebensrettung zu vergelten; Voss. Ztg. 30. 3. 1932 Hier konnte es sich — wollte man nicht wirtschaftlich völlig va banque spielen — nur um eine Art von schlagartiger Demonstration handeln; 1936 Mil'Wochenbl. 428 Ende Mai 1916 den begonnenen unbeschränkten Ubootkrieg abblasen . . . weil er dies „Vabanque-Spiel" nicht glaubte verantworten zu können; Wust 1936 Ungewissheit (IV 42) die grossen Vabanquenaturen, die in den verschiedenen Regionen des Daseins immer mit dem blinden Ungefähr liebäugeln und sich auf der wohl geebneten Lebensbahn nicht wohlfühlen; Münch. N. N. 16. 1. 1940 Wirtschaftliche Vabanquepolitik (Überschr.) England und Frankreich . . . spielen im Wirtschaftskrieg gegen Deutschland ein Vabanquespiel; ebd. 10.Hl. 10. 1942 Die in Aussicht gestellte Landoffensive gab dieser Va banque-Taktik eine gewisse Berechtigung; NZ. (Basel) 25. 1. 1949 Wer zum Vabanquespiel auffordert, kann wohl kaum den Anspruch erheben, als nüchterner Ratgeber zu gelten. Ist aber nicht einmal jene verschwindend geringe Gewinnchance vorhanden, die höchstes Risiko rechtfertigt, dann ist jede Ermunterung, das Spiel dennoch zu wagen, nichts anderes als ein Sirenengesang, der geradewegs ins Verderben führt; Weizsäcker 1950 Erinn. 258 [Görings Wort an Hitler vor Polen 1939] „Wir wollen doch das va-banque-Spiel lassen". Darauf Hitler: „Ich habe in meinem Leben immer va-banque gespielt"; Süddtsch. Ztg. 16. 5. 1955 kamen sie selbst sich ein wenig wie Vabanque-Spieler vor;

denn ob ihr schöner Plan, ihr Kino-Programm ausschließlich mit künstlerischen Filmen zu bestreiten, auf die Dauer gelingen würde, das war alles andere als gewiß; ebd. 7. 2. 1959 Auch jetzt hat sie die Hand noch bandagiert und das scheint sie zu einer Vabanque-Stimmung aufzustacheln; Politik u. Wissenschaft 21. 7. 1960 Namentlich Washington ist der Ansicht, im Zeichen der zunehmenden kommunistischen Bedrohung müsse der Westen jedes Vabanque-Spiel mit einem außenpolitisch noch nicht profilierten Kanzleraspiranten vermeiden; Offenburger Tagebl. 14. 10. 1960 Sobald die Strassen saniert sein werden, können sie nicht mehr jene Verführung zum Vabanquespiel unter Einsatz des Lebens ausstrahlen, welche heute einen so grossen Teil aggressiver Impulse in fahrlässige Strassenverkehrsdelikte ablenkt und unser Zeitalter zu einer Epoche des Verkehrssünders gemacht hat; Süddtsch. Ztg. 2. 1. 1962 Elternschaft — ein Vabanquespiel (Überschr.) daß Elternschaft in unserer heutigen in jeder Hinsicht unsicheren Zeit gewissermaßen ein Vabanquespiel sei, bei dem niemand im voraus wisse, wie es später für Eltern und Kinder ausgehen werde; Stuttgarter Ztg. 8. 6. 1963 daß es sich hier um ein städtebauliches Wagnis handle, aber nicht um ein Vabanquespiel, sondern um ein übersehbares Risiko, zu dem man den Mut aufbringen müsse; Fallada 1964 Bauern 543 Sie haben . . . auf Kosten des Gerichts, auf Kosten unserer aller Zeit va banque gespielt (WDG); Fontana 1964 Einltg. zu Csoka, Br. 8 Irrsinn einer Vabanque-Politik, der Amoklauf einer sich im Blutrausch übersteigernden Gewalttätigkeit [Hitlers]; Haffner 1965 Todsünden 58 die Militärs und besonders die Admirale, die zum Va-banque-Spiel entschlossen waren; Süddtsch. Ztg. 27. 9. 1969 wird feststehen, ob der Einsatz von Tankern in der Arktis nicht doch ein Vabanquespiel ist; Offenburger Tagebl. 3. 1. 1972 Hier spiele ein Mann, der sich solide schätze, politisches va banque; Mannh. Morgen 30. 7. 1980 Zum Begriff „Werkstatt" gehört für Wolfgang Wagner auch das Risiko. Das Vabanque-Spiel.

Vademecum, auch Vademekum, N. (-s; -s), im späteren 16. Jh. selten, seit Anfang 18. Jh. kontinuierlich nachgewiesen, zurückgehend auf lat. vade mecum geh mit mir'; häufig im Titel auftretende bildungsspr. Bezeichnung für ein der kompakten Informationsvermittlung dienendes Buch meist kleineren (Taschenbuch-) Formats, das man bequem mit sich herumtragen kann, 'Leitfaden, Ratgeber, Brevier; (Reise-)Führer'; früher häufig auch für 'Sammlung von unterhaltenden Anekdoten, lustigen Einfällen o.ä.', gelegentlich leicht abwertend verwendet, z.B. in der Zs. Vademecumsgeschichte 'durch ständige Wiederholung abgedroschene, gehaltlose Geschichte (oft anrüchigen Inhalts)'.

Vagabund Rot 1571 Dictionarius 357 Vade mecum, Ein gehe mit mir / das ist / ein Bettbüchel / Schullerbüchel / das einer stetts bey jhm tregt / darinn zu lesen; Fischart 1575 Garg. 387 O da würden die Postillenprediger und Vademecum wol so sehr über disen Kram we we schreiben (RÜTTER); Vischer 1709 Informator 25 den im Pabstthum wohnenden . . . Lutheraner [Schrift von Mayer], der das ordentliche Vademecum unsrer in die Frembde ziehenden Jugend ist, gelesen; 1709 Vademecum piorum christianorum (Titel); Sturm 1737 wahre Vauban 114 mein Vade mecum Architectonicum; Lessing 1753 (Deneke 1923 Lessing Possen 7) Ein Mensch, der erst kürzlich die Schule verlassen hat, ein Kunstrichter, der . . . seine gesamten Werke in Duodez herausgiebet, um sie durch das Format zu einem Vade mecum zu machen; Schummel 1779 •Spitzbart 75 Senft selbst, um sie bis auf die Wurzel auszurotten, erzählte einige lustige Vademekumshistörchen, die mit lautem Gelächter empfangen wurden; Gotting. Magazin d. Wiss. 1 (1780) 290 Oft machten diese Sonnabend-Abende unsern guten Cook munter und gesprächig, er ließ sich in Vademecums-Geschichtchen aus, und riß zuweilen wohl mitunter Zoten; Musäus 1781 Physiogn. Reisen II 40 wieder einer war ein volksliedler oder compilierte aus alten kalendern vademecumsgeschichtgen (DWB XII/2 490); 1786Journal v. u . f . Deutschland II 3 (Umschlag) zu bitten, diese Blätter nicht in die Classe der Vade mecum zu versetzen, die nur die Erschütterung des Zwergfells, oder die Unterhaltung der Käufer bey einer Pfeife Tabak zum Zweck haben; Stäudlin 1788 Ged. I 308 entlud sich der leicht beschwipste Pfarrherr zottichter Mährchen und Räzel und Vademecumsgeschichten; Hermes 1789 F. Eltern III 98 von einer Reise auf welche Er . . . das trostlose: Da fragen Sie mich zuviel! zum Vademecum . . . mitgenommen hatte; ebd. (1790) V 149 im Kästchen finden Sie, lieber Pastor, mein Vade mecum (so nannte er seinen Cicero ohne welchen er nie reiste); 1791 Journal v. u. f . Deutschland II 639 Am unerträglichsten sind Spinnstubengeschichten, Anecdoten (die insgemein zum tausendenmal wiedergekäut werden), Vademecumsscherze, und Wanderbegebenheiten, zu denen die Zeitungsschreiber in Zeiten, die an neuen Ereignissen arm sind, ihre Zuflucht zu nehmen pflegen; Jean Paul 1810 Grotesken 20 Jahre, wo [der Mensch] über neue Auflagen des Vademekums in

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Gesellschaften ergrimmt; Westenrieder 1828 München II 33 für die Herren Advocaten und Ärzte ein unentbehrliches Vade Mecum, ein unfehlbarer Rathgeber in allen Angelegenheiten; Bernoulli 1829 Vademecum des Mechanikers oder Praktisches Handbuch für Mechaniker (Titel); Serapeum 1 (1840) 10 Wer will die Arlequiniana zusammenstellen mit den Scaligeriana, wer die Sammlungen, welche biographische Züge und Anecdoten von Gelehrten . . . mittheilen, mit den erbärmlichsten, possen- oder gar zotenhaften Vademecums?; Fontane 1871 Kriegsgef. 69 In einer Anzahl kleiner blauer Notizbücher, die er als Vademecum auch mit ins Gefängniss genommen, hatte er sich die Weisheit des Alterthums für den Hausgebrauch zurecht gemacht; Frommel 1893 Lenz 2 schreibst Du einmal für Deine jungen Brüder, was Du erlebt und gesehen und giebst ihnen, als alter Abt, ein Vademecum auf den Weg mit; de Terra 1913 Vademecum anatomicum. Kritisch-etymologisches Wörterbuch der systematischen Anatomie (Titel); 1926 Sittengesch. v. Paris 58 „Am Dienstag verheiratet, Am Donnerstag betrogen", dieses Lied . . . wurde gewissermassen das Vademekum der Neuvermählten; Bock 1929 Tagebücher 128 Die Novellen „Hessenluft" waren lange Zeit sein [Zuckmayers] Vademecum; Neue Ztg. 9. 9. 1950 Das Vademecum für die Reise (Uberschr.) Angesichts des verhältnismäßig kleinen Formats von zwölf zu siebzehn Zentimeter und des schmalen Umfangs von 42 Seiten bieten die „Schwarz-Bilderbücher" . . . eine Fülle des Inhalts; Süddtsch. Ztg. 6. 7. 1951 Von Anneliese Dieffenbach erschien für Ruhpoldinger Feriengäste ein Vademecum „Ruhpolding — richtig erlebt". Auf 80 Seiten wird alles Wissenswerte von der Geschichte des Ortes bis zu dessen gastronomischen Spezialitäten erzählt; Stuttgarter Nachr. 15. 5. 1954 Der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft hat ein „Vademecum deutscher Forschungsstätten" herausgegeben, das einen bisher nicht in dieser Form vorhandenen Uberblick über alle Gebiete der deutschen Forschung vermittelt; Stuttgarter Ztg. 28. 4. 1961 ist dieses . . . großformatige Buch zur Bundesgartenschau Stuttgart 1961 ein Vademecum, ein Leitfaden durch diese die Stadt ein halbes Jahr in „Blumenatem" haltende große Veranstaltung; Offenburger Tagebl. 26. 9. 1969 schreibt Peter Hacks in seinem „Kleinen Vademecum für Leser der Margarete in Aix".

Vagabund M. (-en; -en), um 1600 vereinzelt (KLUGE), seit Anfang 18. Jh. kontinuierlich nachgewiesen, unter Einfluß von gleichbed. f r z . Subst. und A d j . vagabond(e) zurückgehend auf spätlat. Adj. vagabundus umherschweifend; unstet' ( < lat. vagari umherschweifen, -ziehen; unstet sein', vgl. vagus, vage), anfangs

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Vagabund

vereinzelt in der lat. (flekt.) Form, früher auch Vagabunde, von Anfang 18. bis Anfang 20. Jh. konkurrierend mit der frz. Form Vagabond(e); in der Bed. 'jmd., der meist ohne festen Wohnsitz bettelnd oder als Gelegenheitsarbeiter umherzieht, -streunt, Landstreicher, Strolch' (vgl. —» Tramp 1, —> Vagant), auch übertragen für ruhe-, rastloser, unsteter Mensch' und 'Abenteurer, Bohemien', häufig wertend gebraucht, positiv mit „frei, ungebunden" und meist negativ mit „liederlich, ausschweifend, zügellos, gaunerhaft, diebisch" konnotiert; gelegentlich bildlich verwendet und auf Pflanzen, Vögel, Fische u. ä ausgedehnt; daneben das seit frühem 18. Jh. selten bezeugte, veraltete Adj. vagabund '(ziellos) umherschweifend, -ziehend; rastlos, unstet; abenteuerlich'. Dazu seit früherem 18. Jh. die selten nachgewiesene, veraltete adj. Ableitung vagabundisch einen/die Vagabunden betreffend; als Vagabund umherziehend', gleichbed. mit seit späterem 19. Jh. (SANDERS DWB) selten bezeugtem vagabundenhaft; seit früherem 19. Jh. aus gleichbed. frz. vagabondage entlehntes Vagabondage, auch Vagabundage, F. (-; ohne PI.) 'das (Herum-)Vagabundieren, Vagabundenleben; das Umherziehen, -streifen, Landstreicherei', dafür seit Mitte 19. Jh. die subst. Ableitung Vagabundentum N. (-s; ohne PI.), früher auch Vagabondentum, und Anfang 20. Jh. die Gelegenheitsableitung Vagabundenheit. Vagabund: Weise 1703 Zeitungs-Lex. o. S. Vagabond (WEIGAND); Sperander 1728 A la mod Sprach 767 Vagabond, Vagabundus . . . einer, der in der Irre herum gehet, und nirgends eine bleibende Stätte hat, auch daher von allen Gerichten, wo er angetroffen wird, belanget werden kan; ein Landläufer, Landstreicher, Herrn-loser Knecht, Hünerfänger; 1737 Jüd. Baldober 534 Sie wären vagabundi und hätten nirgend einen gewissen Aufenthalt gehabt, noch weniger in Schutz gelebet; 1745 Archiv Hünsfeld (Fuldaer Geschichtshl. 5 (1906) 126) sondern vor diebereyen sehr verdächtige Vagabunden zu achten seynd, mithin nach des Löbl. Ober Rheinischen Krayßes Heylsamen Sanctionen mit der vagabunden straf von Rechtswegen billig zu belegen wären; 1754 Schles. ökon. Sammlung I 50 jeder Vagabond und Herumlaufer; Guden 1768 Polizei d. Industrie 165 Dem ohngeachtet werden die Vagabonden und herumschwärmende Leute ohne gewisses Gewerbe . . . in die Werk- und Zucht-Häuser gebracht; Michaelis 1773 Räsonnement III 145 auch kann man ihm, wenn wir alle ruhig und sicher leben wollen nicht die Müssiggänger, die Vagabonden, die Lasterhafften zuweisen, sondern er muß aus dem besten und redlichsten Theil des Volks bestehen; Goethe 1775 Br. (III 12) nachdem wir vorher unsre Imagination spazieren geritten hatten wies seyn möchte wenn wir Spizbuben und Vagabunden wären; Klinger 1776 Sturm u. Drang (Philipp, Klinger 104) der herum streifende Vagabond; Weckhrlin 1777 Denkw. 126 welcher unter der Anführung eines gewissen Vagabonden sich verabredet hätte; Klinger 1780 Spieler (I 86) um eines

liederlichen Burschens, eines Abenteurers, eines Vagabunden willen, der nie werth war, mein Sohn zu seyn; Musäus 1781 Physiognom. Reisen I 174 Solch luftige Scienzen erhalten in dem Gebiete der Gelehrsamkeit nicht einmal das Bürgerrecht, sondern werden als Vagabonden bald wieder über die Gränze gebracht, wie wir das an der Alchymie, Astrologie, Geomantie, Chiromantie . . . erlebt haben; Schiller 1787 Verbrecher (XIII 87) sperrte mich zu dreiundzwanzig Gefangenen ein, unter denen zwei Mörder und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren; Hermes 1791 Märtyrer II 376 daß noch vor Nachts meine grosse Vaterstadt kleinstädtisch ertönen werde von dem Geschrei ein Fahgbunt (Vagabund); Schiller vor 1803 briefl. an Körner (I 9) jetzt erst fange ich an, meine Phantasie, die unruhige Vagabundin, wieder liebzugewinnen (KEHREIN); Bolte 1804 Geschäftsgang i. Preussen 15 Wer ohne Vorwissen der Obrigkeit vor seinem Kopf im Lande herumzieht, ohne sich zu melden, wird als ein Vagabund betrachtet; Mutius 1811 Br. 142 Man hat sie für Vagabunde oder Spione gehalten und nicht glimpflich behandelt; Harl 1812 Kriegs-Pol.-Wiss. 432 fremden Bettlern und Vagabunden; Niebuhr 1814 Br. 76 Der deutsche Vagabonde ist brutal, das ist der Kosak selten; 1820 Briefw. G.—Z. II 150 Du [Zelter] als Odysseischer Vagabund; Gutzkow 1832 Reiseeindrücke (XI 2) Dass unsere bekannten Wanderlieder für uns wahre Vagabundenlieder sein mussten und dass die Handwerksburschen dann anfangen poetisch zu sein, wenn sie ihr Wanderbuch verlieren?; Wolff 1841 Gesch. d. Romans 189 Vagabundenromane, welche dem

Vagabund Simplicissimus folgen; Schliemann 1842 Br. I 10 dass ich dort nur den solidesten Lebenswandel geführt, und nicht, wie mein Vater mich überall verschrieen, ein Vagabund und Studentenherumtreiber gewesen bin; Steinmann 1843 Mefistofeles III 118 dass Leute, die jede Woche über Völkerwohl und Staatenglück schreiben, als liederliche Vagabunden leben; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 29 nun erließ man ein Ausschreiben, daß alle Vagabunden, alle Aushaufer, darunter auch verheiratete, schlechte Haushälter, kurz alles Lumpengesindel, eingeliefert werden solle; 1844 Br. Droste u. Schücking 254 [Schauspieler, der jetzt] zur Abwechslung mal eine Art Vagabundenleben versucht; Engels 1846 Nachtrag zur Lage Englands (IV 397) politische Vagabonden, die weiter nichts tun, als in allen Versammlungen Skandal zu schlagen; Preller 1848 Aufs. 536 das luftige Geschlecht der fliegenden Blätter und Flugschriften welche seit Erfindung der Buchdruckerkunst in allen socialen und politischen Fragen eine so grosse Rolle gespielt haben und mit den Landstreichern und Vagabunden insofern eine frappante Ähnlichkeit haben, als die leichtfertige Existenz dieser durch die Polizei der Landstrassen, die jener durch die Polizei der Bücherwelt auf empfindliche Weise gestört zu werden pflegt; Murger 1851 Zigeunerleben (Übers.) 1 jenen Vagabunden, die auf öffentlichen Plätzen als Bärenführer, Säbelschlucker, Verkäufer von diebessichern Türverschlüssen, Glücksbudenbesitzer und dergleichen; 1852 Prutz'Museum II 255 die unbefrackten Vagabonden der Kritik; Schleiden 1855 Studien 16 [Tiere und Vögel] als unglückliche Vagabunden ohne Heimathsschein ziehen . . . von Land zu Land; Rodenberg 1860 Insel der Heiligen I 205 in seinem Widerwillen gegen die irischen Führer, Hornbläser, Eseljungen und Vagabonden insgemein; Riehl 1861 Gesch. 65 wirkte nicht wenig dazu, den Bauer vom Vagabundenleben abzuhalten und die ihm eigene zähe Beharrlichkeit für kommende Geschlechter, denen das Vagabundiren näher gelegt seyn sollte, zu begründen; ebd. 353 auf der andern [Seite] bankerotte Kleinbürger, verdorbene Bauern, heruntergekommene Barone, Industrieritter, Strolche, Tagediebe und Vagabunden aller Art; Rodenberg 1863 Strassensängerin I 65 gehörte ihrem Äussern nach zu der elendsten und verwegensten Sorte der Londoner Vagabonden; ebd. II 82 Wer keine Sachen hat, ist ein Vagabond . . . nur ordentliche Menschen haben auch ordentliche Sachen; 1863 V'j'schr. Volkswirtschaft III 45 die strengsten Strafgesetze gegen Bettler, Vaganten, Vagabunden und „verdächtiges Gesindel"; Raabe 1864 Hungerpastor 253 sie hielt . . . Rudolf für einen „leichtsinnigen Bettler und unsittlichen Vagabonden"; Thun 1879 Industrie

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am Niederrhein I 53 Wer gibt ihnen aber Arbeit? Niemand! Da wird aus dem arbeitssuchenden, nahrungslosen Manne ein Bettler, — wenn er keine Wohnstätte findet, ein Obdachloser, — wenn er keine Papiere mit sich führt, ein Vagabund; 1883 Conservative Monatsschr. I 97 Der verheissungsvolle Anfang einer neuen Lösung der sog. Vagabundenfrage ist von Bielefeld aus gemacht durch die Gründung der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf; Ratzinger 1884 Armenpfl. 586 Die Vagabundennoth wird niemals ganz gehoben werden, aber sehr bedeutend sich mindern, sobald ein Arbeitsrecht geschaffen und Innungen gebildet sein werden; Walloth 1886 Seelenrätsel 14 Etwas vom Vagabunden haben wir Künstler ja alle; Perfall 1890 Liebe 20 kam er mit zerissenen Stiefeln und abgeschabten Kleidern [heim], ein Bild des Vagabundenelendes; 1897 Naturwiss. Wochenschr. 260 Arktische Vagabunden aus dem Thierreich [in den Fjorden Norwegens]; 1899 Strassburger Goethevorträge 82 Getrieben von unbändigem Freiheitsdrang trennt er sich von seiner vornehmen Familie und führt mit lustigen Kumpanen rücksichtslos eine Art Vagabundenleben; Bahnsen 1905 Wie ich wurde 242 Diese Art Leute pflegt ja auch so ihre eigene Art Vagabunden-Philosophie zu haben . . . nach der Weise: Ein freies Leben führen wir; Meerheimb 1910 Modell 49 daß ich ein Wonbrüchiger — ein Vagabond bin?; Fendrich 1911 Schauinsland 125 die Diagonale dieser ungleich wirkenden Kräfte auf den Weg des Vagabundenlebens, das er genossen und ausgekostet hat bis auf die bittere Neige; Stegemann 1913 Ewig 9 der Vagabund, der, von allen sozialen Instinkten verlassen, marodierend umherging; Brachvogel 1919 Glück 283 da er schon allein, wie ein armseliger Vagabund in Nacht und Not hatte dahingehen müssen; Voss. Ztg. 23 . 5. 1929 Vagabundenkongreß in Stuttgart (Uberschr.) Noch interessanter als die Bilder ist das Publikum, das heute fast ganz aus den Teilnehmern des Vagabundentreffens besteht. Neben Wandervogel- und Naturaposteltypen, verwegene Gestalten der Landstraße, rauh und ungehobelt, kurz behoste Burschen und nur wenig wirklich verkommen aussehende Subjekte. Im ganzen überwiegt das geistige Proletariat; Berl. Illustr. Nachtausg. 17. 1. 1933 Wenn wir unbefangen nachdenken, dann war Lederstrumpf ein abenteuerlicher Vagabund, der sich gelegentlich ein paar Dollar durch den Verkauf von Tierfellen erwarb. Wenn der Verfasser, um den gefährlichen Ausdruck „Vagabund" für sich selber zu vermeiden, sich einen Waldläufer nennt, so muß man ihn nachsichtig gewähren lassen; ebd. 16. 8. 1933 Vorher lief ein ungemein interessanter Kulturfilm „Grüne Vagabunden", der von der Bewegungsfreiheit gewisser Pflanzen in der Natur erzählte;

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Vagabund

Lokal-Anz. 28. 9. 1934 [Tag] an dem in New York die Vertreter der Vagabundenverbände Amerikas zu ihrer Jahresversammlung zusammentraten, um die neuen Forderungen der Tramps zu besprechen; Lusch. 1936 Br. (II 483) Genau wie vor Jahren möcht ich als Bruder Vagabund losgehn und der Welt verloren gehn; Münch. N. N. 30. 10. 1937 [der] überall, wo die Berge nahe, hoch und schön waren, sein Zelt baute . . . Ein ewiger Bergvagabund; ebd. 31. 1. 1941 Die Regulierung des Dreiländergrenzflusses, der wegen ständig wechselnden Laufes im Volksmund als Vagabund bezeichnet wird; Staiger 1945 Meisterwerke 98 ist Jean Paul der Heiland derer geworden, die im Leben zu kurz gekommen, aber mit reicher Phantasie begabt sind, gescheiterter Künstler, enttäuschter Frauen, verwegener Vagabunden des Geistes, Liebling der Musiker auch; Bergsteiger 1 (1949HO) 1 Es war wirklich im Sinne des Wortes die Epoche der Bergvabunden. Allerdings muss dieses Wort richtig verstanden werden: nicht Tagediebe, die zum Schrecken der Alpenbewohner in den Bergen herumvagabundierten, sondern . . . junge Menschen mit bestem Kern und Willen — nur arm — furchtbar arm — ohne Hilfe und Zukunft, die wie die Vagabunden in die Berge zogen, um in deren Geborgenheit und Reinheit . . . ihr Leid zu vergessen; ¡Catterfeld 1931 Frommel 105 [denkt] an den ganz gewöhnlichen Sperling, an diesen ganz gemeinen Vagabunden unter den Vögeln, der sich auf allen Gassen herumtreibt und den Pferden das Futter aus der Krippe stiehlt; auch für den sorgt der liebe Gott!; Offenburger Tagebl. 16. 1. 1959 „Kein Vagabundenleben mehr!" Europäisches Parlament fordert Entscheidung über Europa-Hauptstadt (Oberschr.); ebd. 10. 2. 1959 Nach französischem Gesetz machen sich alle Personen, die nicht mindestens 500 Francs (vier Mark) bei sich führen, als „Vagabunden" strafbar; Süddtsch. Ztg. 13. 2. 1960 Raketenstufe als Weltraum-Vagabund (Uberschr.); Offenburger Tagebl. 7. 4. 1960 Auf die zunehmende Verwahrlosung der rund 300000 „nicht seßhaft Registrierten", die als Landstreicher, Vagabunden und Taugenichtse die Landstraßen der Bundesrepublik überfluten, und eine ständig wachsende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellen, hat . . . aufmerksam gemacht; FAZ 23. 2. 1970 In Brasilien macht die Polizei seit Tagen Jagd auf alle Jugendlichen, die sie für Hippies hält . . . die brasilianische Regierung die Verhaftungsaktion befohlen, um Brasilien von „Vagabunden" und „arbeitsscheuem Gesindel" zu befreien; Offenburger Tagebl. 18. 3. 1971 Sie halten mit uneingeschränkter Freude an ihrem Vagabundenleben fest — die Säume der Kleider, Mäntel und Röcke. Die Mode läßt ihnen jede Frei-

heit; FAZ 18. 12. 1971 deutscher Dipl.-Ing. . . . verkappter Romantiker u. Vagabund (Anzeige). vagabund: Bertram 1728 Einleitg. 137 ist mehr Rath für eine vagabonde Phantasie, als einen guten so genannten Stilisten zu finden; Sperander 1728 A la mod Sprach 767 Vagabond, Vagabundus, umschweifig, im Lande umher ziehend, flüchtig, unbeständig, unstät; Pückler-Muskau 1834 Tutti IV 131 und setzte sein vagabundes Leben in mehrerer Herren Länder fort; Schadow 1854 Vasari 69 Das vagabunde Seelenleben war ihm so zuwider geworden, daß er sich nach Kopenhagen zurücksehnte. Vagabondage: Kurz 1838 briefl. an Mörike (Briefw. K.-M. 96) Die einzige Ausbeute dieser langen Vagabondage [zweimonatige Abwesenheit von Buoch] betrifft „Schön-Rothaut"; Ratzinger 1884 Armenpß. 587 Für die Unglücklichen, welche der Vagabundage einmal verfallen sind, gibt es selten noch ein Rettungsmittel; Richter 1884 Creditsystem 24 hängt mit dem Armenwesen und der zunehmenden „Vagabondage" aufs Engste zusammen; Ratzinger 1898 Bayr. Gesch. 613 der Vagabondage und dem Bettel preisgegeben; Scheler 1917 Deutschenhass 72 Vagabondage, Bettlertum; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 389 eine Philosophie [die nicht vorankommt] ist Narretei oder Vagabondage; Bäumer 1928 Studien üb. Frauen 29 sie fühlte sich nicht entgleist, sie hatte immer Freiheit, aber nicht Vagabondage und Bohème gewollt; sie hatte einen sicheren Instinkt für die Vorzüge gesellschaftlichen Klassiertseins und wollte sie nicht aufgeben; Bauer 1929 Sozialismus 26 Vagabondage; Voss. Ztg. 24. 4. 1930 Die Zeppelinreisen sind in jedem Sinne die himmlichste Vagabondage, eine Verstärkung aller Wandereindrücke durch die zeitlich und örtlich unmittelbarste Kontrastierung entgegengesetztester Welten, die der fliegende Wunderkoffer zwischen Gestern und Heute übergangslos verbindet; Benn 1949 Ptolemäer 19 Notwendigkeit gibt es offenbar überhaupt nicht in der Natur, sondern nur in der Auflösung der Natur, nämlich im Geist, der ist Zwängen unterworfen, aber handeln — das ist Vagabondage, Freiluftstil. vagabundenhaft: Hansjakob 1879/1909 Jugendzeit (I 157) vagabundenhaften Volkskinder. Vagabundenheit: Keller 1907 Schwaben 305 Aurbachers Hohes Lied der Vagabundenheit. Vagabundentum: Prutz 1847 Gesch. d. dtsch. Theaters 327 Jenes geniale Vagabondenthum (SANDERS DWB); Stahr 1857 Nach 5 Jahren I

vagabundieren 281 vogelfreien Vagabundenthums [der Zigeuner]; Willbrandt 1864 Geister I 3 Ich habe so lange auf Universitäten und Akademien schmarotzert, bin mit meiner Palette durch die Gallerien gekrochen, habe Menschen gesucht und die Natur in Nord und Süd mit meinem Pinsel bestohlen: eben diesem Vagabundenthum muß ich ein Ende machen. Ich kann nicht ewig so herumschwärmen; ebd. I 10 ihr feines Gesicht schien ihrer Tracht und ihrem seltsamen Vagabundenthum gründlich zu widersprechen; Schmidt 1878 Lenz 79 Dieses herumhetzende Vagabundenthum ist ein Zeichen der Klingerschen Dramatik; Ratzinger 1884 Armenpfl. (Reg.) Vagabundentum, Folge mangelnden Arbeitsrechts; Achelis 1891 Prakt. Theologie II 339 Im J . 1881 lenkte der . . . Pastor . . . die allgem. Aufmerksamkeit auf die Landplage des Vagabundentums, die leibliche und sittliche Verkommenheit der ,,reisenden Handwerksburschen" und „Fechtbrüder", die in Scharen von etwa 200000 meist junger arbeitsloser Leute das Land durchzogen, ihren Lebensunterhalt erbettel-

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ten und auf der Bahn des „Stromens" unrettbar zu Grunde gingen; ebd. II 341 sittliche Schwäche, und infolge davon Arbeitsscheu jene Leute auf die Bahn des Vagabundentums getrieben; Bonhöffer 1900 Ein Beitrag zur Kenntnis der grosstädtischen Bettel- und Vagabondentums (Titel); Lamprecht 1912 DGjV. I 473 [die unterste Klasse des 4. Standes ist] das Sammelgebiet für die ungeheuere fluktuierende Masse des modernen Vagabundentums; Hesse 1920 Wanderung 29 das Wanderleben, das ich liebe, das ziellose Schweifen, die sonnigen Rasten, das befreite Vagabundentum. Ich neige sehr dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben; Lokal-Anz. 10. 8. 1934 Die Poesie des Vagabundentums. vagabundisch: 1737 Jüd. Baldober 1 wider das vagabundische Diebs- und RauberGesindlein; Roscher 1899 Handel (System III 51) die Gesinnung aus einer bürgerlichen zu einer halb vagabundischen herabzudrücken.

vagabundieren V.intrans., seit Anfang 19. Jh. (CAMPE) nachgewiesene Ableitung von —» Vagabund, bis ins frühere 20. Jh. auch in der Form vagabondieren; auch als Präfixbildung herum-, umhervagabundieren in der Bed. wie ein Vagabund umherziehen, -schweifen, -streunen; herumstrolchen, sich herumtreiben; ständig den Aufenthaltsort wechseln; ein unstetes, rastloses Leben führen' (vgl. vagieren, —> Vagant), gelegentlich bildlich verwendet; häufig in der Part. Präs.-Form vagabundierend adj. gebraucht, auch übertragen in der Wirtschaft in Syntagmen wie vagabundierende Kaufkraft Teile des Einkommens, die dem Verbraucher frei zur Verfügung stehen' und vagabundierende Kapitalien 'Gelder, die frei von Land zu Land kursieren und störende Fluktuationen im Kapitalverkehr verursachen (können)', und in der Technik im Syntagma vagabundierende Ströme 'Ströme aus Starkstomleitungen, die in den (feuchten) Erdboden gelangen und an unterirdischen Gas-, Wasserleitungen u. ä. Korrosionsschäden anrichten; Streu-, Irrströme'; daneben im 19. Jh. die verbale Gelegenheitsableitung vervagabunden' (die Zeit) vertun, vertrödeln'. vagabundieren: Görres 1822 heil. Allianz (V Iii) Ohne Heimath und ohne Vaterland vagabundiren sie wie diese nicht bloß von Ort zu Ort; 1842 Br. Schücking-Gall 25 alle vagabundierenden Literaten; Blanc 1847 Organisation d. Arbeit (Ubers.) 11 Gesetz gegen das Vagabundiren; Stolz 1848 Wanderbüchlein (VI 533) ein vagabundierendes Handwerksbürschlein; 1852 Prutz'Museum I 86 ein vagabondirendes Theater; Scheffel 1852 Italien (Br.) 40 mir . . . der itzt landschaftlich vagabundiert; ebd. (1853) 87 den vagabundierenden Herrn Sohn; Perthes 1856 Herbergswesen 38 Der vagabondirenden Bettellust leisten zahllose Herbergsväter Vorschub; Stahr 1857 Nach 5 Jahren I 283

Liederlichkeit . . . eines vagabundirenden Dorfmusikanten; Willkomm 1857 Ammer 287 um die vagabondirende Familie nicht zu erzürnen; Riehl 1861 Land 137 Denn jene fluthende, nicht zerflossene, fluctuirende, nicht vagabundirende, Bevölkerung wird in den Städten in Kurzem eben so die Mehrheit bilden, wie auf dem Lande die stehende Bevölkerung; ebd. 399 So sind die meisten jener böhmischen und fuldischen Musikanten, welche in so großer Zahl die Welt durchziehen, keineswegs vagabundirende Proletarier, sondern meist Leute, die daheim eine Werkstätte oder ein kleines Gütchen wieder finden, wann sie nach jeder Wanderfahrt auf eine Weile nach Hause gehen;

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Raabe 1864 Hungerpastor 303 er hatte erkannt, weshalb der vagabundierende Bettelleutnant Rudolf Götz ihn in dieses Haus . . . gebracht hatte; 1864 Hausblätter I 123 verdient sich seinen Lebensunterhalt durch Vagabundiren; Falke 1866 Gesch. d. mod. Geschmacks 179 des bettelhaften, zerlumpten, vagabondierenden Volkes; Berlepsch 1875 Schweizerkunde 370 vagabondirenden Kesselflickern, Scheerenschleifern, Korbflechtern und ähnlichem Gesindel; Tovote 1890 Mutter 9 mit seiner zum Vagabondieren neigenden Natur; Böhmer 1915 Sklavinnen 103 ich wünschte brennend, wir wären in anderen Sphären geboren — wären frei vagabundierende Bohemiens — pfiffen auf Hemmungen und Hindernisse — lebten uns einfach aus!; Frankf. Ztg. 30. 5. 1916 Von „vagabundierenden Strömen" ist in diesem Lustspiel oft die Rede und zwar in einseitigem Bezug auf Erotik. Man möchte aber viel lieber von vagabundierenden literarisch-künstlerischen Strömen sprechen. Denn hier ist alles: ein bißchen Raisonneurkomödie, ein Stückchen Intriguenlustspiel und sehr viel von dem guten Kopenhagener Feuilletongeist; Sombart 1930 Nationalök. 247 Aus solchem vagierenden und vagabundierenden Gesindel [ungeklärte Begriffe in der Nationalökonomie]; Berl. Morgenpost 19. 5. 1931 Der durch alle Welt vagabundierende Schalk ist — des Wanderns müde — auf dem Heimweg und gerät in eine kleine Stadt; Lokal-Anz. 7. 1. 1933 Er lebte, durch die Tunnel vagabundierend, von Lichtschacht zu Lichtschacht, bis ihn seine jetzige Besitzerin mit Feuerwehr und Ausdauer herausholte, ihn zärtlich pflegte, bis aus einem Strolch ein Gentleman wurde; 8 Uhr Abendbl. 6. 6. 1933 er verstrickt sich nicht in die Magien gauklerischer Träume, in die glitzernden Impressionen vagabundierenden Gefühls; Lokal-Anz. 9. 7. 1933 Dort hatte neulich die Obrigkeit einen Trupp Zigeuner wegen Vagabundierens eingesperrt; 1935 Volk u. Reich 335 die national vagabondierenden Schichten des Adels; Dtsch. AZ. 24. 10. 1935 So wandert im Anfang das Mestizenmädchen Lena, von Auto zu Auto vagabundierend, aus Alabama in Richtung Tenessee; Hoffmann 1937 Soziale Sicherheit 45 Die Bewegung dieser „vagabundierenden Kapitalien" hat schon von jeher den besonderen Besorgnisgegenstand der Notenbanken . . . gebildet; Münch. N. N. März 1938 Spaß mit Zigeunern (Überschr.) Es scheint, als wären die vagabundierenden Musikanten recht gut organisiert, denn niemals kommen sie einander zu nahe; Muhs 1940 Kriegsfinanzierung 33 Auswirkungen der „vagabundierenden" Kaufkraft . . . Umfang dieser freien oder „vagabundierenden" Kaufkraft; 1942 Wehrtechn. Mon'h. 169 die vagabundierende Kaufkraft; Delaisi 1943 Revolution (Übers.) 10 vagabundieren-

den Kapitalien; N. Z. Z. 3. 10. 1943 die im Wirbel jener Tage vagabundierenden Vorstellungen in eine bestimmte Richtung zu lenken; ebd. 19. 3. 1944 Der internationale Stabilisierungsfonds wird im besondern nicht imstande sein, die Auswirkungen aufzufangen, die die Bewegungen „vagabundierender Kapitalien" auf die nationalen Devisenkurse auszuüben vermögen; Dtsch. AZ. 27. 9. 1944 Die vagabundierende Jugend, die nichts zu tun hatte . . . der Ruin alles geordneten Lebens: nichts davon ist uns fremd; Münch. N. N. 21. 5. 1945 Die Plage vagabundierender Kinder (Überschr.) gehört auch die Wiederholung einer der entsetzlichsten Plagen der ersten bolschewistischen Revolutionsjahre: Schrecken und Elend des Bezprisornij, der eitern- und obdachlosen Kinder, die als Diebe, Räuber, Zuhälter durchs Land ziehen; Süddtsch. Ztg. 17. 1. 1953 Der Omnibusverkehr im Münchner Stadtgebiet ist wild vagabundierend und in dieser Form der bedeutendsten Fremdenverkehrsstadt des Bundesgebietes unwürdig; ebd. 31. 5. 1954 Obgleich der § 324, Absatz c, des Zugvogelgesetzes vagabundierenden Staren das Benutzen fiskalischer Gebäude zu Übernachtungszwecken ausdrücklich untersagt . . . machen sich die gesellig-redseligen Schwarzfräcke nicht viel daraus; Köster 1954 Einltg. zu Huizinga, Gesch. IX ist [Huizingas] Verhältnis zu der strengsten aller Musen, wie er Klio genannt hat, immer ein mehr oder minder vagabundierendes geblieben; in der streng geschlossenen Gilde der Geschichtsforscher hat er sich . . . nie zu Hause gefühlt; Stuttgarter Ztg. 16. 3. 1961 weshalb sich vor allem der Konkurrenzkampf um die „vagabundierende Kaufkraft" verstärke, also der Kampf um jene Einkommensteile, über die der Verbraucher frei verfügt; Offenburger Tagebl. 7. 11. 1963 vagabundierende Werbeagentur; 1969 Neue Justiz o. S. die öffentliche Ordnung . . . gefährdenden vagabundierenden Arbeitsscheuen (WDG); 1971 Junge Wirtschaft H. 617 Der weitaus größere Teil des vagabundierenden Geldes ist nach Deutschland hereingeströmt, da es sich in Amerika unwohl gefühlt hat und fast alle anderen Industriestaaten der Welt . . . das Einströmen solcher Gelder unmöglich gemacht haben . . . es liegt lediglich an deutschen Entscheidungen, ob wir im Gegensatz zu allen anderen Ländern vagabundierendes Geld zum Hereinströmen auffordern. herum vagabundieren: Saltarino um 1880 A. 57 als ob sie von Jugend auf in der Welt herumvagabondirt wäre; Fulda 1887 Dürer 85 er werde sich hüten, seine Arbeit im Stich zu lassen und wie ein reicher Engländer in der Welt herumzuvagabundieren; Hammerstein 1916 Februar 236 Und du mit deinem freiheitstrunkenen Herumvagabundie-

Vagant ren; Bahr 1925 Liebe I 15 dass ich, nachdem ich . . . in Berlin, Paris, Madrid, Tanger, wieder Paris, wieder Berlin und . . . in Petersburg herumvagabundiert, zurück nach Wien kam; Münch. N. N. 16. 10. 1940 mit der er im Lande herumvagabundierte und von Betrügereien lebte; ebd. 21. 4. 1944 begannen sie reichliche Hilfe dem herumvagabundierenden kommunistischen Gesindel zu bieten; Bergsteiger 17 (1949/50) 1 Tagediebe, die zum Schrecken der Alpenbewohner in den Bergen herumvagabundierten; Döblin 1959 Mensch 22 Die Töne und das Licht kann man nicht

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frei in der Welt herumvagabundieren lassen . . . und es stellt sich heraus, dass man sie auf Schwingungen und Ätherwellen zurückführen kann. umhervagabundieren: Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. I 97 bin ich [mit meinen Gedanken und Meinungen] umher vagabondirt auf diesen Blättern. vervagabunden: Goethe vor 1832 (Diezmann, Weimar. 19) Der Abend gestern ward mit Würfeln und Karten vervagabundet (SANDERS DWB).

Vagant M. (-en; -en), seit frühem 16. Jh. nachgewiesen, zurückgehend auf (m)lat. vagari, —»Vagabund (vgl. gleichbed. mlat. scholares vagi); 1 zunächst, meist pl. verwendet, als (historische) Bezeichnung für wandernde Schüler, Scholaren, die oft unter Absingen von geistlichen Liedern ihren Lebensunterhalt erbetteln mußten, schon früh ausgedehnt auf (nichtStudierende) Umherziehende aller Art im Sinne von 'Landstreicher', auch im Sing., gleichbed. mit —* Vagabund und wie dieses häufig abwertend gebraucht; seit späterem 19. Jh. im engeren Sinne als historische Bezeichnung für die fahrenden Scholaren, Kleriker, Sänger usw. des 12./13. Jhs., die zunächst in Frankreich (Goliarden), dann auch in England und Deutschland umherzogen und mit Bettel-, Spiel-, Trink- und Tanzliedern in lat. Sprache, in denen sie Liebe, Wein, Geselligkeit u. ä. besangen und Konventionen, Institutionen o. ä. satirisch angriffen, ihren Lebensunterhalt bei lateinkundigen Höfen, Abteien etc. verdienten, häufig als Bestimmungswort in Zss. wie Vagantendichtung, -poesie, -lied, -Strophe. Dazu seit spätem 19. Jh. die subst. Ableitung Vagantentuni N. (-s; ohne PI.) Vagabundentum, Vagantendasein', kollektiv auch 'die Vaganten', und in neuester Zeit die adj. Gelegenheitsableitung vagantisch 'wie ein Vagant, vagabundenhaft'. 2 Im 16. Jh. selten nachgewiesen als Fachausdruck der Musik zur Bezeichnung einer fünften Stimme ohne feste Stimmlage (meist als zweiter Tenor), die zum strengen vierstimmigen Satz hinzukommt, dafür heute Vagans, Quintus. Dazu seit früherem 16. Jh. aus gleichbed. (m)lat. vagari übernommenes, heute seltenes vagieren V.intrans., auch als Präfixbildung um-, umher- und vor allem herumvagieren, in der Bed. 'umherschweifen, -streichen, -streunen, herumstreichen; schlendern, wandern' (vgl. —» vagabundieren), gelegentlich übertragen auf Flüsse, Tiere, Gedanken u. ä., mit der schon seit Anfang 16. Jh. bezeugten, veralteten Personalableitung Vagierer, und Ende 16. Jh. vereinzelt 'den Vagans spielen, singen' (zu 2). Vagant 1: 1522 Schulmaisters beschwerden (Veesenmeyer 21) Item dyselben Vaganten, discoli oder wie sy genant sin sollen (NYSTRÖM); Paracelsus 1562 Spitalbuch ]4b dann auß solcher vngeschickter artzney so Doctor vnnd Meyster offt brauchen mitsampt andern Vaganten / were nicht ein wunder das noch vil mehr vnerhörte kranckheiten auffstünden; 1569 Regensb. Synodalbeschluß (M.

G. P. XLII 323) In Aufnemung der knaben soll ein delectus vnd solche Ordnung gehaltten werden, das man nit yede Vaganten oder stertzer . . . aufneme (NYSTRÖM); Breslauer SO 1570 Vormb. I 202 der vmlauffenden Vaganten, so von einer Schulen zu der andern lauffen (NYSTRÖM); Rot 1571 Dictionarius 357f. Vagant, Ein stertzer / hin vnd wider schweifer / der an keinem ort bleibt

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Vagant

/der heut da / morgen anders wo ist; Thumeisser 1583 Onomast. II 185 die, so nit an einem ort bleiben, Vaganten; Gebhardt 1597 Fürstl. Tischreden 95 daß nicht alle die jenigen so den Fürsten newe Künst anbieten, als Vaganten zu Verstössen seyen; Löhneyß 1622 Aulicopolitica 275a die andern Müssiggänger vnnd Schulflüchtige Vaganten; Moscherosch um 1643 Philander I 98 ihr vagiret, wie die Vaganten alle (DWB); Gehhardt 1656 V. d. Kunst, reich zu werden 55 Bißhero raiste ich durch Westpfalen / allwo ich die gantze Strassen waiß und was für Schulvaganten vnzogenlicher weiß habe singen hören; Mengering 1661 Gewissensrecht 470 diese Welt-Umläuffer und vaganten; 1663 Schuppius (60) ich bin biszhero ein sonderbarer patron der vaganten gewesen, allein ich sehe, dasz man die faulen schlüngel nur stärcke in ihrer faullentzerei . . . wenn hinführo ein vagant zu mir kombt, so wil ich ihm kein geld . . . geben (DWB); ebd. 660 ich kenne einen vaganten alhier, welcher weib und kinder hat und desz abends mit andern vaganten herumgehet und singet (DWB); ebd. 789 ich hätte zwar leichtlich einen jungen lesebengel (wie der gemeine mann zu Hamburg die vaganten und schüler, so für den thüren singen, nennet) dingen können (DWB); Grimmelshausen 1669 Simpl. I 1 lebensbeschreibung eines einfältigen, wunderlichen und seltzamen vaganten (DWB); Weimar. SO 1670 Mitteil. VIII 349 Welche mit schriftlichen testimonijs nicht versehen undt gemeiniglich Vaganten undt landstreicher (NYSTRÖM); Grimmelshausen 1672 Vogelnest (III 308) liederliche Betler, Vaganten und unnütze Landstörtzer, mit denen unser Teutschland gleichsam überschwämt ist; Weise 1675 Kl. Leute 185 es waren zwei vaganten mit ihrer vocalmusik durch das Städtchen gelauffen (DWB); ebd. 187 wohl dem, der alsdenn das vagantenhandwerk gelernet hat (DWB); ebd. 188 wer einen rechten freiherrn haben will, der lasse nur einen vaganten abmahlen (DWB); 1679 Corylo 150 indem in dem Dorff ein Land-Vagant mit einem so wunderbahren Thier aus America ankommen, desgleichen in denen Teutschen Landen von wenigen, oder aber von niemanden wäre gesehen worden; 1684 Haspel-Hannss 61 Unterwegs wilt du, wie andere vaganten auch thun, umb ein Viaticum singen, und das Geld fein zusamen spahren, damit du auff Universitäten auch damit stutzen kanst; Pyritzer SO 1721 Mitteil. X 157 Wie dann Vaganten, die weder glaubwürdige Testimonia noch ein Buch, als ein Zeichen einiger Lehrbegierde vorzeigen können (NYSTRÖM); 1759 Hildburgh. Ern. Almosenordn. o. S. nach abweisung aller vaganten, landstreicher, gardebrüder, zigeuner etc. (DWB); Zimmermann 1784 Einsamkeit I 229 Eine vierte Gattung von Egyp-

tischen Mönchen hiessen Herumschweifende (gyrovagi), denn sie machten . . . an jedem Orte nur eine kurze Residenz . . . Jene Cenobiten, Anachoreten, Sarabaiten, und diese Vaganten, mit einem Worte dieses ganze heilige Gesindel; Galler 1785 Bad. Oberland 19 wurden mehrere verdächtige, nahrungslose Leute oder sogenannte Vaganten eingebracht; 1786 Journal v. u. f . Deutschland II 524 Man arretierte diese Vaganten, man fand noch einen von den im Pfarrhaus entwendeten silbernen Löffeln bey ihnen; 1803 Pfalz-Neuburg. Provinzialblätter 151 Vaganten im eigentlichen Sinne einem namenlosen lüderlichen Gesindel; 1828 Baier. Int'Bl. (Isar) 523 Bey Vorlage der Vagantenkosten-Rechnungen ist häufig die Bemerkung gemacht worden, daß auch in den Fällen, wo die Vaganten nicht auf dem Transporte befindlich, sondern im polizeylichen Arreste detinirt waren, der für Verpflegung . . . festgesetzte Betrag in Aufrechnung gebracht wurde; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre II 123 Auf der einen Seite drohte das Gesetz, das . . . ihnen unter der Bezeichnung Vaganten nichts zu schenken versprach, auf der andern eine unwillkommene Verbrüderung mit echten Landstreichern; ebd. II 136 Ich bin auch noch Zollvisitator und Hatschier dazu und habe die Verpflichtung, Vaganten anzuhalten; 1863 V'j'schr. Volkswirtschaft III 45 die strengsten Strafgesetze gegen Bettler, Vaganten, Vagabunden und „verdächtiges Gesindel"; Hubatsch 1870 Die lateinischen Vagantenlieder des Mittelalters (Titel); Imelmann 1877 70er Jahre 44 die oft kunstwidrig hyperrealistische Haltung dieser Vagantendichtung; ebd. 46 Und darf man nicht selbst Goethes Wilhelm Meister als einen, nur in höhere Sphäre gehobenen, die Idee der Gattung erfüllenden, die Breite des Lebens und die Entwicklungsgeheimnisse einer strebenden Menschenseele künstlerisch spiegelnden und offenbarenden Vagantenroman bezeichnen?; Schreiber mittellateinischen 1894 Die Vagantenstrophe der Dichtung (Titel); Baumbach 1896 Landstrasse 20 Dass ich ein Vagante bin ohne rothen Stüber; Schmidt, Persönlichkeit (Rektorrede Berl. 1909) 8 den genussfrohen, haltlosen Vagantennaturen Frischlins und Schubarts; Süssmilch 1917 Die lateinische Vagantenpoesie des 12. und 13. Jahrhunderts als Kulturerscheinung (Titel); Diederichs 1927 Leben 42 Niemand ahnte auch in dem farbigen Vagantenvater einen Verleger . . . Doch wir zogen nicht auf Vagantenfahrten, um zu schlemmen, sondern mehr, um in solcher Art zu geben, wie es den „Lustigen von Weimar und Jena" geziemte; ebd. 45 von . . . etwa hundert Landsknechten und Marketenderinnen, ebensovielen Vaganten aus Jena und Leipzig; Klepper 1932—42 Schatten 267 sonst käme ich niemals von der Reise wieder und

Vagant würde zum Vaganten werden (WDG); Lulu v. Strauss u. Tomey-Diederichs 1936 Einltg. z. Diederichs Br. 19 in Jena ein Kreis junger Studenten und Künstler, der unter seiner Anregung . . . fröhliche „Vagantenfahrten" ins romantische Saaletal machte; Hankamer 1947 Gegenref. 91 Im Kreise derer, die Cysarz Scholaren und Vaganten nennt; Heuss 1959 Ort 87 Fast immer ist ein Vagant dabei, mit einer Geige, einer Harmonika, ein Taugenichts, der sich so durchs Leben ficht; Reitzenstein 1963 Städte 21 Denn der grosse Ordner der ostfränkischen (deutschen) Kirche . . . Winfrid-Bonifatius war diesen Vaganten Christi nicht geneigt; FAX 26. 8. 1970 hier fanden sich täglich und vor allem nachts die bizarr oder schlicht in Lumpen gekleideten Brüder und Schwestern ein, solche aus dem Orden der Bettelmönche und Vaganten unseres Jahrhunderts, bedeckten den Platz und seine Umgebung mit Abfall, gewannen in kindlicher Unschuld Glück aus Drogen. Vagantentum: Wolff 1887 Hagestolze 169 Das wurde unter dem Vagantenthum Schwabens und der Pfalz bald bekannt; Pan 3 (1912/13) 716 Schon vorher hatte mir bisweilen . . . mancher, etwan ein Student, der nachts im Asyl schlief und tags in Bibliotheken arbeitete, seltsam gute Verse geschickt — worin aus dem Vagantentum was ins Dichterische hinüberwirkte. (Das Vagantentum hat in der deutschen Verskunst eine alte Ueberlieferung); 1929Jahrbuch Dichtung 143 [Lessing] ein gelehrter Dichter, ein dichtender Gelehrter, vielleicht der letzte, in dem noch etwas von der Humanistentradition lebendig war; auch sein Vagantentum stellt ihn zu den Menschen der Renaissance, und die Zeit, die er heraufführen half, war ja die um zwei Jahrhunderte verschleppte deutsche Renaissance; Petzet 1944 Falckenherg 167 das Problem des Vagantentums, das Problem des Bohemiens von heute. vagantisch: Flake 1960 Abend 173 eine junge Frau, die alles mitmachte, vagantisch und burschikos. vagieren: Alberus 1539 Widder Jörg Witzeln [Mammeluken L7b] da will ich vagiren vnd wulen durch dz gantz alt vnd new testament (DWB); 1540 Gutachten d. bayer. Bischöfe (M. G. P. XLI 213) daz den Armen Schuelern nit gestatt wurde, hin vnnd wieder, von ainer Schuel Zue der Andern Zevagirn, sonder wo ainer an ainem Ort Zu Schuel gangen vnnd die Prebend, ain Zeitlang genomen hett (NYSTRÖM); Alberus vor 1553 (59b) wann nun die Ader fast fünff meil von Franckfurt hat vagirt mit eil (DWB); Paracelsus 1570 Archidoxa

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Y3h vnd Betlers weiß von einem Landt durch das ander vagir; Fischart 1572 APG 9 Studenten die nicht lieber vagieren (RUTTER); Thumeisser 1583 Onomast. II 39 Boss Leuchter, heist Paracelsus diese, welche die jenigen so mit viel Büchern hin vnd wieder vagiren, hochhalten, jhnen grosse ehr anthun; Bern SO 1591 (M. G. P. Beih. XII 49) hiemit viel unützes vagieren vnd umschweiffen zevermiden (NYSTRÖM); 1608 (Lurz. Dok. II 76) das Stürtzen vnnd Vagieren . . . nit gestatten; Bern SO 1616 Mitteil. IX 307 damit dem Gassentretten und Vagieren gewehrt (NYSTRÖM); Löhneyß 1622 Aulicopolitica B9a man kan leichtlich hin und her vagiren, vnd herumb schweiffen, viel Gelt verzehren; 1636 (Archiv f . österr. Gesch. 97 (1909) 355) Joh. Huefeisen, vagirender Brunhe, mit dem Schwerd instificirt; Moscherosch um 1643 Philander 198 so kan es euch . . . nicht fehlen . . . als die ihr . . . die extravagantien im hirn und hertzen habet, mit welchen ihr vagiret, wie die Vaganten alle (DWB); Wissmarer SO 1665 (M. G. P. XLIV133) Es soll aber nicht verstattet werden, dasz die Jugend . . . ohne Unterschied vagieren und umbsingen (NYSTRÖM); Grimmelshausen 1672 Vogelnest (III 433) nach einem vagirenden Landstörtzer; Weise 1675 Kl. Leute 188 unlängst vagirte ich durch eine Stadt (DWB); Hörl 1677 Bacchusia 48 bey so vil tausend hin vnd her vagirenden Soldaten; 1701 Schuppius (713) es stehe dem gemeinen nutzen nicht zu, dasz sie meine gastereien, mein vagiren, ausz- und eingang . . . nicht so theuer erkauffeten (DWB); Leib 1708 1. Probe 8 vagirende Handwerks-Gesellen; Ertl 1712 Buss-Kraut 42 einem solchen vagirenden LandSchlüffel und Bettelsack; 1786 Journal v. u. f . Deutschland II 507 einen vagirenden Schöngeist; Dincklage 1870 Gesch. II 56 ich erinnerte mich, ihm schon öfter begegnet zu sein, hielt ihn aber bisher eher für einen vagirenden Straßenkünstler, als für einen herrschaftlichen Rentmeister; Gutzkow vor 1878 Serapionsbrüder I 43 er hatte über vagirendes lumpenthum consulatserfahrungen (DWB); Hamack 1880 (I 119) die vagierenden und nichtsnutzigen Mönche; Meyer 1903 Studien 47 dieser vagierenden Bettler; Stickelberger 1915—18 Novellen (VIII 14) vagierendes Frauenvolk; Freud 1917 Psychopathologie 48 Die „schwebenden" oder „vagierenden" Sprachbilder; 1926 Sittengesch. d. Intimen 79 Es [das Bett] steht als lockendes Fanal da für die vagierenden Ritter auf den Wegen amouröser Abenteuer; Sombart 1930 Nationalök. 247 Aus solchem vagierenden und vagabundierenden Gesindel; Petzet 1944 Falckenberg 167 der sich — nach Jahren des erotischen Vagierens — nach einem Heim . . . sehnt; Dörfler 1947 Sohn 22 Alle Versuche, das grassierende Bettelwesen, das parasitische Streu-

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Vagant

nertum, das vagierende Volk der Strassen und sogar das Raubwesen aus den . . . kleinen Herrschaften Schwabens . . . zu bannen; Heuss 1951 Qualität 62 Alfred Roller hatte . . .Hitler beim Aufnahmeexamen durchfallen lassen und damit stiess er [ihn] in das gekränkte Vagieren des disziplinlosen Bohemetums. herumvagieren: 1653 (Jahrb. Gesch. V. Göttinnen 1 (1908) 142) Demnach Ich Heinrich Bartholdes ohnlengsterweile nebenst etlichen Studenten hiesiges Paedagogij gelüsten lassen des nachts auff der gassen Berauscht herumb zu vagiren und mit Jauchzen und Hawen in die Steine muttwillen zu ueruben, und dadurch . . . in E. E. Raths custodi gebracht worden bin; 1660 Sammlung wirzburg. Landesverord. I 254" eine müssig gehende Gesellschaft von ausländischen freunden sowohl Mannsoder Weibspersonen . . . welche im Land herum vagiret; 1662 Beschreibung d. Zigeuner C2k verruchte Strassen-Räuber, starcke Bettler, herum vagirende Betrüger; Grimmelshausen 1669 Simpl. 1434 ich vagirte um unsre brigade herum, wie ein Windsbraut (DWB); ebd. II 55 (creaturen, die) gleichsam wie schwermerlein aus einer aufgestiegenen ratquet. . . herum vagirten (DWB); ebd. II 75 die fische aber, deren wir grosz und klein und von unzahlbarer art eine grosze menge hin und wieder über uns im wasser herum vagiren sahen (DWB); Becher 1686 Politischer Discurs 173 die im dem Land herumb vagierende Bändlkrämer, Spazecamin; Frisius 1707—34 Ceremoniel (Kürschner 1734) 315 Denn wer stets im Lande herum vagiret, der thut wieder die Ordnung der Natur; ebd. (Fleischhauer 1715) 804 an Sonn- und Festtagen lieber in denen Dörffern herum vagiren; 1713 Fama XXVI 111 rumvagirende Soldaten oder Freybeuter; 1716 Von denen Juden 9 Er hätte auch alle Länder der Welt durchreiset, und solle also herum vagiren, biss der Messias in seiner Herrlichkeit erscheinet; 1720 (Mit. G. Erz'gesch. 13 (1903) 184) ein solch herum fagirender und Hochtrabender Schulfuchs mit seinen Mordgewehr; Klinger 1780 Plimplamplasko 198 und was sein Antkliz voll Würde, Gleichheit und sichrer Festheit, und seine Augen die himmelblau waren vagirten nit hrum, sundern gössen still Büke und Strahlen von sich; Müller 1811 (I 318) bist denn genug draus rum vagirt, gefiel dirs jetzt daheim? (DWB); Eichendorff 1826 Taugenichts 8 wie ich nur fein nüchtern und arbeitsam sein, nicht in der weit herumvagiren, keine brodlosen künste und unnützes zeug treiben solle (DWB); Sudermann 1893 Heimat 26 auf den Strassen herumvagieren wie die verlaufenen Hunde; Nyström 1915 Schulterminologie 234 An das herumvagierende Schulvolk

schlössen sich häufig Abenteurer und zügellose Nichtstuer der bedenklichsten Art an, die unter dem Vorwand des Studierens bettelnd und auf allerlei schlechten und rechten Wegen ihr Auskommen suchten. Diese verbummelte Genossenschaft war selbstverständlich nicht gerade geeignet, das Ansehen der wandernden Scholaren zu heben, deren Ruf sowieso nicht der beste war. umvagieren: Franck 1531 Von der Trunckenheyt Fii" Vagierenn umb, lassen weib und kind sitzen. umhervagieren: Goethe vor 1832 (XXI 179) Nachdem er mit meinem Umher-Vagieren im Diskurse einige Zeit Geduld gehabt (SANDERS DWB); Fleischer 1911 Wendelin 14 Seinen Schulkameraden, die in diesen Tagen die neuerrungene Freiheit mit vielem Bier und Tabaksqualm einweihten und bis in den dämmernden Morgen in der Stadt drinnen umhervagierten, ward er bald untreu. Vagierer: Anfang 16. Jh. Liber Vagatorum (Weimar. Jahrb. IV 83) das 7 capitel ist von vagierern. das sint betler oder abenteurer, die die gelen garn antragen und aus frau Venusberg kommen und die schwarzen kunst können und werden genant farende schüler. vor diesen vagierern hüt dich, dan womit sie umbgeen, ist alles erlogen (DWB); Murner 1512 Narrenbeschw. 61 grantner, vopper und vagierer, klenker, depser, karmesierer (DWB); ebd. III so will der thenger haben suw Sant Veltlin ander stazionirer, betler, fopper und vagierer, die betlerin die liren stimt, der farend schüler ouch innimt (DWB); Römer 1521 Dialog 69 Wie wol mancher vagierer spricht, es wer nit gut, das jeglich stat jr betler zyechen solt. Vagant 2: Scheidt 1553 Fröhliche Heimfahrt 10 Die Troschel fürt steiff den Tenor, Die Lerch den Alt sang hoch entbor, Ein Distelfinck hielt Discant, Fraw Nachtigall braucht jrn Vagant; Rot 1571 Dictionarius 358 Jtem die Singer heyssen die fünfft stimm / so ausser des Discant, Alt, Tenor, vnnd Bass, auch Vagant, darumb das er nicht gewisse statt vnd Ordnung hat / wie andre stimm / sonder ein weyl hoch / ein weyl nider geht / vnnd gegen andern stimmen zurechnen / gleichsam ein störtzer ist / der sich vberall / wa es füg hat zumacht vnd applicirt; 1585 Cyclopedia Paracelsica I 33 Vagant. vagieren: Fischart 1590 Garg. 171 ich will mit dem gustruff baszieren, so tenorier du mit deim kranchhalsz, vnnd der vagier mit dem lüllzagelzincken (DWB).

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vage v a g ( e ) A d j . , i m späteren 1 8 . J h . a u f g e k o m m e n , w o h l ü b e r gleichbed. f r z . z u r ü c k g e h e n d auf lat. vagus

vague

u n s t e t ; u m h e r s c h w e i f e n d , - s t r e i f e n d ' ( z u vagari,

—*

V a g a b u n d ) ; a selten in d e r veralteten B e d . u m h e r s c h w e i f e n d ; u n s t e t ' , vgl. —* V a g a n t 1; b gleichzeitig a u c h in d e r d o m i n a n t e n B e d .

unbestimmt, ungewiß; nicht genau,

n i c h t klar u m r i s s e n ; u n s c h a r f , s c h w a n k e n d , v e r s c h w o m m e n ; u n s i c h e r ; u n p r ä z i s e ' , meist v o n H o f f n u n g e n , V o r s t e l l u n g e n , G e f ü h l e n , Begriffen, V e r s p r e c h u n g e n u . ä . und von

Konturen,

Umrissen;

dazu

seit f r ü h e r e m

19. Jh.

die seltene

subst.

Ableitung V a g h e i t F . ( - ; -en ungebr.) Unbestimmtheit, Ungewißheit, V e r s c h w o m m e n h e i t ; u n b e s t i m m t e , v a g e A u s s a g e ' ; c seit f r ü h e r e m 1 9 . J h . in d e r Z s . b o d e n v a g als F a c h a u s d r u c k der B o t a n i k n a c h g e w i e s e n für auf vielerlei B o d e n a r t e n w a c h s e n d , gedeihend' (Ggs.

bodenstet).

vag(e) a: Heinse 1771 Br. (IX 13) die vage Liebe des vaterlosen wilden Zustandes des menschlichen Geschlechtes; Goethe 1827-42 (W. III 126) Auf der vagen Züge Schweif ist uns ganz abscheulich (KEHREIN); den. vor 1832 (XXII 160) die einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstätes vermögen, während das ganze verdienst des bildenden künstlers darin bestehe, daß er sie immer mehr besimmen, festhalten, ja endlich bis zur gegenwart erhöhen lerne (DWB). vag(e) b: Goethe 1779 Br. (IV 47) Ein Drama ist wie ein Brennglas wenn der Ackteur unsicher ist, und den focum nicht treffend findet, weis kein Mensch was er aus dem kalten und vagen Scheine machen soll; Heinse 1780 Br. (X 10) Es war eine Lücke in meinem Wesen, die so etwas Vages nicht ausfüllen konnte; 1780 ADB 42, 103 ein gewöhnlicher, aber vager Ausdruck; Vom Stein 1793 (Denkw. u. Br. 53) den vagen Wunsch; Beck 1799 Propädeutik 219 Das Schlängeln der Figuren auf einer Tapete wird als vage Schönheit aufgenommen; Herder 1801 Adrastea I (XXIII166) Ludwig X I V . . . hat . . . dem vagen Kriegsruhen sehr geschadet; Schall 1824 Kinderspiel (Jahrb. D. Bühnenspiele IV 288) ein so dunkles, vages Gefühl, wie die Liebe eins ist; Stiedenroth 1825 Psych. II 280 vage Hypothesen; Goethe 1827-42 (W. XXXI38) Das allgemeine Interesse war doch ein vages (KEHREIN); Heine 1834 Salon IV 213 daher auch das Vage und Mystische des Plato; Schlesier 1836 Ohd. Staaten 10 mag für deutsche Interessen ein sicherer Erfolg zu hoffen seyn, und wo nicht ein vager, allgemeiner Wunsch, sondern die Einsicht in das zunächst Mögliche und N o t wendige gesprochen hat; Lewald 1837 Aquarelle III 163 Mir war ein vages Bild wohl durch den Kopf gezogen, das ich mit leichter Mühe als Theaterstück gestalten zu können hoffte; Wetzel 1841 Dresdner Pamass 24 alle jene vagen, grundlosen . . . Rekriminazionen; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre III 74 es ist auch keinem wohl bei 7 Fremdwörterbuch

dieser vagen Religion; Humboldt 1845—58 Kosmos 1119 der kosmische nebel. . . die individuelle Verschiedenheit der cometenkörper . . . ersetzen durch mannichfaltigkeit der motive reichlich, was die früheren jahrhunderte in der vagen furcht von trennenden Schwertern' zusammenfaszten (DWB); Gutzkow 1850-52 Ritter (1865-66 V 56) erschrack fast über diese vage, flimmernde erklärung (DWB); Tieck vor 1853 (XX 21) über alles dieses fehlen mir die nachrichten und meine Vermuthungen können nur vage und oberflächliche sein (DWB); Heine vor 1856 (VIII155) eben weil sie (die Vendomesäule) so grosz ist und stark, will sich das volk an sie lehnen in dieser vagen, schwankenden zeit (DWB); Häusser 1857 Dtsch. Gesch. IV 562 dasz er sich nicht selten ins vage verlor, oder der phantasterei und Unklarheit über gebühr nachgab, war wohl nicht allein der persönlichkeit von Görres zuzurechnen (DWB); Bucher 1881 Parlamentarismus 136 die vagen Versprechungen zur Zeit der Union; Dove 1888 Einltg. zu Ranke, W. G. IX 2, XVI in die vagen Allgemeinheiten zu gerathen, mit denen eine finstere Zeit sich begnügte; Eucken 1904 Strömungen 239 einen vagen Umriss [der Kulturidee] zu geben; Falke 1912 Stadt mit goldenen Türmen 133 Wälder, Berge, die Wartburg, Tannhäuser, der Hörselberg — vage, romantische Träume spannen mich ein; Eucken 1914 dtsch. Geist 15 Gefahr [des] Verfallens in ein vages Gefühlsleben, eines Sichverlierens in eine abgesonderte Innerlichkeit; 1930 Philosophie d. Lit'wiss. 39 gegenüber dem Vagen', das die Schererschule so oft im Munde führte; Bertololy 1934 Dora 12 eine sonderbare, vage Beklemmung; ebd. 23 erweckte . . . in mir ein vages Gefühl von der Unechtheit dieser kriegerischen Phantasien; Wöhrle 1940 Ausfahrt 27 ein furchtbarer Abend . . . eine noch furchtbarere Nacht. Ein Hund weiss wenigstens, wo er hingehört. Ein Mensch in meiner Lage weiss es nicht. Eine vage Hoffnung läst mich meine Schritte nach dem Kanalhafen lenken; Hülsen 1947 Zwillings-Seele

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vakant

II 178 die vagen Träume der Nacht; Haberler 1948 Prosp. 253 Der Ausdruck „Gewinn" ist vage und führt irre; Feuchtwanger 1951 Söhne 234 kam aber später von neuem, diesmal mit viel beiläufigeren, vageren Worten, auf das Verlangen der Römer zurück (WDG); Graf 1957 Kalendergesch. 362 Der Mond lag noch tief und blaß im vagen Blau (WDG); Offenburger Tagebl. 9. 4. 1959 daß dieses Thema von britischer Seite immer nur „sehr vage" und nicht in Form präziser Vorschläge erwähnt worden sei; 1961 Haeresien 427 Dafür ist eine unbestimmte „tristesse" häufig, vages „Unbehagen"; Bouman 1962 Kultur (Übers.) 84 „Handel" ist ein vager Begriff; Süddtsch. Ztg. 10. 3. 1962 Was ist in einer Großstadt los, wenn ein außerordentlicher Notstand eintritt? . . . Bisher hat die Öffentlichkeit nur vage Vorstellungen davon gehabt; Bausinger 1964 Festscbr. a. Dölker 7 fügen sich die Beiträge dieser Geburtstagsgabe nicht nur in den elastischen Rahmen eines vagen Gesamtthemas; Roth 1966 Prophet 270 und niemals konnten sie ein Schiff oder einen Zug erblikken, ohne sich selbst wegfahren zu sehen ins Ferne, Zukünftige, Vage; FAZ 25. 3. 1970 in der vagen Hoffnung, sportlichen Ruhm zu ernten; Offenburger Tagebl. 7. 9. 1971 So einigte sich die Brüsseler Konferenz auf einen vagen Umriß der Abrüstungszone . . . Die vage Umschreibung der Abrüstungszone. Vagheit: Lewald 1835 Theaterrevue 36 Als er selbst zu schaffen nachließ, und die Vagheit die Objectlosigkeit; Preuss. Jahrbücher 215 (1929) 247 die Monroe-Doktrin. Diese ist ein jener ideologischen Begriffe, in denen die Menschen zu denken pflegen, ohne sich ihrer Vagheit bewußt zu werden; ebd. 218 (1929) 411 mit der Ueberlieferung der Verschreibungen, sagt Briand, und die Vagheit des Ausdrucks ist zu beachten, ist die Frage der Räumung des Rheinlands gestellt; Pieper 1970 Überlieferung 87 Körperschaft, für welche Corpus Mysticum vielleicht der zutreffendste Name

ist. Mit ihm bezeichnet, wie jeder weiß, die Christenheit sich selbst; aber auch Karl Jaspers kann ihn nicht entbehren, um, mit notgedrungener Vagheit, jenes „Geisterreich" zu benennen; Archiv 257 (1980) 1153 Gipper . . . zieht aus den historischen Bedingtheiten, Vagheiten und Überlappungen im Gebrauch der zwei Lexeme [Sessel, Stuhl] den Schluß, daß von der Sache gegebene Kategorien nur sehr bedingt zur Gliederung des Feldes taugen. vag(e) c: Cotta 1842 Geognosie 560 [Gewächse], welche ein Gemisch von 2 oder 3 der obigen Bodenarten lieben, also sowohl im lehmigen Sande als im thonigen Kalke, oder mürberen Thone, auch wohl im moorigen Lehmboden und im gemeinen Lehmboden anzutreffen sind. Solche Gewächse, von Hrn. Unger bodenvage Pflanzen genannt, nenne ich Lehmpflanzen; Sendtner 1854 Veg'verh. Südbayerns 296 Unger theilte in seiner gekrönten Preisschrift [1836] die Pflanzen nach ihrer Beziehung zum Boden ein in bodenstete, bodenholde und bodenvage; ebd. 352 Es lässt sich demnach schliessen, dass jene Pflanzen mit vicarirenden Bestandtheilen zu denjenigen gehören, welche wir mit Unger als bodenvag bezeichnen, indem wir sie mit allen Verschiedenheiten des Bodens vorlieb nehmen sehen; Leunis 1858 Synopsis d. 3 Naturreiche II 177 Bodenvage Pflanzen: welche ohne Unterschied auf den verschiedensten Bodenarten wachsen (SANDERS DWB); 1865 SB. München II 393 Wir finden, dass in einer Gegend ein Pflanze mit Rücksicht auf die chemischen Verhältnisse bodenstet ist, in einer andern bodenvag . . . müssen wir vielmehr erforschen, unter welchen Bedingungen sie bodenstet, unter welchen bodenvag ist . . . Die Thatsache, ob eine Pflanzenart mit Rücksicht auf ihr ganzes Vorkommen in chemischer Beziehung bodenstet, bodenhold oder bodenvag sei, ist im Grunde ziemlich gleichgültig.

v a k a n t Adj., Anfang 17. Jh. entlehnt aus (flekt. Form von) gleichbed. (m)lat. vacans (Part. Präs. von vacare leer, unbesetzt, offen sein; frei sein (von etwas); besitzerlos sein; müßig sein', zu vacuus —»Vakuum); in der Bed. unbesetzt, offen, frei' von Stellen, Ämtern o.ä, früher vereinzelt auch *besitzer-, herrenlos; ohne Führung 5 , gelegentlich bildlich verwendet. Carolus 1614 Relation No. 21b das erste Vacant Officium Mareschal de France; Fr. W. 1667 Polit. Test. 61 das wan stellen wider Vacant werden; 1685 Abdruck 36 weil. . . der Palatinat vacant und streitig were; 1708 Leopold d. Große 2 Wann auch

das Fürstenthum vacant würde sollte denen Ständen erlaubt seyn, unter ihnen einen Fürsten vermög ihrer alten Satzungen zu erwählen; 1719 Recueil 7. 8 146 die vacant gewordene PatriarchenStelle wieder besetzen; Hönn 1721 Betrugslex. I

Vakanz 109 Wenn sie bey Bestellung vacanter Kirchenund Schul-Dienste Geschenke nehmen; Boltz 1727 Amts-Redner 39 vacant gewordenen Casten / Amts / Stelle; ebd. 44 vacante hiesige RichterAmt; ebd. 52 vacant gewordene Station; Fr. W. I 1730 briefl. (Klepper, In tormentis 90) Es werden . . . genug Regimenter vaquandt werden; Fleischer 1730 Herr v. Lydio 1329 weil eine Senatoren-Stelle vacant wurde; Beust 1743 Consiliarius 209 [wenn] eine höhere Stelle vacant wird, oder sich sonst etwa einige zu seinem avancement dienliche Occasion zuträgt; 1748 (Journal v. u. f . Deutschland 1784 II 418) Güther, so als vacant eingezogen werden; Edelmann 1752 Selbstbiographie 8 da fanden sich, zu vacant gewordenen ConrectorStelle verschiedene Candidaten ein; 1755 Braunschw. SO I 309 Zur besetzung eines vacant gewordenen Schuldienstes; 1761 Geheimnisse 43 Ihre Mutter, die durch die Flucht des Poisson vacant geworden war, ersetzte den Verlust ihres Mannes durch Liebhaber; Wezel 1778 Erzählungen II 15 ihr vakantes Herz; Nicolai 1790 Anekdoten H. VI 131 zu einer eben vakanten Professorstelle auf dieser Universität; Laukhard 1792 Leben 1350 will ich dich fragen, ob du keine lutherische Pfarre vakant weisst; 1828 Baier. Int'Bl. (Isar) 875 (Das vacante Vicariat Tettenhausen betreffend.) Durch die Beförderung des Priesters Aegid Fiderer auf die Pfarrey Taufkirchen bey Velden ist das bezeichnete Vicariat in Erledigung gekommen.

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Die Gesuche um diesen vacanten Seelsorgs-Posten; 1848 Denkschr. Gründung 10 [die] vacanten Lehrstühle; Ranke 1853 Briefwerk 377 Besetzung der bei uns vakant gewordenen philosophischen Professuren; Gutzkow 1872 Knabenzeit X 235 durch die wacklige Lehne eines Stuhls, für welchen man sich einen weniger defekten und „vielleicht vakanten" vom Nachbartisch ausbat; Voit 1881 M-G. 4 Mit dem Ableben eines RegimentsInhabers führt das betreffende Regiment dessen Namen mit der Vorsetzung „vacant" ohne weitere Anfrage fort; Wiehert 1889 Grafenkind 95 in der Provinz . . . wo ein Rentmeisterposten vacant gewesen; Diefenbach 1909 Scholle II 259 Wiederbesetzung der vakant gewordenen Pfarrstelle; Lokal-Anz. 26. 3. 1933 Die freigewordenen Stellen sind sofort neu besetzt worden, ebenso weitere Stellen, die schon vakant waren; Mann 1954 Krull (VIII 403) woraus ich schloß, daß auch von den acht Betten eines vakant sein möchte (WDG); Tritsch 1954 Erben 14 könnte die Erbschaft dieser Zivilisation wirklich vakant werden?; Süddtsch. Ztg. 8. 4. 1958 Seit dem Tode des zweiten stellvertretenden Vorsitzenden . . . war dieser Posten vakant geblieben; Offenburger Tagebl. 16. 8. 1958 Vor etwa einem Jahr war die Professur für die Zeichenklasse besagter Akademie durch die Pensionierung des bisherigen Stelleninhabers vakant geworden, weshalb man nach einem würdigen Nachfolger Ausschau hielt.

Vakanz F. ( - ; -en), PI. früher auch Vakantien und lat. flekt. Vacantiae, Ende 15. J h . entlehnt aus gleichbed. m l a t . vacantia

( z u vacans,

—> v a k a n t ) ; a z u n ä c h s t in d e r

Bed. Teiertag(e), Ruhetag(e)', dann Terien', bezogen auf (Hoch-)Schulen, heute nur noch regional (süddtsch., österr.) verwendet, z . B . in der Zs. Hitzvakanz Hitzefrei'; b gleichzeitig in der Bed. 'freie, unbesetzte, offene Stelle', seltener auch 'das Unbesetztsein, Freiwerden, -sein einer Stelle, eines Amts o . ä ' und vereinzelt "Leere' (vgl. —» Vakuum). Vakanz a: 1491 (Urkunden Tübingen 83) wie die nach Ordnung der Vniuersitet gelesen werden sollen, vßgenomen die vacantz vnd den Sampstag so in artibus gedisputiert wirt; 1495 (Ann. Ingolstad. Acad. IV 137) zu ainer yeden Zeit der Vacannz obberürter irer Collegiatur; 1510 (Urkunden Tübingen 119) das die Juristen alle tag zu lesen schuldig siend, vßgenomen die vacantz und den dornstag; 1537 (ebd. 210) Nachdem auch der Onmass der vacanzien vnd feyertagen vnzimlich vnd nichts guts pringt; 1558 Heidelb. Statuten 15 alle wochen einmal und neulichen uff den sambstag nach mittag, so ferr sonst kein feriae, vacantien oder andere notwendige Ursachen solchs verhindern; ebd. 41 es were dann sache, das in einer r-

wochen ettwo zwo feirtäge oder vacantzen sich zutrugen; 1591 (Mitt. G. Erz'gesch. 10 (1900) 63) die Feriae oder Vacantiae; Dalhover 1689 Gartenbeetlein II 86" Es haben bey diser hochfeyerlichen Zeit vast alle Schulen Vacanz auffs wenigist bey uns Catholischen; 1751 (Nyström, Schulterminologie 104) dasz jedesmal die neuen baccalaurei nach der von mir abgewarteten vacance die Klasse in einer viel reichern Anzahl und bessern Verfaszung vorgefunden; 1770 Land-Schulordnung 9 So genannte längere Vacanz oder Ferien werden das ganze Jahr hindurch in diesen Schulen keine gestattet; Laukhard 1792 Leben I 112 Da nun einige Tage Vacanz einfielen; Hübner 1805 München II 355 Ausser den gesetzmässigen sogenann-

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Vakanz

ten Vakanztagen, nämlich am Dienstage Nachmittags und an Donnerstagen, sind keine weitern einzuführen; ebd. II383 Ausser den verordnungsmässigen Vakanz- und Ferientagen; Schmid 1853 Erinn. I 153 meine Reise in die Ferien, oder wie man damals sagte, in die Vakanz; Strauss 1853 Br. 318 in der Herbstvakanz; Schmid 1861 Schwalberl (IV 94) Früher haben wir Sie doch immer im Herbst geseh'n, wenn die Studenten in die Vacanz geh'n, oder wie man's heisst; ebd. IV 217 denn Du bist, Gott Lob kein Faulenzer, Du hast immer redlich gearbeit't und wirst es wieder thun; jetzt bist Du halt in der Vacanz auf ein paar Monate, und wenn man ausgerast't ist, geht's mit der Arbeit wieder um so frischer; Graf 1912 Schülerjahre 131 Vom achten Jahr ab das Elternhaus nur als fremdes zur Zeit der Ferien, oder wie es bei uns hiess: in der „Vakanz" besuchen und kennen lernen, muss den Charakter eines Kindes ändern; Süddtsch. Ztg. 5. 7. 1950 Hitzvakanz (Uberschr.) Die Gymnasiasten und Oberrealschüler haben nur am Nachmittag Hitzvakanz, wenn das Thermometer über 27 Grad im Schatten zeigt. In manchen Schulen ist es schwierig, Hitzeferien zu gewähren, weil die Klaßzimmer vormittags und nachmittags belegt sind; ebd. 17. 7. 1951 Sie wird in der Sommer-Vakanz ihre vier kleinen Geschwister betreuen und Windeln waschen müssen; ebd. 2. 7. 1952 Die Münchner Schulkinder, die früher bei einer Aussentemperatur zwischen 25 und 30 Grad Hitzvakanz bekamen; Münch. Stadtanz. 24. 7. 1953 Schulvakanz (Uberschr.) So hat man früher gesagt zu den Ferien, und jedes Münchner Schulkind hat im Juni schon angefangen zu zählen, wieviele Tage es noch sind, bis „d'Vakanz angeht!". Jetzt sind sie wieder da, die großen Ferien — die Vakanz —, und wie in alten Zeiten sind die Kinder auch heutzutage hoch erfreut darüber. Vakanz bedeutet frei sein und die Schulvakanz ist die Freiheit!; ebd. 21. 8. 1953 weil die meisten Herrschaften in der Vakanz sind; Süddtsch. Ztg. 10. 7. 1957 während sein Kollege in der anderen Schule nicht mehr zu sprechen war, weil ab 12 Uhr ja Hitzvakanz war; Kiesinger 1964 Ideen 139 in die Ferien, oder, wie es nach schwäbischer Schulüberlieferung hiess, in die Vakanz; Offenburger Tagebl. 20. 4. 1971 Ein reiches Angebot von Ferienreisen und -lagern während der Vakanzen bieten die ideale Verbindung von Freizeit, Sport und Diskussion in zwanglosem Rahmen. Vakanz b: Oheim um 1490 Chr. 158 lech de baubst die apty als ain vacantz und dem stul zu Rom haimgefallen; ebd. 160 dem fal, zernichtigung und vacantz (beide MÖLLER); Doverinus 1623 Propheceyung 19 ein jeder [will] zu seinem vortheil dess Interregni oder Vacantz geniessen;

Seckendorff 1665 Fürstenstaat II 127 daß man einander nachrückte, und der älteste die direction, auff den fall der vacantz, erlanget; 1708 Leopold d. Große I 95 Es war bey einer Bömischen Vacanz dem Käyser eine Person recommendirt worden; 1749 Gleim-Ramler I 204 Sie möchte sich bey einer Vakanz melden; Michaelis 1770 Raisonnement II 44 Vacanz auf der Universität; Bretzner 1787 Leben I 66 Ueberhaupt hat ein witziger Kopf, (vielleicht auch in einer Magenvakanz,) die Bemerkung gemacht; Hess 1796 Durchflüge d. Deutschland I 58 Bei einer Vacanz laufen die Candidaten bei den Wählenden umher; Planck 1807 christl.-kirchl. Gesellschafts-Verf. IV 2, 98 in eingetretenen Vakanz-Fällen; Glasbrenner 1836 Bilder I 10 Also bitt' für mich, mein Herr Jesus Christus, und empfehle mich dem lieben Gott zur nächsten Vacanz des Thrones von Frankreich; Hartmann 1866 Erlebnisse 59 machten schließlich ein Examen, dessen Ausfall entscheiden sollte, wer bei vorhandener Vakanz als wirklicher Generalstabsoffizier angesetzt werde; Bucher 1881 Parlamentarismus 192 bei den Vakanzen in das Parlament gewählt; Reichenbach 1891 Ehre 124 bei der . . . Vakanz des . . . Landrathsamtes; Bach 1903 Abschied 16 Soweit bekannt, existiert keine Vacanzenliste über die bei den verschiedenen Behörden frei werdenden oder frei gewordenen Stellen und dies muß als ein sehr großer Fehler bezeichnet werden. Allen Behörden sei die Verpflichtung auferlegt, dem Kriegsministerium die Vacanzen anzugeben und diese können im Militär-Wochenblatt veröffentlicht werden; Voss. Ztg. 16. 2. 1930 ein Halbverborgener tritt hervor, die Lücke füllt sich, die Vakanz wird besetzt; 1930 Westermanns Monatsh. Aug. 585 berichtete sie, an einer Bühne im Rheinland sei, wie sie erfahren, unerwartet eine Vakanz in ihrem Rollenfach eingetreten; sie möchte hinfahren und sich bewerben; Lokal-Anz. 17. 3. 1933 Um keine Vakanz in der Leitung der Reichsbank eintreten zu lassen, schritt der Generalrat sofort zur Wahl des Nachfolgers; Münch. N. N. 22. 9. 1940 Die deutschen Bauern kommen unmittelbar auf ihre neuen Höfe, die erst kurz zuvor von den Polen verlassen worden sind, so daß eine Vakanz von höchstens einigen Stunden eintritt, während der die Nachbarn und besonders dafür abgestellte Kräfte sich des Viehes annehmen; Bäumer 1947 Jüngling 276 Vakanz zwischen Tod Gregors V. und Abt Gerbert [als Nachfolgepapst]; Hist. Jahrbuch 78 (1959) 92 Vakanzen von Lehrstühlen; Offenhurger Tagebl. 28. 8. 1969 Zuletzt endlich soll damit Schluß sein, daß es jedesmal leere Stühle in den Botschaften gibt, wenn die Posten gewechselt werden, wenn längere Heimaturlaube oder Krankheiten Uberbrückungen erforderlich machen. Solche „heute regelmä-

Vakuum ßigen Vakanzen von oft mehreren Monaten Dauer" nennt der Kommissionsbericht „unerträglich"; ebd. 13. 11. 1971 Vakanz beendet (Uberschr.) Was lange währte, kam schließlich doch zu einem sachgerechten guten Ende. Die Karlsruher Vakanz ist überwunden. Weniger schön war allerdings, was zuvor im Hintergrund spielte, was

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kaum dazu angetan war, das Ansehen der höchsten juristischen Institution der Bundesrepublik zu fördern; ebd. 30. 12. 1971 Es sah im Dezember eine Weile darnach aus, als ob noch vor Ablauf der Amtsperiode auf Ende 1972 eine weitere Vakanz im Regierungsrat zu besetzen wäre.

V a k u u m N. (-s; Vakua und Vakuen), seit Mitte 17. Jh. gelegentlich, im 20. Jh. häufig belegt, zurückgehend auf lat. vacuum leerer Raum, Leere' (zu vacutis leer, frei, unbesetzt'), früher vereinzelt auch in der lat. (flekt.) Form; zunächst in der allgemeinen Bed. Teere, Hohlraum', dann als Fachausdruck in technischen Bereichen für '(luftdicht verschlossener) Raum mit verdünnter Luft, (nahezu) luftleerer Raum' zur Bezeichnung eines Raumes, in dem der Luftdruck geringer als der Atmosphärendruck ist, als Bestimmungswort in Zss. wie Vakuumpumpe, -technik; vakuumverpackt, und häufig übertragen verwendet im Sinne von unausgefüllter Raum; innere Leere; Abgeschlossenheit, Abgeschiedenheit; Unausgefülltheit'. Frankenberg 1644 Oculus Sidereus D4" und also kein Vacuum, oder vüste und öde Lärstad . . . zu verspüren; um 1670 Gepflückte Fincken 21 Was erdenckt nicht mancher Schalck, Dass er fülle seinen Balck, Hungerige Kragen, Bellende Magen, Können das Vacuum gar nicht vertragen; 1702 Europ. Fama 571 das Vacuum seiner Casse; 1710 Neue Bibliothek 767 erinnert von Thalete, daß derselbe . . . das vacuum negiret; Sperander 1728 A la mod Sprach 767 Vacuum, dadurch verstehen die Naturkündiger eine Weite, oder einen Raum, in welchem gar nichts Cörperliches oder Materielles vorhanden, und der gleichwol seine Länge, Breite und Tiefe hat; 1738 Hamburg. Ber. 712 von einem leeren Raum oder dem Vacuo; Bretzner 1787 Leben I 66 sind die gescheutesten Köpfe nicht immer die reichsten, vielmehr sind diese gerade da am hellsten und witzigsten, wenn in dem Geldbeutel ein Vaccum verspüret wird; Ritter 1810 Fram. I 91 Wir können weder durch das Toricelli'sche Vacuum, noch auf andere Weise, ein wahres Vacuum zu Stande bringen; Dinglers Polytechn. Journal 18 (1825) 118 Uber Brown's Vacuum-Maschine; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre II 62 Höre, was auch Kästner sagen mag, daß es keinen leeren Raum gebe, das Menschenleben kommt mir doch oft wie ein Vacuum vor; Blumenthal 1880 Aus heiterm Himmel 102 Im Landtag (Uberschr.) Im Sonnenbrand der Julitage, Entflieht man gern der Sitzungsplage. Leer sind die Bänke rings herum, Das Plenum wird zum Vacuum; Beiträge z. Gesch. Technik 1 (1909) 118 Vakuumverdampfung; Lamprecht 1913 DGjV. II 362 entstand zwischen Weichsel und Elbe, ja bis

zum Harze und den welligen Vorbanden der Thüringer Berge gleichsam ein ethnisches Vakuum, die Maurunga, das Land wüstgelassener, nicht abgeweideter Grasnarbe, wie es anschaulich unsere Altvordern nannten; Dtsch. Nation 1 (1919) 17 die Achtzimmerwohnung am Kurfürstendamm mit Lift und Vacuumsauger, Strohsack und Daunenbett; Sperber 1923 Bed'lehre 28 sprachliches Vakuum; Diederichs 1927 Leben 33 glaubt er, vor der Existenz seines Ichs sei einfach ein Vakuum; Kircher 1927 Fair Play 57 Emanzipierung bedeutet die Schaffung eines Vakuums: eines Vakuums für Bedürfnisse; Grisebach 1928 Gegenwart 12 Unser Anliegen ist es, innerhalb dieser theoretischen kritischen Arbeit dieses alles aufsaugende Vakuum der Innerlichkeit in seiner Wesensart . . . zu durchleuchten; Voss. Ztg. 8. 6. 1930 Da bekommen Sie Briefe, oder es telefoniert einer oder eine, es bleibt ja doch ein Vakuum zwischen Ihnen und dem, der da schreibt oder anruft; Mimra 1930 Batterie 70 durchhalten? Oder wird vielleicht das ungeheure Vakuum vor uns zum Verhängnis? Wird 1915 ein zweites 1812?; Voss. Ztg. 9. 1. 1933 Das Vakuum, das . . . in der deutschen Außenpolitik eingetreten ist, ist noch nicht vorüber. Wir sind im Gegenteil noch mitten darin; 1933 Siemens-Zschr. o.S. kann daher auch ein gasgefüllter Stromrichter mit dem Gitter wie ein Hochvakuum-Elektronenrohr gesteuert werden . . . Die Kennlinie . . . wird durch die Gasfüllung etwas steiler als im Hochvakuum; Lokal-Anz. 7. 10. 1934 Die teure Luftleere (Uberschr.) Wenn wir beim Radio und Fernsehen von „Hochvakuumröhren" sprechen, dann meinen

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Valuta

wir damit natürlich eine Luftleere, die so weit getrieben ist, daß sie sich noch wirtschaftlich und technisch beherrschen läßt; Münch. N. N, 28.129. 8. 1943 Vakuum der Ideen (Überschr.) An der Schwelle des fünften Kriegs) ahres ist in der geistigen Kriegführung auf der Gegenseite ein ideenmäßiger Hohlraum entstanden; Dtscb. AZ. 25. 2. 1945 so läßt sich doch sagen, daß im allgemeinen kein Vakuum entsteht, wenn Transportstockungen eintreten oder die Anpassung an eine neue Lage erfolgen muß; Neumann 1947 Es waren ihrer sechs 342 Dazwischen ist noch keine Brücke, sondern nur das Vakuum der seelischen Verlegenheit und der körperlichen Verstockung (WDG); NZ. (Basel) 9. 2. 1950 da durch den leeren Abschnitt zwischen Konfirmation und Stimmrechtsübung leicht ein Vakuum, eine Entfremdung von der Gemeinde, entsteht; Süddtsch. Ztg. 29. 11. 1950 Fünf Jahre der Bemühungen von alliierter und deutscher Seite, diese jungen Menschen umzuerziehen, waren nicht in der Lage, das Vakuum zu füllen, das nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reiches zurückgeblieben ist; ebd. 24. 9. 1953 Die Auffassung, daß ein Vakuum zwischen Osten und Westen auf die Dauer nicht geduldet werden dürfe; Offenhurger Tagebl. 16. 2. 1959 Das gilt vor allem jenen Kreisen gegenüber, die der Neutralisierung und militärischen Vakuumbildung mit dem Hinweis das Wort reden, daß die anderen Deutschen . . . den prowestlichen Kurs ablehnen; Süddtsch. Ztg. 14. 3. 1959 Ein Auseinanderrücken der Blöcke, das zu einem „militärischen Vakuum in Europa" führen würde, lehnte Eckardt aufs neue ab. Unter Disengagement, sagte Eckardt, müsse eben die Schaffung eines solchen militärischen Vakuums verstanden werden; ebd. 15. 10. 1960 de Gaulle wolle mit seinen . . . Plänen ein politisches Vakuum ausfüllen; Niebelschütz 1961 Spiel 135 aus dem gegenwärtigen Chaos der Meinungen und dem Vakuum der Anschauungen etwas Neues, Tragendes zu entwickeln; Becker 1962 Quantität 15 Talleyrand, der . . . Europa vor dem politischen Vakuum bei Napoleons Sturz bewahrte; Offenburger Tagebl. 3. 8. 1965 auf dem Gebiet der Vakuum-Technik

international bekannt; ebd. 7. 10. 1965 In das vorhandene geistige — besser gesagt: ideologische Vakuum stieß Nasser mit seiner panarabischen Idee hinein; Fischer 1966 Kunst 42 Die junge Generation weiss mit der Freiheit nichts anzufangen. Es gibt da ein Vakuum, ein unbestimmtes Suchen nach dem Sinn des Lebens; Stuttgarter Ztg. 24. 12. 1966 Es sind zum Teil vakuumverpackte Lebensmittel, wie sie nur in U-Booten verwendet werden; Offenhurger Tagebl. 17. 4. 1968 Der Entschluß Grossbritanniens, bis Ende 1971 alle seine Stützpunkte östlich von Suez zu räumen, droht rings um den Persischen Golf ein machtpolitisches Vakuum zu schaffen — mit allen Gefahren, die sich aus dem Sog des Hohlraums ergeben; Stuttgarter Ztg. 26. 2. 1969 Erstmalig in der Welt ist jetzt. . . ein „Vakuum-Zug" entwikkelt worden. Er ermöglicht den mobilen und damit kurzfristigen Einsatz einer Vakuumanlage zur Stahlentgasung an jedem gewünschten Ort. Mit der Herstellung dieses „Vakuum-Zuges" demonstriert die Firma ihre besondere Forschungsund Versuchsarbeit auf dem Gebiet des VakuumStahls. 1950 bereits wurde in ihrem Werk Bochum die Stahlentgasung im Vakuum zum erstenmal auf der Welt entwickelt; bis jetzt sind rund 150 Vakuumanlagen nach diesem Verfahren im Inund Ausland gebaut worden; FAZ 10. 10. 1970 Eine „große Zukunft" sagt die Melitta-Gruppe . . . dem filterfertig gemahlenen, vakuumverpackten Kaffee voraus; ebd. 25. 3. 1971 entstünde ein rechtliches und damit auch politisches Vakuum mit schwer absehbaren Folgen; 1971 Festg. a. Klett 310 Da die Glaubensbekenntnisse im bisherigen Sinne erschöpft zu sein scheinen, ist ein Vakuum entstanden, das weder durch künstlich produzierte Ideologien, wie Sozialismus und Kommunismus, noch durch den modernen wissenschaftlichen und ethischen Rationalismus angefüllt werden kann; Die Zeit 3. 10. 1980 Seine Partei geriet ins Schleudern, als die Union mit ihren Thesen zum „Rentenbetrug", zur Staatsverschuldung und zur Währungsreform das Vakuum der Sachfragen besetzte.

Valuta F. (-; Valuten), PI. früher auch Valute, Mitte 16. Jh. entlehnt aus gleichbed. ital. Valuta (zu valere gelten, wert sein' < lat. valere gelten, vermögen, wert sein; stark sein'); a im Bereich von Wirtschaft und Finanzen in der Bed. 'Wert, Gegenwert', vor allem eines Wechsels, auch '(Geld-)-Währung, (internationales) Zahlungsmittel', zunehmend pl. verwendet auf ausländische Währungen bezogen für Devisen', nur pl. für 'Zinsscheine ausländischer Effekten (deren Zinsen, Dividenden usw. in fremder Währung ausbezahlt werden)', gelegentlich bildlich verwendet im Sinne von 'Wertschätzung, Geltung, Ansehen'; häufig in Zss. wie

Valuta

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Edel-, Hartvaluta; Valutakurs, -wert, -kredit 'in fremder Währung gewährter Kredit', Valutaschwankungen 'Änderungen des Wechselkurses, des Wertverhältnisses zwischen in- und ausländischen Zahlungsmitteln', im Sprachgebrauch der D D R Valuta-Mark „in Mark ausgedrückte Einheit zur Umrechnung eines in ausländischer Währung ausgedrückten Weltmarktpreises" (WDG); dazu seit Anfang 20. Jh. die adj. Ableitung valutarisch auf Devisen, Valuten bezogen; währungspolitisch', b In neuester Zeit gebucht als Fachausdruck im Kontokorrentverkehr für 'Wertstellung (von Gutschriften, Belastungen), Termin, an dem eine bestimmte Leistung (Verzinsung, Zahlung) zu erbringen ist'. Dazu seit früherem 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) die selten belegte verbale Ableitung valutieren V.trans. 'den Wert (von etwas) bestimmen, angeben; etwas bewerten' (zu a), in neuester Zeit auch 'einen Termin festsetzen, an dem eine bestimmte Leistung zu erbringen ist' (zu b). Valuta a: 1558 Meder 64a Zu Neaples ist ein Ducat doro in Oro gleich wie die Valuta 11 V2 Carlini p Ducaten müntz; ebd. 69a Also findest du / wer stets gold zu Florentz hette / vnd machts zu Falluta / het darnach die Falluta gen Venedig gemacht durch Wechssei; 1610 Wolff B4a Die Valuta oder Gelt / so in disem [Buch] gebraucht / vnnd darauff gerechnet worden / ist Gulden / Schilling vnd Pfenning; ebd. (1621) 5 die valuta, oder wehrung deß gellts; 1654 Nürnb. B-O. (Marperger 1716 Beschreibung d. Banquen 165) Zum Siebenden / sollen in dem Banco die bißhero gebräuchlich geweste Silber Sorten vor Banco-Valuta . . . angenommen werden (alle SCHIRMER, Kaufmannssprache); Spreng 1662 Wechselpraktik 49 cambiati: bedeut geschlossenen Wechsel ohne empfangene Valuta; 1666 (1733 Banquier II 234) die Bezahlung der Valuta oder Werths des Geldes (SCHIRMER, Kaufmannssprache); Schurtz 1695 Kaufmannschaft 106 Wechsel-Valuta; ebd. 137 Valuta oder Müntz-Sorten; Marperger 1710 Hanf 99 Damit . . . die Schlesische Valuta, denen auswärtigen Leinwands-Händlern desto besser kund werde, so diene zu ihrer Nachricht, dass 1. rthl. 30 silb. gr. oder 45 gr. weiss oder 90. Creutzer [sei]; Lessing vor 1781 (II 235) Man zog spöttisch das Maul, als ich versicherte, die Valute baar hergegeben zu haben (KEHREIN); Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 49 Der Banquier . . . hatte seine Tochter . . . einem fürnehmen und berühmten Kauf- und Handelsmann, zugewandt, verschrieben und zugesichert, der Valuta baar besaß; 1813 Fahnenbergs Magazin V 39 Staatsabgaben, wegen der schlechten Valuta; Müller 1817 Sehr. I 241 Was ist das Grundstück werth? heisst: was ist das momentane Äquivalent für eine ewige Valuta; Schmalz 1818 Privatrecht 153 fixe Valute . . . bewegliche Valute [im Wechselverkehr]; Hebel vor 1826 (III 27) Der Officier ließ ihm . . . 100, sage hundert Prügel bar ausbezahlen, lauter

gute Valuta (SANDERS DWB); Richter 1884 Creditsystem 60 unter gleichzeitiger Deposition der Wechselvaluta; Technik u. Wirtschaft 5 (1912) 388 mit einer gegebenen Valuta (Devisenkurs); Elbinger Ztg. 28. 11. 1915 Mit dem schönen Worte „Valuta", das dem Sprachschatze unserer einstigen italienischen Freunde entnommen ist, bezeichnet man den Wert der Geldeinheit, die in den verschiedenen Ländern als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt ist . . . Diese Valuta, dieser Wert, der früher im Frieden ziemlich gleichmäßig war und nur geringen Aenderungen unterworfen war, ist jetzt im Weltkrieg dauernd den stärksten Schwankungen ausgesetzt; Sohn 1919 Versailles 32 In Zürich, wo die Galizier „Valutaschieber" genannt wurden; Niederbayer. Mon'schr. 9 (1920) 34 Mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des deutschen Volkstums muss seine moralische Erneuerung Hand in Hand gehen, wenn nicht ihm vorausgehen: die moralische Valuta ist wiederherzustellen, wenn wir vor uns und vor anderen weiterhin bestehen wollen; Prometheus 31 (1920) 47 heute, beim denkbar schlechtesten Stande unserer Valuta, ist das Wort in jedermanns Munde, und jener Hamburger Finanzmann, der kürzlich gesagt haben soll, dass von der Valuta heute jeder rede, der vor einem Jahr noch gefragt haben würde, ob das etwas zu essen sei, hatte wirklich nicht ganz unrecht; 1922 Deutschlands Erneuerung 610 Im Valutakrieg und in den Reparationsleistungen haben sich jüdischer und romanischer Kapitalismus vereinigt, um das deutsche Volk wirtschaftlich zu vernichten; Sperl 1922 Ahnenbilder 127 Dissertationen erfreuten sich damals einer höheren Valuta als heutigentags; Türmer 24, 2 (1922) 130 Die Länder befinden sich im Finish um den Sieg der Pleite. Die valutastarken einkaufen sich — die valutaschwachen verkaufen sich in letzter Kraft. Wird einer Sieger sein?; 1922 Heimatland (München) 16 Aber der Vampir Handel

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und die Hyäne Valuta sperren dem Volk überhaupt den Mund bereits zu; Berl. Illustr. Nachtausg. 11. 5. 1933 In Budapest hat heute der Bankier Heidelberg, gegen den seit einer Woche ein Strafprozeß wegen Valutaschiebungen durchgeführt wird, zusammen mit seiner Frau einen Selbstmordversuch unternommen; ebd. 18. 5. 1933 Im internationalen Valutenverkehr ergaben sich, abgesehen von der Befestigung der Reichsmark, keine wesentlichen Kurs Verschiebungen; Amkolds Wochenber. 29. 7. 1933 daß . . . manche Industriezweige, die in hervorragendem Maße auf den Export angewiesen sind, durch die ständige Erschwerung des Außenhandels im Zuge der Valutaschwankungen noch mit einer weiteren Verminderung der Gewinnaussichten zu rechnen haben werden; Lokal-Anz. 23. 11. 1933 Der Rentenmarkt bot bei nahezu unveränderten Kursen das gleiche Bild. Die mittags sehr schwachen Valutawerte blieben weiter ohne Umsatz; Dtsch. AZ. 18. 1. 1935 Das dänische Parlament hat nach langen, oft krisenhaften Verhandlungen der Verlängerung des Valutagesetzes vom Januar 1932 . . . bis Januar 1936 zugestimmt. Kernpunkt des Gesetzes ist ein Verbot des Erwerbes ausländischer Valuten und der Ausfuhr dänischer Valuta ohne Genehmigung des Staates, der zur Zuteilung von Auslandsvaluta ein „Valutakontor" in Kopenhagen errichtet hat; ebd. 16. 8. 1935 Die Kopenhagener Presse steht heute im Zeichen der von dem Wirtschaftsausschuß der Landwirte angekündigten Valuta-Aktion, die von den Blättern als „Valutastreik" bezeichnet wird; ebd. 26. 8. 1935 sehr bald überwogen die Abschwächungen, so namentlich in den Elektrowerten, einzelnen Valutapapieren und in Reichsbank; Münch. N. N. 24. 6. 1940 zahlreiche französische und belgische Juden, die große Mengen Valuta sowie Gold und anderen Wertbesitz mit sich führten; ebd. 26. 1. 1944 Die Position seiner [Spaniens] Währung ist heute so gefestigt, daß sie in der Weltwirtschaft . . . als Edelvaluta angesehen und entsprechend geschätzt wird; NZ. (Basel) 26. 1. 1950 Bekanntlich leidet Schweden an einer empfindlichen Valutaknappheit. Die Zuteilung von ausländischen Zahlungsmitteln, besonders von Hartvaluten wie

Schweizer Franken und Dollars ist ausserordentlich begrenzt. Man will deshalb unter allen Umständen jede Aus- und Einschmuggelung fremder Valuten verhindern; Greyerz 1961 Schweiz 24 die sogenannte Valutakrise der ersten Nachkriegsjahre; Offenburger Tagebl. 22. 12. 1962 lagern gegenwärtig bei der mitteldeutschen Textilindustrie Waren im Werte von über einer Milliarde Ostmark, weil sie wegen fehlenden Bedarfs oder schlechter Qualität nicht abzusetzen sind. Im Export sieht es nicht besser aus: Im Außenhandel stapeln sich Exportgüter im Werte von 145 Millionen „Valuta-Mark", weil sich bisher kein Käufer gefunden hat. valutarisch: Knapp 1907 Währungsfrage 25 Bei uns bietet der Staat gelegentlich Taler an, aber aufdrängen tut er sie grundsätzlich nicht. Bereit halten und im Streitfalle aufdrängen tut er nur das Goldgeld. Solches Geld nennen wir valutarisch . . . In Österreich . . . sind . . . die Banknoten valutarisch . . . Valutarisch sein ist also eine Eigenschaft, die aus der Art des staatlichen Zutuns erkannt wird; Schacht 1931 Rep. 145 valutarische Abhängigkeit Deutschlands vom Ausland; Dtsch. AZ. 22. 9. 1935 daß ferner an den Börsen der Goldblockländer neben der politischen auch die unsichere valutarische Lage seit vielen Monaten eine große Bedeutung hat; Ottel 1937 Bankpolitik 44f. dass die Banken . . . die als Geld umlaufenden Forderungen gegen sich selbst in gesetzlichem oder diesem . . . gleichgehaltenen Zahlungsmitteln (in „valutarischem" Geld) einlösen; NZ. (Basel) 26. 1. 1950 Touristen aus Oesterreich und Deutschland konnten die jetzt zu Italien gehörenden Gebiete aus valutarischen Gründen nicht besuchen. valutieren: Voigt 1934 Die Höchstbetragshypothek, unter besonderer Berücksichtigung ihres nichtvalutierten Teils (Titel); Bahr 1935 Die nichtvalutierte Grundschuld (Titel); Stuttgarter Ztg. 7. 2. 1967 Deshalb ist es im kommunalen Darlehnsgeschäft allgemein nicht üblich, daß ein Geldgeber das Darlehn bereits valutiert, bevor die aufsichtsbehördliche Genehmigung vorliegt.

V a m p M . ( - s ; -s), Gen. früher auch - , im frühen 20. J h . entlehnt aus gleichbed. e n g l . / a m e r i k a n . vamp

(abgekürzt aus vampire

' V a m p i r ' —» V a m p i r ) ; B e z e i c h n u n g

für einen verführerischen Frauentyp, eine Femme fatale, bes. im (amerikanischen) Film, mit erotischer Ausstrahlung und starker sexueller Anziehungskraft, durch die er den Männern zum Verhängnis wird, oft abwertend verwendet, wenn diese bewußt, kalt berechnend, skrupel-, gewissenlos eingesetzt werden.

Vampir Das Illustr. Blatt 1929 Nr. 42 o. S. Dieser Typ der blonden, weichlockigen, etwas trägen Dämonie („Vamp" sagen die Amerikaner) entstand wohl im Rückschlag auf den zur Spitze getriebenen knabenhaften und sportlichen Stil; Voss. Ztg. 19. 4. 1929 hat mit aller Gewalt aus ihr einen Vamp machen wollen, vorläufig bleibt sie ein unzulängliches Vampchen; 1930 Börsenbl. f . d. dtsch. Buchhandel No. 173, 5482 Fabian zeigt, wie die gebildeten Mädchen drüben in den Entwicklungsjahren leben, und plötzlich verstehen wir, wie der Typ des „Vamp" im amerikanischen Film Einzug halten konnte; Wienand 1930 „Vamp" (Magazin 4632f.) Aus dem Vampire formt die silbensparende Unbekümmertheit des amerikanischen Sprachgewissens kurzerhand den „Vamp" . . . Was ist nun ein Vamp? Mit dem Vampir, der bluthungrig und blutsäugerisch wiederkehrenden abgeschiedenen Seele der slawischen Sagenwelt hat der Vamp von heute, Gott sei Dank, nichts zu schaffen; oder sagen wir besser: höchst wenig. Unser Vamp ist der unerfüllte Traum der Vielen, ja, sagen wir: er ist schlechthin des Mannes Traum vom Weibe . . . Der Vamp weckt Andacht und zugleich Begehren, Liebe und zugleich Beklommenheit, Hoffnung und zugleich Befürchten, Furcht und zugleich Verlangen, Sehnsucht und Angst, Leidenschaft und ein Mißtrauen, Freude mit Qual, Eifersucht mit Glück — nur Glück allein zu geben, Glück ohne Schmerz, Glück schlicht und schlechthin ist dem Vamp versagt; Lokal-Anz. 3. 1. 1933 daß ein „Vamp" mit angeklebten Wimpern, blondgelockt und mit wenig an imitierte Marlene-Beine spazierenführt; Münch. N. N. 11. 11. 1937 Ihre Stimme hat jenen dunklen, verhaltenen Klang bekommen, wie es zu einem echten Vamp gehört und der „die Männer in so tiefer Weise aufwühlt"; ebd. 5. 1. 1939 Wie bei der vielgeliebten Dichterin George Sand, „Edelvamp" der Romantik, die den gebrochenen Herzen ihrer verlassenen Verehrer Venedigs prunkvollen Rahmen gönnte; Petzet 1944 Falckenberg 114 [Marie Biller] schuf wohl als erste den Vamptyp, der dann das Kabarett und später den Film eroberte; Süddtsch. Ztg. 12. 10. 1948 Im „Großen Bluff", wo sie raufte, grölte und grinste, war sie noch ganz Vamp, wenn auch bereits an der Grenze der Selbstparodie. Hier ist sie weniger vital und weniger ordinär, kein richtiger Vamp mehr, sondern allenfalls ein Vamperl, sie grinst nicht, sondern sie lächelt: leise und listig; ebd. 16.

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5. 1950 Die Wirklichkeit des diplomatischen Dienstes hat sehr wenig gemeinsam mit dem im Film immer wieder auftauchenden Typ des männermordenden und Coctail schlürfenden Vamps auf dem diplomatischen Parkett; ebd. 28. 2. 1953 Den Briefen lagen Bilder bei, die vom blonden Gretchentyp bis zum männermordenden Vamp die Töchter des Landes in allen Variationen zeigten; Welt am Sonntag 17. 3. 1957 Sie ist kein Vamp, keine „femme fatale", kein provokatorischer Star wie die Hollywoodgrößen, die den Skandal um seiner Reklamewirkung willen oft ganz bewußt kultivieren; Süddtsch. Ztg. 6. 8. 1957 Topfhüte und Turbane und seitengescheitelte Frisuren beschwören den Vamp der Stummfilmzeit herauf. Dieses Bild kehrt in allen Pariser Salons wieder; ebd. 14. 9. 1957 Die Femme fatale und der Charleston-Vamp, beides superschlanke Erscheinungen ohne nennenswerte weibliche Merkmale, sind das Frauenideal, das den Gebrüdern Reischenbeck heuer für ihre Herbstkollektion vorgeschwebt haben muß; ebd. 27. 2. 1959 Dass der Bühnentyp des Männer fressenden Vamp längst ins Altersheim gehört, wissen natürlich alle Beteiligten; Offenburger Tagebl. 16. 9. 1960 Der „Vamp" und die „fatalen Frauen" (Uberschr.) Beginnen wir mit dem schlechten Frauenzimmer, jenem Typ, der ein neues englisches Wort kreiert hat: „Vamp". Alice Hollister, die erste Maria Magdalena der Leinwand (1911), hob ihn aus der Taufe, als sie 1913 in dem Streifen „Der Vampir" die Titelrolle spielte. Zum ersten echten „Vamp" aber wurde die heute längst vergessene Theda Bara, die als Cleopatra (1917) ihren ersten großen Erfolg hatte. Ob sie in historischem Kostüm oder im modernen Kleid spielte, ihre Aufmachung war immer die gleiche: verführerische Hüllen, die immer mehr zeigten als verbargen, und als wichtigstes Detail ihres Make-up tiefe Schatten um die Augen, mit denen sie die Männerherzen knickte; ebd. 4. 2. 1961 Teenager, Twens, Pullimädchen ä la Vamp, Jünglinge im Rock'n Rolldress mit Borstenhaaren; ebd. 19. 1. 1967 In Hollywood konnte sich dieses so ätherische und fragile Wesen nicht gegen das dortige Vamp-Aufgebot durchsetzen; FAZ 4. 1. 1971 „Besuch in der Dämmerung" von Jan Rybnowski und Tadeusz Rittner blenden auf die Blütezeit der Vamps und der Tigerfelle mit aufgesperrtem Rachen zurück.

Vampir M. (-s; -e), früher vereinzelt F . , PI. auch -en und -s, im früheren 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. serb. vampir,

bis ins 2 0 . J h . m e i s t in d e r F o r m Vampyr-,

a

dem Volksglauben der slawischen Völker (Süd-)Osteuropas entstammende Bezeichnung für eine bösartige, blutsaugende Spukgestalt, einen Toten, der nicht zur Ruhe

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kommt, nachts aus dem Grab steigt und lebenden Menschen (im Schlaf) das Blut aussaugt, in neuerer Zeit beliebte Figur in Grusel- und Horrorfilmen (Graf Dracula); von daher schon früh häufig bildlich verwendet im Sinne von 'Blutsauger, Ausbeuter; Wucherer' von Menschen, seltener auch Institutionen o.a., die andere grausam, rücksichts- und skrupellos ausbeuten. Dazu seit späterem 18. Jh. die subst. Ableitung Vampirismus M. (-; ohne PI.), zunächst 'Glaube an Vampire', dann auch 'Wesen, Verhalten und Treiben der Vampire' und 'rücksichts- und skrupellose Ausnutzung, -beutung, Blutsaugerei; Wucher', früher auch in der Bed. 'übertriebenes Aderlassen' gebucht und heute als psychologischer Fachausdruck für eine bestimmte Form des Sadismus; gleichzeitig die adj. Ableitung vampirisch 'wie ein Vampir; auf Wesen, Verhalten und Treiben der Vampire bezogen, sie betreffend' und ausbeuterisch', dafür um die Wende 18./19. Jh. vampirartig und seit Mitte 19. Jh. selten belegtes vampirhaft; im früheren 19. Jh. die verbale Gelegenheitsableitung vampirisieren 'jmdn. zum Vampir machen', b Seit dem 19. Jh. als Fachausdruck der Zoologie übertragen auf eine tropische, bes. südamerikanische Familie von Fledermäusen, die schlafenden Tieren und Menschen das Blut aussaugen bzw. deren Blut auflecken. Vampir a: Ranft 1734 Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, Worin die wahre Beschaffenheit deren Hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeigt (Titel) (KLUGE); 1739 Hamburg. Ber. 703 Von den Vampyren, oder so genannten Blutsaugern; Herder 1765 (I 24) jenes Ungeheuer des Despoten . . . das durch Zöllner, Vampyren und Igel das Blut aussaugt; 1768 Abhdlg. d. Gespenster 120 eine Gattung der Geister . . . die schmatzende Tode, die Vampyren, oder die sogenannte Blutsäuger; Swieten 1768 Vampyrismus (Übers.) Vorr. a3"lh Die Vampyren sind aber verstorbene Menschen, welche zuweilen später, zuweilen eher aus dem Grabe aufstehen, den Menschen . . . das Blut aussaugen an die Hausthüren . . . anklopfen . . . in Ungarn, Mähren, Pohlen und Schlesien; Amavero 1775 Untersuchung 196 von den Vampyren oder Blutsäugern . . . Es wurde vor Alters ganz sicher geglaubt, dass die Vampyren Geister wären, die von ihren Gräbern aufstünden, die Leute beunruhigten, und ihnen das Blut aussaugten; Meister 1777 Schwärmerey II 43 so viele Dämons, Feen, Sylphen, Salamander, Gnomen, Laren, Larven, Lemuren, Gespenster, Nachtgeister, Weerwölfe, Kobolde, Unken, Vampiren, Heckemänner, Besessene, Verhexte, Genestelte; Bürger 1784 briefl. a. Gökkingk (Vierteljahrschr. f . Lit'gesch. 3 (1890) 446) froh, dass ich jenen blutaussaugenden Vampyr, ich meine die Pachtung [des Gutes Appenrode] los bin; Wölfling 1796 Reise III 5 von einer Legion muthwillig auf seinem [des Schläfers] herum hüpfender sechsbeiniger Vampyren; Laukhard 1798 Annalen I 51 die Sammlung erbaulicher Gedichte oder den Zuchtspiegel für die politischen Vam-

pyrs; Herder vor 1803 (X163) es sind deine honest men turn'd knaves, sprach die vampyre (DWB); Voß vor 1826 (II 107) Wir kommen . . . ich selbst wie ein wilder „Vampier" und sauge dein Blut aus (SANDERS DWB); Goethe 1827-42 (W. XLI 33) Die Nacht- und Grabdichter lassen sich entschuldigen, weil sie so eben im interessantesten Gespräch mit einem frischerstandenen Vampyren begriffen seien (KEHREIN); Matthisson 1828 Reiseskizzen (Nachlass I 117) er [Paganini] sey nämlich ein Vampyr, und führe deshalb immer einen Knaben mit sich, dem er das Blut aussauge und wenn einer abgethan sey, müsse ein anderer daran; Csaplovics 1829 Ungern II 277 Die Ruthenen und Wlachen sind grosse Verfechter der Blutsauger — Vampyre; selbst in der neuesten Zeit mussten Misshandlungen der Todten gerichtlich bestraft werden; Brunner 1848 Prinzenschule 115 Du saugst wie ein Vampyr an meiner Feder, und willst immer Hofneuigkeiten und Hofneuigkeiten; Frank11852 Gusle. Einltg. XVI Der Vampyrglaube ist unter den Serben geboren. Wjeschtizen, Hexen, essen dem Schlafenden das Herz aus dem Leibe. Der Mensch, dem so geschehen, kann nur so lange leben, als das Herz nicht ganz aufgefressen ist; Fontane 1854 Br. II 1, 112 dass Zeiten kommen . . . wo man in der besten Gesellschaft sich unter lauter Vampiren wähnt, die nur darauf warten, uns das Herzblut auszusaugen; Heine vor 1856 (V 135) die nächste aufgabe ist gesund zu werden; denn wir fühlen uns noch sehr schwach, die heiligen vampyre des mittelalters haben uns so viel lebensblut ausgesaugt (DWB); ebd. VI 275 seht ihr nicht, wie blutig der mund des bevollmächtigten vampyrs, der zu Frankfurt residiert

Vampir und dort am herzen des deutschen volkes so schauerlich langsam und langweilig saugt? (DWB); 1860 Hausblätter II 83 er sei ein Vampyr. Was ist das für ein Ding? Nun, das ist ein todter Mensch, der aber doch lebendig herumgeht und den Leuten, wenn sie schlafen, das Blut aussaugt . . . dass er ein junges Mädchen suche, um ihr das Blut auszusaugen, weil er sich damit das Leben wieder auf hundert Jahre verlängern könne. Einstweilen begnüge er sich aber mit frisch eingegrabenen Leichen, wovon er sich jede Nacht eine aus dem Grabe hole; Ziegler 1860 Reisen II 40 In Nordland und Finmarken ist der Kaufmann der Versorger und Erhalter, der helfende Engel und der Vampyr des schwachbevölkerten Landes; Hamerling 1870 Danton (VI 69) der Vampir, der erst dem Schlummernden sacht mit seinen Flügeln Kühlung zuweht, um ihn noch tiefer einzulullen, bevor er ihm das Blut aussaugt; Rodenberg 1872 Studienreise i. England 222 Der Jude ist nicht mehr der Vampyr, der Christenblut lediglich zu seinem Vergnügen saugt; Scbäffle 1878 Bau III 457 Arbeiterassociationen, welche die Arbeitgeber „Vampyre" und Tyrannen der Arbeiter nannten; Dingelstedt 1879 Bilderbogen 152 ihre Vampiraugen jedem einzelnen Zuschauer in's Hirn bohrend; Blumenthal 1880 Aus heiterm Himmel 4 Der Vampyr, dem sie Sagen tönen, Sog warmes Blut aus Menschen-Venen. Ein Vampyr ist auch Liebesglut: Nur raubt sie uns das kalte Blut; Franzos 1884 Liebe 85 wilde lange gierige Küsse, wie ein Vampyr Blut trinkt; Plümacher 1884 Pessimismus 29 Anm. Die Schatten möchten Blut trinken, um sich den Lebenden verständlich machen zu können. Hier möchte vielleicht der Keim gegeben sein zu dem Glauben an Vampyre bei den Neu-Griechen und Slaven; Schaffte 1885 Aussichtslosigkeit 33 der Marx'sche Kapitalist-,,Vampyr" gegen den socialdemokratischen Schmarotzer, Volksbetrüger und Majoritätsfaulenzer; Marholm 1893 Psychologie d. Frau II 101 immer sitzt ihm „ein dämonisches Weib", ein „geistreiches Weib", eine Sphinx, ein Vampyr, eine Dirne, oder ein Drache auf dem Nacken und tyrannisirt ihn; Reventlow 1915 Der Vampir des Festlandes. Eine Darstellung der englischen Politik nach ihren Triebkräften, Mitteln und Wirkungen (Titel); Jodl 1920 Jodl 71 [den] frivolen Eindruck der Münchener Gesellschaft, den furchtbaren Vampyr, der einem . . . das Blut aus dem Herzen . . . saugt; 1922 Heimatland (München) 16 Aber der Vampir Handel und die Hyäne Valuta sperren dem Volk überhaupt den Mund bereits zu; Moreck 1928 Liebe 114f. [Klient eines Pariser Bordells] in der Rolle eines Vampirs . . . Er fand seine Befriedigung darin, dass er sich auf die als Leiche hergerichtete Prostituierte stürzte und an ihrer Kehle sog, bis sie

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blutete. Dann zog er sich wieder zurück, um in Abständen von etwa 8 Tagen wiederzukommen; Rehm 1930 Untergang 139 Das Christentum war der Vampyr des imperium Romanum; Friedell 1931 Kulturgesch. III 455 In mehreren Dramen [Strindbergs] kommen Personen vor, die die Rolle des Vampirs spielen; sie nähren sich von Geist und Blut ihrer Mitmenschen. Aber Strindberg ist selbst ein solcher Vampir: er saugt den Menschen . . . das Blut aus Herz und Hirn; 1932 Volk u. Reich 591 Befreiung Europas aus den Fesseln einer Politik, die alles wirtschaftliche Leben erstickt, wie ein Vampyr die Völker aussaugt; Dtsch. AZ. 20. 11. 1935 Alte Schauergeschichten von Vampyren wurden aufgewärmt, von Toten, in die Teufel und böse Geister hineinfahren, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, nachts aus den Gräbern stiegen, in die Häuser schlichen, um den Schlafenden das Blut aus den Adern zu saugen. Und bald war sich das ganze Dorf einig, in den Kaufmann sei ein böser Geist hineingefahren, er sei ein Vampyr, und man müsse auf der Stelle diesen Vampyr in dem Toten umbringen. Nach altem Rezept; Münch. Ztg. 12.113. 3. 1938 In gewissen Teilen Jugoslawiens ist der Aberglaube noch stark verbreitet, daß die Seelen der Verstorbenen, die aus irgendwelchen Gründen nicht die ewige Ruhe finden, dazu verdammt seien, als „Vampyre" auf Erden weiterzuleben. Diese „Vampyre" haben zumeist die verwerfliche Eigenschaft, daß sie ihren Mitmenschen auf die Nerven gehen, indem sie Mensch und Tier verhexen, Geschirr und Fensterscheiben — natürlich zur Nachtzeit — zertrümmern und sich auch sonst unliebsam bemerkbar machen; Neue Ztg. 28. 7. 1951 Man muss auch nicht immer nur rückwärts wünschen — man muss nicht immer nur vom Gestern träumen. Das Gestern ist wie ein Vampyr, der die Kräfte saugt, die man für das Morgen brauchte; Stuttgarter Ztg. 15. 5. 1961 Ein blondgelocktes Mädchen . . . ausersehen, einem Vampir ins Brautbett, sprich Steinsarg zu folgen. Nachdem er von ihrem Blut genippt hat, kann er es nicht lassen; ebd. 22. 2. 1965 Es gibt alle Gruselattribute: Ein Spukschloß, unheimliche Tropfsteinhöhlen, die obligaten Fledermäuse, den zwielichtigen Dorftrottel, und zur Aufhellung eine Blondine, die ihre Reize zeigt und nur beinahe den Vampiren verfällt; Offenburger Tagebl. 16. 3. 1970 Vampirjagd auf dem Friedhof (Überschr.) Im Morgengrauen stürmten am Samstag etwa 100 Engländer auf der Jagd nach einem Vampir zum Nordlondoner Friedhof Highgate. Zuvor hatte der 24jährige David Farrant im Fernsehen erklärt, auf dem Friedhof gehe ein Vampir um, und er wolle dem Wesen ein hölzernes Kreuz ins Herz stoßen; Bad. Neueste Nachr. 13. 1. 1972 Waldemar Wohlfahrt . . . hat mittlerweile doch

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noch ein gutes Dutzend (vornehmlich weiblicher) Personen vom Leben zum Tode befördert; freilich nur auf Zelluloid, als Film-Vampir in der Nähe Stuttgarts . . . Das Jahr 1970, so wird's gezeigt, war für den baden-württembergischen Vampir ein Jahr gesteigerter Aktivität; Die Zeit 27. 6. 1975 „Die sieben goldenen Vampire" von Roy Ward Baker. Was macht Dracula in China? Der transsylvanische Blutsauger begibt sich ins Reich der Mitte, um eine Gruppe einheimischer Vampire anzuleiten. vampirartig: Matthisson 1796 Italien (V 19) einzig und allein mit Beyhülfe des vampyrartigen Dämons, der das Monopolwesen in die oberbischöflichen Staatsgesetze arglistig einschwärzte. vampirhaft: Schlichtkrull 1860 Laterna Magika 204 Charakter, der vampyrhaft jede edle Natur umklammert und entmarkt (SANDERS DWB); Zfvgl. Lit'gesch. N. F. 15 (1904) 349 vampyrhaften Einfluss [gestorbener Leute auf die Hinterbliebenen], vampirisch: 1768 Abbdlg. d. Gespenster 122 die vampyrischen Geschichten und Wirkungen dieser Geister; Amavero 1775 Untersuchung 196 durch genaue Untersuchungen die vampyrischen Begebenheiten . . . [festgestellt] dass dieses schädliche Übel, und diese Geister nur allein in der verkehrten Einbildung ihr Dasein haben; Goethe 1797 Tagebücher (II 72) Das Vampyrische Gedicht abgeschrieben und Schillern . . . gegeben; Burckhardt 1855 Br. III 235 [wetterwendische Grillen, die bald so bald so sind] bis ein anderer Wind weht, und zugleich immer ein Schlachtopfer haben müssen, das sie mit vampyrischem Hohn verfolgen; Scherr 1865 Blücher 1123 vampyrisch-wollüstigen; Curtius 1921 Barres 216 Blutarm und vampirisch — aber ohne Dämonie — beschwört die Barresche Seele die Toten, um mit ihnen und von ihnen zu leben; Halbe 1935 Jahrhundertwende 45 dem vampyrischen Dämon der fränkischen Gymnasiallehren verfallen, als habe deren verstandesbleiche Seele posthum sich an dem warmen Lebensblut des hörig gewordenen Dichters ersättigen wollen; Goethe 1 (1936) 16 vampirisch-dämonischen Weibsteufel; Hülsen 1947 Zwillings-Seele I 39 umschlich und umstrich ich wieder tagelang den schönen Garten, der sich allmählich auf geradezu vampirische Weise in allen meinen Gedanken eingenistet hatte und ihr Blut trank. vampirisieren: Görres 1836—42 Mystik III 283 Neben vampyrisirten Leichen; ebd. III 285 Der Vampyr in seinem Grabe übt eine Wirkung auf die Lebenden aus, in Folge welcher die von ihm Er-

griffenen vampyrisirt, selber zu Vampyren werden (beide KEHREIN). Vampirismus: 1768 Abhandlung des Daseyns der Gespenster, nebst einem Anhang vom Vampyrismus (Titel); Reil 1803 Rhapsodien 344 der Vampyrismus, ein Aberglaube, der ehemals in Ungarn herrschend war. Ein Vampyr ist eine Person, die wieder aus dem Grabe aufsteigt, die Lebenden würgt, oder ihnen das Blut aussaugt; Goethe 1827-42 (W. XLVI137) Der gräßliche Vampyrismus mit allem seinem Gefolge (KEHREIN); 1839 Dtsch. Viertelj'schr. III 175 In manchen slavischen Ländern tritt er in der furchtbaren Gestalt des Vampyrismus auf; Henne-am Rhyn 1897 Kulturgesch. VII307 Das Fiasko, welches Kiesewetter in bezug auf das Hexenwesen gemacht hat, gilt auch von seinen gleichwertigen Versuchen einer Erklärung . . . der Lykanthropie (WolfsVerwandlung), des Vampirismus . . . der Magie, Theurgie, Nekromantie u.s.w.; Zfvgl. Lit'gesch. N. F. 15 (1904) 347 der schreckensvolle Aberglauben des Vampyrismus; Polgar 1928 Zeuge 122 ein Akt des Vampirismus, den die Füllfeder am Sandwichmann übt. Sie nährt sich von seinem Lebenssaft. Wenn sie das lange genug fortsetzen könnte, würde der Mann vielleicht völlig blutlos werden und aus der pappendeckelnden Riesenfeder rote Tinte fliessen; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 574 ein Parasitenattentat, ein Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger; FAZ 14. 8. 1969 Das soll wohl auf die nicht so umwerfend neue Frage hinauslaufen, ob derlei literarischer Vampirismus zulässig sei; die moralische Waagschale enthält hier die Beschuldigungen und Leiden der ausgenutzten Menschen — dort das ganz große Kunstwerk. Vampir b: Hildebrant 1867 Reise I 206 Die Ungeheuer sind in alten Naturgeschichtsbüchern als Blutsauger (Vampyre) verschrien, in der That aber gehören sie zu den harmlosesten und nützlichsten Geschöpfen und nähren sich lediglich von Insecten, die zwischen den Wendekreisen eine eben so reichliche als nahrhafte Kost bieten; Die Zeit 4. 7. 1980 Und das, obwohl in Mitteleuropa nur die Familien der Hufeisennasen und der Glattnasen vorkommen, nicht aber die echten Vampire. Diese Fledermausfamilie liebt Menschenblut. „Beim Anfliegen ihrer Opfer gehen die Vampire so vorsichtig zu Werke, daß schlafende Menschen in der Regel nicht erwachen, weil sie weder das Aufsetzen der Füsse noch den schnellen Biß der Zähne spüren", heißt es dazu in Grzimeks Tierleben. Aber wie gesagt: Vampire gibt es in Münster nicht. Nur nahe Verwandte.

Vandale

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Vandale M. (-n; -n), in jüngster Zeit auch in der Schreibung Wandale gebucht, seit späterem 18. Jh. nachgewiesen, wohl über gleichbed. frz. vandale zurückgehend auf lat. vandalus, PI. vandali(i) ( < germ. '''Wandal-, Wandil-, Wandul-), Bezeichnung eines (Angehörigen des) ostgermanischen Volksstammes, der im 4./5. Jh. n. Chr. Westeuropa, bes. Gallien und Spanien, überfiel, nach Nordafrika zog und von da aus im Jahr 455 unter Führung ihres Königs Geiserich Rom eroberte, wobei die Stadt 14 Tage lang verwüstet, insbes. Kunst- und Bauwerke geplündert worden sein sollen; meist pl. verwendete Bezeichnung für einen Angehörigen des (als zerstörungswütig, kunstfeindlich, barbarisch in die Geschichte eingegangenen) Volksstammes der Vandalen und bes. allgemein gebraucht für 'jmd., der sich wie ein Vandale, Barbar verhält; jmd., der mutwillig, sinnlos Gegenstände (vor allem Kunst- und Bauwerke) zerstört; zerstörungswütiger Mensch, Rowdy', häufig im Verbalsyntagma wie (die) Vandalen hausen mutwillig großen Schaden anrichten'; dazu die Mitte 17. Jh. in der Schreibung wandalisch vereinzelt, seit späterem 18. Jh. kontinuierlich belegte adj. Ableitung vandalisch 'die Vandalen betreffend, zu ihnen gehörig, von ihnen stammend' und 'in der Art und Weise der Vandalen; zerstörerisch, verheerend; zerstörungswütig, barbarisch; kunstfeindlich', z . B . im Syntagma vandalisch hausen; Ende 18. Jh. die adj. Gelegenheitsableitung vandalenmäßig 'in der Art und Weise der Vandalen'; seit Mitte 19. Jh. die seltene subst. Ableitung Vandalentum N. (-s; ohne PI.) mutwillige Zerstörung(swut)', vgl. —> Vandalismus. Vandale: 1766 (Alflen 1924 Leben (Übers.) 79) von den verschiedenen Städten, die ich ohne jedes Verständnis für die schönen Künste, wie ein Vandale, besuchte; Schubart 1772 (Strauß, Schubarts Leben I 193) Du travestirender Vandale, Nun übersetz' und würg' Originale (ZFDW IX 301); den. vor 1777 (Originalien 1780 101) Das sind Gothen und Vandalen im Reich des guten Geschmacks (ZFDW IX 301); Gotting. Magazin d. Wiss. 5 (1782) 237 von Gothen, Vandalen, Langobarden, Savagenen und allen wilden Völkern haben wir nicht mehr zu befürchten, dass sie das Licht der Vernunft und der Wissenschaften wieder auslöschen, und Finsternis über Europa verbreiten mögten; 1793 Polit. Journal 785 den wilden Freyheits-Horden, deren barbarische Verwüstungen und Freveltaten alles, was man in der Geschichte von den Hunnen und Vandalen lieset, weit übertrafen; ebd. 1173 diese schöne Operation [Zerstörung Lyons durch die Republikaner], der man zu viel Ehre antun würde, wenn man sie eine Vandalen-Verwüstung nennte; Wölfling 1796 Reise II 24 Als die Französischen Vandalen, unter Anführung ihres von dem grossen Ludwig XIV. privilegirten Mordbrenners Melac . . . die Pfalz [verwüsteten]; 1797 Berlin. Archiv II 3 dass Drohungen . . . von unwissenden und grausamen Vandalen herrühren müssten; Allgem. geograph. Ephemeriden 3 (1799) 13 die Franzosen hätten damals schon als ächte Vandalen vielleicht gar die

ganze Göttinger Sternwarte . . . zerstört und in Rauch aufgehen lassen; Schiller 1800 Die Antiken v. Paris (Barth 1923 Porträts 26) Der allein besitzt die Musen, Wer sie trägt im warmen Busen; Dem Vandalen sind sie Stein; 1827 Kunst-Blatt 309 Mit vollem Recht wird den Hunnen, Vandalen und anderen unkultivierten Völkern früherer Zeit, die Zerstörungssucht griechischer und römischer Gebäude und Kunstwerke vorgeworfen; ebd. 310 Schlimmer konnten selbst Vandalen nicht hausen, als es hier ihre modernen Nachfolger thaten; Hehn 1839-40 Reisebilder aus lud. u. Frankr. 223 Auch dieser Tempel ist nicht durch sich selbst zerfallen, sondern durch vorsätzlichen Raub roher Menschen, und zwar nicht der Goten oder Vandalen, wie die Italiener in gerechter Scham zu sagen pflegen, sondern der Römer, der Christen, der heiligen Bischöfe und Päpste; 1861 Allgem. Mil'Enz. IV 323 Vandalen . . . haben sich durch ihre fürchterliche Verheerungslust in der Geschichte unvergesslich gemacht; Peterssen 1870 Genrebilder 110 Herrn Haussmann, diesen En-gros-Vandalen und Would-be-Stadtverschönerungsaspiranten; Kretzer 1880 Genossen 84 Wehe aber, wenn ihr an diese Macht der Gewohnheit rüttelt . . . wehe, wenn ihr den wahrhaftigen Genuß wo anders zu finden glauben macht, als in der inneren Zufriedenheit, wehe, wenn ihr die Bande künstlich lockert, statt natürlich — dann werdet ihr aus Sittenreformatoren zu Sittenverderbern, aus Er-

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Vandale

bauern zu Vandalen; Grimm 1886 Essays IV 261 Aber ich möchte nachträglich gegen die Vandalen, die mit einer gewissen Unbefangenheit doch immer fremdes Eigenthum ruinirten, nicht ungerecht sein. Die Vandalen zerstörten weder, um Geld zu verdienen, noch wütheten sie gegen sich selber so, sondern sie vergriffen sich an fremdem Besitz, dessen Werth sie nicht einmal zu ermessen im Stande waren; Wachenbusen 1890 Leben II 313 Chalons, wo die abziehende Besatzung wie die Vandalen gehaust; Lokal-Anz. 20. 8. 1933 „Wie Vandalen haben sie gehaust!" „Ein Akt rohesten Vandalismus . . ." Derartige Wendungen sind durchaus Sprachgebrauch . . . der Begriff macht einen Germanenstamm verächtlich, der dies keineswegs verdient hat . . . Die Vandalen haben während der ständigen Kriege, die sie führten, die Küstenstädte, die sie nahmen, geplündert. Es gab kein Heer des Erdkreises, das anders gehandelt hätte. Sie haben auch Rom geplündert, und Gedankenlosigkeit hat ihnen an der Zerstörung der künstlerischen Hinterlassenschaft des Altertums in der ewigen Stadt Schuld gegeben; Münch. N. N. 4. 10. 1944 Clark stellte dann die Falschmeldungen über den angeblichen Raub von Kunstwerten durch die Deutschen richtig. „Ich bin oft gebeten worden, meinem Unwillen über diese angeblichen Vandalentaten zum Ausdruck zu bringen"; Stuttgarter Ztg. 8. 4. 1959 Auf dem alten Friedhof in Köln haben in der vorletzten Nacht Vandalen gehaust. Kreuze wurden umgestürzt, das Erdreich aufgewühlt und die eisernen Grabeinfassungen aus dem Boden gerissen; Münch. Stadtanz. 23. 6. 1962 Eine Horde verwegener Vandalen stürmte bei der „Nacht der Analphabeten", dem Kostümfest der Städtischen Kaufmannsschulen, das Regina-Palast-Hotel. Die Schüler wollten damit eine kleine Kostprobe zum besten geben, wie „echte" Vandalen hausen, nachdem man sie beim Schulskandal Ende vergangenen Jahres mit dem kriegerischen germanischen Volksstamm verglichen hatte; Bad. Ztg. 25. 7. 1964 Scharfe Hunde gegen Vandalen. Jugendliche Rowdies richten in England Millionenschäden an (Oberschr.); NZ. (Basel) 11. 11. 1966 In der Genfer Altstadt waren am Dienstag wiederum Vandalen am Werk, die in den Hausgängen zweier Häuser mit den dort aufgestellten Feuerlöschern die Wände und das Treppenhaus beschmierten . . . Schliesslich zertrümmerten die Vandalen einige Schaufenster des Altstadt-Quartiers; Offenburger Tagebl. 26. 7. 1971 Im TCO-Heim wie die Vandalen gehaust (Oberschr.) drangen bis jetzt noch unbekannte Täter in das Heim des Tennisclubs Offenburg ein . . . Im Büroraum wüteten sie wie die Vandalen: Sie brachen alle Schränke und Schubladen auf; ebd. 23. 11. 1971 Von den acht

angeklagten Madrider Picasso-Vandalen sind inzwischen vier gegen Kaution freigelassen worden. vandalenmäßig: Matthisson 1795 Italien (IV 89) hunnen- und vandalenmässig. Vandalentum: 1854 Prutz'Museum II 948 Klage geführt über das Vandalenthum, mit welchem die Alterthümer unserer Stadt [Prag] behandelt werden; Miedel (ZDSpV 20 (1905) 81) „Vandalismus". Eine Ehrenrettung (Uberschr.) Dieses Wort ist gerade in neuester Zeit — auch in der Nebenform Vandalentum — wieder so viel gebraucht worden, daß es geboten erscheint, vor einer breiteren Öffentlichkeit seine Berechtigung zu untersuchen. Bei jeder Beschädigung von Bäumen und Anlagen so gut wie bei der Vernichtung geistiger Errungenschaften — immer kommt in unsern deutschen Zeitungen diese Bezeichnung zum Vorschein, die einem germanischen Volksstamm ein so beschimpfendes Brandmal aufdruckt, daß allein schon um deswillen jeder, der sein deutsches Volkstum schätzt und achtet, es vermeiden sollte, das Wort in den Mund zu nehmen. vandalisch: Micraelius 1639 Altes Pommerland I 63 der letzte könig, oder vielmehr der tyrann Gilimer, der wider recht das wandalische reich in Africa könig Hilderichen entzogen vnd auff sich gebracht hätte (DWB); 1767 (Alfieri 1924 Leben (Übers.) 99) die vandalische Bauart der damaligen Theater; 1772 Frankf. gel. Anz. 238 Zu Berichtigung des Texts hat Hr. M. . . . auch Gothische und Vandalische Editionen gebraucht; Wölfling 1795 Reise I Vorr. o. S. Ein unzählbares Heer, von Fanatismus beseelt, schwang die Mordbrennerfakkel Melacs abermals über die Rheinländer, und erneuerte mit vandalischer Barbarey die schrecklichen Denkmähler Französischer Verheerungen; Laukhard 1797 Leben IV 2, 40 Wie aber machten es die Deutschen mit den gefangenen Franzosen? Vandalisch und Huronisch!; Prokesch v. Osten 1833 Tagebücher 190 Alle meine Kisten werden geöffnet. Facchini sind die Untersucher wissenschaftlicher Sammlungen! Es ist vandalisch!; Schönhuth 1836 Geschichte Hohentwiels 197 um die Trümmer vor vandalischen Händen neuerer Zeit zu bewahren; Dingelstedt 1839 Weserthal 48 Alles, auch Korvei, wurde geplündert, und . . . mit vandalischer Wuth vernichtet; Cuendias 1847 Spanien 15 noch eines jener Wunderwerke der Kunst, die so verschwenderisch über den übrigen Theil Spaniens verstreut sind und selbst von vandalischen Kriegen und Umwälzungen nicht ganz zerstört werden konnten; 1852 Prutz'Museum II 564 War nicht auch das Christenthum

Vandalismus einmal vandalisch?; Kretschman 1870—71 Kriegsbr. 94 Das Schloß natürlich leer von Bewohnern und Möbeln; was zur Folge hatte, daß es von vorbeipassierenden Soldaten sehr vandalisch verwüstet wurde; Harless 1872 Bruchstücke I 35 das vandalische Zerstören von Bau- und Kunstdenkmalen; Grimm 1886 Essays IV 261 Ich hätte hier nun wohl den Schluß ziehen dürfen, daß diese Verwüstung der Villa Ludovisi als ein Beispiel dessen angesehen werden könne, was ohne Widerspruch „vandalisch" sei; 1903 Grenzboten III 175 vom vandalischen Einbruch in die Kunst und Wissenschaft; Voss. Ztg. 15. 5. 1930 Schulen und Hochschulen haben bei ihren Besuchen dort vandalisch gehaust und den seltenen Pflanzenbestand

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durch übereifriges Botanisieren empfindlich gelichtet; Lokal-Anz. 20. 8. 1933 Will man Fälle von „vandalischem" Verhalten eines Volkes gegenüber dem anderen studieren, dann muß man nicht in das beginnende Mittelalter und ans Mittelmeer gehen, dann muß man die Geschichte der französischen Angriffskriege gegen Deutschland im 17. Jahrhundert studieren; NZ. (Basel) 7. 5. 1949 Einbrecher haust vandalisch (Uberschr.) feststellte, dass in den zehn Zimmern sämtliche Schubladen und Schränke durchsucht worden waren. Wahllos hat der Einbrecher verschlossene Behältnisse mit einer unbeschreiblichen Rücksichtslosigkeit aufgesprengt und beschädigt und ihren Inhalt auf den Boden geworfen.

Vandalismus M. (-; Vandalismen), in neuester Zeit auch in der Schreibung Wandalismus gebucht, Ende 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. vandalisme (geprägt von Grégoire de Blois 1794 im Zusammenhang mit den Kunstzerstörungen und Plünderungen der wie Vandalen hausenden Jakobiner; zu vandale, —» Vandale); in der Bed. mutwillige, sinnlose, barbarische Zerstörung', zunächst vor allem auf Kunst- und Bauwerke, dann auch auf konkrete Gegenstände aller Art und selten auf Abstrakta (Erinnerungen, Schönheit u.ä.) bezogen; auch abgeflacht für 'banausische, von wenig/keinem (Kunst-)Verständnis oder Wissen zeugende Handlung'; häufig ohne Pl. gebraucht in der Bed. '(mutwillige, sinnlose) Zerstörungswut, -sucht, Barbarei'. Matthisson 1795 Italien (IV 247) In dem, allen und jeden architektonischen Musterwerken, besonders den freystehenden, so verderblichen Mittelalter, wo des Vandalismus Zerstörungs- oder Verunstaltungswuth weder Ziel noch Grenzen kannte; ebd. (1796) V160 [daß die Zerstörung der Basilika von Pesaro] im ungeheuren Schuldregister des Vandalismus mit flammenden Schriftzügen verzeichnet werden muß; 1796 Neues Hannöver. Magazin 1217 dass der Mensch als Gattung, trotz Revolutionen, Vandalismus, Demagogie und Kriegen wenigstens nicht rückwärts gegangen ist; 1796 Revolutions-Almanach 295 Beiträge zur Geschichte des Französischen Vandalismus in unsern aufgeklärten Zeiten; 1796 Journal d. Moden XI 130 Anm. daß unter andern Robespierrischen Vandalismen auch an dieser neuen Kirche die um die Frise herumlaufenden Reliefs aus der biblischen Geschichte schändlich verstümmelt; 1798 Merkur (W.) 1158 Gregoires Berichten über die Vandalismen des Schreckenssystems; Schiller 1798 briefl. (ZADSpV. 20 (1905) 308) Böttiger, höre ich, wollte über den Vandalism der Franzosen bei Gelegenheit der so schlecht transportierten Kunstwerke einen Aufsatz schreiben; Matthisson 1803 Paris (VI 92) Vielleicht erinnern sich Ew. Durch-

laucht noch, daß es eine Zeit gab, wo auch ich zu den Verdammern der Kunsteroberungen gehörte und das damalige Lieblingswort Vandalismus unaufhörlich im Munde führte; Kotzebue 1804 Erinnerungen a. Paris 181 der heillose Vandalismus der Revolution; Görres 1814 Polit. Sehr. I 299 Sie bewahren alte Bücher und Kunstwerke, und schreien über Vandalism; 1815 (Malachowski 1897 Erinnerungen 145) An der Marmorstatue Karls des Großen und dem Grabmal Turennes fanden sich noch die Spuren des Vandalismus, mit dem die Revolution auch hier gehaust hatte; 1823 Eos 686 [die weibliche Welt würde] Ehre und Tugend, Schönheit und Reize, Seelenruhe und Herzensfriede männlichem Vandalismus zum Opfer gebracht haben; Schenk 1829 (Spindler, Briefw. Ludwig I u. Schenk 377) Nach einem langen Vandalismus ist die gebührende Sorgfalt für die Uberreste der deutschen Vorwelt wieder erwacht und das richtige Gefühl ist ziemlich herrschend geworden; Matthisson vor 1832 Polydora (Nachlass I 223) dass der friedliche . . . Bürger . . . weit mehr zerstört als alle Heere von Barbaren, über deren Vandalismus so oft geeifert wird; Arnim 1841 Bemerkungen e. Reisenden II 135 Anm. So wenig achtet der Vandalismus in seiner Wuth die Kunst-

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werke; 1843 Portugal 93 die Säule [ist] durch den Vandalismus einer aufgenagelten Metallplatte verunziert; ebd. 260 Diese Armuth an Kunstgegenständen und der Vandalismus an den wenigen Resten; Marr 1846]. Deutscbld. 8 Einem Dichter als solchen Inkonsequenz vorwerfen . . . ist, gelinde ausgedrückt, ein Vandalismus; um 1850 Tombleson's Ansichten 40 mit den herrlichen Werken der Rheinlande und Niederlande (durch die Boisserees dem Vandalism entrissen); Minzloff 1853 Altdtsch. Hss. 7 Sehr lobenswert scheint uns . . . der Vandalismus des Buchbinders, der altdeutsche Poesie zerschnitt, um einen mittelalterlichen Scholastiker zu bekleiden; Banck 1863 Alpenbilder II 166 den edelwirkenden Thierschutzvereinen, die nur vom Vandalismus verlacht werden; Mahler 1864 Ueber die Eider 3 In unbegreiflichem Vandalismus hatten sie auch die schönen Bäume an der Promenade theilweise gekappt; ebd. 4 Die Altstadt zeigte nur die Spuren der Pallisadirungen und die oben erwähnten Vandalismen an der Promenade; Micbelis 1872 Reiseschule 179 nur soll der Hausherr seinem Koch keine Vandalismen erlauben; Kleinschmidt 1875 Vandalismus 6 Das Wort Vandalismus steht nun, insofern es von dem Namen eines Volkes gebildet ist, welches während der Völkerwanderung eine hervorragende Rolle spielte, einzig da und bleibt auch darum eine eigene Erscheinung, weil überhaupt von einem Volke, welches eine geschichtliche Bedeutung erlangte, bis auf die heutige Zeit kein ähnliches gebildet wurde; Picks Mon'schr. 4 (1878) 653 Stichhaltige historische Erinnerungen zerstören ist ein Vandalismus; Hillebrand 1881 Jahrh. d. Revol. 184f. Die tollsten Erfindungen der Volksvertheidiger von 1870, die furchtbarsten Vandalismen von 1871 haben schon ihre Antecedentien in jenem Jahre der „edlen Volkserhebung"; Grimm 1886 Essays IV 258 Vandalismus wird muthwillige, unnöthige Zerstörung genannt . . . Vandalismus würde sein, wenn man die Kirche von Ära Coeli selbst, eine der ältesten, ehrwürdigsten Kirchen Roms, abbrechen wollte . . . Vandalismus würde sein, wenn noch andere Paläste, von deren n o t wendigem Untergange man spricht, in der That geopfert würden; Dtsch. Rundschau 46 (1886) 326 Gregorovius aber hat — wenn auch mit einer Wendung, die so wenig als möglich Anstoss geben will — das Wort Vandalen' gebraucht. Fragen wir, was damit gemeint sein könnte. Vandalismus wird muthwillige, unnöthige Zerstörung genannt; 1887 Grenzboten IV 377 Nach alledem, was man bisher über die „Vernichtung" der alten Baudenkmäler, „Barbarismus" und „Vandalismus" gesagt hat, der das jetzt herrschende System der Stadterweiterung kennzeichnen soll; 1891 Erinn. 70/71 206 [kein Anlaß] von dem Barbarismus und

Vandalismus der Prüssiens zu reden; Lange 1894 Arbeiterfrage 245 Die Expropriation der unmittelbaren Produzenten [durch das Kapital] wird mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten . . . Leidenschaften vollbracht; Hegeler 1908 Ärgernis 314 Er müsse sagen, wenn er auch überall und immer seinen Mann stehen wolle, da wo finsterer Vandalismus wüte gegen das Wahre, Edle, Schöne; Schulze-Gaevemitz 1909 Marx 40 Marx wird zum leidenschaftlichen Ankläger des Kapitals, das „unter den infamsten, schmutzigsten Leidenschaften, unter schonungslosem Vandalismus" die Produzenten enteignet habe; Schaukai 1913 Zettelkasten 273 bei dem wütenden Vandalismus, der in unseren Städten überall ungehemmt am Werk ist; Lania 1924 Gruben 103 Dort oben [auf der Kathedrale von Reims] ist ein französischer Beobachtungsposten gesessen — hatte der deutsche Generalstab festgestellt, und so musste der Turm fallen. Die Franzosen schrien: „Vandalismus" und monatelang flogen die gegenseitigen Anklagen hinüber und herüber; Weberitsch 1924 Leben 8 Die Stadttore wurden niedergerissen . . . nur das Rathaus steht und ist noch keinem Vandalismus verfallen; Süddtsch. Ztg. 18. 12. 1948 Natürlich sind die Russen über den unfreundlichen Akt, den General Kotikow in seinem Protest als „willkürlich und ungesetzlich" bezeichnet, während ihn das sowjetisch lizenzierte Nachrichtenbüro ADN einen „Vandalismus reaktionärer Kräfte" nennt, aufs höchste empört; NZ. (Basel) 12. 4. 1950 Leider musste nun festgestellt werden, dass da und dort — an einigen Stellen sogar systematisch — diese neuen Wegweiser mit Gewalt entfernt und zum Teil demoliert wurden. Niemand versteht einen solchen Vandalismus, dessen nur ein unkameradschaftlicher, gefühlsloser Mensch fähig sein kann; Süddtsch. Ztg. 23. 5. 1951 dass ein Geschlecht aufwächst, das in aller Unschuld immer mehr der Ehrfurchtslosigkeit, und das praktisch: immer mehr der Barbarei und dem Vandalismus anheimfällt; Offenburger Tagebl. 16. 6. 1970 Jüdische Synagoge in München wurde geschändet. „Echter" Einbruch oder „antijüdischer Akt des Vandalismus"? (Uberschr.); FAZ 22. 6. 1970 Die britischen Postbehörden haben dem Telefonzellen-Vandalismus den Kampf angesagt . . . Die Post entschloß sich zu diesem . . . Schritt, weil sich das mutwillige Zerstören von Telefonapparaten und der Diebstahl von Münzgeld nach den Worten eines Sprechers der Post „zu einer nationalen Epidemie" ausgeweitet hat; ebd. 20. 11. 1971 Vandalismus in München (Uberschr.) Die Münchner Stadtverwaltung klagt über das „geradezu erschreckende Ausmaß", in welchem 1971 „mutwillige Beschädigungen" von

variabel Einrichtungen der Verkehrsbetriebe um sich gegriffen haben. Wartehallen, Haltestellenbänke, Informationstafeln, Papierkörbe und Lampen seien das „bevorzugte Ziel sinnloser Zerstörungen"; Die Zeit 10. 10. 1980 Traurige Manifeste eines

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rasenden Antiklerikalismus, dessen Ruf „Pouvoir sans imagination" gewesen zu sein schien, dessen Vandalismus weit über die Pamphlete der Enzyklopädisten hinausging.

variabel Adj., vom frühen 17. bis Anfang 18. Jh., dann wieder seit späterem 19. Jh. belegte Entlehnung aus gleichbed. frz. variable ( < gleichbed. lat. variabilis, zu variare, —* variieren); zunächst in der veralteten Bed. wankelmütig, launenhaft; unstet; unzuverlässig' auf Menschen (ihr Verhalten, ihre Eigenschaften, Gefühle, Äußerungen) bezogen und wechselhaft, unbeständig'vom Wind; dann zunehmend in der allgemeinen Bed. veränderlich; (ab-)wandelbar, veränderbar; potentiell verschieden(-artig); schwankend, fluktuierend; fähig, sich wechselnden Umständen anzupassen (und daher) flexibel; variationsfähig' (Ggs. invariabel, auch unvariabel), speziell im wirtschaftlichen Bereich, in Syntagmen wie variable Kosten veränderliche Kosten eines Unternehmens in Abhängigkeit vom Personal(-bestand)' (Ggs. fixe Kosten) und variable Notierung schwankende, fluktuierende Notierung', und in der Biologie für c(im Erscheinungsbild) vom Typus potentiell abweichend; variationsfähig'; dazu seit früherem 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) die subst. Ableitung Variabilität F. (-; selten -en) 'Veränderlichkeit, (Ab-)Wandelbarkeit; Variationsfähigkeit; Variations-, Schwankungsbreite; Flexibilität', vor allem in der Biologie, bezogen auf die sich in der Entstehung von Variationen äußernde Fähigkeit von Lebewesen, durch Mutation oder Modifikation (im Erscheinungsbild) vom Typus / von der Norm abzuweichen und sich dadurch anzupassen, von daher auf die Soziologie übertragen im Sinne von Tähigkeit des Individuums, sich durch Verhaltensänderung an veränderte Umweltbedingungen anzupassen', —» Variation; daneben in jüngster Zeit das Subst. Variable F. (-n; -n), in verschiedenen Wissenschaftsbereichen verwendete Bezeichnung für ein beliebig veränderbares Symbol, das für eine Menge steht, speziell in der Mathematik in der Bed. ^Veränderliche' für eine Größe, deren Wert innerhalb einer mathematischen Operation variieren kann, und in der Logik für ein Zeichen einer formalen Sprache, das für eine Menge (Individuen, Eigenschaften, Beziehungen o. ä.) stehen kann, von daher auch allgemeiner für eine veränderliche Größe in einem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang (Ggs. Konstante). variabel: Wallhausen 1616 Kriegsmanual Glossar Variabl, Wanckelmütig; Rist 1642 Rettung E6r die variable Liebe; Mandelslo 1645 Schreiben 29 immer variable Winde (alle JONES); Greflinger 1647 Complementier-Büchlein B21' der Hoff-Wind . . . welcher sehr variable an dem orth zu seyn pflegt; Grimmelsh. 1669 Simpl. 112 Sein Discurs war vorsetzlich so variabel; ebd. 568 meine eigene Gedancken, die offt gar variabel stunden; ders. 1670 Courasche 100 der Apotecker . . . der meines Vermuthens das recept verfertigt hatte / dadurch ich aus der Nidere ein so variable Stimme erheben müsten; ebd. 158 Sie klagte mir endlich ihre Noht / und begehrte zu vernehmen / ob ich kein Mittel 8 Fremdwörterbuch

wisse / den variablen Liebhaber zu bannen / und wider in das gerechte Glaiß zu bringen; 1711 Gelehrte Fama 802 ein stoltzer und Ehrgeiziger Mann, ein Scopticus und gerne Tadeler . . . ein Leichtgläubiger und gantz variabler Kopff; Callenbach 1714 Quasi Mundus 14 Monsieur, die Nouvellen seynd variable (BRUNT); Holtzendorff 1869 Principien 92 Der Politik gehört die Reihe der variablen Zweckmässsigkeiten; Prutz um 1900 Pr. Gesch. III 1 Auch in Zukunft, so erklärte er [Fr. Wilh. I.] werde es des Hauses Oesterreich unvariable Maxime sein, Preußen niederzuhalten; Brauer 1929 Sozialismus (Reg.) Variables Kapital; Herl. Illustr. Nachtausg. 15. 8.

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variabel

1933 Der Börsenvorstand verfügte die Aussetzung der variablen Notierung und ordnete lediglich die Feststellung von Kassakursen an; Münch. N. N. 10. 1. 1941 Soll aber eine Auslese überhaupt eingreifen, so muß ihr „Material" aus ungleichen und variablen Individuen bestehen . . . Diese Variabilität ist auch die Voraussetzung der Darwinschen Selektionstheorie; nur unter variablen Individuen ist ein Entwicklung denkbar; ebd. 22. 6. 1942 Variable Notierungen; Stuttgarter Ztg. 28. 8. 1963 führten die Bekleidungsindustrie . . . von einer variablen Produktion zu einer spezialisierten Fertigung; ebd. 7. 8. 1968 Sein [Pousseurs] erstes abendfüllendes Werk . . . ist ein Beispiel des „variablen Musiktheaters"; ebd. 8. 5. 1969 ist ein variableres Strafensystem vorzuziehen; FAZ 16. 3. 1970 Schon taucht in den Stellenanzeigen der Firmen der Lockruf variable oder gleitende Arbeitszeit auf. Doch steht die variable Arbeitszeit noch am Anfang ihrer Karriere . . . Der Praktiker Hillert erläuterte die verschiedenen Möglichkeiten variabler Arbeitszeit von der gleitenden Arbeitszeit mit beschränkter Wahl des Arbeitsbeginns mit fixer täglicher Dauer bis zur dynamischen Arbeitszeit von variabler Dauer, die der Mitarbeiter leistet, wenn er es für notwendig hält . . . Im Fertigungsbetrieb verlangt die variable Arbeitszeit normalerweise gewisse Pufferzeiten als Voraussetzung. Aber selbst Fließbänder schließen variable Arbeitszeiten nicht von vornherein aus; ebd. 9. 10. 1971 Sparkassenhypotheken seien ohnehin zinsvariabel. Variabilität: 1842 Handwb. d. Physiologie 1 296 Da nun durch die Variabilität des Bluts und der Secretionen . . . die chemische Beschaffenheit der den Organismus constituirenden Substanzen wechselt; Haeckel 1866 Generelle Morphologie I 26 unbegrenzte Variabilität aller organischen Formen; ebd. II 223 Vererbung und Anpassung (Atavismus und Variabilität); Schäfße 1878 Bau II 152 Sociale Variabilität; Möller-Bruck 1901 Stilismus 55 Nur auf den flüchtig ersten Blick erscheint es wohl so, als ob die Variabilität der Themen bei ihm [Stefan George] eine ungewöhnlich grosse sei — blos überdeckt von dem gleichmässigen Tone, in dem sie vorgetragen; Stimmen d. Zeit 60 (1901) 38f. Er [Wigand] wies nach, daß die einzige Eigenschaft, welche der Darwinismus den einzelnen sich entwickelnden Wesen beläßt, die Variabilität ist, passive Empfänglichkeit für alles und Abgang jeglicher Bestimmung zu einem; ebd. 79 (1910) 511 Wird durch mehrmaliges Lesen der Silbenfolge eine Assoziation gebildet, so ist das Resultat im einzelnen Falle wegen der großen psychischen Variabilität sehr verschieden; Thiersch 1911 An den Rändern 1 als ob sie [die

Natur] stärker, nachteiliger als bei uns die Entwicklung seiner [des Menschen] Energie, Initiative und damit seiner Variabilität im guten Sinne beeinflusse; Haeckel 1913 LW. 418 Proceß, in welchem die Naturzüchtung das Mißverständnis zwischen der Ueberzahl der Keime und der beschränkten Existenz-Möglichkeiten der actuellen Individuen, im Verein mit der Variabilität der Species, benutzt;Joelu. Frankel 1924 Cocainismus 22 Variabilität des Preises; Simmel 1930 Geld 522 Variabilität des modernen Menschen; Münch. N. N. 10. 1. 1941 Auch muß die Variabilität erblich sein, sonst erlitte jede Auslese fortwährende Rückschläge, wäre also zwecklos. Diese Variabilität ist auch die Voraussetzung der Darwinschen Selektionstheorie; Tritsch 1954 Erben 114 Jedenfalls sollte die soziale Variabilität einer Gruppe, Nation oder Klasse nicht mehr länger mit ihrer immer viel größeren — aber nur latenten biologischen Variabilität verwechselt werden; ebd. 115 Die konkrete soziale Variationsbreite der Erbanlagen innerhalb einer Gruppe überdeckt nie die biologisch mögliche, immer viel größere Variationsbreite dieser selben Gruppe. Alle soziale Variabilität ist der biologischen gegenüber immer restriktiv; ebd. 127 es sind zuletzt auch biologische Kraftfelder, welche die Struktur und die Grenzen der Variabilitätsbreite im Erbgang verändern; 1956 Kluckhohn-Festg. 151 ungeachtet aller Variabilitäten der philosophischen Ausdeutungen; 1958 Dies Univ. VI 100 Zweitens verleiten viele Worte dazu, sie alternativ als scharfe Gegenbegriffe aufzufassen, während sie nur Endpunkte einer sie verbindenden Reihe von Übergängen sind, fluktuierende Variabilitäten, wie wir sie nennen; Newcomb 1959 Sozialpsych. (Übers.) 51 Uniformität und Variabilität innerhalb verschiedener Kulturen; Stuttgarter Ztg. 7. 8. 1968 Er geht den Weg, den Webern und Stockhausen vorgezeichnet haben, mit „Variabilität" und „Mobilität" weiter. Variable: 1958 Urania o.S. Da . . . die an den Elektroden angelegte Spannung als unabhängig variable Größe verändert und der Strom als abhängige Variable gemessen wird (WDG); Stuttgarter Ztg. 10. 6. 1969 Wenn die Notenbanken in ihrem Aktionsmodell die Geldmenge nicht als unabhängige Variable einsetzen würden, hätten sie kaum noch eine Daseinsberechtigung; FAZ 13. 3. 1972 Die Variablen der Berechnung ergeben sich neben dem Wahlergebnis vom 23. April aus einer außenpolitischen Lage; Althaus/Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 257 Dabei sollen folgende Fragestellungen im Vordergrund stehen: welche sozioökonomischen Variablen können für die Beschreibung von Soziolekten sinnvoll sein; welche sprachlichen Variablen sind quantifizierbar; ebd.

Variante 258 Folglich müssen zumindest zur Beschreibung der soziolektalen Schichtung des gesprochenen Sprachgebrauchs in Teilbereichen verschieden geartete sprachliche Variablen herangezogen werden

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. . . Grundbedingung für empirische Untersuchungen ist, daß die gewählten Variablen operationalisierbar sind.

Variante F. (-; -n), im späteren 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. Variante (zurückgehend auf lat. varians, Part. Präs. von variare, —*variieren), vgl. die bis ins 20. Jh. nachgewiesenen lat. Syntagmen variantes/variae lectiones und varia lectio; a zunächst nachgewiesen als Fachausdruck der Textkritik in der bis heute gebuchten Bed. Torm eines Textes, die von der in anderen Handschriften und Ausgaben desselben Textes abweicht; Lesart, Version' (Textvariante); b seit spätem 19. Jh. in unterschiedlichen Bereichen verwendet in der allgemeinen Bed. 'Abart, Spielart; Abweichung, Abwandlung'; c seit frühem 20. Jh. selten nachgewiesen als Fachausdruck der Biologie für ein von der als Normaltypus festgelegten Ausprägung (in einem bestimmten Merkmal) abweichendes Lebewesen, abweichender Organismus o. ä.; Abart, Spielart' (vgl. —»Varietät 2); d in jüngster Zeit fachspr. in der Linguistik in der Bed. spezifische Ausprägung einer Einzelsprache, eines sprachlichen Ausdrucks' (vgl. —» Varietät 3), speziell in der Phonologie für 'stellungsbedingt oder stellungsunabhängig auftretende, unterschiedlich realisierte phonetische Einheit'. Variante a: 1772 Frankf. gel. Anz. 51 welcher Text zu Vorlesungen unsrer Dichtkunst und Sprache, wenn durch Varianten Klopstock mit sich selbst verglichen, und dadurch der angehende Dichter gebildet würde; ebd. 119 wo alle unnütze und schwatzende Schriftsteller Morgenländische Radices raspeln, Varianten, Urkunden schaben . . . Register zuschneiden und andre dergleichen nützliche Handarbeiten mehr thun; Wezel 1777 Erzählungen I 21 seines [des Geistes der Kleinlichkeit] köstlichste Delicatesse sind Varianten und notae variorum, Scholien und Glossen [juristische Spitzfindigkeiten]; Kindleben 1779 Schluterius 58 [ist] der beträchtlichste Theil solcher [literarischer] Werke verloren gegangen, wovon wir heut zu Tage nichts als Fragmente und Varianten übrig haben; Wezel 1781 Sprache 324 als die Philosophie die humanistischen Studien aus dem Besitze ihres Ruhms verdrängte, klagten alle Ciceronianer und Variantensammler über Verfall, weil man lateinische und griechische Wortkritik nicht mehr für die höchste Anstrengung des menschlichen Geistes hielt; Böttiger 1791 Literar. Zustande (1109) Herders Beschäftigung in Bückeburg nicht lange nach seiner Verheirathung war die Kritik des neuen Testamentes, Wetstein, Griesbach und die Varianten. Daher hat seine Frau noch immer einen innigen Grimm gegen alle Varianten und freute sich heute der lustigen Persiflage über das leidige Variantenwesen; Laukhard 1792 Leben 1225 hat eine Ausgabe des neuen Testaments veranstaltet, wo er an den Varianten,

die Will und Wetstein gesammelt haben, beweisen will, daß die Vulgata latina ächter sey, als der griechische Text; Hermann 1796 briefl. (Schütz, Leben 1171) die Varianten der Handschriften des Plautus; Fr. Schlegel 1797-1800 Fragm. (Baxa, Gesellschaft 50) in unsern dürftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verlohren ging, gleichen; Niemeyer 1801 Pädagogik 30 Im Studiren und gelehrten Arbeiten — [zu klassischen Texten] Commentaren — Variantensammlungen — Wörterbüchern — verlohren, war ihnen oft das Schulamt nur Mittel zur bürgerlichen Existenz; Holtei 1860 Eselsfresser 134 „Wer ein böses Weib hat am Sonntag, / Der schneid 'nen Stecken am Montag, / . . . " Eduard achtete sonst nicht auf diesen ruchlosen Gesang, den er leider schon häufig vernommen. Heute gewann die Variante der ersten Zeile, welche gewöhnlich: „ein altes Weib" gelautet hatte, verletzende Bedeutung, weil er das „böse Weib" auf seine Mutter bezog. Variante b: Faucher 1877 Culturbilder 200f. Die Entscheidung, was die Frauenmode und auch die Herrenmode des Frühlings und Sommers sein soll, macht sich in Paris während der Osterwoche auf der Corsofahrt im Boulogner Gehölz . . . Die Varianten, welche die Fabrikanten, Schneider und Modisten versucht haben, kommen dann für diese eine Woche sämmtlich zum Vorschein; man mustert sich gegenseitig und schwatzt und dann

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Variante

kommt bei weitem der größte Theil dieser Formen niemals wieder; nürnberger 1877 Herzenssachen 354 fing die undeutscheste Variante derselben [Plastik], das griechische Erz- und Marmorbild, ausschließlich zu gelten an; Hillebrand 1881 Jahrh. d. Revol. 284 Im Grunde beherrschte sein [Napoleons] Ich doch Alles, selbst in der Zeit, wo er Wertherisch schwärmte — ist denn die Wertherkrankheit überhaupt etwas Anderes als eine Variante des Egoismus?; Gottschall 1885 Totenkl. 224 Die Geisteswelt ist ihm verschlossen, / Sein Sinn ist zu, sein Herz ist todt, / wie man mit einer Variante des Faust'schen Ausspruchs sagen könnte; Hillebrand 188} Culturgesch. 310 ich bin oft versucht, eine Variante seiner Worte zu bilden; Meurer 1892 Bergsteiger 23 vom bescheidensten Dorfwirtshause bis zum elegantesten Prachthotel giebt es . . . alle möglichen Varianten; Key 1904 Liehe (Übers.) 97 „Stimmungsvarianten" der Serpentintänzerin; 1916 Franzosen 205 die Expedition in geschlossenen Kuverts, welche ebenso wie die Drucksachen in besonderen Schreibstuben nach Diktat aus einem Adreßbuche mit Aufschrift versehen werden, wodurch bei den vielen Gleichklängen und den zahlreichen in der Aussprache nicht zu erkennenden Varianten der Rechtschreibung die ergötzlichsten Entstellungen die Regel bilden; 1931 Alpines Handbuch II 14 Geht die Wegführung einmal in der Wand einen Meter seitlich ab von dem gewöhnlichen Weg, so wird daraus eine neue Variante', die haargenau beschrieben werden muss; Voss, Ztg. 14. 8. 1931 Einer nach dem anderen wird hereingelassen. Und drinnen mit geringen Varianten immer wieder dieselbe Szene: „Ich kann Ihnen was erzählen —" und dann wird erzählt; Süddtsch. Ztg. 26. 9. 1950 Wer wollte es wagen, mit Sicherheit jetzt schon zu bestimmen, was von der gegenwärtigen/ Kunst wirklich unserer Zeit zugehört oder welche Schöpfungen bei genauerem Hinsehen lediglich als geschickte, geschmackvolle Varianten früher (oder noch früherer) Kunststile anzusprechen wären?; De Man 1951 Vermassung 13 [das alte si vis pacem, para bellum hat zum entgegengesetzten Ergebnis geführt] Das gilt ganz besonders von der modernen psychologischen Variante, „stark sein, um besser verhandeln zu können und damit dem Frieden zu dienen"; Benn 1954 Altern 22 [Homoerotik] als Triebvariante in ihren [der grössten Künstler] Werken; Münch. Stadtanz. 28. 8. 1959 Sie unterrichten uns über besonders vorteilhafte Reisevarianten; Die Zeit 12. 12. 1980 Indes, bereits seit einer Woche wird in Bonn lustvoll über neue Regierungsbündnisse spekuliert, und nahezu jede denkbare Variante ist dabei wohlfeil: eine kleine Koalition zwischen CDU/CSU und FDP genauso wie eine grosse, entweder zwischen der

ganzen Union und der SPD oder nur zwischen CDU und SPD; ebd. 27. 3. 1981 Fritz Rudolf Fries' „Der fliegende Mann" ist ein skurriles Porträt (sozusagen die ins Phantastische und Fröhliche gewendete . . . Variante einer Schulfunksendung) des Fliegers Otto Lilienthal, der deutsch-idealistisch und zugleich jämmerlich blind über die Verhältnisse hinausfliegen will; Mannh. Morgen 15. 4. 1981 Vorgeschlagen wurden von den Spielern kürzere Trainingseinheiten, die jedoch intensiver und komprimierter zu gezielten spieltechnischen Varianten genutzt werden sollten. Variante c: Polit.-anthropol. Monatsschrift 15 (1916/17) 391 Denn die „funktionell erworbenen Eigenschaften", deren Vererbung er leugnet, fallen zusammen mit den „durch Variation der Entwicklungsbedingungen hervorgerufenen Formänderungen der Lebewesen", den „Varianten"; Tritsch 1954 Erben 105 Aber es hängt nicht vom Zufall ab, welche Erblinien und welche daraus erzielbaren Varianten in einem sozialen Ganzen jeweils zum Aufsteigen oder zum Absterben bestimmt sind. Variante d: Martinet 1963 Grundzüge der Allgem. Sprachwiss. (Übers.) 65 Man spricht von kombinatorischen oder kontextgebundenen Varianten, wenn man sich der Verschiedenheit der Realisierungen ein und desselben Phonems in verschiedenen Kontexten bewußt wird, d. h. wenn diese Verschiedenheit auffällig genug ist, um zu nicht-identischen Beschreibungen führen zu können; Wunderlich 1974 Linguistik 394f. Schon wenn man eine Nationalsprache wie das Deutsche unter systematischem Gesichtspunkt ins Auge faßt, fallen sofort zwei ganz wesentliche Eigenschaften auf. Erstens gibt es eine Reihe von Varianten oder besonderen Ausprägungen des Deutschen zu einer bestimmten Zeit: Der Arbeiter spricht anders als der Regierungsbeamte, der Schüler spricht anders als der Schauspieler, der Hamburger spricht anders als der Passauer, der Hamburger spricht auch anders als er schreibt; ebd. 397 Die idealisierende Homogenitätsannahme ist jedoch im allgemeinen gar nicht normativ gemeint; . . . Die Idealisierung soll helfen, überhaupt erst einmal den Begriff eines Sprachsystems . . . in klarer Weise herauszuarbeiten; die gleichzeitige Rücksichtnahme auf verschiedenste Sprachvarianten ist dabei hinderlich. Insofern ist die Idealisierung Ausdruck einer bestimmten theoretischen Hilflosigkeit gegenüber dem Variantenreichtum der Sprachen; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 130 Die phonischen Realisierungen [x, 5, h] sind somit drei

Variation Varianten zum Phonem /X/. Zur Unterscheidung von Allophon und Variante diene Skizze 2 . . . Die phonetisch faßbare Realisierung der Allophone ist in der Regel ebenso umgebungsabhängig . . . wie die phonisch faßbare Realisierung der Varianten (kombinatorische Varianten); ebd. 717

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Auch das . . . Stilphänomen der synonymischen Wortvariation dürfte z.T. als eine Technik der überregionalen Verständnissicherung zu begreifen sein, zumal wenn etwa ein mundartliches und ein schreibsprachliches Element oder zwei Landschaftsvarianten kombiniert werden.

Variation F. (-; -en), im späten 16. Jh. entlehnt aus lat. variatio 'Verschiedenheit; Veränderung; Abweichung'; a zunächst im Bereich von Stilistik und Rhetorik für 'Abwandlung (eines Gedankens durch Veränderung) des Ausdrucks, der Rede, der Form, des Stils' und in der Grammatik vereinzelt in der veralteten Bed. "Flexion'; b seit frühem 17. Jh. in der Musik zur Bezeichnung der rhythmischen, harmonischen oder melodischen Verwandlung, Veränderung, Umbildung eines musikalischen Themas, Tonsatzes oder Werkes (kontrapunktische, melodische, freie Variation); c von daher seit spätem 18. Jh. auf unterschiedliche Bereiche ausgedehnt und zunehmend übertragen verwendet in der Bed. 'Abwechslung; Abwandlung, (Ab-, Ver-)Änderung', bes. in den seit frühem 19. Jh. häufig nachgewiesenen Syntagmen Variationen eines Themas / über ein Thema und Thema mit Variationen (vgl. b); d im 19. Jh. vereinzelt belegt und bis heute gebucht als Fachausdruck der Mathematik, speziell der Kombinatorik für 'Anordnung von Elementen unter Beachtung der Reihenfolge'; e seit späterem 19. Jh. nachgewiesen als Fachausdruck der Biologie zur Bezeichnung der bei einem Lebewesen im Erscheinungsbild zutage tretenden Abweichung von der Norm, die der betreffenden Art bzw. einer entsprechenden Population eigen ist, oder der bei gleicher Erbanlage und gleichen Umweltbedingungen innerhalb der Variationsbreite vom Mittelwert abweichenden Merkmalsausbildung, von daher gelegentlich auch auf soziale Phänomene übertragen (vgl. Variabilität, variabel, und —> Variante c). Variation a: Fischart Ii 81 Dämonomania 559 Auch soll man auff jre Enderungen vnd Variationen / wann sie inn jren Reden schwancken oder abfallen / genaue achtung geben / vnd offtmals vberweilig eynerley Fragstück widerum auff die ban pringen vnd Reiterieren; Becher 1668 Methodus 13 der in seinem Pohlischen Büchlein in dem Léxico die Ziffer auffsucht, das bynebenstehende Wort, so es variirt wird, variirt er nach Aussag der beygesetzten Variations-Zahl; Weise 1702 Gedancken I 131 Die Fundamenta solcher Variation sind allbereit anderswo deutlich genung ausgeführt. Denn hier begehr ich nichts anders darzuthun / als daß hohe Redens-Arten mit schlechten Worten anzubringen sind / und daß man keines neuen Backofens von nóthen hat / darinne neue und ungewöhnliche Wörter gebacken werden; Böttiger 1837/38 Kl. Sehr. 1367 Als der unvergeßliche Lichtenberg . . . hundert Variationen zur Redensart: er ist betrunken . . . aus Kellern und Weinhäusern kundig zusammentrug; Zappf 1896 Off töchter II 89 folgten drei oder vier Zeilen, die

in mancherlei Variationen immer dasselbe besagten; Eyth 1904 Strom 104 und erfrische mein Gemüt an den herrlichen Variationen des Verses: „Wenn der Mops aus dem Napf die Wurst verschlingt / Und der Storch mit dem Frosch über'n Napf wegspringt"; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 717 Auch das vieldiskutierte, im 15. Jh. auffällig anwachsende Stilphänomen der synonymischen Wortvariation dürfte z.T. als eine Technik der überregionalen Verständnissicherung zu begreifen sein, zumal wenn etwa ein mundartliches und ein schreibsprachliches Element oder zwei Landschaftsvarianten kombiniert werden. Variation b: Prätorius 1619 Syntagma mus. III 146 Soll der wegen der Lautenist seine Lauten . . . auch wohl vnd herrlich schlagen / mit mancherley Inventionen vnd Variationen. Also müssen diese Ornament-Instrumenta jetzunder mit Varietet vnd Verenderungen schöner Contrapuncten . . . die Melodiam zieren vnd ausputzen; Sulzer 1774

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Variation

Theorie II 1206 Veränderungen. Variationen (Musik.) (Überschr.) Man kann zu einer Folge von Harmonien, oder Accorden mehrere Melodien sezen, die alle nach den Regeln des harmonischen Sazes richtig sind. . . . geübte Tonsezer aber verfertigen bisweilen über einerley Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder weniger den Charakter der ersten beybehalten: für beyde Fälle braucht man das Wort Variation, das wir durch Veränderung ausdrüken; Hermes 1791 Märtyrer I 288 in bezaubernden Variationen [auf der Flöte blasen]; Goethe 1809 Wahherw. (20) 17 wenn sie . . . ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; 1859 Hausblätter II 50 die Vögel sangen auf dies Thema die kunstvollsten Variationen; 1863 Bilder a. Paris I 193 Liszt spielte herrlich, wahrhaft hinreißend. Außerordentliches Aufsehen machten namentlich einige Variationen und Phantasien über gegebene Motive, bei welchen der Applaus gar nicht enden wollte; Berl. Illustr. Nachtausg. 22. 5. 1933 „Deutschland, Deutschland über alles" kommt es vom Orchester her, ganz zart, in vielfältigen Variationen: Haydns Kaiserquartett; Lokal-Anz. 4. 7. 1934 Otto Siegl mit dem Variationenwerk „Klingendes Jahr"; ebd. 30. 11. 1934 Variationen über ein Thema aus der Zauberflöte; Münch. N. N. 17. 10. 1940 ein humorvolles Variationenwerk über ein Soldatenlied; Stuttgarter Ztg. 15. 11. 1961 Celebidache, ein Virtuose in der Unterscheidung und drastischen Darstellung von Klangqualitäten, ließ einen Sachverhalt deutlich werden, der in zaghaften Interpretationen der „Feuervogel"-Suite verborgen bleibt: Im Variationensatz der Suite erreicht Strawinsky eine neue Stufe musikalischer Malerei; Süddtsch. Ztg. 18. 12. 1963 das Variationswerk über ein Haydn-Thema; Stuttgarter Ztg. 28. 9. 1965 das warme Cantabile des Variationsthemas. Variation c: 1788 Journal d. Moden III 270 Anm. Kleider-Variationen; Laukhard 1791 Rindvig. I 103 bei den schönen Variationen der Liebe sich glücklicher zu fühlen; Goethe 1822 Br. (XXXV 256, 17) Alle Argumente sind nur Variationen eines ersten festgefassten Meinungs-Thema, deswegen unsere Vorfahren so weislich gesagt haben: mit einem, der deine Principien läugnet, streite nicht; Bechstein 1832 Arabesken 132 Die Küsse liebender Verlobten sind liebliche Variationen eines Themas's . . . Feuer, Liebe, Hoffnung; Raumer 1842 England III 606 [aber die Nachfolger werden] dann dasselbe Thema mit Variationen aufspielen; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 15 Der Herzog sprach jetzt sehr nachdrücklich von den Pflichten der Untertanen gegen ihn, und dieses Thema war unermüdlich mit hundert Variationen durchgeführt; Raumer 1849 Br. Frankf.-

Paris I Vorr. VII Trotz aller Aufmerksamkeit sind manche Wiederholungen stehen geblieben; eine Folge des Umstandes, daß alle diese Mittheilungen eigentlich nur Variationen über dasselbe Thema sind; Eilers 1858 Wanderung III 61 Variationen über das Thema „Er ist gewogen und zu leicht befunden"; 1863 Bilder a. Paris I 11 Was ist im Grunde auch das Anpreisen und Zurufen und das tausendfach verworrene Schreien und Lärmen all der kleinen Händler und Verkäufer anders, als eine in alle mögliche Tonarten gesetzte Variation der Bitte um das tägliche Brot?; Bruges 1873 Reiseskizzen 12 Gestürzte Throne, gebrochene Existenzen, wie oft wiederholt sich dieses Thema mit all seinen Variationen in Frankreich; ebd. 49 Wenn junge Leute zusammen sind, ist die Liebe ein Thema, das oft in allen Variationen durchgearbeitet wird; Rose 1884 Revanche 139 Variationen von unglaublicher Raffinirtheit [Kleidung]; Perfall 1890 Liebe 5 Diese Hergänge [die Art der Begrüßung in ländlicher oberbayrischer Wirtschaft] wiederholten sich in einer nur durch ganz kleine Variationen des Zufalls veränderten Regelmässigkeit; Woldeck um 1900 N. 19 das ist mal wieder eine neue Variation der Graphologie; 1911 Grenzboten IV 403 Das Verhältnis von leerem und mit Figuren gefüllten Raum, die Rhythmik in der Variation der Stellungen spricht für die Gesamtwirkung bedeutsam mit. Man weiß nicht, ob man bei einem Bilde von Degas die Sicherheit der Formbeherrschung oder die Feinfühligkeit der dekorativen Flächenfüllung mehr bewundern soll; Duncker 1918 Liebe 13 die Variationen der Blumenverkäuferin über das Thema, wie schön die rot und gelben Rosen zu dem schwarzen Haar und dem dunkelblauen Kleide stehen würden; Bahr 1925 Liebe 1153 Zweig weiss vielleicht gar nicht, dass im Grunde seine Geschichte durchaus eine „Variation" über den Römerbrief ist; ebd. 173 wird, was wir Weltgeschichte nennen, eine Variation immer desselben Themas, nur eine recht monotone; ebd. 213f. Seit Urzeiten da ist in der Menschheit die Lust an Seifenblasen. In allen möglichen Variationen: vom kindischen Ergötzen am farbigen Glanz bis zum frommen Schauder; Lokesch 1927 Fortf. von Scherr, Kulturgesch. 718f. aber es will uns trotzdem bedünken, daß die Mode noch niemals so zweckmäßig war wie heute. Und schon darum möchten wir gern glauben, daß sie später einmal die komische Wirkung der früheren Moden nicht auslösen werde. Es ist sozusagen eine Uniform geworden; eine Uniform — allerdings mit breitestem Spielraum zu tausendfältigen Variationen; Loon 1930 Mensch (Übers.) 16 Der Held dieser Geschichte — eine moderne Variation über das alte Thema „Homo sapiens"; Voss. Ztg. 23. 2. 1933 Was uns später in Berlin

Variation vorgesetzt wird, ist ein Extrakt, ein Querschnitt aus allen Pariser Modellhäusern, bereichert durch Variationen unserer Berliner Salons; Berl. Illustr. Nachtausg. 11. 3. 1933 Witze mit Variationen und Parodien (Überschr.) Volkstümliche Witze und Variationen wechseln ab mit Parodien; Röpke 1950 Mass 7 [Aufsätze könnten] musikalisch gesprochen als Variationen über das Thema meiner Trilogie „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart", „Civitas humana", „Internationale Ordnung" gelten; 1955 Mensch (Übers.) 24 Ehe sich die Wissenschaft der Produktion bemächtigte, fertigte der Handwerker seine Schwerter, Sensen und Löffel auf seine eigene Art als Einzelstücke. Nach jedem wissenschaftlichen Versuch bleiben dem Arbeiter immer weniger Variationsmöglichkeiten übrig; Bodmer 1956 Variationen zum Thema Weltliteratur (Titel); Muschg 1958 Zerstörung 7 Variationen über das Thema Literatur und Moral; Arbeitgeber 20. 7. 1961 Die Variationsbreite industrieller Arbeitsplätze ist so groß, daß mit Gestaltungsregeln immer nur ein kleiner Anteil möglicher Arbeitssituationen erfaßt werden kann; FAZ 18. 6. 1966 Das meiste von dem, was er [Barzel] . . . als sein Initiativbündel präsentierte, hat zwar keinen absoluten Neuigkeitswert, sondern stellt eine Variationensammlung älterer Überlegungen dar; Offenburger Tagebl. 13. 12. 1968 Eintönigkeit ermüdet und kann töten. Das „Thema mit Variationen" ist gerade fürs Fernsehen . . . lebenswichtig; ebd. 29. 12. 1970 Der Regisseur Karlheinz Deickert, Kameramann Wolfgang Mackrodt und das Autorenkollektiv schafften es, über fünfzig Variationen zu dem Standardthema „Boy meets Girl" zu finden; FAZ 15. 1. 1972 Dann trat er [Schönberg] in die eigentliche Analyse ein; erläuterte . . . den Aufbau des Variationenthemas, die Logik der Umgestaltung dieses Themas sowie die übrige „Arbeit", die in den Charakteren der einzelnen Variationen zum Ausdruck kommt. Variation d: Herbart 1841 Vöries. 155 die Anzahl der Permutationen, Variationen, Kombinationen. Variation e: Jäger 1869 Darwinsche Theorie 23 Die Gesetze der Erblichkeit verlangen, daß das Kind seinen Erzeugern vollkommen gleich werde; die individuelle Variation verhindert, daß diese Gleichheit jedesmal mathematisch genau erreicht wird; Schäjfle 1878 Bau II 11 Natürliche Zuchtwahl mag zwar nicht Alles bewirkt haben, was man ihr zugeschrieben hat, und manche Variation wird sprungweise stattgefunden haben, so können natürliche Zuchtwahl und allmälige Umbildung doch überhaupt eine mächtige Rolle auf gewißen Schöpfungsstufen gespielt haben, während es auf anderen der Natur leichter war, sprungweise

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Variationen zu bewerkstelligen, als Mitglieder zu bilden und unter letzteren langsame Auslese zu halten; ebd. 19 Veränderung (Variation) und Entwickelung (Überschr.) Die Mittelursache aller Entwickelung ist die Veränderung. Der Variationsbegriff ist denn auch der Ausgangspunkt jedweder Entwickelung; ebd. 152 Wir betrachten die socialen Variationserscheinungen zunächst rein für sich; ebd. 152f. Die Racenunterschiede z . B . , welche in vorhistorischer, die Civilisationsunterschiede, die in historischer Zeit sich entwikkelt haben, sind theils flüchtige Ursachen neuer Variationen. Je dicker der historisch angehäufte Stamm ethnischer und civiler Unterschiede bereits geworden ist, desto massenhafter die Variation, desto größer die mögliche Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit weiterer Entwicklung. Bedeutsam ist aber schon die kleinste Variation. Pascal hat gesagt: „wäre die Nase der Cleopatra kleiner gewesen, so wäre das Aussehen der Erde ein anderes geworden"; Z/. Ethnologie 15 (1883) 2 in dem Sinn des Darwinschen Wortes „Variation"; Keyserling 1906 Gefüge 347 die Evolution und Variation der Organismen; Haeckel 1913 LW. 317 wie der Lichtreiz, so können auch andere Reize (Wärme, Druck, Elektrizität) . . . bestimmte Reflexbewegungen (oder „paratonische VariationsBewegungen") hervorrufen; ebd. 421 Anpassung (Variation); ebd. 479 Die Anpassung (Adaptio) oder Abänderung (Varatio) ist eine allgemeine physiologische Function der Organismen . . . Die Veränderlichkeit (Variabilitas), oder Anpassungsfähigkeit (Adaptabilitas) . . . beruht auf dem materiellen, physikalisch-chemischen Processe der Ernährung; Anpassung und Variation. Der Begriff der Anpassung und seine Beziehung zur Abänderung ist vielfach verschieden und abweichend von der obigen Definition aufgefaßt worden; Schindler 1934 Getreidearten 14 morphologisch einheitliche Variationsreihen; Nachtsheim 1936 Wildtier 12 Seit Johannsens grundlegenden Untersuchungen hat es sich . . . erwiesen, dass alle durch die Umwelt hervorgerufenen Variationen — Modifikationen nennen wir die umweltbedingten Variationen heute — . . . nicht erblich sind; ebd. 41 Der Mensch ist zwar . . . auf die ihm von der Natur gebotenen Variationen [der Haustiere] — Mutationen nennen wir sie heute — angewiesen; Tritsch 1954 Erben 311 f . Biologische und soziale Variationsbreite (Überschr.) Die klare Unterscheidung der jeweils sozial bedingten und stets sozial beschränkten Erbvariationen, die in einer gegebenen Gruppe auftreten können, und der unter verschiedenen anderen sozialen Bedingungen biologisch auch noch möglichen Erb Varianten, zu denen diese selbe Gruppe fähig wäre, ist grundlegend nicht nur für das Verständnis dieses Kapitels,

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Varietät

sondern für jedes Studium sozialer Phänotypen überhaupt. Wir können immer nur die jeweils sozial eingeengte Variabilität einer konkreten Gruppe beobachten, und von ihrer wirklichen

biologischen Variationsbreite erfahren wir immer nur indirekt, falls wir imstande sind, ihre Entwicklung auch unter ganz anderen sozialen Bedingungen zu verfolgen.

Varietät F. (-; -en), Mitte 16. Jh. entlehnt aus (m)lat. varietas 'Buntheit; Mannigfaltigkeit; Vielseitigkeit; Verschiedenheit; Abwechslung; Unbeständigkeit, Wankelmut', früher vereinzelt nachgewiesen in der lat. Form; 1 in der heute seltenen Bed. Vielseitigkeit; Mannigfaltigkeit, Vielfalt; Abwandlung, Veränderung; Veränderbarkeit; Uneinheitlichkeit' und vielfältiges Angebot mehrerer Sorten; vermischtes Allerlei', vereinzelt gleichbed. mit —» Variation b; im 19. Jh. die aus gleichbed. frz. théâtre des variétés lehnübersetzte Gelegenheitszs. Varietätentheater, gleichbed. mit —» Varieté. 2 Seit spätem 18. Jh. zunehmend als Fachausdruck der Biologie (Abk. Var., Var, var) in der heute dominanten Bed. 'Abart, Spielart; Art, Sorte, Rasse' (im Unterschied zu —» Variante c) für eine Gruppe von Individuen, die erblich in übereinstimmenden Merkmalen vom Arttypus abweicht, gelegentlich auch in bildlicher Verwendung. 3 In jüngster Zeit fachspr. in der Linguistik verwendet (vgl. —* Variante d) zur Bezeichnung einer besonderen Ausprägung einer Einzelsprache (z.B. als Soziolekt, Regiolekt). Varietät 1: Rivius 1548 Vitruv. 168' varietet; Fischart 1581 Dämonomania 20 Daher dan der Cardinal Cusanus, so zu seinerzeit vnder den Gelehrten sehr hoch geacht gewesen / gleichsam mit eym finger die Varietet / vngewißheyt vnd vnbestlndigkeyt der lehr des Aristotelis, hat deitlich angerüret; ebd. 597 Inderung vnd Varietet; Wedel um 1600 Hausbuch 4 Als ich aber vermerckt, dass es sich mit der schlechten lection aller dinge nicht wolle thun lassen, denn die historien wegen ihrer Varietät also nicht in währende gedächtniß mögen gebracht oder erhalten werden, habe ich, was in historiis, politicis; ebd. 168 Varietät. Die Spielarten sind, in den Südländern, unter den Thieren nicht so häufig, als unter den Pflanzen; ebd. 191 Es giebt unter dem Menschengeschlecht eine Menge von Varietäten; Prätorius 1619 Syntagma mus. III 146 Soll der wegen der Lautenist seine Lauten . . . auch wohl vnd herrlich schlagen / mit mancherley Inventionen vnd Variationen. Also müssen diese Ornament-Instrumenta jetzunder mit Varietet vnd Verenderungen schöner Contrapuncten . . . die Melodiam zieren vnd ausputzen; Bodinus 1624 Discurs von der Teuerung 84 varietet; 1705 Auserlesene Anmerk. II 90 Wie wir sehen daß z. E. die Hollindischen Kupffer-Stecher alle einerley Schrifft machen / so accurat / als ob sie gedruckt wlre. Ingleichen die Nürnberger einerley Fractur sich gebrauchen. Alle varietit aber macht eine Sache schwer / denn man

kennet und mercket eher einerley als vielerley Dinge; Musig 1726 Licht d. Weisheit 1266 [es gibt] eine Varietät des styli: . . . denn es kan einer seine Gedancken in wenigen, mehrern, oder auch gar weitläufftigen Worten an den Tag legen; ebd. 5SO Varietät solcher Meinungen; ebd. (Reg.) Gestirne, deren Varietät; ebd. (Reg.) Saltz, dessen Varietät; ebd. (Reg.) Der Fische Varietät; Sperander 1728 A la mod Sprach 768 Varietas, gali. Varieté, die Mannigfaltigkeit, Unterschied, Vielfältigkeit, Abwechselung, Unbeständigkeit, Veränderung; Michaelis 1768 Raisonnement I 13 dass auf einer Universität eine Varietät von solchen Bieren, als die Studenten bei Tische trinken wollen . . . vorhanden sei; 1781 Journal d. Moden II 217 Die Zahl der Gillets, und ihre Varietäten heisen Legion; 1807 Miscellen f . d. neueste Weltkunde I 4 Varietäten [„Vermischtes", als Zeitungssparte]; Gensei 1900 Paris 15 stellenlose Künstler kleiner Varietätentheater; Hülsen 1947 Zwillings-Seele II 72 erotische Varietät; Bayer. Landesztg. 22. 4. 1950 Wo es aber bereits gehobene und gesenkte Unterhaltungsmusik gibt, ließe sich die Varietät dieser Gattung in ungeahnter Weise vervollständigen. Varietät 2: Gotting, Magazin d. Wiss. 2 (1780) 259 Entstehung der Spielarten und Varietäten [im Tierreich]; 1783 Berlin. Mon'schr. 142 jede Varietät eines Muschelgehäuses; Bonnet 1783 Natur

Varieté (Übers.) 1153 Anm. Entwurf von den Varietäten der menschlichen Art; Meiners 1786 Grundriß Gesch. 17 Menschen-Geschlecht . . . zween ganz verschiedene Stämme, in jedem Stamme mehrere Ra^en, in jeder Ra$e unzählige Varietäten und endlich eine grosse Mannichfaltigkeit von SpielArten; Forster 1787 Reise um die Welt 191 in der Anwendung auf den Menschen unedel fand, sagt weniger als die Ausdrücke Arten und Varietäten und ist . . . vorzuziehen; 1794 Daseyn Gottes 5 Anm. Missgeburten, Abarten, Varietäten, die blinde Spiele der erschaffenen Natur sind; Humboldt 1795 Plan (I 388) das bekannte Phänomen, dass die Hausthiere mehr Rassen, mehr Varietäten, und endlich auch mehr individuelle Merkmale zeigen, als alle übrige Thiergattungen; Herder 1796-97 Br. (XVIII 247) Beschreibung der Völker nach so genannten Racen, Varietäten, Spielarten; Ritter 1810 Fragm. I 93 aller Thier . . . Klassen, Gattungen, Arten, auch Varietäten; 1814 Briefw. G.-Z. II 126 Varietäten der Natur und Kunst; Schubert 1814 Symbolik 138 jene Varietäten und häufigen Spielarten in Gestalt und Farbe . . . bey den Hausthieren; Vaerst 1851 Gastrosophie I 130 Die zahlreichen Varietäten [von Erbsen]; Sendtner 1854 Veg'verh. Südbayerns 188 Arten . . . Die unter dem Einflüsse von Klima oder Boden stehenden Formenverschiedenheiten heisen Spielarten (Abarten, Varietäten); 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 199 neue Varietäten der Zierpflanzen; Liebig 1859 Br. über Landwirtschaft 124 Pflanzenvarietäten; 1864 Staats-Wb. VIII479 Varietäten der Menschheit; 1865 SB. München II 228 Varietätenbildung im Pflanzenreiche; Hesslein 1867 Neger-Bar. 3 sonderbaren Varietäten seiner Bewohner; 1868 SB. München 1395 Bildung einer neuen Varietät (Abart oder Race) d. i. einer beginnenden Art [im Darwinismus]; 1870 Beschr. OA. Maulbronn 69 Lustseuche mit ihren Varietäten; Liebmann 1884 Klimax 17 dass der Mensch ganz neue Spielarten (Varietäten) organischer Geschöpfe in's Leben rufen kann; Suttner 1896 High-life 187 So wie es Leute gibt, die Botanik studieren, andere die sich mit Zoologie befassen, so ist es meine Liebhaberei, die Varietäten des geselligen Lebens zu beobachten; Eyth 1899 Pflug 90 gehörten Sie zu einer ganz erträglichen Varietät der

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teutonischen Abzweigung der englischen Rasse; Stimmen d. Zeit 64 (1903) 30 Die Organismenwelt der Gegenwart wie der Vergangenheit bildet somit keineswegs — wie die darwinistische Form der Deszendenztheorie mit ihren ganz allmählichen und unmerklich kleinen Variationen es verlangen würde, ein regelloses Chaos von minimalen Varietäten; Gumplowicz 1905 Grundriß d. Soziologie 152 Varietätenmerkmale [des Menschen]; 1906 Naturwiss. Wochenschr. 336 Entstehung von Fruchtvarietäten [bei Apfelbäumen]; Hoernes 1909 N. u. U. I 204 Das Wort "Rassen', welches noch Herder und andern behaglichen scriptis mir annehmlich und dienlich befunden, verzeichnet; Posener 1921 Virchow 66 Rassen sind „erbliche Varietäten" [nach Virchow]; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 46 einer bestimmten historischen Menschenvarietät; ebd. III 214 genaue Klassifizierung der Tiere und Pflanzen, in Stämme, Arten und Varietäten; Ortega y Gasset 1943 Wesen (Übers.) 14 [1550—1650] entstand ein neuer Mensch, eine „Varietät" unserer Spezies, die es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben hatte, und die nicht mehr wieder sein wird: der moderne Mensch'; Hellpach 1944 VPs. 35 Die . . . Auffassung von allen Lebewesen als blossen „StandortsVarietäten". Varietät 3: Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 381 Aus der Bestimmung von „Umgangssprache" als Sprachvarietät in Gruppen mit unmittelbarem persönlichem Kontakt (die man als primäre Umgangssprache bezeichnen könnte) und als Sprachvarietät, die im Zwischengruppenverkehr üblich ist (hier könnte man von sekundärer Umgangssprache reden), lassen sich Charakteristika ableiten, die einerseits auf der Gruppenbezogenheit und andererseits auf der Situationsbezogenheit solchen Sprachgebrauchs beruhen; ebd. 382 Im Bereich Mundartforschung ist der Terminus „Umgangssprache" allerdings nur für nicht-mundartliche Sprachformen gebräuchlich, wobei unter Mundart eine rein mündlich und weitgehend unbeeinflußt von anderweitigem Gebrauch überlieferte Sprachvarietät eines bäuerlichen Lebenskreises verstanden wird.

Varieté, auch Variété, N. (-s; -s), seit Anfang 19. Jh. nachgewiesen, zunächst im frz. Syntagma Théâtre des Variétés (dafür auch Variétés), Name eines Pariser Boulevardtheaters, und dessen Lehnübersetzungen Theater der Variétés, VariétésTheater u.a. (aus frz. théâtre Theater' und Pl. variétés buntes Allerlei', speziell bezogen auf Kleinkunstformen, zu Sing, variété 'Mannigfaltigkeit, Vielfalt' < gleichbed. lat. varietas, —* Varietät); als Gattungsbegriff seit frühem 19. Jh. in der

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Varieté

Pl.-Form Variétés und in Zss. ohne -s (Variététheater, gelegentlich auch Varitétheater), seit spätem 19. Jh. in der heutigen Form mit rückgebildetem Sing, in der Bed. TJnterhaltungsbühne mit abwechslungsreichem, oft komischem oder frivolem Programm aus tänzerischen, artistischen und musikalischen Nummern, auch Dressurakten und kabarettistischen Einlagen' (vgl. dafür um 1900 vereinzelt nachgewiesenes Varietätentheater, —» Varietät 1), selten bildlich verwendet. Mutius 1814 Br. 257 In dem Théâtre des Variétés bin ich gewesen, allein dieses ist ganz was gewöhnliches, es wurde das Hausgesinde (Lorenzel) aufgeführt; 1815 (1813-15 Prinzenbr. 195) Diesen Abend gehn wir in den Variétés in der Loge der Großfürsten; Tieck um 1820 (Krit. Sehr. III 208) Sie wissen, wie sich immer heben dem eigentlichen französischen Theater kleinere unter allerhand Vorwänden aufzubauen suchten, auf Jahrmärkten, in den Vorstädten, bei dieser und jener Gelegenheit. Hieraus sind in unsern Tagen die Vaudevilles, die Variétés und wie sie alle heißen mögen, jene Theater auf den Boulevards entstanden. Geistreich, witzig, lustig, oft ausgelassen sind sie alle; Lady Morgan 1821 Frankreich (Übers.) II 73 Das Theater Vaudeville und das Theater der Variétés folgen im Range nach der komischen Oper und sind ächt französisch; 1823 Flora II 430 Das Theater der Mannichfaltichkeiten (Variétés) in Paris; Lewald 1835 Theaterrevue 317 der Stoff war bereits voriges Jahr in andrer Gestalt auf dem Variété Theater gewesen; Heine 1836 Rom. Sch. V 324 aus den Variétés und dem Gymnase strömen die heitersten Gruppen; Dingelstedt 1847 Jusqu'à la mer 214 Die kleinen Bühnen, Variétés in Amsterdam und deren Concurrenten, nähren sich ebenfalls von den Brosamen, die von den Pariser Tischen fallen; 1865 Stadtfraubas 383 dass der Name Volkstheater [Name eines Münchner Theaters] nur so ein Aushängeschild ist, und Varitetheater viel passender wäre, wo die Herrschaften . . . eine stete Abwechslung von dramatischen Delikatessen norddeutscher Küche erhalten; Nordau 1881 Paris unter d. 3. Rep. 213 Hier, in dieser kleinen Mauernische neben dem VariétésTheater, verkauft man die besten Brioches von Paris; ebd. 251 sämmtliche Theater der großen Boulevards: das Vaudeville, das Gymnase, die Bouffes, die Variétés, die Renaissance und selbst bis zu einem gewissen Grade die Folies dramatiques; Welsch 1886-97 Volks-Leben IX 36 Mit'm Schwert in'n Hals neinstechen, Drahtbeil stürzen, d'Haxen brechen, D'Chansonett hebt d'Füss in d'Höh, So was heisst man Variété; 1898 (Trübner, Personalien 111) Der Vogelstimmenimitator und derjenige, der das Geräusch von Brettsägen nachahmt, werden den gleichen Jubel beim Publikum der Varietébûhne hervorrufen; 1901 (Richter 1909

kunsterz. Ged. 236) Ich träume manchmal von dem Zukunfts-Variété, der zur Kunst erhobenen, undogmatischen Bühne, wo sich das Schöne, Amüsante, Interessante, Pikante zeigen kann, das auf dem würdigen Theater . . . nicht Platz hat; Richter 1909 kunsterz. Ged. 235f. Zu unsern im Volke beliebtesten Unterhaltungs- und Vergnügungsgelegenheiten gehört das Variété, oder wie es im Volksmunde bekannt ist, das Tingel-Tangel . . . In dieser grossen und oftmals rohen Masse, die lüstern zu den pikanten Schaustellungen des Variétés drängt, schlummert ein starkes Kunstbedürfnis. Das berechtigt uns zu der Hoffnung, dass dem Variété, das heute noch ein böser Kunstfeind ist, die Entwicklung zum Kunstinstitute . . . frei steht. Das Variété ist insbesondere berufen, dem Kultus des schönen menschlichen Körpers eine Stätte zu bereiten; Höcker 1910 Sonne 53 Es war eine Art Salometanz, aus Erinnerungen an die Oper, an orientalische Vorführungen und allerhand Varietekünste zusammengestellt; Schmitz 1911 Brevier 20 diesem abgegriffenen Jargon der Zeitungen und Variétés; Thiersch 1911 An den Rändern 55 Antiochia war die Stadt der schlechten Theaterstücke, der Variétés, Ballets, Tingeltangels und Kolosseums im modernen Sinn; Eberle 1912 Grossmacht 44 dass er zur teuer honorierten Variétéfigur wurde, die heute hübsch von ihren Renten leben kann; Altenloh 1914 Soziologie d. Kino 13 Heute scheint in einer Kombination von Bierkonzert und von artistischen Darbietungen, in den grossen „Konzerthallen", das Variété eine Auferstehungsform gefunden zu haben; Diederichs 1918 Br. 312 Manchmal wird mir das Leben etwas zu sehr Variété und ich habe Sehnsucht, Einsiedelmann zu werden; Lokesch 1927 Fortf. v. Scherr, Kulturgesch. 689 Aber „Gesittung" und „Langweiligkeit" sind Geschwister und so war es ganz gut, als in die Tanzkunst vom Varieté her ein Tropfen fremdes Blut kam; ebd. 690 Eines Tages tauchte auf dem ziemlich verdüsterten Varitéhimmel eine Gruppe von fünf leuchtenden Sternen auf . . . Immer mehr wurde entblößt, immer mehr wurden die Entblößungen dadurch, daß sie mit einem „Feigenblatt" oder mit „Brusttellern" bedeckt waren, betont. Dies wohlgemerkt auf dem Varité nur; Wilke 1930 Erinn. 215 Von den kleinen Variété-Theatern, die wir nur in Zivil

variieren besuchen konnten; Beri. Illustr. Nachtausg. 17. 1. 1933 werden die große wirtschaftliche Bedeutung des Varieté- und Zirkusgewerbes erneut unter Beweis stellen . . . Die Varietes und Zirkusse sind Großabnehmer aller städtischen Werke; Skansen 1934 Bühnenstar (Übers.) 7 Phantastereien über das Hinscheiden des ,,Variété"-Stars; Deutschlands Freie Berufe 1937 Beil. Theater. Film. Varieté 66 Der Artist also gehört in das Varieté", das auch Spezialitätentheater heißt . . . Die Bezeichnung „Varieté" weist deutlich nach Frankreich und betont von Anfang an die buntmannigfaltige Folge der Darbietungen, zugleich aber auch ihren kleinkunstmäßigen ursprünglichen Charakter, denn um 1800 werden „variétés" durch den Kunsthandel von Paris aus verbreitet und kommen mit dem fremden Namen auch nach Deutschland; NZ. (Basel) 3. 2. 1950 Ein fabelhaftes Variétéprogramm . . . zeigte ein künstlerisches Niveau, welches kaum mehr überboten werden kann; Münch. Stadtanz. 1. 2. 1952 Da is wieder amai as ganze Land blamiert, Wundern braucht ma sich ja net, wenn Bayern auswärts als Varieté guit; Bild 27. 8. 1959 Hier handele es sich nicht um Fußball, sondern um simple Varieteunterhaltung; Flake 1960 Abend 111 Sie [Villons Welt] hatte einen Eingang gewissermassen, die Variétés, in denen auch alles Schein, Schimmer war; Stuttgarter Ztg. 7. 10. 1960 Die Erfahrung habe gelehrt, daß das Groß- und ebenso das Kleinvarieté nicht mehr

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lebensfähig seien. Es müsse damit gerechnet werden, daß in ein oder zwei Jahren kein deutsches Varieté mehr existieren könne; Süddtsch. Ztg. 13. 12. 1960 die ernsthaften deutschen Variétékünstler; ebd. 24. 6. 1963 drittklassige Variétéleute, müde sich durchschlagend, mit dem entleerten Traum von der Karriere; FAZ 12. 4. 1969 Seit Mitte der fünfziger Jahre mußte ein Variete-Theater nach dem anderen schließen . . . ist im gesamten Bundesgebiet die letzte große Unterhaltungsstätte mit klassischem internationalem Varietéprogramm . . . Die Mittel reichen nicht für eine Revue im Stil berühmter Varietébühnen in Paris oder Las Vegas, auf denen die einzelnen artistischen Darbietungen innerhalb einer schillernden Tanzshow präsentiert werden . . . Das Publikum sei zu fesseln durch Tempo, Humor, Charme und Pfiff, auch mit Keßheit, aber im „Hansa" nie mit Sex; Mannh. Morgen 28. 10. 1981 Andre Hellers perfekt inszeniertes Varieté mit rund 70 Spitzenartisten verwandelt zehn Tage lang die nüchterne Rhein-Neckar-Halle in ein barockes Zaubertheater . . . Die Schlangenbändiger, Fakire, Gaukler und Artisten, Rokoko-Stutzer und Schuhplattler, Muskelmänner und Liliputaner . . . entführen die Zuschauer in ein vergessenes Reich der Phantasie . . . Dies sei . . . ein Varieté, das eine Brücke schlägt zwischen dem, was man Kunst nennt und dem, was man Zuschauer nennt.

v a r i i e r e n V . ( i n ) t r a n s . , A n f a n g 16. J h . entlehnt aus ( m ) l a t . variare Mannigfaltigkeit,

Abwechslung,

Veränderung

bringen;

etwas

'in e t w a s

nuancieren'

mannigfaltig, v e r s c h i e d e n , w e c h s e l n d , veränderlich s e i n ' ( z u ( m ) l a t . varius

und

mannig-

faltig, v e r s c h i e d e n a r t i g ; w e c h s e l n d ' ) , anfangs a u c h in d e r F o r m vari(e)ren;

a als

V . t r a n s . , z u n ä c h s t im B e r e i c h d e r G r a m m a t i k auf W o r t f o r m e n b e z o g e n , i m Sinne von

m o r p h o l o g i s c h a b w a n d e l n ; flektieren', d a n n allgemeiner, bes. in bildender

K u n s t , L i t e r a t u r u n d M u s i k , in der B e d . behandeln;

modifizieren;

geringfügig

abwandeln, unterschiedlich

abändern;

ändern,

wechseln',

gestalten, vereinzelt

n a c h g e w i e s e n m i t Ellipse des A k k u s a t i v o b j e k t s , häufig in d e r W e n d u n g e i n T h e m a v a r i i e r e n , m i t d e m v e r e i n z e l t belegten V e r b a l s u b s t . V a r i i e r u n g ; b seit M i t t e 1 6 . J h . a u c h als V . i n t r a n s . in der B e d . 'sich (je n a c h g e g e b e n e n U m s t ä n d e n ) u n t e r s c h i e d l i c h v e r h a l t e n ; sich ä n d e r n ; a b w e i c h e n d verfahren, w e c h s e l n ,

variieren a: Anfang 16. Jh. Nürnberg SO (Siebenkees, Materialien z. Nürnb. Gesch. II 728) Zu der andern Höre nach Disch sollen sie zwen lateinisch Vers mit vier teutscher Irrer Auslegung Ex Cathone alano In exemplis oder dergleichen an ein tafel geschrieben lernen selbs abschreiben alsden Inwendig auffsagen, vnnd exponiren vnnd ein no-

schwanken'.

men vnnd ein verbum daraus flectiren vnnd variren; Rot 1571 Dictionarius 358 Varirn, Verändern / anders machen / mit färben abtheylen; Greflinger 1647 Complementier-Büchlein C4h Dieses kan nach Gelegenheit der Personen, Orts, Zeit unnd anderer Vmbstände der Gebühr variret werden; Becher 1668 Methodus 13 der in seinem Pohli-

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Vasall

sehen Büchlein in dem Lexico die Ziffer aufsucht, das beynebenstehende Wort, so es variirt wird, variirt er nach Aussag der beygesetzten Variations-Zahl; Winckelmann 1756 briefl. (Jahrb. Samml. Kippenberg I 49) Die Alten suchten ihre Werke vollkommen schön zu machen, deswegen haben sie dieselben nicht sehr variiren können; Goethe 1795-96 Lehrjahre (XXIII 227) Wir variiren diese Art uns zu unterrichten auf gar vielerlei Weise (KEHREIN); Herder vor 1803 (III 74) Die vornehmsten Glieder sind nach einem Prototyp gebildet und gleichsam nur unendlich variirt (KEHREIN); Goethe 1811 D. u. W. (XXVI 164) wenigstens hat er bei Wiedererzählung derselben niemals variirt (KEHREIN); ders. 1827-42 (W. XXXIII 95) Da sollte er Gesichtspunete variiren, Scrupel aus dem Wege räumen (KEHREIN); ebd. XXIX 288 Er legte ein anmuthiges Thema zu Grunde und variirte solches auf die mannigfaltigste Weise (KEHREIN); Hillebrand 1873 Wälsches 294 die Selbstzufriedenheit, mit der Strauß durch sein ganzes Buch vom alten und neuen Glauben hin das Thema Wagners variirt: „wie wir's doch so herrlich weit gebracht"; ebd. (1874) 396 Don Juan variirt wenigstens seine Arien zwischen Zerline und Donna Anna; hier ist's immer ungefähr derselbe Ton mit allen Arten des Bildes; Strodtmann 1879 Dichterprofile 1150 Schiller's Klage der Kassandra variierend; Hillebrand 1881 Jahrh. d. Revol. 63 Fox und Sheridan, möchte ich, John Morley's Worte variirend, sagen, bewunderten die constituirende Nationalversammlung auf Grund rationeller Staatsrechtslehre; Fischer 1891 LG Schwabens 188 Unermüdlich ist er im Variieren des ewig neuen Themas vom Durst und vom Trinken; Buhl 1921 Reden 282 variierte . . . das Thema Ultimatum; Offenburger Tagebl. 15. 11. 1961 ein Thema, das er nicht müde geworden ist, lebenslang zu variieren; Klaus 1962 Kybernetik 397 eine Maschine . . . die in der Lage ist, ihr Programm entsprechend den erzielten Resultaten und Umständen zu variieren (WDG); Die Zeit 12. 12. 1980 Die Konfliktli-

nien verlaufen, ungebrochen, allenfalls variiert durch Temperament und Personen, von Bonn bis in die Landeshauptstadt. Variierung: 1934 Bücherei 458 Durchkreuzung und Variierung dieser möglichen [literarischen] Typen. variieren b: Schöpper 1550 Synonyma Vorr. a2 varieren vnd vneins seindt; Steiner 1682 KriegsBau-Kunst 59 so ist zu mercken, dass dieselbe [Kehllinien] nit einmahl seind wie das ander, sondern varieren alle zeit, nach dem die Bollwerck liegen; Musig 1718 Licht d. Weisheit II 77 weil auch das Gedächtniss nach der Constitution des Leibes variiret; ebd. II 135 [weil] die disposition des Leibes nach denen Personen sehr variiret; ebd. II 609 Wir thun . . . gewisslich unrecht, wenn wir denen Franzosen allein eine variirende vanität beylegen; Döbel 1746 Jägerpractica I 22h doch variiret auch dieser weidmännische Terminus an etlichen Höfen und Jägereyen, da der Hirsch ein Tann-Bock, das Thier eine Tann-Geiß . . . benennet wird; Engel 1785 Mimik 167 Auch variiren sie [Gesichtsbewegungen] oft so sehr und fliessen so sehr in einander; Goethe 1827-42 (W. XLIII 9) Noch niemals haben meine Plane und Entschliessungen so von Woche zu Woche variirt (KEHREIN); Darwin 1868 Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation (Titel); Lindenberg 1883 Berlin 45 die mannigfaltig variirenden Ballsäle; Hallier 1889 Kulturgesch. 406 Variieren der Tiere und Pflanzen; Scheidt 1927 Rassenforschung 17 ein zusammenhängendes vielgestaltiges (kontinuierlich variierendes) Merkmal; Friedell 1928 Kulturgesch. II 434 Und so haben Revolutionen auch ihr fast immer gleichbleibendes, nur wenig variierendes Auslösungsschema; Nachtsheim 1936 Wildtier 4 die allen Lebewesen innewohnende Neigung zu variieren, Abänderungen zu bilden; Hagelstange 1963 Spielball 237 Alles Menschliche ist ihnen gemein, aber es variiert auf das vielfältigste (WDG).

Vasall M. (-en; -en), selten in der movierten Form Vasallin F. ( - ; -nen), im späten 12. Jh. wohl über gleichbed. frz. vassal entlehnt aus mlat. vas(s)allus in seiner Bed. 'sich in Abhängigkeit befindender Freier niedriger sozialer Herkunft' ( < kelt. gwasawl

'dienend',

z u gwas

T ) i e n e r ' (vgl. älteres m l a t . vassus,

gleichbed.

mit

vas(s)allus)); früher auch in der lat. (flekt.) Form und Schreibungen wie Fasal, Vas(s)al; a in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, konkurrierend mit häufigerem (Lehns-)Mann, Bezeichnung für den mit Treueeid zu Gehorsam und Waffendienst dem Herrn gegenüber verpflichteten Gefolgsmann, der dafür Schutz, Unterhalt und (später vor allem) Lehen erhält, als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie K r o n v a s a l l 'Gefolgsmann des Königs', A f t e r v a s a l l 'Gefolgsmann eines Gefolgs-

Vasall

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mannes', Vasalleneid, -dienst, -pflicht, jedoch von Anfang an und zunehmend seit Mitte 16. Jh. auch allgemeiner für vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen unter Verlust der Komponente beidseitiger Verpflichtung in der Bed. 'treuer Gefolgsmann, Sklave, Knecht, Diener, Untertan; Verehrer', häufig negativ assoziiert mit Gefügigkeit, Willfährigkeit, Untertänigkeit, in Zss. wie Vasallentreue, -Verhältnis; dazu die im 19. Jh. gelegentlich nachgewiesenen subst. Ableitungen Vasallschaft, fachspr. für vertragliche Bindung eines Freien an einen Herrn' neben Vasallenschaft, übertragen für 'treue, ergebene, willfährige Gefolgschaft; akzeptierte Abhängigkeit' (vgl. b), auch kollektiv für 'Gesamtheit der Vasallen', Vasallentum N . (-s; ohne Pl.), übertragen für '(Idee der) bedingungslos ergebene(n) Gefolgschaft' (vgl. b), seit Mitte 19. J h . , möglicherweise unter Einfluß von gleichbed. frz. vassalité, Vasallität F. (-; ohne Pl.), fachspr. für '(Rechtsinstitution der) vertraglic h e ^ ) Bindung eines Freien an einen Herrn'; im 19./20. Jh. die vereinzelt nachgewiesenen adj. Ableitungen vasallatisch, fachspr. für 'durch die Rechtsinstitution der Vasallität geregelt', vasallisch und gleichbed. vasallistisch, übertragen für nach Art eines treuen Gefolgsmannes'; seit Ende 19. Jh. vasallitisch, fachspr. für 'die Vasallität betreffend, durch die Rechtsinstitution der Vasallität bedingt, geregelt'; b seit früherem 19. Jh. im Bereich der Politik, meist im Pl., in der Bed. von einer Großmacht in (vertraglich gebundener) Abhängigkeit gehaltener und diese bereitwillig akzeptierender kleinerer, willfähriger, gefügiger Staat; von einer Industriemacht politisch-ökonomisch abhängiger wirtschaftlich schwächerer Staat'; dafür auch die überaus häufig nachgewiesene Zs. Vasallenstaat (vgl. —» Satellit 2, —» Trabant lb); dazu im späten 19., Anfang 20. Jh. gelegentlich die subst. Ableitung Vasallenschaft (vgl. a) in ihrer Bed. 'durch eine Großmacht erzwungene Gefolgschaft eines kleineren Staates',in neuester Zeit vereinzelt Vasallentum (vgl. a) in seiner Bed. politische Gefolgschaft'; Anfang 20. Jh. vereinzelt die adj. Ableitung vasallenartig nach Art eines Vasallen'. Vasall a: um 1177 Rolandslied 6629 guoteme vassale / ne mah niht gewerren; Gottfried um 1220 Tristan 3352 deü sal, beäs vassal (beide DWB); Volkslied 1547 „Text" (Liliencron IV 425) fasall; Mathesius 1563 Ehestand A3" der Gottes Fasall und Lehemann; Eyzinger 1590Rel. Suppl. 29 doch Ist solchem der Herzogen uon Cleune eben so wol Vasall und underthan; Olearius 1647 Reisebeschr. (NL XXVIII 263) De 12 [Septemb.] dieses ritten drey tartarische Gesandten auff . . . waren von den cyracassischen Printzen, so des Großfürsten Vasal ist, geschickt; Abr. a S. Clara 1683 Auf, auf ihr Chr. 28 Vasallen vnd Diener; ebd. 128 wir Erb-Vasallen dises Durchleuchtigsten Hauß; ders. 1689Judas II 75 so folgen auch die Underthan und Vasaln nach; 1689 Polit. Fliegenwedel 1 55 wenn ein Vasall befugt sein sollte; Ziegler 1697 StaatsPhant. I 17 Vasalle; 1699 Staatsspiegel I 22 Dises Bischoffthum hat wegen der Stadt Meinigen die Hn Hertzoge zu Sachsen dises Namens / und wegen der Graffschaft Catzenellenbogen die Land-Grafen zu Hessen . . . zu Vasallen; Zschackwitz 1723 Karl 6. 391 was ein Vasall und

Unterthan zu thun schuldig; Rohr 1729 Zeremoniellwissenschaft II 361 dieses ereignet sich nicht selten . . . wenn mächliche und ansehnliche Vasallen bey ihren Lehns-Herren einsprechen wollen; Treuer 1733 Martens-Mann 6 Vasallen und Lehns-Leute der Heiligen; Trenck 1745 Leben 30 Vasallen; 1749 Vergnügte Abendstunden II 153 Es ist bisher unter den Gelehrten gestritten worden, was das Wort Vasall eigentlich bedeute. Ich wil . . . meine Gedanken, die sich auf eine alte Urkunde gründen, dadurch eröfnen, daß Vasall bei unsern Vorfahren überhaupt einen Knecht bedeutet habe; ebd. 329 Die Frage: ob ein Vasal seinem Lehnsherrn Dienste zu leisten verbunden sey, wenn derselbe einen offenbaren unrechtmäßgen Krig führet? ist von den Auslegern des Lehnsrechts auf verschiedene Art beantwortet worden; Forster 1781 Kl. Sehr. 22 Zur Anbetung des Schöpfers gemacht, gebietet er [der Mensch] über alle Geschöpfe; als Vasall des Himmels, und König der Erde, veredelt, bevölkert, und bereichert er sie; Schiller 1789—90 Sammlung (H. VII 134) Kronvasallen; Wolf 1793 Ph. Dulder I

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Vasall

156 Vasallen der Tonkunst; Heinse 1795-96 Hohenthal (V 110) die Poesie [hat zum Erbteil erhalten] die Sprache; deren Vasallen sind Beredtsamkeit, Geschichte und alle Wissenschaften, die durch die Sprache mitgetheilt werden; Schiller 1801 M. Stuart 1370 (II 3) es geschah / In einer finster unglücksvollen Zeit, / Im Angstgedränge bürgerlichen Kriegs, / Wo sie, die Schwache, sich umrungen sah / Von heftig dringenden Vasallen; ebd. 1414 (II 3) ihrer / eignen Vasallen Spott; Hüllmann 1805 Finanzgesch. 103 Mediatvasallen; ebd. 104 Aftervasallen; Gros 1806 briefl. (Schütz, Leben II 128) Vasallen von Frankreich [die von Napoleon eingesetzten Könige]; Planck 1806 christl.-kirchl. Gesellschafts-Verf. IV 1, 250 dass . . . kein Geistlicher einem Layen einen VasallenEyd schwören . . . dürfe; ebd. kein Geistlicher mit einem Layen in Vasallen-Verhältnisse treten dürfe; Mayr 1809 Gen.-Index Baiern 358 LehenVasallen; Marwitz (1811) Nachlass II 248 Wäre man bei dem (wenn auch noch so unvollkommenen) Deutschen Rechte geblieben, so würde man bald dahingekommen seyn, einzusehen und in die Rechtsverhältnisse aufzunehmen, daß der erste Stand der Nation, die adeligen Vasallen, auch auf's innigste mit ihr verbunden, und durchaus verhindert seyn müßte, sich von ihr loszureißen; daß dieses nur durch ihr Grundeigenthum geschehen könne, weil dieses allein ihnen ihre adelige und Vasallen-Würde gab; Schmalz 1818 Privatrecht 281 Der Vasall (vasallus, miles, homo, cliens, fidelis, Mann, Lehnmann) erwirbt durch die Belehnung . . . Rechte; Vico 1822 Grundzüge (Übers.) 809 Bauervasallen; 1848 Grenzboten I 2, 133 Einer der beiden ersten Reichsvasallen, der Kaiser von Österreich; ebd. 204 Aftervasallen; Bucher 1855 Parlamentarismus 68 Sogar der Name Vasallus kommt zur Zeit Alfreds des Großen vor; Gregorovius 1858 Wanderjahre II 20 Die in Erz gepanzerten Barone des Mittelalters verwandelten sich in gemächliche Prinzen, welche auf den Polstern liegend die Früchte genossen, die der zitternde Fronvasall ihnen auf den Felsenpalast trug; Preuss. Jahrbücher 27 (1871) 29 Der [franz.] König war, um ein Wort des afrz. Rechts zu gebrauchen, nur der grösste der Vasallen des Königreiches, und selbst dieses war für Jahrhunderte nicht wichtig; Eckstein 1875 Besuch 9 folgte der Direktor — den devoten Grass des Vasallen [Schuldieners] durch ein souveränes Kopfnicken erwidernd; Homberger 1882 Essays 165 Sie mag nicht die Vasallin eines werthlosen Herrn sein, aber von dem Glauben an Herrenthum und Vasallenthum ist sie ganz durchdrangen. Solch einem Herrn würde sie die loyalste Vasallin, ganz Hingebung, ganz Treue sein; Wolff 1887 Hagestolze 273 ich kann trinken, so lange ich Durst habe, kann

mir zu Gaste laden, wen ich bewirthen will . . . Das Alles können die unglücklichen Ehemänner nicht, denn sie sind nichts, als die Vasallen ihrer Weiber; Schöne (um 1900) Lehrjahre 93 Manch rührendes Vasallenverhältnis hatte sich zwischen einem alten Schauspieler und seinem alten Garderobier entwickelt, die sich um keinen Preis mehr voneinander getrennt hätten; Heinroth 1906 Enttäuschungen I 246 Jene alte Vasallentreue, die . . . die Familie . . . mit dem Weifenhause verknüpft, war durch das politische Martyrium zu einer Art religiöser Inbrunst gesteigert; Müller 1954 Mars 78 Im übrigen gebrauchte er [Schweningen] selbst kaum je das Wort 'Bismarck', er war für ihn, wie für einen alten Vasallen, immer nur „mein Fürst"; Süddtsch. Ztg. 14. 9. 1954 Im Verlauf eines sehr begreiflichen Bemühens um größere taktische Bewegungsfreiheit und dementsprechend abgemilderte Vassallentreue gegenüber dem Bundeskanzler entwickelt die FDP neuerdings allerhand kritische Gedanken — vornehmlich die Außenpolitik betreffend; Ganshof 1977 Lehnswesen 33 Seit der Karolingerzeit gab es so etwas wie eine „Mystik" der Vasallität, eine Welt von Gefühlen, die bei vielen Vasallen die absolute Ergebenheit an den Herrn, die die wesentliche Grundlage der Institution war, bewirkte; ebd. 70f. Vassus kommt nach dem 10. Jahrhundert sehr selten vor. Homo und vassallus sind an ihre Stelle [vassus und miles] getreten. Hinzuzufügen ist, daß miles, fidelis und homo stets ein weiteres Bedeutungsfeld hatten als das Wort „Vasall" und daß man sie nur mit „Vasall" übersetzen darf, wenn der Zusammenhang es erlaubt. In den modernen Sprachen begegnen wir vor allem: „Mann" im Deutschen, homme und vassal im Französischen. Vasallschaft: Haller 1808 Staatenkunde 95 Anm. Unter diese bedingten Unterwerfungen gehören auch die ehemaligen freywilligen Vasallschaften; ders. 1820 Restauration I 500 Anm. Was man Föderation zwischen Fürsten nennt, wo die Leitung des Ganzen nicht den Deputirten der sogenannten Bundesglieder, sondern einem Einzelnen Ubermächtigen zukömmt: ist nur ein verschleyerter schonender Ausdruck für UnterwerfungsTraktat oder Vasallschaft; ebd. 558 Vasallschaften oder Infeudationen. Vasallenschaft: Riehl 1861 Ges. 197 aber auch die Fürsten sammeln ihre Macht, mit den neu erfundenen Kanonen wird als „mit dem letzten Wort der Könige" gegen die Burgen einer auf ihre alte oder neue Selbständigkeit sich steifenden Vasallenschaft sehr vernehmlich argumentiert; ebd. nicht bloß der proletarische Geist des Kunstideales schwand, sondern auch ein großer Theil der

Vasall Maler, die vordem in der wirklichen Vasallenschaft des vierten Standes gestanden, sich wiederum zu größerer wirklicher bürgerlicher Selbständigkeit aufzuringen begann; Kürnberger 1874 Siegelringe 311 „Vasallenschaft" [Andrassys den Jesuiten gegenüber]. Vasallentum: Szarvady 1852 Paris I 128 Vasallenthums; Homberger 1882 Essays 165 Sie merkt nicht, daß das ganze Vasallenthum zerfällt und zerstiebt von dem Augenblick an, wo der Vasall, statt an das Heldenthum seines Herrn zu glauben, untersucht, ob derselbe ein Held sei. Vasallität: Waitz 1856 Über die Anfänge der Vasallität (Titel); Spannagel 1885 Gesch. des Heerwesens 40 Vasallität; Stammler 1932 Dtsch. Rechtsleben II 1 Das verband sich mit der Vasallität, der Gefolgschaft, die dem Könige als Leibund Ehrenwache diente; Rogge 1937 Kollektivsicherheit 133 Bündnisvertrag oder Vasallitätsbund; Triepel 1938 Hegemonie Vasallität [Reg. unter Lehnsverhältnis]; Mitteis 1955 Staat 10 Die Gefolgschaft und die sie beherrschende Idee der Treue gehören gleichfalls zu den Elementen des germanischen Verfassungsrechts; von ihnen strahlen große Wirkungen aus auf die Vasallität und das aus den Hausämtern entstehende Beamtentum; Ganshof 1977 Lehnswesen 33 Seit der Karolingerzeit gab es so etwas wie eine „Mystik" der Vasallität, eine Welt von Gefühlen, die bei vielen Vasallen die absolute Ergebenheit an den Herrn, die die wesentliche Grundlage der Institution war, bewirkte; ebd. 163 Der Brauch, seine Vasallen zu belehnen, setzte sich mehr und mehr durch, und das wachsende Verlangen der Vasallen nach Lehen bildete oft den wahren Grund für den Eintritt in die Vasallität; ebd. 168 Beim Studium der Vasallität und des Lehens konnten wir . . . die fortschreitende Verdinglichung der Lehns- und Vasallenbindungen feststellen: an der Beschlagnahme oder an der Einziehung des Lehens . . . an der Vererblichkeit und der Veräußerbarkeit des Lehens und daran, daß ein Vassall mehreren Herren ligische Mannschaft leisten konnte. vasallatisch: Krätzer 1840 Domainen 41 dass schon zu Zeiten der Merovinger fast der ganze fränkische Adel in vasallatischer Abhängigkeit zu den Königen stand. vasallisch: 1934 Hindenburg-Denkmal 176 vasallische Gefolgschaftstreue.

Erg.'bd.

vasallistisch: Hinrichs 1956 Preussen 27 vasallistische Disziplin.

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vasallitisch: Liebe 1899 Soldat 122 vasallitischen Eigennutzes; Lintzel 1935 Karl d. Gr. 25 eine Art vasallitischer Huldigung; Mitteis 1955 Staat 65 vasallitische Züge; Ganshof 1977 Lehnswesen 14 Die feudo-vasallitischen Institutionen unter den ersten Karolingern; ebd. 39 Am Ende des 9. Jahrhunderts hat der Vasall an seinem Benefizium immer noch lediglich die Rechte eines Nutznießers. Was wir soeben feststellten, trifft auf die Gesamtheit der vasallitischen Benefizien zu; ebd. 57 Im 9. Jahrhundert wurden nicht nur die weltlichen Träger der königlichen Macht vasallitisch gebunden. Vasall b: 1831 Jahrbücher d. Gesch. I 54 beim Code Napoleon in den Vasallenstaaten Frankreichs; Goldmann 1839 Pentarchie 28 Vasallenverhältnis [z.B. Rheinbundstaaten zu Napoleon]; Sybel 1858-61 (HZ 162 (1940) 301) Fortentwicklung der Napoleonischen Diktatur, die allmählich alle Selbständigkeit der Vasallenstaaten ersticken würde; Preuss. Jahrbücher 16 (1865) 400 wird ihrem Lande [Schleswig-Holstein] die demüthigende Rolle eines Vasallenstaates erspart bleiben; Treitschke 1865 Jahre 14 Gründung eines preussischen Vasallenstaates; ebd. 1866 (102) verstärktes Preussen . . . verbunden mit Vasallenstaaten; Wuttke 1875 Zeitschriften 197 Die angegliederten Bundesstaaten wurden in Wahrheit Vasallenstaaten Preussens; Hellwald 1878 Umgestaltung des Orients 80 europäischen Vasallenländer; Zabel 1902 Mandschurei 86 Wer hat nur das törichte Wort aufgebracht, dass die Mandschurei ein „Vasallenstaat" sei? Im Gegenteil, sie ist das Stammland; ebd. 87 ist es charakteristisch, dass Russland ein Länder-Gebiet [Mandschurei] von dem Rumpfe Chinas abschneiden darf, das annähernd die Grösse des nichtrussischen Europa besitzt, und dass die deutsche Presse behauptet, das schade weiter nichts, es seien nur „Vasallenstaaten"; Diercks 1910 Kreuz 249 Tunesien wurde . . . ein Vasallenstaat der Türkei; Dtsch. Rundschau 159 (1914) 199 [Rußland hatte gedacht] Deutschland als eine Art von Vasallenstaat, ähnlich wie früher Polen und bis vor kurzem die Balkanstaaten, zu betrachten; Müller-Guttenbrunn 1915 Völkerkrieg 3 Serbien . . . war durch Jahrhunderte ein türkisches Paschalik, ein Vasallenstaat selbst dann noch, als es wieder eigene Fürsten haben durfte; 1916 Deutschland I 281 In aller Stille bildete sich mittlerweile der Balkanbund. Bevor noch der jungtürkische Staat zu kräftiger Höhe herangewachsen sein würde, gedachten die einstigen Vasallen der europäischen Türkei diese vollends zu zerstören; ebd. 1918 (375) industriellen Vasallenstaate; Kjellen 1921 Grossmächte W. 179 altüberlieferte Vasallenstellung [Portugals] zu England;

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Vase

Berl. Illustr. Nachtausg. 18. 3. 1933 950000 Mann Frankreichs und seiner unmittelbaren Vasallenstaaten mit mindestens der dreifachen Zahl ausgebildeter Reserven; Münch. N. N. 9. 4. 1938 „Österreich", so erklärte Hermann Göring, „war in Wirklichkeit ein absolut abhängiger Vasallenstaat fremder Mächte und wurde so allmählich zu einer unmittelbaren Gefahr für das deutsche Volk und das Deutsche Reich."; Ernst 1940 Sendung 18 Bis zum Frieden von Amiens deckte ein ganzer Kranz von Vasallenrepubliken — darunter die Batavische, Helvetische, Cisalpinische und Ligurische — den Rhein, den Jura und die Alpen; Klingenberg 1940 sie hassen 99 Alle die Staaten des Donauraumes, die unter den Begriff der "Kleinen Entente' fallen, wurden zu Vasallenstaaten Frankreichs gemacht; Münch. N. N. 4. 2. 1940 Da dieses Bleiben [Frankreichs am Rhein] nicht geradlinig verfolgt werden konnte, hatte man den Plan des rheinischen Vasallenstaates ausgeheckt und zu seiner Verwirklichung alles nur irgendwie aufzutreibende Geschmeiß unter der schmutzigen Fahne des Separatismus gesammelt; ebd. i . 11. 1942 „Unbotmäßige Vasallen" (Überschr.) [Chile und Argentinien gegen die USA]; N. Z. Z. 24. 12. 1943 Vasallenstaaten Deutschlands; Köln. Ztg. 21. 5. 1944 jetzt will es [das kommunistische Rußland] in dem Südslawien des Bandenführers Tito . . . im Mittelmeer russisch-kommunistische Vasallenstaaten errichten; Neue Ztg. 8. 7. 1946 Auf der Tagesordnung der Außenminister stehen jetzt insbesondere das Problem Deutschland, die Zukunft Österreichs, die freie Donauschiffahrt und die Friedensverträge mit den sogenannten Vasallenstaaten; ebd. 12. 7. 1946 in den Friedensverträgen mit den sogenannten Vasallenstaaten; NZ. (Basel) 26. 3. 1949 Ansonst ist man sich unter den politischen Parteien und mit den Amerikanern darüber einig, daß Kriegsmaterial, dessen Begriffsabgrenzung sehr weit gezogen sein soll, nicht nach Rußland und den Vasallenländern gehen dürfe; Süddtsch. Ztg. 3. 8. 1953 Gegen Deutschlands „Vasallenrolle" (Überschr.) [gegenüber Amerika]; FAZ 23 . 8. 1969 Was ihrem [der Tschechoslowakei] Volk und jenen Völkern der anderen europäi-

schen Vasallenstaaten Rußlands noch einen Hoffnungsschimmer geben könnte, ist Rußlands offenkundige äußerste Besorgnis über die Möglichkeit eines größeren Zusammenstoßes mit China; Die Zeit 20. 2. 1981 Nippons neue Vasallen. Warum uns Japan schlagen wird (Überschr.) Denn in Japan ist eine 117-Millionen-Gesellschaft zum wirtschaftlichen Wettkampf angetreten, der ganze westliche Industrien zu japanischen Vasallen degradieren könnte; ebd. Niemandes Knecht, niemandes Vasall Die Blockfreien erteilten den Sowjets die Quittung für Afghanistan (Überschr.); ebd. 20. 11. 1981 Energie-Vasall Bundesrepublik? Sowjetisches Erdgas gegen deutsche Röhren: Bonn setzt auf russische Profit-Interessen und europäische Notreserven (Überschr.). vasallenartig: Brandt 1901 Ost-Asien I 93 Während sie de jure nur die Ersten unter den großen Landesherren, primus inter pares, waren, verstanden sie es, sich in der That zu den absoluten Herren des Landes zu machen, indem sie selbst die größten Landesherren des Westens und Südens zu einer vasallenartigen Unterwerfung zwangen. Vasallenschaft: Hellwald 1878 Orient 78 Die Freundschaft Englands für die Türkei bedeutet im englischen Sinne nur die Vasallenschaft der Pforte; 1915 Dtsch. Reden 1327 [v. Bülow 1909 im Dtsch. Reichstag] ich habe irgendwo ein höhnendes Wort gelesen über unsere Vasallenschaft gegenüber Österreich-Ungarn. Das Wort ist einfältig. Es gibt hier keinen Streit um den Vortritt, wie zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenlied. Aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten, die wollen wir gegenseitig wahren. Vasallentum: Weiser 1961 Shaftesbury Vorr. VI die innere Zusammengehörigkeit Englands und . . . seiner grossen transatlantischen Kolonie, das Vasallentum des amerikanischen Denkens, demgegenüber die vielbesungene politische Unabhängigkeit als Illusion entweicht.

Vase F. (-; -n), früher auch als M., im späten 16. Jh. aufgekommen, über gleichbed. ital. vaso (M.), frz. va.se (M.) zurückgehend auf lat. vas 'Behältnis; Gefäß; Geschirr; Sack; Korb', zunächst auch in der ital. Form; a im kunstgeschichtlichen und -gewerblichen Bereich, bes. auf die Antike bezogen, in der Bed. '(schönes) Geschirr; Zier-, Nutzgefäß'; b seit frühem 18. Jh., wohl unter erneutem Einfluß von gleichbed. frz. vase, anfangs auch mit frz. PL, in der Bed. 'Ziergefäß für Blumen'.

Vedute Vase a: Mathesius 1587 Sarepta 186h (Glas) darin das blut Jesu Christi und die flamm des heiligen geistes leuchten oder funken wird, wie in einem schönen vasen oder rubin (HEYNE); Hainhof er 1611 Corr. 135 ein so schönes groses geschürr oder vaso; Furttenbach 1627 Itin. Italiae 72 ein geschirr / oder vaso; Rohr 1718 Staatsklugheit 752 Da auch insgemein die Species und Materialien auf denen Vasen und Büchsen in den Apothecken lateinisch angeschrieben stehen; ders. 1728 Zeremoniellwissenschaft I 537 entweder die silbernen und goldenen Kannen Flaschen Körber . . . Bouteillen Schwangkeßel Vasen und andre dergleichen silberne oder sonst aus kostbarer Materie verfertigten Schälen; Riedel 1767 Theorie 81 und in Gebäuden die Pfeiler, Vasen, Statüen und eine Verschwendung von Skulpturen; Lessing 1768 Antiquar. Br. X 296 Vase von Silber; Weinling 1782 Br. I 29 antike Vase; Goethe 1793 Br. (X 54)

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eine alte Vase; 1824 Kunst-Blatt 33 Vasensammlung; Welcker 1849-64 Alte Denkmäler II 35 Anm. eine Vase . . . woran Herakles unter einer Weinlaube gelagert ist; Schickele 1920 Mädchen 9 Vasensaal; Koch 1956 Lex. 958 Vasenmalerei. Vase b: Liinig 1719 Theat. ceremon. 11300* eine Vase mit Zucker-Blumen; 1790 Journal d. Moden V. Intell'hl. CHI Blumen Vases; Schäffer 1936 Car a 179 die schlanke Vasengestalt ihres Leibes; Münch. N. N. 19. 2. 1943 an den südiranischen (Kirman) sog. „Vasen"-Teppichen; Offenburger Tagebl. 18. 5. 1960 Pfingstrosen sind „Vasenblüten"; sie sehen als Strauß im Zimmer viel schöner aus, als draußen; Mannh. Morgen 27. 11. 1980 Das Gesangbuch ist eine Blumenvase (Uberschr.) In der Manufaktur St. Clément entstand um 1880 dieses 16 Zentimeter hohe „Gesangbuch", das erst auf den zweiten Blick als Vase erkennbar ist.

V e d u t e F . ( - ; -n), im späten 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. ital. veduta (Part. Perf. von vedere sehen'), anfangs belegt und bis ins 20. Jh. gebucht in der ital. (flekt.) Form, früher auch in der Schreibung Vedutte; meist fachspr. im Bereich von Malerei und Kunstgeschichte verwendet für '(naturgetreue, als Stich, Zeichnung oder Gemälde ausgeführte) Ansicht einer Landschaft (mit Gebäuden), von Gebäuden' (im Unterschied zum Prospekt mit geringerer perspektivischer und ohne raumillusionistische Wirkung, vgl. —» Prospekt), häufig in den Zss. V e d u t e n m a l e r(ei); im 19. Jh. gelegentlich auch nachgewiesen in der Bed. landschaftlich schöner, malerischer, reizvoller Ausblick'. Volkmann 1777 Italien II 31 Die Prospekte oder Vedute di Roma . . . von Piranesi sind vortrefflich; Weinling 1782 Br. [Abb. z. S. 56] Veduta; Müller 1817 Sehr. II 386 von der Veduta des Landschaftsmalers; Pilat 1819 Br. v. u. a. Schlegel 244 mir aus Neapel einige der schönsten Vedute der Stadt d.h. eine Totalansicht . . . mitzubringen; 1823 Kunst-Blatt 16 Wenn übrigens unsre deutschen Veduten der Eleganz ermangeln; Huber 1833 Spanien II Vorr. VI Veduten-, Architektur . . . mahler; Reumont 1835 Reiseschilderungen 173 Je malerischer und reizender nach allen Seiten hin Veduten sich eröffnen, laubreiche Waldungen, Weinberge, Dörfer; Hettner 1846 Kl. Sehr. 297 mit dem Titel blosser Vedutenmalerei; Sta.hr 1848 Italien II 418 [die ital. moderne Malerei] ist die gemeinte, handwerksmässigste Vedutenschmiererei; ebd. 458 Veduttenmaler; ebd. 1850 (III 200) Die aussereuropäische Vedute ist in der Landschaftsmalerei was der blosse Unterhaltungsroman in der Poesie; 1852 Prutz'Museum 1151 Veduten vom Gardasee; Wilbrandt 1864 Geister 137 Malen Sie ihm nur diese Vedute hier, diesen Platz: das ist 9 Fremdwörterbuch

Alles, womit Sie sich sein Herz gewinnen sollen; Noe 1865 Voralpen 103 bietet der schmale . . . Weg wieder viele der anziehendsten, selbst überraschenden Veduten; Fontane 1871 Kriegsgef. 96 eine der weitgedehnten Veduten Claude Lorrains; Riehl 1871 Vorträge I 86 Veduttenmaler; Allmers 1904 Schlendertage 67 Die Landschaft . . . erhebt sich höchstens zur sauber gemalten Vedute; Welti 1904 Br. I 73 Es gab . . . eine Zeit der Gebirgsvedutenmaler, in welcher so manches wunderschöne Motiv zu Tode geritten wurde; Hesse 1907 Diesseits 170 Rivieravedute; Wätzoldt 1927 Land 53ff. Vom Wesen der Vedute (Überschr.); ebd. 96 Spottverse auf die Vedutenjäger; Kircher 1928 Vedute und Ideallandschaft in Baden und in der Schweiz 1750-1850 (Titel); ebd. Vorr. V Die Vedute des 18. Jh. verdankt ihre Entwicklung dem europäischen Reisepublikum, das sie als Andenken-Industrie ins Leben rief; ebd. VI Zur künstlerischen Würdigung der Vedute lässt sich . . . sagen: den strengen Naturalisten enttäuscht sie, weil sie sich der Natur weder nach Form noch Inhalt bedingungslos hingibt; der wirklichkeitsge-

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Vegetabilien

treue Naturausschnitt, den sie zu gestalten vorgibt, ist dem übereinkömmlichen Zeichenstil des Klassizismus untergeordnet; ebd. 37 die Vedute, die ihre Entstehung vor allem dem Zusammenwirken von Kunstdilettantismus und Kunsthandwerk verdankt. . . Interesse, das Goethe der Vedute als sachlicher Illustration nicht aber als Kunst entgegenbrachte, beweist seine Hackert-Biographie; ebd. 44 Die Vedutenmalerei des ausgehenden 18. Jh. wird in ihrer historischen Bedeutung erst völlig klar, wenn wir sie der Ideallandschaft gegenüber stellen; Voss. Ztg. 5. 1. 1931 Die bunten Veduten aus Afrika [sehen] fast aus wie Vorlagen zu lehrhaften Steindrucken; Gebauer 1932 Kulturgesch. 319 Vedutenlandschaft; Die Zeit 4. 7. 1980

So jedoch wurde er, der eigentlich nur ausgezogen war, topographisch getreue Veduten einzusammeln, zu einem der Künstler, die im 18. Jahrhundert den Schweizern ihre Heimat neu entdeckten; 1980 Topographische Ansichten und Veduten der Kurpfalz, insbesondere Mannheims von 1600-1900 (Katalog-Titel); ebd. o.S. Seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts ist das neu erwachte Interesse für ausführliche und genaue Weltbeschreibung darauf gerichtet, zum Text zuverlässiges bildliches Anschauungsmaterial zu erhalten. Es entsteht die wirklichkeitsgetreue Ansicht, die Vedute, von Städten und den sie umgebenden Landschaften.

V e g e t a b i l i e n PI., seit Anfang 17. Jh. nachgewiesen, zurückgehend auf lat. vegetabilis 'belebend' (zu vegetare, —» vegetieren), anfangs meist in der lat. (flekt.) F o r m , im 19. J h . gelegentlich im rückgebildeten Sing. V e g e t a b i l ( e ) N . (-s); in der Bed. Tflanze(n); Pflanzenreich, - w e i t ' u n d pflanzliche Stoffe, Nahrungsmittel; Gemüse', im 20. J h . selten belegt. Vegetabilien: Fioravanti 1604 Krön der Artzney 11 Die Kunst der Artzney aber für sich selbsten belangend beruhet dieselbige fürnemblich in dreyen Stücken, als in den vegetabilibus oder gewachsen der Erden, in denn Thieren, vnnd dann zum letzten, in den Mineralien; ebd. 487 Dann die vegetabilia, als die Wein, Essig, Kräuter, Blumen, Zwey vnnd alle Geschlecht der Wurtzeln; ebd. 491 Alle Pflantzen vnd Gewächse, so viel derselbigen auch sindt, haben jhren Vrsprung in der Erden, vnd werden vegetabilia genennet, sintemal keins auss jhnen beständig seyn kan, sondern sie sind allesampt der Corruption vnterworffen, werden von der Sonnen verdorret, von dem Fewer verzehrt, von dem Wasser faul gemacht, vnd durch die Erden in Erden verwandelt; Glauber 1653 Mir. Mundi 10 Erstlich solviret es alle Vegetabilien vnd Animalien in einen liquorem zeittiget dieselbe / benimbt ihnen ihre gifft / vnd verwandelt solche in heilsame Medicin; ders. 1654 Weinstein 3 Weilen dann bekant genug ist / daß der Traubensafft vor all anderen Vegetabilien am allermeisten Saltz führet / . . .; ders. 1655 Op. Min. I 58 Vnsere vegetabilia, animalia vnd Metallen . . . sind vnauffgeschlossen blieben; ebd. 61 Man sehe an das Opium, mandragoram, cicutam, hyoscyamum vnd andere dergleichen dünn machende vegetabilien, wie geschwind die dess Menschen Leben, wann sie zu starck beygebracht werden, aussleschen vnd ersticken; 1715 Glauberus Conc. 2 Was unter dem Namen der Vegetabilien verstanden werden? (Oberschr.) Darunter

verstehe ich alles dasjenige / so aus der [Erde] wichset / sich nihret / und zunimmt / als da seynd alle Blume / Kräuter und Hecken / sammt Wurtzel / Stamm / Blitter / Blumen / Saamen und Früchte; Pachelbel 1716 Fichtel-Berg (2. Titel) Der Erste [Theil] handelt . . . vom Gebürge selbsten, und was vor Mineralien, Vegetabilien, und Animalien allda anzutreffen; Pauliini 1719 BaurenPhysik 38 der Weinstock . . . gar wohl den Nahmen eines Königes unter den Vegetabilien, oder im Vegetabilischen Reich verdienet, denn er erfreuet des Menschen Hertz; 1738 Hamburg. Ber. 11 von den Pflanzen oder Vegetabilibus; Reinhard 1764 Sehr. V 643 Die Moorerde ist bekanntlich eine wahre Gartenerde; dan sie ist aus lauter verfauleten Vegetabilien entstanden; Lichtenberg 1766 Aphorismen I 26 Um ein Stückgen Fleisch wieder in Erde zu verwandeln, damit es andern Vegetabilien oder Thieren nützen könne; Schreber 1768 Cameralschr. X 31 Zu unterscheiden, ob die irdische Materie im amerikanischen Alcali aus der Asche der Vegetabilien bestehet, oder ob Kreide oder Kalk mit Fleiß darzugethan worden?; Schiller 1769 Ökonom. Beyträge I 476 derowegen kan man die Asche von den Vegetabilien als etwas betrachten welches geschickt ist, sowohl das überflüßig sauer als öhligte Wesen in der Wein-Hefe zu mitigiren und gleichsam in sich zu ziehen; Wezel 1777 Erzählungen I 189 Dem zufolge verordnete man „daß die Speisen der Kinder bis ins zwölfte Jahr höchst einfach seyn . . . und selbst von den erlaubten Vegetabilien nur

vegetabilisch eine gewisse mäßige Quantität täglich gereicht werden sollte"; Schiller 1788 Br. II 72 Ich wollte, daß Du mehr Vegetabilien in Deine Diät mischtest und über Tische immer ein oder 2 Gläser Wein tränkest, um Deine Circulation frischer und leichter zu machen; Schlözer 1793 Stats Recht 44 Der Mensch lebt von wildwachsenden Vegetabilien, von Baum-Früchten, Wurzeln etc.; Schrank 1793 Reise 23 Erst wenn sich ungezweifelte Vegetabilien auflösen . . . erzeugen sich die Pilze, und zwar hat es bey manchen vegetabilischen Substanzen das Ansehen, als wenn sie sich ganz in die letzteren auflöseten; 1803 Briefw. G.-Z. I 93 Ein Haupthinderniß, weswegen die Deutschen im Allgemeinen ihre Sprache nicht so leicht und fließend reden als andere Nationen, liegt in der Gebundenheit der Zunge, welche mehrentheils von dem Genuß der vielen Vegetabilien und fetten Speisen herkommt; Koch-Sternfeld 1805 Nahrung 34 Zu der zweyten Klasse von Produkten, die bald eine, bald keine Rente abwerfen, gehören alle jene Produkte, Vegetabilien, und Thiere, die von der Oberfläche der Erde oder aus ihren Eingeweiden gezogen werden; Dinglers Polytechn. Journal 5 (1821) 385 Die Kunst den Vegetabilien die Stoffe, welche die Organisation darin bildet, abzugewinnen, hat sich wie jede andere, nur nach und nach entwickelt, erweitert, vervollkommnet; Hufeland 1822 Sympathie 8 das Reich der Vegetabilien; Pückler-Muskau 1834 Tutti IV 285 Zur Hauptschüssel werden hierauf eine solche Menge Vege-

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tabilien servirt, daß kein Mensch sie ohne Indigestion zu verdauen im Stande ist; Schubert 1840 Nachtseite d. Naturwiss. 164 Wir finden nämlich . . . daß die Zahl der Rückenwirbel bei den von Vegetabilien lebenden Säugethieren immer zunimmt, je vollkommener die Organisation der inneren Theile ist; Dittmann 1858 Landw. I 98 Hieraus folgt, daß die Vegetabilien den größten Theil ihres Nahrungsstoffes aus der Atmosphäre beziehen, worin derselbe stets in hinreichender und ziemlich gleicher Masse enthalten ist; Baumbach 1895 Jugendzeit 380 Vegetabilien; Rubner 1900 Hygiene 458 Vegetabilien; Barnes 1933 Lebensmittel-Lex. 235 Vegetabilien, pflanzliche Nahrungsmittel. Vegetabil(e): Carus 1831 Landschaftsmalerei 149 [hingeführt werde] auf den innern, durchaus regelmäßigen und gesetzmäßigen Bau des Vegetabils, auf die Umstände, welche die Entwicklung der Pflanze . . . bald so bald so modifizieren; Schwarz 1837 Ackerbau I 64 Vegetabil; Dingelstedt 1841 Jusqu'à la mer 79 Der Holländer ist ein Vegetabile, wie diese in seiner Erde eben wachsen und gedeihen können . . . Aber vegetirt er deswegen?; Bibra 1862 Chili I 129 Ferner stellte man ihm, unter dem Namen: Sauerkohl, gelbe, zollgroße Stücke eines Vegetabils vor, welche einem Hobel ihre Form verdankten und in der That auch wie Hobelspäne schmeckten.

vegetabilisch Adj., seit frühem 17. Jh. nachgewiesen, zurückgehend auf lat. vegetabilis, —» Vegetabilien, im 18. Jh. vereinzelt (in Syntagmen) in der lat. (flekt.) Form, dafür Anfang 17. Jh. vereinzelt vegetalisch, seit Anfang 19. Jh. gelegentlich vegetabil, im 20. Jh. vegetal; in der Bed. auf die Pflanzen(-welt) bezogen, zum Pflanzenreich gehörig; pflanzlich, Pflanzen-', bes. im Bereich der Geologie, Agrarund Ernährungswissenschaft für aus Pflanzen ent-, bestehend, hergestellt5, in Syntagmen wie vegetabilische Faser, Nahrung, Substanz; vegetabilischer Dünger, Ursprung; vegetabilisches Produkt, Reich (regnum vegetabile), gelegentlich bildlich verwendet, auch im Sinne von pflanzenhaft, -ähnlich', speziell in der Kunstgeschichte (vgl. —* vegetativ); heute selten und weitgehend durch pflanzlich, Pflanzen- ersetzt. Dazu im 19. Jh. selten die subst. Ableitung Vegetabilität '(Phänomen, Erscheinung der) Pflanzenwelt'. vegetabilisch: Hildebrand 1625 Magia I 4" das Alter wird vergleichet mit dem Winter, da alle Dinge sterben . . . wie denn auch die vegetabilischen Cörper alle in die corruption vnd Tod gehen; Glauber 1655 Op. Min. II 34 bey allen vegetabilischen Gewächsen; ebd. 37 in den dreyen Reichen, als vegetabilisch, animalisch- vnd mine9»

ralischem; ebd. 39 Also auch niemand läugnen kan, dass die Metallen nicht edler vnd besser als das Holtz vnd Gesträuch mit allen vegetabilischen Gewächsen . . . seyn müssen; Ettner 1697 Chymicus 201 vegetabilischen Salmiacs; Pauliini 1719 Bauren-Physik 32 [es gibt] in Regno vegetabili (Kräuter-Reich, Früchte, Obst, Weinbeere, schö-

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vegetabilisch

ne Kräuter, Rüben, Kraut, Kohl. . .); ebd. 38 der Weinstock . . . gar wohl den Nahmen eines Königes unter den Vegetabilien, oder im Vegetabilischen Reich verdienet, denn er erfreuet des Menschen Hertz; Mendelssohn 1756 Sehr. II 336 vegetabilischen Bau [der Mimosa sensitiva]; Schiller 1769 ökon. Beyträge 505 Pottasche oder Salin, kan aus dem ganzen vegetabilischen Reiche, aus gemeiner Asche von allerley Holz, Gewächsen, Pflanzen und Kräutern gemacht werden; 1772 Frankf. gel. Anz. 26 die Grade der Reife oder Perfectibilität der vegetabilischen Vorbereitungen zum thierischen Gefühle und Sinnlichkeit bestimmen das Maaß der Entfernung der Pflanze von der künftigen thierischen Perfectibilität; Meiners 1775 Sehr. 1202 vegetabilischen Natur; Beckmann 1777 Anl. z. Technologie 282 vegetabilische Asche; 1784 Berlin. Mon'schr. IV 251 vegetabilischer Art; Schrank-Moll 1785 Br. 1260 dass . . . alle Steinarten durch den Beytritt vegetabilischer Sübstanzen in Thon verwittern; Meiners 1786 Grundriß 92 Wirkungen vegetabilischer und animalischer Nahrungs-Mittel auf die Gemüths-Art von Völkern; ebd. 96 vegetabilischer Speisen; 1787 Journal d. Moden II 51 [Schminke] aus vegetabilischen Produkten gezogen; Saussure 1787 Reisen durch die Alpen (Übers.) III 57 dass dieser Staub eine vegetabilische Substanz . . . wahrscheinlicher Weise Saamenstaub ist; Matthisson 1794 Besuche III 113 Eben so wie viele Pflanzen nur den höhern Bergregionen eigen sind, eben so bedürfen auch mehrere vegetabilische Grubenprodukte einer bestimmten Tiefe zu ihrer Erzeugung; 1794 Neues Hannöver. Magazin 25 Anm. gute vegetabilische Hüte; Karsten 1795 Ökonom. Institute 13 [in einem Sumpfteich] eine unerschöpfliche Masse vegetabilischen und animalischen Düngers angehäuft; Schleiermacher 1799 Religion IV 65 Wie die vegetabilische Natur durch den Untergang ganzer Gattungen und aus den Trümmern ganzer Pflanzengenerationen neue hervorbringt und ernährt; 1801 Ztg. f . Naturforscher II 4 Bleichmethode vegetabilischer Stoffe; Hazzi 1803 Aufschl. III 1, 74 Der Boden ist griesigt, bald mehr bald weniger mit vegetabilischer Erde bedeckt; Matthisson 1803 Tyrol VI 42 Festlich bewillkommt, nahm auch sie den zierlichen Tempel ein, welche (!) der Fürst ihr in einem Lokale weihte, das man, wegen der ungewöhnlich reichen Fülle des vegetabilischen Lebens . . . als eine der lieblichsten Partien unsers Parks auszeichnen darf; Fischer 1804 Bergreisen I 93 Zu beyden Seiten desselben ist alles mit Pflanzen bedeckt, eine herrliche vegetabilische Gebirgswelt, die den Botaniker mit Entzücken erfüllt; Aretin 1808 Bergfälle 54 Fäulung so vieler animalischer und vegetabilischer Körper (die der Schlamm mit sich bringt); Germershausen 1812

Hausmutter I Vorr. V I I f . Unter den vegetabilischen Speisen wird dem braunen Kohle . . . die oberste Stelle eingeräumt; Obernberg 1815 Reisen, Isarkreis 1198 dass die Steinkohlen eines vegetabilischen Ursprungs und nichts anderes als ein natürliches Holz wären [nach Flurl]; Hufeland 1823 kl. med. Sehr. II 17 vegetabilische Säuren; 1824 Kunst-Blatt 43 Ähnlichkeit mit der Pflanzenbildung . . . der vegetabilische Charakter der alten Kirchenbaukunst . . . entschieden; Puchelt 1826 System d. Med. I 332 Vegetabilische Speisen sind . . . weniger nahrhaft, schwerer verdaulich; Csaplovics 1829 Ungarn 1193 alle bisherigen Träume von vegetabilischen Gold; Kolb 1831 Rheinbayern I 54 Vegetabilische Produkte; Appert }1832 Die Kunst alle animalischen und vegetabilischen Substanzen nähmlich alle Gattungen Fleisch, Geflügel, Wildpret, Fisch, "Zugemüse . . . mehrere Jahre zu erhalten (Titel); Dickens 1839 Pickwicker (Übers.) III 7 Es war ein ältlicher, hagerer Herr mit einem sinnigen Gesicht, der sehr nach vegetabilischer Diät aussah (BENNETT); Burckhardt 1842 Kunstwerke 1116 in der Gotik als Wichtigstes die vegetabilische Verzierung, die Pflanze; Steinmann 1843 Mefistofeles III 259 Lenau hat mit seinem trefflichen Talent viel in trüben Gefühlen umhergeschwärmt, die sich über das vegetabilische Leben kaum erheben; Vaerst 1851 Gastrosophie 140 Die vegetabilische Faser oder das Xylon; Bucher 1855 Parlamentarismus 32 Gehen wir von dem unorganischen Stoff zu dem vegetabilischen und animalischen Leben über; Dittmann 1858 Landw. 1201 7. Vegetabilisches Fett und mehrere andere organische Körper; ebd. 209 Auf diese Weise ist es leicht einzusehen, wie eine so große Masse vegetabilischer Stoffe erzeugt werden kann, ohne daß der Boden oder die Erdmasse, worin diese gewachsen, eine bedeutende Abnahme in quantitativer Hinsicht erleidet; Braun 1881 Bilder 1221 die Kartoffelkrankheit in der vegetabilischen Welt; Roscher 1888 Ackerbau (System II 18) Gaben der vegetabilischen Natur; Naumann 1907 Wirtschaftspolitik 51 vegetabilischer Nähstoffe; Zukunft 64 (1908) 107 der Wasserträger . . . der Student und die Näherin, alle diese fast vegetabilischen Existenzen der Großstadt; Johnston 1917 Menschenverst. 109 seinem „vegetabilischen Elfenbein" (jagua-Nuß), seinen Panamahüten aus Palmblattgeflecht; Hertling 1919 Erinn. I 108 [Vesuv] Erde und Gestein zeigten die seltsamsten roten, grünen und gelben Farben, die manchmal an ein Vorhandensein vegetabilischer Decke glauben liessen, bei näherem Zusehen aber nur Schlakken und Schwefelkruste waren; Dix 1934 Raum 20 vegetabilische Nahrung; Ziegelmann 1940 Lebensmittel 3 Pilzen, dem „vegetabilischen Fleisch".

Vegetarier vegetabil: Heine 1830 Italien 244 nur gedankenlose, vegetabil animalische Hände; 1938 Geopolitik 799 Vegetabile Produkte; Süddtsch. Ztg. 7. 5. 1958 Auch hat er [der Rehbock] einige zweibeinige Freunde außerhalb des Gartens, die zuweilen seinen schlichten Speisezettel mit vegetabilen Delikatessen bereichern. Vegetabilität: Heidelberger Jahrb. 1 (1808) III 146 Uebergewicht des Bildungstriebes über die Sensibilität und Irritabilität = Vegetabilität, Ubergewicht der Sensibilität und Irritabilität über den Bildungstrieb = Animalität; Hufeland 1822 Sympathie 21 Gegensatz der Animalität und Vegetabilität; ebd. 56 so wie die gesamte organische Natur in zwei . . . Pole, Animalität und Vegetabilität, zerfällt; Koch-Sternfeld 1833 Beyträge III 450 Anm. Indem man aber, seit 40 Jahren, weit über

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Gebühr, den Waldboden ausrodete, und über 20000 Tagw. Kiesboden unter Pflug und Spaten nahm; wurden zwey Millionen baar Geld fruchtlos weggeworfen; und die Landschaft von aller höhern Vegetabilität für immer entkleidet. vegetal: Huet 1900 Holzsäbel (Übers.) 49 [daß] die Armee in Friedenszeiten ein großer Organismus . . . der einzig und allein durch seine Zellen lebe, eine Art vegetalen, unbewußten Lebens [sei]; Haeckel 1913 LW. 107 vegetale Ergologie. vegetalisch: Fioravanti 1604 Krön der Artzney 189 Von vnserer vegetalischen quinta Essentia; ebd. 491 Von etlichen Vegetalischen Sachen vnd derselbigen Kräfften. Alle Pflantzen vnd Gewächse . . . haben jhren Vrsprung in der Erden, vnd werden vegetabilia genennet.

V e g e t a r i e r M . ( - s ; -), seit Anfang 20. J h . nachgewiesene gekürzte F o r m von Mitte 19. J h . aus gleichbed. engl, vegetarian (zu vegetable, zurückgehend auf lat. vegetare, —* vegetieren) entlehntem, bis ins 20. J h . belegtem und bis heute gebuchtem V e g e t a r i a n e r M . (-s; - ) ; zunächst im Zuge eines ethischen Kampfes gegen tierische Nahrung (vgl. die Gründung der Vegetarian Society 1847) wertend in der Bed. 'jmd., der tierische Nahrung ablehnt und ausschließlich von Pflanzenkost lebt', dann auch allgemeiner für 'jmd., der sich fleischlos, nur mit pflanzlicher Kost ernährt'. Vegetarier: Grohmann 1904 Die Vegetarier-Ansiedlung in Ascona und die sogen. Naturmenschen im Tessin (Titel); Dombrowski 1920 System 257 Vegetarierbacken; Kyber 1925 Tierschutz 111 Auch hier bewirkt das Beispiel alles und so fördert jeder einzelne Vegetarier die Weiterentwicklung seines Volkes allein durch sein Beispiel, das den vielen schwer Belehrbaren beweist, daß man ohne Fleisch nicht nur gut, sondern sehr viel besser und gesünder leben kann; Honigmann 1929 Klimata 93 Vegetarier [in Indien]; Dtsch. A2. 13. 1. 1935 Der Mensch ist kein Vegetarier (Uberschr.); Mummert 1936 hoffen 176 Vegetarierbewegung; Münch. N. N. 19. 4. 1944 Vegetarier, die regelmäßig beim Ernährungsamt den Fleischaustausch vornehmen, können Bestellscheine und Kleinabschnitte über Butterschmalz unter Entwertung und Abtrennung dieser Abschnitte . . . in Reiseund Gaststättenmarken für Butter umtauschen; Schwab. Ztg. 28. 6. 1946 Vegetarier — Union Deutschland (Uberschr.) Zum erstenmal nach dem Kriege sind Vegetarier aus verschiedenen Gegenden Deutschlands . . . zusammengekommen; Süddtsch. Ztg. 30. 6. 1951 Morgen feiern die Anhänger der „Deutschen Vegetarier-Union" ih-

ren „Vegetarier-Tag"; ebd. 18. 7. 1951 Wenn man den stärksten Gegensatz zu ihm, dem Vollsaftigen und mitten im Leben Stehenden suchen wollte, so müßte man den „Vegetarier" erfinden . . . so ist es: Die Bierbehörde und der Bundesfinanzhof gehören nach München . . . die Schnapsbehörde nach Niedersachsen und die Vegetarier in den Odenwald; ebd. 19. 5. 1953 Von den zehntausend Menschen in Westdeutschland, die nach Zählung des General-Sekretärs der Vegetarier-Union, Helmuth Rall, aus ethischen Gründen den Genuß von Fleisch und tierischen Fetten strikt ablehnen, waren einige hundert in das Heilbad . . . gekommen; ebd. 12. 7. 1955 Vegetarier aus allen Teilen der Bundesrepublik und der Sowjetzone sind zur Zeit auf der Jugendburg Ludwigstein zur Jahrestagung der Vegetarier-Union Deutschlands zusammengekommen; ebd. 9. 5. 1957 Die große Familie der Vegetarier feiert ihren „Kongreß der Ideale" (Uberschr.); ebd. 10. 11. 1958 „Vegetarier-Blumensträuße" aus zarten Gemüsen; FAZ 9. 3. 1971 Vegetarier-Montag in Brüssel (Uberschr.) Wer in Belgien am Wochenende nicht vorgesorgt hatte, mußte am Montag vegetarisch leben. Die Metzger hatten ihre Läden geschlossen; Die Zeit 4. 7. 1980

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vegetarisch

Die Speisen der Altvorderen waren wohl auch nicht unbedingt einer Weiterempfehlung wert. „Der Rhöner ist vorzugsweise Vegetarier, aber nicht aus freier Wahl". Vegetarianer: Gutzkow 1855 Unterhaltungen III 414 Die Vegetarianer (Uberschr.) (LADENDORF); Heyse 1873 Kinder d. Welt I 146 Er scherzte mit ihr darüber: ob sie zu den Vegetarianern gehöre; Pecht 1876 Glaspalast 38 und man in diesem Reiche des Traumes offenbar nicht einmal ein Beefsteak bekommt, sondern verdammt ist, als Vegetarianer zu leben; Lindau 1877 Br. 202 Sie trugen zusammen allerlei Gräser und Halme und sonstige Liebhabereien der Vegetarianer; Meinert 1880 Ernährungstheorie 145 Die diätetische Sekte der Vegetarianer . . . stellt es einerseits als eine sittliche Forderung auf, dass der Mensch seine Nahrung nicht durch Tödten von Thieren gewinne . . . und sucht andrerseits aus anatomischen Verhältnissen nachzuweisen, dass der Mensch von der Natur zu vegetabilischer Nahrung bestimmt sei, weil namentlich sein Gebiss mit dem Fruchtesser, nicht mit dem Fleischesser übereinstimme; Welsch 1886/97 Volks-Lehen 1X35 Wer nix isst als Ruabn und Radi, / Kopfsalat, Spinat, Kohlrabi, / Kraut, Fisolen und a Gras, / Vegetarianer heisst man das; Lang 1887 Erinn. 133 ein riesiger

Gemüsegarten, hinreichend, um uns alle längere Zeit zu ernähren, selbst wenn wir samt und sonders Vegetarianer gewesen wären; Steudel 1887 Nihilismus 9 Vegetarianer; Deutsche Dichtung 14 (1893) 104 ist Vegetarianer, oder wie er's nennt, „Vegetar"; ebd. 17 (1895) 287 Glaubt Worten des Mahners, / Es sättigt nie / Des Vegetarianers / Verruchtes Menu!; Ruhner 1900 Hygiene 458 Vegetarianer; Peters 1904 England 115 Die Liberalen sind die Vertreter eines sentimentalen Kosmopolitismus; Apostel des Ewigen Friedens sind in ihrer Mitte, Vegetarianer, FrauenemanzipationsFanatiker folgen ihren Fahnen; Baltzer 1907 Erinnerungen Einl. VII Deutscher Verein für natürliche Lebensweise (Vegetarianer); ebd. 87f. Vegetarianer / Vegetarianismus; Stimmen d. Zeit 89 (1915) 354 Die Gesundheitsapostel dürfen sich freuen, daß die Deutschen nun in halbe Vegetarianer sich umwandeln, da die Not der Zeit sie mehr auf Pflanzennahrung anweist; Polit.-anthropolog. Monatsschr. 14 (1915/16) 165 Vegetarianer (deutsch könnte man wohl „Naturfreunde" sagen); NS - Kurieram Sonntag 26.127. 8. 1939Die Vegetarianer (Überschr.) „Wir sind Vegetarier!" — „Was sind Se?" fragte die Kellnerin, der das Wort nicht recht vertraut zu sein schien. „Vegetarier", wiederholten die Fremden, „wir essen kein Fleisch, nur Gemüse!".

vegetarisch Adj., seit Anfang 20. Jh. nachgewiesene gekürzte Form von Mitte 19. Jh. aus gleichbed. engl, vegetarian (—* Vegetarier) entlehntem, bis spätes 19. Jh. belegtem und bis heute gebuchtem vegetarianisch; in der Bed. nach der Lehre, den Grundsätzen der Vegetarier (beschaffen / sich verhaltend); kein Fleisch enthaltend / zu sich nehmend; fleischlos, nur aus pflanzlichen Produkten bestehend'. vegetarisch: Ruhner 1900 Hygiene 458 Vegetarische Bestrebungen; Waihl 1901 Br. II 190 sollen wir vegetarisch weiter leben, so tun wir es auch; Günther 1913 Speisekarte d. Landstreichers 188 Am wenigsten fallen uns darunter solche [Metaphern] auf, bei denen die herangezogenen Gleichnisse selbst noch dem Gebiete der Nahrungsmittel angehören, obwohl sie von anderer Art oder Gattung sind, so wenn wir scherzhaft den Hering einen gesalzenen Bauernkarpfen oder die saure Gurke eine vegetarische Wurst nennen; Kyber 1925 Tierschutz 104 Die vegetarische Ernährungsweise ist sicherlich die der Zukunft und das ist im ethischen Interesse . . . der Menschheit . . . dringend zu wünschen; ebd. 105 grosse Gruppen vegetarisch lebender Menschen; ebd. 110 Die vegetarische Küche erfordert sehr viel Sorgfalt; Schmitz 1926 Dämon 261 in einem . . . vegetarischen Gasthaus zu speisen; Dtsch. AZ. 16. 8. 1935

daß die Erfolge, die man mit kochsalzarmer oder vegetarischer oder Rohkost erreicht hat, nicht ohne weiteres auf den gesunden Menschen zu übertragen sind; Mummert 1936 hoffen 80 Besuch eines vegetarischen Speisehauses; Beurmann 1942 Von Leuten 9 [1887 München] in der „Thalisia", der ersten vegetarischen Speiseanstalt; N. Z. Z. 9. 8. 1944 Auf eine kurze Formel reduziert, wird die hier im Kriege eingetretene Wandlung mit den Worten „Von der Bierwurst zum Gemüsetopf" gekennzeichnet. Diese „vegetarische" Umstellung äußert sich denn auch in der großen Verschiebung des Verbrauchs von Fleisch zu Kartoffeln und Gemüse; NZ. (Basel) 22. 4. 1949 Aber was tut solch eine Mehlsuppe im vegetarischen Restaurant?; Weizsäcker 1950 Erinn. 140 vegetarisches, getränkefeindliches Asketentum [Hitlers]; Steffen 1951 Mappe 122 in diesem vegetarischen Restaurant; Süddtsch. Ztg. 19. 5. 1953 Selbstverständlich

Vegetarismus ist es nur ein Zufall, daß ausgerechnet an einem Ort, an dem es einst einen Menschenfresser gegeben haben soll, die Vegetarier ihren gestern beendeten „Kongreß der Ideale" abhielten und hier — wie es in der Festausgabe des Vegetarischen Universums heißt — „das unsterbliche, gewaltige Manifest des großen vegetarischen Philosophen Gustav Schlieckeysen mit den Hammerschlägen der neuen Zeit an das Tor des Menschentempels schlugen"; Die Zeit 4. 7. 1980 In hübschen . . . Bungalows im Garten der Vermieterfamilie können Einzelreisende, Paare . . . ihren Urlaub ver-

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bringen und gleichzeitig etwas über Naturkost sowie die verschiedenen Richtungen des vegetarischen Lebens erfahren . . . Die Verpflegung ist ausschließlich vegetarisch. vegetarianisch: Gutzkow 1855 Unterhaltungen III 314 Nur Pflanzenkost! oder die vegetarianische Diät . . . Nach dem Englischen des Charles Lane (Titel) (LADENDORF); 1885 Salon II 165 vegetarianischen / Vegetarianer-Kochbuches / Vegetarianismus; 1886 Beschr. OA. Ellwangen 135 vegetarianische Lebensweise.

Vegetarismus M. (-; ohne PL), seit Ende 19. Jh. nachgewiesene gekürzte Form von im späten 19. Jh. wohl aus gleichbed. engl, vegetarianism entlehntem, bis ins frühe 20. Jh. belegtem und bis heute gebuchtem Vegetarianismus (—» Vegetarier); Bezeichnung für die Lehre von der Ernährung durch Pflanzenkost, bestimmt durch die Ablehnung tierischer Nahrung und die Verurteilung der Tötung von Tieren zu Ernährungszwecken. Vegetarismus: Henne-am Rhyn 1897 Kulturgesch. VII 399 Robert Springers sogen. „Kulturgeschichte der Menschheit" (1881) ist lediglich eine — Geschichte des Vegetarismus!; Werner 1899 Der Vegetarismus im Gegensatz zur modernen Ernährungstheorie (Titel); Baltzer 1907 Erinn. 109 sah er im Vegetarismus keine Magenfrage, sondern eine ganze Weltanschauung. Der homo vegetus der Alten, mit gesundem Geist, Seele und Leib; Hegeler 1908 Ärgernis 253 dass er vom „Blauen Kreuz" war und ausser der Abstinenz auch noch den Vegetarismus empfahl; Iaskowski 1912 Philosophie des Vegetarismus (Titel); Kyher 1925 Tierschutz 103f. eine Wertung des Vegetarismus [ist] geboten, und es muss die Frage gestellt werden, ob es überhaupt notwendig ist, dass wir Tiere zu unserer Ernährung töten; ebd. 105 Auch eine Anzahl geistiger Führer haben sich für den Vegetarismus ausgesprochen; Gothein 1931 E. 351 eine der Sekten, die strengen Vegetarismus und Alkoholentsagung verbindet; Hintze 1934 Geographie 323 Vegetarismus (von manchen auch als Vegetarianismus bezeichnet); Dtsch. AZ. 16. 8. 1935 Mehr denn je beschäftigt sich heute die Allgemeinheit mit den Grundfragen der Ernährung. Man liest von Vegetarismus, von kochsalzloser Diät, von Rohkost, und es ist gar nicht leicht, sich genau darüber zu unterrichten, welche Vorzüge vor anderen Ernährungsmethoden die jetzt so oft propagierten Ernährungsweisen besitzen; Hausleiter 1935 Der Vegetarismus in der Antike (Titel); Mummert 1936 hoffen 151 Die Siedlungsfrage ist eine Voraussetzung weitschau-

enden Vegetarismus; ebd. 167 reinen, unentwegten Vegetarismus; ebd. 189 im Sinne eines dogmatischen Vegetarismus; Stapel 1939 Stapeleien 261 Das Reformertum ist eine Lebenserscheinung, die sich seit einigen Jahrzehnten unter uns ausgebreitet hat: Bodenreform, Geldreform . . . Vegetarismus, Rohköstlertum, Nacktkultur; Münch. Allgem. 14. 5. 1950 bis es . . . doch noch gelingt . . . die Menschenfresser zum Vegetarismus zu bekehren; Süddtsch. Ztg. 19. 5. 1953 Bei Fruchtsaft, Spinatpfannkuchen und vegetarischer Sülze sprachen noch einige andere Vertreter vegetarischer Weltanschauungen zu Themen wie: „Der Vegetarismus im Gralslicht", „Der Weg durch das Chaos egoistischer Dämonie zur universellen Verbundenheit und zur Weltbruderschaft" . . . und „Richard Wagner als Förderer des Vegetarismus"; Herrmann 1956 Kultur auf gaben des Vegetarismus (Titel); Frankel 1964 Deutschland 67 Wir leben in einem Karpfenteich, dessen Hechte sich zum Vegetarismus bekennen. Vegetarianismus: Baltzer 1876 Vegetarianismus und Ästhetik (Titel); den. 1878 Vegetarianismus und Kultur (Titel); Monatsschr. (Nathusius) 3 (1880) 381 Der Vegetarianismus . . . ist in der That der folgerichtigste und radikalste Gegner des Vivisectionswesens . . . Beachtung verdient der Standpunkt des Fruchtessertums auf jeden Fall; Steudel 1887 Nihilismus 7 Pythagoras ist bekannt als der erste Repräsentant des Vegetarianismus im Altertum; Meinert 1880 Ernährungstheorie 143 Vegetarianismus; Hallier 1889 Kulturgesch. 462

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vegetativ

Vegetarianismus; Burdach 1924 (Mogk-Festschr. 247) Vegetarianismus [der Waldenser]; Hintze

I 1934 Geographie 323 Vegetarismus (von manchen \ auch als Vegetarianismus bezeichnet).

vegetativ Adj., seit frühem 18. Jh. nachgewiesen (vgl. älteres gleichbed. frz. végétatif und engl, vegetative), zurückgehend auf mlat. vegetativas 'das Wachstum der Pflanze fördernd' (OED), zunächst und später vereinzelt im lat. Syntagma anima vegetativa; a in der Bed. 'dem Wachstum der Pflanze dienlich, wachstumsfördernd' und 'das Wachstum der Pflanze betreffend; pflanzlich; pflanzenhaft (wuchernd)', auch in bildlicher Verwendung, speziell als Fachausdruck der Kunstgeschichte (vgl. —» vegetabilisch); b von daher seit frühem 19. Jh. auf den Menschen bezogen, (ab)wertend verwendet im Sinne von willenlos, unbewußt, ungeistig dahinlebend' und naturhaft, natürlich', im Bereich von Biologie und Medizin für nicht dem Willen unterliegend, nicht vom Willen gesteuert', in Syntagmen wie vegetatives Leben, vegetative Seite (des Menschen), vegetatives Nervensystem, im 20. Jh. in fachspr. Syntagmen wie vegetative Dystonie 'Störungen im (nicht vom Willen gesteuerten) Eingeweidenervensystem'. vegetativ a: Wolff 1719 Gedanken des menschl. Verstandes 140 Da sie nun die Anatomie der Pflanzen nicht verstunden, nenneten sie dasjenige, wovon diese Würckungen herührten, Animam vegetativam oder eine wachsend machende Seele; Chamherlan 1761 Weltreise (Übers.) 191 Das thierische und vegetative Leben ist auch einerley Veränderungen unterworfen; 1772 Frankf. gel. Anz. 169 Animam vegetativam; Musäus 1781 Physiognom. Reisen II 118 ist die Schwärmerey die erste vegetative Grundkraft aller Wirksamkeit und Thätigkeit des menschlichen Geistes; Reil 1811 Ges. kl. Sehr. 137 Vegetative Kraft, und das Produkt derselben, Pflanzenleben, ist eine Eigenschaft einer besonderen Materie, aus welcher die Pflanzen bestehen; Steffens 1821 Sehr. I 217 eine allmählich wachsende vegetative Decke; Burmeister 1843 Gesch. 320 vegetative oder Vegetationsorgane; Sendtner 1854 Veg'verh. Südhayems 606 von der vegetativen Sphäre der Pflanzengebilde; Hehn 1887 Italien 31 Reichthum an vegetativen Färbestoffen [in Italien]; Stephansky 1923 Wesen 72 Theorie der Anima vegetativa Stahls; Wais 1939 Grenzen 8 vegetatives Treiben von Typenmasken [in der Commedia dell' arte]; Stuttgarter Ztg. 24. 9. 1969 Aber neben der Abstraktion, die sich mit Farbkringeln (Bäume) und großen Kreisen (Sonnen) belegen läßt, gilt auch noch programmatisch das Wachsenlassen. Schilfige Strukturen, Vegetatives überhaupt, sind das Ergebnis; Offenhurger Tagebl. 17. 1. 1972 Buchholz reduziert Körperformen zu gewundenen, verknoteten Gliedmaßen, so läßt er halb figurative, halb vegetative Gebilde entstehen, die tänzerisch vor Horizonten sich verbinden; Main-Echo 18. 9. 1980 Garten- und

Brunnenplastiken, die vegetativen Formen nachempfunden sind; Mannh. Morgen 1. 10. 1980 läßt sich der Gegensatz zwischen den differenzierten vegetativen Formen und den offensichtlichen ruinenhaften Resten von Architektur noch eingermaßen verkraften, aber schon nicht mehr der Gegensatz zwischen den ineinander verschlungenen und verknoteten Großformen und der Tatsache, daß die kleinen Details wie aufgeklebt wirken und nicht „verarbeitet" sind. vegetativ b: Schubert 1814 Symbolik 115 Störung des vegetativen Lebens durch Onanie und andere Ausschweifungen; Hufeland 1822 Sympathie 54 jene die vegetative oder objective, diese die animalische oder subjective Sphäre nennen; ebd. 57 das Centraisystem der vegetativen Seite des Menschen . . . Die Bestimmung der vegetativen und objectiven Sphäre des Menschen ist, das Äussere aufzunehmen und zu organisiren, und ihre Functionen erscheinen als Assimilations-, Reproductions- und Ernährungsprocess; 1839 DVjS III 161 was man als die vegetative Seite des beseelten Wesens bezeichnen kann; Gutzkow 1860 Tauberer VIII 6 diese rein vegetativen, willenlosen, zuweilen bildschönen Jünglinge; Haeckel 1866 Generelle Morphologie I 125 die sogenannten „vegetativen" Kräfte der Ernährung und Fortpflanzung; Ranke 1868 Physiologie 243 Vegetative Gewebe; Schäffle 1875 Bau I 97 Die „vegetativen" Vorgänge des leiblich organischen Stoffwechsels; Hesse 1910 Rosshalde 70 Das war, neben dem Rausch des Zugreifens und schonungslosen Arbeitens, seit langem wohl sein tiefster und tröstlichster Genuss, diese milden Augenblicke müder Entspannung,

Vegetation ähnlich den ruhevoll vegetativen Dämmerzuständen zwischen Schlaf und Erwachen; 1913 Jahr 1913 355 vegetativem Nervensystem; Meinecke 1924 Idee 422 Auffassung der Geschichte als eines biologischen und vegetativen Prozesses; 1933 Melle-Festschr. 192 [Hübner] fasst die Romantik treffend als eine Reaktion der vegetativen, d.h. der primitiven Schichten der Seele gegen die Verstandeskultur auf; Höpker 1936 Rumänien 48 das fast prähistorisch vegetative Dahindämmern des altrumänischen Vorkriegsbauern; Hellpach 1939 Geopsyche 92 sogen, vegetative Nervensystem; 1940 Münchnerin 95 in der warmen, fast vegetativen Hinwendung zur Freundin; Münch. N. N. 3J4. 10. 1942 Seine [des slowakischen Volkes] Stärke liegt im Ursprünglich-Vegetativen, in einer Zone, die es Einflüssen von außen gegenüber weitgehend unangreifbar macht; ebd. 26. 6. 1943 Der Vorrang des primitiven, erdhaft-vegetativen Menschen in den Künsten der Tarnung liegt auf der Hand; Baden 1948 Sinn 77 Fortschritt, welcher den Menschen aus den Anfängen einer rein vegetativen

137

Existenz hinaufriss in die Technik und Spiritualität eines Daseins, welches selbst zum Kunstwerk wurde; NZ. (Basel) 20. 4. 1949 Während des Schlafs ist unser Bewusstsein ausgelöscht; dann arbeitet das vegetative Nervensystem; Armbruster 1952 Lux 40 [Täufling] blieb in seinem vegetativen Behagen; 1952 Soziologie 91 die modernen „Zivilisationskrankheiten", vor allem die Störungen des vegetativen Systems und die Neurosen jeder Art; Süddtsch. Ztg. 25. 4. 1958 Wie eine Untersuchung an der Gießener Klinik ergab, beträgt die Häufigkeit der „vegetativen Beschwerden" 25,5 Prozent, rund ein Viertel aller Kranken der Gießener Inneren Klinik äußerten solche unspezifischen Beschwerden; Offenburger Tagebl. 18. 6. 1959 Der Angeklagte, so formulierte es der Bericht, leide an einer totalen Zerrüttung des vegetativen Nervensystems; Mannh. Morgen 5. 6. 1981 Die vegetative Dystonie hat viele Namen. Sie ist auch unter den Begriffen „vegetative Labilität", „vegetative Regulationsstörungen" und „psychovegetatives Syndrom" bekannt.

Vegetation F. (-; fachspr. -en), seit Anfang 17. Jh. selten, seit späterem 18. Jh. kontinuierlich belegte Entlehnung aus (flekt. Form von) mlat. vegetatio 'Wachstumskraft' (OED), eigentlich Tselebende Bewegung' ( < lat. vegetatio "belebende Bewegung', zu vegetare, —» vegetieren), anfangs auch in der lat. (flekt.) Form; a in der Bed. Teben, Wachstum(-skraft), Entwicklung der Pflanze; üppiges Gedeihen', heute nur noch als Bestimmungswort zahlreicher fachspr. (Botanik, Anthropologie) Zss. wie Vegetationsorgan, -prozeß, -periode und Vegetationskult, -magie Verehrung des jahreszeitlichen Ablaufs in der Natur zur Förderung der Fruchtbarkeit' und gebucht als Fachausdruck der Medizin für ungesundes Wachstum; Wucherung'; b seit frühem 18. Jh. in der heute dominanten Bed. '(Gesamtheit des) Pflanzenbestand(s eines bestimmten Gebietes); Flora; üppiger Bewuchs', gelegentlich bildlich und übertragen verwendet; dazu die selten belegten adj. Ableitungen vegetationsfrei, -leer, -los ohne Bewuchs'; c im späten 18. Jh. vereinzelt nachgewiesen im Sinne einer Ableitung zu —» vegetieren in der Bed. pflanzenhaft unbewußtes Dahinleben'. Vegetation a: Porta 1612 Magia 45h [von den Lebewesen allgemein] Also, das ein Kraut mit einem vnvernüftigen Thier vberein trifft, in der Vegetatione oder wachsenden Krafft; Lebenivaldt 1681 Teufels List 7 22 Wann die Chur füruber muß das Eingepflanzte alsbald wider herauß genommen werden / damit die Vegetation dem Kranken keinen Schaden bringe; Reinhard 1767 Sehr. VII 1023 Da ich gewohnet bin, etliche hundert Bäume mit eigener Hand zu schneiden, und da ich durch die Erfahrung von verschiedenen Jahren und durch die Lesung guter Bücher von der Statik derer Pflanzen, die Gesetze ziemlich genau ken-

nen gelernet, nach welchen sich die Vegetation richtet; Bonnet 1783 Natur (Übers.) I 213 Vegetation der Pflanzen; 1784 Journal v. u. f. Deutschland I 225 Sonst scheint die Erde hier alle Kräfte für die Vegetation aufgeboten zu haben; 1797 Archiv Physiologie II 281 Von der Vegetationskraft. Man nennt diese Kraft auch bindende, plastische Kraft. Diese Art von organischer Kraft verdient vor allen übrigen den ausgezeichneten Namen, organische Kraft; 1797 Neues Hannöver. Magazin 1085 Würkungen der . . . Düngerarten zu Beförderung der Vegetation; Fülleborn 1802 Rhetorik 35 Vegetation, Pflanzenleben; Arndt

138

Vegetation

1803 Germanien 74 Vegetation des Könnens und Geniessens; Rumford 1805 Kl. Sehr. IV 2, 380 Blätter, welche todt waren, oder bei welchen man alle Vegetationskräfte völlig zerstört sah; 1808 Reils Beyträge I 39 durch asthenische Vegetationen blühen mächtige Geister auf; 1816 ZfForstw. IV 33 Anm. Vegetationsgränze der Bergrose; Hundeshagen 1842 Forstwiss. I 55 der für jedes Gewächs bestehenden Vegetations-Zonen und Regionen; Schnitzlein u. Frickhinger 1848 Vegetat'Verh. Warnitz Altmühl 1 Vegetations-Verhältnisse; Liebig 1862 Feldbau 29 des zweiten Vegetationsjahres [der Rübenpflanzen]; ebd. 43 Vegetationszeit der Rübenpflanze; Haeckel 1866 Generelle Morphologie I 225 den wesentlichen Character der besonderen pflanzlichen Lebensthätigkeit, des eigenthümlichen „Vegetationsprocesses" ; Berlepsch 1875 Schweizerkunde 438 in der vegetationsarmen Jahreszeit; Drude 1876 Die Anwendung physiologischer Gesetze zur Erklärung der Vegetationslinien (Titel); 1876 Geograph. Jahrbuch 284 oceanische Vegetations-Centren; 1889 ZDöAlpenv. 103 Das Verhältniss der Firn- und Vegetationsgrenzen vor Allem ist weit von dem Parallelismus entfernt, den man denselben gelegentlich noch zuschreibt; ehd. 1905 (48) Glücklicherweise ist die Vegetationskraft der Bäumchen stark genug, daß die oberen Teile trotz aller Verstümmelungen weiterwachsen und schließlich eine Höhe erlangen, die für das Weidevieh unerreichbar ist; Nilsson 1911 Primitive Religion 31 Vegetationsmagie; Wundt 1917. VPs. VII 107 Vegetationskulten; Schindler 1934 Getreidearten 5 ein genaues Studium der Vegetationsfaktoren ihrer [der Getreidearten] Urheimat; M.-A. Ahendztg. 29. 3. 1945 Im Schatten des Kellerlochs konnte das Auxin die Zellen so lange strecken und immer wieder zur Neubildung reizen, bis eben die „Vegetationsspitze", in der der Wachstumswirkstoff gebildet wird, an das Licht gelangt ist; Siiddtsch. Ztg. 9. 3. 1951 Im Sozialpolitischen Ausschuß brach der Abgeordnete Martin Loos eine Lanze für die Armen und sagte: „Wir müssen allen helfen, die unter der Vegetationsgrenze liegen!" Die Pflänzlein im Gebirge werden sich freuen. Vegetation b: Fleming 1719 Immerwährender Jäger-Calender 358 Vegetatio der Erden. Kräuter und Bäume; Lavater 1770 Ansichten I 289 sterbende Vegetation; Matthisson 1802 Evian V 388 Die Vegetation erscheint auf dem savoyischen Seeufer in auffallend höherm Grade kräftiger und reicher, als auf dem helvetischen; Rehfues 1809 Br. a. Italien I 132 Diese Vegetazion wird immer üppiger, je näher man dem Gebirge, und je weiter man von Lavenza aus an demselben emporkommt; ebd. II 203 Die vortrefflichste Milch war heute

unser Frühstück. Die ganz eigene Vegetation der Insel giebt ihr einen Wohlgeschmack; Hussell 1813 Leipzig (Ndr. 1896) 6 die Spur einer kümmerlichen Vegetation; Gentz 1816 Br. an Pilat I 217 Das Land ist . . . reizend schön, die Vegetation reich und mannigfaltig; Steffens 1817 gegenwärtige Zeit I 142 einer gluthvollen, bunten, fast märchenhaften Vegetation; Carus 1831 Landschaftsmalerei 124 Wie bedeutungsvoll ist nicht die Art der Vegetation für den Charakter der Gegend; Pückler-Muskau 1834 Tutti II 250 Die Straße dahin führt fast durchgängig durch Wald, aber welch' ein Wald! welche Vegetation!; Carus 1835 Reise 1147 Vegetation auf der grauen Kalkmauer; Gödeke 1841 Novellen 1 in der reizenden, üppigen Vegetation; Carus 1845 England u. Schottland I 216 Einen hübschen Begriff von der Pracht südamerikanischer Vegetation gab ein im Saale aufgehangener Stamm eines brasilianischen Baum-artigen Farrenkrautes; Gerstäcker 1848 Flußpiraten I 162 der riesen mäßigen Vegetation; Normann um 1850 (Erinn.) 45 Unser Land ist schon rauh, aber das hiesige noch viel rauher. Man sieht oder bemerkt noch keine Zeichen von Vegetation; Sendtner 1854 Veg' verh. Südbayerns 4 Vegetationsformen (Wald, Wiese, Moor); Moltke 1856 Wanderbuch (Paris) 197 Die großen Kalksteinplatten lagen oft so dicht, daß kaum eine Vegetation dazwischen Platz fand, und steile, schmale Fußwege führten die Thäler hinab; 1857 Hausblätter IV 233 üppigsten tropischen Vegetation; Schleiden 1857 Studien 3 die öde und vegetationsleere Landebene; Dittmann 1858 Landw. I 223 Die mehr oder minder günstige Einwirkung der Atmosphäre auf die Vegetation hängt, außer andern Stoffen, welche der Dunstkreis enthält, hauptsächlich von der Vertheilung der Wärme und Feuchtigkeit ab, die das Klima bilden . . . Die Bodenbeschaffenheit hat freilich einen wesentlichen Einfluß auf die Vegetation, jedoch wird die Quantität und Qualität der vegetabilischen Erzeugnisse in allen Gegenden unsers Erdballs wesentlich durch das Klima bedingt; Rodenberg 1860 Insel d. Heiligen 1102 hohen Felswand mit einer dünnen Erd- und noch dünneren Vegetationsschicht; Dincklage 1870 Gesch. I 105 dieselben Gegenstände, die mir vor kaum acht Tagen noch wie die letzten verzweiflungsvollen Gaben einer sterbenden Vegetation und Cultur vorkamen; Hillebrand 1876 England 188 Der Adel der Gesinnung ist aber noch immer der Boden, auf dem diese ganze moralische Vegetation, selbst die wunderlichste, sproßt; 1889 Landes- u. Volksforschung 225 natürliche Vegetationsdecke; 1885 Landwirtschaft in Oberbayern 4 dass von den chemischen und . . . physikalischen Eigenschaften des Bodens oder der Vegetationserde . . . der

vegetieren

spülen; Lokal-Anz. 22. 4. 1934 Das Land steigt an, in der Mitte wild zerklüftet, in vegetationslosen, zerissenen Bergkuppen bis zu 2500 Meter Höhe; Dtsch. AZ. 4. 9. 1935 Sie gibt einen Ueberblick über die Verteilung der 29 Vegetationsgebiete Deutschlands; Hausenstein 1951 Wanderungen 60 die so subtil gerankte wie schlichte Vegetation des Geländers im Stiegenhause; ders. 1964 Reisetagebuch 261 jenes entzückende Italien, das nicht so sehr ein Staat als ein Volk ist — eine blumige Vegetation aus Volk und Kunst, unergriffen vom Allerweltsdrang einer technischen und uniformen Epoche, wohl aber ergriffen von einer „Traviata" die eben gespielt wird.

Bestand und das Gedeihen der Pflanzen . . . beeinflußt wird; 1890 Landwirtschaft in Bayern 69 die Pflanzen- oder Vegetationserde, meist auch schlechthin Boden genannt; Lubliner 1896 Riviera 73 Genügt schon die Vegetation, die hier an der Mittelmeerküste heimisch ist, um den Verwöhntesten zu befriedigen; Brandt 1901 Ost-Asien I 267 Man würde vielleicht nicht unrecht thun, Bangkok als eine Tempelstadt zu bezeichnen, wenigstens ragen überall am Flußufer aus der dichten Vegetation die Dächer und Türme neuer und alter, mehr oder weniger gut oder schlecht erhaltener Tempel empor; Schmitz 1914 Land 242 vegetationslose Abhänge; 1916 Franzosen 153 so könnte doch auch der reichlichste Regen nur dann befruchtend wirken, wenn er die Keime der Vegetation wieder anschwemmt, statt sie in zu jähem Sturze wegzu-

vegetieren vegetare

V.

intrans.,

139

Vegetation c: Schubart 1780 Originalen 35 Vegetation, nicht Leben, ist's, wie wir leben.

seit s p ä t e r e m

18. J h .

belegte E n t l e h n u n g

Tiegen, n ä h r e n , stärken, erfrischen, e r q u i c k e n ' ( < lat. vegetare

u n d geistig in B e w e g u n g s e t z e n ,

beleben,

ermuntern,

intrans.) lebhaft, munter sein' und (V. trans.)

erregen',

aus

mlat.

^körperlich

z u vegere

(V.

e r r e g e n , in B e w e g u n g s e t z e n ' ) ; i m

f r ü h e n 1 8 . J h . vereinzelt ( S P E R A N D E R ) g e b u c h t als V . t r a n s . für

erfrischen,

s t ä r k e n , kräftig m a c h e n , e r q u i c k e n ' ; auf M e n s c h e n b e z o g e n (infolge d e r U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n geistiger u n d b l o ß n a t u r h a f t - k ö r p e r l i c h e r E x i s t e n z des M e n s c h e n ) in d e r B e d . '(dahin-)leben w i e eine P f l a n z e , o h n e B e w u ß t s e i n , o h n e S t e u e r u n g d u r c h den Intellekt',

gelegentlich p o s i t i v k o n n o t i e r t

für

ohne

(geistige,

körperliche)

A n s t r e n g u n g in d e n T a g h i n e i n l e b e n ; s o r g l o s u n d heiter dahinleben', m e i s t j e d o c h negativ in d e r h e u t e d o m i n a n t e n B e d .

m e c h a n i s c h , u n b e w u ß t , d u m p f , ungeistig,

s t u m p f s i n n i g , n u r k ö r p e r l i c h e F u n k t i o n e n erfüllend d a h i n l e b e n ' u n d , b e z o g e n auf die finanzielle, soziale Situation v o n M e n s c h e n (auch gesellschaftlichen G r u p p e n , Staaten u n d I n s t i t u t i o n e n ) ,

a m R a n d e des R u i n s , i m E l e n d l e b e n ; sich k ü m m e r l i c h

d u r c h b r i n g e n , ein k ü m m e r l i c h e s D a s e i n fristen; d a h i n s i e c h e n ' ; d a f ü r seit s p ä t e m 18. J h . die P r ä f i x b i l d u n g e n f o r t - , w e g - , h i n v e g e t i e r e n , i m 2 0 . J h . z u n e h m e n d u n d heute nur noch

dahinvegetieren.

vegetieren: Lessing 1764 Br. I 213 vegetirt; Herder-Nicolai 1768 Briefw. 27 [Edelmann] hat seit 1754 auf Kosten seiner Anhänger vegetirt; Goethe 1778 Tagebücher I 64 blos vegetirt, still und rein; Musäus 1781 Physiognom. Reisen 1 26 und ich erkannte immer gewisser, dass der Mensch weder gemacht ist, bloss zu vegetiren, wie die Pflanze, noch zum Fressen und Verkäuen wie die Heuschrecke, noch für den Gattungstrieb allein zu leben, wie der Seidenschmetterling; ebd. II 21 Dacht' nicht, dass der Trieb [Liebe], der so lang in mir verborgen schlief, nun erst anfangen werd' zu vegetiren, und dass ich so spät noch effloresciren sollt wie ein Aloe; ebd. 157 wie exoterische Pflanzen im Gewächshaus vegetirt; Sturz 1782

Sehr. II 77 unterdessen, dass ich unter dem Gedränge nichtsbedeutender Sterblichen eine Weile vegetire; Matthisson 1788 Mayenne II 207 Kaum war der Gipfel der Höhe mir im Rücken, als eine Wüste sich aufthat, wo nur Schneeflächen . . . unabsehbar hingelagert waren, und wo alles vegetirende Leben, wie an den Gränzen eines Chaos, zu ersterben schien; Campe 1789 (Rousseau, Emil (Ubers.) I 80 Anm.) Das blosse Athmen, Essen, Trinken, Verdauen, Schlafen usw. sollte von Weltweisen gar nicht einmal leben, sondern vegetiren genannt werden, weil wir dies alles mit den Pflanzen gewissermassen gemein haben; Forster 1791 Ansichten IX 307 aus jenem vegetirenden Leben erwachen; Heinzmann 1792

140

vegetieren

Feyerstunden d. Geschäftsmannes 571 [Wer in seiner Jugend ausschweifend gelebt hat] versiecht . . . den Rest der Tage, nur vegetiret an statt zu leben; Laukhard 1792 Leben I 87 [unbedeutende Professoren zu Gießen] die sehr selten ein Kollegium zu Stande brachten, und gänzlich im Dunkeln vegetirten; Wieland 1797 (Böttiger, Literar. Zustände II 167) herrliches Wetter für alles, was vegetiret; Foote 1798 Industrieritter (Übers.) IV 124 Was? Vegetieren, wie ein Paar Pflanzen?; Reil 1803 Rhapsodien 49 und die Natur vegetirt (wechselt den Stoff), wenn sie wirkt, ändert also durch ihre Thätigkeiten die Qualität und Quantität der Kräfte ab; Koch-Sternfeld 180} Nahrung 323 Der berühmte Tempel der Leckerey in der Strasse St. Honoré, der von allen Enden der Welt her, mit Allem, was in der Luft, auf der Erde und im Wasser fleugt, kreucht, läuft, vegetirt und schwimmt, ausgestreuet wird; Ritter 1810 Fragm. II 177 Es ist ein schöner Ausdruck: blos vegetiren. Es ist die Vegetation, zu der wir der Boden sind. Animalisiren ist mehr. Hier Ideen, Anschauungen, „Thiere". Beym Vegetiren verhalten wir uns zu unserer Production, wie die Erde zu den Pflanzen; im Animalisiren verhalten wir uns, wie die Erde + Vegetation zu den Thieren; 1811 Steiermark (Zfösterr. VK 12 (1906) 123) es [das Volk i. d. Steiermark] findet sein grösstes Glück in einem behaglichen Vegetieren und kümmert sich um nichts in der Welt als um seinen eigenen Herd; Pockels 1813 Gesellschaft I 383 Das schöne Geschlecht vegetirte gar vollends im . . . Müssiggange und in üppigen Zeitvertreiben; Steffens 1819 Caricaturen I 451 die bekannten Zeilen von Goethe . . . Denn bei uns, was vegetiret, / Alles keimt getrocknet auf; Schottky 1834 Alpenwelt 5 von allen Hirten verwünschten Felsenstrecken, wo alles vegetirende Leben wie an den Marken eines Chaos zu ersterben scheint; Diesterweg 1836 Lebensfrage III 29 Die deutsche Nation in voller Reinheit der Gesinnung ist nicht zur Leiche erstarrt; der Puls geht zwar langsam, aber das Herz schlägt noch, und wenn frische Lebensluft sie anhaucht, wird sie ihren vegetirenden Zustand verlassen und aus dem Winterschlafe zu neuem Leben erstehen; Piickler 1840 Bildersaal I 340 die kleine Provinz in der wir, unbekannt und wenig kennend vegetiren; Steinmann 1843 Mefistofeles III 236 das Goethische Individuum war blos noch ein menschlich-vegetirendes, aber nicht mehr ein menschlich-lebendes; Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. 1138 Ein wenig Mundvorrath wird ausgepackt und auf den Teppich ausgebreitet; und so vegetirt man da draussen den halben Tag; 1844 Urania 7f. In jenem ihr eignen, halb gedankenlosen Vegetiren nahm sie auch die Ehre hin, die Führerin des Zuges [kleiner Gondeln] zu sein; ebd. 21 waren

freilich beide Naturen darin verschieden, dass Waldemar nicht so gedankenlos vegetirte wie Idaline. Sein Gemüth athmete Wohlwollen; Gutzkow 1845 Reiseeindr. X 160 In Kaffeehäusern und Restaurationen ergeht man sich frei und behaglich. Uberhaupt ist für ein heiteres Vegetiren gesorgt; Marbach 1848 Wiedergeburt 45 Italien vegetirte [vom 16. Jh. an], nachdem mit der geistlichen Universalmonarchie gleichzeitig seine blühende Handelsaristokratie verwelkt waren; Raumer 1849 Br. Frankf.-Paris I 221 [Rechts-, Linksparteien] Vegetiren oder zappeln und strampeln sie nicht in der Sonnenferne von dem belebenden Herzschlag der rechten Mitte?; Scheffel 1849 Br. a. Eggers 73 jetzt, wo ich immer noch verstimmt in der Gegenwart vegetiere und nur aus alten Erinnerungen frisch Lebenskraft schöpfe; Sendtner 1854 Veg' verh. Südbayerns 579 Nur Krüppel vegetiren noch da, wo einst der Baum zu staatlichem Wüchse gelangte; Rosen 1879 Bulgar. Volksdichtungen 19 dass die Erhaltung der alterthümlichen Ideenwelt in dem Volke eine Folge der geistigen Stagnation sei, in welcher es vegetirt; Falke 1897 Sie war reizend 27 und der verachtete die Frauen, die nur so hinvegetieren, und sie wollte nicht vegetieren, und die Philosophie wäre doch etwas so Schönes; Hensel 1903 Lebensbild 312 [eine 90jähr. Greisin] hat noch 10 Jahre lang gelebt, eigentlich nur noch vegetiert, denn ihre Kraft war gebrochen; Blüthgen 1907 Spiritisten 404 vegetiert völlig verblödet; 1916 Schwed. Stimmen 201 zu einem Leben, das etwas anderes bedeutet als nur das Vegetieren des Körpers; Dessauer 1922 Auslandsrätsel 68 Dort [in Amerika] vegetieren die Arbeiter nicht bloss, sie leben. Das heisst, sie haben nicht nur des Lebens Notdurft bei Hingabe ihrer Körperkraft und Geschicklichkeit; Voss. Ztg. 2. 11. 1926 Der § 35 hat sich in seiner Wirkung so entwickelt, daß er den kleinen Ländern, die ihre finanzielle Selbständigkeit nicht bewiesen haben, das weitere Vegetieren ermöglicht; 1927 Sittengesch. d. Hafens 79 der hier [am Hafen von Rosario] vegetierende Menschheitsabhub; Finckh 1930 Urlaub 209 Es war alles [im Sanatorium] auf Vergessen und Naturerleben abgestimmt, auf ein Vegetieren und Nichtsdenken, das auf diese vom Leben überspannte Menschen erlösend wirken mußte; Loon 1930 Mensch (Ubers.) 113 jene Wenigen, welche den Mut haben, etwas zu wagen und ein gefährliches, aber interessantes Leben dem gefahrlosen Vegetieren des Spiessers vorziehen; Voss. Ztg. 10. 12. 1930 Wir wissen alle, daß Autostraßen nötig sind; daß brave grüne Idyllen vernichtet werden müssen, wollen wir nicht in einem Naturschutzmuseum vegetieren; Freska 1931 Sommer 9 „Vegetieren ist kein Leben!" hieß ihr Leitsatz; Lerchenfeld-Köfering 1935 Erinn. 174 [Ludwig II.]

vegetieren Verfall aller geistigen Kräfte und . . . jammervolles Vegetieren; Aich 1937 Im Dienste 20 in abgestumpftem, todesähnlichen Vegetieren; Münch. Ztg. 5.16. 2. 1938 In seinem Schlußwort weist der Herausgeber . . . darauf hin, daß die wirtschaftliche Lage aller privaten Publikationen zum Vegetieren oder zum Sterben führt . . . Das melancholische Abschiedswort Dezarrois: „Wir wollen nicht vegetieren" wird wohl nicht allein dastehen; Dietz 1939 Gesellschaft 270 Sie alle wollten arbeiten, aber nicht fronen, sie wollten leben, aber nicht vegetieren; Süddtsch. Ztg. 28. 12. 1948 bei uns das vegetierende Leben, das den Funken zwar enthält, aber nicht zum Brennen bringt; diese zweite Form ist nicht gleichbedeutend mit dem Tod und ist trotzdem eine Art Auflösung, ein Verlöschen der wirklich lebendigen Kräfte, ein Nachlassen der psychischen Anregungen und ein tatsächlicher Mangel im Blutkreislauf; Hiller 1950 Köpfe 273 Vegetieren heisst nicht leben; man versucht, zu leben und zu überleben mittels der Magie des Ziels; Süddtsch. Ztg. 13. 12. 1952 Es gibt eine Armut, die den Menschen in ein vegetierendes Lebewesen verwandelt, das sich unseren Blicken entziehen will; Molo 1952 an Heuss o. S. Träger von weithin bekannten Namen vegetieren und sterben in den traurigsten Verhältnissen, in grenzenlosem innerem und äußerem Elend, lassen die Ihren in größter Not unversorgt zurück; Mannh. Morgen 23. 10. 1980 in 25 Lagern vegetieren 750000 Menschen. dahinvegetieren: Görres 1798 Frieden I 21 das ganze Menschengeschlecht im Zustande der Anarchie dahin vegetirt; Windelband 1878 (Präludien I 248) So wurde sein [Hölderlins] Dasein immer schattenhafter, er vegetierte nur noch dahin; Frankf. Ztg. 22. 10. 1927 Ein materiell dahinvegetierender Beamtenstand bedeutet nicht nur eine Gefährdung des Beamtennachwuchses . . . sondern ganz unmittelbar auch eine solche für die Leistungen des einzelnen wie für die Unantastbarkeit dessen, was man Zuverlässigkeit, Beamtentreue oder sonstwie nennen mag; NZ. (Basel) 7. 3. 1950 und wir haben es uns abgewöhnt, noch auf eine Bundeshilfe zu warten. Wir vegetieren halt so dahin, bis wir nicht mehr können; Marcuse 1951 Heine 84 In Göttingen lernte er die Universität kennen, die inselhaft dahinvegetiert; zeitunabhängig; eine lebendige Satire; Offenhurger Tagehl. 2. 6. 1962 Im Rahmen der Aufgabe, das Kind von jedem Zwang zu befreien, es aus dunklen Wohnräumen herauszuholen, vor dem Dahinvegetieren in sonnenlosen Hinterhöfen zu bewahren . . . werden heute pädagogische und sozialhygienische Gedanken verwirklicht, die sich unmittelbar in der Anlage moderner Spielplätze niederschlagen; Re-

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vue 2. 12. 1962 Sie kennen die Scheidungsziffern und die Zahl der trostlos dahinvegetierenden Ehen. Trotzdem wollen sie heiraten; Süddtsch. Ztg. 11. 5. 1963 Sie [die Wissenschaftler] bemühen sich darum, daß die Welt von morgen allen Völkern und allen Menschen ausreichende Existenzbedingungen bietet. Sie arbeiten dafür, daß Hunger und Seuchen eingedämmt werden, daß nicht mehr die Bewohner ganzer Länder angesichts der Not, von der sie bedrückt sind, in dumpfer Verzweiflung und Unwissenheit dahinvegetieren und daß schließlich jeder Mensch teilhaben kann am Uberfluß, an der Schönheit und am Reichtum unserer Erde; Stuttgarter Ztg. 4. 2. 1963 Das Geschehen an der Börse an den vergangenen fünf Tagen läßt sich wohl am treffendsten mit dem Ausdruck beschreiben, daß das Aktiengeschäft eine weitere Woche „dahinvegetierte"; Die Zeit 27. 3. 1981 Die Sprache, die da bisweilen so verhuscht, verniedlichend, manchmal auch schwer verständlich erklingt, mit dazwischengeschobenen Abzählversen und Liedern von Kindern, die direkt vor dem Kellerfenster des in Vergessenheit dahinvegetierenden Vaters fröhlich lärmen, ist das Indiz eines Geheimnisses, das sich offenbar in einem unmittelbar eingesetzten Gegenwartsdeutsch gar nicht aussprechen ließe. fortvegetieren: Schummel 1779 Spitzhart 105 Dieser alte, elende Stuppani war der geistige Direktor des grossen Stadtgymnasiums; ein steinalter Mann aus dem vorigen Jahrhunderte und nicht minder steinhart, der allen Wünschen seines Todes zum Possen immer ein Jahr nach dem andern fortlebte, oder eigentlicher zu reden fortvegetirte; Laukhard 1794 Feldzug III 21 bey heiler Haut mechanisch fortvegetiren; Niehuhr 1808 Br. 1484 Ohne ein Wunder kann unser Land auch nicht einmal fortvegetieren; Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. I 131 [Thronfolger] ohne Kenntniss von Menschen, Dingen und Verhältnissen, ganz bereit auf dem Thron zu vegetiren, so wie die übrigen Prinzen im Käfig bis zum Ende ihres Lebens fortvegetiren; Schwarzenberg 1844 W. 1110 eines . . . in einer engherzigen Beamtenund Krämerwelt mühsam fortvegetirenden und sich darin repräsentirenden National-Lebens; Spielhagen vor 1873 (Schmidt, Bilder III 202) Wäre es nicht besser, Du machtest . . . ein schnelles Ende, als dass Du Dir zur Qual . . . die Bürde des Lebens weiter schleppst? willst Du denn fortvegetiren, bis Dir jede Illusion zerstört ist?; Kürnberger 1876 Haustyrann 42 scheuen Gemüthsmenschen, welchen es just recht ist, wenn man sie einsam und vergessen in irgend einem Winkel fortvegetiren läßt, in einem lebendigen Grabe, wohin sonst keine Christenseele mag;

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vehement

Winterfeld um 1880 E. 37 auf einem schmalen Giebelgebäude . . . vor welchem ein verkrüppelter Baum sein sieches Dasein fortvegetirte; Schlosser 1937 Magistra 8 In Italien ist . . . das einst mit so viel Eifer als eigentliche Bildungssprache gepflegte Griechisch fast ganz erloschen, allenfalls bis auf seinen südlichsten Teil, die alte Magna Graecia, wo es selbst heute noch als autochtone Volksmundart fortvegetiert. hin vegetieren: Hillebrand 1876 England 347 Rousseaus Natursinn und seine Leidenschaft sind die des Hirten, der sein Leben hinvegetirt; Holz 1884 Br. 60 wie oft ich wochenlang wie ein „stumpfsinniges Tier" (Zola) gedankenlos hinvegetiere; Falke 1897 Sie war reizend 27 und der

verachtete die Frauen, die nur so hinvegetieren, und sie wollte nicht vegetieren, und die Philosophie wäre doch etwas so Schönes; Alfieri 1924 Leben (Übers.) 163f. Da ich nun in diesem untätigen Jünglingsdasein hinvegetierte, fast ohne je einen Augenblick zu haben, der mein war, ohne ein Buch . . . aufzuschlagen. weg vegetieren: Zimmermann 1784 Einsamkeit II 232 Nichts hilft in diesem Zustand als Kühlung und Ruhe, und zu dieser Ruhe wird man gelangen, wenn man sich bestrebt seine Seele auf eine einzige einfache Idee einzuschränken, und dann mit dieser wegvegetirt so gut man kann, bis sich der Sturm legt.

vehement Adj., Anfang 18. Jh. wohl im Sinne einer Ableitung zu —» Vehemenz aufgekommen, eventuell über gleichbed. frz. véhément zurückgehend auf gleichbed. lat. vehemens; in der Bed. ungestüm, heftig, stürmisch; leidenschaftlich', meist auf Menschen bezogen, häufig adv. verwendet. Chilemont 1702 Kriegs- u. Staatsrat I 219 aus vehementen Begierden; 1709 Neue Bibliothek I 50 werde sich von seiner versprochenen Republica Mosaica nicht abschrecken lassen / ob schon Mr. Fay ihme auch diesertwegen / zum Voraus eine vehemente refutation drohet; 1718 Sejour 64 die motion ist allzu vehement, wenn ich fechte / tantze und reite auff einen Tag (BRUNT); Fleming 1726 Soldat 25 wenn die Motion allzu vehement; 1730 (Archiv f . Kulturgesch. 5 (1907) 54) mit grosser Gefahr, weil der wind sehr vehement wäre; Weißbach 1732 Kur 100 Wenn . . . sie mit tiefer vehementen bewegung dennoch anhält / so vermehrt sich dadurch der Zufluß auf der brüst gern; Woyt 1748 Pamassus II 60 von einem vehementen winde; Joh. G. Mueller 1798 Briefw. 154 vehemente; Seume 1803 Spaziergang (3) 78 vehement; Niendorf 1854 Paris 96 [Kabylen] hoch, schlank, etwas Vehementes, doch sehr Geschmeidiges in der Bewegung; Gisbert 1879 Zeit-Arabesken 33 vehement; Bahr 1893 Neben der Liebe 61 und das vorreife zerbrechliche Püppchen den vehementen Begierden des ungestümen Lebemannes überliefert; Wassermann 1910 Masken 36 Die ganze Erscheinung hatte etwas vehement Überzeugendes; Bahr 1917 Schwarzgelb 37 vehement; Müller 1920 Servus 56 Nur so ist das . . . Erfassen der Massensuggestion der Geister zu erleben, wenn sie auf so vehement, geistvoll blödsinnige Art vorgequarkelt wird, wie durch mich; Lokal-Anz. 1. 3. 1933 ein vehement koloristisches Stilleben von Arnold Bode; NZ. (Basel) 16. 1. 1950 Auch heute erheben deutsche Nationa-

listen wiederum vehement ihre Stimme, beanspruchen die Saar als deutsches Gebiet und verlangen eine Volksabstimmung; ebd. 19. 4. 1950 Und doch dünkt mich, dass er [der Frühling] noch nie so schön, so lang und so vehement in allen Farben jubilierte, wie gerade dieses Jahr; Weizsäcker 1950 Erinn. 209 [Hitler] kümmerte sich eigentlich nur noch um militärische und auswärtige Fragen, um diese aber vehement; Heuss 1951 Qualität 41 vehemente Aufsätze geschrieben; Kofier 1962 Theorie 21 die vehemente und oft ins extrem Revolutionäre gehende gesellschaftliche Kritik; Stuttgarter Ztg. 21. 5. 1968 Veit Relin hat sich 1961 im Wiener Ateliertheater vehement für das Stück engagiert; Bad. Ztg. 2. 12. 1970 Die Erfolge bei den Landtagswahlen haben das nach der Bundestagswahl vehement vorhandene Gefühl für die Notwendigkeit einer Parteirefonti zurücktreten lassen; Frankf. Ztg. 11. 12. 1970 Eine Gewerkschaft, die an diesem Punkte ihre Opposition zu vehement betreibt, kann sich nur zu leicht in den Verdacht bringen, unter Umständen die Sicherung der Organisation vor die Sicherung individueller Freiheiten zu setzen; Die Zeit 10. 10. 1980 Person und Politik von Strauß wurden von der Mehrheit vehement abgelehnt; ebd. 17. 10. 1980 nach einem Wahlkampf, den gerade die Opposition . . . mit vehementen Attacken gegen die Staatsverschuldung und mangelnde öffentliche Bescheidung bestritten hat; ebd. 1. 1. 1982 Die vehemente Grundsatz-Opposition, die der Union gern aus Bayern abverlangt wird.

Vehemenz - Vehikel

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Vehemenz F. (-; ohne PL), im frühen 17. Jh. entlehnt aus gleichbed. lat. vehementia (zu vehemens, —> vehement); in der Bed. Heftigkeit, Ungestüm; Schwung, Elan, Eifer; Leidenschaftlichkeit', häufig im Syntagma mit Vehemenz (etwas tun). Wallhausen 1617 Corpus militare 190 wo fern diese wort geredt werden / mit einer anmüthigen gunst / vnd herben lockender gratia, vnd mit einer süssen Vehemenz vnd erbarer grauitet gemacht; Olearius 1647 Reisebeschr. (NL XXVIII 245 10—14) wenn nicht durch sonderbares Glück das Seil, so noch ziemlich lang am Schiffe geblieben, in solcher Vehementz sich um einen grossen auß dem Wasser herfür ragenden Stein so feste geschlungen und behangen blieben wäre, daß mans auch mit grosser Mühe kaum wieder aufflösen kunnte; Hirsch 1662 Kirchers Musurgia 133 Cholerici lieben heftige Harmony/ / wegen der Vehementz ihrer aufschwallenden Gallen; ebd. 184 fangt an zu tantzen und zu springen / mit solcher Vehementz / dasz jhn niemand halten können; Schorer 1663 Arznei d. Reisenden 56 unverhofft / und mit einer Vehemenz geschehen; 1709 Neue Bibliothek II 147 wird mit erschrecklicher Vehemenz und einer privat-Personen gegen hohe Häupter allerdings nicht zustehender Leichtfertigkeit . . . geredet; Lümg 1720 Theat. Ceremoniale II 1294h Als nun solches eine Weile gewehret, fieng endl. das Schiff an fortzugehen, und lieff auf einmahl auf den mit Seiffen glatt gemachten Bohlen hinunter in das Wasser, und zwar mit solcher Vehemenz, daß die Bohlen davon zu rauchen anfiengen, und das Wasser durch die Gewalt der aufwallenden Wellen, alle in dem Hafen herum liegende grosse und kleine Schiffe bewegete; Weißbach 1732 Kur 44 da sie das Geblüt mit ziemlicher vehementz dem Haupt zutreibet; Lebrun 1824 Fledermäuse (Jahrbuch D. Bühnenspiele IV 41) Hat er mir doch die Hand mit einer Vehemenz zerdrückt, als ob ich der Gegenstand seiner Flamme wäre; BurckhardtHeyse 1858 Briefw. 63 ein Fieber mit solcher Vehemenz, dass ich es . . . noch in allen Gliedern spüre; Hohenlohe-Ingelfingen 1864—70 Leben III 49 mit Vehemenz den Abhang herunter; Fontane 1887 Br. II 158 die Krankheit, Blinddarmentzündung trat mit ungestümer Vehemenz auf; Polko 1895 Hell ». Dunkel 268 er warf sich plötzlich mit Vehemenz auf die Botanik; Fontane 1898 Zwanzig 382 mit einer wirklichen Vehemenz geschildert; Sternheim 1915 Scharmante 73 [Die Frau soll] Mit

Vehemenz unerbittlich auf ihn [den betrügerischen Ehemann] einstürmen; Schlichter 1931 Zwischenwelt 95 so brach bei ihm plötzlich mit Vehemenz das heiße Verlangen nach der reinen Luft regennasser Wälder durch; Schoepflin 1931 gesund 219 Mit erneuter Vehemenz trommelt unsere ganze Artillerie auf die feindliche Stellung; Volk. Beob. 13. 10. 1936 Innitzer wandte sich bei seiner Ansprache . . . scharf gegen den Bolschewismus, der einen Gottlosenfeldzug begonnen habe, bei dem er mit unheimlicher Vehemenz zu Werke gehe; Münch. N. N. 4. 11. 1940 mit musikalischer „Vehemenz"; ebd. 30. 1. 1941 [Schauspielerin] Sie stürzt sich mit einer Vehemenz in das Spiel; Lipp! 1944 Schloß 138 die Liebe zu Gerda . . . mit aller Vehemenz ausgebrochen; Gläser 1946 Unvergängliche 79 das Rauschen eines gewaltigen Vogels [Flugzeugs], der sich mit einer Vehemenz ohnegleichen . . . näherte; Süddtsch. Ztg. 20. 8. 1957 Die allzu plakathafte Vehemenz des Brechtschen Pazifismus; Stuttgarter Ztg. 23. 2. 1959 Tatsächlich waren, kaum daß die „Solfonn" ihre Vehemenz gedrosselt hatte, aus dem Nebel Hilferufe zu vernehmen; Süddtsch. Ztg. 24. 8. 1960 Die Zensoren werden sicher bald größeren Ärger bekommen, denn indische Filmliebespaare werden sich in einigen Jahren mit Vehemenz küssen; ebd. 17. 9. 1960 „Mit größter Vehemenz" bemüht sich das Bundeswirtschaftsministerium jetzt um den Abbau der Umsatzausgleichssteuer; ebd. 21. 3. 1962 Wie anders Wilhelm Backhaus! Ihm steht, bei aller Gegenwärtigkeit des revolutionären Impulses, seiner Vehemenz und seiner Sprengkraft, immer das Gesetz vor Augen; Stuttgarter Ztg. 23. 3. 1963 Der Bundeskanzler . . . sollte sich nun endlich um die Finanzpolitik einmal mit der gleichen Vehemenz kümmern, mit der er am vergangenen Montag im Bundestag für das Röhrenembargo gekämpft hat; ebd. 30. 10. 1968 wirft sich mit Vehemenz in den komischen Spaß; FAZ 2. 4. 1970 mit gleicher Vehemenz wird dann die Agitation für die nächste Forderung betrieben; ebd. 30. 12. 1970 Dem Verfasser Ihrer Sprachglosse . . . möchte ich mit Vehemenz widersprechen.

Vehikel N. (-s; -), Mitte 17. Jh. entlehnt aus lat. vehiculum in seiner Bed. Träger(-mittel)', eigentlich Transportmittel; Fuhrwerk, Fahrzeug, Wagen; Kahn, Schiff' (zu vehere 'führen; tragen; fahren; bringen'), bis ins späte 18. Jh. und

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Vehikel

fachspr. heute noch in der lat. (flekt.) Form (auch in der Schreibung Vehikulum) und in lat. Syntagmen, Ende 18. Jh. vereinzelt in der Form Vehikul, erst seit späterem 18. Jh. zunehmend in der heutigen Form, früher vereinzelt mit PI. -n; a im Bereich von Pharmazie und Medizin, heute nur noch fachspr., für Trägersubstanz für die Wirkstoffe eines Arzneimittels; Basissubstanz; Gleit-, Lösungsmittel', von daher schon früh übertragen im Sinne von '(Hilfs-)Mittel; Instrument; Medium; Mittel und Weg', heute auch negativ konnotiert in Verbalsyntagmen wie etwas / jmdn. z u m Vehikel machen als Vorwand benutzen', als Vehikel dienen, Vehikel sein 'als Vorwand dienen, mißbraucht werden'; b erst seit früherem 19. Jh. belegt in der Bed. Transportmittel für den Güter- und Personenverkehr', z.B. Kutsche, Schiff, Eisenbahn, Auto, Fahrrad, heute meist ugs.— scherzhaft als Bezeichnung für Verkehrsmittel aller Art, oft auch negativ konnotiert mit „alt(-modisch), fahruntüchtig, klapprig, primitiv", gelegentlich auf andere technische Gegenstände bezogen und vereinzelt bildlich verwendet (vgl. a).

Vehikel a: Glauber 1655 Op. Min. I 53 Den jungen Kindern . . . wann sie . . . krätzig seyn, Fieber oder epilepsiam bekommen, soll man nur ein halbes Tröpfflein [der tinctura Antimonii] mit bequemen vehiculis eingeben; Weise 1673 Erznarren 157 es wären etliche Einbildungen, daß der Taback solte die Flüsse abziehen, er brächte zwar Feuchtigkeit genug in dem Munde zusammen: Allein dieses wären nicht die rechtschüldigen Flüsse, sondern die Feuchtigkeit, welche im Magen der concoction als ein vehiculum dienen solte, würde hierdurch abgeführet; Lebenwaldt 1680 Teufels List II 11 Dann die Stralen seyn nur ein Vehiculum diser Eigenschafften / welche der Elementarischen Welt eingedruckt werden; "Weise 1697 Vertr. Gespr. 394 Bey den Herren Medicis heist Vehiculum, wenn wir ein köstliches Medicament in etwas einnehmen / da sollen wir das in einer Suppe / in Wein / in Bier u. s. f. gebrauchen / wenn nun ein solcher Mann / wegen der Pillen / der Pulver und anderer Medicamente schlecht bekümmert wire / wenn er nur ein delicates Wasser / eine rare Botage oder sonst was artiges zum Vehiculo schaffen könte / würde man ihm grossen Danck schuldig seyn?; Morhof 1700 Unterr. 21 Denn gleich wie der Ursprung der Philosophie von denen den Griechen so genannten Barbaris auch die Sprachen als vehicula scientiarum, wie sie Verulamius nennet, von ihnen fortgepflanzet; Ettner 1719 Median. Maulaffe 931 Diese Tincturen und Essenzen werden sich in keinem Vehiculo (worinnen man eine Artzeney einnimmt, als Eßig, Wein destillirt und gemein Wasser) sich praecipitiren, sondern den Liquorem anfärben; Bertram 1728 Einleitung 42 [Lehren der christlichen Kirche] unter dem vehiculo der Poetischen Delicatesse den Gemüthen beygebracht; Pluche

1740 Historie II 126 dass das Wasser ein allgemeines Beförderungsmittel (Vehiculum) ist, welches Gott zubereitet hat, dem Menschen alles zuzuführen, was ausser und unter der Erde ist; 1751 Leipziger Sammlungen VII 235 das Vehiculum . . . wodurch [das Nacoticum] cörperlich gemacht wird; Dusch 1767 Br. III 8 sie haben das Gedicht zu einem Vehikel der Satyre gebraucht; ebd. 1770 (IV 141) wenn die Alten ihre allgemein bekannte Mythologie zum Vehikel des Unterrichts deswegen wählten, weil sie allgemein bekannt war; so taugt dieses Vehikel . . . in unsern Zeiten . . . wenig; Lavater 1770 Aussichten 1178 dass theils in der moralischen Beschaffenheit der vom groben Cörper abgesonderten Seele, theils in der Natur des feinen ätherischen Vehiculums . . . der Grund liegen müsse, warum sie da und nicht dorthin kommet; Schubart 1774 Dtsch. Chr. 598 Die lachende Mine dieser zwey Aerzte scheint nur das Vehikulum zu seyn, womit sie dem Leser manche heilsame Pille zu verschlucken geben werden; Herder 1775 (IX 415) [dreifaches Leben im Menschen] hat seinen eigenthümlichen Sitz, seine besondern Werkzeuge und Vehikeln; Goethe 1779 Br. IV115 ich konnte nunmehr begreiffen, wie du mit diesem Buche so lange beschäftigt, du es ganz in dich hinüber empfunden hast und es in einem so fremden Vehiculo ohne fremden, vielmehr eigentlich heterogenen Zusaz wieder aus dir heraus quellen lassen konntest; Musäus 1781 Physiognom. Reisen II 153 Alles was durch das Vehikulum einer warmen Imagination zur Consistenz kommen soll; ebd. 203 durch das Vehikulum des Verstandes und geprüfter Erfahrung die physiognomische Kunst . . . zu befördern; Meister 1783 Blätter 31 Juden . . . im Geiste und in der Wahrheit, befreyt von allem jeden . . . Gepränge,

Vehikel welches nur für eine gewisse Zeit und für einen besondern Ort nothwendig, welches nur äussere Form und Vehiculum der wesentlichen, jüdischen Religionswahrheiten, gewesen; Herder 1784 Ideen IXII180 daher man vielleicht mancher Hypothesen über den Nervensaft als über ein tastbares Vehikulum der Empfindung hätte überhoben sein mögen; 1786 Journal d, Moden I 188 Kurz das Gillet ist anjezt in Paris das Universal-Vehikel für alle Künste und Wissenschaften; Hermes 1789 F. Eltern II Ii Aber da ichs [mein Buch] für Kranke bestimme: so bitte ich Sie, nichts wegzulassen was mit den Ärzten zu reden, zur Versüssung des Vehikels dienen könnte; Knigge 1789 Umgang II 238 Der Wein erfreut des Menschen Herz, und wenn man dies Vehiculum nicht als ein nothwendiges Bedürfniss, ohne welches man durchaus nicht in frohe Laune zu setzen ist, sondern als Erweckungsmittel braucht, um in trüben Augenblicken den natürlichen guten Humor . . . hervorzurufen; Laukhard 1792 Leben I 107 Die Trunkenheit hält man nicht für schändlich: nur das Vehikel, wodurch sie entsteht!; ebd. II 315 Hier sieht man recht augenscheinlich, daß auch die besten Schriftsteller nicht einmal in ihrem nächsten Umkreise auf die Volksklasse wirken, wenn Kirchen- und Schullehrer nicht die verdollmetschenden Vehikel ihrer Belehrung werden; Cogniaczo 1794 Gestaendn. I 7 Kriege überhaupt genommen, sind in den Augen des Menschenfreundes nicht das schönste Vehikel der Grösse; Vierthaler 1794 Entwurf 12 In vielen Klöstern wurden die Schulen gänzlich geschlossen, weil es an Lehrern fehlte; in vielen, weil selbst durch dieses Vehikel das Sittenverderbnis in die Klöster eindrang; Hufeland 1795 Pathogenie 31 Die Media und Vehicula, durch welche Krankheitsursachen in uns aufgenommen oder percipirt werden können; ebd. 267 Die Vehicula, durch welche diess [Abgang schädlicher Stoffe] geschieht, sind entweder die gewöhlichen Secretionen, Schweiss, Urin, Darmausleerung, Speichelfluss, Gallenabsonderung; Oder die Natur schafft sich neue, z. E. Blutflüsse . . . Eiterungen; Lavater 1795—98 Nachgel. Sehr. II 289 Wäre . . . dieser geistigere Körper, dies Vehikulum oder Medium ihrer neuen Wahrnehmungen ausgebildeter, organisierter; Herder 1796 Br. XVIII 79 Dort ging das gelehrte Kind in einem Gängelwagen oder vielmehr der Gängelwaagen (ambitus verborum) ging statt des gelehrten Kindes und nahm es mit; dem rundviereckten Vehikul entnommen, wie erbärmlich ist seine Gestalt; Laukhard 1796 Leben III 165 Das Historische dient ihm zum Vehikel des Politischen; Humboldt 1804 briefl. an Wolf (Willmann 1897 Gesch. III 745) Im Grunde ist alles, was ich treibe, auch der Pindar, Sprachstudium, ich glaube

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die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren; Fichte 1807 Plan (Gedenkschr. I 57) daß jene Bücher [der Theologie] durchaus nicht Erkenntnisquelle, sondern nur Vehiculum des Volksunterrichtes seien; ebd. VII 146 Entwicklung der Ehrliebe und des Gefühls für das Erhabene, als das eigentliche Vehiculum der sittlichen Bildung des Jünglings, durch Beispiel und Lehre gesorgt; Ritter 1810 Fragm. II 25 Da Kant Wasserzersetzung als Vehikel der Seelenthätigkeit vorschlägt, und es fast bewiesen ist, dass im Wasser die beyden Grundkräfte . . . liegen; Lerchenfeld 1814/15 (Chroust, Würzburg 259) Die Disziplin [im Würzburger Gymnasium] ist sehr strenge und doch vorzüglich in den höheren Klassen ohne gedeihlichen Erfolg, weil, anstatt das Vertrauen und die Anhänglichkeit der Scfyüler zu wecken, grossteils nur das äussere Vehikel der Furcht geltend gemacht wird; Gebhard 1817 Güter-Arrondirung 10 der Gesellschafts-Trieb, dieses Vehikel aller menschlichen Vereine . . . in Thätigkeit; Haller 1820 Restauration I Vorr. XXXIV versäumte ich keine Gelegenheit, um unter allen Gestalten, durch alle Vehikel zu wirken; Lötz I 420 Geld, als 1821 Staatswirthschaftslehre Tauschvehikel und Circulationsmittel; Vico 1822 Grundzüge (Übers.) 559 die Luft, wie denn diese bei den Lateinern auch anima heißt; und hielten sie für das Vehikel des Lebens; Ancillon 1828 Extreme 1141 Die Presse, an sich betrachtet, ist nichts als ein Bewegungsmittel, ein Vehikel; sie kann also an sich keinen unbedingten Werth und keine absolute Güte haben; Wit v. Dörring 1830 Fragm. I 356 Religion gilt . . . als das bedeutendste Vehikel beim Könige; Engelhardt 1840 Schweizer-Alpen 161 Enthusiasmus für Philologie und Gelehrsamkeit, dieses Vehikel jener grossen Fortschrittsepoche; Wolff 1841 Gesch. d. Romans 153 [politische Theorie in populärer Form anzubringen] war denn auch die Romanform ein treffliches Vehikel, dessen man sich bald bemächtigte; 1851 Gastrosophie II 2 ohne Getränk können wir weder genährt, noch gereinigt werden. Flüssigkeit ist das Vehiculum des Milchsaftes, die ihn verdünnt; 1852 Prutz' Museum II 25 Als räthselvolles Vehikel unseres Gedankenlebens hat das Gehirn . . . seine naturgemässen und seine naturwidrigen Irritationen; Sybel 1859-61 (HZ 162 (1940) 88) Vehikel zum Siege der Wahrheit; Liebig 1862 Feldbau 112 wurde Torfklein zum Vehikel der Nährstoffe gewählt; 1867 Briefw. Roon-Perthes (92) Vom Reichstage, diesem nicht blos preussisch-deutschen, sondern welthistorischen Vehikel, trotz seiner großen Bedeutung, heute kein Wort!; Jäger 1914 Reden 9 dient das Verständnis der Sprachen,

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Vehikel

seitdem die Wissenschaft den Humanismus ablöste, als Vehikel für die historische Erkenntnis der alten Kultur, insbesondere der geistigen, in der Literatur verkörperten; Cassirer 1923 Phil. I 263 so dient sie [die Sprache] . . . als ein Vehikel des intellektuellen Fortschritts; Schumpeter 1926 wirtschaftl. Entwicklung 238 auch heute noch ist die Unternehmerfunktion nicht nur das Vehikel fortwährender Umorganisierung der Wirtschaft, sondern auch das Vehikel fortwährender Veränderung der Elemente, aus denen die oberen Schichten bestehen; Freyer 1938 geschichtl. Selbstbewußtsein 17 ist die Hegeische Dialektik . . . zu einem Vehikel der materialistischen Weltanschauung gemacht worden; 1950 Festschr. R. Thoma 123 Der Glaube an die den Menschen prägende Erziehung ist in England geradezu das Vehikel, mit dessen Hilfe man das humanitäre Ethos dem Menschen als eine allgemein selbstverständliche Verpflichtung aufzuerlegen sucht; 1950 Neue Rundschau 13 die logische Spekulation ist für die menschliche Erkenntnis zwar das „absolut" unerlässliche Vehikel, aber was sie inhaltlich zu Tage fördert, ist verdächtig; Jäger 1959 Reden 254 Wie so oft, war die Skepsis ihm zum Vehikel des Glaubens geworden; Offenburger Tagebl. 16. 6. 1961 Die Industrialisierung war . . . in den vergangenen Jahrzehnten das Vehikel der italienischen Zuwanderung; 1963 Märchen (Festg. v. d. Leyen) 25 sind die neuromantischen Märchen Vehikel idyllischer Ideale; Gregor-Patalas 1965 Film 219 Bezeichnend für die Aufwertung des Westerns war es, daß er jetzt auch für wert erachtet wurde, als Vehikel für „Botschaften" aller Art zu dienen; Bad. Ztg. 1. 4. 1966 Cocteau hatte sich nach der Begegnung mit den Arbeiten seines Freundes Picasso in Vallauris plötzlich . . . auf die Töpferei gestürzt im Glauben, daß sich ihm in ihr ein neues „wunderbares Vehikel" für seine Poesie eröffne; Stuttgarter Ztg. 10. 3. 1969 Meinerseits ist die Information das Vehikel der Veränderung; Bad. Ztg. 20. 1. 1971 Zum Vehikel des Monologs wird eine Kriminalgeschichte, die natürlich auch keine ist; Die Zeit 12. 12. 1980 Der Föderalismus ist nicht nur Bewahrer der Vielfalt, sondern längst auch ein Vehikel der Vereinheitlichung, Beförderer eines Zentralismus aus zweiter Hand, zumal im Bildungsbereich; ebd. 13. 2. 1981 Gipfeltreffen nennt er „ein ganz spezielles Vehikel, das man Fragen von außerordentlicher Bedeutung vorbehalten soll"; ebd. 27. 3. 1981 Gebrauch oder Mißbrauch der biographischen Methode: einer Methode, die das Werk als biographisches Dokument behandelt, statt umgekehrt das Leben als Vehikel der Werkentstehung zu begreifen; ebd. 9. 10. 1981 Zum erstenmal seit Geburt der Zweiten Republik hatte die SPD die Mehrheit des Volkes (in Sachen Atomrüstung) auf

ihrer Seite. Plötzlich hatte die Partei ein scheinbar unaufhaltsames Vehikel zur Macht gefunden — und dennoch sprang sie nur mit einem Bein auf. Vehikel b: Burckhardt 1838 Bilder I 20 stationieren all die baufälligen Karossen, die in Italien . . . das fast ausschließliche Vehikel des Reisenden ausmachen, bestäubt und kotig von unten bis oben; Goltz 1847 Buch d. Kindheit 60 Kaum sass ich aber in dem Vehikel meiner Wünsche, so fuhren diese auch schon mit mir im ganzen Hofe umher; Kohl 1850 Verkehr 74 Das Kameel scheint insbesondere die bewegende Kraft und das Vehikel der Sandoberflächen zu sein; ebd. 77 Der Wechsel des Vehikels und die Umpackung der Waaren macht bedeutende Kosten und Umstände; Ranke 1862 Briefwerk 442 suche mir ein andres Vehikel, um Hydepark zu erreichen; Lindenberg 1883 Berlin 49 [Berliner Droschkengaul] wenn man dem vierbeinigen Vehikel diesen Ehrennamen [Rößlein] geben darf!; Meurer 1892 Bergsteiger 4 Ein Schienenstrang zog weit, weit ab vom nächst gelegenen, und das Land, die großen Flächen, die dazwischen lagen . . . konnten nur auf mehr oder minder primitiven Vehikeln . . . erreicht werden; ebd. 13 Passagiere und Frachten konnten auf dem Dampfvehikel von Land zu Land geführt werden; ebd. 29 wohlgepflegte [Wege] für kleine Vehikel oder zum Reiten benutzbare; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 91 zum Weltvehikel wurde das neue Verkehrsmittel [Dampfschiff] durch die Erfindung der Schiffsschraube; Kolb 1931 Exemplar 27 fuhr sie . . . in einem Hansom zur Bahn, weil sie es jedesmal optimistisch stimmte, wenn sie in diesem geschmackvollen und würdigen Vehikel einherzog; Lokal-Anz. 25. 7. 1934 denn der Radfahrer, dessen Vehikel einmal für 24 Stunden von einem Schupo in Gewahrsam genommen worden ist, würde sich bei seiner nächsten Fahrt schon vorsehen; Dtsch. AZ. 28. 9. 1935 So verhält es sich nunmehr auch mit dem Auto, diesem einst von Gelächter und Flüchen verfolgten Vehikel. Indessen, aus dem Vehikel ist inzwischen eine Art Fahrstuhl mit Horizontalbewegung geworden, eine Art Geschwindigkeitssofa; Zischka 1936 Monopole 146 das Vehikel Daimlers; Münch. N. N. 3. 9. 1941 Selbstverständlich hat sich die Mode sofort dieses Vehikels bemächtigt und so, wie früher ein Concours d'élégance in Autos abgehalten wurde, erlebte man in diesem Sommer eine Modenschau auf Fahrrädern; NZ. (Basel) 27. 3. 1950 In rasendem Tempo fuhr am Sonntag zu Beginn des Nachmittags ein Motorradfahrer, der noch nie auf einem solchen Vehikel gefahren war (!), durch den Schützenweg; Süddtsch. Ztg. 31. 3. 1950 Um die Jahrhundertwende begann das neu erfundene Verkehrsvehikel, das Automobil, allmählich den Be-

Vene hörden Kopfzerbrechen zu bereiten; ebd. 9. 8. 1952 Zwischen Omnibusreisenden und Ortsansässigen gähnt also der gleiche Abgrund wie zwischen Traum und Alltagswelt, Ideal und Wirklichkeit. Zweifellos wirken wir Einheimischen von einem Vehikel aus . . . sehr dekorativ; ebd. 27. 8. 1955 Der makellos höfliche Polizist tippt dies alles ein wenig mühsam in seine Maschine. Schließlich kommt er doch mit einem kräftigen Schlag auf die Taste seines vorsintflutlichen Vehikels zum Schlußpunkt; ebd. 8. 6. 1957 Man kann allerdings noch vorsintflutliche Vehikel von 1930 neben übermalten VW-Kübelwagen der ehemaligen Wehrmacht sehen; Münch. Stadtanz. 14. 8. 1958 Wenn man zu einem Autofahrer angesichts seines nagelneuen Vehikels von einem „Karrn" spricht, dann wird man sich ganz gewiß den Unwillen des stolzen Fahrzeugbesitzers zuziehen; Silberschmidt 1958 Entwicklung 188 Analyse der Industrial Revolution in Amerika erreicht einen gewissen Höhepunkt mit dem Hinweis auf das Werk von Henry Ford, den Mann, der mit dem Automobil das Vehikel unserer Zeit schuf, dem sich . . . das Flugzeug angeschlossen hat; Offenburger Tagebl. 4. 6. 1959 Drahtkorb und Rollwagen . . . sind zu beliebten Einkaufsvehikeln der europäischen Hausfrau geworden; ebd. 23. 1. 1960 Dieser Taifun II ist eine Maschine der tausend Arbeiten, ein Vehikel an Vielfältigkeit und ein Monstrum an Bequemlichkeit . . . Der ursprüngliche Traktor kocht außerdem Kaffee, wärmt das Essen und hält die Nachspeise kühl; ebd. 20. 7. 1961 Die geringe Geschwindigkeit des Vehikels behagte jedoch den

Vene F.

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Ausreißern nicht. In Freiburg ließen sie die Zugmaschine im Straßengraben stehen; Süddtsch. Ztg. 16. 3. 1961 über 1000 Interessenten wollten die Räder haben . . . Innerhalb weniger Minuten wurden alle Vehikel zum Preis von drei bis 30 Mark an den Mann gebracht; Offenburger Tagebl. 29. 12. 1962 Die alte und veraltete Durlacher Turmbergbahn hat ihre Schuldigkeit getan und wartet auf ihre Ablösung. Dieser Abschied von einem „historischen" Vehikel aus der guten alten Zeit veranlaßte Hans Heid zu Reminiszenzen; Süddtsch. Ztg. 12. 9. 1962 Es ist ein Vehikel, dem man es anmerkt, daß sich jeder Fahrgast darin nur ein paar Minuten aufhält, primitiv aber spottbillig und überaus schnell; ebd. 2. 2. 1965 Ist man gerade zur Einsicht gekommen, daß die Busse während des Streiks nicht fahren, so hält eines der schwerfälligen Vehikel und nimmt einen ein Stück Wegs mit; Stuttgarter Ztg. 30. 11. 1965 Der Betrieb wurde . . . mit Last- und Personenwagen aufrecht erhalten, die weder versteuert und versichert noch zugelassen waren und die sich auch durchwegs in einem technisch höchst bedenklichen Zustand befanden. Gesteuert wurden diese Vehikel abwechselnd von Vater und Sohn; Offenburger Tagebl. 5. 2. 1971 Und wenn diese Pannen mit dem Zustand der Fahrzeuge zusammenhängen, sollten die Lahrer den Offenburgern nicht die ältesten Vehikel schicken; 1971 Durch die schöne Welt Sept.' h. o. S. Ein solches Traumvehikel [Schienenprüfzug] zu verwalten, erfordert unternehmerisches Denken und einige Organisation.

( - ; - n ) , im 1 6 . J h . vereinzelt,

n a c h g e w i e s e n e E n t l e h n u n g aus lat. venu

seit s p ä t e r e m

17. J h .

kontinuierlich

' ( B l u t - ) A d e r ; I n n e r e s , B e g a b u n g ' , anfangs

vereinzelt u n d in f a c h s p r . F ü g u n g e n a u c h h e u t e in d e r lat. ( f l e k t . ) F o r m ; F a c h w o r t d e r M e d i z i n in d e r B e d . ' B l u t g e f ä ß , A d e r , die s a u e r s t o f f a r m e s , v e r b r a u c h t e s B l u t v o n den O r g a n e n u n d d e r K ö r p e r p e r i p h e r i e z u m H e r z e n ( z u r ü c k - ) l e i t e t '

(Ggs.

A r t e r i e ) , in Z s s . w i e H a l s v e n e ; V e n e n e n t z ü n d u n g , - g e s c h w u l s t ; anfangs w i e A d e r vereinzelt bildlich v e r w e n d e t im Sinne v o n ' G e s p ü r , B e g a b u n g ; N e i g u n g , V o r l i e b e ' ; d a z u seit A n f a n g 19. J h . die adj. A b l e i t u n g v e n ö s (vgl. lat. venosus

'voll A d e r n ,

a d e r i g ' ) in d e r B e d . 'die V e n e betreffend, z u ihr g e h ö r i g , aus ihr k o m m e n d , in ihr fließend', a u c h ' a d e r - , v e n e n r e i c h ' u n d im S y n t a g m a v e n ö s e s B l u t ' z u m

Herzen

z u r ü c k s t r ö m e n d e s , s a u e r s t o f f a r m e s , kohlesäurehaltiges u n d d a h e r d u n k e l r o t e s B l u t ' m i t d e r im 1 9 . J h . ( P u c h e l t ) n a c h g e w i e s e n e n subst. Gelegenheitsableitung V e n o s i t ä t ' R e i c h t u m an V e n e n ; V o r h e r r s c h e n v e n ö s e n B l u t e s ; s a u e r s t o f f a r m e B e s c h a f f e n h e i t des

Blutes'.

Vene: Fischart 1578 Phil. Ehzuchtb. Kl. X405 bei welchem sein vena und stylus des Teutschen vertirens inn achtung kommen (RUTTER); Weise 10»

1673 Erznarren 172 Ja, weil ich eine sonderliche Vene zu teutschen Versen bey mir merkte, setzte ich folgendes Lied auf, und ließ es vor ihrer Thür

148

Ventil

absingen; 1772 Frankf. gel. Anz. 24 Das Ausund Einathmen, eine Art von Larynx, und Lunge, unmerkliche Ausdünstung, Venen, Arterien, Milchgefäße, und ein circulirendes Fluidum gehören eben sowol den Pflanzen, als den Tieren; Hahnemann 1824 Organon 43 Venengeschwülste; Puchelt 1826 System d. Med. II 2 104 die Leichen derer, welche an Venenentzündung starben, sind meist sehr blaß, bläulich; Feuerbach 1828 Merkw. Verbrechen 1157 Die zweite dieser Wunden hatte die Süssere und innere Kopfarterie gerade bei ihrem Ausgang aus der gemeinschaftlichen Halsarterie ganz, die innere Vene hingegen bis auf ein Viertheil ihres Durchmessers zerschnitten; von der dritten war die arteria carotis mater vor ihrer Theilung, so wie die innere Halsvene ganz durchstochen; Schiller 1847 Briefw. mit Kömer 125 Wie das Blut durch seine Venen und Arterien tröpfelt (KEHREIN); Valentin 1855 Physiologie 173 Die Blutadern oder Venen nehmen weniger Blut, als die Gesamtsumme der Haargefäße, aus denen sie entstehen, auf . . . Das Venensystem der Menschen soll ungefähr 2'/ i bis 4 mal so viel als die Gesamtmasse der Pulsadern . . . aufnehmen können; Verwom 1907 Physiolog. Prakt. 49 Einbinden einer Venenkanüle in die Vena jugularis; Noll 1964 Holt II 148 [Hände] durch deren Haut das Geäst der blauen Venen hindurchschimmerte (WDG). venös: Reil 1811 Ges. kl. Sehr. I 216 Wenn man den blutführenden Gefäßen, den arteriösen sowohl, als den venösen, und besonders den Haargefäßen nicht eine eigentümliche Bewegungskraft zuschreibt; Hufeland 1822 Sympathie 57 das Blut . . . dessen Polarisierung oder Trennung in arteriöses und venöses Blut durch das Circulationssystem vermittelt wird; Puchelt 1826 System d. Med. 117 Unserer Ueberzeugung nach hängen manche Fieber von venöser Plethora, im höhern Grade venösen Zustande des Blutes, von erhöhter Turgescenz der Venenhäute ab, und sind deshalb als venöse Fieber zu bezeichnen; ebd. 168 Es überwiegt die venöse Beschaffenheit, der Kohlen- und Wasserstoff sind wahrscheinlich verhältnismäßig in zu großer Menge vorhanden; ebd. 274 Venöse Constitution (Uberschr.) In den Venen befindet

sich verhältnismäßig zu viel Blut, dieses und das arterielle haben die venösen Eigenschaften und Bestandteile in höherem Grade; ebd. 275 in Folge der ursächlichen Momente venöser Krankheiten . . . erscheint als phlegmatisch-venöse und atrabiläre Constitution; ebd. 451 Venöse Stockungen und Infarctus des Darmkanals (Überschr.) entstehen . . . durch venöse Congestion; ebd. 607 Venöse Blutanhäufung, Stockung und Infarctus in der Leber; ebd. 723 Venös-gastrische Fieber (Überschr.); Hufeland 1836 Ench. med. 10 Die venös-hämorrhoidalische Konstitution (Überschr.) Vorherrschen des Venensystems und venösen Bluts; Corres 1836-42 christl. Mystik I 98 Dann finden wir es [das Herz] in arterielle und venöse Kammer getheilt (KEHREIN); 1844 Handwb. d. Physiologie II 42 Die venösen Klappen erscheinen bei der Eröffnung eines Säugethierherzens als thätige Cylinder; ebd. II 56 Untersuchungen über die Entfaltung und Wirkung der venösen Klappe; Valentin 1855 Physiologie 655 Venöse Figur (Überschr.) Man hat mehrere Verfahrensarten, die Ausbreitung der Centraigefäße in Netzhaut . . . zur Anschauung zu bringen; Russdorf 1857 Haus-Almanach 67 Venöse Blutfülle. Venosität: Puchelt 1826 System d. Med. II 2, 451 in Folge der im Allgemeinen und im ganzen Organismus erhöhten Venosität, und alles, was diese erhöht, muß daher auch Stockungen in dem Darmkanale veranlassen; ebd. (1827) II 1, 77 Erhöhte Venosität (Uberschr.) Bei der verminderten Bewegung (Irritabilität) im Gefässysteme häuft sich das Blut in der venösen Seite; ebd. (1829) II 607 Dieser Zustand der Leber wird theils durch venöse Constitution, venöse Plethora und erhöhte Venosität überhaupt . . . bedingt; ebd. II 723 Fieber, welche von erhöhter Venosität bedingt sind und durch Ausleerungen aus dem Unterleib sich entscheiden; Kussmaul 1903 Jugenderinn. 210 Man sah ihm das viele Sitzen und Studieren an, er litt an venösen Stauungen, die er auf „erhöhte Venosität" zurückführte, einen Krankheitsbegriff, den er selbst geschaffen und noch 1833 in einer besonderen Schrift, die diesen Titel führte, „revidiert und verteidigt" hatte.

Ventil N. (-s; -e), im späteren 16. Jh. entlehnt aus mlat. ventile 'Schleuse (eines Wasserkanals)' (zurückgehend auf lat. ventus 'Wind'), früher vereinzelt in der Schreibung Ventiel oder Fentil. l a Fachspr. im technischen Bereich zur Bezeichnung einer Vorrichtung, die mithilfe eines (durch Feder oder Innendruck betätigten) Verschlußteils flüssige oder gasförmige Stoffe absperren oder durchlassen kann und so deren Ein- und Auslaß reguliert, häufig als Grund- und Bestimmungswort von

Ventil

149

Zss. wie Sicherheits-, Ablaßventil; Ventilsteuerung; b speziell in der Musik zur Bezeichnung der beweglichen Klappe, die bei der Orgel die Windzufuhr regelt und einer mechanischen Vorrichtung bei Blechblasinstrumenten, die durch Verlängerung / Verkürzung der Schallröhre alle Töne der vollständigen Tonskala spielbar macht; c im 19. Jh. vereinzelt im medizinischen Bereich belegt in der Bed. Herzklappe, die den Austausch zwischen venösem und arteriellem Blut regelt'. 2 Schon Ende 16. Jh. vereinzelt, seit Mitte 19. Jh. häufig bildlich und übertragen verwendet im Sinne von 'Auslaß(-tor); offengehaltene Möglichkeit, Ausweg', bes. im psychologischen und im politischen Bereich in der Bed. 'Mittel zum Abbau aufgestauter Emotionen, Spannungen; Handlung, die dazu dient, sich abzureagieren, sich zu erleichtern, sich Luft zu machen', häufig in der intensivierend gebrauchten, aus dem technischen Bereich übertragenen Zs. Sicherheitsventil. Ventil l a : Fischart 1575 Garg. 295 Pompenzög, Mangelrad mit Wasserkannen, Haspelpompen, Wasserwerck zur kunst, Schemelpompen, Jochergebew, Ventilpompen, Scherpompen; Speckle 1589 Architectura 8° oder aber man kan sie von vier Bretern zusammenfügen / innwendig ein Diameter auf 8. oder 9. Zoll weit / die Ventil von Leder / mit Epheu beschlagen; Furttenbach 1663 Kunst-Spiegel 172 voller Löchlin (damit allein das saubere Wasser zu dem fentil hinein lauffen möge) verordnete seuhe / angeschrauffet / im Kasten darinnen aber wie gemelt / der Mörser / sampt seinem angehörigen fentil beständig verbleiben; Böckler 1683 Haus- und Feldschule 55 die Pompbronnen . . . mit Röhr . . . und Ventil; Sturm 1714 Anw. (Architektur) B" von den dazu gehörigen Rinnen, Behältern, Leit-Röhren, Ventilen, Spring-Röhren; Triest 1826 Baukosten V SS Ventile zu Brunnen werden in der Regel nach Pfunden bezahlt und zwar: Einfache Klappventile . . . Doppelte Klappventile . . . Blancirventile . . . Kegelventile . . . Muschelventile . . . Kugelventile; ebd. XI2 Jeder Stiefel hat zwei Ventile . . . Das Eine ist am Boden (Bodenventile), und eröffnet sich, wenn der niedersteigende Kolben das Wasser durch die Gurgelröhre in den Windkessel preßt. Das andere Ventil (Gurgelventil) ist dasjenige, wodurch das Wasser in die Gurgel dringt; Scholl 1853 Führer d. Maschinisten 142 Der Zweck, welchen zu erfüllen das Luftventil eines Kessels bestimmt ist; 1865 SB München II 296 Sicherheitsventile bei Dampfkesseln; 1901 Naturwiss. Wochenschr. 67 Stauventile dienen dazu, den Abfluss von zufliessendem Wasser nach Belieben unterbrechen zu lassen, so dass das zufliessende Wasser zurückgehalten (aufgestaut) wird; Beiträge z. Gesch. Technik 2 (1910) 176 Ventildampfmaschine; Schlegel 1922 Kulturgrotesken 91 Das Badewasser färbte sich tiefrot. Holm zog das Ablaßventil und öffnete gleichzeitig den heißen Hahn wieder; Berl. Illustr. Nachtausg. 3. 2. 1933 Als die

achternen Schiffsräume bereits in Notglut standen, hatte Müller die siedendheißen Flutventile aufgerissen und sich beide Hände verkohlt; LokalAnz. 23. 8. 1934 drei Stück fünfachsige Personenzugs-Tenderlokomotiven mit Caprotti-Ventilsteuerung im Dienstgewicht von je 40 Tonnen. Ventil lb: Frischlin 1586 Nomenciator 146h 0UQÍöiov, Foricula, Ventilchörlin [Wasserleitungen]; Prätorius 1619 Syntagma mus. II 106 Vnd ist in den Eltesten Wercken ebener massen zubefinden / das dieselben auch / wie die vnsrigen / durch den Windt vnd Blaßbilge regiret / vnd zum klang gebracht worden seyn: Item / das die Bilge eben dieselben mittel / nemlich die Windklappen oder Ventiel, dardurch der Windt in aus dem Balg geführt wird / gehabt haben; vnd mit ledder vberzogen vnd beschlagen worden seyn . . . Deßgleichen das auch Structuren mit vnterschiedenen formen disponiret gewesen / In welche die Windtladen (so innwendig alles an Cancellen, Ventilen, Stöhnfedern etc.) als wir es noch brauchen / gehabt / vnd darauff das Pfeiffwerck gesetzet / geleget / vnd mit Wellbrettern / Angehenge / Pedal vnd Manual Ciaviren gemacht worden; ebd. II 108 Welche Ventiel dann mit eim einzigen Register zugleich vffgezogen / vnd doch darbeneben in der Laden zu einen jeden Clave sondere Ventiel, welche mit dem Ciavier nidergezogen werden / verhanden; Hirsch 1662 Kirchers Musurgia 235 arcula ist den heutigen Orgelmachern die Windlade die regulae sind die Ventil; ebd. 237 diser cylindrus hat so viel Spitzen / als Drith an den Ventillen seyn / wann er nun proportionirlich gedrehet wird / so ziehet er die Ventil; Mattheson 1739 Kapellmeister 461 jede Pfeiffe auf selbigem Stocke [hat] ihr eigenes Ventil oder besondere Windklappen. Ventil lc: Valentin 1855 Physiologie 107 Ventile der Saugadern; ebd. 119 Ventile des Herzens; ebd.

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Ventil

174 Ventile der Venen; ebd. 128 Ventiltöne des Herzens. Ventil 2: Albertinus 1599 Guevaras Sendschreiben III 125k Fùnferley Armut findt man . . . Die dritte bestehet in der Überflüssigkeit. . . die dritte ist ein Ventil . . . ist windig / dann sie geschwilt; Humboldt 1845-50 Kosmos I 222 Die thätigen Vulkane sind als Schutz- und Sicherheits-Ventile für die nächste Umgegend zu betrachten (KEHREIN); 1852 Briefw. Burckhardt-Heyse 27 Für die Geschichte behalte ich mir doch immer ein Ventil offen. Es lässt sich . . . über die Geschichtsforschung . . . ein Wort reden; 1857 Hausblatter I 468 eine Art Sicherheitsventil gegen den Ubermuth; 1862 Hausblätter I 269 seinem feurigen Temperament durch das Sicherheitsventil einiger Flüche Luft zu machen; Douai 1864 Union 112 Sicherheits-Ventile am Dampfkessel der Politik; Ihering 1884 Zweck i. Recht I 251 Erlass provisorischer Gesetze ohne Mitwirkung der Stände — Sicherheitsventile, welche der Staatsgewalt ermöglichen, auf dem Wege Rechtens der Noth Abhilfe zu gewähren; ebd. I 426 Sicherheitsventile des Rechts; Horix 1895 Erl. 165 [für den] neugebackenen, ungezügelten Lieutenantsübermuth wirkt dann eine „kleine, aber niedliche" Garnisonsstadt als sehr heilsames Sicherheitsventil; Peters 1904 England 249 Die nationale Energie betätigt sich . . . durch das Ventil der vielen Sports ; Klemperer 1914—23 Sonderart 298 das unbewusste Notventil; Sternheim 1915 Scharmante 58 Ich hatte . . . Unannehmlichkeiten . . . und brauchte ein Ventil; Sternheim 1918 Chronik II 171 er senkt das Haupt an ihre Brust . . . und schlürft ihre Wärme, bis Blut sich entzündet und im Kessel des geschwollenen Leibes Uberschwang an den Ventilen siedet; Voss. Ztg. 19. 7. 1929 Deutschland habe einen Krieg verloren, und nun habe man im Suchen nach der Ursache ein Ventil, aber ein allzu bequemes Ventil gefunden: die Rassenfrage; Hillebrandt 1930 Erinnerungen an Bülow 17 alle Ventile der innern Unzufriedenheit; Voss. Ztg. 28. 1. 1930 das Sicherheitsventil, das die Experten mit der Moratoriumsklausel in ihren Plan eingebaut hatten; ebd. 21. 9. 1930 Die Stimmabgabe bedeutet auch heute noch, wie in den Zeiten des Obrigkeitsstaates, mehr ein Ventil für alle Arten von Mißstimmung, als eine Willenskundgebung; ebd. 27. 12. 1930 Zaleski hofft auf die kommende Genfer Tagung als „Sicherheitsventil" und verlangt vor allem, daß die Diskussion über die europäische Organisierung von den Tagesereignissen unbeeinflußt fortgesetzt werde; Lokal-Anz. 14. 1. 1933 Außerdem wird gar nicht mehr bestritten, daß die

deutsche Jugend ein Ventil haben muß, eine Außenstellung, wo ein anderer Wind weht, um aus der Enge herauszukommen und draußen zu lernen, wie es in der Welt zugeht; 1934 Illustr. Beobachter 1627 Lachen und Weinen wirken hier als Ventile seelischer Spannung; Dtsch. AZ. 10. 8. 1935 Italien werde immer unruhiger, wenn man es ohne Ventil für seinen bedrückenden Bevölkerungsüberschuß lasse; Hübel 1940 Gipfelfahrten 42 Bei ganz besonderen Schwierigkeiten [beim Bergsteigen] sind solche kleine musikalischen Auslassungen für mich das Ventil für seelische und körperliche Belastungen; Heuss-Knapp 1946 Wege 16 die politischen Witze . . . bilden immer ein Ventil, womit der Zorn und die Entrüstung über die herrschende Gemeinheit sich Luft machen, ohne dass es irgend etwas hilft; Weizsäcker 1950 Erinn. 343 Tagebücher sind Sicherheitsventile für Stimmungen des Augenblicks; NZ. (Basel) 24. 2. 1950 Neben der Industrialisierung ist die Auswanderung das wichtigste Ventil für die schnell wachsende Bevölkerung; Süddtsch. Ztg. 12. 10. 1953 Im neuen Teil Unterhaching habe man bei der zunehmenden Einwohnerzahl . . . ein Ventil nach Süden; Stuttgarter Ztg. 11. 11. 1961 „Ventil" für ausländische Arbeiter (Uberschr.) haben die . . . Sprechstunden für auswärtige Arbeiter eine ungewöhnliche Resonanz gefunden; Süddtsch. Ztg. 16. 3. 1961 Westberlin sei für die ostdeutsche Bevölkerung ein Symbol der Hoffnung und ein „Sicherheitsventil". Werde es geschlossen, könnten unberechenbare Entwicklungen in der Zonenbevölkerung eintreten; Stuttgarter Ztg. 14. 5. 1961 daß die im Vertrag angestrebte enge wirtschaftliche Verflechtung der nationalen Märkte . . . ein soziales „Sicherheitsventil" nicht entbehren konnte; Süddtsch. Ztg. 3. 1. 1962 Wo keine demokratischen Ventile offengehalten werden, bleibt der einzige Weg, die Regierung zu stürzen, die Inanspruchnahme des Widerstandsrechtes gegen die Gewalt, also der Aufstand; N. Z. Z. 18. 9. 1970 von einer Ventilfunktion und von einem breiten Podium gedanklicher Narrenfreiheit; FAZ 26:10. 1971 Ebenso erwünscht ist wahrscheinlich für Warschau die „Ventil"-Wirkung der relativ günstigen Einkaufsmöglichkeiten für Bewohner Polens in der D D R ; Mannh. Morgen 31. 7. 1980 Ein Ventil muß sein (Uberschr.) die alkoholselige Tat von ein paar Übermütigen . . . auch ein Symptom für Lagerkoller . . . Alterfahrene Reisende auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen beklagen in Moskau ein starkes Gefühlsdefizit. Gott Amor, bei solchen Anlässen [Olympiade 1980] ansonsten gut beschäftigt, verfehlt hier manches Ziel.

Ventilation — Ventilator

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Ventilation F. (-; -en) Mitte 18. Jh. aufgekommen, wohl über gleichbed. engl./ frz. Ventilation zurückgehend auf (flekt. Form von) lat. ventilatio 'das Lüften' (zu ventilare, —* ventilieren); a in der Bed. 'Vorgang der Beseitigung verbrauchter und verunreinigter Luft in geschlossenen Räumen (mit Hilfe eines Ventilators); Lufterneuerung, -austausch; (Be-)Lüftung', auch '(Be-)Lüftungsanlage'; im späten 19. / frühen 20. Jh. vereinzelt unter Einwirkung von engl. Ventilation in seiner Bed. 'Erörterung, Besprechung' wortspielerisch verwendet; b seit Ende 19. Jh. im medizinischen Bereich für 'Sauerstoffversorgung und Abtransport von Kohlendioxyd mit Hilfe der Atemmuskulatur; Belüftung der Lungen'. Ventilation a: Florin 1749 Hausvater II 381 auch hat die Lufft in diesem Stand eine freyere Ventilation oder Bewegung; Dinglers Polytechn. Journal 4 (1821) 104 Ventilation der Bergwerke; Engels 1845 Lage IV 32 wird die Ventilation durch die schlechte, verworrene Bauart des ganzen Stadtviertels erschwert; 1866 Gartenlaube 110 In London sind alle Omnibusse ohne Ausnahme mit ziemlich guter Ventilation (worunter sich die Deutschen meist „Zug" denken) versehen; Spitzer 1880 Wagn. 2 Ventilationsapparate . . . Vorrichtungen für die Lüftung; ebd. 81 um die Ventilationsvorrichtung aufzuschließen; ebd. 105 ihr Mann hatte gerade einen Anfall seiner Ventilationsmanie und lüftete mich zur Thüre hinaus. Ich aber bekam in Folge dieses Besuches einen Rheumatismus; ebd. 127 nachdem er vorher schon mittelst des Ventilationsapparates eine Lüftung bewerkstelligt hatte; Bucher 1881 Parlamentarismus 151 Beobachtung und ärztliches Urtheil müssen feststellen können, wieviel Stunden des Jahres ein durchschnittliches Individuum in Westminster aushalten kann, vorausgesetzt auch, daß er sich geistig nicht aufreibt und daß er eine bessere Luft athmet als bisher durch alle Ventilationskommissionen zu beschaffen gewesen; Lubliner 1896 Riviera 97 Die Ventilation, wenn sie überhaupt vorhanden ist, ist für die mit Menschen überfüllten Räume ungenügend; Dtsch. Revue 25 (1900) III 27 die Stiefeln mit de Ventilation — na, wat sagste?; Kaiser 1911 Lebenserinn. 49 und nicht einmal der Name von „Ventilation und Desinfektion" war damals bekannt; Gebauer 1932 Kultur-

gescb. 503 Ventilation der Wohnungen; LokalAnz. 15. 10. 1934 da die Abstellung der Pumpen und der Ventilationsmaschinen einem Selbstmord gleichkommen würde; Dtsch. Bergwerksztg. 8. 5. 1935 Lüftung (Uberschr.) Man kann auch Lufterneuerung dafür sagen . . . Meistens sagt man freilich Ventilation . . . Aber nicht davon ist die Rede, was ureigene Sache der Technik ist . . . Es handelt sich hier vielmehr um . . . jenen Geist der Unbildung, der Neuerdings dazu übergegangen ist, irgendwelche Fragen oder Aufgaben zu ventilieren . . . Ich wollte diese Frage einmal anschneiden . . . Hoffentlich hat es einen ordentlichen Durchzug gegeben. Diesmal aber ohne Ventilation!; Dtsch. AZ. 9. 5. 1944 Die Kühlung elektrischer Maschinen ist zu allen Zeiten ein wichtiges Problem gewesen. Neuerdings wurden Versuche zur Verwendung der Wasserstoffkühlung gemacht, die den Vorteil geringster Ventilationsund Luftreibungsverluste sowie des geringen Energieaufwandes für den Kühlmittelumlauf in der Maschine selbst und den praktisch geräuchlosen Lauf hat; NZ. (Basel) 2. 5. 1950 Ein ganz raffiniertes Ventilations-System erneuert ständig die Luft, und Radiatoren sorgen für eine angenehme Wärme. Ventilation b: Hermann 1896 Physiologie 126 Da hiernach die Lunge bei jeder Respiration nahezu luftleer wird, so ist der Ventilationscoefficient des Neugeborenen ungemein gross, seine Lufterneuerung nahezu integral; ebd. (1898) 110 Ventilation der Lungen.

Ventilator M. (-s; -en), PI. anfangs -s, Mitte 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl. Ventilator (zurückgehend auf lat. ventilare, —* ventilieren) in der Bed. 'mechanisch oder elektrisch arbeitendes Gerät mit einem rotierenden Flügelrad zum Bewegen der Luft und Erzeugen eines Luftstromes (zur Kühlung); Vorrichtung zur Lufterneuerung durch Absaugen der verbrauchten und Abgabe frischer Luft; Lüfter, Windrad', vereinzelt scherzhaft auf Menschen übertragen.

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ventilieren

1755 Gotting, gel. Am. 1034 Des berühmten Haies Warnung wieder das warme Trinken und Verbesserung seines Ventilators oder Abkühlers; 1765 Allg. dtsch. Bibliothek 11, 162 Nun werden noch zwo . . . angegebene Maschinen beschrieben. Das eine ist ein Ventilator, nach Art einer Luftpumpe eingerichtet (beide GANZ); Lichtenberg 1768 Aphorismen I80 Den Papst könte Noah machen, die dreyfache Crone der Ventilatorschmiedt an der Johannis Kirche; 1786 Journal v. u. /. Deutschland I 17 Anm. Ventilatoren, oder Zugröhren mit Klappen, die man öffnen und zuschliessen kann; La Roche 1791 Tagebuch 483 sie [Schiffe] sind meist mit Kupfer beschlagen; haben Ventilators (GANZ); 1796 Journal d. Moden XI 279 Anm. Ventilator-Hüthen; Rumford 1800 Kl. Sehr. I 64 Man sorgte dafür, die Luft in den Zimmern durch Ventilatoren und öffnen der Fenster beständig rein zu erhalten; Frank 1802 Biographie 151 mit Fenstern, so wie mit Ventilatoren wohl versehne Krankensäle; Blesson 1827 Befestigungskunst I 56 Luftmangel erheischt Vorsicht bei der Arbeit, und oft künstliche Maschinen. Ventilatoren; Rubner 1900 Hygiene 220 Flügelventilatoren; Zobeltitz 1902 papierene Macht II 26 durch Elektricität betriebene Ventilatoren den Wechsel und die Reinigung der Luft. . . besorgen; Dunkelberg 1910 Rhein'lex. 51 Ventila-

toren oder Windfänger auf Raddampfern; Graf 1925 Gesicht 259 Da sagt der Petrus: Den roten Huberjackl, den hupfenden, den kenn' ich freilich, den können wir gut brauchen, der hängt da droben am Ventilator; Berl. Illustr. Nachtausg. 21. 3. 1933 Als mir Jimmy die Hand drückte, surrten die Ventilatoren ganz laut, die Hitze war nicht mehr so drückend; Dtsch. Bergwerksztg. 8. 5. 1935 Geist der Unbildung, der neuerdings dazu übergegangen ist, irgendwelche Fragen oder Aufgaben zu ventilieren. Man ventiliere das einmal. Da werden deutsche Menschen zu Ventilatoren . . . Die deutsche Welt ventiliert lieber. Es kann sie freilich nicht wundern, daß sie nun ebenfalls ventiliert wird. Von denen nämlich, die es ablehnen, für Ventilatoren gehalten zu werden; Münch. N. N. 21. 8. 1940 Vom Ventilatorflügel schwer verletzt (Uberschr.) wollte ein 24jähriger Marktfahrer den Motor seines Lastwagens nachsehen und stellte die Untersuchung bei laufendem Motor an. Als er die Kühlerhaube hob, sprang ein Flügel des Ventilators ab, durchschlug dem Mann drei Rippen, die außerdem noch im Gelenk brachen und brachte der Lunge einen zwölf Zentimeter langen Riß bei; A. Zweig 1953 Erziehung 53 Aufgehängte nasse Leinentücher und ein wirbelnder Ventilator kühlten den Raum (WDG); Zuckmayer 1961 Uhr 73 Der Ventilator surrt.

ventilieren V.trans., im 16. Jh. vereinzelt, erst seit frühem 17. Jh. kontinuierlich nachgewiesene Entlehnung aus lat. ventilare etwas in der/die Luft schwenken, schwingen (um es zu lüften, zu reinigen), Luft fächeln; etwas hin und her überlegen, eingehend erörtern, erwägen, besprechen' (zu ventus 'Wind'); 1 im 16./17. Jh. vereinzelt, seit Mitte 19. Jh. (eventuell unter engl. Einfluß) selten nachgewiesen in der Bed. etwas (be-)lüften; mit einer Lüftungsanlage versehen'. 2 Seit frühem 17. Jh. in der Bed. etwas (eingehend) erörtern, verhandeln, abhandeln, diskutieren; (sorgfältig) erwägen, prüfen, überlegen, bedenken; (reiflich von allen Seiten) betrachten, untersuchen, durchdenken, sichten', im 20. Jh. bildungsspr. Modewort; dazu das in neuerer Zeit vereinzelt nachgewiesene Verbalsubst. Ventilierung "Erörterung; Überlegung, Erwägung'. ventilieren 1: Rot 1571 Dictionarius 358 Ventilirn, Erlüfften / schwingen / außschütten / gegen dem lufft außtauben; Francisci 1672 Histor. Rauchfaß I 169 Einige halten dafür / man habe die Angeln unterhalten durch Gold / so / zu einem fetten Oel / künstlich aufgelöset / und im Schoß der Erden / von der / durch heimliche Gänge einfliessenden / Lufft / ventilirt oder erluftet waren; Spielhagen 1857 Engl. Charakterzüge (Übers.) 48 warme und ventiline Häuser; Schlözer 1870 Amerikan. Br. 66 Die Luft ist so dick, dass künstlich ventiliert wird; Michelis 1872 Reiseschule 150 ventilirten Stuben;

Steudel 1887 Nihilismus 71 in schlecht . . . ventilierten Wohnräumen; Eckstein 1895 Hartwig 248 So empfahl sich das neue Konzerthaus vor allen ähnlichen Etablissements; denn es war gut ventiliert, und man tanzte hier nicht, wie etwa im Saale der Josephinenwirtschaft; Wantoch-Rekowski 1914 Kriegstagebuch 1870 280 Das Zimmer ist hoch, gut ventiliert und mit Luftheizung versehen. ventilieren 2: 1617 Rosen Creutz Bruder 32 Diese Frage nach meiner Einfalt zu ventiliren oder fürzubringen; 1629 Kalberarzt 7 darinn die Frag

Veranda ventilirt wird; Mengering 1633 Siegskrone 3 danach sollen auch etliche wenig fragen / so zu dieser materie gehören / kürtzlich ventiliret und erörtert worden; Seckendorff 1691 Reden 352 Meynung ventilirt; 1713 Fama XXV 73 die unter denen Gelehrten ventilirte Frage; Guggenberger 1722 Prozesse 33 das ventilierte Aectl; Marperger 1726 Anleitung 21 Und ist es gewiss, dass zuweilen solche Reflexiones, Prognostica, und Materien auf das Tapet kommen und ventiliret werden, gelehrten Staats-Leuten Speculationes zu machen, capables seyn; Glafey 1736 Anleitung 154 Es ist biss anhero mit vielen Gründen auf beyden Seiten die Frage ventilirt worden; Schröder 1737 SchatzKammer 2 dann, wo die quaestio mei et tui ventiliret wird, da höret beim gemeinen mann die liebe auf; 1787 Dtsch. Mus. I 8 Selten wagen es Männer von Gewicht, unberufen ihr Unheil über Dinge zu sagen, welche schon in Kaffeehäusern ventilirt worden sind; Laukhard 1797 Lehen IV 2 aber da alle meine Nachrichten öffentliche Begebenheiten . . . betreffen, die man in Frankreich . . . weit freymüthiger, als ich, referirt und ventilirt hat; Goethe 1827-42 (W. LX 25) Vor welchem [Tribunal] die Sache ventilirt und mit gerechter Einsicht entschieden werden kann (KEHREIN); Schopenhauer 1851 Parerga I 165 redliches Ventiliren philosophischer Probleme; ZKrieges 88 (1853) 219 oft ventilirte Frage einer Landung in England; 1854 Prutz'Museum 121 ein seit Jahren ventilirter Vorschlag, den Arbeitern . . . das Wahlrecht zu verleihen; Schmidt 1870 Bilder 4 Die Vossische Zeitung . . . ventilirte in gründlicher Erörterung die Frage, ob an der Spree in der Nähe des Schlosses Buden gebaut werden sollten; Knaak um 1890 militar. Vier Jahreszeiten 37 Worauf dann der Herr Gen'ral Alles ventilirt nochmal Und beleuchtet objectiv, Wie es eigentlich verlief; Harden 1927 Versailles 261 Thesen . . . zu ventilieren; Voss. Ztg. 29. 1. 1931 In der Unterredung . . . ist . . . auch die Frage französischer Kredite für Deutschland ventiliert worden; Lokal-Anz. 22. 6. 1933 In gewissen, vor allem englischen Kreisen, wird, wie ich höre, die Absicht ventiliert, den Komplex der Finanz-, Währungs- und Kreditfragen von der Weltwirtschaftskonferenz loszulösen; Dtsch. Bergwerksztg. 8. 5. 1935 Lüftung (Uberschr.) Man kann auch Lufterneuerung dafür sagen . . . Meistens sagt man freilich Ventilation . . . Aber nicht davon ist die Rede, was ureigene Sache der Technik ist . . . Es

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handelt sich hier vielmehr um den Sprechgeist und Schreibgeist, der einer Druchlüftung bedarf. Um jenen Geist der Unbildung, der neuerdings dazu übergegangen ist, irgendwelche Fragen oder Aufgaben zu ventilieren. Man ventiliere das einmal. Da werden deutsche Menschen zu Ventilatoren. Es wird nur noch in Ventilierungen gedacht . . . Früher, ja, da erwog man dies und jenes, erörterte es und prüfte es auf Herz und Nieren. Wenn es not tat, besprach man die Sache sogar. Das hat man nun nicht mehr nötig. Die deutsche Welt ventiliert lieber. Es kann sie freilich nicht wundern, daß sie nun ebenfalls ventiliert wird. Von denen nämlich, die es ablehnen, für Ventilatoren gehalten zu werden . . . Genug: ich wollte das verhängnisvolle Treiben lediglich ventilieren. Zu deutsch: Ich wollte diese Frage einmal anschneiden. War sie etwa nicht des Aufrollens wert? Hoffentlich hat es einen ordentlichen Durchzug gegeben. Diesmal aber ohne Ventilation!; Ziersch 1936 Ludwig Thoma 13 landwirtschaftliche Probleme ventilieren; Münch. N. N. 5. 1. 1941 Der freie Geld- und Kapitalverkehr . . . erfährt jetzt auch im Lande selbst Beschränkungen, wenn sogar der Gedanke des Zwangssparens ventiliert wird; Siiddtsch. Ztg. 12. 1. 1950 Eine andere Frage ist die oft ventilierte, ob Tiere ihnen selbst oder dem geliebten Herrn drohende Todesgefahren vorauszuahnen vermögen; Stuttgarter Ztg. 21. 2. 1959 Belgien ventiliert Austritt aus der [Montan ]Union; Offenhurger Tagehl. 21. 3. 1959 der letzte Punkt deckt sich mit allen Vorstellungen, die zu diesem Thema überhaupt in der Bundesrepublik ventiliert werden; ebd. 28. 8. 1959 Ausdrücklich vermied es Eisenhower auch, die Frage deutschpolnischer Beziehungen, die seit langem in Bonn ventiliert wird, aufzugreifen und bezeichnete sie als eine rein deutsche Angelegenheit; FAZ 7. 4. 1971 Die schon früher ventilierte Idee wurde neu belebt, daß die beiden kleinen europäischen Atommächte England und Frankreich ihre Kräfte zu einer gemeinsamen, für Europa gewissermaßen treuhänderisch geführten Atomstreitkraft vereinen; Rhein-Neckar-Ztg. 14.115. 2. 1981 Seine Umgebung ventilierte seine Absicht, den spanischen NATO-Beitritt mit Vorrang in sein Regierungsprogramm aufzunehmen. Ventilierung: Dtsch. Bergwerksztg. 8. 5. 1935 Es wird nur noch in Ventilierungen gedacht.

Veranda F. ( - ; -s und Veranden), Mitte 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl. veranda(h) ( < gleichbed. Hindi varanda oder portugies. varanda 'Geländer, Balustrade; Balkon', unsicherer Herkunft), früher gelegentlich in der Schreibung

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verbal

Verandah; in der Bed. 'überdachter, offener oder an den Seiten verglaster, balkonartiger Anbau, laubenartige Vorhalle an Wohnhäusern, vor allem an Villen' (Glasveranda). Pückler 1840 Bildersaal II 283 Übrigens herrscht dieselbe Bauart . . . wie in Patras, nur meistens ohne die dortigen Veranda's; Max v. Mex 1852 Leben IV130 in ihrer schattigen, duftigen Veranda in der . . . Hängematte sich schaukelnd; Görtz 1852 Reise I 56 Landsitz mit Verandahs; Spielhagen 1866 In Reib u. Glied II 250 Wir wollen in der Veranda eine Cigarre rauchen; König um 1875 Hum. 1133 Der Fähnrich schritt mit seiner Dame auf die Thür zu, er war entschlossen, sie in die Veranda zu führen, in der Hoffnung, dort ungestört mit ihr plaudern zu können; Bern 1875 Auf schwankem Grunde 46 Verandafenster; Reichenbach 1880 Roman e. Bauernjungen 71 Jetzt zog er es vor, nach den Mahlzeiten in den Veranden der verschiedenen Hotels sitzen zu bleiben und „ein Partiechen" zu machen oder „Weinproben" zu veranstalten; Frenzel 1884 Hausfreund 31 die Veranda war um diese Zeit zu sehr den Sonnenstrahlen ausgesetzt; Tovote 1900 Laterne 4 Die Fenster der Glasveranden klirrten und klapperten im Winde; Brandt 1901 Ost-Asien I 251 Um denselben führte eine sehr breite Veranda, an die auf der äußeren Seite auf drei Seiten große Zimmer stießen; ebd. I 269 Die Kiste wurde dann in eine kühle Ecke der Veranda gestellt; ebd. II 281 wir

saßen auf der Veranda meines kleinen Palais; Heinroth 1906 Enttäuschungen I 163 einem großen, vielbesuchten Restaurant, dessen Glasveranden den anerkannt schönsten Blick auf das grüngebettete Städtchen boten; Reck 1909 Grossmutter 86 lag in einem langen Stuhl auf der Veranda in lauter weißen Kissen und Decken vergraben; ebd. 88 schmale Silhouette in der Verandatür; Ebertin um 1910 Alles verstehen 40 Gertrud trat mit einem Körbchen am Arme auf die Veranda hinaus; ebd. 41 Plötzlich entsann sie sich ihres Auftrages und stieg schnell die Verandastufen hinab in den Garten; Brausewetter 1930 Kampf 8 Gartenveranda mit den weissen . . . Korbsesseln und Stühlen; Freska 1931 Sommer 115 vielleicht saß ihre Mutter, die hübsche alte Dame bei einer Handarbeit in der Veranda; ebd. 211 Auf der Veranda war der Teetisch zierlich gedeckt; ebd. 249 Im dritten Stock war die Veranda; Berl. Illustr. Nachtausg. 21. 6. 1933 Reiche Inder verwendeten das Silber wohl zur Verzierung ihrer Pavillons, einzelne ließen gar ihre Verandadächer mit Silberplatten decken; ebd. 13. 7. 1933 als er am frühen Morgen auf die Veranda kam, wo Juana ihn schon am Frühstückstisch erwartete.

verbal Adj., Anfang 18. Jh. (gebucht 1703 bei Wächtler) entlehnt aus spätlat. verbalis 'das (Zeit-)Wort betreffend; zum (Zeit-)Wort gehörig; wörtlich' (zu lat. verbum '(Zeit-)Wort'); 1 in der Bed. 'auf dem Wort, auf sprachlicher Aussage beruhend; in/mit Worten; wörtlich, mündlich (ausgedrückt); Wort-'(Ggs. real, Real-), bis ins frühe 20. Jh. meist als Bestimmungswort von Zss. wie Verbalinspiration wörtliche Eingebung der Bibeltexte durch den Heiligen Geist', aus dem Franz. teillehnübersetztem Verbalnote nur zum Verlesen bestimmte, nichtUnterzeichnete, nichtoffizielle, vertrauliche diplomatische Note zur Bestätigung einer mündlichen Mitteilung' und vor allem Verbalinjurie, fachspr. im juristischen Bereich in der Bed. 'Beleidigung mit Worten'; heute auch abgeflacht und leicht pejorativ verwendet im Sinne von sich (nur) in Worten, in einem Wortschwall o.ä. äußernd'; dazu das seit frühem 18. Jh. (1728 bei Sperander) gebuchte, aus dem Lat. übernommene Adv. verbaliter 'Wort für Wort, wörtlich, wortgetreu; mit Worten; mündlich'; die seit Ende 19. Jh. nachgewiesene subst. Ableitung Verbalismus M. (-; Verbalismen ungebr.) 'Übergewicht des Wortes über Sache und/oder Inhalt', leicht pejorativ auch TMeigung, große/leere Worte zu machen; leeres Gerede, Gefasel' mit der dazugehörigen Personalableitung Verbalist M. (-en; -en) 'Anhänger, Vertreter des Verbalismus', im 19. Jh. auch gebucht als 'Wortkrämer', und der adj. Ableitung verbalistisch 'wortbetont'; das in jüngster Zeit gebuchte, nur Schweiz, verwendete Subst. Verbal N. (-s; -e) 'Bericht, Protokoll'.

verbal

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2 Seit früherem 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) nachgewiesen als sprachwissenschaftliches Fachwort mit der Bed. auf dem Verb beruhend, das Verb betreffend, auf das Verb bezüglich; als Verb gebraucht; vom Verb abgeleitet5 (Ggs. nominal, Nominal-), in Zss. wie Verbaladjektiv adjektivisch gebrauchte Verbform; vom Verb abgeleitetes Adjektiv', Verbalsubstantiv 'substantivisch gebrauchtes Verb; vom Verb abgeleitetes Substantiv', Verbalphrase 'sich um ein (/das) Verb gruppierendes Syntagma (als direkte Konstituente des Satzes)', Verbalstil 'Schreib- oder Sprechstil, der Verben bevorzugt verwendet'; dazu in jüngster Zeit die fachspr. Präfixbildung deverbal vom Verb abgeleitet'. Vgl. das seit späterem 19. Jh. (SANDERS D W B ) nachgewiesene grammatische Fachwort Verb N . (-s; -en, -a), neben seit dem 16. Jh. belegtem, aus gleichbed. lat. verbum übernommenem Verbum N . (-s; -a), in der Bed. Itonjugierbares, z . B . einen Vorgang oder Zustand bezeichnendes Wort, das im Satz (Bestandteil des) Prädikat(s) ist verschiedentlich durch Zeit-, Tätigkeits-, Zustands-, Aussage-, Tuwort wiedergegeben. Daneben das seit früherem 19. Jh. (bei Oertel 1831) gebuchte Subst. Verbale N. (-s; Verbalia, Verbalien) in der veralteten Bed. wörtliche Äußerung', nur pl. auch 'Wortkenntnisse; Kenntnis bloßer Wörter' (Ggs. Realien) und 'leere Worte; Geschwätz' (zu 1), in jüngster Zeit gebucht für von einem Verb abgeleitetes Substantiv' (zu 2); dazu seit früherem 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) die eventuell unter frz. Einwirkung aufgekommene Ableitung verbalisieren V.trans., zunächst gebucht in der veralteten juristischen Bed. mündlich verhandeln; (das Verhandelte) wörtlich niederschreiben; Aussagen zu Protokoll geben', auch 'sich in einem Wortschwall ergehen, unnütze Worte machen, plappern, schwätzen', seit neuerer Zeit bildungsspr. nachgewiesen für '(Gedanken, Vorstellungen, Gefühle u.ä) in Worte fassen, mit Worten ausdrücken', auch reflex. verwendet für sich äußern, seine Gedanken, Gefühle u.ä. in Worte fassen', speziell in der Sprachwissenschaft auch 'in Sprache umsetzen, versprachlichen' (zu 1), als Fachwort der Grammatik für 'ein Wort (durch Anfügen der Verbendungen) zu einem Verb machen' (zu 2), mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Verbalisierung F. (-; -en).

verbal 1 : Sperander 1728 A la mod Sprach 773 verbale Injurien sind wann ich jemand mit schimpflichen Worten und anzüglichen Reden an seiner Ehre beleidige; Hederich 1746 Anleitung zu den fürnehmsten Wissenschaften der Verbal-Philologie (Titel); 1772 Frankf. gel. Anz. 65 Verbalideen; Michaelis 1785 Mos. Recht VI 81 Grobe Verbal-Injurien gegen die Obrigkeit (Uberschr.) Schimpfliche Reden, oder Flüche gegen obrigkeitliche Personen; F aber 1790 Bey träge 1174 Verbalund Real-Ermahnungen; Dalberg 1791 Ästhetik 150 Zuletzt wurde das Werk mit einem Verbalregister versehen; Laukhard 1802 Leben V 109 Verbal-Zotologie ; 1847 Mola 209 wegen Real- und Verbalinjurien zu denunziren; Eckstein 1889 Camilla 31 Nur Fritz, der Kutscher, verzog das schlaue Gesicht wie ein Spötter, und um die Lippen spielte ihm die höhnische Apostrophe, mit der er schon zweimal den würdigen Diener belei-

digt hatte, die dreiste Verbalinjurie: „Verrücktes Huhn!" Nyström 1915 Schulterminologie 46Anm. Dem verbalen Unterrichtsbetrieb der Humanisten gegenüber verlangten schon Männer wie Montaigne, Bacon, Ratichius, Comenius u.a. nicht nur eine sorgfältigere Berücksichtigung des Inhalts beim lateinischen Unterricht, sondern überhaupt mehr Bezugnahme auf 'res', d.h. sachliches Wissen; Wilhelm II 1922 Ereignisse 122 mit einer Verbalnote, in welcher England seine Neutralität im Falle eines auf Deutschland erfolgenden „unprovozierten" Angriffes anbot, falls Deutschland auf eine Beschränkung seines Kriegsschiffbaues . . . eingehen würde; 1923 Polit. Handwb. II 849 Verbalnote ist eine ununterschriebene Note, die namentlich bei Rechts- und Handelsangelegenheiten zwischenstaatlicher Art als die einfachere Form der Verhandlung verwandt wird. Sie wird in der dritten Person abgefaßt und meist mit der

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verbal

Überschrift (note verbale) versehen; Heuss 1927 Politik Wb. o. S. D. Verbal-N. ist eine d. besonderen Form entbehrende, sachliche Mitteilung; im ursprünglichen Sinn d. Notiz einer mündlichen Darlegung . . . jetzt unter der Amtsbezeichnung aide-memoire; Moreck 1928 Liebe 96 Inseratenteil von Zeitungen . . . im redaktionellen Teil mit pikanten Bildchen und erotischen Anzüglichkeiten, mit verbalen und graphischen Schlüpfrigkeiten und Zweideutigkeiten gefüllt; Scheler 1929 Weltansch. 85 Verbalinspiration; Südd. Mon'h. 27 (1930) 519 schon damals öffnete sich die Kluft zwischen Verbalidealismus und stillschweigender Opferbereitschaft für die Idee, wie sie heute bezeichnend für die Kampfstellung geworden ist, in der sich beide Generationen gegenüberstehen; Lokal-Anz. 23. 10. 1930 Der Budapester südslawische Gesandte . . . erschien heute mittag bei dem ständigen Stellvertreter des Aeußern . . . und übergab ihm eine Verbalnote, in der um die Feststellung und Verhaftung eines Kroaten gebeten wird; Münch. N. N. 18. 5. 1944 Der Antimilitarismus . . . feierte hier seine verbalen Triumphe; Hellpach 1949 Pax 315 verbal, in Presse und Versammlung; ders. 1951 Sozialpsych. ^Sprachliche Eingebung: Verbalsuggestion. Den höchsten Grad der Renaturierung erreicht die Naturalisation der denaturierten Sprachsignen in der Verbalsuggestion; Süddtsch. Ztg. 22. 2. 1951 Der Gerichtspsychiater . . . bezeichnete Falk als einen „Verbalsadisten"; ebd. 12. 6. 1957 Die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung veröffentlichte Verbalnote an Moskau; Adorno 1958 Noten 126 Während die mit Kant anhebende Bewegung, als eine gegen die scholastischen Residuen im modernen Denken, anstelle der Verbaldefinitionen das Begreifen der Begriffe aus dem Prozeß rückt; FAZ 16. 12. 1970 Die Opposition verließ den Saal aus Protest gegen Verbalinjurien, zu denen sich Kultusminister von Oertzen im Rahmen einer bewegten justizpolitischen Debatte . . . hatte hinreißen lassen; ebd. 1. 3. 1971 Schiller — diesmal ohne verbalen Überschwang, sachlich und im Urteil sehr abgewogen — zeichnete ein Bild der Zuversicht; ebd. 7. 4. 1971 Einige Zwischenrufer geizten nicht mit gröbsten Verbalinjurien, die Frey jedoch als politisch töricht verurteilte; ebd. 9. 9. 1971 Fürchten manche nicht, wenn man das verbale Durcheinander betrachtet, die Regierung könne sich doch auf einem Weg befinden, der zum Erfolg führt?; Althaus/ Henne/Wienand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 266 Modell zur Beschreibung und Erklärung von Fähigkeiten verbaler Kommunikation; Die Zeit 20. 2. 1981 Der Konsens bröckelt, ein verbaler Bürgerkrieg findet statt, der immer häufiger nicht bloß verbal bleibt.

verbalisieren: Curtius 1927 Torso 65 Der zweite Schritt besteht . . . darin, diese neugeschaffenen Substantiva des philosophischen Denkens wieder zu „verbalisieren", das heißt, die in jedem einzelnen Begriff schlummernde Dynamik zu erwecken und zu entwickeln. Verbalisierung: Althaus /Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 26 Neben der Geometrisierung der Zeichen . . . ist vor allem auf die Versprachlichung, die Verbalisierung der Zeichen . . . aufmerksam zu machen. Verbalismus: Willmann 1897 Gesch. III 14 die Philologie, neologisch betrieben, führte zum Nominalismus und Verbalismus; Krauss 1949 Aufs. 307 das unbesiegbare Misstrauen gegen den Verbalismus der Ideen; Bad. Ztg. 30. 12. 1969 Strauß kritisiert die Außenpolitik Bonns (Überschr.) Schröder warnt vor „Verbalismus" — Moskau verlangt Anerkennung der DDR; N. Z. Z. 25. 3. 1971 Ohne Zweifel hat die jetzige Regierung energische Schritte in dieser Richtung unternommen, aber auch nicht so viel, wie in großtönenden Ankündigungen versprochen wurde oder in Wahlreden breit dargestellt wurde. Es ist üppiger Verbalismus getrieben worden, bei dem auch der Hintergrund der zwei ersten Jahrzehnte bundesdeutscher Politik polemisch eingeschwärzt wurde. verbalistisch: Willmann 1896 Gesch. II 615 Seine Methode ist nun nicht bloß nominalistisch, sondern verbalistisch; Krauss 1949 Aufs. 309 Sterben des rhetorischen und verbalistischen Spaniens. verbal 2: Althaus/Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 447 die Identifikation des verbalen Semantems ( = des semantischen Werts des verwendeten Verbs und der semantischen Charakteristik der mit dem Verb gegebenen Stellen . . .); ebd. 197 NP ( = Nominalphrase) und VP ( = Verbalphrase) als Symbole für die unmittelbaren Konstituenten von S; ebd. 408 die Ausbildung neuer analytischer Verbalumschreibungen für Passiv, Futur, Perfekt und Plusquamperfect . . . Besonders spätahd. Tendenz zur Zweiformigkeit des Verbalplurals aller Formen. deverbal: Alth aus /Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 157 deverbale Substantive . . . Deverbale Adjektive. Verb(um): Nürnberg. SO Anf. 16. Jh. (Siebenkees, Materialien zur Nürnberg. Gesch. II 727) die Nomina vnnd Verba teutsch lernen; Ickelsamer vor 1537 Grammatica A 3 warumb Verbum ain werck haisse; Meichssner 1538 Handbüchlin

Verdikt (Mueller, QSchr. 163) Verbum; ebd. 164 Verba; 1721/2 Discourse d. Mahlern 31 Die Menschen . . . bestimmen einen andern Theil ihre Urtheile anzudeuten, oder welches eben dasselbe ist, einen Schluß zumachen. Die Grammatici heissen die Wörter von dieser Gattung Verba; Althaus/Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 408f. Anfangsstellung des Verbums im Frage- und Aufforderungssatz; Zweitstellung des Verbums im Hauptsatz; ebd. 188f. Die adverbiale Beziehung: Sie besteht zwischen dem Verb und den Satzgliedern, die charakterisierende Umstände des mit dem Verb bezeichneten Vorgangs angeben . . . Für den Ausbau der Verbgruppe (in Prädikatfunktion) gelten die verschiedenen Objekt- und Adverbialbeziehungen; ebd. 195 Die Vorrangigkeit des Verbs im Satz liegt als Grundannahme den meisten neueren Grammatiken zum Dt. zugrunde, ohne daß in jedem Fall ein direkter Rückgriff auf

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Tesniere nachweisbar ist. Den Kern dieser Grammatiken bildet ein System von Satzbauplänen, deren strukturelles Zentrum das Verb ist; ebd. 170 Die schwachen Verben weisen in der Regel keine Stammallomorphe auf . . . Die starken Verben besitzen bis zu vier Stammallomorphe; ebd. 188 es lassen sich entsprechend „Subjekt-PrädikatGrammatiken" und „Verb-Grammatiken" unterscheiden; Zeitmagazin 20. 2. 1981 Auf der Insel wird für Vieh-, insonderheit Pferdezucht, das gleiche Verbum benutzt, wie für die Kindererziehung, freilich nur in jener Schicht, die young ladies überhaupt hervorzubringen imstande ist. Beides nennt man breeding. Verbalisierung: Althaus/Henne/Wiegand 1973 Lex. d. germ. Linguistik 158 Durch Anaphorik entstehen auch viele Adjektivierungen . . . oder Verbalisierungen.

V e r d i k t N . (-(e)s; -e), im früheren 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl, verdict ( < mlat. ver(e)dictum 'Zeugnis', zurückgehend auf lat. verus 'wahr' und dictum 'Äußerung, Spruch'); im juristischen Bereich in der Bed. '(meist einen Schuldspruch beinhaltendes) Urteil, Entscheidung (der Geschworenen)', gleichzeitig allgemeiner verwendet im Sinne von '(negatives) Urteil, Aussage; Ver-, Aburteilung', häufig in Verbalsyntagmen wie (sein) Verdikt (über j m d n . a u s s p r e c h e n , (s)ein Verdikt fällen. Heine 1837 Salon IV 498 bis ihr euer dramaturgisches Verdikt ausgesprochen; Immermann 1838 Oberhof 59 Erst wenn das Verdikt gegeben zieht der Richter bei Abmessung der Strafe die früheren Bestrafungen in Betracht; Steinmann 1843 Mefistofeles IV 73 vere dictum (daher der Ausdruck verdict); Simon 1855 Exil I 37 Verdict; Bucher 1855 Parlamentarismus 215 Verdikt; Schiicking 1859 Erzählungen II 130 [Er] gab dann sein Verdict dahin ab, daß allerdings das Rad so gebrochen sei; Kompert 1859 Selbstlaut (VII 238) daß ich von diesem Rauchverdikt. . . Kunde hatte . . . Mit ihrem Cigarrenverbot; Halm 1860 Freundinnen (IV 68) dein Verdikt über mich gesprochen; Scherr 1870 Farrago 149 Es ließ sich auf diese Unterlagen hin doch . . . kaum ein auf Feuertod lautendes Verdikt fällen; Villamaria 1873 Manon 33 Bin ich in dieses Verdict auch mit eingeschlossen?; Reichenbach 1880 Roman e. Bauernjungen 83 Eine Sachverständigen-Kommission hatte den beanstandeten Cement geprüft und ihr Verdikt dahin abgegeben, daß die Weichheit des Materials durch zu geringen Kalkgehalt bedingt sei; Nordau 1881 Paris II 199 der Wahrspruch der Geschworenen hatte die blutdürstige

Träumerei des . . . Schriftstellers zur Höhe eines Rechtsgrundsatzes erhoben. Das Verdict der Jury war klar und unzweideutig; Gottschall 1885 Totenkl. 314 sie haben nur einmal vor dem kritischen Tribunal zu erscheinen, das überhaupt in seinen Verdicten viel milder und kameradschaftlicher ist als bei uns; Riehl 1885 Vorträge II 310 Verdikt; Suttner 1896 High-life 121 ehe sie eintraten, warfen sie noch den unvermeidlichen Blick in den Spiegel, der ihnen das lächelnde Verdikt zurückwarf: tadellose Schönheit in tadelloser Toilette; 1916 Franzosen 67 diplomatisch allerlei zu Gunsten des Uebeltäters vorgebracht und schließlich für ein Verdikt mildernder Umstände so geschickt plädiert. . . die Freisprechung erzielt; Bülow 1916 D. Politik 301 Verdikt zu sprechen; 1924 Kunstwissenschaft 61 jugendliche Neigung zu Ketzerverdikten; Gregor 1929 Schwestern 33 Man verläßt . . . seine junge Frau nicht nach drei Wochen Ehe, oder vielmehr, man läßt den Mann nicht nach Afrika ziehen! Denn das Verdikt fiel einstimmig zugunsten Splenys und zu Ungunsten Jaras aus; Werfel 1929 Abituriententag 310 Gelingt solch ein Doppelselbstmord nur zur Hälfte . . . dann spricht heute wohl kein Gericht mehr das Mord-

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Verifikation — verifizieren

verdikt aus; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 448 ein besonnenes und unbestochenes Verdikt fällen; Schröder 1932 Racine 45 die unbeirrte Gläubigkeit des Dichters . . . sein Wissen um die Harmonie einer in den unverrückbaren Schranken göttlicher Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit ruhenden Welt machen das tragische Verdikt jedesmal zu einem endgültigen, einem unbezweifelbaren; Horkheimer 1955 Reden 119 das Verdikt des sozialen Pessimismus; 1957 Hamburger Forschungen 163 weil eben sein Name mit einem Verdikt behaftet ist; Guggenheim 1959 Sandkorn 35 wenn das Verdikt so lautete, es sei meine Ration Glück damals zu fast drei Vierteln aufgebraucht gewesen, ich würde dagegen keinen Einspruch erheben; Adorno 1961 Noten II 37 Verdikt über den realistischen Roman; FAX 1. 3. 1971 Die Rede des Bundespräsidenten zum Reichsgründungstag ist wegen ihres eigenwilligen Geschichtsverständnis-

ses nicht ohne kritisches Echo geblieben . . . Auch das überraschende Verdikt über die Weimarer Republik, in der die Gegner bereits 1920 das Regiment übernommen haben sollen . . . konnte nicht ohne Widerspruch bleiben; ebd. 19. 3. 1971 Morgendlich schreitet eine unabhängige Jury zu Werke, um Jagd auf scheinalte und halbechte Produkte, auf unvollständig restaurierte oder trügerisch aufpolierte Sachen, auf das Strandgut der Antiquitätenbranche zu machen. Das bewirkt vor allem innerhalb des üppig wuchernden Möbelangebotes drastische Verdikte; mancher „repräsentative", mit auffallenden Beschlägen und strahlenden Lasuren versehene Schrank mußte so ins Depot retourniert werden; Die Zeit 27. 11. 1981 Nur ein Gesetz . . . wird von diesem Verdikt über den Ertrag des monatelangen Ringens der Koalition ausgenommen sein.

V e r i f i k a t i o n F . ( - ; - e n u n g e b r . ) , seit f r ü h e r e m 1 9 . J h . n a c h g e w i e s e n , z u r ü c k g e h e n d auf gleichbed. m l a t . verificatio

( virtuos, —» Virtuose (vgl. mlat. virtuositas 'Tugend', gleichbed. älteres engl. virtuosity, jüngeres frz. virtuosité und ital. virtuosità); in der meist positiv wertend verwendeten Bed. 'virtuose, vollendete, vollkommene, meisterhafte, brillante, glänzende Beherrschung einer Technik, einer Sache; (technische) Vollendung, Vollkommenheit; Meisterschaft, Könnerschaft, Künstlertum', im 18. Jh. in Anlehnung an lat. virtus vereinzelt mit der Konnotation des Ethischen (vgl. —» Virtuose b); häufig im Bereich der Kunst, speziell für 'meisterhafte (technische) Beherrschung eines Instrumentes', gelegentlich leicht pejorativ für 'bloße Kunst-, Fingerfertigkeit; äußerliche Brillanz ohne künstlerische Gestaltungskraft; glatte technische Beherrschung ohne Belebung durch Gefühl, ohne Erfassung des Wesentlichen', im 20. Jh. vereinzelt pl. verwendet für 'Ergebnisse der Anwendung virtuoser Technik, virtuos gestaltete (Kunst-)Werke'. Goethe 1772 (Cassirer 1916) Freiheit 302 Virtuosität; Klinger 1776 Sturm u. Drang V 4 (Philipp, Klinger 105) Virtuosität; Goethe 1781 Br. (V 46f.) Nehmen Sie einen recht aufrichtigen Dank für die schönen Zeichnungen, die Sie mir geschickt haben! Mir scheint unmöglich, die Virtuosität höher zu treiben. Ich habe mich sogleich hingesetzt und eines nachgekritzelt; man sieht die Höhe, die der Künstler erreicht hat, nicht lebhafter, als wenn man versucht, ihm einige Stufen nachzuklettern; Herder 1793 - 95 Br. (XVII 386f.) denn auch die griechischen Götter und Göttinnen sind Helden der Tugend, d.i. einer Virtuosität, jeder in seiner Art. So preisen sie die Hymnen; den Zeus als den Mächtigsten und Besten . . . die Pallas . . . als eine Beschützerin der Städte, die Meisterin des Krieges, die Erfinderin der schönen Künste des Friedens; ebd. 552 Einem Volk endlich, das reitet, jagt und trommelt, sind die Reit-, Jagd- und Trommelwißenschaften . . . die National-Encyklopädie ihrer Bewundrung und Achtung. Geschicklichkeit in ihnen dünkt ihm die höchste Virtuosität; Goethe 1795/96 Lehrjahre XXI 152 und wie sie aus der Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuosität ihrer Besten ein Ganzes zusammen arbeiteten; Schleiermacher um 1799 Versuch (II 5) daß der Theorist hier nichts anderes tut, als die Virtuosen zu ergänzen, indem diese, wenn sie der Welt etwas von ihren Kenntnissen mitteilen, es immer, ich weiß nicht ob mehr verschmähen oder versäumen, den Umriß des Ganzen zu ziehen, und jedem Einzelnen eine bestimmte Stelle anzuwei-

sen, und daß er insofern er seine Vorschriften aus allgemeinen Begriffen zusammensetzt, auf eigene Virtuosität Verzicht tut, und sich gern jener verehrten Autoritäten bedient; ders. 1799 Religion IV 72 In allem Handeln und Wirken, es sei sittlich oder philosophisch oder künstlerisch, soll der Mensch nach Virtuosität streben, und alle Virtuosität beschränkt und macht kalt, einseitig und hart; ebd. 185 das eigentliche höchste Ziel der Virtuosität im Christentum; Herder vor 1803 (XVII386f.) Ohne dieses Gefühl der Ehre wären keine schöne griechische Körper und Seelen, keine Helden und Götter, auch keine Kunst, die sie würdig darstellete, entstanden; denn auch die griechischen Götter und Göttinnen sind Helden der Tugend, d. i. einer Virtuosität, jeder in seiner Art; Schleiermacher 1804-05 Tugendlehre II 72 Virtuosität . . . technische Vollkommenheit, im Darstellen durch Leben sowohl in der Kunst, als auch im Wissen . . . Wo die Vollendung in der Ausführung gar nicht in dem Interesse an eine Idee gegründet ist, sondern nur in einer Liebhaberei des Talents. Es fehlt also der Wille zur Virtuosität in der Ausführung anders beschaffener Aufgaben; Femow 1806 Studien II 416 [Improvisation] von echten Künstlern in dem Grade der Virtuosität ausgeübt; 1807 Br. v. d. Univ. 393 ein Studium der Antike, was ich bei der mir ganz geöffneten Bibliothek vorzüglich zu einem kleinen Grade der Virtuosität bringen kann; ebd. 416 Varnhagen glänzte . . . durch seine gesellschaftliche Petulanz, in der er zu immer höherer Virtuosität sich aufschwingt; Niebuhr

Virtuosität 1812 Br. II 276 einen schmerzlicheren Eindruck . . . als wenn ein Genie sich seine Flügel bindet, und eine Virtuosität in etwas weit Geringerem sucht indem er dem Höheren entsagt; Müller 1817 Sehr. I 146f. So nun steuert das junge Verdienst grade auf den wahren Adel los, welcher ja nichts anders ist, als: die Personifikation der Tugendlichkeit und der Virtuosität; 1825 Kunst-Blatt 4 Virtuosität eines Bravoursängers, der sein Kunstvermögen geltend machen will; Holtei 1826 (Jahrb. D. Bühnenspiele V Vorr.) wenn Herr Karl Unzelmann den faden Stutzer mit grösserer Virtuosität durchgeführt; Wit v. Dörring 1827 Lucubrationen 47 jene Virtuosität in den Künsten, die das Leben verschönern, von Musik, Schauspiel etc.; Goethe vor 1832 (XXIX 74) wenn er die geige spielt, wollen wir die flöte blasen, eine Virtuosität ist die andre werth (DWB); Rumohr 1832 Reisen 6 Die Virtuosität im Technischen war ihr [der niederländischen Malerei] vorwaltendes Verdienst; Fries 1832 Philos. II 221 unterscheiden wir in Rücksicht der schönen Künste in weiterer Bedeutung erstens Bildungskünste und Künste des Genies, In Rücksicht der letztem aber noch Genialität und Virtuosität. Das Genie erfindet ästhetische Ideen, das Talent des Virtuosen weiß die erfundenen darzustellen; Bornemann 1838 Soldaten-Lieder Vorw. III Wie die Musik-Chöre der Kgl. Preuss. Armee in den letzten 20 Jahren zu einer kaum glaublich gewesenen Virtuosität sich aufschwangen; 1840 DVjS III 266 Die Sprache . . . jetzt ein vielseitigeres Instrument mit unendlich mehr Tasten, Registern und Pedalen . . . Soll es mit Virtuosität gehandhabt werden, so bedarf es eines . . . Meisters; Steinmann 1842 Mefistofeles II 86 Gassenbubenvirtuosität im Schelten und Schimpfen; Steffens 1843 Was ich erlebte VII 142 kriegerische Virtuosität; 1844 Dtsch. Chr. I 203 Zur Erlangung der Virtuosität im Bereiche des Betrugs; Hettner 1845 (Sehr. 43) dass nur der Stil . . . das Grundgesetz aller Kunst sei und daß alle Virtuosität der Technik, die diese ewigen Gesetze überspringt, nun und nimmer in alle Ewigkeit nichts tauge; Moltke 1846 Wanderbuch 124 einen Beweis seiner staunenswerthen Fähigkeit, jeden Augenblick des Lebens voll zu verwerthen, der Virtuosität, welche der vielgepriesene Mann im raschen Erfassen aller Eigenthümlichkeit von Land und Leuten sich angeeignet hatte; Stahr 1847 Italien I 397 die Engländer, welche das Markten und Feilschen mit Virtuosität betreiben; 1850 Hofdamen-Br. 272 [Gesang] mit seltenem Geschmack und Virtuosität, alles extemporiert; Hettner 1852 Drama 84 so ist dies eben nur die Virtuosität der Routine [eines Schauspielers]; Kossak 1855 Stereoskopen 1 einer Bowle . . . in deren Anfertigung er eine vollendete Virtuosität entwik-

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kelt; Ihering 1858 Br. an Freunde 89 Dein Talent, Deine geistige Virtuosität; Rodenberg 1863 Strassensängerin 110 Sie [die Französinnen] am Leichtesten finden sich in jede, auch die unnatürlichste Wendung des Lebens; mit derselben Virtuosität würde die Französin heut eine Rolle des Lasters und morgen eine der Tugend spielen; Boretius 1871 Friedrich d. Gr. 21 wie denn überhaupt Friedrich eine Virtuosität darin besitzt, den Ton seiner Briefe der Individualität des Adressaten entsprechend zu greifen; Curtius 1881 Wissenschaft, Kunst u. Handwerk 6 Kennzeichen jenes Handwerkersinns, der vom Bewusstsein einer gewissen technischen Virtuosität aufgebläht sich auf den Richterstuhl setzt, ohne selbst ein grosses und hohes Ziel sich gestellt . . . zu haben; 1887 Grenzboten I 316 „mit technischer Virtuosität" . . . den Zeichenstift, die Feder . . . zu handhaben; Bleibtreu 1889 Nap. I 9 hatten doch die Lässigkeit und auffallende Virtuosität im Mißverstehen seitens Marschall Bernadotte's sehr viel zum Mißlingen beigetragen; Dtsch. Dichtung 15 (1894) 154 Im Seufzen hatte sie es zu einer wahren Virtuosität gebracht, zahlreiche Abtönungen standen ihr zu Gebote, von dem matten Hauch an . . . bis zu jenem wehen, halb unterdrückten Stöhnen; Seefeld 1895 Reisestudien 88 Nirgends wird mit mehr Virtuosität gelogen als in Frankreich; Haarhaus um 1900 Blattschüsse I 70 während er mit wahrer Virtuosität ein Spiel Karten mischte; Bieberstein 1903 Recamier 45 eine außerordentliche Virtuosität in der Kunst der Koketterie; Eucken 1904 Strömungen 4 inmitten nie gesehener, nie geahnter Virtuosität technischer Leistungen; Richter 1909 kunsterz. Ged. 85 [der l'art pour l'art-Gedanke] muss daher zu einer lebensfremden Kunst, zu technischem Spintisieren und zu brotlosen Virtuositäten führen; Friedeil 1927 Kulturgesch. I 180 eine ebenso geistreiche wie perfide Diplomatie, die besonders in Venedig zur perfektesten Virtuosität ausgebildet ist; Moreck 1928 Liebe 136 Der Franzose besitzt die Virtuosität des Sinnengenusses ; Künkel 1929 Einführung in die Charakterkunde 57 Sehr reizbare Menschen, besonders wenn sie auf irgendeinem andern Gebiet dank irgendeiner Virtuosität etwas Brauchbares leisten, ertragen nur die Gegenwart besonders ausgesuchter Freunde; Lokal-Anz. 6. 6. 1934 löst die pianistische Aufgabe mit viel Virtuosität, wenn auch etwas draufgängerisch; ebd. 24. 10. 1934 zur Virtuosität gesteigerte Nachahmungssucht; Dtsch. AZ. 11. 1. 1935 Leidenschaft des formalen Darstellungstriebes paarte sich mit glänzender, kraftstrotzender Virtuosität; Münch. N. N. 2. 3. 1941 Die liebenswürdige Beschwingtheit von Rossinis Meisteroper hängt in ihrer Wirkung ausschließlich von der Virtuosität der Sänger ab. Sind

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virulent

diese in der Lage, die ungewöhnlichen technischen Schwierigkeiten mit Grazie zu meistern, so kommt das köstliche Lustspiel . . . zu vollkommener Geltung; ebd. 11. 2. 1944 Der Auswahl der Stücke nach — Chopin und Liszt überwogen — scheint der junge Künstler noch für die reine Virtuosität Vorliebe zu hegen; Die Post 26. 7. 1946 Die Vielfalt der Klanggebung, die verblüffende Virtuosität in allen nur erdenklichen Spielarten, die geschmackvolle Ausnutzung dieses nur dreisaitigen Instruments; Hankamer 1947 Gegenref. 67 In der literarischen Virtuosität kommt ein bei uns seltenes Streben nach schöner und gekonnter Form zu seinem Recht; ebd. 81 die Freude am artistischen Vermögen, der Stolz auf Virtuosität und Bildung veranlasst die Dichter zu reden; Uhde-Bernays 1947 Im Lichte 49 die vielbesprochene Gepflogenheit seiner technischen Virtuosität [im Malen] kennen zu lernen; Süddtsch. Ztg.

18. 1. 1949 Dort wo Natascha Boscovitsch nur tanzte . . . konnte sie mit ihrer technisch sicheren Virtuosität überzeugen; ebd. 7. 7. 1955 Zwar blies Kurt Redel seine a-moll-Sonate mit jener veräußerlichenden Virtuosität, die zwar die technischen Probleme hervorragend meistert, jedoch den metaphysischen Inhalt ignoriert; Bosshard 1960 Winckelmanrt 87 Ein besonderes Feld für die Virtuosität ist die eigentliche Ausführung der Kunstwerke, das Handwerkliche am künstlerischen Schaffen; Offenburger Tagebl. 11. 3. 1961 Die „Virtuosität" der Interpreten nennt Drese ein „hochgezüchtetes Spezialistentum"; Süddtsch. Ztg. 16. 4. 1962 Es heißt immer, die Zeiten bloßer Virtuosität seien vorbei. Feine Leute ziehen bedauernd die Augenbrauen hoch, wenn sie von Paganini oder Liszt oder Wienjawski reden hören; Die Zeit 4. 7. 1980 Nigel North spielt Visées Suiten mit brillanter Virtuosität.

v i r u l e n t A d j . , seit A n f a n g 1 9 . J h . ( C A M P E ) gebucht, seit f r ü h e m 2 0 . J h . belegt, ( w o h l über gleichbed. engl./frz. virulent) z u r ü c k g e h e n d auf lat. virulentus 'giftig' (zu virus, —» V i r u s ) ; i m medizinischen Bereich zunächst f ü r 'giftig; eitrig' v o n W u n d e n , dann in d e r heutigen Bed. 'infektiös, ansteckend; krankheitserregend, k r a n k m a c h e n d ' v o n K r a n k h e i t s e r r e g e r n , bildungsspr. auch bildlich v o n moralischen P h ä n o m e n e n f ü r '(aktiv) sich ausbreitend, ansteckend (mit schädlicher W i r k u n g ) , grassierend', v o n daher auch 'bösartig, gewalttätig, aggressiv; heftig, v e h e m e n t ' u n d 'dringlich, akut, aktuell'; dazu das seit f r ü h e r e m 1 9 . J h . belegte, ( w o h l ü b e r gleichbed. engl./frz. virulence) auf lat. virulentia ' G e s t a n k ' z u r ü c k g e h e n d e Subst. V i r u l e n z F. ( - ; o h n e PI.), zunächst v e r e i n z e l t nachgewiesen f ü r ' G i f t i g k e i t ; eitrige Beschaffenheit', dann in d e r heutigen B e d . '(graduell meßbare) Stärke d e r k r a n k m a chenden Eigenschaften eines V i r u s ; A n s t e c k u n g s f ä h i g k e i t , Infektiosität, Bösartigkeit' v o n K r a n k h e i t s e r r e g e r n , auch bildlich auf moralische P h ä n o m e n e b e z o g e n , bes. i m Sinne v o n 'Heftigkeit, Gewalt(-tätigkeit), V e h e m e n z , Aggressivität'.

virulent: Preuss. Jahrbücher 218 (1929) 386 Die vielen feindlichen Kräfte, mit welchen der Organismus des Reiches seit seiner Geburt. . . sich abfinden mußte, blicken gleichsam verkapselt, solange dieser Organismus keine ernstliche Krisis zu bestehen hatte. Als sie eintrat, wurden jene „virulent", und mit ihr begann der Kampf um die Daseinsform; Umschau 35 (1931) 85 Gegen das Eindringen von Krankheitskeimen (Infektion) ist der Körper zunächst durch die äußere Haut bzw. die Schleimhäute geschützt. Sind nun bösartige (virulente) Keime trotzdem durch eine Haut- oder Schleimhautwunde in den Körper eingedrungen, so ist dieser keineswegs wehrlos; Wickenburg 1938 Gloria 20 die kindlichen Erinnerungen waren virulent geworden; Süddtsch. Ztg. 24. 9. 1946 Die

ungenügende Dosierung könne Keime virulent und widerstandsfähig gegen Penicillin belassen; Mann 1947 Zeitalter 335 auf Grund einer . . . virulenten und aggressiven Mißbilligung der gesamten Geschichte, der Kultur (WDG); Frankel 1964 Deutschland 36 virulente Aversion gegen den Regierungsstil; Schnurre 1964 Schreibtisch 24f. Das Übel liegt tiefer. Es liegt im Versäumnis unserer Gewissenserforschung beschlossen. Es gedeiht an der Ämterbesetzung mit alten Nationalsozialisten. Es braucht nicht immer gleich in Erscheinung zu treten; es bleibt auch gegenwärtig, wenn es nicht aktiv ist. Es kann heute hier aufbrechen, morgen dort . . . Es kann sich militant gebärden oder nationalistisch, in Mischformen auftreten oder geballt. Nur eins kann es

Virus nicht: unwirksam werden. Denn es ist virulent; Süddtsch. Ztg. 30. 12. 1967 Der nicht immer nur richtig verstandene Gaullismus wird gerade in Asien außerordentlich virulent und findet auch dort gern zweifelhafte Parteigänger; FAZ 29. 11. 1971 und nun ist ein großer Teil dieser Dollars höchst virulent und jederzeit bereit, sich in dieses oder jenes Land zu ergießen; Die Zeit 4. 7. 1980 und nicht zufällig wird diese ganze Angelegenheit virulent, wo die Regierung auch die Künstler-Sozialversicherungsgesetze durchdrückt; ebd. 10. 10. 1980 jene Wahl, in der die FDP eine politische Grundstimmung für sich nutzbar gemacht hatte, die von keiner der beiden großen Parteien befriedigt werden konnte: eine virulente Unzufriedenheit mit der Politik und Person des Kanzlers Adenauer. Virulenz: Rumohr 1832 Reisen 264 Seitdem hat er nun wiederholt sie [Bilder im Besitz des preussischen Kronprinzen] zur Zielscheibe seiner Ausfälle gewählt und mit seiner eigenthümlichsten Virulenz besudelt; Ludwig 1882 Pilzwirkungen 25 Virulenzgrad einer Pilzkultur; Rubner 1900 Hygiene 860f. Labilität der Virulenz (Uberschr.) Die Spaltpilze ergeben als Ausfluss ihrer Lebensvorgänge eine Reihe physiologischer Functionen, Fermentwirkungen, Farbstoffbildungen, specifische Gährwirkungen und als wichtigste Eigenschaft — die Virulenz, d.h. die Gefährdung der Gesundheit ihres Wirtes, in dem sie wohnen . . . Auch die Virulenz mancher Spaltpilze gehört zu den labilen Eigenschaften; Meinecke 1924 Idee 524 die Orientfrage . . . erhielt ihre volle Virulenz und Gefährlichkeit für Europa erst durch die nicht mehr zu bändigenden nationalen Aspirationen der ihrer selbst bewußt werdenden Balkanvölker; Preuss. Jahrbücher 215 (1929) 250 würden die Moskowiter daran denken können . . . vielleicht

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auch den zersetzenden Bestrebungen in England selber und in Frankreich Virulenz einzuhauchen; Voss. Ztg. 28. 11. 1930 Diese Gefahr ist so groß, daß daneben die theoretische Möglichkeit einer Gefährdung durch spontane Virulenzsteigerung der Calmette-Kulturen nicht ins Gewicht fallen kann; ebd. 27. 1. 1931 daß sie an die Anwesenheit . . . tuberkulöser Herde, d.h. an eine gewisse Virulenz der Keime gebunden ist; Heuss 1947 Gestalten 206 Pettenkofer besorgte sich aus Hamburg Bazillen, ließ sie auf höchste Virulenz bringen, schuf ihnen durch möglichste Ausscheidung der Säure im Magen beste Wirkungsmöglichkeit und schluckte dann in Bouillon einen Kubikzentimeter hinunter; 1961 Haeresien 63 seine ungeheuere Virulenz hat der Vorgang dadurch erhalten, daß die alten Lebensgegebenheiten beigemischte Unendlichkeit eine solche der absoluten Freiheit war; Horkheimer 1961 Reden 62 [der Antisemitismus] ist eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera — man kann sie weder erklären noch heilen. Man muß geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat; Doderer 1962 Merowinger 97 Damals im Tausendjährigen Reiche und erst recht nach dessen Hingang, zeigten die Ämter eine unheimliche Virulenz, die seitdem doch etwas nachgelassen hat, so daß viele dieser Institutionen wieder zu jenem ruhigen Selbstzweck-Dasein zurückgekehrt sind, welches sie in besseren Zeiten einst geführt haben, ohne sich und der Öffentlichkeit fortgesetzt ihre Notwendigkeit und Erforderlichkeit erweisen zu wollen; Stuttgarter Ztg. 8. 3. 1962 In den europäischen Arme-Leute-Vierteln hingegen ist die Virulenz der Auflehnung ungebrochen, übt die geheime Armee General Salans unbegrenzte Macht aus; 1965 Aspekte 126 Dieser Gedanke reicht bis zu den Griechen zurück. Er erhielt im Barock neue Virulenz.

Virus N. oder M. (-; Viren), PI. früher vereinzelt auch Vira, im späten 19. Jh. aufgekommen, wohl über gleichbed. frz./engl, virus zurückgehend auf lat. virus 'Schleim, Saft; Gift; Gestank; scharfer Geschmack'; zunächst allgemein verwendet in der Bed. 'Gift(-stoff), Krankheitserreger', bes. von moralischer Ansteckung, im 20. Jh. dann meist als Fachausdruck der Medizin und Mikrobiologie zur Bezeichnung von makromolekularen (Eiweiß-)Komplexen, die ausschließlich in lebenden Zellen existieren und sich vermehren, als Parasiten an deren Eiweißstoffwechsel teilnehmen und dabei vielfach Krankheiten verursachen (Viruskrankheit, -infektion, -forschung), in jüngster Zeit wieder auf nichtmedizinische Bereiche übertragen; dazu in jüngster Zeit das Subst. Virologie F. (-; ohne PI.) (vgl. gleichbed. engl. virology, frz. virologie), fachspr. für 'Virusforschung; Lehre, Wissenschaft von den Viren' mit der dazugehörigen Personalableitung Virologe M. (-n; -n) (vgl.

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Virus

gleichbed. engl, virologist, frz. virologue, virologiste) 'Virusforscher; Wissenschaftler, der sich mit den Viren beschäftigt' und der dazugehörigen adj. Ableitung virologisch (vgl. gleichbed. engl, virologicat) 'die Viren, die Virusforschung betreffend'. Virus: Hillebrand 1882 Zeitgenossen 86 es wird . . . viel länger dauern in Frankreich als in Deutschland, der Schweiz, England und Amerika, bis dieser böse Bildungsvirus und sein unnützer Duft ganz ausgetrieben sind; Kraus 1887 Essays I 76 Welches Gift ist diesem 'virus' zu vergleichen, das versteinert und aufzehrt; das Alles lähmt, zerbricht und auflöst; das uns der Tugend und des Edelmuthes satt macht, das uns Allen und uns selbst zum Feinde macht? [Traurigkeit]; Fern 1895 Socialismus (Ubers.) Vorw. VI Die Civilisation, diese an schönen Früchten so reiche, komplizierte Errungenschaft der menschlichen Thätigkeit, birgt zugleich ein Virus von furchtbar ansteckender Kraft in sich; Grenzboten 2 (1902) 216 der virus wirkt sofort; Dtsch. AZ. 16. 9. 1935 Es fragt sich nun, ob wir es bei diesen kleinen Wesen wirklich noch mit lebenden Organismen zu tun haben, oder die bei diesen Vira beobachtete Wirksamkeit nicht auf einem andern Wege erklärt werden muß . . . Eine zweite Methode, die Größe der Viren festzustellen; Münch. N. N. 14. 1. 1938 Was kleiner ist als eine Lichtwelle, wie z . B . gewisse Krankheitserreger, die „Viren", das kann mit Lichtwellen auch nicht mehr betrachtet werden; ebd. 1. 5. 1938 Neben den Teerstoffen gibt es offenbar noch eine zweite Gruppe von „Krebserregern", deren Charakter nicht ganz klar ist. Man kann in ihnen „Lebewesen", allerdings unsichtbare Lebewesen, also „Viren" vermuten; 1939 Forschungen u. Fortschritte 402 Über die Züchtung der Virusarten (Oberschr.); 1941 Behring zum Gedächtnis 128 Im Jahre 1890 . . . war der Begriff „Viruskrankheit" noch unbekannt. Das Wort „Virus" wurde zwar auch vorher schon zur Bezeichnung eines hypothetischen Krankheitserregers verwendet, ohne daß man sich dabei irgendetwas Definierbares vorstellte; Haagen 1941 Viruskrankheiten des Menschen (Titel); Münch. N. N. 9. 4. 1941 Auf diese Weise hat man z . B . Phosphor radioaktiv gemacht und dann die kleinsten Krankheitserreger, die wir kennen, derartigen Phosphor aufnehmen lassen, bevor man mit ihnen Pflanzen infizierte. Tabakmosaikvirus wurde auf Nährböden gezüchtet, die radioaktiven Phosphor enthielten; ebd. 26. 11. 1941 die neueste Forschung . . . hat feststellen können, daß das sog. „Virus", jene Krankheitskeime, die keine Bakterien mehr sind und sich doch ebenso phantastisch vermehren wie Bakterien, manchmal nichts anderes sind als einfache kleine Moleküle; ebd. 25. 5. 1943 Professor Dr. Adolf Butenandt, Direktor des

Kaiser Wilhelm-Instituts für Biochemie in Berlin, der mit Hilfe des Elektronen-Mikroskops einen Wendepunkt in der Virus-Forschung und der Bekämpfung der Viruskrankheiten einleitete; 1944 Geist der Zeit 127 Seit einigen Jahren steht die Frage nach der Natur der Viren im Brennpunkt des Interesses . . . Die biologische Chemie konnte zweifelsfrei zeigen, daß die Erreger der genannten Pflanzenkrankheiten chemische Stoffe vom Charakter hochmolekularer Eiweißstoffe vom Typ der Nucleoproteide darstellen, denn es gelang, einige phytopathogene Viren in kristallisierter . . . Form darzustellen . . . Charakteristisch für diese „Virusproteine" ist ihre Fähigkeit, entscheidend in den Stoffwechsel der lebenden Zellen einzugreifen, sie krankhaft zu verändern und sich selbst bei diesem Geschehen zu vermehren; Münch. N. N. 10. 1. 1944 daß ein, unsern mikroskopischen Hilfsmitteln noch nicht zugängliches, unsichtbares Krankheitsgift, ein sogenanntes „Virus", der eigentliche Verursacher der Grippe ist; Dtsch. AZ. 27. 9. 1944 diesmal seien die Alliierten entschlossen, „den Virus des Preußengeistes im deutschen Volke auszurotten"; Münch. Stadtanz. 25. 10. 1957 Bekämpfung von Obstbaumschädlingen und der Viruskrankheiten der Kartoffel; Stuttgarter Ztg. 28. 1. 1960 Die Viruslaboratorien in Frankfurt und Marburg haben festgestellt, daß die Erkrankung, die im allgemeinen gutartig verläuft, „Virusinfluenza A I I " ist; Süddtsch. Ztg. 7. 2. 1961 ein „sehr alarmierendes Symptom für den Grad, den die Infiltration des antiitalienischen Virus in der Bundesrepublik Deutschland erreicht hat"; Stuttgarter Ztg. 27. 2. 1961 Die unbefangen denkenden führenden Kräfte in der Bundesrepublik setzen ihre Hoffnung auf die Jugend, daß sie frei sein möge von dem Virus, der die vorangegangene Generation infizierte [Antisemitismus]; van de Velde 1962 Gesch. 88 die Existenz eines Virus, der seit der Renaissance alle Schöpfungen der Kunst der Architektur verheerte; Stuttgarter Ztg. 4. 12. 1967 In diesen Schlußminuten schien sich unter den Abwehrspielern ein Virus auszubreiten, von dem sich keiner befreien konnte; FAZ 21. 7. 1971 Krebsviren aus menschlichen Tumoren? (Uberschr.).

Virologe: Süddtsch. Ztg. 17. 7. 1957 Obwohl die Virologen noch eine ganze Menge Geheimnisse der Viren aufzudecken haben . . . Eine Gruppe von Virologen hat die Aufgabe, die Körperzelle gegen das Eindringen von Viren festzumachen.

Vis-à-vis Virologie: Süddtsch. Ztg. 17. 2. 1952 Eine großartige, von Louis Pasteur und Robert Koch eingeleitete Epoche der Bakteriologie ist heute . . . abgeschlossen. Sie wurde abgelöst durch eine Epoche

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der „Virologie", der Lehre von den Viren, jenen kleinsten Krankheitserregern, die im Lichtmikroskop nicht mehr zu erkennen sind.

Vis-à-vis M. oder N. (-; -), im späteren 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. vis-àvis, eigentlich '(von) Gesicht zu/gegen Gesicht' (zu vis, —> Visage), bis heute in unterschiedlicher Schreibweise; 1 als M., vereinzelt auch F., bis ins frühere 19. Jh. belegt als Bezeichnung für eine schmale, nur für zwei Personen auf gegenüberliegenden Sitzen Platz bietende Kutsche. 2 Seit Ende 18. Jh. als N. in der Bed. 'Gegenüber* zur Bezeichnung einer Person, die sich jmdm. (frontal) gegenüber befindet, z. B. an einem Tisch, in einem Zugabteil; in jüngster Zeit auch auf Gegenstände übertragen gebucht. 3 Seit Ende 19. Jh. gelegentlich als N. zur Bezeichnung einer Situation der (lokalen) Gegenüberstellung in der Bed. 'vertrauliche Begegnung, Gespräch unter vier Augen', vgl. —* Tête-à-tête a, —» Rendezvous 2. Vis-à-vis 1: Bielefeld 1768 Belustigungen II 261 vorschlagen, sich einen Vis-a-Vis anzuschaffen, eine Kalesche, einen Phaeton, ein Cabriolet, alles nach dem neuesten Geschmacke; Schummel 1771 Reisen I 112 Vis-a-Vis; Foote 1798 Industrieritter (Ubers.) IV 24 in ihrem neuen Vis-a-vis; Heinzmann 1800 Frühst. 6 seine Caleche, oder sein Cabriolet, oder sein Phaton, seine Berline, oder seine Vis-à-vis, oder Demi-fortune, sein Soufflet, oder sein Wischis; Pückler 1835 Semilasso I 12 Besagter Wagen war ein schmaler Vis à vis, nur Raum für zwei sich gegenüber sitzende Personen gewährend. Vis-à-vis 2: Bahrdt 1790 Rindvig. I 65 daß bey einem solchen Mahl und — einem solchen Vis a Vis ein Jüngling wie Friz begeistert wurde, wird keinen erfahrenen Leser befremden; 1810 (Preuss. Jahrbücher 212 (1928) 163) Zum Mittag hatten wir eine liebenswürdige Brünette zum Visavis; Bauschke 1834 Bilder 52 Mein ehemaliges schönes Vis à_vis, das Schnapps-Blondchen; Jäger 1835 Felix Schnabel 44 und ordnen die Plätze so, daß jeder seinem vis a vis gerade gegenüber sitzt; 1839 Badegäste I 28 so konnte sie seit einiger Zeit eine mächtige Abneigung gegen diesen Mann nicht unterdrücken . . . ihr dürftet euch doch nicht über die Klackheit gegen ihr Vis-à-Vis wundern; 1842 Br. Schücking-Gall 28 unser beiderseitiges ätherisches Vis-à-vis; Schlözer 1843 Jugendbr. 25 mein vis-à-vis ist Fürst Wittgenstein; Steinmann 1843 Mefistofeles IV 307 Mein vis-à-vis bildeten drei Männer; Görtz 1852 Reise 138 mein vis-à-vis, ein halbwilder Ansiedler aus Canada; Strauss 1854 Br.

335 Gestern war ich bis in die Nacht bei einem lautissimum convivium . . . wobei Umbreit mein vis à vis war; 1855 Prutz' Museum II 177 indem er sein vis-à-vis . . . erkennt; Stuhr 1857 Nach 5 Jahren I 72 Sein Vis-a-vis, eine stattliche Engländerin; Meissner 1866 Schwarzgelb 189 Auch konnte er einem so gebildeten, phantasievollen, sich lieblich seinem Vis-à-vis anschmiegenden Geiste auf die Dauer nicht widerstehn; Hildebrandt 1867 Reise 1197 Ungleich heiterer ist mein vis à vis bei Tische, eine englische Hauptmannsfrau; Schlözer 1869 Amerikan. Br. 15 Konzert und Ball bei unserem vis-à-vis, dem Señor Ulano; ZDtsch. Alpenver. 2 (1871) II 132 Wir lassen uns mit unserm vis-à-vis, da er so mittheilsam ist, in ein . . . Gespräch ein; Marées 1873 Br. 65 Hildebrand ist im Augenblick damit beschäftigt, sich vermittelst der Zeichensprache mit einem schönen Vis-àvis über eine innige Zusammenkunft zu besprechen; Frommel 1879 Ampelschein 123 Ebenso sehr aber schien auch den Herrn sein Vis-à-vis zu interessieren. Der war schon ein Schneehaupt; unter den buschigen Brauen blitzten zwei tief dunkle, kluge und forschende Augen; Spitzer 1880 Wagn. 117 und sehen mich immer an, wie der Ritter Toggenburg von Schiller sein Vis à Vis; Salon (1886) 1159 Die Dame sah ihr vis-à-vis fest an; ebd. I 245 sah . . . auf sein hübsches vis-à-vis; Fontane 1892 (13,320) das Gesprächsinteresse der Kommerzienrätin . . . schien sich mehr und mehr ihren beiden Visavis zuwenden zu wollen (WDG); 1903 Internationale Literatur- und Musikber. 113 Nicht das galanteste vis-à-vis während der Eisenbahnfahrt . . . vermag auf die Dauer so zu fesseln,

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wie ein gutes Buch; 1928 Die Dame XII 55 Die junge Dame . . . warf einen kleinen ungehaltenen Blick auf das Vis-a-Vis: Zerdrückter Anzug, schlecht rasiert; ebd. 56 Das Vis-ä-vis hatte ein Heft in der Hand; Abenteuer 1930 März 23 Wäre es angängig gewesen, so hätte ich am liebsten keinen Blick von meinem reizenden Vis-a-Vis gewandt, zumal auch mein Freund mir den lieblichen Eindruck der jungen Dame bestätigte; Benckkiser 1958 Tage 70 [Zeichenalphabet] mit

dem die . . . Gefangenen . . . sich mit ihren Visavis verständigen. Vis-à-vis 3: Fontane 1898 Zwanzig 494 als er . . . mit Miss Brown in einem ersten verschwiegenen vis-à-vis war; Offenburger Tagebl. 28. 2. 1963 „Das Vis-a-vis mit der illegitimen Tochter Bayernpartei" . . . fand nicht statt; Die Zeit 16. 5. 1980 Vis-à-vis in Wien. Prämissen für einen Dialog (Uberschr.).

vis-à-vis, Adv. oder Präp., im späten 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. vis-à-vis (—* Vis-à-vis); 1 als lokale Präp. mit (vor- oder nachgestelltem) Dativ oder mit Genitiv, oder mit einer mit von gebildeten Präpositionalphrase in der Bed. 'frontal gegenüber (von)', auch übertragen verwendet für 'angesichts (von), im Hinblick auf, bezogen auf', häufig auch im französisierenden Syntagma vis-à-vis de rien 'vor / gegenüber dem (finanziellen) Nichts, dem Ruin; völlig mittellos, ohne jeden materiellen Besitz'; dazu im 19. Jh. die Gelegenheitsbildung schräg à vis 'quer gegenüber'. 2 Seit Ende 18. Jh. als lokales Adv. in der Bed. '(frontal) gegenüber (-liegend, -stehend, -sitzend); auf der anderen Seite befindlich'. vis-à-vis 1: Mozart 1775 (Zentner, München 19) welche mir visavis sassen; Riesbeck 1783 Br. II 78 Vis à vis; Bretzner 1787 Leben II 212 Vis à vis; Knigge 1789 Umgang II 246 wer immer in Zerstreuungen lebt, wird fremd in seinem eigenen Herzen . . . und ist verlegen, wenn er sich einmal vis à vis de soi même befindet; Laukhard 1796 Leben III 443 vis-à-vis der Franzosen; Lavater 1798-1800 (Nachgel. Sehr. I 22) nennten sie [die Chinesen] sich vis à vis von euch [den Franzosen] die grosse Nation; Schiller vor 1805 Br. VI 209 Interesse der Handlung, Abwechslung und Reichthum, Gewalt der Leidenschaft und sinnliche Liebe vis à vis des Publicums, und der Kunst gegenüber hat er alles, was man wünscht und braucht (KEHREIN); Brun 1809 Episoden II 336 Er steigt vis a vis des Forts . . . empor; Leo 1835 Lehrbuch I 26 Die Darstellung einer welthistorischen Entwicklung, welche ihren Gegenstand einem System anzwängte, welches nicht vis-à-vis der Erscheinung Recht behielte, wäre auch nur eine Heuchelei der Weltgeschichte, nicht sie selbst; 1841 Hofdamen-Br. 58 Von einem armen Leutnant vis-à-vis de rien zu einem ungarischen Magneten zu avancieren, ist ganz angenehm; Kohl 1842 Böhmen 65 Sie ging auf die andere Seite der Moldau . . . und stiftete dort vis à vis dem Wissehrad ihr Reich; 1842 Br. Schücking-Gall 21 weil ich mir vorgenommen, Vis-à-vis von Ihnen (welch ätherisches Vis-à-vis), durchaus keine „Rücksicht" zu nehmen; Chemnitz 1845 Lauf d.

"Welt 46 Kennen Sie die Bewohner jenes Quartiers [dem] unsern vis-à-vis?; Kohl 1846 Dänemark II 2 Kopenhagen . . . vis à vis der ganz nahen schwedischen Küste; Vaerst 1851 Gastrosophie II 109 Nach dem Sturze des Kaiserreichs sah er sich visà-vis de rien und erhielt unter den Bourbons eine unbedeutende Sinecure; Holtei 1854 Schneider II 292 weil er sie . . . der Kritik vis-à-vis in eine schiefe Stellung gebracht; 1865 Hausblätter IV 59 durch seinen Reichthum gegen den armen Erbach, der vis-à-vis de rien war; Kretschman 1866 Kriegsbr. 9 sitze ich vis-à-vis einer tiefen Schüssel Kartoffeln; Schlözer 1867 Rom. Br. 311 So war er vis-à-vis de rien und lebte vier Wochen hindurch, ohne Brot und Salz; Stahr 1870 Jugendzeit I 21 sich mit einer Familie von fünf Personen vis-à-vis de rien zu sehen; Versen 1872 Reisen i. Amerika 212 um vor Allem Geld zu erhalten, da ich mich vis-à-vis de rien befand; Kümberger 1874 Siegelringe 82 Ein Pariser Viveur befand sich einmal visà-vis de rien und in diesem Zustande, der Elektrisiermaschine für alle Geniefunken, ersann er, um sich Geld zu machen, folgende Auskunftsmittel; Dingeiste dt 1877 Bade-Novellen I 150 dass ich nach einer dreijährigen diplomatischen Laufbahn mich vis-à-vis de rien fand; Leitner 1880 Novellen 68 er ist im Wirthshause abgestiegen, gerade dem Schloßflügel vis-à-vis, wo die Demoiselle Louise ihr Logement hat; Hopfen 1893 Elend III 52 Und ich begreife . . . dass ich von kurzer Hand auf die Strasse gesetzt bin vis à vis de rien; Falke 1897 Sie

Visage war reizend 73 Mir ziemlich vis-à-vis sass; Walhalla 8 (1912) 58 Vis-à-vis der malerischen Piazetta del Duomo; Werner 1913 Erlebn. 310 dass er überhaupt der Mann mit leeren Taschen war, der vis-à-vis de rien stand; Lokal-Anz. 26. 9. 1934 der geschäftssüchtige Wettlauf der Goldsucher nach dieser Halbinsel, vis-à-vis Asien; Petzet 1944 Falckenberg 70 in dieser jeglicher bürgerlich-moralischen und finanziellen Voraussetzung entbehrenden Lebensführung [stand sie] vis-à-vis de rien; Lippl 1944 Schloss 112 vis à vis der Wirklichkeit; Süddtsch. Ztg. 7. 12. 1948 Oder wäre es richtiger gewesen, mit Profikanonen [statt mit Amateuren] zu beginnen, um nach kurzer Zeit „vis a vis de rien" zu stehen?; Stuttgarter Ztg. 1. 6. 1966 Vis-àvis der vielbesprochenen „Islamischen Vereinigung" . . . versucht der Kreml nun eine neue Achse zu bilden; Die Zeit 20. 11. 1981 Wie wäre vis-à-vis des nuklearen Untergangs ein 1000-Dollar-Scheck einzuordnen?; ebd. 27. 11. 1981 der in Genf Ronald Regans maximale Abrüstungsforderungen vis-à-vis selbstbewußter Sowjets vertreten soll. schräg à vis: Stinde 1885 Fam. Buchholz II 93 der schräg a vis vom Centraihotel wohnt.

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vis-à-vis 2: Laukhard 1796 Leben III367um sich mit mir nicht vis-à-vis zu setzen; Lichtenberg 1798 Hogarth IV 288 vis-à-vis; Bauschke 1834 Distelblüten 112 Ach! wenn ich so oft gesehen sie am Fenster vis-à-vis; Bukowsky 1835 Tagbuch 87 zu einer fast vis-à-vis liegenden Bergspitze; 1863 Bilder a. Paris II 252 Monsieur des Coudraies, der erst kürzlich nach Paris gezogen war und als Nachbar (er wohnte beinahe vis-à-vis) zufällig die Bekanntschaft der Frau v. Lorgerel gemacht hatte; ebd. II 279 Der Neubau . . . [ist] auf alle Fälle kein würdiges Gegenstück zu der gerade vis-à-vis gelegenen Galerie d'Apollon des Louvre; Leitner 1880 Novellen 223 Ich pries mich schon oft glücklich, daß es dem Nachbar vis-à-vis erst in der Scheidestunde einfiel, Euch jenen Asternkranz zuzuwerfen; (1887) Salon I 244 Miß Ada stand ihm und er stand ihr gegenüber, und als das ein paar Sekunden gedauert hatte, machte Miß Ada eine Handbewegung und setzte sich, und er setzte sich auch — natürlich vis-à-vis; Thoma 1909 Br. 108 Visavis auf dem Bruckhügel; Münch. Stadtanz. 22. 4. 1955 Es ist das neue Café vis-à-vis; ebd. 17. 4. 1959 vom Standl wisawih ein Paar Pfälzer und eine Brezn bringen; Süddtsch. Ztg. 24. 3. 1961 des is halt d'Frühjahrsmüdigkeit — da steht ma machtlos wiesawie.

Visage F. (-; -n), Ende 17. Jh. entlehnt aus frz. visage M. 'Gesicht' (zu gleichbed. altfrz. vis < lat. visus 'Sehen, Blick; Anblick, Gestalt, Erscheinung', zu videre 'sehen'), gelegentlich scherzhaft in phonetischer Schreibung; in der Bed. 'Gesicht, Gesichtszüge', seit dem 18. Jh. zunehmend ugs. oder vulgär und meist stark pejorativ verwendet im Sinne von 'Fratze, Fresse'; dazu in jüngster Zeit aus dem Frz. übernommenes Visagist M. (-en; -en), daneben auch Visagistin F. (-; -nen) 'jmd., der alle Gesichtspflege- und Schminktechniken, speziell alle Techniken zur Hervorhebung der Schönheit bzw. Eigenart des Gesichts beherrscht und berufsmäßig anwendet; Maskenbildner(in); Kosmetiker(in)'. Visage: Ettner 1698 Chirurgus 2017 dessen visage soll mir etwas bekandt seyn; 1710 Antwort Schreiben Von. a 6 eben weilen sie Bauren sind / und gemeiniglich dem Schellen Ober / oder Unter gleichen / aus welcher Visage kein sonderlicher bei Esprit herfür leuchtet; Tromer 1730 Adjeu 12 Sie schieß sick mit Pistol die Pulver in Visage (BRUNT); Schnabel 1731 Felsenburg I 56 ich hätte euch zum wenigsten wegen eurer guten visage adelichen herkommens geschätzt (DWB); Bretzner 1787 Leben II 191 Kurz die Nase war weg, und an deren Statt paradierte ein recht ansehnliches Pflaster, das zu der übrigen Visage, die ohnedem jenseits der Physiognomie lag . . . 14 Fremdwörterbuch

ganz ansehnlich figurierte; Marianus 1832 Komische Scenen 152 Da mustert der eine mit seiner Visage Die Fenster der Schönen zum Takte ringsum; Kohl 1844 brit. Inseln III 502 So wird das Bein slangweise oft „gam" genannt, was von dem französischen „jambe" herkommen soll, eben so wie wir manchmal in eben dem Sinne das Gesicht die „Physiognomie" oder die „Visage" oder die „Fratze" nennen; Mahler 1860 Militär. Bilderbuch 42 Unglücklicher Weise fiel des Inspecteurs Auge auf das dümmste Gesicht, das in unserm Regimente zu finden war . . . Der Besitzer genannter Visage hieß Vicary; Holtei 1861—66 Erz.Sehr. VI 18 indem ich ihm die nase aus der

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unangenehm lächelnden visage heraushaue (DWB); Raabe 1864 Hungerpastor 475 Die alten Herren in den Bilderrahmen drehten ihre verdunkelten Visagen der Wand zu; nürnberger 1877 Herzenssachen 315 und eh' wir ihnen noch einen einzigen Kunstgenuß verdanken, müssen wir wissen, wie die werthen Visagen derjenigen aussehen, die wir nächsten Sonntag vielleicht . . . auspfeifen werden; Marées 1877 Br. 143 wirst Du es noch ohne den täglichen Anblick meiner herben Visage aushalten; Waldmüller 1884 Darja I 155 Wenn Dr. Röhr . . . den drei Italienern mit Wonne 'einen Denkzettel in die Visage' zeichnen wollte; Stinde 1886 Wundertruppe 61 Ich schlug [ihm] frank und frei mit der flachen Hand in die ekelhafte Visage; den. 1886 Farn. Buchholz III 23 denn erstens zog sie sehr übelnehmische Falten mit ihrer sonst mehrstens lächelnden Besuchs-Visage; Fontane 1890-91 Ges.W. I 5, 23 mir ist nichts jrässlicher, als immer meine visage sehn (DWB); Bahr 1893 Neben der Liebe 72 sich immer zwischen lauter wildfremden Visagen herumzutreiben; Sohle 1900 Musikanten 77 As 'n Pähl steiht hei dor, un 'ne Viehsasch liek as 'n ollen fühnschen Bullenbieter; Barsch 1905 Von einem, der auszog I 140 Fisasche; Hauptmann 1909 Griselda 20 deine dreimal gehängte Diebsvisage; ders. 1911 Ratten V 444 ganze verfluchte hübsche Visage; 1927 Sittengesch. d. Hafens 124 die schlitzäugigen Huren mit vergilbten, unflätigen Visagen; Bronnen 1928 Film 33 diese drei Schurken, sehen Sie sie nur an, diese gemeinen, niederträchtigen Visagen, diese blutgierigen Augen; Heilborn 1929 Revolutionen I 286 Abenteurervisagen; Stratz 1929 Lill 202 Vollmondvisage; Däh-

ne 1930 Holzbauch 53 dem Toffel mit der Panzerfaust in die Visage zu fahren; Voss. Ztg. 8. 3. 1930 Die Direktion Aufricht hat dem Theater am Schiffbauerdamm immerhin ein Gesicht geschaffen; gestern hatte es höchstens noch eine „Visasche"; Macdonell 1940 Gentleman 138 mit der Reitpeitsche eins über die Visage zog; Zinn 1940 Beurteilung 157 Wenn ick mia nich bedächte, kriechste jetzt eens inne Visage!; Alt-Bayer. Heimat 2 (1949) 9 Zieht sei Visaschi ganz krumm; Benn 1954 Altern 28 in dieser ewigen visuellen und akustischen Spannung, um einzudringen in das Objekt, hinter diese Visagen; ders. 1958 Prosa II 305 die blutgrauen Leichenschädel und die zersplitterten Visagen?; Dürrenmatt 1958 Versprechen 120 Männer mit randloser Brille und Bart, monströsen Visagen; Süddtsch. Ztg. 27. 12. 1958 eine Torte klatscht in eine windschiefe Visage; Fischer 1966 Kunst 23 Sein Gesicht zeigt die Spuren der Strapazen, aber es ist nicht die zerschlissene Visage eines Wracks, es ist wie aus dunklem Stein gehauen; FAZ 14. 10. 1971 Aus Tiergesichtern (Fuchs, Schakal, Eule) läßt er die Visagen der Spitzel entstehen. Visagist(in): Petra 9 (1980) 134 Früher trug Lisa keinen oder nur sehr helle Lippenstifte, weil sie ihren Mund zu schmal fand. Von einer Visagistin hat sie gelernt, die zarten Konturen dunkel zu umranden und ein kräftigeres Lippenstiftrot zu benutzen; Brigitte 17. 9. 1980 In dreißigminütiger Kleinarbeit benutzt Regina, die Visagistin werden will, ihre vornehme Blässe für ein perfekt geschminktes Gesicht.

Visier N. (-s; -e), im 15. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. visière (zu altfrz. vis, —•Visage), anfangs vereinzelt F.; 1 historische Bezeichnung für das bewegliche Schutzgitter am Helm einer mittelalterlichen Ritterrüstung, das heruntergeklappt das Gesicht schützend bedeckt, jedoch die Sicht ermöglicht, im 16. Jh. vereinzelt auf die so bedeckte Körperpartie bezogen für 'Gesicht', in neuerer Zeit gelegentlich auf das Gesicht (teilweise) verhüllende Kopfbedeckungen wie Schleier, Mützen übertragen; häufig in heute meist bildlich verwendeten Syntagmen wie mit offenem/geschlossenem Visier kämpfen 'einen Kontrahenten offen, ehrlich und unter Inkaufnahme persönlichen Risikos/aus dem Hinterhalt angreifen', das Visier lüften 'sich, seinen wahren Charakter zu erkennen geben; Farbe bekennen'. 2 Seit frühem 16. Jh. auch in der Bed. 'Sucher (bes. an einer Schußwaffe), mit dessen Hilfe ein Ziel anvisiert wird, Zielvorrichtung' (vgl. jüngeres frz. visière gleicher Bed.), heute vor allem in den (meist bildlich verwendeten) Syntagmen im Visier 'im Sucher, auf der Ziellinie; im Blickfeld; im Blickpunkt (des Interesses, der Betrachtung)' und ins Visier nehmen 'etwas genau, sorgfältig betrachten, beobachten, ins Auge fassen,

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unter die Lupe nehmen; im Auge behalten; nach etwas Ausschau halten; etwas anstreben, sich um etwas bemühen, auf etwas abziehen', weitgehend gleichbed. mit anvisieren (vgl. —»visieren 3). Visier 1: 15. Jh. Lothar u. Maller 41" er traf den bastart in sin visiere (LEXER); Teuerdank 1517 (264) zuerst traf der held ins visir sein widerteil (DWB); Guttel 1522 New iar D3h die ihenigen, die vns gifft füer hönig verkauffen . . . werden hart in die visyre geschlagen, Do er [Esaias Kap. V.] spricht, wehe euch die yr heyst das böse guet; ders. 1522 Christenmensch Fl" der allerfraidigst Kriegsman S. Paulus ausstreichen, dem teuffei vnd seinen lieben getrawen in die visier schlagen, sy verblenden vnd vertunckeln; Warbeck 1527 Schöne Magelone 34 Do niemands mehr verhanden was, der mit jme wolt treffen, schlug er sein visiere auff vnd ritt zum konig; Franck 1538 Chron. Germ. 269h stach ein küriser zur visier hinein (DWB); Wickram vor 1562 (II 414) sein haupt mit einem gleysenden helmlin bedecket, das fysier fürgeschlagen (DWB); 1569 Amadis LV XL 88) Hessen sie [Kitter] jre Visier fürfallen; Fischart vor 1570 Nachtrah 1691 Was du habst für ein schön visier; ders. 1575 Garg. 111 hüpsches Visiers, die kein Judicium Paridis . . . hetten verbessern können (RÜTTER); ebd. 318 dann die mußten das Visier fürthun (RÜTTER); 1614 Leben Lazaril 18 vndt hebt mit gantzer macht undt mit beyden feusten den süssen undt bittern krug in die höhe auff, vndt läßt mir ihn wider auffs visier fallen . . . vndt die stücke darvon sprangen mir im gesichte herümb; Zeiller 1628 Theatrum 4 Die Dame macht eine tieffe Reverentz/thut ihr Visier hinweg/ grüßt den Leuten-Ampt auch; Harsdörffer 1641—49 Gesprächsp. IV 316 kaiser und könige führen allein güldene heim, und das visier mit eilf reifen (DWB); Troilo 1676 Orient. Reisebeschr. 546 wann sie auff der gassen gehen, so ist ihr angesicht mit einem schwartzen durchsichtigen visier oder flohr von dem mund bis auff die stirn gantz verdecket (ZFDW XV 216); Fleming 1726 Soldat 195 so konte er nicht verwundet werden, auszer durch das visier an heim (DWB); Schönaich 1757 Heinrich d. Vogler 89 mit geöffneten visieren zog die erste reiterschaar (DWB); Gatterer 1773 Abriss d. Heraldik 100 Das Visier des Helms ist der vordere Theil desselben, der über dem Angesichte desjenigen, der den Helm auf dem Kopf hat, zu stehen kommt. Die verschiedene Stellung der Helme beruhet auf der verschiedenen Richtung des Visiers; Shakespeare 1797ff Hamlet (Ubers.) I 2 Hamlet: so saht ihr sein gesicht nicht? Horatio: o ja doch, sein visier war aufgezogen (DWB); Herder vor 1803 (XVIII 131) von jedem . . . der

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gründe giebt und mit offnem visier redet (DWB); Meinhold 1826 B. 56 mit aufgeschlagenem Visier und wallendem Federbusch; Goethe vor 1832 (XIII 2,70) plötzlich erscheint ein ritter in glänzender silberrüstung mit geschlossenem visir (DWB); Mommsen 1855-56 Rom. Gesch. III 300 warum nicht die machthaber mit offenem visier angreifen (DWB); 1867 Grenzboten III 111 Ziel [einer Partei] . . . für das sie mit offenem Visier niemand mehr zu werben vermag; Küster 1907 Ernstes 1870- 71 108 Wir hatten zum Glück allerlei warme Sachen von den Unserigen aus Berlin erhalten. Sehr praktisch waren gestrickte Visire . . . Sie wurden über den Kopf gezogen und ließen nur Mund und Augen frei; SchrönghamerHeimdall 1924 Kronawitter o. S. Es muß also ein Mann sein, der aus diesem oder jenem Grunde sein Visier noch nicht lüften will; Voss. Ztg. 9. 1. 1931 Dieser Stadt, so sie einem ihr Visier lüftet, verfällt man; Berl. Illustr. Nachtausg. 22. 12. 1931 Die Dame mit dem Samtvisier; Münch. N. N. 8. 12. 1939 daß die Regierung offiziell diese Parole vom offenen Visier annehme; Stuttgarter Ztg. 7. 7. 1968 Gebrauchtwagenhändler müssen Visier lüften . . . Sie müssen mit ihrer vollen Anschrift inserieren; Süddtsch. Ztg. 7. 7. 1970 Die . . . Abgeordneten Abelein und Häfele haben mit der Nennung ihres Favoriten Kohl bereits die Visiere geöffnet. Visier 2: 1521 (Wolkan, Böhmen II 58) do mitten auf dem plan Sach ich ein schöne schiess wand stan. Das was ein schöne maisterliche fisier Gemacht auff die welsch manyer Mit vier gewelben oben auff der krön Trithalb hundert guldner knöpff darauff stan; Ringwalt 1589 Christi. Warn. K4h wollan es ist vollbracht an dir, was du dir itzt von diesen dingn hast sollen ins visiere bringen (DWB); Lorini 1616 Fortifikation (Übers.) 44 muss er auch das Stück visirn vnd das Visir oder Gesicht zum Schuss recht auff dem Mundstück nemmen können; Böckler 1665 Schola militaris 127 Erreicht nach gemeinem Visier ohngefähr 750 Schritt; ebd. 217 wenn man mit einem grossen Stück nach einem gewissen Ort schiessen wil / so nimmt man das gemeine Visier auffs genaueste / als man immer kan; Butschky 1677 Pathmos 568 ferner schaue man von dannen, durch ein perspectiv, oder anderes visier (DWB); Fleming 1726 Teutsche Soldat 28 damit sein rechtes auge mit dem visier auf der flinte und forne auf dem körne

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in gleicher linie gerade in den schwarzen flecke [der Scheibe] sey (DWB); Heppe 1779 Jäger 384 Visir, oder Gesichte: also wird das hinterste Absehen auf einer Büchse genennt; Rode 1800 Vitruv-Ausg. Anhang 24 dioptern, absehen, visiere . . , an mathematischen Instrumenten (DWB); Niebergall 1894 Dram. W. 269 dessmal setzt sich kah schmassert [Schmeißfliege] uf mei visier (DWB); Bismarck vor 1898 Br. a.s. Braut u. Gattin 574 die kimme oben im hahn visirte nicht in grader linie mit visir und korn (DWB); Renn 1929 Krieg 64 „Stellung!" schreit Lamm. „Visier achthundert" (WDG); Lokal-Anz. 19. 8. 1934 daß die Abstimmung bei diesen beiden Superhets mit weitgehender Fading-Kompensation nach einem Feldstärke-Anzeiger, und zwar dem „Schattenvisier" geschieht; Mannh. Morgen 5. 8. 1980 Chemie-Industrie im Visier (Überschr.); Rhein-Nek-

kar-Ztg. 10. 4. 1981 Nachrüstung im Visier (Bildunterschr.); ebd. 11. 6. 1981 Andere Eingriffe in die Natur hat man ebenfalls ins Visier genommen: Auffüllungen, Anschüttungen . . . sowie Baggerungen; ebd. 17. 9. 1981 Die Sinfonie im Visier. Orgelkonzert in Heiliggeist im Rahmen des Rheinberger-Zyklus (Überschr.); Die Zeit 27. 11. 1981 Warum hatte die Polizei, wenn sie Busse und seine waffenstarrenden Kumpane schon im Visier hatte, nicht früher eingegriffen?; Rhein-NeckarZtg. 28.129. 11. 1981 Diese stetige Aufwärtsbewegung berechtigt zum Optimismus . . . jetzt schon die nächsten Gesamtwählen ins Visier zu nehmen; Die Zeit 11. 12. 1981 auf jenes Normalisierungsprogramm zurückgreifen, das vor anderthalb Jahren ins Visier genommen war; ebd. 1. 1. 1982 Nimmt man nur diese instrumentale Funktion ins Visier.

visieren V. (in)trans., um 1250 entlehnt aus frz. viser 'seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, etwas sorgfältig betrachten, beobachten, bes. um darauf (mit einer Waffe) zu zielen; sich um etwas bemühen, etwas erstreben', altfrz. auch 'untersuchen, prüfen', und als V.reflex. 'nachdenken' (zurückgehend auf lat. visere 'etwas genau ansehen, besehen, besichtigen; besuchen', Intensivum zu videre 'sehen'); la bis ins 16. Jh. belegt in der Bed. 'kunstvoll, kunstgerecht formen, bilden, gestalten, modellieren', auf Werke der Bildenden Kunst und des Kunsthandwerks bezogen; dazu die von Mitte 16. Jh. bis ins spätere 17. Jh. häufig belegte und im späten 19. Jh. vereinzelt archaisierend wiederbelebte adj. Ableitung visierlich 'kunstgerecht, zierlich, fein (gearbeitet)' und bes. 'possierlich, drollig, nett; kurzweilig, witzig', auch 'lustig, ausgelassen' und 'seltsam, merkwürdig, wunderlich, auffallend', mit der dazugehörigen, im 16. Jh. vereinzelt belegten subst. Ableitung Visierlichkeit. b Vom 13. bis ins 18. Jh. nachgewiesen in der Heraldik in der Bed. '(ein Wappen) kunstgerecht zeichnen und nach seinen Bestandteilen (Farben, Symbolen) erläutern, beschreiben', bes. in der Wendung jmdm. das Wappen visieren 'jmdm. die Meinung sagen, grob die Wahrheit sagen', auch allgemeiner verwendet für 'beschreiben, schildern, darstellen, erzählen'; dazu das von 1300 bis ins 15. Jh. belegte, formal wohl in Anlehnung an altfrz. visement 'Aussehen' aufgekommene Subst. Visament(e), auch Visiment, 'Einteilung, Beschreibung und Erklärung (der Symbolik) eines Wappens', gleichbed. mit der vom 16. bis 18. Jh. belegten subst. Ableitung Visierung. c Vom 14. bis ins 16. Jh. belegt in der Bed. 'etwas denken, meinen, glauben; ersinnen, ausdenken' und bes. 'entwerfen, planen', speziell in der Architektur 'einen Entwurf, eine Skizze, eine Vorzeichnung, einen Riß eines Gebäudes herstellen, maßstabsgerecht zeichnen' (vgl. 2); dazu im 15./16. Jh. das vereinzelt belegte Subst. Visier '(Auf-)Riß, Vorzeichnung, Entwurf, Plan (eines Gebäudes)', gleichzeitig die subst. Ableitung Visierer 'jmd., der etwas ausdenkt, ersinnt, entwirft, plant', und vereinzelt das noch im 19. Jh. belegte, bis heute gebuchte Verbalsubst. Visierung F. (-; -en) '(Auf-)Riß, Vorzeichnung, Entwurf, Plan (eines Gebäudes)'.

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2 Vom 14. bis ins 19. Jh. belegt, heute nur noch gebucht in der Bed. '(mathematisch genau) messen', bes. im engeren Sinne für '(von Amts wegen) den Rauminhalt eines Körpers (speziell eines zur Aufbewahrung oder zum Ausschank von Wein, Bier u. ä. bestimmten Hohlgefäßes, Fasses, Kruges o. ä.) festlegen; ein Hohlmaß eichen', früher häufig in Zss. wie Visieralht, -buch, -kunst und bes. Visiermaß, -eimer, -Stab und (auch bildlich verwendetes) Visierrute als Bezeichnungen für entsprechende Meßinstrumente; im 18./19. Jh. gelegentlich auf nichtmaterielle Gegenstände bezogen in der Bed. 'etwas genau erforschen, erkunden, ermessen, bewerten'; dazu vom 14. bis ins 16. Jh. das vereinzelt belegte Verbalsubst. Visierung 'Messung, Eichung', die vom 14. bis ins 17. und vereinzelt noch im 19. Jh. belegte subst. Ableitung Visierer '(amtlich bestellter) Eichmeister', vereinzelt bildlich verwendet; im späteren 15. und im 16. Jh. das Subst. Visier 'Eichmaß(-instrument)'. 3 Seit frühem 17. Jh., wohl im Sinne einer Ableitung von —* Visier 2, in der Bed. 'etwas genau, sorgfältig betrachten, beobachten, bes. um darauf (mit einer Waffe) zu zielen; etwas als Ziel(-punkt) ins Auge fassen' und 'zielen; ein Instrument oder eine Schußwaffe zielgenau einstellen' (Visierlinie, -einrichtung), auch übertragen verwendet für 'etwas im Auge behalten, ins Auge fassen, auf etwas achten; nach etwas Ausschau halten; etwas anstreben, sich um etwas bemühen, auf etwas abzielen', heute meist ersetzt durch die in jüngster Zeit aufgekommene Präfixbildung anvisieren; dazu im 15. Jh. vereinzelt das auf altfrz. visement 'Aussehen' zurückgehende Subst. Visament 'Gesicht, Physiognomie' (vgl. —»Visier); im früheren 20. Jh. gelegentlich das Verbalsubst. Visierung 'Einstellen des Visiers, der Zielvorrichtung an einer Schußwaffe'. visieren la: vor 1250 Flore 1976 ein stein wart dar üf geleit nach dem grabe wol gezieret, glicher wise gevisieret ouch also der under stein; 13. Jh. Liedersaal II 189 als der edel gimme mit dem golde ist geziert, alsam ist gefisiert ir rotez mündelin; ebd. 260 diu zell was ouch schon geziert mit gemaelde durch fisiert von richer varw; ebd. 275 diu wäpenkleit als man fisieren solde von läsür und von golde (alle BENECKE-MÜLLERZARNCKE); Fischart 1575 Garg. /76darumb hat unser gnediger herr Grankalier die nationen . . . in leymen, wachsz, steyn, marmor und metall bossiren, vnnd visiern, und also zur gedechtnusz aufstellen lassen (DWB); ders. 1580 Jes. I 243, 474 Wie wolln wir aber es Formiren? Wir können zwar es nit Visiren Auff die Art der Trei vorigen Ghürn (RÜTTER). visierlich: Luther vor 1546 (X 2, 251) wens gleych Claus Narr gesagt hette! wie kan der teuffei szo visirlich fantasirn (DWB); Fischer um 1550 Chr. v. Ulm 69 Yetz will ich schreyben wie fisierlich es uff ainander gadt vnd folgt also, wann es will anfahen schlahen, so syizt ain guldiner han enbor vff dem dechle; Scheit 1551 Grob. 2562 der macht uns guter bossen vil, und treibt visirlich affenspil

(DWB); Lindener 1558 Schwankb. 15 der visierlichst unnd seltzamest bossz (DWB); ebd. 92 in fasznachten, wie iederman närrisch und visierlich sich steh (DWB); Mathesius 1563 Ehest. Ji 3" Denn wenn Gott einem [Künstler] einen visierlichen vnd runden Kopf, vnd geschwinde zufeil, ein gute vnnd fertige hand gibt, dem gehet es von statt; Fischart 1570 Nachtrab Z. 689 dannoch laut visierlich diss, Dass, da ein glaub nur ist gewiss; ebd. 2578 Das seind mir doch visierlich künden, Dass sei so gauckeln können wol, Vnd dass der boss angeht zumol; ebd. 3041 Fieng an ein sehr viesierlich leben, vnd wolt die weit gar vbergeben; ders. 1571 Lesterungen (b) 1651 Ein kurtzweilig geless viesierlich Gantz lecherlich vnd gar bossierlich; ders. 1572 Eul. reim. II 11 nun viel Jar her in mancherley weiß, art, schlag, spraachen . . . figürlich und unfigürlich . . . aber doch alle viesierlich außgangen, und im Truck gesehen worden (RÜTTER); H. Sachs vor 1576 (II 390, 30) köstliche kleynat, schön und zierlich, darein artlich mit kunst visierlich waren wappen und alt histori getriben (DWB); ebd. XII 177, 34 her könig, ein visirlicher narr ist daus; soll ich in lassen rein? (DWB); ebd. XXII 246, 10 alda sach ich ein ackerwerck, so selzam fisirlich und wunderlich

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(DWB); Putherbeus 1581 Von Verbot deren Bücher (Übers.) 3" die feine kurtzweilige Lustschrifften vnd Tractätlein, die voller guter schwänck vnd visierlicher bossen; Paumgartner 1594 Briefw. 197 sy [Freude an Kindern] ist so fisierlich wie ein afla; ebd. 211 du hetest dich sein zu kronck gelacht, so fisierlich wart er; 1614 Leben Lazaril 49 visirlichen possen; Grimmelshausen 1669 Simpl. 51 ich musz dem leser nur auch zuvor meinen damaligen visirlichen auffzug erzehlen . . . dan meine kleidung und geberden waren durchaus seltzam, verwunderlich und widerwertig (DWB); ders. 1670 Springinsfeld III 276 visierlich geplagt und vexirt; ders. 1672 Vogelnest III 404 visirliche Kurtzweil; Wagner 1724 Soldatenbibliothek 160 Die teutschen Soldaten machten einen seltzamen Aufzug und visirliche Parade; Hoffmann v. Fallersleben 1890 Ges. Sehr. III 227 gar visierlich und manierlich geht es hier im lager her (DWB). Visierlichkeit: Kirchhof 1563 Wendunm. 1263 des bauren listige visierlichkeit (DWB). visieren lb: 13. Jh. Liedersaal II 376 allez rfcher denn ichz künn fisieren; Suchenwirt vor 1395 (VI 198) des wäpen ich visieren wil (beide BENEKKE-MÜLLER-ZARNCKE); Hätzlerin 1452-76 Liederb. 180 on wandels narb beleuchten dich [die Geliebte] die sechs varb; die will ich hie visiern (DWB); um 1520 (Schade, Satiren III 215) Das geb im got die leus in die haut hinein! ich main aber, man hab im das wapen vor ain mal fisiert; Brunfels 1532 Kreüterbuch Vorr. b4h aber dieweil sye [beim Malen und Schreiben von Kräuterbüchern] den Kosten gespart / vnd vielleicht auch der waren kunst nicht bericht / alle verhympelt / vnnd nichts rechtschaffens worden / so der figuren halb die blößlich gefysiert / so der beschreibung / welche der mertheyl falsch; Franck 1546 Sprüchw. I llh den Spiegel zeygen, heyszt eim das wappen visieren . . . den text lesen . . . und sagen, wer er ist (DWB); Wickram vor 1562 (VI 270) vor einer stund da hört ich schon dem schalck sein wapen blasinieren, den schild auch dermassen visieren (DWB); Hainhof er 1610 Br. 26 wie dan die Jesuiten, so zu Paris noch bey hof sein, also nit werden feyren, alles was die Künige bewilliget, in der beicht und sonst zu praecontiern und heraus zu visiern; Dannhauer 1642 Katechismusmilch I 455 Und zwar hat auch jemal jemand der unsern den Mönchen das Wappen so redlich visirt, als die Patres der Societät, die unverholen von ihnen (den Mönchen) geschrieben; Schumacher 1694 Kurtzgef. teutsche Wapenkunst 86 visieren, explicare, blasonner heist erklären und aussprechen (DWB); Grass 1714 Von Staats-Brieffen 31 figurae, quas in Arte Heraldicä Honorarias, Galli les pieces prop-

res et honorables, Germ. Visir-Bilder, Ehren-Bilder, Ehren-Stücke, appellant. Visament: um 1300 Reinfr. 17054 der wäfen visamente ist mir leider wilde (LEXER); Hadam. um 1300 (62) der varwe visament (BENECKEMÜLLER-ZARNCKE); Joh. v. Würzburg 1314 (16946) nach rehter visiment (MÖLLER); Suchenw. vor 1355 (VII 210) der wäpen visament plasnieren (BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE); Montfort um 1400 (II 125) als es die visimente lert (MÖLLER); Wolkenstein vor 1445 (XXXIV 1,3) mit aller hendlein visament (BENECKE-MÜLLER-ZARNCKE). Visierung: Fischart 1575 Garg. 184 dessen Titul ist, Bläsonirung der Farben, Wapenvisierung und Farbenlosung (RÜTTER); Harsdorffer 1643 Gesprächsp. III 158 in der visirung der wapen (DWB); Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 197 regeln, die . . . bei der . . . visirung . . . eines wapens erforderlich sind (DWB). visieren lc: 14.-16. Jh. Chr. d. dt. Städte XIII 302 disse eirste opinien behaget mir gantz niet, ind is ein gevisiert ind erdacht dink (DWB); um 1400 Ackermann 47 aller weilwesen, zeitwesen vnd immerwesen ganz mechtiger erquicker, aufhalter vnd vernichter, des wesen auch, als du in dir selber bist, ausrichten, visieren, entwerfen vnd abnemen niemant kan; Hätzlerin 1452—76 Liederb. 242 gerechte mynn, als ichs visir, will under zwain personen ir wesen und ir wonen vollenden und volrecken (DWB); 1488 (Hupp 1930 Scheltbriefe 7) upslaen ind mailen, so erschligen sy dat vysieren ind erdenken können; 1499 Cronica van Collen 313 gevisiert ind erdacht; Lacher 1516 Unterw. (Reichensperger 145) Item wan du einem grundt von dieser selber wilt fissiren oder anlegen, so halt doch dieser meinung mit dein firungen, das werth sey klein oder groß; Berthold v. Chiemsee vor 1543 (130) solhe ding alle hat got von ewikait gewisst, bedacht, geordent, verfasst oder visiert (DWB); Fischart 1572 Eul.reim II 16 Ich hab es nicht entworfen noch visiert (RÜTTER); ders. 1574 APG VIII 651 Juden, Egyptier, Böhmen, werden diß Jahr nicht das gantze entworffen und visierte muster jhrer gedancken und hoffnung ins werck vollrichten (RÜTTER). Visier: 1467 Chr. V 314 Anm. 5 visier (LEXER); Berthold v. Chiemsee vor 1543 (130) wie in aines zymermaisters gemüt und fantasey steet die visier aines künftigen hawsz (DWB). Visierer: um 1400 Ackermann aus Böhmen 90 [Gott] aller dinge ausrichter, visierer, entwerfer

visieren und abenemer, erhöre mich; Nas 1565 Antip. Eins u. Hundert III 245k einen doctors kopff, eines predigers, schwirmers Barrabas und visiererkopff (beide DWB). Visierung: 14.-16. Jh. Chr. d. dt. Städte XVI 435 Anm. 1 dem maier im Hagen vor de viseringe up de Stempel do entwarpende; ebd. XIII518 it is ein viserunge ind ein visimetent (DWB); 1516 Peutinger-Briefw. 269 Und dweil er [Waffenschmied] zu solchem harnasch mer dan ain visierung und nit wissen hat, welche E. Mt. am fueglichsten sein wirt; Dürer vor 1524 Tageb. 54 ich hab ein viesierung mit halben färben den malern gemacht (DWB); Neudörfer 1547 Nachr. v. Künstlern 3 was gewaltiger Visirung der Gebäu, so er hier . . . gemacht und aufgerichtet hat; ebd. 8 Er machte auch eine Visirung zu einer gewaltigen Befestigung; 1564- 66 Zimm. Chr. III 111,1 das der baw nach seiner visirung nit sollt gebawen werden (DWB); Fischart 1582 B. 49 der . . . die visierung oder das muster solcher Ordensregel am ersten erfunden und gestellt hätte; Speckle 1589 Architectura 106h Inn dieser Visierung mit Lit. A hab ich erstlich verzeichnet mit was vortheil durch ein Scharten zuschiessen / desgleichen auch Lit. B wie vber Banck zuschiessen / vnd im durchschnitt hiebei zu sehen ist; Hainhofer 1610 Br. 19 Herzog Wilhelm zu Beyrn kheret alle mahl bey ihme ein, so oft er her khommet, und ist froo, wan er nur fisierungen von ihme haben mag, last man ihne selbs was aus sein köpf fingiern, so ist er desto besser, sonderlich in klainen Sachen, er machet aber nichts, als, von öhlfarben, dan er mit der miniatur nit khan umbgehn; ders. 1611 Relation 37 so solle Ich mir den J o b , wie Er auf einem strohauffen sitzet, von seinem weib vnd befreündten verachtet . . . mit dem gantzen wappen vnd bildnuss auf die Seiten mahlen, zuvor eine Visirung machen; Bucher 1884 Kunstgewerbe 429h visierung, entwurf, vorzeichnung für ein glasoder Wandgemälde oder sonst ein kunstwerk (DWB). visieren 2 : 1 4 . - 1 6 . Jh. Chr. d. dt. Städte 1105, 23 wer ein ruten zu fisiren machen wil (DWB); 1490 (Mitt. VG Nürnb. 26 (1926) 298) Item wo der Kolberger das Visieramt annemen wil; 15. Jh. (Mones Am. 7 (1838) 155) amentum, lignum longum, quo nautae profunditatem aquae solent scrutari, fiesser-stang; 15. Jh. Fastnachtsspiele 712 und meint, er wol sie pas visiern, denn er sie selber hat geeicht . . . man schol im sein visierruten abhauen; 15. Jh. Nürnb. Polizeiordn. 209 man sol alle wein kaufen auf ein visieren ( L E X E R ) ; Eberlin v. Günzburg um 1525 (II 84) Ettwann brauch er sich andrer guten künsten, als Rechnen, Visie-

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ren, oder mit dem Circkel mit vßteylung des erdtrichs, der stund tag vnd nacht; Kern 1531 Ein new Kunstlichs wolgegründts Visierbuch (Titel); ebd. (Titelrückseite) eyn buch auss der freien kunst der Geometri, vom Visieren, zemachen; ebd. 1" yeder, der visierrûten lernen machen vnd prauchen wil; 1554 Sammig. wirzb. Landesverordn. I 5" es sey denn dasselbige Fass zuvor visiert oder geaicht; Mathesius 1571 Sarepta 143" wie man ein fass durch den triangel und quadranten, darausz die messstebe oder visierruten abgetheilt sein, messen und eichen kan (DWB); Paumgartner 1583 Briefw. 28 wie das du die weyn visyrn, den Schwager Helden oder sonst ein guetten freund versuchen unnd die 2 besten faß darvon inn deinen keller legen lassen sollest; 1593 Wagnerbuch 29 findestu . . . die Geometriam, die lehret dich allerley abmessung, sie lehret visieren, wie viel Wasser inn ein Vass gehet, sie lehret ein jedes Ding wegen ohn Gewicht vnd ohn Wage; Zubler 1607 Ber. abzumessen 67 Visierstäb, vnd Absehen zu dem großen Geschütz; Kepler 1616 östr. WeinVisier Büchlein 113 Wie der Gast / also der Becher vnnd der Trunck / ein schlechter Kellner / der sich nicht waisst nach eins jeden Gasts humor zu accomodiren. Derhalben auch dem Visierstab nicht für vbel zu haben / ob er sich bissweilen ausserhalb dess Kellers vnnd Weinfasses auch zum ernst brauchen lesset / vnd auss einem grossen Canon einen Obder-Enserischen Märtinsberger / Spitaler / Eisenärtzter zu Steir abgezogen / oder auch einen Edlen Polnischen Trunck einschenkt; Schreiber 1616 Büchsen-Meisterey 77b daß ein rechter Büchsen-Meister kan einen Viesier oder Maßstab abtheilen / zu einer ieden Sort Kugeln; Güstrow. SO 1662 Vormb. II 605 Von der Teutschen Schulen . . . Es soll aber kein deutscher Schreiber und Rechenmeister angenommen werden, er habe den zuvor schöne Schriften sehen und sich im Rechnen, Buchhalten, Visiren und dergleichen Künsten, die ein solcher Man wiszen soll, genugsam probiren laszen ( N Y S T R Ö M ) ; Grimmelshausen 1670 Springinsfeld (III 256) Man visirte alle Faß; Sturm 1714 Anw. (Architektur) Eh [Dass ich] ein gewisses schon erbauetes Hauss visiren, und berichten solte, wie viel an allen Sorten von Bau-Materialien . . . vorhanden . . . [sey]; Fleming 1726 Soldat 44 Die Feld-Messer gebrauchen zu Beurtheilung eines Winckels ein Mathematisch Instrument, so sie ein Astrolabium nennen, u. in 360 Grad eingetheilet ist; Es hat gewisse Dioptren, durch dieselben visiret man nach den Strecken, die in den Winckeln und Ecken gesetzt sind . . . und applicirt das eine Linial an den Centro, das andere aber gebrauchet man zum visiren; Lichtenberg vor 1799 Nachlaß 76 freylich wird man wohl nie so weit kommen den morali-

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sehen gehalt der menschen zu visieren (DWB); Herder vor 1803 (W. V 332) jetzt ists nicht, als ob er [der Dichter] seinen Gegenstand kalt und nüchtern, mit zirkel und schullineal von verschiednen Seiten visire, messe (DWB); ebd. XV 20 Das Schöne und die Schönheit nach Quantität, Qualität und Relation bestimmen, d. i. wägen, messen, visiren und aburtheilen, entfernt vom ersten Begriff der Schönheit ( K E H R E I N ) ; Heinrich 1808 Maasse u. Gewichte 40 so rechnet man immer auf den Eimer 64 Köpfel, und nent ihn Visiereimer; ebd. 45 Als aber der Gebrauch des Visierstabes häufiger wurde, ging diese Anstalt [Ahm] nach und nach ein; Triest 1809 Land-Baukunst I 449 Die Eisenhändler bedienen sich einer Art Maaß, um die Dicke des Eisendrahts zu finden, welches sie Visirmaaß, die Nadler Schießklinge nennen; Jean Paul vor 1825 W. III 218 die untiefe der esslöffel und Suppenschüsseln mit visierstäben auszuforschen. Visier: 15. Jh. Niirnb. Polizeiordn. 246 niemant soll wein anders kaufen dann auf die visier (LEX E R ) ; Rudolff 1530 Exempel Büchlin b5h zü Essling werden kaufft etlich vesslen weyns N . 1. 2. 3. 4. haltend dem visier nach N . 1. 2. eym. 3jme; Riese 1581 Rechenbuch 109k masz an der visir (DWB); Paumgartner 1582- 98 Briefw. m. s. Gattin 29 allein schreib die visyr auf, was es [das Faß] hellt (DWB). Visierer: 1397 (Siebenkees 1794 Materialien zur Nürnb. Gesch. III 227) Des Visirers aid; 1397 (Lipowsky 1815 München II 27 Anm.) der Visierer der das ungelt hie auffpracht; 14. — 16. Jh. Chr. d. dt. Städte XXIII 189,5 des visiers predig (DWB); 1482 (Mitt. VG Nürnb. 26 (1926) 298) der visierer von Kitzingen, der nehst eingestossen hat; 1508 (Ann. Ingolstad. Acad. IV 172) Wein durch der Stat Diener, Visirer, und Lader . . . umb gepürlichen Sold . . . visiren und ablegen [lassen]; 1554 (Sammig. Würzburg. Landesverord. I 4") sollen auch die Schröter mittler Zeit . . . den stäten Wirthen und Gastgebern einen Wein auß- oder einschroten, es sey dann ein Ungelder und Visierer dabey gewesen, der denselben Wein besichtiget und eingeschrieben; ebd. 4h Und da es dann in die Goldwoche und das Viertel Jahr herum kommt, soll der Visierer samt den Ungeldern . . . die Fässer besichtigen, was der Wirth oder Gastgeber ausschenket, abrechnen und getreulich verungeldt nehmen; ebd. 5* auf den Dörfern, da Aich und kein Visierer seynd, soll der Ungelder zu einem Gemerk oder Zeichen ein Spahn aus dem Fass schneiden; Fischart 1574 APG VIII 607 Weinvisierers Augen ( R Ü T T E R ) ; Paumgartner 1583 Briefw. 36 Auf des fisierers regnung sind 23 V2

aeimer 1 fiertel; Fischart 1590 Garg. 61 nach der Weinvisierer Tabulatur (RUTTER); 1636 (Sammig. Würzburg. Landesverordn. I 224h) einem Visirer oder Eicher; Harsdörffer 1647 Gesprächsp. VII 151 einen Kalender . . . Ach, sagte er, diese blinde Weltvisierer fehlen des ganzen Himmels, Welcher kan doch der Verliebten Kalender aufsetzen? in demselben sind die Stunde Tage, die Tage Monat, die Monat Jahre, ein Jahr ist so lang als sonst tausend; Kriegk 1868 Bürgertum I 324 Visirer oder Ungelder. Visierung: 1360-1490 S. Gull. Chr. 40 visierunge ( L E X E R ) ; Paumgartner 1582- 98 Briefw. m. s. Gattin 29 so wird mein vatter die übrigen 1 in 2 fasz auch bey dir abholen lassen; solcher visyrong, was die haltten, dir auch auffzuschreyben geliebe (DWB). visieren 3: Lorini 1616 Fortification (Übers.) 44 muss er auch das Stück visirn vnd das Visir oder Gesicht zum Schuss recht auff dem Mundstück nemmen können; Steiner 1682 Kriegs-Bau-Kunst 35 Kunstweise Lehre und Haubt-Sprüche / so zu der Visier-Stellung zu wissen (Überschr.); Durangel 1722 Wegweiser 16 Visier-Schüsse; Fleming 1726 D. teutsche Soldat 44 dioptren, durch dieselben visiret man nach den stücken, die in den winckeln und ecken gesetzt sind (DWB); ebd. 62 Von dem Visiren / Laden und Schiessen derer Canonen (Überschr.); Stahl 1762 D. gewehrgerechte Jäger 146 wenn man in die laufte [der Gewehre] gläser einsetzte . . . so möchte man wohl nach einer bestimmten Linie visiren können (DWB); ebd. 174 man kan einem die regeln vom visieren viel besser dabey geben, als bey einer flinte (DWB); Musäus 1781 Physiognom. Reisen II 174 ich . . . visirt' dort allenthalben umher im Gebüsch; ebd. IV 115 all mein visiren und glostern (DWB); Bürger vor 1794 (21b) und durch sein perspectiv visiert' er [Zeus] von dem himmel nach unserm weltgetümmel (DWB); Eickemeyer 1821 Kriegsbaukunst 90 heißt Visirschuß (de but en blanc), wenn die Richtung auf das sichtliche Ziel über das Bodenstück oder den hintern Theil des Kanons, und den vordem Theil oder den Kopf geschieht; Goethe 1827-42 (W. XII 154) Ich visirte dann unterweil nach einem andern schätze ( K E H R E I N ) ; ZKrieges 32 (1834) 206 Visirschussweite; Glasbrenner 1836 Bilder a. Wien 1132 [er] läuft mindestens zwei Mal um das ganze Billard, bevor das Spielen an ihm ist, stößt schnell zu, ohne zu visiren; Gerstäcker 1848 Flusspiraten I 167 während er langsam und vorsichtig das rechte Bein emporhob, und mit der Hand scharf auf einen, seine große Zehe belästigenden Moskito visierte; Eichendorff vor 1857 S. W. III 421 der

Vision puppenspieler visirte erst die ganze gesellschaft rings im kreise scharf mit dem einen auge (DWB); Mörike vor 1875 W. I 262 morgen spazieren wir wieder heraus, wenn die kirche vorüber vormittags, und visieren vom Weinberg, wie es bestellt ist (DWB); Bismarck vor 1898 Br. a. s. Braut u. Gattin 574 die kimme oben im hahn visirte nicht in grader linie mit visir und korn (DWB); nürnberger 1898 Eis 67 Sie schießen ja entsetzlich neben das Ziel. Ich bitte ganz ergebenst, visieren Sie besser; Frey 1904 Physiologie 374 Die beiden Augen können nur gemeinsam bewegt werden . . . und zwar geschieht dies so, daß die beiden Blicklinien auf den fixierten Punkt gerichtet werden, wobei sie natürlich stets in einer gemeinsamen Ebene, der Visierebene bleiben; Marcuse 1905 Ortsbest. 120 Der senkrechte Mittelfaden II schneidet dabei die optische Achse, und die Verbindungslinie zwischen seiner Mitte und dem optischen Zentrum der Objektivlinse bezeichnet die Visier- oder Kollimationslinie des Fernrohres; ebd. 156 Visierlinie des Fernrohres und Horizontalachse des Instrumentes sollen senkrecht zueinander stehen; Kaltenboeck 1932 Armee im Schatten 48 visiert; Lokal-Anz. 19. 1. 1933 In der Anlage und Richtung dieser Visierlinie liegen unausgesprochen ganz bestimmte Urteile über die Gegenwart und ganz bestimmte Erwartungen für die Zukunft; Dürr 1937 Burckhardt 12 Die eine Partei visierte den Radikalismus, die andere den sogenannten Ultramontanismus; Hartlaub 1950 Von unten gesehen 66 ein Rudel von Kameramännern, das Auge zugekniffen visierend (WDG); Mann 1955 (XI 611) Das Himmlische, von Menschenvernunft aus visiert (WDG); Polgar 1959 Fensterplatz 157 Oft hielt er die geschlossene hohle Hand vor das Auge und visierte durch sie, niemand wusste was; Noll 1963 Holt I 79 Der Kopf [des Hasen] stand zitternd auf der Visierlinie (WDG). anvisieren: Guardini u.a. 1954 Verantwortung 66 gangbare Wege anvisieren zu können [für einen späteren Beruf]; Süddtscb. Ztg. 10. 8. 1957 Gegenwärtig wird aus guten Gründen Bulganin anvi-

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siert. Jeder Schritt des Ministerpräsidenten in der Öffentlichkeit wird registriert; Stuttgarter Ztg. 4. 3. 1959 In einem jener geschliffen hinterhältigen Nebensätze wird unzweideutig die Absicht eines Separatfriedens mit der DDR mitgeteilt und jener Zustand anvisiert, wie er nach dem Abschluß des Separatfriedens sein würde; Guggenheim 1961 Heimat 29 Uberzeugung, die militaristische und ästhetische Dramatik visiere eine korrupte und verlogene Wirklichkeit an; Süddtsch. Ztg. 11. 2. 1963 Die sechs an der Schau beteiligten Damen, die von einem begeisterten . . . Publikum anvisiert wurden, blieben durch schwarze Halbmasken anonym; Welt 30. 1. 1965 das sorgfältige Anvisieren der Möglichkeiten einer erfolgreichen . . . Ostpolitik (DUDEN); Offenburger Tagebl. 11.9. 1967 Grob wäre eine solche Zukunftsaufgabe schnell anvisiert; FAZ 19. 10. 1971 Schlichtung anvisiert. Die Tarifverhandlungen für die Metallindustrie . . . sind schon in der zweiten Runde gescheitert; 1971 Festg. a. Klett 305 Die Versuche mit Drogen und traditionellen Reizmitteln, Alkohol und Narkose visieren solche Welten an; Die Zeit 27. 11. 1981 Auch unserer gegenwärtigen Politik, die ein möglichst problemloses Nebeneinander der beiden deutschen Staaten auf der Basis der vorläufigen (vielleicht endgültigen?) Nichtwiedervereinigung anvisiert, wäre damit nicht genützt. Visament: Vintl. vor 1419 (9199) des menschen regiment die gent aus dem visament und besunderleich aus den äugen (LEXER). Visierung: Lokal-Anz. 20. 10. 1934 Die Bedingungen [beim Preisschießen] sind je 10 Schuß in den drei Anschlagsarten mit offener und beliebiger Visierung; ebd. 1. 11. 1934 Er gilt als der zuverlässigste Schütze. Seine kürzlich aufgestellte, bisher unerreichte Leistung von 686 Ringen (von 720 möglichen) bei 60 Schuß in den drei Anschlagsarten mit offener und beliebiger Visierung an einem Tage läßt hoffen, daß Hoffmann bei den Olympischen Spielen die deutschen Farben würdig vertreten wird.

Vision F. (-; -en), im frühen 14. Jh. entlehnt aus (flekt. Form von) (m)lat. visio in seiner Bed. '(sinnlich wahrnehmbare/Phantasie-)Erscheinung; geistige Vorstellung, Idee' eigentlich 'Sehen; Anblick; Sehkraft' (zu videre 'sehen; Sehkraft haben'), anfangs auch in den Formen visiün und visiüne und bis Ende 17. Jh. gelegentlich in der lat. (flekt.) Form; a zunächst im christlich-religiösen Bereich, speziell in der Sprache der Mystiker, dann allgemeiner für 'auf der Einwirkung übernatürlicher (z. B. göttlicher/dämonischer) Kräfte auf den Menschen beruhendes inneres Gesicht

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von sinnlich nicht Wahrnehmbarem (Vergangenem, Zukünftigem, räumlich Entferntem o.ä); (prophetische, seherische) Erscheinung, Offenbarung; Erleuchtung, Ahnung'; dann meist für 'auf (krankhafter oder physikalisch bedingter) Sinnestäuschung beruhendes Trugbild; Wahnbild, Hirngespinst, Halluzination, (Fieber-) Traumbild; optische, akustische Täuschung', heute vor allem im Bereich von Medizin und Psychologie; weiterentwickelt im Sinne von 'von einer lebhaften Phantasie ausgelöste, erdachte (und z . B . literarisch vermittelte) bildhafte Vorstellung, innere Schau, Idee (bes. einer zukünftigen Welt)' (Zukunftsvision, vgl. - * Utopie), auch abgeflacht im Sinne von 'Einbildung'; insgesamt häufig auf erschrekkende, furchterregende Offenbarungen, Sinnestäuschungen oder Ideen bezogen. Dazu im 18. Jh. vereinzelt nachgewiesen die subst. Ableitung Visionist, auch Visionistin, gleichbed. mit —» Visionär(in). b Seit früherem 18. Jh. , eventuell unter frz. Einfluß, vereinzelt von normalen optischen Eindrücken für 'Anblick', auch in bis heute gebuchten Zss. wie Visionslinie, -radius 'bis zum betrachteten Gegenstand verlängerte Sehachse; Sicht-, Blicklinie'. Vision a: Eckhardt vor 1327 (CCXL 22) an Visionen (MÖLLER); Seuse vor 1366 D. Sehr. XXII do in den selben ziten hat er gar vii vision künftiger und verborgenr dingen (DWB); 1383 Volkslied XXIX 2 daer vor lach hi in visione (MÖLLER); Nicolaus v. Basel 14. Jh. (330) allen Visionen ist nint wol mo gloubende (LEXER); ebd. 319 di visiüne (LEXER); Paracelsus 1536 Wundartzney II 9" [Heilung in alten Zeiten] durch den glauben, das ist das vii haben sich durch die stain zusehen vermüttet, als durch prillen vnd dergleichen, vnnd durch die selbigen zu ergründen die erfarenheyt inn der natur / Nu müst du am ersten wissen was in sollichen visionibus zu sehen sey, nichts ist da das wider die natur sey; Franck 1538 Chr. Germ 128" babst Helbrant rhümet sich er hett ein vision gehabt, der unrecht keyser solt disz jar sterben (DWB); Begardi 1539 Index Sanitatis 17" vnn seine grosse kunst / nit alleyn der artznei / sonder auch Chiromancei / Nigromancei /Visionomei / Visiones imm Cristal und dergleichen mer künst; ebd. 18" von vilen seltzamen bossen als Visiones durch den Cristal zu machen; Dreytwein 1564 Chr. (XV CCXXI 224) fiseon; Thurneisser 1575 Archidoxa 49h Vision; Federmann 1578 Petrarca cl" Vision vnd treume; Fischart 1581 Dämonomania 109 Visiones; 1593 Wagnerbuch 111 Als sie aber nun solten jre phantastischen Visiones dem König erzälen; Albertinus 1598 Guevaras Sendschreiben I 157k O ihr Priester / es komme der heilig Ezechiel . . . vnd verkündige euch / was er damals für ein Vision vnd Gesicht mit seinen Augen gesehen / vnd mit seinen Händen angerürt hat; Lopez 1609 Congo 45 wolte jhn mit einer Himlischen Vision vnd Gesicht trösten, welches war ein grosses und helles Liecht; Dannhauer 1642 Katechismusmilch

I 28 unangesehen er unfehlbare Göttliche vision gehabt, und Christum in der Verklarung gesehen; Mengering 1661 Gewissensrecht 1093 was einmal erfüllet worden / wie solche Vision an dem Landgrafen / das ließ sich nicht so weiter deuten und drehen; Grimmelshausen vor 1676 (IV 671) bisz unsere erscheinungen oder vision ein end hatte (DWB); Dalhover 1687 Gartenbeetlein I 144" dises alles hat dir Gott durch diese Vision allergnädigst wollen anfügen; 1692 Novellen 289 Zu dem so sind solche visiones schon verdächtig, wenn ein einfältig Weibsbild solche will gehabt haben; 1697 Verteidigung d. Pietismus 72 denen bey kurtzen Jahren hero geschehenen Offenbarungen und Visionibus . . . und zwar nicht alle visiones zu verachten; Zimmermann 1784 Einsamkeit II 81 Er kann die Imagination durch solche schöne und herrliche Visionen entzücken, wovon wir gewöhnlich keinen Begriff haben; oder dieselbe mit solchen erschrecklichen Gespenstern und Erscheinungen plagen, daß wir uns dabey Vernichtung wünschen und glauben, unser Daseyn sey Fluch; ebd. II 238 Wie leicht finden sich alsdann Trlume und Visionen von Engeln und Teufeln, Wunderglauben und Wundergeschichten; Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge II 56 Bei den meisten Visionen, Geistererscheinungen und Wundern sind so viel unverdauliche, abgeschmackte Dinge eingemischt, daß es das größte Wunder bei der Sache ist, hier eine göttliche Sendung und ein Wunder im Wunder entdecken und glauben zu können; Wolf 1793 Ph. Dulder I 171 eine Vision aus Amors Reiche; Böttiger 1799 Literar. Zustände I 69 Daher ist alle seine Poesie Feenwerk, Phantasiespiel, Vision und Exaltation des inneren Auges, ohne ganz reine, bestimmte äußere Form; Gentz 1804 Staatsschr. 172 Das sind

Vision nicht Visionen eines Träumers, der nach idealistischen Untersuchungen jagt; 1805 Galls Lehre 35 Ähnliche Bewandtnis [wie mit dem Nachtwandeln] hat es mit den Visionen. Im Gehirne des Visionärs werden wahrscheinlich durch physische Veranlassungen ein oder mehrere Organe zu einer erhöhten . . . Thätigkeit angeregt, und es entstehen dadurch lebhafte Bilder und Vorstellungen in ihm, die er nicht, wie er sollte, für Schöpfungen seines kranken Gehirns, sondern . . . für Eindrücke von aussen hält, und die so durch einen Selbstbetrug in die Aussenwelt überträgt, und für wirkliche Erscheinungen, Visionen ansieht; 1808 Reils Beyträge I 45 wirkt die Phantasie mit desto mehr Lebhaftigkeit, und giebt ihren Geburten ein so grelles Colorit, dass sie im Scheine der Wirklichkeit als Visionen hervortreten; Goethe vor 1832 (XXV I) ihr der Seherin, erschien unsere sonne in der vision um vieles kleiner (DWB); Hufeland 1823 Kl. Med. Sehr. II 376 Anm. in unseren visionssüchtigen und hyperphysischen Zeiten; Goethe 1827-42 (XXXVI 7) Der so viel unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik schrieb (KEHREIN); den. vor 1832 Br. I 96 Ich wünsche, daß ich meines großen Vorfahren in Beschreibung der Ahnungen und Visionen nicht ganz unwürdig möge geblieben sein (KEHREIN); 1839 DVjS. III 143 mächtiger als blosse Gespensterfurcht wirkt religiöse Schwärmerei auf Entbindung des somnambülen Elements und bildet . . . das, was man im engeren Sinne eine Vision, ein Gesicht nennt; Schubert 1840 Nachtseite der Naturwiss. 218 wo ein junger Mensch den Tod seiner Geliebten durch eine Vision voraus wusste; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 172 jener Vision, worin er den alten Propheten ihre Riesenbilder und der Offenbarung ihre geheimnisvollen Schauer abgelauscht; Schopenhauer 1851 Parerga I 266 Erscheinungen dieser Art sind nun nicht mehr blosse Hallucinationen, sondern Visionen; Niendorf 1854 Paris 10 wie eine Vision des Ruhmes, L'arc de Triomphe; Holtei 1854 Schneider III 177 Und dieser quälenden Vision Herr zu werden, gelang ihm nicht; Rodenberg 1863 Strassensängerin II 141 Wie hätte er auch, dessen Seele nur von schönen Visionen lebte, die Wirklichkeit in Anschlag bringen sollen; ebd. III 216 Nach einer langen Wanderung . . . hielten sie in einer schmutzigen . . . Gasse. Harfenklänge, Gesang, Tanz und Lachen erfüllten die Herbstnacht; und braune Gesichter mit dunklen Augen wurden sichtbar in ihrer feuchten Dämmerung. Ein Klang und eine Vision, wie aus einem andern Leben, welches er vor diesem gelebt, zogen an Walter vorüber; Raabe 1864 Hungerpastor 299 aber er hatte auch Visionen während dieser Krankheit, die nicht zu

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teuer durch alle Schmerzen, die er erdulden mußte, erkauft wurden; Kürnberger 1874 Siegelringe 212 seiner großen apokalyptischen Schlachtvision; Virchow 1877 Freiheit d. Wissenschaft 24 Daneben treffen wir auf der anderen Seite gewissermaßen den linken Flügel, wo Subjectivismus spielt; da träumt der Einzelne, da kommen die Visionen, die Hallucinationen der Individuen; Walloth 1886 Seelenrätsel 309 indes Isabella, an allen Gliedern zitternd, nur eine entsetzliche, dunkle Vorstellung von Blut, Menschengesichtern und betäubendem Lärm hatte. In dieser Vision stammelte sie verzweiflungsvolle . . . Worte; Kretzer 1887 Timpe 99 Gespensterhaft, grell vom Lichte des Mondes beschienen, ragten die fensterlosen Mauern der neuen Fabrik in den Äther. Eine Vision überkam ihn: Hundert geschäftige Hände begannen sich drüben zu regen. Es klapperte, schnurrte und walzte; Roberts 1891 Mitleid 193 es klang wie ein Ruf der Befreiung von dem hexenhaften Bann, von der sinnbethörenden Vision; ebd. 197 fühlte sie die Augen des Preußen auf sich gerichtet, jetzt leidensgroß, wie von dem Schreck einer fiebernden Vision geweitet, da er auch sie erkannt haben mußte; Eckstein 1897 Roland 59 unter dem Druck ihrer Visionen riss sie die Thür auf; Jänicke 1899 Falkenberg 85 Ich glaubte nicht anders, als hätte ich eine Vision gehabt und meinem Vater wäre ein Unglück widerfahren; Brandes 1903 Gestalten 29 Wir befinden uns hier außerhalb aller Wirklichkeit, in vollster Zukunftsvision; Kellermann 1906 Ingeborg 26 So herrlich waren die Visionen hinter den geschlossenen Augenlidern; Kretzer um 1910 Stehe auf 179 täuschte Thomas den toten Freund vor den starren Blick, den er nie so, wie besessen, auf ein Wunder gerichtet hatte. Schon fühlte er sich versucht, laut „Gabriel, Gabriel" zu brüllen, als die beiden verschwunden waren. Mit der Leere da unten kam auch die Vernunft wieder, und er schalt sich einen Narren, der am hellen, lichten Tage Visionen unterliege und Tote leibhaftig herumwandeln sehe; Janitschek 1919 Mimikry 43 Ihm fehlte noch der Mittelpunkt in seinen Dichtungen, sie, die den bleichen Mondscheinvisionen Farbe und Blut gegeben hätte: die Frau; Shaw 1919 Menschenverstand (Übers.) I 81 der alte sozialistische Held der Barrikade, [erfüllt] von der Vision menschlicher Solidarität; Meinhard 1923 Narr 52 Uberhaupt ist das ganze Bildwerk so unwirklich zart, daß es hinter den Wolken von Jan Pitter Booms Pfeile steht wie eine Vision; Schmitz 1926 Dämon 154 die ungetrübte Vision einer Glück und Erfolg versprechenden Welt; Busse 1926 Opfer 108 zäh, besessen, berauscht, seine Visionen ins Gestalthafte zu bannen; Thiess 1927 Gesicht 181 Er braucht nicht die Kontur, um die schon zerfallenden Elemente zur Form zusammenzuhal-

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ten, sondern die förmlich ekstatische Vision bannt sie in zitternder Vibration. In seinen Bildern hält das Schicksal den Atem an. Eine Sekunde lang ist eisige Stille der Ewigkeit, tastet Gottes Hand die Dinge ab; Hofmannsthal 1927 Schrifttum als geistiger Raum 11 Die Scheu vor dem unverstandenen Alleinsein ist grösser als die vor dem Tode, und noch die Unsterblichkeit erscheint als die Vision eines geselligen Fortlebens; Colerus 1929 Kaufherr Ii Wie eine Vision des Meeresgrundes hingen Nebelfetzen an verkrüppelten Bäumen; ebd. 23 Kaum jedoch saßen wir an unsrem Platz, als mich eine zweite Vision narrte, die allerdings nicht auf mich beschränkt blieb, sondern auch die anderen überkam; Dresdn. Anz. 8. 5. 1932 Visionen stehen auf von Soldaten in Fustanellen und Kapotten, Gold und Edelsteine leuchten auf grünen, roten Jacken, Greise schreiten feierlich im türkischen Kaftan, wilde Reiter tummeln im Turnier . . . Visionen von Abenteuerlichkeit, Adligkeit, Verschwörung und grausamer Tod; Steynen 1932 Frau 113 tauchte . . . die Vision des Toten auf dem nächtlichen Schlachtfeld vor mir auf; Berl. lllustr. Nachtauig. 18. 1. 1933 Mit einer Vision schließt der Film. Es lebt der Rebell im Geiste seiner Brüder fort. Er geht ihnen, in der Hand die Fahne der Freiheit, voran in eine lebenswürdigere Zukunft; Lokal-Anz. 23. 10. 1934 soll sich . . . zu einer Geschichte der Bewegung weiten, soll er — wenn auch nur gleichsam in blitzartigen Visionen — das deutsche Schicksal der letzten 20 Jahre widerspiegeln; 1934 Novellen 48 im Umgang mit den grossen Meistern, die ihn umgeben, überkamen ihn Visionen von mahnender Wucht, aber die Bilder entglitten ihm wieder; Wöhrle 1940 Ausfahrt 130 Nachts, da ich wach liege und den Schlaf nicht finde, steigt das Land überm Rhein wie eine Vision vor mir auf; Bäumer 1947Jüngling 16 Die Vision des Gottesreiches mit dem Friedenskaiser aber hatte werder gesiegt, noch war sie versunken; NZ. (Basel) 2. 1. 1950 Nach dem Essen legt es [das Schweinchen] sich zu einem Mittagsschläfchen hin und schnarcht unbekümmert in seine Träume hinein. Ich glaube nicht, dass in diesen Träumen die Poesie einen breiten Raum einnimmt. Es werden ganz banale Fressvisionen sein; Süddtsch. Ztg. 26. 9. 1950 von der Höllenvision des Banalen, des Anonymen, des Funktionierenden, die ein großer Dichter und Seher schon vor Jahrzehnten . . . hatte; Korrodi 1952 Literatur 25 Die Vision des Gekreuzigten hat sich in seine eigene gekreuzigte Seele eingebrannt; Jordan 1956 Aufstand 180 diese Vision künftigen menschlichen Daseins; Süddtsch. Ztg. 3. 2. 1959

Wenn die Zukunftsvision von einst sich in der Nähe als ein immer noch mühseliger und entbehrungsbeladener Alltag herausstellt; ebd. 17. 8. 1959 Hofmannsthals letzte, inzwischen wahrgewordene prophetische Vision; 1959 Studienz. Geistesgesch. 44 im Blick vom Brenner auf Italien steigt die Vision eines ewig freien reinen, lauteren Menschentums auf; Preetorius 1963 Geheimnis 161 dass die Phantasie des Künstlers, seine sogen. Vision, das Wesentliche sei; Stuttgarter Ztg. 23. 1. 1964 Die Vision eines einigen Europa ist seit längerem vorhanden. Es fehlt jedoch an dem Visionär, der sie verwirklicht, wenn sie nicht schließlich von der Geschichte in das Reich der Utopien verwiesen werden soll. Bei dem Worte „Vision" mag mancher „Realpolitiker" versucht sein, sich schaudernd abzuwenden. Damit wird jedoch keineswegs dem Wirklichkeitssinn der Abschied gegeben. Politik ist gewiß die Kunst des Möglichen, aber wie jede Kunst bedarf sie der Inspiration durch Ideen und Visionen; Offenburger Tagebl. 10. 12. 1970 Besonders beklemmend sind Madachs Zukunftsvisionen, die den Menschen als Nummer und den Atomtod schon vorauszuahnen scheinen; FAZ 28. 8. 1971 Star der Ausstellung allerdings ist eine „Küchenvision" auf das Jahr 2000, die in der Form an eine Astronautenkapsel erinnert; ebd. 16. 10. 1971 Ist es Unfähigkeit, Leichtfertigkeit oder ist es ein ideologischer Trend in Richtung auf Volksfront, Rapallo oder ähnliche nebelhafte Visionen?; ebd. 23. 2. 1972 Eine Zukunftsvision modernen Hallenhandballs (Oberschr.); Rhein-Nekkar-Ztg. 16.118. 6. 1981 die Ewigkeit hat nicht den an die vergängliche Zeit geknüpften Musiktakt, außerhalb aller menschlichen Phantasie vollzieht er sich: Die Erzengel und Engel mit dem Saitenspiel verweilen [in der religiösen Anschauung des Mittelalters] in ihrer eigenen musikalischen Wirklichkeit. Ludwig Derleth hat . . . durch das dichterische Wort den Schattenriß dieser Vision angedeutet; Mannh. Morgen 20. 10. 1981 Die neue Regierung . . . wolle die Vision von einem „sozialistischen Griechenland" verwirklichen. Visionist: Amaranthes vor 1746 Frauenz.-Lex. 1558 war ein affterprophetin, visionistin (DWB); Schummel 1779 Spitzbart 142 Visionisten. Vision b: Elis. Charl. vor 1722 Br. 426 diesze vission kan ich ohnmöglich auszstehen (DWB); Berenhorst 1798 Kriegskunst II 440 ein kompliziertes Manöver, das auf Visionslinien, scharfe Quadrazion der Abtheilungen . . . beruhet.

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visionär Adj., Ende 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. visionnaire ( < frz. Subst. visionnaire 'Person, die Visionen hat oder zu haben glaubt; Träumer; Phantast', zu visión 'Sehen, optische Wahrnehmung; Gesicht, Erscheinung, Vorstellung' < lat. visio —» Vision); in der Bed. 'als Vision / nach Art einer Vision wahrgenommen; seherisch, prophetisch geschaut; übernatürlich; traumhaft, phantastisch, schwärmerisch; auf Einbildung beruhend; (als zukünftig) erdacht, vorgestellt; (noch) unwirklich' (vgl. —» utopisch) und 'als Visionär / nach Art eines Visionärs (schauend); mystisch verzückt, seherisch wahrnehmend; träumend, phantasierend; träumerisch; phantasievoll, mit weit (in die Zukunft) blickendem Vorstellungsvermögen denkend'. Dazu schon seit früherem 18. Jh. aus gleichbed. frz. visionnaire (Subst.) entlehntes Visionär M. (-s; -e), auch als F. in der movierten Form Visionärin (-; -nen) und früher Visionäre, anfangs vereinzelt gebucht in der latinisierten Form Visionarias und bis ins 18. Jh. in (z.T. frz. beeinflußten) Schreibungen wie Vision(n)air(e), (auch mit frz. PI. -s), in der Bed. 'Person, die Visionen hat', speziell im Sinne von '(Geister-)Seher; Träumer, Schwärmer, Phantast; im Fieber Phantasierender' und 'Denker mit seherischem Weitblick, großem Vorstellungsvermögen (die Zukunft betreffend)'. visionär: Böttiger 1791 Literar. Zustände I 137 vor allem Volk vom Vater der Zauberei angeklagt . . . in ihrer visionairen Schwämerei selbst vollkommen begründet; Heine 1834 Salon I 4, 4} visionären; Görres 1836—40 Mystik I 179 Es ist also der visionäre Bezug zum göttlichen Geiste (KEHREIN); ebd. V 46 von magisch visionärer Praxis (KEHREIN); ebd. V 217 Alle diese Hexenmahlzeiten sind also visionäre Acte (KEHREIN); 1840 Hebbel (DL. XCLI1I 5) [Hebbels Judith] eine wunderbar gestaltete Natur, die ihre Heimath in der Sphäre des Visionären, Mystischen . . . hat; Schlözer 1845 Jugendbr. 79 die visionären Augen der Rachel; 1852 Prutz' Museum I 89 des Pastor Mayer, welcher einst in einem weißen Laken mit Katzenschwänzchen gen Himmel fuhr, Bibeln verschlang, um sich visionär zu machen; Kaufmann 1888 Gesch. d. Univ. I 141 Wenn die Askese den Körper schwächte, so schwächte sie auch die Nerven, die überdies durch die beständige Beschäftigung mit übersinnlichen Dingen und die Wiederholung von Erzählungen visionärer Zustände in unnatürliche Erregung versetzt wurden; Proelss 1891 Modelle 201 visionärer; Jolly 1898 Irrtum 13 manche der visionären Erscheinungen, von welchen in der Bibel berichtet wird; Möller-Bruck 1899 Neutöner 15 in seinem dunklen visionären Empfinden; ebd. 17 visionäres Kulturempfinden; ebd. 35 in visionärer Sehnsucht; Zukunft 64 (1908) 105 Die Gabe der „seconde vue" ist nicht nur die des Zauberers und Sehers. „Seconde vue", spontane visionäre Erkenntniß, das unbezweifelbare Merkmal des Genies haben die Mütter gegenüber ihren Kindern; Walhalla 4 (1908) 176 bei seinen visionär geschauten . . .

Malereien; Lissauer 1908 Aufs. (I 120) das Visionäre erweist sich aufs Herrlichste von Neuem als die organische Grundkraft ihres Wesens; Federer 1926 Papst 118 Wie eine visionäre zwingende Gewalt kam es über ihn (WDG); Zf. Menschenkunde 4 (1928/29) 308 visionären Scheinwelt; Rauheit 1929 Prosagedicht 107 Ausdruck einer „visionären" Mystik; Berl. Illustr. Ztg. Nr. 33 (o.D.) Dawidoff ist ein alter, gebeugter Bursche mit ausgefranstem Vollbart. Haupthaar: keins, Augen: blau, visionär, gerötet; BZ am Mittag 24. 2. 1931 Die Sprache des Dr. Georg Büchner in seinen Briefen ist trotz des visionären Zugs die eines Zeitgenossen von Heine und Gutzkow; Gebauer 1932 Kulturgesch. 233 Lavaters „Christliche Lieder", Predigten und visionäre Schriften über die Aussichten in die Ewigkeit und den Zustand nach dem Tode; ebd. 506 In dem „Zauberer von Rom" . . . stellt er dar, mit welchen Mitteln der Ultramontanismus seine Ziele zu erreichen strebt, und entwirft in dem visionären Schluß das Bild einer Reformkirche der Zukunft; Lokal-Anz. 8. 8. 1933 denn sicher erwartete der Mann der sachlichen Strenge auch vom Kunstwerk eine realistische Treue, die im Widerspruch zu der visionären Dämonie und dem vibrierenden Tiefenblick Goyas stand; ebd. 28. 2. 1934 Anknüpfend an das „Vermächtnis Friedrichs des Einzigen" ziehen fast visionär Adolf Hitlers Scharen zu Fuß und zu Pferde durch das Biwak; ebd. 1. 6. 1934 [ein] nächtliches Fronterlebnis in Braun und Schwefelgelb von Poetzelberger ist eines der wenigen Bilder visionären Charakters: düster und groß; Uexküll 1936 Welten 236 die visionäre Sicherheit; den Pfad des Heiles zu erkennen;

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Wickenburg 1938 Gloria 35 Deutlich, fast visionär, sah ich: bis hierher, fast bis an die Stadt heran . . . reichen die Alpen; Münch. N. N. 21. 7. 1940 Im „Grünen Heinrich" findet sich auch jene Schilderung Münchens, die in visionären Bildern Gesicht und Klang der Stadt beschwört; ebd. 23. 6. 1941 Churchill schildert mit dem visionären Pathos eines Schmierenkomödianten die Leiden, denen das russische Volk nunmehr ausgesetzt sei; Uhde-Bemays 1947 Im Lichte 29 Von den dunklen Augen war das rechte während der Kölner Arbeitsjahre erblindet, das linke dafür mit ungewöhnlichem Glanz und visionärer Sehkraft ausgestattet, indem es sich wie in weite Fernen verlor, prophetenhaft, vergeistigt, und doch gütig und klar; NZ. (Basel) 30. 4. 1949 Leergebrannt ist die Stätte . . . Diese Verse aus dem vor 150 Jahren entstandenen Lied von der Glocke wirken heute visionär; Muschg 1954 Dichtertypen 26 Die Eigenart der deutschen Dichtung scheint im Visionären zu liegen, die der französischen im Gesellschaftlichen; Lochner 1955 Unerwartete 87 Ich sah visionär voraus, wie sich ein bekannter Feuilletonist des spassigen Vorfalls bemächtigen . . . würde; Rehfisch 1957 Hexen 120 Um die Zukunft zu prophezeien, muß man visionär veranlagt sein (WDG); Flake 1960 Abend 511 Märchen von visionärem Gehalt; Stuttgarter Ztg. 4. 6. 1962 Die Geschichte der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland . . . ist eine lange Kette von Tatsachen, die zu schaffen beherzte, energische, visionär in die Zukunft Europas blickende Männer nicht müde wurden; Marti 1963 Literatur 32 die Welt, wie sie Franz Kafka in visionärer Vorwegnahme beschworen hat; Stuttgarter Ztg. 30. 3. 1966 Er sprach mit dem visionären Fernblick eines Staatsmannes und nicht in der ihm leichter fallenden Rolle als Parteipolitiker; Die Zeit 28. 8. 1981 und so setzte er die hybride Mystifikation um in eine visionäre Bilderkombination. Visionär: Brucker 1737 Zusätze 121 weil Socratis Philosophie, die gantz anderer Art war, als dergleichen visionaires zu lieben pflegen; Dohm 1785 Fürstenbund 4 Visionairs, die ein Gespenst drohender Gefahr . . . geschreckt habe; Kotzebue 1791 Meine Flucht nach Paris 245 Der gute Rousseau war gewiß nicht selten Visionnär; Lavater 1795-98 (Nachgel. Sehr. II 281) eines Träumers, oders Visionärs, oder eines Schwärmers;

1805 Galls Lehre 35 Ähnliche Bewandtnis [wie mit dem Nachtwandeln] hat es mit den Visionen. Im Gehirne des Visionärs werden wahrscheinlich durch physische Veranlassungen ein oder mehrere Organe zu einer erhöhten . . . Tätigkeit angeregt, und es entstehen dadurch lebhafte Bilder und Vorstellungen in ihm, die er nicht, wie er sollte, für Schöpfungen seines kranken Gehirns, sondern . . . für Eindrücke von aussen hält, und sie durch einen Selbstbetrug in die Aussenwelt überträgt und für wirkliche Erscheinungen, Visionen ansieht; Gentz 1814 Br. an Pilat I 136 Sie werden hoffentlich ganz meiner Meinung sein, dass dieser Patron entweder ein Visionär, oder, viel wahrscheinlicher, ein abgefeimter Spitzbube ist; Brentano 1815 Schachtel 20 Meine Tochter . . . ist eine Visionäre; Engels 1846 Fest (IV 459) Eine andre Demokratie kann nur noch in den Köpfen theoretischer Visionäre existieren, sich nicht um die wirklichen Ereignisse kümmern; Fallmerayer 1855 (Ges. W. II 113) Unheil vorhersehende Bedenker wurden als „Visionäre" mitleidig belächelt; Nordau 1881 Paris II 54 Als Pater Hyacinthe noch die Kutte trug, muß er den lustigen Mönchlein Rabelais' geglichen haben . . . Von der Familie der mageren, verwüsteten Visionäre . . . war er jedenfalls nicht; Lewin 1924 Phantastica 81 jene wirklichen Visionärinnen . . . die im Mittelalter . . . bekannt geworden sind; Bahr 1925 Liebe I 85 Jeder Historiker ist ein posthumer Prophet. Marx aber war ein Visionär, als Historiker der Zukunft verkleidet; Offenburger Tagebl. 20. 7. 1959 Eindeutige Erklärungen wie die Chruschtschows könnten nur dazu beitragen, die Visionäre und Illusionisten zu ernüchtern; Stuttgarter Ztg. 23. 1. 1964 Die Vision eines einigen Europas ist seit längerem vorhanden. Es fehlt jedoch an dem Visionär, der sie verwirklicht, wenn sie nicht schließlich von der Geschichte in das Reich der Utopien verwiesen werden soll. . . Robert Schuhmann, dessen politisches Vermächtnis nun auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt, war ein solcher Visionär und hat als solcher die Kraft zu seinem Schuhmann-Plan gefunden, der am Anfang der praktischen Maßnahmen für eine europäische Einigung steht; Die Zeit 20. 11. 1981 1973 kurvte er [Breschnjew] als Triumphator und Visionär um den Petersberg. Die Deutschen . . . lud er zu goldenen, die Generationen überspannenden Geschäftstouren nach Sibirien.

Visitation F. (-; -en), im 13. Jh. entlehnt aus mlat. visitatio 'Beaufsichtigung, Kontrolle der Disziplin und gegebenenfalls Zurechtweisung, Bestrafung der Mönche/Nonnen eines Klosters; Wall-, Pilgerfahrt; Besuch; Mariä Heimsuchung; Inaugenscheinnahme' ( < lat. visitatio 'Sehen; Besichtigung; Besuch', zu visitare 'oft

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sehen; besichtigen; besuchen', zu visere 'genau ansehen, besehen, besichtigen; besuchen', zu videre, —> Vision), anfangs in unterschiedlichen (Schreib-)Formen wie Visitacie, Vissiedatzion, bis Mitte 18. Jh. auch in der lat. (flekt.) Form und bis heute in lat. Syntagmen. la Zunächst im Bereich der christlichen Klöster für 'Beaufsichtigung, Kontrolle und gegebenenfalls Wiederherstellung der Ordensdisziplin durch Zurechtweisung oder Bestrafung der Mönche/Nonnen (durch Auferlegung einer Buße)'; von daher weiterentwickelt zu der Bed. 'von (den Beauftragten) einer weltlichen/geistlichen Obrigkeit vorgenommener (regelmäßiger) Besuch einer Institution, Körperschaft, Anstalt, örtlichkeit, Räumlichkeit (z.B. eines Klosters, eines Bistums, einer Schule, einer Gerichtsinstanz, einer Apotheke) zwecks Kontrolle, Uberprüfung, Untersuchung, Beaufsichtigung der (z.B. disziplinarischen, finanziellen) Verhältnisse durch direkte Inaugenscheinnahme an Ort und Stelle; Besichtigung, Begehung', von daher schon früh auch ganz allgemein für 'Inspektion, Prüfung, Untersuchung, Examinierung' und früher gelegentlich bildlich auf das Eingreifen Gottes in die menschliche Welt bezogen für 'Heimsuchung (als Strafe, Prüfung)', b Vom früheren 16. bis Ende 19. Jh. gelegentlich nachgewiesen in der Bed. 'Besuch, Aufsuchen und körperliche Untersuchung eines Kranken oder Verletzten durch einen Arzt zum Zwecke der Feststellung des Gesundheitszustandes', vgl. —» Visite b. c Seit Mitte 17. Jh. zunehmend auch für '(militärische, polizeiliche) Durchsuchung (z.B. eines Hauses, eines Raumes)', z . B . zu Requirierungszwecken und bes. für 'Durchsuchung von Warentransporten, Gepäck bzw. Reisenden mit Gepäck beim Zoll (auf Schmuggelware)', heute weitgehend beschränkt auf die Zs. Leibesvisitation '(polizeiliche) Unter-, Durchsuchung einer (entkleideten) Person auf versteckte Gegenstände'. 2 Vom früheren 15. bis ins 16. Jh. belegt in der Bed. 'Mariä Heimsuchung' als Bezeichnung für das biblische Ereignis bzw. den christlichen Festtag zur Feier des Besuchs der Maria bei ihrer Verwandten Elisabeth (vgl. die bis heute vereinzelt gebuchten lat. Syntagmen Visitatio beatae Mariae bzw. Festum visitationis beatae Mariae); in der lat. Form bis heute auch gebucht als Bezeichnung für bildliche Darstellungen, die dieses biblische Ereignis zum Gegenstand haben. Visitation l a : 13. Jh. Klarissen-Regel 161 Visitation hörent; ebd. 165 Visitation; 13.114. Jh. Statuten d. d. Ordens LX 9 so sal ein leigebruder commendur sin in der visitacionen (DWB); Tauler vor 1361 (391, 17) in dem tage der visitacien ( M Ö L L E R ) ; ebd. 161 wan sü nüt enwissent . . . die tage iré visitación (DWB); 1471 Urkundenb. der Stadt Chemnitz 408 in der visitacien und reformacien ( M Ö L L E R ) ; Eberlin v. Günzburg 1521 Bundesgenossen (I 136) By grosser straff gebieten wir allen vógten vnd amptlüten, das sy abnemen die schwartzen wyl, so vfftragen ettlich beginen, genant regel nunnen der dritten regel Francisci, Dominici, Augustini, vnd die selben nunnen sóllen für hin sein vnder der Visitation ires Pfarrers, vnder welchem auch so vyl ander erber leüt in der pfarr laben; 1524 (Schade, Satiren III 157) ain ieder bischof . . . sol järlichen ain verhör . . . und Visitation halten; 1525 (ebd. III 182) als

denn so hat der gnedige herr sein visitaz herlicher volfürt und seinem ampt gnüg gethan, darumb er bischof und gnediger herr heißt; Luther 1528 Unterricht (W. XXVI198) und etliche Stende des Reichs, Fürsten, Herrn und Stedte haben selbs in jren Landen müssen da zu thun . . . aus hoher unmeidlicher Not gedrungen Visitation und Reformation für zu nemen; 1559 (Nyström, Schulterm. 31) habenn wir die Visitation vnnd Inspection des Collegi) vnnd schulen zu Hornbach . . . an die handt genommen; 1564— 66 Zimm. Chr. 2IV 297 uf der visidation des cammergerichts (DWB); 1565 (Rosenthal, GVB. I 485) die acta visitationis und decimationum; Mathesius 1566 Luther 60" Visitation seiner Landkirchen; Hornbacher SO 1575 (Nyström, Schulterm. 4) Nach solchem allem sollen die Abgeordnete die Visitation vnnd das Examen mit den Jungen in der Stattschul alls in Quinta classe anfangen; Kursächs.

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KO 1580 (ebd. 36) deszgleichen in derselben bey den Universiteten, Consistorien, Fürsten vnd Particular Schulen Visitation . . . gehalten werden soll; 1582 Thommendorffsche Chr. 76 habe daselbst ym beysein der personen von Land vnd stethen die Visitation der Apotheken volzogen; Wedel um 1600 Hausbuch 311 Auf vorbemeltem treptowischen landtage ist auch, daß die lang angestandene kirchen-visitation solte vor die hand genommen werden; 1607 Reformation aller Requisiten deren Apotheken Iii soll man zur Visitation deß verwandten Apoteckers einen andern unpartheyischen Apotecker nemmen / darmit die Visitation trewlich / redlich vnd aufrecht zugange; Hainhofer 1610 Corr. 68 mit Visitation vnd sollicitation der Künstler; Winckelmann 1649 Bedencken 89 Es wil auch beneben dem Inspectori vonnöhten seyn, daß die Pfarherrn jedes Orts eine Aufsicht auf ihre Schule haben, jeder selbige zum wenigsten wöchentlich einmal besuche, jezuweilen Tentamina anstellen, den Lehrmeistern gute Anleitung gebe, wie sie . . . die Jugend fein leicht und bequem unterrichten können; und diese Special-Inspection und Visitation bringet auch einen großen Nutzen; ebd. 93 sollen auch die Pfarrherrn jezuweilen Hausvisitation thun, sich zuerkündigen, ob auch die Eltern . . . ihre Kinder . . . zur Kirchen und Schulen halten; SeckendorfJ 1656 Fürstenstaat 1282 als die Ordnungen und Gerichtbarkeit betrifft / gebrauchet der Landes-Fürst mit grossem Nutz das Mittel einer Visitation; 1708 Academie zu Liegnitz Blb Also soll nach solchem zum Gebeth geleutet, und sodann die Academie, nach geschehener Visitation, ob alle daselbst logirende anwesend seyn, geschlossen . . . werden; Marperger um 1720 Reisen 5 daß die zuweilen ohnedem schon vor aller Substanz und Feuchtigkeit erschöpffte Lander, durch die viele Hoff Schrantzen, und unnütze Brodt-Esser die man bey solchen Visitationibus gemeinglich mit sich zu führen pfleget, nicht völlig ausgesogen . . . werden; ebd. 8 die Gesandtschafften, Cömmissiones Lands-Visitationes, Hoff-Factoreyen und andere Negotia seyn; 1722 (1929 Festschr. a. Indeich 216) Wir haben statuta, erneuerte statuta, Visitations Abschiedte, Duell Mandate, Leges Academias u. dgl.; Keyssler 1730 Reisen I 446 Daß die Speisen den Kardinälen ins Conclave gebracht werden, ist meinem Herrn bekannt; die Visitation aber, welche man dabey vornimmt, ist so schlecht, daß ich mir getrauete, ein kleines Kind, im Fall es nicht schrye, ungehindert mit hinein zu bringen; Zincke Reg. Land-Visitationes; 1752 Cameralisten-Bibl. Pütter 1769 Grundriss 254 Von einheimischen Reichssachen fielen unter Joseph vornehmlich folgende vor: 1) die Visitation des . . . ReichsCammergerichts; 1777 Ephemeriden d. Mensch-

heit XI 110 Damit die Apotheker beständig auf ihrer Hut seyn müssen: so soll das Collegium, wenn ein oder anderes Mitglied auswärts berufen wird, ihm die Visitation der daselbst befindlichen Apotheken, nach Gutfinden auftragen; Goethe 1777 Tagebücher (135) Bau-Visitation im Schloss; Schummel 1779 Spitzbart 348 als der Herr Direktor sich schon aufmachte, seine Klassenvisitation fortzusetzen; 1779 Visitationsschlüsse, die Verbesserung des Kaiserl. Reichs-Kammergerichtlichen Justizwesens betreffend (Titel); 1780 Teutschland in s. Flor 8 Zur jährlichen Kammergerichtsvisitation; Schlettweins Archiv 3 (1781) 260 Visitationes des Gymnasii veranstaltet; ebd. 267 Die Visitationsdeputation würde auf alles, was nach der Schulordnung stattfinden sollte, aufmerksam seyn; Becker 1784— 86 Reise 94 Alle Jahre muß der Generalsuperintendent drei Monate zur Visitation der Landkirchen verwenden; 1787Journal v. u. f . Deutschland II 242 Die Besichtigung und Visitation der Feuerstätte; Laukhard 1792 Leben II 259 eine gewisse Besichtigung, die von den Soldaten Schw-Visitation genannt wird; Pütter 1798 Selbstbiogr. 473 Cammer-Gerichts-Visitationssache am Reichstage; Lang 1802 Memoiren II 33 sobald sie von ihrem Freunde . . . von dem bevorstehenden Abgange der zur Kassenvisitation bestimmten Beamten benachrichtigt würden; 1805 Pfalz-Neuburg. Provinzialblätter 190 sogleich bei den instructionsmäßigen zwei Straßen-Visitationen im Frühjahr und Herbste genau zu untersuchen, was hieran zu reparieren oder welche neu zu bauen; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre II 133 denn wenn der Alte [protestantischer Geistlicher] seine Amtsbesuche macht . . . so zieht das ganze Haus mit und ißt sich von einer Visitation bis zur anderen satt; Wisenlohr 1848 Anleitung zur Ausführung und Visitation der Blitzableiter (Titel); Tholuck 1861 Vorgesch. d. Rationalismus II 1,1 f als es sich darum handelt, die erste Kirchenvisitation anzustellen Luther in seinem Unterrichte an die Visitatioren 1527 die bekannte Erklärung abgiebt: „Gern hätten wir das bischöfliche Besuchsamt wieder eingerichtet gesehen, aber weil unser keiner rechten Befehl dazu hatte . . . daß seiner churfürstlichen Gnaden aus Liebe . . . um Gottes willen etliche tüchtige Personen zu solchem Amte wollen einsetzen" . . . Seit 1542 verwandeln sich diese Visitationen in Sachsen, danach in andern Kirchen, in Consistorien als ständigen Visitationscollegien; und auch diese werden aus einer gleichen Zahl politici und Geisdichen zusammengesetzt, denen einer vom Adel präsidirt; Leibig 1887 Erlebn. 39 Nachdem noch der Befehl erteilt war, um 4 Uhr zur Gewehrvisitation wieder anzutreten, wurden wir mit Quartierzetteln wieder entlassen; Peetz 1892 Chiemgauer Volk I 36 Es

Visitation mögen fünf und zwanzig Jahre seitdem verronnen sein, als es in der Aufgabe eines Visitationscommissärs gelegen war, nicht nur die Richtigkeit der Kassenführung sondern auch die Art und Weise der Einhebung der Steuern und Gefälle zu prüfen; Dtsch. AZ. 28. 8.1935 daß dieser Pater gerade eine Visitationsreise in Holland unternommen habe; Münch. N. N. 8. 5. 1938 Als . . . Lehrer des pädagogisch-didaktischen Seminars für die Lehramtskandidaten und Respizient an den höheren weiblichen Bildungsanstalten, als Visitations- und Prüfungskommissar sowie durch die Abhaltung mehrerer Lehrerferienkurse . . . hat er sich vielfache Verdienste um das bayrische Schulwesen erworben; Offenburger Tagebl. 24. 7. 1962 Kirchenvisitation in Offenburg Süd (Überschr.) . . . Gemeinden . . . erlebten am vergangenen Sonntag . . . ihre erste Kirchenvisitation, die in jeder Pfarrgemeinde der Landeskirche alle sechs Jahre durchgeführt wird. Dekan Zeilinger, Lahr, sowie Pfarrer Held, Lahr-Dinglingen, und Oberfinanzrat Dr. Meiler, Offenburg, sammelten ihre Eindrücke über das Gemeindeleben, um darüber dem evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe zu berichten. Bereits am Samstag hatte eine Sitzung der Visitationskommission und der Kirchenältesten mit Pfarrer R. Kopf stattgefunden; RheinNeckar-Ztg. 14. 9. 1981 Freundlicher Dialog statt Schnüffelei. Visitation bei der ev. Kirchengemeinde in Nußloch (Überschr.). Visitation l b : Begardi 1539 Index sanitatis 31h Es ist auch / wie ob gemelt / vil gelegen an eyner / vnd in sonderheyt der ersten / Visitation oder zügangk; ebd. 384 eyn Oberkeyt inn eyner statt m6cht wol eyn gemeyne weiß / der besoldung halben eyns artzets machen / so er fleiß thet bei den krancken / was jm gebüren sol von eyner jeden Visitation / oder für eynn wochen Ion; Furttenbach 1655 Hospittals-Gebäw 27 die Visitation [eines Kranken] vorgehörter massen / verrichten; 1668 Reformation 8 Da zween oder mehr Medici zusammen gefordert würden, soll für die erste Consultation jedem ein Gold-Gulden verehret werden . . . Für eine Visitation bey nächtlicher Weile, soll dem Medico ein Gülden präsentirt werden; Ettner 1697 Doktor 20 daß kaum eine Visitation und Besuchung vorging; 1785 Journal v. u. f . Deutschland II 221 so wurde ein Chirurgus herzugerufen um [an einem Mädchen, das geschlagen worden war] eine Visitation vorzunehmen; Nicolai 1790 Anekdoten H. V 42 diese Visitation vorzunehmen; Auerbach 1856 (1922) B. 281 Als Alois in das Visitationszimmer gerufen wurde und er sich entkleiden mußte, da sagte er keck: „. . . ich hab' keinen Fehler, ich kann Soldat sein."; Leibig 1887 Erlebn. 171 endlich gab es 15 Fremdwörterbuch

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auch Aufstellungen behufs ärztlicher Gesundheitsvisitation; Derblich 1889 Militärarzt I 86 Visitation; Lingg 1899 Lebensreise 50 und brachte neues Leben in die langweiligen Stunden nach der Morgenvisite, und den darauf folgenden Geschäftserledigungen, als . . . ärztlichen Visitationen und Ausstellungen von Zeugnissen. Visitation l c : Bürster 1647 Schwed. Krieg 167 hat der commandant in Uberlingen abermahl ain Visitation in selber statt angestelt, alle grabschauflen und furken . . . warmit man sich köndte wehren, weg laßen nähmen; Guggenberger 1722 Prozesse 63 und noch dazu in vorgenommener Visitation, ein Bock-Haut und etwol an fleisch unter dem Mieß versteckten befunden; 1765 Mauth-Ordnung 27 mit öftern unversehenen Visitationen der verdächtigen Orten; Schlözer 1785 Staats-Anz. VII 499 eine genaue Visitation in denen Wohnungen angestellt; Fichte 1800 Handelsstaat 250f Die Richtigkeit der Angaben dieser ausländischen Waaren-Vorräthe, an welcher dem Staate sehr viel liegt, werden allenfalls durch Visitation . . . erzwungen; Heinzmann 1800 Fruehst. (Beil.) 47 Als ich an die Grenzen von Frankreich kam . . . war ein Visitations-Bureau; die Diligence wurde ausgepackt, alle Ballen, Pakete und Koffers untersucht, geöffnet und die Reisenden mußten angeben, was sie an Waare und Geld mit sich führen; Schopenhauer 1800 Journal (Gwinner, Sch. 245) Berlin . . . wo wir am Thore mit einer leichten Visitation abkamen; Bolte 1804 Geschäftsgang i. Preussen 405 Die Visitationen geschehen aber vorschriftsmäßig 1) vom Thorschreiber beim Eingange. Vornehme Herrschaften können verlangen, daß ihre mitgebrachten Sachen im Quartiere revidiert werden, müssen aber wegen der accisebaren Sachen Pfand setzen, bis die Accise erlegt ist; 1810 Fahnenbergs Magazin I 85 Waarenvisitation; Goethe 1827-42 (W. XXXVII 312) Die Kisten wurden ohne Visitation verabfolgt ( K E H R E I N ) ; Hailbronner 1837 Cartons II 4 Die Gränzvisitation zu Ulzburg ist sehr streng, und es wurden mehrere Gegenstände confiscirt; Stahr 1866 Herbstmon. Ob'ital. II 257 ohne Passfrage, ohne Visitation, „ohne Alles", wie die Berliner sagen; Frommel 1879 Ampelschein 28 Visitation der [Stoff-]Ballen [beim Zoll]; Rolef 1887 Reisebr. 182 Kommt man aber von Frankreich nach Spanien, dann wird die Visitation auf der ersten spanischen Station in Iran gehalten, da ist die Sache ganz anders. Die Spanier durchwühlen jeden Koffer bis auf den Grund, und für alles wollen sie Zoll haben; ebd. 183 In betreff der Zollvisitation an der spanischen Grenze mache ich alle Spanien-Reisenden darauf aufmerksam, daß alles Gepäck nur an der Grenze und nicht in

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Madrid visitirt werden kann; Eckstein 1889 Camilla 19 „O, das Weiß ich bestimmt!" „Auch infolge einer Schubladenvisitation?"; Voss. Ztg. 22. 8. 1931 Außerdem mußten sich die Anwesenden einer Leibesvisitation unterziehen, wobei man auch die Spielmarken, die sie in den Taschen hatten, beschlagnahmte; Dhünen 1939 Spiel 135 daß noch niemals eine Schrankvisitation unmittelbar auf die andere gefolgt war [in einem Kadettenkorps]; Stuttgarter Ztg. 18. 2. 1963 und weil die Würzburger Staatsanwaltschaft . . . bei Dr. Herterich eine Hausdurchsuchung und Leibesvisitation vollziehen ließ; ebd. 11. 4. 1964 Detektive

. . . dem Mann befehlen, sich zu Zwecken einer Leibesvisitation zu entkleiden; FAZ 28. 1. 1971 Der Anbück von Maschinenpistolen, lästige Gepäckkontrollen und die vielbelächelte Leibesvisitation bleiben auch dem Passagier des Jahres 1971 nicht erspart. Visitation 2: Dangkrotzheim 1435 Namenbuch 205 unser lieben frowen tag, visitation in latine genant; Weinsberg 1437—38 45) vif Mantag vnsser lieben [frauwen] obent vissiedazieonis; ebd. 71 vff vnser frauwen tag vissiedatzionis; 1575 Costnitzer Concilium 13" an vnser Frauwen tag Visitatio.

Visite F. (-; -n), im späten 16. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. visite (zu visiter < lat. visitare, —»visitieren), früher vereinzelt in der (eventuell ital. beeinflußten) Form Visita und in den Schreibungen Vis(s)it(t)e; a in der Bed. 'ärztlicher Besuch bei einem Patienten zur Feststellung des Krankheitsbildes, -Verlaufs durch Untersuchung', gleichbed. mit —»Visitation lb (vgl. —»visitieren lc), von daher seit dem 19. Jh. bes. im engeren Sinne für 'regelmäßig zu bestimmten Tageszeiten stattfindendes Aufsuchen der Patienten eines Krankenhauses, Sanatoriums o. ä. durch einen oder mehrere Ärzte (in Begleitung von Pflegepersonal) auf einem Rundgang von Krankenbett zu Krankenbett zur Überwachung des Krankheitsverlaufs bzw. Gesundungsprozesses', gelegentlich auch übertragen als Kollektivum für 'Krankenhausärzte und das begleitende Pflegepersonal auf ihrem Rundgang', b Seit früherem 17. Jh., zeitweise als Modewort, zur Bezeichnung einer gesellschaftlichen Sitte bes. des 17./18 Jhs. im privaten und öffentlichen Bereich in der Bed. 'in bestimmten gesellschaftlichen Formen / nach der Etikette herbeigeführter und verlaufender Besuch, Aufwartung (bei Personen von hohem sozialem Rang)', früher häufig in den Verbalsyntagmen (meine, deine, seine etc.) Visite geben, empfangen, schneiden, ablegen und bis heute in den Verbalsyntagmen (meine, deine, seine etc.) Visite machen, abstatten, heute überwiegend auf politische Begegnungen zwischen Diplomaten / staatlichen Repräsentanten o. ä. bezogen, im privaten Bereich nur noch scherzhaft verwendet; seit späterem 17. Jh. auch für 'Aufsuchen, Besuch einer örtlichkeit; Aufenthalt an, Abstecher zu einer örtlichkeit' mit Angabe des Ziels im Gen. oder durch Präpositionalphrase; häufig und heute meist als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Wochen-, Kaffee-, Freundschafts-, Höflichkeits-, Staats- und seit Mitte 19. Jh. bes. Stippvisite 'kurzer Besuch, Aufenthalt; Abstecher' bzw. Visitenzimmer, -stunde, -billet und seit spätem 18. Jh. bes. Visitenkarte, bis ins 20. Jh. auch in der Form Visitkarte und heute auch kurz Karte (vgl. gleichbed. engl, visiting-card, frz. carte (de visite)) als Bezeichnung für eine mit Namen (Adresse, Beruf etc.) ihres Besitzers versehene, heute meist gedruckte Karte, die früher im Zusammenhang eines Besuchs, z. B. zur Anmeldung, heute bes. zum problemlosen Austausch von wichtigen persönlichen Daten vom jeweiligen (Verhandlungspartner bei der Abwicklung von Geschäften, Regulierung von Schadenssachen u. ä. überreicht werden kann, häufig übertragen verwendet für 'Gegenstand/Zustand/Verhalten, der/das eine Person/einen anderen Gegenstand

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kennzeichnet, dessen Zeichen/Anzeichen ist; Stempel, Charakteristikum', speziell positiv konnotiert für '(werbewirksames) Aushängeschild, Empfehlung', häufig in den (auch bildlich verwendeten) Verbalsyntagmen seine Visitenkarte abgeben, hinterlassen. Visite a: 1589 Kammerordn. (Hofordn. II 220) Visita [des Arztes]; Zwinger 1703 Arzt 810 Diejenigen welche die Kranken besuchen, sollen ihre Kleider allezeit nach den visiten beräuchern; Citrus 1866 Lebenserinn. III 198 Visite; Koch-Breuberg 1891 Jahre 147 Man hatte den Arzt bei den Visiten zu begleiten; Kussmaul 1903 Jugenderinn. 359 Nach der Visite, der Herr Primararzt hatte sich empfohlen, war einer der Sekundärärzte, so gütig, uns mit einigen seiner Kranken noch etwas genauer bekannt zu machen; Zander 1904 Neue Welt 52 So atmet denn der Schiffsarzt auf, destomehr, je näher dem Hafen, wenn er bei seiner Visite keinen verdächtigen Fall gefunden; Werfel 1920 Mörder 173 nach der ärztlichen Visite; Tiburtius 1923 Erinnerungen 142 Visite; Lee 1931 Zundler 46 Morgenvisite des Arztes [im Krankenhaus]; Berl. Illustr. Nachtausg. 7. 3. 1933 Der Stabsarzt kommt von seiner Visite zurück; Stegmann 1937 Schicksalssymphonie 126 Visite [des Arztes im Sanatorium]; Goetz 1948 Drache 157 wir haben nur leichte Fälle. Daher haben Sie ja selber keine Krankenvisiten gemacht; Boll 1956 Adam 36 Die Visite begegnete ihm (WDG); Benckiser 1958 Tage 44 Der Arzt schaut sich bei der Visite flüchtig unsere Hände an; Offenburger Tagebl. 6. 2. 1971 Das Bett des Arztes war leer. Dr. Grantzow war von seiner nächtlichen Visite noch nicht heimgekehrt. Visite b: Nicolai 1633 (Sonden 314) meine visite verrichten; Mandelslo 1645 (1639?) Schreiben 15 auß der visite (beide JONES); Schupp 1658 Bücherdieb 11 in der Visite eines guten Freundes; ders. 1660 Corinna 40 damit nam sie alsbald Abschied, und versprach ihnen, des andern Tages widerumb die visite zu geben; ders. 1663 Sehr. 95 die königin ausz reich Arabia habe Salomon die visite geben (DWB); Birken 1669 B. Ulysses 35 Folgenden Tags, hat Er bey Ihr. Churf. Durchl. zu Cöln . . . die Visite abgeleget; Weise 1673 Erznarren 180 Gleich indem stellete sich ein guter Bekandter ein, der dem Patienten die visite geben, und Abschied nehmen wolte; ebd. 214 mit vorbehält, bey kunfftiger Zeit die visite, welche sie dieser annehmlichen Stadt schuldig geblieben, gebührend abzustatten; Wicquefort 1682 Staat sBothschaffter (Übers.) 414 Von der besten Staatsvisite (Uberschr.); Ahr. a S. Clara 1683 Auf, auf ihr Chr. 91 und wäre solcher haimblicher Bueler der Kriegs Gott Mars, welcher eines in Abwesen15'

heit deß Vulcani der Göttin Venus die Visiten geben; ders. 1688Judas I 69 in willens sein gülden Schatz ein Visita zu geben / auch zugleich sich mit dessen Anblick zu ergötzen; Tentzel 1689 Unterredgn. 677 Es begab sich / da der Herr Antoni sich zum Herrn Leonhard verfügen wollte / daß ihm Herr Constatin begegnete / und eine gleiche Visite abzulegen willens war; Reuter 1695 Ehrliche Frau 22 Ich dächte er würde Charlotten eine Visite geben; Friedrich I. 1697 Br. 10 Es ist ein glück, daß die viesite nicht lange gewährt; Weise 1697 Vertr. Gespr. 347 ein alter und wohl qualificirter Hofemeister / der mit etlichen Untergebenen die Länder besuchen / und bey dem Cavallier die Abschieds-Visite gebührend ablegen solte; Elis. Charl. 1702 Br. (LV LXXXVIII304) ich bekamme vissitten; Callenbach 1714 Alm. 83 Ich tue lieber ihren Willen / als daß ich eine kranke Frau soll haben / die nur das Haus mit Staats-Visitten anfüllet; Cleander 1714 Cabinet 75 Fürstl. Handund Visit-Schreiben; Callenbach 1715 QV 76 Madame, sie hat ein Visite gehabt / der bekandte junge herr hat sie gesprochen; 1719 abentheuerl. Welt V 5 Beym Trincken . . . bey Visit und wie es immer heisse; Elis. Charl. vor 1722 Br. 596 (LV 107) vissitten empfangen undt ablegen ist in meinem sin eine langweillige sach (DWB); Wahl 1723 Poesie 61 die nächtliche Visite, welche Eginhard . . . der . . . Prinzessin Emma aus brünstiger Liebe . . . abgestattet; Picander 1727 Ged. 394 die Frau mag freyer leben und, wenn es ihr beliebt, Visiten geben; Rohr 1729 Zeremoniellwissenschaft II 129 Bißweilen fahren sie auch selbst . . . vom Schloß herunter und geben Ihnen eine kurtze Visite; 1743 Vorrath 3 es gibt Visit- oder Empfehlungs- Anwerbungs- Condolence- Notificationsoder . . . Invitations- oder Einladungs- Abschieds-Schreiben; ebd. 4 Von denen Visit-(Besuchs- oder Empfehlungsschreiben . . . Die Visit-Schreiben, Lettres de Visite, oder Lettres de compliments sonst genannt; Trenck 1745 Leben 15 daß ihr Herr Vater und Frau Mama meine NachtVisiten erfahren hatten, worauf sie das arme Fräulein durch einen Jesuiten und ihren Beichtvater . . . exhortiren liessen; Verdion 1748 Begebenheit I 154 seiner Galate eine Liebes-Visite zu machen; Boltz 1752 Amts-Actuarius 112 seiner Frau . . . mit dem Prügel eine Visite zu geben; La Roche 1771 Frl. v. Sternheim 74 Ich wünsche, daß meine Tante immer kleine Reisen machte, ich würde sie mit viel mehr Vergnügen begleiten, als

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ich es unter dem immerwährenden Kreislauf unserer Hof- und Stadtvisiten thun kann; Volkmann 1778 Italien III 163 Sie empfangen an ihren Geburtstagen grosse Visiten; Sturz 1782 Sehr. II 28 Der Neid geht umher und macht Neujahrs-Visiten; Rinck 1783-84 Studienreise 149 [Die Frauen] sizen das ganze Jahr hindurch in der Stube zu Hauss, oder in der Coffee- und Visiten-Stube, wohin sie . . . sich in einer Gutsche fahren lassen; Schneider 1784 Seelenverkäufer 9 in allen Visitenzimmern . . . wird man davon sprechen; Zimmermann 1784 Einsamkeit I 29 Kinder, die kaum gehen können, beuget man schon unter die Etikette des Visitenwesens; ebd. 149 als in dem Augenblick, da wir vor dem geschlftlosen, kalten, trägen, lässigen, und leeren Visitenmacher unsere Thür abschliessen; ebd. 186 Er begab sich dahin, wenn er sich vor dem Visitenzwang retten wollte; ebd. (IV 166) [Stadtmenschen, die] ihr ganzes Leben mit Affectation, Ziererey, Visitenschnack und Spiel hinbringen, und so selten mit Gedanken, die das Herz erheben; Bretzner 1787 Leben I 26 Kein artiger und galanter Mann wird . . . seiner Gemalin so etwas [sich um die Kinder zu kümmern] zumuthen. Die Bälle, Assembleen, Konzerte, Komödien, Promenaden, Visiten, Morgenbesuche, Soupees, Land-, Bade- und Gartenpartien . . . lassen ja den armen Geschöpfen kaum so viel Zeit Odem zu holen; 1790 Origines Backet I 29 [Klatsch in Kleinstädten] in Kaffeegesellschaften und bey Wochenvisiten; Thümmel 1791 Reise V 20 Wer an Münz-, Muschel- und Steinkabineten keine Freude findet, setzt an ihre Stelle Sammlungen von Pfeifenköpfen, Siegeln, Visitenbillets (GANZ); Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 25 ob die Fingerlein nicht etwa eine Gegenvisite verlangen würden; ebd. daß ihre Gäste sich jederzeit ein Gewerbe bei diesen Visiten machten, so daß keine derselben zwecklos, leer und aus bloßem Ceremoniell gemacht zu seyn schien; Klettenberg 1795 Bekenntnisse 80 es waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte; Püttner 1798 Selbstbiogr. 257 [in Göttingen um 1750] war es noch nicht üblich, daß neu ankommende, wie jetzt geschieht, in einer Stunde in der ganzen Stadt herumfahren und mit Visitenbillets sich ihrer ersten Besuche entledigen konnten; 1800 Neues Hannöver. Magazin 1367 Abendvisiten oder Besuche in der Herrschaft Lahr bei Offenburg werden unter Lichtergang . . . ausgedrückt; Herder vor 1803 (V 227) wie artig habe ich nicht so viel und so viel schöne spielwerke auf den engen gegebnen räum dieser bretterbude, theatre Francois genannt, und in den gegebnen Zeitraum der visite dahin eingeklemmt und eingepaszt (DWB); Rehfues 1809 Br. a. Italien 1383 Jedermann, wer nur ein kleines Haus macht, muss eben so gut eine

Loge im Theater als daheim ein Visitenzimmer haben; Waiblinger um 1830 Britten II 235 bei einer Theevisite; Bauemfeld 1831 Leichtsinn I 9 mache ich der Signora meine Visite; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre III 118 Sie können ihm gleich morgen Ihre Visite machen; 1845 FontaneLepel Briefw. I 2 Zu meinem Bedauern hab' ich Dich heut Abend verpaßt, wenn schon mein Besuch nur eine Stipp-Visite von 2 Minuten gewesen wäre; Holtei 1861-66 Erz.Schr. XXVI 224 die legitime visitenstunde hatte noch nicht geschlagen (DWB); ebd. XXXIX176 nach vielfältigem umherlaufen und visitenschneiden (DWB); 1863 Bilder a. Paris I 15 Will etwa die Herzogin bei irgend einer Fürstin eine Abendvisite machen, oder ist dort oben große Gala bei einem der Pariser Börsenkönige; Grabowski 1863 Off. 97 er machte auch alle Pflichtvisiten und tanzte flott auf den Bällen; ebd. 181 Sie müssen heute Vormittag bei Goldstein's Visite machen, Sie werden dann auch zu morgen Abend eingeladen; Pichler 1867 Gesch. a. Tirol 99 als ob das Hochgebirge vor jedem, der imstande ist, eine kurze Visite zu bezahlen, die Schleier seiner verborgenen Majestät lüftete; Schlözer 1869 Amerikan. Br. 4 [der Maschine des Überseedampfers] meine Visite abzustatten; Stolz 1870 Honig VI 319 Meine Tagebücher sind gleich einem Visitenzimmer oder dem Sonntagsstaat eines Menschen: es sind die besten und schönsten Gedanken darin enthalten; Wiehert 1889 Grafenkind 117 Der Gräfin sagte sie, dass sie eine Freundin besuchen wolle, der sie schon längst eine Visite schuldig sei; Fliess 1893 Miasmen 117 der Salon, in welchem die Visitengäste empfangen wurden; Wittich 1901 Vineta 71 Gegen die Visitenstunde des folgenden Tages stand Gerwerfer, einen eleganten Zylinder . . . in der Linken haltend, im Privatarbeitszimmer von Senator Butterweck; Brandt 1901 Ost-Asien I 257 Ein Besuch beim Praklang . . . beendigte unsere Visitentournee; V'jschr. f . Gesch. u. Landeskunde Vorarlbergs N. F. 4 (1920) 25 anlässlich einer botanischen Blitzvisite von Innsbruck her; Sperl 1922 Ahnenbilder 253 Der Freundeskreis der Eltern erweiterte sich von Jahr zu Jahr, wenngleich die Mutter ihrem Grundsatz treu blieb: „Visitenlaufen und Visitengeben kostet Geld und Zeit, und in der Regel wird nichts daraus als ein Geschwätz"; Voss. Ztg. 24. 10. 1928 daß sie . . . auf eiliger Durchreise in den Schwarzwald, der Neckarresidenz Heidelberg eine kurze „Stippvisite" abstatten; ebd. 11. 1. 1931 Die von Goethe verhöhnten Musen und Grazien in der Mark haben auch in der Kurfürstlichen und Königlichen Residenz nur kurze „Stippvisiten" gemacht; Stegemann 1932 Herren 62 unter dem Deckmantel einer Höflichkeitsvisite; Mummert 1936 Hoffen 124 Eine gele-

Visite gentliche Stippvisite bei Mütterchen Natur, das „Spazierengehen"; B. N. 15. 9. 1943 Das Wachtlokal ist die Visitenstube der Kompagnie; Süddtsch. Ztg. 21. 5. 1952 Capri wird heute vielfach nur mit einer Stippvisite bedacht. Dieses Jagen führt zu hastigen Motorbootfahrten um die Insel, zum Mieten eines Luxuswagens für einen Abstecher nach Anacapri; ebd. 21. 9. 1954 Dulles' . . . Blitzvisiten in Bonn und London; Offenburger Tagebl. 26. 9. 1959 da man . . . erst nach Monaten und womöglich erst nach Jahren erfahren werde, ob diese hochpolitischen Stippvisiten zum guten ausgeschlagen sind; Süddtsch. Ztg. 1. 7. 1960 wenn Chruschtschows Österreich-Visite jetzt unter harmlos-freundlichen Begleitumständen ihren Anfang nimmt; Stuttgarter Ztg. 23. 1. 1961 Zu Besuch in Straßburg. Stuttgarter Freundschaftsvisite am Wochenende (Überschr.) Freundschaftliche Zusammenarbeit . . . haben Stuttgart und Straßburg bei einem Besuch beschlossen, den Oberbürgermeister Dr. Klett. . . der elsässischen Metropole abgestattet hat; Offenburger Tagebl. 25. 2. 1961 Der Vorfrühling macht offensichtlich schon einen testenden Versuch. Eine Stippvisite; Süddtsch. Ztg. 5. 5. 1961 Der Besuch des Generalsekretärs der Arabischen Liga . . . in der Bundesrepublik verläuft für die Öffentlichkeit weniger geräuschvoll als Staatsvisiten der Regierenden, ist aber gewichtiger als manche der feierlichsten Routinereisen; Offenburger Tagebl. 17. 11. 1962 Diözesanpräses auf Visite — nicht Visitation (Überschr.) habe es sich die Diözesanleitung zum Ziel gesetzt, regelmäßig die örtlichen Gemeinschaften zu besuchen. Es handle sich dabei also tatsächlich um eine Visite, nicht etwa um eine Visitation; Stuttgarter Ztg. 22. 10. 1963 Den Oesterreichern, die den schönen Herbst zu einer Stippvisite durch den Eisernen Vorhang benützen, wird die Einreise leicht gemacht; FAZ 21. 11. 1970 Visite in Rom (Überschr.) Brandt braucht beim Besuch am Montag in Rom keine Scherben wegzuräumen; ebd. 30. 10. 1971 Diese Erklärung findet sich am Freitag in einem Aufsatz der „Prawda", der als Vorschau auf die für diesen Samstag zu erwartende „Freundschaftsvisite" des sowjetischen Parteischefs Breschnew in Ost-Berlin zu verstehen ist; Offenburger Tagebl. 22. 2. 1972 Jarring bezeichnete seinen Besuch beim israelischen Botschafter später mit „nicht mehr als eine Höflichkeitsvisite"; Die Zeit 12. 12. 1980 Nachdem seine Ärzte . . . seine Staatsvisite von fünf auf drei Tage gekürzt hatten; Rhein-NeckarZtg. 9. 6. 1981 Über die Visite des sowjetischen Oberbefehlshabers . . . in Polen.

Visitenkarte: Leisewitz 1780 Tagebücher II 28 gab ihm meine Addresse auf einer Visitenkarte;

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Zimmermann 1785 Einsamkeit III 117 ihr beständiges Verfahren, ihre allgegenwärtigen Visitenkarten, ihre ewige Schickerey und Melderey, dieß alles verkündigt, solche Seelen seyen nie daheim; ebd. III 348 dann Visitenkarten abgeben lassen, dann auf Assembleen sich zeigen; Goethe 1787Br. (WA IV 8,144) Auch leg ich einige Visiten Karten, zum Spase für Fritzen bey (GANZ); Thümmel 1791 Reise V 56 sie zeichnete mir auf die Visitenkarte, die sie mit einem Bleistifte aus ihrem Kalender zog . . . die Figur flüchtig hin (GANZ); Caroline 1791 (I 235) sieh zu, ob du . . . diese Visitenkarte in das haus praktiziren kannst (DWB); Forster 1794 Ansichten III 365 Anekdotenjägerei ist jetzt so allgemein, daß man von berühmten Männern jedes Visitenkärtchen drukken lässt (GANZ); Lichtenberg 1797 Aphorismen V 51 die Visiten Karten mit Lomber und Pharao Karten zu vergleichen (GANZ); Reichard 1801 Passagier 22 einen Vorrath von gestochenen oder gedruckten Visitenkarten, ist auf jeder Reise rathsam mit sich zu nehmen; Kotzebue 1803 Kleinstädter (NL. CXXXIX 2, 208) Glauben Sie wohl, daß er uns ordentlich besucht hat? der naseweis! eine Karte hat er abgegeben, eine Visitenkarte; Hoffmann 1820 K. Murr X 55 und der guten Stadt, wo nicht meine Person, doch wenigstens eine Visitenkarte abzugeben; Gutzkow 1840 Charaktere IX 434 [das 19. Jh.] hat für den Händedruck die Visitenkarte entworfen; Kohl 1845 Skizzen II 151 daher mögen wir selbst in dem pünktlichen Erwiedern der Visiten bei den Engländern die allgemein in jenem Lande herrschende Sitte der Pünktlichkeit erkennen und constatiren. Wir fantasiereichen, träumerischen Deutschen sind auch darin nachlässig. Oft geben wir unsere Visitenkarten gar nicht ab, oft zur unrechten Zeit, oft haben wir bloß unsere Namen, nicht unsere Wohnung darauf geschrieben, oft fehlt sonst etwas daran; Stolz 1848 Wanderbüchlein VI 639 meinen Namen . . . auf einer Visitenkarte lithographiert; Guseck 1851 Salvator I 95 da Sie meine Schwester Laura kennen, gilt mein Gesicht als Visitenkarte; Heine vor 1856 (VI 34) den vater Rhein sah ich nicht, und ich begnügte mich, ihm meine Visitenkarte ins wasser zu werfen (DWB); Scheffel 1863 Wandern (Br.) 65 Maler die als Visitenkarte [für einen angekündigten Besuch] ein Fass Augustinerbräu vorausgeschickt haben; Grabowski 1863 Off. 137 meine photographische Visitenkarte unter Glas und Rahmen; Gregorovius 1863 Wanderjahre IV 28 beschenkten mich mit einer der seltensten Gaben für ein photographisches Album der Gegenwart, mit dem Porträt Justinians in Visitenkarten-Format; Mahler 1864 Über die Eider 122 Mein Afterwirth war nicht zu Hause, ich stellte meine Visitenkarte . . . auf den Tisch; 1865 Hausblätter

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IV 252 das Bild des lieblichen Mädchens, das er nicht einmal als photographische Visitenkarte besass; Springer 1868 Berlin 2 [Pfandleihe] wo das Elend seine Visitenkarten in alten Lumpen niederlegt; Kümberger 1877 Herzenssachen 129 Fast wie wir unsre Visitkarten abgeben, gibt der Italiener sein Sonett ab; Rutenberg 1877 Zinne 5 und der Rahmen seines Spiegels strotzt von Visitenkarten aus den fashionablen Kreisen; Beiträge z. Anthropologie u. Urgeschichte Bayerns 2 (1879) 209 Gleichsam als Visitenkarte, als Document ihres stattgehaltenen Besuchs, hat uns eine Hyäne ihren . . . Backzahn zurückgelassen; Schweiger-Lerchenfeld 1880 (523) Das Erröthen ist ihnen bald Visitenkarte, bald — Todesanzeige der Unschuld!; Nordau um 1880 K. II 391 griff schweigend in die Fenster, unter dessen Scheibe eine Visitenkarte befestigt war. Paul Steinacker, Kunstmaler, lautete die Anschrift dieser Karte; Steinbeck 1889 Metz 45 und die mitgeführten leichten Batterien geben ihre Visitenkarten bei ihm ab; Ziegler 1895 Student 125 Jener militaristische Geist und Ton, der den jungen Assessor und Lehrer auf seiner Visitenkarte seine Qualität als Reserveleutnant in den Vordergrund stellen lässt; Auffarth 1910 Offizier 222 Die Visitekarte ist die Repräsentantin der eigenen Person; Colerus 1929 Kaufherr 129 daß Redewendungen, die in früheren Zeiten mit gezückten Visitkarten, blanken Degen oder gar Pistolen quittiert worden wären; Uhu 1929 Febr. Es ist sehr schön, auf seine Briefbogen und auf seine Visitenkarten die Worte: „Mitglied des Reichstages" drucken zu können; Gregor 1929 Schwestern 21 Und so gab denn die leer ablaufende Zeit nur eine leere Visitenkarte, keineswegs ein vollbeschriebenes Schicksalsdokument ab; Berl. Illustr. Nachtausg. 21. 2. 1933 Und die beiden Herren? Gaben sich ihre Visitenkarten und die Telephonnummern, schrieben sich rasch die gegenseitigen Autonummern in die Notizbücher und — verabschiedeten sich wie wohlerzogene Leute; ebd. 31. 8. 1933 Die gedruckten Worte auf der Visitenkarte: Jacques Philipe Beumelé, Straßburg, sagten ihm nicht viel; 1934 Der Westen (Berlin) Nr. 352 Die Art eines Menschen beim Essen ist eine Visitenkarte für die Erziehung, die er genossen hat; Dhünen 1939 Spiel 29 silberne Visitenkartenschale; Münch. N. N. 19. 2. 1941 „Deutschlands soziale Visitenkarte" nannte Dr. Ley die Deutsche Arbeitsfront; Süddtsch. Ztg. 29. 1. 1949 betonte

die Wichtigkeit einer guten Werbung im Schaufenster, das heute wieder Visitenkarte des Einzelhandelsgeschäftes sei; ebd. 1. 9. 1949 die höchst bemerkenswerte Visitenkarte eines neuen Autors [Erzählung]; ebd. 28. 8. 1950 Das deutsche Hotelund Gaststättengewerbe ist eine Visitenkarte für das Ausland; ebd. 2.13. 9. 1950 Naturgemäß geht der Zug weg von der großen Repräsentation zur soliden Visitenkarte; ebd. 19. 12. 1950 Bahnhöfe sind die Visitenkarten der Städte; ebd. 25. 1. 1951 daß Visitenkarten nicht auf den Charakter des Besitzers schließen lassen; ebd. 27. 4. 1951 „Die Visitenkarte Deutschlands nach innen und außen" nannte Bundeskanzler Adenauer die Internationale Automobilausstellung in Frankfurt; ebd. 29. 5. 1951 Auch die Dame am Nachbarschalter hängt ihre Familiengeschichte gewissermaßen als Visitenkarte aus; ebd. 25.126. 4. 1953 Pausenzeichen — Visitenkarten der [Rundfunk-]Sender; ebd. 12. 5. 1954 Eine Kürzung an dieser Stelle . . . sei die schlechteste Visitenkarte für die Kulturleistungen des bayerischen Staates; ebd. 13. 5. 1954 mit nichts anderem kann Deutschland eine so gute Visitenkarte draussen abgeben in der Welt — wie durch handwerkliche Arbeit; ebd. 29. 4. 1958 An einer Seite war bescheiden eine Tafel, sozusagen die Visitenkarte des Unternehmens, angebracht: Hudson's Bay Company, Incorporated 2nd May 1670; Münch. Stadtanz. 23. 1. 1959 Von alten Münchner Visitenkarten (Uberschr.) Das kleine bescheidene Kärtchen ist längst zum „stellvertretenden Ich" geworden, das man stets dort abgibt, wo man in Erinnerung gebracht werden will. Es hat alle gesellschaftlichen Hürden längst übersprungen und ist auch bei uns in München schon lange kein Privileg eines „gehobenen Standes" mehr; Offenburger Tagebl. 10. 10. 1959 Ein sauberes, hübsches Gesicht und ein gutgeschnittener Anzug sind heute keine gültige Visitenkarte mehr; Münch. Stadtanz. 27. 11. 1959 Die Diele Visitenkarte der Wohnung (Überschr.); Stuttgarter Ztg. 31. 8. 1963 Der Herbst gibt seine Visitenkarte ab; Offenburger Tagebl. 25. 3. 1970 ein recht amüsanter Film, wenn auch der Regisseur Rolf Thiele (mit einigen seiner unvermeidlichen Nackedeis als Visitenkarte) den gesellschaftskritischen Sarkasmus etwas verdünnte; FAZ 24. 12. 1971 Visitenkarte am Auto bewahrt nicht vor Abschleppen.

visitieren V. trans., im 13. Jh. entlehnt aus mlat. visitare 'be-, aufsuchen; betrachten, beschauen; eine Buße verhängen' ( < lat. visitare, —»Visitation), früher gelegentlich in der Form visentieren; la zunächst im Bereich der christlichen Klöster

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für '(als Beichtvater) die Ordensdisziplin eines Klosters prüfen und gegebenenfalls durch Verhängung einer Buße wiederherstellen', dann allgemeiner für 'als (Beauftragter einer) weltliche(n)/geistliche(n) Obrigkeit, eine Institution, Körperschaft, Anstalt, örtlichkeit, Räumlichkeit o. ä. (regelmäßig) durch Aufsuchen und Inaugenscheinnahme der Verhältnisse (über-)prüfen, untersuchen, kontrollieren, inspizieren, beaufsichtigen; etwas begehen', bezogen auf kirchliche Einrichtungen, Schulen, Behörden, militärische Einheiten o. ä., dann, gelegentlich auch scherzhaft, für 'etwas/jmdn. (aufsuchen, um zu) prüfen, kontrollieren, inspizieren, examinieren'. b Von daher seit 1600 häufig, heute meist eher scherzhaft, im Sinne von 'etwas (als amtlich Beauftragter/in der Art eines amtlich Beauftragten) genau durchsuchen, durchsehen, mustern; mittels Durchsuchung (über-)prüfen, kontrollieren, inspizieren', gelegentlich für 'etwas zum Zwecke der Requirierung (plündernd) durchsuchen', seit früherem 18. Jh. bes. für 'Warentransporte, Gepäck bzw. Reisende mit Gepäck am Zoll durchsuchen', auch in der von häufigerem Leibesvisitation (—»Visitation lc) abgeleiteten Gelegenheitsbildung leibesvisitieren, c Um 1600 und im 19. Jh. vereinzelt für 'jmdn. ärztlich untersuchen', speziell '(z. B. Soldaten, Prostituierte) amtsärztlich auf ansteckende Krankheiten untersuchen'. Dazu seit dem 13. Jh. aus mlat. visitator 'Aufseher über die Ordensdisziplin, Klosterbeaufsichtiger' (vgl. lat. visitator 'Besucher') übernommenes und bis ins 17. Jh. meist lat. flektiertes Visitator M. (-s; -en), früher vereinzelt auch Visitater, zunächst 'Aufseher über die Ordensdisziplin, Klosterbeaufsichtiger; Beichtvater der Mönche/ Nonnen', dann allgemeiner für 'zur Visitation berechtigter, mit der Aufgabe der Visitation beauftragter Vertreter einer geistlichen/weltlichen Obrigkeit, Aufsichtsbeamter' (zu la), seit früherem 18. Jh. auch 'Zollbeamter' (zu lb), heute selten; von Mitte 14. Jh. bis Mitte 16. Jh. die subst. Ableitung Visitierer, gleichbed. mit Visitator in dessen Bed. 'Aufseher über die Ordensdisziplin, Klosterbeauftragter, Beichtvater der Mönche/Nonnen' (zu la); bis Ende 19. Jh. schon mhd. ( L E X E R ) nachgewiesenes Verbalsubst. Visitierung, gleichbed. mit —»Visitation la (zu la), im späten 19. Jh. vereinzelt für '(amts-)ärztliche Untersuchung (auf ansteckende Krankheiten)' (zu lc) (vgl. —»Visitation lb); im 17./18. Jh. vereinzelt die Präfixbildung durchvisitieren 'durchsuchen' (zu lb); um 1800 vereinzelt das aus dem Frz. übernommene Subst. Visiteur 'Zollbeamter' (zu l b ) ; im 19. Jh. gelegentlich das aus dem Engl, übernommene und auf engl. Verhältnisse bezogene Subst. Visitor 'Aufsichtsperson (an einer Hochschule)' (zu la). 2 Seit früherem 14. Jh., heute nur noch scherzhaft, in der Bed. 'jmdn./etwas um seiner selbst willen auf-, besuchen (um eine Zeit lang dort zu bleiben)', auch pejorativ konnotiert und gelegentlich ironisch verwendet für 'heimsuchen', z. B. auf militärische Aktionen, göttliche Strafen bezogen. 3 Vom 14. bis ins späte 18. Jh. gelegentlich als V. trans. für 'etwas häufig, intensiv, genau betrachten' und vereinzelt als V. intrans. für 'genau und intensiv hinsehen'. visitieren la: 13. Jh. Klarissen-Regeln 154 visitiert; ebd. 162 visitiere und, corrigiere; ebd. 166 daz ampt visitierens; 13./14. Jh. Stat. d. d. Ordens 156 dasz sie weder durch liebe noch durch leide noch vorchte noch durch drouwe anders visitiere«, wan nach rechtekeit (DWB); 1481 (Urkunden Tübingen 72) Dieselben theology sollen ouch ain

sonnder uffsenhen haben, das nutzlich vnd wol in den fryen Künsten geregiert werde, ir burssen vnd actus visitieren, strafflichs vff das best reformiern; ebd. 74 Item Es sollen ouch uon der vniuersität Doctor oder maister . . . in disputatzen collatzen vnd anfengen der bücher ainander visitiern; um 1490 Reformation Sigmundi C 3" Item ain bischoff

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sol alle jar ainest visitieren all kirchen in seinem bistumb; ebd. D 1" Item wenn der bischoff visitiern wil so sollen die priester dem visitierer ain guldin vnd nit mer geben; 1525 Wegspruch gen Regenspurg (Schade, Satiren III 181) item ein bischof soll alle jar die pfarren in seim bistumb visitieren oder heimsuchen; 1528 Braunschw. Schulordn. I 36 Scholen alle halve jare de beyden Scholen visiteeren, to besehn; 1533 (Urkunden Tübingen 177) Mit befehlhe, alle Faculteten zu visitiern, vnd was sie für mängel befinden würden, vfzuschreiben; ebd. 1536 (194) Die sollen auch vfs wenigst viermal im Jar die ordentliche Disputation vnd exercitia in guten Künsten vnd studio artium visitirn vnd besuchen, getrewliche vnd vleissige einsehung thun, darmit dieselben gleichmessig den Statuten wol vnd nutzlich gehalten vnd geübt werden; 1547 (Nyström, Schultern. 14) in umliggenden particularn [Partikularschulen] visitiert; Stumpf 1548 Chr. II 7h dass man zü bestimpten zeyten alle Clöster visitieren, heimsuchen vnd besehen . . . sölte; 1549 Würzburger ApothekenOrdn. (Scharold 1825 Medizinalwesen I 114) die Apodecken visitiren, heimsuchen vnd besichtigen; 1565 (Rosenthal, GVB. I 484) [Klöster] ordnen und visitirn lassen; Platter 1572 (6) ist der cardinall . . . durch das land gfaren allenthalben zü visitieren und zü firmen (DWB); 1589 Kammerordn. (Hofordn. II 220) die Apodeggen offt und unversehens visitiern und durchsuchen und, was nit taugt, verwerffen; Letzner 1590 Chronica D 2" Seine befohlene Kirche selbst zu rechter und gebürlicher Zeit, mit höchstem fleiss gevisitiert; Kiechel um 1600 Reisen 233 solches, als ich vernomen, beschicht aus bevelch der inquisitatores, wann geüstliche oder weltliche büecher bey einem befunden, werden solche in düe inquisition getragen, aldo visitiert, was solche in sich halten; 1607 Reformation aller Requisiten deren Apotheken 108 [alle Arzneimittel müssen] durch den hierzu deputierten Medicum visitiert, besehen, auch für gut vnd taugenlich erkandt worden [sein, bevor sie ausgegeben werden]; Löhneyß 1622 Aulicopolitica 349b wöchentlich oder je umb vierzehn Tagen einmahl die Stätte visitiren; 1626 (Bauer 1892 Beitr. Gesch. Memmingen 17) in Irer dioecesi visitiren lassen, damit, wo vileicht die Seelsorg der Katholischen Christen, sonderlich in Stätten nicht genugsam bestellt, demselbigen möge remedirt werden; um 1670 Gepfückte Fincken 69 Da . . . der Barbierer seine Büchsen revidirt und visitirt; Frachetta 1681 Printzen-Staat 99 Dass ein Regent seine Herrschafften persönlich visitieren müsse; 1683 Klatschmaul 75 in die Apotheken, selbige eingeführten Gebrauche nach quartaliter zu visitiren; 1719 Recueil III 42 so visitire er seines Herrn guard des robes und Sachen, ob was zu

nehen oder auszubessern; um 1730 Lebens-Beschreibung Derer Dienst-Mägde 36 biss der Herr . . . Fleisch und Blut fühlete, und anfangen wolte die Köchin zu visitiren; Barth 1734 Tageb. 143 die heute vergangene Nacht vor Mitternacht sind S.D. uns. gdgstr. H. . . . die Pikets und Feldwachen zu visitiren ausgeritten; Montecuculi 1736 Kriegs-Nachrichten 317 Feld-Runden visitiren die Wachten; Krezschmer 1744 Vorschläge 4 alle Viertel-Jahre . . . die Gärten . . . visitiren, dass alles richtig und ordentlich gehalten werde; Stahl 1762 Gewehrgerechter Jäger 78 der sein gewehr nicht vorher visitirt hat (DWB); 1764 (Mitt. G Erz'gesch. II (1892) 247 die deutsche Schule zu visitiren; Nicolai 1790 Anekdoten I 195 hatte er, als er die Posten von Wartha und Silberberg visitine, Gefahr gelaufen, gefangen zu werden; Gilly 1798 Land-Bau-Kunst 1174 Die Beschaffenheit des Grundes wird untersucht . . . in mäßiger Tiefe durch das Aufgraben und das Visitiereisen . . . Das Visitiereisen ist blos ein rundes unten zugespitztes Eisen, welches man . . . in die Erde zu bringen sucht, und aus dem schwerern oder leichtern Hineindringen, von der Festigkeit des Grundes urtheilt; Laukhard 1802 Leben V 176 Alle Abende visitine ich meinen Sohn, wie ein Corporal seine Soldaten visitirt, ob er auch hübsch zu Hause sey: ich fand ihn allemal; Wolff 1823 Cäsario (I 231) und meiner Sibylle Herz hab' ich zehn Jahre lang genau probirt, exercirt und visitirt; es hat aber auch in jedem Punkte Stich gehalten; Kisch vor 1848 (II 1, 198) Ein Jahr später visitierte Kommissär Chevreau neuerlich das Café Mignon (WDG); König um 1875 Hum. II 7 Fort Nummer Zwei soll zwischen zwölf und ein Uhr visitirt werden; Süddtsch. Ztg. 15. 2. 1949 Die Diskussion um die künftige Hauptstadt Westdeutschlands ist durch die Reise der Fünferkommission, die . . . jüngst Kassel, Frankfurt und Stuttgart unter dieser Perspektive „visitierte", von neuem in Gang gekommen. Visitator: 13. Jh. Klarissen-Regel 161 visitatore; ebd. 161 visitators; 1344 Lünebg. 423 heft gheset to eneme visitator over dat ghansse stichte (MÖLLER); 1361 Grimma 413 abt . . . und visitator (MÖLLER); 1471 Chemnitz 408 visitatores unnde reformatores (MÖLLER); Eberlin v. Günzburg 1521 Bundesgenossen 137 daß barfüsser vnd prediger nit sóllen vnabsetzlich visitator oder bychtvatter vber sy, sunder wer den frawen gefalt mit rat eines burgermeisters . . . den mógen sy jirlich annemen; ders. 1523 (III34) An eim ort liessen sie ein Nunnen widder teuffen . . . vnd andere narheyt mehr versuchten die alten grossen patres visitatores vnd comissarien, verfürer vnd seien mòrder; ebd. 72 visitatorn, beichtvätern, predi-

visitieren gern; ebd. 77f. Von visitator vnnd Capellon der klôstem, vnnd wie der orden solle haltten ain Protector Cardinal über den orden; ebd. 79 Vom visitator der klôster vnd seinem ampt; ebd. 82 Vom visitator vnd seinem ampt, vnd wie er die Iptissyn absetzen müg; 1526 Breslauer Almosenordnung (Scbles. Kirchen- und Schulordnungen I 7) soll auch der visitater gute achtunge haben auf die hausarmen, das sie nicht petteln gehen sollen in der Stadt; Luther 1528 Unterricht (W. XXVI197) Haben S. F. G. . . . zu bestellung der Kirchen und Religionssachen zu ausbreitung der reinen Christlichen lere auch Visitatores zu diesem anfang und erster Visitation verordnet die Ehrwirdigen, hochgelarten, ehrnvhesten, gestrengen und achtbaren herrn; ebd. (XXVI202) Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn; Pommersche SO 1563 (Nyström, Schulterm. 10) Kinder-Schulen sollen . . . in allen Städten gehalten und von den Visitatoren verordnet werden, dasz in jeder Stadt nur eine Trivialschule; Fischart 1571 Lesterungen (b) 684 aller Klöster Visitator; 1575 Aldorf er SO (Nyström, Schulterm. 59) der Rector, Prorector, oder Visitator, die Professores publici vnd Classium Magistri; 1579 (Mitt. G Erz'gesch. I (1891) 220) durch die verordneten [Schul-]visitatores; Kiechel um 1600 Reisen 149 Indem kompt der Ittalianer, wölcher von den Vönediger dohün geordnet, düe föede zue besehen, wölcher auch macht, solche firmieren und underschreiben . . . In dem störcte der würt den visitatorem, gab ihme zu verstöhn, er soll unns besser oder ernstlicher fragen; 1607 Reformation aller Requisiten deren Apotheken 106 Visitatores; Furttenbach 1649 Schul-Gebäw 5 vorgesetzte Herren vnd Visitatores der Schulen; 1733 Gedanken über Verfall der Buchhandlung 90 Wir wollen / daß ein ieder buchdrucker / führer oder buchhandler und zuvor er sein gewôlbe . . . eröffnet . . . euch (nemlich den buchervisitatoren) seiner bûcher einen indicem vorweise / dabey glaublich anzeigen thue / wie und welchergestalt ihm solche bûcher zu drucken erlaubt; 1787 Journal v. ». f . Deutschland II 236 der Stadtvisitator seiner Pflichten und Dienstes erinnert, sich bey Visitirung der Gasthöfe nach den Pässen und Kundschaften der zu Fuß gekommenen Fremden zu erkundigen; Auerbach 1852 Diethelm 76 Und ich wette meinen Kopf, der Diethelm will das Haus anstecken, um wieder reich zu werden, darum ist er so ein Laternenvisitator; Peetz 1892 Chiemgauer Volk I 38 Der Amtmann stellt den Herrn Kommissarius vor und erläuterte . . . was derselbe zu wissen erstrebe. Wolf zwang sich . . . eine ziemlich anständige Verbeugung gegen den Visitator zu machen; Süddtsch. Ztg. 27. 9. 1946 Bischof Aloisius Münch . . . hat nicht an der Fuldaer Konferenz teilgenommen, sondern benutzte

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nur die Gelegenheit der Anwesenheit aller deutschen Bischöfe, um sich ihnen als Apostolischer Visitator für Deutschland vorzustellen. Visitierer: 1346 Monumenta boica XLI256 unser [des Klosters] visitierer und wîser (LEXER); Beheim 1469-72 Reimchr. Sfr. 1109 des ordens visitierer; M. v. Kemnat 1470— 75 Chr. 52 visiterer des ordens; um 1490 Reformation Sigmundi D 1" Item wenn der bischoff visitiern wil so sollen die priester dem visitierer ain guldin vnd nit mehr gebn; 1522—32 (Basler Chroniken 1471) sprachen zu den visitirern [von Klöstern], Visitierung: 1536 (Urkunden Tübingen 194) in Visitierung der leer vnd disputation; Musculus 1557 Vom jüngsten Tag F 2" Solches [Stehlen] haben erstlich die grossen Patentaten, Fürsten vnd Herrn angefangen, mit visitierung der geistlichen guter (ZfdW XV 216); 1558 Heidelb. Statuten 17 Von visitierung der bursen; 1607 Reformation aller Requisiten derer Apotheken 105 mit Visitierung oder besieh tigung der Apotecken; 1675 (Mitt. G Erz'gesch. 3 (1893) 82) Visitirung der Schuellen; Boltz 1727 Amts-Redner 93 Besuchund Visitirung der Gräntzen; 1787Journal v. ». /. Deutschland II 236 Der Stadtvisitator seiner Pflichten . . . erinnert, sich bey Visitirung der Gasthöfe nach den Pässen und Kundschaften der zu Fuß gekommenen Fremden zu erkundigen; Hefner 1860 Chr. v. Rosenheim 34 [1675 gab es in Rosenheim unter den Ratsämtern ein] Visitirungsamt zu den Schulen. Visitor: Kohl 1844 Reisen E. u. W. II 77 Jedes Collegium in Oxford hat seinen adligen „Visitor" ; ebd. II 120 die Visitors (Besucher) — so nennt man die Leute, welche die Gesinnung der Aspiranten oder Novizen untersuchen. visitieren lb: Kiechel um 1600 Reisen 425 dann öttliche Tircken, so aus dem castell dozu verordne«, hinaus uff das schuf fahren, die wahren unnd anders, so dorinn, visitieren unnd besuechen, an allen enden und ortten, sowohl auch in den küsten und druchen; Mallinger 1613—60 Tagbücher (Mone, QS. II 536) Dem einen ist man in sein Keller kommen . . . dem anderen hat man sein Kornkasten visitiert, den selbigen spoliert und genommen, was ihnen gefallen; ebd. II 545 man hat ihnen Leuth geschickt, die Kornkästen und Weinkeller zuo visitieren; Carrichter 1614 Speisskammer 272 die Speisskammer zu visitieren vnd zu beschawen; Krafft 1616 Reisen 44 Ehe es ans land oder Inn porto fare, zu visitiren, was es für wahren vnd für leutth mitt sich brächten; 1644 (Ann. Ingolstad. Acad. IV 400) visitiern und

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visitieren

durchsuechen; Bürster 1647 Schwed. Krieg 99 Alß solches herr commissarius erhört, hat er haißen daß thor aufzuemachen . . . gleich mit und beysein unsers gnädigen herren käller, küsten und kästen visitiert, bey welchem auch war haubtman Debaß Bach . . . seyen die Soldaten wider in ihr quartier abgezogen; ebd. 195 daß commendant darinnen abermahlen visitieren laßen alle örter und heyßer und gesehen, waß noch von vorrath an fruchten vorhanden sye, und jenigen, so noch für 5 wochen hetten haben mögen, weggenohmen; 1663 Sehr. 30 ich zweiffle nicht daran, Salomon werde selbst unterweilens visitirt haben, wie in küchen und keller . . . hergehe (DWB); 1672 Interims-Ordinantz A 10" Gestalt dann dem Magistrat in den Städten und auffm Lande frey bleibet, zu Verhütung Unterschleiffs, die Quartire nach belieben zu visitiren; 1691 Pfalz 8h die Kleider und Hosensäck visitiret, und das Messer . . . abgenommen; ebd. llh die Häuser mit Gewalt visitiret; 1730 (Archiv, f . Kulturgesch. V (1907) 27) hatten auch die Zollner unsere Bagage visitiren wollen; Hönn 1743 Betrugs-Lex. 132 Ehe-Weiber betrügen . . . Wenn sie denen Minnern den Geld-Beutel heimlich visitiren, oder Getreidig und andere Sachen entwenden; Dominicus 1763 Tageb. 35 [wir marschierten] nach Krumhermanzdorf, woselbst uns der Baur Saurkraut mit Leinöhl vorsetzte, muste solches zurücktragen; wir visitirten im Keller, funden Butter Kässe und Milch gnug; Büschel 1784 Reisen 15 Jeder Ankommende wird unter dem Thore visitirt, oder soll es werden; da es aber zu unbequem ist, daselbst einen Koffer zu öffnen, so schickt der Unteroffizier . . . einen Stadtsoldaten . . . mit auf den Gasthof; ebd. 24 In Harwich wurde unsere Bagage visitirt; 1787 Dtsch. Mus. II 163 einen Koffer . . . zu visitiren. Ich schloss . . . auf, und zeigte was ich hatte; Laukhard 1802 Leben V 17 visitirte mir also die Taschen, und da sie fand, dass ich Geld hatte; Reichard 1814 Passagier 111 Beim Visitieren lass man niemals zwey Koffers . . . zugleich visitiren; ebd. 1111 Oefteres Visitiren des Beschlags; Goethe vor 1832 (W. IX 78) man weiss, wie's weiber machen; sie visitiren gern und sehn der fremden Sachen und wäsch' und kleider gern (DWB); Weiden 1853 Krieg d. Österreicher in Italien 27 eine österreichische Visitir-Patrouille; Räumer 1861 Leben I 49 die Thorsperre, das endlose Visitiren, die unzähligen Zollstätten; Rolef 1887 Reisebr. 183 daß alles Gepäck nur an der Grenze und nicht in Madrid visitirt werden kann; Singer 1937 Münsterturm 178 visitierte . . . alle Taschen und nahm an sich, was ihm brauchbar schien; Weisenborn 1948 Memorial 179 Wenn wir abends hundemüde . . . einrückten, wurden wir visitiert (WDG); Neue Ztg. 8. 11. 1949 Mein Tip

. . . man leibesvisitiere systematisch alle Stunde in jedem Luxuslokal Nacht für Nacht die Sektsäufer; 1954 Begegnungen 20 daß er als Staatsoberhaupt nicht dem Vorgänger gleich die angetretenen Glieder einer der Wachkompanie'n, ob sie auch schnurgerad steh, sondern die Glieder von klassischen Versen mir jüngst visitierte; 1958 Brot u. Wein 48 daheim, wurde unser Einkauf gründlich visitiert und kritisiert. durchvisitieren: Bürster 1647 Schwed. Krieg 182 solle commendant alldorten alle heußer und örter alldorten durchvisitieren laßen und alleß beschreiben laßen, wie vil und waß jeder hatte; Foote 1798 Industrieritter (Übers.) (IV 119) Sie können das Haus durch visitieren. Visitator: 1733 Verordnung Mauth-Politen Regensburg 2" Visitatoren; Laukhard 1792 Leben II 87 Wenn der König will, dass [auf der Post, beim Zoll] alles visitirt werde, so dürfen die Visitatoren kein Geld fürs Nichtvisitiren nehmen; Schlegel 1801 Ehrenporte 7 Den Visitator Momus an der Gränze des Pindus wollt' Apoll zur Rede stellen; Campe 1806 Reisebeschr. VII 10 ein ganzes Heer . . . garstiger Männer, Durchsucher oder Visitater genannt. Visiteur: Börne 1804 Br. an H. Hertz 108 einen reichen Herrn . . . der hat am Thore dem Visiteur 6 Groschen gegeben; 1815 Fahnenbergs Magazin VI 305 So sind z.B. bei der Donaue Visiteurs angestellt, welche in den im Handel vorkommenden Waren ebenso unkundig sind. Visitierung: 1793 Sammlung aller Generalien 193 Weinfässervisitirung; Hastenpflug 1811 Abendzeitvertreib 132 auf dem Packhofe, bei Visitirung seiner Sachen; Ritter 1822-59 Erdkunde II 1027 visitirung der bagage (DWB); Derblich 1895 Militärarzt 186 Wir erwarteten . . . die allerschärfsten Durchsuchungen an der Grenze . . . daß eine höhere Kommission . . . die schärfste Visitirung der ärarischen Fuhrwerke, Tornister . . . vornehmen werde. visitieren lc: Kiechel um 1600 Reisen 460 sobald aber düser todts verschüden, lües in der patron durch einen doctor oder medicum visitierenn, wölcher erkanndte, das er nicht von der bestilentz gestorben, noch yrgend was von solcher kranckheütt an sich gehabt; Justi 1769 Betr. 61 Denn da alle andere liederliche Dirnen aufgesuchet, und in solche Häuser gebracht werden müssten, woselbst sie alle vier Wochen in Ansehung der venerischen Krankheiten zu visitiren, die angesteckten von al-

visuell lern Umgang mit Mannspersonen abzusondern . . . wären. Visitierung: Derblich 1895 Militärarzt I 29 die ärztliche Visitierung auf Syphilis; ebd. 100 Die angeordnete „Visitirung" der Mannschaft nahm ich bei der erwähnten Escadron unverweilt vor. visitieren 2: Ottokar vor 1320 Reimschr. 54204 dö si heten über al gevisitiert die cardinal (DWB); Tauler vor 1391 (DTM XI392) so die zit kummet ire visitacien, alse sü got visitieren sol, wenne su sterben süllent (DWB); ders. CCCXXIII18 wenn uns got visitiere ( M Ö L L E R ) ; 14.-16. Jh. D. St. Chr. XIII 621 wir willen riden zo Coellen ind willen unse vrunde visentieren ind mit vreuden sien (DWB); 141} Volkslied L 376 hats conzili gevisitiert (MÖLLER); Volkslied 1449-50 „Text" (Liliencron I 419) Wirtemberg, das edel plüt, verdreußt der Ulmer Übermut, er will si visitieren, si süllen fürbaß wollseck pinden; got wöll daß sie mit iren kinden land und leut verlieren!; Franck 1538 Chr. Germ. 91" er hat die siben zeit fleiszig visitiert, mit vesper und mesz gesungen (DWB); Begardi 1539 Index sanitatis 11" [Der Arzt soll].inn der jugent mit eynem geleiten artzet visitiern, vn fleissig auff merckung haben inn solchen bei den kranken personen etc. . . . Eyn artzet soll offt visitiern die Hospitalia, vnd do sehen die mancherley kranckheyt; ebd. 35h [der Arzt] soll die Krancken offt do heym suchen vnd visitiern, so offt von nöten sein wirt; Luther vor 1546 (XVI155) das die weit von gott mit straffen heim gesucht und visitieret wird (DWB); ebd. XVII1, 150 das got dem kayser so vil genad geb, das er die fürsten im zaum hielt, die fürsten den adel und die stet und also fort die oberherren den underherren auff die köpf gryffen und visitierten, das in die schwärt krachte (DWB); Alberus 1550 Fabeln XXIV 13 wann ich gen Schotten hab spatziert, und gute brüder visitiert (DWB); Rauscher 1562 Papistische Lügen 03h konnte . . . das Grab Danielis nicht visitiren vnd besuchen; Kiechel um 1600 Reisen 166 und bringt einer einen ganzen tag domitt zue, lauft sich einer auch wohl müed, eh er düe gedachte süben kürchen alle visitiert, und do einer solche pro devotione besuecht; ebd. 317 wurde yedem [Pilger] ein patenta oder urkund, uf bergament in latein geschriben, gegeben, mütt dös convents secröt unden uffge-

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druct, dorinn würt vermeldt, das er düe heilige ortt inn und usserhalb der statt Iherusalem visitiert habe; ebd. 355 auf den gemeltenn berg Catharinä, der dann vil höher, geher und beser zu steügen ist, als der berg Sinai . . . wüe dann solcher nicht von vülen persohnen gesuecht oder visitiert württ; ebd. 390 wüewol der vicecónsul de Francia alle hülf und freundschaft müer erzeugt und bewiesen . . . mich auch selberr öttlichmaln visitiert, doneben zuegesprochen, wann mür was mangle; Spangenberg 1607 Ganss König 62 Dann die Sonn gieng, mit jhrem schein, Durch alle Wohnungen gemein: Vnd visitiert, in einem Jahr, All dieser Stadt Wohnung zwar; Hainhofer 1613 Relation 218 Sie die alte Fraw Marggräfin ist auch vom hernn Pfaltzgrafen Wolf Wilhelm visitiert worden; ebd. 218 Den 11. Novemb. am montag hat Jederman aussgerastet, die Früstenpersonen ainander visitieret; Albertinus 1615 Gusman von Alfarche 469 Die Österreicher grainitzen jenseits mit Ungarn, und disseits mit Bohem und Bayrn, der Türck ist ihr unfreundlicher Nachbar, und visitirt sie bisweilen; Seifert 1647 Gewissens-Buch 58 [dem Geistlichen verboten] die gefangenen [Hexen] zu visitiren; Weckherlin vor 1653 Ged. I 81 wie sunst ein potentat . . . das er erzaig seine leutseeligkeit, und gute lieb er hat, seine leut visitieret (DWB); Hörl 1677 Bacchusia 25 [der Fuchs] visitierte die Hennensteigen, vnd vermainte damit Fassnachten zu halten; Hilarius Lustig v. Freudenthal 2. H. 17. Jh. Lieder-Buechlein 61 Als ein Student spatzieret . . . des Abends . . . er macht ein frölich Gsang, all Gassen visitiret und lieblich musiciret; Schöne Welt März 1971 Sie ist die stattlichste der Inseln vor der Küste von Ostfriesland. Plinius visitierte sie, Störtebeker hauste da. visitieren 3: 14. Jh. Erlösung 976 da wider contempliere und immer visitiere daz gotlich antlitze; Scheit 1551 Grob. 1729 so meint man du habst wohl studiert und vil der bücher visitiert (beide DWB); Grecourt 1787 (II 174) Sie visitirt nun in die Runde, Die Oerter, wo der Feind [Floh] verborgen liegt, Der sie bestürmt; Goethe 1780 Tageb. 1114 da wir alle nicht mehr verliebt sind und die Lava Oberfläche verkühlt ist, gings recht munter und artig, nur in die Rizzen darf man noch nicht visitiren, da brennts noch.

visuell Adj., im 17. Jh. vereinzelt in der lat. Form belegt und im späteren 19./ frühen 20. Jh. in der Form visual gebucht, seit Anfang 20. Jh. in der heutigen Form nachgewiesen, über gleichbed. frz. visuel zurückgehend auf lat. visualis 'zum Sehen

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Visum

gehörig' (zu videre 'Sehkraft haben; sehen'); in der Bed. 'das Sehen, den Gesichtssinn betreffend, darauf beruhend, dadurch hervorgerufen, dadurch bestimmt; Seh-, Gesichts-', auf menschliche Wahrnehmungsfähigkeiten und -handlungen bezogen, häufig in Syntagmen wie visueller Typ / visuelles Gedächtnis 'Person / Gedächtnis, deren / dessen Erinnerungsvermögen überwiegend durch visuelle Eindrücke gelenkt wird', auch 'durch den Gesichtssinn wahrnehmbar, sichtbar', auf materielle Gegenstände bezogen, weitgehend gleichbed. mit optisch (—* Optik); dazu in jüngster Zeit aus gleichbed. engl, visualize entlehntes visualisieren V.trans. 'etwas ( z . B . eine Idee, Theorie) visuell gestalten, sichtbar machen', mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Visualisierung F. (-; -en); gleichzeitig aus dem Engl, übernommenes Visualizer M. (-s; -) 'Graphiker, der als Werbefachmann arbeitet und Werbeideen visuell gestaltet'. visuell: Stevini 1608 Festung 41 linea uisualis genannt; Schmarsow 1905 Grundbegr. 318 jeden Zweifel an der visuellen Natur des Kunstwollens beseitigen; Der Merker 6 (1915) 297 die Treue und Lebhaftigkeit meines Gedächtnisses . . . namentlich in jener Beziehung, die von den Fachleuten als „visuelles Gedächtnis" bezeichnet wird; Freud 1917 Psychotherapie 41 Das Erinnern der Erwachsenen . . . Die einen erinnern in Gesichtsbildern, ihre Erinnerungen haben visuellen Charakter; Müller-Freienfels 1923 Psych, d. Kunst II 237 visuellen Gedächtnisses; Berl. Illustr. Ztg. 1929 Nr. 29 daß Minister und Sekretärin untereinander ihre Handschrift nicht zu unterscheiden vermochten . . . visuelle Eindrucksfähigkeit, visuelles Gedächtnis, manuelle Fertigkeit und Bewunderung der Sekretärin für ihren Chef haben dieses Gedächtnis gezeitigt; 1934 Novellen 39 Ein unerhört visuelles, stets nahes Gedächtnis; Bircher 1940 Arzt u. Soldat 48 Konkretes, gegenständliches Denken, plastisches „visuelles" Vorstellungsvermögen und Raumsinn; Süddtsch. Ztg. 20. 4. 1951 fernerhin mußten Traumstimmen und ein Reporter zur Verdeutlichung innerer wie visueller Vorgänge bemüht werden; Fechter 1955 Menschen 13 das Visuelle seiner Erscheinung; Couman 1960 Museum (Ubers.) 131 Dorners Bemühen, den Film als lebensfähige, wichtige neue Art der visuellen Kunst zu sehen; Adorno 1961 Noten II 23 des visuellen Pendant; Süddtsch. Ztg. 27. 3. 1963 In Ulm, wo Friedrich Vordemberge-Gilde-

wart 1954 bis zu seinem Tod . . . die Abteilung „Visuelle Gestaltung" an der Hochschule für Gestaltung geleitet hat; Mannh. Morgen 21. 10. 1981 „Die Betrachtung seiner Bilder ist eine visuelle Reise der Entdeckung", heißt es in einem Einladungstext. visualisieren: Stuttgarter Ztg. 4. 9. 1969 begann vor drei Jahren . . . mit synthetischen Experimenten mit Strukturen, formulierte in den beiden letzten Jahren seine Theorien und visualisiert sie vor allem in seinen geometrischen Tuschzeichnungen. Visualisierung: Süddtsch. Ztg. 3. 1. 1970 Die gelungensten Abschnitte sind . . . in denen die Choreographie sich damit begnügt, die Musik wie einen Schnittmusterbogen auszutanzen. O b man als Zuschauer bei dieser Visualisierungsmetamorphose etwas gewinnt, ob man durch das Auge zu einem genaueren Hinhören verführt wird; FAZ 17. 2. 1970 das Unternehmen befaßt sich mit der Visualisierung von Lehr- und Lernstoffen. Visualizer: FAZ 28. 1. 1961 Masius u. Fergusson sucht für sofort einen erstklassigen, agenturerfahrenen Visualizer. Der Bewerber muß in der Lage sein, Werbekonzeptionen für die verschiedensten Artikel selbständig zu entwickeln, kundensichere Layouts zu produzieren.

Visum N . (-s; Visa, Visen), im späteren 18. Jh. in der Form Visa N . und F. (mit PI. Visa und Visen) entlehnt aus frz. visa 'amtlicher Vermerk, Siegel auf einem Dokument, einem Schriftstück (bes. einem Paß) zur Abzeichnung, Beglaubigung' ( < gleichbed. mlat. visa < N. PI. von lat. visum, Part. Perf. von videre 'sehen'), erst seit Anfang 20. Jh. in der (latinisierend rückgebildeten?) heutigen Form; in der Bed. 'Sichtvermerk (Unterschrift, Siegel, Stempel) auf amtlichen Ausweispapieren (bes.

Visum

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Reisepässen), die zum Aufenthalt in einem fremden Land berechtigen; Ein-, Ausreiseerlaubnis', gelegentlich bildlich verwendet, auch in Zss. wie Einreise-, Transit-, Touristenvisum; Visumzwang; visumfrei; Visazwang; visafrei. Dazu seit Anfang 19. Jh. das aus gleichbed. frz. viser entlehnte, bis heute gebuchte Verb visieren V. trans. 'amtlich beglaubigen', speziell 'einen Sichtvermerk (Unterschrift, Siegel, Stempel) in Ausweispapieren (bes. Reisepässen) anbringen' mit dem bis heute vereinzelt belegten Verbalsubst. Visierung F. (-; ohne PI). Visum: Gegenbaur 1901 Erlebtes 71 Pässe, welche nur für die einzelnen Provinzen Geltung hatten und jedesmal eines besonderen „Visums" bedurften; Voss. Ztg. 19. 12. 1929 Bald Visumfreiheit nach Ungarn (Überschr.) In deutsch-ungarischen Verhandlungen über Fragen der Paß- und Fremdenpolizei ist u.a. die Aufhebung des Sichtvermerkzwanges zwischen beiden Ländern . . . in Aussicht genommen worden; Tempo 27. 2. 1930 Visum verweigert (Überschr.); Mitt. Geogr. Ges. Wien 74 (1931) 97 den zwei sog. visumfreien Zügen der Linie Berlin-Königsberg; Voss. Ztg. 26. 8. 1931 Dabei hatte ich damals nur ein Visum für vier Wochen, brauchte also die Bestätigung [des Datums des Grenzübertritts] . . . die ein wenig törichte, weil sinnlose Kriegserbschaft des Paßund Visumzwanges; Berl. Illustr. Nachtausg. 7. 2. 1933 Als Vorbereitung für den Grenzübertritt galt es nun nach damaliger Auffassung für gut, nicht nur ein, sondern mehrere Auslandsvisa zu haben; Lokal-Anz. 15. 8. 1933 Das amerikanische Konsul a t . . . h a t . . . in der letzten Zeit von Deutschen, welche das Einreisevisum für die Vereinigten Staaten beantragten, den strikten Nachweis verlangt, daß diese Deutschen ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland haben; ebd. 23. 11. 1934 daß das Reisebüro keine englischen Visa für Palästina besorgt hatte; Süddtsch. Ztg. 3. 4. 1951 als weltberühmter Illusionist, der alles herbeizuzaubern vermag, nur nicht ein läppisches Stück Papier, Visum genannt; Welt 9. 3. 1954 Noch vor Beginn der Hauptreisezeit . . . wird der Visumzwang für Reisen von der Bundesrepublik nach Österreich aufgehoben werden. Die österreichische Verbindungsstelle in Bonn wies am Dienstag darauf hin, daß der Visumzwang gegenwärtig noch besteht; Süddtsch. Ztg. 27. 4. 1954 Jedes Zeitalter hat seinen Aberglauben. Der Aberglaube unserer Generation scheint sich mit Vorliebe den Formularen, Stempeln und Fragebögen zuzuwenden. Unter diesen wiederum nimmt das Visum seinen besonderen Platz ein, als ein vermeintliches Mittel, um „unerwünschte Ausländer" fernzuhalten; ebd. 29. 4. 1955 Die sowjetischen Behörden werden in Zukunft die visumfreie Einreise von Angehörigen der Staaten gestatten; Welt 4. 9. 1959

Reichert hatte die beiden westdeutschen Sportführer mit der Visaverweigerung amerikanischer Behörden für sowjetzonale Skispringer in Zusammenhang gebracht; ebd. 27. 1. 1964 Zu den Fortschritten sei das Versprechen zu zählen, Ausscheidungskämpfe zwischen weißen und nicht weißen Sportlern in oder außerhalb Südafrikas durchzuführen. Eine Zusage zur Visa-Erteilung liege auch von der südafrikanischen Regierung vor; Offenburger Tagebl. 26. 2. 1969 sondern daß der amerikanische Präsident sich bei seiner Europa-Reise „ein Visum" für neue amerikanisch-sowjetische Entspannungsgespräche holen möchte; FAZ 20. 8. 1971 Auch die Visa und Straßenbenutzungsgebühr auf den Zugangswegen von und nach Berlin soll künftig für den Reisenden entfallen; ebd. 29. 11. 1971 daß in diesen möglicherweise zu errichtenden „Büros der D D R " keine „Visa" zum Besuch Ost-Berlins und der angrenzenden Gebiete ausgestellt werden sollten, sondern lediglich Berechtigungsscheine, auf deren Vorlage man an den Sektorengrenzen die endgültigen Einreisepapiere, von der D D R „Visa" genannt, ausgehändigt bekommen würde; Die Zeit 17. 10. 1980 daß er einer Einladung Lech Walesas, des Vorsitzendeif der neuen freien Gewerkschaften in Polen, nicht hat folgen können, weil die polnischen Behörden das Visum verweigern; ebd. die Schilderungen der Exil-Tibeter, die seit neuestem ein Besuchsvisum bekommen, wenn sie bereit sind, sich als „Auslandschinesen" rubrizieren zu lassen. Visa: Sonnenfels 1769 Polizey II 239 Visa; Schüller 1804 Stuziade II 190 Von nun an wird dir keine Braut Im ganzen Lande mehr getraut Ohn' eines Bonzen — Visa; Immermann 1838 Oberhof 40 Ein Paß ist sie [die Schönheit], auf den der Träger, ohne daß in den Nachtquartieren Visa genommen zu werden brauchen, frei durch alle Welt geht; Stolz 1846- 53 Tagebücher XI 432 Besorgnis wegen des unrichtig geschriebenen Visa; Blanc 1847 Organisation d. Arbeit (Übers.) 28 wenn jede jugendliche Unklugheit ihre Visa erhalten, oder jede Handlung der Liederlichkeit ihren Pass bekommen hat; Holtet 1854 Schneider II 320 Wie kommen Sie . . . zu dieser verdächtigenden Klau-

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sei in Ihrer letzten Visa?; den. 1861—66 Erz. Sehr. XI 283 tragen sie sorge für die nöthigen visen und reisen sie glücklich (DWB). visieren: Schaller 1802 Stuziade I 286 mit wolvisiertem Pass; 1810 Fahnenbergs Magazin I 58 Alle [kaufmännischen] Bücher paraphirt und jährlich einmal visirt werden; Lang 1817 Reise I 23 weil der Meister des Paßschau-Amtes spazieren gegangen und das Federrohr mit sich genommen, worin die Polizei- und Visier-Feder war; Nettelbeck 1821 Leben 255 Pässe visiert; Marr 1846 J. Deutschld. 145 In Baiern herrscht die sonderbare Gewohnheit, daß der Arbeiter auf jedem Amt sein Wanderbuch visiren lassen muß; Riehl 1848 Eisele & B. 45 als ob er auf dem Polizeibureau einem Handwerksburschen das Wanderbuch zu visiren hätte; Stolz 1848 Wanderbüchlein VI 581 meinen Pass visierte; Holtei 1854 Schneider II 313 Dann rüstete er sich zum schwarzen Gange, auf die

städtische Polizei, um sein Wanderbuch visiren zu lassen; Freytag 1855 Soll u. Haben I 460 daß dem . . . sein Paß nach der türkischen Grenze visirt worden; Holtei 1861-66 Erz. Sehr. III 98 ihre reisepässe . . . seit monaten nicht mehr visirt und abgelaufen, hätten streng genommen keine gültigkeit mehr gehabt (DWB); Raabe 1864 Hungerpastor 144 So wäre es uns sehr angenehmlich, wenn Du Dein Wanderbuch so schnell als möglich hierher fisieren lassen wolltest; Rückert vor 1866 (1135) doch muss . . . ich einen pass visiren, sonst kannst du nicht passiren (DWB); Schneider 1898 Paris II 4 „visiert". Visierung: Ritter 1822-55 Erdkunde II 328 ein chinesischer amban . . . residiert hier zur visirung der passe (DWB); Tempo 27. 2. 1930 Der argentinische Konsul verweigerte aber die Visierung der Pässe.

vital Adj., Anfang 19. Jh. (wohl unter Einfluß von weit älteren gleichbed. frz. vital, engl, vital) aufgekommen, zurückgehend auf (m)lat. Vitalis 'zum Leben gehörig; Leben enthaltend; Lebenskraft habend; Leben erhaltend; Leben-', als Subst. PI. vitalia 'für das Leben des (menschlichen) Körpers wichtige, notwendige Körperteile, Organe' (zu lat. vita 'Leben'); l a zunächst meist fachspr. im Bereich von Biologie und Medizin, dann auch in Philosophie, Psychologie und gelegentlich allgemein in der Bed. 'die biologische (physische, vegetative, organische, sexuelle, animalische, triebbestimmte) Lebendigkeit betreffend, begründend, ermöglichend, konstituierend, erhaltend, anzeigend; fundamentale Lebensäußerungen betreffend; lebenskräftig; Lebens-', z. B. in der (gelegentlich bildlich verwendeten) Zs. Vitalkapazität und im Syntagma vitale Kapazität (der Lungen) 'Sauerstoffaufnahmever"mögen der Lungen', Vitalfärbung, -reaktion 'für einen lebendigen Organismus typische Färbung, Reaktion' (Ggss. tot, mortal; unbelebt, anorganisch, intellektuell, geistig-seelisch); dazu seit früherem 20. Jh. die verbale Ableitung vitalisieren V.trans. 'Unbelebtes (Anorganisches, Fiktives, Abstraktes u.ä.) beleben, mit Leben(-skraft), Lebendigkeit, (naturalistisch) mit Wirklichkeit erfüllen' mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Vitalisierung F. (-; ohne PI.) und der subst. Gelegenheitsableitung Vitalisiertheit; b in jüngster Zeit, wohl unter erneutem Rückgriff auf das Lat., vorwiegend fachspr. in Medizin und Biochemie als Bestimmungswort in der Bed. 'lebensnotwendige Nahrungsstoffe betreffend, Nahrungs-' (vgl. —» Viktualien), vor allem in der Zs. Vitalstoff. 2 Seit früherem 19. Jh. häufig im Bereich zwischenstaatlicher politischer Beziehungen, meist als Bestimmungswort (in Zss. wie Vitalinteressen, -Wahrheiten) oder als Attribut (in Syntagmen wie vitale Fragen, Interessen, Bedeutung) in der Bed. 'wichtige, entscheidende, grundsätzliche, essentielle, fundamentale, die Lebensoder Existenzbedingungen eines Individuums / einer Gemeinschaft (speziell eines Staates bzw. dessen Regierung) betreffend, lebenswichtig', von daher allgemein und abgeflacht für 'grundsätzlich, entscheidend, wesentlich, essentiell, fundamental, existentiell' (Ggs. nebensächlich, (nur) äußerlich).

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3 Seit Anfang 20. Jh. , wohl im Sinne einer Weiterentwicklung von 1, häufig positiv konnotiert in der Bed. 'lebensfähig, -tüchtig, -willig, -freudig; gesund; robust', bes. zur Bezeichnung menschlicher Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Handlungen und deren Ergebnissen, gelegentlich auch auf Gegenstände bezogen (Ggs. morbid, dekadent), speziell 'durchsetzungsfähig, energisch; lebhaft, temperamentvoll; lebendig, aktiv' und 'sinnenfroh, dem sinnlichen Lebensgenuß zugewandt', heute häufig als positiv wertendes Modewort ( z . B . in Heiratsanzeigen und Stellengesuchen) verwendet für 'rüstig, jugendlich (wirkend); unternehmungslustig, schwungvoll; energie-, aktivitätsgeladen, dynamisch' und 'genußfreudig, lebenslustig; potent'.

vital l a : 1805 Galls Lehre 4 Anm. Vitalfunktionen; 1809 Hufelands Journal XXIX 2, 2 den animalischen (wohl besser vitalen) Magnetismus; ebd. XXXI4, 105 Die Kenntniß von der Wirkung des vitalen Magnetismus giebt nur einen Aufschwung, wie das Besprechen der Rose wirksam seyn kann, in welchem, nach meinen Ideen, ganz die Manipulation des Calmirens liegt; Puchelt 1826 System d. Med. I 134 Auch muss die indicatio curatoria ausgesetzt werden, wenn ein einzelnes Symptom oder ein Product der Krankheit die Vitalindication begründet, und den Kranken schneller tödten müsste, als man gegen die Krankheit selbst etwas auszurichten hoffen könnte; 1842 Handwb. d. Physiologie I 296 Vitalelektrische Ströme. Diese werden durch theoretische Betrachtungen gewissermaßen gefordert, während sie in der Erfahrung bei dem actuellen Stande der Wissenschaft und der zu Gebote stehenden Hülfemittel nicht nachgewiesen werden konnten; Lotze 1843 (I 167) So haben alle Theile des thierischen Körpers ausser den Eigenschaften, die sie vermöge ihres Stoffs besitzen, noch vitale, d.h. solche mechanische Eigenschaften, die ihnen nur während der Verbindung mit den übrigen Theilen zukommen; Liebig 1852 Studium der Naturwissenschaften 9 Die vitalen Eigenschaften eines Organs; Valentin 1855 Physiologie 223 Vitalcapacität der Lungen; 1864 Illustr. Welt 314 Dieses höchste Maß von Füllung, deren die Lunge fähig ist, hat man mit dem Ausdruck „vitale Capacität" bezeichnet; Haeckel 1866 Generell Morphologie 197 ob sich das von der Materie verschiedene organisirende Princip, welches das „Leben" und den „Organismus" erzeugt und erhält, „Lebenskraft" nennt, oder „Vitalprincip", „organische Kraft" oder „Schöpferkraft", „systematischer Grundcharakter" . . . „Zweckmässiger Bauplan des Organismus", „Schöpfungsgedanke" . . . oder „ideale Ursache", „Endzwecke" oder „zweckthätige Ursache (Endursache, Causa finalis)"; Hermann 1892 Physiologie 127 Der grösste mögli-

che Luftwechsel (die Vitalcapacität . . .) beträgt dagegen über 4/s der gesamten Luftgehalte der Lungen; Ellis 1894 Mann (Übers.) 209 Die „vitale Kapazität", d. h. der Betrag der eingeatmeten Luft . . . am Spirometer gemessen, ist beim Weibe entschieden geringer; 1896 Naturwiss. Wochenschr. 429 Alles dreht sich um die Erhaltung. Was uns dabei nützt, ist gut, ist wahr. Jedes Wesen . . . will seine Systemruhe behaupten . . . will dementsprechend alle Störungen abwehren. Als Störung oder — wie Avenarius sagt — als Vitaldifferenz kann alles Mögliche auftreten: Hunger und Durst, Liebe und Hass, Zweifel und Glaube . . . Die Vitaldifferenzen werden durch Reihen von Vorgängen beseitigt, die Avenarius als Vitalreihen bezeichnet; Henne-am Rhyn 1897 Kulturgesch. VII 409 Alle gesellschaftlichen Handlungen werden durch solche von Individuen bestimmt, und letztere sind „vitale" Handlungen, die mit den Gesetzen des Lebens im Allgemeinen im Einklänge stehen; Mosso 1899 Mensch 226 Die Atemtiefe (Vitalkapazität); Marholm 1903 Psychologie d. Frau II 50 die vitale Energie, die Gesundheit des Blutes, die ihr der Vater vererbt; Esser 1905 Naturwissenschaft 67 „vitaler Energie"; 1907 Dtsch. Revue XXXII1, 315 Das Christentum . . . ist in seinen vitalen Teilen nur ein Viatikum, das aus guten griechischen Ideen zusammengesetzt ist; Haeckel 1913 LW. 151 auch die scheinbar „vitalen" Bewegungen des lebendigen strömenden Plasma auf rein physikalische Kräfte zurück zu führen; ebd. 227 Alle übrigen „Lebenserscheinungen" . . . erklären sich ebenfalls einfach durch physikalische, bezüglich chemische Ursachen auf mechanischem Wege; keine einzige Thatsache spricht für die Annahme „vitaler Kräfte"; ebd. 300 Chemismus der vitalen Bewegung; ebd. 303 Wir können die zahlreichen verschiedenen Bewegungen, die so als vitale im engeren Sinne erscheinen, und die früher besonders als Beweise für die mystische „Lebenskraft" galten, in zwei Gruppen bringen . . . Reizbewegungen . . . Willensbewe-

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gungen; 1918 Deutschland u. Katholizismus II 2 das soziale Prinzip als . . . Gegenstück zum vitalen Prinzip; Lazarus 1922 Ehrlich 27 die Heranziehung der Farbstoffchemie zur Erforschung von Lebensvorgängen . . . daß Ehrlich . . . die Methode der „vitalen Färbung" ausbaute, die völlig anderen Gesetzen als die bis dahin ausschließlich geübten postmortalen Färbungen unterliegt; Lewin 1924 Phantastica 25 Gewöhnungen an Arzneimittel und Gifte, die ich als rein vitale Funktion ansehe; Spranger 1927 Lebensformen 357 wird in der modernen Philosophie . . . noch eine weitere, angeblich ganz selbständige Klasse [von Werten] aufgeführt . . . die sog. vitalen Werte. Seit Nietzsche spielen sie eine erhebliche Rolle . . . Bleibt man dem ursprünglichen Sinn der Bezeichnung ganz nahe, so handelt es sich um diejenigen Werte, die im Erlebnis der leiblichen Gesundheit, Kraft und Reinheit erfahren werden, gegenständlich betrachtet also um Werte, die an der Leiblichkeit haften; Bah 1928 Befreiungsschlacht 121 Es [das ostelbische Junkertum] besitzt sehr starke vitale Kräfte, aber gerade zum Geist steht es in einem erprobtermassen abwehrenden, misstrauischen, wesentlich negativen Verhältnis; Scheler 1929 Weltansch. 30 jenen grundverkehrten sogenannten Dualismus von Leib- und (Vital-)Seele . . . endgültig überwinden. Denn triebbedingt ist ebensowohl jede Empfindung; ehd. 93 die des Bewußtseins fähigen psychischen Vitalfunktionen . . . die der Mensch zum Teil mit den höchsten Wirbeltieren gemeinsam besitzt; ehd. 97 Der Mensch, als Vitalwesen ganz ohne Zweifel eine Sackgasse der Natur, ihr Ende; Ortega y Gasset 1931 Aufstand 24 Der Triumph der Massen und die darauf folgende gewaltige Hebung des vitalen Niveaus; ebd. 58 Niemals in der ganzen Geschichte war der Mensch in eine Umwelt oder vitale Umgebung hineingestellt, welche der heutigen auch nur entfernt glich; Wust 1936 Ungewissheit IV 52 Naturverbundenheit des Tieres, die eben darin besteht, dass das Tier gleichsam untergeht im Vitalstrom der Natur; ebd. 92 Vitalwerte wie Genuss, Besitz, Macht; ebd. 133 Ohne den Bruch mit der immer in etwa vitalegoistischen Haltung, wie sie das Alltagsleben mit sich bringt, ist der Eintritt in die philosophische Erkenntnissituation nicht möglich; ebd. 159 Selbstinteresse, das nichts mit dem niedern Vitalegoismus zu tun hat; Masuhr 1937 Psychologische Gesichtspunkte 25 Der Begriff der vitalen Kraft ist ein biologischer und erst im übertragenen Sinne ein psychologischer. Die vitale Kraft ist eine biologische Urkraft; ebd. 25 eine vital schwache Natur [ist] eine solche „ohne Saft und Kraft", eine Natur, deren körperliche und seelische Kräfte stark begrenzt sind, die sich bald erschöpft, deren

Lebensäusserungen es an Nachdruck und Fülle fehlt; Spetsieris 1938 Formproblem 36 Die Annahme aber des Vitalfaktors „Entelechie" als selbständige seelenartige Wesenheit ist aus mehreren Gründen nicht zulässig; 1949 Synopsis 288 zwischen der „Mitgift", d.h. der Vitalkapazität der Persönlichkeit, ihrem Temperament und ihrer Umwelt entscheidet sich ihr Schicksal; ebd. 418 Die Bedeutung der Vitalsituation für die Produktivität; ebd. angesichts dieser besonderen Vitalempfindlichkeit der künstlerischen Produktivität innerhalb der ins Übermässige gewachsenen modernen Grossstadt; Gebser 1949 Lorca 26 die untere Region [des Menschen], die bloss Vitalsphäre ist; ebd. 42 Und das Mortale ist in einer solchen Lebensstruktur nichts als die unabänderliche und ergänzende Kehrseite des Vitalen; Süddtsch. Ztg. 7. 7. 1951 Was Ortega bis jetzt in der Philosophie geleistet hat, ist eine Kritik der modernen Lebensphilosophie, die er durch die „vitale Vernunft" ersetzen will; Lippmann 1952 Beitr. II 270 Comenius glaubt, dass noch heute „wie bei der Schöpfung" Pflanzen und Tiere aus Erde und Wasser durch Dunst vermöge des Universal- oder Vitalgeistes entstehen; 1952 Soziologie 15 leib-seelischen Vitalfunktionen; Curtius i960 Büchertagebuch 6 im Lebensgefüge und . . . auch im Leseleben, das ja auch ein vitaler Akt ist; 1961 Festg. a. Leschnitzer 431 [im Krieg] kann die Lebensperspektive katastrophal abreissen, und man ist ja noch so jung. Die Vital-Reaktion auf diese Situation ist schon vom Propheten Jesaja . . . beschrieben worden: Lasst uns essen und trinken, denn morgen müssen wir sterben!; 1966 Humanismus 137 „Vitalsituation" der Bürger; 1966 Kultur im Heim o. S. Am vitalsten und wüchsigsten sind die [Alpenveilchen] in Dunkelrot, Leuchtendrot. vitalisieren: Simmel 1921 Brücke 26 diese Schicht der Liebe . . . von der ganzen Lebensdynamik vitalisiert und durchblutet; Borries 1925 Romantik 75 Das romantische Bestreben, alle Dinge und Begriffe zu vitalisieren, zu poetisieren, menschlich zu machen und göttlich zu machen; Keyserling 1926 Welt 66 Alles Lebendige will eben weiterleben. Herrscht ein universalistischer Zeitgeist, so vitalisiert dieser gleichzeitig das Ausschließliche; Süddtsch. Ztg. 15. 11. 1952 Fewa + V vitalisiert. Vitalisieren ist mehr als waschen, — es ist faserbleibende Erholung für die feinen Gewebe und Gewirke. Das regelmäßige Waschbad mit Fewa + V erfrischt die müde gewordenen Fasern rundherum auf und gibt ihnen lebenserhaltende Kraft. Wolliges wird wieder mollig weich, Zartes wieder duftig und schön. Die Fasern werden wieder elastisch, die Farben leuchten frisch; Wachsmuth 1953 Werdegang 16 vitalisierte Atmosphäre.

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Vitalisierung: Borries 1925 Romantik 57 Vitalisie-

rung der kritisch-idealistischen Begriffswelt; Keyserling 1926 Welt 99 ein fortschrittlicher Typus, was allein die Vitalisierung beweist, die alle Lebenskräfte Primitiver . . . erfahren; ebd. 101 Und wo tieferer Sinn, als der bisher bestimmende, der Erscheinung eingebildet wird, da ergibt dies (sofern er wirklichkeitsgemäß und nicht illusorisch ist) Neuvitalisierung; 1932 Handbuch der Spanienkunde 288 Von der Vitalisierung der Architektur war oben die Rede. In der Tat erweist sich die typisch spanische Gotik als Ausdruck eines wirklichkeitsversessenen Volkes, wird beherrscht vom Vitalornament — motivisch, wenn Pflanzen, Tiere, Leiber zum Schmuck verwandt sind, vor allem aber formal, wenn leibliche Rundung und pflanzenhafte Wirkung den Gesamtrhythmus bestimmen; ebd. 205 Vitalisierung. Naturalismen drängen sich vor im Barock; Lützeler 1934 Grundstile 220 Die Vitalisierung der anorganischen Natur ereignet sich . . . in van Goghs Werk, indem das Feld und der feste Berg Gewühl von sinnhaftem Leben sind . . . Die Vitalisierung der Architektur äussert sich als wogende Schwellung der Formen . . . und Angleichung der Gesamtgestalt an pflanzliche Erscheinungen; ebd. 396 Anähnlichung selbst geistiger Vorgänge an Naturdynamik und Vitalisierung sogar des Unorganischen; 1960 Festschr. a. Bulst 281 Vitalisierung der Figuren.

Vitalisiertheit: Keyserling 1926 Welt 101 Denn da das Leben seine Wurzel im Sinn hat, so bedeutet Sinnhaben unmittelbar Vitalisiertheit.

vital lb: Kuske 1956 Köln 109 der ländlichen

Vitalleihe, der praecaria oblata oder muneratoria; Schölling 1957 Religion 38 frühreligiösen Vitalgemeinschaft; Süddtsch. Ztg. 27. 9. 1957 der dritte Internationale Vitalstoff- und Ernährungskonvent . . . gegen die zunehmende chemische Verseuchung unserer Lebensmittel; Passauer Neue Presse 14. 10. 1958 Viele begehen Selbstmord mit Messer und Gabel. Vitalforscher warnen — Zwei Milligramm Arsen in 2 Liter Wein . . . Ausführungen über das Welternährungsproblem und die Zivilisationskrankheiten . . . Auge und Gaumen werden zwar beim Essen befriedigt . . . der Körper aber warte vergeblich auf Vitalstoffe.

vital 2: Koch-Sternfeld 1833 Beyträge III 537

Vitalwahrheiten des nationalen Staats- und Privatrechts; Dtsch. Rundschau 48 (1886) 473 unter den großen und vitalen Fragen, welche das gegenwärtige politische und sociale Leben Englands bewegen; Eckstein 1889 Camilla 167 vitale Interessen des deutschen Reiches; Achelis 1891 Prakt. Theo16 Fremdwörterbuch

241 logie II 99 Wahrheit und Wahrhaftigkeit dürfen den liturg. Formen niemals fehlen; das vitalste Interesse der evangel. Gemeinde ist daran beteiligt; Kraus 1895-97 Br. Beil. Nr. 150 Hat Italien . . . ein vitales Interesse an der Beseitigung der heutigen Lage; Friedens-Warte 6 (1904) 3 Vertrag zwischen Frankreich und Deutschland . . . der die Ehrenfragen und vitalen Fragen ebenso ausschließen kann; ebd. 7 (1905) 7 Mit Belgien . . . ist der [schweizerische] Bundesrat übereingekommen, den Vorbehalt „Vitalinteressen" fallen zu lassen; Wilde 1908 De profundis (Übers.) 15 Ich vertrat etwas Edleres, Bleibenderes [als Byron], etwas von vitalerer Bedeutung, von weiterem Umkreis; Oncken 1914 Aufsätze I 81 vitalen Unterschied; 1916 Schwed. Stimmen 71 Ein russischer Einmarsch in Armenien würde uns ebenso vital berühren; Dtsch. Ztg. 118 (1919) 6 Bürgermeister . . . betonte, daß es sich bei der Errichtung der Einwohnerwehr um das vitale Lebenselement der Einwohnerschaft gehandelt habe; ebd. 146 Dingen, die von vitalster Bedeutung für unser Leben sind; Müller-Freienfels 1923 Psych, d. Kunst II 257 des vitalen Bedürfnisses . . . unnötig zu sagen, daß wir unter Bedürfnis nicht bloss die niederen Bedürfnisse verstehen, sondern daß wir auch die feinsten, sublimsten Regungen, die in Religion, Wissenschaft, Kunst Erfüllung finden, als vitale Bedürfnisse ansehen; Köhler 1926 Staat 114 Bei geschichtlichem Rückblick scheint dieser Vorwurf z. T . sehr weitsichtig. Doch belastet dies Fr. List nicht, da dieser vitale Gegenwartsforderungen vertrat; Voss. Ztg. 21. 1. 1930 Ein schwedisches Kriegsschiff dampfte nach Aaland ab, um die Bevölkerung vor den bolschewistischen Unbilden zu schützen . . . sicher aber auch, um die „vitalen Interessen" zu wahren, die Schweden . . . „aus geographischen und ethnographischen Gründen auf den Inseln zu verteidigen" hatte; ebd. 26. 11. 1930 Die vitalsten geistigen Lebensbedürfnisse des Menschen wirken, unbefriedigt, aufs äußerste bedrückend auf die Lebenskraft ein; ebd. 20. 12. 1930 Das Schiff wurde viermal ziemlich schwer, doch nicht in vitalen Teilen, getroffen; Münch. N. N. 30. 4. 1942 Der Plan für die Evakuierung der Bevölkerung von Havanna habe dringenden und vitalen Charakter. Es sei möglich, daß die Hafenanlagen der Hauptstadt von Kuba jeden Augenblick von U-Booten der Achsenmächte angegriffen würden; Dtsch. AZ. 1. 10. 1944 gegen die vitale Bedrohung des Reiches; Volk. Beob. 28. 1. 1944 Kein anderer Faktor ist von vitalerer Bedeutung für die Großmachtstellung Großbritanniens in der Welt als seine Macht und sein Ansehen im Nahen Osten; Weizsäcker 1950 Erinn. 154 man könne n i c h t . . . England aus der Luft vital helfen; Süddtsch. Ztg. 22. 6. 1962 den Frieden zu wahren,

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ohne unsere vitalen Interessen aufzugeben; Stuttgarter Ztg. 29. 3. 1963 Die USA sind bereit notfalls mit Waffengewalt ihre vitalen Interessen zu verteidigen; Offenburger Tagebl. 16. 2. 1968 Bonn und Paris messen in einem solchen Europakonzept der deutsch-französischen Zusammenarbeit „vitale Bedeutung" bei; ebd. 7. 6. 1971 dem vitalen Interesse der Bundesrepublik an der Zusammengehörigkeit mit Westberlin; Rhein-Nekkar-Ztg. 30. 12. 1980 Die Anregungen müssen so abgefaßt sein, daß sie einen Fortschritt bringen, aber keine der vitalen nationalen Interessen der ab 1. Januar mit Griechenland auf 10 Länder angewachsenen Gemeinschaft verletzen, vital 3: Dietrich 1923 Tröltsch 16 der vitale Grundzug seines Wesens; Strich 1928 Dichtung 169 In Thomas Manns Roman aber ist das Prinzip des Lebens durch das normale Bürgertum repräsentiert. Der Bürger: er ist hier der vitale, so lebenswillige wie lebenssüchtige Mensch; ebd. 173 dass ihm der Bürger der vitale Mensch und also der Repräsentant des Lebens ist; Preuß. Jahrbücher 218 (1929) 400 geistig und körperlich vitalen Mann der Tat; Lokal-Anz. 27. 11. 1934 Ein Werk, dessen stärkste Impulse im prachtvoll vitalen ersten Satz wirksam sind; ebd. 25 Die Willensseite einer Persönlichkeit wird man nicht losgelöst betrachten können von dem, was man die vitale Kraft der Persönlichkeit nennt. Ein vitalkräftiger Mensch ist ein Mensch von grosser Lebenskraft, grosser Lebensfülle, starkem Lebensauf trieb, von körperlicher und seelischer Robustheit; 1938 Geopolitik 521 die vitalste der europäischen Grossmächte; Fechter 1948 Menschen 149 von Paul Cassirers vitaler Bonhommie und behaglicher Breite; Süddtsch. Ztg. 16. 5. 1951 muß zusehen, wie . . . vitale Industrien aus dem eigenen Raum nach Neu-Ulm abwandern; ebd. 11. 6. 1952 die herzhafte, bei ihm sehr vitale Freude am Abseitigen; ebd. 3. 10. 1953 Geschäftsmann . . . 50/178, jünger und auch gut aussehend, schlanke vitale Erscheinung (Anzeige); ebd. 27. 7. 1956 verkörpern . . . eine robuste, vitale Seite des englischen

Nationalcharakters; ebd. April 1957 Angesehener . . . Geschäftsmann . . . Mitte 50 . . . sehr vital und lebensfroh (Anzeige); Dürrenmatt 1958 Versprechen 217 kaum glaublich, dass diese Frau bald sterben musste, so vital, so ungebrochen schien die Kraft, die von ihr ausging; Süddtsch. Ztg. 22. 11. 1958 Selbständiger Kaufmann . . . 48/177, sportlich, schlank, dunkel, sehr vital, gut und jünger aussehend (Anzeige); ebd. 21. 3. 1959 Vitaler Fünfziger, gut aussehender männlicher Typ . . . Sportwagenfahrer (Anzeige); Stuttgarter Ztg. 21. 10. 1959 simplifizierte den Streckmann nicht zum erpresserisch begehrlichen Bösewicht, sondern stelle einen vitalen Kerl voller Kraft und Getriebensein auf die Bühne; Herzfeld 1959 Aufs. 379 diese „merkwürdig erregende und vitale Stadt"; Flake 1960 Abend 321 ein grosser, vitaler, fast stürmischer Mensch; FAZ 21. 4. 1962 Er: 73/ I,77, Akademiker, sportl., vital, unternehmungsfreudig, sehr ansprech. Erscheinung (Anzeige); Offenburger Tagebl. 21. 7. 1962 Pensionär, 70/ 173, vital, geistig rege (Anzeige); FAZ 13. 10. 1962 Hübsche, vitale, vermögende Witwe, Vierzigerin . . . gute Figur, intelligent, vorzügliche Hausfrau und fähig, gewandt zu repräsentieren, dazu humorvoll und sehr sportlich (Anzeige); Offenburger Tagebl. 28. 2. 1963 Mögen Ihnen noch viele Jahre guter Gesundheit und vitaler Schaffenskraft beschieden sein; FAZ 19. 4. 1965 Dame, 64 J . , noch sehr vital, schlank (Anzeige); Bad. Ztg. 15. II. 1966 in denen der Chor Brahms selbst an vitaler Ekstatik übertroffen hat; FAZ 9. 3. 1968 daß dieser vitale Betrüger auch nach der Verbüßung einer längeren Zuchthausstrafe noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen werde; ebd. 9. 8. 1969 Sind Sie f. d. vitalen ab. auch geistigen Inhalte des Lebens aufgeschl. (Anzeige); Offenburger Tagebl. 28. 2. 1970 Wer dann noch Freude am Fahren haben will, muß sich für ein handliches, übersichtliches und vitales Automobil entscheiden; FAZ 26. 3. 1971 Er sei ein ungemein vitaler Mann gewesen, wie „ein Franz Josef Strauß im Talar".

Vitalismus M. (-; ohne Pl.), Mitte 19. Jh. (wohl unter Einfluß von älteren gleichbed. frz. vitalisme und engl, vitalism) aufgekommene Ableitung von —» vital; a zunächst als historische Bezeichnung für eine seit Aristoteles in unterschiedlichen Ausformungen bis ins 20. Jh. auftretende Lehre im biologisch-medizinischen und philosophisch-psychologischen Bereich, derzufolge allem Organischen (Pflanze, Tier, Mensch) auf Grund eines besonderen immateriellen Faktors (Lebensprinzip, Entelechie, élan vital o. ä.) spezifische auf Ganzheitsorganisation gerichtete Gesetzmäßigkeiten zukommen, so daß Organisches und organische Prozesse nicht auf nur Materielles und auf mechanische Prozesse reduziert werden können,

Vitalismus

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gelegentlich bildlich verwendet, vgl. —» Vitalität a; b von daher in neuerer Zeit gelegentlich im weiteren Sinne für 'am Leben, Lebendigen, Vitalen orientierte (triebbestimmte, sensualistische) Haltung, Verhaltens-, Denkweise' und 'Lebensdrang; (biologischer) Lebenstrieb', bes. im politisch-sozialen und im künstlerischen Bereich, vgl. —* Vitalität b; dazu seit Anfang 20. Jh. die subst. Ableitung VitaHst M. (-en; -en) 'Anhänger der Lehre des Vitalismus' mit dem dazugehörigen Adj. vitalistisch. Vitalismus a: Vircbow 1849 Abh. 51 das Recht des Tiers-état der vielen, kleinen Elemente . . . In seiner allgemeinen Auffassung ist dieser Vitalismus keineswegs neu, denn schon die Lehren von van Helmont und Bordeu stützen sich auf die Autonomie der einzelnen, lebenden Theile; 1854 Prutz' Museum 1297 Vitalismus; Virchow (Archiv f . patholog. Anatomie 9 (1856) o. S.) Uber alten und neuen Vitalismus (Oberschr.); Haeckel 1866 Generelle Morphologie 194 Teleologie und Causalität (Vitalismus und Mechanismus) (Überschr.); Windelband 1882 (Präludien II 8) Vitalismus; Hermann 1896 Physiologie 5 Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein galt Vielen eine Lebenserscheinung genügend erklärt, wenn sie als Aeusserung der sogenannten Lebenskraft hingestellt war; so bezeichnete man eine Summe von Gesetzmäßigkeiten, welche nur in lebenden Wesen gültig sein sollten, und gelegentlich mit den Gesetzen der unorganischen Natur in Widerspruch stehen konnten . . . Dieser forschungslähmende Standpunct (Vitalismus) wurde allmählich um so mehr aufgegeben, je mehr es glückte, Lebenserscheinungen als nothwendige und gesetzmässige Folgen aus gegebenen physicalischen und chemischen Bedingungen zu erkennen; Willmann 1897 Gesch. III 889 Johann Müller vertritt die organische Naturansicht und auf seinen "Vitalismus" greifen noch heute die von der mechanischen Ansicht unbefriedigten Forscher zurück; ebd. III 944 Das Bedürfnis, an einem organischen Principe Halt gegen die Konsequenzen des sozialen Atomismus zu suchen, ist wesentlich mitwirkend bei dem Eifer, mit dem man das Volkstum als Komplement des Staates geltend macht und den Nationalstaat als den Damm gegen die sozialistische Hochflut anpreist. Es ist sozusagen ein sozialer Vitalismus, den man damit aufstellt . . . Es ist gut, wenn man sich erinnert, daß die sozialplastischen Kräfte, die den Volkskörper zum Träger haben, vorstaatlich sind, in dem der Staat als Gemeinwesen ein Gemeinleben zur Voraussetzung braucht; ebd. 947 Die organische Ansicht [sozialer Phänomene] . . . ist ein Korrektiv der mechanisch-atomistischen, aber sie zeigt die idealen Prinzipien nur als immanente. Der soziale Vitalismus reicht nicht aus; die Volksseele bedarf

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der Befruchtung von außen; Birt 1900 Dtsch. Wissenschaft 11 Der Vitalismus ist beseitigt, die Vitalität erstaunlich gesteigert; Naturwiss. Wochenschr. 18 (1903) 50 Biologische Begründung des Vitalismus (Teleologische Induktion); Driesch 1905 Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre (Titel); Diederichs 1906 Br. 140 Das naturwissenschaftliche Heft einer geplanten Zeitschrift wird am schwierigsten zu arrangieren sein, der Grundton wird wohl die Betonung des Vitalismus sein, und eine stärkere Betonung des Zusammenhanges mit Philosophie; Haeckel 1913 LW. 53 „physikalischer Vitalismus"; ebd. 54 metaphysische Vitalismus; Stephansky 1923 Wesen 72 Montpellier war es, der den Begriff des Vitalismus geprägt hat. 1921 Südd. Mon'h. XVIII 2, 79 In der Wissenschaft der Biologie sprach sich diese Tendenz [daß das Seelische existiere und ein Reich für sich darstelle] in dem Auftreten des Vitalismus, in der Philosophie in den Ideen, wie sie Bergson vertrat, in der Öffentlichkeit durch eine Neigung zur Mystik aus. Diese Bewegung hat sich immer mehr ausgebreitet; Voss. Ztg. 26. 2. 1928 Mechanismus oder Vitalismus? In der alten Streitfrage ergreift Professor Karl Fries Partei zugunsten einer Anschauung der Organischen, deren Hauptvertreter, Hans Driesch, ihm ein kurzes Geleitwort mitgegeben hat. Das . . . Buch heißt „Pflanze und Tier" . . . Fries legt Wert darauf, nicht mit Schelling und Schopenhauer verwechselt zu werden; deren bedenkliches Verfahren, Vokabeln der menschlichen Sprache zu realen Wirklichkeiten zu erheben, teilt er aber so unbekümmert, als habe es niemals eine Sprachkritik gegeben. „Urwille zum Sein", „kinetisches Bewußtsein", „Primärintelligenz": man sieht: Philosophie von 1800; Gebauer 1932 Kulturgesch. 359 Mit dem Ausgange der Romantik um 1830 herum verlor auch die Naturphilosophie und die Theorie des Vitalismus ihren Einfluß; ebd. 357 Eine auf Haller zurückgehende medizinische Schule erklärte die genannten Eigenschaften der Gewebe und Nerven durch Annahme einer allgemeinen, den Organismen eigenen Lebenskraft. Mit Hilfe dieses „Vitalismus" suchte man überhaupt alle Lebensäußerungen bei Pflanze, Tier und Mensch zu erklären; Spetsieris 1938 Formproblem 36 Beim Vitalismus mit allen seinen Färbun-

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gen ist anzuerkennen, daß er durch seine Bemühungen und Forschungen auf das Unhaltbare der mechanischen Naturauffassung und das „quid proprium" des Lebens hingewiesen hat; Blätter f. dtsch. Philosophie 17 (1943) 400 Während der erste Band, ausgehend von der ganz allgemeinen Grundfrage der Biologie und dem bisherigen Streite zwischen Mechanismus und Vitalismus . . . einen Standpunkt „jenseits von Vitalismus und Mechanismus" zu formulieren, d. h. eine . . . „organismische" Auffassung zu statuieren versuchte, bei der man zunächst einmal gegenüber dem dogmatischen Mechanismus deutlich anerkennt, daß die Organismen ihre besondere Art der Systemgesetzlichkeit haben, die es eben zu erforschen gilt, einerlei, ob sich dann nachher dabei herausstellt, daß sie doch auf Physik und Chemie reduzierbar ist oder nicht; Siemens 1947 Lehen 295 in neuerer Zeit hat der Vitalismus im engeren Sinne mit dem Aufbau einer wissenschaftlichen Biologie erheblich an Boden gewonnen; ebd. 296 kann auch der französische Philosoph Bergson für den Vitalismus in Anspruch genommen werden; nennt er doch ausdrücklich den élan vital das beherrschende Prinzip der Welt; Heisenberg 1947 Wandlungen 82 Der Ausgangspunkt des Vitalismus ist die Feststellung, daß die gesetzmäßigen Zusammenhänge, die für den Lebensvorgang charakteristisch sind, sich grundsätzlich ihrer ganzen Art nach von den physikalisch-chemischen Gesetzen unterscheiden; March 1948 Weg 179 kann aber der Vitalismus nur gegen die Behauptung Einspruch erheben, dass das Leben lediglich eine Angelegenheit der Mechanik sei — das Wort Mechanik im allgemeinen Sinn einer nach streng deterministischen Prinzipien ausgerichteten Physik verstanden; Müller-Armack 1949 Diagnose 169 Wenn der neuzeitliche Materialismus, der Vitalismus, wenn Psychoanalyse und Realismus in der Dichtung nichts anderes als ein von chaotischem Trieb . . . beherrschtes Dasein sehen; Bickel 1956 Kultur 20 Die Anerkennung ganzheitlicher, lebendiger Bewegungsmächte und damit eines spezifisch biologischen Könnens in der Natur; verschieden von dem des Anorganischen . . . ist aber nicht gleichbedeutend mit Vitalismus, und schon gar nicht mit dessen metaphysischen Konsequenzen; Martens 1970/71 Vitalismus und expressionistische Literaturevolution (Titel). Vitalist: Haeckel 1913 LW. 55 Vitalist; Muralt 1927 Aufgabe 10 die sog. Vitalisten, sind der Meinung, die Biologie sei nicht gebunden an die mechanistische Erklärung. Wissenschaft habe einfach die Aufgabe, zu konstatieren, was sei . . . Bergson spricht von einem élan vital, einer Lebensschwungkraft, die letzten Endes alles Leben

trägt; Friedell 1931 Kulturgesch. III 262 [Liebig] welcher . . . dedizierter Vitalist war; Leisegang 1951 Weltanschauung 66 Die Vitalisten sehen dagegen in den organischen Erscheinungen die Äußerungen einer Lebenskraft, einer im Organismus wirkenden Entelechie, d. h. einem in ihm liegenden Zweckprinzip; Bickel 1966 Kultur 21 Vit allsten. vitalistisch: Haeckel 1913 LW. 57 vitalistischen Schriften; Nachrichten d. Giessener Hochschulges. 2 (1919) 56 vitalistisch; Spann 1924 Kategorienlehre 16 Die neuvitalistische Bewegung setzte durch den Botaniker v. Hemstein und den Physiologen G. v. Bunge schon in den 80er Jahren ein, J. Reinke, Hans Driesch und J. v. Uxküll folgten nach; Meinecke 1924 Idee 42 Machen wir uns zunächst noch seine viru-Lehre und die denkwürdige Verbindung von Pessimismus und Idealismus, von mechanistischen und vitalistischen Bestandteilen in ihr klarer; Jerusalem 1925 Soziologie 1 5 So betrachtet es der sogen. Neovitalismus als seine Aufgabe, die Notwendigkeit der vitalistischen Auffassung [Annahme einer selbständigen Lebensenergie] wegen der sonst unerklärlichen Erscheinungen des organischen Lebens nachzuweisen; Calker 1928 Parteien 32 Ich sehe den Sinngehalt des Rechts gegeben in dem Gedanken der Vervollkommnung. Die Vervollkommnung ist das Ziel, dem alles Leben zustrebt, die Entelechie . . . Die vitalistische Auffassung des Rechts gibt uns damit für die Erkenntnis seines Wesens und seines Sinnes Grundlage und Richtung: Die Rechtsnormen wollen . . . eine bestimmte Gestaltung des Gemeinschaftslebens der Menschen herbeiführen, welche dem Sinn des Lebens entspricht; ebd. 18 vitalistische Staats- und Rechtstheorie der Erkenntnis des politischen Lebens zugrunde zu legen; Scheler 1929 Weltansch. 38 ungeheuerliche Panromantik einer schroff vitalistischen Weltlehre der 10000jährige Spannraum unserer sogenannten Weltgeschichte!; Gebauer 1932 Kulturgesch. 320 Die romantische Auffassung der Natur als Gesamtorganismus lebendiger Kräfte hatte . . . die engsten Beziehungen zu den damals herrschenden vitalistischen Theorien der Naturforscher; Archiv G Medizin 27 (1934) 16 Den vitalistischen Dogmen logisch konvergent sind alle diejenigen psychischen Theoreme, die jede wie immer geartete Ableitungsmöglichkeit des Psychischen aus dem Organischen und umgekehrt rundweg ablehnen; Zimmermann 1936 Bildungsaufgabe der Geschichte 10 dass sich die Philosophie [des 19. Jahrhunderts] bemüht hat, durch den Ausbau aller möglichen Psychologien und durch vitalistische Lebensansichten die Geschichtsauffassung rein diesseitig zu begründen;

Vitalität Blätter f. dtsch. Philosophie 17 (1943) 400 die Einführung der vitalistischen „Entelechien"; Leisegang 1951 Weltanschauung 68 So setzte sich die Erkenntnis durch, daß wir das eigentlich Organische weder nach Analogie der mechanisch-physikalischen und chemischen Vorgänge noch „vitalistisch" durch die Ansetzung einer besonderen Lebenskraft oder anderer ihr entsprechenden „Dominanten" oder „Entelechien" deuten dürfen, die alle nur Wörter sind, die sich da einstellen, wo uns die Begriffe noch fehlen, sondern Methoden und Deckmittel brauchen, die aus der eigenartigen Natur der Gegenstände selbst gewonnen sind; 1954 Veritas 289 fühlten, daß durch die vitalistische Patentlösung des Problems der organischen Regulation und Restitution, ja eigentlich aller biologischen Probleme, der Forschung der Weg vertreten wird. Vitalismus b: B. 2. am Mittag 19. 4. 1936 . . . dem System, das Meyerhold als „Vitalismus" bezeichnet, und von dem er behauptet, daß es rein

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auf den seelischen Ausdruck abziele; 1939 Bücherkunde 91 Dieses Schwanken zwischen den Polen eines allerdings etwas überbewußten und intellektuell überreizten „Vitalismus" und einem entsagenden, opfernden, wenn auch etwas formelhaften Christentum ist auch in seinen späteren Werken vorhanden; Süddtsch. Ztg. 19. 10. 1945 Der nationalsozialistische „Vitalismus" dachte freilich, soviel er von „Gemeinschaft" und „Gemeinnutz" redete, nicht an die das „Gesetz" überhöhende Liebe, sondern vor allem an Macht. . . „Cäsarennaturen" . . . vollsaftige Persönlichkeiten . . . mußten sich unbeschwert und frei von den kleinlichen Schranken der nur für die Herde geschaffenen bürgerlichen Gesetze entfalten können; Sedlmayr 1948 Verlust 102 Angriff gegen das Tektonische [in der Architektur] . . . erfolgt . . . vom „Leben" her, vom Leben an sich, das als freischweifender ungehemmter Lebens- und Bewegungsdrang, als „Vitalismus" aufgefasst wird; Wais 1956 Grenzen 117 theatralischen Vitalismus Molieres.

Vitalität F. (-; selten -en), Anfang 19. Jh. (wohl unter Einfluß von älteren, weitgehend gleichbed. engl, vitality und frz. vitalité) eventuell nach Vorbild von lat. vitalitas 'Leben(skraft)' (zu Vitalis, vital) gebildete Ableitung zu —> vital; a im Bereich von Biologie und Medizin, (Lebens-)Philosophie und Psychologie in der Bed. 'Leben, Lebendigkeit, Lebensfähigkeit; charakteristische Merkmale, Eigenschaften, Manifestationen belebter Organismen' (Ggs. Tod, Mortalität, Unbelebtheit, anorganische Beschaffenheit; Intellektualität'), vgl. —» vital la; b von daher seit späterem 19. Jh. allgemein für 'Lebenskraft, -fülle; Robustheit, Kraft, Stärke', speziell 'körperliche Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Rüstigkeit' und '(körperliche, geistige) Aktivität, Energie; Jugendlichkeit; Temperament', auch '(sinnliche) Lebensfreude, -Übermut', bes. zur (modischen) Bezeichnung menschlicher (Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, gelegentlich assoziiert mit Triebhaftigkeit, (nur) animalische Ausgerichtetheit des Menschen (im Unterschied zu Intellektualität, Geistigkeit), auch auf Gruppen von Menschen (Nationen) und gelegentlich auf Gegenstände (Kunstwerke, Städte o. ä.) übertragen (vgl. —» vital 3). Vitalität a: Reil 1803 Rhapsodien 50 Vitalität des Gehirns; Hahnemann 1805 (II 60) Wenn auch alle Bestandteile des menschlichen Körpers in der übrigen Natur anzutreffen sind, so wirken sie doch sämmtlich in dieser organischen Verbindung, bei Vollführung des Lebens und vor übrigen Bestimmungen des Menschen, auf eine so abweichende eigene Weise (für die man bloss den Namen Vitalität hat), dass diese besondre vitale Art von Verhalten der Theile unter sich . . . durchaus nach keinem andern Massstab beurtheilt werden kann; Goethe 1812 Br. (W. XXIII210) als Elemente [durch Verfaulen, Verwesen] den Rest

einer geschwächten Vitalität überwältigen; 1812 Reils Beyträge I 210 die Temperatur-Veränderungen der Vitalität, die nach mechanischen Eindrükken erfolgen. Sinuöse Geschwüre, die mit Absonderung von Jauche . . . und einer chronischen Entzündung verbunden sind, bekommen Eiter und Granulation, und heilen jetzt, nachdem ihre Vitalität durch die Durchschneidung der Gänge rectifiziert ist; ders. 1817 kl. Sehr. 195 Die Gebundenheit der Nerven selbst, das wahre Wesen derselben ist uns ein Geheimniß . . . Weil wir die Differenz nicht kennen, wodurch sich die lebendige thierische Materie von der todten, das erregbare

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Vitalität

Organ von dem unerregbaren unterscheidet. — Der höchste Zustand der Gebundenheit ist derjenige, wo die Vitalität das Beharrliche gänzlich verläßt, der im Gehirn im Schlagfluß, in den Fingern in demjenigen Zustande statt findet, den wir Abgestorbenheit nennen; Bichat 1823 Anatomie (Übers.) III 295 Von diesen Papillen geht die meiste Vitalität der Haut aus: hier sitzt der Gefühlssinn; Görres 1836-42 Mystik II 450 So hat dreifache Vitalität einen dreifach gegliederten Organism sich zugebildet; und wie die erste und höchste dieser Vitalitäten der tiefsten und untersten als ihrem Gegenbild entspricht, so die cerebrale Mitte der Herzmitte; Schleiden 1842 Bot. I 109 aus dem Zusammentreffen der Vitalitätsäusserungen der einzelnen Zellen; 1867 Beitr. z. Statistik d. Kgs. Bayerns H. 17 Mortalität und Vitalität (Überschr.); Huber 1908 Studien um Rosenheim I 54 Die Vitalität der Geborenen (Lebend- und Totgeborene); Spann 1914 System 46 Hunger, Durst, Wärme, Kälte . . . das sind jene sinnlichen Empfindungen, die in der Psychologie den Namen „System der Vitalität" führen; Bock 1920 Tagebücher 32 Fortdauer der Seele . . . Der letzte Grund der Vitalität beruht auf elektrischen Vorgängen im Körper; Haushofer 1937 Weltmeere 124 Zellengemeinschaften von höchster Vitalität; Leisegang 1951 Weltanschauung 70 Der Mensch ist zunächst wie das Tier ein reines Naturwesen eigener Art. Für ein solches ist der höchste Wert das Leben selbst, und alles, was der Erhaltung, der Steigerung und Fortpflanzung des blossen natürlichen Lebens in seiner Vitalität dient, wird . . . durch nicht in der Natur selbst liegende Kräfte vollzogen; Jordan 1956 Aufstand 153 Nihilismus, der nur die nackte Vitalität, den biologischen Lebensdrang als Daseinsinhalt kennt. Vitalität b: Stieler 1867 Fremde 81 Die Vitalität [von Paris] ist dadurch gesteigert, das Tempo, in dem man lebt, ist rascher; Nordau um 1880 K. II 55 in Elephanten-, Büffel- und Tigerjagden, in Kämpfen mit Menschenfressern, in wildem Buschleben und Entbehrungen aller Art überschüssige Energie und Vitalität seines Athletenleibes loszuwerden; ders. 1883 Lügen 56 er setzt allerdings einen äußerst kräftigen Willen voraus, der selbst nur die Kundgebungen einer ebenso kräftigen Vitalität sein kann; ders. 1885 Paradoxe 49 Millionär an Vitalität; Hansson 1897Jugend 25 Jugendvitalität; Peters 1904 England 185 von der übersprudelnden Vitalität; Werner 1908 Heir'ann. 271 Welch ein Gemisch von Vitalität und Sensibilitätl;Jahrb. f . psychoanalyt. Forschungen 2 (1910) 15 Der erwachsene Mann mit seiner energischen Vitalität steht in der Mitte zwischen Kindheit und Tod; Joel 1915 Weltkultur 69 Die ungeheure

„Vitalität" dieses [des deutschen] Volkes; 1916 Schwed. Stimmen 163 Vitalität und . . . Ideenreichtum, der z. B. Deutschlands szenische Kunst auszeichnet; Brentano 1917 Elsässer Erinn. 138 daß die Wiedergewinnung Elsass-Lothringens für Frankreich nicht bloss eine Gefühlssache, sondern eine Frage der „Kraft und Vitalität" sei; Spann 1923 Fundament 40 Es ist die blosse Vitalität, die Befriedigung ungeistiger Lebensbedürfnisse, welche sich häufig mehr in den Vordergrund drängen, als der Würde . . . des menschlichen Lebens entspricht; Jäger 1923 Reden 70 trotz der ungeheuren Vitalität der in ihr wirksamen zivilisatorischen Kräfte; Bahr 1925 Liebe 1210 eine masslose, nicht zu bändigende Vitalität . . . die . . . in Geistigkeit exzediert; Lebenskraft statt sich unmittelbar am Leben, sich ins Leben auszuschäumen; Franger 1925 Humor. Vorm. X Dies kinderhaft unbändige und plötzliche Gelächter, das ohne Sinn und Deutbarkeit sich über bare Nichtigkeiten hemmungslos entladet — rein körperlicher Ausbruch überschüssiger Vitalität — herrscht in dem Volkshumor der Kasperspiele; Spranger 1927 Lebensformen 213 Vitalität, Daseinsenergie; Cudell 1927 Buch vom Tabak 138 trotz der wilden Vitalität und glühenden Lebhaftigkeit; Thiess 1927 Gesicht 241 aber aus der Massigkeit seines ehemaligen Rumpfes hätte sich mit Verwendung seiner vertikalen Tendenzen ein Gottespalast von strahlender Vitalität gebildet, dessen Pathos mit derselben Inbrunst zu Gott riefe wie die . . . Türmchen des gotischen Münsters; Bab 1928 Befreiungsschlacht 33 Um ohne oder gegen die Zeit zu schaffen, muss man eine naiv robuste oder sittlich heroische Vitalität seltenen Grades haben; Niekisch 1929 Gedanken 53 einer starken nationalen Vitalität, die sich gegen eine anstürmende Umwelt in ihrer Besonderheit erhalten will; Voss. Ztg. 21. 7. 1929 Voll Vitalität aber sind ihre [einer Autorin] Menschen, alle hundertprozentig in ihrem Temperament, ihrem raschen, unbedachten Griff nach dem Leben, das jeder in jedem Augenblick für sich ganz beansprucht; ebd. 4. 10. 1929 Die ungeheure Vitalität dieser Stadt, die Intensität ihrer Arbeit; ebd. 1. 12. 1929 daß man namentlich in England den Aufschwung des deutschen Außenhandels mit großem Interesse verfolgt und für einen Beweis zunehmender Prosperität und Vitalität hält; ebd. 28. 9. 1930 ein Fonds von aktivierbarer Uber-Vitalität, von gefeiter, magischer Wucht, der nichts widerstehen kann; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 407 schien das Zeitalter von höchster Vitalität. Doch war dieser robuste Drang zur Realität in Wahrheit eine Krankheitserscheinung; Beri. IIlustr. Nachtausg. 28. 8. 1931 Nicht bloß Ruhelosigkeit einer überschäumenden Vitalität, sondern die Hast einer inneren Erregung, die sich

Vitalität nicht bezwingen ließ; Lokal-Anz. 26. 10. 1934 Herrlich ist sie, wenn sie auf die Bühne springt, voll Kraft und Vitalität, den Körper gelockert, die Muskeln gestrafft, lebendiges Bild der Tanzfreude; 1942 Gedicht u. Gedanke 83 Diese Liebe ist nicht nur ein Reiz, der nie versagt und veraltet; nicht nur eine Vitalität und Aktivität, die jeder Not obsiegt; Korrodi 1942 (Barbey, Morgengrauen Vorw. 6) die bezaubernde Vitalität und Sinnenhaftigkeit dieses Romans; Guggenheim 1949 Wir 117 um die Vitalität und die Schlagkraft seines Fussvolkes besorgt; Gebser 1949 Lorca 45 Und eine seiner bekanntesten „Zigeuner-Romanzen" schildert eine nächtliche Szene, eine Liebesnacht, mit der unbekümmerten Vitalität und Sensualität, die ihm und seiner Zigeunerart entsprachen; NZ. (Basel) 19. 12. 1949 setzte sich mit aller Vitalität für die Einführung der Erzeugnisse der Delmenhorster Linoleumfabriken ein; Westermayr 1950 Verstehen 34 den Machtmenschen mit seiner starken Vitalität und seinem Herrscherwillen; Süddtsch. Ztg. 7. 9. 1950 Es ist die seltene Mischung von gesunder Vitalität und sublimer Zartheit; ebd. 20. 11. 1950 Gegen Dr. Müller tritt die Germanistin Rosl Hillebrand mit der Vitalität einer Dreißigjährigen für die SPD in die Schranken; Neue Ztg. 24. 11. 1950 Ein wahres Stahlbad war jedoch, zumal nach der Empfindsamkeit eines von Kempff zugegebenen Lisztschen Salonstückes, die Vitalität und Klangmagie von Egks AbraxasSuite; Helwig 1951 Knabenfährte 27 die unüberwindbare Vitalität der Grossstädte; Süddtsch. Ztg. 13. 2. 1951 es ist eine Freude zu sehen, wie die bei Tisch regenerierte Kraft sich allenthalben in Tätigkeit und Energie verwandelt: eine hohe Schule der Vitalität; ebd. 4. 5. 1951 Klarheit des Ausdrucks, ein männlicher Stil, eine Hindemith eigentümliche Vitalität und Wärme charakterisieren auch dieses neue Werk; ebd. 19. 5. 1951 Die mit überwältigender bajuwarischer Vitalität aufstampfenden „Georgica" eröffneten . . . das . . . Festkonzert; Münch. Stadtanz. 5. 9. 1952 Nach jedem Rückschlag war es immer wieder die Vitalität und der unzerbrechliche Aufbauwille der Gemeinden, die die Welt in Erstaunen setzten; 1954 Begegnungen 86 Das gesunde und belebende Klima, die Vitalität und Aktivität der Berliner Bevölkerung; Hartmann 1954 Begegnung 205 Seine Vitalität führte ihn zu Liebesaffären; Bad. Ztg. 22. 6. 1957 die von Rhythmus und Vitalität überquellende NegerJazzsängerin; Ritter 1958 Vergangenheit 40 von Nietzsche bis Bergson, Pareto und Sorel findet man die Verherrlichung der starken Vitalität an Stelle der überlegenen Geistigkeit, der Verachtung der „feigen Intelligenz", alles bloß Rationalen im Vergleich . . . mit dem allgemeinen „Lebensschwung" (élan vital); ebd. 51 Die Kehrseite der

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enormen, bis heute offenbar unverwüstlichen Vitalität des deutschen Volkes ist seine auffallende politische Ungeduld; Süddtsch. Ztg. 9. 8. 1958 Geistige Vitalität und kritische Angriffslust; Stuttgarter Ztg. 6. 2. 1959 Vitalität wurde durch hohe Eleganz ersetzt, die Spannung gerann zu kostbar gepflegten Stilleben einzelner Wirkungen; ebd. 26. 2. 1959 Für die Darstellung einer nicht mehr ganz jungen, aber noch sehr anspruchsvollen Frau bringt Käthe Gold wohl unruhige Nervosität, doch nicht jene erotische Vitalität mit, die hier von Tschechow deutlich verlangt wird; ebd. 2. 9. 1959 Vitalität (Uberschr.) . . . eine Ausstellung „Vitalität in der Kunst" . . . Der Titel der Ausstellung hat freilich etwas Überraschendes. Nicht daß die Vitalität als Begriff erst enträtselt werden müßte; sie hat als solcher weit eher durch allerlei Affektationen, Pervertierungen und Bestialisierungen einiges von ihrem Glanz eingebüßt. Ohne daß man deshalb der Blutleere, der Schwächlichkeit oder irgendeiner Art von Intellektualistik den Vorzug geben müßte, weiß man doch nachgerade, daß es mit Muskelkraft und Naturburschenhaftigkeit auch nicht getan ist, sondern daß in unserer ebenso verwickelten wie auf Schienen gelegten Zeit schon eine etwas reicher instrumentierte Lebenskraft als die bloße Vitalität nötig ist, wenn Kunst entstehen soll . . . wirkliche Lebenskraft, als ein Vermögen, sich auf den inneren Klang des Lebens einzustimmen und diesen ins Bildnerische zu übersetzen; FAZ 24. 10. 1959 Höherer Beamter, aktiver Sportler v. großer Vitalität, m. sehr guter Figur (Anzeige); Offenburger Tagebl. 14. 4. 1960 Die Vitalität einer Partei hängt von dem Gleichgewicht zwischen der sauber gebliebenen Uberzeugung der Anhänger und der Ambition der Politiker ab; FAZ 25. 1. 1961 Als der 73jährige Ministerpräsident Dr. Erhard neulich während der Verlesung seiner Regierungserklärung nach zwei Stunden gefragt wurde, ob er unterbrechen wolle, winkte er ab . . . Die Zeugen sprechen von erstaunlicher Vitalität des Regierungschefs; Offenburger Tagebl. 21. 6. 1961 Der Präsident und seine Berater waren zutiefst von der geistigen und wirtschaftlichen Vitalität Europas beeindruckt und vom Verteidigungswillen von Menschen, die seit Jahrhunderten in Reichweite fremder Waffen und Armeen leben; Becker 1962 Quantität 251 Eine der großen Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft liegt in der Gefahr des Vitalitätsschwundes; FAZ 13. 4. 1963 Höherer Beamter [sucht] bei aller Selbständigkeit und Vitalität Liebe und Geborgenheit; Stuttgarter Ztg. 7. 12. 1963 Vitalitätsverlust unserer Jugend bestürzend. Der Notstand im Schulsport nimmt bedenkliche Formen an (Uberschr.); FAZ 7. 12. 1963 Alles für den Schulsport . . . Niemand möge vergessen, daß es ohne Vitalität

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Vitamin

keine Zukunft gibt, ohne jene Lebenskraft, die der Mensch nun einmal zu einem kraftvollen, aktiven Leben braucht; ebd. 30. 9. 1967 Eine kluge, dennoch gefühlsbetonte Frau sucht Sie zur Ehe: den Mann von hoher Bildung, mit Vitalität und Herzlichkeit (Anzeige); Offenburger Tagebl. 28. 3. 1966 Geistig wie körperlich besitzt der Jubilar

eine Vitalität, die, seinem Alter entsprechend, ganz außergewöhnlich ist; Stuttgarter Ztg. 21. 4. 1969 Was diesem mit so großer Liebe komponierten und . . . mit einer fein geschliffenen Sprache versehenen Werk fehlt, ist die Vitalität, die innere Logik; Sport 6. 3. 1972 von einer berstenden komödiantischen Vitalität.

Vitamin N. (-s; -e), im frühen 20. Jh. übernommen aus gleichbed. engl. vitamin(e), um 1911 gebildet von dem in Amerika lebenden deutschen Chemiker Funk (zurückgehend auf lat. vita 'Leben' und Amin als Bezeichnung einer organischen Verbindung, die eine NH 2 -Gruppe enthält, zurückgehend auf lat. sal Ammoniacum, Bezeichnung für ein in der Ammonsoase gefundenes Salz, zu Ammon, Name einer ägyptischen Gottheit); häufig pl. verwendete Bezeichnung für einen Stoff aus einer Reihe von für das Funktionieren des menschlichen Stoffwechsels in kleinen Mengen unerläßlichen, daher für den Menschen lebensnotwendigen, sog. essentiellen, ursprünglich insgesamt für Amine gehaltenen organischen Verbindungen, die dem Organismus als exogene Wirkstoffe durch die Nahrung zugeführt werden müssen, da sie von diesem nicht selbst synthetisiert werden können; in jüngster Zeit gelegentlich (scherzhaft) bildlich verwendet; häufig in (z. T. auch bildlich verwendeten) Zss. wie Vitaminmangel(-krankheit), -stoß, -präparat, -haushalt und in Syntagmen wie Vitamin A, Vitamin C, Vitamin B2; dazu gleichzeitig die adj. Ableitungen vitaminhaltig 'Vitamine enthaltend', (auch bildlich verwendetes) vitaminreich 'viele Vitamine enthaltend', (fachspr.) vitaminotisch 'viele Vitamine enthaltend, zuführend' (Ggs. avitaminotisch) und in jüngster Zeit (auch bildlich verwendetes) vitaminarm 'wenig Vitamine enthaltend'; in neuerer Zeit das Verbaladj. vitaminisiert 'mit Vitaminen angereichert', auf Lebensmittel bezogen, mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Vitaminisierung F. (-; ohne PL), in jüngster Zeit dafür auch gebucht Vitaminierung F. (-; ohne PI.) mit dem dazugehörigen V. trans. vitamin(is)ieren. Vitamin: Süddtsch. Mon'hefte 14,1 (1919-20) 43 Die schnelle Heilung infolge Darreichung von frischer Milch und frischen Fruchtsäften und Gemüsen zeigte, daß durch die lange Sterilisierung der Milch „lebende" Stoffe, die sogenannten „Vitamine" vernichtet, sozusagen getötet wurden, unbekannte Stoffe, welche offenbar für die Gesundheit der Säuglinge unentbehrlich sind; ebd. 18 1, 180 Vitaminen . . . für Wachstum und Gedeihen des Körpers eine so ausschlaggebende Rolle; Archiv G. Medizin 19 (1927) 82 Entdeckung der Vitamine; 1928 Therapeut. Ber. 96 Die Lehre von den Vitaminen ist kaum 14 Jahre alt; Voss. Ztg. Ii. 9. 1929 Bis vor wenigen Jahren hat man von Vitaminen nichts gewußt. Seitdem die medizinische Forschung gezeigt hat, daß in unserer Nahrung Stoffe vorkommen, die, wenn auch nur in ganz geringen Mengen, unentbehrlich sind, neh-

men die Vitamine in der öffentlichen Erörterung einen breiten Raum ein; ebd. 27. 2. 1930 Vitamin A.: Es verhütet eine tödliche Augenerkrankung der Ratte, kommt im Lebertran, in den meisten grünen Gemüsen . . . vor; ebd. 3. 6. 1931 Gemüse . . . der wichtige Träger von Vitaminen und Mineralien; Lokal-Anz. 24. 2. 1933 Der Vitamingehalt des Obstes; ebd. 3. 3. 1933 Der Steckbrief des Vitamins (Oberschr.) . . . Meldung von der Entdeckung des Göttinger Chemikers Dr. Micheel, dem es gelungen ist, die chemische Struktur des Vitamins C aufzuklären, hat die Aufmerksamkeit erneut auf diese seltsamen „Lebensstoffe" gelenkt. Sie werden vorwiegend mit der Pflanzennahrung genossen, sind also in gewissem Sinne nur „Zusatzstoffe", aber für die Erhaltung unserer Gesundheit, mehr noch — unseres Lebens (daher „Vitamine") unentbehrlich; 1936 Erfolg 229 daß

Vitamin die Wissenschaft festgestellt hat, daß durch das lange Kochen die Vitamine zerstört [werden]; Münch. N. N. 9. 1. 1939 wo bereits eine regelrechte Vitaminmangelkrankheit besteht; ebd. 30. 3. 1939 Außerdem fehlt dieser künstlich erfrischten Luft das, was man fast als „Vitamine der Atmung" bezeichnen kann: feinste, meist unsichtbare Teilchen verschiedenster chemischer Zusammensetzung, sog. „Aerosole". Sie scheinen wichtig für die Wirkung des Klimas auf die Atemwege zu sein; ebd. 19. 11. 1939 Wir haben auch große Aufträge erhalten zur Herstellung der neuen Vitamin-Wurst, die insbesondere für die Verpflegung der Truppen an der vorderen Front bestimmt sind, da sie, wie schon ihr Name es ausdrückt, durch ihre Zusammensetzung sehr vitaminhaltig und auch haltbar ist; ebd. 5. 3. 1940 der berühmte Vorkämpfer der Vitaminforschung; ebd. 28. 4. 1942 Mittel, die zur Ergänzung der menschlichen Ernährung dienen können (. . . Stärkungs- und Kräftigungsmittel sowie . . . Vitaminpräparate und Mittel mit Vitaminzusatz); Tagespost 12. 3. 1944 „Vitamultin" — viele Vitamine (Überschr.) daß sich durch die Vitaminaktionen die Anfälligkeit für Erkältungskrankheiten und Infektionen bedeutend verringert hat . . . Bis in das neue Jahr hinein ist der Vitaminbedarf des Körpers aus dem im Frühjahr und Sommer vorher genossenen Gemüse und Obst gedeckt; Münch N. N. 12. 4. 1944 Der tägliche Mindestbedarf an Vitamin A; M.-A. Abendztg. 22. 2. 1945 Vitaminanreicherung der Margarine; Rhein. Merkur 5. 3. 1949 Dem Chemiker Funk gelang es nun im Jahre 1911 aus dem Silberhäutchen des Reiskernes den Stoff zu isolieren, den er als Vitamin bezeichnete. Damit war einer Reihe von Stoffen der Name gegeben . . . Obstnahrung, eine der reichsten CVitamin-Quellen . . . der Vitamin-C-Gehalt von Kartoffeln und Gemüse; NZ. (Basel) 9. 2. 1950 Die Vitaminkur des Marshall-Planes hat Europa sichtlich gut getan; Süddtsch. Ztg. 3. 10. 1952 der bekannte amerikanische Ernährungsreformer, der tolerante Vitaminspezialist und Rohkostpropagandist; ebd. 7. 10. 1954 Die Ärzte empfehlen als wirksames Vorbeugungsmittel einen „Vitaminstoß": den Saft von fünf Zitronen mit zwei Teelöffeln Zucker verrühren und in einem Zuge hinuntertrinken; ebd. 22. 6. 1962 Mit ganzen Früchten und reinem Kristallzucker vitaminschonend zubereitet; Offenburger Tagebl. 11. 3. 1968 Die goldenen Vitamine der Liebe im Sanatorium der Madame Feh. vitaminarm: Süddtsch. Ztg. 15. 4. 1953 Die Sprache [eines Theaterstücks] ist knapp und selten

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sentimental, aber andererseits auch zu vitaminarm, nivelliert und ungeprägt. vitaminhaltig: Lokal-Anz. 13. 3. 1933 jeden Wunsch der Hausfrau, wie zum Beispiel den nach frisch vom Felde gepflücktem, nicht eingelagertem, weil vitaminhaltigerem Wirsingkohl; Stuttgarter Ztg. 31. 3. 1959 der Angeklagte habe seine Kunden irregeführt, indem er roten Johannisbeersaft mit einem Etikett versehen hatte, auf dem in Goldbuchstaben stand „vitaminhaltig". Während der Saft in Wirklichkeit nicht mehr Vitamin C enthalten habe als andere Obstsäfte. vitaminisiert: Hakenkreuzbanner 19. 2. 1941 Seit Mitte Januar wird überall in Deutschland sogenannte vitaminisierte Margarine an die Verbraucher abgegeben, Margarine, die durch ein besonderes Verfahren mit Vitaminen angereichert ist; Münch. N. N. 8. 9. 1942 eine Verordnung über vitaminisierte Lebensmittel . . . Lebensmittel, deren Vitamingehalt ganz oder teilweise auf einem Zusatz von natürlichen oder synthetischen Vitaminen . . . beruht; ebd. 12. 4. 1944 Kartoffeln und vitaminisierte Vitamine . . . Die Margarine wird für alle Verbraucher mit Vitamin A angereichert; Süddtsch. Ztg. 25. 2. 1954 Bisher war man nur in der Schweiz bemüht, vitaminisierte Schokolade herzustellen, es gelang dort, zwei Vitamine zuzusetzen; ebd. 30. 3. 1954 Eine vitaminisierte Zigarette brachte eine Firma in der Schweiz auf den Markt. Der Vitamingehalt soll Schädigungen durch Nikotin entgegenwirken. Vitaminisierung: Die Ernährung 4 (1939) H. 11 Vitaminisierung von Nahrungsmitteln (Überschr.); Stuttgarter Ztg. 27. 1. 1962 Vitaminisierung des Mehls gefordert. (a)vitaminotisch: Engel 1938 Über die Dispositionsrate des Benzpyrenkarzinoms bei avitaminotisch, hypervitaminotisch und normal ernährten Versuchstieren (Titel). vitaminreich: Der Westen (Berlin) 1934 Nr. 352 Auf jeden Fall sollten wir etwas für diese deutsche Gewürzpflanze und ihre Anbaubezirke tun, die gesunde, C-vitaminreiche Zutat [Meerrettich] verlohnt es; Süddtsch. Ztg. 14. 4. 1950 daß das Roggen- und Weizenbrot das „wichtigste und billigste, vitaminreiche und bekömmliche Volksnahrungsmittel" ist; de Boor 1963 Tagebuchblätter 180 dankt für meine „vitaminreichen" Briefe.

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Vitrine — Vivat

Vitrine F. (-; -n), im späten 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. vitrine (unter Einwirkung von (m)lat. vitrum 'Glas' aufgekommene Analogiebildung nach verrine 'Glas(schau-)kasten, -schrank', zu verre 'Glas' < gleichbed. vitrum, zurückgehend auf (m)lat. vitrinus 'gläsern', zu vitrum); in der Bed. 'verglaster Schaukasten' zur Bezeichnung eines schrankähnlichen Möbels oder Einrichtungsgegenstandes zur Aufbewahrung und Ausstellung von (Museums-)Exponaten und (wertvollen) Verkaufsgegenständen wie Gläsern, Schmuck, empfindlichen Lebensmitteln (Schmuck-, Kühl-, Verkaufsvitrine), heute auch eines demselben Zweck dienenden Glasschaukastens mit festem Fundament, z . B . vor dem Eingang von Kaufhäusern und Geschäften, aber auch in Museen. Röse 1884 Revanche 158 Vitrinen voll närrischer Raritäten, die beim Tod des Besitzers versteigert [werden]; Kellermann 1925 Schellenberg 16 In der Damenabteilung wurden die Vitrinen abgestaubt; Lokal-Anz. 28. 1. 1933 vor den Schmuckvitrinen, hinter deren blitzenden Scheiben ganze Etageren silberner, smaragdener, goldener Kostbarkeiten leuchten; ebd. 18. 8. 1934 Stand man wirklich hier in einem kirchenstillen Zimmer von Vitrinen und Schränken?; Berl. Morgenpost 29. 10. 1934 sieht einige Holzkästen mit Glasdeckeln herumstehen, flache Vitrinen . . . daneben; Frankf. Ztg. 28. 11. 1935 Was hier in Vitrinen liegt und strengem Tageslicht ausgesetzt ist, war noch unendlich viel schöner und würdiger in dem Milieu, zu dem es paßte; Gürt 1942 Rosen 12 in der Vitrine stand zwischen Kleinkram und Vielerlei eine kleine Tänzerin aus weißem Porzellan; Hülsen 1947 Zwillings-Seele II 199 [neben dem Schanktisch] eine Vitrine, in der . . . Eier, Käse, Schinken und die unvermeidliche Salami standen; NZ. (Basel)

30.131. 3. 1950 Zu vermieten Vitrine an [sie!] günstiger Lage in der Innenstadt (Anzeige); Simpson 1951 Enkel 41 Mahagonivitrine, in deren . . . Fächern zwischen Altberliner und Meissener Tassen; Süddtsch. Ztg. 26. 9. 1954 Die Aussteller der Kälteindustrie hatten bei Kühlvitrinen die größte Nachfrage zu verzeichnen; Offenburger Tagebl. 31. 12. 1958 Einbruchsdiebstähle in . . . Geschäftshäusern und Lebensmittelgeschäften, Ausstellungskojen und Vitrinen; Münch. Stadtanz. 10. 4. 1959 Deshalb verwandelt man die Läden in Glasgehäuse, verbindet die Schaufenster zu Bändern ohne Fensterstöcke . . . löst sie in Vitrinenpassagen auf, in die der Beschauer sozusagen hineingerät und dann schon halb im Laden drin ist; Stuttgarter Ztg. 3. 3. 1960 Vitrinenplünderung bei Nacht und Regen (Uberschr.); Mannh. Morgen 18. 12. 1981 Beil. Eckvitrine Eiche rustikal . . . Wand-Hängevitrine . . . Uhrenvitrine (Anzeige).

Vivat, Anfang 17. Jh. aufgekommen, (eventuell über gleichbed. frz. vivat) zurückgehend auf lat. vivat, 3. Pers. Sing. Konj. Präs. 'er möge (wohl) leben' (zu vivere 'am Leben sein/bleiben; wohl, vergnügt leben, das Leben genießen; leben, fortdauern, nicht untergehen'); in Verbindung mit sing, verwendeten (lat.) Namen oder Titeln im Sinne des Prädikats eines Wunschausrufesatzes oder absolut im Sinne eines Wunschausrufesatzes für 'Er/Sie/Es ( z . B . der König) soll, möge (wohl, hoch) leben!', seit späterem 17. Jh. gelegentlich (in Verbindung mit pl. verwendeten Namen oder Titeln) die entsprechende PI.-Form Vivant! 'Sie mögen (wohl, hoch) leben!'; seit spätem 17. Jh. als Subst. Vivat N . , seit früherem 18. Jh. mit Gen. -s, PI. -s (mit Angabe der gefeierten Person im Akk. mit der Präp. auf oder im Dativ), für 'der Ruf: Vivat!' und von daher allgemein in der Bed. 'Hoch-, Jubel-, Freuden-, Preisruf; Freuden-, Jubelschrei; Jauchzen', zunächst bes. auf hochgestellte Persönlichkeiten (fürstlichen Ranges), dann unabhängig von Stand oder Amtswürden auf beliebige Personen bezogen, die im Mittelpunkt von Feiern, Festen stehen, in Lobreden, Trinksprüchen und Segenswünschen, schließlich auch auf Gegenstände wie das Vaterland (z. B. in einem Schlachtruf) oder auf die Kunst bezogen; häufig in

Vivat

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Zss. wie Vivathoch, -ruf, -geschrei und in Verbalsyntagmen wie Vivat schreien, rufen; ein Vivat bringen. Daneben seit frühem 16. Jh. aus dem Ital. übernommenes, veraltetes Viva gleicher Bed. und Verwendung. Vivat: Carolus 1609 Relation 51' auff dieses haben die Stende 3. mahl mit lauter Stimm geruffen / Vivat Palatinus; 1619 (Weller, Lieder 54) Und weil man so auff Gott thet hoffen, ward Vivat, Vivat Rex geruffen; Martin 1628 Coli. 217 Vivat der Keyser / ich bin gut Keyserisch; Francisci 1663 Lustige Schau-Bühne I 350 Erwehnten Hertzog begleitete eine grosse Menge Edelleute / und schrie ihm alles Volck Vivat zu; Heideman 1664 Architectura militaris III 26 nach standhaffter ausstaurung der belägerung vnd erhaltung der Vestung, menniglich jhne zuloben; vnd Vivat Vivat zuezurueffen vrsach haben möge; Dürer 1668 Lauf d. Welt 375 die mich vorhin einen Beschützer der Gerechtigkeit einen Vater des Vaterlandes, einen vom Himmel geschenckten König begrüsset und mir das vivat! mit vollem Halse und biß sie heischer wurden hatten zugeruffen; Birken 1669 B. Ulysses 214 nach deren [einer Rede] Endung / ein grosser Haufe Volks / deren etliche tausend das ganze Feld umher bedeckten /mit gesamter Stimme Vivat Christian Ernst! geruffen; 1677 Machiavell. Hokuspokus 341 Ich meine eine compagnie, die — diesem Monarchen — aller Enden das vivat außbläset; 1683 Klatschmaul 30 durch sonderlich Vivat und Gesundheit-trincken; 1684 Unruhe am Niederrhein 66 vnd hatten die Regimenter bereits das Feldgeschrey gethan, vnd mit Auffwerffung der Hüten geruffen. Vivat Brandenburg; also dass nur das Zeichen muste geben werden zum Angriff; 1685 Türk. Schaubühne 34 Ehe er in gemeldten Divan gehet, ruffen ihm sehr viel ein beglücktes Vivat! zu; Thomasius 1688 Monatsgespr. I 515 die vor dem Schloß-Thore noch eine dreyfache Salve mit einem dreyfachen Vivat losbrenneten; 1690 Hochh. Augsb. 190 und zu dreyen malen / nach dem er mit dem ablesen fertig gewesen / Vivat Rex Josephus? geruffen. dan auch das Volk zu jedem malen mit allgemeinen Geschrei Vivat, acclamirt; Ettner 1697 Doktor 634 den sie allerseits mit aufgereckten Fingern und einmüthiges Vivat bestätigten; Prambhofer 1712 Traum-Ges. 233 mit dem Mund macht man dir Compliment, in dem Hertzen wünscht man dir ein böses End; mit dem Mund rufft man vivat, er soll leben / mit dem Hertzen pereat, holl ihn der Teuffei; Abel 1714 Ged. 69 die seine [des Unmässigen] Freundschaft suchen, und sie befestigen beym Trunck und Kartenspiel, durch Vivat und Runde, durch Schweren und durch Fluchen; 1719 Medicin. Maulaffe 294 hierauf gieng es drunten von der soldatesca auf ein vivat, im saal aber auf

die gesundheiten los (DWB); Zschackwitz 1723 Karl 6. 670 stimmte das Volk ein Vivat und Freuden-Geschrey an; Henrici 1727 Ged. 152 Vivat! August, August Vivat! Sey beglückt, Gelehrter Mann! Dein Vergnügen müsse blühen, Daß dein Lehren, dein Bemühen Möge solche Pflanzen ziehen, Womit ein Land sich einsten schmücken kan; Stoppe 1729 Ged. II 137 ein stinckend Vivat; Rohr 1729 Zeremoniellwissenschaft II 604 und eine unaussprechliche Menge der Zuschauer erfüllt die Lüffte mit Jauchzen und unaufhörlichen Freuden-Getümmel eines erthönenden Vivat Rex et Regina; Rinswerger 1730 Op. III 219 Salus! . . . Wir müssen die Gesundheit fein hoch anfangen, so können wir es einweil treiben. Vivats aller Fürsten und Herrn des gantzen heiligen Römischen Reichs. — Vivat, sie solln leben!; 1736 Karlsbad 95 unter von allen Orten hier anwesend getreuen Vasallen und Unterthanen Trost- und Freuden-vollen Vivats-Ruff; Seegebart 1741 Tagebuch 18 Die gantze Garnison ward zu Kriegsgefangenen gemacht . . . Das Feldgeschrei war Vivat. Nach dem Siege waren die Grenadier ungemein lustig. Es geschahen in der Stadt einige Freuden-Schüsse nebst einem Vivat der König von Preußen; Kurz um 1756 Prinzessin Pumphia 59 Last uns tanzen, last uns singen, Last den Pass, die Geige klingen, Arleckin hat seine Braut. Last uns unsre Stimm erheben. Vivat, alle sollen leben, Die uns heute zugeschaut; Herder-Nicolai 1769 Briefw. 36 will ich den Klotzianern kein neues Vivat in den Mund legen; 1779 GBayr. ErbfolgeKriegs 56 [Angriffe österreichischer Truppen gegen preußische] unter beständigem Vivatrufen; Schiller 1781 Räuber (H. I 389) Vivat der neue Herr, Franciskus von Moor; 1782 Anthologie 247 Wie des Volkes wilde Vivat euch vergöttern!; 1785 Holland. Staats-Anz. III 237 ein fröhliches Vivat Oranien riefen; 1790 Patriot. Fragmente 46 ein gross Glas Wein, das er mit heroischer Mine vor dem Trupp seiner Grenadiers, auf das Wohl seines Herrn, bey einem hellen Vivatrufen seiner braven Grenadiers austrank; Laukhard 1792 Leben 1181 der akademischen Freiheit ein Vivat und den Unterdrückern derselben ein helles Pereat geschrieen; Augustin 1795 Bern, über Halle 489 der Komersch beim Prorektorats Wechsel. Hier wird dem neuen Prorektor, und auch dem Abgehenden, wenn er die Liebe der Studenten besitzt, anfänglich auf dem Saale selbst und hernach vor dessen Wohnung mit Musik ein feierliches Vivat gebracht; Vulpius 1803 briefl. (Jahrbuch Sammig.

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Kippenberg 5 (1925) 118) dass man nach Aufführung von Schillers 'Braut von Messina' ein lautes Vivat! rufte . . . etwas, das im hiesigen Schauspielhaus noch nie geschehen ist. Man sagt, Serenissimus habe es übel genommen; Schiller vor 1805 (III 67) Fiesko wurde auf tausendstimmigem Vivat nach Hause getragen (KEHREIN); 1816 Briefw. G.-2. II 261 Vivat Genius und hol der Teufel alle Kritik!; Gentz 1818 Br. an Pilat I 337 ein enthusiastisches Vivat und Hurrah-Rufen; Wolff 1823 Preciosa I 123 Seht, da kommt der junge Herr! — Schreit ein Vivat hoch! ihr Dirnen. — Vivat Don Eugenio! hoch! — Dank, ihr schönen Kinder; Diesterweg 1836 Lebensfrage III 65 Die akademische Freiheit, es ist ein herrlich Ding, vivat hoch; Glasbrenner 1836 Bilder a. "Wien 1152 einige tausend Hurrah's und Vivats; Hoffmann v. Fallersleben 1840f. Unpolit. Lieder II 146 Darum sei der freien Nacht Auch ein Vivathoch gebracht; Droste-Hülshoff 1842 Judenbuche 916 Ein lautes Vivat beantwortete den galanten Toast (WDG); Freiligrath 1848 Neue Ged. II 29 O Volk, ein einz'ger Tag verstrichen — und schon von Vivats heiser?; 1848 Hofdamen-Br. 150 Unaufhörliche Lebehochs und Vivats erfüllten die Luft; Raumer 1849 Br. Frankf-Paris 112 Manche Soldaten und Führer hielten das Vivatgeschrei für ein pereat und fürchteten die Bestürmung des Schlosses; ebd. II 387 Es lebe deshalb hoch, Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, erwählter Kaiser der Deutschen! In dies Vivat stimmten Alle mit lautem Jubel ein; 1852 Prutz' Museum 1327 Auf, Schwager! lass dein Horn erklingen Hochjubelnd in des Himmels Blau, Ein Vivat unserm Land zu bringen, Dein Elsass und dem Rheinthalgau!; Raumer 1861 Leben I 143 Die Freude war groß und offenbarte sich zunächst in einer Abendmusik und einem Vivat, welches die Bürgerschaft dem König brachte; 1863 Bilder a. Paris II 93 Alsdann Trommelwirbel, erneutes Vivatrufen und Aufbruch der Majestäten; Eichendorff 1864 W. I 284 und rufe recht aus frischer brüst parol' und feldgeschrei sogleich: vivat Österreich (DWB); West 1891 Vogelhändler 17 Vivat! Hoch! Nun gilt's loyal zu sein, Drum nur tüchtig Vivat schrei'n!; Fliess 1893 Miasmen 36 Sie leben hoch! und abermals vivat hoch! und zum dritten Male hoch!; Bierbaum 1907 Musenkrieg 35 zuerst sei allen Scharmanten Ein brausendes Vivat gebracht;

ebd. 39 Ein Vivat jeder freien Kunst; Nagler um 1915 Dorfheimat 159 der [Lehrer] schliesst das Fest mit einem 'Vivat hoch!' auf das liebe Heimatdorf; Karwath 1917 Schles. Fräulein 96 Die Menge winkte und schrie ihre Vivats und Lebehochs und das von den Russen angenommene Hurra; Roth 1930 Panoptikum 133 Vivat! und Hoch! schrie die Menge; Halbe 1933 Scholle 93 sich fortpflanzendes Vivathoch und Hurrageschrei; Wege 1936 Baldachin 135 Ansprache . . . und schloss mit einem Vivat auf die Gemütlichkeit; Offenburger Tagebl. 5. 9. 1969 Ein „Vivat" den Spendern! (Uberschr.) Der Stadt, die so viel guten Sinn für ihre alten Leute hat! Ein vivat, crescat, floreat!; FAZ 8. 2. 1972 Bolts „Vivat! Vivat! Regina!" in Wiesbaden. Vivant: Hilarius Lustig v. Freudenthal nach 1650 Lieder-Buechlein 80 Vivant alle ins gemein, die Studenten günstig seyn! Jo vivant Studiosi, animosi, generosi! Vivant alle ins gemein, die Studenten günstig seyn!; Seckendorff 1691 Reden 192 Vivant; Ettner 1719 Mediän. Maulaffe 75 Vivant; Grabbe vor 1836 W. II 88 tausend jähre sollen leben die Donna Anna und der Don Octavio! Vivant!; Mann 1901 B. (I 41) ein Glas dieses artigen Tropfens mit mir zu leeren . . . auf die Wohlfahrt der Familie Buddenbrook, der anwesenden sowohl wie der abwesenden Mitglieder . . . vivant hoch!. Viva: Volkslied 1521 „Text" (Liliencron III 388) laist uns nu roifen frölich, viva Borgondi!; Hilarius Lustig v. Freudenthal nach 1650 LiederBuechlein 89 In den Quartieren Bellidoris thut heissen, und in dem Feld Franciscus thut schmeissen; Viva Francisca, viva Bellidora, viva Mebella, viva Ledora; ebd. 143 Adiu Melinda! voller Freud, viva Sylvia! voller Schönheit, die da meine Treu thut meritiren; Mozart 1775 (Zentner, München 19) Nach einer jeden Aria war . . . ein erschrecklich Getös mit Klatschen und viva Maestro-Schreien; Wachenhusen 1861 Freisch. 13 wir hörten enthusiastische Vivas; ebd. 180 den höheren Offizieren der Occupationsarmee Serenaden und zahllose Viva's zu bringen; Berl. Illustr. Nachtausg. 29. 3. 1934 Er rudert zu seinen Freunden zurück, die in ein lautes „Viva!" ausbrechen, als er von Jacares Plan spricht.

Vivisektion F. (-; -en), im frühen 19. Jh. (eventuell unter Einwirkung von älteren gleichbed. engl, vivisection, frz. vivisection) aufgekommen, aus vivi- ( < lat. vivus 'lebend') und Sektion, Sektion 3; fachspr. in Medizin, Biologie und Pharmazie in der Bed. 'operativer Eingriff an (nicht betäubten) Lebewesen (zu Forschungszwek-

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ken); Zerstückelung, Zergliederung eines lebenden Körpers, bei lebendigem Leibe', zunächst auf Menschen, heute nur noch auf Tiere bezogen, auch im weiteren Sinne für 'Experiment, Versuch an lebenden Tieren', im Zuge der anhaltend kontroversen Diskussion dieser Praxis häufig abwertend verwendet; von Anfang an auch bildlich und von daher seit späterem 19. Jh. häufig übertragen verwendet für '(skrupellose, gefühllose, grausame) Zerlegung, Zergliederung, Zerstückelung eines lebenden, organischen Ganzen', auch 'Zerlegung eines angemessen nur als Gesamtheit zu betrachtenden harmonischen Ganzen'. Dazu seit späterem 19. Jh. die Personenbezeichnung Vivisektor M. (-s; -en) 'Zergliederer', speziell von Literaturwissenschaftlern und Autoren, die ihre jeweiligen Gegenstände (möglicherweise unangemessen) genau analysieren, mit der dazugehörigen adj. Ableitung vivisektorisch; im späten 19. Jh. vereinzelt die subst. Ableitung Vivisektionismus 'Befürwortung und Praxis der Vivisektion' mit der dazugehörigen adj. Ableitung vivisektionistisch und der Personalableitung Vivisektionist (Ggs. Antivivisektionist); seit frühem 20. Jh. vivisezieren V.trans. 'eine Vivisektion (an etwas) vornehmen', auch übertragen für 'ein lebendiges Ganzes zerlegen, zergliedern, zerstückeln' (vgl. —» sezieren). Vivisektion: Görres 1819 Teutschland 118 diese . . . haben den Frieden ihres Hauses gewaltsam gebrochen, und nun eine Inquisition über alle ihre Papiere ohne Ausnahme, bis auf die persönlich-' sten Familienangelegenheiten herab, begonnen, zu deren Vollendung nichts, als etwa eine Vivisection gefehlt, um die Gedanken in ihrer geheimen Werkstätte im Entstehen zu belauschen; Hecker 1822 Heilkunde I (Reg.) Vivisektionen am Menschen; Görres 1836-42 Christi. Mystik 1 432 Die aber, welche diesem massiv experimentirenden Vorwitz in die Hände zu fallen, das Unglück haben, sind dann freilich auf dem Sezirtisch wie zur Vivisection ausgestreckt (KEHREIN); Frey 1844 Bilder a. Welt u. Zeit 230 diese unmenschlichen Vivisectionen d.h. diese Leibaufschneidereien lebendiger Hunde und Katzen oder Kaninchen; Holtzendorff 1869 Principien 153 zum Tode verurtheilte Verbrecher wurden . . . zu Vivisektionen an die Anatomien abgegeben; Hillebrand 1878 Profile 224 darum tödtet Erstere [die Wissenschaft] — bis in die Sprachforschung und Viviseciton hinein — stets alles Lebendige, das sie anrührt, denn sie muß es auseinandernehmen; Monatsschr. (Nathusius) 3 (1880) 358 Vivisection und ihre Gegner; Braun 1881 Bilder I 9 die menschliche Gesellschaft . . . und ihre wirtschaftliche Ordnung sind kein Gegenstand zu Experimenten und Vivisectionen; Körting 1884 Anfänge d. Renaissanceliteratur i. Italien 1161 in dem Zeitalter des Humanismus, im 14., 15. und 16. Jahrhundert. Es waren damals Folterkammer und Schafott nicht bloss völlig eingebürgerte Institutionen, sondern auch wahre Laboratorien entmenschter Marterkünstler, in denen geniale Vivisectionen mit schaudererregender Präcision vorgenommen wur-

den; Walloth 1887 Praxis 105 es war ihm zu Mut, als sei er das Opfer einer grausamen, nutzlosen Vivisektion; Riehl 1888 Lebensrätsel 270 Sie verdächtigten mich bei meiner Frau, lediglich damit doch etwas Handlung in die reine Stimmungsidylle von Rimselrain komme! . . . Sie wollten Vivisektionen machen an meinem und meines geliebten Weibes Herzen. Ich mag dergleichen bei den armen Tieren nicht, bei mir selbst aber noch viel weniger. Ich bin Mitglied des Vereins gegen die Vivisektion; Henne-am-Rhyn 1897 Kulturgesch. VII 225 Manche Tierschutzvereine arbeiten gegen die Vivisektion, welche allerdings teilweise mit unmenschlicher Grausamkeit und ohne nachgewiesenen Nutzen arbeitet; Meysenburg 1898 Lebensabend II 278 Vivisektion der Gefühle; Dtsch. Revue 25 (1900) I 228 die wissenschaftliche Tierfolter (Vivisektion); Moll 1902 ärztl. Ethik 486 Bei allen Forschungen . . . haben wir zu untersuchen, ob sie ethisch berechtigt sind . . . Betrachten wir zunächst die vielfach angefochtene Vivisektion, um dann später noch die Obduktion und die wissenschaftlichen Eingriffe am lebenden Menschen zu besprechen. Das Wort Vivisektion wurde wesentlich durch Leute eingeführt, die das Recht zu Versuchen am lebenden Tiere angriffen und in ihren Schriften mit Vorliebe den Glauben erweckten, als ob gewöhnlich ein Zerschneiden der Tiere bei solchen Versuchen stattfände. Später wurde das Wort allgemein auf solche Eingriffe übertragen, wo weder ein Zerschneiden der Tiere noch ein Schneiden überhaupt stattfindet, wo vielmehr Eingriffe im Interesse der Forschung erfolgen, z.B. Einverleibung von Giften; Kaiser 1911 Lebenserinn. 29 daß er . . . betreffs der Enthirnung oder Zerstückelung eines Kindes in Geburtsfällen

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Vivisektion

alle diese legitimen Vivisektionen . . . verwarf; Dichtung 1 (1918) 38 In den trostlosen Träumen zurückgebogener Nächte erschien ihm Ottokars Zerrbild, traktierte in einem aussätzigen Keller mit beißenden Likören und ließ in zynischen Berichten die Vivisektionsorgien renommierender Studenten den wehrlos greisen Kellnerinnen um die Beine peitschen; Türmer 21 (1918) 85 Und doch ist, was mit ihm [dem deutschen Volk] vorgenommen wird, nicht mehr und nicht weniger als ein fortgesetzter „wissenschaftlicher Versuch am lebenden Objekt" — Vivisektion. Es ist nicht anders: das deutsche Volk ist von Kriegsbeginn an das Versuchskaninchen seiner „Berufenen" und „Erwählten". Immerhin ist das Verfahren insoweit noch „human" zu nennen, als bei ihm Narkose angewandt wird; Weberitsch 1924 Leben 311 ich bestreite nicht den Nutzen der Vivisektion für die medizinische Wissenschaft; Voss. Ztg. 30. 11. 1929 Gegen die „Vivisektion Deutschlands", wie ein Amerikaner es nannte, sprachen auch finanzielle Gründe . . . ein Zerfall des Reiches hätte . . . der Eintreibung der Reparationsschuld fast unüberwindliche Hindernisse entgegengestellt; Lokal-Anz. 17. 1. 1933 Die preußischen zuständigen Ministerien werden auf Grund des Erlasses des preußischen Ministerpräsidenten die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes, der die Vivisektion verbietet, mit größter Beschleunigung vornehmen; Berl. lllustr. Nachtausg. 17. 8. 1933 Vivisektions-Verbot — eine Kulturtat (Überschr.) . . . In Italien wurde im Dezember 1932 ein Gesetz zur Regelung der Vivisektion angenommen, das die Experimente am lebenden Tier stark einschränkte und schmerzstillende Mittel vorschrieb . . . Aus jüngster Zeit sind die Antivivisektionsbestrebungen in Skandinavien zu melden; Lokal-Anz. 18. 8. 1933 Dringend notwendige operative Eingriffe bei Tieren zu allgemeinen Heilzwecken sind dann zugelassen, wenn es sich nicht um eine Vivisektion im engeren Sinne handelt, das heißt, um die operative Zerlegung oder Zerstückelung eines lebenden Tieres ohne Schmerzstillung oder Betäubung . . . Nach weitverbreiteter ärztlicher Auffassung ist aber diese Vivisektion im engeren Sinne weder zu Forschungszwecken mehr nötig, noch braucht sie bei der Kontrolle der Anwendung wichtiger Präparate durchgeführt zu werden . . . das ganze Problem der Tierquälerei und der Vivisektion; Beselmeyer 1934 Vivisektion l f . Vivisektion heisst wörtlich . . . Zerschneidung von Lebendigem. Moll . . . bemerkt sehr richtig, dass das Wort Vivisektion im wesentlichen durch die Gegner dieser Forschungsmethode eingeführt wurde. Es lässt sich jedenfalls nicht leugnen, dass es für agitatorische Zwecke sehr brauchbar ist. Erweckt es doch in dem Laien

den irreführenden, unangenehmen Eindruck, als ob in aller Regel bei jedem Tierexperiment ein Zerschneiden der Tiere stattfinde. Aus diesem Grunde . . . wollen wir . . . von wissenschaftlichem Versuch am lebenden Tier oder kurz Tierexperiment, Tierversuch reden; Wöhrle 1940 Ausfahrt 85 [der Mensch im Gefängnis wehrlos] wie der Frosch auf dem Vivisektionsbrett; Gmelin 1950 Zyklenroman 15 ist seine [Zolas] Therese Raquin entstanden, jene eiskalt logische Vivisektion eines Paares, das mit gorillaartiger Brutalität über das Verbrechen zum Selbstmord schreitet; Benn 1953 Br. 255 das [zeitgenössische literaturwissenschaftliche Arbeiten über Benn] ist richtige Vivisektion und obschon es z.T. grossartige Arbeiten sind voll Ruhm . . . lähmt es meine Produktion für Neues; Münch. Stadtanz. 5. 12. 1958 Wir haben natürlich zu der Frage der Versuche an lebenden Tieren (Vivisektion) besonders scharfe Bestimmungen gefordert; 1963 Definitionen 15 war keineswegs ein Gegner der poetischen Vivisektion; Offenburger Tagebl. 26. 1. 1971 das Spezialgebiet Tierversuche, das keineswegs allein mit dem Begriff Vivisektion zu umschreiben ist. Denn außer in der Vivisektion (operativer Eingriff an lebenden Tieren in wissenschaftlichen Instituten) werden Tiere in großer Menge in größter Vielfalt von Universitäten, Laboratorien und von vielen Sparten der Industrie für medizinische, biologische und chemische Versuche verwendet. Vivisektionismus: Monatsschr. (Nathusius) 3 (1880) 381 Der Vegetarianismus . . . ist in der That der folgerichtigste und radikalste Gegner des Vivisectionswesens . . . Man verbiete jedwede Tödtung von Thieren überhaupt als Sünde, so ist selbstverständlich das qualvolle Zutodemartern in den physiologischen Anstalten ein Verbrechen ärgster Art . . . Beachtung verdient der Standpunkt des Fruchtessertums auf jeden Fall, auch abgesehen von dem principiell verschärften Gegensatz zum Vivisectionismus. Vivisektionist: Hillebrand 1885 Kulturgesch. 329 ihre Tierschutzvereine mit obligaten Kreuzzügen gegen die Vivisectionisten und Hundekarrentreiber; Moll 1902 ärztl. Ethik 490 Die häufige Entgegnung der Vivisektionisten, dass die angewendete Narkose die Schmerzhaftigkeit verhindere, ist leicht zu widerlegen. Antivivisektionist: Moll 1902 ärztl. Ethik 490f. Ja gerade die falschen Tierfreunde unter den Antivivisektionisten, die grundsätzlichen Feinde der Ärzte, würden diese Gewissenlosigkeit mit Vorliebe betont haben . . . Es ist den Antivivisektionisten zuzugeben, dass trotzdem die Operation

Vizebeim Menschen ein Experiment bleibt, aber dieses wird wesentlich ungefährlicher, als es ohne Tierversuche wäre . . . Die Antivivisektionisten berufen sich zum Beweis dafür, dass noch nie eine grosse Entdeckung durch die Vivisektion gemacht worden sei, auf hervorragende Ärzte . . . Die Antivivisektionisten haben es bequem, aus den Veröffentlichungen festzustellen, dass in einer grossen Reihe von Fällen eine Narkose nicht angewandt wird . . . weil die Versuche dadurch gestört würden. vivisektionistisch: Geopolitik sektionis tisch.

9 (1932) 474 vivi-

Vivisektor: Wildenbruch 1869 Die Philologen am Pamass oder: Die Vivisektoren (Titel); Liliencron 1896 Poggfred XI 237 Oh lest, lest, lest den Büchervivisektor; Henne-am-Rhyn 1897 Kulturgesch. VII 225 Manche Tierschutzvereine arbeiten gegen die Vivisektion . . . andere protestiren dagegen im Namen der Wissenschaft, und an zehn Kongressen . . . haben die Vivisektoren das letzte Wort behalten; Meysenburg 1898 Lebensabend II 466 Ibsen ist ein Vivisektor der menschlichen Natur wie wenige; Moll 1902 ärztl. Ethik 492 Dass bedauerlicherweise auch Versuche an Menschen gemacht wurden, ist tief zu beklagen. Dass gerade Vivisektoren dazu am meisten geneigt sind, ist eine willkürliche Annahme. Der Vivisektor unternimmt die Versuche zu einem höheren Zweck; Stemplinger 1932 Jugend in Altbayern 100 Die literarischen Vivisektoren nahmen alles vor;

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Homer wurde von allen möglichen Wölfen zerrissen. vivisektorisch: Moll 1902 ärztl. Ethik 491 Um die Schmerzhaftigkeit vivisektorischer Eingriffe zu widerlegen, wird von den Anhängern der Vivisektion behauptet, dass die Tiere den Schmerz nicht so empfinden wie der Mensch; Wöhrle 1940 Ausfahrt 77 Er hat mit jenem vivisektorischen Lächeln zur Kenntnis genommen, das Untersuchungsrichtern zu eigen sein pflegt; Die Zeit 3. 10. 1980 da redeten die Gegenstände, Zeugnis gebend, mit einer Inständigkeit, die das zurückliegende Geschehen nicht als vivisektorisches Schauspiel, sondern als Ereignis verdeutlichte, das, über sich selbst hinaus weisend, Nachdenken verdiente. vivisezieren: 1921 Südd. Mon'h. XVIII 2, 44 so muss der Physiologe, um das im Innern sich abspielende Lebensgeschehen der Untersuchung zugänglich machen zu können, den lebenden Organismus zergliedern, „vivisezieren", oder, wie dies neuerdings in stetig wachsendem Ausmasse geschieht, die einzelnen aus dem Verbände des Organismus gelösten Organe durch geeignete Massnahmen „überlebend" erhalten; Brentano 1943 Tagebuch 48 Hat Herder recht . . . so wäre zu erkennen, dass wir alle das Vivisezieren und das Sezieren bezahlen müssen, auch wenn dieses Geschäft von andern besorgt wird; Benn 19i0 Br. 201 Selten wohl wird ein Autor zu Lebzeiten . . . so durchleuchtet, durchröntgt, so viviseziert . . . werden.

Vize- Präfix, seit frühem 15. Jh. nachgewiesen, zurückgehend auf lat. vice(—* Viztum), a zunächst belegt in u. a. aus dem Frz., Ital. und Mlat. entlehnten, nach dem Vorbild von (m)lat. vicedominus bzw. dessen durch Entlehnung im Frz., Ital. etc. entstandenen Entsprechungen gebildeten Bezeichnungen für die Inhaber (hoher) geistlicher oder weltlicher Ämter, z. B. im 15. Jh. nachgewiesenes Vizegardian ( < gleichbed. mlat. vicegardianus, < vice- und frz. gardien 'Wächter') 'Wächter' und Vizeplebanus ( < gleichbed. mlat. viceplebanus, zu plebanus 'Weltpriester, Gemeindepfarrer', zu lat. plebs 'Volk') 'Stellvertreter des Pfarrers', seit Mitte 15. Jh. belegtes Vizekanzler ( < mlat. vicecancellarius 'Notar', zu gleichbed. (m)lat. cancellarius) 'stellvertretender Kanzler' als Bezeichnung für historisch unterschiedliche (hohe) Ämter in der Regierung oder Verwaltung, z . B . eines Hofes, einer parlamentarischen Demokratie, von Anfang 16. Jh. bis ins 18. Jh. nachgewiesenes Vicerex ( < gleichbed. mlat. vicerex, zu lat. rex 'König') mit den aus dem Ital. bzw. Frz. (in unterschiedlicher Schreibung) übernommenen Nebenformen Vice-Re und Vice-Roi sowie der Teillehnübersetzung Vizekönig 'Stellvertreter des Herrschers, des Königs; königlicher Gouverneur'; seit Mitte 16. Jh. , zunächst noch häufig in der Schreibung Vice-, zunehmend produktiv in Neubildungen als Präfix

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Vize-

vor bzw. in neu entstehenden Amtsbezeichnungen wie seit Mitte 16. Jh. belegtem Vizepräsident (vgl. gleichbed. frz. vice-président, zu président 'Vorsitzender') 'Stellvertreter des Präsidenten, stellvertretender Vorsitzender', seit spätem 16. Jh. nachgewiesenem Vizeadmiral (vgl. gleichbed. frz. vice-amiral, zu amiral 'Admirai') 'Stellvertreter des Admirais; dem Admirai unmittelbar nachgeordneter Offizier der Seestreitkräfte' und Vizekapitän, -graf, -stadtschreiber, vereinzelt scherzhaft auch in anderen Personen- und Sachbezeichnungen wie Vizegott, -papa, -bein, im Sinne von 'stellvertretend, (bei dessen Abwesenheit) die Pflichten, Aufgaben, Funktionen des eigentlichen Amtsinhabers übernehmend', auch 'den eigentlichen Amtsinhaber bei der Ausübung seiner Pflichten unterstützend, ihm beistehend; bei geringerem Rang dieselben Aufgaben wie der eigentliche Amtsinhaber erfüllend'. Dazu seit spätem 19. Jh. das Subst. Vize M. (-(s); -s), bis ins 20. Jh. im militärischen Bereich als Kurzform für Vizefeldwebel und in der Seemannssprache als Grundwort in Zss. im Sinne von 'Aufseher', heute (ugs.) als Kurzform für unterschiedliche Präfixbildungen mit Vize- wie Vizekanzler, -präsident. b Von daher seit früherem 20. Jh. im Bereich des Sports im Sinne von 'den zweiten Platz in einer Meisterschaft belegend, zweiter Sieger in einer sportlichen Disziplin' (Vizemeister).

Vize- a: 1416Hildesheim 171 B. vicegardian; 1417 Arnstadt 327 vicegardian (beide MÖLLER); 1418 Chr. d. dt. St. XVI 70 de viceplebanus to sunte Mertene (DWB); 1453 Quedlinbg. 490 de. . . was viceplebanus to S. (MÖLLER); 1455 (Modern Lang. Notes 36 (1921) 490) der vitzcancler von Österreich; 1471 Quedlinbg. 490 P. vicegardian (MÖLLER); 1506 Ber. a. Lissahon 150 Also sant des porto[-galisch] kungs stathalter vizo Re genant; Varthema 1515 Ritterlich u. lohwirdig rayss d. Ludowico Vartomans v. Bolonia t V der vicere oder stathalter (WIS); Volkslied 1525 „Text" (Liliencron III 438) Ein graf . . . griff den könig selber an, die lanzknecht waren zerspalten, der vicereg des selben gleich; Knebel 1531 Chr. v. Kaisheim 506 Balthasarn von Waldkirch, bischof zu Costenz, vice-canclier kay mayestat (DWB); 1542 (Schade, Satiren 1110) im reich er vicecanzler war (DWB); Corvinas 1544 Briefw. 167 Euer Schreiben, die Handlung zwischen Euch und meinem guten Freunde, dem Vicekanzler, der Pfarr Ägidii halben belangend, habe ich empfangen; Schertlin v. Burtenbach 1545 Br. 36 Dess von Naues vicecantzlers secretar); 1546 SleidanBriefw. 131 dem sächsischen Vicecancler; 1552 (Hähnle, Fürstenkrieg 27) vici cantzler; 1563 Türck. Hist. Auss Italienischer Sprach in unsere Teutsche verdolmetscht I 81' Statthalter und Vice Re in India (WIS); Fabricius 1568 Surius' Chr. 205h viceregs; Grisone 1570 Künstlicher Ber. (Übers.) 192 der Frantzösische Vicere (WIS); Reissner 1572 Frundsberg Ascanius Sfortia/Cardinal vnn Römischer ViceCancellarius / bracht vil Gelt zu Krieg; ebd. 37" Darauff ist Carolus

ViceRoi vber die Ada mit Pferden gezogen; Fischart 1575 Garg. 224 bey dem dorn Philippo von Marach, vicekönig inn Papeligosse (DWB); ebd. 227 berathschlug . . . mit dem Vicekönig (RÜTTER); den. 1575 Geschichtsschr. Y4V dem Vicegrafen von Morpiaille (JONES); Pantaleon 1576 D. Moskouitische Chr. 1136 In solchem war Petrus Tomitzki, dazumahl Bischoff zu Premislien und desz Reichs Poland Vicecantzler (ZFDW XV 216); Federman 1580 Niderl. Beschr. 255 Vizeadmiral des meeres (ZFDW XV 216); 1588 (Hist. rec. III Qu. 149) der Catholischen Schweitzer Spanische Bündnisse Sampt einer passlichen Rede /so Vicegraff / Ritter vnd doctor / Tiburtius genannt . . . gehalten hat; Lichtenstein 1589 Reisen 14 Wache in Neapel vor der Vice Roy Palatio . . . Vice-Re aus Spanien; Spangenberg 1591 Adelsspiegel I 323" Von Vitzgrauen. Vicegrauen heissen / die Amptverwalter (JONES); 1598 Orientalisch Indien II 52 Königliche Majestät in Portugal vnnd seine Statthalter oder Viceroy [in den Kolonien]; Meurer 1599 Relatio 54 vom selbigen Vice Re von Italien; Kiechel um 1600 Reisen 206 Palermo, das ist düe principal oder hauptstatt im königreich Sicilia, aldo der vicerex pflegt hof zu haltenn; ebd. 209 in demselbigen wohnet der vicerex, der höllt ein guardj von 40 teütschen trabantten; ebd. 254 es hatte der französüsche viceconsul 4 oranienböm in seinem hof stöhn; ebd. 260 derowegen ein verordneter gleichsam als vicerex, so mann bascha nennt, zur regüerung gesötzt wüert: der höllt sich sehr brächtig und stattlich; ebd. 335 Düe consules . . . wohnen mehrtheüls zu Cairo, haben ihre anwäldt,

Vizeso mann vicecónsules nennet. . . sein locus tenens oder vicecónsul wahr sein naher vetter; Grasser 1610 Schatzkammer 636 Vicekönig oder Verwesern vnd Statthaltern des Königreiches Neaples; Wallhausen 161 i Kriegs-Kunst zu Fuss 25 ein ViceCapitin oder Leutenampt; Rinckhart 1618 JubelComödie (Ndr.) 119 Vice-Gott; 1618 Acta Publica Schles. (Palm) 19 Vice-Cancler-AmbtsVerwalterin; 1623 Apocalypsis C3" Admiral vnnd Vice-Admiral; Aldenburgk 1627 Reise 33 den Viceroi vnd Gubernier (JONES); Zeiller 1644 Episteln IV 394 Vitzgraven seyn die eigentlich / so an der Grafen stat (JONES); Klay-Birken 1645 Fortsetzung 90 mich in der grossen Hofhaltung zu Olympo bey dem Vice. Roy anmelden (JONES); Bürster 1647 Schwed. Krieg 111 herr Joachim Vögelin, obervogt zue Stockach, fürstlich marggräflich badischer gewalthaber, rath und vicecanzler; Zeiller 1653 Niedersachsen 234 [dem] Königl. Schwedischen Reichs-Rath, Reichs-Vice-Admiraln General Feld-Marschalln und General Gubernatorn in Holland; Overheide 1657 Schreibkunst 107 [Dem] Geheimen Rath und Hof-Kriegs-Raths-Vice Praesidenten; Schupp 1658 Bücherdieb 20 Vice Roy zu Neapoli; Gryphius 1663 Horrib. 86 designireter vicestadtschreiber des königlichen fleckens (DWB); Schupp 1663 Sehr. 9 wie mich Herr cantzler Nesen bericht hat (DWB); Schilling 1668 Kathol. Totengerüst 169 der grosse Fürst und ViceKönig über gantz Aegypten; Ahr. a S. Clara 1688Judas 1157 Seyt ihr dann höher kommen / als Joseph in Egypten / allwo er zu einem Vice-König erhoben worden; Dalhover 1689 Gartenbeetlein II 280h an heutigem Hoch- und alle Welt erfreuendem Fest-Tag den Pro- oder Vice-Vather desß Sohns deß Allerhöchsten Gottes; 1690 Hochb. Augsb. 111 Vice-Stallmeister; 1691 Pfalz 105h Vice-Generals Esterhasi; 1692 Novellen 232 Denn ein solcher Vice-Re oder Gouverneur, indem er weiß, daß einer 3 Jahr zu regiren hat, richtet seine ganze Sorge dahin, wie er während solcher Zeit seinen Beutel spicken . . . könne; ebd. 233 So hat es dennoch unter solchen Vice-Reen und Gouberneuren manchsmahl auch löbliche Regenten mit abgegeben; Gansler 1693 Lugenschmid I 12 Vice Teufel; Ahr. a S. Clara 1699 Etwas f . alle II 592 das geld ist ein vice-gott auf der erden (DWB); Zeidler 1700 Sieben böse Geister 17 denn ein VicePastor ist auch ein Pastor; 1710 Antwort Schreiben 30 so schickte derselbige . . . einen Vice-Admiral, samt unterschiedlichen versuchten See-Officiers nach Franckreich; Paullini 1716 Büchercabinet VII 833 der Vice-Ré oder Statthalter; Henna 1727 Ged. 320 Denn will das junge Weib nach ViceLeuten gehn, So muß gewiß der Mann die Sachen nicht verstehn; Stoppe 1728 Ged. I 10 So bleibt sein Schluß dabey, Daß sein Herr Vice-Wirth ein

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Narr gewesen sey; Keyssler 1730 Reisen (Ausg. 1776) II 764 wenn ein Vice-Roy das hiesige Volk [Neapels] im Zaume und Ruhe behalten wolle; ebd. 766 Er hat das besondere Glück gehabt, daß beym Antritt der Vice-Royauté sein eigener Sohn als Ambassadeur extraordinaire des Malteserordens an ihn geschickt worden; Ludewig 1744 Gel. Anz. II 398 der ehemalige Vice-Cammer-Prlsident; Winckelmann 1762 Sendschr. 18 der damalige österreichische Vice-König [in Italien]; Comenius 1769 Orbis II 68 der Vice-Admiral auf dem vorderen; Goethe 1787 Br. (VIII 224) Der Gedancke Schmidten die nähere Aufsicht über die Cameral Geschäfte aufzutragen, hat meinen völligen Beyfall . . . nur bey dem Modo habe ich zu erinnern: daß, wenn Sie ihn zum Vicepräsidenten machen und mir eine Art von Direktion laßen, alsdann ein Glied des Geh. Consilii dem andern untergeordnet ist welches ich nicht für ganz gut halte; Laukhard 1792 Leben II 488 Aber mit engbrüstigen Leuten habe ich nicht gern zu schaffen, zumal wenn sie, wie der Vicegott zu Rom ex cathedra sprechen; ]. G. Müller 1798 Briefw. 128 Vicestatthalterstelle; Kotzebue 1803 Kleinstädter (NL. CXXXIX 2, 195) Vicekirchenvorsteher; Dohm 1817 Denkw. III 6 Der Reichs-Vicekanzler . . . und alle Officianten der Reichs-Kanzley wurden vom Kurfürst von Mainz, als Erzkanzler des Reichs, nach eigenem Gefallen angestellt und lezterm so gut wie dem Kaiser verpflichtet; Lang 1817 Reise I 7 Ersuche daher alle Kaiser und Exkaiser, Könige und Vicekônige, Großherzoge und Kleinherzoge, slcularisirte und von neuem creirte Fürsten, Landgrafen, Wassergrafen, Dorfgrafen; Börne 1822 Schilderungen a. Paris II 142 Vice-Natur; Jean Paul vor 1825 (W. XXXVI 34) erinnere dich, dasz du ein mensch, erinnere dich, dasz du ein gott oder vizegott bist (DWB); ebd. XLVIII 416 sticht jemand mit einem hölzernen vizebein in die erde (DWB); Börne 1832 Br. a. Paris I 284 Hätten sie nicht gleich damit anfangen können, dem Herzog von Cambridge die Pferde anzuspannen und als Vice-Schimmel seinen Wagen zu ziehen?; Roos 1832 Leben 102 Ich fand da den Vice-König mit einigen Adjudanten . . . am Feuer stehen und sich wärmen; 1839 Die Eisenbahn 348" Herr Deinhardstein, der 'Vice-Director'; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 65 mit der Frage nach . . . der Wohnung des Herrn Bürgermeisters. „Welchen meint Ihr? den Amtsburgermeister?" Gibt es denn ihrer mehrere?" „I freilich, wir haben noch zwei, und einen Vizeburgermeister obendrein."; Burckhardt 1845 Br. an Schauenburg 53 Mein Vizeredaktor hat mir nun im ganzen 18 Tage zediert; Kossak 1855 Stereoskopen 43 vicemütterlichen Pflichten; Heine vor 1856 (III 439) irgend ein vornehmes lümpehen oder

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Vize-

vizelümpchen (DWB); Nestroy vor 1862 (Ges. W. II 215) hast denn du mich zum vize-vater aufgeteilt (DWB); 1862 Hausblätter III 454 Der Vice-Papa (Oberschr.); Brommy 1878 Marine 328 Der Vice-Admiral, in gleichem Range mit dem General-Lieutenant oder Feldmarschall-Lieutenant, befehligt nach Umständen eine Flotte oder ein Geschwader; Derblich 1889 Militärarzt I 1 Der „Dirigirende" war eigentlich kein solcher, er vertrat nur dessen Stelle. Er führte den Titel Quatalis oder auch Vice-Qua-Stabarzt, hatte aber alle Rechte und Prärogative, wie gegenwärtig ein Sanitätschef; Keller 1889 (Ges. W. VII 228) er wurde zum vice-admiral ernannt (DWB); Woldeck um 1900 Sie 47 „Beefsteak mit Ei, Herr VizeFeldwebel!" lautete eine Antwort in militärischer Kürze; Brandt 1901 Ost-Asien I 65 empfing der dort residierende Vizegouverneur . . . unsern Chef mit allen seiner Stellung gebührenden Ehren; Birt 1910 Provence 53 In der üppigen Zeit des 16., 17. und 18. Jahrhunderts . . . waren sie [Renaissance-Paläste] die Domizilien der Herren, die sie erbauten, jener päpstlichen Legaten und Vize-Legaten, päpstlicher Nepoten . . . der Kardinäle und sonstigen Geistlichen; Wallenborn 1929 Westfront 27 In der Nacht kam Vizefeldwebel Peters zur Revision in die Telefonstube; Lokal-Anz. 20. 1. 1933 Prof. Poelzig hat am Donnerstag sein Amt als Vizepräsident der Akademie der Künste niedergelegt; ebd. 21. 4. 1934 Dem Neuen Wiener Tageblatt zufolge soll Starhemberg für den Vizekanzlerposten in Aussicht gekommen sein; Berl. Morgenpost 27. 10. 1934 Vorarbeiter oder Vizemeister für die Revision einer Präzisions-Werkzeugmaschinenfabrik im Norden Berlins gesucht (Anzeige); N. 1. 2. 14. 6. 1944 Ohne den Zusammenhang zwischen Notenumlauf und Preisgestaltung leugnen zu wollen, vermeinte der Vizegouverneur die ausschließliche Zurückführung der Preiserhöhungen auf die Erhöhung des Notenumlaufs; Dtscb. AZ. 28. 6. 1944 Er kann sich dann noch als Vizepräsidentschaftskandidat zur Wahl stellen; Süddtsch. Ztg. 13. 7. 1954 „Gruppe der früheren Vize-Könige" will Englands Stellung in Ägypten (Oberschr.); FAZ 30. 10. 1965 Oberprimanerin . . . sucht für ihre Mutter . . . gebildeten Lebenspartner und für sich selbst verständnisvollen Vizepapa!; Rhein-Nekkar-Ztg. 9. 4. 1981 Bei Ubergabe des Instruments vertritt nach Angaben des Kanzleramtes Bundestagsvizepräsident Georg Leber den deutschen Regierungschef; Die Zeit 11. 12. 1981 erklärte . . . der Vizepräsident des Regierungspräsidiums Tübingen.

Vize: Braun 1881 Bilder IV 294 Vize [Vizefeldwebel]; Hamb. Corresp. 23. 3. 1909 Der an Bord befindliche Ewerführervize Müller hat schwere Verletzungen erlitten (KLUGE, Seemannssprache); ebd. 28. 6. 1908 Der im Betriebe der Hamburg-Amerika-Linie beschäftigte Stauervice S. erhielt im Betriebe am 27. 3. 1907 dadurch einen tödlichen Schuß durch die Brust, daß, als der Raumvice G. einem dem Vormanne M. gehörigen Revolver . . . besichtigte, die Waffe sich entlud (KLUGE, Seemannssprache); ebd. 8. 2. 1910 Der Unfall ist auf Fahrlässigkeit des die Arbeit bei diesem Gange leitenden Luke-Vize zurückzuführen (KLUGE, Seemannssprache); Künzig 1927 Lieder 20 Und sind zu spät fertig, So schreit der Vize gleich; Lebmann 1935 Infanterie 28 Wir nennen ihn unter uns den Bauernvize, weil er „aus dem Volk" stammt, etwas rauhe Umgangsformen hat, mit den Unteroffizieren auf Du steht; ebd. 181 einer meiner tüchtigsten Zugführer, ein Vize; Offenburger Tagebl. 7. 11. 1967 Das „Vize"-Amt abgegeben (Uberschr.) Der CDU-Landtagsabgeordnete . . . hat sein Amt als Vizepräsident des schleswig-holsteinischen Landtags niedergelegt; Rhein-Neckar-Ztg. 16.117. 5. 1981 lautete der . . . Kommentar von „Vize" Klaus-Dieter Fischer, der den in Frankfurt beim Liga-Ausschuß des Deutschen Fußballbundes . . . beschäftigten Präsidenten . . . vertrat; Die Zeit 25. 12. 1981 Und sein Vize Theodor Althoff . . . assistierte; ebd. 25. 12. 1981 William P. Clark, Haigs Vize; Rhein-Nekkar-Ztg. 17. 12. 1981 CDU-Vize fühlt sich in bezug auf Kanzlerschaft falsch zitiert (Uberschr.) Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende und schleswig-holsteinische Ministerpräsident. Vize- b: Berl. Illustr. Nachtausg. 11. 3. 1933 Hier handelt es sich um den Beginn der k. o.-Runde der vier „Vizemeister", deren Endsieger in die oben besprochene Meistergruppe einrückt; ebd. 17. 3. 1933 Borussia, zur Zeit noch Berliner Meister, ist genötigt, die Verteidigung des vor Jahresfrist erstmal errungenen Titels auf dem Umwege über die „Runde der Vizemeister" zu erreichen, die nach dem Pokalsystem ausgefochten wird; Offenburger Tagebl. 1. 8. 1966 Gut, wir sind VizeWeltmeister und zufrieden. Aber so ein Tor durfte einfach nicht die Weltmeisterschaft entscheiden; Stuttgarter Ztg. 13. 2. 1968 Vizemeister ist auch etwas. Der H C Ludwigsburg hat den württembergischen Hockeysport gut vertreten; ebd. 29. 4. 1968 Von . . . dem neuen Champion im Leichtgewicht abgesehen, ist jeder der neuen Titelträger schon einmal Meister oder Vizemeister.

Viztum

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V i z t u m M . ( - ( e ) s ; - e ) , i m 1 2 . J h . e n t l e h n t a u s ( m ) l a t . vicedominus Stellvertreter

(eines F ü r s t e n ,

Herrschers)'

(
Vokabel), bis ins 18. Jh. in den lat. (flekt.) Formen, seit früherem 19. Jh. überwiegend in der Form Vokabular, bildungsspr. vereinzelt in der Form Vokabularium, im 19. Jh. auch in der frz. Form Vocabnlaire gebucht; a in der Bed. '(zum Lernen zusammengestelltes) Wortverzeichnis, Wörterbuch' des Wortschatzes eines Autors, eines Werks, einer Sprache; dazu im 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) nachgewiesen die subst. Ableitung Vokabulist 'Wörterbuchschreiber'; b seit früherem 19. Jh. in der Bed. '(Teil-)Wortschatz, WortauswahP, z. B. der Sprecher eines Sach-, Fachbereichs, eines Sprachstadiums, einer Einzelperson, in jüngster Zeit auch bildlich verwendet für 'Menge an verfestigten Ausdrucksmitteln, an (bedeutungstragenden) Elementen eines (Zeichen-)Systems'. Vokabular a: Luther 1524 Verdamniss (W. XV 118) Zur schule und zum vocabulario exquo mit den groben bachanten; Paracelsus vor 1541 (II 28)

ihr seid jederman rotwelsch und habt euch so seltsam dictionarias und vocabularios gemacht, wers ansieht, mag unbeschrieben nicht hinweg

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Vokabular

kommen; 1584/89 D. Spr. Ehrenkr. 30 Die ander vrsach, das allgemach jch vbung hett, in teütscher sprach zu reimen vnd zu dichten recht, wie artlich es die kunst mitbrecht, grammatic vnd vocabular in teütsch zu schreiben willens war; 1693 Wohlgemeyntes Bedenken 14 Ein Vocabularium sey und bleibt ein Wörterbuch / Grammatica aber lehre die Casus und Accidentia Vocabulorum, samt dero Fügung oder Syntaxi; Wischer 1709 Informator 121 in den bekandten Nomenclaturis, Vocabulariis oder Wörter-Büchlein; 1757 (Mitt. G Erz'gesch. 10 (1900) 162) aus dem vocabulario über Langes colloquia; Nugent 1781 Reisen (Übers.) I 195 vocabularium; Forster vor 1794 Sehr. (1843) V 345 keine vocabularien von provinzial Wörtern (DWB); ebd. VII 339 ein etwas vollständigeres terminologisches vocabularium der naturgeschichte (DWB); Ritter 1822- 59 Erdk. I 292 Tuckey's Kongo vocabular stimmt ganz überein mit den altern Wörtersammlungen (DWB); Raabe 1864 Hungerpastor 86 Verwirrt und bestürzt stolperten beide auf der heiligen Schwelle und rutschten durch den abschüssigen Gang des Vocabulariums hinab in das grauenvolle Labyrinth der Deklinationen und Konjugationen; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 98 Seit 1600 liegen altbabylonische Texte vor: nach Wortarten gegliederte Vokabulare, die schon eine perfekte Kenntnis der Morphologie . . . zeigen. Vokabular b: Heine 1837 Salon IV 541 so sollte jemand . . . durch ein ironisches Vokabular der musikalischen Kritikphrasen und des Orchesterjargons dem hohlen Handwerke . . . ein Ende machen; Hillebrand 1876 England 297 Alles das ist in noch höherem Grade mit dem Italienischen der Fall, welches nicht allein ein reichhaltiges Vocabularium [hat]; ders. 1879 Zeitgenossen 395 Die Grammatik . . . unserer verhältnismäßig so formenarmen Idiome, insbesondere des Englischen — einer wahren Negersprache im Vergleich mit dem Griechischen und Lateinischen — lernt ein classisch geschulter Geist in wenig Monaten: das Vokabularium dagegen, die Ausdrucksweise, den Tonfall — lernt er . . . nur im Leben; Schneegans um 1890 Memoiren 182 Die Republikaner schleuderten ihr die grausamsten Injurien an den Kopf, nannten sie eine Zeitung ohne Uberzeugung, ohne Richtung . . . die Wetterfahne, das Geschäftsblatt. Ich zitiere nur die bei weitem sanftesten Epitheta; das Vokabular der politischen Injurie ist ja außerordentlich umfassend; Schweizer. Mon'h. I (1921/2) 236 Im politischen Vokabular; Hamack 1928 Werst. 124 Die Worte 'Heiland', 'Erlösung' scheinen heute vergessen zu sein und wie ausgestrichen aus dem geläufigen Vokabular; Die Dame 1928 H. 12 Aber Herr Mayer

und Müller haben sich angewöhnt, das Vokabular der großen Liebe für ihre kleinen Angelegenheiten ganz unverfroren in Anspruch zu nehmen; Colerus 1929 Kaufherr 166 Ich weiß zwar, daß es ein wenig komisch für einen Unternehmer klingt, solche Worte zu gebrauchen, die ja direkt aus dem Vokabular des Klassenkampfes stammen; ebd. 190 sie führte, wie es im Vokabular der narzißhaften schönen Frau heißt, ihr 'eigenes Leben'. Früher sagte man . . . die schöne Frau habe Launen; Münch. N. N. 29. 12. 1938 denn dies sei „das Vokabular und die Grammatik einer gemeinsamen Sprache"; NZ. (Basel) 9. 5. 1949 [Beethoven] ist [im Vergleich zu Bruckner] ästhetischer und klassischer, wenn wir Goethes Vokabularium folgen, was alles man wohl in dem etwas missbrauchten Begriff der wahren Genialität zusammenfassen darf; Röpke 1950 Mass 9 Unser tägliches Vokabularium ist . . . mit Ausdrücken wie 'Demokratie', 'Reaktion', 'Kapitalismus', 'Sozialismus', 'Faschismus' . . . durchsetzt, die . . . die Verständigung der Menschen . . . vereiteln; Siiddtsch. Ztg. 23. 7. 1955 der westdeutsche Mensch, der das Wort „Kalorien" schon längst zugunsten etwa von Gaylord Hauser aus dem Vokabular getilgt hat; Stuttgarter Ztg. 11. 6. 1960 Einer Öffentlichkeit, der die saloppen Anglizismen des modernen „Marketing" längst zum gängigen Alltagsvokabular geworden sind; Arbeitgeber 20. 3. 1961 daß speziell ein zu großer Mangel an technischem Vokabular besteht; Boll 1966 Vorlesungen 20 Kunstgewerbe, Geschmack, geschmackvoll, Feinschmecker und so weiter — es ist das Vokabularium der Eingeweihten, die ihre Worte aus kulinarischen Bezirken beziehen; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 683 Etwa zu gleicher Zeit erforderte der auf völlig anderer Grundlage verlaufende Fernhandelskontakt mit Ostslawen die Integration eines sachspezifischen Vokabulars: Zobel, Nerz . . . u. a.; Mannh. Morgen 9. 2. 1981 Als ein Handicap der Neuen Musik bezeichnete Vogt ihr weitgehend unvertrautes Vokabular; Die Zeit 20. 3. 1981 Die linken Systemkritiker von damals waren ungleich politischer, sie hatten das Vokabular der Kapitalismuskritik parat; ebd. 9. 10. 1981 In Datteln . . . taten sich ein paar aufrechte Demokraten zusammen, die auf überparteilicher Basis und mit dem Vokabular der guten alten fünfziger Jahre („In Frieden und Freiheit") gegen die sowjetische Bedrohung Front machten; Rhein-Neckar-Ztg. 4. 11. 1981 Die Rückkehr zum aufgelockerten, aber doch echten und sogar auf erneuerndes Bewegungs-Vokabular ganz verzichtenden Ballett muß . . . erholsam wirken; Die Zeit 15. 1. 1982 Beschimpfung ist die Regel, und das Vokabular ist noch immer dasselbe wie vor vierzig Jahren.

Vokal

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Vokal M. (-(e)s; -e), PI. früher auch -(e)n und -s, im späten 15. Jh. entlehnt aus gleichbed. (m)lat. vocalis (zu (m)lat. Adj. vocalis 'stimmlich; (hell-)tönend; tonreich, klangvoll; mit guter Stimme ausgestattet', zu lat. vox 'Stimme (des Sprechenden, Rufenden, Singenden)'), bis ins späte 17. Jh. auch in der lat. (flekt.) Form; sprachwissenschaftlicher Fachausdruck zur Bezeichnung jeweils eines der (silbenbildenden) Phone (z. B. [o] und [D]) bzw. Phoneme (z. B. /o/), die (im Unterschied zu den Konsonanten) bei geöffnetem Mundraum und entsprechend ungehindertem Atemstrom gebildet werden, bzw. von deren graph(em)ischer Darstellung durch Buchstaben (z. B. o), dafür auch Selbstlaut; als Grundwort in Zss. wie Halb-, Stamm-, Bindevokal und bes. als Bestimmungswort in Zss. wie Vokalfolge, -harmonie, -abtönung, -zeichen. Dazu seit Ende 16. Jh. die selten belegte adj. Ableitung vokalisch 'die Vokale betreffend; aus einem/aus Vokalen bestehend'; seit früherem 19. Jh. (gebucht 1838 bei Heyse) die fachspr. subst. Ableitungen Vokalismus M. (-; ohne PI.) 'Vokalbestand, -system einer Sprache', Vokalisation F. (-; -en) und Vokalisierung F. (-; -en) 'Setzung der Vokalzeichen bei einem hebräischen Text', seit Anfang 20. Jh. (gebucht 1911 bei Petri) auch für 'vokalische Aussprache eines als Konsonant geschriebenen Lautes'; seit späterem 19. Jh. (SANDERS 1871) das wohl zu Vokalisierung rückgebildete, nur gebuchte Verb vokalisieren V. trans. 'bei einem hebräischen Text die Vokalzeichen setzen', seit früherem 20. Jh. (gebucht 1933 bei Genius) auch 'einen als Konsonant geschriebenen Laut als Vokal aussprechen'. Vokal: Niclas v. Wyle 1478 Transl. 350 vocal; 1515 Eulenspiegel 45 sehen lieber herr, die zwen vocal i und a, die kan er jetzundt (DWB); Emser 1525 Annotat D4h Darzu die vocal auch vnder inen an einem ort änderst stymme vnd lawten / dann an dem andern; Kolross 1530 Enchiridion (Mueller, QSchr. 76) Noch ist zümercken / das alle buchstaben dermassen getailt / das etlich vocalen / das ist Sylbmacher / vnd etlich consonanten / das ist Mitstymer werden gehayssen . . . Der Vocal oder Silbmacher sein fünf. Als a e i o u / dartzü nymb auch a 6 ü vnnd y; ebd. 160 Und erstlichs by den vocaln anzufallen / wiewol die selbigen allen Wörtern die kraft jrer stymmen geben / So will doch darinn by den Wörtern der spraach / noch eins yeden lands art / kein entliche maß zusetzen sein; Schwarzenberg 1535 Teütsch Cicero Vorr. 3h vocal, vnd buchstaben; Meichssner 1538 Handbüchlin (Mueller, Qschr. 160) vocaln; ebd. 160 uocales; Berthold v. Chiemsee vor 1543 Teutsche Theol. 134 die erst person got vater, von deme all ding ausgeet, ist zeversteen bey dem vocal a (DWB); Puschman 1571 Meistergesang 13 dieweil die Vocales die Haubtbuchstaben sein, wie Grammatica zeuget, die alle Sprachen regieren; Fischart 1572 Eulensp. (II 153) Daß er etlich Buchstaben weiß Und kent fürnemlich zween vocal; Helber 1593 Syllabierbüchlein 12 Ein weise [Buchstaben zu Silben zusammenzusetzen] ist, das nur ein Vocal (das ist ein Selbstlautender) zu eim

Consonanten (das ist, zu eim Mitstimmenden) gesetzt seie; Spangenberg 1607 Ganss König 26 Die Ganß aber / nach rechtem brauch / O b sie schon nit studieret hat / Doch bringt sie jhre Stim fein satt / Daß mann vernehmen kan zumahl Die Consonant vnd den Vocal. Dann jhr gesang ist kack gag gag; Harsdörffer 1647 Poet. Trichter I 118 ein Stimmer (vocalis); ders. 1657 Trincir Buch 333 Vocales, oder Stimmer; Morhof 1682 Unterricht 82 Vocalium; Ahr. a S. Clara 1683 Auf, auf ihr Chr. (III 153) Es werden einmal die geheimnisreichen Vocales oder Buchstaben des durchleuchtigsten Erzhauses wahr werden A. E. I. O . V., das ist Austria Electa Imperatorem Ottomannicum Vincet (ZWDF VIII 216); Goldmann 1696 Anw. Civil Bau-Kunst Vorr. 2k Die Zusammenfügung der Wörter, machet die Eintheilung der Buchstaben in Consonanten und Vocalen gantz leicht; Heraus 1721 Ged. u. Inschr. 19 die Verhütung zweyer vor einander stehender vocalen (DWB); Wezel 1781 Sprache 20f. welcher Dämon uns eingab, mit den Vokalen so verächtlich umzugehn, als wenn wir sie zu entbehren hätten . . . Die e am Ende der Wörter haben fast in allen mir bekannten Sprachen eine große Verfolgung ausstehn müssen; Archenholz 1785 England u. Italien II 140 sie dient zum beweise, dasz auf einander gehäufte vokalen keine spräche wohltönend machen (DWB); Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 135 auch kann man unter a den vocal der seele . . .

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vokal

verstehen (DWB); Novalis vor 1801 Sehr. III 86 die kraft ist der unendliche vokal, der Stoff der konsonant (DWB); Voss 1802 Zeitmessung 40 unsere vorfahren hatten häufige vokalendungen (DWB); Herder vor 1803 (XXIV 530) die spräche des Zend mit ihren unendlich langen vokalreichen Wörtern (DWB); Wieland vor 1813 (XLIV 142) Die lange Tonleiter unsrer Vokalen und Difthongen (DWB); Ritter 1822-59 Erdk. XVIII13 das y, welches consequent für den in der türkischen vokalharmonie dem weichen ü gegenüberstehenden harten und dumpfen i-laut gebraucht ist (DWB); Hegel vor 1831 (W. X1, 183) [Konsonanten] welche die reinheit der vokalklänge nicht dämpfen (DWB); Schopenhauer 1844. 1856-60 Sprache (Nachl. II 156) Derselbe . . . Orientalist hat eine solche Vokalscheu, daß er das e am Ende eines Wortes stets wegläßt und durch einen Apostroph ersetzt, wenn das folgende Wort mit einem Vokal anfängt; J. Grimm 1845 Kl. Sehr. III 169 vieldeutiger sich verwirrender wurzeln mit vocalausgang (DWB); ebd. III 152 dem völlig unlateinischen vocalwechsel des franz. tiens tiens tient tenons (DWB); Görres vor 1848 Ges. Br. II 329 der vokalreim . . . ist dadurch unvergänglich, weil er musikalisch ist (DWB); Tholuck 1853 - 54 Vorgesch. d. Rationalismus II 326 vertrat er mit allen waffen der Wissenschaft das alter der hebräischen vokalzeichen (DWB); Hebbel vor 1863 (W. XI67) ihre [der Sprache] zeichen können dem ohr durch vocal-fülle schmeicheln (DWB); Peschel 1874 Völkerkunde 124 ein keim zu lautverwandlungen ist nun schon in den uraltaischen sprachen vorhanden, wenn er auch nur durch das bestreben nach Wohlklang (vocalharmonie) herbeigeführt wurde (DWB); ebd. 340 die worte in den australischen sprachen . . . beginnen mit einem consonanten und lauten mit einem vocal oder halbvocal aus (DWB); Laube 1875-82 Sehr. I 36 dasz ich die Schilder jüdischer kaufleute nicht lesen kann, weil die vocalzeichen oben und unten weggelassen werden (DWB); Vischer 1881 f f . Altes u. Neues III

68 man lese das mignonlied . . . und horche der vokalfolge nur gleich in den ersten Zeilen (DWB); Zwimer 1936 Grundfragen 117 Erst einige Jahre später veröffentlichte Hellwag . . . sein erstes Vokalpolygon. Alle derartigen Vokal tafeln beruhen . . . auf einer „allgemeinen Ähnlichkeit der Laute"; Weithase 1940 Vortragskunst 16 Man versuchte nun, die Vokale in solchen Systemen darzustellen, die einmal Rücksicht auf die Artikulationsstelle und die Artikulationsart, zum andern auf den akustischen Gesamtwert der fertigen Laute nahmen; Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 573 Die ahd. Konsonantensysteme zeigen demnach in verschiedener Gewichtung . . . die Liquide . . . die Nasale . . . und die Halbvokale; ebd. 623 Durch die Vokalisierung des ["H] nach Langvokalen (z. T. auch schon nach Kurzvokalen) am Wortende oder vor Konsonant entstehen fallende Diphthonge mit einem dem [?] nahestehenden Laut als zweiten Bestandteil. vokalisch: Helber 1593 Syllabierbüchlein XVII25 Vom J und V ist oben nach dem Buchstaben W gesehen worden, das jr vokalische art kein sonderes bedenken und aufmerken erheische; Althaus/ Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 573 Vokalisch i. d. R. volle Morphemstruktur, die Nullstufe ist noch wenig verbreitet. Vokalisierung: Althaus/ Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 623 Durch die Vokalisierung des fH] nach Langvokalen . . . am Wortende . . . entstehen fallende Diphthonge. Vokalismus: 1930 Saehwb. d. Deutschkunde II 1211 Vokalismus. 1. Der V. des Indogermanischen: Die Erkenntnis des ursprünglichen V. des Indogermanischen ist nicht so einhellig wie die des Konsonantismus . . . weil die Vokale von Anfang an weniger feste Verhältnisse zeigen . . . Der Bestand der idg. Vokale dürfte etwa folgender gewesen sein.

vokal Adj., Ende 16. Jh. aufgekommen, zurückgehend auf (m)lat. vocalis (—» Vokal); 1 zunächst in der lat. Form als attrib. Adj. im Syntagma Musica vocalis (< mlat. musica 'Gesang(-skunst)' und vocalis), seit Mitte 17. Jh. fast ausschließlich als Bestimmungswort in Zss., erst in jüngster Zeit wieder adj. belegt in der Bed. 'durch die menschliche Singstimme hervorgebracht; die Singstimme betreffend; für Singstimme geschrieben; stimmlich, gesanglich;Gesangs-, Sing-' (im Ggs. zu instrumenta^-)), häufig in Zss. wie Vokalkonzert, -satz und bes Vokalmusik; dazu seit frühem 17. Jh. die subst. Ableitung Vokalist M. (-en; -en) 'Sänger'; im früheren 17. Jh. das aus dem Mlat. übernommene Adv. vocaliter 'gesanglich, stimmlich; auf dem Gebiete des Gesangs; als Sänger'; Mitte 18. Jh. vereinzelt die adj. Ableitung

vokal

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vokalisch 'stimmlich, gesanglich', gleichbed. mit vokal; von Ende 18. Jh. bis ins 20. Jh. gelegentlich die subst. Ableitung Vokalität F. (-; ohne PI.) 'Ausstattung des Menschen mit einer wohlklingenden Stimme; Wohlklang der menschlichen Stimme', in jüngster Zeit auch für 'vokalische Gestaltung (von Musikstücken)'; seit Mitte 19. Jh. die verbale Ableitung vokalisieren V. trans. 'Noten (in der Reihenfolge der Tonleiter) auf Vokale singen', in jüngster Zeit auch gebucht für '(zum Zwecke der Stimmbildung) die Vokale beim Singen (in bestimmter Weise bilden und) aussprechen' (vgl. Vokal), seit späterem 19. Jh. (SANDERS 1871) gebucht die dazugehörige subst. Ableitung Vokalisierung F. (-; -en) 'Stimm-, Gesangsübung (in Form einer Tonleiter) auf Vokale', in jüngster Zeit auch gebucht für 'Bildung und Aussprache der Vokale beim Singen' (vgl. - » Vokal), dafür auch Vokalisation F. (-; -en); seit frühem 20. Jh. aus dem Frz. übernommenes Vokalise F. (-; -n) 'Stimm-, Gesangsübung (in Form einer Tonleiter) auf Vokale'. 2 In jüngster Zeit, wohl unter erneutem Rückgriff auf lat. vocalis (—> Vokal), vereinzelt fachspr. in der Bed. 'stimmlich; die menschliche Stimme, Stimmbildung betreffend'; dazu gleichzeitig die subst. Ableitung Vokalisation F. (-; -en), Fachausdrufck der Linguistik für 'Verstimmlichung; nonverbale menschliche Lautgebung'. vokal 1: Spangenberg 1598 Musica 34 Musica Vocalis; ebd. 35 Musica Vocalj; Mallinger 1613-60 Tagbücher (Mone, QS. II 529) [eine] stattliche instrumentalis und vocalis musica gehalten; Krafft 1616 Reisen 375 Musica, Instrument vnd Vocal; Dannhauer 1642 Katechismusmilch I 485 ob man auch in kirchen und christlichen Versammlungen der instrumentalmusik neben und mit der vocalmusik bey dem gottesdienst sich bedienen möge (DWB); Olearius 1647 Reisebeschr. (NL XXVIII 233) Bey solchem schönen Wetter liessen wir unsere Instrumenta musica auf den überlauff bringen, danckten und lobten Gott mit einer Vocal- und Instrumentalmusik vor den die vergangene Nacht uns geleisteten gnädigen Schutz; Lassenius 1661 Tischreden 75 so ist doch nichts, dass die Sinnen der Menschen dermassen beweget, als eine Vocal-Music, bey welcher nicht allein der Schall und Stimme, sondern auch der geist selbsten ist; ebd. dass die Vocal-Musicen, eine grosse Anmuth menschlichen Sinnen geben; Weise 1675 Die drei klügsten Leute 185 es waren zwey vaganten mit ihrer vocal-musik durch das Städtchen gelaufen (DWB); Riemer 1679 Maulaffe 1 Evlinden, deren Vater Stadt-Cantor wie auch Vocal Musicus bey der Ober-Pfarrkirche . . . war; Lucae 1711 Helicon 707 Wir unterscheiden aber die Vocal- und Instrumental-Music . . . Die Vocal-Music wird heutigen Tages hoch getrieben; Mattheson 1735 Kl. Generalbaßschule 14 alle vocal- und instrumental-musicos (DWB); ders. 1739 Vollk. Capellmeister 204 zwo verschiedene classen der melodien . . . die man vokal und instrumental nennet (DWB); Lessing 1767 Drama-

turgie IX 293 In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; Klinger vor 1831 W. XII 246 [wann ich] im träume ein vollständiges, harmonisches vokal- und instrumentalkoncert nicht allein sehe, sondern auch höre (DWB); Börne vor 1837 Sehr. VIII117 wo weiber einkehren, da folgt auch bald vokal-musik. schon frühmorgens höre ich zwei angenehme weibliche stimmen (DWB); Chrysander 1858 Händel I 328 ich behaupte, dasz er fähig war alles zu sagen, was sich überhaupt mit dem zweistimmigen vocalsatze sagen lässt (DWB); ebd. III 30 eine echte vocalfuge, welche den text mannigfaltig, eindringlich und zuversichtlich ausspricht (DWB); Reissmann 1861 Lied 279 Auch bei den Vocalformen stellte sich das Princip des Rhythmus namentlich im Liede als ein besonders treibendes dar . . . seine ordnende Kraft zeigt sich erst unumschränkt gestaltend in der Instrumentalmusik; Holtei 1861—66 Erz. Sehr. XXXVIII 201 brachte mir der aus bürgern gebildete 'Victoria-verein' ein anmuthiges vokalständchen (DWB); Riehl 1871 Vorträge I 170 Händel und Bach, Gluck, Haydn, Mozart . . . und noch zwölf Andere, Deutsche, Franzosen und Italiener in bunter Reihe, jeder durch ein kleines Vocal- oder Instrumentalfragment vertreten; Faucher 1877 Culturhilder 427 Viel verbreiteter sind in London . . . die Vocal-Concerte. Es giebt jetzt eine große Zahl von sogenannten Musikhallen . . . in welchen Sänger wie Sängerinnen vor einem Publikum singen, welches sich gleichzeitig bewirthen läßt; Dtsch. Rundschau 51 (1887) 146 Beethoven aber hat bei dieser Messe weder dem Wort noch der Stimme einen Einfluß

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vokal

auf Erfindung und Formung gewährt, sondern beide seiner auf den instrumentalen Ausdruck gerichteten Eigenart unterworfen . . . Kurz: der Vocalkomponist hat an dieser Messe keinen Theil; Goldschmidt 1907 Die Lehre der vokalen Ornamentik (Titel); Feilerer 1929 Der Palestrinastil und seine Bedeutung in der vokalen Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts (Titel); Börsen-Ztg. 7. 2. 1937 Diese zärtlich umhegte, farbige Vokalmusik war insofern verderblich, als sie einmal zu einer unsäglichen Passivität und Kontemplation verführte; Ehmann 1950 Erben 61 Die Vocalmusik wird immer der höchste Strebe- und Glanzpunkt der musikalischen Kunstthätigkeit bleiben; NZ. (Basel) 21. 4. 1950 Dreierlei Interessantes bot uns die Vortragsstunde der Gesangsklassen der Schola Cantorum Basiliensis: Eine reiche Auslese geistlicher und auch weltlicher Vokalmusik mit Continuobegleitung an der Hausorgel; Süddtsch. Ztg. 25. 9. 1951 Das macht alles den Anspruch ungeheuer tief und wundersam fromm zu sein, ist aber, auch im Vokal-Instrumentalen kaum mehr als langweilig; Gottwald 1973 Bausteine zu einer Theorie des Neuen Vokalen (Titel); BrockhausRiemann 1979 Musiklexikon II 672f. Vokalmusik, im Unterschied zu Instrumentalmusik allgemein eine für vokale Ausführung bestimmte und für die menschliche Stimme konzipierte Musik. Die Vokalmusik ist wesentlich sprachgebunden; daher wird vielfach der Ausdruck „sprachgebundene Musik" bevorzugt . . . Aus dem Vortrag des liturgischen Wortes . . . folgt die rein vokale Ausführung, so daß später, als seit der Mehrstimmigkeit (9. Jh.) und vor allem seit dem Hervortreten der Instrumentalmusik um 1600 auch die sprachgebundene Musik nicht mehr eigentlich Vokalmusik war, sich der Begriff Vokalmusik schlechthin mit geistlicher Musik verband . . . Seinen vokalen Charakter verliert der einstimmige Choral als Cantus firmus von Organa und Motetten . . . Lied und Versstruktur erweisen sich . . . als Quelle des Vokalen . . . die vorwiegend vokal konzipierte weltliche Musik des 16. Jh. in Italien . . . Gegenstandslos wurde der materielle Gegensatz instrumental-vokal erst durch die Ausschaltung traditioneller Instrumente und des Interpreten innerhalb der elektronischen Musik. vokalisch: 1751 D. Neueste aus d. Anm. Gelehrs. IV 79 unter dem cántico conticorum wird nicht nur verstanden vox, oder eine vocalische stimme . . . sondern auch der klang deren instrumenten (DWB). Vokalise: Süddtsch. Ztg. 15. 2. 1949 [Interpreten] von geistigem Range, überzeugendem Gestaltungswillen, indessen nicht immer von dem abso-

luten, naturhaften Wohllaut, den die komplizierten, nach Schönheit zielenden Vokalisen verlangten; ebd. 13. 5. 1952 [Die Folklore] huldigt hauptsächlich der „Vocalise". Nicht der Gedanke des Gedichts sucht seine musikalische Entsprechung, sondern Wort und Satz als Laut oder Lautkomplex. vokalisieren: Heine vor 1856 (W. 1349) vokalisierend saszen da um mich [Apoll] die töchter, das sang und klang la-la, la-la (DWB); Jahn 1859 Mozart IV 716 kam man auf den gedanken diesen blosz vocalisierten melodien texte unterzulegen (DWB); Schlözer 1872 Amerikan. Br. 118 vokalisierte . . . den Anfang zur Sommernachtsouvertüre. Vokalist: Prätorius 1619 Syntagma mus. II 72 unter einer vollen wohlbestllten Music von Vocalisten vnnd Instrumentisten; Voss. Ztg. 17. 12. 1930 Vokalisten (Uberschr.) Nicht unbegabt ist der dänische Sänger Eiler Schiöler. Vokalität: Schiller 1799 Dilettantismus (XII325) in Italien, wo die grössere Vokalität der Nation der Pfuscherei mehr widerstrebt; Goethe vor 1832 Br. a. Zelter VI 410 Die dem Menschen angeborne Vokalität (KEHREIN); 1928 Handb. d. Frankreichkunde I 204 Gemeinsam mit den deutschen Musikern haben die französischen im allgemeinen den Mangel an Vokalität, wie sie die geborene Euphonik des italienischen Belcanto am stärksten verkörpert; Brockhaus-Riemann 1979 Musiklexikon II 672 Man kann [in der Volksmusik] zwei Stufen unterscheiden: 1. innerhalb reiner Vokalität den Ausgleich zwischen ungebundener Melismatik und Textvortrag; 2. nach dem Eindringen instrumentaler Elemente in die vokale Musik des Sprachvortrags die Annäherung des Vokalen an das Instrumentale. vocaliter: 1627-29 (Heffner u. Reuss 1852 Würzburg 181) Ein S t u d e n t . . . ein vortrefflicher Musikus vocaliter und instrumentaliter. vokal 2: Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 429 [Stimmqualität und Artikulationsweise] bilden „den idiosynkratischen, relativ permanenten vokalen Hintergrund eines Individuums". Vokalisation: Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 429 Gaumann hält „sowohl die verbale oder linguistische Kommunikation . . . wie die paralinguistische, die sowohl Qualitäten der Sprechstimme wie der Sprechweise umfaßt" für sprachlich. Dagegen hält er „Vokalisationen" wie Lachen, Weinen, Husten, Rülpsen und Gähnen . . . für nichtsprachlich.

Volant

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V o l a n t M . ( - s ; - s ) , regional ( s c h w e i z . ) a u c h N . , i m f r ü h e n 1 7 . J h . entlehnt aus gleichbed. f r z volant volare),

(
rechnen wir diejenigen Wörter und Wendungen, die sich hauptsächlich auf Nahrungsmittelaufnahme und -ausscheidung sowie auf das Geschlechtliche beziehen oder Vergleiche damit eingehen und gleichzeitig einem gewissen Tabu unterliegen; Duden 1977 Gr. Wörterbuch d. dt. Spr. Vorw. 15 Wörter, die einer groben und gewöhnlichen Ausdrucksweise angehören, werden mit „derb" bewertet, wie z. B. „Arsch", „bescheißen" und „Fresse". Wörter, die zu einer niedrigen und obszönen Ausdrucks weise, zur Gossensprache gehören, wie z. B. „Arschloch", „Möse" und „vögeln", werden mit „vulg." (vulgär) gekennzeichnet; Mannh. Morgen 17.118. 1. 1981 Sie kritisierte das „vulgäre Benehmen" ihrer Kolleginnen und blieb „einfach, spröde, korrekt". vulgär 3: 1855 Prutz' Museum 1 404 ein Sammelplatz des vulgärsten Liberalismus; Petersen 1870 Genrebilder 83 diese tiefliegenden, starrblickenden, graugrünen Augen [eines alten Geigers] betrachtete, so wird uns klar, dass dahinter ein vulgäres Menschenkind nicht stecken kann; Rodenberg 1872 Studienreisen i. England 56 die vulgär gewordene Märchenpoesie; Marx 1875 Randglossen 180 Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen übernommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen; ebd. 187 Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß gerade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist — selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Erlaubten; Hillebrand 1882 Zeitgenossen 86 auch sie sind Pessimisten, die sehen, wie Frankreich im Zuge ist, seine glänzendsten Eigenschaften einzubüßen, wie es von Tag zu Tag ein Stück mehr von seinem alten Idealismus verliert, wie sich das Leben immer platter und vulgärer gestaltet und die Nation, die einst ein „peuple de gentilshommes" war, im besten Zuge ist eine Nation von Realschülern und Werkführern zu werden, aber sie wissen auch, daß dies nicht so sehr die Schuld der Männer ist, welche bisher das geistige und staatliche Leben der Nation vertreten und geleitet, als die unausweichbare Folge der ebenso unausweichbaren Demokratie; Kraus 1898 Br. Beil. Nr. 18 Vulgär-Rationalismus; 1898 Cosmopolis XII 568 das Schlagwort von der banausischen Vulgärwissenschaft,

vulgarisieren die sich vor der klassischen Wissenschaft nicht sehen lassen dürfe; 1911 Grenzboten IV 85 Vulgärpsychologie; Naumann 1911 Geist 180 vulgären Rationalismus; Schmitz 1911 Brevier 329 die banale Vulgärkunst des grosstädtischen Alltags; ebd. 330 eine Vulgärkunst schlechter Theaterstükke, Romane, Bilder und Lieder; 1916 Schwed. Stimmen 170 Der schwedische Vulgärliberalismus; Lenz 1922 Staat Vorw. V Marxens eigene Definition der „Vulgärökonomie"; ebd. 154 warum die feindlichen Ökonomen zu „Vulgärökonomen" . . . in Marxens und in Marxisten Augen werden sollten; ebd. 183 von der Staatsnegation und der Verachtung des Staates, mit welcher der Vulgärmarxismus kokettiere; Borchardt 1928 Handlun-

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gen 33 [Modephilosophie als] Vulgärwissenschaft, die bis auf die Katheder von Universitäten hinauf sie rechtfertigt; Höhne 1928 Reportage 32 Vulgärromantik; Voss. Ztg. 9. 2. 1930 So kann die hintergründige Situation der vulgären Gegenwart gesehen werden; Gebauer 1932 Kulturgesch. 306 vulgären Aufklärung; 1934 Volk u. Reich 486 Vulgär-Pazifismus; Holzner 1961 VPs. 53 Vulgärpsycholoanalyse; Frankel 1964 Deutschland 5} Der deutsche Vulgärparlamentarismus; 1965 Münch. Antiquarius 6 [der späte Trivialroman] ist nur ein Vulgärmanierismus, aber doch ein Stück von der antinaturalistischen Konstante der europäischen Geistesgeschichte.

vulgarisieren V. trans., im früheren 19. Jh. (gebucht 1831 bei Oertel) aufgekommene Ableitung zu —» vulgär (vgl. älteres gleichbed. frz. vulgariser und engl, vulgarize, zurückgehend auf mlat. vulgarizare 'in die Volks-, Nationalsprache übersetzen; verbreiten; veröffentlichen' < ital. volgarizare, zu lat. vulgare), vgl. älteres, seit frühem 18. Jh. (SPERANDER) nur gebuchtes vulgiren 'unter das gemeine Volk bringen, verbreiten, bekannt machen' ( < gleichbed. lat. vulgare, Etymon von Vulgata, Bezeichnung für die allgemein verbreitete, kanonisierte Bibelübersetzung der katholischen Kirche); a in der Bed. 'etwas (z. B. eine wissenschaftliche Theorie, Forschungsergebnisse) zum Zwecke allgemeinerer Verbreitung in allgemeinverständlicher Form aufbereiten', im Unterschied zu popularisieren häufig negativ konnotiert im Sinne von 'in unzulässiger, oberflächlicher Weise vereinfachen; verwässern, trivialisieren' (—»vulgär 3); dazu seit spätem 19. Jh. die Personalableitung Vulgarisator M. (-s; -en) 'jmd., der eine wissenschaftliche Lehre oder Forschungsergebnisse zum Zwecke allgemeiner Verbreitung (allzu oberflächlich, verwässernd) aufbereitet' (vgl. gleichbed. frz. vulgarisateur), im 19./20. Jh. die gelegentlich belegten Nomina actionis Vulgarisation F. (-; ohne PI.) (vgl. gleichbed. frz. vulgarisation) und Vulgarisierung F. (-; ohne PI.) '(verwässernde) Aufbereitung und Verbreitung von einer wissenschaftlichen Lehre oder von Forschungsergebnissen'; b Anfang 20. Jh. vereinzelt nachgewiesen in der Bed. 'vulgär, gewöhnlich machen; herunterziehen' (—» vulgär 2) mit dem in jüngster Zeit vereinzelt belegten Verbalsubst. Vulgarisierung F. (-; ohne PI.) 'Veränderung zum Pöbelhaften, Niedrigen, Gewöhnlichen hin'. vulgarisieren a: Hillebrand 1878 Profile 4 weil sie sich an ein gebildetes, aber auf anderem Gebiet arbeitendes Publicum wenden. Sie suchen deshalb keineswegs die Wissenschaft zu vulgarisieren; Sie wenden sich an philosophisch oder politisch, jedenfalls classisch gebildete Menschen, und sie suchen die feinsten Gedanken in edelster Sprache auf Grund tüchtigsten Nachdenkens oder gründlichster Studien in diese zierlichen Schmuckkästlein einzuschließen; Revue 25 (1900) III 95 Die Quadrille, die Polka, der Schottisch, der deutsche

Walzer kommen aus ihren verschiedenen Ländern, um sogleich vulgarisiert und heruntergezogen zu werden; Waha 1910 Nationalök. 12 J . B. Say vulgarisierte jedoch die Naturlehre der Volkswirtschaft nicht, ohne sie fortzubilden; 1916 Franzosen 283 Verarbeitung ausländischer Wissenschaft. — Vulgarisieren, keine Forschungsmethode; ebd. 293 In handliche . . . leicht faßliche Form zusammenzuschmelzen und umzugießen, was andere aus tausend Mosaikstückchen zusammengesetzt, in lebenslangen Studien, einer das Werk des

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Vulgarismus — Vulgarität

anderfen fortsetzend, in neidlosem Fortbauen mit unverwandtem Blick auf das Kulturwerk für ihre Wissenschaft erworben haben — zu vulgarisieren, darin sind die Franzosen Meister; Ortegay Gasset 1943 Wesen (Übers.) 97 Die Kulturen vermischen sich miteinander und vulgarisieren sich; Adomo 1960 Reden 49 vulgarisierte Erkenntnistheorie.

gewissenhafter Vulgarisator auf, und er ist in Wahrheit, wie er sich wohl gerühmt hat, „Führer für Tausende" geworden; Waha 1910 Nationalök. 11 hatte der grosse Schotte [Adam Smith] das Glück, in J. B. Say einen genialen Vulgarisator, einen Meister der Darstellung zu finden; Blei 1930 Männer 139 Vulgarisator mit sozialem Programm.

Vulgarisation: Morf. Dichtung (1889) 1259 [Fontenelles Werk, die 1687 erschienene Historie des Oracles] ist . . . ein Werk der Vulgarisation: Fontenelle schöpfte die Idee dieses Buches aus dem schwerfälligen lateinischen Traktat eines Holländers; VSozialgesch. 1 (1903) 604 so muss eine solche „Vulgarisation" für einen weiten Kreis von Lesern von grossem Nutzen sein.

Vulgarisierung: Blei 1930 Männer 275 [Wortarmut und weitere Verarmung durch] Vulgarisierung der Idee; Höpker 1936 Rumänien 35 der Vulgarisierung zu verfallen.

Vulgarisator: Hillebrand 1882 Zeitgenossen 301 und die belgischen Oekonomisten sind, mit einer ruhmvollen Ausnahme, durchgehend selbst in dieser Wissenschaft mehr Vulgarisatoren, als Pfadfinder; Noè um 1885 Alpenbuch II 1 432 Vulgarisator; Nordau 1885 Paradoxe 348 Vulgarisatoren; 1894 SB. München 156 In einer Zeit, da das Interesse für Kunstgeschichte weitere Kreise zu ergreifen anfing, trat Lübke als ein geschickter und

vulgarisieren b: Hashagen 1910 Kandidatenzeit 64 Die alltägliche Erfahrung zeigt ja nur zu deutlich, dass, wenn Freude ohne Arbeit erniedrigt und vulkanisiert, dies ebenso zutrifft bei Arbeit ohne Freude. Vulgarisierung: Die Zeit 26. 6. 1981 Moshe Dayan, dem alten Haudegen, schwant Schlimmes: die „Vulgarisierung des öffentlichen Lebens"; er sieht bereits den „Staat im Rollstuhl" [Stil schonungsloser Auseinandersetzung des Demagogen Begin],

Vulgarismus M. (-; Vulgarismen), Mitte 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl. vulgarism (zu vulgär < lat. vulgaris, —• vulgär); in der Bed. 'allgemeine, im Volk übliche, volkstümliche sprachliche Erscheinung', vor allem abwertend für 'derber, grober, niedriger, obszöner Ausdruck; Ausdruck der niedrigen Umgangssprache'; auch fachspr. im juristischen Bereich für 'Volksrecht; von der klassischen Rechtsform abweichendes Recht'. Kohl 1844 brit. Inseln II 60 Vulgarismus; ebd. III 493 die [sprachlichen] Vulgarismen der mittleren Bürgerstände; Koffmane 1879 Entstehung d. Kirchenlat. 3 Absonderlichkeiten der Wortbildung und Diction (Vulgarismen genannt) innerhalb des Kirchenlateins; ebd. 89f. Gehören . . . neben den griechischen Fachausdrücken und den eigens gebildeten heimischen Stämmen sogenannte Vulgarismen zu den Eigentümlichkeiten des Kirchenlateins?; Meyer 1885 Essays 1118 Um dieselbe Zeit beginnen auch die von Korais geförderten Versuche für die griechische Literatur eine moderne Schriftsprache zu schaffen. Bis dahin hatte man in einem Jargon geschrieben, besonders gedichtet, der je nach der größeren oder geringeren Bildung der Autoren haltlos hin und her schwankte zwi-

schen engerer Anlehnung an das classische Griechisch in seiner byzantinischen Mumificirung und zwischen der Aufnahme zahlreicher Vulgarismen und Italianismen oder Gallicismen; Achelis 1890 Prakt. Theologie I 394 Nahe verwandt [dem Provinzialismus] ist der Vulgarismus, die sprachliche Nachlässigkeit des gemeinen Lebens; Phonet. Studien 4 (1891) 255 Vulgarismus; Dibelius 1929 England II 81 Die heutige Aussprache . . . von write, gnat, knot mit ihren stummen Anfangskonsonanten sind Vulgarismen, die damals mit dem starken Heraufdrängen der unteren Klassen in die Sprache der Gebildeten eindringen; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 234 in Modeausdrücken und Vulgarismen; Wieacker 1955 Vulgarismus und Klassifizismus im Recht der Spätantike (Titel).

Vulgarität F. (-; ohne PI.), Mitte 19. Jh. unter Einfluß von gleichbed. engl. vulgarity (zu vulgar, zurückgehend auf lat. vulgaritas 'gemeines, niedriges Wesen;

vulgo — Vulkan

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Pöbelhaftigkeit') aufgekommene Ableitung zu —» vulgär; in der Bed. 'Pöbelhaftigkeit, Derbheit, Gemeinheit, Niedrigkeit' (—* vulgär 2), gelegentlich 'Trivialität, Plattheit, Gewöhnlichkeit' (—» vulgär 3), auch 'allgemeine Verbreitung; Volkstümlichkeit' (—»vulgär 1). Kohl 1843 Irland 1199 Die Nase [der Iren], in der oft so große Vulgarität und oft so viel Feinheit und Adel liegt, ist . . . schön; Hillebrand 1876 England 359 Wie weit ist das . . . von der realistischen Vulgarität eines De Foe; Bamberger 1899 Erinn. 258 Vulgarität des Auftretens; Hashagen 1910 Kandidatenzeit 64 [nur wenn der Mensch nach Höherem strebt] vermag er Grosses zu wirken und z.B. die Vulgarität der Gesinnung zu überwinden, welche nur Arbeit und Mühe fühlt und kennt und alles Wahre, Begeisternde in den Dingen und im Leben für sich ersticken lässt; Schmitz 1914 Frankreich 53 die durchschnittliche Vulgarität der deutschen Gesellschaft; Kircher 1927 Fair Play 81 Durch die Demokratisierung hat gerade der Tennissport eine offensichtlich vulgäre Note

erhalten, die er bisher nicht hatte. Die „Vulgarität" bedeutet etwas recht Wertvolles: diese Menschen auf den holperigen Wiesenplätzen erfreuen sich ihres Spiels . . . ihres Daseins; Friedell 1928 Kulturgesch. II 19 In diesem Streben nach äusserer Nobilitierung bei fortdauernder innerer Vulgarität kündigt sich bald der Servilismus an; Macdonell 1940 Gentleman 6 Unbeliebtheit meines Vaters . . . wegen der Tradition händlerischer Vulgarität; B. N. 28. 5. 1943 Die Seele meiner Serviertochter ist der Vulgarität ihres Namens 'Marie' umgekehrt proportional; Bonn 1953 Gesch. 18 Onkel Louis brachte einen Schuss gesunder Vulgarität in die Familie; Adorno 1961 Noten II 8 die Vulgarität der Salons.

vulgo Adv., Anfang 17. Jh. übernommen aus (m)lat. vulgo 'bei, vor den Leuten; durch das Volk; insgesamt; gewöhnlich' (Ablativ von vulgus, —» vulgär); in der Bed. 'volks-, umgangssprachlich, im Volksmund, gemeinhin, gewöhnlich (genannt)', früher als Bestimmungswort in der Zs. Vulgoname 'Trivial-, Vulgärname', heute nur noch zwischen zwei Bezeichnungen vorkommend, die sich auf ein und denselben Gegenstand bzw. ein und dieselbe Person beziehen für 'gewöhnlich bezeichnet, bekannt als'. Wedel um 1600 Hausbuch 49 Die hebraeische biblia, vulgo Complutensia ist mit zugethaner dreifachen verdolmetschung, chaldaeischer, grichischer und lateinischer sprachen vom episcopo Toletano hervor und in druck geben; Thomasius 1688 Monatsgespr. I 757 die vorhero betrachtet / sind auch vulgo bekannt; 1784 Journal v. u. f. Deutschland II 184 bey der Stadt Sulau (vulgo Zulauf); Hermes 1789 F. Eltern III 152 jene schöne Fremde . . . vulgo Lea Wiener; Laukhard 1792 Leben II 191 Anm. wissen wollen, wie ich vulgo in der Pfalz geheissen habe; Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 142 So sang der Judenbekehrer Stephan Schulz (vulgo Sanftmuth Sieget) zu Rom in der Peterskirche das Lutherische Siegeslied: Ein' feste Burg ist unser Gott, ein' gute Wehr und Waffen; Bauer 1836 Ueberschw. I 79 dem

Bullen oder vulgo Faselstier; Suckow 1862 Sold'leben 89 einem preußischen und mecklenburgischen Postwagen, vulgo Leiterwagen; Rodenberg 1863 Strassensängerin II 80 Captain Smallridge, vulgo „German John"; Springer 1868 Berlin 180 eine Berliner Bierstube — vulgo Kaffeehaus; Peterssen 1870 Genrebilder 46 ein . . . Röllchen Rauchkraut (vulgo Zigarre); Lindenberg 1883 Berlin 60 dieser Geschmack, vulgo Appetit, ist immer vorhanden; Frommel 1893 Lenz 21 der Landbaumeister Frommel, vulgo der „Onkel von Schwetzingen"; 1897 2DÖ. Alpenverein 87 Anm. Vulgonamen; 1903 Grenzboten IV 387 der preussische Landtag, vulgo das Abgeordnetenhaus; Matscher 1940 Faltpostblüten 65 dass der Hund vom Tschalehner Sepp, vulgo Suhl, ein ganz ordentlicher Hund ist, wo noch keinen gebissen hat.

Vulkan M. (-s; -e), auch in der lat. (flekt.) Form und früher auch in der Form Volcan; l a schon im Ahd. (Notker) übernommen aus lat. Vulcanus, Volcanus als mythologischer Name für den (am Ätna angesiedelten) italischen Gott des Feuers

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Vulkan

und Schutzgott der Schmiede, früher auch personifizierend für 'Feuer, Flamme', z. B. im Syntagma dem Vulkan opfern 'den Flammen übergeben; verbrennen'; b bei Paracelsus weiterentwickelt zu der Bed. 'Feuerelementargeist' und 'Feuerkünstler, Alchimist'. 2a Ende 16. Jh. in der lat. (flekt.) Form vereinzelt, seit späterem 18. Jh. in der heutigen Form kontinuierlich belegt, wohl entlehnt aus gleichbed. ital. vulcano, span. volcan (vgl. portugies. volcäo, frz. volcan), im Bereich von Geologie und Geographie in der Bed. 'feuerspeiender Berg' als Bezeichnung für die feste, flüssige oder gasförmige Stoffe als Folge magmatischer Veränderung im Erdinnern auswerfende Stelle der Erdoberfläche bzw. den durch Anhäufung von magmatischem Material entstandenen Berg; Bestimmungswort zahlreicher Zss. wie Vulkanasche, -ausbruch, -krater und Vulkangestein, dafür fachspr. heute auch Vulkanit M. (-s; -e), auch in bildlicher Verwendung (z.B. von Feuerwaffen); b von daher seit spätem 18. Jh., wohl unter erneuter ital./frz. Einwirkung übertragen auf Personen, bei denen zerstörerische oder schöpferische starke Kräfte latent vorhanden sind (und sich eruptiv Bahn brechen), bes. auf menschliche Gemeinschaften und Institutionen o.ä. bezogen, in denen latent zur gewaltsamen Veränderung drängende politische und soziale Konflikte schwelen bzw. zum Ausbruch kommen; c seit früherem 19. Jh. in festen Wendungen wie auf dem Vulkan 'in einer gefahrvollen Situation', bes. auf einem Vulkan tanzen 'sich in einer gefahrvollen Situation befinden; auf einem Pulverfaß sitzen' und 'im Bewußtsein drohender Gefahr ausgelassen sein' (vgl. gleichbed. frz. danser sur un volcan; ital. essere, dormire sopra un vulcano). Dazu seit Anfang 19. Jh. die subst. Ableitung Vulkanität, gelegentlich Vulkanizität F. (-; ohne PI.) 'vulkanische Tätigkeit' und 'vulkanische Herkunft' (vgl. —> Vulkanismus), seit späterem 19. Jh. (gebucht 1863 bei Kaltschmidt) die Personalableitung Vulkanologe M. (-n; -n) 'Vulkanforscher' mit der dazugehörigen Ableitung Vulkanologie F. (-; ohne PI.) 'Lehre, Wissenschaft von den Vulkanen, dem Vulkanismus' und vulkanologisch 'die Wissenschaft von den Vulkanen, vom Vulkanismus betreffend' (zu a). Vulkan la: Stainhöwel 1473 ber. Frauen 39,19 Vulcanus, ain got des füwrs; um 1522 Requiem a 2*'h den lamen vnd hincken den Vulcanum, oder abgot des fewers, ain lebendiges, gantz verbrents opffer der hinckenden vnnd lamen, Bäpstlichen, gaystlichen Recht. . . geopffert; Gödelmann 1592 Von Zauberern 208 vnnd habe jhrer [der Hexen] vber hundert verbrand / vnd habe taglich immer newe Brandopffer eine vber die ander dem Vulcano dem Fewer geopffert; vor 1600 Ayr (Mauermann 1911 Bühnenanw. 119) Vulcanus, der donnerkeilschmid, hat sehr vil geschnitter stral, tregt ein hamer, ampas, glüent Köln, darinnen Eisen stecket, so glüet; Peschwitz 1663 Parnas 866 Vulcan der grosse Harnischfeger. Der Götter lahmer Schmiedt. Der Venus krummer Mann; Praetorius 1677 vom Sieb-Läuffe H 4h Die Lehrer / und Meister ausgerottet / ihre Bücher dem Vulcano und Feure / auffgeopffert; 1749 Neue Beyträge (Bremen) II 233 Vulkan, der Gott der

Flammen, schmiedet, Vom schweren Hammer nie ermüdet, Dem Jupiter den wilden Blitz; Bräker 1789 Lebensgesch. 83 dem Vulkan zum Opfer bringen; Schiller vor 1805 (VI 362) schon liegt, besiegt vom prasselnden vulkan Deiphobus majestätsche bürg im staube (DWB); Mommsen 1877 Reden 223 dass wir . . . alle Ursache haben . . . auf einen gnädigen Vulkan zu hoffen. Vulkan lb: Paracelsus um 1520 (11, 47) vulcanus (WEIMANN); ebd. um 1530 (I 14, 131) vulcan (WEIMANN); Grimmelshausen 1672 Vogelnest (III 341) Wir sehen tiglich genügsame Wunderwercke Gottes vor Augen, die uns zu seinem Lob reitzen, wann wir deren nur wahrnemmen, und dSrffen nicht erst deßwegen wie Theophrastus Paracelsus . . . und Heinrich Kornman . . . seltzame und unerhörte Geschöpfte richten, sonderlich wo wir sorgen müssen, daß der leidige Teuffei , unter der Gestalt solcher Nymphä oder Wasser-

Vulkan leute, Pygmai oder Bergleute, Sylphis oder Lufftleut, und dann der Salamandri, Vulcani oder Feuerleut seyn Gauckelfuhr hat, uns Menschen zubetrügen. Vulkan 2a: 1599 Orientalisch Indien III 49 ein Vulcanus, oder ein Fewerberg; ebd. 64 Vulcanos, das ist, Berge die Fewer oben ausswerffen; Hulsius 1619 16. Schiffart 71 Vulcanum; 1772 Frankf. gel. Anz. 275 Anmerkungen und Nachrichten von Basalten, Lavaströmen, Vulcanen; Saussure 1781 Reisen durch d. Alpen (Übers.) I 294 Spuren von einem alten Vulcan. Da aber das Wort Vulcan sich nicht in dem Wörterbuche dieses [Schweizer] Bauern fand, so bediente sich die fragende Person der Umschreibung: ob ihnen kein Berg bekannt sey, worinnen man verbrannte Steine finde? Die guten Leute antworteten mit ja!; Forster 1787 Reise um d. "Welt 116 Die glühenden Steine, welche der Volkan in die Höhe warf, hatten zuweilen eine ungeheure Größe; Werner 1787 Gebirgsarten 23 Die zusammen gefallenen Vulkane entfalten oft innerhalb des Umkreises ihres Einsturzes kleine Seen; Forster 1791 Ansichten (IX 18) vermeintlichen Vulkanen am Rhein; Goethe 1795/6 Lehrjahre (21) 120 sah er mit Entsetzen in den Abgrund . . . hinab, wie man in den ausgebrannten hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt; 1798 Gallerie d. Welt 144 ausgebrannte oder erloschene Vulkane; Schiller vor 1805 (IX 60) von dem schlage des entzündeten vulkans [Explosion eines Minenschiffes] war die Scheide bis in ihre untersten tiefen gespalten (DWB); Hussell 1813 Leipzig (Ndr. 1896) 2 die höllischen Vulkane der donnernden Feuerschlünde [Artillerie]; Kephalides 1818 Italien II 159 Der Guss des Vulcansandes; Steffens 1841 Was ich erlebte IV 41 ausgebrannten Vulcane des Rhöngebirges; Moltke 1845— 6 Wanderbuch (Rom) 37 Diese kleinen, tiefliegenden Vulkane haben keine eigentlichen Trichter oder Umwallung; Gutzkow 1860 Zauberer VI 281 mit Augen . . . die zwei Kratern eines Vulkans glichen; 1861 Mem. Humboldts II 29 Vulkane oder feuerspeiende Berge; Dincklage 1870 Gesch. I 161 Uebrigens war von diesem Augenblicke an der Candidat stumm wie ein ausgebrannter Vulkan; 1870 SB. München I 153 Über den Riesvulkan und über vulkanische Erscheinungen im Rieskessel (Oberschr.); 1876 Geograph. Jahrbuch 195 Vulkaneruptionen; Höchstetter-Bisching 1898 MG. 142 Schlammvulcane, Salsen oder Macaluben; Kürnberger 1898 Eis 4 [die Rhön] ist ein unfruchtbarer Vulkanboden; Sapper 1905 In den Vulkangebieten Mittelamerikas und Westindiens (Titel); Wernert 1905 Sizilien 16 Untermeerische Vulkane (Uberschr.); Raa.be vor 1910 (S. W. I 4, 398) im westen über Rees hatte

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sich, begleitet von einem donnerartigen krachen, der dunkle nachthimmel blutig rot gefärbt, alle geschütze auf den wällen, alle geschütze in den angriffslinien brüllten los . . . und als peitsche der satan sie vorwärts, seiner hölle zu, hatte sich plötzlich diese ganze masse [des Reichsheeres] in bewegung gesetzt, dem flammenden vulkan im westen entgegen (DWB); 1916 Schwed. Stimmen 183 mit den Schlammvulkanen von Druckerschwärze, denen das Publikum der Ententeländer seine Neuigkeiten entnimmt; Sapper 1917 Katalog der geschichtlichen Vulkanausbrüche (Titel); Edschmidt 1933 Südreich 81 Bewohner der Vulkangebiete; Bertololy 1934 Dora 20 indem mir die Villa einmal als ein verzaubertes Märchenschloss, dann wieder als ein gefahrdrohender Vulkan erschien; Busse 1935 Leben 26 Vulkanlandschaft des Hegaus; Dtsch. AI. 8. 1. 1935 das Oel tritt in zahlreichen Sümpfen aus Schlammvulkanen hervor; ebd. 22. 8. 1935 Noch im Jahre 1825 wurde ein furchtbarer Vulkanausbruch auf der Insel Narborough (span. Fernandia) von englischen Schiffen beobachtet; NZ. (Basel) 3. 5. 1949 Das Vulkangebirge des Kaiserstuhls (Uberschr.); Ertler 1950 Erloschene Vulkane (Titel); Unruh 1950 Liebe 71 die Stimme, die wie ein Vulkan aufbrach; Süddtsch. Ztg. 24. 1. 1951 Vulkanausbruch fordert 3000 Todesopfer (Uberschr.); ebd. 15. 11. 1952 Der zweite Krieg, so furchtbar er auch gewesen, war doch nur ein Nachbeben, ein später Ausbruch des gleichen Vulkans; Die Zeit 5. 2. 1982 Das vulkanische Land reckte und streckte sich wieder einmal, daran war man gewöhnt . . . Am Fuß des Tarawera Vulkans hatte das heiße Erdinnere zwei eindrucksvolle Sinter-Terrassen geschaffen . . . Noch heute sind die Flanken des 1111 Meter hohen Vulkans eine steinerne Einöde. Vulkani(zi)tät: 1803 (Freyberg 1932 geolog. Erforschung Thüringens 127 Nr. 322) Vulcanität des Basaltes; Steffens 1821 Sehr. 1191 Die Vulkanität gehört zu den gewaltsamsten Äusserungen; Goethe vor 1832 (W. XLVII 117) Erlauchter Gegner aller Vulcanität (KEHREIN); Steffens 1841 Was ich erlebte IV 41 Vulcanität des Basalts; 1861 Mem. Humboldts II 34 die Vulcanicität, d. h. die Reaction des Innern eines Planeten nur von der Seite der zerstörenden Wirkung aufgefasst. Vulkanologe: 1913 SB Berlin 812 Vulkanologen; Kluth 1939 Wunder 136 Vulkanologen; Süddtsch. Ztg. 15. 12. 1950 Die Vulkanologen Italiens wagen es nicht, irgend etwas über den „wandernden Berg Siziliens", über den Ätna vorauszusagen; Bad. Ztg. 18. 5. 1971 Sie [die Bewohner] hoffen offenbar, daß sich die Lava zwischen ihren beiden Dörfern hindurch weiter bergab wälzen würde —

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vulkanisch

eine Annahme, die auch Vulkanologen geäußert hatten. Vulkanologie: 1876 Geograph. Jahrbuch 189 Vulkanologie; 1915 f f . Zeitschrift für Vulkanologie (Titel); B. N. 2.13. 10. 1943 Vulkanologie; Dtsch. AZ. Ii. 9. 1944 Der Führer hat . . . Ferdinand von Wolff in Halle . . . in Würdigung seiner Verdienste auf dem Gebiete der Vulkanologie die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen. vulkanologisch: 1913 SB Berlin 813 Aufgaben und Ziele vulkanologischer Forschung; 1937 Gasmaske 146 Vulkanologischer Dienst. Vulkan 2b: Forster 1789 Br. über Italien I 127 Der Vulkan ihrer Einbildungskraft ist erloschen; er sprüht nur noch von Zeit zu Zeit Funken; Matthisson um 1790-91 an Bonstetten (I 271) Aschenregen politischer Vulkane; Buchholz 1821 Taschenb. 92 In ihrer Ansicht war durch das Wahlgesetz der Vulkan der Revolution aufs Neue geöffnet worden; Bergk 1826 Almanach 26 Spanien ist ein Vulkan, dessen Ausbrüche nahe und ferne Verheerungen verbreiten; Hermann 1845 Ansichten a. Kärnten 15 dieser ausgebrannte Vulkan der Empörung; Schlözer 1845 Jugendbr. 80 Paris ist der Vulkan Europas; Burckhardt 1847 Br. III 59 Tausende . . . die in der Jugend, auf deutschen Hochschulen, wahre Vulkane von Unmittelbarkeit, selbst von Originalität und von Poesie zu bleiben . . . versprachen und jetzt servile . . . Philister sind; Bismarck 1853 Br. an Ger. 73 Die hiesige Bevölkerung [Frankreichs] wäre ein politischer Vulkan, wenn sich Revolutionen mit dem Munde machen ließen; 1860 Kampf der Revolution 15 Napoleon hat den Frieden gestört, durch ihn sind die Eruptionen des politischen Vulcans entstanden; Wolff 1894 Novellen 14 Das durch die langen Wimpern nur mühsam gedämpfte Feuer kündete deutlich, dass hier ein Vulkan von Leidenschaft schlummerte; Joel 1915 Weltkultur 87 die Vulkane des Hasses; Kircher 1926 Engländer 24 weibliche Vulkan; Brandl 1936 Inn 212 vor dem flammenspeienden Vulkan des

Tschechentums; Süddtsch. Ztg. 16. 2. 1950 Es war ein Vulkan voll Ausgelassenheit und brodelnder Faschingslust; ebd. 20. 6. 1955 Niemand hatte erfaßt, daß unter der ruhigen Oberfläche ein seelischer Vulkan brodelte, daß sich sieben Jahre lang Kräfte stauten, die zum Ausbruch drängten; Niebelschütz 1961 Spiel 528 Der Alte im Sachsenwalde von Friedrichsruh war ein grollender, brodelnder Vulkan. Vulkan 2c: Wit v. Dörring 1827 Lucubrationen 56 Ohne sie [die Pressefreiheit] schreitet der Autokrat stets auf einem Vulkan, dessen Ausbrüche sich nicht im Voraus berechnen lassen; Dingelstedt 1839-43 Wanderbuch (V 7) Die Stadt Kassel war damals der Vulkan, auf welchem getanzt wurde; Waagen 1839 Kunstwerke III 10 [Paris] auf diesem politischen Vulcane die Stellen, welche an den Ausbrüchen von 1572, 1789, 1791, 1793, 1799, 1830 eine Hauptrolle gespielt haben; Gisbert 1879 Zeit/Arabesken 116 Er tanzt in des Wortes verwegenster Bedeutung auf einem Vulkan; Fontane 1886 Br. III 143 auf dem Vulkan tanzen; Klein 1925 Generaldirektor o.S. Wenn man mit seiner Frau auf einem Vulkan lebt; Lokesch 1927 Fortf. von Scherr, Kulturgesch. 699 Nun begann der wilde Tanz auf dem Vulkan; Goethe 9 (1944) 60 Wir schlafen alle auf Vulkanen; Münch. N. N. 26.127. 2. 1944 Es ist gewiß nicht die Zeit ausgelassener Feste, wo Blinde auf dem Vulkan tanzen; Süddtsch. Ztg. 18. 12. 1950 Wir zweifeln nicht, daß unsere Parteien auch weiterhin ihren Ehrgeiz darein setzen werden, uns ein mißverstandenes Prinzip der „klassischen Demokratie" vorzuexerzieren, etwa nach der Spielanweisung: „moderato — auf einem Vulkan zu tanzen"; ebd. 22. 12. 1950 Geschäfte auf dem Vulkan (Überschr.) Auch auf Vulkanen lassen sich Geschäfte machen. Und wer wünschte sich nicht einen solch klugen Schah!; ebd. 12. 2. 1953 Tanz auf dem Vulkan (Überschr.) Während in Westberlin die Flüchtlingsnot zur Katastrophe wächst, während in der Bundesrepublik noch Tausende darben, feiert bei uns und anderswo die sogenannte elegante Welt rauschende Feste; Offenburger Tagebl. 4. 3. 1961 „Wir sitzen auf einem Vulkan" (Oberschr.).

vulkanisch Adj., seit früherem 16. Jh. gelegentlich, seit späterem 18. Jh. kontinuierlich belegte Ableitung von —* Vulkan; la zunächst vereinzelt in der Bed. 'dem Gott Vulkan zugehörig', —» Vulkan la; b gleichzeitig auch in der Bed. 'feurig, entflammbar, brennbar, Feuer-' (vgl. —» Vulkan lb). 2a Seit spätem 18. Jh., eventuell unter Einfluß von gleichbed. ital. vulcanico, im Bereich von Geologie und Geographie in der Bed. 'aus einem Vulkan stammend, ihm zugehörig; durch vulkanische Tätigkeit bedingt; vulkanartig', —» Vulkan 2a; b

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gleichzeitig übertragen verwendet für 'eruptiv; leidenschaftlich, zu Affektausbrüchen neigend; aufbrausend', bes. von menschlichen Seelenzuständen, Charakteren und Verhaltensweisen und 'explosiv, zur gewaltsamen Veränderung drängend; revolutionär', —* Vulkan 2b. vulkanisch la: Hier. Boner 1537 Herodot Vorr. o.S. Sy [die Geschichte] ist allein die yhen mitt dem hilff vnd beystand wir gegen allem widerwertigen glick als mit Vulkanischen waffen beschirmbt vnd gewapnet seindt; Bodmer 1771 Karl v. Burgund V 25 die Feldschlangen und Werke von Metall, die Antwerpen in ihren Vulkanischen Hütten gegossen. vulkanisch lb: Paracelsus 1538 De f. 78 Vulkanischen Elementen; Furttenbach 1641 Architect. priv. 33 Dises trawrige Exempel habe ich allen Fewrkünstlern / ja auch mir selber / zur Erinnerung vnd Wahrnung beschreiben wollen / damit sie vorsichtig mit dergleichen Vulcanischen Mixturen vmbgehn / dieselbige nicht in den Haußhaltungen / sondern in andern weit entlegenen Hütten Elaboriren / vnd außfertigen sollen / GOTT wólle ferner meniglichen vor dergleichen Vnglücken behüten. vulkanisch 2a: Volkmann 1777 Italien II 911 vulkanischer Asche oder Tuff; Saussure 1781 Reisen durch d. Alpen (Übers.) 1139 Hervorbringung vulcanischer Materien; ebd. 161 Vulcanische Produkte. Eine Steinart . . . sind die vulcanisierten Steine; Goethe 1782 Br. (VI 72) Vulkanische Gebirge; ders. 1786 Tagebücher (1234) die Vicenturischen Vulkanischen Berge; ebd. 342 dass die Vulkanischen Würkungen keine sehr tiefen Ursachen haben; Werner 1787 Gebirgsarten 21 vulkanische Ausbrüche; Lichtenberg 1795 Hogarth II 242 vulkanische Asche; Matthisson 1796 Italien V 54 vulkanischen Krater; ebd. 67 vulkanische Prozesse; 1798 Gallerie d. Welt 105 die vulkanischen oder feuerspeienden Berge; 1801 Ztg. f. Naturforscher II 221 Die vulkanischen Gebirge und Felsen verdanken ihren Ursprung blos dem Feuer. Man kann sie in 2 Arten theilen, in die wirklichen vulkanischen Fossilien, die blos Produkte vulkanischer Eruptionen sind, und in die scheinbar vulkanischen, die aus solchen Fossilien bestehen, die durch die Wirkung unterirdischer Feuer blos verändert sind; Goethe 1816 Ital. Reise (XXX193) vulkanischem Terrain; Heffner 1816 (Chroust, Würzburg 34) Die Geologen streiten sich . . . ob es [das Rhöngebirge] vulkanischen oder neptunischen Ursprungs sei; 1826 Urania 457 die merkwürdigen vulkanischen Gebirgsgegenden [Azoren]; Simrock 1838 Rheinland 395 dem vulkanischen Rheinthale; Steffens 1840 Was ich erlebte I 19 Fremdwörterbuch

233 Erdbeben und vulkanische Eruptionen; Cotta 1842 Geognosie 301 vulkanischer Sand und Asche; ebd. 339 Ein sogenannter vulkanischer Ausbruch; ebd. 342 Verlauf der vulkanischen Eruptionen; Moltke 1845- 6 Wanderbuch (Rom) 29 Wirklich ist . . . diese ganze Campagna meist aus vulkanischen Stoffen gebildet; Scheffel 1852 Italien (Br.) 35 im ehemaligen Krater des vulcanischen Gebirges [liegt] der Albaner See; Heunisch 1857 Baden 94 Vulkanische Gesteine, d.h. solche, die durch noch thätige oder erloschene Vulkane gebildet werden; Bruges 1873 Reiseskizzen 177 Berge . . . die vulkanischen Ursprungs sind; Berlepsch 1875 Schweizerkunde 242 Vulkanische oder EruptivGesteine; Hehn 1887 Italien 59 Mörtel aus vulkanischer Asche; Rank 1896 Erinn. 329 ein Ereignis, das gleich einem vulcanischen Ausbruch urplötzlich hervorbrach; Brandt 1901 Ost-Asien II 239 von einem Auswurfkrater war nichts mehr zu bemerken. Dagegen sah man überall Zeichen der noch vorhandenen vulkanischen Thätigkeit; 1929 Land am Oberrhein 122 der kühle Kaiserstühler wächst auf vulkanischem Boden; Die Zeit 5. 2. 1982 Im Zentrum der Erdstöße . . . wußte man schon, woher das Getöse kam. Das vulkanische Land reckte und streckte sich wieder einmal, daran war man gewöhnt. vulkanisch 2b: Goethe 1780 Br. (V 24) vulcanische Wuth; Laukhardt 1797 Leben IV 1, 223 seinen republikanischen Patriotismus nicht bis zum vulkanischen Ausbruch zu reizen; Soden 1806 National-Ökonomie II 81 Ein Staat, dessen Bürger nur von heute auf Morgen leben . . . steht auf vulkanischem Boden; Koch-Stemfeld 1833 Beyträge III 509 Anm. Vierzig Jahre vulcanischer Erschütterung haben jede alte Tradition entwurzelt; Stieler 1836 Krieg 166 mit vulkanischer Gewalt stürzte sich Frankreich über das Königtum und über die steinernen Wälle, die es gegen das Volk errichtet hatte; Niendorf 1854 Paris 4 Merkmale vulkanischer Zeiten . . . welche sich kurz vor oder nach Revolutionen zu äußern pflegen; ebd. 23 unter . . . genialen oder unsteten, vulkanischen oder erschöpften Physiognomien; Sybel 1859— 61 (HZ 162 (1940) 294) denn Deutschland ist nicht davon angetan, bleibend französische Provinz zu werden. Aber eine dann folgende nationale Erhebung würde eine Intensität vulkanischer Kraft und revolutionären Ungetüms entwickeln, bei welcher der ganze bisherige Zustand in tödliche Gefahr

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geriete; Dincklage 1870 Gesch. II 175 ich war eine Mitkämpfende in dem furchtbaren Kampfe der Leidenschaften, welche vulkanisch unter der Oberfläche fortglühen, bis sie, mächtiger als der Gegendruck, plötzlich hervorbrechen und Tod und Verderben ausspeien; 1888 Wien II 473 [Wien] Es ist etwas Vulkanisches in den Ausbrüchen seiner Thätigkeit, denen später tiefe Ruhe zu folgen pflegt; Schöne (um 1900) Lehrjahre 17 Die gewaltigen Märztage von 1848 hatten das gemütliche Dresden in eine Erdbebenstadt umgewandelt, deren heisser, vulkanischer Boden nie geahnte Zustände aufschiessen . . . liess; Janitschek 1912 Ehen 139 Eines Tages erfasst Sie Neigung für einen Andern . . . Er ist fesselnder als ich, trägt einen glänzenden Namen. Ein vulkanisches Temperament, hat er Sie überwunden, bevor Sie noch recht zur Überlegung kamen; Lissauer 1917 Aufs. I 67 Und so ward Luthers deutsche Bibel: durch vulkanische Gewalt entladen binnen Wochen, mit liebender Geduld betreut binnen Jahrzehnten; Lenz 1922 Staat 4 seine [Marxens] vulkanische Persönlichkeit; Voss. Ztg. 26. 4. 1930 daß . . . ein unterirdisches Grollen dem Intendanten bewies,

daß er auf vulkanischem Boden arbeitet; Lerchenfeld 1935 Erinn. 219 [Bismarck] erschüttert von dem vulkanischen Ausbruch innerer Leidenschaft; Münch. N. N. Mai 1938 und das „vulkanische Herz" Neapels hat gesprochen — für Adolf Hitler; ebd. 20. 11. 1939 Wenn England sich also heute als Herold für die Freiheit der Völker hinstellt . . . so muß es sich dessen bewußt sein, daß es bei der Verkündung solchen Programms selbst in erster Linie auf gefährlichem vulkanischem Boden steht; Macdonell 1940 Gentleman 252 mich gegen alle vulkanischen Ausbrüche [der hintergangenen Ehefrau] zu versichern; Hof milier 1943 Versuche 14 eine vulkanische Natur [Stifter]; Dtsch. AZ. 19. 8. 1944 Man sagt von der Stadt am Vesuv, dass ihr ein „vulkanisches Herz" eigen sei; Süddtsch. Ztg. 5. 10. 1948 Vulkanischer Boden (Uberschr.) [wirtschaftliche und soziale Probleme]; ebd. 13. 5. 1961 das Allegro barbaro von Bartök, diese vulkanische Musik; Der Spiegel 1. 2. 1982 Daß Denise vulkanisch temperamentvoll war, gefiel ihm, und daß sie auch rasend ehrgeizig und geltungssüchtig war, wollte er nicht sehen.

v u l k a n i s i e r e n V . (in)trans., im späten 18. J h . aufgekommen; l a adj. v e r w e n d e t in der Part. P e r f . - F o r m v u l k a n i s i e r t in der Bed. 'durch vulkanische Tätigkeit entstanden' (—» V u l k a n 2a), heute durch V u l k a n - ersetzt; b im 18./19. J h . selten belegt im Sinne einer Ableitung zu —*• V u l k a n 2b in der Bed. 'in A u f r u h r versetzen' und 'in A u f r u h r sein'. 2 Mitte 19. J h . mit der Erfindung des Verfahrens zur Kautschukbearbeitung und Gummiherstellung in England neuentlehnt aus gleichbed. engl, vulcanize (zu volcano 'Vulkan') f ü r '(natürlichen oder synthetischen) Kautschuk mit Hilfe bestimmter Chemikalien (Schwefel u . ä . ) zu G u m m i verarbeiten', auch 'etwas mit Kautschuk beschichten' und 'Gegenstände aus/mit G u m m i reparieren', häufig in Zss. wie V u l k a n i s i e r a n s t a l t , - m a s c h i n e , -platte, verreinzelt auch in der Präfixbildung a u f v u l k a n i s i e r e n ; dazu seit Ende 19. J h . das Verbalsubst. V u l k a n i s i e r u n g F. ( - ; selten -en) ' U m w a n d l u n g v o n Kautschuk in G u m m i mit Hilfe bestimmter Chemikalien', dafür seit A n f a n g 20. J h . auch V u l k a n i s a t i o n F. (-; selten -en) (vgl. engl, vulcanization), seit f r ü h e r e m 20. J h . die Personalableitung V u l k a n i s e u r M . (-s; -e) 'Facharbeiter im Bereich der Gummiverarbeitung; Facharbeiter, der hauptsächlich mit der Reparatur v o n Gummierzeugnissen beschäftigt ist'. vulkanisieren la: Saussure 1781 Reisen durch die Alpen (Übers.) I 161 Vulcanische Produkte. Eine Steinart . . . sind die vulcanisierten Steine; Matthisson 1787 Schweiz (II 121) Die Petrefakten sind heilige Denkmäler der vulkanisirten oder neptunisierten Vorwelt.

Sicherheit sind so vortrefflich, daß bisher noch alle Versuche der Ruhestörer, die Stadt zu vulkanisieren, wie dieser Unholde neugeschaffener Kraftstyl sich ausdrückt, fruchtlos geblieben sind; Scherr 1865 Blücher I 279 fiebernden, vulkanisirenden Frankreich.

vulkanisieren lb: Matthisson 1791 Frankreich (II 280) Die Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen

vulkanisieren 2: Erlenmeyer 1854 Gehimathropie 51 Wasserkissen aus vulkanisiertem Kautschuk;

Vulkanismus Bibra 1862 Chili I 88 Gummi-elasticum (vulkanisirt natürlich); Wurzbach 1863 Hist. Wörter 183 vulcanisiren; Sadebeck 1899 Kulturgewächse 279 Der vulkanisierte Kautschuk; ebd. 283 Vulkanisierte Guttapercha; Beitr. z. Gesch. d. Technik 16 (1926) 313 Entdeckung des Vulkanisierens, wie wir heute das . . . Verfahren nennen; Umschau 35 (1931) 111 Zu einem neuen Verfahren führt der Gedanke unseres Herrn Reiser, eine Vulkanisierpresse mit Heizung einer Stempelfirma zu benutzen; Lokal-Anz. 23. 2. 1933 Aus den Trümmern der hiesigen Gummi- und Vulkanisierfabrik, in der gestern der Gasolin-Kessel explodierte, sind bisher 98 Leichen geborgen worden; ebd. 17. 6. 1934 Und als drittes gesellt sich ein Kellerladen, eine Vulkanisieranstalt; ebd. 31. 8. 1934 und der dritte im Bunde, der Inhaber der Vulkanisieranstalt, bekam neun Monate Gefängnis; 1938 Militärwiss. Mitt. 410 vulkanisiertes Holz; Säddtsch. Ztg. 19. 1. 19¡9 Eine unter Strom stehende Vulkanisierplatte . . . wurde von der Kriminalpolizei als Ursache für den Brand im Hartsteinwerk . . . ermittelt; ebd. 7. 7. 1966 neuer Vulkanisierbetrieb von Reifen-Berger (Uberschr.).

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Vulkanisation: Technik u. Wirtschaft 7 (1914) 436 die Kautschukindustrie schuf sich durch die Einführung der „Vulkanisation" ganz neue Grundlagen; Zischka 1936 Monopole 14} Vulkanisationsprozess; Gerhardt 1938 Rohst. 143 organischer Vulkanisationsbeschleuniger. Vulkaniseur: BZ. am Mittag 24. 2. 1931 Der 24 Jahre alte Vulkaniseur; Süddtsch. Ztg. 11. 7. 1950 Männliche Nachwuchskräfte werden noch gesucht für Maschinenstricker, Färber und Vulkaniseure. Vulkanisierung: Siemens 1892 Lebenserinn. 69 die kurz vorher in England erfundene Vulcanisierung der Guttapercha; 1903 Rad-Wanderer 14 Vulkanisierung [des Gummis], aufvulkanisieren: Lokal-Anz. 2. 9. 1934 Es war nicht die Festigkeit des Balsaholzes allein, auch die Frage, wie der auf die Holzmäntel aufvulkanisierte Kautschukbelag sich dem riesenhaften Wasserdruck gegenüber verhalten [würde].

Vulkanismus M. (-; ohne PI.), im früheren 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu Vulkanist, in der Bed. 'Gesamtheit der Erscheinungen und Ergebnisse vulkanischer Tätigkeit', dann auch als (historische) Bezeichnung für eine im 18./19. Jh. verbreitete Theorie der Entstehung bzw. Veränderung der Erdoberfläche durch Auswirkung der Vorgänge im magmatischen Erdinnern; dazu schon seit Ende 18. Jh. (im Sinne einer Ableitung von —» Vulkan 2a aufgekommenes) Vulkanist, (historische) Bezeichnung für einen Anhänger des Vulkanismus (vgl. gleichbed. Plutonist; Ggs. Neptunist) mit der dazugehörigen adj. Ableitung vulkanistisch. Vulkanismus: Simrock 1838 Rheinland 407 Bei Bertrich tritt der Vulcanismus der Mosel nahe; Walther 1844 Geogr. v. Bayern 13 von dem hessischen Lande, als Mittelpunkt des Vulkanismus in Deutschland; Humboldt 1845 Kosmos I 26 Vulkanismus nenne ich aber im allgemeinsten Sinne des Wortes, sei es auf der Erde oder auf ihrem Trabanten, dem Monde, die Reaction, welche das Innere eines Planeten auf seine Rinde ausübt (KEHREIN); 1852 Prutz' Museum II 104 Der Vulkanismus, diese Reaction des Erdeninnern gegen das Aeußere des Planeten, trieb die Stoffe nach oben, baute Berg auf Berg hinein ins Wolkenmeer; er isoliert die Massen, starr stehen sie als Leichen, ohne ein lebendiges Wesen, sich gegenüber. Ihm als Gegenpart ward die Kraft des Wassers bestellt: „Egalité!" heißt dessen Motto; Falb 1875 Gedanken . . . über den Vulkanismus (Titel); 1876 Mon'ber. Ak. d. Wiss. Berlin 421 Neuere Theorien des Vulcanismus (Uberschr.); 19*

Naturwiss. Wochenschr. 19 (1904) 751 Die Ursachen für die gewaltigen Phänomene des Vulkanismus im weitesten Sinne haben wir in den Tiefen des Erdinnern zu suchen; Amrhenius um 1905 Zur Physik des Vulkanismus (Titel); Goekel 1907 Schöpfungsgeschichtl. Theorien 103 Vulkanismus . . . eine der schöpfungsgeschichtlichen Theorien; 1913 SB Berlin 851 Nebenprodukte des Vulkanismus . . . [sind] vulkanische Beben, magmatische Beben; ebd. 854 Vulkanismus ist eine allgemeine Erscheinung im Weltall; Geogr. Zschr. 36 (1930) 491 In der ersten Hälfte werden die endogenen und exogenen Vorgänge und Kräfte behandelt: Vulkanismus, Erdbeben, Niveauveränderungen; Freyberg 1932 geolog. Erforschung Thüringens 91 Vulkanismus der Tertiärzeit; 1937 Werdendes Land 9 submarinen Vulkanismus; Wolff 1940 Das Gesetz des Vulkanismus (Titel); Goethe 7 (1942) 97 Der schärfste Widerstreit zwischen beiden [Goethe und W. v. Humboldt] ist . . . ausgebro-

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Vulkanismus

chen . . . in einer Frage, in der Goethe fast fanatisch seine Ansicht verfocht: im Streite der Neptunisten und Plutonisten. Humboldt . . . war durch sein Erleben des Vulkanismus . . . zur plutonistischen Ansicht bekehrt worden, die durch ihn und Leopold von Buch . . . Anerkennung errang; ebd. 9 (1944) 73 Anm. Goethes Ablehnung des Vulkanismus; Benn 1951 Probleme 29 Die Lyriker . . . sind Kleinbürger mit einem besonderen, halb aus Vulkanismus und halb aus Apathie geborenen Drang. Vulkanist: Böttiger 1795 Reise n. Hamburg (Lit. Zustände II 81) Für die Vulcanisten würde hier nicht viel zu holen sein; Goethe 1823 Br. (III 272) Es ist in der That ärgerlich, daß ganz Europa einem Manne, der sich in der Schule der Vulkanisten bildete, blindlings nachplappert; Grüner 1825 Sitten der Egerländer 23 Sowohl der Neptunist als Vulkanist findet [im Egerland] reichlichen Stoff zum Nachdenken und jeder derselben hinlängliche Gründe zur Unterstützung seiner Meinung und Behauptung; Steffens 1841 Was ich erlebte IV 41

Vulcanisten mit den Neptunisten; Cotta 1842 Geognosie 136 Lehre der Vulkanisten; Hermann 1843 briefl. an Forchhammer (Hock it. Pertsch 1898 Forchhammer 279) Eigen ist aber, daß Sie bei Ihren ingeniösen und scharfsinnigen Deutungen immer auf das äpiorov •ßöcüg kommen und ich habe schon manchmal gedacht, ob nicht, wie Sie in der Mythologie ein entschiedener Neptunist sind, so auch einmal wie es in der Geologie geschehen ist, ein Vulcanist auftreten werde; Walther 1844 Geogr. v. Bayern 258 Vulcanisten; Quenstedt 1856 Sonst 7 Vulcanisten; Goethe 6 (1941) 128 Der Geschichtschreiber Schiller ist ein Vulkanist, der in den politischen Krisen und gewaltsamen Kraftentladungen die Wendepunkte der Menschheitsgeschichte erblickt, nicht ein Evolutionist der Humanitätsgedanken, wie es Herder . . . war. vulkanistisch: Forster 1791 Ansichten (IX 16) vulkanistischen Logik; 1833 Bayer. Annalen (L.) 264 vulkanistische Lehre; Lissauer 1919 Aufs. (19) vulkanistische [Macht].

w Waggon M. (-s; -s), PI. regional (österr.) auch -e, Anfang 19. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl. wag(g)on ( < niederl. wag(h)en 'Wagen' german. Herkunft), anfangs selten auch in der Schreibung Wagon; zunächst vereinzelt für 'Transport-, Beiwagen' und 'Kutsche'; dann im Zuge der Eisenbahnentwicklung in der Bed. 'Wagen für den Personen- und Gütertransport auf der Bahn, Eisenbahn(güter)wagen', häufig als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Güter-, Eisenbahn-, Pferdewaggon; Waggonfabrik, -karteil, von Anfang an konkurrierend mit bes. im Personenverkehr häufigerem Wagen; gelegentlich als Mengenangabe im Sinne von 'Waggonladung' verwendet. Dazu von späterem 19. bis ins frühere 20. Jh. die selten nachgewiesene verbale Ableitung einwaggonieren V.trans. '(Truppen) verladen' mit dem vereinzelt belegten Verbalsubst. Einwaggonisierung; im früheren 20. Jh. auswaggonieren V.trans. '(Truppen) ausladen'; gleichzeitig die selten belegte adv. Ableitung waggonweise 'Waggon für Waggon' und 'in ganzen Waggonladungen', ugs. auch 'massenweise, in großer Anzahl (geliefert, verfügbar)'. Waggon: Gentz 1815 Br. a. Pilat I 216 reise ich [von Paris] ab. . . Mein Beiwagen (Wagon) ist mit einem Militair-Convoi abgegangen, worüber ich sehr froh bin; Dove 1837 Physik 1112 Der Wagon bot ungefähr eine Fläche von 22 V2 Quadratfuß dar (BENNETT); Gutzkow 1838 Schwabenstreiche (W. XI 232) Der Dr. Karl Weil sprach über Waggons, Lokomotive (BENNETT); Kohl 1844 England u. Wales 166 Man hat hier Alles versucht . . . alle möglichen Arten von Waggons und Locomotiven (BENNETT); Hackländer 1847 W. VI 220 Statt des sanft schaukelnden Wagens sind Diligencen, Waggons . . . entstanden; um 1850 Hofdamen-Br. 283 sass ich im Waggon der Ferdinands-Nordbahn; Wagner-Scherzer 1854 Reisen i. Nordamerika I 240 von langen pferdegezogenen Eisenbahnw2ggons;Hohenlobe-Ingelfingenl864— 70 Leben III 12 Der Bahnhof war nicht darauf eingerichtet, Pferde zu verladen. Die Bahn ging auf einem hohen Damm. Da wurden einige gebrechliche, steile, hölzerne Rampen an die Pferdewaggons angelegt. Meine Pferde sprangen mit einem Satze aus dem Waggon; Raabe 1864 Hungerpastor 369 Auf dem Bahnhofe läutete bereits die Glocke zum Einsteigen, als der Kandidat Unwirsch atemlos im vollen Lauf anlangte, ein Billet löste und sich in einen Waggon und auf den Schoß einer dicken . . . Dame . . . stürzte; Miche-

lis 1872 Reiseschule 254 Speise- und Schlafwaggons; Spielhagen 1873 Ultimo 32 Eisenbahnwaggon; 1874 Grenzboten IV 382 Es ist eigentümlich, daß in Deutschland, wo z . B . für die Bequemlichkeit des Publikums auf den Eisenbahnen so bedeutend mehr geschieht wie in England und das Publikum über englische Waggons ein entsetzliches Geschrei erheben würde, der Sinn für schnelle und bequeme Fahrt von der Wohnung nach dem Bahnhofe gänzlich fehlt; Hopfen 1875 Juscbu 261 dies immer neu sich einsetzende Gewühl von Fiakern, Omnibussen, Equipagen, Pferdebahnwaggons, Hundekarren und Fußgängern; Lindau 1877 Br. 283 Die Luft war so dick, dass der feurige Ball [der Sonne] nicht mehr blendete und wie eine Waggonlaterne erster Classe aussah; Dingelstedt 1879 Bilderbogen 6 Eisenbahnwaggon; Meinert 1880 Kost 272 Kühl-Waggons; Nordau um 1880 K. II 289 Vom Grao führt eine Eisenbahn nach dem wenige Kilometer entfernten Valencia, welche auf der ganzen Strecke durch einen Orangenwald läuft, der die Zweige mit den duftenden goldenen Früchten förmlich in die Waggonfenster hereinreicht; Stinde 1884 Fam. Buchbolz 1 fremd sind ihm die Mitfahrenden in dem Omnibus, in dem Pferdebahnwagen, im Waggon der Stadtbahn; Suttner 1896 Higb-Life 23 Wo Du auch immer seiest, Du kannst Dich in einen Schlafwag-

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gon werfen und zur nötigen Frist auf dem Platze eintreffen; Klein 1925 Generaldirektor o.S. In einem Glasschrank Modelle verschiedener Waggontypen . . . Willst du die Mannheimer Waggonfabrik haben oder nicht?; B. 2. am Mittag 26. 4. 1930 Kinder, Schullehrer, durch die Inflation kaputtgegangene Buchhändler sollen mit Waggonladungen alter Schulbücher erschienen sein und einen fürchterlichen Krach geschlagen haben; Voss. Ztg. 4. 9. 1931 aus den vergitterten Viehwaggons; Berl. Illustr. Nachtausg. 30. 1. 1933 Als bahnstehend werden 163 . . . Waggons angegeben; ebd. 23. 2. 1933 Er sieht, wie die Stufen eines Waggons zum Baseler Zug mit graziösem Schwung erklettert werden; Lokal-Anz. Ii. 8. 1933 Der Schlafwagen ist fast leer und in den übrigen Waggons zeigen vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Personen ihre Pässe; Berl. Illustr. Nachtausg. 17. 8. 1933 Für die Bewältigung des Güterverkehrs stehen der Deutschen Reichsbahn 642000 Waggons zur Verfügung; Lokal-Anz. 25. 8. 1933 In ihren [der Diplomaten] Waggons werden eigene Telephonanlagen, Radio mit Lautsprecher usw. eingebaut; ebd. 28. 12. 1934 Der Werkzug, der aus offenen Waggons bestand und mit etwa 350 Bergarbeitern besetzt war, befand sich auf der Fahrt zu einer Kohlengrube. Plötzlich explodierte der Heizkessel der Lokomotive. Die Lokomotive und drei Waggons wurden vollkommen zerstört; B. 2. am Mittag 8. 1. 1935 Alte Holzwaggons aus der Vorkriegs-Zarenzeit. Doppelfenster, dicke Friesdecken; Dtscb. A2. 22. 1. 1935 Nordwaggon liquidiert (Uberschr.) Die Norddeutsche Waggonfabrik AG. legte in der heutigen o. GV ihren Geschäftsbericht . . . vor; ebd. 10. 9. 1935 Kehrt die deutsche Waggonindustrie in das internationale Kartell zurück? (Überschr.) Wie wir hören, werden gegen Ende September in Paris zwischen der deutschen Waggonindustrie und dem Internationalen Waggonkartell . . . Verhandlungen über den Wiedereintritt der deutschen Waggonindustrie in das Kartell stattfinden; 1942 Vierjahresplan 575 Bedarf an Lokomotiven

und Eisenbahnwaggons; Stuttgarter 2tg. 7. 1. 1958 Unfreiwillige Reise im Güterwaggon (Überschr.); Süddtsch. 2tg. 18. 3. 1961 240 Mill. DM Waggonbau-Aufträge (Uberschr.) Anschlußverträge für den Neubau von 8850 Güterwagen; Offenburger Tagebl. 7. 4. 1971 Es gab weder einen niederen Spezialzug, auf den man mit einem kompletten Lkw auffahren konnte, noch Niederflurwaggons, auf die Sattelauflieger aufgesetzt werden konnten, noch Partalkrane, die Wechselpritschen auf Flachwaggons setzen; Mannh. Morgen 28. 7. 1980 Waggons mit giftigen Chemikalien brannten (Uberschr.) nachdem sechs von zehn Tankwagen mit giftigen Chemikalien entgleisten und in Brand gerieten; Die 2eit 20. 2. 1981 Noch immer sind in der rush hour die Züge voll, aber die „pusher", welche die Passagiere mit Gewalt in den Waggon hineindrängen, gibt es fast nur noch in westlichen Zeitschriften. auswaggonieren: Mimra 1930 Batterie 157 In Krakau werden wir auswaggoniert und beziehen südlich der Stadt in einem gottgesegneten Orte Quartiere; ebd. 225 Auswaggonieren! Wir sind am Ziele! einwaggonieren: um 1870 Nat. 2tg. XXIII 336 Gestern wurde die letzte Division der Armee einwaggoniert (SANDERS 1871); Schoepflin 1931 gesund 165 Wir haben eine Bahnstation erreicht. Bei vollständiger Dunkelheit wird einwaggoniert; Gallian 1934 Österreich. Soldat 30 einzuwaggonieren. Einwaggonisierung: um 1870 Nat. Ztg. XXIII 336 Perrons für die Einwaggonisierung der Pferde (SANDERS 1871). waggonweise: 1931 Die Dame H. 8 6 Da wurden nach Kriegsende in Innsbruck waggonweise Militärskier abgeladen, für die man keine Verwendung mehr hatte; Süddtsch. Ztg. 28. 8. 1951 Abnehmer für waggonweis Zwetschgen gesucht (Anzeige).

Weekend N . (-s und - ; -s), Anfang 20.Jh. entlehnt aus gleichbed. engl. Weekend, früher auch in der engl. Schreibweise; meist auf englische Verhältnisse bezogen, aber auch allgemeiner verwendet, vor allem in den 20/30er Jahren mit dem Einsetzen der Freizeitbewegung als Modewort, in der Bed. '(ausgefüllte, selbstgestaltete Freizeit am) Wochenende, arbeitsfreie Zeit am Ende der Woche' (Weekendhaus, -bewegung, -fahrt), heute weitgehend durch Wochenende ersetzt; dazu die scherzhaften Gelegenheitsableitungen Weekendler und nach engl, lost week-end 'vergammeltes, ausschweifend verbrachtes Wochenende' gebildetes lost weekendein.

Weekend Weekend: Peters 1904 England 242 Einladung auf einen Landsitz, und wäre es auch nur über's „Week-end" von Freitag Nachmittag bis Montag Mittag; Poppenberg 1913 Rokoko Ii Geselligkeit auf den Schlössern, in die man — wie heute in England zum Week-end — zu Journées de campagne eingeladen wird; Schmitz 1914 Land Ii Nirgends wird die Musik zum Beispiel höher geschätzt als in England. Die geringsten Kenntnisse des Klavierspiels oder des Gesanges genügen unter Umständen, um jemand zum Löwen eines „week-ends" auf dem Lande zu machen; Voss. Ztg. 10. 10. 1926 Weekend im Grunewald (Überschr.) Das Wochenende, das sich im allgemeinen für Trabrennen so wenig günstig erwies, verschaffte der Grunewaldbahn gestern so stattlichen Besuch; Zielesch 1926 Jugend 139 Weekend-Ausflug; Kirchner 1927 Fair Play 49 Das englische Weekend ist zur Zeit — unglücklicherweise gerade in dem Augenblick, wo das Ausland sich bemüht, es zu kopieren — ziemlich desorganisiert; ebd. 50 ein eigentlich altenglisches Weekend; ebd. 51 Kurzum: das alte Weekend ist proletarisiert worden; 1928 Die Dame H. 12 2 Tristan macht mit Isolde eine Weekendfahrt; 1929 Der Junggeselle Nr. 12 Berufstätige Dame 25 Jahre, sucht für Weekendfußwanderungen Sportkameradin (Anzeige); Film-Magazin 3. 3. 1929 Auch Sie freuen sich, wenn Sie an den Sommer mit all seinen Freuden denken, an die Sommerfrische, an die Ferienwanderung, an das allwöchentliche „Weekend"; Rosenberg u. Schreiber 1929 Das "WeekendKochbuch (Titel); Voss. Ztg. 27. 3. 1929 Und endlich: das neue Körpergefühl, aufbrechend in Sport und Spiel, in Weekendbewegung und Naturwanderung; ebd. 8. 6. 1929 Schönes Weekend (Uberschr.) Die Prognose für das Wochenende ist jedoch trotzdem sehr ungünstig; ebd. 29. 6. 1929 Kein sommerliches Weekend. Aber es wird nicht regnen (Uberschr); ebd. 17. 4. 1930 Selbst sein [des Deutschen] Weekend hat Ordnung und Regel. Ein Sommerweekend folgt auf ein sich ebenso regelmäßig und gleichförmig wiederholendes Winterweekend; Brandenburg. Jahrbuch 5 (1930) 5 die herrliche Umgebung Londons von der Verschandelung durch eine hemmungslose Weekendbewegung . . . zu schützen; 1930 Die Dame H. 23 10 Früher hieß es Week-end-Häuschen und war — auch im günstigsten Fall — sehr winzig und sehr primitiv. Dann entwickelte es sich immer stabiler, immer komfortabler. Jetzt gibt es bereits kluge Menschen, die lieber ein kleines Wochenhäuschen und ein großes Wochenendhaus haben; Herzog 1930 engl. Kulturkunde 37 In der Stille des Landhäuschens liegt der Reiz des englischen „Week-End" . . . Wer es sich leisten kann, am Freitagabend seine Arbeit niederzulegen und die

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Hast und den Lärm der Großstadt bis Montag oder Dienstag zu vergessen, und in England können das viele, der genießt ein wirklich englisches Week-End allein oder mit seinen Freunden in seinem Landhaus, in reiner Land- oder Seeluft; Roth 1930 Panoptikum 95f. Das Leben ist [in Albanien] enterotisiert, die Liebe ist degradiert zur häuslichen Tugend, und ein Spaziergang ist langweilig wie ein Week-End; Wilke 1930 Erinn. 41 Der englische Ausdruck „Weekend" hatte [um 1880ff.] noch nicht das europäische Festland erobert, aber die Sitte, Freunde aus der Stadt vom Sonnabend mittag bis zum Sonntag abend auf dem Land zu beherbergen, ist nie eine englische Besonderheit gewesen; Berl. Morgenpost 24. 5. 1930 als der Paddelsport, das Wanderrudern und die Weekendfahrten tonangebend wurden; 8 Uhr Abendbl. 15. 8. 1931 Der Amerikaner lebt seinem „Weekend", seinem Vergnügen mit werktäglicher Geschäftigkeit; B. Z. am Mittag 18. 6. 1932 und nie habe ich in seinem kleinen Auto einen Weekend-Ausflug mit ihm gemacht; Purzelbaum 1939 Humor 109 Doch über Samstag/Sonntag — man sagt ja wohl jetzt „Weekend" dafür; B. N. 29. 7. 1941 Bauverbot für Weekendhäuschen; N. Z. Z. 20. 5. 1944 Unser Weekendhaus (Uberschr.) Der vielen Sorgen wegen, die uns dieser Bau brachte, tauften wir unser Weekendhaus „Malmaison", nicht aber ohne leise Hoffnung, daß es sich eines Tages in ein „Sansouci" umwandeln möchte; NZ. (Basel) 1. 5. 1949 Modisches Weekend (Uberschr.) Man kann nicht gerade behaupten, dass es (das Probe-Weekend bei Kost, Freiestrasse, nämlich) sich nach Pfadi-Art abwickelte . . . Lassen wir einige dieser fröhlichen Wochenendbummler nochmals Revue passieren; Süddfsch. Ztg. 29.130. 7. 1950 Das Weekend ist dem Londoner heilig wie dem Spanier die Siesta: man darf nicht daran rühren. Vom Freitagabend an ist der Londoner geschäftlich einfach nicht mehr vorhanden; ebd. 11. 9. 1951 Weekend-Flug nach London (Uberschr.); ebd. 25. 2. 1957 Macmillans arbeitsreiches Weekend (Uberschr.) Premierminister Macmillan traf sich am Sonntag auf seinem Landsitz in Chequers mit seinen Beratern zu einem intimen politischen Wochenende; ebd. 14. 8. 1957 Seit der Dogmatisierung der Himmelfahrt Mariä hat das augustliche „Weekend" von einst, an dem die Sklaven ruhen sollten, die Gerichte schweigen mußten und die gesamte Stadt gleichsam nicht mehr existieren sollte, einen phantastischen Aufschwung genommen; Bad. Ztg. 26. 2. 1965 Schon heute bieten amerikanische Reisebüros WeekendReisen zum Oktoberfest nach München, auf deutsche Weihnachtsmärkte und zum Karneval in Köln und München. Vielleicht gibt es auch einmal einen nordamerikanischen Reiseschlager „Week-

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end in Freiburg" oder im Schwarzwald; 1971 Durch die schöne Welt Septh. o.S. Weekendflug fürs Publikum (Überschr.) Samstags und sonntags aber fliegen sie [Greifvögel] je zwei Stunden zur Schau. lost weekendein: NZ. (Basel) 30. 7. 1949 Solcher Art ist der Tiefsinn dieses neuen deutschen Films. Es lost weekendelt. Schwarze Trauerränder gar-

nieren die Scheinwerfer. Der Mann rasiert sich nicht mehr. Die Wohnung versinkt in Schmutz und Unordnung. Weekendler: Der Berliner 6. 10. 1929 Mit der Intensität, mit der wir Weekendler, Urlauber, Rekordschwimmer waren, stellt der Berliner nun — Engagementsdauer: sechs Monate — den Salonmenschen dar.

Weste F. (-; -n), im späten 17. Jh. entlehnt aus frz. veste in seiner Bed. '(ärmelloses) Wams' ( < ital. veste, vesta 'Kleid, Gewand' < gleichbed. lat. vestis), anfangs auch in frz. Schreibung; Bezeichnung der Herrenmode, zunächst für ein vorne oft auffällig gehaltenes, über dem Hemd und unter dem (in Frankreich aufgekommenen) knielangen Rock getragenes, ebenfalls knielanges Kleidungsstück mit Ärmeln (Westenschoß, -ärmel), dann vom frz. Vorbild abweichend bes. für ein sich im Laufe des 18. Jhs. bis zur Taille verkürzendes, meist ärmellos gearbeitetes Kleidungsstück als Jacke und Hose ergänzendes Teil eines Anzugs (Anzugweste), gelegentlich auf dessen Träger übertragen; auch auf vergleichbare Kleidungsstücke der Damenmode ausgedehnt und in bildlicher Verwendung auf die einer bunten Weste ähnliche Haut- oder Gefiederfärbung bei Tieren bezogen; als Bestimmungswort vor allem in der Zs. Westentasche 'kleine Tasche in der Weste zur Aufbewahrung kleinerer Gegenstände des täglichen Bedarfs, bes. einer Uhr', auch bildlich gebraucht in den ugs. Wendungen sich den Finger in der Westentasche brechen 'großes Unglück, Pech haben', etwas wie seine (eigene) Westentasche kennen 'etwas ganz genau, in- und auswendig kennen' und in der Westentasche, im Westentaschenformat 'klein, komprimiert, im handlichen Kleinformat', meist von einem griffbereiten Handbuch o.a., auch 'einfach, anspruchslos' und 'gering, kärglich'; auch in Syntagmen wie ugs. jmdm. etwas unter die Weste jubeln 'jmdm. etwas heimlich, unbemerkt und hinterlistig, gegen seinen Willen zuschieben, andrehen; jmdm. etwas unterjubeln', ugs. jmdm. unter die Weste gucken 'jmdm. ins Herz sehen', ugs. sich jmdn. vor die Weste knöpfen 'jmdn. zurechtweisen' und vor allem weiße, reine Weste, wohl von der Vorstellung einer sauberen, fleckenlosen, weißen Brustbekleidung als Zeichen eines reinen Gewissens ausgehend bildlich verwendet für 'reines Gewissen; untadelige Handlungs-, Verhaltensweise; Unbescholtenheit, Integrität', meist in der Wendung eine weiße (reine, saubere) Weste haben 'untadelig, unbescholten, schuldlos, integer sein; sich nichts haben zuschulden kommen lassen, nichts auf dem Gewissen haben'; heute mit dem Rückgang der traditionellen Anzugweste vor allem Bezeichnung für ein leichtes, über Hemd, Bluse o. ä. zu tragendes, bis zur Taille reichendes, knöpfbares Kleidungsstück (mit oder ohne Ärmel) aus Wolle oder ähnlichen Materialien, wiederum in Anlehnung an frz. veste oft gleichbed. mit (Strick-)Jacke, als Grundwort in Zss. wie Strick-, Wollweste und Schwimmweste 'aufblasbares oder aus schwimmfähigem Material bestehendes, westenähnliches Kleidungsstück für den Oberkörper, das zur Rettung aus Seenot verwendet wird'. Dazu Mitte 19. Jh. die vereinzelte verbale Präfixbildung bewesten 'mit einer Weste bekleiden'.

Weste Weste: 1689 Teutsch-Französ. Moden-Geist 11 will ein junger gesell heute zu tage bey einen frauenzimmer attresse haben, so musz er mit . . . frantzösischen hütigen, westen, galanten strümpffen etc. angestochen kommen; Reuter 1695 Ehrl. Frau 28 die andere [fragte] ob das silber auff meiner weste gut wäre; Warnecke 1704 Poet. Vers. 130 er traget einen rock mit litzen, und eine weste mit viel spitzen (alle D W B ) ; 1718 abentheuerl. Welt III 4 Mantel, Rock, und Veste; Fleming 1726 Vollk. Soldat 113 sie [die Husaren] sind gantz anders gekleidet als andere trouppen. sie haben ein pourpoint oder art von einer weste, die ihnen bisz an dem gürtel geht (DWB); Hoffmannsivaldau u. a. 1727 Ged. VII 233 solltest du mein kleidgen sehn, kind, du liessest thränen fliessen. ermel, rücken und die brüst, müssen so manierlich schliessen, und das westgen sieht so sauber, dasz ich offt in meinem sinn, wenn ich vor den Spiegel trete, einem doctor ähnlich bin; Gottsched 1732 Crit. Hist. VIII 685 hat Telemach etwa als ein prinz eine goldstückene weste angehabt?; Schwabe 1741 Belust. 1424 ich habe lange zeit um niemanden anders, als diesem [Frauenzimmer] angenehm zu seyn . . . mit gold verbrämte westen, ein lockichtes haar . . . und nach gelegenheit auch rothe absätze getragen; Döbel 1754 Jägerpractica III 108' es gebühret sich gar nicht, dasz ein jäger . . . die westen-ermel und das hemde aufstreiche; Schönaich 1754 Ästhetik (Köster 501) ein mann, der fest sich überzeugte, dasz seines weibes treues herz kein Stutzer, keine weste beugte; 1756 Leipz. Avanturieur I 42 so schüttete ich . . . den darinne befindlichen toback in meine beyden westenficken; Chronegk 1761 Sehr. II 25 sein haar ist schön gerollt und sein geschmack der beste: denn ach! was ist der mensch Vöhl ohne reiche weste?; Irenaus 1765 Begeh, e. Leipz. Studenten I 229 meine blutigen hände muszten die westenschösze decken (alle DWB); Schubart 1766 Br. I 62 den Contrast zwischen seiner goldenen Weste und meinem abgetragenen Kittel; Geliert vor 1769 S. W. IV 147 aber ich habe vor den groszen perücken, vor den sammtröcken, vor den reichen westen, nie weiter als bis an die thüre des vorsaals kommen können (DWB); Zachariä um 1772 Poet. Sehr. I 182 Die, wo sie geht, um sie mit TrottelWesten blitzen (SANDERS DWB); 1773 Frauenz.-Lex. 3858 westchen ist beym frauenzimmer eine zum amazonenhabit gehörige oberkleidung, welche mit engen ermein, wie die westen-ermel der mannspersonen gemacht . . . werden (DWB); Chandler 1776 Reisen in Klein-Asien 16 ein junges mädchen in einer langen weiszen weste, mit einem gürtel um die mitte (DWB); Jung-Stilling 1778 Jünglingsjahre II 189 Er zog seine Kleider an, die aus . . . ledernen Hosen, schwarzen, tuchenen

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Westen, einem ziemlich guten braunen Rock . . . bestunden (SANDERS D W B ) ; Lessing vor 1781 (Lachmann-Muncker I 364) (Damis:) wo hast du das blatt her, frag ich? . . . (Anton:) aus — aus ihrer — Westentasche (DWB); Caroline 1781 Br. I 307 wilst du sein bild [des Herzogs von Württemberg] so stell dir . . . einen braunen kurzen rock, schwefelgelbe weste, so lang, dasz man die schwarzatlaszne beinkleider, über die graue Strümpfe nach alter mode gewickelt waren, kaum sah, denn weste und Strümpfe stieszen zusammen . . . vor (DWB); Moritz 1783 Reisen e. Deutschen in England 85 eine kurze weiße Weste; Timme 1785 Luftbaumeister I 426 eine Bandgestickte Weste; Forster vor 1794 S. Sehr. III 310 man sieht oftmals einen ehrbaren bürger, der . . . in einer bloszen weste mit ärmeln gravitätisch über die strasze geht (DWB); Jean Paul 1798 Fata II 50 Legte ich eine gestickte April-Weste an. Ich trage nämlich nicht . . . bloße Winter- oder SommerWesten, sondern März-Westen, Mai-Westen u. s. w. (SANDERS D W B ) ; Lichtenberg vor 1799 Verm. Sehr. I 74 da sitzen sie [die englischen Gelehrten] am tisch . . . essen und trinken sich einen westenknopf nach dem andern aus dem knopfloch (DWB); ebd. II 371 so schrieb er wie ein becker oder metzgerknecht, in einer weste ohne ermel, mit dem hemd über die eilenbogen aufgestreift (DWB); Athenäum 2 (1799) 321 [er hatte] eine ganz lange scharlachne weste, und einen altmodischen blauen rock mit einem kleinen zopf (DWB); Wieland vor 1813 S. W. XV 224 Die Mohren mußten . . . sich ihrer gestreiften Westen . . . entladen . . . Die Nymphen putzten damit sich . . . heraus . . . und schnitten, die Arme bloß zu kriegen, die Ärmel der Westen weg (SAND E R S DWB); Fouque 1813 Dramat. Dicht. 1350 Meine Blau-Westen [Soldaten] schritten lustig vorwärts (SANDERS D W B ) ; Hauff vor 1827 S. W. II 66 seine lange weste mit breiten schöszen (DWB); Goethe vor 1832 (XVI 250) Daß ein Westchen, über das man im Notfall einen kurzen Mantel würfe, für einen Wandrer eine sehr angemessene Tracht sei; ebd. XXIV 232 Männer . . . in kurzen Wämsern mit goldbesetzten Westen darunter; ebd. XXVI 54 Die Männer tragen blaue Röcke und mit gewirkten Blumen gezierte weiße Westen; ebd. XXVIII 253 Ich hatte ein weißes Nachtwestchen an (SANDERS DWB); ders. vor 1832 (Weimar. I 21, 142) ein kurzes seidnes westchen mit geschlitzten spanischen ärmeln, knappe lange beinkleider mit puffen standen dem kinde gar artig (DWB); Gaudy 1844 S. W. II 130 wer Unglück hat, bricht den finger in der Westentasche (DWB); Görres vor 1848 Ges. Br. I 429 was sie gelernt haben, können sie meist in den Westentaschen verwahren (DWB); Devrient 1848 Gesch.

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Schauspielkunst I 197 Eine offene hochrothe Schoßjacke über die grüne oder blaue Weste (SANDERS DWB); 1864 Bazar (Illustr. Damenzeit.) 204 Zwei Fracks für Damen . . . Bleibt bei diesem Frack die Taille vorn über einer Weste von weißem Piqué geöffnet (SANDERS DWB); Bismarck 1866 (Ged. u. Erinn. II 60) ich fragte Moltke, ob er unser unternehmen bei Preszburg für gefährlich oder für unbedenklich halte, bis jetzt hätten wir keine flecken auf der weiszen weste (DWB); Fontane 1871 Br. an s. Familie I 216 passiert einem doch ein Unglück, so ist es das berühmte fingerbrechen in der Westentasche (DWB); Hartmann vor 1872 Ges. W. VII 465 nach alter mode [trug er] zwei taschenuhren, die unter den westenschöszen mit vielen brelocks zum Vorschein kamen (DWB); Rocco 1881 Umgang 3 der „Kleine Tanzmeister in der Westentasche"; Schmidt 1886 Charakteristiken I 77 sogenannte complementirbüchlein, eine art Knigge oder galanthomme in der Westentasche, fassen das schickliche lehrhaft zusammen (DWB); Hauptmann 1889 Vor Sonnenaufgang (Ausgew. Dram. I 143) Alfred Löth oder der agitator in der Westentasche (DWB); Keller 1889 Ges. W. IV 160 herr Amrain, ein ansehnlicher mann, der . . . mächtige stücke seidenzeug zu seinen breiten, schönen westen brauchte, himmelblaue, kirschrote und groszartig gewürfelte (DWB); Roberts 1891 Mitleid 125 Des Kaufmanns Rechte zwängte sich dabei mit Daumen und Zeigefinger in die Westentasche; Bismarck 1892 (Storfer 1935 Wörter u. ihre Schicksale 382) In das Jahr 1892 fiel Bismarcks Wort über Wißmann, den Sieger über die Araber in Deutsch-Ostafrika, dieser „sei aus Afrika mit einer vollständig tadellosen weißen Weste zurückgekommen"; Rosegger 1895 Sehr. II 13, 340 da steckt die vermaledeite geldtasche wohlverwahrt im westensack (DWB); ebd. II 14, 168 der westenkragen ging . . . so hoch an den dicken hals empor, dasz von der wäsche . . . nichts zu sehen war (DWB); 1900 Dtsch. Revue XXV 3, 301 Im Verlage des christlichen Zeitschriftenvereins erschien zu Berlin . . . in demselben Format von 70 zu 53 Millimetern, ein für fünf Pfennig käufliches Schriftchen unter dem Titel: „Die Bibel in der Westentasche. Ein kleines, aber gewichtiges Hilfsbüchlein, die Angriffe auf die Bibel zurückzuweisen", das außer dem Titel neun Seiten mit Text und sechs Seiten mit Bildern enthält; Lauff 1902 Kärrekiek I 90 eine graublaue spechtmeise mit kurzem Schwänzchen und zimtbrauner weste (DWB); Leipz. Neueste Nachrichten 29. 6. 1905 die Untersuchung der kommission habe damals eine tadellos weisze weste der zeichenbesitzer ergeben (DWB); Raabe vor 1910 S. W. I 3, 374 zum ersten male trug ich wieder einen frack . . .

eine weisze weste und einen hohen, steifen halskragen (DWB); ebd. II 2, 183 es war so still ringsumher, dasz ich die uhr in meiner Westentasche picken hörte (DWB); Löns 1911 D. zweckmäßige Meyer 46 eine dicke meise mit gelber, schwarz eingefaszter weste (DWB); ebd. 61 im mai leistete sich der stichling eine rote weste (DWB); Hamack 1916 (N. F. III 306f.) Nicht nur „die weiße Weste" kommt hier in Betracht, sondern noch vieles andere . . . so bedeutet es andererseits eine tiefe Schädigung unserer Macht, wenn die Parole ausgegeben wird, um politische Ethik brauche man sich nicht zu kümmern, und die weiße Weste habe in der Versenkung zu verschwinden. Justitia fundamentum regnorum im Frieden und auch im Kriege!; Seeliger 1918 D. weißen Indianer 105 das ist ja ein ganz gefährlicher bursche . . . und morgen . . . werde ich ihn mir mal vor die weste knöpfen (DWB); 1928 Querschnitt 818 Was dieses Buch wie alle, die Franz Blei schreibt, so angenehm von den historischen Plauderbüchern (Geschichte in der Westentasche) unterscheidet, ist der Umstand, daß die Bildung, die in ihm popularisiert, nicht auch verbilligt wird; Wiechert 1929 Kleine Passion 258 [gewiße Elemente] die die Sauberkeit ihrer weste immerhin noch ein wenig zu beweisen haben werden (DWB); Weigand 1930 Gärten Gottes 22 ich bin frühaufsteher und kenne alle geheimnisse der rosenfingerigen Eos wie meine Westentasche (DWB); Das 12Uhr Blatt 14. 10. 1931 Niemand wird bezweifeln, daß der Kanzler persönlich eine reine Weste hat. Das ist ja schließlich auch eine Selbstverständlichkeit für einen deutschen Kanzler; Berl. Illustr. Nachtausg. 29. 3. 1933 Ich suche in der Westentasche und belohne den höflichen kleinen Mann mit einem Groschen; Lokal-Anz. 10. 6. 1934 Man wird sich sehr in acht nehmen müssen, daß man einen solchen Sender nicht in seiner Westentasche verkramt; Hauser 1935 Judentum 271 Bleichröder suchte einen Bismarck umsonst zu Börsenspekulationen zu verleiten; der hielt etwas auf seine „reine Weste"; Storfer 1935 Wörter u. ihre Schicksale 382 Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des Weltkrieges waren weiße Westen immer wieder beliebt, und oft waren sie auch mit Stickereien versehen. Im Jahre 1814 ließen sich z. B. die Berliner auf die weißen Piquewesten die Umrisse des Eisernen Kreuzes aufsticken, und war jemand wirklich Inhaber dieser preußischen Kriegsauszeichnung, so ließ er auch seinen Namen auf die Weste sticken. Die saubergehaltene Weste war gleichsam der Schild, auf dem vertrauensheischenden Bauch des Biedermanns, das Sinnbild der staatsbürgerlichen Wohlgesinntheit, der Unbescholtenheit und Redlichkeit; Herbst 1937 Bröselmann auf Brautschau 209

Western kennen sie die Ostseebäder genau? wie meine Westentasche (DWB); Kluge 1938 Kortüm 344 die hand zwischen den offenen westenknöpfen durchzuschieben (DWB); Mackensen 1938 Br. u. Aufzeichn. 331 wohl der einzige . . . minister, der vor dem land mit völlig reiner weste steht (DWB); Kluth 1939 Wunder 256 Die Bücherei in der 'Westentasche'; Thierfelder 1940Kulturimperialismus 42 Das Bedürfnis nach einer einfachen, sorgfältig durchdachten Form eines Westentaschen-Englisch als Hilfsmittel für ausländische Sprachschüler; Die Wehrmacht 29. 3. 1944 „Goliath", der unbemannte Zwergpanzer, auch 'Westentaschenpanzer' genannt; Rein 1947 Finale Berlin 399 ich kann nicht jedem unter die weste gucken (DWB); Mann 1949 Der Untertan 359 [er brauchte] nicht erst zu beweisen, dasz er . . . reine hände und keinen fleck auf der weste habe (DWB); Süddtsch. Ztg. 27. 7. 1950 unter die Weste jubeln; Fendrich 1950 Land 140 Die weiße Weste (Uberschr.) Unsere Zeit weiß nichts mehr von der Magie dieses Kleidungsstückes. Aber man ist ein anderer Mensch in einer weißen Weste, ein festlicher Mensch. Das ganze Jahr. Freiburg ist meine weiße Weste. Unbeschadet der Jahreszeiten. Freiburg ist die schönste Stadt Deutschlands; 1951 Prakt. Mode XII 5 es gibt viele frauen, die eine besondere Vorliebe für kleine westen haben, und sie sind tatsächlich die ergänzung zu rock und bluse und auszerdem modern (DWB); Hilgendorff 1953 Benehmen 55 Anzugeigene und Wollwesten dürfen [unter dem Revers] nicht sichtbar sein; ebd. 61 f . Der Smoking wird aus feinem Tuch gearbeitet, seine Aufschläge sind mit Seide überzogen . . . Die einreihige Weste ist rund ausgeschnitten und besitzt zwei kleine Taschen; ebd. 63 Wird der Frack tagsüber getragen (Hochzeiten,

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Begräbnisse usw.), so vertauscht man die weiße mit einer schwarzen Weste; Neues Deutschland 31. 1. 1954 [Der Polizeipräsident] der gewisz keine weisze weste hat (DWB); Carossa 1955 Tag d. Arztes 136 er suchte nervös in der Westentasche nach Zigaretten (DWB); Berl. Ztg. am Abend 2. 6. 1956 westenblusen kleiden jede figur (DWB); Putlitz 1956 Unterwegs nach Deutschland 259 wenn wir flitzen, dann tun wir das mit reiner weste, aber nicht als Spitzbuben (DWB); Bild 5. 10. 1957 Bonn prominentester „Westensammler", Bundespressechef Felix von Eckardt, erschien gestern in Bonn mit einem neuen Prachtexemplar: Purpurrot mit goldenen Punkten. Dazu trug er eine knallrote Krawatte; Steinberg 1958 Einzug 399 Übrigens sollte man nachforschen, ob seine Weste so rein ist, wie er behauptet (WDG);/«rcger 1958Jahre 180 Daß der Schwerpunkt im ethischen Mißbehagen lag, war ein schlechtes Vorzeichen. „Weiße Weste genügt nicht", dachte man da manchesmal; Die Zeit 13. 2. 1981 Ein überzeugendes Bild bietet die Partei, die als erste aus der Garski-Affäre die Konsequenzen ziehen und als Partei der Saubermänner dastehen wollte, gewiß nicht. Es mag durchaus sein, daß die FDP-Politiker nach dem 10. Mai mit ihren weißen Westen allesamt im Regen stehen; ebd. Nun, golden und meist aus Leder, immer mit Weiß kombiniert, waren hier: Bermudas, Trenchcoats, Blazer, Westen, sportliche Hüte; Mannh. Morgen 6. 3. 1981 Beil. Hierher gehören Westen und Pullunder, Gilets und Röcke, Hosen, Blusen und Pullover. bewesten: 1858 Hausbl. 1159 [Die Rotbrust] trug ein frohes Herz im rothbewesteten Busen (SANDERS DWB).

Western M. (-s und -; - und -s), in jüngster Zeit entlehnt aus engl./amerikan. western 'Geschichte aus der Pionierzeit des Wilden Westens; Roman, Schauspiel, Film o. ä. über den Wilden Westen; Wildwestfilm' (zu Adj. western in seiner Bed. "auf den Westen (der USA) bezogen'); in der Bed. 'Film über den Wilden Westen, Wildwestfilm' zur Bezeichnung einer in der Stummfilmzeit aufgekommenen (Kino-, Fernseh-)Filmgattung mit typischen, zur aktuellen Aussage verwendeten Handlungs- und Verhaltensmustern und meist stereotypem Personal (Cowboys, Indianer usw.), die Ereignisse der Westkolonisation der Vereinigten Staaten zum Thema hat; häufig als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Serien-, Edel-, Italo-, Sadowestern; Westernheld, -legende, -welle. Dazu die seltene, aus engl./amerikan. westerner in seiner Bed. 'Bewohner des Westens der USA' entlehnte Personenbezeichnung Westerner M. (-s; -) 'Pionier im Wilden Westen, Wildwestheld; Hauptgestalt eines Westerns', vereinzelt auch gleichbed. mit Western.

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Western

Western: Stuttgarter Ztg. 13. 10. 1959 Die Kämpfe sind ebenso hart und verwegen wie der ganze Western; ebd. 27. 9. 1960 Ein handfester Western, der mit Humor und Klamauk das übliche Schema dieser Filmgattung auf den Kopf stellt; Spiegel 7. 2. 1962 Im nigerianischen Fernsehen werden fast ausschließlich amerikanische Western gezeigt (CARSTENSEN); ebd. 24. 7. 1963 Nun unterscheiden die Kritiker zwischen dem „Adult Western" (dem Western für Erwachsene, der in Deutschland nur unzulänglich mit „Edel-Western" umschrieben wird) und dem Serien-Western (CARSTENSEN); Stuttgarter Ztg. 11. 9. 1964 Deutsche Western ohne Indianer (Uberschr.) Olsens Ehrgeiz zielt nach endlosen „Tolle-Tante"- und anderen Klamauk-Inszenierungen nun geradewegs auf John Fordsche Western-Klassik; ebd. 19. 3. 1965 Western zwischen Traum und Wahrheit. Zur Retrospektive in Oberhausen (Uberschr.) Der amerikanische Western findet neuerdings große Zuneigung in Deutschland. Aus einst hochmütiger Ablehnung hat sich beim seriösen Publikum eine Bewunderung entwickelt . . . Es fehlt allerdings nicht an Versuchen, die Westernwelle für eine kritische Betrachtung der bisher leidlich mißachteten Gattung zu nutzen . . . Das restliche Programm aus den für den Western so fruchtbaren fünfziger Jahren war mit einigen gängigen Titeln bestückt . . . Der Bogen vom frühen Stummfilm- bis zum modernen Adult-Western ist in Oberhausen erstmals bewußt und mit kritischer Ueberlegung gespannt worden . . . Gleichzeitig galt es, die Affinität des Western zur amerikanischen Geschichte zu beobachten. Die Historie ist auf vielfache Weise im Western korrigiert worden und für das Geschichtsbild des Amerikaners ist das Schwanken des Films zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit von großer Bedeutung; ebd. 4. 10. 1965 Marlene Dietrich und Fritz Lang „Die Gejagten" wiederaufgeführt (Uberschr.) Beide sind ihrem Typ nach legendäre Westerngestalten; Gregor/Patalas 1965 Film 218 gleich eine ganze Reihe von Westerns; ebd. Nach dem Kriegsende klang die Western-Welle vorübergehend ab: die sozialpsychologische Funktion der Westerns wurde jetzt von den patriotischen Kriegsfilmen übernommen; ebd. 219 Bezeichnend für die Aufwertung des Westerns war es, daß er jetzt auch für wert erachtet wurde, als Vehikel für „Botschaften" aller Art zu dienen; Stuttgarter Ztg. 30. 6. 1966 Alle Sentiments und die komplette Romantik, die man vom zünftigen Western verlangt, sind also vorhanden. Daß das Spiel, trotz dem erprobten Westernhelden Richard Egan . . . steif und unbeholfen bleibt, mag an der recht kümmerlichen Regie liegen; ebd. 4. 6. 1969 spielt [Anthony] Mann eines seiner Western-Themen

durch: daß Helden nicht überdimensionale Figuren sind . . . sondern durchschnittliche Menschen, die sich von andern nur durch ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl unterscheiden — auch wenn sie in den Augen ihrer Mitbürger als Außenseiter gelten; Offenburger Tagebl. 7. 6. 1971 Kurz nach dem Krieg bringt ein Zufall die kollektive Untat ans Licht, die man in klassischer Westernmanier — das heißt durch Androhung und Anwendung von Gewalt — zu vertuschen sucht. Der Film läuft nach dem genre-typischen Westernmuster ab: Spencer Tracy kommt als der einsame . . . Rächer der Gerechtigkeit in das sündige Dorf; Nat. Ztg. DDR 1. 10. 1972 Das pausenlose Revolverknallen bei den Wildwestfilmen im amerikanischen Fernsehen veranlasste einen TV-Seher zu der Frage: „Wann laden eigentlich die Western-Helden im Fernsehen ihren Colt?" (KRISTENSSON); Wochenpost DDR 1972 Nr. 41 Selbst die sieghafte Männlichkeit, mit der die rauhen Gesellen der Western-Legende reihenweise die Herzen kesser Bardamen und sittsamer Farmerstöchterlein brechen, hatte in der Realität zuweilen einen argen Knacks: Billy the Kid, der kaltblütigste Menschenjäger des Wilden Westens, war homosexuell (KRISTENSSON); Mannh. Morgen 31. 7. 1980 Freunde herzhafter Wildwest-Kost dürften zufrieden gewesen sein . . . Es war ein wunderschöner Film aus der guten, alten Westernzeit — die es gar nicht gab; ebd. 7. 8. 1980 da mochten sich die Brutal-Effekte und Klamaukszenen der italienischen Spaghetti-Western noch so effekthascherisch aneinanderreihen — die Zuschauer schienen der simplen Dramatik, der ewig gleichen Interieurs und Landschafts-Panoramen sowie der simplen Dialoge und stereotypen Schieß- und Prügel-Darbietungen überdrüssig zu sein. Der Western-Held hatte ausgedient; ebd. Daß der Geist der großen Western-Jahre auch in den Millionenstädten . . . unserer Zeit fortlebt, versuchen „zeitgenössische" Western zu beweisen; Die Zeit 4. 12. 1981 Wenn ein Western nichts sein darf als ein Western. Nichts als „gunplays and horses" (Howard Hawks). Nichts als Rinderherden, Indianer, Schlägereien, Whiskey, Poker und die Frage, wer der Schnellste und wer der Cleverste ist. Nichts als „starke und mutige Männer in einer wilden und kargen Landschaft" (André Bazin) und starke und gefühlvolle Frauen in einem ruhigen und sauberen Heim/in einem lauten und schmutzigen Saloon. Wenn ein Western nichts sein darf als eine Komposition von Mythen — dargestellt in einem „epischen Stil" (Bazin). Wenn also ein Western nichts sein darf als ein Western. Dann ist King Vidors „Duell in the sun" aus dem Jahre 1946 kein großer, reicher und auch kein schöner Western.

Wigwam Westerner: FAZ 7, 3. 1964 Die literarische Verwandtschaft zwischen Science Fiction und den „Westerners" ist heute weniger deutlich als zur Vorkriegszeit (CARSTENSEN); Gregor/Patalas 1965 Film 221 Anthony Manns Westerns sind geradezu Lehrstücke des ethischen Codex, der den Westerner als Gegenbild des modernen Zivilisationsmenschen definiert; Frankf. Rundschau 8. 7. 1971 Das Porträt eines Chicagoer Hotelangestell-

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ten, der sich als Begleiter eines erfahrenen Cowboys zum echten Westerner mausert; Mannh. Morgen 7. 8. 1980 Der harte Mann . . . ist wieder gefragt, „zumal der Westerner im Gegensatz zum Kriminalbeamten oder Geheimagenten nicht bloß einen bezahlten Job verrichtet, sondern dazu geboren scheint, ein Held zu sein", wie Walter Hill meint.

Wigwam M. (-s; -s), früher auch N., Ende 17. Jh. vereinzelt, seit Mitte 19. Jh. kontinuierlich belegt, über gleichbed. engl./amerikan. wigwam zurückgehend auf eine entsprechende Bezeichnung der Algonkin-Sprachen (zu wig, wik 'wohnen'); Bezeichnung für die mit Rinden, Matten oder Fell gedeckte Behausung der Algonkin-Indianer, von daher verallgemeinert zu der Bed. 'Indianerzelt, -hütte', gelegentlich (scherzhaft) übertragen verwendet für 'Behausung; Zelt; Wohnung, Bude'. Blome 1697 Engl. America 248 nachdem nun die Englischen sich dieser zu erst bemächtiget hatten / giengen sie getrost hinein in selbige Hütten / oder Wigwan, wie sie (die Indianer) es nennen; ebd. 262 An diesem Orte baweten sie eine lange Hütte oder Wigwam, und hielten alda einen großen Tantz / wie sie es nenneten; ebd. 285 nahm mich auch nachmals wieder mit zu der Hütten oder Wigwam; ebd. 293 Ihre Häuser / welche sie Wigwams nennen / bestehen aus einigen in die Erde gestoßenen Stangen / und sind gemeiniglich in der Rundte / zu Zeiten aber viereckigt bebauet; an solchen lassen sie aber ein Loch / da der Rauch hinaus kan / das übrige bedecken sie mit Baumrinden / und füttern inwendig ihre Hütten mit Matten aus / welche von allerhand bundgefärbten Binsen gemacht sind (PALMER); Droste-Hülsh o f f 1840 (Ges. Sehr. II 367) jetzt stehst du wie ein Amerikaner, der so eben den wigwams der Irokesen entschlüpft ist . . . vor ein paar runden flachsköpfen (DWB); Freiligrath 1856 (Ges. Dicht. VI 131) weil ich einsamlich im wigwam, fehlt auf meinen wanderzügen, meinen fahrten ein genosz mir (DWB); Fontane 1857 Br. II 1, 79 Wie die Indianer ihren Wigwam mit Skalpen ausschmücken; Willkomm 1857 Ammer 401 Die Prediger und einige der Neubekehrten begleiteten die beiden Europäer bis an die Grenze der Niederlassung, während Frauen und Kinder aus dem Schatten ihrer Wigwam's den Fremden neugierig nachsahen; Dincklage 1870 Gesch. I 49 durfte die Unterhaltung des älteren Paares, dessen Wigwam in blauer Leinengardine sich gegenüber erhob, nur sehr andeutungsweise geführt werden; Keller 1881

(Ges. W. VII 285) Thibaut . . . war in den wigwams zu hause, nämlich eines der indianischen mädchen zog ihn unwiderstehlich hinüber (DWB); Koch-Breuberg 1891 Jahre 102 Der Unterkunftsraum für den Pikett-Kommandanten glich einem Indianer-Wigwam; 1895 Brandenburgs 208 Otto Julius Bierbaum, der mit der Frau sein Wigwam am Strand des Tegeler Sees aufgeschlagen [hat]; Münch. N. N. 10. 9. 1918 Indianer . . . pflegen, ehe sie den Kriegspfad betreten, vor dem heimischen Wigwam Kriegstänze aufzuführen; Heilborn 1929 Revolutionen II 137 In der Bellevuestraße 13 hatte Ferdinand Lassalle sein Junggesellenwigwam aufgeschlagen; Michael 1929 Perhobstler 17 unseren fahrenden Wigwam [Eisenbahntransportwaggon]; Erman 1929 Leben 105 Anm. So [Krieger] nannten wir uns auf Grund eines Unsinns, der damals allen Couleuren gemeinsam war und der auf dem Cooper'schen „Lederstrumpf" beruhte, der Lieblingslektüre aller Jungen. Die Buden hießen „Wigwams", die Wirtinnen und ihre Töchter „Squaws"; 1932 ZDö Alpenver. 312 Fröstelnd krochen wir wieder heraus aus unserem eisigen Wigwam und rafften uns auf zum letzten Ansturm; Maull 1940 Amerika 21 die 'Wigwams' der Küstenalgonkin, kuppeiförmige mit Rinden bedeckte Zelte; Süddtsch. Ztg. 7. 5. 1954 Aus einem Wigwam der Stadtwerke zischt die gespaltene Zunge eines Schweißbrenners heraus und grillt uns die rüstigen Unterschenkel; Flake 1960 Abend 207 [Außenseiter] jemand, der in den verschiedensten Lagern lebte, ohne in ihnen Wigwam und Interessen zu haben, ein für allemal.

X Xanthippe F. (-; -n), Mitte 16. Jh. übernommen aus griech. SavöxmjtT], Name der schon in antiker Überlieferung als zänkisch und unverträglich geltenden Frau des Sokrates, bis ins 20. Jh. vorwiegend in der Form Xantippe, auch in scherzhaft entstellten Formen wie Zanktippe, Xantippe, Sandklippe; Name der Frau des Sokrates, von daher in der Bed. 'zänkische, bösartige, unverträgliche, streitsüchtige, keifende, mitunter handgreiflich werdende (Ehe-)Frau; Hausdrache', auch Bezeichnung für einen literarischen Typus, heute selten; dazu seit Mitte 17. Jh. die veraltete verbale Ableitung xant(h)ippisieren 'sich wie eine Xanthippe aufführen, den Hausdrachen spielen, zanken, keifen'; gleichzeitig die ebenfalls veraltete adj. Ableitung xant(h)ippisch '(nach Art der/einer Xanthippe) bösartig, streitsüchtig, unverträglich, zänkisch; wie eine/die Xanthippe', dafür im späteren 19. Jh. vereinzelt xanthippenhaft. Xanthippe: Scheidt 1551 Grobianus 63 Wie man lißt von Socratis weib Xantippe (danck hab noch jr leib) Die hat ein freyen bossen triben, Den man von jr hat auff geschriben . . . Xantippe was vndultig sunst, Vnd het ein maul das schwatzt zu sehr, Vnd mocht die gest nicht leiden mehr, Das angsicht brann jr wie ein glut, (Wie noch manch böse vettel thüt.) Sie flucht jn sehr, vnd stelt sich lätz, (Wolt perturbieren jr geschwätz.); Fischart 1575 Garg. 448 herein komm auch kein eiferiger frawengauch, die frembds naschen vnd jr eygnes andern lassen, die ausz dem hausz beiszt der Xantippe rauch (DWB); Suter 1665 Lustgärtlein 155 Ein böses Weib . . . über dieser Xantippe; Ahr. a S. Clara 1699 Etwas f . Alle I 363 eine geschimmelte Xantipp (SANDERS DWB); Edelmann 1752 Selbstbiographie 171 unsre Freundschaft [zwischen zwei Männern] die ausser dieser Xanthippe wohl ewig würde gedauret haben; 1767 Allg. d. B. IV 1, 158 die Mutter eine wahre Xantippe, wiedersetzt sich aber derselben aus eigennützigen Absichten; Schummel 1779 Spitzbart 181 Xantippen, wenigstens soweit meine Erfahrung reicht, xantippisiren bloß gegen ihre Ehemänner, die eo ipso keine Männer, sondern bloß zweybeinichte Thiere mit Hosen sind; ebd. 241 Ihre faden Alltagskomplimente kündigten sie Heinecciussen sogleich als ein Weib von gemeinem und niedrigem Schlage an und trotz ihrer übertriebnen Freundlichkeit waren doch die Xan-

tippenzüge in ihrem Gesichte nicht zu verkennen; Obermayr 1784 Bildergalerie 49 [Wiener Spiessbürger wallfahrten] um den ewigen Kontreverspredigten ihrer Junonen und Xantippen . . . auszuweichen; Pückler 1808 Br. u. Tageb. II 135 ein langer besenstiel flog mir sogleich wie ein wurfspiess beim Kopf vorbei, und den ganzen hügel herab folgten mir, wie ein fernes echo, die schallenden Schimpfwörter der wüthenden Xanthippe nach (DWB); Jean Paul 1811 (S. W. I 13, 360) indem im letztern [Fibels ABC-Buch] nur fünf menschen — der mönch, der Jude, der vogelsteiler, die nonne und die Xantippe — aber fünfzehn thiere auftreten (DWB); Wallner 1845 Tagebuch 61 eine ächte Xantippennatur; Heine vor 1856 (S. W. II 219) gejammert hat wohl deine Xantuppe oft über die magre Wassersuppe (DWB); Raumer 1861 Leben I 7 Weil es aber damals noch nicht Tausende von Kinderbüchern gab, mußte ich mich mit der jetzo sehr selten gewordenen Fibel begnügen und buchstabirte . . . von: der Affe gar possirlich ist, bis zur Verleumdung der Somatischen Xanthippe; Zeller 1865 Vorträge u. Abhandlungen 51 f . Zur Ehrenrettung der Xantippe (Uberschr.) Hätte Xantippe keinen Sokrates zum Manne gehabt, so wäre uns ihr Name wol kaum überliefert; und finge dieser Name nicht mit dem leidigen X an, so läsen wir schwerlich in den Fibeln: Xantippe war ein böses Weib, Der Zank war ihr ein Zeitvertreib; Mörike vor 1875 (W. I

Xanthippe 23 5) o, nicht süszen honig nur führen eure lippen, und so seid ihr [die Mädchen] von natur liebliche Xanthippen (DWB); Marholm 1903 Psychologie d. Frau II 28 Die Hausfrau war ihnen [den Griechen] Xantippe. Sie ist die einzige Ehefrau der griechischen Geschichte und was für eine: dumm, zänkisch, Kinder hinter sich herschleppend. Da wandten die Griechen ihre Augen ab; Birt 1910 Provence 144 Nun gar erst der Fisch- und Viktualienmarkt! Diese Enge, dies stauende Gedränge, diese Gerüche, diese Weiber, dies Geschrei! Zwischen Xanthippen und Sibyllen manche wohlgestaltete Juno mit aufgestülpten Aermeln und triefenden Händen; Münch. N. N. 6. 4. 1943 So war die Liebe der Xanthippe. Eine Erzählung von Stefan Andres (Überschr.) Hätte die Kleinbürgerin aus Athen es zu Lebzeiten ihres Sokrates gewußt, daß ihr Name als der Inbegriff des zänkischen Weibes die Jahrtausende überdauern würde, so wäre sie ihrem Ehemann in den Bart gefahren; ebd. 31. 10. 1944 Xanthippe (Überschr.) Hans Saßmanns gewichtiger Roman . . . ist weit mehr als die Ehrenrettung einer vom Männerwerk der Geschichtslegende verunglimpften Frau; FAZ 22. 9. 1962 „Sie" . . . möchte gern auch in zweiter Ehe noch einmal die geliebte Xanthippe ihres Mannes sein (Anzeige).

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xanthippenhaft: Gartenlaube 14 (1867) 256b Xanthippenhaft (SANDERS 1871). xant(h)ippisch: Harsdörffer 1650 Lust- u. Lehrreiche Gesch. I 283 etliche [Weiber] aber sind xanthippisch bös und unterstehen sich ihr haupt wider die wand zu stossen; Amaranthes 1715 Frauenz.-Lex. 2150 dergleichen xantippische töchter und böse sieben; Zweig 1931 Mädchen u. Frauen 84 jedenfalls habe kein einziger philosoph geheiratet, auszer Sokrates, dem es entsprechend xanthippisch zugegangen sei (alle DWB). xant(h)ippisieren: Harsdörffer 1650 Lust- u. Lehrreiche Gesch. 1197der eine frau hatte, welche täglichs zu xanthippisieren, ich will sagen zu zanken und zu kiefen pflegte (DWB VIII 1659); Schummel 1779 Spitzbart 181 Xantippen, wenigstens soweit meine Erfahrung reicht, xantippisiren bloß gegen ihre Ehemänner, die eo ipso keine Männer, sondern bloß zweybeinichte Thiere mit Hosen sind; Ausserdem etwa noch gegen Knecht, Magd, Vieh und alles, was von Natur oder durch Situation wehrlos ist.

Y Yankee M. (-s; -s), früher Gen. auch -, PI. auch -ies und vereinzelt Ende 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. engl./amerikan. yankee unsicherer Herkunft (früher oft als indian. Verballhornung (über die Form Yengees) von english erklärt, wahrscheinlicher aber zurückgehend auf niederl. Janke, Jantje, Diminutiv von Jan, als Spottname für einen Bewohner Neuenglands); zunächst Bezeichnung für einen Bewohner Neuenglands, dann bes. seit den Sezessionskriegen der Nordstaaten überhaupt, letztlich (als je nach Einstellung den USA gegenüber zuerst auf-, dann vor allem im 20. Jh. (Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg) häufiger abwertender Spitzname) ausgedehnt auf Bewohner, Bürger der Vereinigten Staaten, den USAmerikaner schlechthin; in jüngster Zeit in der B R D selten und eher zitathaft, in der D D R dagegen als Schimpfname häufiger gebraucht; als Bestimmungswort in ebenfalls oft (ab-)wertenden Zss. wie Yankeeimperialismus, -land, -typ. Dazu seit Mitte 19. Jh. die veraltete subst. Ableitung Yankeetum 'amerikanisches Wesen, amerikanischer Geist, Nationalcharakter'; im 19. Jh. die adj. Gelegenheitsableitungen yankeeartig, -haft, -isch, -mäßig 'nach Art des/der Yankees'; im früheren 20. Jh. das seltene Verbalsubst. Yankeesierung, dafür vereinzelt auch älteres Yankeesation, für '(aufgezwungene) Veränderung der heimischen Traditionen eines Volkes nach amerikanischen Vorstellungen, Selbstentfremdung eines Volkes durch Anpassung unter dem Druck amerikanischen Einflusses, Amerikanisierung', mit dem dazugehörigen Verbaladj. (ver-)yankeesiert; Mitte 20. Jh. die adj. Gelegenheitsableitung yankeephil '(sehr) amerikafreundlich'. Daneben seit Mitte 19. Jh. aus dem Engl./Amerikan. übernommenes Yankee-doodle M. (-s und -; ohne PL), in unterschiedlicher Schreibweise nachgewiesen als Bezeichnung eines aus dem 18. Jh. stammenden Nationalliedes der US-Amerikaner. Yankee: Forster 1791 Ansichten IX 327 als die Neuengländer nach den Gefechten bei Lexington und auf Bunkershill mit ihrem und mit Brittischem Blute den Vorwurf der Feigheit abgewaschen hatten, der auf dem Namen Yankies haftete, setzten sie ihren Stolz darin, sich ihre Feinde von Yankies besiegt und durch dessen Namen noch tiefer gedemüthigt zu denken. So kannten auch bald die Holländischen Patrioten kein Wort, dass sie stärker begeistern konnte, als das Anfangs gehässige Kees; Anburey 1792 Reisen im Inneren v. Nordamerika 206 die niedrigere Klasse dieser Yankees (PALMER); Engels 1841 (II 152) wenn der deutsche Auswanderer wieder heimkommt, spielt er erst recht den Yankee; 1843 England 114

die letzte Yankee-Ubertreibung aus den Zeitungen erzählen; ebd. 114 Anm. Yankee = Spottname der Amerikaner in England; Kohl 1844 brit. Inseln I 458 treulose Yankees; ebd. II 505f. Auch die Yankees, die Amerikaner, haben nicht nur ihre „Yankeeisms" (amerikanische Provinzialismen), sondern auch insbesondere ihren „Yankee-Slang". Die Engländer nehmen solche amerikanische Slang-Ausdrücke . . . gern . . . auf; Löher 1847 Deutsche in Amerika 213 Der Neuengländer oder Yankee; ebd. 400 Yankeedeutschen, die man auch Halbdeutsche, oder, nach Pennsylvanier Art Irischdeutsche . . . benennt; Fontane 1851 Br. II 1, 32 ein so vollendeter Bummler, ein so überreifer Yankee; Görtz 1852 Reise I 106 Der Yankee im

Yankee engern Sinne, d. h. der Amerikaner der östlichen und auch noch mittlem Staaten; ebd. I 254 Anm. Im weiteren Sinn wird der Ausdruck Yankee für die amerikanische Nation, und zwar von ihnen selbst gebraucht; Wagner-Scherzer 1854 Reisen i. Nordamerika I 41 mit dem praktisch-politischen Yankeeverstande; ebd. I 206 am Niagarafalle, wohin täglich Hunderte von Yankeetouristen dampfen; Bamum 1855 Leben 285 Anm. Yankee bezieht sich im amerikanischen Sinne nur auf die Bewohner der Neu-England Staaten; nürnberger 1855 D. Amerikamüde 130 ihren deutschen tiefsinn stemmen sie entgegen der routinierten flachheit . . . ihr deutsches gewissen dem humbug und Yankee-trike (DWB); Knapp 1857 Rechtsphil. 6 Dieser kindische Missverstand [die Deutschen ein philosophisches Volk zu nennen], der dem einer Yankee-Geographie ähnelt, welche als den hauptsächlichsten Nahrungszweig der Deutschen die Pechsiederei aufführt; 1862 Hausblätter I 125 unsteten Gewohnheiten des wanderlustigen Yankee; Douai 1864 Union 148 Die Yankeein ist durchschnittlich so gut, wenn nicht besser gebildet, als der Yankee; ebd. 150 Wären die Yankeeinnen nicht so sehr der Sklaverei feind, so würde man ihnen dies Alles nicht so sehr zum Vorwurf machen; denn sie sind in der Regel keuscher und sittsamer als andere Anglo-Amerikanerinnen; Müller 1864 Reisenl 50 den Yankees alle Pfiffe und Kniffe im Gelderwerben abzulernen . . . in den Augen eines Yankee; Treitschke 1865 Jahre 45 [Haß der] Conföderisten gegen die Yankees; 1867 Gartenlaube 472 eine echte Yankeein; ebd. 814f. In ihrem Äusseren hatte sie wenig von der specifischen Yankeeerscheinung mit ihren blonden Locken und blauen Augen; Treitschke 1867 Jahre 201 jener blühenden Yankeephrase, die Präsident Jackson einst dem hanseatischen Gesandten in's Gesicht warf: „die Hansestädte sind Hühner, die das Pferd der Vereinigten Staaten nur aus Mitleid nicht zertritt"; Springer 1868 Berlin 160 eingedenk des Yankeespruchs: time is money; Bamum 1869 Kämpfe 738 ein wenig Scherz auf Kosten des . . . „Yankee" zu machen; Schlözer 1869 Amerikan. Br. 40 Uberhaupt sind Yankees und Mexikaner stets auf Dolch und Revolver eingerichtet; ebd. (1872) 114 in dem waffenhandelnden Yankee aber nur einen Kaufmann zu erkennen; ebd. 120 „Yankee", das anglisierte holländische „Jan"; Hopp 1877 Sternenbann 164f. einen dieser hagern, langen, mit eckigem Gesicht versehenen, vertrockneten Yankees . . . Leute, die . . . früher gern einen Ziegenbart, einen Frack und hohen Cylinder trugen, und dabei reich an sardonischem, kaustischem und lakonischem Witz waren; ebd. 166 der New-England-Yankee; Hildebrand 1884 Br. 195 der mir

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mit Wärme sagte, er [Mr. H. Wood] habe erst im deutschen Geiste eigentlich leben lernen. Lernen nur mehr Amerikaner so denken oder empfinden . . . ja dann kann sich einmal im kommenden Jahrhundert das Beste des deutschen Geistes bei Ihnen [in Amerika] vermählen mit dem Besten des Yankeegeistes und eine neue Welt heraufführen; Busch 1899 Tagebuchblätter (1870) I 85 Der General [Sheridan] spricht den allerechtesten Yankeedialekt; Polenz 1903 Land d. Zukunft 75 es fehlt dem Yankee an behäbigkeit, körperlicher wie seelischer (DWB); ebd. 100 der Yankeefarmer ist Unternehmer, beweglich und spekulativ . . . er sucht unter geschickter ausnutzung der konjunktur möglichst viel aus ihr herauszunehmen (DWB); Münsterberg 1904 Amerikaner I 50 das anspornende Vorbild des industriellen Yankeegenies; Wirth 1904 Volkstum 171 Dem All-Angelsachsentum gegenüber steifen sich die Yankees auf ihre Sonderart; Huret 1909 Berlin 355 ein echter barbarischer Yankeegeschmack; Tägl. Rundschau (Berlin) 28. 1. 1911 Eine neue Lesart über den Ursprung des Wortes „Yankee", das gewöhnlich als indianische Umformung von „englisch" gilt, gibt ein holländischer Sprachforscher. Nach seiner Auslegung entstand das Wort im 17. Jahrhundert, zur Zeit der holländischen Okkupation . . . Während des Krieges zwischen England und Holland kam es auch in Amerika zwischen den englischen und den holländischen Kolonisten zu Kämpfen und damals zum ersten Male wurden diese „Yankees" genannt, um ihre Nationalität zu kennzeichnen. Das Wort wurde aus den damals in Holland sehr gebräuchlichen Namen „Jan" und „Kees" zusammengesetzt; Frankf. Ztg. 11. 6. 1911 Der Yankee als Erzieher (Uberschr.) Die alte Erfahrung, daß junge Eltern sehr häufig bessere Erzieher ihrer Kinder sind als ältere und reifere, findet im Yankeelande eine auffallende Bestätigung . . . Dem Yankee gilt ganz selbstverständlich alles Amerikanische als das Beste, das Größte, das Schönste in der Welt, und das jünglinghafte Renommieren mit all diesen Superlativen ist ebenso charakteristisch für die Nation, wie ihre Vorliebe für unsinnige Kraftproben, närrische Wetten, sensationelle Schaustellungen und lärmende Vergnügungen. Der Yankee bewahrt sich diese jugendlichen Eigenschaften bis in sein hohes Alter; Harden 1927 Versailles 547 Die Yankeeneigung in den Glauben, der Amerikaner sei der vollkommene Ausdruck moderner Menschen und dürfe auf seiner Höhe den zwischen Basalten und verfallenen Schlössern keuchenden Europäer belächeln, wird begünstigt, wenn Europa die Sippe Jonathans würdelos umdienert; Voss. Ztg. 11. 2. 1930 Es ist wirklich möglich, Amerika in Zahlen darzustellen, in Zahlen und in Kurven. Das Yankeeland ist der

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Yankee

Boden der Statistik. Der Amerikaner selbst liebt es, sich in Zahlen verständlich zu machen. Sein Gefühl registriert sich in Ziffern; Berl. Illustr. Nachtausg. 15. 6. 1931 Sind doch zum Beispiel für jeden Indianer den Vereinigten Staaten 10000 RM zu hinterlegen, bis er „lebendig oder tot", wie die gemütvolle Yankeeregierung verlangt, wieder in seiner heimischen Reservation eingetroffen ist; Dix 1934 Raum 81 die „Sieger" von Yankees Gnaden; Drascher 1936 Vorherrschaft 153 neuen Rassetyp „Yankee"; ebd. 212 Der Nordamerikaner, wie wir den Bewohner der Vereinigten Staaten nennen wollen („Yankee" sei erlaubt); Pähl 1938 Antlitz d. Erde 223 erblickt der Nordostkontinent in dem Südostkontinent das naturgegebene Feld seiner handelspolitischen Expansionspolitik, des „Yankee-Imperialismus"; Münch. N. N. 25. 5. 1938 Yankee-Panamerika (Uberschr.) Ist es doch überhaupt eine beliebte nordamerikanische Taktik, in Fragen der panamerikanischen Politik nicht immer selber vorzugehen, sondern zuweilen auch befreundete Nationen vorzuschicken; Maull 1940 Amerika 36 den kapitalistischen Yankeekaufherren; Münch. N. N. 5. 1. 1944 Je mehr sich dieser äußere Rahmen der von den USA. aus strahlenförmig verstoßenden Yankeetruppen über den Globus hinweg verbreiterte; ebd. 24. 2. 1944 Die Londonder parodieren ihr Verschwinden aus dem „amerikanischen Viertel" mit dem neuesten Schlager in den zumeist von Yankeesoldaten überfüllten Kabaretts . . . Der Yankee treibt denn auch die Preise in die Höhe; M.-A. Abendztg. 13. 6. 1944 mit der Stadt Carentan, wo die Yankees besonders schwer bluteten; ebd. 29. 7. 1944 Er [der zweite Weltkrieg] sollte ferner den Yankeejuden die finanzielle und materielle Allgewalt eintragen, und, da der erste Weltkrieg sie noch nicht voll eingebracht, mußte der zweite kommen; Dtsch. AZ. 14. 10. 1944 Die Beobachtung der Ereignisse in und um Ibero-Amerika während der vergangenen Jahrzehnte hat gelehrt, daß sich die USA. durch nichts von ihrem Plan der Ausbreitung des Yankee-Geistes bis nach Feuerland abbringen lassen; M.-A. Abendztg. 31. 3. 1945 Yankee-Imperialismus (Überschr.) hat in einem unverkennbar auf amtliche Einflüsse zurückgehenden Leitartikel festgestellt, die Nordamerikanische Union werde alle Gebiete, die sie im Pazifik erobere, für sich beanspruchen; Seyppel 1951 Dekadenz 15 dem naturalistischen Empirismus des Yankee-Typs; Süddtsch. Ztg. 5. 8. 1952 Amerika behauptete seine Spitzenstellung. Die Yankees entführten sechs von insgesamt acht Goldmedaillen; ebd. 27. 4. 1957 Yankees in Europa (Uberschr.) Es besteht gar keine Frage: die Touristen — besonders die aus Amerika, führen ein bemitleidenswertes und kostspieliges Dasein; ebd. 9. 5. 1957 Der eine ist ein

waschechter Yankee geworden und wird von Frank Holms als superamerikanische Gliederpuppe gespielt; Naumann 1958 Soziologie Einltg. XXIII die traditionelle Yankee-Moral des Selbstvertrauens und des Optimismus; Offenburger Tagebl. 10. 3. 1960 Das ins Auge springende Beispiel liefert hierzu Argentinien, das eine Schwenkung um 180 Grad vollzog, als es unter Frondizi seine traditionell proeuropäische Linie aufgab und mit vollen Segeln ins Fahrwasser der USA schoß . . . In welchem Maß Argentinien ins Lager der „Yankees" schwenkte; Süddtsch. Ztg. 24. 4. 1961 Der „Yankee-Imperialismus" habe [nach Castro] seine erste große Niederlage in ganz Lateinamerika erlitten; Offenburger Tagebl. 7. 5. 1961 Auch „Fanny" leidet unter allzu dick aufgetragenem Yankeemachwerk, allzu grobklotziger Regieführung; Stuttgarter Ztg. 6. 10. 1962 während Brizzola ihren linken Flügel repräsentiert. Er ist der Hauptrufer gegen den „Yankee-Imperialismus", hat nordamerikanische Unternehmen enteignet; ebd. 25. 10. 1962 daß sie [die Sowjets] die Unabhängigkeit der Südamerikaner . . . in einem viel unerträglicheren Maße beschneiden würden, als es der Yankee-Imperialismus in seinen schlimmsten Zeiten je getan hat; Berl. Ztg. (DDR) 26. 10. 1962 Sie ist eine offene Aggression gegen Kuba und die krasseste und unverschämteste Einmischung der Yankee-Imperialisten in die ureigensten Angelegenheiten des kubanischen Volkes (KRISTENSSON); Stuttgarter Ztg. 14. 12. 1963 Reiche arme Yankees (Überschr.) Die Nordamerikaner müssen für ihren Reichtum in Südamerika teuer bezahlen; Offenburger Tagebl. 19. 12. 1969 Lateinamerikaner und Kanada unterstrichen ihre Unabhängigkeit von den „Yankees"; ebd. 20. 8. 1971 beklagte ein älterer Herr aus den USA in einem der hiesigen Luxushotels, die vorzugsweise Sammelplätze der „Yankees" sind; FAZ 1. 1. 1972 Kubas Ringen um Geltung. Havanna als Nutznießer des lateinamerikanischen Yankee-Komplexes (Uberschr.); Berl. Ztg. (DDR) 20. 2. 1972 So hätten sie's gern, die Herren im Pentagon: das Mittelmeer als mare nostrum, als Badewanne der Yankees, als stützpunktbesäter Aufmarschraum gegen die antiimperialistischen Nationalstaaten und die sozialistischen Nationalstaaten (KRISTENSSON); ebd. 13. 10. 1972 Zwischen 14. April und 25. September 1972 haben die YankeeLuftpiraten fast 200 Schulen in der DRV mit Bomben belegt (KRISTENSSON); Junge Welt (DDR) 13. 10. 1972 Die ganze Welt erlebt in diesen Tagen gewaltige Massenaktionen, eindeutige Regierungserklärungen und zornige Proteste weitbekannter Wissenschaftler und Künstler gegen die Yankee-Piraten (KRISTENSSON); Nat. Ztg. (DDR) 15. 10. 1972 Doch raubgierige Yan-

Yankee kees zerstören seine illusionären Träume und bringen ihn um Geld, Glück und Familie (KRISTENSSON). yankeeartig: Gutzkow 1840 Charaktere VIII 217 Seitdem in unserm Zeitalter die Männer in ihren Mackintoshs immer yankeeartiger und poesieloser werden. yankeehaft: Scherr 1865 Blücher II 14 Yankeehafte, an Tischen und Stuhllehnen ausgelassene Sucht, zu schneiden un zu schnitzeln. yankeeisch: Hildebrand 1884 Br. 196 Ich habe jetzt Beziehungen zu einem Amerikaner . . . der classischer Philolog ist und - mit wahrhaft deutscher Begeisterung fürs Volkslied schwärmt, hört denn auch mein Colleg darüber. Das ist doch auch mehr deutsch als yankeeisch? yankeemäßig: Löher 1847 Deutsche in Amerika 407 sich ganz yankeemässig erzürnen. yankeephil: Volk. Beob. 25. 1. 1945 Die „BossPolitik" der USA . . . verletzte die nationale Würde selbst yankeephiler Völker, wie z.B. die Brasilianer, in einem nicht mehr alltäglichen Maße und weckte die künstlich eingelullten nationalen Kräfte. Yankeesation: Stimmen d. Zeit 78 (1910) 78Anm. Bei einer europäischen Zollunion (blocus européen gegen die „Yankeesation") würde Frankreich nur tirer les marrons du feu pour - le roi de Prusse. (ver-)yankeesiert: Schlaf 1905 Nonne 124 ein kleiner, runder, kräftiger, rotbackiger Herr, mit einem Schädel, dass er sich so recht ausnimmt wie ein veryankeesierter Bauer; Geopolitik 9 (1932) 271 yankeesiert. Yankeesierung: Dtsch. Rundschau 222 (1930) 248 Der europäische Leser wird aber vielleicht die Tragik dieses Geschehnisses noch stärker empfinden als der Autor, der wohl mit einer gewissen Wehmut, dennoch vornehmlich mit zukunftsgläubigem Optimismus die Yankeesierung dieser hartfäustigen Wikingsbauern schildert und gerade mit dieser Form des Optimismus die eigene Yankeesierung verdeutlicht; Geopolitik 9 (1932) 266 Yankeesierung des Lateinischen Amerika; 1943 Berl. Monatsh. 294 Die drohende „Yankeesierung" Ibero-Amerikas; ebd. 295 Gefahr einer „Yankeesierung" der iberischen Geistesverfassung [in Südamerika]; ebd. 297 wenn der Krieg zu einer „tota20»

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len Yankeesierung" der westlichen Hemisphäre führen sollte. Yankeetum: Löher 1847 Deutsche in Amerika 399 jagt sich eine Anzahl feuriger junger Männer umher, welche entweder für Deutschthum oder für Yankeethum oder für irgend eine politische oder sociale Meinung begeistert sind; Görtz 1852 Reise I 93 ein so entschiedener Charakterzug des Yankeethums; Giehne 1864 Zustände 124 verloren . . . ihre Nationalität an das Yankeethum; Hildebrand 1893 Br. 201 Was Sie mir über die Lage und das Schicksal des deutschen Wesens in dem amerikanischen Strudel schrieben, geht mir natürlich nahe genug, überrascht mich aber nicht. Es hat wohl nie ein Volk gegeben, das mit sicherem Sieges- und Herrengefühl alle Dinge, die eigenen wie die fremden, angesehen und angegriffen hätte, als das Yankeethum. Die eigene deutsche Art ist viel zu zart, um dagegen aufzukommen; Brentano 1916 Kapitalismus 149 Glaubensbekenntnis des Yankeetums; Münch. N. N. Neujahr 1944 Welchen Weg Rumänien in diesem Kampfe Europas um Freiheit und Eigenleben, im Kampfe gegen kulturvernichtenden Bolschewismus und kulturzersetzendes Yankeetum gewählt hat. Yankee-doodle: Löher 1847 Deutsche in Amerika 163 Der Yankee Dudel ist eine von jenen in Westfalen so häufigen spasshaften Volksmelodien und wurde von den Hessen den Amerikanern, wie es heisst, zum Spotte oft vorgesungen. Der musikalische Geschmack der Yankees fand sich dadurch so getroffen, dass sie diese Weise mit Begeisterung aufnahmen; Gerstäcker 1848 Flusspiraten I 46 aus Leibeskräften den Yankeedoodle pfeifend; Bamum 1855 Leben 252 welches Lied er [ein Amerikaner] am liebsten singt? „Yankee Doodle!" war die rasche Antwort; Heine 1856 Reise um die Erde 1239 die alte bekannte Melodie des Yankee-doodle ertönte unter obligater Trommelbegleitung; Schlözer 1872 Amerikan. Br. 119f. erzählte mir der holländische Sekretär, dass das . . . Nationallied, der „Yankee Doodle", ursprünglich ein im 18. Jahrhundert von einem Engländer verfasstes Spottlied auf die holländischen Kolonisten gewesen sei. — „Yankee" das anglisierende holländische „Jan". Es wäre das ein neuer Beitrag für den Wandel eines Liedes, bis es schliesslich auf den Kopf gestellt wird; nürnberger 1876 Haustyrann 37 Es war von der Nationalhymne der Amerikaner, dem unwiderstehlichen Yankee-Doodle, die Rede. Früll wünschte ihn zu hören. Es war . . . komisch, dass sie im Namen einer grossen Künstlerin aufgefordert wurde — einen Gassenhauer zu spielen! Denn ein solcher ist bekanntlich der Yankee-Doodle. Mit derbem

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Yoga

Muthwillen antwortete das Mädchen: Spielen könne sie ihn nicht. . . aber pfeiffen wolle sie ihn — den Yankee-Doodle. Und nun stand sie auf und pfiff das Lied frisch vom Schnabel weg und schlug mit den Händen den Tact dazu; Conrad 1895 Finsternis 321 kein amerikanischer Humbug, Yankee-Doodle; Hessenland 19 (1905) 20 Lewalter,

Joh.: Der „Yankee doodle" ein Schwälmer Tanz?; Bierbaum 1910 Reife Früchte 27 YankeedoodleFahrt; Süddtsch. Ztg. 26. 7. 1952 Den Yankee Doodle können die finnischen Musiker am besten, Kunststück, wenn sie ihn seit einer Woche jedesmal zwei- bis dreimal täglich spielen müssen.

Yoga, selten auch Joga, M. (-s und - ; ohne PL), anfangs vereinzelt F., meist ohne Artikel oder als Bestimmungswort in Zss. gebraucht, im frühen 20. Jh., wohl unter engl. Einwirkung, entlehnt aus gleichbed. hindi, sanskr. yoga, eigentlich 'Vereinigung (mit der Gottheit); Verbindung'; Bezeichnung für eine aus Indien stammende religiös-philosophische Lehre der Selbsterlösung, der mystischen Erkenntnis (und Vereinigung mit der Gottheit) durch Askese, körperliche Ubung(en) und vor allem durch Meditation und völlige Versenkung (Yogalehre, -jünger); heute vor allem Bezeichnung für die ursprünglich dazugehörigen (körperlichen) Übungen, die auch ohne religiös-philosophisches Ziel oft als therapeutisches Mittel zur Steigerung der Konzentration, der Körperbeherrschung und zur Entspannung ausgeführt werden (Yogakurs, -Übung); daneben schon im frühen 19. Jh. vereinzelt, seit Anfang 20. Jh. kontinuierlich belegtes, wohl unter engl. Einwirkung aus gleichbed. hindi yogi, sanskr. yogin entlehntes Yogi(n) M. (-s und - ; -s) 'Anhänger des Yoga; jmd., der nach der Yogalehre lebt', gelegentlich übertragen verwendet; dazu in neuester Zeit die subst. Gelegenheitsableitung Yogismus M. (-; ohne PL) 'System, Lehre des Yo-

Yoga: Keyserling 1920 Reisetagebuch e. Philosophen I 137 ich benutze die reichen gelegenheiten der . . . bibliothek, um meine kenntnisse, die yoga betreffend, zu vervollständigen; ebd. I 141 yoga ist an sich ein rein technisches, gleich jeder anderen gymnastik; ebd. I 810 alle typischen früchte der yoga werden ihnen im prinzip auch zuteil (alle DWB); Schmitz 1923 Psychoanalyse und Yoga (Titel); Lettenbaur -1927 Morgen 190 Yoga-Training; Gothein 1931 E. 316 einer Yogaähnlichen Körperübung; Nord. Ztg. 1934 Nr. 3 Prof. Hauer, der Führer der ADG. und der Yoga (Uberschr.) Im Jahre 1932 veröffentlichte der obengenannte Prof. Hauer ein Buch „Der Heilweg des Yoga" . . . Er meint, daß die Verwandtschaft „des Yoga" mit der modernen Psychoanalyse außerordentlich groß sei. . . „überzeugt, daß der Yoga uns in unserer heutigen seelischen und geistigen Situation mithelfen kann, die Mittel seelisch-geistiger Schulung zu finden, mit Hilfe derer wir imstande sind, der ungeheuren Schwierigkeiten Herr zu werden, die in jeder Moderne die Seele und den Geist bedrohen." — Also der Yoga ist für Prof. Hauer ein solcher „Heilsweg". Wir haben schon 1931 geglaubt und ausgesprochen, daß der Heilsweg der deutschen Seele im

Erwachen und Sieg des Nationalsozialismus läge und haben uns schon im Jahre 1931 für diesen völkischen Aufbruch Deutschlands eingesetzt, gegen weltfremde völkische Ideologen, aber auch gegen Psychoanalytiker und Anthroposophen. Und dieser Verfechter des Yoga, „einer indischen Heilsgymnastik", ist heute „Führer" der ADG., also einer Bewegung, die sich „deutschen Glaubens" nennt; Clemen 1941 Lob 58 der Begründer der Yoga-Philosophie, Patanjali, vor 1400 Jahren . . . in dem indischen Yoga, das eigentlich Anspannung, Training bedeutet; Süddtsch. Ztg. 24. 9. 1954 Er stellte die acht Stufen der Yoga-Meditation nach Methode und Inhalt dar . . . versuchte er, das Trennende darzustellen, jene Punkte zu fixieren, in denen der Yoga-Weg vom christlichen sich trenne. Natürlich findet sich das Trennende in den Inhalten der Meditation, und wenn es das Ziel der Yoga-Meditation sei, sich mit Gott zu identifizieren, so könne der Christ eben nicht zugestehen, er sei a priori und auf jeden Fall ein Stück Gottes; Hohlenberg 1954 Der atmende Gott. Yoga und der europäische Mensch (Titel); Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1958 Ratschläge für Yoga-Jünger (Überschr.) Über die Kunst des Joga referierte dieser Tage Hari Krashna aus Bombay . . . Sie sei lediglich

Yoga eine Konzentrationsübung des Geistes. „Mit Joga", sagte Krashna, „kann man auf dem Meer Spazierengehen und sich in die Luft erheben; mit Joga kann man Menschen und Tiere verstehen und Wände durchbrechen. Joga kann vielen Menschen helfen"; 1959 Freundin Nr. 4 o.S. Wer Yoga lernen will, braucht Geduld und Ausdauer . . . Natürlich gibt es noch eine Menge Yoga-Übungen für gelehrige Schüler. Wir aber wollen hier nur noch zum Abschluß eine der charakteristischen Atem- und Meditationsübungen erläutern, die zum reichhaltigen Repertoire der Yoga-Lehre gehören; Offenburger Tagebl. 12. 3. 1962 Morgen abend: Yoga in der Praxis. Indischer Yogi lehrt richtiges Atmen, Essen, Denken (Überschr.) Die Yoga-Uebungen, die Swami Dev Murti lehrt und die weitgehend auf einer vollendeten Beherrschung der Atemtechnik beruhen, sind ebenso einfach wie wirksam . . . Er erstrebt mit Hilfe seiner Uebungen eine Entwicklung der vergessenen Eigenkräfte des Körpers ohne Medizin, d.h. durch richtiges Atmen, Essen und Denken; Süddtsch. Ztg. 3. 4. 1963 die zur Hausorgel singende, heiratslüsterne, yogaübende Tante gemahnt an gewisse Figuren Saul Steinbergs; Die Zeit 4. 7. 1980 Im Sommer finden im Kulturhaus des Dorfes Yoga- und Fechtkurse sowie Vorträge und Theaterabende statt. Yogi(n): 1830 Völker-Gallerie I SO Joghi's; ebd. 88 Joghi's; Hilty 1906 Neue Br. 237 ein indischer „Yogi"; Keyserling 1920Reisetagebuch e. Philosophen I 140 es mag wohl sein, dasz die dinge durchaus so liegen, wie die yogis behaupten (DWB); ebd. 1141 sie [Jesuiten] sind eben yogis; sie sind . . . zu beherrschern ihrer seele geworden (DWB); ebd. I 810 die amerikanischen geschäftsleute sind echte yogis insofern, als sie alle aufmerksamkeit auf eines konzentrieren, und alle typischen früchte der yoga werden ihnen im prinzip auch zuteil (DWB); Hesse 1943 Glasper-

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lenspiel II 349 Dasa begriff, dasz dies ein heiliger mann und yogin sei (DWB); Blunck 1953 Licht 94 Wie ein Jogi habe ich atmen gelernt; Coster 1954 Yoga u. Tiefenpsychologie 117 trotzdem bleibt das gesetz von Ursache und Wirkung . . . unabhängig von dem bewusztsein des yogi bestehen (DWB); La Bedoyere 1955 Und einiges 154 dass der Mensch nicht wie ein indischer Yogi weltflüchtig das Göttliche suchen soll; Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1958 In einer dieser Stellungen . . . habe ein Jogi 15 Jahre ohne Essen, Trinken oder Schlafen zugebracht; Offenburger Tagebl. 12. 3. 1962 Der Yogi ist einer der bedeutendsten Vertreter des indischen Yoga heutzutage . . . Im Anschluß an seinen Vortrag führt der Yogi ein Training durch, in dem den Interessenten alle Uebungen gezeigt werden, die zur Gesunderhaltung des menschlichen Körpers erforderlich sind. Viele Aerzte, Sportlehrer und Menschen aller Altersgruppen haben diese Uebungen während des dreijährigen Deutschland-Aufenthaltes des Yogi erlernt; Brugger 1967 Philosoph. Wb. 457 Das Ziel des Yogin . . . ist die Unterdrückung der Funktionen der Denksubstanz, um sie in ein Anderes, Höheres überzuführen; Mannh. Morgen 17. 7. 1980 Die Vorlage lieferte Joachim Walther mit seiner Erzählung „Ich bin nun mal kein Yogi", die auch schon bühnengerecht aufbereitet wurde; Spiegel 2. 3. 1981 Nein, ein Verführer von Minderjährigen und Minderbemittelten ist Bhagwan Shre Rajneesh nicht. Auch kein Versandhaus-Yogi wie der alte Maharishi, der seine „Transzendentale Meditation" geschäftstüchtiger in den Westen exportiert als die Japaner ihre Toyotas und Mitsubishis. Yogismus: NZ. (Basel) 24. 3. 1950 Man versuchte, das seltsame „Phänomen" durch die üblichen Erklärungen zu deuten. Die einen waren hingerissen von der „Macht des Geistes über den Körper" (Yogismus), während Skeptiker irgendeinen Schwindel dahinter vermuteten.

z Zar M. (-en; -en), Gen. früher auch -s, Mitte 16. Jh. entlehnt aus russ. tsar', historische(r) Herrscherbezeichnung, -titel in Rußland vor der Oktoberrevolution 1917 (vgl. ähnlich lautende Titel in anderen slawischen Sprachen), ( < gleichbed. altruss. tsesari, über got. kaisar zurückgehend auf lat. Caesar, Beiname der römischen Herrscher seit Octavian, der als Adoptivsohn des C. Julius Caesar auch dessen Beinamen trug; vgl. längst integriertes Kaiser), bis ins 18. Jh. in unterschiedlicher (transliterierender) Schreibung; zunächst auf den slawischen Sprachraum, bes. Rußland, bezogen als historische(r) Herrscherbezeichnung, -titel; seit Mitte 20. Jh. zunehmend übertragen verwendet, bes., wohl nach amerikan. Vorbild, für 'Person mit großem Einfluß, großer Macht auf einem bestimmten Gebiet', vor allem als Grundwort in Zss. wie Presse-, Film-, Modezar, in jüngster Zeit auch auf führende (Partei-)Politiker der Sowjetunion bezogen für 'unumschränkter, autokratischer Herrscher mit einer der des Zaren vergleichbaren Macht'. Dazu seit Ende 16. Jh. aus dem Russ. übernommenes Zarewitsch M. (-(es); -e), historische Bezeichnung für den Sohn eines Zaren, den russischen Kronprinzen; vom frühen 18. Jh. bis ins frühere 20. Jh. die adj. Ableitung zarisch 'zur Person, zum Amt, zum Herrschaftsbereich des/eines Zaren gehörig; unter der Herrschaft des/eines Zaren (befindlich)', verdrängt von gleichbed., seit frühem 20. Jh. belegtem zaristisch; seit Mitte 19. Jh. die subst. Ableitung Zar(en)tum N. (-s; ohne PI.) 'Amt, Würde, Verhaltensweise des/eines Zaren' und '(territorialer) Herrschaftsbereich des/eines Zaren'; seit Mitte 19. Jh. die subst. Ableitung Zarismus (-; ohne PI.) 'Herrschaft(-sform) des/eines Zaren; Autokratie', seit Ende 19. Jh. auch übertragen für 'unumschränkte, autoritäre Herrschaft'; in jüngster Zeit gebucht aus dem Russ. übernommenes Zarewna F. (-; -s), historische Bezeichnung für eine Zarentochter, und ebenfalls aus dem Russ. übernommenes Zariza F. (-; -s oder Zarizen), historische(r) Herrscherbezeichnung, -titel, auch als Bezeichnung für die Ehefrau eines Zaren, gleichbed. mit der movierten Form Zarin(a). Zar: Herberstain 1557 Moscouia der Hauptstat in Reussen 16 Czar; Schiele 1598 Grundtlicher wahrhaffter beschriebener Bericht was sich auf absterben des Jungst. . . verstorbenen Grossfursten vnd Tzarn In der Moscau . . . begeben hat (Titel) (beide KOHLS); Zeiller 1643 Episteln III 341 Czar heisset bey den Reussen einen Keyser; Gryphius 1663 Cath. 46 Was unserm Bruder Czar ohn alles Falsch versproche; Sind wir für unser Theil . . . Zu halten stets gemeint . . . Der mächtigste Monarch der Reussen müsse leben; ebd. 108 Czar. Der gewöhnliche Titel mit wel-

chem die Preussen ihren Groß-Fursten verehren. Soll nach etlicher Nennung von dem lateinischen CAESAR herrühren; 1684 Getrost. Europa Dlh Czaren; 1710 Neue Bibliothek III 269 Czaars; 1712 Fama XIII 36 Die Luft und das fliessende Wasser zehlen sie unter die res communes, das Recht zu fischen aber müssen sie von dem Czaar erlangen; Riederer 1715 Trig. Paragramm C3b Moscowittischen Czaar; König 1745 Ged. 306 Weissagende Gedanken An Ihro Königl. Hoheit von Polen und Litthauen, auch Churfürstl. Durchlaucht zu Sachsen, als Dieselben das

Zar berühmte Modell des Salomonischen Tempels in hohen Augenschein nahmen . . . Der grosse Czaar ist selbst in Hamburg hingesessen, Und hat verwundrungsvoll ihn [den Tempel] abgemessen; 1793 Hannöver. Magazin 523 Um die Mitte des 16ten Jahrhunderts regierte Zaar Iwan über Rußland; Freiligrath 1844 Glaubensbek. III 98 O Deutschland, du im Dienst der Steppe! . . . Du vor dem Polenmörder Czar In Unterwürfigkeit zerfließend!; Ranke 1877 Erhebung Preussens 140 „Wer sagt Ihnen denn", erwiderte der Kaiser, „daß ich dem russischen Zaren Böses tun will?"; Bleibtreu 1898 Der Zar-Befreier. Ein Wort für Volksheer gegen stehendes Heer (Titel); FriedensWarte 6 (1904) 32 der „Friedenszar"; Kronberg 1929 Jugend 103 Zar aller Reussen; Geopolitik 9 (1932) 134 im alten Zarenrussland; Brauer 1936 Im Dienste Bismarcks 67 Zar und Selbstherrscher; Münch. N. N. 27. 6. 1944 Ritterkreuzträger Oberstleutnant d. R. Heinrich Wilhelm Heldbrink, der „letzte Zar von Puschkin", wie ihn die Grenadiere seines württembergisch-badischen Regiments nannten, weil er die . . . Stellungen um die zerbröckelnden Mauern des Schlosses Puschkin gegen den wütenden Angriff weit überlegener bolschewistischer Gardeverbände mit zäher Tapferkeit . . . gehalten hat; ebd. 30. 6. 1944 Der Schwarzmarkt blüht in den USA, wie nie zuvor. Petroleumzar Harold Ickes gibt ein Vermögen an Inseraten in den kleinen und großen Zeitungen aus; ebd. 27. 2. 1945 Stalin — Zar Europas (Uberschr.); Süddtsch. Ztg. 27. 6. 1957 „Das Gewissen wird der Zar des neuen Reiches sein" (so in der vorgetragenen Szene aus dem Schauspiel „Die heilige Allianz"); ebd. 19. 8. 1957Bauernzar Chruschtschow (Uberschr.); Spiegel 45 (1967) 129 Trotz Lyssenkos Aufstieg zum eigentlichen Zaren der Naturwissenschaften (DUDEN); FAZ 25. 7. 1970 „Ausbildungszar" der Bundeswehr? (Uberschr.); ebd. 24. 11. 1970 Kritiker des energischen Antonio Pala, der sich bereits einen Namen als „Verkehrszar" gemacht hatte; ebd. 29. 10. 1971 Beklatscht wird er nur von organisierten Gruppen der KPF. Der „rote Zar" ist kein farbiger, unberechenbarer Besucher, ein Entdecker auf einem anderen Stern; Die Zeit 27. 11. 1981 Das Bankett des Kanzlers in der Godesberger Redoute . . . verhalf dem sowjetischen Parteichef zu einem Auftritt nach alter Zarenart; ebd. 1. 1. 1982 Aber reichen der völlige Potenzverlust einiger Bruderparteien, um pauschal den Ubergang der kommunistischen Regimes zu Militärdiktaturen zu prophezeien? Dagegen spricht die historische Erfahrung. Das Zarenreich wurde durch Militärpolitik zusammengehalten, aber nie von Offizieren beherrscht; ebd. 15. 1. 1982 Wer 1863 nach dem Aufstand gegen den Zaren in der [polnischen]

311 staatlichen Verwaltung arbeiten wollte, mußte zum orthodoxen Glauben übertreten . . . Und es [Polen] wird auch in Zukunft seinen Zwingherren heimzahlen; ebd. 22. 1. 1982 Des Modezaren neue Kreation [Bildunterschrift]. Zarewitsch: Schiele 1598 Gründlicher wahrhaffter beschriebener Bericht 432 Tzarewitz (KOHLS); 1736 Karlsbad 89 Ihro Czaarische Hoheit der junge Czaarowitz; Lokal-Anz. 26. 1. 1933 Nach dem Zusammenbruch des Rotter-Konzerns hat das Ensemble des Metropoltheaters kurz entschlossen eine Spielgemeinschaft gebildet und Lehars „Zarewitsch" in einer sorgfältigen Aufführung herausgebracht. Zar(en)tum: Cuendias 1847 Spanien 40 Rom wurde ein Cäsarthum allein die Cantabrer behaupteten ihre Freiheit, wie die ihnen verwandten Kinder des Kaukasus, die heute dem Czarenthum widerstehen; 1848 Grenzboten I 2, 207 Frei muß die Donau für die Lande, welchen sie entströmt, in das Meer gelangen können . . . Kein Landweg mehr nach Constantinopel für russische Heere offen! Dort muß eine neue feste Grenzmark . . . gegen das Czarenthum gezogen werden; Fallmerayer 1850 Aufs. II 90 Nenne man sich im taurischen Palast Nikolai oder Konstantin, das Czarthum dauert, wie das apostolische Vicariat in Rom, bis an das Ende der Zeit; Bebel 1910—14 Aus meinem Leben 159 Die russische Revolution wäre ohne jene Niederlage . . . durch einen Sieg des Zarentums auf lange Jahre unmöglich gewesen (WDG); 1918 Deutschland 275 Der neue.polnische Staat, das frühere Zartum Polen, wird ungefähr 125000 qkm umfassen. Zarin(a): Scherr 1865 Blücher I 48 Czarina [Katharina II]; ebd. 63 Am 5. Januar 1762 betrank Czarin Elisabeth sich zum letzten Mal, d.h. sie starb; Münch. N. N. 11. 11. 1938 ein „KöniginChristine-Kragen" oder eine „Große Zarin-Mütze"; Troyat 1981 Peter d. Große (Übers.) 9 Er naht, der bärtige Zar, der allmächtige Witwer . . . Nathalie schlägt die Augen nieder. Sie wird Zarin sein; ebd. 186 die Zarin Katharina Alexejewna die wahre und legitime Gemahlin des Zaren Peter I. zarisch: 1721/2 Discourse d. Mahlern 79 Woman lißt die Staats-Zeitungen; er reglirt die Bewegungen der Czarischen Armee; 1736 Karlsbad 89 Ihro Czaarische Hoheit der junge Czaarowitz; Scherr 1865 Blücher III 61 Namentlich hatte man dort von czarischen Weibern seit lange das Menschenmögliche begehen sehen; Preuss. Jahrbücher Iii (1903) 199 Zarischen Regierung; Roloff 1914 Deutschland 6 [Preussen sei] der Schildknappe des

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Zäsur

zarischen Despotismus; Hamann 1918 Vorgesch. SS das zarische Russland; Prems. Jahrbücher 218 (1929) 145 aus zarischer Zeit in dem Baltenlande; Osteuropa 9 (1934) 475 zarischen Staat. Zarismus: Fallmerayer 18SO Aufs. II 79 der Moskauische, nach dem Vorbild der byzantinischen Autokraten und den Mongolenchanen gebildete Czarismus; Scherr 186S Blücher III 39 Czarismus; Hehn 1892 Tagebuchblätter 99 Patria potestas, Princip der Autorität, Czarismus bis in die untersten Kreise, bis in Herz und Nerv des Volkes; Schiessleder 191S Unter dem Zarismus und Panslawismus (Titel); Paquet 191S Nach Osten! 21 den düsteren Zarismus von Moskau; Stimmen d. Zeit 89 (191S) 314 Gewiß ist kirchenpolitisch das Russentum der erbittertste Feind der Katholischen Kirche, und die Religiosität des Russen ist jetzt noch unlöslich an den Zarismus gefesselt; Naumann 191S Mittelem. 9 daß doch irgend einmal eine Auseinandersetzung mit dem russischen Zarismus kommen . . . müsse; Heigel 1916 Reden 224 Das deutsche Volk aber segnet den Bruch mit dem Zarismus, mit dem Herrscherthron aller Reaktion und Unkultur; Lenz 1922 Staat 16S die westlichen Bedränger des Zarismus; Deutschlands Erneuerung IS (1931) 47 Ganz programmäßig sabotierte dann der deutsche Marxismus den Krieg, nachdem der „Zarismus" erledigt war; Bahr 1933 Volk 80 Es hatte nichts Verlockendes, über die Grenzen zu schielen, solange in Grosslitauen der Zarismus gebot; Münch. N. N. 15. 2. 1939 Der damalige Krieg wird als eine Niederlage des „morschen Zarismus" dargestellt, nicht als eine Niederlage Rußlands; ebd. 8. 6. 1941

Untergang des Zarismus; ebd. IS. 9. 1941 Auch diese Maßnahme lag im Zuge der schon vom Zarismus betriebenen „Umsiedlungspolitik"; N. Z. Z. 9. 9. 1943 nach dem Zuzammenbruch des Zarismus; Münch. N. N. 21. 3. 1944 daß der Bolschewismus die imperialistischen Ziele des Zarismus in aller Form wiederaufgenommen hat; Rosenberg 1962 Demokratie 23S inneren Schwierigkeiten des russischen Zarismus. zaristisch: Ostwald 1926 Kulturgesch. Berlins 403 Kommunisten in Lackschuhen und Seidenstrümpfen und eine Anzahl, wohl Hunderttausende von Resten der zaristischen Oberzehntausend; Voss. Ztg. 26. 1. 1930 Denn die zaristische Polizei hatte zu Beginn des Krieges den teuflischen Gedanken, alle deutschen Zivilgefangenen . . . über ganz Sibirien zu verteilen; ebd. 27. 2. 1930 Froklist Koreneff war im zaristischen Rußland ein außergewöhnlich reicher Kaufmann; 193S Soldatentum 187 zaristischen Völkergemisches; Dtsch. AZ. 3. 11. 193 S Frankreichs Sparer fordern erneut Regelung zaristischer Schulden; Münch. N. N. 19. 10. 1938 General Ganscheff als Vertreter des Königs Ferdinand von Bulgarien sowie Vertreter des zaristischen Rußlands; ebd. 22. 3. 1944 hatte Molotow . . . in Bezug auf die Dardanellen die Tradition der zaristischen Politik wieder aufgegriffen; ebd. 10. 10. 1944 Der Stechschritt war preußisch, der Schnitt der Uniformen, die kurzrandigen Kappen unverkennbar zaristisch-russisch; 1966— 69 Gesch. d. Arbeiterbewegung II 36 Das polnische Volk erhob sich im Jahre 1863 gegen die zaristische Fremdherrschaft (WDG).

Zäsur F. (-; -en), im frühen 17. Jh. entlehnt aus gleichbed. lat. caesura, eigentlich 'Hauen, Fällen' (zu caedere 'auf etwas hauen, schlagen, klopfen; etwas fällen, niederhauen; erschlagen, töten; zerhacken; aufschneiden'), anfangs in der lat. (flekt.) Form, früher auch in der Schreibung Caesur und bis heute fachspr. Cäsur; a als Fachausdruck der Metrik zur Bezeichnung eines Sinneinschnittes innerhalb einer in einem festen Versmaß gefügten Verszeile, bei dem das Wortende in das Metrum fällt und dessen rein mechanischen Takt zerschneidet (im Unterschied zu Diärese 'Verseinschnitt, bei dem Wortende und Metrumende zusammenfallen') und der an je nach Versmaß (z.B. Hexameter, Alexandriner) regelmäßig bevorzugten Stellen gemacht wird; in jüngster Zeit auch gebucht als Fachausdruck der Musik für 'Einschnitt, kurze Pause, Ruhepunkt zwischen zwei musikalischen Tonfolgeneinheiten'. b Seit Anfang 20. Jh. allgemein verwendet in der Bed. 'Trennung; (vom Betrachter festgestellter, gemachter) wichtiger Einschnitt, markanter (Wende-) Punkt zwischen zwei aufeinanderfolgenden Elementen einer (linearen) Sequenz, den Abschnitten eines Prozesses, einer (historischen) Entwicklung'.

zelebrieren Zäsur a: Opitz 1624 Poeterey 184 caesur; Titz 1642 Hochd. Verse H 3" Caesur; 1700 Monat!Auszug 217 Caesuram; Statius 1716 Poesie 25 Caesur; Wahl 1723 Poesie 27 Die Caesur ist ein nöthiges Stücke etlicher teutschen Verse; Herder vor 1803 (XVII 50) in einerlei Cäsuren (KEHREIN); ebd. XXVII 70 Mit welcher Zartheit in jeder Fuge, jeder Kadenz und Cäsur (KEHREIN); Goethe 1827-42 (W. XLV 180) Er hat den Alexandriner mit strenger Cäsur gewählt (KEHREIN); Tobler 1894 Frz. Vershau 87 sondern einige Verse haben eine innere Gliederung, die durch die Cäsur zustande kommt. Cäsur ist ein im Innern des Verses eintretender Einschnitt; Crusius 1963 Rom. Metrik 36 die Satzgliederung entspricht [der Versgliederung] jedoch insofern, als im ersten, zweiten und vierten Vers Haupt- oder Nebensätze in der Cäsur endigen; ebd. 51f. Weniger auffällig sind . . . zwei einsilbige Wörter vor der Cäsur, zumal wenn sie innerlich zusammengehören; die Diärese zwischen ihnen wird dann nicht fühlbar.

Zäsur b: GRM 2 (1910) 192 Da sich die 6 Bücher von „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung" bis in das gegenwärtige 5. Buch erstreckten (nach welchem die „Bekenntnisse einer schönen Seele" für manchen modernen Leser eine unüberwindliche Cäsur bilden); 1916 Deutschland II 774 scharfe Zäsur zwischen Offizieren und Mannschaften; Dombroivski 1919 System I 8 Cäsur [in der Karriere]; 1925 Gesch'wiss. I 81 Kulturzäsur in der sogenannten Völkerwanderungszeit; Schmitz 1926 Dämon 290 Zäsur des 30. Jahres; Winnig 1932 Weg 436 Zäsur in der Geschichte; M. A.-Abendztg. 16. 6. 1944 [Urlaubsbeginn ist] die goldene Zäsur ihres Arbeitsjahres . . . der freudevolle Einschnitt in der Tage langer Kette; Die Gegenwart 28. 2. 1947 nach der weitwirkenden Zäsur des ersten Weltkrieges; Hülsen 1947 Zwil-

zelebrieren V.trans.,

313

lings-Seele II 259 Gemach: das Leben selber hat eine Zäsur gesetzt; ebd. II 260 das Jahr 1945 bedeutet für das Leben jedes Deutschen . . . eine grosse Zäsur — und wohl dem, der Kraft in sich spürt, es noch einmal anzufangen; Süddtsch. Ztg. 22. 6. 1950 Dann kam die Cäsur des zweiten Weltkrieges; ebd. 21. 11. 1950 Ihr [der Jugend] den „Schritt ins Leben" — der oft eine bedenkliche Zäsur bedeutete — zu erleichtern . . . ist auch das Anliegen der staatsbürgerlichen Erziehung; 1961 Bild. Kunst III 61 eine Erhöhung des Chores, zu dem man über Stufen, die eine entschiedene Zäsur darstellen, hinaufgelangt (DUDEN); Dirlmeier 1961 Kl. Sehr. V nach der für Sie so besonders schmerzvollen und erschreckend klaffenden Cäsur; Offenburger Tagebl. 18. 1. 1961 Das Deutsche Reich von 1871 hat in seiner damaligen Form 47 Jahre bis zur großen Zäsur von 1918 bestanden; Krauss 1965 Perspektiven 274 Zäsuren zwischen den einzelnen Literaturepochen in Spanien; Kant 1965 Aula 385 Krieg, Todesnähe, Gefangenschaft, das waren die wenigen großen Zäsuren seines Lebens gewesen (WDG); FAX 26. 2. 1969 die Weisung der Deutschen Chirurgischen Gesellschaft . . . die Spenderin des Herzens erst nach einem zwölfstündigen Ausfall des Hirnstrombildes als tot anzusehen . . . sind der Öffentlichkeit eine Antwort auf die Frage schuldig, ob diese zeitliche Zäsur den modernen Erkenntnissen der Chirurgie entspricht; Weber 1979 Einzug 257 da er ohnehin an einer natürlichen Zäsur seiner Arbeit angelangt war (DUDEN); Die Zeit 28. 8. 1981 ein „Gesamtkunstwerk", in dem in Farbnuancen und Zäsuren, in den Schnittmontagen ein eigenes Prinzip erkenntlich wird; ebd. 27. 11. 1981 Das angepeilte Stichdatum 1980 verstrich, ohne daß man den Eindruck gehabt hätte, eine europäische Zäsur zu erleben; ebd. 29. 1. 1982 Kissingers Senatsauftritt wurde zur Zäsur [in der amerikanischen Außenpolitik].

im frühen 15. J h .

entlehnt aus m l a t .

celebrare

'feiern;

feierlich e h r e n ; die M e s s f e i e r h a l t e n ; etwas t u n , d u r c h f ü h r e n ' ( < lat. celebrare

in

seiner B e d . 'eine Festlichkeit o . ä . zahlreich b e s u c h e n , sie eifrig feierlich b e g e h e n ; e t w a s feiern, b e g e h e n ; etwas m i t r e g e r T e i l n a h m e , m i t E i f e r v o r n e h m e n , b e t r e i b e n , a u s ü b e n ' , eigentlich '(eine ö r t l i c h k e i t ) o f t / z a h l r e i c h b e s u c h e n ' , z u celeber besucht,

b e l e b t ; v o l k r e i c h ; feierlich; gefeiert, b e r ü h m t ' ) ,

S c h r e i b u n g celebrieren;

'zahlreich

bis ins 1 8 . J h . in der

l a in der B e d . 'ein F e s t feiern, e t w a s feierlich, z e r e m o n i e l l

b e g e h e n ' , z u n ä c h s t auf religiöse, d a n n a u c h weltliche ( z . B . H o c h z e i t , G e b u r t s t a g ) , m e i s t h o h e F e s t e b e z o g e n , b Speziell i m B e r e i c h der christlichen K i r c h e n für '(als P r i e s t e r ) d e n G o t t e s d i e n s t halten, die M e s s e lesen', h e u t e m e i s t auf die k a t h o l i s c h e K i r c h e b e s c h r ä n k t . D a z u seit f r ü h e r e m 1 9 . J h . ( g e b u c h t 1 8 3 8 bei H e y s e ) n a c h g e w i e senes Z e l e b r a n t M . ( - e n ; - e n ) ( z u r ü c k g e h e n d auf (flekt. F o r m v o n ) lat.

celebrans,

314

zelebrieren

Part. Präs. v o n celebrare) 'die Messe lesender Priester'; seit f r ü h e r e m 2 0 . J h . (gebucht 1 9 3 3 bei Genius) nachgewiesenes Zelebret N . ( - ; ohne PI.) (zurückgehend auf lat. celebret 'er möge feiern', K o n j . Präs. v o n celebrare) als Bezeichnung des katholischen Kirchenrechts f ü r die schriftlich ausgestellte Erlaubnis der Kirchenbehörde, die einen Priester z u m Lesen der Messe in einer fremden Kirche berechtigt. 2 Seit f r ü h e m 20. J h . weiterentwickelt zu der (ironisch verwendeten) Bed. 'etwas (übertrieben) feierlich, festlich gestalten; etwas (betont) bedeutungsvoll, theatralisch, mit gewissem Pathos und mit G e n u ß vollziehen; etwas in (allzu) zeremonieller F o r m durch-, v o r f ü h r e n ' , vereinzelt als V . r e f l e x . im Sinne v o n 'sich produzieren, sich zur Schau stellen'. D a z u seit früherem 17. J h . das Verbalsubst. Zelebrierung F. (-; ohne PI.), zunächst f ü r 'das Feiern (der Heiligen Messe)' (zu 1), in jüngster Zeit auch f ü r 'das feierliche Darbieten, das auskostende V o r f ü h r e n v o n etwas' (zu 2), gleichbed. mit seit Ende 17. J h . nachgewiesenem Zelebration F. (-; ohne PI.) ( < lat. celebratio in seiner Bed. 'feierliches Begehen eines Festes, glänzende Feier'; vgl. auch mlat. celebratio 'feierliche Prozession'). zelebrieren la: Volkslied 1414/18 „Text" (Liliencron I 232) da mans conzili celebrieret; 1487 Nd. Rhein IV 437 nicht divina celebreren; Vadian 1521 Gott 40 celebrieren; Guttel 1522 New iar G2b hat Moyses gehalten vnd celebrirdt die opfrung des Osterlambs; Emstinger 1579-1610 Raisbuch 245 In diser kirchen ist kayser Carl der fünft anno 1500 getaufft und dem orden des gülden vellus von Philippo dem könig Hispaniae anno 1559 celebriert worden; Spangenberg 1605 Hecuba (Übers.) 214 So wollen wir denn alle sand Daheim in unserm Vatterland Dich mit mehr Andacht veneriren Und Jarliche Fest celebriren. O Achilles, der du ohn spott Under den Helden bist ein Gott; Carolus 1609 Relation Nr. 5d die seinige [Hochzeit] inner 2. Monaten zu Nizza celebriren; 1620 (Dtsch. Ztg. 17. Jh. 38) ist das Matrimonium des Prinzen von Frankreich, vnd Princessin von Hispania, celebrirt vnnd confirmirt worden, mit grossem Pomp; Lindtner 1662 Pyr. 18 ein stadliche Hochzeit . . . celebriret; Grimmelshausen 1672 Vogelnest III 345 darinn eben ein hochzeitlich Fest mit Essen und Trincken Zelebrirt . . . wurde; 1683 Klatschmaul 7 ein herrliches Banquet angestellet seinen Geburtstag zu celebriren; Frisius 1707-34 Ceremoniel (Tischler 1712) 118 bei ihrem Meister-Essen, das unsers Lebens Ein-, Fort- und Ausgang mit Essen und Trincken celebriret werde; Menantes 1709 Satir. Roman I 119 als er seinen Geburts-Tag . . . celebrirte; Stoppe 1729 Ged. II 149 Es stellt sich bloss ein Carmen ein, Das dein Geburts-Fest celebriret; Blumauer 1784— 94 Virgils Aeneis (199) Denn wißt, ein großer Herr kann nicht So wie ein Hund krepiren: Drum laßt uns jetzt nach unsrer Pflicht Den Jahrtag celebriren! — O gönne, Vater . . . mir das Glück, Dich alle

Jahre hier von neuem zu begraben; Blücher 1815 Br. 290 Hier sitz' ich in dem Zimmer, wo Maria Louise ihre Hochzeitsnacht zelebrierte; Nestroy 1835 Geist 51 wird der Jahrstag zelebriert; Fontane 1874 Br. II 1, 329 Wangenheims Abschied [durch ein feierliches Mahl] zelebrieren halfen (bei Katholiken wird immer zelebriert); Hälsen 1947 Zwillings-Seele II 46 [in Olympia] rauchten, zelebriert von zahlreicher Priesterschaft, unendliche Opfer für Zeus; 1962 Durch die schöne Welt Aprilh. o. S. Das große Schauspiel des Ulmer Fischerstechens . . . wird in diesem Jahr am 22. und 29. Juli in Ulm an der Donau zelebriert. Zelebration: Seckendorff Celebration.

1691 Reden.

Von. 38

Zelebrierung: 1638 (Dtsch. Ztg. 17. Jh. 83) zu celebrirung des Jahrtags der in Gott ruhenden Rom: Kay: May: Ferdinand des Andern . . . allerley paeparatoria gemacht. zelebrieren lb: Pauli 1522 Schimpf 55 ein Priester . . . der drei Messen celebriert; Kiechel um 1600 Reisen 167 Düe mess oder das ampt wurde durch einen cardinal celebrirt, neben zweyen büschoffen, wölche ime zu altar düenten; ebd. 253 Alhüe zu Trippoli hüelten und begünngen wür das fest nativitatis Christi, oder weyenachten, wüe dann düe patres in dem clösterlin cölebrierten, doch ohne glockhen noch einiges leüthen; ebd. 308 den grosen templ von der Höelena . . . dorinnen . . . düe Grüechen cölebriren und ihre gottesdüenst verrichten; Löhneyß 1622 Aulicopolitica 242h damit der Gottesdienst recht celebriret werde; Ernstin um 1640 Chr. Villingen 71 Er wolte und

Zelebrität ortnete durch seinen gaistlichen hürten, das des große generalcapitel zue Assisi sol celebriert und gehalten werden noch in dem . . . jar; Goethe 1788 Br. (VIII 367) Ich habe die Meße des ersten Ostertags, welche unter der Peterskuppel, vor dem hohen Altar celebrirt wird . . . von einer der Tribunen gesehen; Berl. Illustr. Nachtausg. 8. 3. 1933 Am nächsten Sonntag zelebrierte im griechisch-orthodoxen Gotteshaus der Geistliche, der dem kranken Kinde die letzte Oelung verabfolgt hatte, die Messe. Zelebrierung: Hauptmann 1918 Ketzer V 540 Zelebrierung der Messe. zelebrieren 2: Sternheim 1918 Snob 86 und dann soll die Frau . . . an diesem feierlichen Abend grenzenlose Ehrfurcht zelebrieren; B. Z. am Mittag 6, 6. 1933 Sie [die Bratpfanne] steht jetzt vor ihm [dem Koch], mit ihr zelebriert er die liebenswerte, die fröhliche und liebliche Kunst des Tempura; 1940 Münchnerin 147 Barfusstänze, die sie mit Vorliebe auf Tischen zelebrierte; Hülsen 1947 Zwillings-Seele II 86 um mit der Grazie einer Hausfrau einen . . . Salat eigener Komposition bereiten — was sag ich?, zelebrieren zu sehen!; Wort u. Wahrheit 5 (1950) 482 den Textilindustriellen und Damenschneidern (die sich jetzt als

315

„Modeschöpfer" zelebrieren); Süddtsch. Ztg. 28. 4. 1952 das Haar teils in kurze Federlocken, teils in helmglatte Frisuren gekämmt . . . hinten (bei Mannequin Sophie) in einen rosablonden faustkleinen Knoten gefaßt, der nichts mit der Farbe des übrigen Haares gemein hatte. Sie zelebrierten Mode; Stuttgarter Ztg. IS. f. 1961 nachdem Marika Rökk den obligaten Csardas zelebriert hat; Offenburger Tagebl. 16. 2. 1968 Ludmilla und Oleg Protopopow tanzen eine Ehe auf dem Eis. Vielleicht ist es wirklich eine Ideal-Ehe, die dort zelebriert wird. Zelebration: Süddtsch. Ztg. 3. 1. 1970 Seiner buddhistischen Zelebration des Nirwana in „Les vainqueurs" hat Maurice Bejart nur vierzehn Tage später . . . in Brüssel seinen Tanzhymnus über die christliche Vorstellung vom Sterbenmüssen und von der Wiederauferstehung folgen lassen; Offenburger Tagebl. 16. 2. 1971 le Soufflé glacé aux Mandarines; le Corbeille de Frivolités; la tasse Moka. Dazu wurde ein weißer Pouilly Fumé, Jahrgang 1969 . . . gereicht. Bei dieser angelegentlichen Zelebration saß jener oben erwähnte Karl Kirchner neben uns. Zelebrierung: Petzet 1944 Falckenberg brierung reiner und höchster Kunst.

111 Zele-

Z e l e b r i t ä t F . ( - ; - e n ) , Mitte 17. J h . vereinzelt, seit M i t t e 18 J h . kontinuierlich belegte (eventuell unter Einfluß v o n gleichbed. f r z . célébrité aufgekommene) E n t l e h n u n g aus lat. celebritas 'starkes Besuchtsein, Belebtheit (einer ö r t l i c h k e i t ) ; Feierlichkeit, Festlichkeit (einer Veranstaltung); F e i e r ; g r o ß e r Zulauf (an V o l k ) ; V o l k s m e n g e ; Gefeiertwerden, B e r ü h m t h e i t (einer P e r s o n / S a c h e ) ' (zu celeber, —»zelebrieren), bis E n d e 1 9 . J h . fast ausschließlich in der Schreibung Celebrität; l a n u r sing, in der veralteten B e d . 'Bekanntheit(-sgrad), B e r ü h m t h e i t , h e r v o r r a g e n de Geltung in der Gesellschaft; (guter) R u f , A n s e h e n ; R u h m ; Popularität', z u n ä c h s t v o n P e r s o n e n , bes. (Universitäts-)Gelehrten, Wissenschaftlern, auch v o n Künstlern, seit Anfang 19. J h . auch v o n Sachen wie Zeitschriften, Städten u . ä . ; b seit f r ü h e m 19. J h . , häufig im P l . , für ' P e r s o n / S a c h e v o n b e d e u t e n d e m R u f und g r o ß e m N a m e n , v o n h o h e m (sozialem) R a n g , g r o ß e r B e r ü h m t h e i t , h o h e m A n s e h e n ; B e r ü h m t h e i t , Kapazität, V i r t u o s e ' , bes. auf Gelehrte, Wissenschaftler u n d Künstler b e z o g e n , h e u te selten. 2 I m frühen 18. J h . vereinzelt belegt und bis heute gebucht für 'Feier, F e s t ; Feierlichkeit, Festlichkeit'. Zelebrität ia: 1660 Edict 3 Celebrität [der Professoren der Universität Gießen]; Michaelis 1768 Raisonnement I 273 [Gelehrte] die wahres Verdienst und Celebrität mit einander verbinden; ebd. 1770 (II 182) [Universitäten geben den Professoren] Celebrität; ebd. II 275 Die Celebrität

der Universität hänget von dem Ruhm ihrer Professoren ab; ebd. II 340 Auswärtige [Professoren] von vorzüglicher Celebrität; ebd. IV 682 ein Professor, der . . . Celebrität in der Welt hat; Musäus 1781 Reisen III 113 Wenns Ihnen gelingen sollte, sich als Skribent hervorzustreben, und die

316

Zelebrität

goldene Schaale des Honorariums, mit dem Eichenblatt der Celebrität zu verbinden; Hermes 1789 Für Eltern III 195 seine, mit der Sucht der Celebrität befallne . . . Frau; Laukhard 1792 Leben I 248 das Ansehen und die Celebrität der [akademischen] Lehrer [zu Göttingen]; ebd. 1797 (IV 2, 221) hatte oft selbst Besuche, weil ich anfieng, auch hier gewisse Celebrität zu geniessen; Hess 1798 Durchflüge d. Deutschland VI 82 Celebrität der Aachner [in guten Witzen]; 1801 Eunomia II 399 Die grosse Celebrität Homers zog ihm das Unglück zu, dass man ihm zu viel Ehre anthat, und indem man ihn in einen Nimbus von Weisheit kleidete, den Dichter selbst aus den Augen verlor; ebd. 1802 (II 357) [bei Denkmälern] muss eine gewisse Celebrität der darzustellenden Person vorausgehen, ehe man sich entschließt, sie so kostbar bilden zu lassen; 1802 Geist d. Journale I Vorerinnerung o. S. Dadurch denken wir keine Monats- und andere periodische Schrift unnütz zu machen, sondern vielmehr ihre Celebrität zu verbreiten; Becker 1803 Dichtkunst 321 sie [Petrarcas Canzonen und Sonette] wurden bald bekannt, gefielen allgemein . . . Diese Celebrität und der noch mächtigere Impuls der Liebe mußten doch wohl vereinigt etwas Vortrefliches hervorzubringen im Stande seyn?; Haug 1805 Epigrammen I 367 Zuweilen ist — o Casimir, Celebrität nur Schnack. Posaunend flog dein Rum vor Dir Und dein Verdienst schob sich auf Krücken nach; Bouterwek 1809 Gesch. VII168 [Balladen] unter dem Titel Guirlanden (Garlands) gedruckt wurden und nun nach und nach eine literarische Celebrität erhielten; Niebuhr 1812 Br. II 278 Heeren, der auf seine leicht gewonnene Celebrität sehr eifersüchtig ist; Heeren 1813 Heyne 335 die Erfahrung . . . dass grosse Celebrität [eines Wissenschaftlers] nicht ohne Kränkungen errungen wird; Soden 1814 Palm 10 Nur Palms Ermordung konnte ihr [einer Flugschrift] eine Celebrität verleihen, auf welche sie durch ihren Gehalt durchaus keinen Anspruch hat; Obemberg 1815 Reisen, Isarkreis I 37 erhielt . . . schnell eine grosse Zelebrität, und den Nahmen: der heilige Berg; Müller 1817 München II 58 Ingolstadt . . . verlor unendlich von seiner früheren Zelebrität; Obemberg 1817—20 Reisen, Isarkreis V 382 [verlor] dieses Gotteshaus nicht an seiner Celebrität; 1822 Amalthea II Vorher. XIII nahmhafte Schriftsteller, wenn sie auf Celebrität ausser den Ländern deutscher Zunge rechnen; 1828 Briefw. Ludwig I. u. Schenk 46 in Norddeutschland, wo Roth eine grosse Celebrität geniesst; Wit v. Ddrring 1830 Fragm. I 92 Meine Aufsätze über Deutschland verschafften mir eine Art von bedauernswerther Celebrität; Koch-Stemfeld 1833 Beyträge III 266 Die Bauernkriege von 1525 und 1526 haben auch dem Für-

stenthum Salzburg eine beklagenswerthe Celebrität verschafft; Steffens 1841 Was ich erlebte IV154 Fichtes Celebrität hatte einen grossen Theil der Studirenden herbeigezogen; ebd. V 11 Celebrität Tieck's, Schlegels und Schleiermachers; ebd. VI 19 Gesenius, dessen grosse Celebrität als Orientalist sich . . . zu entwickeln anfing; Rümelin 1862 Reden III 362 die grösste äussere Celebrität des Kerner'schen Namens; Burckhardt 1898 Beiträge 201 die „Celebrität" [einer porträtierten Person] im italienischen Sinne. Zelebrität lb: Obernberg 1816 Reisen, Isarkreis II 202 [Hohenlinden ist eine] Zelebrität; 1836 Jahrbücher d. Gesch. II 2 weil der Nimbus von einer Menge Celebritäten abgestreift [ist]; Wetzel 1841 Dresdner Pamass 5 Allen literarischen Celebritäten macht er . . . seine Aufwartung; 1843 Portugal 74 einer sogenannten Europäischen Celebrität; Koch-Sternfeld 1843 Rhapsodien Vorr. XXI Die Celebritäten der Universität; ebd. 198 Im Schatten jener renomirten Capacitäten und Celebritäten dieser damals ersten Universität Teutschlands; Kohl 1844 brit. Inseln I 429 englische Celebritäten [Dichter]; Frey 1844 Bilder a. Welt u. Zeit 66 bitten lassen Sie sich doch die deutschen Celebritäten, z. B. in der Staatskunst, in der Geschichte; Strauss 1847 Br. 198 [Schubart sei] nur eine schwäbische Celebrität und [habe] im übrigen Deutschland weniger Anklang gefunden; 1848 Briefw. Stüve-Detmold 115 dass die grossen Celebritäten etwa am besten dieses Branntweinspiel zu handhaben wissen werden; 1849 Rückblicke 46 [Graf Reichenbach] Eine demokratische Celebrität; Freytag 1850 Verm. Aufs. I 70 Karl Malss . . . eine originelle Celebrität Frankfurts, der berühmte Verfasser des alten Bürgercapitäns; 1855 Hausblätter I 77 die einzige „Celebrität", deren sich . . . die . . . Helgoländer Saison erfreute, der Dichter der 'Spaziergänge eines Wiener Poeten'; Scheffel 1856 Glück (Br.) 27 Münchner Celebritäten [in Kunst und Wissenschaft]; Rodenberg 1856 Bilderbuch 51 und wie denn jedes Theater, jede Schaubude in Paris ihre Celebrität besitzt, so besitzt auch das Café des Aveugles die seine; Dittmann 1858 Landw. 163 die Aussprüche einiger ökonomischen Celebritäten; Steub 1867 Herbsttage in Tirol 4 Den Celebritäten, die am Wege liegen, bring' ich meine Huldigungen dar und wenn ich zu Tisch geladen bin, so suche ich mich so fein zu benehmen, als man es in Altbayern . . . kann; Fontane 1871 Kriegsgef. 198 Celebritäten aus aller Welt Enden; Harless 1872 Bruchstükke I 171 theologischen Celebritäten der Universität; Spach 1873 Moderne Culturzustände im Elsass I 69 historische, literarische, dichterische Celebritäten; Bruges 1873 Reiseskizzen 393 alle Celebritä-

Zelot ten von Newport; nürnberger 1877 Herzenssachen 326 Also diese Null ist der Dichter, der mir das ganze Jahr als Celebrität vorgeritten wird!; Burckhardt 1877 Br. an Preen 111 alle möglichen Celebritäten von Gesang und Saitenspiel; Lewinsky 1881 Vor den Coulissen. Original-Blätter von den Celebritäten des deutseben Theaters (Titel); Nordau 1881 Paris unter d. 3. Rep. 256 Es würde mich keine Mühe kosten, aus dem Stegreif ein Dutzend Leute aufzuzählen, die zu den Pariser Zelebritäten gehören; Burckhardt 1881 Br. an Alioth 179 jenen Zelebritäten, welche in die Académie de France wünschen aufgenommen zu werden; ebd. 1884 (234) Theaterzelebritäten; Heigel 1892 Charakterbilder 172 Celebritäten der comédie française; Luise v. Kobell 1894 Erinn. II 11 eine Gallerie Münchener Celebritäten; Hanslick 1894 Leben 1106 Inmitten der einheimischen Halb- und Viertelzelebritäten auch ein erlauchter Fremder; Preuss 1915 Volk 55 Von ihm [Bismarck] hat ja das Wort „Kammerzelebrität" jene Prägung erhalten, die es zu einem Hohn- und Spottwort gemacht hat, etwa gleichbedeutend mit politischer Hohlkopf und Schwätzer; 1926 Sittengesch. v. Paris 187 Gehört die grosse und berühmte Schauspielerin in die Klasse der Zelebritäten der Pariser Gesellschaft; Friedeil 1928 Kulturgesch. II 251 einheimischen und ausländischen Zelebritäten; ebd. III 158 Gutzkow schrieb . . . Zelebritäten-

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dramen: 'Zopf und Schwert', worin Friedrich Wilhelm I. und Ekhof vorkommen; ebd. III 477 gibt es eine einzige Zelebrität, die mehr als hundert Jahre alt ist und nicht verdiente, eine Zelebrität zu sein? Sind Homer und Dante denn nicht wirklich die größten Epiker, Plato und Kant die grössten Philosophen?; Halbe 1933 Scholle 308 Grosse Namen leuchteten . . . über den Lehrkanzeln der Universität . . . Ich nenne nur Zelebritäten wie Nussbaum und Pettenkofer; Niebelschütz 1961 Spiel 292 [der junge Goethe] als Modezelebrität; 1968 Durch die schöne Welt Okt. h. o. S. In dem drehbaren Restaurant unter der Aussichtsterrasse haben die Zelebritäten der Welt gespeist, Königin Elisabeth II. trank Tee, im Gästebuch finde ich die Autogramme von Indira Gandhi . . . des Earl of Mountbatten und der Herzogin von Kent; Rhein-Neckar-Ztg. 26. 11. 1981 Nicht weniger delikat ist der Umgang mit einem berühmten Ehrengast. „Sei bitte nicht so scheu . . . sprich mit ihm ruhig über seine Leistungen. Zelebritäten sprechen am liebsten über sich selbst!" Aber man darf nur eine zur Party einladen; zwei „Primadonnas" im gleichen Raum, das wäre katastrophal.

Zelebrität 2: Pauliini 1716 Bücher-Cabinet 123 zur Zeit der Heyraths-Celebritäten.

VII

Zelot M. (-en; -en), im früheren 16. Jh. aufgekommen, über mlat. zelotes 'Nacheiferer, Anhänger; Eiferer (im Glauben)' zurückgehend auf griech. lat. zelotes in ihrer im N T und in der Vulgata verwendeten Bed. 'Eiferer (im Glauben)' ( < griech. £r]Xamj5 'Nacheiferer, Bewunderer', zu ^r)X,öeiv 'nacheifern, bewundern; mit Eifer nach etwas streben'), anfangs auch in der lat. (flekt.) Form, früher auch Zelote, PI. Zelot(t)er; im Bereich der Theologie in der pejorativ verwendeten Bed. 'unduldsamer, rücksichtsloser, orthodoxer, fanatischer Glaubenseiferer', zunächst bezogen auf einen Angehörigen der in der Bibel genannten extremorthodoxen, nationalistischen Gruppe der Juden, die gegen vermeintliche Gegner des Gesetzes und die römische Besatzung kämpfte, dann auch bildungsspr., bes. in religiösen/politischen Zusammenhängen, für 'unduldsamer, rücksichtsloser, fanatischer Kämpfer für eine Sache, Anschauung, für die eigene Überzeugung; (moralischer) Rigorist; Ultra, Extremorthodoxer; Fanatiker'; dazu seit spätem 18. Jh. die adj. Ableitung zelotisch 'fanatisch, unduldsam, rigoristisch (für den Glauben, eine Anschauung, eine Sache, die eigene Uberzeugung kämpfend)', vereinzelt auch historisch 'die Zeloten (der Bibel) betreffend'; seit frühem 19. Jh. die subst. Ableitung Zelotismus M. (-; ohne PI.) 'intolerantes, fanatisches, rücksichtsloses Eintreten für den Glauben, eine Anschauung, Sache, die eigene Uberzeugung', gleichbed. mit seit Mitte 19. Jh. seltener nachgewiesenem Zelotentum N. (-s; ohne PI.); im 19. Jh. die verbale Gelegenheitsbildung zeloten '(etwas) fanatisch, eifrig verkünden'.

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Zelot

Zelot: Hedio 1531 Josephus Vorr. IXb Zelote, das ist eyferer, die hatten ein schein vnd namen, als ob sy für das gesetz gottes eyferten, vnd waren doch hüben in der haut, wie heüttiges tags ein yede zeit jre phariseer vnd Zeloter hat; Mathesius 1562 Sarepta 155h die newen Zeloten, so umb unnötige und frembde Sachen afern und iren unzeitigen eyfer wider unschuldige und wolverdiente leut mit unverstandt entbrinnen lassen (DWB); Thumeisser 1575 Archidoxa 48h zelotter; Paullini 1698 Flagellum salutis B T Zelotes, rufft er! Ja wohl ist der Herr eiffrig: er zieht sich an zur Rache, und kleidet sich mit Eiffer, wie mit einem Rock; Struve 1722 (1929 Festschr. a. Judeich 251) Es gibt . . . Rectores . . . welche durch ihre Gelindigkeit und Partialität . . . solche disorders einreißen laßen, daß, wenn ein Zelot zu diesem Ambt gelangt, er anders nicht als das ure, seca zu gebrauchen; Haller 1731 Versuch 95 ein Zelot, der Kirchen Cherubin; Hederich 1743 Antiqu.-Lex. 3097 Zelotae, Zeloten, Eiferer, waren bey den Juden, welche einen besondern Eifer gegen Gott, den Tempel und die Jüdische Religion bezeugeten, auch besonders Recht haben sollen, so das Zeloten-Recht hieß; Rabener 1759 Satiren I 102 ein Zelote; 1772 Frankf. gel. Anz. 85 es ist eine Menschenseele, und wir wissen nicht, ob diese vor das Forum der großen Welt, des Ästhetikers, des Zeloten, und des Kritikers gehört; ebd. 300 einem der allerunbesonnensten Zeloten aus der verächtlichen Classe der Anecdotensammler, Edirer und litterarischen Glatschen, welche unfähig selbst etwas zu schreiben; Schubart 1774 Dtsch. Chr. 118 Was würde man bey uns sagen? Fort mit diesem Nikel, würde es heißen, sie müßte auf dem Lasterstule Vorsitzen, einen Zeloten auf sich hinab donnern lassen, und dann ins Zuchthaus gehen. Aber Geduld! die ganze Geschichte hat sich in Engelland zugetragen. Das Mädgen heißt Polly. Ihr wurde die Strafe geschenkt, und ihr Verführer heyratete sie; ebd. 182 Wer sollte nicht lieber in den Schottischen Bleigruben arbeiten, als ein Schulmann seyn, wann zumalen ein Zelote sein Oberaufseher ist?; Wagner 1776 Kindermörderin 25 Würde man bei unsrer Kirch anfangen eben so klug zu denken und zu handeln, wo würde es weniger übertriebene Zeloten, und eben dadurch auch weniger Religionsspötter geben; Musäus 1781 Physiognom. Reisen I 184 ein ungestümer Zelot und Ketzermacher [in Glaubenssachen]; 1786 Journal d. Moden I 10 dem unverdienten Vorwurfe irgend eines Zeloten (wes Glaubens und Farbe er auch sey); ebd. 343 Anm. dem Eifer ungeistiger Zeloten; Heinzmann 1788 Beob. 519 Wäre es bey der äußerlichen Umänderung, die die Zelotenpartey schon immer als eine gefährliche Verlezung ihrer Religionsgrundsätze betrachtete,

und verschrie, geblieben; so würden jene Zerrüttungen, die noch bis ietzt die zahlreiche Gemeinde der Juden in Berlin so unversöhnlich von einander trennt, vielleicht nicht, oder vielleicht nur etwas später erfolgt seyn; Ramler vor 1789 (II 448) Ignaz, der finstre Dorf-Zelote (SANDERS DWB); Lang (1792) Memoiren I 246f. Da kam es denn soweit, daß ich einmal in der Neujahrsnacht, vom Punsch erhitzt, auf öffentlichem Markt Pereat der Herzog von B. . . . ! rief. Zeloten brachten es an den academischen Rath unter dem Präsidium des Prorectors Plank, der es jedoch bei einer vernünftigen und wohlwollenden Warnung bewenden ließ; Eichhorn 1796 Gesch. I Vorr. XLIX Zeloteneifer der Mönche; Görres 1819 Teutschland 75 protestantische Zeloten karren in den Oppositions- und ähnlichen Blättern allen Unrath alter Zeit, und was die Päpste je Schlechtes und Arges unternommen, in einen Haufen aufeinander; riechen nach Art jener früheren Berliner Zionswächter in allen Richtungen nach geheimen Umtrieben, und verlästern und verklatschen ehrliche Leute, die ihren Glauben und ihre Ueberzeugung vertheidigen; Lang um 1820 Memoiren II 279 die überall getroffenen Anstalten zu einer recht ungeschickten Reformationsfeier, welche nichts als Samen der Zwietracht unter die beiderseitigen Bonzen und Zeloten ausgestreut; Steinmann 1842 Mefistofeles 1 135 Zeloten-Geistersippschaft; Freiligrath 1844 Glaubensbek. III 23 Philister und Zelot; Ettmüller 1865 Herbstabende II 584 Die Zeloten . . . katholische wie lutherische; Polenz 1892 Unschuld 197 Kaplan Wanja war zwar noch jung, aber auch er hatte sich bereits einen gewissen Ruf verschafft durch den Ernst seiner Richtung und seinen Eifer. Einzelne, die ihm nicht wohlwollten, nannten ihn einen Zeloten; Fontane 1898 Zwanzig 673 strenggläubig, aber kein Zelot; Treitschke 1898 Politik II 271 geistliche Zeloten; Heilborn 1929 Revolutionen II 186 Pastor Knaak ging selbst dem jugendlichen Bismarck in der Orthodoxie zu weit, einer derer, die nahezu alles (auch den Tanz, den Theaterbesuch, nichtkirchliche Musik) sündhaft finden; ein Zelot, den der junge Bismarck dennoch persönlich zu lieben bekannte. — Im schärfsten Gegensatz zu solchem Zelotentum: Richard Schräder, die johanneische Seele, die, soweit es in dieser Zeit anging, mystisch gerichtete Natur; 1950 Saeculum 182 Die stärkere Zivilisation stellt für die schwächere Nachbarzivilisation eine Herausforderung dar, auf die sie eine schöpferische Antwort geben muß. Eine Kultur, die von einer fremden Kultur bedroht wird, kann sich in doppelter Weise zur Wehr setzen: entweder in gewaltsamem, aber infolge der waffentechnischen Unterlegenheit aussichtslosem Verteidigungskampf — nach Art der

Zement „Zeloten" — oder durch kluge Anpassung und Übernahme der fremden Fortschritte — nach Art der „Herodianer". (Beide Ausdrücke [Toynbees] stammen aus der Sprache des Neuen Testaments.); 1970 Politische Bildung 140 8 Die Übergriffe des römischen Prokurators Felix (52—60) brachten die Juden gegen die Besatzung auf. Erneut setzten Unruhen ein. An die Spitze der Rebellion, die von den Bergen Galiläas ausging, setzten sich die „Eiferer" (griech. Zeloten, hebr. Kannaim), die ihre Aktionen nach Judäa trugen und jeden niedermachten, der der Sympathie für die Römer verdächtigt wurde. Als eine Abteilung dieser Nationalisten sich der Bergfestung Massada . . . bemächtigte, griffen die Römer drastisch ein; Der Spiegel 22. 6. 1981 Außer den ethnischen Gruppen lassen auch die religiösen Ultras seit Begins Regierungsjahren Israel nicht zur Ruhe kommen. Krawalle mit extrem-orthodoxen Zeloten gehören zum Tagesgeschehen. Fanatiker . . . wettern immer noch jede Woche gegen den „zionistischen Sündenpfuhl". Jeden Sabbat werfen bärtige Gendarmen Gottes Steine gegen die Autofahrer. Von der Mehrheit der Israelis anfangs belächelt, haben die religiösen Eiferer . . . in dem von Begin geschaffenen Klima des politischen Radikalismus mehr Einfluß als je zuvor im jüdischen Staat gewonnen; Die Zeit 8. 1. 1982 Eifrige Zeloten unterwandern Elternversammlungen, Schulbehörden und Gemeinden. Unter ihrer ungehemmten moralischen Führung werden „schmutzige Romane" . . . aus Schulbibliotheken von Provinzstädten [Amerikas] entfernt; ebd. 29. 1. 1982 Der mehrfache Millionär an der Spitze des amerikanischen Informationsdienstes hat, so das Nachrichtenmagazin Newsweek, die Allüren eines „Zeloten". Unter seiner Ägide droht die ICA (und mit ihr die Voice of America) in die Rhetorik des engagierten Antikommunismus zurückzufallen. Zeloten: vor 1871 Gartenlaube XVII 658b Hört, was jüngst zelotet ward (SANDERS DWB). Zelotentum: Steinmann 1842 Mefistofeles I 171 Zelotenthum; 1852 Prutz' Museum II 193 Jenes Zelotenthum, wie man es bei den Albigensern . . . findet; Heilborn 1929 Revolutionen II 186 Pastor

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Knaak ging selbst dem jugendlichen Bismarck in der Orthodoxie zu weit, einer derer, die nahezu alles (auch den Tanz, den Theaterbesuch, nichtkirchliche Musik) sündhaft finden; ein Zelot, den der junge Bismarck dennoch persönlich zu lieben bekannte. — Im schärfsten Gegensatz zu solchem Zelotentum: Richard Schräder, die johanneische Seele, die, soweit es in dieser Zeit anging, mystisch gerichtete Natur; Adomo 1961 Noten II 111 Zelotentum oder Paränese anzubringen war darum so lustvoll, weil wir fühlten, daß einige der Herren, denen wir zu unserer Erziehung während des Ersten Krieges überantwortet waren, nicht so recht wußten, was das sei. zelotisch: Wetzel 1776 Belphegor II 94 willkühr einer blinden zelotischen justiz (DWB); Blumauer 1784-94 Virgils Aeneis (Übers.) 1148 Zelot'scher Schreier; 1834 Jahrbücher d. Gesch. II 404 zelotischen Supernaturalisten; Goedecke-Tittmann 1867 Liederbuch Einl. VII Verfolgung zelotischer Geistlichen; Ehrlich 1874 Weg 77 ihre zelotische Rache an mir auszuüben; 1970 Politische Bildung 140 10 Auch das Jahr 70 n. d. Z. beendete noch nicht die zelotischen Aufstände [gegen die Römer], doch wurde allmählich deutlich, daß die Bevölkerung in ihrer Einstellung gegenüber den Römern nicht um jeden Preis die Wiederherstellung eines eigenen Staatswesens befürwortete. Zelotismus: 1818 Briefw. Schleiermacher 92 Der intolerante Zelotismus ihrer Lieblinge, der beiden Veits; Rodenberg 1860 Insel d. Heiligen 139 Denn diese Granitmassen, von denen man heute kaum begreift, wie sie sich durch Menschenhand nur zu einiger Ordnung und Symmetrie herstellen Hessen, boten dem Zelotismus späterer Jahrhunderte siegreich Trotz und lösen sich selbst unter dem nagenden Zahne der Zeit nur langsam aus ihren Fugen; Schwarz 1881 Algerien 33 einen äusserlichen Zelotismus [im Mohammedanismus]; Z. /. Allg. Gesch. 1 (1884) 177 pfäffischer Zelotismus; Hillebrand 1885 Culturgesch. 251 Was unsere Geistlichkeit betrifft, so finden Sie bei ihr freilich viel Zelotismus; Heilborn 1929 Revolutionen 1179 Zelotismus und Schwarmgeisterei an Stelle der Geistigkeit.

Zement M. (-(e)s; fachspr. -e), früher auch N., Mitte 13. Jh. aufgekommene Entlehnung aus mlat. cimentum, cementum 'Kalkteig' ( < lat. caementum 'zerstoßener Stein, der mit Lehm oder Kalk gebunden als Bindemasse zum Hausbau verwendet wurde, Bruchstein (zum Mauern)', zu caedere '(mit dem Meißel) schlagen, (ab-)hauen'; vgl. altfrz. ciment, ital. cimento), zunächst in der bis ins 19. Jh. nachgewiesenen Form Ziment(e), gelegentlich in der Schreibung Cäment,

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Zement

seit dem 15. Jh. in der heutigen Form; la in der Bed. 'aus Mischung von Kalkstein und Ton in bestimmter Zusammensetzung und Bearbeitung gewonnenes, pulverförmig gemahlenes, unter Wasser und an der Luft steinhart werdendes Bindemittel, das zur Kunststein-, Mörtel- oder Betonherstellung verwendet wird', fachspr. auch pl. verwendet für 'Zementsorten', als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Portland-, Naturzement; Zementmörtel, -fabrik, -sack, -stein und gelegentlich ausgedehnt auf andere fest zusammengefügte, bindende Materialien (Schnee-, Eiszement); b seit spätem 18. Jh. auch bildlich verwendet im Sinne von 'bindende Kraft; einigendes, festigendes Band'. 2a Seit Ende 14. Jh. weiterentwickelt im Bereich der Metall- und Eisengewinnung und -Verarbeitung, speziell im Münzwesen, zu der veralteten Bed. 'metallhaltige Lösung zum Scheiden, Läutern und Beizen von Metallen, Scheidewasser; pulverisierte Masse, mit der Metalle umhüllt und unter Hitze verändert werden', als Bestimmungswort von Zss. wie Zementfeuer, -ofen 'Feuer, Ofen zum Erhitzen des mit Zementierpulver umgebenen metallenen Körpers', Zementwasser 'Wasser mit darin aufgelösten metallischen Stoffen zum Beizen von Metall', im 19./20.Jh. im Hüttenwesen Zementstahl 'Brennstahl, der durch Glühen mit umhüllendem Kohlepulver entsteht', b Von daher seit späterem 15. Jh. weiterentwickelt zu der selten belegten Bed. 'Eichmaß', auch für 'geeichtes Wirtshausmaß, Gefäß' und 'Eichkammer', heute nur noch historisierend verwendet. 3 In jüngster Zeit fachspr. im zahnmedizinischen Bereich gebucht für 'dünne Schicht Knochengewebes, das die Zahnwurzel überzieht, Zahnkitt' (Zahnzement). Dazu im 14./15. Jh. die verbale Ableitung Zementen 'lockeres Material zu Mörtel, Beton verbinden' (zu la), gleichbed. mit -^zementieren 2a, und zimenten 'Metall veredeln, beizen, läutern' (zu 2a), gleichbed. mit —> zementieren 1, im 16. Jh. auch in der Bed. 'eichen' gebucht (DWB); im 15. Jh. die Personalableitung Zimenter 'Metallscheider, -läuterer' (zu 2a), auch gebucht (DWB) für 'Eicher, Eichamtsbeamter' (zu 2b) und in neuester Zeit Zementer M. (-s; -) 'jmd., der (beim Hausbau) die Zementierarbeiten ausführt, Zementarbeiter' (zu la), in jüngster Zeit gebuchtes Zementen Adj. 'aus Zement (bestehend); grau wie Zement' (zu la) und fachspr. Zementit M. (-s; ohne PI.) 'Verbindung von Eisen und Kohlenstoff, Eisenkarbid' mit der dazugehörigen adj. Ableitung zementitisch 'den Zementit betreffend; aus Zementit bestehend'. Zement la: nach 1250 Christherrechron. (Germ. Stud. II 174) leim was ir zimente gar, si hetten anders plasters nicht (DWB); Braun 1576 Beschreibg. u. Contrafractur 51" sobald es [das Erdreich] ins wasser geworffen, wirdt es zum stein verlndert . . . gleichs als wanns mit cumanischem cement vermischet were (DWB); Thumeisser 1583 Onomast. II 6 welcher zu den Wasserkütten oder Cementen, sehr gut ist; Ercker 1672 Aula subterránea 178 Ciment-Ofen; Böckler 1683 Haus- u. Feldschule 16 [Kalk] wird auch den Werk- oder Mauerstein so wohl anziehen und hefften / als das beste Kütt oder Ziment; Vischer 1709 Informator 127 der Mauer-speiss oder das Cement ist angerühret; Sturm 1777 Civil-Baukunst 165 Mörtel

von Cement; Matthisson 1787 Schweiz (II 165) Breschen . . . worin Quarz, Kieselschiefer, Hornstein und andere Gemengstoffe einer durch Thoncäment verbundenen Grundmasse von Sandstein eingebacken wurden; Stieglitz 1792 Baukunst I 468 Cement, heißt überhaupt die von Kalk und Sand eingemengte und zum Vermauern fertige Materie, die zur Verbindung der Steine zu einer Mauer gebraucht wird. Vorzüglich aber wird unter dieser Benennung eine Art Mörtel verstanden; ebd. 680 Cement ist eine eigene Art des Mörtels, welcher bisweilen aus Kalk und Ziegelmehle besteht; Gilly 1798 Land-Bau-Kunst I 126 Die Wasser-Cimente, welche die Eigenschaft der baldigen Trocknung haben sollten, werden zu-

Zement sammengesetzt aus Kalk und Tarras oder Traß . . . Ciment heißt eigentlich die Zusammensetzung des Kalks und des Trasses oder anderer Surrogate desselben; Hoyer 1815 Kriegsbaukunst I 200 Cement (Ciment), oder wasserdichter Mörtel, wird theils zu dem Grundbau der Bruckenpfeiler, theils auch zu den Decken der unterirdischen Gewölber angewendet; Ritter 1822-59 Erdkde. VII103 ihre [der Ruinen] quadersteine sind durch cement verbunden (DWB); Wiebeking 1826 Baukunde IV106 Cement oder Wassermörtel; Lewald 1837 Aquarelle III 197 dazwischen ist alles mit Ziment ausgefüllt; Michaelis 1869 Die hydraulischen Mörtel insbesondere der Portland-Cement (Titel); Reichenbach 1880 Roman e. Bauernjungen 41 dahinter stiegen die hohen Schornsteine der Cementwerke auf; ebd. 43 setzte neben seine Kalköfen auch noch eine große Cementfabrik; ebd. 58 kamen die beladenen Wagen mit dem Fahrstuhl herauf bis zu den Öfen, wo die Steine getrocknet wurden, um dann sofort auf der Wage für die Cementmischung gewogen zu werden; ebd. 59 Er zeigte ihm verschiedene Cementproben; Böhm 1901 Moränenkunde 100 Was A. v. Escher hier von der 'Breccie' und dem 'Eiscement' sagt, stimmt ganz mit manchen neuesten Befunden über das Aussehen der Grundmoräne überein; Naske 1909 Die Portland-Cement-Fabrikation (Titel); Lokal-Anz. 23. 8. 1933 Was bisher rund war, warum soll es nicht viereckig sein? wozu brauchen wir Säulen und Bogen, nachdem wir Zementträger und Betonglas haben?; ebd. 17. 5. 1934 Für die Zuschauermassen sind massive Tribünen erbaut, die an großartiger Wirkung selbst die Amphitheater des Altertums übertreffen, 400 Meter lange Zementterrassen mit Sitzplätzen für 12000 Menschen; Berl. Illustr. Nachtausg. 24. 5. 1934 Die Feuerwehr konnte das schadhafte Rohr mit Zementsäcken abdichten und die Wassermassen ableiten; Lokal-Anz. 10. 8. 1934 als die Weltmeisterschaften auf der alten Zementbahn in Friedenau stattfanden, gab es wieder einen deutschen Sieg . . . im 100-Kilometer-Dauerrennen; ebd. 30. 12. 1934 Die Zementverbände, die sich inzwischen über eine Verlängerung der kartellmäßigen Bindungen freiwillig einigten, haben . . . beschlossen, die Zementpreise nicht unerheblich zu senken . . . die Geltungsdauer der Anordnung über eine Marktregelung in der Zementwirtschaft . . . insoweit verlängert, als sie sich auf das Verbot der Errichtung von neuen Werken zur Herstellung von Zement erstreckt; Dtsch. AZ. 21. 8. 1935 Erhöhter Zementabsatz im Juli. Der Absatz der gesamten deutschen Zementindustrie stellte sich im Juli auf 965000 Tonnen gegenüber 803000 Tonnen im Juni 1935; Graf/Walz 1941 Untersuchungen von Sonderzementen in der Versuchsan-

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stalt und in der Straße (Titel); Süddtsch. Ztg. 28. 12. 1949 Trotz starker Regenfälle in der Vornacht konnten gestern Anlauf und Aufsprung mit Schneezement in tadellosem Zustand gebracht werden; ebd. 29.130. 7. 1950 Zweiter „Zementkrieg" ausgebrochen (Uberschr.) In Kiefersfelden wurde gestern eine Interessengemeinschaft gegründet, die gegen das bayerische Portland-Zementwerk wegen der nachteiligen Auswirkungen der Rauch-, Staub- und Rußplage Schadenersatzansprüche geltend machen will; ebd. 15. 10. 1953 Die in diesem Jahr mit Macht ausgebrochene Bauwut — gegenwärtig gibt es rund 220 Baustellen in Bonn — hat der Stadt bei Baufachleuten den Spitznamen „Zementdorado des Westens" eingetragen; ebd. 17. 1. 1959 Es wurde darin u.a. erwogen, den Fürstenbau und die Georgskapelle der Trausnitz zu unterfangen, um eine Senkung des Mauerwerks zu verhindern. Auch der Plan, den Hang mit „Zementspritzen" zu festigen, tauchte auf; ebd. 25. 2. 1959 Zementspritze rettet St. Markus (Uberschr.) Venedigs Dom stand auf zu schwachen Pfeilern / Einsturzgefahr gebannt . . . in mehrmonatiger Arbeit wurde . . . in die Pfeiler und in die wichtigsten Mauerteile unter hohem Druck Zement gespritzt; FAZ 30. 11. 1970 Zementaggregat für 110 Millionen Mark (Uberschr.) Nordcement AG, Hannover. Zementen: Eberhard Cersne 1404 Minnereg. 64 mit hertem adamante was sie gefundamentet, van iaspide mit sante was sie fast gesementet (DWB). Zementer: Offenburger Tagebl. 22. 6. 1968 Plattenleger sowie Zementer oder jungen Mann zum Anlernen von Treppenfabrikation gesucht (Anzeige); Grass 1969 örtlich betäubt (Fibü 19) Hardy darf die erweiterte Studie auf einer Zementer-Tagung der breiteren Öffentlichkeit, das heißt, den Führungskräften der bundesdeutschen zementproduzierenden Industrie vortragen; ebd. 109 Und die Zementer, so nennt man die Zementarbeiter, tranken schon zum Frühstück ein zwei Korn. Zement lb: Wezel 1776 Tob. Knaut IV 243 eine Flasche Wein, dieses bindende Cäment der Freundschaft; Gentz 1793 Betrachtungen II 107 künstliche Cemente . . . die die neuen Provinzen zusammenhalten. Zement 2a: Suchenwirt vor 1395 (XV 214) daz gold geleutert in der minn ziment; Würdtwein 1399 Diplomataria magunt II 243 daz solich gelt . . . nit folleclichen und gerechte uz dem fure und cemente enqueme; ebd. (1437) 298 der gülden sal halten nuntzehen grait fyns golts usz dem ziment

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sunder remedium und mit dem stryche glich syn der nalden; ebd. (1477) 368 die montzen probieren und uffsetzen im zyment oder im wassir; Matthesius 1571 Sarepta 41h item wie man gold und silber durchs cement und im aqua fort scheidet; Ercker 1571 Min.Ertzt Vorr. 3h ein solch metall, dasz . . . auch alle proben, ziment, schlag, stich und streich erduldet; ebd. 81h zu dem cimentpulffer . . . gehören solche zeug und matherien, die das silber . . . angreiffen (alle DWB); Fioravanti 1604 Krön d. Artzney 339 Als sie nemmen der geschlagenen Küpffernen Blech, machens mit Wein Trester zu einem Cement, Stratum super Strato, vnd lassens . . . stehen; Paracelsus 1616 Op. I 658* den müntzern, die solch zusltz, schmeydigkeit, flusz, gradation, cement und dergleichen suchen und machen (DWB); Agricola 1643 Chirurgia 241 nimb eine gute cementbüchsen, lege unten eines finger dick geschmeltzt saltz hinein (DWB); Glauber 1669 De igne secretaphilos. 49 setze die büchse mit dem blei und schwebel in einen cementofen (DWB); Pachelbel 1716 Fichtel-Berg 46 [Gold] so rein und fein, als wann es aus dem Cement gekommen; Justi 1761 Manufact. II 364 Fast alle Chymisten schreiben vor, Meersalz oder Küchensalz unter dieses Cementpulver zu nehmen; Triest 1826 Baukosten V 96 aufgeblähter Englischer Cementstahl; Poppe 1837 Erfindungen 513 Zu den älteren Verbesserungen des Schmelzstahls gehört diejenige von Caspar von Fürstenberg in Mainz. Der Cementstahl, Cementirstahl oder Brennstahl isf schon lange bekannt gewesen; Hartmann 1853

Stahl 67 Brenn- oder Cementstahls; Berl. Illustr. Nachtausg. 14. 3. 1934 Der Absatz von Hüttenzement hat sich, nach Mitteilung des Hüttenzementverbandes . . . günstig entwickelt. zimenten: Suchenwirt vor 1395 (XLI 573) wer ein golt zimentet hat uf vier und zweinzec karat; Rosenplüt 15. Jh. Priam. in Germ. (XVIII265) als golt von vierundzwentzig karat sich lauter cyment in feures grat (beide DWB); 15. Jh. Codex germanicus Monacensis 713, 131" sich in dem fegfeur zimenten und verclaeren (LEXER). Ziment er: 15. Jh. Monumenta habsburgica III 343 es sol niemant silber prennen denn der zymenter, der darzue gesetzt ist (LEXER). Zement 2b: um 1470 Monumenta habsburgica III 347 die dritt wag sol sein in der chamer, die do haist die ziment, darinn sol abgewogen werden gold, silber, perl und edelgestain (LEXER); 1568 österr. Weisth. X 4 es sol auch bei gemainem markt . . . recht gewicht, ein und masz nach den zimenten, so . . . durch uns . . . commissari uberantwortet . . . sein, gehalten werden (DWB); Klein 1792 Provinzialwb. I 73 Ciment, ein blechernes Maaß; Nestroy 1835 Geist 18 Zimment [geeichtes Gefäß zum Trinken]; 1964 Anfänge d. Landgemeinde 1145 eine Reihe von Gemeindedienern, später Gemeindebeamten genannt . . . die . . . Überwacher von Mass und Gewicht (später Ziment-Kommissäre genannt).

zementieren V. (in)trans., im späten 15. Jh. aufgekommene verbale Ableitung von —»Zement, bis Ende 18.Jh. auch in der Form zimentieren; 1 fachspr. im Bereich der Metallgewinnung und -Verarbeitung und im Hüttenwesen in der Bed. 'Metall(-oberflächen) durch chemische Veränderung veredeln, beizen, läutern', entweder durch Erhitzen eines Metallkörpers zwischen pulverisierter Masse, z.B. Holzkohle, oder durch Ausfällen von Metall aus Lösungen durch Beimengung anderer Metalle, in Zss. wie Zementierpulver, -feuer, -ofen (vgl. —»Zement 2a); dazu im 16./17. Jh. vereinzelt nachgewiesenes Zementierer 'Metallscheider, -läuterer' (vgl. älteres gleichbed. Zementer, —» Zement), im 20. Jh. die selten nachgewiesene subst. Ableitung Zementation F. (-; -en) (vgl. gleichbed. frz. cémentation, engl. cementation) für 'Veredelung von Metall durch chemische Veränderung' (z. B. Aufkohlen von Stahl). 2a Seit spätem 18. Jh. in der Bed. 'lockeres Material verfestigen, seine Bestandteile unter Beimengung von Wasser zu Mörtel, Beton verbinden', auch '(Bau-)Steine durch Zementmörtel dauerhaft zusammenfügen, befestigen; bauen mit Zement, mauern' und 'offene (schadhafte) Stellen, Ritzen in gemauertem Stein verputzen, mit Zement (aus-)füllen, abdichten, dicht machen, verkitten' (—»Zement 1); b in jüngster Zeit bildlich verwendet in der Bed. '(Preise, (politische) Gegebenheiten, Zustände, Haltungen, Tatsachen o.ä.) endgültig, unverrückbar, starr, für immer

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festlegen; einfrieren, -betonieren'; dazu gleichzeitig die Präfixbildungen auszementieren und bes. einzementieren. 3 Im 17./18. Jh. vereinzelt nachgewiesen in der Bed. 'genau abwägen, eichen' (—* Zement 2b). Dazu seit Mitte 18. Jh. das Verbalsubst. Zementierung F. (-; -en), früher auch Zimentierung, 'Metallveredelung' (zu 1) und 'Verkittung' (zu 2a), im 19. Jh. vereinzelt und in jüngster Zeit häufig in der bildlichen Bed. 'endgültige, unverrückbare, starre Festlegung (von Tatsachen, Preisen o.ä)' (zu 2b). zementieren 1: Steinhöwel 1479 Spieg.menschl. Leb. 76h si [die Goldschmiede] cementiren völligklich untz auff die gllntzi des feuers blick; Ercker 1580 Min.erzt 81" das cimentirn ist eine sonderliche, schöne kunst, durch welche man silber, kupfer, messing und andere metalln durch ein angefeuchts pulffer von goldt beitzen und fretzen kan; Paracelsus 1616 Op. I 891c der todt . . . und die tödtung der metallen ist ein hinnemmung seines gedignen corpers und swefelischer feiszigkeit; das ihm dann in viel weg mag genommen werden, als durch calciniren . . . cementieren und sublimieren (alle DWB); Hartmann 1853 Stahl 69 Der Cementstahl, Cementirstahl oder Brennstahl ist schon lange bekannt gewesen. Er wird in eigenen Cementiröfen durch Hülfe eines starken Feuers so verfertigt, daß der Kohlenstaub das eingeschichtete Eisen recht gleichförmig bis in die Mitte durchdringt; Beck 1896 Leonische Drahtindustrie 10 Die aus dem Kupfer ausgeschmiedeten Stangen . . . werden . . . vergoldet . . . oder durch Behandlung mit Zinkdämpfen cementirt, d.h. oberflächlich vermessingt. Zementierer: Mathesius 1571 Sar. 196h goldschmid und cementirer halten ihr aqua fort in glesern (DWB); Berward 1673 Interpres phraseologiae metall. 32 Cementirer. So den Leim zurichtet. Zementation: Ehrenherger 1905 Fugger-Rothschild 183 Zementation von Schmiedeeisen. zementieren 2a: Matthisson 1787Schweiz (II 165) cämentirten oder zusammengekitteten Berglagerungen; Stieglitz 1792 Baukunst I 469 Cementiren, heißt vermittelst eines Cementes etwas zusammen verbinden; Ritter 1822- 59 Erdkde. XIV 477 corallen, muscheln, seesand . . . seegras, die durch die salzige meereswoge . . . zusammengewürfelt und cementirt . . . werden (DWB); Berl. Illustr. Nachtausg. 4. 5. 1932 Die in den anderen Stockwerken in ihren Büros arbeitenden Beamten hatten beobachtet, wie ein menschlicher Körper herunterfiel und auf dem zementierten Hof aufschlug; Bertololy 1941 Heimkehr 69 hohe, kaser21»

nenartige Häuser, rohe Backsteinbauten, mit kleinen, düster blickenden Fenstern und zementierten Baikonen; Süddtsch. Ztg. 17. 12. 1952 Um dem Sandstein von Engelbostel das Wasser auszuquetschen und Gas nachzuschieben, wird ein Druck von 15 bis 25 Atmosphären benötigt . . . Wichtig ist, daß die Sandsteinschicht „zementiert" ist; in Engelbostel umgibt eine dicke Tonschicht den Sandstein; ebd. 27. 12. 1959 Ein schneller Anlauf, druck- und luftreicher Absprung sowie der vorsichtshalber schneezementierte Aufsprung überstanden auch das gegen Schluß einsetzende Schneetreiben; Die Zeit 4. 7. 1980 Die Kunst-Anlage ist so kompliziert wie ihr Titel und sieht auch so aus. Die Funktion der „zementierten Fanggruben mit aushub auf Stahlrutschen" erschließt sich so wenig wie die der „Startkojen mit Glocke und stündlich geöffneten Toren" . . . künsderische Großbaustelle. Zementierung: 1761 (1793 Sammlung aller Generalien 197) Vistrung und Zimmentierung der Fässer; 1861 Mem. Humboldts II 39 Cämentirung (Verkittung). einzementieren: Genet 1963 Miracle (Übers.) 264 aber der Stein, der die Mauer oben krönte, war nicht sehr fest einzementiert (DUDEN). zementieren 2b: Süddtsch. Ztg. 3. 4. 1956 soll sich diese Linie mit der Zonengrenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands decken, sie also nach deutscher Ansicht „zementieren"; Stuttgarter Ztg. 16. 1. 1959 Effektivlöhne sollen zementiert werden (Uberschr.); Offenburger Tagebl. 22. 3. 1959 nach Meinung politischer Kreise der Bundeshauptstadt eine „erpresserische Drohung", die die Spaltung Deutschlands zementieren und legalisieren solle; Süddtsch. Ztg. 2. 11. 1959 Sparzins soll „zementiert" werden (Überschr.); Stuttgarter Ztg. 24. 3. 1961 In der Begründung des Beschlusses macht die Fachgruppe geltend, daß die Fernsehindustrie mit Einführung des Kartells „einen zementierten Preis und ebensolche Absatzkonditionen" geschaffen habe; Süddtsch. Ztg. 21. 3. 1963 Die Preisbindung ist überflüssig und teuer

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zementieren

(Uberschr.) meinen die Verbraucherverbände / Zu hohe und zementierte Preise sind die Folge; Offenburger Tagebl. 29. 3. 1963 Aus diesem Grunde hat der Deutsche Industrie- und Handelstag vorgeschlagen, den Abführungsbetrag auf 4000 Millionen DM zu „zementieren"; Süddtsch. Ztg. 13. 2. 1964 der Verein wolle keineswegs etwa nur Restauration betreiben, also das Alte unbedingt aufrechterhalten und „zementieren". Man blicke nicht nur in die Vergangenheit . . . man beschäftige sich durchaus mit zeitgemässen, modernen Problemen; Stuttgarter Ztg. 20. 4. 1968 Ob sie mit ihren politischen Zielsetzungen etwas erreicht oder nicht - die Welt des Bürgers Kudinek, auch wenn man sie mit Notstandsgesetzen, Springerpresse und Polizeiknüppeln zementiert, wird nicht die von morgen sein; FAZ19. 4. 1969 Er halte, wie er schrieb, den Fahneneid für politisch falsch und unredlich, weil die Bundeswehrführung damit den Alleinvertretungsanspruch zementiert; Offenburger Tagebl. 3. 5. 1969 Bonn müsse allem entgegentreten, was die deutsche Teilung zementieren könne; ebd. 13. 7. 1970 sind in Salisbury mit der Ausrufung der Republik und der Verkündung einer neuen Verfassung, die die weiße Herrschaft auf Jahrzehnte zementiert, Fakten geschaffen worden, die selbst ein bloßes Erkundungsgespräch schwierig machen dürften; ebd. 1. 9. 1971 Zementierte Positionen (Uberschr.); FAZ 20. 11. 1971 daß die Bischöfe nicht nur bestehende Zustände zementiert und über die Ungerechtigkeit in der Welt lamentiert haben; Die Zeit 27. 11. 1981 Zum Londoner Gipfel in dieser Woche traten die Repräsentanten der Zehn mit festzementierten Positionen an. auszementieren: Lokal-Anz. 9. 2.1933 ein immer feiner verästeltes Gespinst von Verträgen und Abmachungen gegen jede Erschütterung auf friedlichem oder gewaltsamem Wege auszuzementieren, bildet eigentlich das Hauptstück der gesamten französischen Außenpolitik. einzementieren: Süddtsch. Ztg. 4. 4. 1950 die Schwierigkeiten und inneren Widersprüche des westdeutschen Staatsgebildes: Einerseits zu Westeuropa gehörig und von den Westalliierten in größtem Ausmaße abhängig, soll es doch das gesamte Deutschland vertreten, auch jenen Teil, der in den Ostblock gleichsam einzementiert ist; Arbeitgeber 20. 7. 1961 im Bereich der Sozialpolitik bzw. im Bereich der von der Tarifseite her „einzementierten" Lohnentwicklung; Offenburger Tagebl. 1. 9. 1971 Wenn da freilich noch jemand glaubt, auf solch verhärteten, sozusagen

einzementierten Positionen ließen sich Kompromisse noch herausbrechen, der täuscht sich; FAZ 20. 11. 1971 das gesamte Planwirtschaftssystem, das mit künstlich „einzementierten" Preisen rechnet. Zementierung: Süddtsch. Ztg. 22. 8. 1930 Die Entsendung britischer Truppen von Hongkong nach Korea wird als eine „Zementierung" der amerikanisch-englischen Zusammenarbeit angesehen und in London begrüßt; ebd. 11.9. 1954 Zur Finanzreform glaubt der Finanz- und Steuerausschuß zwei neue Vorschläge unterbreitet zu haben, indem ein Teil der Ländersteuern . . . zu Bundessteuern wird und außerdem eine „Zementierung" des Beteiligungsverhältnisses zwischen Bund und Ländern an der Einkommens- und Körperschaftssteuer vermieden werden soll; Offenburger Tagebl. 16. 8. 1963 daß man im Parlament nicht weiter mitzugehen bereit sei, wenn die Verbündeten weitere Entspannungsschritte tun sollten, die in der Deutschlandfrage nicht weiterführen und stattdessen sogar zur Zementierung des Status quo beitragen; 1964 Arbeitgeber 21 Der Bundesfinanzminister sprach von einer über 90% hinausgehenden Zementierung der Bundesausgaben; FAZ 3. 3. 1970 Er vergaß allerdings hinzuzufügen, daß sie bestimmt nicht mit der Zementierung der Vorherrschaft einer Minderheit von 250000 Weißen in dieser Republik einverstanden sind, die nach Smiths eigenen Worten „mindestens bis zum Ende dieses Jahrhunderts" dauern soll; ebd. 5. 5. 1970 Die SED-Führung geht in der Polemik gegen die Bundesrepublik so weit, zu behaupten, der westdeutsche „Separatstaat" und sein Grundgesetz seien unter Ausschluß des Volkes entstanden. Mit der Zerflentierung der Spaltung habe die Bonner Regierung die Bundesrepublik gegenüber der D D R zum Ausdruck gebracht; Offenburger Tagebl. 7. 11. 1970 Von noch entscheidender Bedeutung sei die „Zementierung" der 1968/69 heißerkämpften Existenz der Offenburger Schule; FAZ 4. 12. 1970 Wiederholt hat Tito zu verstehen gegeben, daß er sich für die von der Sowjetunion so forcierte Sicherheitskonferenz wenig begeistern könne, wenn sie nur der Zementierung des Hegemonieanspruchs Moskaus über Osteuropa dienen solle. zementieren 3: Kepler vor 1630 Op. V 590 caementirtes gewicht; ebd. 594 marck, das lautet ein gemerck oder ein gezeichneter und caementirter gewichtstein (beide DWB); Klein 1792 Provinzialwb. II 247 Zimentiren, die Maaße und Gewichte untersuchen und berichtigen . . . Aichen.

Zenit

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Zenit M. (-(e)s; ohne Pl.), früher vereinzelt N., Ende 15. Jh. aufgekommen, zurückgehend auf arab. samt (ar-ra's) 'Richtung; Weg, Pfad (über dem Kopf)', wobei m zu ni verschrieben wurde (vgl. gleichbed. mlat. cenith, frz. zénith, span. cenit, ital. zenit(h)), bis in neuere Zeit meist in der Schreibung Zenith; im astronomischen Bereich in der Bed. 'senkrecht über dem Beobachter liegender höchster Punkt, Scheitelpunkt der oberen Himmelshalbkugel' (Ggs. Nadir), vereinzelt bildlich verwendet, in poetischer Sprache auch im Sinne von 'Himmel(-sgewölbe), Firmament'; seit Anfang 19. Jh. häufig übertragen verwendet, vor allem für 'Gipfel-, Höhepunkt, Höhe, maximale Entfaltung (des in einer Entwicklung, einem Gesamtablauf zu Erreichenden)', meist in Wendungen wie im Zenit seines Lebens, Ruhmes, seiner Laufbahn o. ä. (stehen), den Zenit seines Lebens o. ä. erreichen, überschreiten und in Zss. wie Lebenszenit; Zenithöhe, -punkt; dazu die im 19./20. Jh. nur gebuchte adj. Ableitung zenital 'auf den Zenit bezogen; den Zenit betreffend; im Zenit stehend'. um 1490 Dtsch. Ptolemäus a 5h so trifft das czenit ein mal. vnd so sich die sonne wider gibt zu dem equinoctial; ebd. b 2h auch haben die menschen in diesem clima die sun vber iren heuptern gleich . . . zwey mol ym Jor vnd wirt genant zenith vnn das wert nicht lenger dan alls lang dy sunn yn dem selben grad des mittags beharrend ist; Sacroboskos 1519 Sphera materialis (Ubers.) C 3" Der haubt punkt aber . . . genannt wird Zenith (KLUGE/ MITZKA); Thumeisser 1583 Onomast. II 75 den Zenith oder Hauptpunct; ebd. II 79 Scheittelkreiss, die sunst auch Zenith genant werden; Hulsius 1606 1. Schiffahrt 66 haben wir die Sonne zu Mittag gerad am Zenith, vnd schnür recht vber dem Kopff gehabt; Guarinonius 1610 Greuel 866 den zenit und höchsten puncten circuli meridiani (DWB); Martin 1637 Pari. 208 der grad . . . vber unserm Scheitel steht / ist vnser Zenith; Sturm 1717 Mathesis 66" Der Horizont / welcher mitten zwischen Zenith und Nadir um die Zug-Linie herum gehet, also daß die Halbmesser in dem Mittelpunct mit ihr rechte Winckel verursachen, der auch die Welt in die obere und untere HalbKugel theilet. Nachdem aber der Aequator gegen den Horizont stehet, so machen sie . . . Parallelam da Aequator und Horizont mit einander parallel lauffen, und Zenith und Nadir mit denen Polis eintreffen; Kästner 1755— 72 Verm. Sehr. I 70 das bunte nordlicht, das das zenith bekränzet (DWB); Musäus 1781 Physiognom. Reisen II 70 dass wir [mit] unsern Grundsätzen weiter auseinander sind, als Zenith und Nadir; 1798 Gallerie d. Welt 38 Anm. Zenith und Nadir sind arabische Namen; 1805 Paris I Vorr. III Rom im Zenit seiner Macht; Weiss 1820 trigonometr. Höhenberechnung 8 Zenithabstand; Schiller 1822-26 S. W. I 231 In unserm Zenith stieg es [das Gestirn] auf; ebd. II 222 Wo du auch wandelst im Raum, es knüpft kein Zenith und Nadir in den Himmel dich an,

dich an die Achse der Welt (KEHREIN); Goethe 1827-42 (W. XLVII 147) Wenn am Tag Zenith und Ferne blau ins Unermeßne fließt (KEHREIN); Grabbe 1827 Shakespearo-Manie (III 392) Merkwürdig genug hat ohngefähr mit der Zeit der französischen Revolution die deutsche Literatur ihr Zenit erreicht; Goethe vor 1832 (XXXVII176) Das Rothe . . . macht hier den Zenith . . . Beim anlaufenden Stahl, welcher bis an den Purpur-Zenith gelangt (SANDERS DWB); Böttger 1841 Byron VIII 237 So daß vom Fest ich schied, eh's den Zenith erreicht (SANDERS DWB); Heine 1854 Lutezia II 117 In diesem Augenblick ist der Stern Rothschild im Zenith seines Glanzes (SANDERS DWB); Willkomm 1857 Ammer 259 Ich sah es letzthin in der Nacht, wie der Mond das Meer mit heiligem Lichtschein übergoß und zahllose Sterne am dunklen Zenith funkelten, daß sie mit den Augen ein Gebet sprachen, obwohl die Lippen ein weltliches Lied sangen; Reumont 1862 Zeitgenossen II 93 Canova [als] Zenith der Kunst; Ranke 1863 Lebenserinnerungen (Dtsch. Rundschau LI 61) [Goethe] stand damals im Zenith seines Ruhmes; Scherr 1865 Blücher II 244 Zenithhöhentage des napoleonischen „Sterns"; ebd. II 250 Zenithhöhe seiner Macht und Herrlichkeit; Eckstein 1875 Besuch 32 sein Staunen erreichte jedoch den Zenitpunkt; Seidel 1880 Vorstadtgesch. 44 mit einer weiszen stirn, welche glänzend bereits bis zum zenith sich erstreckte (DWB); Trinius 1885 Mark. Streifzüge II 93 stand . . . im Zenith seines Glückes; Lübke 1891 Lebenser. 361 als damals Napoleon III. im Zenith seiner Macht stand; Liliencron 1896 Poggfred (XI 31) Das eine Schlacht eräugt, hoch vom Zenith; Marcuse 1905 geogr. Ortsbest. 3 Statt der Höhe (h) wird auch, und zwar mit Vorteil, das Komplement derselben, die Zenitdistanz (z = 90°—h), also der auf demselben Vertikalkreise gezählte Bogenabstand des

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Sternes vom Zenit benutzt; ebd. 13 Sehr häufig kommt die Aufgabe vor, die Zenitdistanz allein, ohne Kenntnis des Azimuts, aus Deklination und Stundenwinkel eines Gestirns herzuleiten; ebd. 210 Auf der nördlichen Halbkugel wird die Polhöhe am zweckmäßigsten aus einer Kombination von Zenitdistanzmessungen des Polarsterns . . . ermittelt; Nordegg 1907 Berliner Gesellschaft 57 stand Fürst Bismarck auf dem Zenith seines Weltruhms; Dtsch. Rundschau 159 (1914) 154 im Zenith seines Schaffens; Sternheim 1918 Chr. II 207 Morgenröte, Sonne im Zenith und die Sternbilder am Firmament, Wind, Regen, Hagel und Schnee stellte als wechselnde Erscheinungsformen sie fest, von denen sie den jedesmal gewollten Effekt zu erkennen suchte; Csokor 1924 Schuss 60 Und nun rasch die letzte Kugel durch den eigenen Schädel! Abschied im Zenith der Tat!; Strich 1928 Dichtung 143 Während Stefan Georges Gestirn im letzten Jahrzehnt zum Zenithe seiner Laufbahn aufstieg, ist Rilkes Stern . . . mehr und mehr verblasst; 1929 Handb. d. Englandkunde II 97 Zenith ihres Aufschwungs; Rundt 1929 RevueGirl 140 Zenith ihres Konsums; Friedell 1931 Kulturgesch. III 474 Zenith des bürgerlichen

Theaters; Emst 1933 Iphigeneia 53 Das Leben, das wir darzustellen haben, nähert sich nach dem Sturm dem idyllischen Zenit; Halbe 1933 Scholle 53 Richard Wagner hatte den Zenith seines Ruhmes noch nicht erreicht; Berl. Illustr. Nachtausg. I. 3. 1933 Kein Wunder, daß Meister Flesch schon in der Voraufführung sehr gefeiert wurde und Furtwängler, im Zenith seines Ruhmes stehend, mit den Philharmonikern Dank über Dank entgegennehmen konnte; Halbe 1935 Jahrhundertwende 180 Sudermanns Ruhmessonne stand damals im Zenith am Himmel Berlins, ja ganz Deutschlands; Brandl 1936 Inn 75 den Zenith seines irdischen Glückes erreichte; N. N. Z. 23. 6. 1944 als Faschismus und Nationalsozialismus noch nicht auf dem Zenith eines trügerischen Ruhmes standen; Süddtsch. Ztg. 11. 11. 1969 Gerhard Zech hat den Zenit seiner Laufbahn weit überschritten. Spätestens nach der siebten Runde war der baumlange und mit 103 kg um 41 Pfund schwerere Bad Sodener ein geschlagener Man; FAZ 24. 11. 1970 daß es an Ovationen für das Kaiserpaar — Wilhelm II. stand damals im Zenit seines Glanzes — nicht fehlte.

zensieren V.trans., Mitte 16. Jh. entlehnt aus lat. censere 'begutachten; den Wert einer Sache prüfen, schätzen; der Ansicht sein, dafürhalten; für zweckmäßig, billig, wahr erachten'; in der Bed. 'kritisch prüfen' und 'kritisieren, tadeln', früher im Publikationswesen 'kritisch besprechen, durchgehen' (vgl. —> rezensieren, —»Zensur lb), bes. im schulischen Bereich für 'Leistung, Betragen eines Schülers beurteilen, mit einer Note versehen, benoten', in neuerer Zeit auch mit Ellipse des Objekts, z.B. im Syntagma streng zensieren 'strenge Maßstäbe bei der Notengebung anlegen' (—»Zensur lc) und auf Druckerzeugnisse aller Art und Darstellungen in anderen Medien bezogen für 'einer amtlichen/behördlichen Zensur unterziehen, überwachen, kontrollieren' (—»Zensur la), vor allem in der Part. Perf.-Form zensiert 'von der Zensur geprüft, durch die Zensur gegangen; durch Streichungen, Änderungsauflagen, Schnitte beeinträchtigt, entstellt, verstümmelt'. 1548 Bernische SO. (Nyström, Schulterm. 217) schulmeyster, provisor, Stipendiaten, 1er und lebens halb examiniert und censiert; Dannhauer 1643 Katechismusmilch II 358 diweil solche momi und Splitter-Richter in die Zunfft der jenigen Hofnarren gehören, welche von grossen Herren gedinget werden, jederman libere zu censiren und Kletten anzuwerffen; Böckler 1665 Schola militaris 108 diese frage kan so wohl mit Ja / als mit Nein beantwortet werden / und seynd wir allhier nicht gesinnt / jemand darin zu censiren; Tentzel 1689 Unterredgn. 3 weil jetzo so viel gelehrte Männer in lateinischer, deutscher . . . Sprache, anderer Schriften und Erfindungen censiren und recensi-

ren; 1693 Wohlgemeyntes Bedenken 21 Solte mein Herr Baekler dergleichen Arbeit zu censiren bekommen haben, würde Zweifels frey es mit dem Lobspruch schlecht abgegangen seyn; Thomasius 1701 Kl. Sehr. 381 daß ein jeder mir das, was er elaboriret, auff das längste in der letzten Zusammenkunft, die vor diejenige, darinnen etwas censiret werden soll vorhergehet; Sturm 1702 Arch.mil. 26 Gedancken gemachet, wil es aber gerne leiden, wenn sie censiret werden, weil ich bekennen muss, dass ich eben nicht viel darüber meditiret habe; Belemnon 1728 Bauern-Lex. 45 Censiren. Urtheilen / erforschen / prüfen / meistern / tadeln. Item schätzen / meinen / achten /

Zensor für gut ansehen, abusive: censeriren; Muratori (Ubers.) 637 1772 Von d. guten Geschmacke Übrigens ist Kritisiren oder Censiren an sich selbst keine zu tadelnde Beschäftigung; Bauer 1836 Überschw. II 59 zensierte Reden; Tempo 21. 2. 1931 Schon nach 24 Stunden bekam ich Antwort. Alle Offerten waren, wie zensierte Schularbeiten, mit Noten versehen; Mannh. Morgen 30. 9. 1981 „Eine Zensur findet nicht statt" (Uberschr.) Ein

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Lob indessen verdient er dafür, daß er den „Spiegel"-Chefredakteur Erich Böhme nicht zensiert hat; Die Zeit 19. 2. 1982 Am letzten Montag kamen 50 Bittbriefe aus Polen, fast alle mit dem Zensurstempel versehen, wenn auch offensichtlich schlampig zensiert; ebd. ein breit gefächertes, unzensiertes, weithin verfügbares Angebot an Büchern.

Zensor M. (-s; -en), im späten 15. Jh. entlehnt aus lat. censor (zu censere, —* zensieren), Bezeichnung für einen (von zwei) hohen römischen Beamten, dem u. a. die Taxierung des Vermögens römischer Bürger, die Aufsicht über öffentliche Bauten und Anlagen und die Kontrolle über die Lebensführung der Bürger im öffentlichen und privaten Bereich oblag, von daher dann auch 'strenger Richter; Sittenrichter; strenger Tadler, scharfer Kritiker'; zunächst in der lat. (flekt.) Form; a als historische Bezeichnung für den römischen Beamten; b seit frühem 16. Jh. in der Bed. 'Beurteilender; Kritiker; Richter', früher im Publikationswesen für 'literarischer Richter, Kritiker; Rezensent' (—» Zensur lb, —> Rezensent), dann vor allem 'mit der (staatlichen/kirchlichen) Kontrolle, Überwachung, Uberprüfung von Druckschrifttum, Darstellungen in Medien u. ä. von Amts wegen (beruflich) befaßte Person' (—» Zensur la), auch übertragen verwendet für 'strenger Richter; Sittenrichter; nörglerischer Tadler'; dazu die im 16. und 19. Jh. vereinzelt belegte adj. Ableitung zensorisch 'nach Art eines Zensors'. Zensor a: Tucher 1487 Kaiserangesichte (Mitt. VG Nürnbergs 11 (189}) 49) so erweit man [in Rom] einen dictatorem oder censorem, vnd ein dictator was gewaltiger, denn ein consul; Schwarzenberg 1535 Teütsch Cicero Vorr. Bl. 4b Censores haben dy höchsten macht gehapt zu richten über dy sittlichenn ding / vnd zu straffen / was guten sitten nit gleichförmig was / waren auch dy / dy das vermügen vnnd dy guter des Römischen volgks / achten odder schätzten / damit sy also richter der siten vnd guter gewesst sein; Spangenberg 1591 Adels-Sp. I 16$/61* Censores, die Schatzherrn, Schatzmeister . . . Zuchtmeister, der waren zu Rom stets zween, Anfenglich beyde aus den Rhatsherrn, aber . . . Die Censorenverwaltung weerete 5. Jhar, so lange mußte einer an dem Ampt bleiben, starbe aber einer von ihnen beyden, so muste der andere auch abdancken, und wurden zwene newe Censores erwehlet; Söst 1926 Wesen u. Bedeutung der Schulzeugnisse 1 Im alten Rom wurde das Amt der Vermögenseinschätzung, censura benannt, von hochangesehenen Magistratspersonen, den beiden Zensoren ausgeübt, die bald das Recht bekamen, über die öffentliche und private Lebensführung der Bürger zu wachen und Verschwender . . . aus dem Staate auszustoßen; Schmähling 1937 Untersuchungen zur Sittenaufsicht der Censoren (Titel).

Zensor b: Zwingli 1525 Predigamt (II 1, 324) Ir klugen censores oder momi, das ist, beschätzer oder schelter; Brunfels 1532 Kreüterbuch Vorr. 5" sollich vngenedige censores meiner Bücher; Corvinus 1544 Briefw. 183 das ir censores über meine bücher sein solt; Furttenbach 1635 Architect.univ. Vorr. [3a] Ingleichem ein Scribent, so sich mit seinen opere under die Censores öffentlich gelassen, der horcht nach Publication in der stille; Zeiller 1653 Chron. Sueviae 107 Censores oder Straffherren [in Ulm]; Hagger 1719 N. Saltzb. Kochb. Vorr. 10 Was aber übel-wollende Censores daran taxiren / will ichs ihnen zur Verbesserung gern überlassen; Justi 1758 Staatswirthschaft 1127 Anm. das Amt eines Bücher-Censors; Michaelis 1766 Satyren (W. 1791 I 124) Wie eingeschränkt ist izt des armen Censors Recht! / Sein Vidi schmückt ein Werk, gut, mässig, oder schlecht! / Man darf nur wider Gott, Staat und Moral nichts schreiben/; Muratori 1772 Von d. guten Geschmacke (Ubers.) 32 wenn die Verdienste oder Misverdienste eines Buches nur von der Neigung deßjenigen abhängt, der es in seinem Tagebuch anmerket, oder es als eine schlechte Ware ausruft, weil der Autor bei dem Censor in Ungnade, und letzterer erstem nicht geneigt; ebd. 275 Bücherrichtern oder Censorn; ebd. 516 Bücherrichter oder Censores; 1775 T. M. II 252 daß sie die

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Werke, die sie mit dem entscheidendsten CensorTon als unsittlich und seelenverderblich verdammen . . . nicht einmal gelesen haben; Kindleben 1779 Schluterius 173 Aber lasst euch [Schriftsteller] auch nicht. . . von privilegirten Censoren und vermeintlichen Diktatoren in der gelehrten Republik hofmeistern oder ins Bockshorn jagen; Goethe 1783 Br. (VI 141) Das Ganze übrigens so schön es ist, dünckt mich zu kurz, zu gedrängt, mehr Text als Predigt. Laß diesen Tadel das beste Lob seyn das ich ihr geben kann. Und verzeih mir wenn ich auch mehr ein Individuum aus dem Publiko als einen übersehenden Censor gemacht; Laukhard 1796 Reichsarmee 249 Reichsbüchercensor; Matthisson 1806 Wörlitzer Bl. (VI 258) Ich unterwarf, all so wie alles, was in Versen und Prosa für die öffentliche Bekanntwerdung von mir zu Papier gebracht wird, auch diese kleine Arbeit dem Censorurtheile meines kritischen Freundes, August von Rode; Börne 1822 Schilderungen a. Paris (II 35) Bühnencensoren; Csaplovics 1829 Ungern 111 Ich verzichte auf den Ruhm und auf die Functionen eines Censors der Menschheit, und begnüge mich bloss mit dem Vergnügen, diese in allen ihren Beziehungen und Äusserungen zu beobachten; Glasbrenner 1836 Wien 256 Auf diese Weise wird es immer schwerer, den guten vom schlechten Schriftsteller zu unterscheiden, und deshalb bin ich mit Liebe und Vertrauen an das vorliegende Werk gegangen, habe für die herrlichsten Gedanken Striche gemacht, dem Zensor Mühe zu sparen; Heimen 1845 Mehr als 20 Bogen 163 Die Schriftsteller und Zeitungsredactionen haben nun die schönste Gelegenheit, einerseits die

unläugbaren Vortheile, welche das Institut neben der Censorwirtschaft bietet, auszubeuten; Prutz 1845 Politische Wochenstube 110 Denn was freuten uns jetzt, was kümmerten uns literarisch kritische Fehden? / Selbstredend, wenn nicht von dem jungen Geschlecht ein Federchen etwa dabei ist. / Denn was dieses betrifft, ist interessant; und wenn es ein — Fidibus wäre, / Den der Censor ergriff, eh' der Autor selbst sein Geschäftchen mit Ruhe vollzogen. / Politik allein, so schnattern sie laut und fressen Baisers bei Steheli: / Politik allein, radikale zumal, sonst nichts sei würdig zu schreiben/; ders. um 1848 Pereant die Liberalen 315 Pereant die Liberalen, / Die bei schwelgerischen Mahlen, / Bei gefüllten Festpokalen, / Turm der Freiheit sich genannt / Und die doch um einen Titel, / Zensor werden oder Büttel / Oder gar Denunziant: / Pereant die Liberalen! /; FAZ 24. 6. 1969 Jede Pornographie oder jeder Erotismus sei besser, heißt es in der Erklärung, als die zurückgebliebenen Krankheiten und heuchlerischen Vorstellungen der Zensoren und Moralisten über die Sexualität; Die Zeit 20. 11. 1981 Die Literatur selbst, so vermute ich, wird vielleicht sogar aufleben, auf jeden Fall wird sie sich gegen hundert Fernsehprogramme nicht schlechter behaupten als sie sich gegen Kaiser und Zensoren, gegen Diktatoren und Didaktiker behauptet hat.

zensorisch: Fischart 1572 Eulensp. (II 17) oder die Censorisch saur weiß Catonis (RÜTTER); Rudhart 1826 Censur d. Zeitungen 43 eine andere Art censorischer Willkühr.

Zensur F. (-; -en), im frühen 16. Jh. aufgekommen, über mlat. censura (ecclesiastica) '(kirchenrechtliche) Aufsicht, Überwachung; Maßregelung; Verbot; Bann, Exkommunikation; Suspendierung' zurückgehend auf lat. censura 'Amt des Zensors als eines Vermögensschätzers bzw. Sittenrichters; Prüfung, Untersuchung; Beurteilung, Kritik' (zu censere, —»zensieren); la überwiegend sing, in der Bed. 'von kirchlicher/staatlicher Obrigkeit durchgeführte, institutionalisierte amtliche Kontrolle, Uberprüfung, Überwachung' (vgl. —»Visitation la), zunächst im Kirchenrecht Bezeichnung für jede Art geistlicher Aufsicht und Maßregelung, seit der Erfindung des Buchdrucks bes. für die kirchliche, dann auch staatliche Überwachung (Verbot oder Zulassung) von Druckerzeugnissen (Bücherzensur), vor allem im 19. Jh. zur Zeit der Restauration mit ihren strengen Zensurbestimmungen für Buchdruck und Presse von republikanisch Gesinnten schlagwortartig in Satiren und Kampfschriften verwendet, heute auch auf andere Medien (Film, Fernsehen) ausgedehnt, auch als Bezeichnung für die überwachende Behörde selbst und gelegentlich bildlich verwendet; b seit Ende 16. Jh., meist im Publikationswesen, in der allgemeineren Bed. 'Urteil; Beurteilung, kritische Würdigung, Besprechung, Durchsicht, Kritik', oft gleichbed. mit —» Rezension lb; c seit spätem

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18. Jh., häufig pl. verwendet, im schulischen Bereich für 'Leistungskontrolle; Beurteilung, Bewertung', dann auch 'Note, Prädikat (als Leistungsnachweis)', auch auf-nichtschulische Bereiche (z.B. Sport) übertragen und bildlich verwendet, z.B. im Syntagma Zensuren erteilen 'mit angemaßter Autorität Wertungen aussprechen, Lob und Tadel austeilen'. Dazu seit frühem 18. Jh. (gebucht 1728 bei Sperander) die wohl unter Einfluß von gleichbed. frz. censurer aufgekommene verbale Ableitung zensurieren, bes. regional (österr. und Schweiz.) verwendet in der Bed. 'tadeln; maßregeln; behördlich verbieten, durch behördliche Eingriffe verändern, entstellen, verstümmeln, in eine genehme Richtung lenken' (zu la), vereinzelt auch '(kritisch) beurteilen; kritisieren' (zu lb) (—» zensieren) mit dem Ende 18. Jh. vereinzelt und im 20. Jh. selten belegten dazugehörigen Verbalsubst. Zensurierung F. (-; selten -en); im 20. Jh. die Präfixbildung Vorzensur 'vor der Veröffentlichung, Verbreitung, während der Bearbeitung von Druckerzeugnissen, Darstellungen in Medien u. ä. ausgeübte Kontrolle, Überwachung' (zu la), in jüngster Zeit auch gebucht für 'vor einer Prüfung erteilte Gesamtnote, die zusammen mit dem Prüfungsergebnis die Abschlußzensur bildet' (zu lc). 2 Im 20. Jh. als Fachausdruck der Psychologie nachgewiesen in der Bed. 'psychische Barriere, die das Bewußtwerden verdrängter Impulse, Gedächtnis-und Vorstellungsinhalte verhindert' (Traum-, Ichzensur). Zensur la: Luther-Emser 1521 Str. 134 Item das man alle geistliche straff, censuren und penen, newn elen dieff under die erd vorgraben sol; Waldis 1555 Päpstisch Reych B 3" Vnd spricht, Er [der Papst] hab allein die macht. / Die gottlich schrifft selb aus zu legen / Wurd sich dawider jemand regen. / Die etwas änderst zu verstan / Den strafft er mit Censur vnd ban /; Beuther 1561 Ord. Verzeichnis 1& wie eine rechtgeschaffene censur oder kirchenzucht anzurichten (DWB); Falckrter 1572 Franz. Chron. II 13 hiesz . . . von wegen der censuren und wichtigen straffen . . . das land Flandern in bann thun (DWB); Hulsius 1612 Schiffahrt IX 28 Censur (und Straff); Schupp 1658 Bücherdieb a 7" Er erzehlte Exempel unterschiedene Buchdrucker und Buchführer, welche solcher Diebs-Griffe sich gebrauchet, andern ehrlichen Leuten etwas nachdrucket, theure Eyde geschworen, daß sie nichts ohne consens und censur wollen drucken; ders. 1660 Corinna 5 Als ich den einen Theil an einem Ort in die Censur gäbe; Leihniz 1700 Briefw. II 158 daß keine Bücher von Staats- und geistlichen Sachen ohne Censur zu drucken und zu debitiren; Hönn 1721 Betrugslex. I 288 Wenn sie [Poeten] nach geschehener Zensur eines Carminis noch eines und das andere, welches sie vor der Censur hineinzusetzen sich nicht gethrauet und zum Nachtheil des Tertii gereichen kan, dazu thun; Schnabel 1731 Felsenburg I 315 Kirchen-Zensur; Gessner 1743 Lehrjunge Von. a 6° den über die Censur der Bücher

gesezten Männern; Well 1757 Wie weit gehet das Recht eines Reichs-Fiscals in Ansehung der BücherCensur? (Titel); Estor 1761 Neue Kl. Sehr. I 47 Von dem anfange der bücher-censur; Kreittmayr 1769 Grundriss I (Reg.) Büchercensurkollegium; 1772 Frankf. gel. Anz. 471 Censurrechte; Zimmermann 1785 Einsamkeit III 501 Anm. Zum Exempel die Herren von der Büchercensur an manchen Orten in Deutschland, und vorzüglich in der Schweiz; Knigge 1788 Umgang 195 die, wenn sie an der Spitze einer Büchercensur stünden, am ersten den Kalender confisciren würden; Vulpius 1788 Glossar 152 Zensur, eine billige Richterin, welche hoffentlich gar nichts dawider haben wird, daß ich die Wahrheit gesagt habe; Laukhard 1793 Feldzug II 204 Religions- und Censur-Edict; Montgelas (1799-1817) Denkw. Einl. LXV [1799 in Bayern] Bücherzensurspezialkommission; Fessmaier 1803 Oberpfalz II Vorr. IV denn bei Verfassung des ersten Theils trieb das in ganz Teutschland berüchtigte Censurcollegium sein Unwesen noch, und schlug jeden freimüthigen Gedanken auf den Kopf; Gentz 1819 Br. an Pilat I 409 Mit den Massregeln in Ansehung der Presse werden Sie zufrieden sein. Ich glaube wenigstens, dass sie nicht ganz ungeschickt gestellt sind. Das Wort Censur wird nicht ausgesprochen; und jeder Staat wird seine Oberaufsicht über die Presse einrichten können, wie er will; Buchholz 1821 Taschenb. 227 Die Beschlüsse des Bundestages vom 20sten Sept. wurde in Preußen den 30.

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Oktober bekannt gemacht, und mit dieser Bekanntmachung ein neues Censur-Edikt . . . in Verbindung gesetzt. Es wurde in der Einleitung gesagt: „daß der in Beziehung auf Deutschlands Bundesstaaten übernommenen Verantwortlichkeit nur dann genügt werden könne, wenn alle, auch mehr als zwanzig Bogen starke Druckschriften der Censur unterworfen blieben"; Athenstädt 1823 Eur. II 309 Maaßstab aller Büchercensur, die alles Gemeinnützige begünstigt, und alles Unheilbringende aus der Oeffentlichkeit verbannt; Wit v. Dörring 1827 Lucubrationen 52 Alle die geheimen Polizei-Kunst-Stücke, alle Censuren, alle Verbote; Fetzer 1830 Teutschland I 10 In der Censur erfand Rom ein unfehlbar scheinendes Mittel zur . . . Beschränkung der Presse und der Geister, welches . . . namentlich die Hochschulen, bewachte und argwöhnisch beaufsichtigte; 1832 Bad. Volksbl. 234 Uber das Vorgehen der badischen Zensur (Uberschr.); Tittmann 1832 (Jahrbücher d. Gesch. II 27) Zur Erörterung der Frage über Censur und Pressefreiheit (Uberschr.); Lang Glasbrenner 1833 Reise XI 75 Censurgesetze; 1836 Wien 256 Die deutsche Zensur läßt die besten Gedanken zwischen den Zeilen liegen, und die edelsten Geister gehen unter, weil sie ihre glühende und zündende Wahrheit nicht mit schmutzigen, servilen Lumpen bedecken wollen; weil der Geist des Jahrhunderts ihre Feder leitet und die Zensur die Werke jenes Geistes zerstückelt und vernichtet; Raumer 1842 England III 586 kein Freund des Censurzwanges, die Art der englischen Pressfreiheit ist mir nicht fremd; Weitling 1843 Gerechtigkeit (Übers.) 372 Zensur: Institution, um zu verhüten, dass verbotene Gedanken zu Papier gebracht und verbreitet werden; Heinzen 1845 Mehr als zwanzig Bogen Vorw. o. S. Es muss mit der Zeit zur Ehrensache der teutschen Schriftsteller werden, ihre Schriften der geistigen Polizei möglichst zu entziehen. Will die Censur dem Geist nicht weichen, so muss der Geist der Censur zu entgehen suchen; Prutz 184} Politische Wochenstube 119 Gängelbändchen? In der That: / Vielmehr für eine Kette halten muß ich dies. / Und wenn sie nur zum wenigsten ächt vergoldet wär'! / Bald aber trägt das bischen Flitterschaum sich ab / Und drunter steckt die alte eiserne Censur. /; Laube 1847 Karlsschüler 122 Herzog. Still, und hör' Er zu! Er muß mir künftig Alles zeigen, was Er schreibt, ehe Er es durch den Druck oder sonstwie veröffentlicht. Schiller. Censur! Herzog. Damit ich es entweder unterdrücken oder Ihm die nöthigen Aenderungen angeben kann. Schiller. Römische Censur! — Aber wir jungen Leute haben ja eine ganz andere Welt in unserem Herzen, als die wirkliche Welt, als die Welt Euer Durchlaucht ist!; Nestroy 1848 Krähwinkel 535

Pfiffspitz: Revolution in Krähwinkel? Dahin kommt es wohl nie! Ultra: Wer sagt Ihnen das? Alle Revolutionselemente, alles Menschheitempörende, was sie woanders im großen haben, das haben wir hier im kleinen. Wir haben ein absolutes Regierungsformerl, wir haben ein unverantwortliches Ministeriumerl, ein Bürokraturl, ein Zensurerl, Staatsschulderln . . . also müssen wir auch ein Revolutionerl und durchs Revolutionerl ein Konstitutionerl und endlich a Freiheiterl krieg'n; 1849 Reichsverfassung § 143 (31) Die Pressefreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maßregeln, namentlich Zensur, Konzessionen, Sicherheitsbestellungen, Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien, Postverbote oder andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werden; 1850 Preußische Verfassung Art. 27 (42) Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Die Zensur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Pressefreiheit nur im Wege der Gesetzgebung; Szarvady 1852 Paris I 309 Censurgefängnisse; 1863 Bilder a. Paris II 236 überhaupt nur die Erlaubniß zum Drucke seiner Broschüre erhalten konnte, und nachdem er sie endlich erlangt, mußte die Arbeit selbst noch der Censur-Commission vorgelegt werden, die gewaltig daran beschnitt und verstümmelte. Was übrig geblieben und im Buchhandel erschienen ist, kann daher nur als ein geringer Theil des Ganzen angesehen werden; Gutzkow 1878 Longinus 74 Sind mir nicht auch in Wien fast alle meine Stücke aus „Censurrücksichten" abgelehnt worden?; Frommel 1893 Lenz 28 Censurprotokolle (schuldige Gemeindeglieder wurden vor den Kirchenvorstand oder Pfarrer und Schultheiss geladen und dort censurirt, d.h. zum Theil abgestraft); Treitschke 1897Politik 1173 Die Censur ist päpstlichen Ursprungs; ebd. 176 Die Censur ist heute dermaßen gerichtet, daß an ihre Wiederkunft sich nicht mehr denken läßt; Tucholsky 1919 Politische Satire 134 Die Zensur ist in Deutschland tot — aber man merkt nichts davon. In den Varietés, auf den Vortragsbrettern der Vereine, in den Theatern, auf der Filmleinwand — wo ist die politische Satire? Noch ist der eingreifende Schutzmann eine Zwangsvorstellung, und daß ein kräftiges Wort und ein guter Witz gegen eine Regierungsmaßnahme aus Thaliens Munde dringt, da sei Gott vor! Denn noch wissen die Deutschen nicht, was das heißt: frei — und noch wissen sie nicht, daß ein gut gezielter Scherz ein besserer Blitzableiter für einen Volkszorn ist, als ein häßlicher Krawall, den man nicht dämmen kann. Sie verstehen keinen Spaß. Und sie verstehen keine Satire; 1919 Weimarer Verfassung

Zensur Art 118 (97) Jeder Deutsche ha: das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. — Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig; Voss. Ztg. 20. 12. 1930 Zuckmayer gestern bei der Kundgebung des Kampfausschusses gegen Zensur . . . : Zensur oder Nicht-Zensur ist heute wie immer keine Frage des guten Willens, der Verständigung, sondern einzig und allein der politischen Macht; Gebauer 1932 Kulturgesch. 574 Filmzensur; Berl. Illustr. Nachtausg. 2. 3. 1934 Einmarsch in Straßburg. An der Spitze die Amerikaner. Zensurbefehl: „Die Geschichte in Ordnung bringen!" In der Presse las man dann, daß an der Spitze der einziehenden Truppen Foch ritt!; Lokal-Anz. 7. 7. 1934 Gleichzeitig die merkwürdige Zensuranweisung: „Nichts über die Mutter der jungen Frau Wilson bringen, nichts über den Ort, wo der Präsident seine Frau kennengelernt hat." — Es ist in diesem Augenblick besonders interessant, die Szene zu verfolgen, die im Zensurbüro selbstverständlich große Aufregung verursacht hat. Wilson hat Clemenceau angeschrien; Dtsch. AZ. 3. 1. 1935 Schwieriger noch liegt der Fall bei Tonfilmen, die noch nicht zur Uraufführung gekommen sind. Hier ist die Zensurkarte, die mitversteigert wird, Grundlage des Taxwertes. Aus ihr kann man ersehen, ob der Film für Jugendliche erlaubt ist, was für die geschäftliche Auswertung von Bedeutung ist; ebd. 22. 1. 1935 Nur hin und wieder schickte er vom Pressebüro aus irgendein offizielles gleichgültiges Telegramm nach Wien mit dem offiziellen Zensurstempel. Man hatte ihn damit in der unglaublichsten Weise schikaniert, monatelang fast alles gestrichen; Grundgesetz 1949 (112) Art. 5 Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten . . . Eine Zensur findet nicht statt. Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre; Süddtsch. Ztg. 3. 4. 1954 Die Bundesregierung stellte sich am Freitag in der großen Filmdebatte des Bundestages schützend vor Familienminister Würmeling, dessen Forderung nach einer „echten Volkszensur" für den Film, ausgesprochen in einer Rede vor dem Deutschen Familienbund, allgemeines Aufsehen erregt hatte. In der Erwiderung auf eine große Anfrage der SPD, die diesen Begriff geklärt wissen wollte, stellte Bundesinnen-

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minister Schröder namens der Bundesregierung fest, die von Würmeling geforderte „Volkszensur" im Filmwesen dürfe nur als Ablehnung „bedenklicher Filme" verstanden werden, nicht aber als Präventivmaßnahme gegen das freie künstlerische Schaffen; Stuttgarter Ztg. 21. 3. 1959 Ihr Artikel „Sittenzensur" . . . veranlaßt mich zu nachstehenden Bemerkungen: Hat es nicht auch eine recht erfreuliche Seite, zu hören, daß 54 Prozent der Befragten sich für ein Verbot von sittengefährdenden Büchern oder Filmen durch Zensuren aussprechen? Denn darin kommt doch zum Ausdruck, daß in dem, was gegenwärtig auf diesen Gebieten geboten wird, vieles als faul und zersetzend empfunden wird; ebd. 28. 3. 1968 Einem Strafgefangenen wird vorgeworfen, seine Stellung als Aushilfskraft des Zensurbeamten dazu benutzt zu haben, Geldbeträge aus eingehenden Briefen unter Umgehung der Anstaltszahlstelle direkt an Gefangene vermittelt und in einem Fall 20 Mark aus einem Brief entwendet zu haben; FAZ 24. 6. 1969 Protest gegen Filmzensur (Uberschr.) Die AACI, der Verband der italienischen Filmautoren, hat ihre Vertreter aus allen amtlichen Ausschüssen zurückgezogen. Damit wendet sie sich gegen den in Gang befindlichen Versuch, die Macht des Staates zur Unterdrückung der künstlerischen Freiheit zu verwenden. Jede Pornographie oder jeder Erotismus sei besser, heißt es in der Erklärung, als die zurückgebliebenen Krankheiten und heuchlerischen Vorstellungen der Zensoren und Moralisten über die Sexualität; Die Zeit 20. 3. 1981 Etwas Zensur gefällig? (Überschr.) . . . Er wolle prüfen, ob „gesetzliche Maßnahmen" gegen Sendungen von draußen möglich seien; Mannh. Morgen 30. 9. 1981 „Eine Zensur findet nicht statt" (Überschr.) Die Freiheit der Presse liegt schließlich auch darin, daß diese sich selbst zuweilen kritisch auf die Finger sieht. Ohne eine Art freiwilliger Selbstkontrolle — ein wenig „Nestbeschmutzung" inbegriffen — würden sonst gedruckte wie elektronische Medien allzu selbstgefällig in ihrer Rolle als Informationsträger . . . erstarren. Vorzensur: Berl. Tagebl. 21. 6. 1931 Heimliche Vorzensur? (Überschr.) Einer raunt es dem anderen zu, dass Filmhersteller das Drehuch, ehe sie es der Aufnahmeapparatur übermitteln, an angebliche oder wirkliche Sachverständige weiterleiten mit der Frage, ob von Seiten der Filmzensur ein Verbot zu erwarten sei. Das wäre also eine absichtlich von den Interessenten herbeigeführte heimliche Filmvorzensur; Bahr 1933 Volk 30 Vorzensur; N. Z. Z. 11. 8. 1971 Das Kinogewerbe untersteht in der Schweiz der Handels- und ' Gewerbefreiheit, die von den Kantonen aus Grün-

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den der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Sittlichkeit polizeilich eingeschränkt werden kann. So gibt es Kantone mit einer Vorzensur der Filme, zum Beispiel die ganze Westschweiz, während andere — wie Bern, Zürich, Basel-Stadt und BaselLandschaft — ohne eine solche auskommen; 1974 'Weltgeschichte 1211 Nach der nationalsoz. „Machtübernahme" . . . Knebelung jeder freien Meinungsäußerung (keine Vorzensur der Presse, aber durch Organe der NSDAP und Reichspropagandaämter lückenlos und schärfstens durchgeführte Nachzensur); Die 2eit 29. 1. 1982 Eine Vorzensur wird [in Polen] eingeführt, um die Materialien für Wissenschaft und Lehre zu kontrollieren. zensurieren: Szarvady 1852 Paris I 391 Dieser censurirte sein Manifest an die Nation, er strich alle Stellen, die ihm zu republikanisch, zu bindend für die Zukunft schienen; Frommel 1893 Lenz 28 Censurprotokollen (schuldige Gemeindeglieder wurden vor den Kirchenvorstand oder Pfarrer und Schultheiss geladen und dort censurirt, d. h. zum Theil abgestraft); Rundt 1929 Revue-Girl 177 zensuriert; Münch. N. N. 1. 10. 1940 Der stark zensurierte Bericht, den United Preß am Montag vormittag ausgab über diesen anscheinend schwersten Nachtangriff, den London bisher erlebt hatte, spricht eine sehr eindeutige Sprache; Dtsch. AT.. 2. 7. 1944 Aber schon jetzt sind die feindlichen Kalkulationen in Verwirrung geraten durch den Einsatz der Vergeltungswaffe Nummer 1. Selbst die zensurierten Andeutungen, die aus England durchsickern, lassen erkennen, daß die Wirkung von „ V I " groß ist. Zensurierung: Crome 1791 Wahlcapit. 21 in Censurirung, oder Beurtheilung und Confiscirung der Bücher; Heuss 1951 Qualität 58 Selbstzensurierung der Qualität. Zensur lb: Brummer 1593 Tragicomoedia a [über die Komödien oder Tragödien] gibt es vil vnnd mancherley vngleiche widerwertige vrtel vnd Censuren; Hock 1601 Blumenfeld II 14 Vnd demselben nachzusetzen, daß ich nun in diesem gegenwertigen Tractatlein mich der Höfligkeit nit mehrer genähert, sondern etwa die schwartze Dinten doch in genere auß schwartzem leben oder Blut gefast, das thue ich deß gutthertzigen Lesers vernünfftiger Censur vnnd vnparteischen entscheiden«, da man alles recht an, auff die Beschluß der inserirten Gesetzen vnnd nachdencken sinet, vnderwerffen, Nit zweiffelendt es werde ein jeder verständiger, dises alles, daß es auß trew gentzlichen gemeint, selbst bescheidentlich erkennen, vnnd dannen hero solches recht vnnd wohl zum

besten vermercken können, dem aller ich bin vnd bleib gantz ergebner; Sommer 1608 Ethnographia III A 6a das ich euere Censur vnd vrtheil über das verehrte Büchlein hören vnd vernehmen möge; Porta 1612 Magia (Übers.) A 2h Vber das seyn auch viel Ding durch jhre [der Neider] scharffe Censur vnd examen getilget, zerrissen vnd von abhänden kommen, nit ohne meinen geringen Schmertzen; Furttenbach 1630 Architect. mart. Vorr. 2" Sintemalen mich billich gedluchte / was der gwaltigen Arti Militari auff Sein gewise weiß on maß dienlich were / selbiges solchen Patronis zur Censur, und defension unterzugeben /; Warmund 1664 Geldmangel 669 dasselbe / so sie nicht wissen / verächtlich halten / und ihnen allein große Wissenschafft und Weißheit zumaessen / alles durch ihre Hechel ziehen / und unter ihre Censur haben wollen /; Hartmann 1678 Anatomie 70 (damit wir nun zur Censur, in vorgenommenem Methodo bey jedem Capitel eilen); Riemer 1679 Maulaffe Vorr. o. S. Vielgünstiger Leser! Hjer übergebe ich dir ein kurtzweilig Buch zulesen, in welchen ich lauter Politische Maulaffen deiner vernünfftigen Censur vorlege; Lebenwaldt 1860 Teufels List VII 89 Kircherns macht gar ein scharffe Censur und sagt / man soll dergleichen magnetische Affter Churen mit dem Scheiterhauffen straffen; Winckler 1696 Edelmann 562 Was auch noch vor diesem der Kayser Sigismundus auf dem Concilio zu Costnitz / für eine schöne Censur unter den dreyen säubern Römischen Päbsten gehalten; Thomasius 1701 Kl. Sehr. 22 daß unter denen, so diesen meinen Discours lesen werden, fast die Helffte dieses ihre erste censur werden seyn lassen; ebd. 51 Was von diesem Buch absonderlich zu halten? wie die Censur so der Jesuite Bonhours davon gefället zubeantworten sey?; ebd. 56 Ich will demnach die obengenannten censuren, nebst meinen Beantwortungen, als Zeugen meiner damaligen Schwachheit . . . zum Exempel andrucken lassen; ebd. 61 Die Französische censur über mein Programma ist überaus galant; Sturm 1714 Anw. (Architektur) F" [sich mit seinen Gebäudeplänen] nach den Reguln und Proportionen der Goldmannischen Anweisung . . . und aller Baumeister Censur, wenn sie nur in höfflichen, bescheidenen und vernünfftigen Gräntzen bleibet, gerne unterwerffen; Musig 1726 Licht d. Weisheit I 102 Und ob er schon viele Censuren über sich nehmen müssen . . . indem er viele und grosse Irrthümer gehabt; Philippi 1743 Reimschmiedekunst 18 Probestücke, die ich Ihnen, meine Herren, hierdurch zu überreichen die Gnade hab, nach dero vorhergängigen hocherleuchteten Zensur; Muratori 1772 Von d. guten Geschmacke (Ubers.) 26 Wie die Censuren der Bücher, und die Schuzschriften sollen abgefasset

zentral sein; ebd. 27 Hier unterscheide ich das Verleumden, den Stolz und andere unlautere und rauhe Ausdrücke in den Censuren von einem gewissen erlaubten Beiß, gewisser schönen Art die Meynung anderer zu tadeln; ebd. 672 Dahin dienen sonderbar die Kritiken, Apologien, und andere Recensionen, Censuren, abermalige Vertheidigungen; Horkheimer u. Adorno 1947 Dialektik 7 Auch sofern die Menschen ihm [dem politischen Wahn] noch nicht verfallen sind, werden sie durch die Zensurmechanismen, die äusseren wie die ihnen selbst eingepflanzten, der Wahl des Widerstandes beraubt. zensurieren: nach 1847 Nat. Ztg. XX 42 Redner censuriert die Art u. Weise, die über einzelne Ggstde des Etats diskutiert wird (SANDERS 1871). Zensurierung: Zfrz. Sprache 54 (1931) 127 Eine Zensurierung eines wissenschaftlichen Beitrages mit der Note 'Meisterwerk' ist natürlich stets subjektiv. Zensur lc: Braunschw. SO II (1787) 49822 wenn den eitern . . . das resultat der censuren zugeschickt wird; Gedicke 1789 Schulschr. I 97 vornehmlich aber öffentliche Erinnerung und Beschämung bei der monatlichen Censur, von der ich sogleich Nachricht geben will; Spielhagen 1866 In Reih u. Glied I 8 Auf der Censur . . . steht: Lateinisch — mittelmäßig; Englmann 1871 bair. Volksschulwesen 205 Censurbuch (Notenbuch); Stuhr 1877 Jugendzeit II 46 feierliche „Censur", die Austheilung der Vierteljahrszeugnisse; Polenz

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1899 Wald 67 Nach einigem Zögern und Winden kam es denn heraus: er hatte keine guten Zensuren. — Unter Tränen versprach der Junge seiner Mutter, daß er sich in Zukunft bessern wolle. Sie war ihm nicht einen Augenblick böse, die schlechte Zensur machte auf sie nur geringen Eindruck; Graf 1912 Schülerjahre 82 Mit Humboldt, dem Charakterologen, hatte Ahrens die Gabe glücklicher Beobachtung und Charakterisierung von Persönlichkeiten gemein. Berühmt waren seine „Mappenzensuren" und die klugen Abschiedsworte, die er den Abiturienten . . . mitzugeben pflegte; Lokal-Anz. 28. 2. 1933 Die Gestaltung der allgemeinen Zensuren. Individuelle Werturteile (Überschr.) Das „Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen" gibt in seiner neuesten Nummer einen Erlaß über die Gestaltung der allgemeinen Zensuren und Aushändigung der Weihnachtszensuren bekannt; Heuss 1947 Gestalten 286 Wenige Leute entgehen seinem erbarmungslos scharfen Blick, die Zensuren, die er Mitarbeitern und Fachgenossen erteilt, sind zumeist herb, oft sarkastisch. Zensur 2: Imago 1 (1912) 6 „Zensur" [Freud]; Freud 1915 Das Unbewußte 13 In positiver Darstellung sagen wir nun als Ergebnis der Psychoanalyse aus, daß ein psychischer Akt im allgemeinen zwei Zustandsphasen durchläuft, zwischen welche eine Art Prüfung (Zensur) eingeschaltet ist. In der ersten Phase ist er unbewußt und gehört dem System Ubw [Unbewußtes] an; wird er bei der Prüfung von der Zensur abgewiesen, so ist ihm der Ubergang in die zweite Phase versagt; er heißt dann 'verdrängt' und muß unbewußt bleiben; ebd. 6 (1920) 6 „Traumzensur".

z e n t r a l A d j . , im f r ü h e n 17. J h . aufgekommene Ableitung v o n —» Zentrum (vgl. älteres gleichbed. f r z . central; lat. centralis), zunächst in der F o r m zentralisch, seit A n f a n g 1 8 . J h . als Bestimmungswort in Zss., erst seit spätem 1 9 . J h . auch als attribut. A d j . in der heutigen F o r m ; a häufig v o n lokalen Beziehungen zwischen Gegenständen in der Bed. 'im (geographischen) Mittelpunkt, in der Mitte liegend, gelegen', auch im Syntagma z e n t r a l gelegen 'in der Mitte (und daher verkehrsgünstig) gelegen' (vgl. —»Zentrum b), und f ü r 'die Mitte, den Mittelpunkt (von etwas) bildend, ausmachend', auch 'auf den (geometrischen) Mittelpunkt bezogen, ausgerichtet, Mittel-', f r ü h e r als Fachausdruck der Geometrie f ü r 'den Mittelpunkt des Kreises betreffend' (vgl. —» Zentrum a) (Ggs. peripher); als Bestimmungswort in teilweise fachspr. und übertragen verwendeten Zss. w i e (anfangs bes. Z e n t r a l s o n n e ,

-feuer) Zentrallage, -bahnhof, Zentralpunkt '(geographischer/geometrischer) Mittelpunkt' (vgl. b), Z e n t r a l b a u '(Kirchen-)Bau, bei dem sich alle Teilräume um einen sie beherrschenden Mittelraum gruppieren', Z e n t r a l b e w e g u n g 'unter Einwirkung einer Zentralkraft v o n einer Masse ausgeführte krummlinige Bewegung',

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zentral

Zentralkraft 'Kraft, deren Vektor zu einem festen Punkt hin- oder von diesem fortweist' und in geographischen Namen wie Zentralasien, -amerika, -europa. b Von daher seit Anfang 19. Jh. vor allem von hierarchischen Beziehungen zwischen Gegenständen, bes. im politischen und verwaltungstechnischen Bereich, in der Bed. '(von einer übergeordneten Stelle aus) die leitende Funktion in einem bestimmten Bereich ausübend; von einer leitenden, steuernden Stelle / obersten, übergeordneten Instanz aus erfolgend, ausgehend oder zu dieser hinführend und (daher) für den entsprechenden Bereich maßgeblich, zuständig' (Ggs. untergeordnet) (vgl. —» Zentrum b, —»Zentrale la, —»Zentralisation); vor allem als Bestimmungswort in der Bed. 'Ober-, Haupt-' in Zss. wie Zentralstaat 'Staat, bei dem die Regierungsgewalt und Verwaltungskompetenz bei einer obersten Instanz konzentriert ist', auch 'totalitärer Staat' (vgl. —> Zentralisation, —> Zentralismus), Zentralgewalt 'oberste (in einem Punkt konzentrierte) Gewalt in einem (Bundes-)Staat oder deren Inhaber', Zentralbehörde 'Behörde mit einem sich auf den ganzen Staat erstreckenden Tätigkeitsbereich', Zentralverband 'Dach-, Spitzenverband', Zentralorgan 'offizielles Presseorgan einer Partei; Massenorganisation (in sozialistischen Ländern)', Zentralkomitee (ZK) 'höchstes leitendes Gremium, Führungsgremium, bes. einer marxistisch-leninistischen Partei (in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern mit vergleichbaren Gremien)', Zentralnervensystem 'übergeordneter (durch Zusammenballung von Nervenzellen des Gehirns und des Rückenmarks gebildeter) Teil des Nervensystems'; zentralgesteuert, -gelenkt 'von einem Punkt, einer Stelle aus gesteuert, gelenkt', bes. in Syntagmen wie zentrale Verwaltung, Planung, Leitung und häufig in Namen von Verbänden, Körperschaften wie Zentralverband des Deutschen Handwerks, Zentralrat der Juden in Deutschland; gleichzeitig, auch ohne hierarchisierende Wertung, in der Bed. 'an einer (Anlauf-) Stelle als dem Mittelpunkt zusammenlaufend, gesammelt; Sammel-, Gesamt-; Gemeinschafts-, Kollektiv-' (Ggs. einzeln, punktuell), bes. als Bestimmungswort in Zss. wie Zentralbibliothek, -katalog 'zentraler Katalog, der die Bestände mehrerer Bibliotheken erfaßt, Gesamtkatalog', Zentralpunkt 'Sammel-, Treffpunkt; Brennpunkt' (vgl. a) und Zentralheizung 'Heizung, bei der die Versorgung eines Hauses / von Häusern mit Wärme einheitlich von einer zentralen Stelle aus erfolgt; Sammel-, Fernheizung' auch 'Heizkörper der Zentralheizung' (vgl. -^Zentrale l a ) . c Seit Ende 19. Jh. vor allem von gedanklichen Beziehungen zwischen Gegenständen in der übertragenen Bed. 'im Mittel-, Brennpunkt des Interesses stehend' und bes. auch 'wegen seiner Wichtigkeit, Bedeutung an erster, vorderster Stelle stehend; äußerst wichtig, bedeutend, entscheidend, vorrangig, wesentlich, hauptsächlich, fundamental, essentiell' (Ggs. nebensächlich, zweitrangig, peripher), häufig abgeflacht als Modewort verwendet, z.B. in Syntagmen wie zentrales Anliegen, Problem, zentrale Frage, als Bestimmungswort in der Bed. 'Haupt-, Kern-' in Zss. wie Zentralfigur, -thema. Dazu die seit Anfang 19. Jh. selten, erst in jüngster Zeit häufiger belegte subst. Ableitung Zentralität F. (-; ohne PI.), anfangs für 'Bezogenheit auf einen (geographischen) Mittelpunkt', vereinzelt bildlich verwendet (zu a), dann bes. für 'Mittelpunkts-, Zentrumscharakter von Orten; Zentralörtlichkeit', z.B. in der Zs. Zentralitätsverlust 'Verlust der zentralen Lage, des zentralörtlichen Charakters durch Gebiets-, Verwaltungs-, Kreisreformen' von Städten, Gemeinden (zu b).

zentral zentral a: Galgemayr 1626 New proport. circkel 18 der circkel [muß] . . . mit dem centralischen spitz auf FG . . . hin und wider gewendet werden (DWB); Glauber 165} Op. Min. II 25 das centralische oder eusserliche Elementische Fewer . . . angezündet; ebd. 39 Dann das centralische Fewer in dem Erdboden, welches von dem öbern Gestirn hinunter gewircket vnd angezündet wird, ist wie das Hertz in einem Thier zu rechnen; Franckenberg 1676 Nosce te ipsum 38 Ja wie das centralische, allenthalben gefangen liegende, verborgene, begreiff- vnd unbegreiffliche uhralte, natürliche, gebenedeyte allgemeine Dreieck zu erledigen und loszumachen, wird die durch diesen Führer und Leiter eröffnet; Kuhlmann 1688 Göttl. Offenb. 26 nach dem feuer (dem Wesen) kam ein stillsanftes sausen (das centralwesen) (DWB); Leibniz 1700 (II 339) das centralische Feuer; Gichtel 1700 SendScbr. I 224 centralisches; Marperger 1711 Beschr. d. Messen I 56 weil sie [die europäischen Händler] an Franckfurt einen Centrai-Platz finden; L. A. Gottsched 1736 Pietisterei 112 das Centralische Feuer der Selbstheit; 1748 Abhdlg. v. d. FeldSchantzen 39 Angle du Centre, der Central-Winckel; Saussure 1781 Reisen durch d. Alpen (Übers.) II 202 die höchste Kette [der Alpen], welche ich die Centraikette nenne; Musäus 1782— 87 Volksmärchen IV 54 die centralkraft der erde (DWB); Cogniaczo 1794 Geständn. II 202 Centraiposition; Fr. Schlegel 1797-1800 Fragm. (Baxa, Ges. 63) Kein Künstler soll allein und einzig Künstler der Künstler, Centrai-Künstler, Director aller übrigen seyn; Görres 1797- 98 Blatt I 158 in Italien Centraipunkt der politischen Welt; Lavater 1798 Phys. Fragm. IV 81 genie . . . nenns zentralgeist, Zentralfeuer, dem nichts widersteht (DWB); Brun 1799 Sehr. I 248 Dieses ganze Thal, welches sich in einem halben Monde um die ewige Gründung der Centrai-Gebirge der Alpen schmiegt; Schiller 1800 W. P. (XV 106) Die zentralische Sonne; Matthisson 1801 Lausanne V 304 Centraikette der Alpen; 1802 Patriot. Archiv II 2,213 den stolzen Wahn . . . Frankreich zur Central-Werkstatt der Umkehrung aller Dinge zu machen; 1803 Br. v. d. Univ. 31 Die Pendul- und Centraibewegungslehre; Hufeland 1822 Sympathie 9 Auch die Richtung der Blüthen und Blätter nach der Sonne und die Erscheinung, dass Pflanzen, die an dunkeln Orten stehen, das Tageslicht suchen, sind merkwürdige Äusserungen jener Sympathie der vegetabilischen Welt mit dem Centraikörper unseres Planetensystems; ebd. 60 an dem Centraiende des Muskelnerven; Beckstein 1832 Arabesken 42 Kunst ist die Centraisonne, um die sich gleich Sternen Millionen feurige Herzen drehen, und ihre Strahlen trinken; Schlözer 1845 Jugendbr. 48 Zentralpunkt aller belgischen Eisenbahnen [ist

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Mechteln]; Virchow 1849 Abh. 8 Centraiapparate des Gehirns; Schlesinger 1852 London I 11 das gemeinschaftliche Wohnzimmer der Familie, der Centraipunkt des abgeschlossenen häuslichen Staates; 1855 Prutz' Museum I 239 In Bozen, dem Centraipunkt vieler Thäler; ebd. II 521 die alte Freie Stadt Frankfurt als Centraipunkt einer Windrose von Eisenbahnen; 1856 Hausblätter I 306 Paris, die alle ihre Reichthums- Luxus- und Schönheitsstrahlen zusammenfassende Centraisonne der französischen Hauptstadt und damit Frankreichs selbst; Farke 1866 Gesch. d. mod. Geschmacks 200 der Altar, als der Centraipunkt der Kirche und des kirchlichen Lebens; Schlözer 1871 Amerikan. Br. 89 das hispanisierte Zentralamerika; 1874 Grenzboten IV 183 Interessen der mannigfaltigsten Art haften an den weiten, noch wenig bekannten Gebietsstrecken, welche man unter der Benennung „Centraiasien" zusammenfaßt; Ratzel 1876 Städtebilder a. Nordamerika 134 Boston, durch seine centrale und fast insulare Lage; Katscher 1888 Nebelland 131 in einem sehr guten, central gelegenen Stadtviertel; Lingg 1899 Lebensreise 149 Wie ein flammender Zentralkörper, belebend und versengend, erschien es [Paris] mir; Blume 1899 Wehrkraft 147 Für eine Macht von der centralen Lage Deutschlands sind Fälle dieser Art leicht denkbar; Rideamus 1902 Werdegang o. S. Das Haus der guten, alten Tante war stets ein Centraipunkt für alle Verwandte; 1916 Deutschland I 389 das zentrale Kernland im Weltreiche Karls des Großen Johnston 1917 Menschenverst. 51 würde jeder Versuch der Vereinigten Staaten sich im Handel mit Zentralamerika . . . eine bevorzugte Stellung anzumaßen . . . von einem europäisch-japanischen Bündnis . . . zurückgewiesen werden; ebd. 63 Ungarn würde . . . am Klügsten tun, sich dem allgemeinen Plan eines großen Zentraleuropäischen Bundes anzuschließen; Waldeyer 1926 Sportmädel 25 weil ich zentraler wohne; Niekisch 1929 Gedanken 222 Deutschland, als Europas Zentralland, sei von Natur aus Gefahrenherd; Geopolitik 8 (1931) 33 Zentrallandschaft des Wiener Beckens; Lokal-Anz. 12. 3. 1933 Wir alle kennen die Sonne als das große Zentralfeuer unseres Planetensystems; Berl. IIlustr. Nachtausg. 10. 6. 1933 Er wollte . . . den Versuch machen, durch die großen zentralasiatischen Wüstengebiete nach Peking zu gelangen; Lokal-Anz. 15. 11. 1934 Prachtvolle Autostraßen, neue Bahnlinien, eine Funkstation, ein Zentralflughafen . . . sind sein Werk; ebd. 28. 12. 1934 eine neue'Heimat zu schaffen, die, geographisch gesehen, gleichzeitig auch zentraler als Friedrichshafen liegt; Dtsch. AT.. 7. 1. 1935 um Deutschland zu einem Verständnis zu verhelfen, daß kein Land mehr als es selbst aus einer Beruhigung von

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zentral

Zentraleuropa gewinnen werde; Münch. N. N. 11. 1. 1938 führt er von 1926 bis 1928 die zweite Zentralasienexpedition . . . durch; ebd. 14. 5. 1939 die [Einzelszenen] sich nach der Form der Dichtung allerdings nur wie Planeten, abgeschleuderte Splitter, um die Zentralsonne Friedrich bewegten; 1945 Freundesgabe f. Korrodi36 In der Malerei der Frührenaissance war . . . in der Eroberung des Raums mit Hilfe der neu entdeckten Zentralperspektive ein stark intellektuelles Moment enthalten; NZ. (Basel) Ii. 3. 1950 Da der Druckfall über Russland inzwischen zu einer Zentralzyklone geführt hatte, gelangte die Kaltluft in die Rückseitenströmung der russischen Zyklone und verursachte . . . eine kräftige Abkühlung; Süddtsch. Ztg. 14. 6. 1951 haben nicht nur wir Deutschen unter den . . . Auswirkungen des Hitlerschen Zentralstaates zu leiden gehabt; ebd. 31. 5. 1960 Am Centraibahnhof gehen . . . jeden Tag 80 Züge ein und aus; Stuttgarter Ztg. 8. 1. 1966 soweit sie [Heimatvertriebene] in Bauerngemeinden untergebracht wurden, wanderten sie fast ausnahmslos wieder ab — in die Kreisstädte und in die zu ihrem Einzugsgebiet zählenden Gemeinden, in die kleineren Städte und in die „zentralen Dörfer"; Offenburger Tagebl. 11. 1. 1968 Rolli weist darauf hin, daß bei den Neubauten . . . der Längsbau vorherrschend war . . . Damit sei der Weg, wenn auch nicht zum reinen Zentralraum, so doch zum zentralisierenden Raum frei geworden. Die Kirche der Verklärung Christi auf dem Feldberg gehöre zu den eindrucksvollsten Bauten dieses Typus. Zentralität: Müller 1804 Briefw. 377 Centralität; 1817 Fortschritte nationalökonom. Wiss. 19 Anm. wenn . . . die Verhältnisse der Dinge unter sich gestört sind, und ihr System (wir möchten sagen ihre Centralität, ihre Beziehung auf einen vaterländischen Mittelpunkt) unterbrochen ist; Görres 1836-42 Mystik III 514 Centralität (KEHREIN); Rümelin 1881 Reden III 34 Kant hatte eine besondere Vorliebe für das Phlegma; es erschien ihm als das eigentliche Temperament des Gelehrten . . . er sieht darin besonders die Eigenschaft, nicht leicht und rasch, aber anhaltend bewegt zu werden, also das was wir Centralität genannt haben. zentral b: 1800 Berl. Archiv 1230 Centraimaschinerie [der geplanten Cisrhenanischen Republik] in Bonn; 1805 Paris 136 Centrai-Museum der Künste . . . welches sich im Louvre befindet; Rehfues 1809 Br. a. Italien II 123 Rom als den Zentralpunkt der katholischen Religion; Behr 1810 Staatslehre II 125 muß am Sitze des Regenten . . . für jeden Verwaltungszweig, aus dem übrigen

Theile der ihm zugetheilten Subjekte, eine eigene Zentraloberbehörde geschaffen werden, welcher alle . . . Mittelbehörden, und . . . auch alle . . . Unter- und Primarbehörden desselben Departements unterzuordnen sind; Obernberg 1816 Reisen, Isarkreis IV 365 königliche Hof- und CentraiBibliothek; Müller 1816 München I Von. X Zentral- und Hauptstadt; Steffens 1817 gegenwärtige Zeit I 150 London bildete sich als der Centraipunkt der nationalen Vereinigung; 1833-36 Histor.-polit. Zschr. II 335 Es ist aber London in einem ganz andern Sinne Centraistadt, wie Paris: man könnte sagen Paris ist Selbstherrscherin, London übt eine übertragene Gewalt; Fallmerayer 1839 Aufs. II 3 gab es . . . in jeder Weltperiode einen Centrallebenspunct, sei es Idee oder materielle Macht; 1839 DVjS I 2 dass es uns an grossen überschaubaren Centraiorganen des Nationalverstandes fehlt; 1840 Urania 307 nach der Residenz zu reisen, weil sich am Sitze der Centralgewalt eher ein Erlass . . . hoffen liess; Arndt 1842 Erinn. 384 Als Russlands Heere Deutschlands Gränzen betraten . . . ward von Preussen und Russland . . . eine . . . Centralverwaltung eingesetzt, an deren Spitze man den Minister vom Stein stellte; Meyer 1846 Programm eines deutschen Zentralbahnnetzes (Titel); Jordan 1847 Wanderungen 57 Centralcomite's der reactionären Jakobiner; Perthes 1848 briefl. (Bundestag 92) Die Nationalversammlung hat über die provisorische Zentralgewalt verhandelt; Buss 1849 Einheit 8 Anhänger des Centraistaats der preussischen Hegemonie; Kohl 1852 südöstl. D. 1363 zu einem grossen europäischen Centrai-System vereinigt; Mündt 1857 Kaiser-Skizzen II 96 das napoleonische System dereinst auch noch zu einer Centraistätte der Wiedergeburt für den . . . modernen Dichter- und Denkergeist zu machen; Treitschke 1859 Gesellschaftswiss. 78 Der deutsche Bund, dessen politische Bedeutung nur zum kleinsten Teile in dem Wirken seiner Zentralgewalt liegt; Eilers 1860 "Wanderung V 217 hätten Preussen und Österreich den Centraipunkt der Verhältnisse des Continents bilden . . . können; Riehl 1861 Land 91 So knüpft sich gerade an das Straßenbauwesen ein fortlaufender Competenzstreit zwischen Central- und Localbehörden; Prittwitz/Gaffron 1865 Befestigung 621 Man hat diese Art der Landesbefestigung auch wohl das System der Centraifestungen genannt, indem man sich das ganze Land in eine Anzahl größerer und kleinerer Bezirke getheilt denkt; 1867 Beschr. OA. Tübingen 435 ein der Gemeinde gehöriger Centralobstgarten; Springer 1870 Berl. Prospekte 80 Verordnungen des Centraibureaus; Rümelin 1875 Reden 1352 Centraipunkte der Gewerbe und des Verkehrs; Nordau 1884 Lügen 141 ihr [der Alten]

zentral Centrainervensystem ist oft . . . unfähig, Impulse von genügender Stärke hervozubringen; Rose 1884 Revanche 159 Für Ausländer . . . ist [in Paris]. . . ein Centraimarkt der Curiositäten und Kunstschätze; Riehl 1885 Vortr. II 522 Es gibt keine „erste Universität" in Deutschland, keine Normal- und Centrai-Universität, keine ReichsHaupt-Universität; "Württemberg. V'j'hefte 8 (1885) 26 weder den Zentralstaat noch den Staatenbund; Eckstein 1895 Hartwig 313 Gott mochte wissen, wer dem Agenten die Bezeichnung „Centralbureau" eingehaucht hatte; Schmitt 1904 Idealstaat 63 Zentralgewalt des absolutistischen Staates; Beitr. z. Gesch. d. Technik u. Industrie 3 (1911) 276 Zur Geschichte der Zentralheizungen bis zum Übergang in die Neuzeit (Überschr.); 1916 Deutschland I 75 Das aus dem Mittelalter überkommene Problem des Verhältnisses von Regierung und Ständen, Zentralgewalt und Volkswille ist in Deutschland anders gelöst worden als bei den westlichen Völkern; Csokor 1924 Schuss 23 zentraler Kommandoraum des ganzen Kraftwerkes; Gerstenhauer 1927Führer 80 Zentralverbandes des deutschen Bank- und Bankiergewerbes; Voss. Ztg. 4. 9. 1931 Die Zentralorganisation der deutschen Hausbesitzer; LokalAnz. 21. 1. 1933 je mehr Kohlen wir in den Ofen packen'und den Heizer der Zentralheizung plagen; Berl. Illustr. Nachtausg. 22. 3. 1933 Die . . . anderthalb Millionen sind nur zum Teil über die Zentralkasse und den Zentralverband der chrisdichen deutschen Bauernvereine gegangen; LokalAnz. 31. 3. 1933 Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze; ebd. 5. 4. 1934 Die Zentralstelle für Vermißte und unbekannte Tote; ebd. 25. 5. 1934 In Berlin gibt es einen Mann, der die Aufgabe hat, täglich neuntausend hungrige Menschen satt zu machen — das ist der Koch der größten Berliner Zentralküche; Dtsch. AZ. 6. 9. 1935 Nach der Filmvorführung konnte man im Hofe des Reichspost-Zentralamtes das neue fahrbare Postamt besichtigen; Münch. N. N. 11. 1. 1939 Diese Briefe verlassen . . . den Zug und müssen nicht den Weg über den Hauptbahnhof und die Zentralsortierung machen; Weltwirtsch. Archiv 60 (1944) 144 die „zentralgeleitete Wirtschaft"; Mosca 1950 Klasse 221 Übertragung von Aufgaben der Zentralbürokratie an die Provinzbürokratie; Süddtsch. Ztg. 16. 5. 1951 Zur Zeit entsteht dort eine „Zentral-Umkleideanlage" für 7000 Personen; Münch. Stadtanz. 7. 4. 1961 Unternehmen für die Herstellung von Zentralheizungen; Stuttgarter Ztg. 2. 6. 1967 Die Einrichtung einer „Zentralbörse" in der Bundesrepublik wurde . . . abgelehnt; ebd. 18. 1. 1968 braucht sich der Zentralbankrat im Grunde noch gar nicht angesprochen fühlen; Offenburger Tagebl. 9. 3.

22 Fremdwörterbuch

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1970 Regierung und Landtag seien sich der zentralörtlichen Bedeutung der Stadt Freiburg bewußt; ebd. 18. 7. 1970 Der deutsche Großeinkaufsverband . . . konnte . . . seinen über die Bonner Zentrale zentralregulierten Einkaufsumsatz verzehnfachen; FAZ 10. 10. 1970 Die . . . deutschen Apotheker planen ein zentrales Prüfungslaboratorium; ebd. 7. 8. 1971 nicht immer sind die geologischen Gegebenheiten so günstig wie . . . bei der jetzt eröffneten Zentraldeponie im Dillkreis; ebd. 7. 9. 1971 Bundesjustizminister Jahn hat . . . bestätigt, daß . . . die Absicht bestehe, das Bundeszentralregister in Berlin zu errichten; ebd. 26. 1. 1972 Es wäre natürlich unklug, etwa über eine „zentralgesteuerte" Verhärtung zu sprechen; Die Zeit 20. 11. 1981 Die öllieferungen der Saudis . . . summieren sich schon bei 600 Mark je Tonne auf 15 Milliarden Mark im Jahr. Gäbe es auch hier einen Vertrag mit einem deutschen Zentraleinkäufer — wie der Essener Ruhrgas AG beim Gasgeschäft — . . . dann würde sich daraus eine Vertragssumme von 300 Milliarden Mark ergeben; ebd. 27. 11. 1981 Die großen politischen Konflikte sind in der . . . Bundesrepublik eher um zentralstaatliche Fragen ausgetragen worden. Zentralität: Stuttgarter Ztg. 10. 1. 1970 Nach einer Aufstellung des Backnanger Oberbürgermeisters besitzt Waiblingen schon heute keinen höheren Grad der Zentralität als Backnang; Offenburger Tagebl. 11. 11. 1970 beim Ausgleich des sogenannten „Zentralitätsverlustes" der Gemeinden, die durch die Verwaltungsreform den Sitz des Landratsamtes verlieren sollen, werde man zu vernünftigen Lösungen kommen; ebd. 3. 4. 1971 ohne daß man mit der Breisgaumetropole verhandelt habe, die für den Neubau der Anstalt auf Grund bestehender Verträge ein Grundstück . . . erworben habe und nun mit weiterem Zentralitätsverlust rechnen müsse; ebd. 2. 7. 1971 Die Bürgermeister der Kreisstädte . . . haben . . . das Zentralitätsprogramm der Landesregierung anerkannt; Bad. Ztg. 11. 10. 1971 will das Städtedreieck auf der Baar einen Ausgleich für den in der Kreisreform erlittenen Zentralitätsverlust. zentral c: Hartmann 1891 Pessimismus 200 den religiösen Centraibegriff der Erlösung; 1900 (Morf, Dichtung I 150) die sogen, chansons de geste, deren Zentralfigur der Frankenkaiser Karl der Grosse . . . sind; Euchen 1904 Strömungen 287 Zentralbegriff dieses neuen Lebens; Goldmann 1915 Militär. 24 Zentralidee der englischen Konstitution; 1916 Schwed. Stimmen 126 Zentralgestalt in der englischen Geschichte; Croce 1923 Geleitwort z. Mosca, Klasse 5 Zentralbegriff des

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Zentrale

Werkes . . . ist der Begriff der politischen oder herrschenden Klasse; Coellen 1924 Methode 32 soll der Weltbegriff der Zentralbegriff der Kunstgeschichte sein; Meinecke 1924 Idee 371 Zentralproblem der machiavellistischen Politik; Rohden 1925 polit. Denken 51 Zentralbegriff der demokratischen Doktrin; 1932—33 Schweiz. Rundschau 32 2,1117 Zentralidee des Bolschewismus, der Kommunismus; 1935 Dtsch. Kirche 260 Die dritte Wahrheit, das Zentraldogma des Christentums; Dtsch. AZ. 4. 8. 1935 Wir marschieren auf die zentrale Bedeutung der Staatsrente auf dem Kapitalmarkt zu; Thierfelder 1940Kulturimperialismus 27 das Zentralproblem der einheitlichen Leitung und Finanzierung; Münch. N. N. 23. 10. 1942 ist im dramaturgischen Sinne Liebhaberin und überdies . . . die Zentralfigur des Stückes; Hartmann 1954 Begegnung 274 ist ihm der Parsifal sein zentrales Anliegen; Offenburger Tagehl. 3. 3.

1959 Nicht zur Debatte steht das Thema Wiedervereinigung . . . Da es jedoch ein Zentralthema, gewissermaßen der Angelpunkt des Gesamtthemas ist, wird es . . . entscheidender Hintergrund aller Erörterungen sein; 1961 Dies Univ. VIII 95 den Menschen als Zentralproblem aus der ökonomischen Analyse zu entlassen; Misch 1962 Gesch. 263 Deutschland war die zentrale Figur des 1. Weltkrieges; Offenburger Tagebl. 22. 2. 1968 Zentralthema: Große Koalition (Oberschr.); ebd. 19. 3. 1970 meinte . . . vor der Presse, das Anerkennungsproblem werde wohl das zentrale Thema der Darbietungen der anderen Seite sein; FAZ 27. 7. 1970 das Problem China spielt in den außenpolitischen Überlegungen des Kremls eine immer zentralere Rolle; Die Zeit 20. 11. 1981 Das zentrale Argument des Energie-Strategen Costick wird . . . in der Reagan-Administration ohne Abstriche akzeptiert.

Zentrale F. (-; -n), im späten 19. Jh. aufgekommene Ableitung von —» zentral (vgl. älteres gleichbed. ital. centrale)-, la zunächst vereinzelt für 'Hauptstadt, Zentrum', dann allgemeiner in der Bed. 'zentrale Stelle, von der (als übergeordneter Instanz) aus ein bestimmter (untergeordneter) Bereich organisiert, verwaltet, geleitet, versorgt oder überwacht wird, Haut(-schalt-)stelle; Mittel-, Sammel-, Ausgangspunkt' (vgl. —»zentral b), gelegentlich auch bildlich verwendet, seit Anfang 20. Jh. speziell im wirtschaftlichen Bereich für 'leitende Abteilung, Instanz eines Unternehmens, in der bestimmte Arbeitsgänge koordiniert werden; Koordinationsstelle, von der bestimmte Prozesse ausgehen und/oder zu ihr hinführen; Hauptgeschäft(-sstelle)', vor allem als Grundwort in Zss. wie Handels-, Kommando-, Milch-, Nachrichten-, Verbraucherzentrale; in neuester Zeit, wohl in Analogie zu b, auch als Kurzform für Taxi-, Parteizentrale, b Seit frühem 20. Jh. als Abkürzung von Telefonzentrale für 'zentrale technische Anlage, von der aus etwas vermittelt, weitergeleitet wird; Fernsprechvermittlung', auch 'Hauptfernsprechvermittlung eines Betriebes'. 2 Seit Anfang 20. Jh. (gebucht 1910 bei Weigand) als Fachausdruck der Geometrie in der Bed. 'Verbindungslinie der Mittelpunkte zweier Kreise/Kugeln; Mittelpunktsgerade' (vgl. —* zentral a). Zentrale l a : Lindenberg 1883 Berlin 27 [Berlin als] Centrale [des Reichs]; ZDSpV 28 (1913) 184 Die Zentrale — Berliner Lokalanzeiger Nr. 185 vom 13. April 1913. Verspottet mit Recht den albernen Mißbrauch des Wortes „Zentrale"; Stimmen d. Zeit 86 (1914) 543 Kraftzentralen von Wissen und Aufklärung; Naumann 1915 Mitteleur. 242 würde ich die mitteleuropäische Zentralstelle für alle nicht örtlich gebundenen Vertragstätigkeiten Prag vorschlagen, dabei aber die Seehandelszentrale nach Hamburg . . . legen; Flake 1917 Horns Ring 45 die Briefzentrale mit hundert

Fächern; Voss. Ztg. 18. 3. 1931 Direktor Held kommt aus der Chemnitzer Einkaufszentrale; ebd. 9. 8. 1931 Daneben gilt es für alle größeren Projekte . . . eine Art freiwilliger Meldepflicht bei einer neutralen Evidenzzentrale zu schaffen; Gofferje 1932 Sachfirma (Diss. Erlangen) o. S. Die Bezeichnung „Zentrale" setzt ein größeres kapitalkräftiges Unternehmen oder aber eine Zusammenfassung mehrerer selbständiger Betriebe desselben oder verschiedener Unternehmen voraus. Unter „Elektrizitätszentrale" ist nach der Verkehrsanschauung ein Unternehmen zu verstehen,

Zentralisation das die gesamte Elektrizitätsversorgung einer Ortschaft . . . ausführt; Berl. Illustr. Nachtausg. 15. 2. 1933 wurde die Vermißtenzentrale des Berliner Polizeipräsidiums . . . alarmiert; LokalAnz. 20. 2. 1933 Später sei er der Betriebszentrale des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zugeteilt worden; Berl. Illustr. Nachtausg. 18. 5. 1933 Oolen, ein kleiner Ort nahe bei Antwerpen, war bisher die Weltzentrale für Radium; ebd. 27. 7. 1933 Wo schmilzt in dieser Geschäftszentrale Ostasiens Geschäft und Geselligkeit . . . zusammen?; ebd. an einem solchen Fest muß die große Zentrale der Harmonie geschaffen werden; LokalAnz. 19. 8. 1933 alle Führer unterstehen der landwirtschaftlichen Zentrale . . . die die Gesamtarbeit in großen Zügen vorschreibt; Brandl 1936 Inn 171 aus der bayrischen Kunstzentrale [München]; Münch. N. N. 26. 6. 1944 Diese Stadt [Leipzig] wird am Ende des Krieges wieder die Zentrale des Buches werden; Süddtsch. Ztg. 9. 2. 1954 Die von der Großplanzentrale in Moskau betriebene Forcierung der strategisch wichtigen Industrien; ebd. 30. 7. 1957 Die im Bundesgebiet bestehenden Mitfahrer-Zentralen, die sich gegen das Anhalter-Unwesen wenden; Münch. Stadtanz. 29. 8. 1958 Dadurch erhält die Hauptzentrale für Verkehrslichtssignalanlagen eigentlich erst ihre Bedeutung als „Verkehrszentrale"; Stuttgarter Ztg. 7. 11. 1967 Nähere Erläuterungen darüber . . . gab die Geschäftsführerin der Verbraucher-

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zentrale; FAZ 24. 6. 1969 Wenn sich die Esüdro auch als eine „Kraftzentrale" der Branche sieht, bleibt sie doch realistisch genug, um zu erkennen, daß nicht jede Drogerie noch Chancen am Markt hat; ebd. 9. 2. 1970 Minister Ehmke wehrt sich gegen den Begriff „Führungszentrale"; Offenburger Tagebl. 29. 4. 1970 Wenn die Baden-Württembergische Verbraucherzentrale nicht bald mit ihrer Arbeit gegen die Wohnungsvermittler aufhört, werden wir sie in die Luft sprengen; ebd. 18. 7. 1970 Der deutsche Großeinkaufsverband . . . konnte . . . seinen über die Bonner Zentrale zentralregulierten Einkaufsumsatz verzehnfachen; Die Zeit 27. 11. 1981 Die Politik wandert aus. Nicht in der Zentrale, sondern in der Provinz werden heute die Konflikte ausgepaukt (Überschr.) schickte sich der Bund an, Strukturen in dieser Gesellschaft, bis in Länder und Kommunen hinein, zu verändern . . . Uberall wollte die Zentrale die Hand im Spiel haben. Zentrale lb: Roth 1930 Panoptikum 52 Telephonisten in der [Telefon-]Zentrale des Hotels; Münch. N. N. 4. 6. 1941 Und doch halten wir ein paar Tage lang sicher betroffen inne, wenn wir die „Zentrale" wählen und uns plötzlich einfällt, daß diese Zentrale um eine Stimme ärmer geworden ist; ebd. 22. 12. 1944 Wir sagten nicht „Fräulein" und nannten dabei einen Namen, nein, es hieß nur: „die Zentrale".

Zentralisation F . ( - ; -en ungebr.), Anfang 19. Jh. im Zuge der napoleonischen Verwaltungsbestrebungen < lat. centralis,

entlehnt aus gleichbed. f r z . centralisation

(zu

central

— » z e n t r a l ) ; häufig s c h l a g w o r t a r t i g , m e i s t im staatlich-politischen

B e r e i c h , in d e r B e d . ' p l a n m ä ß i g k o o r d i n i e r e n d e / k o o r d i n i e r t e , o r g a n i s a t o r i s c h in e i n e m M i t t e l p u n k t , einer z e n t r a l e n I n s t a n z z u s a m m e n f a s s e n d e / z u s a m m e n g e f a ß t e , v o n einer ü b e r g e o r d n e t e n ,

o b e r s t e n I n s t a n z ausgehende L e i t u n g ,

Lenkung

der

V e r w a l t u n g s - u n d R e g i e r u n g s g e s c h ä f t e ' , im U n t e r s c h i e d z u Z e n t r a l i s i e r u n g häufig als N o m e n acti, häufig a b w e r t e n d g e b r a u c h t f ü r 'alle T ä t i g k e i t e n , E i n r i c h t u n g e n des gesellschaftlichen, kulturellen, w i r t s c h a f t l i c h e n L e b e n s b e h e r r s c h e n d e , rende, kontrollmonopolistische,

kontrollie-

d e s p o t i s c h u n t e r d r ü c k e n d e u n d s o starr, leblos,

unfrei m a c h e n d e , jede E i g e n v e r a n t w o r t u n g , Selbstverwaltung e r s t i c k e n d e B ü r o k r a tisierung, T e c h n o k r a t i s i e r u n g ; E r s t a r r u n g ; U n i f o r m i t ä t ' , gelegentlich auf n i c h t p o l i tische B e r e i c h e ausgedehnt für ' ( r ä u m l i c h e / s a c h l i c h e ) Z u s a m m e n z i e h u n g in e i n e m ( M i t t e l - ) P u n k t ; o r g a n i s a t o r i s c h e Z u s a m m e n f a s s u n g gleichartiger T ä t i g k e i t e n , A u f gaben z u e i n e m einheitlichen K o m p l e x ' , a u c h für ' A k k u m u l a t i o n ,

(An-)Häufung;

K o n z e n t r i e r u n g in einer ( z e n t r a l e n ) Stelle', z . B . in d e r V o l k s w i r t s c h a f t i m S y n t a g m a Z e n t r a l i s a t i o n des K a p i t a l s ' Z u s a m m e n f a s s u n g m e h r e r e r individueller K a p i t a l e z u e i n e m g r ö ß e r e n K a p i t a l ; K a p i t a l k o n z e n t r a t i o n ' ; d a z u seit M i t t e 1 9 . J h . die subst. Ableitung Dezentralisation F . ( - ; -en ungebr.) 'Übertragung von Aufgaben und B e f u g n i s s e n auf u n t e r g e o r d n e t e k o m m u n a l e , regionale O r g a n e z u r Selbstverwal22*

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Zentralisation

tung, organisatorische Verteilung von Funktionen auf verschiedene Stellen; Abbau der Zentralisation', in neuerer Zeit vereinzelt Uberzentralisation F. (-; ohne PI.) 'übertriebene, extreme Zentralisierung'. Zentralisation: 1808 (Fischer, Hegels Leben 193) die seitherigen modalitäten der centralisation und organisation (DWB); Görres 1819 Teutschland ». d. Revolution 156 Um dies zu bewürken wurden nach und nach jene Centralisationssysteme ausgesonnen; 1830 Thür. Volksfreund 21 Centralisation; Koch-Sternfeld 1833 Beyträge III 467 Anm. Centralisation ist der Todfeind alles Guten, wir streben nach Belebung des Orts und Kreiselebens; 1834 Jahrbücher d. Gesch. I 3 der Centralisation aller Verhältnisse im Staate als einer . . . gefahrvollen Einrichtung erwähnt; Gutzkow 1835 Charaktere IX 7 Mit Napoleons Brüdern und den andern gekrönten Paladinen der Kaiserherrschaft kamen die Begriffe Centralisation und Bureaukratie über uns, Ausflüsse der Revolution; Burckhardt 1839 Br. 1105 Aufsatz über die Centralisation mit ihren Vortheilen und Nachtheilen; Raumer 1842 England III 12 Eine unbedingte Centralisation, wie wir sie in Frankreich sehen (wo kein Weg, Steg, Brücke, Kanal, Hafen und dergleichen kann gemacht . . . werden, ohne Anfrage in der Hauptstadt und Genehmigung der Regierung); Strich 1843 Akademiereden 107 Behüte uns Gott vor der Zentralisation unserer Nachbarn, wo schon die Stadt, welche die Provinzen absorbiert hat, umwallt und ummauert werden muss gegen sich selbst; Steinmann 1844 Mefistofeles V 19 Die Centralisation erstickt den Gemeinsinn; Gutzkow 1848 Deutschland 39 Die Dynastie sucht überall Schutz vor der radicalen wiener Centralisation; Raumer 1849 Br. Frank f. -Paris 105 Deutschland, wo Centralisation und Partikularismus, Reaktion und Radikalismus sich wechselseitig zu Grunde richten; ebd. 217 [die Regierungen, die sich] dieser französisierenden, charakter- und physiognomielosen Einerleiheit und Centralisation widersetzen; Andrian 1850 Zentralisation und Dezentralisation in Österreich (Titel); 1852 Prutz' Museum II 213 die despotische Centralisation des Communismus; Bucher 1855 Parlamentarismus 169 In der Verwaltung war Bentham für Zentralisation und Büreaukratie; Knapp 1857 Rechtsphil. 45 das Gehirn . . . [ist] nicht als specifischer Gegensatz der Sinnesnerven [zu betrachten] . . . sondern als deren Centralisation; Preuss. Jahrbücher 1 (1858) 233 Napoleon ist es . . . gewesen, der das Centralisationssystem der französischen Verwaltung vollendet hat; Riehl 1861 Ges. 201 Preußen ist diejenige deutsche Macht, welche die moderne Thatsache der politischen Centralisation durch zwei Jahrhunderte . . . vertreten . . . hat; Frantz 1862

Kritik 96 Die Centralisation ist die unvermeidliche Folge des Liberalismus; Banck 1863 Alpenbilder I 9 eine Centralisation von trefflich ausgeführten, in ihren Details reizenden Bahnhofsgebäuden; 1866 Grenzboten IV 92 das Centralisationssystem in Österreich, das seiner Natur nach nur absolutistisch sein kann; Stieler 1867 Fremde 80 das geistige Prinzip der Zentralisation, die Idee der Metropole; 1867 Grenzboten III 29 der Centralisation der transleithanischen Länder in der ungarischen Verfassung; Du Bois-Reymond 1871 Reden 1104 So weit geht Frankreichs geistige Centralisation, dass auf jenem kleinen Fleck [Paris] ein grosser Theil seiner wissenschaftlichen Thaten geschah; Schäffle 1878 Bau IV 346 In der Politik sind neben der Centralisation die Selbstverwaltung und Freiheit notwendig; Nordau um 1880 K. II 247 Die strenge Zentralisation hat zu verhüten vermocht, daß diese Abneigung des Südens gegen den Norden . . . zu einer die Staatseinheit gefährdenden Stärke anwachse; Roscher 1888 Ackerbau (System II 13) eine gouvernementale und eine administrative Centralisation; Eckstein 1895 Hartwig 137 die unerhörte Steigerung des Verkehrs und die hiermit zusammenhängende Centralisation des Kapitals; Kraus 1895-99 Br. Beil. Nr. 177 wenn die übermässige und krankhafte Centralisation des kirchlichen Lebens in Rom aufhörte und der ordentliche Umlauf der Kräfte in der Peripherie wiederhergestellt wäre; 1896 Cosmopolis I 288 Den Anfang machte die administrative Centralisation der Reichsbehörden, dann kam die finanzielle Centralisation; die geistige folgte langsam und zögernd; 1903 Grenzboten IV 106 Wenn uns Heutige die übertriebene Zentralisation verleitet, den Staat zu verwünschen; Hensel 1903 Lebensbild 340 in Frankreich, dem klassischen Land der Zentralisation; Wirth 1904 Volkstum 171 Beim Staate wirkt vollends die Mittelpunktsflucht und -sucht mit grosser Kraft. Sie offenbart sich zunächst in Zentralisation und Dezentralisation; Brieger- Wasservogel 1911 Gesellschaft 81 Die immer stärkere Zentralisation der Bewohner auf wenige Punkte im Lande; Münch. N. N. 23. 1. 1915 Gegen die Zentralisation von Heereslieferungen durch die Einrichtung eines Bekleidungsbeschaffungsamtes in Berlin richtet sich ein . . . Referat des Vorstandes des Vereins bayerischer Warenagenten; Brandes 1919 Miniaturen (Übers.) 57 Napoleon wie das alte Königtum und die Männer der Revolution legten das Hauptgewicht auf die Zentralisation aller Staatsgewalt; Voss. Ztg.

zentralisieren 24. 11. 1927 Man kann die heutigen Eingemeindungstendenzen, die . . . jeweils folgenschwere Ausgemeindungen aus anderen Zellen des Staates, den Landkreisen, bedeuten, nach drei Richtungen unterscheiden: Zentralisation, Dezentralisation und Umgruppierung; Ber. d. Dtsch. Hochschule f. Politik 6 (1928) 108 Die Schlagworte „Zentralisation" und „Dezentralisaiton" sind heute — vor allem im Zusammenhang mit dem Reich-Länderproblem und der Verwaltungsreform in aller Munde; Voss. Ztg. 5. 7. 1932 daß er [Finanzminister] unorganische Bestandteile der jetzt vom Reich kontrollierten Konzerne abgestoßen, ja überhaupt die Erstarrung und Zentralisation der deutschen Eisen Wirtschaft aufgelockert hätte; Hellauer 1933 Europäisierung 5 weitgehende Zentralisation des internationalen Handels in Ubersee; Lokal-Anz. 19. 1. 1933 Das Hauptübel bei der Straßenbeleuchtung ist die übermäßige Zentralisation. Früher entschieden die einzelnen Stadtgemeinden selbst. . . heute die zentrale Tiefbaudeputation im Stadthause; Volk u. Heimat 20. 1. 1933 Die Zonen bestehen . . . aus lokalen Gruppen, in denen den Sonderinteressen der kleinsten Gemeinden Rechnung getragen werden kann . . . Zentralisation und Dezentralisation lösen sich hier . . . gegenseitig ab; Lokal-Anz. 18. 8. 1933 Dabei ist vonnöten eine straffe Zentralisation alles rundfunkpolitischen Schaffens; Burckhardt 1942 Fragm. (1865—85) 212 Dieser Doppelursprung des modernen Staats aus der völligen Machtzentralisation der Aufklärung; Barth 1943 Fluten 120 dass das Ancien régime mit seiner Zentralisation der Staatsmacht und der Verwaltung der Revolution vorgearbeitet hatte; N. Z. Z. 21. 5. 1944 An der . . . staatsrechtlichen Struktur der Schweizerischen Eidgenossenschaft nagen jedoch . . . die Dämonen der Wirtschaftszentralisation und der Staatsall-

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macht; Rosenstock-Huessy 1951 Rev. 333 Die Nichtbeteiligung des Landes an der Zentralisation äussert sich sehr handgreiflich; Buher 1952 Gesellschaft 41 Zentralisation oder Dezentralisation; Muhs 1954 Gesch. II 9,275 Akkumulation, Konzentration und Zentralisation des Kapitals; Fejtö 1956 Joseph II. (Übers.) 406 Die Unabhängigkeit des ständischen Ungarn triumphierte über die Zentralisationsbestrebungen des Kaisers; Schmid 1963 Unbehagen 251 Anm. hat nachgewiesen, daß die scheinbare Rationalität von Parolen wie Großraum, Zentralisation, Wachstumsrate . . . in erstaunlichem Maße von mythologischen Energien lebt. Dezentralisation: Andrian 1850 Zentralisation und Dezentralisation in Österreich (Titel); Lienhard 1902 Wasgaufahrten 179 Das Schlagwort „Dezentralisation" und „Heimatkunst" ist jetzt endlich durchgedrungen; Wirth 1904 Volkstum 171 Beim Staate wirkt vollends die Mittelpunktsflucht und -sucht mit ganzer Kraft. Sie offenbart sich zunächst in Zentralisation und Dezentralisation; Voss. Ztg. 24. 11. 1927 Man kann die Eingemeindungstendenzen . . . nach drei Richtungen unterscheiden: Zentralisation, Dezentralisation und Umgruppierung; Ber. d. Dtsch. Hochschule f. Politik 6 (1928) 108 Die Schlagworte „Zentralisation" und „Dezentralisation" sind heute . . . in aller Munde; Volk u. Heimat 20. 1. 1933 Zentralisation und Dezentralisation lösen sich . . . gegenseitig ab; Buber 1952 Gesellschaft 41 Zentralisation oder Dezentralisation. Uberzentralisation: Kindermann 1930 Jungführer 218 Ein-Berlin-Deutschland würde zu der Uberzentralisation Paris-Frankreich führen und damit das Absterben von unten her einleiten.

zentralisieren V.trans., Anfang 19. Jh. im Zuge der napoleonischen Verwaltungsbestrebungen entlehnt aus gleichbed. frz. centraliser (zu central < lat. centralis, —»zentral); vor allem im staatlich-politischen Bereich in der Bed. '(politische Aufgaben, Verwaltungsfunktionen) organisatorisch, planmäßig zusammenfassen, ziehen, vereinigen (und von einer zentralen Stelle, Instanz aus (einheitlich) leiten, verwalten)', vereinzelt auch als V.reflex. 'sich zusammenziehen, in einem Punkt konzentrieren', auch abwertend verwendet für 'egalisieren, nivellieren; schematisieren, normieren' und 'bürokratisieren', auch adj. gebraucht in der Part. Präs.-Form zentralisierend 'die Zentralisation (in einem Staat/eines Staates) durchführend' und in der Part. Perf.-Form zentralisiert 'von einer obersten Instanz aus, zentral verwaltet, regiert', auch 'gleichgeschaltet'; vgl. —»zentral b; dazu gleichzeitig das Verbalsubst. Zentralisierung F. (-; -en ungebr.), im Unterschied zu —» Zentralisation überwiegend als Nomen actionis verwendet, für 'organisatorische, planmäßige Zusammenfassung einzelner Glieder (eines Staates) und deren zentrale Verwaltung,

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zentralisieren

Leitung', häufig auch allgemeiner verwendet für 'Koordination, Konzentration (in einem Punkt)' und abwertend gebraucht für 'Egalisierung, Gleichschaltung; Schematisierung, Normierung; Bürokratisierung'; Mitte 19. Jh. vereinzelt die Präfixbildung EntZentralisierung, gleichzeitig die verbale Präfixbildung dezentralisieren 'Funktionen und (Verwaltungs-)Aufgaben auf verschiedene untergeordnete Stellen übertragen', gleichbed. mit regionalisieren (—» regional), mit dem in neuester Zeit vereinzelt nachgewiesenen Verbalsubst. Dezentralisierung F. ( - ; -en ungebr.), und die Präfixbildung U b e r z e n t r a l i s i e r u n g F . ( - ; -en ungebr.) 'übertriebene, extreme Zentralisierung'. zentralisieren: Görres 1819 Teutschland u. d. Revolution 58 Organisations- und Neuerungssucht, Centralisieren und Paralisieren, Schein und Papierthätigkeit, Fiskalität; ebd. 139 Um dies zu bewirken, werden nach und nach jene Centralisationssysteme ausgesonnen; bis ins Allereinzelnste zog der Staat alles in seine Curatel; auch das Geringfügigste sollte von der Mitte aus gebildet sein . . . Jene centralisierten Verrichtungen forderten zu ihrer Handhabung Naturen höherer Art, als der gemeine Menschenschlag sie bietet (ZDWF III 171); Koch-Sternfeld 1833 Beytr. III 70 das X I X Jahrhundert centralisirte und egalisirte hier, wie anderwärts; ebd. 446 aus den centralisirten Stiftungen und Fonds; 1841 Grenzboten 4 eines centralisirten Volkes; Raumer 1842 England III 137 centralisirende Behörden; Ranke 1843 Tagebuchbl. (53/54) 580 Die Politik kann nicht anders gefasst werden als mit . . . einer mehr oder minder centralisirten Administration; Engels 1845 Lage IV 27 zentralisierende Tendenz der Industrie; Stephan 1847 Stofflichung II 109 Aber . . . hat Berlin die Wissenschaft allein? oder soll dieselbe etwa noch centralisirt werden?; Gutzkow 1848 Deutschland 22 Eine zentralisirende Regierungsform führt immer zur Monarchie; Buss 1849 teutsche Einheit 23 das neue centralisirte Frankreich; Raumer 1849 Br. Frankf.-Paris 1192 würde sich Fehde ergeben zwischen den . . . deutschen Volksstämmen und dem (nach französischer Weise) centralisirenden Reichstage; ebd. II 21 Eine sehr praktische Frage beschäftigt jetzt die Nationalversammlung: über das Maß des Centralisirens oder nicht Centralisirens; Stahl 1856 Staatslehre 269 [aus] Frankreich, einem Reiche, das von Anbeginn durch Völker und als Staat gegründet ist, eine Republik und dazu eine einfache Republik in zentralisierter Weise machen wollte; Heiserer 1860 Wasserburg a. Inn 18 trotz . . . der grundsätzlichen Tendenz von oben, allen Verkehr in den Hauptstädten zu centralisiren; Riehl 1861 Land 87 die individualisirenden Verkehrslinien neben den centralisirenden Staatsstraßen; ebd. 143 Bei dem centralisirten, von der Schreibstube abhängenden Gemeindewesen des Polizeistaates war der Bauer

nur durch seine Trägheit eine erhaltende Macht im Staate; ebd. 359 weil die centralisirte Staatsverwaltung nothwendig auch die centralisirte Gesellschaft nach sich ziehen muß; Reumont 1862 Zeitgenossen 1222 Länder, welche in ihrer Hauptstadt centralisirt ja quintessenzirt erscheinen; Frantz 1862 Kritik 200 Die Staaten centralisiren sich immer mehr, und alle Centralisation wird zuletzt militärisch; Homberger 1871 Selbstgespr. 249 wie in einem wohlcentralisierten Staat muss jede Beziehung zwischen den Untertanen durch den Mittelpunkt gehen; Ranke 1873 Tagebuchbl. (53/54) 599 Der Papst hat, indem er mit aller Gewalt zu centralisiren suchte, sowohl des Bisthums, als selbst den niederen Clerus sich entfremdet; Burckhardt 1878 Br. a. Preen 125 dass Italien eine Grossmacht und ein Militärstaat und ein zentralisierter Staat sein will; Schaffte 1879 Quintessenz 66 dass der Socialismus centralisirte Staatsdespotie werden müsse; Bucher 1881 Parlamentarismus 105 die ganze zentralisirende, büreaukratische Richtung der neuern Gesetzgebung; ebd. 239 dass in Deutschland die Presse nicht an einem Orte zentralisirt werden kann; Richter 1884 Creditsystem 24 In der gesammten, durch die Hypotheken-Institute gewissermaßen centralisirten Verschiebung der Besitzverhältnisse; Riehl 1885 Vortr. II 35 Die moderne Grossstadt centralisiert, die mittelalterige Reichsstadt individualisirte; Roscher 1888 Ackerbau (System II 145) das . . . Volksleben in der Weise einer grossen Stadt centralisiren; Richter 1893 Jugend-Er. 70 In einem so straff centralisierten Staate wie Preussen spürt man den Umschlag des Wetters und die Temperaturveränderungen in den höchsten Regionen bis in die letzte Kanzleistube und bis zum jüngsten Referendar herunter; Roscher 1899 Handel (System III 690) Paris die Hauptstadt des centralisirtesten europäischen Grossvolkes; Schmitt 1904 Idealstaat 39 dass er schliesslich seine Zentralisation so weit [steigerte], dass er auch das Gemeindevermögen staatlich zentralisierte, d.h. für den Fiskus einzog; Peters 1904 England 257 Jedes Zentralisieren und Schabionisieren ist ferngehalten; Dtsch. Rundschau 159 (1914) 157 wurde

zentralisieren die katholische Kirche ein zentralisierter Absolutismus; Deckert 1914 Panlatinismus 6 die zentralisierende despotische Kirchengewalt; 1916 Deutschland 120 ein straff zentralisierter Einheitsstaat; 1921 Festg. a. Liebermann 363 Der [englische] Imperialismus hatte das Reich zentralisieren wollen; Brieger 1921 Pastell 105 In einem Lande wie Frankreich, in dem sich alles in Paris zentralisiert; Deutschlands Erneuerung 13 (1929) 662 nach Berlin hin zentralisiert; Nord u. Süd 53 (1930) 386 zentralisierter oder dezentralisierter Kraftanwendung; 1932 Volk u. Reich 696 straff verstaatlichten und zentralisierten Bildungswesens; Münch. N. N. 6.17. 6. 1942 In Zukunft soll die gesamte Forschung bei der Reichsvereinigung zentralisiert sein; Schwab. Landesztg. 9. 7. 1946 Es kann auf keinen Fall hingenommen werden, daß den Rentnern und Invaliden in Schwaben durch eine solche schematisch zentralisierende Verfügung einer autoritäten Bürokratie neue, völlig unnötige Belastungen entstehen; Süddtsch. Ztg. 23. 10. 1950 stellte [er] die Tatsache heraus, daß nicht alle Bundesbehörden zentralisiert werden; Tritsch 1954 Erben 223 dieses schöne Verfahren nannte man folgerichtig und stolz: zentralisieren; Roth 1966 Prophet 69 Notwendigkeit einer weitgehenden Autonomie der österreichischen Nationen oder einer starken zentralisierenden Faust. Zentralisierung: Harl 1812 Kriegs-Pol.-Wiss. 104 System der Zentralisierung; 1838 Con. Lex. d. Gg. 1210 Centralisirungsplan; 1848 Grenzboten I 2,129 die constitutionelle Centralisirung des Staats; Buss 1849 teutscbe Einheit 7 Centralisirung Teutschlands; Riehl 1861 Land 183 Im Norden wie im Süden Deutschlands hat . . . die sociale Centralisirung keineswegs die berechtigten örtlichen Besonderheiten vernichtet. Einigkeit und Uniformität ist Zweierlei; ebd. 203 Die Centralisirung der politischen Rechte des Adels; Scherer 1869 Kl. Sehr. I 389 Centralisirung der Bildung; Roscher 1899 Handel (System III 474) Centralisirung, welche von den bessern Transportmitteln ausgeht; Müller 1901 landwirtsch. Genossenschaftswesen 479 Zentralisierung des Verkaufsgeschäftes; Ziehen 1903 Reichsamt 12 falsche Centralisierung auf Kosten der individuellen Entwicklung; 1910 Technik u. Wirtschaft 26 Als technische Mittel, die dem Städtebau dienen, müßten alle diejenigen genannt werden, die eine Zentralisierung der Bewässerung und Entwässerung . . . herbeiführen; 1916 Deutschland 1153 Zentralisierung ihres Staatswesens; ebd. 291 Gegensatz . . . zwischen der Zentralisierung Frankreichs und der Dezentralisation Englands und seiner Tochterstaaten; Buhl 1921 Reden 282 Werkzeug dieser der ganzen Veranlagung unseres Volkes widerspre-

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chenden Zentralisierung; 1928 ZfPolitik 353 Zentralisierung und Dezentralisation der Behördenordnung; Der Tag 31. 1. 1930 Die vorgeschlagene Zentralisierung würde also nur dazu beitragen, die Stadtverwaltung noch schlechter und unzuverlässiger zu machen; Voss. Ztg. 8. 6. 1930 Zentralisierung der Hauszinssteuer (Überschr.); 1931 Wissen u. Wehr 185 Bei fast allen deutschen Angriffen im Jahre 1918 fand eine umfangreiche Zentralisierung der Befehlsführung durch das A. O. K. statt; Lokal-Anz. 20. 5. 1934 Rom, das infolge der straffen Staatszentralisierung auch den Provinzglanz an sich reißt; Dtsch. AZ. 31. 8. 1935 Befriedigende Resultate werden gemeldet aus der großen Gruppe der keramischen Industrien . . . wobei die Zentralisierung in einem Meßpalast sich . . . günstig ausgewirkt hat; Winter 1943 Josefinismus 485 Streben nach Zentralisierung der absoluten Macht in der Kirche; Süddtsch. Ztg. 11. 12. 1945 die Zentralisierung der Verwaltung Deutschlands; ebd. 25. 12. 1948 man wundert sich außerhalb Bayerns manchmal über unsere Zurückhaltung gegenüber den Zentralisierungsbestrebungen auf dem Gebiet der Wirtschaft. Diese Zurückhaltung entspringt . . . natürlich unserer ausgeprägten föderalistischen Einstellung; ebd. 15. 1. 1949 Bis auf die Sozialdemokratische Partei haben sämtliche bayerische Parteien den Bonner Rundfunkvorschlag kritisiert, wobei die KP das Wort „totalitär", die Bayernpartei den Begriff „Zentralisierung" mit aller Entschiedenheit aussprach; Herzfeld 1950 Aufs. 15 Die Franzosen haben . . . in ihrer grossen Zeit in dem Problem des Staates und der Kirche, in der Zentralisierung der geistigen Epochenideen und der politischen Anwendung der Theorie, die ihr Wesen gewesen sei, eine bestimmende Rolle gespielt; Süddtsch. Ztg. 19. 9. 1953 Um einer gewissen notwendigen „Zentralisierung" der Jugendförderung in Bayern näherzukommen, hat jetzt auch der Jugendring einen Landesplan geboren; 1953 Gedächtnisschr. a. Hämel 39 Taines immer gegenwärtige Tendenz zur Zentralisierung der Psychologie; 1954 Veritas 133 Gefahr einer Zentralisierung der kontinentalen Erz- und Kohlevorkommen in französischer Hand; Süddtsch. Ztg. 6. 8. 1955 Die Weimarer Republik hat mit den Rechten der deutschen Gliedstaaten aufgeräumt. Man kann nicht sagen, daß uns die „Vereinfachung" durch Zentralisierung gut bekommen wäre; Salomon 1957 Fortschritt 7 Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und dem Beginn des Mittelalters verebbte das Streben nach Zentralisierung der Herrschaftsmacht; Ritter 1958 Vergangenheit 74 Die [französische] Revolution vollendete das Werk der Zentralisierung, Schematisierung, Egalisierung, das die Könige Frankreichs begonnen hatten; Arbeit-

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geber 20. 2. 1959 In der Nachkriegszeit hat sich in Großbritannien . . . die Tendenz zur Zentralisierung und Ausweitung auf dem Gebiet der Lohntarifverträge verstärkt; Frankf. Ztg. 16. 6. 1961 Die Sowjetzonenregierung hat eine Zentralisierung der gesamten wissenschaftlichen und technischen Forschung . . . beschlossen; Rosenberg 1962 Demokratie Iii Zentralisierung Deutschlands unter preussischer Führung; FAZ 2. 3. 1971 CDU gegen Zentralisierung (Uberschr.) Die südbadische CDU will Tendenzen zur Einführung zentraler Landesverwaltungsbehörden . . . entgegentreten; ebd. 24. 9. 1971 Die Gewerkschaft. . . werde . . . Zentralisierungsbestrebungen der Arbeitgeber eine entsprechende Koordinierung entgegensetzen. dezentralisieren: Buss 1849 teutsche Einheit 23 das decentralisirte England; Oppenheim 1866 Verm. Sehr. 74 Bewusstsein der Solidarität der Interessen, welches in einem centralistischen Staatswesen stärker als in einem decentralisirten . . . wirkt; Mommsen 1877 Reden u. Aufs. 222 Wir haben . . . gehört, dass der Raummangel so entschieden sich geltend macht, dass wir nun dazu schreiten müssen, an derjenigen Stelle zu decentralisieren; Naumann 1915 Mitteleur. 12 ÖsterreichUngarn aber fürchtet seit hundert Jahren den Nationalgeist seiner Völker als dezentralisierende Kraft; Nord u. Süd 53 (1930) 386 zentralisierter oder dezentralisierter Kraftanwendung; Rauch

1969 Gesch. d. Sowjetunion 160 Der dezentralisierten Struktur der Staatsverwaltung stand der straff zentralisierte Bau des Parteiapparats gegenüber; Die Zeit 1. 1. 1982 Die hochzentralisierte, ungeheuer aufgeblähte Verwaltungsbürokratie erwies sich in beiden Imperien als unüberwindbar; alle Versuche, sie zu dezentralisieren, blieben illusorisch. Dezentralisierung: Rauch 1969 Gesch. d. Sowjetunion 161 Das Prinzip der Dezentralisierung wurde somit auch in bezug auf das Verhältnis von Union zu Sowjetrepubliken illusorisch. EntZentralisierung: Szarvady 1852 Paris I 190 Centralisirung kann in Frankreich nicht mehr Föderalismus bedeuten . . . Diesen Umstand übersehen die Feinde der administrativen Entcentralisirung. Überzentralisierung: Offenhurger Tagebl. 27. 8. 1959 In der Erklärung des Zentralkomitees wird . . . die Idee der . . . Volkskommunen verteidigt, zugleich jedoch eingeräumt, daß Erfahrungsmangel zu Uberzentralisierung, Gleichmacherei und Extravaganz geführt haben; Süddtsch. Ztg. 13. 7. 1960 Bei der Umorganisation des staatlichen Handels im Zuge dieser Entwicklung habe man einer „Überzentralisierung" Raum gegeben.

Zentralismus M. (-; ohne PL), im späteren 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu —» zentralisieren, Zentralist (s.u.) (vgl. gleichbed. frz. centralisme, engl, centralism); im Zusammenhang mit der Entwicklung der europäischen Nationalstaaten verwendetes politisches Schlagwort zur Bezeichnung eines staatlichen Struktur-, Organisations-, Ordnungs- und Herrschaftsprinzips in der Bed. '(Streben nach) Festigung der Staatsgewalt durch Konzentration der politischen Macht und der staatlichen Entscheidungsbefugnisse in einer zentralen übergeordneten/obersten Instanz; straff organisierte Verwaltung, Leitung, Regierung, bei der die politische Entscheidungskraft, alle politische Kompetenzen ausschließlich beim Staat oder einem staatlichen Zentralapparat konzentriert und die politische Eigenständigkeit der dem Staatswesen eingegliederten gesellschaftlichen Teilgebilde, Körperschaften o. ä. weitgehend eingeschränkt ist', selten auch für 'zentralistischer Einheitsstaat', auf unterschiedlich strukturierte Gesellschaftssysteme bezogen und unterschiedlich wertend verwendet und je nach politischem Standort gleichbed. gebraucht mit Bürokratismus, Dirigismus, Kollektivismus, —* Unitarismus, —» Totalitarismus, —»Universalismus und früher vereinzelt mit Absolutismus, Josefinismus, Despotismus, im Ggs. zu Föderalismus, Partikularismus, Regionalismus, Atomismus, meist abwertend verwendet im Sinne von 'Streben, Prinzip, System, das das gesamte politische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle Leben bürokratisch, technokratisch, dirigistisch bzw. kontrollmonopolistisch, diktatorisch verwaltet und so jede freie politische Willens-

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bildung, Initiative unterdrückt, dem Totalitätsanspruch des Staates oder eines staatlichen Zentralorgans unterwirft'; im Sprachgebrauch der D D R im positiv wertenden Syntagma demokratischer Zentralismus „Organisationsprinzip der sozialistischen Demokratie, das gekennzeichnet ist sowohl durch eine zentrale Leitung und Planung wie durch die schöpferische Mitarbeit aller und die stufenweise von unten nach oben erfolgende Wahl sämtlicher leitender Organe" (WDG); selten auch auf nichtpolitische Bereiche ausgedehnt für 'Streben nach zentraler Strukturierung, Zusammenfassung'. Dazu schon seit früherem 19. Jh. die im Sinne einer Ableitung von —* zentralisieren aufgekommene Personenbezeichnung Zentralist M. (-en; -en), meist schlagwortartig verwendet in der Bed. 'jmd., der sich gegen föderalistische Prinzipien wendet und für die (totale) Konzentration der Regierungsgewalt sowie der Verwaltungskompetenzen bei einer zentralen, übergeordneten Instanz eintritt', häufig abwertend verwendet für 'jmd., der starre bürokratische bzw. kontrollmonopolistische, diktatorische, totalitäre Herrschafts-, Verwaltungsprinzipien vertritt' (Ggs. Föderalist), zuweilen auf nichtpolitische Bereiche ausgedehnt; seit Mitte 19. Jh. die adj. Ableitung zentralistisch, vor allem im staatlich-politischen und wirtschaftlichen Bereich in der Bed. 'die Verwaltung, Regierung (eines Staates) in einer obersten Instanz zusammenfassend, streng bürokratisch und einheitlich organisiert, verwaltet; nach Konzentration der Verwaltungskompetenz und der Regierungsgewalt in einer Hand strebend', häufig abwertend verwendet für 'diktatorische, totalitäre Verwaltungs-, Herrschaftsprinzipien vertretend', vereinzelt auch auf Gesellschaftssysteme bezogen für 'totalitär' und auf nichtpolitische Bereiche ausgedehnt (Ggs. föderalistisch, partikularistisch, kommunal, regional(istisch)); im frühen 20. Jh. die adj. Präfixbildung dezentralistisch 'die Regierungsgewalt(en) aufgliedernd, auf verschiedene Körperschaften, Organe verteilend; die Übertragung staatlicher Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse auf (regionale, kommunale) Organe der Selbstverwaltung vertretend; für die Autonomie von (regionalen, kommunalen) Körperschaften, Organen innerhalb des Staates eintretend'; in neuester Zeit die vereinzelte Präfixbildung Uberzentralismus M. (-; ohne PI.) 'übersteigerter, extremer Zentralismus' mit der dazugehörigen adj. Ableitung überzentralistisch, 'übertrieben, extrem zentralistisch'. Zentralismus: 1866 Grenzboten III 512 Bis jetzt haben die Deutschen in der Regel sich mit den Slaven verbündet, um mit ihnen gemeinsam die Ungarn zu majorisieren, darauf schielt der jetzige Centraiismus hin; ebd. vor 1871 (XXVI 3,226) derselbe römische Geist des Centraiismus, der im Staat in der Idee des Kaiserthums gipfelt (SANDERS 1871); nürnberger 1874 Siegelringe 64 den starren Centraüsmus [in Österreich]; Willmann 1897 Gesch. III 569 der atomistischen und mechanischen Gesellschaftsansicht der Revolution setzten sie den Staatszentraüsmus entgegen; 1903 Grenzboten III 337 daß in Österreich eine Verwaltungsreform, aber weder der Zentralismus noch der Föderalismus, die bitterste . . . Notwendigkeit ist; Scheler 1917 Deutschenhass 46 Der alte Zentralismus Frankreichs reicht bis ins Geistige hinein; Bahr 1917 Schwarzgelb 62 Der Zentralis-

mus hat seinen grossen Augenblick in Alexander Bach, einem der österreichischsten Menschen, der zum Hofrat geboren war, Advokat wurde und sich 1848 Minister sah; Redlich 1920 österr. Staatsproblem I 207 [den] pseudoliberalen Zentralismus des Magyarentums; 1920—21 Süddtsch. Mon'h. XVIII 1,245 Unitarismus und Zentralismus; Curtius 1921 Barrés 52 dem langen hartnäkkigen Kampf, den Barrés gegen den Zentralismus der französischen Politik und Verwaltung geführt hat; Spann 1923 Gesellschaftslehre 165 Gleichheit als Grund von Atomismus und Zentralismus; Borries 1925 Romantik 196 protestiert Fr. Schlegel gegen den bürokratischen Zentralismus der französischen Revolution; Fleischmann 1928 Verfassungserbgut 21 der Zentralismus, der alle Gewalt an das grössere Ganze zieht und die Teile zu Körperschaften herabdrückt; 1932 ZfPolitik 634

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Weit mehr als der Radikalismus der Flügel müssen die zum Zentralismus berufenen Mittelschichten den Bedingungen der Nation und des Staates in der Welt nachleben . . . Hätte sie [die Sozialdemokratie] zu rechter Zeit einen nationalen Sozialismus verkündet, so wäre für den Nationalsozialismus niemals Raum gewesen; Offenburger Ztg. 28. 7. 1932 Der Zentralismus in der Bewirtschaftung des Geldes hat verhängnisvolle Auswirkungen und die Parole der Nationalsozialisten auf Unitarismus muß mit Schrecken vernommen werden; Wilhelm 1933 Fortleben 20 dem päpstlichen Zentralismus und Universalismus; Lokal-Anz. 24. 1. 1933 In der Berliner Verwaltung können Verbesserungen und Ersparnisse nur durch den Abbau des übertriebenen Zentralismus . . . erreicht werden; 1935 Volk u. Reich 27 ein übertriebener Wiener Zentralismus; Bruford 1936 Goethezeit 29 Zentralismus und patriarchalische Regierung [Joseph II.]; 1937 Volkswirt 785 wie sehr man bestrebt ist, den kriegswichtigen Sektor der Sowjetwirtschaft von den Fesseln eines bürokratischen Zentralismus zu befreien und gerade auf diesem Gebiet einen beweglichen Apparat zu schaffen; Heiler 1941 Altkirchliche Autonomie und päpstlicher Zentralismus (Titel); N. Z. Z. 21. 6. 1943 auf dem geistigen Boden einer föderalistischen, dem Zentralismus abholden Schweiz; Winter 1943 Josefinismus 486 Zentralismus . . . in der römisch-katholischen Kirche; 1943 Geopolitik 245 Im Wechselspiel zwischen Regionalismus und Zentralismus in der amerikanischen Geschichte; Süddtsch. Ztg. 19. 12. 1945 Wir erinnern . . . an Goethes Anschauungen über die Gründe des deutschen kulturellen Reichtums . . . Sie bilden heute für uns eine Verpflichtung unter Ablehnung eines undeutschen Zentralismus eine deutsche Bundesrepublik anzustreben; Largiader 1945 Zürich II 345 So bietet uns der Gang der Jahrhunderte das Widerspiel von Zentralismus und Föderalismus, von zwei Staatsanschauungen, die noch heute um Geltung ringen; Röpke 1946 Civitas 117 zum Unglück Frankreichs der jahrhundertelange Zentralismus und Absolutismus der französischen Monarchen; Neue Ztg. 22. 1. 1949 Ein Beispiel für ein häufiges Mißverständnis ist der Streit über Föderalismus und Zentralismus, für welchen sich die Alliierten vielleicht übermäßig interessieren; Süddtsch. Ztg. 3. 2. 1949 Ein Bund ohne starken Bundesrat bedeute eine Rutschbahn in den Zentralismus; ebd. 22. 3. 1949 Als er von den Feinden des Katholizismus sprach, wußte er wahrscheinlich noch gar nicht, daß sich die bösen fränkischen Protestanten . . . in Nürnberg zusammengerottet haben, um gegen den „bayerischen Zentralismus" . . . Sturm zu laufen; ebd. 24. 9. 1950 Damit wird dem Bukarester Zentralismus ein Verwaltungsinstrument in

die Hand gegeben, welches die Durchführung der kommunistischen Wirtschaftspolitik . . . erleichtern muß; ebd. 17. 2. 1951 Der wirtschaftliche Zentralismus [in Jugoslawien] soll aufgelockert werden; Münch. Merkur 22. 1. 1951 Finanzielle Gründe brauchen also nicht zum Fernsehzentralismus zu führen; Süddtsch. Ztg. 16. 3. 1954 Sie [die Schwäche der SED] liegt genau in dem, was das neue Statut weiter ausbaut: In dem sogenannten demokratischen Zentralismus. Wie in jeder anderen Partei gilt auch bei der SED der Parteitag als höchste Instanz; ebd. 13. 9. 1954 nahm mit heftigen Worten gegen den Bonner Zentralismus Stellung und forderte erneut ein eigenes Staatsoberhaupt für Bayern; Arbeitgeber 20. 3. 1956 Hier muß, wenn der Umschlag in den alles normierenden Zentralismus vermieden werden soll, ein Weiteres hinzutreten, eben jenes Element, an das Erhard . . . appellierte: das wirtschaftliche Handeln aus Einsicht und Gewissen; Offenburger Tagebl. 18. 6. 1959 Die von den ehemaligen christlich demokratischen Politikern gegründete sizilianische CSU, die an den Lokalpatriotismus der Inselbewohner appelliert, hat mit ihrem Widerstand gegen den brutalen Zentralismus . . . Erfolg gehabt; Arbeitgeber 20. 3. 1961 Unter der Zauberformel „Demokratischer Zentralismus" bemühe man sich, vielfältige Anregungen zu geben, um das Interesse der Arbeitnehmer am Betrieb und seiner Arbeit künstlich zu wecken; Stuttgarter Ztg. 7. 12. 1962 Die Spielkasinos und der römische Zentralismus. Die Sizilianer wollen ihr Spielkasino in Taormina (Überschr.) in Sizilien sind die Leute nicht weniger rebellisch. Auch sie besitzen gegenüber Rom die Regionalautonomie, die den Gesetzgebern der staatlichen Zentralmacht oft Sorgen bereitet; Rosenberg 1962 Demokratie 236 den seit 1867 bestehenden österreichisch-ungarischen Dualismus durch einen neuen Zentralismus . . . ersetzen; Bad. Ztg. 5. 1. 1963 nicht einen Perfektionismus durch Verwaltung oder gar einen Zentralismus durch Kompetenzerweiterung; Süddtsch. Ztg. 20. 10. 1964 Sein juristischer Verstand erblickt im Föderalismus ein staatspolitisches Strukturprinzip, das der Entstehung diktatorialer Macht entgegenwirkt . . . Der Drang zum Zentralismus entspringt dem Wunsche nach Uberschaubarkeit. Diktaturen sind am überschaubarsten; ebd. 25. 1. 1969 Eindringlich warnte Linsert vor dem wuchernden Zentralismus, der auch im DGB um sich greife; Offenburger Tagebl. 30. 10. 1970 Für den Raum Mittelbaden ist es höchste Alarmstufe. Tendenz zum Zentralismus verurteilt; 1970 Soziologie i. Soz. 130 Das Prinzip des demokratischen Zentralismus, der Einheit von zentraler Leitung in den Grundfragen, verbunden mit hoher Eigenverantwortung der Teile (WDG);

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FAZ 5. 4. 1971 Bei den Aprilwahlen stehen sich [in Japan] daher nicht nur Rechte und Linke gegenüber, sondern auch Zentralismus und lokale Autonomie.

list" zu sein, entschieden zurück. Er machte allerdings deutlich, daß eine Reihe von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern seiner Ansicht nach neu geregelt werden müßten.

Überzentralismus: NZ. (Basel) Ii. 11. 1949 Der Uberzentralismus, wie ihn das Dritte Reich seit 1933 aufrichtete, hat nur allzu schlimme Nachwirkungen hinterlassen.

zentralistisch: Frantz 1850 Politik 70 alle . . . centralistischen Ideen [in Preußen]; Riehl 1861 Vortr. I 275 centralistische französische Gemeinde; Fröbel 1866 Kl. polit. Sehr. I 299 eine Lösung der deutschen Frage nur in centralistischer oder hegemonischer Form denken; Oppenheimer 1866 Verm. Sehr. 70 Anm. dagegen ist Frankreich zur aussereuropäischen Colonisation weniger geeignet, weil hierzu eine Individualisirung der Zustände . . . gehört, die den zentralistischen Franzosen . . . abgeht; Mon'schr. (Nathusius) 1 (1879) 66 Gelegenheit, centralistische Politik zu treiben; Braun 1881 Bilder III 273 ein strammes centralistisches Land; Körting 1884 Anfänge d. Renaissancelit. i. Italien I 23 das schädliche Princip des centralistischen Absolutismus; Der neue Kurs 3 (1894) 84 zentralistische Neigungen beim neuen Kurse; Blume 1899 Wehrkraft 142 in einem centralistisch regierten Lande [Frankreich]; Lienhard 173 Wir wünschen in 1902 Wasgau-Fahrten Deutschland um keinen Preis eine centralistische Wirtschaft, wie sie Frankreich kennt; 1916 Deutschland I 293 So ist das Resultat der Verfassungskämpfe und der kriegerischen Mißerfolge der zentralistische Islamstaat, aber nicht der Staat des alten Kalifats; Redlich 1920 österr. Staatsproblem I 246 [den] zentralistischen Einheitsstaat; 1930 Bayer. Verw'bl. 65 die binnenstaatliche (zentralistische oder dezentralistische) Struktur Preussens; Offenburger Ztg. 28. 7. 1932 Die speziell badische Wirtschaftsnot kann mit diesen unitaristischen Machenschaften nur vergrößert werden. Wir leisten hier der Totengräberarbeit keinen Vorschub und bekämpfen diese zentralistischen Bestrebungen aufs heftigste; 1932—33 Schweiz. Rundschau XXXII 2,1121 Der allmächtige Staat kann nur zentralistisch sein; Lokal-Anz. 26. 2. 1933 Hier liegt auch der Grund, weshalb wir in Deutschland einen wie immer gearteten zentralistischen Rundfunk nicht vertragen; ebd. 19. 8. 1933 Getragen von dem Bestreben, die Voraussetzungen für eine starke, einheitliche, zentralistische Staatspolitik zu schaffen und alle ungesunden partikularistischen Hemmungen zu beseitigen; ebd. 7. 8. 1934 Eine zentralistische Zusammenfassung der Verwaltung; Münch. N. N. 9. 10. 1938 nachdem die Slowaken ihr Geschick in die eigene Hand genommen und die Tschechen auf eine Fortsetzung ihrer zentralistischen Hegemonie verzichtet haben; Neue Ztg. 12. 7. 1946 Zentralistische Ansätze (Uberschr.) Der Länderrat ist. . . doch immer nur ein Organ dieser Länder. Er

Zentralist: 1832 Jahrbücher d. Gesch. I 254 Die Aristokratie, und das, von den Experimenten seiner Befreier ermüdete, Volk . . . vereinigten sich endlich, um das Werk der Centralisten wieder zu zerstören; Szarvady 1852 Paris I 227 Centralisten; Fröhel 1866 Kl. polit. Sehr. I 253 National, im politischen Sinne, ist was den Interessen der Nation . . . entspricht . . . Will man der Partei . . . einen Namen geben . . . so muß man sie Partei der deutschen Centralisten oder Unitarier nennen; Treitschke 1874 Jahre 512 ein Häuptling des Lasallschen „Centralisten"; Nordau 1881 Kreml II 213 hat sie [die provenzalische Bewegung] nicht verfehlt, manchen französischen Centralisten zu beunruhigen; Friedjung 1904 histor. Aufs. 464 der Kampf der deutschen Zentralisten um die Erhaltung der Reichseinheit; Bahr 1917 Schwarzgelb 76 der Irrtum der Zentralisten, sich Österreich einförmig zu denken; Redlich 1920 österr. Staatsproblem I 140 Darüber waren . . . alle einig, Zentralisten und Föderalisten, daß der Statthalter . . . dem Landtage für den Vollzug der Landesgesetze verantwortlich sein müsse; Voss. Ztg. 26. 1. 1930 Sie bezichtigten ihn, ein schrankenloser Zentralist zu sein, der Bayerns Provinz, insbesondere die Galerien in Nürnberg, Augsburg und Aschaffenburg, zugunsten der Staatlichen Sammlungen in der Landeshauptstadt München aushöhle; Winnig 1932 Weg 38 Die „Zentralisten" regierten von Hamburg aus, die „Lokalisten" hatten ihre Leitung in Berlin; Süddtsch. Ztg. 23. 10. 1945 Hitler hat . . . sich als das entpuppt, was er, der leidenschaftliche Anhänger des preußischen Militärstaates, naturgemäß war: ein „totaler" Zentralist; ebd. 12. 12. 1950 Fabrikanten, die . . . Ende vorigen Jahres Tod und Teufel über die „Münchner Zentralisten" wünschten; ebd. 21. 12. 1958 Der Verbraucher muß dem Bundesrat, dieser von jedem hingebungsvollen Zentralisten als unbequem mißachteten Institution, aufrichtig dankbar sein, daß er . . . die Gefahr aufgefangen hat; Stuttgarter Ztg. 7. 12. 1962 Im Augenblick, da sich Fanfani anschickt, ganz Italien in einen Regionalstaat zu verwandeln, werden die Zentralisten immer aufgeregter; FAZ 5. 2. 1971 Genscher, der auch zur Verfassungspolitik der Regierung Stellung nahm, wies den Vorwurf, ein „Zentra-

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zentrieren

kennt keine Mehrheitsbeschlüsse, und das Veto nur eines Landes macht ihn aktionsunfähig. Die Zentralämter der britischen Zone . . . stehen außerhalb der Souveränität der Länder . . . sie sind, wie auch ihr Name zeigt, Organe einer Zentralgewalt, die in diesem Fall durch die Besatzungsmacht dargestellt wird; NZ. (Basel) 7. 4, 1949 Die zweite Richtung, die von einem Nachgeben gegenüber den alliierten Forderungen nichts wissen will, wird . . . von den zentralistischen Sozialdemokraten vertreten, die bisher jedes weitere Zugeständnis an die Westmächte und . . . an die süddeutschen Föderalisten abgelehnt haben; Röpke 1950 Mass 229 Technik, die aus einem Wegbereiter oder missbräuchlich benutzten Instrument der zentralistischen Massengesellschaft sogar zu seiner Hilfe werden kann; Süddtsch. Ztg. 18.119. 3. 1950 Die große europäische Aufgabe . . . liegt. . . darin, zu verhindern, daß erneut ein zentralistisches Deutsches Reich zum Angreifer werden könnte; Heuss 1951 Qualität 67 Die zentralistischen Regelungen führen leicht zu paragraphenmässigen Nivellierungen; Süddtsch. Ztg. 22. 10. 1953 Diejenigen seiner [Adenauers] Freunde, die zentralistischen Gedanken nicht abhold sind, konnte er überdies beruhigend versichern, mit der Ablehnung Schäffers sei auch eine Barriere

gegen überspitzten Föderalismus gezogen; Offenburger Tagebl. 4. 11. 1960 Es gibt . . . in dieser Hinsicht ein doppeltes Italien: das „zentralistische Italien", das von Rom aus regiert wird und . . . das „kommunale" Italien, das vielfach . . . andere politische Wege geht; Rosenberg 1962 Demokratie 214 Die französische III. Republik hatte sich als unfähig erwiesen, die überlieferte zentralistische Bürokratie zu zerbrechen; FAZ 18. 9. 1969 Franzosen sollen zentralistisches Denken aufgeben (Uberschr.) In der Regierungsmehrheit . . . weiß man, daß festgefahrene Gewohnheiten und Vorstellungen aus eineinhalb Jahrhunderten zentralistischer Praxis fallen müssen, um Frankreich das erwünschte neue Gesicht zu geben; Die Zeit 12. 12. 1980 Die bundesstaatliche Konstruktion erregt das Interesse . . . jener Staaten, die wegen ihres zentralistischen Aufbaus . . . mit regionalistischen Tendenzen zu kämpfen haben. dezentralistisch: 1930 Bayer. Verw'bl. 65 die binnenstaatliche (zentralistische oder dezentralistische) Struktur Preussens. überzentralistisch: NZ. (Basel) 7. 4. 1949 eine Korrektur der überzentralistischen Tendenz des Bonner Verfassungsentwurfs.

zentrieren V.(in)trans., im früheren 19. Jh. vereinzelt, im 20. Jh. kontinuierlich belegte Ableitung zu —» Zentrum; als V.trans. in der allgemeinen Bed. 'etwas in den Mittelpunkt stellen, um den Mittelpunkt, die Mitte herum anordnen, gruppieren' (vgl. konzentrieren), als Fachausdruck der Technik speziell für 'etwas auf die Mitte, den Mittelpunkt einstellen, ausrichten, justieren'; als V.intrans. in der Bed. 'im Mittelpunkt stehen' und 'nach dem Mittelpunkt streben; (sich) auf einer mittleren Ebene befinden', meist adj. in der Part. Präs.-Form zentrierend und in der Part. Perf.-Form zentriert nachgewiesen mit der dazugehörigen subst. Gelegenheitsableitung Zentriertheit F. (-; ohne PI.); dazu gleichzeitig das Verbalsubst. Zentrierung F. (-; -en) 'Einstellung, Ausrichtung auf den Mittelpunkt, Gruppierung um den Mittelpunkt' mit der vereinzelten Präfixbildung Umzentrierung, im frühen 20. Jh. vereinzelt zurückzentrieren 'wieder in den Mittelpunkt stellen'; ebenfalls seit früherem 19. Jh. das Adj. zentrisch 'einen Mittelpunkt besitzend; auf den Mittelpunkt bezogen, zum Mittelpunkt hin orientiert; durch den Mittelpunkt (gehend); in der Mitte, im Mittelpunkt (befindlich)', vgl. —» zentral a; heute meist in Präfixbildungen verwendet wie geo-, ex-, ego-, konzentrisch. Daneben die in jüngster Zeit gebuchten Subst. Zentrismus M. (-; ohne PI.) als Bezeichnung für eine linkssozialistische Richtung mit Vermittlerrolle innerhalb der Arbeiterbewegung und Zentrist M. (-en; -en) als Bezeichnung für den Anhänger dieser Richtung. zentrieren: Görres 1836-42 Mystik III 551 Peripherisirt durch die geweckte Centrifugalkraft, wird er zugleich auch centrirt (KEHREIN); Oppenheimer 1917 Ges. Reden I 452 [Er] besitzt die

Abstraktionsfähigkeit nicht, um zu sehen, daß in allen historischen Wirtschaftsperioden die Gesellschaftswirtschaft jeder höheren Wirtschaftsgesellschaft ohne Ausnahme um einen Markt zentriert

zentrifugal [ist]; Schumpeter 1926 wirtsch. Entwicklung 73 Das soziale Wert- und Preissystem zentriert in einem bestimmten Zustande, in einem bestimmten Mengenverhältnisse aller Güter bei den einzelnen Wirtschaftssubjekten; ebd. 88 die Spielart des Entwicklungsgedankens, die bei Darwin zentriert; 1927 Sittengesch. d. Lasters 218 ist die Libido zentriert; Groethuysen 1927 Entstehung I Von. VIII [das Leben] als ein zentrierendes Ganzes zu erfassen; Frankf. Ztg. 4. 6. 1933 die . . . Katharinenkirche, vortrefflich in den Raum der Zeil und des mild-barock zentrierten Hauptwachenplatzes hineingeschrägt; NZ. (Basel) 27. 5. 1949 zügelt er die . . . Spannungen . . . durch eine wohlabgewogene Formensprache [der Malerei], die sich häufig der zentrierenden Wirkung des Kreises bedient; Neue Ztg. 14. 11. 1952 Die Vielfältigkeit dieser Ausstellung, um Menschengesichter aus drei Jahrhunderten zentriert; 1956 Meisterwerke dtsch. Lit'kritik II Einl. XV geistig zentrierende Kraft; Teilhard de Chardin 1961 Entstehung (Übers.) 120 bewegen wir uns auf Lebensformen hin, die man als mehr und mehr zentriert bezeichnen kann. zurückzentrieren: Keyserling 1926 Welt 47 So steht schon diese Zeit im weitesten Maße im Zeichen von Versuchen, das Bewußtsein auf den wahren Lebensmittelpunkt zurückzuzentrieren. Zentrierung: Görres 1836—42 Mystik II 19 Sie hat größere Centrirung erlangt (KEHREIN); Hermann 1896 Physiologie 562 Centrirung des Auges; Marcuse 1905 geogr. Ortsbestimmung 123 Diese vom Mechaniker zu leistende Zentrierung

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kann beim Transport des Instrumentes [Okular] . . . gestört werden; Wiiiner 1917 Höhlenkunde 67 von geographischer und geologischer Zentrierung des Karstes; Cassirer 1923 Phil. I 15 diese letzte Zentrierung aller geistigen Formen; Breysig 1926 Werden II 25 Zentrierung [urzeitlichen] Daseins; 1943 Lex. Verm'kde 494 Zentrierungsmessungen bei trigonometrischen Punkten. Umzentrierung: Keyserling 1926 Welt 53 Wichtiger ist die neue Einheit, welche die Umzentrierung des psychischen Organismus aller Menschen auf das Übertragbare erschuf. Zentriertheit: Teilhard de Chardin 1961 Entstehung (Übers.) 20 eine gewisse „Zentriertheit" . . . nicht in der Form, sondern im Verhalten, eine „Zentro-Komplexion". zentrisch: Swinden 1834 Elemente d. Geometrie (Übers.) 250 Ein Vieleck, um welches sich ein Kreis beschreiben läßt, heißt centrisch nach den Seiten; Schellen vor 1871 (15) Wenn die Kupferader auf der ganzen Länge genau centrisch liegt (beide SANDERS 1871); Du Bois-Reymond 1878 Reden 1331 Beide Werke sind . . . aus anglocentrischer Perspektive verfasst; Gartenlaube (Berlin) 24. 1. 1935 Wenn man heute noch die Wörter zentrisch und exzentrisch statt mittig und ausmittig braucht, so kommt man leicht in den Verdacht, exzentrisch zu sein . . . Statt etwas zu zentrieren, wollen wir es in Zukunft mitten oder einmitten; 1943 Geopolitik 6 mittelmeerzentrischen Betrachtungsweise.

zentrifugal Adj., im früheren 18. Jh. im gelehrtenlat. Syntagma vis centrifuga (Newton 1687) und in der teillehnübersetzten Zs. Zentrifugalkraft aufgekommen (zu gelehrtenlat. centrifugus 'das Zentrum fliehend', zurückgehend auf lat. centrum, —* Zentrum, und fugere 'fliehen'); a Fachausdruck der Physik in der Bed. 'vom (Dreh-)Zentrum wegführend; auf der Wirkung der Zentrifugalkraft beruhend' (Ggs. —» zentripetal), als Bestimmungswort bes. in der Zs. Zentrifugalkraft 'Kraft, die einen um eine Drehachse rotierenden Körper vom Zentrum fortbewegt; Flieh-, Schwungkraft' (Ggs. Zentripetalkraft), und der Medizin in der Bed. 'vom Zentrum zur Peripherie verlaufend', bes. im Syntagma zentrifugale Nerven 'Nervenfasern, die die Erregung vom Zentralnervensystem zur Peripherie leiten'. Daneben seit späterem 19. Jh. das wohl aus gleichbed. engl, centrifuge entlehnte Subst. Zentrifuge F. (-; -n), anfangs Zentrifüge, Bezeichnung für ein Gerät zur Trennung von Stoffen unterschiedlicher Dichte durch Zentrifugalkraft (Milch-, Gas Zentrifuge), mit der im 19. Jh. vereinzelt (1871 bei Sanders) gebuchten verbalen Ableitung Zentrifugen und der seit früherem 20. Jh. (1933 bei Genius) gebuchten gleichbed. verbalen Ableitung zentrifugieren V.trans. 'Stoffe, Gemische durch Anwendung

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zentrifugal

der Zentrifugalkraft in der Zentrifuge voneinander trennen, zerlegen', z . B . Blut, Milch, b Seit Anfang 19. Jh. auch allgemeiner verwendet, bes. im gesellschaftspolitischen Bereich, für 'vom Mittelpunkt, von der Mitte, von einer mittleren Position wegstrebend', bes. in der Zs. Zentrifugalkraft und im Syntagma zentrifugale Kraft; dazu im 19. Jh. die seltene subst. Ableitung Zentrifugalität 'das Wegstreben von der Mitte'. zentrifugal a: Zedier 1737 Universallex. XV1690 Die Krafft, mit welcher ein solcher Körper während seiner Bewegung um sein centrum Virium von diesem sich zu entfernen bemühet, wird Vis centrifuga genennet (GANZ); 1745 Philos. Untersuchungen 342 Centrifugalkraft; Wolff 1747 Mathem. Lex. I 1364 Vis centrifuga, wird in der Mechanick eine Krafft genennet, wodurch der Cörper in seiner Bewegung von einem gewissen Puncte immer weiter hinweg getrieben wird (GANZ); Erxleben 1784 Naturlehre 65 Zwo Kräfte setzen ihn in diese Bewegung, wovon ihn die eine, die Centripetalkraft, immer nach . . . dem Mittelpuncte der Kräfte hintreibt, die andere aber, die Centrifugalkraft oder die Schwungkraft ihn beständig davon treibt; Forster vor 1794 S. Sehr. IV 314 eine schwingende aus diesem Mittelpunkte hervorragende Centrifugalkraft (GANZ); 1798 Gallerie d. Welt 28 die Flugkraft, Fliehkraft, Schwungkraft (Centrifugalkraft); Schubart 1823 Wanderbüchlein 257 Centrifugalkraft, welche die Planeten für sich allein ins unendlich Ferne hinaustreiben würde; Valentin 1855 Physiologie 686 Centrifugale Nervenfasern; 1856 Mon'schr. Wiss. V. Zürich 46 Repulsions- und Centrifugalkraft als umgekehrte Wirkung der Gravitation; Annalen d. önologie 1 (1870) 69 Centrifugal- und Schleudermaschinen bei der Weinbereitung; Benedikt 1903 biomechan. Denken 21 zuführende (centrifugale) Innervation; Hashagen 1910 Kandidatenzeit 247 zentrifugale und zentripetale Gewalt; Voss. Ztg. 9. 3. 1930 Die Tangentialkraft, die für den Abwurf [des Diskus] maßgebend ist, ist abhängig von der Zentrifugalkraft, also vom Gewicht des Athleten; 1933 Siemens-Zschr. 1 o. S. Darstellung der Wirkungsweise des Zentrifugal-Flüssigkeitsabscheiders. Zentrifuge: vor 1871 Nat. B. XXI 145 Bei den Fesa'schen Centrifügen zum Garntrocknen (SANDERS 1871); Proskewetz 1889 Newastrand 36 Centrifügen zum Ausschleudern des Honigs; 1890 Landwirtschaft i. Bayern 457 Milchcentrifuge; Roscher 1899 Handel (System III 735) Gegen das Butterfaß tritt die Centrifugenmolkerei auf; Sänger 1908 bad. Landwirtschaft 54 Verband badischer Zentrifugenmolkvereine; Huber 1908 Studien um Rosenheim II 69 Handmilchschleuder (Zentri-

fuge); Lokal-Anz. 31. 8. 1934 Wie gigantische metallene Steinpilze sehen die Reinigungszentrifugen aus; Münch. N. N. 8.HO. 4. 1944 ist die Anwendung der Zentrifuge keineswegs auf die Milchwirtschaft beschränkt; Stuttgarter Ztg. 12. 4. 1969 Miele und . . . Zinkmann gründeten vor 70 Jahren . . . die Miele & Cie zur Herstellung von Milchzentrifugen; FAZ 7. 8. 1971 Nach dem . . . Ubereinkommen zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Nutzung des Gaszentrifugenverfahrens zur Herstellung angereicherten Urans. zentrifugal b: Rousseau 1800 Staats-V. (Übers.) 96 Denn es ist den Völkern . . . eine Art von Centrifugalkraft eigen; Görres 1819 Teutschland 187 daß er [Klerus] ihre [Wissenschaft] gegen die Religion centrifugale Richtung durch die Macht der Überzeugung in die centripetale zurücklenkt; Wit v. Dörring 1830 Fragm. I 371 als die . . . Centripetal- und Centrifugalkraft im Staate; 1840 DVjS III 262 Centrifugalkraft des Gedankens; Spielhagen 1862 Naturen II (V 343) Der Mann repräsentirt die Centrifugal-, die Frau die Centripetalkraft der moralischen Welt; Rümelin 1863 Reden III 378 Wenn man schon dem Deutschen überhaupt gegenüber von den Romanen und Slaven eine centrifugale Neigung beigelegt hat, so scheint jedenfalls das schwäbische Naturell hievon am wenigsten frei zu sein; 1866 Grenzboten III 309 In Süddeutschland . . . jener Preussenhass, jener centrifugale Sanct-Veitstanz; Stolz 1867 Witterungen V 398 Es ist wunderbar, wie zentrifugal mein Herz ist: was ich habe, liebe ich nicht; was mir fern liegt in Zeit und Raum, nach dem sehne ich mich heftig; Treitschke 1870 Jahre 353 Der Eintritt des Südens verstärkt die centrifugalen Kräfte im Bundesrath; Schlözer 1871 Amerikan. Br. 160 Die zentrifugalen Kräfte in Deutschland; Langhans 1872 Orient 144 der zentrifugalen [Kraft] Londonfs], dessen Bewohner . . . das Centrum so weit als möglich hinter sich zu lassen bestrebt sind; Braun 1881 Bilder 1333 centrifugale Gesinnung; Wilhelm II. 1890 Kaiserworte 157 centrifugale Tendenzen; Busch 1899 Tageb. II 57 die [Militärs] haben eine zentrifugale Operationskarte, ich eine zentripetale; Münsterberg 1904 Amerikaner I 76 Wirksamkeit der [amerikanischen] Verfassung, dass sie die zentrifugalen Kräf-

zentripetal te nirgends durch die zentripetalen zerstöre; 1913 Jahr 1913 31 Die kleinen Parteien zentrifugaler Tendenz, die Polen, die Elsässer, die Dänen, die Weifen haben . . . Agitationsarbeit [getrieben]; Dtsch. AZ. 21. 3. 1936 Aber dafür reitet sie gut und tanzt in einem solchen Wirbelsturm, daß man froh ist, wenn die Zentrifugalkraft des Czardas ihr am Ende noch die nötigen Kleider am Leib gelassen hat; Picht 1940 soldat. Mensch 55 kosmische Zentrifugalkraft, die ihn ins Grenzenlose reissen will; N. Z. Z. 1. 1. 1944 wenn sich die Voraussetzungen wandeln und der aussetzende Druck von außen Zentrifugalkraft freimacht, die heute zum Wohle des Landes positiv gebunden sind; Münch. N. N. 22. 11. 1944 Alle zentrifugalen Elemente des sizilianischen Separatismus und einer sardinischen Autonomiebewegung; 19¡4 Begegnungen 308 [die] zentrifugalen Talente zu

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sammeln und heimatlich wieder zu binden; Adorno 1961 Gesellschaft II 27 die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft; Schmid 1963 Unbehagen 8 all diese zentrifugalen Strebungen, die den Kleinstaat in den Augen der einen problematisch macht; Offenhurger Tagehl. 19. 2. 1969 Sie [Seele] registriert die zentrifugalen Kräfte und Spannungen im [politischen] Bündnis, sein inneres Machtgefälle und nationalstaatliche Divergenzen; Die Zeit 12. 2. 1982 Schmidts Kanzler-Demokratie . . . versucht, die zentrifugalen Kräfte, welche iir der Koalition . . . herrschen, zu bremsen.

Zentrifugalität: Molitor 1834 Phil. II 85 Jener . . . Wechsel von Thätigkeit und Leiden, von Centripetalität und Centrifugalität; Gutzkow vor 1871 (Z. V 80) Centrifugalität (SANDERS 1871).

zentripetal Adj., im früheren 18. Jh. im-gelehrtenlat. Syntagma vis centripeta (Newton 1687) und in der teillehnübersetzten Zs. Zentripetalkraft aufgekommen (zu gelehrtenlat. centripetus 'auf das Zentrum zustrebend', zurückgehend auf lat. centrum, —* Zentrum, undpetere 'auf etwas zustreben'); a Fachausdruck der Physik in der Bed. 'zum (Dreh-)Zentrum hinführend; auf der Wirkung der Zentripetalkraft beruhend' (Ggs. —» zentrifugal), bes. in der Zs. Zentripetalkraft 'Kraft, die einen um eine Drehachse rotierenden Körper zum Zentrum hinbewegt' (Ggs. Zentrifugalkraft), und der Medizin in der Bed. 'von der Peripherie zum Zentrum verlaufend', bes. im Syntagma zentripetale Nerven 'Nervenfasern, die die Erregung von den Rezeptoren in der Peripherie zum Zentralnervensystem leiten'; b seit frühem 19. Jh. auch allgemeiner, bes. im gesellschaftspolitischen Bereich, für 'zum Mittelpunkt, zur Mitte, zu einer mittleren Position hinstrebend', vor allem in der Zs. Zentripetalkraft und im Syntagma zentripetale Kraft; dazu im 19./20. Jh. die seltene subst. Ableitung Zentripetalität 'das Hinstreben zur Mitte'. zentripetal a: Zedier 1737 Universallex. XV1689 eine dergleichen Krafft ist die Vis centripeta, wenn sie an einen Cörper arbeitet, der von einer andern Krafft in eine Bewegung nach einer geraden Linie ist gesetzet worden; Wolff 1747 Mathem. Lex. I 1364 Vis centripeta, wird eine Krafft genennet, wodurch der Cörper in seiner Bewegung beständig gegen einen gewissen Punct gedrucket wird, daß er nicht in einer geraden Linie fortgehen kann, sondern eine krumme Linie beschreiben muß (beide GANZ); Entlehen 1784 Naturlehre 65 Zwo Kräfte setzen ihn in diese Bewegung, wovon ihn die eine, die Centripetalkraft, immer nach einerley Puncte . . . dem Mittelpuncte der Kräfte hintreibt; 1798 Gallerie d. Welt 27 nennt man . . . die Schwere eine zum Mittelpunkte der Erde wirkende Kraft (Centripetalkraft); Heidelhg. Jahrbücher 1 (1808) III 7 Durch das Hervortreten der Zentri-

petalkraft aber entsteht die Bewegung der Masse; Valentin 1855 Physiologie 478 Centripetale Nervenfasern; Benedikt 1903 biomechan. Denken 20 Leitungshemmung der wegführenden (centripetalen) Nerven. zentripetal b: Steffens 1817 gegenwärtige Zeit I 229 war dennoch das centripetale Streben nach kirchlicher Einheit aus dem herrschenden Glauben entsprungen; Witv. Dörring 1830Fragm. 1371 als die Centripetal- und Centrifugalkraft im Staate; Spielhagen 1862 Naturen II (V 343) Der Mann repräsentirt die Centrifugal-, die Frau die Centripetalkraft der moralischen Welt; Busch 1899 Tageb. II 57 die [Militärs] haben eine zentrifugale Operationskarte, ich eine zentripetale; Münsterberg 1904 Amerikaner I 76 Wirksamkeit der [amerikanischen] Verfassung, dass sie die zentrifu-

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Zentrum

galen Kräfte nirgends durch die zentripetalen zerstöre; Hashagen 1910 Kandidatenzeit 247 zentrifugale und zentripetale Gewalt; Lerchenfeld 1935 Erinn. Einl. XVI jede Uberspannung des zentripetalen wie des zentrifugalen Triebes [im Reich] zu vermeiden; Schmidt 1935 Rasse (Reg.) zentripetales Element; Haushofer 1937 Weltmeere 30 zentripetaler Kulturen.

Zentripetalität: Molitor 1834 Phil. II 85 Jener . . . Wechsel von Thätigkeit und Leiden, von Centripetalität und Centrifugalität; Simmel 1909 Philos. 78 Zentripetalität des Erlebnisses in der Georgeschen Dichtung; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 329 strenge Zentripetalität, ordre, clarté, logique von jeher das Ideal des französischen Geistes.

Zentrum N. (-s; Zentren), im 12./13. Jh. entlehnt aus (m)lat. centrum 'Kreismittelpunkt; Stachel; Kern' (< griech. KEVTQOV 'Stachel, Nagel, Spitze; Einstich des Zirkels; Kreismittelpunkt', zu KEVTEIV '(ein-)stechen'), in spätmhd. Zeit vereinzelt gebucht in der Form Zenter (LEXER), bis ins 19. Jh., bes. in präpositionalen Syntagmen, in der lat. (flekt.) Form; a veralteter Fachausdruck der Geometrie in der Bed. 'Kreismittelpunkt', vgl. —»zentral a; b seit späterem 16. Jh., bezogen auf die topo-/geographische Lage von Gegenständen, in der Bed. 'Mitte, Mittelpunkt; mittlerer, innerer Bezirk', seit frühem 20. Jh. speziell von Städten für 'Stadtmitte, -kern, Innenstadt' (Stadt-, Ortszentrum) (Ggs. Peripherie), vgl. —»zentral a; c ebenfalls seit späterem 16. Jh. zunehmend bildlich und übertragen verwendet für 'zentrale (Koordinations-, Sammel-)Stelle, die Ausgangs- und Zielpunkt bestimmter Prozesse ist; Kern, Brennpunkt', auch in der Bed. 'lokaler Bezirk/Institution/Instanz, der/die auf einem bestimmten Gebiet eine dominierende Rolle einnimmt, von wesentlicher, erstrangiger Bedeutung ist' und bes. 'zentrale Einrichtung; Anlage, in der bestimmte Einrichtungen zusammengefaßt, konzentriert sind', vgl. —> zentral b und c; überaus häufig als heute bes. mit dem aus dem Amerikan. übernommenen Subst. Center N. (-s; -) konkurrierendes Grundwort in Zss. wie Ballungs-, Einkaufs-, Forschungs-, Sport-, Urlaubszentrum und in Wendungen wie geistiges, kulturelles, wirtschaftliches, industrielles Zentrum. Dazu in neuester Zeit die in der Regionalplanung und Landkreisreform aufgekommenen Bildungen Oberzentrum N. (-s; Oberzentren) 'Stadt, die in einer Region als (kulturelles, wirtschaftliches) Zentrum fungiert' und Unterzentrum N. (-s; Unterzentren) 'Stadt, die in einer Region neben einem Oberzentrum eine zentrale Stellung einnimmt'. Zentrum a: 12.—14. Jh. Minnes. III 404, 14 das centrum (MÖLLER); um 1300 Main. Naturlehre 3 centrum, daz ist zuo dem allir mittelsten puncten; um 1400 Geometría Culmensis 65 Vnde yn der mittel [des Kreises] sal syn eyn punct, das heyset centrum, vnde alle linien, dy dovon geczogen werden bys an den vmmesweyf, dy sullen syn glyche lang (SCHIRMER, Mathematik); 14./ 15. Jh. Kirchenl. 1023,15 als eyn centrum yn dem cirkell (MÖLLER); Widmann 1508 Rechensch. 141a der selb punct wirt Centrum genant; Heynfogel 1519 Sphera materialis A2b Vnd diser punckt heysset Centrum der Spheer (SCHIRMER, Mathematik); Xylander 1562 Euclid (Übers.) 2 Der selbig punct [eines Kreises] haisst des Zirckels Centrum, das ist, Mitte; ebd. 4 Auss einem jeden Centro mag auf einer jetlichen weitte ein Centro gerissen werden; Lautensack 1564 Des Circkels

vnderweisung 8" in seinem punctloch oder Centrum; Erard de Bar le Due 1604 Fortif. (Übers.) 18 von dem Centro oder mittelsten Puncto desselbigen [Kreises]; Hulsius 1618 Beschr. d. Sonnen Compass Cl" im centro, oder zu mitten dieses Circuís; Böckler 1672 Man. arch. mil. I 15 Mittelpuncts- oder Centrumswinckel; 1694 Euclides 6 der Mittel-Punct dess Circkels oder Centrum geheissen; Naudé 1706 Messkunst 181 Centrum der Kugel; Rembold 1710 Perspectiva Ia aus dem Centro oder Mittel-Punct; Sturm 1777 Civil-Baukunst 5 Mittelpunkt (Centrum); Goethe 1827-42 (W. XXXV 324) Im Centro wird ein Punct gezeichnet (KEHREIN). Zentrum b: Paracelsus 1562 Baderbüchlin A2h auss dem Centro der erden; Fioravanti 1604 Krön derArtzney 15 dass alsdenn die feuchte wässerich-

Zentrum te Dämpffe sich auss dem Tieffe centro der Erden herfür thun; Lopez 1609 Congo 34 Diese Landschafft ist der Kern, vnd das centrum dess Königreichs Congo; Paracelsus 1616 Op. II 433 die seel ist das centrum des menschen (DWB); Glauber 1655 Op. Min. II 10 in dem centro terrae; Böckler 1665 Schola müitaris 674 Wann man das Centrum oder den Mittel-Punct der Festung haben kan; Sturm 1714 Anw. (Architektur) Die Treppe habe [ich] im Centro des Thurms [angelegt]; Dippel 1734 Analysis 2 weil es noch nicht ausgemacht wo das Centrum in der Welt zu finden ist, aus welchem man in die Peripherie ungehindert schauen kann; Klinger 1780 Plimplamplasko 191 Centrum der Erde; 1805 Paris I Vorr. XIV Rom, als das Centrum aller merkwürdigen und schrecklichen Ereignisse und Unthaten; Goldmann 1839 Pentarchie 69 in Deutschland, dem Herzen, dem Centrum von Europa; Spielhagen 1857 Engl. Charakterzüge (Ubers.) 13 London ist das Centrum der Erdkugel; Roth 1930 Panoptikum 22 Eine grosse Stadt hat Zentren, Strassenzüge, verbunden durch den Sinn einer Anlage; Beri. Illustr. Nachtausg. 24. 5. 1932 Uber dem Zentrum Berlins sollen einige Schleifen gezogen werden, ehe sich das Flugschiff zum Müggelsee begibt; ebd. 11. 5. 1933 Im Zentrum erhielt die Alte Schützenstraße, als man den dort gelegenen alten Berliner Schützenplatz in das Straßennetz eingliederte, vor 225 Jahren ihren Namen; ebd. 26. 8. 1933 wir waren endlich aus dem Sturmzentrum herausgekommen; Bahr 1933 Volk 10 Berlin, das natürliche Zentrum des Nordostens; Süddtsch. 2tg. 12. 3. 1959 Das Stadtzentrum als Sammelbegriff für das wirtschaftliche, kulturelle und gesellige Leben geht verloren; Offenburger Tagebl. 11. 8. 1971 Gefährlicher Brand im Ortszentrum (Uberschr.). Zentrum c: Paracelsus 1562 Spitalbuch Glh Nun ist der samen das Centrum der gesundheit; Glauber 1655 Op. Min. I 89 [Regulis antimonii] ist vnergründlich, ja ein centrum aller wunderwerck vnd Geheimnissen; Lassenius 1661 Tischreden 189 saget auch der H. Vater Augustinus: dass der Tantz ein Punct sey, dessen Centrum der Teufel ist; Frankenberg 1684 Pein 27 als auff dem einigen und ewigen geistlicher Centro aller jeglichen mit ihm concentrirten Religionen und Hertzen; Sekkendorff 1685 Christenstaat II 59 Er betrachtet aber in dem Geist einen gewissen Punct oder Centrum, darinnen er hauptsächlich bestehe; Gichtel 1722 Theosophica Practica 28 so würde der Herr bald das Centrum, nemlich Christum, erreichen, und die Tiefe der Lichts-Pforte, nemlich das liebe Hertz Jesu offenbaren; Fr. Schlegel 1797— 80 Fragm. (Boxa, Ges. 63) Ein Künstler ist, wer sein Centrum in sich selbst hat; Fichte 1801 Nicolai 23 Fremdwörterbuch

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VIII 19 Die Bildung ging von ihm aus, als ihrem Centrum, und verbreitete sich regelmäßig umher; Gentz 1804 Staatsschr. I 44 warum sind wir nicht das Zentrum der politischen Macht; 1808 Reils Beyträge I 39 Die denkende Seele ist aufs Gehirn beschränkt, die empfindende durch die ganze Materialität zerstreuet, und wird durch das Leitungsvermögen der Nerven, als ihrem Centrum, gesammelt; Steffens 1817 gegenwärtige Zeit 1158 Das eben macht Gustav Vasa so gross, dass man ihn nicht als eine einzelne Gestalt, vielmehr als das Centrum einer erwachten lebendigen Gesinnung ansehen muss; Cancrin 1820 Militairökonomie II 120 Centrum der Verwaltung; Steffens 1821 Sehr. I 48 dass der Mensch gleichsam ein Centrum der Natur ist; Schlesier 1836 Obd. Staaten 68 Metternichs Politik kann deshalb als der Stützpunkt und das Centrum aller conservativen Politik angesehen werden; Schlözer 1871 Amerikan. Br. 108 dem gigantischen Zentrum der Religion und Kunst — Rom; Meysenburg 1876 Mem. I 460 dass der grosse Ozean . . . dieselbe Rolle spielen werde, die das Mittelmeer in der alten Welt gespielt hatte, das heisst: das Zentrum der Kulturstaaten dieser Zukunft zu sein; 1896 Cosmopolis I 287 Ein Centrum des geistigen Lebens, wie es England in London oder gar Frankreich in Paris besitzt, gab es nicht; ebd. Deutschland erhielt ein politisches Centrum — Berlin; Schmölder 1900 Staat 43 behalten . . . die Prostituirten in ihrer Wohnung ein reines Lebenszentrum, ein Lebenszentrum, in dem sie ihre Schande geheim halten; 1915 Dtsch. Reden 179 in der Hauptstadt des Reiches und dem Zentrum des Volkslebens; 1917 Kulturjahrbuch 219 die grossen Weltverkehrszentren; 1926 Sittengesch. v. Paris 50 dem internationalen Kultur- und Vergnügungszentrum; Noack 1928 Friedenspolitik 46 sprach von Berlin als dem Zentrum der europäischen Kriege; Amholds Wochenber. 28. 3. 1931 wird hierbei auch die Entwicklung an den internationalen Geldmarktzentren . . . von erheblicher Bedeutung sein; Lokal-Anz. 10. 8. 1933 Für die Überwindung der Arbeitslosigkeit sind zwei Zentren des Willens in Deutschland notwendig. Einmal muß von oben her alles, was überhaupt ein Staat für die Wirtschaft tun kann, zur Ankurbelung der Arbeitsbeschaffung organisiert werden; ebd. 18. 7. 1934 Krakau bietet als Zentrum der Rettungsaktion . . . ein Bild wie in einem Kampfgebiet; Dtsch. AZ. 28. 7. 1935 Wie im alten und ältesten Berlin, so regen sich auch in seinem zweiten Zentrum, dem verkehrs-und lebensdurchpulsten Westen, überall die Arme der Bauleute; Reichert 1938 Lerne 19 In vielen Wohnungen ist der Bücherschrank überhaupt nur darum das „geistige Zentrum", weil ein Likörschränkchen eingebaut ist; B. N. 2. 7. 1943 Die eidgenössische

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Zepter

Zentralstelle für Kriegswirtschaft. . . lud zu einer Besichtigung des Käsezentrums Langnau ein; Weizsäcker 1950 Erinn. 361 den Vatikan, dieses religiöse Zentrum, diese Zelle von Moral; Siiddtsch. Ztg. 1. 7. 1960 Die Abneigung gegen die Großstädte — man nennt sie jetzt mit Vorliebe nur noch Ballungszentren — ist in Bonner Regierungskreisen notorisch geworden; Stuttgarter Ztg. 21. 7. 1962 will man in Oberkochen demnächst ein Gemeindezentrum mit Rathaus, Bürgersaal und Hotel bauen; FAZ 30. 5. 1964 Der amerikanische Handelsminister . . . der in Frankfurt die Interstoff-Messe und das Handelszentrum besuchte; Stuttgarter Nachr. 12. 12. 1964 Handel über Einkaufszentren vor den Großstädten beunruhigt; Stuttgarter Ztg. 14. 2. 1966 Die Schergera-Baugesellschaft . . . beabsichtigt, in dem Höhenerholungsort Wart ein Ferienzentrum zu bauen; FAZ 23. 9. 1967 Als Ausweg wird vor allem die Umwandlung des Fachgeschäftes in ein Nähzentrum empfohlen; Offenburger Tagebl. 16. 1. 1968 Mecklenburg soll in den nächsten Jahren zu einem bedeutenden Urlaubs-Zentrum Mitteldeutschlands entwickelt werden; ebd. 27. 2. 1969 Nixons Reise führt heute nach Berlin, wo . . . noch immer das Zentrum des europäischen Problems liegt; FAZ 19. 7. 1969 seinen . . . Angriffen gegen das Wirtschaftssystem und seine konservativen Machtzentren die Ankündigung; Offenburger Tagebl. 29. 7. 1969 Unter Schulzentrum ist dabei die räumliche Zusammenfassung oder Zuordnung von Gebäuden und Freianlagen zu verstehen; Stuttgarter Ztg. 5. 9. 1969 Die Liebesmädchen sollen . . . aus der Öffentlichkeit verbannt werden, damit die Kinder auf ihren Schulwegen durch die „Zentren der Sünde" . . . nicht mehr mit den Auswüchsen des Dirnenunwesens konfrontiert werden; Bad. Ztg. 2. 9. 1970 Die deutsche Forschungsgemeinschaft hat zum weiteren Ausbau von Hochschulrechenzentren . . . rund 15,5 Millionen Mark bewilligt; FAZ 30. 9. 1970 Bücher, die über die Kulturstätten, die Gastronomie . . . in den europäischen Großstädten und Freizeitzentren berichten; ebd. 29. 12. 1970 Die Erkenntnisse der bisherigen Zentren im Bereich der Baukosten, Nutzung und Folgekosten will man . . . bei den drei geplanten „kombinierten Leistungszentren" . . . nutzen; ebd. 28. 10. 1971 in den Vereinigten Staaten wird Tito das Weltraumzentrum in Houston besichtigen; ebd. 3. 12. 1971 Für die Zeit bis 1975 sind, wie der Leiter des Centrums, Scharein,

mitteilt, sechzig Kongresse . . . fest notiert; Die Zeit 4. 7. 1980 Ein Mediziner . . . machte sich nun die Mühe, die Hautkrebsstatistiken von 43 Datenzentren . . . zu verfolgen; ebd. 12. 12. 1980 Ist er [Föderalismus] noch die Ordnung, die Raum läßt für einen speziellen Aspekt der deutschen politischen Kultur — das Leben aus verschiedenen Zentren, im Bewußtsein der Vielfalt oder Temperamente, Stile und Traditionen, die sich im Laufe der Geschichte hier angesammelt haben. Oberzentrum: Stuttgarter Ztg. 2. 1. 1968 Weitere Aufgaben sind die Modernisierung des Schlachthofes und die Planung eines modernen Krankenhauses. Auch über ihre Funktion als „Oberzentrum" müsse sich die Stadt Gedanken machen; ebd. 30. 10. 1968 Der Planungsbeirat . . . hat . . . mit Stimmenmehrheit für ein großes Oberzentrum der Städte Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd gestimmt; Offenburger Tagebl. 9. 11. 1970 Auch in Dundenheim wird man entschieden für eine Region Mittelbaden mit Offenburg als Oberzentrum plädieren; ebd. 21. 10. 1971 Die FDP sehe zwar ein, daß Offenburg, wenn es den Anspruch erhebe, Oberzentrum zu werden, nicht auf derartige große Einkaufsstätten verzichten könne. Unterzentrum: Stuttgarter Ztg. 25. 3. 1968 Nach dem Vorschlag des Kreises Tuttlingen soll die Stadt Trossingen als volles Unterzentrum (nicht als „Hilfszentrum" wie vorgesehen) und die Trossinger Nachbargemeinde Aldingen als Mittelpunktgemeinde eingestuft werden. Center: MZ 18. 9. 1968 [Er] betonte, daß das Donau-Einkaufszentrum kein Discount-Center mit Billigstpreisen sein will; ebd. 4. 7. 1969 Die Gemälde . . . kamen von der Corbusier-Stiftung Paris, dem Le-Corbusier/Heidi-Weber-Center in Zürich; Sprachdienst 14 (1970) 56f. Aus dem Schreibwarenladen wird ein Büro-Center; aus dem Milchgeschäft ein Milch-Center. Der Klempner errichtet sein Installations-Center und der Zeitungsverlag sein Presse-Center. Aus dem Buchladen wird ein Literatur-Center und aus der Bäckerei ein Brot- und Kuchen-Center; WamS 13. 6. 1971 baut die „Neue Heimat" ein UrlaubsKomfort-Center (Anzeige); tz 15. 7. 1971 Mit dem Frisch-Center in Neuaubing . . . eröffnet heute . . . ein völlig neuer Ladentyp (alle CARSTENSEN).

Zepter N. und M. (-s; -), nach 1150 aufgekommen, über gleichbed. lat. sceptrum, mlat. ceptrum zurückgehend auf griech. OKfjjtTQov 'Stütze; (Herrscher-)Stab' (zu aicrjjrTEiv 'stützen, lehnen'), anfangs vereinzelt in der lat. Form, auch in Schreibun-

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gen wie Cepter, Scepter und Szepter; in der Bed. 'verzierter Stab aus kostbarem Material (Gold, Elfenbein) als Symbol der Macht und Würde eines Kaisers/Königs/ Fürsten', speziell auch als Belehnungsabzeichen und als Zeichen der Amts-, bes. Gerichtsgewalt (Zepterstab, -träger, -lehen), gelegentlich als Symbol himmlischer Macht und Herrschaft (und Schutzmittel gegen die. Macht des Teufels) und allgemeiner verwendet als Herrschafts-, Machtsymbol, dem jmd./etwas unterstellt ist, in (heute nur noch) bildlich gebrauchten Wendungen wie das Zepter (inne-)haben, halten, führen, ugs. auch schwingen 'die Leitung, Herrschaft haben, regieren; das Sagen haben, dominieren'; dazu im 17. Jh. vereinzelt die adj. Ableitung zeptermäßig 'wert, würdig, geeignet, das Zepter zu führen', gleichbed. mit (im 18. Jh.) vereinzelt nachgewiesenem zepterfähig, im 17./18.Jh. die vereinzelt nachgewiesene verbale Ableitung zeptern 'mit dem/einem Zepter versehen; krönen' mit im 17. Jh. nachgewiesenem entzeptern 'das Zepter abnehmen; absetzen, entmachten'; im 19. Jh. die subst. Gelegenheitsableitung Zeptertum '(Zeit der) Amtsgewalt, Herrschaft' und im 20. Jh. vereinzelt die adj. Ableitung zepterartig 'in der Art eines/wie ein Zepter (gestaltet)'. Zepter: H. v. Veldeke nach 1150 Eneide 8238 ein gegerwe man da vore droech, rieh ende skone, ein ceptrum; Wolfram v. Eschenbach 1200/10 Parzival V 26 Gahmuret der wigant verlos sus bürge unde laut, da sin vater schone truoc zepter unde kröne; ders. um 1215 Willehalm 302, 7 wan etslich [Fürsten] widerwanden, die ir fürstie schänden, sie enphiengns mit scepter odr mit vanen; nach 1215 J. Titurel 81 daz sie in breiten landen lanc und witen trugen werdiklichen liehte kröne, mit kuniglichen eren, und lihen cepterlehen fürsten schone; ebd. 4616, 5 [Wigamur] der von dem riche lehen nam mit zepter; Konrad v. Würzburg vor 1270 Engelhard 6197 daz ich ze Tenemarke trage den zepter und die kröne; ders. um 1275 Goldene Schmiede 516 der scepter und der diadem die zierent dich [Jungfrau Maria] ane endesdrum (alle DWB); Megenberg 1350 Buch d. Natur 460, 30 auf ainem swarzen stain ain mensch, daz in der rehten hant ein zepter tregt und in der andern ainen fliegenden vogel mit gestrakten flügeln und under dem pilden ain crocodil ist, der ist guot wider der teufel pannen; 1466 Bibelübers. (Kurrelmeyer III Gen.) Es soll das Scepter von Juda nicht entwendet werden (TRÜBNER); 1472 (Ann. Ingolstad. Acad. IV 44) Zepter der Universitet; Adam v. Fulda 1512 Büchlein b 5° [Jacob prägt den Namen Israel, als das Volk, das das] Zepter [und] das fürstenthumb behalten solle [bis Christus kommt]; Kramer 1523 Unterredung 437 Es wirdt nicht der königliche Cepter von Juda gewant werden . . . weder Cepter noch prophetenn . . . das Zepter were euch genommen; ebd. 438 königliche Cepter; 1534 New weit 3b Dann so der König das zepter emphahet; Ruf 1545 Passion K 5b Bistu ein König? sror nimm ind hand Grad wie das ror 23»

ein zepter ist Also ein Küng vnd Herr du bist; 1564 Wigalois 9438 frowe Larie setzte im do uf sin houbet schone die guldinen kröne und bevalch in sine hant, ir lip, ir liute unde ir lant, mit einem scepter guldin (DWB); Agricola vor 1566 Sprichw. 324" das scepter soll äugen haben . . . dann scepter und gewalt on weiszheyt ist nichts anders dann ein blosz schwert in eines unsinnigen tyrannen handt (DWB); Reißner 1574 Jerus. II 55" der herr zerbricht das scepter der bösen (DWB); Platter 1612 (Ausg. Boos) 288 den küniglichen scepter, doruf ein herniin von einhorn; Rachel 1664 — 67 Satyr. Ged. 69 Birkken-Zepter; Butschky 1677 Pathmos 263 ein scepter sol gerechte äugen haben: denn menschen zu regiren ist das schwerste regiment; ebd. 686 indehm der allmächtige die könige einsätzt, als bilder und Spiegel seiner majestät, giebt er ihnen nebenst dem scepter auch das schwerdt in die hand; ebd. 719 nicht selten schlägt ihnen [den Fürsten] der donnerer den köstlichsten stein aus ihrer krohn und den scepter aus der hand; ebd. 799 das rechte auge aber, so an den seeptern und fürstlichen regimentsstäben musz haften, ist die klugheit (DWB); 1741 Begebenheiten 48 Personen vom Zepter an, bis auf die Mousquette; Rabener 1755 Sat. 1110 bald dünkte mich, ich sey mehr als alle könige und der zepter war das geringste, was ich zu den füszen meiner gebieterin legen konnte (DWB); Zachariä 1757 Tageszeiten 68 alsdann guckt schon der abend mit seinem stillen gefolge über den horizont hervor, in dichteren wölken, welche rund um den himmel sich setzen, verbirgt er sein zepter (DWB); Schiller 1783 Fiesko (H. II 74) dass auch die Sonne den Himmel räumt und das Zepter der Welt mit dem Monde teilt; ders. 1787 Don Carlos II 3 mein

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angebornes zepterrecht ist nur ein darlehn, vater, schon im mutterleibe auf meiner künftgen thaten Sicherheit, auf meines geistes bürgschaft mir vorausbezahlt (DWB); ebd. II 5 und bittet er [König Philipp] nicht jede Schmeichelei, die ihm vielleicht im fiebertraum entwischte, dem zepter ab und seinem grauen haar? (DWB); Vogt 1787 Europ. Rep. I 132 Zepter in Zuchtpeitschen verwandelten; Weber 1787-98 Sagen IV 58 um den altar und die kreise formten ein Siebeneck sieben leuchter mit hohen gelben Wachskerzen und vier scheuszliche, gekrönte, szeptertragende mohrengestalten (DWB); Schiller 1790-92 GKr (H. VIII 29) Zepter und Krone; Bürger vor 1794 (Ilias I 392) 145" du Pelidre, hadre mit dem könig nicht! denn solcher heldenruhm fiel keinem zepterführer je ins loos, als ihm, den Zeus verherrlicht hat (DWB); Matthisson 1801 Lausanne (V 289) Zu diesem Zwecke wünsche er sich aber . . . keinem andern Schulzepter zu unterwerfen, als dem meinigen; Schiller 1803 Braut v. Messina 1186 in ein götterbegünstigtes glückliches haus, wo die kränze des ruhmes hängen, und das goldene zepter in stetiger reihe wandert vom ahnherrn zum enkel hinab (DWB); 1810 Matthisson 1183 da, im krampfe des zorns, berührt er [Jupiter] beide mit dem zepter der räche (DWB); Schiller 1822-26 W. II 175 Führen die Frauen den Scepter der Sitte . . . Um den Scepter Germaniens stritt mit Ludwig dem Bayer Friedrich ( K E H R E I N ) ; ebd. V 317 Daß es der Kaiser müsse sein, bewies das Zepter, Daß er in Händen trug ( K E H R E I N ) ; ebd. VIII 239 Will ich denn nicht das beste meines Volks? Ihm unter öst'reichs mächt'gen Zepter nicht den Frieden? ( K E H R E I N ) ; Goethe vor 1832 (XXIV 319) als nun ihr gemahl [der Kaiser] in der seltsamen Verkleidung aus dem dorne zurück gekommen . . . habe er wie zum scherz beide hände erhoben und ihr den reichsapfel, den scepter und die wundersamen handschuhe hingewiesen (DWB); Heine vor

1856 (III 74) man blättere nur in der hübschen Lüneburger chronik, wo die guten alten herren in wunderlich treuherzigen holzschnitten abkonterfeit sind . . . die heilige kaiserkrone auf dem treuen haupte, scepter und schwert in festen händen (DWB); Kretzer 1880 Genossen 159 war wirklich Herr im Hause, er hatte das Scepter ganz in Händen; Rother 1928 Schles. Spr. 291 Zepter; Lokal-Anz. 23. 10. 1934 So, wie man vor zwei Jahren den Lord-Mayor von London mit Schwertträger, Zepterträger und allen Insignien in Stockholm einziehen sah; Rhein-Neckar-Ztg. 20.121. 2. 1982 Hennes Weisweiler schwingt nicht mehr das Zepter beim reichsten Klub der Welt, Cosmos New York. zepterartig: Hauptmann terartigen.

1931 Spitzhacke

46 zep-

zepterfähig: Haller vor 1777 (231) ein zepter-fähiger verstand (DWB). zeptermäßig: Butschky 1677 Pathmos 779 krohnen giebt manchem die gunst des Volkes oder das erbliche recht: aber ein kronenwehrtes gehirn und sceptermäsziges herz kommt allein vom herrn aller herren (DWB). Zeptern: Schönaich 1754 Ästhetik 158 so wird sie dadurch erlauchter, als die Gesellschaft Einer Versammlung gezepterter Fürsten und Herren der Welt ist; Butschky 1677 Pathmos 710 gezeptert [sind solche Fürsten] aber mit einem rohrstabe, der für den stürmenden winden sich am alleröftersten mus beugen und neigen (DWB). entzeptern: Opitz 1635 Judith

127 Entzeptern.

Zepter tum: Steinmann 1843 Mefistofeles IV während des Napoleonischen Zepterthums.

41

Zeremonie F. (-; -n), im späteren 14. Jh. entlehnt aus mlat. ceremonia, cerimonia 'geistliches Gesetz, Gebot; Opfer; Feier(-tag); gottesdienstlicher Ritus' ( < lat. caeremonia, caeremonium 'heilige Verehrung; Ehrfurcht, heilige Scheu; feierlich-religiöse Handlung; feierlich-religiöser Brauch; Feierlichkeit', unsicherer Herkunft), früher vereinzelt in der lat. (flekt.) Form mit Nom. PI. ceremonia und in den Schreibungen Caeremonie und Zerimonie; meist pl. verwendet in der Bed. 'formalisierte feierliche Handlung (mit symbolischem Gehalt) nach festen konventionellen Regeln; Übung, Brauch', zunächst nur im religiösen Bereich als Bezeichnung für rituelle Handlungen, meist bezogen auf die christliche Kirche als Bezeichnung für gottesdienstliche, liturgische Handlungen (z.B. Gebet, Gesang, rituelle Gesten), seit der Reformation fast ausschließlich auf den Bereich der katholischen Kirche bezogen und von Protestanten häufig als negatives Schlagwort

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verwendet im Sinne von 'sinnentleerte, nur äußerliche und daher überflüssige, nur pompöse, nur prunkhafte oder abergläubische rituelle Handlung'; seit späterem 16. Jh., wohl unter Einfluß von gleichbed. frz. cérémonie, übertragen auf den weltlichen Bereich als Bezeichnung für formalisierte feierliche Handlungen (z.B. Geste, Äußerung) nach festen konventionellen Regeln im (öffentlichen/privaten) sozialen Umgang (zum Ausdruck von Ehrerbietung, Höflichkeit, Anstand), zunächst meist bezogen auf den Umgang zwischen hochgestellten Persönlichkeiten, bes. bei Hofe, häufig pejorativ verwendet im Sinne von 'unpassend und übertrieben feierliche, inhaltsleere, steife Form, Förmlichkeit; überflüssige, gezierte Geste, Floskel, Kompliment', von daher auch für 'viel Aufhebens, Umstände, Aufwand'; vereinzelt als kollektiver Sing, im Sinne von 'Gesamtheit von zusammengehörigen Zeremonien' (vgl. —»Zeremoniell); als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Hof-, Hochzeits-, Trauerzeremonie und Zeremonienbuch, -wesen und bes. Zeremonienmeister, meist (historische) Bezeichnung für einen nach dem Vorbild des französischen maître des cérémonies an deutschen Höfen für die Einhaltung des höfischen Zeremoniells (bes. beim Empfang von Gesandten, Staatsbesuchen) zuständigen Beamten, meist den Oberhofmarschall, auch allgemeiner für 'jmd., der das Zeremoniell einer Veranstaltung gestaltet und dessen Einhaltung überwacht', früher gelegentlich gleichbed. mit Zeremoniar (siehe unten), vereinzelt bildlich verwendet. Dazu vom früheren 16. Jh. bis ins 18. Jh. die adj. Ableitung zeremonisch 'in Form, nach Art einer Zeremonie; rituell; äußerlich; formvollendet; förmlich, steif, gleichbed. mit zeremoniös (—»Zeremoniell), im 18.Jh. dafür vereinzelt die adj. Ableitung zeremonienmäßig, heute ersetzt durch zeremoniell (—» Zeremoniell); im früheren 16. Jh. vereinzelt die subst. Ableitung Zeremonierer, gleichbed. mit dem vom späten 16. Jh. bis ins frühere 20. Jh. gelegentlich nachgewiesenen Zeremoniarius, dafür heute Zeremoniar M. (-s; -e) als Bezeichnung für einen katholischen Geistlichen, der (an hohen Feiertagen) die Liturgie gestaltet und deren Ablauf lenkt, im 18. Jh. vereinzelt auch für 'Mann mit guten, etwas steifen Umgangsformen; Gentilhomme'. Zeremonie: Tauler 1361 Predigten 14 die hettent ir cerimonie und die gebot und den ewen (MÖLLER); Hug 1495/1533 Villinger Chr. 190 haut och den kay. gebeten, sols im nit ferubel haben, das er im die Füße hatt laußen küssen . . . aber die cermonya wollens allso haben, wan ain kay. die krön holt; Luther 1520 Gute Werke 43 Cerimonien odder vbunge; um 1520 (Schade, Satiren II 172) der kutten ceremonien; 1521 Neuw Karsthans (Schade, Satiren II 26) machen sie [die Priester der Katholischen Kirche] den leuten ein spiegelfechtens vor äugen mit iren ceremonien und gauklerei . . . ceremonien . . . heiszen uszerliche geberde, die man in den kirchen zu gottes dienst übet, als mit neygen . . . cleidungen, singen, reüchen; Erasmus 1521 Vnderweysung E2" Du solt es aber dafür nitt achten das Christus vnser herr sey in den Cerimonien, das ist allain in eusserlicher Übung vnd aufsatzung der Christenlichen kirchen, man haldt sy wie man wöll; Nazdrei 1521 Gott 38 das

der kirchendienst, im latin cerimonie genant, nit böss ist, sonder gut, wan sye yderman verstendig werden, warumb der vnd diser bruch uff kommen ist; Eberlin v. Günzburg 1521 Bundsgenossen 68 Das erst sind die Cerimonien genant der todten volg, oder der begrebnüß brauch; Luther-Emser 1521 Str. II 80 gang hynn vnd schreyb noch mehr von mir, wie ich die Cerimonias gelobt habe, sie sein sanctae, iestae, bonae; ebd. 81 Dermassen muß man von allen gottis gepotten handeln, sie seyen cerimonien odder andere, kleyn oder groß; Ryff 1522 Basler Chr. 36 verwarff dem pfeffischen huffen all ir ceremonien und kilchenbrüch; ebd. 66 das sy innen musten die mesz mitsampt allem kilchenbrüch losen, alle Zeremonien und pfaffenwerck; 1522 Kegelspiel 242 Mit jren ceremonijs; Zwingli 1523 Einltg. (II 646) Hie ist nit not, das man anzeuge, wie die ceremonien altes testaments, das ist: die usserlichen opffer: weschen, reucken, brennen abgethon sygend mitt den kleydungen,

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geschirren, form der tempeln etc.; ebd. 649 letz hand wir zwo erlösungen vom gsatzt. Eine ist von ceremonien, das ist: zünselwercken oder kilchengespänsten; Kettenbach 1523 Vergleichung 139 ceremonien vnd eusserlicher werck; Karlstadt 1523—2} Sehr. I 36 Die vonn opffern, vnnd sabbaten, vnnd der gleychen ceremonien reden, die gepiten geringschetzige Sachen; Kessler 1524 —39 Sabbata 6 die schatten und todte bildnussen überflüssigen ceremonien und menschensatzungen . . . des gemelten papstumbs herkommen, erhöchung, ceremonien, gottsdienst und babilonische gefenknus; ebd. 47 alle andere . . . ceremonien und kilchengpreng; Zwingli 1525 Aktion IV 14 im bruch dises nachtmals — weliches dann ouch ein ceremony, doch von Christo ygesetzt, ist; Luther 1525 Propheten XVIII76 von den cerimonien und indicialibus, das ist was von eusserlichen Gottesdienst und von eusserlichem regiment Moses leret; Emser 1525 Annotat. B4h Derhalben ouch die mutter der heyligen Christenlichen kirchen ir gebet ceremonien vnnd gesenge / also durch einander gemenget hat; Mumer 1528 Messe 44 ceremonien der messen; 1530 Augsburg. Konfession 164 Auch werden dieses Theils viel Ceremonien und Tradition gehalten als Ordnung der Messe und andere Gesang, Feste etc., welche dazu dienen, daß in der Kirchen Ordnung gehalten werde; ebd. 206 Man hat teglich neue feyertag, neue fasten geboten, neue ceremonien und neue ererbietung der heiligen eingesetzt, mit solchen werken gnad und alles gut bei got zu verdienen; Brunfels 1532 Kreüterbuch Vorr. C3" anzeygen, von den abergleübischen Cerimonien, oder handtgeberden (wie ichs nennen soll) so die Alten etwann zu solicher ynsamlung der kreüter gebraucht; 1534 New weit 3h brauchen sie etliche handtgeberd oder ceremonien, vnd sprechen ettliche wort; Hedu. 1534 Ladts Predigt B2h Item das falscher Gottesdienst in den kirchen Ceremonien durch euch die Oberherrn mit still vnd rüg abgestellet wurde; Tatius 1536 Trojan. Krieg 24* Aber an einem tag, wie die Hecuba on gefar vor dem Apolline betet, ist Achilles (der gern jren Ceremoni brauch gesehen hat) auch . . . darzü kommen; Brentz 1537 Türkenbüchlein b4h [Mahamet] hat viel Jüdische ceremonien angenommen; Luther 1537 Schmalkald. Art. (W. L 250) eine heilige Christliche Kirche. Diese heiligkeit stehet nicht jnn korhemden . . . langen rocken und andern jren Ceremonien, durch die sie über die heilige schrift ertichtet; Stumpf 1541 Beschreybung XIX" Ceremonien zu anfang vnd beschluss dieser versamlung; Berth v. Chiemsee vor 1543 (417) züefallender gotsdinst als psallieren, singen, orgeln, gemal und dergleichen ceremonien; Frey 1556 Gartenges. 14 Christen glauben unnd ceremo-

nien . . . andacht und ceremonien; Federmann 1557 Reisen 16 Von dero land Sitten und Ceremonias, vil zuschreiben were; ebd. 22 von den verfürischen und teüffelischen Ceremonien und Secten ihrer vätter; 1558 Heidelb. Statuten 40 nicht allein in der schrifft, christlichen caeremonien und gebreuchen erfahren; Mathesius 1559 Leychpr. I 33 leych Ceremonien vnd gebreuch; ders. 1563 Ehest. Aaa 4h hochzeytceremonien; ebd. C4h Gott vnnd gegenwertiger Hochzeit zu ehren lehr vnd vnterweisung, vnd allen ehrlichen Ceremonien, vnd gebreuchen, so bey ehrlichen hochzeiten behalten werden; ebd. Gg41' Wie denn die Leuitischen Ceremonien Schattenbilder, abriss oder Contrafactus sindt der künfftigen ding; Kirchhoff 1563 Wendunmuth I 443 Dieselben [Kardinäle] haben zu dem thor, so vorgemeldt, einen schlüssel, den andern hat der adel zu Rom, den dritten die bischoff, und den vierdten die meister der cäremonien; ebd. 444 so man nun den handel anfahen wil, leutet der ceremonien meister drey stund vor mittag im conclavi ein glöcklein, daß sie zü der meß kommen sollen; ebd. 445 wirdt darnach mit vil gepreng und ceremonien geölet, geschmiert und gekrönet; nach 1565 Analecta Luther 66 Ceremonien unndt Ordnungen machen; Nass 1572 Predigt 329^ Ceremonien . . . zur Erden bestettigen; Fischart 1581 Dämonomania 86 Man mag noch im dritten Buch des Rabi Moses Maymon die Ceremonien vnd Opffer der Chaldeer lesen / welche er auß dem Buch Zeusit (so dises Volcks Ceremonienbuch gewesen) gezogen hat; Thurneisser 1583 Onomast. II 4 mehr in eusserlichen Ceremonien dann jnnerlicher Gottseligkeit; ebd. II 34 welche mit des Teuffels hülff, vnd aus seinem rath, angeben vnd befurderung, mit beschweren, greuwlichen Ceremonien, alle oberzelte sachen . . . zu wegen bringen; Musculus 1585 Wetterhan 4 Ob man ohne sondere beschwärung dess gewissens, bey der Papisten Ceremonien, oder das man es Teutscher nenne, bey ihrer Abgötterey, wissentlich, vnd fürsetziglich seyn könne?; ebd. 102 die Ceremonien bey der Tauff . . . bleiben lassen; ebd. 107 wie auch das vieh schlachten vnd Opfern eine eusserliche Ceremoni, vnnd deutung von dem rechten Opfer vnsers Lämleins gewesen; Nigrinus 1587 Schlüssel Büchlein 16" in äusserlichen geberden, Ceremonien vnd bräuchen, jren äusserlichen Gottsdienst belangent; ebd. 65b Alles was vns die Papisten fürwerffen, von jrem prächtigem vnd gleissendem Gottesdienst, von jrem Kirchen geschmuck, von jhren zierlichen Kleidern, Ordnung, Gesetzen, Regeln, Wercken vnd Ceremonien; Tabernaemontanus 1588 Kräuterbuch I 598h Abergläubischen Fantaseyen vnnd Ceremonien; Chyträus 1597 Casa's Galateus 47 die Ceremonien/wie wir sie als du

Zeremonie hörest / mit einem außländischen namen nennen / dann wir in unser mutter sprach kein eigen wort haben / damit sie könten bedeutet werden; Kiechel um 1600 Reisen 208 büs düe ceremonia vollbracht werdenn; Spangenberg 1604 Alcestis (LV CCX 1645) So will ich denn verrichten Die Cerimonien nach Brauch Und Inhalt der Religion; Hulsius 1606 1. Schiffahrt 23 kam der Oberste von Sumatra vnsere Schiff zu besichtigen, welches mit grossen Ceremonien vnd Gepräng geschehe; Spangenberg 1607 Ganss König 40 Welcher gestalt die Königliche Martins Ganss, nach deme sie resigniret, vnd ihr Testament gemacht, sich willig in Tod geben; mich mit was Ceremonien sie begraben, vnd ihr Requiem gesungen werden soll; Walterssweyl 1608 Beschr. e. Reiss in Palaestina a. d. J. 1587 14" Weitter, so wolle auch der Peregrin gut acht haben, damit, wann die Mozi oder Schiffjungen zu dem Essen raffen, dass einer solches nicht verschlaff, vberhör, oder der letzte sey, dieweil an diesem Ohrt wenig Ceremonien gebraucht, vnd keiner auff den andern mit dem Essen warten thut; Zeiller 1632 Reyssbuch Vorr. a3" rechte Adeliche Vbungen, Sitten, vnd Tugenden . . . Gravitetische vnnd ernstliche Caeremonien; Harsdörffer 1642 Trinar Büchlein A3h [der Trancheur] soll sich in seinem gantzen vorschneiden grosser motionen vnd der vnnützen vnd närrischen Ceremonien, damit das vorschneiden nur erlängert wird, enthalten; Rose 1648 Holofern 80 Als Sie sich alle gesetzet, nach allerhand gehaltenen Ceremonien tretten viel Diener herumb; Gebauer 1661 Wächterstimme 286 dass die Umbstände de non faciendo opere (dass man keine Wercke thun solle) sein eine Cermeonie vnd verbinde uns nit zum gehorsam; Lassenius 1661 Tischreden 127 nahmen ein jeglicher von dem andern, mit höflichen Ceremonien Abschied; 1665 (Dtsch. Ztg. 17. Jh. 199) und so fort der Eyd der Treue vom Magistrat der Burgerschafft mit grossen Ceremonien geleistet; Grimmelshausen 1673 Simplicissimus 295 einsmals besuchten ihn des kónigs ceremonienmeister (DWB); Schilling 1677 Predigten 57 macht nicht viel Complementen, Ceremonien, oder Höflichkeiten; 1677 Schaubühne 13 mit ordentlichen Pomp und Ceremonien gekrönet; 1680 (Dtsch. Ztg. 17. Jh. 66) ein kostbares Feuerwerck, neben anderen Freuden-Ceremonien gehalten; Krämer 1681 Leben d. Seehelden 937 In Summa, man mache wenig Ceremonien oder Praeludien; 1683 Klatschmaul 57 Wannenhero er mit allerhand lächerlichen Cerimonien und Posituren seine Reise Beschreibung also erzehlete; 1692 Novellen 51 nachdem sie sich ohne Ceremonie . . . niedergelassen; Menantes 1709 Satir. Roman II 35 desto mehr eilten wir, in einer ohne dies fremden Stadt sonder viel Ceremonien uns zu

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vermählen; Schamel 1717 Formular-Büchlein 135 Der Gottesdienst . . . soll denen gemeinen Christen so viel heissen, als die Ceremonien und Übungen in der Kirche; Musig 1718 Licht d. "Weisheit II 599 bey Ablegung derer Eyde die Fenster geöffnet . . . und was dergleichen Caerimonien und Gebräuche mehr seyn; Ferriol 1719 Abb. (Übers.) 33 Der Ober-Ceremonien-Meister des Türckischen Hofes; Gichtel 1722 Theosophia Practica 38 alle Ceremonien der Taufe, Abendmahls und Predigens; Faramond 1739 Wissenschaft 297 nach den Regeln der Ceremonienwissenschaft; Shaftesbury 1746 Soliloquium (Übers.) 30 Lehre der Ceremonienmeister; Kant 1764 Gefühl des Schönen 95 Das Betragen eines Hoffärtigen in dem Umgange ist Ceremonie; Weisse 1765 Br. Gelehrter an Klotz I 49 Sie geben mir die Freyheit, Sie in demjenigen Tone anzureden, der meinem Herzen so gemäss ist, und mir mehr schmeichelt, als alle Titel, die sich die Ceremonie geben kann; Herder-Nicolai 1771 Briefw. 67 sei nur erborgter Cerimonienkram; Amavero 1775 Untersuchung 144 die närrischen Cäremonien, Segen und Gebethe; 1781 Literar. Pamphlete 125 Wenn ich einen König in einem Ceremonienakte sehe, und man fragt mich, was vorgegangen, so ist natürlich, dass ich nicht allein seine Geberden, sondern auch sogar seinen Mantel, seine Kleidung und bis auf seine Schuhe oder Stiefeln beschreibe; Rinck 1783—84 Studienreise 73 Ich machte die gewöhnlichen Zerimonien, er wiederholte sie nicht; Moser 1784 Patriot. Archiv. I 501 Ceremonien — das Wesentliche des Hofmannes. An manchen Höfen der einzige Unterschied zwischen dem Fürsten und seinen Dienern; hebt man ihn auf, so fällt das ganze Kartenhaus zusammen; Böttiger 1791 Literar. Zustände (132) Die Chinesen sind das ceremonienreichste Volk unter der Sonne; Hübner 1805 München II 322 der Herrlichen und schönen Ceremonien, und Kürchen gebräuch; Obernberg 1816 Reisen, Isarkreis III 181 Sehr eifrige Katholiken sind sie: doch ist ihre Andacht manchmal nur Andächteley, und ihr Gottesdienst nur Zeremonie äusserliches Wesen; Picard 1826 Minard I 16 [Gendarmen] als n o t wendige Ceremonienmeister bei allen Volksfesten; Goethe vor 1832 (W. XXIV 366) hier war . . . Wilhelms gelübde ein schicklicher, aber unbequemer ceremonienmeister (DWB); Fries 1832 Philos. II 276 die Ethik todter Werke (des leeren Ceremoniendienstes); Heine 1856 Reise um die Erde II 269 Ceremonien sind so zu sagen die halbe Existenz der Japaner; Lotze 1869 Mikrokosmus II 417 Selbst da, wo noch in unsern Verhältnissen die Etikette am meisten gilt, pflegt sie doch entweder die Bedeutung einer rechtlichen oder politischen Ceremonie zu haben; Brandt 1901 Ost-Asien 1273

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Eine der interessantesten Zeremonien, der wir in Bangkok beiwohnten, war das unter dem populären Namen des Schaukelfestes . . . bekannte Erntefest; Carossa 1926 Tagebuch 164 im Banne der klinischen Zeremonien; Roth 1930 Panoptikum 49 die Zeremonie der Heimkehr [nach einer Reise]; Berl. Illustr. Nachtausg. 19. 8. 1933 Und der Kaplan stieg zum Altar empor und . . . begann er die Trauungszeremonie; Beutler 1941 Essays I 246 Ich bin verheiratet, nur nicht mit Zeremonie; Offenhurger Tagehl. 31. 5. 1958 Staatspräsident Coty übernahm für den General die Verhandlungen mit den Parteien, er war zu einer Art Zeremonienmeister des großen Mannes geworden; Stuttgarter Ztg. 9. 6. 1962 Wird ein Ministerialbeamter, ein Abgeordneter oder sonst eine einflußreiche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in das Krankenhaus eingeliefert . . . beginnt eine „Zeremonie" ohnegleichen. Sollte jemals ein . . . III.Klasse-Patient, sehen, mit welch einem Aufwand, mit wieviel Sorgfalt solch ein „Klasse-Patient" umgeben wird, er käme aus dem Staunen nicht heraus; ebd.. 28. 2. 1969 Die Begrüßungszeremonie war immer wieder vom Jubelgeschrei Tausender Kinder . . . unterbrochen; Süddtsch. Ztg. 13. I. 1972 Prinzessin Anne rangiert vor der Queen. Bei den Spielen gelten besondere Rangordnungen /Auswärtiges Amt stellt den Zeremonienmeister (Uberschr.); Die Zeit 22. 1. 1982 Betritt Ronald Reagan betont federnden Schrittes einen Saal erwartungsvoll versammelter Gäste im weißen Haus, so ertönt stets die sonore Stimme eines livrierten Zeremonienmeisters an der hohen Tür; Rhein-Neckar-Ztg. 9. 2. 1982 Papst Johannes Paul II. hat einen seiner persönlichen Sekretäre, den 46jährigen irischen Pater John Magee, zum päpstlichen Zeremonienmeister ernannt. Zeremoniarius: Ii83 (Westenrieder 1790 Beyträge III 91) dem Doctor Waldram Thumbier Magister Ceremoniarius; Lang 1790 Memoiren I 206 Ceremoniarius, oder wie man es nannte, Gentilhomme. zeremonienmäßig: 1779 Zuschauer i. Bayern 170 ein steifes, ceremonienmässiges Wesen.

Zeremonierer: Zwingli 1522 Von der Freiheit der Speisen 32 Diß werffend di so fryheit des Euangelij beschirmend den ceremonierer für.

zeremonisch: Zwingli 1522 Von der Freiheit der Speisen 9 das gsatzt so vii es ceremonisch vnd grichtzhendlig [ist]; ders. 1523 II. Disp. I 478 Ouch ist die arch (die Bundeslade) ein ceremonisch und kilchenprängisch ding; ebd. I 492 die ceremonischen pömp; ebd. I 592 Es hilft ouch die ynred hie nit: Es sygind ceremonische ding, die im nüwen testament nit geltend; ebd. 1612 so möchte man alle ceremonische werk des alten testamentes widrum ynfüren; ders. 1525 Antwort IV 91 sye nun ein usserlich ding oder ceremonisch gespenst; ebd. IV 93 Sich ietz zum ersten, ob nit alles, das imm ersten gebott stat, dient zu bewarung, das wir an dem einigen gott blybend? Wie kan es denn ein cerimonisch ding sin, so es verbotten ist ze haben? Wie kan das ein kilchenpreng sind, das verbotten ist, das man es nit haben soll?; Eberlin v. Günzburg 1526 III 266 Sönderlich in disen tagen in vnsern landen, so das ceremonisch Bapstthumb schier gar ist zu spot worden; Vadian vor 1551 (III 469) Dan wir hie von dem ceremonischen gsatz der dütlichen (symbolische) tempelbruchen und figuren nit redend; Mayer 1558 Des Bapsts Jarmarkt 18 man müßte die beschneydung sampt andern Ceremonischen Satzungen steyff neben dem Euangelio halten, vrsach, daß sie Christliche freyheit die Ceremonischen burdenen des Gesatzs betreffend, noch nit verstünden; Franck 1558 Paradoxa 217" Ceremonischen Gottsdienst; Fischart 1591 Ehzuchtb. 174 So dises mit der Feldarbeit so Ceremonisch zugeht, wie vii heyliger ist die Eharbeit; Hainhofer 1612 Relation 166 Er ist vber die massen brängisch vnd ceremonisch; 1719 Recueil VI 21 wie sie durch die wichtigste Heimlichkeiten dem ersten den sie antreffen, so warm, wie sie allererst mit grossen Ceremonien eingenommen, wieder . . . übertragen; Elis. Charl. 1719 Br. IV169 Daß der nicht ceremonisch undt gantz natürlich ist, daß würde mitt mir simpatissiren.

Zeremoniell N. (-s; selten -e), Ende 17. Jh. in der bis ins 20. Jh. vor allem und heute nur noch als Bestimmungswort in Zss. belegten Form Zeremonial entlehnt aus gleichbed. frz. cérémonial (über mlat. ceremonialia 'Riten' zurückgehend auf lat. caeremontalis 'zur Gottesverehrung gehörig', zu caerimonia, —* Zeremonie; vgl. Zeremonial, auch Ceremoniale (Romanum) 'Zeremonienbuch der römisch-katholischen Kirche'), im 18. Jh. vereinzelt in der lat. Form Ceremoniale, daneben gleichzeitig die von Anfang an weitaus geläufigere, jedoch nie als Bestimmungswort in Zss. auftretende heutige Form, bis ins 19. Jh. meist in der Schreibung Ceremoniel\

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in der Bed. 'geordnete Gesamtheit der (traditionellen) festen Regeln, Ordnungen, die den Handlungsablauf eines feierlichen (geistlichen oder weltlichen, bes. höfischen) Geschehens prägen' und 'Gesamtheit der so geordnet ablaufenden feierlichen Handlungen', von daher allgemein für 'Gesamtheit von (traditionellen) Regeln, Ordnungen des förmlichen gesellschaftlichen Umgangs; Höflichkeitsformen' und 'so geordnet verlaufender gesellschaftlicher Umgang', häufig assoziiert mit Steifheit, bloßem Formalismus, Äußerlichkeit, Unverbindlichkeit, Emotionslosigkeit (vgl. —» Etiquette), als Grundwort in Zss. wie Hochzeits- und bes. Hofzeremoniell, als Bestimmungswort in Zss. wie Zeremonialdienst, -recht und bes. Zeremonialgesetz 'Gesamtheit der Regeln und Ordnungen für die äußeren religiösen Übungen der Juden'. Dazu seit späterem 18. Jh. die adj. Ableitung zeremoniell 'in Zeremonien, in einem Zeremoniell bestehend; die Zeremonien, das Zeremoniell betreffend; feierlich, rituell' und 'förmlich, steif; von übertriebener Höflichkeit; umständlich', meist auf Handlungen, Verhaltensweisen, Sitten bezogen, gleichbed. mit älterem, im 15. Jh. vereinzelt in der lat. (flekt.) Form belegtem, im 19. Jh. (seit 1863 bei Kaltschmidt) gebuchtem zeremonial und dem ebenfalls älteren, vom späten 16. Jh. bis ins spätere 18. Jh. belegten zeremonialisch, mit zeremonisch (—» Zeremonie) sowie mit dem seit Mitte 17. Jh. nachgewiesenen, heute nur noch selten belegten zeremoniös ( < gleichbed. frz. cérémonieux), anfangs auch in frz. (Schreib-)Form und in der Form zeremonios; im früheren 20. Jh. die Gelegenheitsableitung Zeremonialismus 'Ritualismus'. Zeremoniell: 1699 Staatsspiegel I 69 Ihro Kônigl. Hoheit der Hertzog von Savoyen / und der GroßHertzog von Florentz / sollen dahero Anlaß genommen haben / auch ihrer Seits ein mehrers Ceremoniel, als bißhero gebräuchlich gewesen / bey Franckreich zu sollicitiren /und zu begeren / daß an statt Cousin, ihnen vom Könige der Titul Frere gegeben werde; Marperger 1711 Beschr. d. Messen I 278 Von dem Ceremoniel und einigen besondern Umständen, welche bei dem nach Franckfurt . . . abgehenden Nürnberger Geleit vorgehen; Callières 1716 Abgesandte (Übers.) 96 wenn er, in Betracht des gewöhnlichen Staats-Ceremoniels änderst als ein Gesandter angenommen zuwerden vermeinet; Philo 1722 Ruhm des Tobacks 88 Wer sich nun nach den Reguln der heutigen Galanterie in der Conversation bezeigen will; Derselbe muß sich bemühen / auch in dem geringsten Stuck nicht wider die Bienseance zu handeln. Da aber dieselbe nicht nur bey großen Collationen / Festivitäten / und Ceremonien / sondern auch in kleinen Zusammenkünfften einiger guten Freunde . . . in acht zu nehmen ist: so wird derjenige verbunden seyn / in diesem Fall etliche Reguln anzunehmen / die bey beobachtung insonderheit des Ceremoniels und der Höffligkeit bey dem Tobac-Rauchen unumgänglich nöhtig sind / dafern man sonst keine Lâcheté und Incivilité begehen will; Fleming 1726 Soldat 94 Das Ceremoniel-Wesen ist zu unsern Zeiten auf das

höchste gestiegen; auch der Krieg selbst hat einen sehr großen Antheil davon; Es äussert sich das Krieges Ceremoniel gar deutlich bey Werbungen, Musterungen, Vorstellungen der Officierer, Übergebung derer Fahnen bey Besatzungen . . . bey denen Honneurs gegen regierende Herrn, commandirende Generals . . . sonderlich aber bey Krieges Excercitiis und allerley andern Actionen; Rohr 1728—29 Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft (Titel); Fassmann 1729 Narr 2 Hof-Ceremoniel; Philippi 1743 Reimschmiedekunst 40 Speise-Ceremoniel; Geliert 1751 Br. IV 67 von denen [Briefen], die der Geist des Ceremoniels und der Mode eingeführet; 1762 Altdorf. Bibliothek I 2 Unser Ceremoniel, unsere Policey und unsere Bauart, eines ist so fein, oder so stark, als das andere; Justi 1769 Betr. 128 die meisten Gesetze, so in den fünf Büchern Mosis enthalten sind, können nur vor Ceremoniel und bürgerliche Gesetze angesehen werden; Kreittmayr 1769 Grundriss I 56 Von dem unter Privatleuten üblichen Ceremoniel, welches sie . . . dem Wohlstand und der Klugheitslehre . . . oder der vorgeschriebenen Policeyordnung nach zu beobachten haben, reden wir hier nicht, sondern nur von dem Staatsceremoniel, womit nimlich große Herren nach Maas ihrer Würde und Hoheit in der Welt beehrt zu werden pflegen; Heynatz 1774 Br. V 90 Ceremoniells; Weckhrlin 1777 Denkwürdigkeiten 59 Karl VI brachte, in dem Gefolge einer Menge spani-

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scher Nationalen, allen plumpen Schwulst und jenes gothische Gepräge mit, für welches man den Namen spanisches Ceremoniel erfunden hat; Eschenburg 1783 Theorie 241 In Deutschland hat man erst spit angefangen, Briefe mit Geschmack zu schreiben, und sich dabey den Fesseln des Carimoniels und dem Zwange der Schulmethode weniger zu unterwerfen; 1789 Privatlehen d. Mar. Ant. 30 an die Stelle des ehrwürdigen, und einladenden Zeremoniels; 1790 Journal d. Moden V 208 Der Ton in diesem Casini ist polit. Man kennt hier kein steifes Ceremoniel, man wird nicht mit Komplimenten überlastet; Goethe 1795—96 Bekenntn. (XXII328) leerem Ceremoniell; Piitter 1798 Selbstbiogr. 153 Wie nach dem damaligen Hofceremonielle alles sehr feierlich zugieng; Bouterwek 1802 Gesch. II 473 des französischen Gesellschaftsceremoniells; Kotzebue 1803 Kleinstädter (NL. CXXXIX 2, 231) da die guten Sitten nur durch ein ehrbares Ceremoniell in ihrer Reinigkeit erhalten werden; Haller 1834 Restauration V184 sogenannte Hof-Ceremoniel; Gervinus 1838 Histor. Sehr. VII 173 Nur wo es sich die Männer hier und da gestatten, nach guter deutscher Sitte bei der Weinflasche das Ceremoniel mit den Weibern zu entfernen, und wo kein Ausschuß die Trinksprüche erst zu genehmigen braucht, nur da taucht wohl noch einmal die laute echte Freude mit der läutern, echten Zechkunst hervor; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre II 55 Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich ennuyiere! Dieses Zeremoniell! Diese abgeschmackten Fratzen! Wozu denn? . . . Er hat doch Witz und Geist! Warum hat er sich denn so ein steifes Leben zugerichtet?; Raumer 1849 Br. Frankf.-Paris I 388 Will man über Lappalien der Etikette und des Ceremoniells streiten; Scheffel 1857 Glück (Br.) 51 Die ganze Begegnung war eine über die Schranken des gewöhnlichen Ceremoniells weit hinausgehende; 1857 Staats-Wb. II 412 Im Allgemeinen ist das völkerrechtliche Ceremoniell die Symbolik der souveränen Haltung der Staaten und ihrer Anerkennung. Jedes Ceremoniell im menschlichen Verkehre, hat den Sinn, daß man denjenigen, gegen den man es beachtet, als eine in sich geschlossene, achtunggebietende Persönlichkeit anerkenne . . . Ein gewisses Ceremoniell wird im diplomatischen Verkehre nie entbehrt werden können . . . Hofceremoniell . . . Diplomatisches Ceremoniell . . . Kanzleiceremoniell . . . Seeceremoniell; König 1857 Clubisten I 49 Der Kurfürst liebte diese kleinen Abende, die von dem strengen Ceremoniel befreit waren; 1860 Staats-Wb. V 202 Auch die besondere Lebenssitte, welche diese Klasse von Menschen auf Grund ihrer besondern socialen Lebens- und Berufsstellung beherrscht und welche man als Hofetiquette, Hofton, Hofce-

remoniell und ähnlich bezeichnet; Spitzer 1880 Wagn. 85 Herr von Malzau bewillkommte die Gäste mit grosser Herzlichkeit, während Leonie die vorschriftsmässige Zurückhaltung schöner Frauen an den Tag legte und die beiden Freunde mit dem abgemessensten Ceremoniel empfieng. Sie erwiederte die ehrfurchtsvolle Verbeugung Goldscheins . . . mit einem milde herablassenden Neigen ihres Hauptes; Hillebrand 1885 Culturgesch. 155 Was bestimmt gewesen, große und starke Individualitäten im Zaume zu halten, war zum leeren Ceremoniell einer todten Religion geworden; Fontane vor 1898 (14, 251) als der . . . champagner mit allem zeremoniell geöffnet wurde (DWB); Brandt 1901 Ost-Asien I 275 ich möchte aber annehmen, daß auch schon zur Zeit, als wir in Siam waren, den Übertreter des alten Zeremoniells keine härtere Strafe getroffen haben würde als die Unzufriedenheit und vielleicht der Hohn des Volkes, das mit großer Liebe an den alten Zeremonien hängen soll; ebd. II 153 die Empfänge [in Osaka] verliefen, entgegen dem früher beobachteten Zeremoniell, ganz in der an europäischen Höfen gebräuchlichen Weise; Brandes 1903 Gestalten 22 dem bürgerlichen oder dem kirchlichen Ehezeremoniell unterworfen; Hauser 1928 Brackwasser 71 Das alte Weib, die Wächterin Chiquitas schlurfte hinter den beiden her und bewachte sie. Ohne viele Worte führte sie ein Zeremoniell von beinahe spanischer Strenge; Lokal-Anz. 24. 7. 1934 Der Kaiser begleitet mich, wahrscheinlich gegen das Zeremoniell, zur Tür. Ein Händedruck, ich bin verabschiedet; ebd. 7. 8. 1934 Wer schon öfters Gelegenheit hatte, Generalversammlungen von Aktiengesellschaften beizuwohnen, in denen die Eintönigkeit des Zeremoniells durch eine frische, aufregende Debatte über Fragen der Gewinnverteilung unterbrochen wurde; Dtsch. AT.. 31. 8. 1934 sind die zuständigen Stellen schon jetzt mit der Ausarbeitung eines umfangreichen Hof- und Staatszeremoniells beschäftigt; ebd. 5. 9. 1935 Das Stück [eine aramäische Handschrift] wurde unter gewichtigem Zeremoniell zu treuen Händen ausgeliefert; Offenburger Tagebl. 30. 1. 1967 Die rund 50 Chinesen scharten sich in der Halle des Flughafengeländes um eine „Chefin", die aus dem „roten Buch" Mao-Zitate vortrug, sangen die Internationale und stießen auf chinesisch und französisch Schmährufe gegen die Sowjetunion aus. Der Botschafter der Volksrepublik wohnte diesem „Abschiedszeremoniell" bei; FAX 26. 9. 1970 Vieles auf dieser Reise wird demonstratives Zeremoniell sein; ebd. 15. 3. 1971 Es entspricht der kühlen Atmosphäre [der Salt-Verhandlungen], daß auf jedes Eröffnungszeremoniell verzichtet wird; Die Zeit 12. 12. 1980 nahm der sowjetische Staatschef am Montag

Zeremoniell bereits das Willkommens-Zeremoniell der Inder mit steinerner Miene zur Kenntnis; ebd. 15. 1. 1982 [der spanische König Juan Carlos], der Skifahrer und Amateurfunker, der Motorradfahrer, der mit dem Thronfolger allein über das Land braust und sich beim Tanken brav anstellt, gefällt jenen, die das spanische Zeremoniell und die geschlossene Klasse des Hofes noch in schlechter Erinnerung haben. Zeremonial(-): Seckendorff 1691 Reden Vorr. 58 Cérémonial; Gichtel 1710 Send-Schr. IV 38 Der historische Glaube und äussere CeremonialDienst machet die Menschen so blind, dass sie blinder als die Juden, die ihren Jesum gecreuziget; Musig 1718 Licht d. Weisheit II 320 CeremonialGesetzen; Marperger um 1720 Reisen 31 daß ein Don Quichot das Römische Ceremoniale, welches bey denen Cardinâlen und Monsignori gebräuchlich ist; Achenwall 1768 Staatsverf. 196 Französische Hof-Ceremonial; Lenz 1774 Meinungen IV 98 daß ein wesentlicher Unterschied auch in Absicht des Zwecks unter den Speis- und Brandopfern war, erhellt aus dem ganzen Zeremonialgesetze; Weckherlin 1777 Denkwürdigkeiten 15 Ceremonialregister; 1781 Dtsch. Mus. II 123 in Kanzleien die Verbrämungen der Ceremonialoder Amtsschreiben; Füllehorn 1798 Kl. Sehr. II 163 Ihr Zeitvertreib besteht im Besuche geben, mit dem steifsten Cérémonial. Wenn eine Frau bey Tische nicht nach ihrem Range zu sitzen kommt, so entstehen Mißhelligkeiten, die in einem halben Jahrhundert nicht wieder beygelegt werden; Vico 1822 Grundzüge (Ubers.) 216 denn die Hebräer . . . beharrten in der gehörigen Gestaltung, in welcher Gott Adam erschaffen und Noah seine drei Söhne erzeugt hatte: woher vielleicht aus Abscheu gegen jene Uebergestaltung die Hebräer so viele Cärimonialgesetze hatten, die sich auf die Reinhaltung ihres Körpers bezogen; 1859 StaatsWb. IV 243 Ceremonialrechte; Gutzkow 1878 Schwulst 4 [Juden] die von je die entschiedensten Voltairianer gewesen sind, unterwerfen plötzlich ihre Kinder aufs strengste dem alten Ceremonialgesetz, dem Buchstabenglauben, dem Rabbinismus; Hübler 1900 Magistraturen 26 Die Concessio generalis zur Ausübung seines Amts (im Empfangsstaat) sowie die Ceremonialrechte gewinnt der Gesandte erst dann, wenn er am Bestimmungsort angekommen ist; ebd. 27 Der offizielle Verkehr beginnt erst nach Abstattung der Etikettebesuche . . . Das Visitenceremonial ist lokal geregelt . . . Nach dem Wirkungskreis unterscheidet man Cérémonial- und Geschäftsgesandte . . . Ceremonialgesandte (Ambassadeurs de cérémonie) werden zu bloßen Mittheilungen (Communications) abgeordnet: zu Anzeigen (aus

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Anlaß von Geburten, Todesfällen, Thronbesteigungen), zu Beglückwünschungen (Compliments de félicitation), zu Kondolenzen, zur Ueberreichung von Orden und Geschenken, auch zu Entschuldigungen wegen unliebsamer Vorgänge (Ambassadeurs d'excuse); Brandt 1901 Ost-Asien II 265 laßt das Hofzeremonial, das bisher dem der Chinesen nachgeahmt war; Mohl 1902 Lebenserinn. I 103 etwa Sonntags machte er vor Tische einen steifen Zeremonialbesuch; Gebauer 1932 Kulturgesch. 129 Der Schmuck der Diamanten auf den Staatsgewändern großer Fürsten . . . nach dem Zeugnis Bernhard von Rohrs, des Verfassers eines umfangreichen Zeremonialwerks. Zeremonial: Folz um 1460 ML 400 wan daz geseez hatt etlich pott oder mandat die weren genant sitliche, etliche hoffliche oder ceremonialia genant; Eberlin v. Günzburg 1525 (II 7) ceremonialia mandata. zeremonialisch: Musculus 1585 Papist. Wetterhan 38 Es ist nit weniger das Paulus von des gesetzes auflag redet, darauff antwortte mir aber widerzimbt sich dz der Christen gewissen, von der Bischoff gesetz, also gezwungen werden, so sie doch Paulus nit von der Menschen, sondern von dem Ceremonialischen gesetz . . . frey saget (ZFDW X V (1914) 216); ebd. 123 dann das du vnsere kirchen vnd Ceremonialische zusammen kunfft, so lang meidet; Ahr. v. Frankenberg 1646 Außschreiben 35 auff die Bedeutungen und Application des Ceremonialischen Vorbilds; 1700 (Preuss. Jahrbücher 114 (1903) 451) Gott habe aber nicht ein so äusserlichs ceremonialisches Wesen zu machen; Swift 1764 Mährgen von der Tonne (Übers.) Vorr. Das Ceremonialische. Zeremonialismus: Thumwald 1931 Ges. I 112 Der Zeremonialismus der Jibaros des östlichen Ecuador (Südamerika) (Uberschr.) Die Gedankengänge, die sich um den Feldbau ranken, schälen sich deutlich heraus, wenn wir das sogenannte zauberische Zeremoniell betrachten, das mit ihnen verbunden ist. zeremoniell: Wezel 1777 Erzählungen I 145 das Ceremonielle; Wit v. Dörring 1833 Jugendleben 280 Mit einer ceremoniellen Verbeugung; Glasbrenner 1836 Bilder 140 Alles steife, ceremonielle Wesen ist verbannt; je ungenirter du bist, je fröhlicher, desto mehr gefällst du; Behr 1903 Armee-Humor 103 ob dieses unzeremoniellen Besuches; Hertling 1919 Jahr 105 der übliche zeremonielle Empfang; Colerus 1929 Kaufherr 23 Es waren zeremonielle Kleinstädter hier; ebd. 368 Nach einiger Zeit wurden dann die Ortmanns

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eingeladen, und zwar in höchst zeremonieller Weise; Stegemann 1930 Tage 148 zeremoniellen Höflichkeitsbesuche; Berl. Illustr. Ztg. 1932 Nr. 19 in der Übung uralter zeremonieller Teesitten; Süddtsch. Ztg. 31. 12. 1948 Und dann saß mir am vorletzten Tage dieses Jahres der Oberbürgermeister an seinem Schreibtisch gegenüber. Sehr unzeremoniell. zeremoniös: Mandelslo 1645 Sehr. 14 prächtiger vnd ceremonieuser (JONES); Philo 1722 Ruhm des Tobacks 86 Die Welt ist heut zu Tage sehr ceremonieux; ebd. 99 Wenn nun der Gast selbige [Pfeife] anzündet; so halte ich meines Orts für sehr unnöhtig und ceremonieux, wenn man sich so dann . . . des Herrn Bonifacii Gesundheit zu rauchen ausbittet; Rohr 1729 Zeremoniellwissenschaft II 263 Es erstrecken sich diese Reglemens auf alle Fälle, und auf (die) alle Handlungen, bey welchen man ceremonieus zu seyn pflegt; Sonnenfels 1768 Br. 138 langweiliges, innhaltleeres und meistens ceremonioses (geprängmässiges) Dialogiren; Schubart 1774 Dtsch. Chr. 3 haben einen so albernen ceremoniösen Thon; 1777 Ephemeriden d. Menschheit X 89 Die Gesellschaft der Philanthropen . . . hatte von Anfange die Gestalt und alles ceremoniose Wesen eines Ordens; Schubart 1780 Originalien 131 Ein kostbarer Stil, ceremoniös, weitschweifend, undeutlich, abentheuerlich; Bretzner 1787 Leben II 93 zeremonieuse; Wezel 1790 H. u. U. II 59 Er war ein ungemeiner Liebhaber der studentenmißigen oder fidelen Lebensart . . . und durfte sich vor seiner Frau, einer sehr ceremoniösen Dame, nichts davon anmerken lassen; ebd. 326 So ceremoniös, wie einen Fremden, führte sie ihn in ihre Stube; 1791 Journal d. Moden VI 248 Es ist hier nicht das Steife Ceremonieuse, was gewöhnlich bey Gastmalen . . . zu seyn pflegt; Heinzmann 1792 Feyerstunden d. Geschäftsmannes 643 war der Gottesdienst cerimoniös und mit Allfanzereyen überladen; Hess 1796 Durchflüge d. Deutschland I 79 Ihr gesellschaftlicher Umgang strotzt von Zierereien, ceremonieuser Steifheit und lächerlicher Titlerei; Laukhard 1800 Erzählungen II 66 Sie wurde dem Vetter auf die ceremoniöseste Art gleich vorge-

stellt; Bouterwek 1802 Gesch. II 329 ceremoniose Titulaturfloskel; Schwab 1828 Kl. Sehr. 48 empfingen mich mit dem ceremoniosen Anstände von Bürgersfrauen früherer Zeit; Dinter 1829 Leben 208 empfing mich ceremoniös mit den Worten; Sternberg 1832 Nov. I 3 eine Dienerin, die sich mit dem spasshaften Musiker auf das ceremoniöseste begrüßte; Kompert 1856 Gräfin VII 16} so förmlich, so ceremoniös sagen Sie das, Janos!; Willkomm 1857 Ammer 79 Der Graf ist weder stolz, noch ceremoniös; Schücking 1860 Marketenderin 4 eine nicht unzeremoniöse Verbeugung; Nordau um 1880 K. II 377 In ihren Polemiken gegen einander oder gegen öffentliche Persönlichkeiten sind die spanischen Blätter von einer durch ihre Ubertriebenheit auf den Fremden komisch wirkenden Höflichkeit oder vielmehr zeremoniösen Umständlichkeit in der Form; Croissant-Rust 1896 Feierabend 136 Sehr verbindlich, sehr ceremoniös steif; Brandt 1901 Ost-Asien 113 die Fremden, deren freies und ungeniertes Benehmen ihre an ceremoniöseste Haltung gewohnten Gefühle oft schwer geprüft haben mag; Meerheimb 1910 Modell 67 Maria's pedantischer Ordnungsliebe war diese unzeremoniöse Art, einen Gast zu bewirten, peinlich; Federer 1915 Sisto 65 sagte zeremoniös: „Wie Eure Heiligkeit befehlen!"; Handel-Mazzetti 1929 Maria I 12 reichte der Dekanissa zeremoniös die Hand zum Abschied; Voss. Ztg. 10. 12. 1930 Es gibt gewisse Bünde und Verbände, bei denen die Formalitäten der Aufnahme neuer Mitglieder zeremoniös und verwickelt sind; Stegemann 1930 Tage 253 die zeremoniöse Anrede und die Ergebenheitsfloskeln; Lokal-Anz. 14. 8. 1934 Er schwieg, küßte ihr zeremoniös die Hand; Ehrler 1935 Begegnungen 33 Man musste die Vorübergehende grüssen. Es war ein zeremonioser Akt; Münch. N. N. 7. 3. 1944 in zeremoniöser Beherrschtheit; Armbruster 1952 Lux 77 Das zeremoniöse Wesen dieses kirchenmässigen Anstandes; Bonn 1953 Gesch. 356 das Urbild eines Botschafters aus der alten, zeremoniösen Zeit, wo Grazie und Würde einander ergänzten; Die Zeit 22. 1. 1982 Hinter der zeremoniösen Außenseite seiner Machtdarstellung, hinter seiner Liebenswürdigkeit und seinem Pathos steht die Erneuerung Amerikas auf dem Spiel.

Zertifikat N. (-(e)s; -e), im frühen 18. Jh. entlehnt aus mlat. certificatum 'Beglaubigung; Versicherung; Bescheinigung' (N. von Part. Perf. certificatus, zu certificare 'sicher, gewiß machen; beglaubigen', zu lat. certus 'sicher, gewiß' und facere 'machen'); in der Bed. '(amtliche) Bescheinigung; Beglaubigungsschein; Zeugnis; Echtheitsnachweis', gelegentlich allgemeiner verwendet für 'Beweis, Zeugnis', in neuerer Zeit fachspr. im Bankwesen für 'Anteilschein an dem

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Fondsvermögen einer Kapitalanlagegesellschaft' und in der Pädagogik für 'Zeugnis, Nachweis der erfolgreichen Absolvierung eines standardisierten Kurses der Erwachsenenbildung'; dazu seit Mitte 16. Jh. selten, erst seit früherem 20. Jh. häufiger nachgewiesenes, aus mlat. certificare entlehntes zertifizieren 'bestätigen; beglaubigen', vereinzelt reflexiv 'sich vergewissern', in neuerer Zeit adj. verwendet in der Part. Perf.-Form zertifiziert, fachspr. im Bankwesen für 'mit Zertifikat versehen', vereinzelt auch 'geprüft', seit späterem 16. Jh. gelegentlich aus gleichbed. mlat. certificatio entlehntes Zertifikation F. (-; -en) '(Vorgang, Akt, Tatsache der) Beglaubigung, Bestätigung' (Zertifikationsschreiben), seit früherem 20. Jh. das Verbalsubst. Zertifizierung F. (-; -en), fachspr. im Bankwesen für 'Nachweis, Beglaubigung durch Zertifikat'. Zertifikat: Sperander 1728 A la Mod Sprach 107 Certificat, eine schrifftliche Vergewisserung, Versicherung, Zeugnus einer ansehnlichen und glaubwürdigen Person, wodurch sie die Warheit einer Sache bekräfftigt; Lengnich 1769 Danzig-Verf. 178 Was bei der Schiffahrt vorkommt, als Certificate, Verklarungen; Goethe 1770/71 Eph. (LD XIV 6) unter den Certifikaten, die man denen Reliquien beylegt; Hauntinger 1784 Reisetagebuch 60 Auf der Lechbrücke statteten wir der bayerischen Hoheit die letzte Gebühr ab und übergaben zugleich das Certificat unserer Ehrlichkeit, das uns ein Mauthner in München mitgab, seinem hier lauernden Mitbruder wieder; Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge I 278 Schon wegen seiner Unerklärlichkeit, und da er mit keinen Pässen und sonstigen Certifikaten versehen ist, würde er als verdächtig beobachtet und in Arrestationsstand gesetzt zu werden verdienen; ebd. II 104 Der Ritter befahl, den Commisarien zur Probe ein Certificat sinder Arglist und Gefährde auszufertigen, und das große Siegel daran zu hängen, wodurch zu erweisen wäre, daß sie in Jerusalem gewesen; Fülleborn 1802 Rhetorik 36 Certifikat, Zeugniß; Schiller vor 1805 (XVII 51) Das Certificat seiner Treue (KEHREIN); Mayr 1809 Gen.-Index Baiern 731 Waaren-Zertifikate; 1822 Amalthea II Vorher. IX Papyrusrollen [als] -Certificate und Freibriefe der mumisirten Ägypter für den Todtenweg des Osiris; Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. II 177 Gesundheitscertificat; 1865 Staats-Wb. IX 210 sog. Registerbriefes oder Certifikates; Bamum 1869 Kämpfe 569 ein Certificat, dass es wirkliche weisse Wallfische seien; Schäffle 1879 Quintessenz 38 „Arbeitscertificate"; Jhering 1884 Zweck i. Recht II 155 Ursprungscertificat; Passow 1922 Aktiengesellschaft 159 Zertifikate für hinterlegte Aktien; Corti 1927 Rothschild 108 „Ich muß den Banquiers Rothschild", schrieb er, „das pflichtgemäße Zeugnis erteilen, daß sie es an keiner Bemühung zur Erlangung der Zertifikate über die angelegten Stocks haben ermangeln las-

sen"; Lokal-Anz. 14. 1. 1932 Es wurden deshalb diejenigen Auslandsanleihen, die sich von einem bestimmten Zeitpunkt schon in Deutschland befanden, mit einem Schein — „Zertifikat" — versehen, der Handel solcher „zertifizierten" Auslandsanleihen gestattet; Berl. Illustr. Nachtausg. 7. 3. 1933 Das Schatzamt hat den Staat New York ermächtigt, im gesamten Staatsgebiet Zertifikate unter der Bedingung auszugeben, daß sie sofort zurückgezogen werden, sobald eine solche Ausgabe von Zertifikaten im Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten erfolgt; Lokal-Anz. 12. 3. 1933 Das Wort Zertifikat stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Bescheinigung. Im finanzwissenschaftlichen Sinne versteht man darunter Ersatzscheine für hinterlegte Wertpapiere, ferner sogenannte Münzscheine, die voll durch Edelmetall oder Metallgeld gedeckt sind. In dieser Form bilden sie als Bescheinigung für hinterlegtes Barren- oder Münzgold in den Vereinigten Staaten ein Zahlungsmittel, das von allen amtlichen Kassen und anderen Stellen in Zahlung genommen wird. Neben diesen Goldzertifikaten gibt es auch Silberzertifikate; ebd. 21. 9. 1934 Einer entsprechenden Aufforderung, diese „Goldzertifikate" bei den Banken einzulösen, wurde zum größten Teil Folge geleistet; Münch N. N. 17. 12. 1937 Das Washingtoner Schatzamt kauft seit Ende 1936 Gold mit Zertifikaten aus dem Erlös von Schatzwechseln; 1937 Volkswirt 787 Die Zeichner von Gold sollen die obige Rückzahlungsprämie bereits nach drei Jahren erhalten, aber die Goldablieferungszertifikate der Bank von Frankreich, die zuerst mit einem Agio von 25% gehandelt wurden, erzielen neuerdings keine 20% Agio mehr; Münch. N. N. 23. 3. 1944 Das Blatt berichtete, daß während der letzten drei Monate nicht weniger als 5000 Einwanderungen erfolgt sind; weitere 5000 Zertifikate wurden an die Einwanderer erteilt, die erst erwartet werden; Offenburger Tagebl. 3. 1. 1958 Außerdem wird es möglich sein, daß ein Ausgleichsberechtigter seine Hauptentschädigung entweder

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in staatlichen Zertifikaten oder Volksaktien oder aber in Form eines Bausparvertrages erhält; Stuttgarter Ztg. 29. 1. 1960 Das Vertrauen in eine Währung, das gemeinhin ihr stärkstes Fundament ist, wird durch den fleißigen Vertrieb von Goldzertifikaten untergraben; ebd. 18. 3. 1963 Ein Zertifikat soll den deutschen Juwelieren und den Käufern von Edelsteinen in Zukunft genauen Aufschluß über Echtheit, Gewicht, Farbe, Reinheit und Schliff der Steine geben; ebd. 25. 1. 1966 Zwar versichern beide Investmentfonds, daß nicht daran gedacht sei, die Zertifikate an Ausländer zu verkaufen, aber wer will das letztlich kontrollieren?; ebd. 12. 12. 1967 Danach sollen die europäischen Notenbanken einen Teil ihrer Goldreserven dem amerikanischen Federal Reserve System überlassen, wofür sie besondere Goldzertifikate erhalten würden; ebd. 2. 7. 1968 Nicht alle neuen Formen der bruchteiligen Immobilienanlagen aber haben den Zertifikatinhabern Freude bereitet; FAZ 8. 5. 1970 [Begutachtung des LupolenTanks] Zertifikat und Zulassungsnummer bilden den Abschluß eines gezielten Programms umfangreicher Forschung und sorgfältiger Entwicklung in Zusammenarbeit mit der BASF (Anzeige); 1972 Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache (Titel). Zertifikation: 1567 Peutinger-Briefw. 289 Auf das hab ich von stund an und des selben tags zu neun hören vormittags ainen aigen fuspoten mit obgemeltem brieve gen Lintz zu dem gnanten de Birgo abgefertiget mit ainer certification von meinem schweher an die sein, so jetzo im Lintzer markt sein, gedachtem de Birgo 500 laut eurs bevelhs zu bezalen, als auch beschehen ist; 1801 Ztg. f . Naturforscher III 297 ein Certifikationsschreiben, das mir der Commissair des Cantons . . . zugestellt hat. zertifizieren: 1546 Notariat «. Rhetorik 5b zertifizieren; Schwartzenbach 1580 Synonyma o. S. certificieren; Lorini 1607 Von Vestung Baumen (Übers.) 34 damit ich mich dess gemeinen vnd gewöhnlichen Betrugs der eignen Affection, wie jhr saget, certificirte vnd vergewissigte; Archenholz 1787 Italien I 9 Certificirte; Lokal-Anz. 14.

1. 1932 Es wurden deshalb diejenigen Auslandsanleihen, die sich vor einem bestimmten Zeitpunkt schon in Deutschland befanden, mit einem Schein — „Zertifikat" — versehen, der Handel solcher „zertifizierten" Auslandsanleihen gestattet; Arnholds Wochenber. 30. 4. 1932 Eine Sonderstellung nehmen noch die in der Tabelle aufgeführten zertifizierten Auslandsbonds ein. Es handelt sich hier um die Kurse von Stücken, die bis zum 15. April zur freiwilligen Registrierung des Iniandbesitzes in dem im Ausland ausgegebenen und auf Fremdwährung lautenden Schuldverschreibungen eingereicht worden sind . . . Angebote auf Umstellung der zertifizierten Dollarschuldverschreibungen in Reichsmarkanleihen; Lokal-Anz. 15. 3. 1933 Die hier angeführten Kurse beziehen sich auf zertifizierte Stücke; Berl. Börsenztg. 17. 5. 1935 Zertifizierte Dollarbonds zogen im Freiverkehr leicht an; Münch. N. N. 10. 6. 1938 Der Reichswirtschaftsminister hat sich damit einverstanden erklärt, daß die im Besitz von Inländern befindlichen saarländischen Auslandsbonds noch nachträglich zertifiziert werden; FAZ 8. 4. 1970 Amerikanische Vassar-College-Studentin bewirbt sich um Au-pair-Stelle (Gouvernante) . . . bin vom Roten Kreuz certificierte Schwimmerin . . . deutschsprechend. Zertifizierung: Amholds 'Wochenber. 24. 10. 1936 In der letzten Zeit haben am Rentenmarkt die durch Zertifizierung als Inlandsbesitz nachgewiesenen Dollar-Schuldverschreibungen verschiedener öffentlicher Stellen sowie privater Unternehmungen mehrfach im Vordergrund des Interesses gestanden; Münch. N. N. 11. 10. 1938 Durch Bekanntmachung im Dt. Reichsanzeiger . . . hat der Reichswirtschaftsminister die Zertifizierung der österreichischen, auf Fremdwährung lautenden Anleihen . . . zugunsten inländischer Eigentümer zugelassen. Die mit Zertifikaten versehenen Stücke sind von den devisenrechtlichen Erwerbsund Verfügungsbeschränkungen und von den Bestimmungen über die Anzeige- und Anbletungspflicht frei; NZ. (Basel) 14. 5. 1949 Die Frage der Zertifizierung der blockierten Guthaben (Oberschr.).

Ziffer F. (-; -n), Ende 14. Jh. vereinzelt, seit Mitte 15. Jh. kontinuierlich nachgewiesen, zurückgehend auf arab. sifr 'Null', eigentlich 'leer' (vgl. gleichbed. mlat. cif(e)ra, altfrz. cifre, ital. cifra, span. cifra), anfangs in (Schreib-)Formen wie Cifre, Cyfer, Zeif(f)er. la Mit der Übernahme des indisch-arabischen Zahlensystems gleichbed. älteres Figur (das in der Folge die Bed. 'geometrisches Gebilde' angenommen hat) verdrängend in der Bed. '(Schrift-)Zeichen, mit dem eine Zahl dargestellt wird; Zahlzeichen', zunächst arabische, dann auch römische Zahlen

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bezeichnend, speziell auch, bes. im juristischen Bereich, zur Bezeichnung von Zahlzeichen, die zur Textgliederung verwendet werden, von daher auch für den so abgeteilten Textabschnitt selbst, und in der Musik zur Bezeichnung der arabischen Zahlzeichen, mit denen der Generalbaß versehen wird, sowie der römischen, mit denen die Harmonielehre Dreiklänge kennzeichnet, b Gleichzeitig in der Bed. 'Geheimzeichen, -schrift' (Zifferkunst), heute weitgehend durch —» Chiffre ersetzt, früher vereinzelt auch 'Schriftzeichen, Buchstabe' und bildlich verwendet. 2 Von Mitte 15. bis Mitte 19. Jh. in der Bed. 'Null', häufig bildlich verwendet, bes. von Menschen im Sinne von 'jmd., der nicht(s) zählt, gilt; Nichts, Niemand; Null'. 3 Seit Ende 16. Jh. in der Bed. 'Zahl(-größe), Recheneinheit, die die Größe, Menge, den Wert von etwas angibt', dann auch '(numerisch ausgedrückte) Anzahl, Summe, Höhe, Menge, Umfang; Rate, Quote', z.B. als Grundwort von Zss. wie Geburten-, Bevölkerungs-, Auflagenziffer, auch pl. im Sinne von 'Daten'. 4 Im 18. Jh. vereinzelt nachgewiesen als N. für 'Verzeichnis, Register'. Dazu im 15. Jh. vereinzelt die Präfixbildung auszifferieren 'ausrechnen, -zählen', seit früherem 16. Jh. die selten belegte, veraltete verbale Ableitung zifferieren 'in Ziffern schreiben' (zu l a ) und 'rechnen, zählen' (zu 3), auch 'in Geheimzeichen schreiben' (zu lb), gleichbed. mit von späterem 17. Jh. bis Anfang 20. Jh. nachgewiesenem Ziffern, letzteres auch für 'Geheimschrift enträtseln' nachgewiesen; im 17. Jh. die vereinzelt belegte subst. Ableitung Zifferant 'Kenner der Geheimschrift' (zu lb); seit spätem 18. Jh. die verbale Präfixbildung entziffern V.trans., in der Bed. 'Geheimzeichen auflösen, Geheimschrift enträtseln, -schlüsseln' durch dekodieren und (eventuell unter Einwirkung von frz. déchiffrer aufgekommenes) dechiffrieren ersetzt (zu lb), heute abgeflacht im Sinne von 'unleserliche, undeutliche Schrift mit Mühe, Buchstabe für Buchstabe lesen', vereinzelt auch übertragen verwendet, mit der dazugehörigen Personalableitung Entzifferer M. (-s; -), dem Verbalsubst. Entzifferung F. (-; -en) und der adj. Ableitung entzifferbar; ebenfalls seit spätem 18. Jh. die verbale Präfixbildung beziffern 'mit Ziffern versehen' (zu l a ) mit dem dazugehörigen Verbalsubst. Bezifferung, in jüngster Zeit mit der Präp. auf nachgewiesen für 'der Zahl nach angeben', als V.reflex. 'sich belaufen auf (zu 3); seit späterem 19. Jh. die adj. Ableitung ziffer(n)mäßig 'was das Zahlenmaterial anbetrifft, zahlenmäßig' (zu 3). Ziffer la: 1399 Ackermann a. Böhmen 32 arismetrica, der zale behende ausrichterin, hilfet da nicht mir ihrer rechnung, mit irer reitung, mit iren behenden Ziffern (DWB); Tucher 1464-75 Baum.' Buch 294 so hab ich die doch hinfur und voren in das register mit zifferas an dieselben oder der geleichen artickel hencken lossen, dordurch man die auch hinten im puch finden mag; 1483 Petzensteiners Rechenbuch Reg. vnd ob yndert eyn ciffer oder mer verkert were, wil ich entschuldigt sein (TRÜBNER); 1486 Matth. Roritzers Filialenbüchlein (in: Heideloffs Bauhütte des MA. 114) Darnach wildu dy plumen zv dem risen de fialen machen so tu im also mach dy negstn figur wider abe dw darff kain Ziffer oder puchstabn dar zv machen (SCHIRMER, Mathematik); Böschen-

steyn 1514 Ain New geordnet Rechen biechlin mit den z y f f e m (Titel); ebd. A 2" welcher lernen will anfängklich rechnen durch dye zeyffer yst not das er wysse vnd fleyssig erkünde dye figurenn der Zyffer, Darnach lerne dye crafft vnd bedeütnus der steet [Stelle] dar an die ziffer gesetzt werdn (SCHIRMER, Mathematik); Röbel 1514 Rechenbüchlein A 3h Die weil diß Rechenbüchlein dem Gemeine Leyen zu gut vnd nutz (dem die Zyffer tzale am Ersten zu lernen schwere) durch die gemein Teütsch zale zu Trücken fürgenommen; ebd. A 4b Nun wil ich meynezverheyß noch, wie man die tzale, die mit sunderlichen figuren (die der gemein man Zeyffern nendt) schreiben solle lernen lesen vnd versten (SCHIRMER, Mathematik); 1520 Freiburger Stadtrechte 21h ouch die summa

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[soll] nit mit Ziffern sondern langer zal oder mit gantzen Worten anzögt sin (DWB); Dürer 1525 Vnderweysung der Messung B 4k vnd die zween mittel punckten . . . betzeichen mit zyffern, 1, 2 ( S C H I R M E R , Mathematik); Rudolf} 1532 Künstliche rechnung mit der Ziffer vnd mit den zalpfennigen (Titel); ebd. A 2k dise zehen Ziffer oder figurn; Fuchssperger 1542 Leeskunst (Mueller, QSchr. 184) zifferen oder zaalschriften; Stifel 1545 Deutsche Arithmetica 3k So du nu wilt ein zal mit Rechenpfennigen gelegt, abschreiben durch Cifern ( S C H I R M E R , Mathematik); Xylander 1562 Euclid (Ubers.) Vorr. b lh Es grüblet mancher inn ainem fürgebnen Exempel lange zeit vmb, vnnd rechnet gantze Eselheütten voll Ziffern; Nas 1567 Antipap. I 65k dann die Greci haben kein andere Ziffer dann ire büchstaben (DWB); Fischart 1588 Bienenkorb N n 2" darbei der leser wisz, dasz die Ziffer ist gezahlt nach den blettern, und wo a steht, bedeut es die erste Seiten, wo aber b steht, bedeut es die ander Seiten des blats (DWB); Hennenberger 1595 Erclerung d. preuss. Landtaffel 9 ein tefflein mit 8. zalen und Ziffern und 3 linien . . . und stehen darauff die zifferen der meylen (DWB); Wallhausen 1615 Soldaten ABC 18 Ziffern 20. biß zum 35.; Martin 1637 Pari. 45 schreibt mit Ziffern / wie sie bey den Rechenmei1662 Fiorii. stern bräuchlich seind; Lehmann Polit. I 288 ein noli gilt nichts, setzt man aber ein starcke ziffer dar zu, so gilt sie sehr viel (DWB); "Weise 1675 D. drey klügsten Leute 194 versteht ihr den continuo mit den Ziffern? (DWB); Abr. a S. Clara 1686Judas I 506 ein zaiger auff einer uhr ist vornher geformbt, als wie ein hertz, dessen spitz auff die ziffer oder zahl deutet (DWB) ; Lohenstein 1689 Arminius II 1518" ich fürchte, es möchte alsdenn mit unsern freunden wie mit denen arabischen ziphern gehen (DWB); Mattheson 1735 Kl. Generalbaßschule. Widmung o. S. der einen generalbass . . . nicht nur mit Verbesserung der ziefern, sondern gänzlich ohne dieselben richtig spielen wollte (DWB); Brucker 1737 Zusätze 357 mit sogenannten Bauren-Ziffern das Nöthigste zu rechnen; Neukirch 1744 Ged. 127 was nicht nach silber klingt, was nicht vom golde spricht, ist eine nulle nur und keine zifer nicht (DWB); Scheibe 1745 D. crit. Musicus 415 er [der richtige Organist] musz . . . in der linken hand. . . rein anschlagen, als auch mit der rechten hand alle griffe, wie sie ihm . . . durch die gewöhnlichen ziefern bemerket sind (DWB); Bach 1759 Art. d. Ciavier zu spielen 131 bey den noten ohne Ziffern bezieht man sich auf das vorhergegangene (DWB); Hippel 1778 Lebensläufe II 565 der stolz ist zweyerley, innerlich und äuszerlich, leibes- und seelenstolz! so kann man stolz seyn auf seine nase, äugen, ohren, aufs Zifferblatt (DWB); Krünitz 1778 öc. Encyclop.

241, 307 jedenfalls macht die ziffermethode die kenntnis der Intervalle bei weitem anschaulicher . . . es giebt verschiedenartige Ziffersysteme [für Noten] doch alle haben das gemein, dasz die zifferreihe von 1 — 8 sich in jeder tonart gleichbleibt (DWB); Quantz 1789 Anweis. d. Flöte zu spielen 29 um mich hierbeiy deutlich erklären zu können, wird nöthig seyn, dasz ich die finger durch Ziffern andeute (DWB); Schubart 1806 Ästhetik d. Tonkunst 24 da die Ziffern des generalbasses noch weitern umfang haben (DWB); Mozin-Biber-Hölder 1811 Basse fondamentale III 226' zifferbass (DWB); Immermann 1815 W. I 202 an dem postamente glänzten in goldenen Ziffern die jahreszahlen 1813, 1814, 1815 (DWB); Pestalozzi 1819 S. Sehr. XIV 137 neben einen, 2, 3 , 4 . . . Striche, die der lehrer auf eine grosze tafel zeichnet, setzt er die gewöhnlichen zifferreihen (DWB); Schubert 1823 Verm. Sehr. I 158 eine metallene Stange, die, wenn sie durch das feuer verlängert wird, ein räderwerk in bewegung setzt, welches vermittelst eines zeigers auf einem zifferblatte jeden grad der hitze anzeigt (DWB); Kohl 1841 Petersburg I 224 Zifferblatt der Zeit; Forster 1843 S. Sehr. IV 208 ihre [der Insel] gestalt hat mit der ziffer 8 viel ähnliches (DWB); Riehl 1864 Vorträge I 346 Zifferntabelle; 1867 Grenzboten III 25 die französische Hauptstadt — das Zifferblatt des Welttheils, wie man vor 30 Jahren sagte; Keller 1889 (Ges. W. 160) wie sie diese vier Ziffern [die römischen Ziffern I, V, X , C ] in ihrer frühen jugend, in einer entlegenen und vergessenen landegegend überkommen hate, überliefert durch einen jahrtausend alten gebrauch, so handhabte sie dieselben mit einer merkwürdigen gewandtheit (DWB); Hauptmann 1892 Weber 112 und war ganz recht! (dem alten die faust vors gesicht haltend) sag du noch ee wort, da setzts a ding nein - mitten ins Zifferblatt (DWB); Baum 1929 Menschen 171 Ziffernkolonnen; Hintz 1931 Gisela 227 wirft einen hastigen Blick auf das Zifferblatt der großen Standuhr; Langgässer 1946 D. unauslöschliche Siegel 44 er zählte die einzelnen Ziffern [eines eben gekauften Loses] zusammen und teilte die quersumme wieder durch drei (DWB); Seghers 1950 D. siebte Kreuz 26 noch war der nebel so dick, dasz die Ziffern auf seiner armbanduhr leuchteten (DWB); Stuttgarter Ztg. 25. 10. 1961 So ist es richtig wenn Sie auf Zifferanzeigen schreiben (Uberschr.); ebd. 12. 1. 1968 Zuschriften auf Zifferanzeigen können nur dann weitergeleitet werden, wenn sie das übliche Format und Gewicht eines Briefes nicht übersteigen.

beziffern: Gerstenberg 1780 (Gött. Magazin d. Wiss. u. Litt. 141) Über eine neue Erfindung, den Generalbaß zu beziffern (Uberschr.); Sulzer 1792

Ziffer Theorie 1 403 Denn noch itzt ist die Methode zu beziffern nicht nur unvollkommen, sondern auch wankend, indem einerley Accorde nicht immer auf einerley Art bezeichnet werden. Bezifferung: Sulzer 1792 Theorie I 403 Bezifferung (Musik) (Oberschr.) Die Bezeichnung der Accorde des Generalbasses, durch Ziffern oder durch andre Zeichen . . . so ist offenbar, daß der Generalbaßspieler ohne Bezifferung nicht wissen kann, welche von allen möglichen Harmonien der Tonsetzer gewählt hat. Deßwegen ist auch zu wünschen, daß die größten Meister sich vereinigen möchten, die vollkommenste Bezifferung ausfindig zu machen, und dieselbe alsdenn durchgehends einzuführen. zifferieren: Virdung 1511 Musica getuscht (1882 N 3h) so müssen allweg die andern 16 eher [der Flöte] allesampt darunter oder die zifferirten löcher die minder oder clainer sindt uffgethon werden (DWB); Dürer 1525 Underweys. d. Messung 104h auf allen getzifferirtten linien (DWB); Nap 1588 Praeturim 11 [das Buch] ist auch oben nicht zifferiert / oder ich hab mirs / selbsten zu zifferieren / unnd hab ohn Gefahr gefunden / daß es nicht umb ein Blat mehr oder minder hätte. Ziffern: Bothe 1751 Zuverlässige Beschreib. I 92 Gersdorf zifferte ein bischen mit der feder, und sagte: mit 15000 rthlr. kann man auskommen (DWB); Geliert 1769 W. III 146 so bald sie die geringste Unrichtigkeit findet, so hält sie inne mit singen und zählt und ziffert mit der kreide an der schrankthüre (DWB). Ziffer lb: 1459-1519 Urk. z. Gesch. Maxim. I. 292 es soll auch ain zifferpost von Hainfels gen Bleyff verordennt werden, weihe Blas. Holczl ytz bey seynen hanndn hat, die sol er dem gemelten Putschn auch zuschicken, damit sy waz not ist in Ziffer gegen ain annder schreiben (DWB); Kessler 1524—39 Sabbata 200 schribend inen zu durch eifer; Frundsberg 1525 Schlacht v. Pavia (Scheibles Klöster VI 4) Die von Pavia haben vns zugeschrieben durch die Ziffern, wie wir keyneswegs angreifen sollen, auch unser Sach ihrenthalben in kein gefahr setzen sollen; 1543 Polit. Korresp. Moritz v. Sachsen I 550 do auch mittler zeit etwas weiter hirin geschrieben sollte werden, so hat er vor gut angesehen, dasz solchs durch cziffern oder caracteres geschehe (DWB); Schertlin v. Burtenbach 1545 Br. 35 verborgen mit zifer geschribne brief; ebd. 38 der verstett all zifer, die thut er auch alle auslegen vnd verteutschen; Reißner 1572 Historia 146b die keiserische oratores und bottschafften, die in Frankreich, Italia, Anglia . . . lagen, haben 24 Fremdwörterbuch

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solche gefährliche handlung der neuwen bündtnusz durch Ziffern geschrieben, entdeckt und gewarnet (DWB); Fischart 1573 Flöhhatz 3112 der da Schmidt das kuderwelsch und die geschrift mit zifern gfelscht (DWB); Luther 1573 Tischred. 416h es ward geweiset der Fucker handtschrifft, mit seltzamen, wunderbarlichen buchstaben und Ziffern geschrieben, dasz es niemand lesen kondte (DWB); Fischart 1581 Dämonomania 239 Characteren, Zifferen vnd Buchstaben; Paracelsus 1616 Opera 1700" so soll auch nicht nach der regel gehalten werden, oder nach der ziffer oder schnür (DWB); Harsdörffer 1641 Gesprächssp. I H 5' solchergestalt ist der gantze brieff voll ziffer und unaufflösig dem, der das geheimnuss nicht weisz (DWB); Duez 1664 Dict. Gall.-Germ. 142 chiffre, m., eine ziffer oder schifferzahl als auch eine schrifft, die mit Ziffern oder andern erdichten buchstaben geschrieben ist, damit sie von jedermann nicht könne gelesen werden (DWB); Kramer 1681 Leb. u. tapffere thaten 456 also schieden sie voneinander, jedoch mit hinterlassung der zeit und des ortes, allwo sie einander vor der abreise wiederum sehen und zu ihrer vorhabenden correspondentz die zifer abreden konten (DWB); Riemer 1679 Polit. Maulaffe 67 nun kunte der arme mann, wie gedacht, nicht lesen, alleine ediche ziefern mochte er kennen (DWB); Haller 1730 Falschheit (NL XLI 2,56) Doch such nur im Riss von künstlichen Figuren, beim Licht der Zifferkunst, der Wahrheit dunkle Spuren; Petrasch 1765 Lustsp. I 92 hier haben sie einen zifferschlüssel dazu . . . damit niemand unsere briefe lesen könne (DWB); Lavater 1771 Geheim. Tageb. I 13 der nutzen der zifferschrift ist. . . zur zeit des krieges gröszer, als zur friedenszeit (DWB); Kosegarten 1798 Poes. I 8 enträthsle uns die Ziffern der aufgerollten flur, des himmels goldne chiffren, das sanskrit der natur (DWB); Schiller 1800 Maria Stuart II 4 (W. XII 461) geheime briefe hat man ihm vertraut, in Ziffern, für die königin von Schottland (DWB); Brinckmann 1806 Filosof. Ansichten 41 sie überzeugte sich bald, dasz eine willkührliche Ziffernsprache den . . . sinn dieser rolle [einer Taubstummen] nicht verdeutlichen würde (DWB); Mimra 1930 Batterie 190 Vielleicht ist es besser als in irgendeinem Amt als Ziffernspion zu sitzen und an Bleistiften zu kauen; Brauer 1936 Im Dienste Bismarcks 337 Zifferntelegramm; HZ Nr. 158 S. 200 o. D. „Zur Geschichte und Organisation der Wiener Geheimen Ziffernkanzlei" ein anschauliches Bild der Entwicklung und des Aufgabengebietes dieser Zentrale der österreichischen Geheimpolizei; Kasack 1947 Stadt hint. d. Strom 407 in einer buchstaben- und ziffersprache . . . deren schlüssel ihm fehlte (DWB).

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Ziffer

Zifferant: Grimmeisbausen 1669 Simplic. Cont. 42 weil ich . . . ein zimblicher zifferant bin, und mein geringste kunst ist, einen brieff . . . zu schreiben, den wohl kein mensch wird auszsinnen oder errathen können (DWB). Ziffern: Happel 1670 Witekind III 108 womit [mit Winken] sie manche stunde, als gleichsam gezifferte briefe, einander ihres hertzens gedencken eröffneten (DWB); Lohenstein 1689 Arminius I 445 gezifferte briefe . . . die niemand, als der sie empfangen solte, lesen kSnte; Schleswig 1793 briefl. an Baggesen 185 noch jüngst. . . hat er . . . seine reiseinstruktionen in einem gezifferten briefe nach der Schweiz gesandt; Seume 1803 Spaziergang 129 man musz schon sehr Ziffern, wenn man den sinn heraushaben will; Scheffel 1907 Ges. W. I 227 in nächtger stille sasz ich jüngst allein und ziffert an den Schriften alter zeit; Stifter 1908 S. W. II 358 ich habe noch recht viel zu erzählen und werde es in der Zukunft thun, wenn ich es zu ende geziffert und ausgezogen habe (alle DWB). entziffern: 1782 Anthologie 121 Wo ihrem Blik der Spiegelfluß Elisium entziffert, Arkana die kein Genius Dem Aug je blos geliefert; Lavater 1782 briefl. a. Kortum (Kortum 1791 Lebensgesch. 59) Ja, wahrlich, Sie können entziffern. Ich erstaune und freue mich der menschlichen Geschicklichkeit; Schiller 1789 Egmont (W. IX 14) entziffern; Kortum 1791 Lebensgesch. 55 Da ich nun dennoch die Auflösung davon fand, weil ich mich mehrmals auf Akademien und sonst mit einigen Freunden im Entziffern übte, auch verschiedene Schriftsteller aus diesem Fach gelesen hatte, so entschloß ich mich, diese Schrift zu verfertigen, darin die Methode zu zeigen, wie man entziffern müsse, und beiläufig die Lavaterische Ziffernschrift zu erklären; Holtei 1854 Schneider II 243 entziffern; Musil 1930-43 Mann (1960) 967 Überhaupt war dieses Gesicht nicht leicht zu entziffern ( D U D E N ) ; Zwerenz 1973 Erde 16 auf dem Röhrchen Spalttabletten entzifferte er die Jahreszahl 1932 (DUDEN). Entzifferung: Lavater 1782 briefl. a. Kortum (Kortum 1791 Lebensgesch. 59) Mir ist die Gabe der Entzifferung versagt!; Kortum 1791 Lebensgesch. 55 I. J . 1782 gab ich die Anfangsgründe der Entzifferungskunst deutscher Zifferschriften in Druck; Rochlitz 1808 Romane 1235 Entzifferung.

Entzifferer: Ceram 1949 Götter 68 Grotefend, der erste Entzifferer einer Keilschrift, war klassischer Philologe ( D U D E N ) .

entzifferbar: Federer 1925 Regina Lob 258 unentzifferbar.

Ziffer 2: um 1445 Clevischer Algorithmus (Zschr. f . Math. u. Phys. XXXIII125) Aend is dit 0. Dese cyfer een byduet ons in haer seluen nicht (SCHIRM E R , Mathematik); 1508 Gemma Gemm. e 2 ah cifra ein zyfer, quae per se nihil significat (DWB); Köbel 1514 Rechenbüchlein A 4h Zum ersten soltu wissen, das Newn beteutlich figure sein vn ein Zeiffer, die sein also gestalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 vnd 0 das ist die zeiffer ( S C H I R M E R , Mathematik); Luther 1525 Gutachten (XVIII 539,13) das ein erbar Rath . . . keine Macht habe . . . sondern sitze da wie ein Götze unnd Zyfra; Franck 1539 Germ. Chron. 134h die fürsten zogen iren weg und lieszen in [den Kaiser] als ein ziffer in Italia umbfaren (DWB); Tappius vor 1541/42? Adag. centuriae Septem F 6" es ist eyn recht zyffer vel sie es ist eyn rechter dummer jan (DWB); Luther vor 1546 (XXVI 96) soll ein eid gethan werden, so müssen zwo personen dazu kommen: eine, so den eid thut; die andere, die den eid empfähet . . . ist die person nicht da, die schwören soll, so sitzt die ander person da, wie eine zyfra, und mag ihr lassen dieweil eine fliegen ins maul fahren, weil niemand da ist, der den eid thut (DWB); ebd. LXI 322 so spricht denn nun unser herr gott: für wen haltet ihr mich denn? für eine ziffer, die nichts gilt? (DWB); Fischart 1582 B. (1847: 391) lassen . . . alle hailigen müssig sitzen, wie ain unnutze zifer; Follio 1601 Zehen predigten 43k zifer (das ist, mit einem gelben runden ringlein) zeichnen, so würde man auff dem nechsten fastenmarckt kein gelb tuch mehr haben (DWB); Petersen 1717 Lebßn 120 er säsze nicht allda für eine ziefer, er müsze es sagen, es käme wie es wolle (DWB); Haller 1731 Sitten (NL XLI 2,71) Ein Unselbst, reich an Ja, der seine Stimme liest, Und dessen Meinung stets vorher eröffnet ist? Und so viel andre mehr, der Grossen Leibtrabanten, Die Ziffern unsern Staats, im Rat die Konsonanten?; Abert 1768 Verm. W. 1190 aber es nimmt ab, wie eine unendlich kleine grösze, die, ohne zur ziffer zu werden, dieser gleich geachtet wird (DWB); Schmidt 1782 Poet. Br. 177 di väter meines Weibchens waren berühmte rechenmeister, freund! sie trieben dir die heeresschaaren der ziefer und der null so fürchterlich zu paaren, wie unser könig seinen feind (DWB); Arndt 1845 Sehr. f . u. an s. lieb. Deutsch. III 18 in Dänemark, wo die ersten beiden könige nach der verjagung Christians des zweiten wirklich fast nur Ziffern waren und wo alle macht bei dem adel und den bischöfen stand (DWB); Brentano 1852 Ges. Sehr. III 61 aber wie am Sterbebette rechnend gern der teufel

Ziffer sitzet, zerrt ihn n u n Apones rede vom unendlichen zur Ziffer (DWB). Ziffer 3: Pomarius 1590 Grosze Postilla II 144' die rentmeister, Schreiber, kemmerer, so die register oder handschriefften auch felschen, ein x für ein u setzen, die ziepffern drinnen mindern oder mehren; 1628 Acta publica schles. VII 145 behielt es [das Land] wenigstens das auskunftsmittel über die ziffer der geforderten beitrage beschlusz zu fassen (beide D W B ) ; Meyfart 1636 V. d. Hochschulen 133 eine geschickte Handt mit den Ziffern / welche sich unterfangen dürffte die Sünden zu zehlen; Spee 1640 Trutznachtigall 90 wan ich mein laster all mit ziffer solt befangen, weit schrittens über zihl und zahl (DWB); Heinichen 1728 Generalbass 31 wir wissen nehmlich, dasz es leute giebet, welche . . . 30. 40. ja 100. . . . nahmen, Ziffern . . . vor-, rückwärts . . . hersagen können, wie sie ihnen . . . vorgesaget werden; Gottsched 1751 Ged. 1221 das grübeln menschlicher Vernunft ergründet auch die zahl der Sternen, doch kann sie der verliebten zunft in keine Ziffern schlieszen lernen; Pfeffel 1812 poet. Vers. III 62 die kleinste ziffer von der summe des elends; Geliert 1839 S. Sehr. 1151 ein reicher mann der . . . die eingelaufe n schulden . . . in schweren Ziffern übersann; Riehl 1861 Arbeit 215 die riesige ziffer der priester und klöster in den geistlichen herrschaften (alle DWB); den. 1865- 72 Vorträge I 448 die Sterblichkeitsziffer der Minister ist vielleicht die günstigste unter allen Ständen; Ranke 1867 (S. W. IX 49) beginnen wir damit, einige Ziffern über die finanziellen erträge der früheren Zeiten . . . zusammenzustellen (DWB); Peschel 1874 Völkerkunde 230 dasz die Ziffern beider geschlechter im gleichgewicht stehen (DWB); Riehl 1885 Vorträge II 257 Wenn das Recht des Individuellen geläugnet wird gegenüber einem doch oft nur scheinbar höheren Rechte der „Gesetzmäßigkeit" der großen Durchschnittszahlen, oder wenn man sich auch nur in Ziffernluxus und Ziffernspielerei verliert, statt Gescheidteres zu thun — dann erblicke ich allerdings bedenkliche Symptome der statistischen Krankheit; Freytag 1886 (Ges. W. XVIII 87) von den heereshaufen, welche die könige gegeneinander geführt hatten, zählten Ungarn und Kumanen, bürger und bauern zu fusz auf beiden Seiten fast nur als Ziffern und bei der Verfolgung (DWB); Polenz 1898 Grabenhäger II 196 wir können nicht, wie es vielleicht andere mit erfolg thun, den menschen herabdrücken zu einer ziffer (DWB); Rosegger 1908 Alpensommer 40 sich mit allen sinnen und mit ganzem herzen versenken

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in die Schöpfung, das war unmöglich, wenn ein Ziffern- und zahlenmensch neben ihm schwatzte (DWB); 1935 „Duden"-Sammlung o. S. Jetzt wird das Landjahr mit seinen sämtlichen Einnahmeund Ausgabeposten verbucht, also mußten auf beiden Seiten des Budgets die Ziffern anwachsen. Daraus dürfte sich eine Ziffernaufblähung von etwa RM 16 Mill. errechnen; Dtsch. AZ. 27. 8. 1935 In Kürze muß die Sterbeziffer . . . steil emporschnellen; Börsen-Ztg. 7. 2. 1937 Von der Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit des betrieblichen Lebens innerhalb der einzelnen Wirtschaftszweige an Hand des Ziffernmaterials aus den Untersuchungen des R K W . Ziffern: Mayr 1769 Päckchen Satir. 81 eher w ü r d e ich die sandkorner am ufer des meeres, eher die glanzende himmelsfackeln zifern könen als ihre unzählichen Verdienste (DWB). zifferieren: vor 1524 Zugabe zu Gengenbach 406 Sy müssen jm zalen alles essen Was ir do zu tisch seind gesessen Das hat der wirt vor zifferirt; Hans Sachs vor 1576 (II 335) nun war in dem schiff ein patron, war ein vernünfftig, sinnreich mon . . . gar gschickt mit rechnung zifferiern (DWB). auszifferieren: 15. Jh. Fasn'sp. (II 741) Pitagoras leret practiciren Vnd kan auch wol auss zifferiren Wie sich ieder numerus gemert. ziffer(n)mäßig: Bernhardt 1872 Gesch. d. Waldeigent. III 96 ziffermäszige belege; Riehl 1899 musikal. Charakterköpfe II 398 ein ganz ziffernmäsziges material (beide DWB); Bloem 1910 Sommerlt. 15 Sie hatten sich bis zur Verzweiflung gegen diese Schickung gewehrt und sich erst besiegt gegeben, als der Erwählte ihrer Tochter ihnen ziffermäßig beweisen konnte, daß seine Kunst wenigstens nicht eine brotlose sei; Amh. Wochenber. 5. 9. 1931 Die ziffernmäßig größten Einbußen erlitten die führenden Werte der Dresdner Börse; Lokal-Anz. 12. 11. 1934 Der ziffernmäßig gleich hohe Sieg, den Union-Oberschöneweide über den BfB Pankow errang; Dtsch. AZ. 8. 1. 1953 Die Preisbewegung zwar ziffernmäßig geringer für französisches Holz, dagegen sehr stark ins Auge fallend für spanisches Holz. Ziffer 4: Säiler 1766 Geistl. Red. 1175 da er seine unterthanen in ein groszes ziffer setzen liesz; ebd. 1366 dasz doch die anzahl in kein so groszes ziffer erwachsen wäre (beide DWB).

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Zigarette

Zigarette F. (-; -n), Mitte 19. Jh. zunächst in auf gleichbed. amerikan.-span. cigarrito (Diminutiv zu cigarro 'Zigarre'; vgl. aber span. cigarillo) 'kleine Zigarre' zurückgehenden Formen wie Cigar(r)eto, Cigarito aufgekommen und auf mittelamerikanische Verhältnisse bezogen, dann fast gleichzeitig in der aus gleichbed. frz. cigarette (Diminutiv zu agare 'Zigarre', —> Zigarre) entlehnten heutigen Form, früher auch in Diminutivformen wie Zigarettlein, -chen; Bezeichnung für ein Tabakerzeugnis zum Rauchen, bestehend aus einer fingerlangen, dünnen, gerollten Papierhülse mit oder ohne Filtermundstück, in welche fädig und fein geschnittener Tabak gepreßt wird, häufig als Grund- und Bestimmungswort von Zss. wie Filterzigarette; Zigarettenasche, -automat, -kippe, -papier, -pause und Zigarettenlänge 'Zeitspanne, die das Rauchen einer Zigarette in Anspruch nimmt'. Kohl 1841 Reisen I 81 sie dampfen ihr cigareto; Mühlenpfordt 1844 Schilderung d. Republik Mejico I 293 so zünden sie mit ihrem munde einen segarrito an (beide DWB); Cuendias 1847 Spanien 161 er vertheilt einige Cigarritos, theils umsonst theils für ein Paar Maravedis (der Cigarrenhandel ist ein eigentlicher Stand vor den Augen der Welt); ebd. 185 während ich mein Cigarrito anbrenne; Holtei 1860 Eselsfresser II 130 Cigarettchen; Raube 1862 Leute a. d. Walde (S. W. I 5, 372) die gebräunten Gestalten nahmen die Cigaritos aus dem Mund und nickten: Buenos dias, Sennores! (TRÜBNER); Rodenberg 1863 Strassensängerin II 147 von Frauenzimmern . . . welche um eine Cigarette oder ein Glas Grog bettelten; Gerstäcker 1864 Sehr. 122, 257 zündeten sich die männer ihre cigarettos an (DWB); ebd. II 2, 137 da sie es [Papier] zu ihren cigaretten verwenden konnten (DWB); Müller 1864 Reisen II 148 die Damen rauchen ihre Cigarittos; 1866 Gartenlaube 679 Havanna — in der Nähe liegt Honradez, eine der ersten großen Tabaksfabriken der Havanna, in der man hauptsächlich der Production der eleganten kleinen Cigaretten obliegt. . . das dünne Cigarettenpapier . . . Wie Krupp der Stahl- und Kanonenkönig, Barcley und Perkins die Bierkaiser, Faber der Bleistiftsultan ist, so ist Honradez die Königin der Cigaretten; wer sie gesehen, hat etwas gesehen, das nirgendwo seinesgleichen hat; Peterssen 1870 Genrebilder 32 wie blasiert liederlich raucht sie ihr Zigarettlein; ebd. 97 steigt . . . von bärtigen und rosigen Lippen Zigarettenrauch empor; ebd. 232 das champagner- und zigarettenselige Fräulein; Langhans 1872 Orient 99 mich dem orientalischen Vergnügen des Cigaretten-Drehens und Rauchens hinzugeben; Heyse 1873 Kinder d. Welt II 103 fing an, sich eine Cigarette zu drehen; Röse 1884 Revanche 25 ein wenig Tabak zum Cigarettenwickeln erhaschen; Lindau 1886 Westen 42 warf die Cigarette in den Aschenbecher; Hofmannsthal 1891-1901 (Prosa I 20) schreiende Tapeziereleganz, voll Zigarettendunst und Pat-

schuli; Rosegger 1895 Sehr. III 6, 137 sie . . . liesz sichs gefallen, als ihr ein junger bengel den cigarettenrauch ins gesicht blies (DWB); Kahlenberg 1901 Eva Sehring 80 Lizzie war . . . ohne jegliche leidenschaft . . . faul vor allen dingen . . . mit der passion für endlose cigaretten und süszigkeiten (DWB); Wiebig 1904 D. schlaf. Meer 1162 schwerer zigarettenduft in der luft, gemischt mit dem duft der weinneigen (DWB); ebd. II 453 er blieb allein zurück in der stube, die erfüllt war vom zigarettenqualm (DWB); Böhmer 1915 Sklavinnen 185 Moisson zog sein Zigarettenetui aus der Tasche: Belebung für den Geist; Zobeltitz um 1920 Gross-Q. 303 Rabenau griff nach seiner Zigarettendose; Lokesch 1927 Fortf. von Sehen, Kulturgescb. 705 ein Gemisch von Schweiß, alter Wäsche, Zigarettenrauch und von sonst noch allerhand undefinierbaren Gerüchen; Voss. Ztg. 11. 5. 1930 Das schwarzhaarige Barmädchen beugt sich über den Bartisch . . . Sie hat ganz spitze Nägel, Zeige- und Mittelfinger sind zigarettenrauchgebräunt; Hintz 1931 Gisela 11 Handschuhe hatte ich sogar mit — Sie wissen, wegen der Fingerabdrücke! — Und zurückgelassen hätte ich auch nichts — nicht einmal einen Zigarettenstummel; Lokal-Anz. 23. 1. 1933 Beamte der Zollfahndungsstelle deckten an der bayrisch-tschechischen Grenze einen großen Schmuggel mit Zigarettenpapier auf; Berl. Illustr. Nachtausg. 16. 8. 1933 im Pharmakologischen Institut der Medizinischen Akademie Düsseldorf zahlreiche Zigarettensorten dieser Art zu untersuchen und insbesondere zu ermitteln, bis zu welchem Grade ihnen noch eine Nikotinwirkung verblieben ist; Lokal-Anz. 24. 7. 1934 Mit seiner Unterstützung kam er nicht aus, denn sein Zigarettenverbrauch überstieg alle Grenzen; ebd. 19. 8. 1934 Die gleichen Blickpunkte zieren hübsch geformte Teelöffel, Aschenbecher, Zigarettenkästchen und Notizbücher; ebd. 4. 11. 1934 Armbänder, Ringe, Anhänger und Broschen, verchromte und lackierte Zigarettenetuis, Toilettenartikel, Feuerzeuge sowie syn-

Zigarillo thetische Steine; 1939 Tatsachen zur Tabakfrage 9 Der Sehnerv wird also in erster Linie in Mitleidenschaft gezogen. Der Verdauungskanal ist gegen Nikotin auch sehr empfindlich. Man hat diese Erscheinung als „Zigarettenmagen" bezeichnet; Münch. N. N. 13. 1. 1942 Zigarettenwerbung eingeschränkt (Uberschr.); ebd. 8. 10. 1942 Der Zigarettenstummel ist — wenn man so sagen darf — ein S y m b o l . . . als Jagdobjekt für arbeitsfähige kräftige junge Leute . . . die Geschäftemacher, die mit ihm verdienen; Volk. Beob. 2. 7. 1943 Während der Zigarettenpause lernt man sich näher kennen; Münch. N. N. 15.116. 1. 1944 Ich selber rauche sehr gern: Zigaretten, Zigarren, Stumpen, Zigarillos und Pfeifen. Ich begreife die Freude, die jemand angesichts einer Kiste Romeo y Julietta empfindet, die Beglückung durch eine noch leicht feuchte und darum weiche Importe, das Wohlbehagen, das sich beim Betrachten der silbergrauen Asche einstellt, die ein wenig körnig dort ist, wo das Deckblatt anfängt, langsam zu verbrennen. Eine Dose frischen Pfeifentabaks „Royal Yacht" duftet mir so herrlich wie das schönste Parfüm, eine Zigarette von Rang beglückt, weil sie ein Genuß ist, ein Genuß darum, weil die eine Zigarette keine Befriedigung darstellt, sondern den Wunsch weckt, bald, nicht sogleich, wieder eine Zigarette zu rauchen; Süddtsch. Ztg. 4. 12. 1948 daß in Zukunft auch die sogenannte Höflichkeitszigarette abgelehnt und jeder Versuch einer Bestechung unnachsichtig verfolgt werde; Benn 1949 Ptolemäer 126 1913 hatte . . . die erste gemischte (blended) Zigarette in Gestalt der Camel Erscheinung gewonnen; NZ. (Basel) 20. 3. 1949 außer jeder Proportion zu hoch im Verhält-

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nis zu der Zigarettenwährung, welche durch die Privatleidenschaft von Millionen Zigarettenrauchern getrieben wird, die offensichtlich lieber ein Päckchen Zigaretten kaufen, als für den gleichen Preis einen Zentner Kartoffeln oder ein halbes Pfund Fett; Süddtsch. Ztg. 7. 5. 1955 Von der Zigarettenwährung zur stabilen D-Mark (Uberschr.); Offenburger Tagebl. 28. 7. 1959 Bemerkenswert ist nach Mitteilung des Verbandes der weitere schnelle Vormarsch der Filterzigarette; Süddtsch. Ztg. 10. 1. 1961 Die Ami-Zigarette hat dem deutschen Wesen bleibende Spuren eingebeizt; Münch. Stadtanz. 4. 8. 1961 du Zigarettenbürscherl, du schwindsüchtiges!; Mannh. Morgen 16. 3. 1967 100 Milliarden Zigaretten (Uberschr.) Der Zigarettenverbrauch in der Bundesrepublik . . . hat . . . einen neuen Höchststand erreicht; Stuttgarter Ztg. 9. 11. 1967 Zigarettenpause für Schüler (Uberschr.); FAZ 1. 5. 1968 Um 22 Prozent ist die Zahl der zigarettenrauchenden Männer von 1959 bis 1965 in Amerika zurückgegangen; ebd. 4. 8. 1969 Zigaretten starten nicht mehr wie Raketen (Uberschr.) In einer Flut neuer Marken kommen nur wenige voran / Der „nikotinarme" Markt wächst weiter; ebd. 24. 7. 1969 Die ausländischen Werkmeister zucken nur noch die Schultern über die Länge der Verschnauf- und Zigarettenpausen ihrer Arbeiter; Offenburger Tagebl. 29. 4. 1970 Auch der Konsum von Zigaretten habe in den letzten 20 Jahren in erschreckendem Maße zugenommen; Bad. Ztg. 13. 10. 1971 Auf eine Zigarettenlänge mit Heinz Meier; Offenburger Tagebl. 13. 11. 1971 Zigaretten sind Tabakerzeugnisse, die aus einem umhüllten Feinschnittstrang bestehen.

Zigarillo N . oder M. (-s; -s), auch F. ( - ; -s), Mitte 19. Jh. entlehnt aus span. cigarillo

( D i m i n u t i v z u cigarro,

—* Z i g a r r e ; vgl. — » Z i g a r e t t e ) z u r B e z e i c h n u n g einer

kleinen, dünnen, an beiden Enden stumpf abgeschnittenen Zigarre mit Tabakblatt als Umhüllung. Max v. Mex 1851 Leben II 21 ein duftiges Cigarillo de papel im Munde; ebd. II 52 Nach Tisch wurden Cigarillos zur Hand genommen; Schlözer 1869 Amerikan. Br. 17 und dann raucht man in aller Eile einen „Cigarillo", um später beim Kaffee zum größeren und schwereren Cigarrogeschütz überzugehen; Nordau 1881 Kreml II 331 Während der Mahlzeit darf das Cigarillo nicht ausgehen; es liegt neben jedem Speisenden auf dem Tische, und zwischen zwei Löffeln Suppe oder zwei Bissen Fleisch werden rasch einige Züge gethan; Berl. Tagebl. 12. 6. 1912 In Steglitz Knaben, Cigarillos paffend; Heyck 1928 Aussen-

seiter 210 der Häuptling . . . bietet einheimische Cigarillos an; Berl. Illustr. Nachtausg. 22. 12. 1931 hat für die Berliner Winterhilfe zu Weihnachten eine halbe Million Zigarillos gestiftet; 1935 Reichsgesetzbl. I 1509 Die von der Deutschen Arbeitsfront . . . zu errichtende Einstufungsstelle . . . wird beauftragt, alle vom Deutschen Reich hergestellten Zigarren, Zigarillos und Stumpen unter die Entgeltbestimmung . . . einzustufen. Jeder Unternehmer ist verpflichtet . . . nach Beginn der Herstellung einer neuen Zigarren-, Zigarillo- oder Stumpensorte drei Muster . . . einzusenden; Münch. N. N. 15.H6. 1. 1944

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Zigarre

Ich selber rauche sehr gern: Zigaretten, Zigarren, Stümpen, Zigarillos und Pfeifen; Langgässer 1946 D. unauslöschl. Siegel 455 die linke, welche das

Zigarillo mit groszer mühe festhielt, zitterte sehr (DWB); Wolf 1951 Matrosen 2 [der Fregattenkapitän] eine Zigarillo rauchend.

Zigarre F. (-; -n), im späten 18. Jh. entlehnt aus gleichbed. span. cigarro M. (unsicherer Herkunft), anfangs in der Form Cigarr, bis Mitte 19. Jh., und bis heute vereinzelt als Exotismus, in der span. beeinflußten Form Cigar(r)o mit PI. -s, seit frühem 19. Jh. in der heutigen, von gleichbed. frz. cigare F. beeinflußten Form, und gelegentlich Gegenstand scherzhafter Entstellungen, a Bezeichnung für ein Tabakerzeugnis zum Rauchen, bestehend aus einer an den Enden spitz zulaufenden Rolle aus Tabakblättern als Einlage mit einem (wertvolleren) Deckblatt aus Tabak als Umhüllung, als Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Havannazigarre; Zigarrenrauch, -Schachtel, -spitze, b Seit frühem 20. Jh. ugs. übertragen verwendet für 'Tadel, Rüge, grobe Zurechtweisung (durch einen Vorgesetzten); Rüffel', vor allem im Verbalsyntagma eine (dicke) Zigarre verpaßt bekommen. Zigarre a: Oldendorp 1777 Gesch. 190 Es wird da [auf den Caraibischen Inseln] viel Cigarr geraucht: eine Art zu rauchen, die bey den Spaniern sehr beliebt ist; Gilii 1785 Nachrichten 145 Cigarr ist eine von den zartesten und besten Tabaksblättern vest zusammengerollte fingersdicke Walze, etwa einen halben Schuh lang, die der Länge nach hohl ist; Murr 1785 Reisen 176 So wie die Spanier ihre Tabaksröhrchen, die sie Cigarros nennen, aus angefeuchteten zusammengerollten Tabaksblättern machen (alle PALMER); Kant 1798 Anthropologie 57 das gemeinste mittel derselben ist der Tabak, es sey ihn zu schnupfen . . . oder auch ihn durch Pfeifenröhre, wie selbst das spanische Frauenzimmer in Lima durch einen angezündeten Cigarro zu rauchen (SCHEID); Fischer 1799 Reise 337 wir erwiderten es [das Geschenk] mit einem dutzend cigarren (DWB); Meyer 1800 Skizzen zu einem Gemälde in Hamburg I 215 wenn gleich sonst unsere artigen jungen Stutzer, die oft unter sehr rohen Formen erscheinen, mit dem allbeliebten Zigarro, den sie sogar im vollen Jungfernstieg zum öffentlichen Skandal brennend und dampfend im Munde führen, nicht streitig machen lassen (SCHEID); Lang um 1805 Haushaltung III 237 Tabak wird in Spanien nicht aus Pfeifen, sondern in zusammengerollten, einen Finger langen, und halb so dicken Blättern (cigarro) geraucht; 1807 Heuherger 113 Cigarro, Tabak in dünnen Röhrcheri, die man vorn anzündet und so ohne Pfeife raucht; 1808 Morgenblatt Nr. 169 674 nun weiß ich aber, daß Napoleon zuweilen auf der Jagd einen Cigarro raucht (SCHEID); Hoffmann 1809 (5. W. I 10) Der Mohrrüben-Kaffee dampft, Die Elegants zünden ihre Zigaros an; ebd. VIII 42 Dem angenehmen Glimmstengel oder Tabaksröhrlein, wie die Puristen den Zigarro benannt

haben wollen (TRÜBNER); Campe 1813 Verdeutschgswb. 190 cigarro, nennt man in Amerika und Spanien zusammengerollte Tabacksblätter, die ein Röllchen eines kleinen Fingers dick und an beiden Enden zugespitzt bilden, und ohne Pfeife so geraucht werden, daß man das eine Ende in den Mund nimmt, und das andere anzündet, man könnte spanisches Tabacksröllchen dafür sagen; Alberti 1814 Kriegsbr. 129 der junge Planta war sehr munter und liesz es den ganzen tag an den schönsten Havannazigarren nicht fehlen (DWB); Kotzebue 1815 Kriegsgefangene 30 hatte das Glück, vom General zu einem Zigarro eingeladen zu werden; 1819 Morgenblatt Nr. 262 1048 die Frauen [in Angostura] lieben den Putz . . . ihr größter Genuß besteht im Cigarro rauchen . . . will die Dame recht höflich sein, so zündet sie den Cigaro, den sie anzubieten gedenkt, erst an (SCHEID); Hoffmann 1820 Serap. VIII 41 und dessen Zigarro ganz frölich dampfte; Spindler 1829 D. Jesuit III 107 die cigarre zwischen seinen Zähnen (DWB); Poppe 1837 Erfindungen 88 Cigarren oder Cigarro's; Pückler 1840 Bildersaal II 167 bei Fertigung spanischer Papiercigarren für Damen; 1840 Urania 54 [eine mondäne Frau] eine spanische Cigarre im Munde, die Reitpeitsche in der Hand; Wetzel 1841 Dresdner Parnass 1 von feinen americanischen Cigarrentabaken; ebd. 20 fast bei jedem Schritte um „Zigarrenfeuer" oder „Tabaksfeuer" gebeten wurde; Gilm 1846/7 Gedichte 227 Wenn ich auch nur das Nichtsthun so begriffe, Wie diese Frauen mit den Strickstrumpfnadeln Und diese Herren mit den Lang-Cigarren (SCHEID); 1847 Mola 1 Herren . . . behaglich ihre Papiercigarren rauchend; Schopenhauer 1851 Parerga V 571 ein Cigarro im Maul; Fontane 1854 Sommer (II IV, 29) die historischen Worte:

Zigarre „Cigarre gefällig?"; tíettner 1855 briefl. (Eupborion 28 (1927) 452) eine Friedenscigarre rauchen; Raube 1857 Chr. d. Sperlingsg. (S. W. I 1, 70) einer leeren Zigarrenkiste Fumadores regalia (TRÜBNER); ders. 1859 (S. W. II 2, 50) Halb geschlossenen Auges blickte ich durch die blauen Wölkchen der mir huldreich gestatteten Verdauungszigarre nach meiner Cousine hinüber (TRÜBNER); Gutzkow 1860 Zauberer VII 4 cigarrendurchqualmten Keller der Leipziger Messe; Bebra 1862 Chili I 14 fertigte sich, nach der Sitte des Landes, stets seine Cigarren selbst, indem er, mit der Schnelligkeit, wie sie nur den Chilenen eigen, etwa so viel Tabak, als man mit zwei Fingerspitzen fassen kann, in ein bereits zugeschnittenes Stückchen eines Maisblattes rollte, an einem . . . Kohlebecken . . . anzündete; 1863 Bilder a. Paris 1351 Die Cigarrenstummelsammler sind fast immer alte Leute, die diesen elenden Erwerbszweig als ein letztes Mittel gewählt haben, sich vor dem Verhungern zu schützen; Peterssen 1870 Genrebilder 46 ein . . . Röllchen Rauchkraut (vulgo Zigarre); 1873 Trachsel 67 der ziehjarre (DWB); Wickede 1878 Leutnant 283 Den ihnen gelieferten Punsch hatten freilich die Tänzer und Tänzerinnen in unmäßigster Weise getrunken,' den Cigarrenvorrath des jungen Officiers unverschämt geplündert; Nordau um 1880 K. II 37 Er besaß eine Frau und zwei Söhne, deren Porträts er in einer Zigarrentasche bei sich trug; Kretzer 1887 Timpe 301 Die Gläser klapperten, dichter Zigarrendampf stieg zur Decke empor und hundertfältiges Stimmengewirr durchschwirrte den Saal; Keller vor 1891 (Ges. W. I 177) stand mein dicker Oheim in grüner Jacke, ein silbernes Wäldhörnchen, in welchem eine Cigarre rauchte, im Munde und eine Doppelflinte in der Hand; Sünde 1893 Liedermacher 33 Cigarren in allen Formen und Farben, von der lichten Havanna bis zur dunklen Cuba; Zapp 1896 Off töchter I 169 [die] Dinge, die einem Junggesellen unentbehrlich, für ihn anfertigte: eine Stickerei für ein Cigarrenetui, einen kleinen Fußteppich und Andres; Seidel 1899 Leberecht Hühnchen 16 nachher saszen wir behaglich um den tisch und plauderten bei einer zigarre (DWB); Voss. Ztg. 1905 Nr. 375 Die spanische Wortgestalt wechselt im Anfange des 19. Jahrhunderts noch wiederholt mit der französisch-deutschen, und die Einzahl Cigarre scheint zunächst durch die schon früh auftretende Mehrheitsform Cigarren nahegelegt worden zu sein; Boltzmann 1905 Popul. Sehr. 83 um den bailón leichter fortzutreiben, gab man ihm zigarrenform (DWB); Lausberg 1906 Kriegstagebuch 116 Auch von den schrecklichen sogenannten „Liebeszigarren", oder, wie man sie auch betitelte, „Diebeszigarren" waren darunter, von denen das Tausend

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vielleicht eins bis zwei Gulden kosten mag; Buschan 1909 Völkerkunde III 80 Der Tabak wurde teils in Rohrstengeln geraucht (zicar = Zigarre ist ein Mayawort), teils zur Erzielung von Rauschzuständen von den Priestern gekaut (TRÜBNER); Dirk 1924 Cigarette 94 Die alte Cigarrenkultur ist im Aussterben; Friedeil 1931 Kulturgesch. III 87 Übrigens wird erst durch die Zigarre das Rauchen salonfähig und verdrängt dadurch schrittweise das Schnupfen, das bisher gerade für elegant galt . . . der „Cigarro", der eigentlich die Urform des mexikanischen Tabakgenusses war, aber erst jetzt durch die Einführung des Deckblattes mit der Pfeife in siegreiche Konkurrenz tritt; Hintz 1931 Gisela 41 Dann schüttelt er die Asche seiner Zigarre auf das Straßenpflaster; Berl. Illustr. Nachtausg. 4. 5. 1932 Ein guter Tobak, so eine rechte Sonntagsnachmittagsausgehzigarre, belebte die Nerven; Münch. N. N. 14. 4. 1940 Die größte Zigarre der Welt wird im Zigarren-Museum der westfälischen Stadt Bünde, wo täglich ungefähr drei Millionen Zigarren hergestellt werden, aufbewahrt; ebd. 26. 6. 1941 jemand, der vor allem bürgerlich solide, zuverlässig und tüchtig sein will, eher Zigarren als Zigaretten raucht; Berger 1942 Schlote 19 mühsam schleppte sie das Gespräch noch eine Zigarrenlänge hin; N. Z. Z. Juli 1944 Cigarren- und Rauchtabakfabrik; Süddtsch. Ztg. 23. 5. 1952 Der neue, kleine, gemütliche Zigarrenschachtel-Säal hat akustische Tücken; Münch. Stadtanz. 30. 9. 1955 suzzelt zufrieden an seiner Ziehgar; Offenburger Tagebl. 27. 7. 1961 Das im Sommer vorigen Jahres in Heidelberg von der Zigarren-Industrie . . . gegründete „ZigarrenInstitut" hat in den letzten Monaten die Zahl seiner Mitglieder vergrößern können. Wie der Bundesverband der Zigarrenherstellung . . . mitteilte, gehören dem Institut jetzt 150 Mitglieder an. Das Institut hat vor allem die Werbung für den Zigarrenabsatz übernommen; ebd. 14. 5. 1963 Eiche arbeitete als Zigarrenmacher bis 1907 in der Zigarrenfabrik . . . in Offenburg und anschließend bei Zigarrenfabrikant Vetterer bis 1930; FAZ 27. 7. 1963 Der Zigarrenmann (Überschr.) Immer mit der Ruhe und einer guten Zigarre. Diese Schlagzeile und das Bild des älteren, jovialen Herrn warben früher für die schweren Brasil oder die leichte Havanna. Heute versuchen die Hersteller neue Verbraucherschichten für den Genuß von Zigarre und Zigarillo zu gewinnen. Der Zigarrenverbrauch . . . ist in den letzten Jahren ständig zurückgegangen; Offenburger Tagebl. 13. 10. 1964 Bei Zigarren- und Pfeifenrauchern hat sich nach Beobachtungen des südbadischen Tabakeinzelhandels ein Zug nach gehobenen Preislagen bemerkbar gemacht; FAZ 6. 6. 1971 ZigarrenKonzentration (Überschr.) Von der breiten ö f -

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fentlichkeit nur wenig bemerkt, vollzieht sich in der Zigarrenindustrie ein starker Konzentrationsprozeß; ebd. 31. 7. 1971 Guter Zigarren-Export (Uberschr.). Zigarre b: Meggendorfer 1925 Blätter Nr. 1809 Eines Tages wird er zum Chef befohlen und kriegt eine bessere „Zigarre" verpaßt. Es sind Beschwerden gekommen; Semsrott 1928 Durchbruch der Möwe 10 geh lieber nicht hin [zum Divisionsbüro]! Da hagelt es mächtige Zigarren (TRÜBNER); Schmidt 1930 St. Schmidt 134 Manche Zigarre wurde . . . verpasst; Lokal-Anz. 2. 6. 1934 so wat erlauben se oben, aber wenn unsereener beim Kriegerverein eene Molle mehr vatilcht, jibt's gleich eene Zigarre; 1942 Soldatenblätter f . Feier

u. Freizeit Nr. 3 Er weiß zwar, daß es verboten ist, aber was kümmert das ihn, der überall dabei ist, wenn — „Zigarren" verteilt werden. Seien es die leichteren vom Spieß, oder die dicken, schweren vom Hauptmann . . . Und so schreitet er auch jetzt schlicht und kernig dem lockenden Wasser und damit den vielleicht kommenden „Zigarren" entgegen; Dinklage 1944 Wir segeln dem Teufel ein Ohr ab 88 Da bekam er von dem Grotten (dem ersten Steuermann) eine dicke Zigarre verpaßt (TRÜBNER); Andres 1953 Hochzeit 372 Wir müssen vom Oberkommando Zigarren einstecken (WDG); Erlanger Tagbl. 28. 6. 1966 Wenig später steigert sich dann Barzel in einer Wahlversammlung: „Diese Zigarre, die der Kanzler mir gerade verpaßt hat, schmeckt mir ausgezeichnet".

Zionismus M. (-; ohne PI.), Ende 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu Zion, Name eines (Tempel-)Berges in Jerusalem; zunächst als (historische) Bezeichnung für die vor allem von Theodor Herzl eingeleitete nationalistische, religiös-politische jüdische Bewegung, die das Ziel verfolgte, auf dem Boden des alttestamentlichen Palästina einen selbständigen Nationalstaat für die Juden aus aller Welt zu schaffen, um die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes zu ermöglichen; nach dem 2. Weltkrieg, bes. im Zusammenhang mit dem Erlöschen des britischen Palästinamandats und der Proklamation des Staates Israel (1948), zunehmend als je nach politischem Standpunkt unterschiedlich wertende Bezeichnung für eine umstrittene (partei-)politische Strömung im heutigen Israel und für die politische Ideologie innerhalb des Judentums in aller Welt, die eine auf Expansion des israelischen Territoriums zu Lasten der arabischen Nachbarstaaten gerichtete und insbesondere die (Heimat-)Rechte der arabischen Einwohner Palästinas einschränkende Politik befürworten; dazu seit Anfang 20. Jh. die subst. Ableitung Zionist M. (-en; -en) 'Anhänger des Zionismus' (Zionistenführer, -partei) und seit frühem 20. Jh. die adj. Ableitung zionistisch 'dem Zionismus angehörend, ihn betreffend, auf ihm beruhend, ihn vertretend; wie ein Zionist', bes. in den Syntagmen zionistische Bewegung, Organisation; in neuester Zeit die Präfixbildungen Antizionismus und Neozionismus 'wiedererwachter Zionismus'. Zionismus: 1897 (Oppenheimer 1927 Ges. Reden II 213) Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk eine rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina und seinen Nachbarländern; Brandes 1903 Gestalten 438 der Begründer des Zionismus, Dr. Theodor Herzl; Wirth 1904 Volkstum 178 Die Glaubensbünde: Panislamismus, Panbuddhismus, Zionismus; ebd. 180 Der Zionismus zeigt insofern seine Lebenskraft, als die Zahl seiner Anhänger und seiner Ortsgruppen beständig wächst. Ob es freilich je gelingen wird, dem Alljudentum eine staatliche Unterlage und einen territorialen Boden zu schaffen, mag . . . bezweifelt werden; 1910-11 Literar. Echo 988 dass die Rettungsanker, die sie

[Juden] nach dem Grund des Lebens auswerfen, Sozialismus und Zionismus, heissen; Class 1912—35 Kaiserbuch 66 daß unter den Juden selbst die nationalistische Bewegung, der sog. Zionismus mehr und mehr Anhänger gewinnt; ebd. 172 In diesem Zusammenhang sind ein paar Worte über den sog. Zionismus angebracht, seitdem die Entwicklung nach dem Kriege seine . . . Vielgestaltigkeit offenbart hat. Es gibt gewiß auch heute noch Zionisten . . . das sind die jüdischen Idealisten. Neben ihnen . . . sind jene, denen der Zionismus die Ausdrucksform für den jüdischen Imperialismus ist . . . Endlich gibt es den Zionismus anarchistischen Charakters — reinstes Zerstörer-

Zionismus tum, wie es sich im Bolschewismus so lehrreich betätigen darf; Polit. anthropol. Mon'schr. 14 (1913/16) 582f. Die Ostjudenfrage (Zionismus und Grenzschluß) (Überschr.) Die Flugschrift vorstehenden Titels hat das große Verdienst, auf die Gefahr, die vom Judentume Ost-Europas droht, nachdrücklich aufmerksam zu machen; Oppenheimer 1927 Ges. Reden II 212 datiert . . . der eigentliche Zionismus erst von Herzls Auftreten; ebd. 213 Das Ziel des Zionismus, das nächste Ziel aller der verschiedenen Richtungen, die Herzls Genie in das eine Bett zusammengeführt hat, ist im Baseler Programm [von 1897] formuliert; Voss. Ztg. 6. 11. 1929 Der Zionismus ist ein Problem, dem man mit den Gründen der Vernunft nicht beikommen kann; Lokal-Anz. 31. 8. 1933 Es ist ein verhängnisvoller Irrtum der Sowjets, rücksichtslos die jüdische Religion, den Hebraismus und den Zionismus zu unterdrücken; Hauser 1935 Judentum 283 Der Zionismus ist die natürliche Antwort auf den Antisemitismus; ebd. 285 Der Zionismus besteht nur etwas über dreißig Jahre; ebd. 289 Dies sollte das Ergebnis des Zionismus sein: jeder Jude ist als solcher Bürger seines palästinensischen Staates; Volk. Beob. 13. 10. 1936 Dessen ist sich . . . auch der jüdische Zionismus bewußt, der mit der Einstellung des Streiks sehr unzufrieden ist, weil er gehofft hatte, daß britische Kanonen und Maschinengewehre den arabischen Nationalismus aufs Haupt schlagen und die Ziele des Zionismus mit Waffengewalt durchsetzen würden; Münch. N. N. 9. 10. 1938 Der Zionismus besteht auf dem „Recht an Palästina"; ebd. 3. 4. 1944 Der Historiker des älteren Zionismus, Nahum Sokolow; Neue Ztg. 16. 12. 1946 Die Anziehungskraft des Zionismus beruht heute . . . darauf, daß er für zwei Dinge ein Heilmittel zu wissen behauptet, sowohl für das heutige Elend des europäischen Judentums, wie auch für die beispiellose Tragik der jüdischen Heimatlosigkeit; Münch. Merkur 12. 1. 1949 Der junge Staat Israel und vor allem seine Regierung kann auf die Dauer neue Verluste in einem langwierigen Kriege . . . nicht verantworten: die Idee des Zionismus würde sich kompromittieren und an Popularität . . . verlieren; Hiller 1950 Köpfe 292 Jakob von Hoddis hat . . . den Zionismus die hysterische Form der Assimilation genannt; Misch 1952 Gesch. 544 den jüdischen Neo-Nationalismus des Zionismus; Trommler 1966 Roman 66 die von ihm [Roth] . . . erörterte jüdische Alternative Assimilation oder Zionismus; FAZ 23. 5. 1968 Diesen [westlichen] Firmen wird nachgesagt, aus der Position des eindeutigen militanten Zionismus [gegen Polen] gehandelt zu haben; ebd. 5. 3. 1970 Als Krönung der seit Tagen laufenden Propagandakampagne gegen Israel und den „Weltzionismus" versam-

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melten sich . . . drei Dutzend prominente jüdische Persönlichkeiten . . . zu einer Pressekonferenz; ebd. 19. 3. 1970 Moskaus Kesseltreiben gegen den Zionismus (Überschr.) Der Zionismus wird zum Sündenbock und Prügelknaben gestempelt, zur direkten Agentur des westlichen Imperialismus; ebd. 30. 9. 1970 Verschiedene Führer der Zionisten . . . haben . . . schon damals die Unvereinbarkeit des Zionismus mit den nationalen Interessen der palästinensischen Araber erkannt; ebd. 31. 12. 1970 Dem kürzlich gestürzten Regime des syrischen . . . Präsidenten Atassi ist es vorbehalten geblieben, zum ersten Mal Eritrea als einen Teil des arabischen Vaterlandes zu feiern, das vom Zionismus befreit werden müsse; Lichtheim 1971 Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus (Titel); Offenburger Tagebl. 27. 9. 1971 Dies erregte Malik, der in einem polemischen Ausbruch den Zionismus als rassistische Ideologie bezeichnete und ihn auf eine Stufe mit dem Faschismus stellte. Antizionismus: FAZ 5. 3. 1970 AntizionismusVeranstaltung im „Haus der Freundschaft" [in Moskau]; ebd. 1. 8. 1971 Antizionismus hat es unter Juden ebenso wie unter Nichtjuden aller politischen und religiösen Richtungen seit den Tagen Theodor Herzls immer gegeben. Neozionismus: Die Zeit 29. 1. 1982 Die korrumpierende Macht. . . die von der Besatzung [in den besetzten arabischen Gebieten] ausgeht und einen Neo-Zionismus in Israel hat entstehen lassen, wird als ernsthafte Gefahr . . . angesehen. Zionist: 1900 Brandenburgia 326 auf welche Weise die Wiederherstellung des sogen. Salomonischen Reiches bei unseren jüdischen Mitbürgern, insbesondere den sog. Zionisten, gelehrt werde; Münsterberg 1904 Amerikaner I 277 Auch die Afrikaner [Schwarze in den USA] haben ihre Zionisten gehabt, die sie zu den Wäldern des schwarzen Erdteils zurückführen wollten; Class 1912—35 Kaiserbuch 66 Die Zionisten bestätigen . . . was die auf dem Standpunkt der Rasse stehenden Gegner der Juden längst behaupten; ebd. 172 Es gibt gewiß auch heute noch Zionisten . . . das sind die jüdischen Idealisten; Oppenheimer 1927 Ges. Reden II 212 gab es denn schon vor Herzl Zionisten in aller Welt. Jeder wirklich orthodoxe Jude muß ja gewisse Neigungen und Wünsche haben, die in der Richtung des Zionismus drängen. Die Sehnsucht nach dem heiligen Lande; ebd. 215 Zionist ist also . . . jeder, der für seine Person die Ubersiedlung so bald als möglich vorzunehmen gedenkt; 1929 Querschnitt 710 Das ist das junge Palästina, die Zionisten, die körperli-

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che Arbeit verrichten wollen, sie dienen einer heiligen Sache; Gebauer 1932 Kulturgesch. 454 Im Jahre 1897 wurde von Herzl in Wien . . . der auch in Deutschland Mitglieder werbende Bund der Zionisten gegründet, der sich zum Ziel setzte, die unterdrückten und notleidenden Juden in Rußland, Galizien und Rumänien zu unterstützen und ihnen eine neue Heimat in Palästina zu verschaffen; Lokal-Anz. 26. 8. 1933 [ist es zu einer] Boykottschließung gegen Deutschland auf dem Prager Zionistenkongreß . . . gekommen; ebd. 21. 7. 1934 In der Revisionsverhandlung wegen der Ermordung des Zionistenführers Dr. Arlosoroff wurde der . . . Hauptangeklagte . . . freigesprochen; Hauser 1935 Judentum 279 Die Zionisten konnten, das Ideal des erneuerten Volkes vor der Seele, die Zustände der Gegenwart nur aufs heftigste verurteilen; Volk. Beob. 30. 12. 1938 Die Veröffentlichung der türkischen Zeitung „Kurun" fällt zeitlich mit der Reise des Zionistenführers Chaim Weizmann nach der Türkei zusammen; Süddtsch. Ztg. 17. 11. 1950 Bei den israelischen Gemeindewahlen konnte die oppositionelle rechtsstehende „Allgemeine Zionistenpartei" große Erfolge erzielen; FAZ 7. 1. 1970 greift das Blatt die Politik Israels und die „Zionisten" im Land an; ebd. 30. 9. 1970 Verschiedene Führer der Zionisten, unter ihnen Lichtheim . . . haben . . . schon damals die Unvereinbarkeit des Zionismus mit den nationalen Interessen der palästinensischen Araber erkannt; ebd. 25. 8. 1971 Die Erinnerungen Richard Lichtheims, eines deutschen Zionisten, aus der Zeit des Ersten Weltkrieges; ebd. 29. 1. 1972 Der 28. Zionistenkongreß ist am Freitagmorgen [in Jerusalem] nach einer bewegten . . . Nachtsitzung zu Ende gegangen . . . Während der . . . Schlußberatungen prallten die gegensätzlichen Auffassungen der israelischen Delegierten und der Abgesandten aus den Diasporaländern . . . heftig aufeinander. zionistisch: Böhm 1924 Die zionistische Bewegung (Titel); Oppenheimer 1927 Ges. Reden II 215 Theoretisch hätte sogar jeder Rassenantisemit Mitglied der zionistischen Partei werden dürfen, der aus Gründen der Reinhaltung seiner Rasse die Emigration der Juden im größten Stile wünschte; Voss. Ztg. 6. 11. 1929 Die zionistische Siedlung in Palästina ist eine wirtschaftliche Tatsache. 160000 Juden wohnen jetzt hier . . . Die zionistische Organisation hat nach und nach über zweihundert Millionen Mark zusammengebracht; Lokal-Anz. 22. 3. 1933 Zionistische Hetze gegen Deutschland (Überschr.); Berl. Illustr. Nachtausg. 15. 8. 1933 Wie die zionistischen Juden vorgehen, beweist folgender Fall; ebd. 22. 8. 1933 Das Organisa-

tionskomitee dieses Kongresses der Zionistischen Bewegung, die bekanntlich das Ziel verfolgt, dem jüdischen Volke einen nationalen Boden in Palästina zu geben, hat einen Beschluß gefaßt, der unter einer Voraussetzung durchaus vernünftig ist. Das Komitee hat beschlossen, daß bei den Verhandlungen die deutsche Sprache nicht zugelassen werden soll; Brinkmann 1936 Weltpol. 107 die unglückliche zionistische Kolonisation des palästinensischen Mandatsgebiets; Münch. N. N. 2. 11. 1937 Die Strafkammer . . . hat . . . im Prozeß gegen die Angeklagten . . . wegen Verbreitung der „Zionistischen Protokolle" das Urteil verkündet; ebd. 8. 2. 1939 Ein Lichtblick sei die befriedigende Zusammenarbeit zwischen dem Judentum und Großbritannien, die den Eckstein der zionistischen Politik bilde; 1948 Neue Rundschau 348 Die zionistische Frage (Überschr.); Süddtsch. Ztg. 1. 9. 1964 Israelische Diplomaten sind . . . bei der Verteilung „dreckiger, verfaulter, giftiger" zionistischer Propaganda an sowjetische Juden gefaßt worden; ebd. 12. 1. 1965 Der 26. zionistische Weltkongreß wurde in Jerusalem beendet; ebd. 6. 3. 1969 Die Regierung des Iraks erklärte . . . sie werde . . . an ihrer Entscheidung festhalten, „zionistische Spione" hinrichten zu lassen; FAZ 2. 3. 1971 Die . . . Äußerungen westlicher und israelischer Politiker erklären, wie die den zionistischen Zielen so vollkommen entsprechenden heutigen Realitäten in Palästina in den vergangenen 30 Jahren gewachsen sind: Winston Churchill, einer der intensivsten Förderer der zionistischen Bewegung, entzog sich dadurch der Verantwortung, daß er das Problem den Vereinten Nationen übergab; ebd. 8. 3. 1971 die Hoffnung der Israelis . . . daß auf diese Weise die Anerkennung des Lebensrechts für den zionistischen Staat durch seine Nachbarn als wertvollste Frucht der militärischen Erfolge von 1967 erreicht werden könnte — diese Hoffnung muß bis auf weiteres begraben bleiben; ebd. 31. 12. 1971 „AI Fatah" werde das Zustandekommen dieses „zionistischen Komplotts" niemals zulassen; ebd. 29. 1. 1972 In einer Kampfabstimmung scheiterte der Antrag der Religiösen, auch in der zionistischen Organisation wie schon im Staate Israel, die traditionellen Vorschriften zur Frage, wer Jude sei, zum Gesetz zu erheben; Spiegel 22. 6. 1981 Außer den ethnischen Gruppen lassen auch die religiösen Ultras seit Begins Regierungsjahren Israel nicht zur Ruhe kommen. Krawalle mit extrem-orthodoxen Zeloten gehören zum Tagesgeschehen. Fanatiker . . . wettern immer noch jede Woche gegen den „zionistischen Sündenpfuhl". Jeden Sabbat werfen bärtige Gendarmen Gottes Steine gegen die Autofahrer.

zirka — Zirkular

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zirka Adv., auch circa, abgek. ca., im frühen 18. Jh. aufgekommen, zurückgehend auf lat. circa 'rings, umher; in der Gegend, Nähe von, nahe bei; ungefähr, gegen, an, um' (analog zu anderen Ortsadverbien wie extra, infra, intra, supra gebildete Nebenform von älterem circum, zu circus, —* Zirkus), anfangs im gleichbed. Syntagma in circa; meist in Verbindung mit Zeit-, Mengen- oder Größenangaben in der Bed. 'ungefähr, etwa, rund, gegen, überschlagsweise', als Bestimmungswort in Zss. wie Zirkapreis 'nicht genau festgelegter, ungefährer Preis', Zirkaklausel 'Klausel, die (dem Verkäufer) einen (Lieferungs- o. ä.)Spielraum läßt'. Sperander 1728 A la mod Sprach 115 circa, in circa ohngefehr, beynahe; 1737 Jüd. Beobachter 311 Rest dunkelgrün in circa 5 Ellen; Bahr dt 1790 Rindvig. I 31 der Junge fraß . . . das Rindfleisch so in circa 2 Pfund seyn mochte . . . auf, und blieb sitzen; Hebel vor 1826 (W. II 452) eine wirtsschuld von circa 24 masz wein (DWB); Wit v. Dötting 1830 Fragm. I 294 ein Rechnungsfehler von circa einer Million . . . im Budget des ersten Jahres; Bechstein 1836 Reisetage II 128 das vornehme Auditorium bestand aus circa 1200 Personen; Droste-Hülshoff 1841 Br. I 505 [Junkmann] der nur so zirka einen Überschlag von den einkünften der Coesfelder und Recklinghauser gymnasiallehrer gemacht hatte (DWB); ebd. (1843) II 232 den fürsten Salm kenne ich wohl, er . . . wohnte vor zirka 25 jähren in Münster und hiesz damals prinz Lachs (DWB); Hackländer 1847 W. VI 104 von circa fünfzehn Jahren; Keller 1858 (Ermatinger 1916 Br. u. Tageb. II 471) vor acht jähren . . .

hiesz es, wir Deutschen verständen Shakespeare viel besser als die Engländer und er sei eigentlich ein deutscher dichter (DWB); Storm vor 1888 (S. W. VI 357) freilich, mein maklerverdienst ging so zirka wohl darauf (DWB); 1935 Die Ziegelwelt No. XIX 219 Die Zirka-Klausel bei Nichtlieferung (Oberschr.) Wenn eine Zirka-Klausel vereinbart ist und es aus irgendeinem Grunde nicht zu einer Lieferung kommt, so glauben die Verkäufer vielfach, sich auch gegenüber Schadenersatzansprüchen, die wegen Nichtlieferung erhoben werden, auf die Zirka-Klausel berufen zu können und dadurch den Schadenersatzanspruch herabzumindern . . . Die Zirka-Klausel soll dem Verkäufer bei der Leistung nach billigem Ermessen einen gewissen Spielraum gewähren, ohne daß er seine Vertragspflichten verletzt; Brigitte 16. 6. 1981 Mantelkleid circa 190 Mark . . . Blazer ca. 159 Mark, Hose ca. 100 Mark.

Zirkular N. (-s; -e), im späten 18. Jh. aufgekommen als Rückbildung zu älteren Zss. mit Zirkular- als Bestimmungswort (wie Zirkularschreiben, -brief; vgl. gleichzeitig nachgewiesenes gleichbed. frz. circulaire F. (aus lettre circulaire) und ital. circolare F. (aus lettera circolare)), zurückgehend auf lat. circularis, —» zirkulär, anfangs auch vereinzelt in der latinisierenden Form Circulare mit PI. -ien und in der ital. Form, daneben vereinzelt die frz. beeinflußte Form Zirkulär-, heute nur noch regional (österr.) in der Bed. '(in mehrfacher Ausfertigung, an mehrere Empfänger gleichzeitig versandtes) Rundschreiben, Umlauf(-schreiben)', meist im politischen, militärischen und diplomatischen Bereich, und im kaufmännischen Bereich speziell auch 'Geschäftsanzeige (im Umlaufverfahren)'; daneben seit späterem 17. Jh. Zirkular- (vereinzelt auch Zirkulair-) in der Bed. 'Umlauf-, Rund-' als Bestimmungswort von Zss. wie Zirkularbrief, -erlaß, -note 'mehreren Staaten gleichzeitig zugestellte Note', Zirkularverordnung 'durch Rundschreiben bekanntgemachte Verordnung'. Zirkular: Forster 1779 (S. Sehr. VII 127) aus dem heiligenden circulare ersehen sie noch das übrige (DWB); 1780 Sinapius KH 36 das . . . Circolare (SCHIRMER, Kaufmannssprache); Schlözer 1783 Staats-Anz. IV 238 Circulare des Kaisers über die

Grundsitze und Benennung eines Staatsbeamten (Oberschr.); Sonnenfels 1785 Geschäftsstil 86 Cirkularien; ebd. 218 Cirkularien; Lavater 1798 Br. a. Bremer Freunde 81 Diesen Morgen gieng ein Zirkular herum; Goethe 1802 (III 3, 53) land-

380

zirkulär

schaftliches cirkular wegen combination des Irrenhauses (DWB); 1804 Leuchs 539 daß sie ihre Handelsfirma . . . nicht nur durch Circulare (Oblatorien) ihren Handelsfreunden, sondern auch der Ortsobrigkeit bekannt machen soll ( S C H I R M E R , Kaufmannssprache); ]. Grimm 1829 Briefw. II 525 neulich hat er uns ein gedrucktes circular zugehen lassen (DWB); Goethe vor 1832 briefl. (Briefw. Goethe-Reinhard. 66) Die Wahlverwandschaften schickte ich eigentlich als ein Cirkular an meine Freunde ( K E H R E I N ) ; Prokesch v. Osten 1833 Tagebücher 196 Er sagte nämlich in einem Zirkulare an seine Diplomaten in Deutschland, er habe sich gegen Österreich, Rußland und Preußen das Recht der Intervention in Belgien, Schweiz und Piemont vorbehalten; Szarvady 1852 Paris I 341 Wahlcirculare; Willkomm 1857 Ammer 600 daß wir an alle Kunden dieser Bagatelle wegen durch die halbe Welt ein Circulär laufen ließen, um zu ermitteln, wo sie [Kiste] geblieben, an wen sie zufällig gekommen war; Voit 1881 M-G. 16 Mittelst Circulare können Befehle, Mitteilungen der Kommandeure, Erlasse etc. der höheren Vorgesetzten den Untergebenen zur Einsicht zugeschickt werden . . . es wird das Original des Erlasses selbst als Beilage behandelt und das Circular auf einen eigenen Bogen geschrieben. Ist der Erlaß von besonderer Wichtigkeit, so machen die Adressaten den Vermerk der Kenntnisnahme dadurch, dass sie das Circular präsentieren und Ort und Datum des Auslaufes vor ihrer Namensunterschrift setzen, also anführen, wann sie das Schreiben erhalten und wann sie dasselbe weiter gesandt haben; Bieberstein 1903 Recamier 57 von ihr [der Eitelkeit] gehen doch die meisten Handlungen aus, die den Armen und Unglücklichen zugute kommen, sie diktiert die Unterschriften auf den Zirkularen für wohltätige Zwecke; Fontane 1920 (Ges. W. II 4, 57) auf annonce und zirkulär bisher keine antwort (DWB); Dtsch. A2. 7. 9. 1938 auf Grund eines Zirkulars der Nationalbank, in welchem eine solche Anlage dänischer Forderungen als im Widerspruch zum Valutagesetz stehend bezeichnet wurde; N. 2. 2. 23. 5. 1944 Abdankung: Mittwoch, den 24. Mai 1944, 10 Uhr, im Krematorium. Leidzirkulare werden nur nach auswärts versandt; Bebel 1946 A. m. Leben III 115 wenn ihr erstes zirkulär zusammen mit dem jetzigen in unrechte hände kommt (DWB); Walser 1962 Halbzeit 534 [mir stürzte] wenn ich den Briefka-

sten öffnete, eine Lawine von Zirkularen, Prospekten, Broschüren und Einladungen entgegen (WDG). Zirkular-: 1670 Leibniz 1191 (GombertAfdA IV 166*) Was darüber, müßte in conventu oder durch Circularbriefe geschlossen werden; ebd. I 192 in den schriftlichen Circularvmbfragen; 1684 Getröstet. Europa A 2" Circular-Brieffe an alle Bisch6ffe abgehen lassen / umb die nechstkünfftige Fasten öffentliche Gebette in allen Kirchen zu thun; Tentzel 1689 Unterrdgn. 1053 welchen er jährlich durch Circular-Brieffe anzeigt / wenn sie Ostern und andere Feste halten sollen; Herrliberger 1746 Ceremonien (A) 27 Circular-Predigten; 1756 Circular-Rescript Ihro Maj. der Rom. Kayserin . . . an Dero auswärtige Ministers (Titel); Hess 1775 Gedanken 451 Kgl. Dänisches Circulairrescript; Forster vor 1794 (S. Sehr. (1843) III 219) ein cirkularschreiben an alle pfarrer im ganzen lande (DWB); 1801 Parole-Buch 29 Circularverordnung vom 21. Dezember 1790; Bolte 1804 Geschäftsgang i. Preussen 93 Was die Heirathen der Offiziere betrifft, so ist in der Circularverordnung vom 1. Septbr. 1798 festgesetzt, daß einem Subaltern- und besonders jungen Offizier die Erlaubniß zum Heirathen gar nicht gegeben werden soll; 1810 Fahnenbergs Magazin I 143 Cirkular-Schreiben des Ministers; 1850 Bundesversammlung Vorr. IV Inhalt der österreichischen Circularnote, d. d. Wien, den 7. III. 1848; Knies 1857 Telegraph 48 bald gehen sie [Nachrichten] an mehrere Adressaten, wie in den „Circularschreiben"; Vamhagen v. Ense 1861 Tageb. IV 115 die zirkularnote vom 27. juni, welche der minister . . . an unsere gesandtschaften erlassen hat (DWB); Voit 1881 M—G. 16 Circularschreiben (Überschr.) Mittelst Circulare können Befehle, Mitteilungen der Kommandeure, Erlasse etc. der höheren Vorgesetzten den Untergebenen zur Einsicht zugeschickt werden; Meinecke 1896 Boyen I 18 zirkularerlasz Friedrich Wilhelms II. an die generalinspekteurs (DWB); Werfel 1948 Bernadette 231 eine zirkulardepesche an den unterpräfekten . . . an die . . . Staatsanwaltschaft und das bürgermeisteramt (DWB); Offenburger Tagebl. 14. 3. 1969 Will sich der Kreml ein Alibi für ein bewaffnetes Vorgehen gegen den Rivalen im Osten verschaffen? Ist die Circular-Demarche, durch die er seinen Standpunkt in diesem Streit darlegt, nur ein zusätzliches Mittel im kalten Krieg gegen Peking?

zirkulär Adj., im frühen 19. Jh. unter Einwirkung von gleichbed. frz. circulair aufgekommen, älteres, im 17. Jh. nachgewiesenes zirkularisch ( < gleichbed. lat. circularis, zu circulus, —> zirkulieren) und vom 17. Jh. bis ins 19. Jh. nachgewiesenes,

Zirkulation

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vor allem als Bestimmungswort auftretendes zirkulär, Zirkular- ersetzend in der veralteten Bed. a 'kreisförmig; Kreis-', in fachspr. Zss. wie Zirkularbefestigung 'Kreis-, Ringbefestigung', Zirkularsäge 'kreisförmige Stahlscheibe mit gezahntem Rand, Kreissäge', Zirkularschnitt 'Kreisschnitt bei Amputationen'; auch im Sinne von 'einen Kreis beschreibend', z.B. in Zirkularpolarisation 'Polarisation des Lichts, bei der die Ätherteilchen eine kreisförmige Bahn beschreiben' (vgl. —> zirkulieren 2). b In jüngster Zeit ebenfalls meist fachspr. in der Bed. 'zum Ausgangspunkt zurückkehrend', z.B. im psychiatrischen Bereich für 'in regelmäßigen Zeitabständen auftretend, periodisch, zyklisch wiederkehrend' von (psychischen) Krankheiten, meist im Syntagma zirkuläres Irresein. Dazu die seit dem 19. Jh. (1863 bei Kaltschmidt) gebuchte subst. Ableitung Zirkularität F. (-; ohne PI.) 'Kreisförmigkeit; Zirkel-, Kreisform' (zu a) und 'regelmäßige Wiederkehr einer Erscheinung; Rückkehr zum Ausgangspunkt' (zu b). zirkulär, zirkular(-) a: Schmidt 1641 Göttl. Friedenscondition 77 hingegen aber die erde . . . in solcher circularbewegung den monden zum gesellen habe (DWB); Neumayr v. Ramsla 1668 Kriegswesen 153 circular Form [einer Festung]; Frisius 1707—34 Ceremoniel (1708 Messer-Schmide 367) Dass der Krantz zuweilen als ein Zeichen der Vollkommenheit und Freude, wegen seiner circularen Figur . . . anzusehen [ist]; Blesson 1830 Befestigungskunst II 382 Nach der Gestalt zerfallen die regelmässigen und unregelmässigen Befestigungen wieder in Circulaire und Angulaire, das heisst in solche, wo die einfassenden Linien Kreise oder Kreis-Stücke darbieten, und solche, wo sie aus geraden Linien bestehen, die unter Winkeln zusammenstossen . . . Die Circulair-Befestigung ist eigendich keiner Untherabtheilungen fähig; Humboldt 1845 Kosmos III 107 grosze gnomonen mit kleiner circularer Öffnung (DWB); Zastrow 1854 Gesch. best. Befestigung 51 Cirkular-Befestigung (Uberschr.) er ist . . . bemüht, ein ganzes Land sicher zu stellen, und widmet zu diesem Zwecke seine ganz besondere Aufmerksamkeit der Befestigung von Engpässen und Klausen, die er durch eine kreisrunde Festung zu schliessen gedenkt; Valentin 1855 Physiologie 74 Circularpolarisation; Herrmann 1877 Miniaturbilder 232f. Das Prinzip der Cirkularanordnung (Uberschr.) Wann immer irgend ein Werkzeug oder Material in Rotation versetzt wird, finden sich die arbeitenden oder zu bearbeitenden Theile nicht nur gewöhnlich in vielfacher Zahl vor, sondern sie sind auch im Kreise nebeneinander angeordnet. So

besteht z.B. der Cirkularhobel aus vielen einzelnen Hobeleisen, die zusammen eine kreisrunde Walze bilden. Bei der Cirkularsäge stellen die Sägezähne ebenfalls eine Kreislinie vor . . . Es gibt auch cirkular gestellte Mittel, welche niemals gedreht werden. So sind zum Beispiel die Zuschauersitze im Zirkus . . . genau im Kreise angeordnet, ohne daß dabei von einer Rotation auch nur die Rede sein könnte . . . Die Cirkularanordnung stabiler Mittel; 1880 Beschr. OA. Balingen 181 [Sägemühlen] mit 19 Gattern und 1 Cirkularsäge; Schweitzer 1948 Bach 278 freilich müszte man, um [auf der Orgel] diese doppelpartien . . . zu spielen, die geschweiften und zirkulär angelegten französischen und englischen pedale haben (DWB). zirkularisch: 1607 Theatrum machinarum I 116 aus diesem ist offenbar, das Aristoteles nicht beweisen, das des himmels bewegung circularisch und rund sei; Mögling 1629 Mech. Kunstkammer 58 wird demnach in diesem situ gar kein schwere uff der circularischen circumferentz liegen (beide DWB). zirkulär b: Kretschmer 1921 Körperbau 1 in den beiden von Kraepelin herausgearbeiteten grossen psychiatrischen Formkreisen des manisch-depressiven (zirkulären) und des schizophrenen Irreseins; Bumke 1929 Grenzen d. geistigen Gesundheit 9 zirkuläres Irresein; Rohracher 1934 Charakterkunde 15 [das] zirkuläre Irresein; 1964 Dies Univ. XI 115 Alle Entwicklung ist „zirkulär".

Zirkulation F. (-; selten -en), Anfang 17. Jh. aufgekommen, über gelehrtenlat. circulatio 'Kreisen im Destilliergefäß' zurückgehend auf lat. circu(m)latio in seiner Bed. 'Umlauf, Kreisen, Kreislauf' (zu circumlatum, Part. Perf. von circumferre 'herumtragen'; vgl. gleichbed. frz. circulation, engl, circulation), früher auch

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Zirkulation

vereinzelt in der lat. Form; 1 in der Bed. 'Lauf nach der Kreislinie, einen Kreis beschreibende Bewegung; Kreislauf, Umlauf'; a zunächst im alchimistischen Bereich für 'Kreisen im Destilliergefäß; wiederholte Destillierung' von flüssigen Stoffen; b seit späterem 17. Jh. allgemeiner, ohne daß im mathematischen Sinne ein Kreis beschrieben wird, und in verschiedenen Fachbereichen für 'Kreis-, Umlauf, z.B. von Wasser oder Luft, früher gelegentlich auch von Ideen, Schriften o. ä. (vgl. —» Zirkular), anfangs auch von Planeten, seltener von menschlicher Fortbewegung im Sinne von 'das Herumgehen'; c seit Anfang 18. Jh. meist fachspr. im wirtschaftlichen Bereich für 'Geldumlauf; Warenaustausch; Kreislauf der Wirtschaft', im Sprachgebrauch der DDR heute speziell „Stadium des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, das den Prozeß des Warenaustausches umfaßt (und zugleich Teil des Kreislaufs der produktiven Fonds ist)" (WDG); d gleichzeitig im medizinischen Bereich in der Bed. '(Blut-)Kreislauf' (Blutzirkulation; Zirkula-

tionsstörung). 2 Im späten 19. Jh. selten in der aus dem Frz. entlehnten Bed. '(Straßen-)Verkehr'. Zirkulation la: Gnissaus 1610 D.kl.Baur 114 gleich wie wenn in unserm werck die decoction alle elements gereinigt . . . durch die digestion und circulation ein aequalitet unter ihnen erhalten; Paracelsus 1616 Opera II 680 durch die circulation der dementen (beide DWB). Zirkulation lb: 1671 Leibniz I 267 (Gombert, AfdA. IV166') in einiger von niemand vernehmlicher . . . Circulation (alle 24 Stunden) das Licht um unsere Erdkugel; Christold 1729 Geistr. Andachten 272 die circulation oder kreisz-lauff des wassers (DWB); Goethe 1774 Br. 1186 [in seinem Kopf seien] hundert Ideen in Cirkulation; Sturz 1782 Sehr. II 397 Eine beständige Zirkulazion unter gesitteten Völkern weckt neue Begierden, die endlich zu neuen Bedürfnissen werden; Brandes 1808 Zeitgeist 257 Circulation der Ideen; Bornum 1855 Leben Iii Lotteriepläne . . . in Cirkulation setzen; 1882 ZDÖAlpenverein 339 vielleicht . . . sei die Bewegung beider [Flüsse und Gletscher] homolog, das Eis also plastisch . . . Rendu . . . hatte überhaupt ein helles Auge für die Eigenthümlichkeiten der Naturgesetze und ahnte in seinem „Gesetz von der Circulation" . . . das Gesetz der Erhaltung der Kraft voraus. Er bemerkte zuerst, daß die Bewegung eines Gletschers nicht in allen Theilen gleichmässig sei, sondern von der Mitte zu den Seiten abnehme; Nordau 1884 Lügen 91 Bis zur Offenbarung hat die Vernunft das Recht der freien Bewegung. Bei der Offenbarung muß sie stillhalten . . . Es ist die Vernunft mit beschränkter Circulation; Preuss. Jahrbücher 110 (1902) 413 die Strassen rein zu erhalten . . . dass die Zirkulation des Publikums nicht gestört werde; Bieberstein 1903 Recamier 73 beide Male erschien der Kaiser, und man bemerk-

te, daß er wiederholt seine Lorgnette auf die „Schönste der Schönen" richtete. Das genügte natürlich, um allerhand Gerüchte in Zirkulation zu setzen; 1916 Schwed. Stimmen 160 Wer weiß, vielleicht kann ein glücklicher Zufall einen Armen zur Klasse der Herrschenden erheben! Für solch eine Standeszirkulation bestehen keine Hindernisse. Der Reichtum bedeutet hier alles; Dtsch. AT.. 7. 8. 1935 tödliche Unfälle in geschlossenen Garagen, die nach Leerlaufenlassen des Motors bei mangelhafter oder fehlender Luftzirkulation vorgekommen sind; Forsch, u. Fortschr. 11 (1935) 278 das grosze problem der allgemeinen Zirkulation dieser wassermassen; Tritsch 1954 Erben 294 Zirkulation der Eliten; 1969 Urania o. S. in der Atmosphäre entstehende Zirkulationsprozesse wie die Bildung von Zyklonen und Antizyklonen (WDG); Die Zeit 11. 12. 1981 Hunde mit langen Ohren . . . seien da besonders gefährdet, weil die Haare am Ohr die Luftzirkulation behinderten. Zirkulation lc: 1708 Leopold d. Große 1104 das Geld, sagt man ist die Seele der Republic, läßt man dieses nicht in eine gehörige Circulation bringen; Justi 1760 Abhdlg. v. d. Macht 58 Circulation des Geldes; Guden 1768 Polizei d. Industrie 29 Von der Circulation des Geldes und dessen Einflüsse in die Industrie; ebd. 73 Die Rückkunft des Ueberflusses an Waare oder Gelde zur Zeit der Bedürfnisse nenne ich die Circulation des Geldes; ebd. 114 daß es für die Einwohner nützlich sey, wenn das Geld unter die Leute im Lande koijime, oder nach der beliebteren neueren Redens-Art, wenn die Circulation gleichförmig verbreitet wird, ohne darauf zu achten, auf welche Art es unter die Leute kommt; Justi 1769 Erzeugg. d. Menschen 101 der Luxus befördere die Circulation des

Zirkulation Geldes; 1778 Moser II 333 das Capital was in der Circulation ist (SCHIRMER, Kaufmannssprache); Nicolai 1783 Reise III 323 [Papiere] welche den . . . zweck haben, durch ihre Zirkulation den kredit zu erhalten (DWB); 1783 Sinapius Leseb. 255 die Circulation der Actien; ebd. 266 die Circulation des Geldes (SCHIRMER, Kaufmannssprache); Nicolai 1790 Anekdoten I Einl. XI Ich erlebte die traurigen sieben Jahre nach diesem Kriege, wo Friedrichs Lande von den Folgen desselben hart gedrückt waren, wo Cirkulation und Industrie fast ganzlich stockten; ebd. 52 es kamen diese Summen durch den Bau in Cirkulation; 1792 Büsch I 27 Wenn es ein Volk von lauter Spielern geben könnte, unter welchen das Geld bei tausende circulirte, so würde dieß doch keine wahre Circulation seyn (SCHIRMER, Kaufmannssprache); ders. 1797 Hamburg. Handlung 120 Wechsel-Zirkulazion; Lueder 1800 Nationalindustrie 1204 Cirkulations- oder Zettelbanken; Koch-Sternfeld 1805 Nahrung 41 Geld ist nur Zirkulationsmittel, das den Kauf an die Stelle des Tausches gesetzt hat; Soden 1806 Nationalökonomie I 183 Die Cirkulazion der Urprodukte kann, um ihrer Voluminosität willen, in einem ausgedehnten Staate, oft durch die Zwischenräume gehemmt werden; Müller 1812 Verm.Schr. I 291 beyde gleich nothwendigen circulationssysteme, das der metalle und das des papiers (DWB); 1817 Fortschritte nationalök. Wiss. 2 die alleinherrschende Papiercirculation der [englischen] Banknoten; 1822 (1845 Bibliothek Politischer Reden V133) Die Gesamtheit nämlich, oder der Staat bedarf, nach seiner aus der höheren Civilisation geflossenen Einrichtung und nach der jetzigen Weltlage, unumgänglich eines Vorraths von Geldkräften als Cirkulationsmasse und als Zahlungsmittel von Staatsbedürfnissen; Goethe 1827-42 (W. VI 22) Kanäle, aus deren Circulation die Fruchtbarkeit des Landes entquoll; ebd. XVIII 53 Weil alles die Circulation (des Handels) vermehrt (KEHREIN); Engels 1846 Fragm. IV 414 um die Zirkulation der Waren zu hemmen und die Preise . . . in die Höhe zu treiben; Roscher 1857 Gesch. 12 Preiserniedrigung aller Circulationsmittel; Marx 1868 briefl. a. Engels (1950 Briefw. IV 71) die verschiedne reihenfolge der akte von selling und buying drückt dem geld zwei verschiedne Zirkulationsbewegungen auf (DWB); Gutzkow 1875 (46) Säkularbilder VIII 159 dass das Geld nur Tauschmittel und keine Waare sei und dass sein Werth nur in der Zirculation läge; Roscher 1899 Handel (System III 123) Wechsel auf London [sind] jetzt ein wichtiges Circulationsmittel des Welthandels; Zukunft 62 (1908) 118 Goldcirculation des Deutschen Reiches; Friesen 1910 Erinn. III 291 Die dadurch entstehende Lücke in

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den Zirkulationsmitteln konnten aber, der Natur der Verhältnisse nach, nur die Noten der preußischen Bank ausfüllen; Böttger 1915 Geld 29 Grosse Bedeutung einer flotten Zirkulation des Geldes; Brauer 1929 Sozialismus 52 Von wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, daß für Marx die Bildung von Wert und Mehrwert Wirkung des Produktionsprozesses ist; ebd. 343 Sofern von Ausbeutung in der Zirkulationssphäre gesprochen wird, befindet sich in irgendeiner Form jedermann in derselben; Voss. Ztg. 6. 1. 1931 eine zwischenstaatliche Lösung des Problems der Goldzirkulation den chronisch gewordenen Abflüssen der englischen Goldbestände und ihrer Thesaurierung in den Gewölben der Bank von Frankreich einen Riegel vorzuschieben; Spann 1932 Haupttheorien 32 Theorie vom Kapital . . . als „Zirkulationsmacht" . . . erklärt; Ottel 1937 Bankpolitik 79 bezeichnet den Hartgeldumlauf als den „Blinddarm unserer Zirkulation"; Fetscher 1967 Marx 29 bei der mittelalterlichen Feudalwirtschaft tritt also der „gesellschaftliche Charakter" schon in der Produktion deutlich hervor, während in der warenproduzierenden Gesellschaft der soziale Charakter der Produktion . . . erst in der Zirkulationssphäre . . . zutage tritt; FAZ 25. 3. 1970 Außer der fast fehlenden Zirkulation — eine Eigenschaft, die sie mit den Gedenkmünzen teilt — weist die neue Münze die Besonderheit auf, daß sie kein Prägejahr . . . trägt. Zirkulation l d : Ettner 1715 Hebamme 420 damit das mütterliche Blut durch diese neue und wiederholte Circulation desto kräftiger gemacht werde; 1715 Fama XXXVII/XXXVIII 100 Bewegung und Circulation des Geblüthes; Meißbach 1732 Kur 35 nachdem Harvaeus die circulation des geblüts erfunden; Schaarschmidt 1742 Med. Nachr. I 391 Was die Circulation des Bluts sey? antworte: Das Wort Circulation führt seine Etymologie bey sich, und wird darunter verstanden, wenn das Blut herum läufft; Guts Muths 1804 Gymn. 47 Cirkulation des Blutes; ebd. 49 Cirkulation der Säfte; Kerner 1811 Reiseschatten 205 der Dichter aber behauptete, daß Verstand blos zufälliges Produkt der Blutcirkulation sey; Hufeland 1822 kl. med. Sehr. 114 Stockung der Circulation [bei Fieber]; 1889 ZDÖAlpenverein 170 Respirations- und Zirkulationsorgane; Zapp 1896 Off töchter I 43 während er den letzten Versuch eines Aderlasses vornahm. Das Blut jedoch stockte und hatte keine Circulation mehr; Csokor 1924 Schuss 73 Zirkulationsstörungen verursachen kongestive Leiden, Migränen nehmen sein Hirn in den Schraubstock; Brugsch 1957 Arzt 321 Wenn sich im Gehirn Zirkulationsstörungen vorbereiten, wird das Gesicht meist hochrot (WDG); 1970

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zirkulieren

Gesundheit o. S. das durch die Herzmassage zur Zirkulation gebrachte Blut (WDG).

Zirkulation 2: 1863 Bilder a. Paris II 121 In diesem ganzen Hauptteil von Paris ist die Wagenzirkulation von Nachmittags vier Uhr an untersagt; Oppenheim 1866 Verm. Sehr. 29 wenn der

ganze Zweck des Staates darin aufgehen soll, die Plätze von Volksmassen zu „reinigen", wie es in der Polizei-Sprache heisst, die Strassen der Cirkulation, zu welcher sie bestimmt sind, frei zu erhalten; Nordau 1881 Paris I 282 Die Hauptstraßen wurden für die Zirkulation der Wagen abgeschlossen. Die meisten Omnibus- und Tramwaylinien stellten ihren Verkehr ein.

zirkulieren V. intrans., seit spätem 16. Jh. nachgewiesen, eventuell über mlat. circulare 'sich im Kreis bewegen' (OED) zurückgehend auf lat. circulare in seiner Bed. 'kreisförmig machen, bilden' und '(im Kreis) umhergehen, sich bewegen' (zu circulus 'Kreis(-linie); Ring', Diminutiv zu circus, —>Zirkus und Etymon von bereits ahd. nachgewiesenem Zirkel; vgl. gleichbed. frz. circuler, engl, circulate), vereinzelt in unterschiedlichen Schreibweisen; in der Bed. '(in einer bestimmten Bahn) kreisen, sich im Kreis bewegen, einen Kreis beschreiben; kreisen, umlaufen', a im 16./17. Jh. speziell in der Alchimie als V. (in)trans. für 'im Destilliergefäß kreisen (lassen); wiederholt destillieren' von flüssigen Stoffen, mit dem schon im 16. Jh. vereinzelt nachgewiesenen Verbalsubst. Zirkulierung, gleichbed. mit —* Zirkulation la; b im frühen 17. Jh. in der Astronomie selten für 'die Sonne umkreisen' von Planeten, vereinzelt auch reflex. gebraucht für 'sich drehen'; c seit Ende 17. Jh. vor allem im wirtschaftlichen Bereich von Geld und Ware; d seit Mitte 18. Jh. im medizinischen Bereich von Blut und Körperflüssigkeit, auch bildlich verwendet; e seit späterem 18. Jh. häufig und zunehmend in der Bed. 'von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr wandern; die Runde machen, herumgehen; kursieren' von Schriften, Briefen u. ä. (vgl. —» Zirkular), vor allem von (inoffiziellen) mündlichen Mitteilungen, Anekdoten, Gerüchten u. ä.; f seit spätem 18. Jh. allgemeiner (ohne daß im mathematischen Sinne ein Kreis beschrieben wird) und in verschiedenen Fachbereichen verwendet in der noch heute dominanten Bed. 'umlaufen, kreisen, im Umlauf sein', gelegentlich auch von menschlicher Fortbewegung im Sinne von 'umhergehen; sich hin und her bewegen' und vereinzelt für '(im Umlauf und daher) üblich, verbreitet sein'. zirkulieren a: Epimetheus 1588 Pandora 56 dieselb materi [das Lunarium] thu in ein circuliergeschirr; Paracelsus 1616 Opera I 809 nach dem lass circuliren [bei einem chemischen Versuch] auff vier wochen, so wirdt auff dem temperat das lamina zu einem öl; Grassäus 1618 D. kl. Baur 229 wann unser lapis also in den vier elementen circuliert wirt . . . alsdann ist ein ewiges fewr auff der weit angezündt (alle DWB); Glauher 1655 Op. Min. II 12 also dass ein Element das andere stätig anrühret, sich durch einander circuliren, vnd eins das ander erhält vnd ernehret; Schmidt 1656 Wundarznei 798 auff die überbliebene Materi wider einen guten Brandtwein giessen / wiederumb zwei Monat circuliren / das Gefärbte herausziehen / absondern. Zirkulierung: Lullus 1532 Verborgenheyten dess wassers zirculierung.

B 3h

zirkulieren b: Florentinus de Valentia 1617 Rosa C 4h alle Planeten, gleich wie sie im Himmel circulirt; Grassäus 1618 D. kl. Baur 31 wunder secreta und arcana neben erscheinung aller planeten und desz gantzen firmaments, die sich umbhere circulierten (DWB); Humboldt 1845 Kosmos I 146 [Gestirne] die nach planetarischen gesetzen um die sonne circuliren (DWB). zirkulieren c: 1692 Novellen 43 allein solches Geld kömmt. . . nicht aus dem Lande, sondern es circuliret gleichsam, und kommt endlich alles wieder in die Königliche Casse; Justi 1758 Manufakt. I 18 Die Städte des Landes werden alsdenn dasjenige, was sie ihrem Endzwecke nach seyn sollten, nämlich . . . die großen Pulsadern, wodurch das Geld, als das Blut des Staats circuliret; Guden 1768 Polizei d. Industrie 44 angenommen, daß nur 400 Rthlr. in einem solchen Dorfe

zirkulieren circulire; 1778 Moser II 91 Renteverschiebungen [welche] dem Gelde gleich circuliren (SCHIRMER, Kaufmannssprache); Faber 1790 Beyträge I 404 ihr Geld in Commerz circuliren zu lassen; 1792 Büsch I 27 Wenn es ein Volk von lauter Spielern geben könnte, unter welchen das Geld bei tausende circulirte, so würde dieß doch keine wahre Circulation seyn (SCHIRMER, Kaufmannssprache); 1792 Journal v. u. f . Deutschland 1264 Veranlassung . . . dass das Geld im höchsten Uberflusse cirkulirte; Fichte 1800 Handelsstaat 230 Masse des circulirenden Landesgeldes; Raumer 1803 Briefw. (Leben 1209) Hypothesiren wir selbst einen Augenblick die Existenz und Einführung dieses Landgeldes und die Möglichkeit der Aufhebung aller Gemeinschaft, die auch die Nutzbarkeit des Weltgeldes aufhebt, so hat doch der Verfasser höchst lächerliche Ideen, sowol von der Quantität des circulirenden Geldes als der Ubermacht, die es allein geben soll. — Ich würde ihm Büsch's treffliches Werk über den Geldumlauf empfehlen; Athenstädt 1823 Eur. II 91 Also Niederhaltung des Werths der ersten Lebensbedürfnisse und des Grunds und Bodens, der sie erzeugt . . . wird zugleich die zweckmlssigste Vermehrung der circulierenden Geldmasse seyn; Goethe 1827-42 (W. XVIII 79) Ein paar Groschen mehr an einem Orte cirkuliren zu lassen (KEHREIN); Steffens 1844 Was ich erlebte IX127 in Schweden zirkulirte damals nur kupfermünze (DWB); Marx 1868 briefl. a. Engels (1950 Briefw. IV 63) wie berechnet ihr den Umschlag des zirkulierenden kapitalteils (rohmaterial, Hilfsstoffe, arbeitslohn)? (DWB). zirkulieren d: Theirbach 1750 Diarium Herrenhuth. II 292 das materiell gottesblut musz man im herzen spühren, es musz in uns circuliren (DWB); Forster 1787 Reise um d. Welt 507 circulirenden Säfte [im menschlichen Körper]; Goethe 1827—42 (W. XII 72) Und immer zirkulirt ein neues, frisches Blut (KEHREIN); um 1850 Mirakelstück 11 In Euern Adern zirkuliert Mäzenenblut. zirkulieren e: Michaelis 1770 Raisonnement II 193 [Mitteilungen] aus den circulirenden Acten nehmen; Lavater 1774 Verm. Sehr. II27 alles, was von ihnen gedruckt, im manuskripte zirkulirt oder an fremde geschrieben ist (DWB); Schmid 1775 Chronologie d. d. Th. 162 Zu seinem Unglück cirkulirte dieser Brief bald in einer Menge von Logien; 1789 Privatleben der Mar. Ant. 49 Da die Geheimnisse der Königlichen Beichte nur unter dreyen zu circuliren pflegen; so bleiben sie unbekannt; Gedicke 1789 Schulschr. I 460 Zum Behuf der Ausfertigung dieser Zeugnisse sowol für die obere als untere Klasse lasse ich acht bis vierzehn 25 Fremdwörterbuch

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Tage vor der Censur unter den Lehrern für jede Klasse ein eigenes Buch circuliren; Laukhard 1792 Leben 1307 bat sich mein Konzept aus, schrieb es fein ab, und Hess es zirkuliren; ebd. I 347 das allgemeine Gerücht, welches in der dortigen Gegend . . . zirkulirte; ebd. II 71 gute Bücher zirkuliren zu lassen; ebd. II 203 er habe sie [Bücher und Schriften] bei der Fakultät cirkuliren lassen; ebd. IV 1, 239 dass . . . alle . . . Meynungen in ReKgionssachen . . . frey cirkuliren sollten; Vulpius 1806 briefl. (Jahrbuch Samml. Kippenberg 5 (1925) 167) Es circuliren allerlei Gerüchte; Goethe 1811 D. u. W. XXVI 274 Denn ich hatte schon von Jugend auf die Gelegenheitsgedichte, deren damals in jeder Woche mehrere circulirten . . . mit einem gewissen Neid betrachtet; ders. 1821 WMW. (XXV 1, 215) Anordnungen, welche unter der Gesellschaft selbst noch als Probleme circuliren; Schiller 1822-26 (W. III 302) Das Blatt nimmst du, lässest es durch unsere Partei zirkuHeren (KEHREIN); Goethe 1827-42 (W. XXI114) Was aber an Briefen in der Stille circulirte (KEHREIN); Steffens 1841 Was ich erlebte III 182 Hess einen theuren . . . Pfeifenkopf . . . unter den Gästen circuliren; Man 1846 ]. Deutschld. 324 Bisher hatte ich auf die Gerüchte, welche über unsere Angelegenheit im Publikum cirkulirten, nicht geachtet; Keller 1869 Ges. W. 126 schulknaben, welche unter dem tische den plan zu einer rühmHchen kriegsunternehmung zirkulieren lassen (DWB); Voit 1881 M-G. 16 Mittelst Circulare können Befehle, Mitteilungen der Kommandeure, Erlasse etc. der höheren Vorgesetzten den Untergebenen zur Einsicht zugeschickt werden. Entweder steht unter dem Text des Befehles etc. einfach: Circuliert bei . . . zur Kenntnisnahme und Rücksendung hieher und machen die Adressaten den Vermerk der Kenntnisnahme durch das Wort „gelesen" mit der Unterschrift; Mann 1901 Buddenbrooks I 89 begannen in der Stadt die [Geschäfts- ]Formulare zu zirkulieren; Fontane 1920 Ges. W. II 2, 281 wie sich denken läszt, zirkulierten allerhand anekdoten über ihn (DWB); Hesse 1943 Glasperlenspiel II 131 die legende vom glasperlenspielmeister, welche bei uns in vielen abschriften zirkuliert (DWB); Fallada 1964 Bauern 388 [Man gab] mir diese Abschrift, die in der Stadt zirkuliert (WDG). zirkulieren f: 1775 T. M. II 93 Die guten Sitten circuliren in der Welt herum, wie alles andere; Stieglitz 1798 Baukunst V 632 Zirkulir-Ofen, wird ein Ofen mit verschiedenen Zügen genannt, worin die Wärme und der Rauch zirkuliren, ehe sie in die Esse gehen; Heinrich 1808 Maasse u. Gewichte 124 So lang die Römer die Beherrscher des civilisirten Europa waren, circulirte ohne Zweifel

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Zirkus

unter den . . . Völkern dasselbe Maas und Gewicht; Jean Paul vor 1825 W. 1303 muss ich nicht, wenn ich so in die schlagweite des todes gerathe, aufspringen, durch die stube zirkuliren? (DWB); Iffland 1827 Theatr. W. III 233 du läszt deine kattune in ballen schlagen, dasz sie zirkulieren und alle mägde des römischen Reichs erfreuen (DWB); um 1850 Mirakelstück 8 hielt ich lang schon bei mir Rat, Sinnire drüber früh und spat — Dir sei

anitzt klarifiziert, was mir im Kopfe zirkulirt; Moltke 1856 Wanderbuch (Paris) 207 Es war schwer zu circuliren, obschon nur etwa 500 Personen geladen waren, da Alles sich in den einen Saal drängte; NZ. (Basel) 26. 3. 1950 Diese [belgische Studenten] hatten versucht, die noch zirkulirenden Straßenbahnwagen umzustürzen und die Kondukteure zu verprügeln.

Zirkus M. (-(ses); selten -se), seit Mitte 16. Jh. vereinzelt, seit Mitte 19. Jh. kontinuierlich nachgewiesene Entlehnung aus lat. circus (Maximus), Bezeichnung für die Rennbahn im alten Rom (zu circus 'Kreis(-linie), Ring; Rennbahn, Zirkus, Arena' ( < griech. KiQKog 'Ring'; vgl. gleichbed. engl, circus, frz. cirque), anfangs in der lat. (flekt.) Form und vereinzelt in der Form Zirk, Cir(c)k mit PI. -en. la Historische Bezeichnung für einen in Form eines Amphitheaters umrahmten Ovalbau in der römischen Antike, der als Austragungsstätte für zirzensische Spiele (z.B. Wagen- und Pferderennen, Gladiatorenkämpfe) diente; b im 18./19. Jh. selten auch bildlich verwendet im Sinne von 'Kreis(-), Ring(-form) (mit ansteigender Umrandung)' mit der im 19 Jh. nachgewiesenen adj. Gelegenheitsableitung zirkusartig 'ring-, kreisförmig (angelegt)'. 2a Seit Mitte 19. Jh. als Bezeichnung für ein (von Ort zu Ort ziehendes) Unternehmen, das in einem großen runden Zelt oder festem Gebäude mit Manege und ringsum ansteigenden Sitzreihen für Zuschauer ein abwechslungsreiches und unterhaltsames Programm akrobatischer artistischer Darbietungen mit Menschen und Tieren vorführt, auch für den Aufführungsort und die Aufführung selbst, häufig assoziiert mit Abenteuerlichkeit, Vagabundendasein, Buntheit, Exotik, gelegentlich bildlich verwendet (vgl. 2b), häufig als Grund- und Bestimmungswort zahlreicher Zss. wie Floh-, Wanderzirkus; Zirkusclown, -direktor, -luft, -nummer, -pferd, -Vorstellung, -zeit, in neuester Zeit ausgedehnt auf bunte, unterhaltende Darbietungen im Bereich von Literatur und Musik (Literatur-, Liederzirkus); b von daher in jüngster Zeit, ohne PI., ugs. verwendet in der Bed. 'Durcheinander, Unruhe; (unnötiger) Wirbel, Trubel, Aufwand; Aufhebens, Umstände, Getue; Theater; Rummel', in der Wendung Zirkus machen, veranstalten (um etwas) und in Zss. wie Affenzirkus 'Affentheater' (vgl. —»Theater b). Dazu seit frühem 19. Jh. das auf lat. circensis 'zum Zirkus gehörig' zurückgehende Adj. zirzensisch, vor allem im (aus lat. ludi circenses teillehnübersetzten) Syntagma zirzensische Spiele, in der Bed. 'zum antiken Zirkus gehörend, darauf bezogen' (zu la) und 'artistisch; Zirkus-' (zu 2a), dafür im 20. Jh.vereinzelt die adj. Ableitung zirkushaft. Zirkus la: Hedio 1546 Übers, v. Baptista Platin 37a circk (WEIGAND); Grasser 1610Schatzkammer I 380 Von den Rennplätzen, Circi genannt; Guarinonius 1610 Greuel 1222 wie sie [die Römer] dann zu solchem ansehnlichen Werck, besonders eigne vnnd köstliche Rennplätze vnnd Gebäw geführt, so sie die Circos nenneten; Schubart 1787 Ged. II 71 kein hungriger low zerrisz mich

[Ahasver] im zirkus (DWB); Wischer 1839 Br. a. Italien 22 Circus in Verona; Mommsen 1856 Rom. Gesch. I 788 [die plebejischen Spiele wurden] in dem flaminischen circus gefeiert (DWB); Kuemberger 1877 Herzenssachen 76 Die Römer und Griechen der Decadence . . . waren gewiß auch literarisch gebildet, aber wie der physische Adel in ihrer Lebenspraxis unterging, hielten sie mit

Zirkus wachsender Vorliebe nur um so begieriger seinen Schatten noch fest, und die Spiele des Circus und Hippodroms waren . . . ein Schauspiel verbleichenden Heldenscheins; Körting 1884 Anfänge d. Renaissanceliteratur i. Italien I 24 Amphitheater, Cirken und Bäder; Friedländer 1910 Sittengesch. Roms II 323 Nach dem von Julius Cäsar unternommenen, von August zu Ende geführten Ausbau gehörte der große Zirkus zu den ersten Prachtbauten Roms. Der Zuschauerraum mit seinen . . . sich amphitheatralisch erhebenden Sitzreihen bestand aus drei Stockwerken; Feuchtwanger 1947 D. falsche Nero 21 wenn man sie [die Stadt] von ferne betrachtete, dann schaute sie durchaus griechisch her mit ihren tempeln und Säulenhallen, mit ihrem zirkus, ihren theatern (DWB). zirzensisch: Ritter 1822 Erdkde. XVII 1172 im ingrimm darüber feierten] sie . . . keine circensischen spiele mehr (DWB); Bogeng 1926 Gesch. d. Sports 713 Circensischen Spiele; Dtsch. AZ. 8. 8. 1935 Raum zur Vorführung von tänzerischen, sportlichen, zirzensischen Spielen waren hauptsächlich der rechteckige Hof . . . Die Zuschauerplätze gruppierten sich auf einer, oder in den Treppenanlagen auf zwei Seiten. Das griechische Theater . . . kam so zu einem Ideal der Raumgestaltung. Zirkus lb: Brun 1799 Sehr. I 114 dehnt sich der unermeßliche Cirkus der weit schimmernden Alpen hin; Jean Paul vor 1825 (Hoffmann Wb. VI 974 b ) [der] zirkus und paradeplatz der natur mit allen seinen strömen und bergen (DWB); Ratzel 1885 Völkerkde. II 83 Beim Pubertätsfest kriechen Knaben auf einem langen gange in den bora genannten zirkus (DWB). zirkusartig: Humboldt 1826 Ansichten d. Natur II 139 da umgibt die isolirten Kegelberge circusartig eine hohe felsmauer (DWB). Zirkus 2a: Freytag 1855 Soll ». Haben I 506 einer Roßbändigerin des Circus; Holtei 1861 Erz. Sehr. X 230 gestern begab ich mich in den circus während der morgenstunden (DWB); Gerstäcker 1868 Neue Reisen 65 Alles Neue, was ich hier in der Stadt sehe, sind . . . Theater, Cirkus und Bierhäuser; Stinde 1886 Wandertruppe 24 die gehören in den Circus und nicht auf die Bühne; Freytag 1889 (Br. a. s. Gattin (1912) 287) Mika war mit Gustav gestern abend im zirkus . . . ich gehe morgen bei tage zu einer kindervorstellung mit den kleinen (DWB); Steinen 1894 Naturvölker Zentralbrasiliens 76 ich gab einfach meine Zirkusvorstellung, ich zeigte meine kunststücke (DWB) ; 25»

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Suttner 1896 High-life 57 denn die jungen Herren stecken immer bei den Schauspielerinnen und Zirkusreiterinnen; Bodmann 1901 Tagebücher 83 Ich gehöre im vergeistigten Sinn eigentlich zu den Seiltänzern, Zirkusreitern, die ihr Leben fortwährend aufs Spiel setzen. Wenn ich nur Zirkusmusik höre, bin ich in meinem Element; Zur Megede 1911 Quitt 97 und auf ein paar blassen Lippen erschien das öde Cirkuslächeln; Pan 2 (1912) 948 Eine magere Zirkusprinzessin im roten Schmierentrikot; Kjellen 1917 Studien (Übers.) 149 [Der preußische Drill] doch nicht nur eine Erscheinung des Sportes oder der Zirkusdressur; Kautz 1928 Schatten 35 die flott hingeworfenen Reklamemalereien des Kinos und Wanderzirkus unsrer Jugend; Berl. Illustr. Nachtausg. 15. 6. 1931 die Geschichte der Zirkuswirtschaft kennt wiederholte Perioden des Massensterbens der Unternehmen; LokalAnz. 5. 1. 1933 Bald mußten die Zirkusleute die letzten Groschen zwischen dem Personal und — den Tieren teilen, deren Futterrationen schon längere Zeit herabgesetzt werden mußten; Berl. Illustr. Nachtausg. 18. 1. 1933 Tollkühn ist vieles in diesem Programm aufregendster Zirkusattraktionen; ebd. 31. 1. 1933 Zirkusse in Not (Überschr.) Momentbilder aus dem Winterquartier der Kleinzirkusse Reiffarth und Belli . . . Alle warten auf das Frühjahr, dann geht es wieder auf Wanderschaft; ebd. 24. 2. 1933 [er sei] ehe er Sänger wurde, Zirkusclown, Boxtrainer, Abenteurer und Goldgräber gewesen; ebd. 8. 5. 1933 Zirkus-Manege überflutet (Überschr.); 8 Uhr Abendbl. 6. 6. 1933 Weiter werden u. a. die bisher besonders hoch belasteten Zirkusveranstaltungen bei der Vergnügungssteuer besser behandelt werden; Lokal-Anz. 7. 7. 1934 Aus dem Wanderzirkus war ein fester Sommerzirkus geworden, und aus diesem entwickelte sich ein über ganz Europa verbreitetes Zirkusunternehmen, das in den verschiedensten größeren Städten eigene Bauten gründete; ebd. 2. 9. 1934 So gestaltete sich diese Parade zu einem Volksfest, und so mancher, der sich den Zirkusbesuch versagen muß, bekam so wenigstens einen Abglanz der Wunder zu sehen, die die Krone-Schau bietet; Dtsch. AZ. 5. 2. 1935 Zirkusluft in der „Scala" (Überschr.); Brauer 1936 Im Dienste Bismarcks 56 Rolle des Friedensengels in der „europäischen Zirkusvorstellung"; Münch. N. N. 8. 2. 1940 Ein toller Bursche, eine Nummer für sich, ist unser „Zirkusdirektor"; Frankf. Ztg. 2. J. 1941 ich vernahm die Namen der großen Zirkusse, die mit eigenen Eisenbahnzügen durch Europa reisten . . . und die „Krone" hießen und „Sarrasani"; Münch. N. N. 21. 7. 1942 Dies zähe Fortleben des uralten Zirkusherkommens unter so erschwerten Bedingungen zeugt aber auch von der ungebrochenen Kraft der „Zirkusseele"; Goetz

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1948 Drache 144 wandernden Handwerksburschen, Kesselflickern, Zirkusartisten, Mausefallenhändlern, und ähnlichem Volk; Süddtsch. Ztg. 8. 3. 1949 In der Gerichtsverhandlung will er dann als Spezialist aussagen und beweisen, daß Hardts Experimente auf billigen Zirkustricks beruhen; Stuttgarter Ztg. 26. 1. 1959 Der Ruf „der Zirkus kommt" hat draussen auf dem Land viel von seiner Anziehungskraft verloren . . . dass man wirklich nicht mehr auf den Wanderzirkus angewiesen ist, der mit bescheidenen Mitteln die „Menschen, Tiere, Sensationen" . . . auf die Marktplätze gebracht hat; ebd. 21. 3. 1959 Zum erstenmal konnten am Freitag die Gmünder Bürger an einem Zirkusgottesdienst teilnehmen; Niebelschütz 1961 Spiel 325 Zirkus-Clown mit Monokel und steifer Melone; Süddtsch. Ztg. 13. 3. 1963 Im Moskauer Zirkus-Institut . . . ein Absolvent des sogenannten Lehrzirkus der Sowjetunion . . . Das Institut . . . hat vor zwei Jahren vom Staat einen kompletten Zirkusbau in einer Seitenstraße im Norden von Moskau erhalten . . . Als durchweg staadiche Betriebe haben die russischen Zirkusunternehmen . . . keine Sorgen; Stuttgarter Ztg. 6. 2. 1969 soll . . . der Vorhang über dem Theater in der Zirkusarena aufgehen; ebd. 31. 7. 1969 Zirkusleute — fast privat (Uberschr.) „Doppel-Circus Busch, Berlin, und Roland, Bremen" gibt am heutigen Donnerstag die ersten Vorstellungen auf dem Cannstatter Wasen — Sondervorstellungen der Zirkuskinder für die „Aktion Sorgenkind"; FAZ 25. 11. 1969 Zirkusreife Kampfrichter übertreffen zirkusreife Amateurakrobaten (Uberschr.); Offenburger Tagebl. 11. 7. 1970 Ich habe nichts übrig für Zirkusallüren in der Politik; ebd. 4. 5. 1971 Noch eindringlicher fühlte man sich von Pavel Kohouts „Zirkusvorstellung" unter dem Titel „August, August", einem Stück voller brennender Aktualität angesprochen.

zirkushaft: Sedlmayr 1948 Verlust 54 Zirkushaften. zirzensisch: Voss. Ztg. 29. 3. 1932 Der erste Akt ist einer der leersten, die man je gesehen hat, und der letzte fristet sein Dasein mit zirzensischen Nummern (u. a. einem schlecht gedrillten Pferdchen) kümmerlich genug; Seidel 1935 Krüsemann 79 abenteuermut eines zirzensischen geistes (DWB); Dtsch. AZ. 5. 2. 1935 Die „Scala" . . . bringt einen Haufen gute, vorzügliche zirzensische Nummern und zugleich ein revueartiges Gesamtspiel; Berl. Börsenztg. 15. 5. 1935 Die ausgezeichneten, rein zirzensischen Darbietungen des Unternehmens haben alljährlich Tausende und

nachmittags vor allem die Jugend [angelockt]; Münch. N. N. 19. 2. 1941 die Flackerlichter am Rande einer Unterhaltung, die uns für drei Stunden um den roten Ring, das Forum der zirzensischen Künste, versammelt; ebd. 11. 5. 1944 Höchstleistungen zirzensischer Kunst, brausender Beifall, Blumensträuße, goldene Lorbeerkränze und herzliche Glückwünsche von allen Seiten — das war die Jubiläumsfeier im Zirkus Krone zum 25jährigen Bestehen des großen Zirkusrundbaues und der Übersiedlung des Zirkus nach München; FAZ 3. 10. 1969 Der Showcharakter tritt dort deutlicher hervor, wo eine Zwei-Spänner-Quadrille ihre verschlungenen Konturen fährt, Kaltblüter vor einem historischen Postwagen durch den Sand galoppieren, Hengste in zirzensischen Kunststücken ihre Dressierbarkeit offenbaren; Mannh. Morgen 7. 8. 1974 Zirkus . . . mit solider zirzensischer Tradition (DUDEN). Zirkus 2b: Süddtsch. Ztg. 21. 8. 1957 Wahlzirkus (Uberschr.) Wahrscheinlich zum erstenmal in der Geschichte der Wahlkämpfe in der Bundesrepublik hat ein Bundestagsabgeordneter für seine Partei in einer Zirkus-Arena gesprochen; Offenburger Tagebl. 7. 5. 1962 Der erste Vorsitzende der IG Metall . . . erklärte, er könne „den ganzen Zirkus" um die VW-Preise nicht mehr verstehen; Süddtsch. Ztg. 10. 10. 1964 Außerdem sollte der Kandidat ein „Stimmenfänger" sein. „Der Wahlkampf ist immer noch ein großer Zirkus und es scheint, daß das den Wählern offenbar auch heute noch Spaß macht"; Stuttgarter Ztg. 8. 10. 1965 Offenbar hat man „drüben" entschieden, bei Hohgeiss [Demarkationslinie] keinen „Zirkus" zu veranstalten; ebd. 9. 10. 1965 „Affenzirkus"; Bad. Ztg. 14. 11. 1970 Bezieht man die Lifts der Gemeinde Hofsgrund sowie der Schauinslandbahn ein, kann man von einem „Skizirkus" auf dem Schauinsland sprechen. Eine moderne Flutlichtanlage sowie ein Pistenplaniergerät; FAZ 13. 8. 1971 Die Betroffenen [Straßenverkäufer auf dem Kurfürstendamm] scheinen vorerst von alledem nicht viel zu halten: Am Donnerstag waren sie noch da . . . Haben sie die Worte des Senats nicht gehört? . . . Und ein älterer, behäbig wirkender Berliner meinte verschmitzt: „Ich weiß nich, was das janze Jetue soll. Der nächste Herbst kommt doch bestimmt, na, und dann ist mit dem erstn Regen der Zirkus hier vorbei"; ebd. 9. 12. 1971 die Prämien der Industrie an die Ski-Asse . . . erhalten die Mitglieder des alpinen Skizirkus auch ohne Publikum . . . Die Industrie und — wenn man so will — so mancher ehrliche Amateur in der Führung der nationalen Fachverbände lassen den Ski-Zirkus möglich werden.

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Zitadelle F. (-; -n), im 15. Jh. vereinzelt, seit späterem 16. Jh. kontinuierlich belegte Entlehnung aus gleichbed. ital. citadella (eigentlich 'kleine Stadt', Diminutiv von cittade, veraltete Nebenform von citta 'Stadt'), früher in unterschiedlichen Schreibformen wie Zyttidele, Zütatell, Cit(t)adele, vereinzelt in der ital. Form und anfangs häufig als N. Citadel(l), seit Ende 16. Jh. in der frz. beeinflußten heutigen Form; anfangs häufig auf italienische oder französische Verhältnisse bezogen, dann auch allgemeiner verwendet in der Bed. '(in sich geschlossener Teil einer) Befestigungsanlage, kleine Festung an exponierter Stelle innerhalb oder am Rande einer Stadt, zu deren Schutz oder Beherrschung dienend; Stadt-, Beifestung, (Stadt-)Burg' (vgl. —» Kastell), auch 'Kernstück einer Festung, letztes Widerstandszentrum' und von Anfang an bildlich und übertragen verwendet im Sinne von 'Zuflucht, Schutz, Refugium', im 20. Jh., bes. im politischen Bereich, häufig für 'Hochburg; Zentrum'. Hermann v. Sachsenheim 1453 (Meister Altswert 8 Lit. Wer. 235) du Jungfrau Maria kastei und zyttidell mit wol beschloszner porten (DWB); 1573 Edict Königl. Majestat auß Frankreich B 2' [Die Einwohner brauchen nicht] zu lieden, dasz schlösser, festungen oder citadell, es sey dann mit ihrer verwilligung und zulassen in ihren Stedten gebawet werden (DWB); 1574 Fr. Guicc. 23 das alte Schloss . . . Cittadel genant; ebd. 236 das Cittadel, darein er geflohen war; ebd. 465 ein sehr vest Cittadel oder Schloss (WIS); Fischart 1575-6 Ausschreiben A 5r vermittels der Citadel; ebd. E 7° deß Citadels oder Burgschloß (JONES); Emstinger 1579-1610 Raisbuch 73 Vor der cittadella gegen der statt hats ain waiten plaz; ebd. 74 die obbemelten zway schlösser cittadella antiqua e nova; ebd. 83 Sienna . . . hat fünff welsche meil im umbfang und ain wolverwartes cittadella oder schloss; ebd. 150 Es hat zwar vor jaren ain starckhe und große cittadella oder vestung alda gehabt; 1589 Zeytung v. Bleyss A 3h Citatelle von Orlians; Fischart 1590 Antihispanus D 2' keine citadellen oder Vestungen (JONES); Quad 1598 Enchiridion 249 In der mitten hat sie [Stadt Carthago] ein Cittadel gehabt, Birsa genannt; Erard de Bar le Duc 1604 Fortif. (Übers.) 55 Die Citadelln oder Statt Schlösser; 1632 (Dtsch. Ztg. 17. Jh. 16) das Citadel Beziers; Rist 1642 Rettung A lk Dass die übrigen in grosser disordre sich nach der Citadelle haben retiriren müssen; Bürster 1644 Beschr. d. schwed. Krieges 221 uff den Galler [Ortsname] hat der Franzosz, so es ihme blüben, ain zütatell wollen laszen bawen (DWB); Cellarius 1645 Arch. mil. 315 was für einen Nutzen die Citadellen oder Castelen in einer Vestung haben; Moscherosch 1650 Gesichte II 690 gott ist der Christen hülff und macht, ein veste citadelle, er wacht und schillert tag und nacht, thut rond und sentinelle (DWB); Gryphius vor 1664 Lustsp. 105 die festung, die ich bisher so lange belagert, hat

parlamentiret, der accord ist geschlossen, und soll von uns beyden auff künfftig unterzeichnet, auch bald darauff die citadel in posses genommen werden (DWB); Heidemann 1664 Architectura militaris III 25 anlegung eines Castels oder Citadella; Leibniz 1670 See. publ. (1) 251 daß die Stadt . . . ungezäumte Bürgerschaft mit ein Paar nöthigen Citadellen in Zaum bringen . . . könnte; Scheither 1672 Festungs-Baw-Schuel 108 ist die Reguläre Eilffeckichte Stadt A. und das fünfeckichte Citadell B. auff dem groß Royal auffgerissen . . . es ist noch ein grösser Mangel und Fehler/der ins gemein bey dem Anlegen der Citadellen begangen wird/welcher dem Citadell unwiederbringlichen Schaden verursachet/und fürnemlich dieser ist/daß die nechsten zwey halben Bollwerk/so von der Stadt an das Citadell anschliessen so nahe und mit so kurtzen Linien werden angehenget daß hiernechst der Feind/ wann er vor erst solte die Stadt übermeistert haben/von solchen halben Bollwercken gar leicht das Citadell kan attaquiren/beschiessen/und endlich über ein Hauffen werffen; Burnet 1688 Reise (Ubers.) 284 von der Citadelle oder dem Schloss zu Meyland; Dalhover 1689 Gartenbeetlein II 112" Nemblich auff den zu Boden gefüllten Cittadell und Festungs-Mauern die Sieg Bühne aufstellen; Montecuculi 1736 Kriegs-Nachrichten 339 Grössere Schantzen oder Citadellen; Dominicus 1763 Tagebuch 98 nach Spandow, welches eine sehr veste Citadelle hatt, ist mit Wasser umgeben; Goethe 1778 (IV 3, 224) sonst war meine seele wie eine Stadt mit geringen maueren, die hinter sich eine citadelle auf dem berge hat, das schloss bewacht ich, und die Stadt lies ich in frieden und krieg wehrlos (DWB); Laukhard 1794 Feldzug I 134 Verdün ist, als Festung betrachtet, nicht weit her. Die Werker sind altfränkisch. Die Citadelle liegt zwar hoch, doch kann man von einem nahen Weinberge Stadt und Citadelle in Grund schies-

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Zitadelle

sen, ohne daß die Besatzung den Batterien der Belagerer viel schaden könnte; Canufe 1804 Reisebeschr. IV 115 Burg oder Beifeste (Citadelle); Schiller vor 1805 (VII 233) die katholischen geistlichen [fanden es] rathsam, die besten kostbarkeiten der kirchen in die zitadelle zu flüchten (DWB); Aster 1812 Angriff I 19 Citadellen (Citadelles); dieses sind kleine Festungen, welche von den Werken einer großem Festung völlig umgeben oder an dieselbe auf einer Seite angehangen sind; Hoyer 1815 Kriegsbaukunst I 204 Citadelle war in den früheren Zeiten, wo die Regenten mit den Unterthanen der von ihnen eroberten Lander in einer Art von Kriegszustand lebten, vorzüglich bestimmt: die Besatzung großer und volkreicher Stidte gegen die Unternehmungen der durch Aufruhr bewegten Bürger zu sichern. Nicht selten entstand auch wohl eine Stadt später neben dem, schon an sich festem Schlosse, welches dem Regenten zum Wohnplatz diente, und nachher — mit neuen Befestigungswerken versehen — in eine Citadelle umgeschaffen ward, um der Besatzung nach Eroberung der ebenfalls mit Willen und Bollwerken befestigten Stadt zum Zufluchtsorte zu dienen. Diese doppelte Bestimmung hatten alle Citadellen bei ihrer Entstehung; Aster 1819 Festungskr. 438 Der Angriff einer, den Platz deckenden, mit den übrigen Werken verbundenen Citadelle erfolgt nach Entscheidung der Frage: „Ob selbige zuerst, oder nach Eroberung der Stadt anzugreifen sei?"; Goethe vor 1832 (IV 49, 265) nachdem du dir deine citadelle durch den aufwand deines ganzen lebens erbaut (DWB); Prokesch v. Osten 1851 Br. 225 als Citadelle der Revolution im Herzen des Kontinents [Schweiz]; Riehl 1851 Naturgesch. d. Volkes III 12 das haus ist die citadelle der sitte (DWB); Schwinck 1856 Bef. 265 Es bleibt noch eine Art retirirter Werke zu behandeln übrig, nämlich diejenigen, welche dem noch übrigen Theile der Besatzung zum Zufluchtsorte dienen, wenn der befestigte Ort erobert worden ist. Dies sind die Citadellen. Dergleichen große Reduits, welche den Angreifenden zu einer zweiten Belagerung zwingen, finden sich schon in sehr früher Zeit und haben, außer dem bereits erwähnten, noch den Zweck, die vielleicht übel gesinnten und zur Auflehnung gegen die bestehende Ordnung geneigten Bewohner einer befestigten Stadt in den gehörigen Schranken zu halten; Wagner 1870 Fortifikation 44 Citadellen: a. ihr Zweck: letztes Reduit und beherrschende Position, daher: b. ihre Lage: möglichst dominierend, möglichst unangreifbar von aussen . . . c. ihre Befestigung: von genügender Ausdehnung zur Aufnahme von etwa V3 der Besatzung; Stavenhagen 1898 Skizzen 6 Die Schweiz und Tirol waren die „Citadellen", die Deutschland und Italien flankirten und beherrschten; Alten 1909

Hdb. f. Heer «. Fl. I 505 es entstanden andere schiffstypen, turmschiffe, kasemattschiffe und zitadellschiffe (DWB); Raabe vor 1910 (S. W. I 5, 468) auf den plätzen, in den gassen, in den werkstatten, in den kirchen, auf dem rathause und in der zitadelle wurde das wort gehört (DWB); Rilke 1927 Ges. W. III 137 sie [die Sibylle] aber stand jeden abend auf derselben stelle, schwarz wie eine alte zitadelle hoch und hohl und ausgebrannt (DWB); Stegemann 1930 Tage 64 [nach „Liebesgeplänkel"] zum Sturm auf die Zitadelle; Lokal-Anz. 27. 2. 1933 Vor wenigen Tagen noch wäre ein Spaziergang durch die Berliner Zitadelle der Kommunistischen Partei für den Berichterstatter eines nationalen Blattes . . . ein gefährliches Wagnis gewesen; Dtsch. AT.. 12. 2. 1935 Weil das Hochland im Tsanasee den Ausgang der Nilflutungen umschließt, die den Sudan und Aegypten befruchten, weil die „Zitadelle Afrikas" die östliche Flanke des englisch-aegyptischen Sudan . . . bedroht; Pflug 1941 Deutschlands Raumschicksal 41 Aber eine Bedrohung blieb, das Tschechentum in Böhmen, das von deutschem Siedelgebiet umschlossen in der „Zitadelle Europas" ein Unruheherd bis in die jüngste Vergangenheit sein sollte; Münch. N. N. 30. 9. 1941 wobei Sterns Armee als Stalins kommende Leibgarde und Ostsibirien als „Zitadelle des möglicherweise aus Europa verbannten Sowjetregimes" bezeichnet wird; Zweig 1947 Welt v. Gestern 390 denn die behörden wuszten wohl, dasz er in seiner zitadelle, seinen mit büchern überfüllten zimmern ohne maske und schminke sprach (DWB); NZ. (Basel) 6. 3. 1950 Es gilt, überall nationale Bewegungen hervorzurufen und mit ihrer Hilfe die Zitadelle des Kapitalismus zu stürmen; Suddtsch. Ztg. 21. 5. 1951 sich gegen alle Versuche zu wenden, die Zitadelle der geistigen Freiheit einzureißen; Bonn 1953 Gesch. 64 Wien würde . . . zur geistigen Zitadelle des orthodoxen Marxismus, bis es von Moskau entthront wurde; Stuttgarter Ztg. 13. 2. 1968 Kämpfe um die Zitadelle von Hue (Uberschr.); FAZ 17. 3. 1971 In der Zitadelle der zugleich gemäßigten und kämpferischen Sozialdemokratie ist es der Partei Brandts nur ganz knapp gelungen, die absolute Mehrheit zu behalten; ebd. 19. 3. 1971 Frankfurt, diese Zitadelle der D-Mark, zu der die Bundesbank geworden ist; Die Zeit 22. 1. 1982 Die Bündnisse aller Zeiten haben ihren Partnern unterschiedliche Sicherheit geboten. Wer auf dem Glacis wohnte, hatte weniger Garantien als die Bewohner der Zitadelle . . . in der Tat war und ist Amerika nicht bereit, für Hamburg oder Amsterdam Selbstmord zu begehen. Mit diesem Satz hat man in letzter Zeit auf Überlegungen geantwortet, wie vielleicht doch noch . . . der Abstand zwischen der Sicherheit auf dem Glacis und der in der Zitadelle verringert werden könnte.

Zitat

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Zitat N. (-(e)s; -e), Anfang 18. Jh. entlehnt aus lat. citatum 'das (namentlich) Angeführte, Erwähnte, Genannte' (Part. Perf. von citare, —* zitieren 2 ), früher auch in der lat. (flekt.) Form; a eher bildungsspr. in der Bed. 'wörtlich angeführte, meist durch eine Markierung als solche kenntlich gemachte Stelle aus einem gesprochenen/ geschriebenen Text, wortgetreue Wiedergabe einer mündlichen/schriftlichen Formulierung', auch leicht abwertend für '(bloßes) sprachliches Versatzstück' und übertragen verwendet; als Bestimmungswort in subst. und adj. Zss. wie Zitatenweisheit '(nur angelesenes, Bücher-)Wissen, das vorwiegend aus Zitaten besteht', Zitatenstil '(Rede-)Stil, der bes. durch die Verwendung von Zitaten beeindrucken will', zitatenfest 'sicher, gewandt, versiert im Gebrauch von oder im Umgang mit Zitaten', bes. in Syntagmen wie ein wörtliches, falsches, (un-)genaues Zitat, etwas mit einem/durch ein Zitat belegen und in der ugs. Wendung mit Zitaten um sich werfen; seit Ende 19. Jh. speziell auch im Sinne von 'geflügeltes Wort' zur Bezeichnung eines bes. geläufigen, bekannten, originellen (dichterischen oder volkstümlichen) Ausspruchs, Sprichworts oder einer knappen, sentenziösen Formulierung, bes. in der Zs. Zitatenschatz 'Sammlung von geflügelten Worten'; dazu im 19. Jh. die verbale Gelegenheitsableitung zusammenzitaten 'etwas aus Zitaten (kunterbunt) zusammensticken, -schreiben' und in neuester Zeit vereinzelt die scherzhafte, wohl in Analogie zu Wüterich gebildete subst. Ableitung Zitaterich M. (-s; -e) 'zitierwütiger Mensch', b Im 19./20. Jh. selten in der veralteten Bed. 'Quellenangabe zu einer wörtlich zitierten Textstelle; Quellennachweis, Belegstellenangabe'. c Seit frühem 20. Jh. im Bereich von Kunst und Literatur in der Bed. 'als Anspielung auf einen Autor, ein Kunstwerk o. ä. zu verstehende Nachahmung, Übernahme, Kopie einer künstlerischen Form, Struktur zum Zweck der Kritik oder Stilmischung, -erneuerung', weitgehend gleichbed. mit Zitierung, —»zitieren2 lb. Zitat a: Mencke 1710 Unterredg. 301 denen citatis recht nachzudencken, erforderte allzuviel Zeit; 1742 Belustigungen I 47 Citatis; 1754 (Gottsched u. s. Zeit 382) in einigen ganz kurzen anmerkungen und citatis (DWB); Weisse 1769 Beytrag IV 346 die gehörigen Citata [in einer Rede] anbringen; Schlegel 1769 Fabeln 264 Wenn er [Gelehrter] Citata häuft und . . . in seiner Noten Wust die Schönheit tief verscharrt; Lenz 1776 Verteidigung IV 307 Anm. allenfalls einige Citate nachschlägt; Lessing vor 1781 (1252) kunstwörter müssen dann der dummheit blösze decken, und ein gelehrt citat macht zierden selbst zu flecken (DWB); Forster vor 1794 (S. Sehr. V 233) ich verspüre die ausführung meines systems für ein . . . buch, wozu ein ocean von citaten in bereitschaft liegt (DWB); Hufeland 1797 Kunst XV daß ich nicht alle Beispiele und Facta mit Citaten belegt habe; Herder vor 1803 (V 399) Bodmer, Schlegel... die nur als ein citatum dastehen (DWB); GoetheSchiller vor 1805 Briefw. 1104 So wäre es gut, das Citat, wo der Bruder angeführt wird, wegzulassen (KEHREIN); Goethe 1827-42 (W. VI 123) In Citaten des Corans (KEHREIN); ders. vor 1832 (XXIII302) Friedrich . . . brachte nach seiner art

mit hundert citaten und eulenspiegelhaften anspielungen die gesellschaft zum lachen (DWB); Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 11 flüsterte der Schneider den andern zu, während jener sich auf das Zitat besann; ebd. III 50 „Ich kann damit ganz einverstanden sein", versetzte Heinrich, über das abgebrochene Zitat lächelnd; Marx 1858 Briefw. II 242 jeder kenner weisz aber, wie wohlfeil es ist . . . derartige Zitatenschaustellung zusammenzubringen (DWB); Holtei 1861 Erz. Sehr. XXI162 Eduard schenkte dem ächt schlesischen citate . . . keine besondere aufmerksamkeit (DWB); Gutzkow 1878 Longinus 62 einen Citaten-Vorrath von Anekdoten, Gehässigkeiten; Riehl 1888 Lebensrätsel Einl. X hätte ich auch . . . recht interessante litterarische Quellencitate beifügen können; Ludwig 1891 Ges. Sehr. V 283 Schiller ist es darum zu thun, dasz die reflexión so, d. h. in solcher form herauskommt, wie sie als zitat sogleich in den gebildeten verkehr als geprägte münze in umlauf kommen kann (DWB); Harden 1892 Apostata N. F. 51 in klassischen Citaten; Hehn 1893 Goethes H. u. D. 32 von den Kathedern ertönte mit steifer Ernsthaftigkeit die dürre und geistlose mitunter durch Zoten gewürzte

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Paragraphen- und Zitatenweisheit; Horix 1895 Erl. 49 Da fiel nun trockenen Tones der Major zum Schluß ein, indem er das berührte Zitat vollendete; Fontane 1903 Ges. W. IV 323 die Berliner sind spaszmacher und gefallen sich in ironischen bemerkungen und zitaten (DWB); Büchmann 1926 Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes (Titel); 1927 GoetheKalender 22 Eckermann entrollte sich als ein endloser Zitatenknäuel für jedes beliebige Fach; Gerd 1930 Frau 43 gegen Bildungswust mit Phrasengeklingel und Zitatenreichtum; Werfel 1931 Geschw. v. Neapel 107 damit durch obiges Dantezitat kein miszverständnis entstehe (DWB); Berl. Illustr. Nachtausg. 14. 3. 1933 Seine größten Bucherfolge sind die als „Zehnte Muse" bekannte Sammlung . . . und „Zoozmanns Zitatenschatz der Weltliteratur"; Hesse 1943 Glasperlenspiel 142 so baute er aus glasperlen musikalische zitate (DWB); Dtsch. AZ. 1. 6. 1944 Aber wie sagt - um mit dem zitatbeflissenen K r i m i n a l r a t . . . zu reden — der Lateiner; Mann 1946 Lotte i. Weimar 13 übrigens ist er ein mann von köpf, wie ich höre, wohlbelesen und zitatenfest (DWB); Zweig 1950 Eins. e. Königs 34 „sie berauben Hamlet um ein zitat, lieber Clausz", und ebenso ernst entgegnete der stabschef . . . im kriege mit England seien zitate ein für allemal von Schiller (DWB); Sonntag 13. 3. 1955 eine formulierung, die seither . . . zum klassischen zitatenschatz gerechnet werden musz (DWB); Süddtsch. Ztg. 13. 8. 1962 Ein anderer Schreiber meint, der Pfarrer der Kurstadt solle in seinen Predigten vom üblichen Zitatenstil abweichen und Verbindung mit dem Evangelium durch die Behandlung zeitnaher Fragen . . . eingehen; Z f . roman. Phil. 86 (1970) 550 Denn Anführungszeichen pflegen Zitate zu kennzeichnen. Und von Zitaten erwartet man, daß sie Wortlaut und Inhalt des Zitierten wiedergeben; Althausl Henne IWiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 736 Schon Brentano b e k l a g t . . . die Isolation der Sentenz im

beliebten Stammbuchzitat. Diese schon früh einsetzende Atomisierung von Schillers Stil, die Kontextentfremdung des Zitates bis zur sinnwidrigen Verselbständigung und zur sentenziösen Wiedereinfügung des verselbständigten Zitates . . . gehört zur Krankheitsgeschichte der Schiller-Rezeption . . . Das sentenziöse Zitat ist bloßer Ballast eines auf Schlagworte reduzierten Bildungsverfalls. zusammenzitaten: Gayette-Georgens vor 1871 Max. Cas. 12 Einige Bücher zusammencitatet (SANDERS 1871). Zitaterich: Dörfler 1947 Sohn 148 Die Pfarrer ärgern sich über meine lateinischen Zitate und heißen mich den Zitaterich; Süddtsch. Ztg. 31. 12. 1959 Der Zitaterich hat das Wort (Überschr.) Die britischen Zeitungen . . . lassen ihre Leser über den „besten Ausspruch des Jahres" nachdenken. Zitat b: J. Grimm 1839 Br. 75 die auszüge geschehen auf kleinen einzelnen zetteln . . . obenhin das gemeinte wort, dann die phrase, welche den genauen Sinn fassen läszt, ohne erst nachzuschlagen, zuletzt das citat; ders. 1854 Vorr. DWB XXXVI unbelegte citate sind unordentlich zusammengeraffte, unbeglaubigte, unbeeidete zeugen; ebd. XXXVII nach dem act und auftritt anzuführen wird für ein Wörterbuch, das kurzer citate bedarf . . . unbequem und unsicher; Vasmer 1953 Russ. Etym. Wh. I 10 ein zitat wie „Gorkij" würde eine Verwechselung der Stadt G. mit dem dichter G. zur folge haben (alle DWB). Zitat c: Schlosser 1921 Präludien 351 Entlehnungen, „Zitate" [in der Kunst]; Die Zeit 19. 2. 1982 Was will der Stein, was meint er? Ist er Meditations-Instrument? Rituelles Becken? Ein weißes Bild aus Stein? Zitat einer Urform? Beschwörung der Geometrie?

Zitation F. (-; -en), im späten 14. Jh. im Zusammenhang mit der Rezeption des römischen Rechts entlehnt aus gleichbed. mlat. citatio (< lat. citatio 'das Aufrufen; Aufruf, Kommando'), bis ins 18. Jh. auch in der lat. (flekt.) Form, bes. im 16. Jh. auch in der Form Zitatz; la veralteter Fachausdruck der Rechtssprache in der Bed. '(Vor-)Ladung vor Gericht', früher auch 'Vorladung vor den Papst (als geistliches Gericht)' und selten 'Vorladungsschreiben' (Zitationszettel), seit dem 19. Jh. gelegentlich auch allgemeiner verwendet für 'das Herbeirufen, Herbeiordern, -bestellen (von untergebenen Personen)'; vgl. —> zitieren1 a; b im 18./19. Jh. selten nachgewiesen in der Bed. 'Geisterbeschwörung'; vgl. —»zitieren1 b. 2 Im frühen 16. Jh. vereinzelt, seit Anfang 18. Jh. häufiger nachgewiesen im Sinne einer Ableitung von —» zitieren2 in der heute veraltenden Bed. 'wörtlich angeführte

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Textstelle', gleichbed. mit —»Zitat a und mit Zitierung, —»zitieren2 la; vereinzelt auch für 'genaue Quellenangabe', gleichbed. mit —»Zitat b. Zitation la: 1385 Worms II 863 mit citacionibus in specie oder per edictum; 1447 Henneberg VII 260 uff soliche Citation und ladunge; 1464 Silesiaca IX 257 die citacio wider; Ende 15. Jh. Quedlinburg 405, 1051 eyne koninglike citacien jegen uns (alle MÖLLER); 1495 Reichskammergerichtsordn. (Zeumer 1904 Quellensammlg. 229) es sol kain citäcion oder ladung auszgeen, sy sey dann auf ansuchen des principals . . . durch den cammerrichter erkant (DWB); Rosenkranz 1493-1517 Bundschuh II 78 hat . . . unser statschreiber ein citacion von dem geistlichen richter . . . an inen gesandt; 1522 Polit. Corresp. I 60 das ein citation auf mein amptsanhalten und pitten . . . erkant ist; Alberus 1540 Nov. Dict. b4h ein ladung odder citatz, drei mal oder ein mal für drei mal geschehen (DWB); Luther 1541 W. LI 543 dazu giengen sie [Päpstliche] mit mir armen so fein bepstisch umb, das ich zü Rom wol 16 tage verdampt war, ehe die citation mir zu kam (DWB); Stumpf 1541 Beschr. IIh citation gen Rom; ebd. XVII" alle Citationes vnd andere Prozess vnd Instrumentum im Concilio aufgericht; Perne der 1544 Process b2h Citation oder ladung; 1549 Reineke d. Fuchs 129 Denn sie [die Papisten] haben durch die grausamen Drohungen und erschrecklichen Beitze der Citationen . . . sich unterstanden, die armen Seelen der Menschen zu verdammen; Termineus 1565 Processus 11 Vorladung heist wenn beklagter vor gericht gefodert wird, vnd ist die Citation ein selbstendig ding, ein anfang vnd grundfeste des Process; Zorn 1570 Wormser Chr. 172 der citation desselben gerichts; Tschudi 1571 Chr. Helvet. II 35c als man aber im die citation nit zuschicken kont, und niemand wüssen mocht, wo er was, do ward dieselb citatz . . . offenlich uffgeschlagen (DWB); Spangenberg 1598 Musica 120 auff des Papsts Citation; 1600 (Wintterlin 1929 Rechtsquellen II 717) da aber je einer uf frembdes gericht geladen, der soll den citazionszettel der obrigkeit stracks überantworten; Sattler 1607 Orthographie 371 Citatio, das ist ladung, die verkündung so auff anruffen des Keysers, auss geheiss des Richters, dem beklagten auff ein gewisse Zeit vor Gericht zuerscheinen, durch den Gerichtknecht, Pedellen oder Botten schrifftlich oder mündlich beschickt; Carolus 1614 Relation 9C hat er widerumb ein ernstliche Citation gefunden; 1616 Bayer. Landrecht 13 citation vnd anhörung; Zeiller 1653 Dialogi 447 Ladung oder citation; Lassenius 1661 Tischreden 143 eine solche Citation und Appellation vor dem Richterstul Gottes begehren; Döpler

1693 Theatrum poem. I 488 gerichtsdiener und bothen, welche die citationes weggetragen und insinuiret (DWB); 1716 Württemberg. LandRecht 63 Von Citation und Fürbott der Partheyen . . . umb Citation und Ladung gebührlich ansuchen . . . die Citationem und Fürheischungen; Goethe 1774 Br. 1184 [in einem Protokoll] nichts denn citation, Fristbitten; Lessing vor 1781 (V 55) man habe ihm in der citation freigestellt, entweder selbst oder durch einen bevollmächtigten zu erscheinen (DWB); 1790 Origines Backel I 273 dem Pfarrer eine Citation ins Konsistorium überbrachte; Keller 1861 Br. u. Tageb. II 526 sie haben mir neulich während meiner abwesenheit eine zitation zukommen lassen (DWB); Holtei 1861 Erz. Sehr. XIX 249 nach wenig minuten stand Oswald [ein Theaterschneider] vor den beiden herren [dem Polizeidirektor und dem Intendanten] weder verlegen, noch erstaunt über diese . . . citation; ebd. XXIV 216 [von Suchanzeigen in der Zeitung] beide citationen gelten einem dichter, der sich den wunderlichen namen Hiler Gesellius zugelegt (beide DWB); Trommel 1893 Lenz 7 Citation zur [theologischen] Staatsprüfung; Bismarck 1902 Br. a. s. Braut und Gattin 474 in 8 bis 10 tagen erhalte ich wahrscheinlich eine telegraphische citation nach Berlin (DWB). Zitation lb: 1789 Journal v. u. f . Deutschland I 68 Geistercitation; Hippel 1793 Kreuz- u. Querzüge II 322 Geistercitation; Meinhold 1826 B. 47 die angebliche Zitation des bösen Feindes [durch eine Hexe]; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 36 „Holl und Teufel!" dachte Heinrich und vergaß in diesem Augenblick seines künftigen Berufes, welcher sich nicht mit derlei Zitationen vertrug. Zitation 2: Eberlin v. Günzburg 1530 S. Sehr. III 190 uberleset yho alle citation odder allegation aus der bibel ym original (DWB); Naude 1706 Messkunst Vorr. 2" Was die Citationes oder Anweisung der angezogenen ö r t e r angehet, die wollen wir so leicht zu finden machen; Elis. Charl. 1718 Br. 229 gott gebe, das meine sittation [zweier Sprichwörter] nicht war mag werden in Englandt (DWB); Sonnenfels 1768 Br. 816 die Ehre einer Citation [in einem Buch]; Muratori 1772 V. d. guten Geschmacke (Übers.) 160 Citationen oder Anführung der Stellen; 1781 Liter. Pamphlete 204 Citation; Herder vor 1803 (VII 555) zu dieser und allen folgenden citationen Matthäus sage ich (DWB); Rehfues 1809 Br. a. Italien 1265 Ein Schwulst von Zitazionen umschanzt die ächten Gedanken; Hei-

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delbg. Jahrb. 11 (1818) 301 Citationen aus Autoren; Wieland 1824 (S. W. XVIII 52) haben sie nicht gelesen und lesen vielleicht noch täglich bûcher . . . mit citazionen zehen tausend andrer bûcher? (DWB); 1867 Grenzboten III 111 wir fahren in wörtlicher Citation fort; Retzbach 1916

Boykott. Einl. VI Zitation der benützten Literatur; Haas-v. Kienle 1952 Lat.-Dt. Wb. 5 nicht minder schwer fiel uns der entschlusz, auf die citation der schriftstellerbelege zu verzichten (DWB).

zitieren1 V.trans., um 1400 im Zuge der Rezeption des römischen Rechts entlehnt aus lat. citare in seiner Bed. 'vor Gericht laden, herbei-, aufrufen, vorladen, auffordern; sich auf die Zeugenaussage jmds. berufen', anfangs auch in unterschiedlichen Schreibungen; a zunächst als Fachausdruck der Rechtssprache in der Bed. 'jmdn. (z.B. einen Kläger, Beklagten, Zeugen) vor Gericht, eine Behörde, ein Amt laden (lassen); vorladen (lassen), bestellen', früher häufig auch, z . B . in den Wendungen nach, gen Rom zitieren, für 'vor ein geistliches Gericht, (bes.) vor den Papst laden' und vereinzelt im Sinne von 'jmdn. vor Gott oder den Teufel (als Richter über den Menschen) laden'; seit dem 16. Jh. allgemeiner verwendet in der Bed. '(kraft der gesellschaftlichen Position, Macht oder Autorität) jmdn. (herb e i r u f e n , an einen bestimmten Ort beordern, zu sich bestellen (lassen); nach jmdm. schicken, jmdn. zu sich kommen lassen, um ihn für etwas zur Rechenschaft zu ziehen, zur Rede zu stellen', gelegentlich leicht ironisch verwendet. Dazu seit Anfang 19. Jh. die Präfixbildung her(-bei-)zitieren 'her(-bei-)rufen, zum Erscheinen auffordern' und in neuester Zeit die vereinzelte adj. Ableitung herbeizitierbar '(jederzeit) herbeirufbar; abrufbar, verfügbar'; vgl. —» Zitation la. b Ende 16. Jh. selten nachgewiesen in der veraltenden Bed. '(Gespenster, Hexen, Geister o. ä.) erscheinen lassen, herbannen, beschwören', vereinzelt auch auf den Geist Verstorbener bezogen; vgl. —»Zitation lb. Dazu seit dem 15./16. Jh. das seltene Verbalsubst. Zitierung F. (-; -en) 'Vorladung; Aufforderung, Bestellung, Berufung' (zu a) und vereinzelt '(Geister-)Beschwörung' (zu b). zitieren a: 14.¡15. Jh. Schausp. M. II 397 wir in zitieren (MÖLLER); Liliencron 1414-18 Text I 141 der Künig von Zypern ward zitirt zuo dem Conzili postulirt; Ii. Jh. Minnereden II 339 der pfennig an dem rechten [Gericht] tut bannen und echten, bevesten und citieren, mit falschen Zungen absolvieren (DWB); 1466 Apog. (1. dtsch. Bibel) XXIV 2 die giengen zu dem richter wider Paulum vnd citierten Paulum (DWB); Unrest vor 1500 Chron. Austriac. o. S. da zytiert er [Papst] den ketzer herrn Jursickhen gein Rom (DWB); öheim um 1500 Chr. 132 citieren und fürhaischen; 1521 Wunderblut z. Wilsnack 13 dass der Priester von seinem Bischof geeschet wurde, der andere eitert; Güthel 1522 Dialogus Q3' Da finde ich wie ain mercklich trost, ja wie ain Christliche freüd, so die alten geschieht und figurn, in das new testament werden citiert oder erfordert; 1527 Libri Actorum 654 Rector, hastu mich aber ain mal eitert vnd arrestert; Zweifel 1527 Chr. 9 gein Würzburg citiert und erfordert; Aventin 1533 S. W. IV 79 von dem brauch her haist noch der gemain man für

recht pieten „laden", das die Lateiner „citirn" haiszen (DWB); Luther 1535 W. XU 133 citirt über hundert meil gen Rom (DWB); Scheurl 1537 Briefbuch II 187 für das Perlament zu Pariss . . . Citirt, sein kriegisch furnemen zu justificirn vnd titulirn; Luther 1540 Tischreden 99 reichstag zu Worms . . . da ist Doctor Martinus vom Kaiser dohin citirt, wie er dan auch hinauss gefaren ist; Stumpf 1541 Beschr. XLIX" für das Concilium citiert vnd erfordert; Perne der 1544 Process II1' citiert vnd beschiden; 1545 Sleidan-Briefw. 61 gen Rom citirt; Schwartzenbach 1554 Synonyma C2" einen mit ladung heischen: für gericht bescheyden . . . cittirn; Waldis 1555 Päpstisch Reich M2b Dass jr nit werd gen Rom citiert, Vnd in gross kost vnd schaden gfürt; 1558 Heidelbg. Statuten 14 diejenigen . . . vom rectore citirt und beschickt werden; um 1564 Zimmer. Chr. II 121 hat aber [Heinrich v. Zimbern] die bezallung lassen ansteen, das die gleubiger herr Gottfriden auf das hoffgericht zu Rotweil citiert haben (DWB); Zorn 1570 Wormser Chr. III citierten den rath gen Mainz; Hertzog

zitieren 1575 Schildwacht A7h [d er Herr] mit dem jungfrewlein [so weit] in die Sachen gerieht, das die tochter ihn auff eine gerumpte zeit, wenn der gute alte vater entschlieff, citiret und bescheidet (DWB); Nigrinus 1592 Von Zauberern 267 gleichwol wird Adam von got zur antwort citiert und gehöret (DWB); H. J. Herz. v. Braunschw. 1594 V. e. ungeraten Sohn 396 Ich citire dich vor das gestrenge Gerichte Gottes, Da soltu Rechenschafft von geben; Spangenberg 1611 Anbindbr. 102 für Gericht citieren; Rinckhart 1618 Jubel-Comödie 9 [Luther] wird endlich durch Gotts Regierung Vnd frommer Leut Vnterhandlung, Vors gantze Römische Reich citirt nach Wormbs; Grimmelshausen 1669 Simpl. 280 [daß der Kaufmann] bancquerot gespielt, und auszgerissen wäre . . . aber, sich wieder einzustellen, citirt worden (DWB); 1677 Schaubühne 26 die ihn innerhalb 30. Tagen für Gottes Thron citirten; Riemer 1684 Polit. Passagier 178 Endlich entschlösse er sich vor die Gerichte zu gehen und den Diebs-Wirth dahin citiren zu lassen; Ertinger 1697 Reisebeschr. 71 so erseucht man den Vogt, das Er mit dem Bittel seine Widerpart wohle citieren lassen . . . citieren die burger ein ander selbst vohrn Vogt; Fleming 1726 Vollk.Soldat 126h hat sich nun ein solcher officier auf eine so schändliche art vergangen, so wird er auf folgende art öffentlich ausgerufen und citirt (DWB); Nicolai 1775 Noth. II 70 wurde vor eine meinetwegen niedergesetzte Kommission citirt; Goethe 1791 (IX 261) Hendrich hat den kupferstecher Müller zum spritzenwesçn citirt (DWB); Laukhard 1792 Leben I 210 Ich wurde [vor den Prorektor] citirt; Schiller vor 1805 (III 136) Ward ich durch einen Expresser nach Hofe citiert ( K E H R E I N ) ; Jean Paul vor 1825 W. III 91 ist sonderbar, dasz der tod, wie gerichte, die schlagflüssigen dreimal zitiret (DWB); Tieck 1828 Sehr. III 394 mein mann [der Barbier], der unglückselige mensch, ist schnell nach hofe zitirt worden (DWB); Goethe vor 1832 (L 113) ich schaffe, dasz man den domprobst grade nach Rom citirt, da will ich gegen ihn fechten (DWB); Holtei 1843 Vierzig Jahre I 255 [der Gutsherr, der] den brummigen koch nach oben entsendete, um den baron herunter zu zitieren (DWB) ; Keller 1857 Br. u. Tageb. II 433 ich wurde versuchsweise auch ein paarmal zitiert, aber schleunigst wieder freigegeben (DWB); Proelss 1891 Modelle 148 citierte; Fontane vor 1908 Math. Möhring 39 mutter und tochter waren immer da und brauchten nicht erst zitiert zu werden (DWB); Raabe vor 1910 S.W. VI 6 ein ding, welches nicht mehr vor gericht zitiert werden kann, ermangelt für ihn jeglicher bedeutung (DWB); Wolf 1948 Zwei a. d. Grenze 51 nicht selten, dasz dr. Pöntsch seinen laboranten abends ins Sprechzimmer zitiert (DWB);

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Süddtsch. Ztg. 30. 11. 1948 ist in der Tat kaum zu bestreiten, daß ein Staatsoberhaupt, das von alliierten Behörden „zitiert" wird und deren „Anordnungen entgegenzunehmen hat", jenem Ansehen nur im Wege stehen würde; ebd. 27. 8. 1960 Bundeskanzler Adenauer empfing Verteidigungsminister Strauß . . . zu der Aussprache um die umstrittene Denkschrift . . . zu der er Strauß aus dem Urlaub nach Bonn zitiert hatte; Grass 1963 Blechtrommel 473 jene Anzeige, die mich als Zeugen, ihn als Angeklagten vor die Schranken des hohen Gerichtes zitiert (WDG). her(-bei-)zitieren: Thümmel vor 1817 W. VIII50 Freund, hast du zum Beschauen mich hercitiert (SANDERS D W B ) ; Brod 1928 Zauberreich 419 herzuzitieren; Stratz 1929 Lili 235 herbeizitiert; Kirst 1965 08/15 888 der herbeizitierte Priester ging auf den Amerikaner zu ( D U D E N ) ; 1973 Hörzu XXIX 53 Anstatt einen Arzt herbeizuzitieren, versteckt er . . . die Leiche ( D U D E N ) . herbeizitierbar: Die Zeit 4. 7. 1980 Freilich ist eine derartige Zukunftsfreundlichkeit ebenso ein Uberzeugungs- und Glaubensding wie ihr Gegenteil. Begründungen für beide Konzepte sind beliebig herbeizitierbar. Zitierung: 15./16.Jh. Osterr. Weistümer III 186 wie sich dann aber die oberkeit und unterthanen der pön und bueszen, oder der citierungen halber gegen einander verhalten sollen (DWB); Fabricius 1588 Surius Chr. 105h citierung und berufung; Dtsch. AZ. 3. 6. 1944 Man kann gespannt sein, ob er bei seiner Zitierung zu Churchill und Eisenhower nach London ohne weiteres zu Kreuze kriechen wird. zitieren b: 1593 Wagnerbuch 8 da er [Faust] die bösen Geister hat können citiren vnd laden, das sie vor jhm erscheinen müssen; Musäus 1782— 87 Volksm. IV 122 [der Wachtmeister] besasz, sagt das gerücht, das verlorne kunstgeheimnisz, sich fest zu machen, konnte geister zitiren (DWB); Geliert 1784 S. Sehr. I 80 Doch eh vier Wochen sich verlieren: So fängt Frontin schon an, den Schwarzen zu citiren. Ach! spricht er, da der Geist erscheint, Ach! darf ich. lieber böse Feind, Noch einer Bitte mich erkühnen?; Schiller vor 1805 (IV 242) es ward beschlossen, den geist des verstorbenen zu zitieren (DWB); Goethe vor 1832 (V 1,209) hexen lassen sich wohl durch schlechte Sprüche citiren, aber die grazie kommt nur auf der grazie ruf (DWB); Erlach 1834 Volkslieder II 288 vierzigtausend geister thut er [Faust] sich zitiren (DWB); Bauer 1836 Überschw. II 117 wollen nicht zitiert sein, gerade wie die Geister; Wil-

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zitieren

brandt 1864 Geister I 101 Geister zu citiren; Fontane 1905 Ges. W. III 4 um den teufel auszutreiben, werde Beelzebub zitiert (DWB); Debio 1921 Gesch. II 87 der geist des Albertus Magnus wurde zitiert (DWB).

Zitierung: 1725 Faustbuch Christi. Meyn. 5 Doch ehe er die Citirung der Geister anfieng, suchte er seine Complexion, ob sie ihm zu seinen Zwecke geneigt.

zitieren2 V. trans., im frühen 16. Jh. entlehnt aus lat. citare in seiner Bed. 'anführen, erwähnen, nennen', eigentlich 'einen Autor, ein Buch oder eine Stelle daraus als Zeugen herbeirufen, als Zeugnis, Beweis heranziehen', vgl. —* zitieren 1 , anfangs in unterschiedlichen Schreibungen; la eher bildungsspr. in der Bed. 'eine Stelle aus einem gesprochenen/geschriebenen Text wörtlich, wortgetreu anführen, (rezitierend) wiedergeben', bes. in Syntagmen wie aus einem Buch, nach einer bestimmten Ausgabe zitieren und ein Buch, einen Autor zitieren; b seit spätem 18.Jh. (mit vereinzelter Beziehung auf —»zitieren1) selten-auch allgemeiner verwendet in der Bed. 'jmdn./etwas (als Autorität, Zeugen; Beweis, Argument) anführen, erwähnen; jmdn. (namentlich, ausdrücklich) nennen, anführen; sich auf jmdn./etwas berufen; auf jmdn./etwas verweisen, Bezug nehmen', in jüngster Zeit vereinzelt speziell im Bereich von Literatur und Kunst für 'mittels expliziter Nachahmung, Kopie, Wiederholung einer sprachlichen/literarischen Form, Struktur, eines Motivs o. ä. zum Zweck der Kritik, der Ironisierung, Stilmischung oder Parodierung auf etwas (z.B. einen Autor, eine Epoche, ein Kunstwerk) anspielen, etwas thematisieren'; c in neuester Zeit fachspr. in der Linguistik in der Bed. 'ein Wort im reflexiven Sprachgebrauch auf der Metaebene erwähnen, gebrauchen (z.B. in einem Wörterbuch)'. Dazu seit spätem 17. Jh. das seltene Verbalsubst. Zitierung F. (-; -en) 'wörtliche Wiedergabe eines Textes oder einer Textstelle' (zu a), 'mittels Nachahmung, Kopie oder Wiederholung einer künstlerischen Struktur bewirkte Anspielung auf ein Kunstwerk zum Zweck der Kritik oder Ironisierung' (zu b) und 'Gebrauch eines Wortes auf der sprachlichen Metaebene' (zu c); im frühen 20. Jh. die vereinzelte subst. Ableitung Zitierer 'jmd., der gerne und/oder häufig zitiert' (zu a). 2 Seit späterem 17. Jh. vereinzelt, im 19. Jh. häufiger in der heute veraltenden Bed. 'eine Quelle, Textstelle, ein Zitat mit Titel, Band und Seite genau angeben, identifizieren; einen Buchtitel anführen, eine bibliographische Angabe machen' (vgl. Zitat b). 3 Im 18./19. Jh. selten nachgewiesen im übertragenen Sinne für 'erzählen, berichten', vor allem in den Syntagmen aus dem/seinem Leben zitieren '(eine Begebenheit, eine Episode o. ä.) aus dem/seinem Leben erzählen, berichten' und sein Leben zitieren 'seine Lebensgeschichte erzählen'. zitieren la: Luther 1524 (XV 591) unsere Widersacher zyttyerent disen text auch (DWB); Emser 1525 Annotationes N6h auss dem heidnischen poetenn Aratro citirt, wie er auch 1. Corinth. 15 Menandrum allegirt; Lauterheck 1559 Regentenbuch 69b citiren dazu die Heilige Schrifft; nach 1565 Analecta Luther. 53 den er [Moses] hat vor auch bücher gehabt und citirt bücher; ebd. 383 ein text kurtz citiren; Nas 1567 Antipap. I 154" aber

was sag ich von dem falschen citiern der patrum (DWB); Nigrinus 1592 Von Zauberern 267 es gilt da kein juristerey . . . noch das verschmitzte repliciern, an stul zu Roman das appelliern, dess keysers codicil [Handschreiben] citiern (DWB); Hartmann 1678 Anatomia 153 Die zehen Gebot . . . werden ihnen gar selten allegirt und citiret; Lebenwaldt 1681 Teufels List V129 Einer auß den Disputenten citirte den Bonacin; Dalhover 1687

zitieren Gartenbeetlein I 332 wie dessen unterschiedliche Exempel Hieronymus Canini, von mir schon oft citiert; Elis. Charl 1707-15 Br. 482 dasz alte liedt, so ihr cittirt, habe ich nie gehört; Wolff 1719 Gedanken 171 Und wäre dannenhero zu wünschen, dass man sich auch ausser der Mathematick befliesse nichts anzunehmen, was man nicht vorher schon abgehandelt hätte, und allezeit den Ort entweder in dem vorhergehenden unseres Buches, oder in einem anderen Buch zu citiren, da man es ausgemacht zu seyn vermeynet; Fassmann 1719 Kriegs- u. Soldatenstand 8 die . . . Bedeutung des citirten Verses; Bertram 1728 Einleitg. 206 sondern man tadelt hier nur die Citir-Seuche solcher Leute, die bey den geringsten Dingen den consensum aller vorhandenen Auctorum bey bringen; Meyer 1746 Ehre 81 die kleinen Scribenten citiren einander sehr fleißig; Sonnenfels 1768 Br. 42 Anführen wäre das Wort: aber ich habe citiren beybehalten, weil es eine Anspielung auf das Gelehrttun ist; Lavater 1775 Physiognom. Fragm. I 131 Ich citire ungern, was schon zehnmal citirt worden; Dressler 1777 Theaterschule 19 die obigen schon von mir citirten Worte; Knigge 1789 Umgang II 64 das Citiren und Berufen auf fremde Autoritäten; 1789 Berl. Archiv d. Zeit I 305 Übrigens habe ich diese Stelle nur aus dem Gedächtnisse citirt; Herder vor 1803 (VII 558) bei den juden wars mit die schönste weise zu citiren, wenn durch anspielung und Veränderung eines buchstabens ein treffender anderer sinn . . . verwandt wurde (DWB); 1837 Zivilist. Magazin VI 176 Der Nähme Citiergesetz; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre I 103 Heinrich zitierte lachend die zwei berühmten Zeilen des Hamlet; ebd. 163 er wurde feuerrot, als einer der Redner eine Stelle aus seinen Werken zitierte; Bauernfeld 1852 Zu Hause VII 102 Du hast Goethe citirt; Holtei 1861 Erz. Sehr. XIII 166 wäre papa Rätel hier, der würde darauf eine passende stelle aus einem lieblingsdichter citiren (DWB); Raabe 1864 Hungerpastor 459 Vergeblich zitierte der Pfarrer aus der Pfarrbibliothek; Vamhagen v. Ense 1871 Tageb. VI 157 die nationalzeitung zitirt in gesperrter Schrift das gesetz des parlaments (DWB); Eckstein 1889 Camilla 165 Der Pädagoge nannte sogar mehrere Jahreszahlen und citirte die städtische Chronik; Schröder 1892 Stil 6 den Gelehrten . . . der die Häkchen und Stäbchen für ihr Citierdeutsch in die Feder diktiert; Liliencron 1896 Poggfred XII 86 ich zitiere meine Zeitungsvettern; Kahlenberg 1901 Eva Sehring 112 sie liest, sie liebt die poeten. sie zitiert sie stundenlang (DWB); Hesse 1904 Camenzind 70 Daß seine Witze keineswegs immer geistreich waren, häufig sogar nur auf das Citieren eines Buchverses hinausliefen; Fontane 1905 Ges. W. I 59 tante Schorlemer . . . zitierte dann . . .

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mit . . . deutlicher stimme; unter gottes schirmen bin ich vor den stürmen alles bösen frei; Raabe vor 1908 S. W. IV 234 sie . . . so mit dir hadern, sollen umkommen! zitierte kreischend der magister (beide DWB); Dtsch. AZ. 5. 4. 1944 Über das Zitieren (Uberschr.) Der empfohlene Weg, gegebenenfalls „halbrichtig" zu zitieren, könnte . . . leicht zu Folgen führen, die der Verfasser auch nicht gutheißen würde; ebd. 1. 6. 1944 Um nochmals mit dem zitierlustigen kriminalistischen Oberlehrer zu sprechen; Mann 1946 Lotte 125 ich zitiere wörtlich (DWB); Klemperer 1949 L. t. i. 16 man zitiert immer wieder Talleyrands satz, die spräche sei dazu da, die gedanken des diplomaten . . . zu verbergen (DWB); Feuchtwanger 1950 Simone 99 streitbar reckt er den köpf . . . und zitiert verse von Victor Hugo (DWB); 1955 Dies Univ. III 43 [sei] ein besonderer Fall humanistischen Verhaltens erwähnt: das Zitieren; Fischer 1966 Kunst 193 Vom Unfug des Zitierens; Die Zeit 20. 2. 1981 als sie mir, oft ganz hergeholt, diese beiden Vokabeln immer wieder zitierten; ebd. 27. 11. 1981 Die Tischrede Breschnjews wurde ausführlich zitiert. Zitierer: Dtsch. Rundschau 178 (1919) 89 [er] ist ein ehrlicher Zitierer. Zitierung: Abr. a S. Clara 1685 Gack 264 mit citirung der grammatic; Fontane 1905 (Ges. W. IV 71) unter Zitierung einer gefühlvollen stelle; Mühsam 1949 Namen u. Menschen 217 die auf Zitierung in der presse bedachten . . . geistreicheleien (alle DWB). zitieren lb: Hermes 1789 F. Töchter I 230 Messieurs! sagte er, und citirte einen Namen; Vamhagen v. Ense 1861 Tageb. 1340 man zitirt ihn [eine Person] als neuen beweis, dasz die bürgerlichen zu so hohen stellen nichts taugen (DWB); Holtei 1843 Vierzig Jahre 13 es gab eine aristokratie, und man zitirte in den jähren . . . nicht zwei oder drei namen, als die alleinigen träger . . . vornehmer geselligkeit in Breslau (DWB); Dehrn 1919 Gesch. 1 188 das oben zitierte elfenbeinrelief (DWB); Hesse 1943 Glasperlenspiel I 372 das jahresspiel, als chinesenschauspiel noch heute bekannt und nicht selten zitiert (DWB); Münch. N. N. 11. 12. 1944 Solange deutsche Soldaten kämpfen, ist es ein Verbrechen, die Frage des deutschen Sieges überhaupt nur zu zitieren; Berl. Ztg. 1955 (16, 4") lassen wir zu dieser frage den eingangs zitierten Ernst v. Salomon sprechen (DWB); Sonntag 7. 8. 1955 selten [ist] die tagung von Schriftstellern, wo einmal nicht die erziehung des menschen programmatisch zitiert wird (DWB); Rehfisch 1957 Hexen 92 die soviel zitierte Staatsräson (WDG); Althaus/Henne/Wiegand 1980 Lex. d. germ. Lin-

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zivil

guistik 736 Alle Figuren des Romans versuchen Orientierung zu finden in „zitierten", „simulierten" Lebensschemata; ebd. Eine gleichfalls an Tradition orientierte . . . Lösung manifestiert sich in der vielschichtigen Tendenz zur ironischen Zitierung voraufgegangener Literatur. Gerade der „poeta doctus" . . . wird in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition immer wieder dazu geführt, sie zu zitieren . . . auch die Form des Romans selbst ist geprägt durch experimentelles . . . Zitieren der klassischen Romanform . . . In ähnlicher Absicht zitieren die Dadaisten Alltagsund Bildungsjargon, um aufzudecken, wie Sprache automatisch abschnurrt und nur noch in vorgeprägten Wortsequenzen, Versatzstücken verwendet wird. Zitierung: Althaus/Henne!Wiegand 1980 Lex. d. germ. Linguistik 736 Eine gleichfalls an Tradition orientierte . . . Lösung manifestiert sich in der vielschichtigen Tendenz zur ironischen Zitierung voraufgegangener Literatur. zitieren lc: Lyons 1980 Semantik (Übers.) I 19 Eine terminologische Unterscheidung, die . . . vorgeschlagen wurde und die man jetzt in der Literatur ganz häufig findet, ist diejenige zwischen Gebrauch („use") und Zitieren („mention"). In einem Satz wie „Was ist die Bedeutung von 'rhinolalisch'?" wird von dem Wort 'rhinolalisch' gesagt, daß es zitiert wird; in einem Satz wie „Sie findet seine leicht rhinolalische Sprechweise ganz charmant" wird dieses Wort dagegen normal gebraucht. Zitierung: Lyons 1980 Semantik (Übers.) I 347 Zu der Unterscheidung zwischen Gebrauch und Zitierung gibt es jetzt eine ganze Menge an philosophischer Literatur . . . Mit der Unterscheidung zwischen Gebrauch und Zitierung darf die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Bedeu-

tung nicht verwechselt werden, die von den . . . Alltagssprachen-Philosophen . . . viel diskutiert worden ist. zitieren 2: Becher 1668 Method. didact. 2" von anderer Leut Arbeit ihre Bücher schreiben, ihnen darzu nicht einmal die Ehr thun, daß sie in ihren Scartecken sie citirten, aus Furcht, man möchte den Diebstahl mercken; Tentzel 1689 Unterredgn. 1207 [auf ] Arabische und andere Manuscripta sich beruffet, jedoch sie nur bloß citiret, und die Worte nicht anführet; Herder 1767 Lit. I 147 Wenn ich widerspreche oder zustimme, citire ich blos, und überlasse dem Leser . . . die Citationen selbst aufzuschlagen; ]. Grimm 1820 Briefw. I 46 bei hascharlich citiren sie nichts (DWB); Goethe vor 1832 (XXVIII110) unter meiner Sammlung befinden sich einige seiner gedruckten bogen, wo er an dem rande eigenhändig die stellen citirt hat, auf die sich seine andeutungen beziehen (DWB); J. Grimm 1840 Briefw. II 711 wie ist wol Hagens Sammlung zu citieren? (DWB); ebd. 712 eine solche schmähliche zitierweise befolgt zum theil auch Graff (DWB); ders. 1854 Von. DWB XXXVII man kommt also nothwendig darauf zurück, nach band und seite zu citieren (DWB); Brunn 1898 Kl. Sehr. III 54 die früher zitierten quellen (DWB); Arnold 1913 Allgem. Bücherkde. 10 bibliographien, die man immer nach dem berichtsjahr zitiert (DWB); Kömer 1949 Bibl. Hdb. 10 [die] bündigste form des zitierens war geboten (DWB). zitieren 3: Elis. Charl. 1715 Br. 683 ihr dörfft nicht fürchten, dasz ich eüch mein leben cittire, ich cittire mein leben keinen menschen; Bettine 1843 D. Buch gehört d. König I 261 Ich hab nicht zeit die bilder meiner Vergangenheit. . . ihnen alle zu zitiren; Holtei 1861 Erz. Sehr. XXXV 76 erlauben sie mir, eine begebenheit aus meinem künstlerleben zu citiren (alle DWB).

zivil Adj., im früheren 16. Jh. entlehnt aus lat. civilis 'den Bürger betreffend, bürgerlich; voll Bürgersinn, dem Gemeinwohl dienlich; höflich, leutselig, populär; den Staat(-sdienst) betreffend, öffentlich, Staats-; den (nichtmilitärischen) Zivildienst betreffend' (zu civis 'Staatsbürger; Untertan'), anfangs auch in der Form zivilisch; la bezogen auf den Menschen als Bürger, Mitglied eines Staatswesens, einer Gemeinschaft in der Bed. 'den bürgerlich-gesellschaftlichen, öffentlich-politischen Bereich, den Bürger betreffend, bürgerlich', meist auf Verhältnisse bezogen, die den herrschenden bürgerlich-gesellschaftlichen Normen entsprechen, gelegentlich auch auf die Privatsphäre des Bürgers bezogen im Unterschied zum Berufsleben, vgl. d; b seit späterem 16. Jh. im juristischen Bereich im Ggs. zu strafrechtlich in der Bed. 'das bürgerliche Recht, den Staatsbürger als (privat-)juristische Person,

Zivil

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die Rechtsfähigkeit des Bürgers betreffend; privatrechtlich', nur attributiv und meist als Bestimmungswort in Zss. wie Zivilrecht 'Gesamtheit der Rechtsnormen zur Regelung der Vermögensverhältnisse und der persönlichen Beziehungen der Bürger untereinander; Privat-, bürgerliches Recht' (Ggs. Strafrecht), Zivilkammer 'Spruchkammer der ordentlichen Gerichtsbarkeit für privatrechtliche Streitigkeiten, Zivilsachen beim Landgericht' (Ggs. Strafkammer), Zivilprozeß 'Gerichtsprozeß zur Feststellung und Verwirklichung privater Rechte' (Ggs. Strafprozeß), Zivilklage 'privatrechtliche Klage', Zivilstand 'Rechtsfähigkeit des Bürgers im bürgerlichen Recht; Familien-, Personenstand'; seit Mitte 19. Jh., bezogen auf staatlich legalisierte Eheschließungen, speziell in der Bed. 'standesamtlich; vom Staat, gesetzlich anerkannt' (Ggs. kirchlich, kirchenrechtlich), bes. in den Zss. Ziviltrauung 'Eheschliessung vor einem staatlichen Beamten' und Zivilehe 'standesamtlich, nicht kirchlich geschlossene Ehe', vgl. a; c seit frühem 17. Jh. auf den nichtmilitärischen Bereich bezogen für 'außerhalb des Militärs/Militärdienstes (stehend)', früher häufig auch für 'staatlich, öffentlich-politisch', z.B. von Gebäuden, nur attributiv und meist als Bestimmungswort in (teilweise fachspr.) Zss. wie Zivilbevölkerung 'nicht zu den Streitkräften eines Staates gehöriger Teil der Bevölkerung', Zivildienst (BRD) 'für den Kriegs- bzw. Militärdienst außerhalb der Bundeswehr zu leistender Ersatzdienst' mit der dazugehörigen Personenbezeichnung Zivildienstleistender, dafür heute auch die Kurzform Zivi M. (-s; -s), Zivilverteidigung (BRD) 'von allen erwachsenen Zivilisten im Kriegs- bzw. Verteidigungsfall gesetzlich zu leistende, lebenswichtige nichtmilitärische Aufgaben wie z.B. Aufrechterhaltung der Staatsund Regierungsgewalt, Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung vor Kriegseinwirkungen, Versorgung und Bedarfsdeckung der Bevölkerung und der Streitkräfte usw.' und (DDR) „System von Maßnahmen, die in soz. Staaten von Zivilpersonen durchgeführt werden und dem Schutz der Bevölkerung, der Sicherung des Soz. sowie der Erhaltung und Festigung des Friedens dienen" (WDG), Zivilschutz (BRD) 'der in Selbstschutz, Warndienst, Katastrophenschutz, Schutz von Kulturgut u. a. sich gliedernde Teil der Zivilverteidigung', Zivilregierung 'von Zivil-, nicht dem Militär angehörigen Personen durchgeführte Regierung' (Ggs. Militärregierung, Junta), Zivilbeschäftigter 'Person, die bei den Streitkräften beruflich tätig ist, aber nicht Angehöriger der Streitkräfte selbst ist', Zivilstand 'Gesamtheit der im bürgerlichen (Berufs-)Leben stehenden Personen' (Ggs. Soldatenstand), Zivilkleidung 'bürgerliche Kleidung' (vgl. —* Zivil) und bes. Zivilcourage (Bismarck 1864), zunächst auf Militärpersonen bezogen, dann auch allgemeiner für 'Mut, seine Meinung, seinen Standpunkt auch unter schwierigen Umständen (gegenüber Vorgesetzten) unerschrocken und offen zu äußern, zu vertreten, durchzufechten', vgl. a; von daher seit Anfang 18. Jh. auch das Subst. Zivil N. (-s; ohne PI.), früher vereinzelt Zivile, gelegentlich leicht ironisch oder abwertend verwendet in der kollektivischen Bed. '(Gesamtheit der) Nichtmilitärs, Zivilpersonen; Zivilbevölkerung', auch für 'Zivilstand' und '(gesamter) Bereich des nicht dem Militär zugehörigen öffentlich-gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Lebens'; d seit Mitte 17. Jh., bezogen auf eine dem Menschen als Mitglied einer kulturell fortgeschrittenen Gesellschaft gemäße Verhaltensweise, Lebensform o. ä., früher auch zur Abgrenzung von den Sitten der als primitiv und kulturell rückständig eingeschätzten, (noch) nicht zivilisierten, staatlich organisierten Völker, in der Bed.

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'den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, Verkehrs- und Umgangsformen entsprechend, mit den gesellschaftlichen Konventionen konform; gesellschaftlich gewandt (auftretend)', gleichbed. mit —* zivilisiert, heute zunehmend abgeflacht (und ironisch) verwendet für 'anständig, umgänglich, den Benimmregeln entsprechend' (vgl. 2); dazu seit späterem 16. Jh. das aus lat. civilitas in seiner Bed. 'Höflichkeit, Leutseligkeit' entlehnte, heute nur noch vereinzelt gebuchte Subst. Zivilität F. (-; vereinzelt -en) 'Höflichkeit, Anstand, Einhaltung der gesellschaftlichen Umgangsformen', vereinzelt, wohl unter frz. Einwirkung, auch pl. für 'Höflichkeitsbezeugungen'. 2 Seit späterem 17. Jh. im kaufmännischen Bereich auf den Preis von Waren, Gütern o. ä. bezogen, zunächst als Charakterisierung einer bürgerlich-zuvorkommenden Verhaltensweise (vgl. ld), dann zunehmend abgeflacht in der Bed. 'angemessen, nicht übersteigert, anständig, annehmbar', meist im Syntagma zivile Preise (vgl. humane Preise). zivil la: Luther 1539 Konziliis L 518 hetten wir diese göttliche, geringe, verechtliche . . . bürgerliche werck angericht [Nächstenliebe] so würden wir, ob gott wil, alsdenn auch ire geistlichen kirchisschen werck, von fleisch essen, von kleidern, von tagen etc. anfahen zu thun. Aber sie haben gut thun . . . darumb ists billich, das sie über solche unsere civilissche werck stercker und höher werck nach der kirchen oder veter gehorsam furnemen (DWB); Dannhauer 1642 Katechismusmilch I 516 als wann gefragt wird, ob der gemein civil- oder Kunsttag, verstanden werde, ob er 24. Stunden, oder nur so viel Stunden als die Sonn scheint in sich begreife?; Becher 1668 Discurs 4 eine Civil Gemeind; ebd. 7 dass also der Bauersmann . . . der Grund von dem Civilstand [Gemeinwesen] und dessen societät ist; ebd. 151 dass die aechte definition einer Civil societät seyn sol, eine Volckreich Nahrhaffte Gemeind, und eine Republic; Becher 1668 Method. didact. c 3h ehrliches und civiles Leben; Musig 1726 Licht d. Weisheit 1113 Wenn allein eine wohl-eingerichtete Republ. und gute Civil-Ordnung den Nahmen der Weissheit verdienen soll, so würden die Chineser denen Europäern wohl wenig nachgeben; Stahl 1734 Salpeter Vorr. 3 zum Civil-Nutzen; Herder 1774 (VII 295) rings um den kleinen Sprengel dieses alten, unbekannten mannes war eine menge junger, galanter, gelehrter civilpriester — des Jahrhunderts rechte blühte! (DWB); Köln. Ztg. 25. 2. 1916 Zivil . . . Schreiben wir es mit kleinem Anfangsbuchstaben, dann ist es soviel wie bürgerlich; Dombrowski 1919 System I 11 in meinem zivilen Leben; NZ. (Basel) 30. 5. 1949 [ein junger Mann, der nichts gelernt hat] kann sich kaum mehr zurechtfinden in einem „zivilen" Leben; die menschliche Tragödie nimmt ihren Fortgang; Mühsam 1949 Namen u. Menschen 180 [Die Schauspieler] haben dann im zivilen Leben das

bedürfnis, sich zu geben, wie sie wirklich sind (DWB); Mannh. Morgen 12. 3. 1982 Prostituierte, die ihrem Gewerbe den Rücken kehren, soll . . . die Umschulung in einen „zivilen" Beruf finanziert werden. zivil lb: 1560 Bad. Weist. I 1,14 aber andere gebot, verbot und geringe verbrechungen in civilund bürgerlichen Sachen . . . sollen die vogtsjunkern . . . zu strafen macht haben; Stumpf 1606 Schweizerchr. 622" [Oberport und Unterport] sind in civilsachen zwey unterschidliche gericht . . . in criminalsachen aber ist es nur ein hochgericht; nach 1629 österr. Weist. I 126 ob der schlechten civil- oder gemainen straffen (alle DWB); Abele 1658 Gerichtshändel II 294 civilsachen; Thomasius 1701 Kl. Sehr. 226 sondern gar viel Constitutions derer heydnischen Kayser in Civil Sachen heilsamlich gegeben worden; Beust 1743 Consiliarius 77 Civil-Recht mit Civil-Verrichtungen umgehet; Bülau 1766 Z. d. Nationalgeist 171 Civilprocesse; Humboldt 1792 Ideen I 181 entspringen Polizei-Civil- und Kriminalgesetze, um den gewöhnlichen Ausdrücken treu zu bleiben; Schmalzl 1792 Naturrecht 29 Civil-Besitz; Müller 1812 Verm. Sehr. II 198 alle kunstbetrachtung nimmt die form eines civilprozesses oder eines todtengerichts an (DWB); Buchholz 1821 Taschenb. 356 Der Civil-Codex unterschied sich . . . nicht wesentlich von demjenigen, der seine erste Entstehung Bonaparte'n verdankte; Athenstädt 1823 Eur. II 127 Man sollte sie hinfort nicht mehr zurücksetzen, sondern sie überall den Civil-Richtern gleich machen; 1830 Jahrbücher d. Gesch. II 396 Civil- und Criminal-Gerichtsbarkeit; ebd. 1832 (197) Statistik der Civilrechtspflege; Pückler 1840 Bildersaal I 471 Die Heirath ist dort ein bloßer Zivilact; Heine 1854 (S. W. VI 64) als ich heiratete, wollte ich auch kirchlich getraut

zivil werden, obgleich hierzulande die gesetzlich eingeführte Zivilehe hinlänglich von der gesellschaft anerkannt ist (DWB); Kroneuml 1860 Kapitän 122 Ortsvorsteher . . . welcher den Akt der Civiltrauung vollzieht, das junge Ehepaar in die Civilstandsregister einträgt; 1863 Bilder a. Paris I 289 Der Graf machte nun noch eine Civilklage auf Rückgabe der fünfundzwanzigtausend Franken anhängig; 1866 Grenzboten III 3 die Weltgeschichte sei kein Civilprocess; Stöckl 1877 Materialismus 91 An die Stelle der religiösen Ehe muss die Civilehe treten; Monatsschr. (Nathasius) 1 (1879) 599 Das neue Civilstandsgesetz von 1874; Allmers 1900 Marschenb. 366 civilgerichte wurden in bestimmten kirchendörfern, criminalgerichte aber stets in dem kirchspiele gehalten, aus dem der Verbrecher war (DWB); Weber 1907 Ehefrau 314 Von den Grossstaaten führte zuerst Frankreich in der Revolutionszeit die Zivilehe . . . durch; Kronberg 1929 Jugend o. S. zivile Trauung; Voss. Ztg. 5. 9. 1931 Der heutige Zustand in Österreich erlaubt Katholiken, die zivilrechtlich geschieden sind . . . auch die Wiederverheiratung; LokalAnz. 9. 7. 1933 Der Reichsminister . . . hat verfügt, daß . . . der bisherige 8. Zivilsenat am Reichsgericht aufgelöst wird; Hartmann 1935 Ethik 386 die objektiven prägungen im Staatsrecht, Zivilrecht, strafrecht usw. sind sittliche Schöpfungen der völkerindividuen (DWB); Süddtsch. Ztg. 2. 5. 1952 Die Abschaffung der obligatorischen Zivilehe als erste Forderung der Christen an ein neues Ehe- und Familienrecht befürwortete der Erzbischof von Köln; ebd. 7. 1. 1954 für die evangelische Kirche bestehe keine Veranlassung, die Aufhebung der obligatorischen Ziviltrauung zu fordern; Stuttgarter Ztg. 3. 2. 1965 Karlsruher Zivilsenat überlastet (Uberschr.) Die anhängigen Zivilprozeßrevisionen betrugen bei Jahresabschluß 2871; ebd. 20. 12. 1969 Das Bundesjustizministerium hat einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozeßordnung vorbereitet; FAZ 15. 10. 1970 Der Alltag des Zivilrichters ist nicht unpolitisch (Uberschr.); ebd. 14. 2. 1972 Der Referentenentwurf entspreche in den Grundzügen den Forderungen des Richterbundes, zumindest was die Zivilgerichtsbarkeit anbetrifft.

zivil l c : Furttenbach 1630 Architect. mart. 68 Seind 13. Theil oder Quartier von lauter Burgershäusern, darzwischen aber werden noch etliche Kirchen, Gottshäuser, Spitäler, Kornböden, und dergleichen Civilische oder Politische Gebäw nach jedes Herzen belieben eingetheilt; ders. 1641 Architect. priv. 53 civilischen Gebäwen; Heidemann 1664 Architectura militaris III 25 mit behülff vnd zuerichtung eines Civil-gebäues oder Schlosses; 1672 Interims-Ordinantz C3h Civil-Hohen und 26 Fremdwörterbuch

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Niedern Bedienten; Sturm 1714 Anw. (Architektur) Bb Civil-Bau-Kunst; Fr. W. I 1722 Instr. 71 eine Menge inutile Pensions und civilbediente; 1746 Heidelbg. Urkb. I 421 militär- oder civilchargen; Stigler 1757 mathemat. Wiss. Vorr. 1" die zu einem Civil- oder Militär-Bau gehörige Materialien; ebd. 239 Die Architektonik, oder CivilBaukunst; Geliert 1758 Br. VIII 152 Die Civilund Militairbesuche; Moser 1759 Herr u. Diener 275 Die Subordination ist in dem Civilstande aus sichern Gründen nicht so streng, als in dem Kriegsstande; Breitenfels 1766 Swift VIII115 über diesen punkt ist die civil- und militarpolitik einander immer entgegen gewesen (DWB); Comenius 1769 Orbis II 19 Civil- und Kriegs-Bau-Kunst; Goeze 1778 Streitschr. 136 Civil- und Militairstande; Archenholz 1787 England III 374 Civil- und Militärpersonen; Müller 1787 Waldheim II 77 zwischen Civilbedienten und Soldaten; Laukhard 1794 Feldzug I 55 Civil-Hof und Kriegsstellen; 1801 Parole-Buch 18 Militair- und Civilbehörde; Goethe 1809 Wahlverw. XX 249 Officiere . . . zogen sich herbei; am Civilstande fehlte es auch nicht; ders. 1809 M. u. R. Nr. 36 Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Civilstande; Heffner 1816 (Chroust, Würzburg 58) Civilstand [vom] Militairstand [geschieden]; Hauff vor 1827 (S. W. III III) das groszkreuz des civilverdienstordens (DWB); 1840 Urania 18 trat er in Civilstaatsdienste und lebte von einer nicht sehr reichlichen Besoldung sparsam; Hackländer 1845 Wachst. V 309 Ihre Berechtigung für eine ZivilVersorgung hat sich durch die vergangene Zeit noch vermehrt; Dingelstedt 1847Jusqu'à la mer 26 Von den ungeheuern Civil-Casernen des Südens; Gutzkow 1848 Deutschland 195 die Offiziere, die nicht im Dienste sind, werden sich der Civilkleidung bedienen dürfen; Mommsen 1848 Reden u. Aufs. 370 wir waren simple Civilfreiwillige der unnützesten Art; Wickede 1854 Soldaten-Leben II 68 die Anschaffung eines einfachen aber anständigen Civilanzuges; Stahl 1856 Staatslehre 99 Damit ist nicht gesagt, daß der König die persönliche Gabe des Feldherrn haben müsse, er braucht ja auch die Gabe der Zivilregierung nicht zu haben, das liegt in der Erblichkeit; Dittmann 1858 Landw. I 163 Wer ohne eigne Erfahrung einen Acker drainiren will, der thut wohl, sich dabei den Beistand eines sachkundigen Mannes zu verschaffen; wozu man freilich hier . . . noch nicht wie in England und Belgien, Civil-Ingenieure verwendet; Kroneuml 1860 Kapitän I 129 bin ich im Besitz einer reichen Civilgarderobe; Varnhagen v. Ense 1861 Tageb. VI 63 der könig erläßt den befehl, dasz die . . . minister den titel . . . excellenz nur solange führen als sie im amte sind; im zivilstande soll nur durch die ernennung zum . . . rath das

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prädikat excellenz bleibend werden; Mahler 1864 Über d. Eider 74 Arzt . . . der seiner behaglichen und bequemen Civil-Praxis entrissen und zur Armee eingezogen war; Hohenlohe-Ingelfingen 1864-70 Leben III 331 daß die Cholera bei der Truppe vollständig aufhörte . . . bei der Zivilbevölkerung mit größerer oder geringerer Heftigkeit ausgebrochen war; Hartmann 1866 Erlebnisse 97 als die Schleswig-Holsteinische Armee schon ein Jahr später aufgelöst wurde, waren meine in ihr dienenden ehemaligen Kameraden brotlos, bis sie aus Mitleid diese oder jene kleine Zivilanstellung erhielten; Voit 1881 M-G. 107 Das Kriegsministerium teilt die ihm eingelangten Gesuche dem betreffenden Zivilstaatsministerium mit; Jahns 343 Während sich in allen ande1885 Heeresverf. ren Ländern „Civilstaat" und „Militärstaat" gleich feindlichen Brüdern gegenüberstanden, schweisst Friedrich Wilhelm sie durch gemeinsame Arbeit zusammen; 1888 Grenzboten I 13 verschiedene Behandlung von Militär- und Zivilpersonen; 1888 Unsere Zeit 1333 Das stolze . . . Wesen der russischen Bojaren im Militärrocke imponiert den Persern viel mehr als die Civildiplomaten; Rabenstein 1891 Dtsch. Soldatengesch. 13 das Civiltragen ist ausser auf Jagd . . . verboten; Kacziany 1891 Montur (Übers.) 27 „Ist der Freiwillige da? — Ich bin da!" — „Ich bin da, ich bin da!" Was ist das für eine Zivil-Redensart!! Zugsführer, warum unterrichtet man nicht diesen Re1898 kruten, militärisch zu sprechen; Hansjakob Erzbauem 389 Was für ein „grosses T i e r " ist ein Kommandierender General, so lange er aktiv, und wie klein und unbeachtet ist der Mann, sobald er als einfacher Zivilmensch herumläuft; Friesen 1910 Erinn. III 397 Gesetz, einige Abänderungen der gesetzlichen Bestimmungen über die Verhältnisse der Zivilstaatsdiener betreffend; Bloem 1910 Sommerlt. 49 was sind denn Sie eigentlich im Zivilverhältnis?; Liter. Echo 18 (1915/16) 492 Bismarck hat das Wort von der „Zivilcourage" geprägt, die er dem deutschen Volk für die Jahre des Friedens

gewünscht; Klemm 1924 Was sagt Bismarck? II

452 bekam er auch Zivilcourage — den Mut der eigenen Überzeugung; Wilke 1930 Erinn. 214 Das drakonische Verbot des Ziviltragens war in Berlin in der Tat undurchführbar; Ber. d. Dtsch. Hochschule f . Politik 7 (1930) 152 dass nach einem Fall von Paris vielleicht „Zivilstrategen" das französische Heer wieder vorwärtsgepeitscht hätten; Berl. Illustr. Nachtausg. 28. 8. 1931 daß . . . Offiziere Zivilpersonen mit der Pistole bedrohen; ebd. 14. 3. 1933 Wie so viele Weltkriegskämpfer mußte sich auch Benno v. Arerit . . . einen Zivilberuf suchen; ebd. 8. 6. 1933 er glaube, daß die zivile Fliegerei dem Frieden Vorschub leiste; LokalAnz. 23. 8. 1933 Der deutsche Arbeitsdienst sei

rein ziviler Natur; Berl. Börsen-Ztg. 25. 5. 1935 des furchtbaren Unglücks . . . den ein neuer Krieg für die Zivilbevölkerung mit sich bringen würde; Dtsch. AZ. 14. 8. 1935 die . . . Umwandlung von Zivil- in Kriegsfahrzeuge; Münch. N. N. 4. 2. 1942 daß nach Eingliederung der australischen Heimatwehr in die reguläre Armee nun mit der Ausbildung einer „Zivilarmee" für den Guerillakrieg begonnen werden soll; ebd. 23. 10. 1944 Der Zivilreiseverkehr im Westen ist in Frontnähe nur mit besonderem Durchlaß-Schein gestattet; Süddtsch. Ztg. 2. 11. 1945 Statt Militärregierung Zivilverwaltung (Uberschr.); Feuchtwanger 1948 Geschw. Oppermann 270 der richter trug freilich keinen schwarzen talar, sondern einen gewöhnlichen zivilanzug ( D W B ) ; Wort u. Wahrheit 5 (1950) 882 die Maasenliquidierung wehrloser Zivilbevölkerung durch . . . Flächenbombardements; Süddtsch. Ztg. 27. 5. 1953 Der . . . farbige Zivilamerikaner . . . ist . . . aus dem Gefängnis in München ausgebrochen; ebd. 30. 6. 1953 Das Arbeitsministerium hat jetzt die Durchführungsverordnungen zum neuen bayerischen Gesetz über das an Zivilblinde zu zahlende Pflegegeld erlassen; ebd. 25. 4. 1957 Erhebungen darüber anzustellen, wie viele Kriegsgefangene, Zivilinternierte und Zivilverschleppte . . . in das Bundesgebiet . . . entlassen worden sind; Pribilla 1957 Mut 58 Die Häufigkeit der soldatischen Tapferkeit und die Seltenheit der Zivilcourage; Süddtsch. Ztg. 21. 3. 1959 Zivilblinder Bürstenmacher . . . wünscht Bekanntsch. eines netten Mädels (Anzeige); Stuttgarter Ztg. 16. 1. 1962 Nur für Militär. „Zivile" Kinder möchten im Bundeswehrbus mitfahren (Uberschr.) Die Frage, ob und wieviele nicht aus Soldatenfamilien stammenden Kinder aus Stetten . . . mit einem Omnibus der Bundeswehr nach Sigmaringen zur Schule fahren dürfen, beschäftigt . . . zahlreiche Behörden; Offenburger Tagebl. 12. 3. 1962 In Bonn wurden jetzt Einzelheiten aus dem Entwurf für ein Gesetz über einen Zivildienst im Verteidigungsfall bekannt. Demnach sind alle Männer vom 18. bis zum 65. Lebensjahr und alle Frauen vom 18. bis zum 55. Lebensjahr zivildienstpflichtig; Süddtsch. Ztg. 13. 3. 1962 Zivile Lasten (Uberschr.) Woran mag es liegen, daß man in Bonn zum Wort zivil ein gespanntes Verhältnis hat? Der Luftschutz wird regierungsamtlich — ein wenig verwirrend und überdies grammatisch falsch — als ziviler Bevölkerungsschutz bezeichnet. In dem Appell von Bund und Ländern an die westdeutsche Bevölkerung, beim Luftschutz mitzuhelfen, war, neuerliche Komplizierung, von der Zivilverteidigung die Rede, obwohl auch sie im wesentlichen den Luftschutz umfaßt. Am W o chenende hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf über den Zivildienst gebilligt (der nicht mit

zivil dem zivilen Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer zu verwechseln ist); Offenburger Tagebl. 3. 11. 1964 Der Soldat soll nicht nur zum Gehorsam, sondern auch zur „Zivilcourage in Uniform" erzogen werden; Stuttgarter Ztg. 22. 10. 1964 Eine von der Internationalen Transportarbeiterföderation veranstaltete . . . Konferenz des Personals der Zivilluftfahrt hat . . . in Stuttgart begonnen; Süddtsch. Ztg. 29. 9. 1965 Den Zivilschutzdienst verweigern? (Uberschr.) Jetzt, nachdem im Rahmen der allgemeinen Notstandsplanung die Gesetze über „Selbstschutz" usw., sowie über die Aufstellung eines sogenannten „Zivilschutzkorps" . . . verabschiedet sind, wird in der Öffentlichkeit mit zunehmender Erbitterung über Nutzen, Sinn und Zweck des Luftschutzes und der Zivilverteidigung gestritten . . . Unsere Organisation hält es auch durchaus für möglich, die verschiedenen Dienstleistungen innerhalb der „Zivilverteidigung" ebenso zu verweigern, wie den Wehrdienst. Wir denken hier insbesondere an das Zivilschutzkorps, dessen paramilitärischer Charakter unverkennbar ist . . . Als entschiedene Pazifisten waren wir schon immer der Auffassung, daß der Dienst innerhalb der Zivilverteidigung in letzter Konsequenz eben doch Kriegsdienst ist — ungeachtet seines „zivilen" Charakters und der sicher vorhandenen humanitären Aspekte; Stuttgarter Ztg. 23. 7. 1966 dieser Jahresbericht eines civilcouragierten Bundesbeamten [hat] einen grundlegenden Schönheitsfehler; Offenburger Tagebl. 13. 8. 1971 schrieb Genscher, die Bundesregierung betrachte die Zivilverteidigung als gleichrangige . . . Ergänzung der militärischen Verteidigung zur Gesamtverteidigung; FAZ 24.

403 . . . aber gegen leute vom „zivil" sind sie alle einig; ebd. 250 wir wollen diesen herren seinerzeit schon zeigen, was „das zivil" zu bedeuten hat (beide DWB); Holtei 1860 Eselsfresser III 113 Er . . . wußte jedoch . . . für's Militair nur die „Rangliste", für's Civil den „Adreßkalender"; Werther 1861 Kl. Deutschland I 239 Civil und Militär; Varnhagen v. Ense 1861 Tageb. II 47 so sehr im zivil und in der diplomatik mit den gröszten summen geworfen wird, so karg und knapp wird im militair verfahren (DWB); Hackländer 1866 Künstler-R. IV147 Civils; Wilhelm I. 1897 Militär. Sehr. I 256 das tragen groszer backenbärte nach art des civile (DWB); Lersch 1916 Br. u. Ged. 38 wenn ich ins zivil komme, dann bau ich unser elterliches geschäft wieder auf (DWB); Voss. Ztg. 13. 4. 1930 Als die Engländer . . . in den Krieg eintraten, hatten selbst hohe Militärs der Mittelmächte für die britischen Landstreitkräfte nur ein geringschätziges Achselzucken übrig. Kriegstüchtige Armeen ließen sich nicht aus dem Boden stampfen, aus dem „Zivil" zaubern; H. Mann 1949 Untertan 487 auf der offizierstribüne litt selbstverständlich die haltung nicht im geringsten, beim zivil machte sich immerhin eine gewisse unruhe bemerkbar (DWB); Zweig 1950 Einsetzung e. Königs 9 man spielte ja auch . . . mit ihnen [Soldaten] heer im kriege, während sie doch nur noch verhaftetes zivil sind, beschlagnahmtes volk (DWB); Durieux 1968 Tür 280 Gerade fuhr ein Zug, besetzt mit . . . Soldaten ein. Kein Platz für Zivil (WDG).

12. 1971 Nur wer Bürgermut lebt, macht Bürger lebendig. Bundespräsident Heinemann ruft alle Menschen . . . zur Zivilcourage auf (Uberschr.); Mannh. Morgen 30. 7. 1980 Wieder Zivilregierung in Peru (Uberschr.) Nach zwölf Jahren Militärdiktatur wurde gestern in Lima wieder eine zivile peruanische Regierung vereidigt; Die Zeit 9. 10. 1981 Alle diese Aktionen laufen unter dem Etikett „ziviler Ungehorsam"; ebd. 15. 1. 1982 Man sieht nicht, was die zivile Alternative zum Militärregime sein könnte.

Zivi: Zeitmagazin 19. 3. 1982 Wehrdienstverweigerer haben sich inzwischen einen guten Namen gemacht. „Zivis" bewähren sich besonders als besonders freundliche und leistungswillige Helfer von Kranken; ebd. Zivis verblüffen durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie mit Behinderungen umgehen . . . Jochen ist ein Beispiel für jene zahlreichen „Zivildienstleistenden", die diese Zeit benützen, um neue wichtige Erfahrungen zu machen; ebd. Im gemütlichen Appartement in München-Ottobrunn gestalten Zivis und Behinderte gemeinsam ein Leben, das sie als ziemlich normal bezeichnen.

Zivil: 1702 Europ. Fama 130 Civil oder Militair; Wieland 1757 Gesch. d. Gelehrtheit 79 hielt sich am Hof des Kaisers Maximilian II. auf, dem er im Civil und Militärstand Dienste leistete; Hauff vor 1827 (S. W. III 153) es müsse sich ganz herrlich ausnehmen, wenn so ein herrchen vom civil eine pistole losbrenne (DWB); Hoffmann v. Fallersleben 1840 Unpolit. Lieder I 116 Im Civil und Militäre; Marx-Engels 1851 Briefw. I 249 [Vertreter des Soldatenstands] beneiden sich gegenseitig

zivil l d : Danckwerth 1652 Schleswig u. Holst. 92h •aber den Risemorern, Widinghardern, Föhringern, Sildingern, so nicht unter civile leute kommen, hänget wol etwas von geregten qualiteten an (DWB); Becher 1670 Ber. Flb wer da glaubt, dass er in Indien, umb sein Ehr und Leben, Seel und Seeligkeit komme, und auss einem Christen ein Heyd, auss einem civilen Menschen ein Wilder werden werde, der wird zum besten thun, dass er dann hier aussen [in der Heimat] bleibe; ebd. F2h

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die Indianer zu Freunden und civilen Menschen, ja vielleicht gar zu Christen zu machen; Happel 1685 Relationes cur. II 516^ also erachte ich, dasz unsere vorfahren, durch umbgängnüsz mit andern ehrbahren heiden civiler worden (DWB); Valvasor 1689 Herzogth. Crain I 81 dörffte sein, dasz die Carnutes unter den Carnis, der beste kern desz carnischen adels, oder der civilste und politeste unter ihnen gewesen (DWB); Gichter 1722 Theosophia Practica 70 ungeachtet aller civilen Submission; Goetz 1852 Reise I 125 der Amerikaner im allgemeinen ist nicht polite, abgeschliffen höflich, aber civil, d. h. er benimmt sich, wie Menschen in einem civilisirten Zustande sich benehmen sollen; Raahe vor 1910 (S. W. I 6, 386) magister Albus, ich habe ihn als einen zivilen, gescheiten und nicht unaimablen menschen kennen gelernt (DWB); Haeckel 1913 LW. 455 Civilvölker (civilisirte Völker im viertheiligen System von Sutherland); Voss. Ztg. 13. 4. 1930 Die Engländer waren seit jeher ein „ziviles" Volk; 1935 „Duden"-Sammlung o. S. daß Boxer im Privatleben zivile und gebildete Leute sein können; Becher 1957 Feuerwasser III Hab mich immer zivil und korrekt benommen (WDG); Süddtsch. Ztg. 28. 7. 1958 Überhaupt geht es vor der Ehrentribüne des Bundespräsidenten recht „zivil" zu. Froh winken ihm die Turner zu; Dürrenmatt 1958 Versprechen 215 ein Mann von Format und Genauigkeit . . . begabt mit einer zivilen Menschlichkeit; Victor 1962 Sehr. III 270 Zu ziviler Zeit, gegen 9 Uhr morgens, erklang das rettende Tuten wieder (WDG); Fallada 1964 Bauern 116 Sie sind ein ziviler Mensch (WDG); Rhein-Neckar-Ztg. 8. 2. 1982 durch wachsende Spannungen und einen brudermörderischen Kampf, der die gerechten und legitimen Hoffnungen auf ein ziviles, friedliches Leben und geordneten Fortschritt erstickt.

Zivilität: Mathesius 1563 Ehest. Bblh Hat doch . . . Jesus . . . offtmals vber Tisch seinen mitgesten geprediget, vnd sie zur zucht vnd Ciuilitet vermanet, vnnd ist er selber ein . . . danckbarer Gast gewesen; ebd. Ci2h das ist der Teutschen höchste Ciuilitet, das einer nicht dem andern folget, so man ihn was heist; 1593 (Fischer, Schwab. VI 1249) was für eine feine civilitet und tischzucht der herr Christus die Phariseer gelehret hat (DWB); Mengering 1642 Gewissensrüge 1081 mit Ehrerbietung einander zuvor kommen, und mit civilitet zu begegnen; 1654 Alamodus politicus 2 ich befände . . . dasz ich . . . vor ein klein weniges civilitätsscheins eine gantze last ungeheurer laster mir selbsten aufgebürdet hatte (DWB); Becher 1670 Ber. Flh Ehr in Brieffen, Wappen,

Degen und Gläsern suche, das Christenthum im Mund habe, die civilität in ceremonien machen suche; Riemer 1684 Passagier 124 mit aller ersinnlichen Civilität und Dienstleistung; 1691 Pfalz 43" alle Drohworte, von Plündern und Totschlagen gleich in alle Civilität verwandelt; Callenbach 1715 uti ante hac 52 das ist nun auch zur civilität worden, dasz man in einen ecken stehet, ein stück ausz der hand isset, olim war es grob (DWB); Callieres 1716 Abgesandte (Übers.) 146 Von denen Ceremonien und Civilitäten; Nehring 1717 hist.polit.-jur. Lex. 207 civilität, bescheidenheit, erbarkeit, bürgerliche zucht, freundlichkeit, höfflichkeit (DWB); Vico 1822 Grundzüge (Übers.) 678 Policirung oder Civilität. zivil 2: Glauber 1668 Glauberus concentratus 5 medicamenta . . . umb einen civilen preisz an dehnen, die solche rare medicamenten etwan nöthig haben möchten über zu lassen (DWB); Becher 1670 Ber. Clh [im Sklavenhandel liefern] umb solchen civilen Preiss; Krafft.1683 Bedenken v. d. Manufakturen 228 [ich] verkauffte hernach solches Beutel-Tuch umb einen civilern Preiß als solches bißher hat müssen gekauffet werden; Marperger 1717 Haar- u, Federhandel 177 [er kann] mit einer solchen [Perücke] . . . gar wol und in civilen preisz . . . bedienet werden (DWB); Nehring 1717 hist.-polit.-jur. Lex. 206 civil, billig und gering im preisz, leidlich (DWB); Liscow 1736 Elende Scribenten 469 man kann sie [Bücher] . . . um sehr civilen preis haben (DWB); 1762 Einf. i. d. Handlungswiss. 121 Civil, bürgerlich, wird auch gebrauchet einen bilÜgen, leidlichen oder wohlfeilen Preiß einer Sache anzudeuten; Rebmann 1795 Ludwig 8 zivile Preise; Fichte 1801 Nicolai VIII 90 Das Ganze . . . war um einen äusserst civilen Preis in seiner Handlung zu haben; Wieland vor 1819 (S. W. XI 232) [sein Handwerk war,] madonnen . . . um sehr civilen preis aus pappe zu erschaffen (DWB); Holtei 1843 Vierzig Jahre II 355 für diese Vergünstigung zahlte ich den zivilen preis von „fünf Böhmen" (DWB); Fontane-Lepel 1849 Briefw. I 196 bestimme den civilsten Preis; Riehl 1859 Culturstudien 244 von „civilen" Preisen; Röse 1884 Revanche 52 zu civilen Bedingungen; Gilly 1896 Fesseln I 161 civile Preise [in einem Restaurant]; Köln Ztg. 25. 2. 1916 Zivil . . . Schreiben wir es mit kleinem Anfangsbuchstaben, dann ist es soviel wie . . . von Preisen gebraucht, angemessen, niedrig; Voss. Ztg. 11. 9. 1929 Komfort und Bedienung waren erstklassig. Preise überraschend „zivil"; Kluge 1938 Kortüm 504 jetzt sitze mal 'n biszchen stille und verkaufe den gästen, die zu dir kommen, was sie haben wollen un mache zivile preise (DWB).

Zivil — Zivilisation

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Z i v i l N . ( - s ; o h n e PI.), im späteren 19. J h . ( S A N D E R S D W B ) , eventuell unter f r z . E i n w i r k u n g ( v g l . f r z . tenue

civile,

(se mettre)

en civil) a u f g e k o m m e n e A b l e i t u n g

z u —»zivil l c ; i n d e r B e d . ' n i c h t m i l i t ä r i s c h e , b ü r g e r l i c h e K l e i d u n g ' ( G g s . — » U n i form),

vor

allem

in

den

Syntagmen

in

Zivil,

Zivil

auch

tragen,

allgemeiner

v e r w e n d e t f ü r ' n i c h t d i e n s t l i c h e K l e i d u n g , P r i v a t - , F r e i z e i t k l e i d u n g ' , v o r a l l e m in der Z s . R ä u b e r z i v i l , früher für 'unmodischer Zivil-, A u s g e h a n z u g v o n Militärpers o n e n ' , auch 'saloppe, (nach-)lässige, legere, unkonventionelle, leicht abgerissene und

vernachlässigte

Kleidung'.

Liliencron 1871 Br. I 56 Räuber-Civil; König um 1875 Hum. I 75 Sie saß dicht neben mir in einer Laube und sprach mit einem Manne in Civil; Gisbert 1879 Zeit-Arabesken 18 Herr in Civil; ebd. 74 Lieutenants in Civil; Fontane 1891 J. Treibel 158 die in Zivil erschienenen Sommerleutenants; Polenz 1898 Grabenhäger I 71 Offizierszivil; Fontane 1898 Zwanzig 25 ein junger Offizier von der Garde, der aber wohlweislich seinen Offiziersrock mit einem Durchschnittscivil vertauscht hatte; Hoffmann 1898 Gelehrte 221 in diesem abgerissenen Räuberzivil; Horn 1899 Soldatenspr. 119 eine stunde in civil, nachexerzieren müssen (DWB); Dtsch. Revue 25 (1900) I 24 Er trug ein richtiges Räuberzivil, wie mancher Offizier aus kleiner Garnison, der nie Gelegenheit gehabt hat, gut gekleidete Zivilisten zu sehen, und fast nie in die Notwendigkeit gekommen, selbst bürgerliche Kleidung anzulegen; 1904 ZDöAlpenver. 360 als wir . . . in „dürftigem Zivil" draußen auf dem kleinen Altan . . . standen; zur Megede 1911 Quitt 437 in seinem furchtbaren Räuberzivil, ohne Kragen und Stulpen; Köln. Ztg. 25. 2. 1916 Zivil. Dies Wort ist ein rechtes Musterbeispiel für die Verschwommenheit des Fremdworts. Schreiben wir es mit großem Anfangsbuchstaben, dann kann es entweder auf Personen bezogen werden und den Bürgerstand bezeichnen oder von dem Anzug verstanden werden und die bürgerliche Kleidung bedeuten; Lokesch 1927 Fortf. v. Scherr, Kulturgesch. 698 Eine Kellnerin in Zivil übt nicht

Zivilisation

F.

(-;

selten

-en),

im

den Reiz aus, wie die mit Schürzchen und Häubchen; Höhne 1928 Reportage 150 Gustav Klaus kam. In Zivil, mit dem amerikanischen Bärtchen über den Urbanen Lippen; Colerus 1929 Kaufherr 420 die Vertreter des Unternehmertums und der Angestelltenschaft. Beide in ihrem gewohnten Zivil; 1934 Volk u. Reich 593 Volk in Zivil; 1936 BJ-Nachr. Nr. 6 o. S. In Halbzivil (in brauner Hose aber ohne Braunhemd) marschierten wir . . . vom Lager weg; Bebel 1946 Aus m. Leben II 170 unter den Zuhörern befanden sich eine menge französischer Offiziere in zivil, die in Leipzig als kriegsgefangene interniert waren (DWB); Renn 1947 Adel i. Untergang 268 ich hatte am folgenden nachmittag keinen dienst und zog mir zivil an (DWB); Werfet 1948 Bernadette 274 du siehst ja so fein aus wie ein bischof, wenn er in zivil geht (DWB); Süddtsch. Ztg. 25. 9. 1952 Nach der Erschießung . . . war der Schriftsteller . . . mit einer Gruppe SA-Leute in „Räuberzivil" in der Stadt erschienen; Fallada 1953 Wolf I 224 immer kamen und gingen Beamte in Zivil, in Uniform ( W D G ) ; Süddtsch. Ztg. 4. 6. 1957 Die Uniformen bestanden aus Tarnanzügen der Wehrmacht oder stammten aus italienischen Beständen. „Räuberzivil hat niemand getragen", sagt der Angeklagte; Quick 25. 4. 1959 Was trieb er, wenn er die SSUniform gegen Räuberzivil vertauschte und tagelang untertauchte?; FAZ 7. 2. 1970 Ein junger Mann in Räuberzivil.

späten

18. J h .

entlehnt

g l e i c h b e d . , t e i l w e i s e a b e r ( b e s . in A b g r e n z u n g v o n f r z . culture u n t e r s c h i e d l i c h b e w e r t e t e m f r z . civilisation f r z . civiliser sing,

b z w . e n g l , civilize,

verwendet

als

Nomen

für

das

weitgehend culture)

( M i r a b e a u 1 7 5 6 ) , engl, civilisation

z u r ü c k g e h e n d a u f l a t . civilis, acti

aus

b z w . engl,

Ergebnis

des

(zu

—»zivil); überwiegend —» Z i v i l i s i e r e n s ,

früher

v e r e i n z e l t ( g l e i c h b e d . m i t Z i v i l i s i e r u n g ) a u c h als N o m e n a c t i o n i s f ü r d e n V o r g a n g des —»Zivilisierens; i m Z u s a m m e n h a n g m i t der optimistischen

Geschichtsauffas-

sung, der Fortschrittsidee und dem Erziehungsdenken der Aufklärung aufgekomm e n e s , i m V e r l a u f s e i n e r G e s c h i c h t e in s t ä n d i g v a r i i e r e n d e r ,

ambivalent-wertender

A b g r e n z u n g v o n N a t u r u n d v o r allem K u l t u r (siehe u n t e n ) v e r w e n d e t e s

weltan-

s c h a u l i c h e s L e i t w o r t als B e z e i c h n u n g f ü r d i e G e s a m t h e i t d e r d u r c h d e n F o r t s c h r i t t

406

Zivilisation

von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft in Verbindung mit der Entfaltung der Produktivkräfte und Produktionsmittel und ihrer vor allem der Bedürfnisbefriedigung dienenden ökonomisch-rationellen Anwendung geschaffenen, (von einer Stufe der Entwicklung zur andern) verbesserten (elementaren) materiellen und sozialethischen Lebensbedingungen, für die dadurch bestimmte Form des geordneten, gesitteten menschlichen Zusammenlebens in komplex strukturierten Gesellschaften mit einer dementsprechenden (und dadurch garantierten) Ausbildung der geistigen (z.B. moralischen) Kräfte bzw. für den damit repräsentierten, alle Lebensbereiche umfassenden gesellschaftlichen Entwicklungsstand als verwirklichte Stufe der kulturellen Evolution, meist von höher entwickelten Gesellschaften, Nationen und Völkern, im Unterschied zur relativ niederen Stufe sog. primitiver (Stammes-)Gesellschaften (Halb-, Hochzivilisation; Zivilisationsgrad, -stufe, -produkt, -fortschritt), selten im räumlich-geographischen Sinn für 'Gesamtheit der zivilisierten Nationen; zivilisierte Welt', z . B . in den Syntagmen am Rande/außerhalb/in der Zivilisation (leben), und zuweilen, nur pl., für 'Kultur-, Lebenskreise', gelegentlich auch von der Lebensart und dem gesellschaftlichen Verhalten einzelner Individuen für 'durch Erziehung und Bildung geprägte, sozialethisch verfeinerte Lebensweise, Umgangsformen, Manieren; Gesittung, Bildung', gleichbed. mit Zivilisiertheit, —» zivilisiert. In (wertender) Abgrenzung von Natur (und in diesem Zusammenhang ähnlich verwendet wie Kultur), bes. im Zusammenhang mit der Entdeckung der (außereuropäischen) Welt antithetisch auf die als wild, barbarisch eingestuften Naturvölker sowie auf den (rohen) Naturzustand überhaupt bezogen, positiv wertend als Ausdruck des Oberlegenheitsgefühls einerseits der zivilisierten Nationen über die Naturvölker in bezug auf die als Fortschritt zum Wohle der Menschheit eingeschätzte Überwindung der Natur, aus der eine zivilisatorische Mission zur Unterwerfung der Naturvölker abgeleitet wurde, andererseits einzelner zivilisierter (europäischer) Staaten über andere in bezug auf die jeweils erreichte Zivilisationsstufe, aus der das moralische Recht zur Durchsetzung des nationalen Selbstbewußtseins mit politisch-militärischen Mitteln abgeleitet wurde, z . B . in den Syntagmen Errungenschaften, Fortschritt, Segen der Zivilisation; (einen Krieg) im Namen der Zivilisation (führen), seit spätem 19. Jh. im Zusammenhang mit der sich verstärkenden Kulturüberdrüssigkeit und Natursehnsucht und im frühen 20. Jh. im Zuge einer verstärkten Skepsis gegenüber den technischen Errungenschaften und deren schädlichen Folgen zunehmend negativ wertend verwendet, um der Unnatur, Verkümmerung des als naturfremd, seelenlos, materialistisch, mechanistisch geltenden zivilisierten Daseins die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit der primitiven Völker entgegenzuhalten, vor allem in den schlagwortartigen Zss. Zivilisationsschäden, -krankheiten 'Schäden, Krankheiten, die mit der Zivilisation und der durch sie bedingten Lebensweise verknüpft sind; seelische/körperliche Schäden, die durch mißbräuchliche Nutzung von Zivilisationsgütern oder als Nebenerscheinung bei deren Herstellung auftreten'. In (wertender) Abgrenzung von Kultur (und in diesem Zusammenhang in ähnlicher Opposition zu Natur), bis etwa Mitte 19. Jh. im Zusammenhang mit der weitgehend (noch) fortschrittsgläubigen, positiven Beurteilung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zuweilen, und bis heute seltener, weitgehend gleichbd. verwendet, dann auch meist im engeren Sinne auf die bloßen materiellen Voraussetzungen oder den elementaren Rahmen der Kultur

Zivilisation

407

bezogen und vereinzelt auch schon in polarischer Entgegensetzung abwertend gebraucht, seit spätem 19. Jh. bes. mit der im Gefolge von Industrialisierung, Arbeitsteilung und Urbanisierung aufkommenden sozialen Ungleichheit sowie mit dem Spürbarwerden der als nachteilig eingeschätzten Auswirkungen der Technisierung auf die Lebensweise des modernen Menschen (Unterbewertung des GeistigSeelischen, Innerlichen, Moralischen) als Ausdruck des bes. seit dem 1. Weltkrieg zutage tretenden Kulturpessimismus in strikter Antithese verwendet (Zivilisationsverderben, -elend, -gift, -ekel, -flucht; zivilisationsmüde); heute auch wieder weitgehend gleichbed. und eher wertneutral gebraucht. Dazu von Mitte 19. Jh. bis ins frühe 20. Jh. die Präfixbildung Uberzivilisation 'übertriebene, allzuweit gehende, ausufernde Zivilisation; Überfeinerung, Uberzivilisiertheit'. Zivilisation: Forster 1778 S. Sehr. 1246f. daß wir doch endlich einen kleinen Winkel der Erde ausfindig gemacht, wo eine ganze Nation einen Grad von Civilisation zu erreichen und dabei doch eine gewisse frugale Gleichheit unter sich zu erhalten gewußt habe, dergestalt, daß alle Stände mehr oder minder gleiche Kost, gleiche Vergnügungen, gleiche Arbeit und Ruhe miteinander gemein hätten; ebd. II 277 Ohne diese Notwendigkeit, den Feldbau zu treiben, würden die Bewohner der Inseln zwischen den Wendekreisen wohl . . . noch nicht zu dem Grade der Civilisation gelangt sein, den wir wirklich bei ihnen angetroffen haben; ebd. 277f. Von Kleidung, nach deren Beschaffenheit sich das Maaß der Civilisation ebenfalls bestimmen läßt, wissen sie [Einwohner von Tanna] noch gar nichts, ja sie lassen es selbst noch an körperlicher Reinheit fehlen, welches für die Aufnahme des geselligen Umgangs immer ein großes Hinderniß ist . . . Aber neben allen diesen Mängeln zeigen sie doch jetzt schon die Anlagen und Vorboten zu einer höheren Verfeinerung; ebd. 279 im ganzen aber ists wohl ausgemacht, daß durch den Handel der Fortgang der Civilisation ungemein befördert wird; ebd. 280 So hängt selbst das Wachsthum der Gotteserkenntniß von dem Fortgange der Civilisation ab; Herder 1787 Ideen III 58 Das Wort: Civilisation eines Volkes ist schwer auszusprechen, zu denken aber und auszuüben noch schwerer (alle PFLAUM); Hess 1797 Durchflüge d. Deutschland IV 71 Im Verhältnisse der Grösse, der Volkszahl und der frühen Civilisation, giebt es gewiss keine sittlichere . . . Menschengattung, als die Bewohner Nürnbergs; Berenhorst 1797 Kriegskunst I 121 f. [Soldaten der preußischen Armee] wie es [Europa] solche noch nie auf seinen Theatern gesehen hatte; Menschen an Zivilisation und Denkart den Russen, wie wir dieselben jetzt kennen, nicht unähnlich, mit halber und gerad diese Hälfte neuer Taktik; voll trefflichen Geistes, blinden Gehorsams, und grossen Vertrauens zu ihrer

Kunst (PFLAUM); Hess 1798 Durchflüge d. Deutschland VI 111 Träfe diese harte Züchtigung doch nur den Theil derer, die in den letzten Jahren wie Raubthiere den Staat aussogen; die wie betrunkene Weiber das Ruder einer freien Regierung führten . . . Aber wenden wir uns weg von diesen eckelhaften Carricaturen der Civilisation; Guts Muths 1804 Gymn. 33 Hat er [Mensch] durch seine Civilisation gar Verzicht darauf gethan, diesen oft fürchterlichen Gegnern [Naturelementen] nicht bloß Gesundheit. . . nicht bloß technische Mittel . . . sondern auch Ausdauer, Kraft und Gewandtheit des Körpers entgegen zu stellen? (PFLAUM); Wachler 1805 Handb. II 99 Die schnell . . . zu einer Macht von erstem Range sich erhebende preussische Monarchie, ebenso einflußreich auf die politischen Verhältnisse des europäischen Continents als durch musterhafte Staatsverwaltung und Gesetzgebung, religiösen Duldungsgeist, Begünstigung liberaler Denkart und gemeinnützige Unternehmungen äußerst wohlthätig auf Teutschlands höhere Civilisation einwirkend (PFLAUM); Wolf 1807 Museum I 18 Eine der wichtigsten Verschiedenheiten unter jenen [Ägyptern, Hebräern, Persern u. a.] und diesen [Griechen, Römern] ist die, daß die ersten gar nicht oder nur wenige Stufen sich über die Art von Bildung erhoben, welche man bürgerliche Policierung oder Civilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte (PFLAUM); Kotzebue 1809 Die Biene II 123 in weiter Entfernung von einander wohnenden Völkern, von sehr verschiedener Civilisation (PFLAUM); Wessenberg 1815 Deutsche Kirche 10 Unsere Völker sind in der Kultur so weit vorgerückt, dass sie den hohen Werth des Eigenthums und der Freyheit zu schätzen wissen. Dies ist unstreitig ein grosser Vorschritt in der Civilisation; Pestalozzi 1815 An die Unschuld VI 9 der ganze einflusz der civilisationsbildung, in so fern er sich nur um das äuszerliche und bürgerliche unsers daseyns herumtreibt (DWB); ebd. 12 eben

408

Zivilisation

so wird auch ein durch das civilisationsverderben sinnlich befriedigter . . . mensch ein durch dieses verderben sittlich . . . verkrüppeltes volk gar nicht als ein schlechtes volk ansehen (DWB); ebd. 163 Individuelle Cultur ist in ihrem Wesen das eigentliche Fundament der Segenskräfte der collectiven Menschencultur, daher ist auch das Recht der individuellen Cultur als das durch die Menschennatur selbst begründete, unzerstörbare, innere Fundament aller Ansprüche der collectiven Cultur, der Civilisation, folglich auch als das ewige, innere Fundament des Rechts der Civilgesetze anzusehn (PFLAUM); ebd. 322f. [wenn das Volk nicht wieder natürlicher lebt] sind auch nicht einmal die Anfangspunkte gedenkbar, wodurch es möglich ist, unser Volk ülber das Civilisationsverderben empor, zur Kultur der Menschennatur zu erheben (PFLAUM); ebd. 326 Das Weib der Zeit wird in allen Ständen täglich mit grösserer Gewalt und mit mehr raffinirter Kunst aus der Reinheit ihrer mütterlichen Kraft herausgerissen. Die Einseitigkeit unserer excentrischen Civilisation verirrt sie täglich mehr im Innersten ihrer Natur (PFLAUM); ebd. 327 [man müßte den] Sinn der Menschlichkeit, wo er sich immer im Verderben unserer Civilisationsverkünstlung noch erhalten, anrufen und unserm Geschlecht zu Herzen legen, daß die Möglichkeit der Wiederherstellung eines reinem Vater- und Muttersinns . . . allein durch die Wiederherstellung der Menschlichkeit selber zu erzielen möglich sey (PFLAUM); ProkeschOsten 1816-24 Kl. Sehr. V93f. Es ist eine der größten Gefahren der Civilisation, daß nach und nach das Gebräuchliche mit dem Sittlichen verwechselt werde, und sich endlich ganz und gar an dessen Stelle schiebe. Ist diese Falschmünzerei gelungen, so gibt es keinen Damm mehr gegen das einbrechende Verderben; Schulze 1819 Psych. Anthrop. 558 Zivilisazion erfordert Einrichtungen bei einem Volke, wodurch das friedliche Zusammenleben desselben gesichert, die Erwerbung der Annehmlichkeiten des Lebens befördert und Schutz gegen die Angriffe äusserer Feinde bewirkt wird . . . Kultur, oder der höhere Grad der Entwicklung des geistigen Lebens . . . der immer durch Zivilisation bedingt wird, kann nur denjenigen Völkern beigelegt werden, bei welchen die edlern Gefühle . . . auf die Ausübung der Kräfte Einfluss haben (PFLAUM); Lötz 1821 Staatswirthschaftslehre 170f. Sie [geistige Produktionen] sind mehr ein Förderungsmittel der Civilisation, als eine wahrhaft staatswirthschaftliche Güterhervorbringung; ebd. 261 Ist der Ackerbau die Mutter der Civilisation, und die Civilisation wieder die Mutter der Betriebsamkeit, und ihrer möglichsten Entwickelung und Ausbildung, so sind es Jagd und Fischerei, die gerade der Civilisation am

meisten entgegenstreben; Buchholz 1821 Taschenb. 269 daß Sir . . . Burdett's gründliche Parliamentsreform zwar alle bestehenden Mißbräuche abschaffen, aber zugleich die Charte, die beiden Kammern, den Thron und selbst die ganze Civilisation Englands zerstören würde; ebd. 372 [die] Türkei . . . als . . . dem Staate, welcher der europäischen Civilisation am meisten fremd geblieben ist: Lötz 1822 Staatswirthschaftslehre III 17 Nicht darauf kommt es an, daß die Völker wenig Bedürfnisse haben, sondern einzig nur darum gilt es, daß sie diejenigen Bedürfnisse, die sie haben und welche aus dem Stande ihrer Civilisation hervorgehen, zu befriedigen vermögen; Humboldt 1822 Kl. Sehr. 168 Das Bedürfnis, verstanden zu werden, nötigt, schon Vorhandenes und Verständliches aufzusuchen, und ehe die Zivilisation die Nationen mehr vereinigt, bleiben die Sprachen lange im Besitz kleiner Völkerschaften (PFLAUM); Schulze 1826 Psych. Anthrop. 483f. die Beobachter der menschlichen Natur im Zustande der Roheit und des Mangels der Civilisation haben ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Äußerung der Seelenfähigkeit im Kindes-, Knaben- und Jünglingsalter während dieses Zustandes verwendet (PFLAUM); Huber 1828 Spanien I Vorw. XXI das gesellschaftliche Leben bei einem Volk? Es ist das eigentliche Resultat seines Charakters, seiner Sitten, seiner bürgerlichen und religiösen Einrichtungen — in ihm mehr als irgendwo anders zeigt sich der Grad und die Art seiner Civilisation; ebd. XXXIII Die Wohnungen [in Spanien], die Lebensart der Privatleute sind einfach ärmlich, die Kirchen, Klöster, Hospitäler, Gerichtshöfe usw. sind prachtvoll. Ein unverkennbares Zeichen der Barbarei nach unseren Begriffen von Civilisation; ebd. 191 [Gibraltar ist der Schnittpunkt] der beiden Welttheile, die von allen am wenigsten Vergleichs- und Berührungspunkte haben, die an beiden Extremen der Civilisation stehen — Afrika und Europa; ebd. 382 [Bewohner von Katalonien sind] ein Volk, was in mancher Hinsicht auf derselben Stufe der Civilisation steht, wie die nordamerikanischen Wilden oder wie noch im Anfang des Jahrhunderts die schottischen Hochländer; Rehberg 1831 S. W. II 55 Gute Gesetze sind daher nicht der Grund und Anfang aller Civilisation, sondern das späte Resultat derselben, welches sodann mächtig zurückwirft (PFLAUM); Ancillon 1831 Extreme II 20 Die christliche Religion, aus deren Schooss die ganze heutige Civilisation hervorgegangen ist; 1832 Histor. polit. Zschr. I 801 Anm. Erläuterung des wichtigen Satzes, dass Werth und Preis des gemeinen Tagelohns einen Maassstab für den Grad der Civilisation, welchen ein Volk einnimmt, abgebe; Prokesch-Osten 1832 Kl. Sehr. V 400

Zivilisation (Zivilisation? — Was heißt das? — Es gibt keine oder sie ist in der geregelten, dem Lande, den Sitten, den Gebräuchen und der Religion angepaßten Entwicklung des Volkes zu suchen. Was über dieß Verhältniß hinausgeht, ist Verzerrung und Mißgriff, ist Kampf anmaßenden Schwindels gegen die Stützen des Lebens. Die eine und untheilbare Civilisation unserer Welteinrichter, die erst niederhaut und Salz über den Boden streuet, dann sich aber mit ihrem Flitter behängt, frechen Auges und heißhungrig nach Beifall darüber setzt, und sagt: da bin ich! — Diese absurde, zerstörende Civilisation, kann mit wirklicher Liebe zu den Menschen niemals zusammen wohnen, niemals mit der strengen und mächtigen Vernunft, welche aufrichtigen Willens, Wege zur Verbesserung des Zustandes des Einzelnen in der Gesellschaft sucht; 1833 (184} Bibl. polit. Reden V 27) Es thut Noth, die nächsten Anforderungen der Humanität zu beachten und wahrer Civilisation näher zu rücken; Krimer 1833 Erinn. 13 Die Stadt liegt von grossen und Residenzstädten und ihrem Geräusch, unverdorben durch die sogenannte Zivilisation, in einem einsamen Winkel; Pückler-Muskau 1834 Tutti I 185f. Meiner Ansicht nach sind nicht nur ein großer Theil uns'rer Bauern, sondern auch ihre frühern Herren, durch diese Art der Ablösung jetzt der Sclaverei weit näher gerückt, als es die Bauern auf ihrer Seite je vorher waren — denn der Verarmte ist leider überall Sclave, auch inmitten der liberalsten Civilisation; Leo 1835 Lehrbuch I 16 Der Character des mechanischen Staates ist Civilisation, der Character des organischen Staates ist wahre Cultur; Bauer 1836 Überschw. II 122 Wessen Verschwiegenheit auch diese Probe bestand, dem setzte er mit Berserkerbier zu, und so lockte er einzig durch die geselligen Mittel der Zivilisation seinen Gästen Geständnisse ab, die keine Folter und Barbarei des Mittelalters ihnen würde abgenötigt haben; Humboldt 1839 Kawispr. III 426 in der Wahrheit ihrer tiefen Milde sprach sie [Idee der Menschlichkeit] zuerst . . . das Christentum aus . . . die neuere Zeit hat den Begriff der Civilisation lebendiger aufgefaßt . . . die civilisirten Nationen fühlen das Bedürfnis, die unter ihnen herrschende Verbindung und Cultur weiter zu verbreiten . . . Religion und Civilisation sind es . . . welche dasjenige aufsuchen müssen, wozu nur die heimathliche Sprache den Schlüssel bewahrt; Owen 1840 moral. Welt (Übers.) 68 So ist der Mensch ein Sklave und Wilder geworden und bedeckt seine greulichen Irrthümer mit dem Worte Civilisation, welcher Ausdruck doch . . . weiter nichts bedeutet, als eine umfangreiche Verbindung von menschlichen Wesen, die . . . systematisch gegen ihre eigne Natur und ihr eignes Glück handeln; Gurowski 1841 Rußland 2f. Die

409

Geschichte hat uns bewiesen, daß die Civilisation, Zweck und allgemeine Thatsache an sich selbst, in ihrer Entwickelung, wie in ihrem allmähligen Fortschreiten, den Gesetzen von der Aufeinanderfolge der Zeiten unterworfen ist. Sie offenbart und personificirt sich in der Erscheinung ganzer Stämme, indem sie dieselbe durch den Raum mehrerer Jahrhunderte in die Ferne trägt, den Staaten den Stempel einer eigenthümlichen Individualität aufdrückend. Ihre Allgemeinheit modificirt sich ohne Unterlaß durch den wechselnden Einfluß der Regierungen, der Sitten, der Gebräuche, der Gewohnheiten, der geographischen Lage, des Bodens und des Climas (PFLAUM); ebd. 93 Rußland scheint daher dazu bestimmt zu sein, die Erbschaft der Gesellschaften oder Civilisationen, welche ihr chronologisch vorangegangen sind, in Empfang zu nehmen (PFLAUM); Schwarzenberg 1844 W. I 133 Rauschen des Nachtwindes in den schwarzen Locken des Urwaldes, der noch nicht gestutzt ist durch die Friseurschere moderner utilisirender Forstcivilisation; Zschokke 1844 Ährenlese I 2 schon mehrmals stieg mir zu sinn, das alterthum habe sich unter seiner Pandora . . . die erscheinung der civilisation bei den Völkern vorgestellt . . . krankheiten und kriege, Üppigkeit und tücke, alle laster und übel der civilisation flogen [aus dem Gefäß der Pandora] hervor (DWB); Gurowski 1845 Tour d. Belgien 211 f . Uber die schlesischen Weberstühle hat man die schwarze Fahne des Pauperismus gewebt . . . Die politische Ökonomie antwortete . . . darauf, daß Civilisation von Übervölkerung und Hungersnoth begleitet sein müsse; Marx 1846 ]. Deutschland. 2 Es ist ein Riesenpanorama, über welches wir das Pygmäentreiben der „Civilisation" vergessen; Steinmann 1846 Pauperismus 4 Die stets sich steigernde Armuth ist das nothwendige Resultat unseres industriellen Mechanismus und des ganzen Entwickelungsganges der Civilisation; Marx 1848 Mensch ». Ehe 108 Was hat er geschaffen, dieser Zustand, den wir, ohne vor Zorn und Scham zu erröthen, uns nicht entblöden, Civilisation zu nnnen? Aus Männern hat er ein feiges, geckenhaftes, arrogantes Geschlecht gemacht . . . aus dem Weibe hat er herz- und gemüthlose Puppen gedrechselt, jeder höhern idealen Empfindung unfähig; Cuendias 1849 Spanien 70 Stockspanien ist auch in dieser Hinsicht orientalisch. Der Reisende muß sich nicht wie das Muttersöhnchen der Civilisation in allen Stücken auf die Welt, sondern mehr auf sich selbst verlassen; ebd. 103 Alles Volk prangt in Sonntagskleidern. Die Halbcivilisation ist immer auf glänzende und kostspielige Kleidung erpicht; Szarvady 1852 Paris 128f. Man vergißt so gern, daß heute, wo die allnivellierende Civilisation Europa allmälig einer einheitlichen Gesell-

410

Zivilisation

schaff entgegenführt, die Unterschiede nicht so in die Augen springend sein können, als dies etwa im vergangenen Jahrhundert der Fall gewesen sein mochte (PFLAUM); 1852 Prutz' Museum II 452 Uberhaupt hat man wohl nie zuvor so viel wilde, herausfordernde, mit unserer geleckten Civilisation in einem wunderlichen Gegensatz stehende Gestalten und Gesichter wahrnehmen können als damals [1848 in Heidelberg] ; Szarvady 1852 Paris I 52 Der Cultus, welcher in Frankreich den Frauen gezollt wird, ist der beste Maßstab für die Civilisation dieses Landes und die Humanität des französischen Volkes hat wieder in dem mächtigen Einflüsse der Frauen ihren Grund; ebd. 86 das sind die Männer, die sich als Karyatiden der gesellschaftlichen Moral aufwerfen, welche die Familie, das Eigenthum, die Civilisation vor der „Barbarei" des Socialismus retten wollen; Simon 1855 Exil I 25 eine ganze Schaar von Todtengräbern und Leichenbittern sich zur Beerdigung der altersschwachen Civilisation des Westens vorbereiten; Seyffarth 1855 Paris 19 Auch müssen alle Zeichen trügen oder bald alle Völker der Civilisation sich in Paris vereinen zum Friedenswettstreit des Ackerbaues, der Industrie, und der Künste; Bucher 1855 Pari. 330 man wird zugeben müssen, daß . . . das Verständniß fremder Zivilisationen . . . weder in einer Menge von einzelnen Individuen noch in ihrem organisirten, mystischen oder epidemischen Zusammenwirken stecken kann (PFLAUM); Gregorovius 1856 Wanderjahre 1118 daß die geringen Freiheiten, welche nunmehr die Hebräer [Juden in Rom] errungen haben, sich auch so weit ausdehnen werden, daß ihnen ein ungeschmähter Antheil an allen Gütern der Cultur und der Civilisation gegeben werde; ebd. 336 Ich habe mich oft in Gebirgen Italiens an der Naivetät des Volks erfreut . . . Die Abgeschiedenheit von der Welt hat die Müdigkeit seiner Sitte bewahrt und den Zauber unmittelbarer Natur erhalten. Man weiß hier nichts von den Verbrechen der Civilisation, es gibt nur Frieden, Armuth und Thätigkeit; 1857 Träumereien 401 Das Ziel des deutschen Strebens muß ein höheres und edleres seyn; es hat sich zur Aufgabe zu stellen, seiner eigenen Kultur und Civilisation im europäischen Osten Eingang zu verschaffen; Scheidler 1859Jen. Bl. I 3 überall, wo sich die Civilisation oder das Bürgerlich-Gesellschaftliche, das Staats-Leben und die Cultur im engeren Sinne . , . entwickelt haben; Rodenberg 1860 Insel d. Heiligen II 232 jenes traurige Etwas [Prostitution], welches sich zum Begleiter unsrer Civilisation gemacht hat; Reder 1861 Bayerwald Vorr. VI in einen alle Besonderheit auflösenden Civilisationsbrei verflacht; Riehl 1861 Ges. 53 Alle andern Stände [außer dem Bauernstand] sind aus ihren ursprüng-

lichen Kreisen herausgetreten, haben ihre uralten Besonderheiten gegen die ausebnende allgemeine Civilisation dahingegeben; ders. 1861 Vorträge I 268 sie [Franzosen] sehen sich als Vorkämpfer der „Freiheit" an, indem sie die Völker unterjochten, als die Helden der „Civilisation", aber nur ihrer besonderen Civilisation, welche . . . uns Deutschen zuletzt als ein Sumpf der gleißnerischen Siege erschien; 1862 Hausblätter I 469 Wenn man jahrelang in einer neumodischen, eleganten, geräuschvollen Stadt gewohnt hat und auf einer Wanderung durch Gegenden, welche noch nicht so stark vom Hauch der „Civilisation" berührt worden sind, plötzlich in eine der stillen Gassen tritt . . . so wähnt man sich in jene längst entschwundene Zeit versetzt; Mommsen 1863 Reden ». Aufs. 245 Verkehr der Menschen miteinander — das ist Civilisation; Buer 1864 Reden u. verschied. Aufs. II 110 die gebirge bilden . . . die grenzen der civilisationsstufen (DWB); Raabe 1864 Hungerpastor 317 Die Leute waren da so ehrlich, und so musikalisch, und so blond, — sie waren wohl auch ein bischen zurück in der Civilisation und etwas einfältig; Springer 1868 Berlin 203 Die Griechen waren das einzige Volk, das die Kunst aus einem Leben herausbildete; die anderen Völker mußten sich und ihr Leben an dieser Kunst heranbilden; was bei Jenen Produkt der Kultur war, wurde und ist bis heute bei den Andern Mittel zur Civilisation; Du Bois-Reymond 1870 Reden I 87 Da die Gallier von den Römern unterjocht wurden, die Deutschen nicht, hatte Frankreich vor Deutschland einen mächtigen Vorsprung in der Zivilisation; Schmidt 1871 Bilder II 91 die neue Eisenbahn wurde eben gebaut, und verfolgte mitten aus dem Kern dieser Verwirrung ruhig ihr gewaltiges Werk der Civilisation; Gregorovius 1871 Wanderjahre IV117 Die Reichsidee ist einer der Grundgedanken, um welche sich die gesammte Civilisation des Abendlandes angesetzt hat; 1871 Sachsensöhne 30 Ist schon das Verbrennen der öffentlichen Bibliothek, das Beschädigen des Domes zu Straßburg durch Brandkugeln ein böses Zeichen von der vielausposaunten Civilisation des heutigen Deutschlands; Hillebrand 1873 Frankreich 182 Die menschliche Civilisation bedeckt, wie die Erdrinde, ungeheure vulkanische Massen, die sich nur sehr allmählich abkühlen und von Zeit zu Zeit durchzubrechen suchen durch die hindernde Hülle, welche Cultus, Polizei, Justiz und Armee um sie legen; Preuss. Jahrbücher 34 (1874) 317 Der Ausdruck „moderne Civilisation" umfasst nicht nur unsere Wissenschaft und Bildung . . . [sondern] auch die Gründung grosser Nationalstaaten ; Peschel 1874 Völkerkde. 457 die sinnesstumpfen kinder der civilisation (DWB); Mommsen 1875 Reden u. Aufs. 30 Der hoffärtige Civilisations-

Zivilisation Wahnsinn, welcher die niedrigeren Bildungsschichten der Gesellschaft bloss als Material gleich dem Eisen und dem Blei betrachtet, ist so verächtlich wie verkehrt; Homberger 1875 Essays 275 eine große Zahl unserer Hochgebildeten verschließt sich heute gegen eine Civilisation, der wir so viel verdankt haben und noch viel werden danken können; Schaffte 1878 Bau II 2 genetisch erscheint . . . die Civilisation wahrhaft als Krone, kausalistisch gedacht als Endergebniß, teleologisch gedacht als das Endziel der bisherigen Schöpfung auf Erden; Reichenbach 1880 Roman e. Bauernjungen 119 die Civilisation macht die Welt größer oder kleiner, wie man es nehmen will, und am Ende ist es doch eine famose Sache, daß man in Adelaide oder sonstwo dort herum komfortable Hotels findet, wie „unter den Linden"; Nordau 1881 Paris 85 Heute hat die Poesie nicht mehr diesen antiken Universalberuf; die Zivilisation, die auf allen Gebieten eine Theilung der Arbeit herbeigeführt hat, konnte auch die Poesie nicht im Vollbesitz ihrer umfassenden Funktionen lassen; Hille brand 1882 Zeitgenossen 14 dies gezwungene Zusammenleben bringt alle von der Civilisation zurückgedrängten Instinkte des Menschen wieder auf die Oberfläche; Zßthnologie 16 (1884) 137 auf allen Punkten der Erde, die seit einer Reihe von Jahren von der Alles nivellirenden sogenannten Civilisation in Gestalt von Dampf und Telegraphenverbindungen, europäischen Exportartikeln und reisenden Engländern beleckt worden sind; Nordau 1884 Lügen 11 Er verweilt bei den häßlichsten und trostlosesten Zügen der Civilisation, namentlich bei der großstädtischen Civilisation; ebd. 315 Was hat nun die Lüge unserer Civilisation aus der Ehe gemacht? Sie ist zu einer materiellen Ubereinkunft herabgesunken; ders. 1885 Paradoxe 89 Es ist vorgekommen, daß barbarische Völker über Staaten, die durch eine hohe Zivilisation erschlafft und vermorscht waren, herfielen und sie zertrümmerten. Da schreit man dann über Rückschritt und Verwilderung; Hiliebrand 1885 Culturgesch. 133 Das Ganze [Constants „Adolphe"] trägt das Gepräge der hohen, sehr vorgeschrittenen, aber auch verderbten Civilisation, deren Frucht es ist; ebd. 172f. Die große Mehrheit . . . der jüngeren Generation ist auf diese Weise . . . erwachsen auf die Welt gekommen, war direct in die moderne Civilisation hineingeboren; ebd. 204f. in ausschließlich ackerbautreibenden südlichen Ländern [herrscht] praktisch eine Gleichheit . . . von welcher Nationen von fortgeschrittenerer und folglich künstlicherer Civilisation keine Ahnung haben; Roscher 1888 Ackerbau (System II 68) Es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Ausdrucke „Civilisation" für den Fortschritt zur höhern Kultur im Allgemeinen;

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Fern 1895 Socialismus (Ubers.) Vorw. VI Die Civilisation, diese an schönen Früchten so reiche, komplizierte Errungenschaft der menschlichen Tätigkeit, birgt zugleich ein Virus von furchtbar ansteckender Kraft in sich. Neben den glänzenden Produkten der wissenschaftlichen, künstlerischen und industriellen Tätigkeit häuft sie die ätzenden Giftstoffe des Elends und des Verbrechens, des Müssiggangs und des Wahnsinns an; Chamberlain 1895 Br. I 31 Wenn man schon infolge seiner körperlichen Schwächen und alter Gewohnheiten in der sogenannten „Zivilisation" leben muß, so ist es am Ende doch besser, man geht in ein ganz zivilisiertes Land; Treitschke 1897Politik 19 Wohl kann man ihn [Fortschritt] erkennen in der expansiven Civilisation; der einzelne Mensch aber wird mit den Fortschritten der Cultur nicht sittlicher; 1898 Cosmopolis XII 582f. Wir bedauern es lebhaft, dass Frankreich und England auseinandergefallen sind und fürchten, dass die Sache der Civilisation dabei schlecht wegkommen wird. Die Civilisation! Man sehnt sich fast schon, das Wort aus der Feder fließen zu lassen. Im Namen der Civilisation eroberte England den Sudan, pflanzte Marchand die französische Fahne über Faschoda; Roscher 1899 Handel (System III 28) Wie die Wörter i t o X i T E i a , urbanitas, Civilisation, Staatsbürger, bürgerliche Gesellschaft andeuten, so ist dasjenige, was wir jetzt Bildung nennen, diese eigenthümliche Mischung von Universalität des Inhalts und persönlicher Aneignung der Form, zuerst in den Städten herrschend geworden; Brandt 1901 Ost-Asien II 317 ständen die im Osten angesessenen Indianer, die Choktaw und Cherokee, die Ackerbau treiben, auf einer hohen Stufe der Zivilisation und gäben den Weißen nichts nach; Ziegler 1903 Kultur 48 Der Staat ist seinem Wesen nach Civilisation, verwirklichtes und Dasein gewordenes praktisches Verhalten; ebd. 140 Er [Rousseau] kämpfte im Grunde durchaus nicht gegen die Kultur als solche an . . . sondern er empörte sich nur heftig . . . gegen die Kultur, welche er vorfand und die in der Tat weit eher mit dem verglichen werden mag, was wir als Civilisatipn bezeichnet haben; ebd. 172 Indem die Gegensätzlichkeit von Kultur und Natur in eine wesentliche Identität aufgelöst wurde, scheint es, als sei das wahre Gegenteil der Ersteren nicht mehr die Natur, sondern die Civilisation; Haeckel 1904 LW. 66 Die Cultur im engeren Sinne, im Gegensatze zu der älteren Civilisation, beginnt nach unserer Anschauung mit dem Anfange des 16. Jahrhunderts; Wirth 1904 Volkstum 7f. Kraft ihrer geistigen Anlage schafft sich die Rasse eine eigene Formwelt: Formen des Hauses, der Waffen, der Kleider . . . Ich nenne das die Zivilisation; Jodl 1905 Vom Lebenswege II 685 Klagen über die

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Zivilisation und Versuche, aus ihr zu entfliehen, sind beinahe ebenso alt wie das Heraustreten der Völker aus dem Naturzustand; Reich 1908 Leben 90 Von der Natur durch die Zivilisation zur Kultur; Hegeler 1908 Ärgernis 83 Werke der Zivilisation mochte Rom geschaffen haben, doch niemals Kultur; Eucken 1909 Strömungen 230 Kultur wird nun zu einem festen und zum herrschenden Begriff, Zivilisation grenzt sich davon als eine niedere Stufe ab, Aufklärung verliert . . . die allgemeine Bedeutung und sinkt . . . zu einer historischen Kategorie (PFLAUM); Schmitz 1911 Brevier 5 Die Konventionen sind gleichzeitig Produkte der Kultur und der Zivilisation . . . Zivilisation ist ein Komplex von Werten, die man sich aneignen, erlernen, kaufen, nachmachen kann; 1914 Neue Rundschau Nov.-h. 1471 Im Gebrauch der Schlagworte „Kultur" und „Zivilisation" herrscht, namentlich in der Tagespresse . . . große Ungenauigkeit und Willkür. Oft scheint man sie einfach als gleichbedeutend zu verwechseln, oft sieht es auch aus, als ob man das erstere für eine Steigerung des anderen halte, auch umgekehrt . . . Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspruches von Geist und Natur; Schmitz 1914 Land 40 nicht Kultur, sondern Zivilisation, d. h. Verkäufliches; Hammacher 1914 Hauptfragen 76 die gemeinschaft dieser werte [Geisteswissenschaft, Kunst] bezeichnen wir als kultur und trennen sie von der Zivilisation [Naturwissenschaft, Technik, Wirtschaft] als ihrer naturgrundlage ab (DWB); Joel 1915 Weltkultur 3 Ist die Zivilisation nur Maske und die Kultur nur das raffinierteste und um so grausamere Mittel des Markttriebes?; Peez 1916 Europa 97 [Die Gallier] waren . . . neugierig, neidisch, durchaus nicht talentlos, beweglich, beredt, für die äussere römische „Zivilisation" sehr empfänglich; Polit.-anthropol. Mon'schr. 14 (1915/16) 507 Man hatte eben „Kultur" mit „Zivilisation" verwechselt und gemeint, jener allgemeine internationale Zivilisationsschleim, mit dem eine gewisse zivilisierende boa constrictor gewisse Schichten fast aller Nationen . . . beleckt bzw. bespien hat, könnte alle besondere rassische und völkische Kultur, überhaupt alle echte Kultur ersetzen; Chamherlain 1917 Br. II 252 Da wir Deutschen Kernworte lieben, so können wir zusammenfassen: Es ist der Krieg der modernen mechanischen „Zivilisation" gegen die uralte heilige ewig in Neugeburt befindliche „Kultur" auserlesener Menschenrassen; Dtsch. Rundschau 174 (1918) 94 ich sehe in diesem Weltkrieg den Zusammenbruch der Zivilisation; 1918 Deutschld. u. d. Katholizismus II 243 Dass

aber aus der Zivilisation Kultur werde, dazu gehört die Beseelung; Hauptmann 1918 Ketzer V 515 Die dünne Bergluft, der Frühling, die Trennung von der eigentlichen Schicht der Zivilisation brachten es mit sich, dass sein Bewusstsein sich ein wenig umnebelte; Bock 1920 Tagebücher 12 der Engländer hat viel weniger Kultur, aber desto mehr Zivilisation; ZfBächerkunde 11 (1920) 60 Erst als die westlichen Mitbewohner unserer asiatischen Halbinsel Europa unter dem Feldruf ihrer Zivilisation unser Barbarentum, das wir Deutsche doch immer eine Kultur zu nennen stolz genug empfanden, als Schicksalsvollstrecker niederzuwerfen sich anschickten, ist der gegensätzliche Begriff von Kultur und Zivilisation ins Bewußtsein breiterer Schichten gedrungen; Lewin 1924 Phantastica 7 Die Genussmittel dieser Art sind das einigende Band zwischen Menschen entgegengesetzter Hemisphären, zwischen Zivilisation und Unzivilisation geworden; ebd. 320 Das Begehren nach Tabak, das die der Hochzivilisation fernen Weiber Asiens, Melanesiens, Polynesiens, Afrikas und Amerikas zeigen; Bahr 1925 Liebe I 341 In bürgerlichen Zivilisationen bestehen die guten Sitten darin, dass man zu schlechten den Mut nicht hat; Curtius 1925 Geist 223 Frankreich ist in der Welt der Vorkämpfer des sozialen und politischen Fortschritts, der Zivilisation; ebd. 238 Es gibt in dem dunklen Chaos der Menschheitsgeschichte eine hellbelichtete Strecke; es ist die Zähmung und Ordnung der ungestalten Natur, die wir Zivilisation nennen; Dtsch. Rundschau 208 (1926) 62 Es wird nicht bezweifelt werden, daß in der gegenwärtigen . . . Epoche unserer abendländischen Zivilisation — Kultur kann man es füglich nicht nennen — der Verstand eine vorherrschende Stelle in der Gesamtdynamik der geistig-seelischen Kräfte einnimmt; Keyserling 1926 Welt 10 bringen junge Zivilisationen, die sich im Rahmen alter betätigen, lange Zeit hindurch nichts Neues hervor, so begabt ihre Vertreter auch seien; Moreck 1926 Sittengesch. d. Kinos 52 Kultur ist ein Komplex von Werten, die nicht erworben, nicht erlernt . . . werden können. Sitten, Gebräuche, Geschmack, Takt, Sensibilität, Welterfahrung usw. gehören dazu. Zivilisation ist ein Komplex von Werten, die man sich aneignen, erlernen, kaufen, nachmachen kann; zu ihr gehören alle materiellen Vervollkommnungen des Lebens, ferner Hygiene, Wissen, Gesetze; ebd. Das Kino ist ein Produkt aus dem Grenzbereich von Kultur und Zivilisation; Gerstenhauer 1927 Führer 73 die allgemein rassische Verköterung und geistige Vertrottelung, die Auslöschung der wahren, nationalen Kulturen durch eine internationale Allerweltszivilisation des Großstadtpöbels; Müller-Brandenburg 1927 Grundlagen 37 Der Begriff Zivilisa-

Zivilisation tion umfasst also das Seelenlose einer Kultur; dieses Seelenlose ist übertragbar, und deshalb kann man auch von einer ständigen Höherentwicklung der Zivilisation sprechen; Preuss. Jahrbücher 212 (1928) 28 im Verhältnis zum eigentlichen Kultischen ist „Kultur" zwar ein profaner Begriff; zusammengehalten aber mit dem der „Zivilisation", der gesellschaftlichen Gesittung also, erweist er seinen religiösen . . . seinen wesentlich ungesellschaftlichen . . . Charakter; Strich 1928 Dichtung 93 das abendländische Christentum ist im 18. Jahrhundert zu einem reinen Evangelium der Sittigung, Vernünftigung, Aufklärung und Vermenschlichung, mit einem Wort, der Zivilisation geworden; Berl. Morgenpost Ii. 12. 1929 ist Australien nicht das Land, in dem Ihnen das Glück blühen wird . . . Sie brauchen in hohem Komfort und Bildung in Ihrer Umgebung, ich möchte sagen, eine neue Zivilisation, aber mit fester Kultur. Ich würde Amerika vorschlagen; Voss. Ztg. 3. 12. 1929 Thomas Hobbes . . . der im Zeitalter der Cromwellschen Republik über den Ursprung der Zivilisation - im Wortsinne: der „Bürgerwerdung" des Menschen — nachdachte; Curtius 1930frz. Kultur 25 Denn Zivilisation ist ja nicht nur Sittigung der rohen Natur, sondern auch Verbesserung der menschlichen Zustände; 1930 Uhu April-h. 100 Das war kein Boxkampf mehr um Geld, das war reinster Blutrausch . . . Die Zivilisation lag eine Million Jahre zurück; Voss. Ztg. 13. 4. 1930 Wenn der Brasilianer die sichtbare Umsetzung seiner Mittel in die . . . Freuden unserer Zivilisation erleben will, fährt er nach Europa. Die regelmäßige Reise nach Paris gehört zum Lebenszuschnitt der eleganten Welt; Schultz 1930 Naturwiss. 2} Die Kultur schlägt in alleräusserlichste Zivilisation um; Ortega y Gasset 1931 Aufstand 87 Denn er [Spengler] glaubt, daß auf die „Kultur" ein Zeitalter der „Zivilisation" folgen wird, worunter er vor allem die Technik versteht; Volk u. Heimat 5. 2. 1931 Man erklärt Kultur als zeitbedingt und die Lebenszeit der europäischen Kultur für abgelaufen und die Formel für diese gleichzeitige Entwertung alles Absoluten . . . wurde das Wort von dem Tod der Kultur in der Zivilisation; Winnig 1932 Weg 353 Es habe schon einen Wahrheitsgrund, wenn man den Krieg einen Kreuzzug für die Zivilisation nenne; Gebauer 1932 Kulturgesch. 239 Ursprünglich von Rousseau beeinflußt, überwand er [Herder] dessen Fehler, in der „Zivilisation" lediglich die Ursache eines sittlichen Verfalls zu erblicken. Er sah vielmehr in der Kultur die Voraussetzung des sittlichen Fortschritts der Menschheit; ebd. 385 die fremden Erfindungen werden . . . von den Deutschen übernommen und verwertet, wie denn die ganze „Zivilisation", eben die materielle Kultur, schon

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seit jener Zeit ein völlig internationales Gepräge zu erhalten begann; ebd. 422 Man hat den . . . Zustand des modernen Zivilisationsmenschen als Mechanisierung des Lebens bezeichnet; Berl. Illustr. Nachtausg. 14. 1. 1933 Das deutsche Volk würde mit seinen großen . . . Kulturkräften gern daran arbeiten, die noch zurückgebliebenen Völker zu gleicher Zivilisation und gleicher Kultur heranzubilden; ebd. 24. 1. 1933 jenes Gebiet, wo auch die Kaiapalos wohnen, gehört durchaus noch zu dem Gürtel der „Halbzivilisation"; ebd. 2. 2. 1933 gegen den schärfsten Feind der Zivilisation anzugehen, die Malaria. Solange die Wissenschaft kein Mittel findet gegen den Malariakeim . . . wird an eine Kolonisierung und an eine Zivilisation des Innern von Brasilien nicht zu denken sein; Lokal-Anz. 29. 6. 1933 Die Zivilisation — im weitesten Sinne des Wortes —, also der Schritt von der schlichten Natürlichkeit zur Verkünstelung des Lebens; Dtsch. AZ. 8. 9. 1935 Die Ostgrenze des Memelgebietes . . . stellt eine tatsächliche Scheidung ohne Ubergang zwischen zwei verschiedenen Zivilisationen dar; Friedrich 1937 Descartes 33 Die französische Zivilisationsidee . . . ist nichts als das Erbe des übervölkischen Universalitätsgedankens humanistischer Prägung; Potthoff 1938 Handw. 9 Bezeichnet die „Zivilisation" eines Volkes seine materielle Entwicklung, stellt sie somit die Summe seiner äußeren . . . technischen Errungenschaften dar, so sehen wir in seiner Kultur, wie wir sie in europäischem Sinne verstehen, die Umsetzung jener äußeren Werte in solche innerer, also geistiger, ästhetischer und sittlicher Art; 1940 USA 10 die Staatsdokumente der Vereinigten Staaten, Präsidentenbotschaften wie Verlautbarungen aus dem State Departement sind angefüllt mit Moral, mit Rücksichtnahme auf Menschlichkeit, Weltzivilisation und Religion; Halm 1940 Alliance 5 Was der Deutsche mit „Kultur" bezeichnet, nennt der Franzose „Civilisation". Der Vorstellungsinhalt dieser beiden Begriffe ist annähernd der gleiche. Jedoch die Einordnung der „Kultur" und der „Civilisation" in das Weltbild ist eine andere; 1942 Zeitwende 285 Das Gefühl für innigere Werte und den Sinn wahrer Kultur ging verloren, und es kam zu jener sehr bezeichnenden Gleichsetzung der Worte Zivilisation und Kultur; Ortegay Gasset 1943 Wesen (Übers.) 142 Der Mensch der höchsten Zivilisationen ruft verzweifelt nach dem Wilden, den er in sich vermutet; Pfannenstiel 1944 Krieg 13 die sog. Zivilisationsseuchen, vor allem die Grippe, die 1918 auf der ganzen Welt 20 Millionen Todesopfer forderte; Dtsch. AZ. 1. 10. 1944 unterscheidet. . . den Träger einer alten Kultur von dem Zivilisationsbarbaren, der nur ein lärmendes Heute kennt und dessen Welt sich aus lauter Artikeln zusam-

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mensetzt, die ersetzbar und von Fabrik und Warenhaus jederzeit lieferbar sind; Münch. N. N. 10. 2. 1945 daß Amerika vom Absolutismus seiner Zivilisation besessen ist wie keine Macht auf Erden; Röpke 1948 Gesellschaftskrisis 95 die „sozialen Gesetze", die „industrielle Zivilisation" . . . die das Nützliche mit Recht und Moral von selbst zur Deckung bringt, die emsige Hingabe der Menschen an das Geschäft der materiellen Wohlstandssteigerung; Sieburg 1950 Jahre 160 Die Not der Geschlechter, die aus den kälteren Zivilisationen langsam . . . in jene zurückgedrängten Lebenskreise einströmt, die noch einer wahren Innigkeit fähig sind, wächst und wächst; 1950 Saeculum 174 Die Gesellschaften (Zivilisationen) zeigen in ihrem Leben Merkmale , die untereinander vergleichbar sind; Wort u. Wahrheit 5 (1950) 948 Das abscheuliche Bild einer nur noch von Automaten bevölkerten gedankenlosen Zivilisation, die von einer lebensblinden Lemuren-Bürokratie gelenkt wird und die sich immer mehr perfektioniert; Süddtsch. Ztg. 15. 9. 1951 Hier [in den Alpen] hat sich am Rande unserer Zivilisation eine Urform des Daseins erhalten, die in ihrer Härte und Unausweichlichkeit noch gar nichts mit jenem viel berufenen Lebensstandard zu tun hat . . . dies ist sicher, daß für die Masse der Verbraucher jene sympathischen almwirtschaftlichen Umstände, unter denen die Kühe hier ihr eßbaren Produkte noch zu liefern pflegen, kaum mehr ins Gewicht fallen. Ihnen ist es gleich, woher und wie. Während es andererseits doch auch durchaus fraglich geworden ist, ob die anspruchslosen Menschen, denen die Aufrechterhaltung solcher Wirtschaftsformen zu danken ist, — Formen, die in unserer Zivilisation schon wieder Luxus zu werden drohen — von der Ausübung ihres alten Berufes allein noch ihr gar so bescheidenes Leben zu fristen vermöchten . . . Die Wahrheit ist, daß der moderne Mensch noch weniger als der kostümierte Schäfer des 18. Jahrhunderts fähig wäre, ein Leben im Naturzustande, ohne die zu seiner Erleichterung ausgedachten Behelfe, zu führen. Der Kampf mit den lästigen Begleiterscheinungen der Zivilisation ist ihm schließlich doch ungleich vertrauter als ein Leben ohne deren Annehmlichkeiten; De Man 1951 Vermassung 9 [daß die] Begriffe Kultur und Zivilisation teils als Synonyma, teils als Gegensätze gedeihen; Hellpach 1951 Sozialpsych. 309 Die „Zivilisation", die ja die menschheitliche Erscheinungsform der tierheitlichen und pflanzheitlichen „Domestikation" ist; Süddtsch. Ztg. 3. 6. 1952 das Japan von heute in seiner eigentümlichen Mischung aus östlicher Kultur-Tradition und westlichem Zivilisations-Fortschritt; ebd. 26. 9. 1952 Sie [Forscher], die oft jahrzehntelang Ursache und Wirkung der vielbe-

redeten „Zivilisationskrankheiten" in der Praxis studieren konnten; Franz 1954 Kulturkampf 292 Das Schlagwort Virchows „Kulturkampf" hat über die politische und parteimäßige Bedeutung hinaus einen viel tieferen Sinn . . . Dieser Kampf um die Kultur war . . . das Ringen zwischen der im Aufstieg begriffenen technischen Zivilisation mit der bisherigen Kultur; Tritsch 1954 Erben 10 die besten Mittel, der verlogenen, verdorbenen, verfaulten bürgerlichen Zivilisation . . . den Garaus zu machen; ebd. 18 Die grossen und die kleinen Menschengruppen . . . dem Dorf, der Stadt, der Nation, bis zu den großen, umfassenden Zivilisationen ahmen immer ein . . . erwähltes Vorbild nach; Süddtsch. Ztg. 26. 9. 1955 während noch in 40% der Althauswohnungen Familien „zivilisationswidrig" leben; 1955 HochschulDienst Nr. 18 die Zunahme der chronischen Leiden (Zivilisationskrankheiten), das Ansteigen der Frühinvalidität; Süddtsch. Ztg. 21. 7. 1956 Es bedarf schon einer gewissen Blindheit und Unbekümmertheit, um den Glauben an die Segnungen der Zivilisation und des technischen Fortschritts frisch-fröhlich aufrechtzuerhalten; ebd. 13. 8. 1956 man spürt förmlich die Lust am Barbarischen, die den vermutlich zivilisationsmüden Drehbuchschreiber beflügelte; Saeculum 7 (1956) 227 Kultur hat Seele, Zivilisation nur Methode und Werkzeug; Süddtsch. Ztg. 7. 8. 1957 „Weg von der öden Zivilisation — zurück zur lebendigen Natur" schrieb Stuttgarts Oberbürgermeister . . . ins Programmheft der 18. Internationalen Camping-Sternfahrt; Offenburger Tagebl. 5. 12. 1958 würden in einem künftigen Atomkrieg mit den bereits fertiggestellten Atombomben die meisten Zivilisationszentren in den kriegführenden Staaten zerstört . . . werden; 1960 Universitas II 310 Anm. Die terminologische Doppelgleisigkeit von „Kultur" und „Zivilisation" hat die Neugriechen in grosse Verlegenheit gebracht; Offenburger Tagebl. 9. 4. 1960 die mächtigen indischen Elefanten, Urwaldriesen, die Oskar Fischer in zahme Zivilisationskolosse verwandelt hat; Stuttgarter Ztg. 1. 7. 1960 hielt es darüber hinaus für erforderlich, das „Zivilisationsgefälle" von Stadt und Land zu beseitigen; Offenburger Tagebl. 3. 1. 1961 Zur „Zivilisationsaskese" und damit zum freiwilligen Verzicht und Nein-Sagen gegenüber der Uberfülle des täglichen Konsumangebots hat der Erzbischof . . . aufgerufen; Adorno 1961 Noten II 113 Dass Zivilisation als Latinisierung in Deutschland nur halb gelang, bezeugt auch die Sprache; Stuttgarter Ztg. 19. 9. 1962 Die Verwirklichung all dieser Ideen erfordert natürlich einen . . . finanziellen Mehraufwand, der sich jedoch dort, wo Menschen dem Zivilisationslärm zu entrinnen trachten, bezahlt machen wird; Süddtsch. Ztg. 26. 10. 1962

zivilisatorisch Herr Englert behauptet, die Amerikaner hätten Zivilisation, aber keine Kultur. Dazu ist zu sagen: 1. Der Gegensatz Zivilisation — Kultur wird von der Gesellschaftswissenschaft als veraltet und unfruchtbar abgelehnt. 2. Wenn man an Namen denkt wie . . . Lincoln (Politik) . . . Faulkner (Dichtung) . . . dann erscheint Herrn Englerts Behauptung reichlich absurd; Mühlmann 1962 Homo 395 Unterscheidung von Zivilisation und Wildheit; Süddtsch. Ztg. 3. 1. 1963 Zurück zur Zivilisation (Uberschr.) Robinson Crusoe kannte und verspürte Rousseaus Ruf zurück zur Natur noch nicht, als es ihn 1719 auf seine tropische Insel verschlug. Er bestand seine Abenteuer . . . Heute, da viele zivilisationsmüde Erdbewohner von einer Robinsoninsel träumen, kann leider niemand mehr damit rechnen, daß ihn ein Schicksal an die Gestade eines einsamen Eilands wirft . . . Ganz der Zivilisation für die Dauer zu entfliehen, will auf unserem von Flug- und Schiffsrouten, von Ätherwellen und Telephondrähten überzogenen Globus schier unmöglich erscheinen; Neues Europa 15. 11. 1963 bringen wir einen Artikel über die Zivilisationskrankheiten als Danaergeschenk des allgemeinen Wohlstandes; Fischer 1966 Kunst 15 unter die Räder der technischen Zivilisation geraten; 1966 Kulturanthropol. 370 die japanischen, chinesischen, indischen und die afrikanischen Kulturen beginnen einen Grossteil der Zivilisationsausrüstung des Westens zu absorbieren; FAZ 3. 1. 1967 Man verteidigt nicht die Zivilisation und noch weniger die . . . christliche Zivilisation mit Kanonenschüssen und Bomben; 1970 Durch die schöne Welt H. 4 o. S. Da darf ein zivilisationsmüder Städter . . . in Entzücken geraten. Wie verwunschen kuscheln sich die Dörfer in die engen Täler; FAZ 16. 12. 1970 nach einem Prozeß, dessen Mangel an juristischer Zivilisation so weit ging, daß zwei Richter den Säbel zogen; ebd. Bei einem Kontrollgang haben Waldhüter . . . in einer Erdhöhle einen . . . Mann entdeckt, der sich vor zweieinhalb Jahren aus der Zivilisation zurückgezogen hatte; 1971 Festg. a. Klett 313 die moderne technische Weltzivilisation der Maschine und der

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Wissenschaften; Die Zeit 3. 10. 1980 Erst wer mit mitteleuropäischen Wertmaßstäben, etwa durch ein Studium oder den Einfluß der westlichen Zivilisation vor allem auf die Städte, in Berührung kommt, beginnt zu zweifeln, schämt sich seiner Lebensgewohnheiten; ebd. 3. 4. 1981 Gleichheit und Brüderlichkeit nicht bloß als Feiertagsproklamation, sondern als praktische, tragende Prinzipien der alternativen Zivilisation? Das sind radikale Fragestellungen . . . es ist wichtig, daß sie diskutiert werden — sei es auch, damit sie relativiert und korrigiert werden, etwa in dem Sinne, daß die wahrhaft alternative Zivilisation vielleicht die wäre, die eine Koexistenz, eine Balance der Alternativen möglich machte, statt daß wir immer nur in die Eindimensionalität unseres Entweder/ oder flüchten. Überzivilisation: Riehl 1851 Naturgesch. I 122 Übercivilisation (DWB); Rodenberg 1860 Insel d. Heiligen II 48 Luxus der Übercivilisation des andern Europa's; Fröbel 1866 Kl. pol. Sehr. I 47 Merkmale einer Übercivilisation: Nordau 1881 Paris I 74 Diese moralische Caricatur, dieses widerwärtige Kunstproduct der dreihundertjährigen weltstädtischen Corruption und Übercivilisation ist die Durchschnittssouvriere der Pariser Proletarierquartiers; Steinitzer 1910 Sport u. Kultur 3 Man hört in unserer Zeit oft die Behauptung, der Sport sei berufen, die alternde Menschheit zu verjüngen oder wenigstens die ihr von der Überzivilisation beigebrachten Schäden zu heilen; Polit.anthropol. Mon'schr. 15 (1916/17) 595 Wir erkannten . . . das zwingende Gebot, unserem 70 Millionenvolke . . . bäuerlilche und kleinstädtische Ansiedlungsmöglichkeiten geben zu müssen, damit es nicht in der heimischen Uberzivilisation verderbe; Jäger 1925 Antike 8 Beide Mächte unserer Zeit, die Uberzivilisation und die Zivilisationsflucht, vernichten . . . die Kultur; Kriss 1933 V'kde II 36 Er [Gemeinschaftsglaube] wird lebendig bleiben, solange das primitiv-urtümliche Empfinden in der Uberzivilisation noch nicht erstorben ist.

zivilisatorisch Adj., im frühen 19. Jh. aufgekommene Ableitung zu —> Zivilisation; in der Bed. 'die Gesamtheit der künstlerischen, technischen, wissenschaftlichen, wirtschaftspolitischen Institutionen der Zivilisation einer Nation, Gesellschaft betreffend, auf sie (aus-)gerichtet; sie fördernd, verbreitend; auf ihr beruhend', z. B. in Syntagmen wie zivilisatorische Entwicklung, zivilisatorischer Einfluß; gelegentlich im engeren Sinne für 'die Gebiete von Naturvölkern, in wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftspolitischer o. ä. Hinsicht unterentwickelten Gesellschaften erschließend, zivilisierend', auch 'pionierhaft' und 'missionarisch', z . B . in Syntagmen wie zivilisatorische Aufgabe, Sendung, Mission; selten für 'sog. primitive

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zivilisatorisch

Völker aus dem Naturzustand/aus der Stufe des Animalischen, Triebhaften befreiend, herausführend und dem Entwicklungsstand zivilisierter Nationen zuführend', gelegentlich (im Unterschied zu kulturell) negativ assoziiert mit einer relativen Überbetonung des Materiell-Äußerlichen der Zivilisation (Befriedigung von wirtschaftlichen Bedürfnissen, technische Leistungen) unter Vernachlässigung des Geistig-Seelischen, vereinzelt auch für 'den gesellschaftlich-akzeptablen Konventionen gemäß, gesittet', vgl. —> zivilisiert; dazu seit späterem 19. Jh. die seltene subst. Ableitung Zivilisator M. (-s; -en) 'Kultur- und Zivilisationsträger; Verbreiter, Beförderer der Zivilisation'. zivilisatorisch: Ritter 1822 Erdkde. XVIII 685 Venetianer und Genuesen, deren italienische sprachformen in den meisten namen der pontischen küstenstädte die wichtigsten Zeugnisse ihres civilisatorischen einflusses auf jene gegenden geblieben sind (DWB); Riehl 1861 Vorträge 1271 die alten Römer waren ganz ähnliche Despoten welterobernder „civilisatorischer" Ideen; Gervinus 1872 Hinterlass. Sehr. Ii In diesen Dingen mit unsern Nachbarstaaten zu wetteifern, als das Kulturvolk, als das wir uns unstreitig einen Ruhm und eine Geistesmacht in der Welt errungen haben, die eine andere Dauer hatte als die Waffenmacht, zu deren Erlangung die größten Männer durch Jahrhunderte nutzlos das deutsche Blut vergeudet hatten, zur gegenseitigen Förderung der höchsten civilisatorischen Werke und Zwecke, das wird für unser Volk ein edleres . . . Ziel sein, als die Bepflügung der Schlachtfelder, die nichts als Elend tragen; Rodenberg 1874 In dtsch. Landen 4 Man träumte von der civilisatorischen Macht der Ideen und ich träumte mit; Nordau 1881 Paris I 115 es schien, als sollte Frankreich die civilisatorische Leuchte der Welt werden; ebd. 1882 (II 331) Das Vaterland braucht Kinder . . . um seine civilisatorische Mission erfüllen zu können; Honig 1882 Mannszucht 67 Das Dienen im Heere ist ein Mandat und damit dem Heerwesen selbst erst ein zivilisatorischer Beruf eingeräumt worden, welchen man einen Reinigungsprozeß im Volksleben nennen darf; Schwappach 1886 Handb. d. Forst-uJagdgesch. I 147 die zivilisatorische arbeit des deutschen ordens in preuszen (DWB); Hellwald 1890 Slawen 195 wo das nationale Leben geringen zivilisatorischen Einflüssen von auswärts unterworfen war; Brandt 1901 Ost-Asien I 73 Zur Zeit als die Vertreterinnen des schönen und zarten Geschlechts in China noch sehr selten waren und ihren civilisatorischen Einfluß noch nicht hatten geltend machen können; Ziegler 1903 Kultur 46 Sobald der Staat dagegen als civilisatorisches Mittel erkannt wird; ebd. 52 Zu dieser ausschließlich civilisatorischen Bedeutung sinkt auch die Wissenschaft da wieder herab, wo sie zur angewandten wird, d. h. zur Technik; ebd. 53 [der] civilisatori-

sche Trieb einer praktischen Glückseligkeit; ebd. 94 [den] bürgerlichen und civilisatorischen Fanatismus; Friedens-Warte 6 (1904) 33 dass Russland im Osten ungeheure zivilisatorische Aufgaben zu bewältigen habe; Thiess 1923 Gesicht 14 Nur ein lebendiger Mensch kann Mitschöpfer einer Kultur sein, der starre vermag nur „zivilisatorisch" zu wirken; Ponten 1924 Urwald 27 die Stimmung des Furchtbaren und des leisen Grauens . . . das in keiner echten Natur fehlen darf, und das nur die Torheit des zivilisatorischen Menschen aus der Natur zu bannen sucht; Kyper 1925 Tierschutz 5 unsere zivilisatorischen Errungenschaften bedeuten keine Kultur (PFLAUM); Voss. Ztg. 12. 10. 1926 Das Schwergewicht lag in der Ausstellung verschiedener kunstgewerblicher Dinge, nicht aber darin, daß die Form sich aus der kulturellen und zivilisatorischen Struktur zwangsläufig entwickelt hatte; Tillich 1926 religiöse Lage 65f. Auch darin [in der Bedürfniserregung durch Reklame] liegt ein religiös-positives Element, die Befreiung aus erdgebundener, bedürfnisloser Dumpfheit, die zivilisatorische Loslösung der Persönlichkeit von der Tierheit und Zufälligkeit der Bedürfnisbefriedigung; Thiess 1927 Gesicht 41 weil in den letzten Jahren ein Geist der Unterwerfung und Vergewaltigung im Namen des Geistes in Wickersdorf eingedrungen ist, wie er nur in einem Zeitalter hoher zivilisatorischer Blüte möglich ist; Strich 1928 Dichtung 89 jene zivilisatorische Verwandlung der Antike . . . welche der französische Klassizismus . . . vorgenommen hatte; Südd. Mon'h. 26 (1929) 477 Theater als . . . O r t . . . zivilisatorischer Unterhaltung; Voss. Ztg. 9. 3. 1930 Tolstois „Rückzug von Moskau" ist die sprunghafte Abkehr vom Offiziellen zum Wesentlichen, vom zivilisatorischen Uberbau zum fundamentiert Inhaltlichen; Südd. Mon'h. 27 (1930) 514 war es nicht von jeher ein Zeichen zivilisatorischer Entartung, wenn das Spiel blutig sein durfte, der blutige Ernst aber verabscheut wurde?; Dtsch. Rundschau 222 (1930) 185 Der Fortschrittsgedanke wird bald religionsphilosophisch tief, bald zivilisatorisch platt aufgefaßt; Man 1932 Massen 47 Was im Prozeß der Massenbildung im kapitali-

zivilisieren stischen Zeitalter Kultursenkung und zivilisatorischen Verfall bedeutet, trifft . . . nur auf die frühere Phase der passiven Massenbildung zu; Frankf. Ztg. 9. 12. 1934 Glaube an die zivilisatorische Sendung der Vereinigten Staaten für den Fernen Osten; 1938 Geopolitik 787 kulturell (besser: zivilisatorisch); Münch. N. N. 20. 10. 1940 auch Krekel sieht die andere; vom Zivilisatorischen noch nicht ergriffene, noch nicht abgeschliffene Seite in der Seele des Niederländers; Mühlmann 1940 Krieg 109 zivilisatorisches Gefälle; Münch. N. N. 6. 3. 1941 hatte der berühmt gewordene amerikanische Kommodore Perry Japan „entdeckt", was sich seine Heimat als eine zivilisatorische Tat von allgemeiner Bedeutung hoch anrechnete; 1943 Afrika 10 zum zivilisatorischen Ziel afrikanischer Kolonialpolitik; Dtsch. AZ. 9. 2. 1945 Friede auf Erden ist nicht denkbar nach einem Plan, der dem Bolschewismus auf der ganzen Welt die Tore öffnet, um die Völker auf den niedrigsten Lebensstandard herabzudrücken, die nationalen und zivilisatorischen Fähigkeiten und Eigenschaften zu liquidieren; Kurier (Berlin) 10. 5. 1950 [der] Flitter zivilisatorischen Anspruchs; Hellpach 1951 Sozialpsych. 209 in diesen sozialpsychologischen Auswirkungen der zivilisatorischen Domestikation des Menschengeschlechts; Eppelsheimer 1955 Schild 13 Die römische Literatur . . . stellt das bewusst gearbeitete, gehärtete Werkzeug des zivilisatorischen Willens im Römertum dar; Münch. Stadtanz. 10. 8. 1956 Wenn vorhin historisch an die erste Eisenbahn . . . erinnert wurde, dann wurde nur an die akute Schädigung gedacht, nicht aber an die Wirkung

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dieser unerhörten Summierung der Überreizungen, denen wir ausgesetzt sind und deren Ergebnis eine furchtbare Verbreitung von Zivilisationskrankheiten, zivilisatorischem Unbehagen von Angst, Neurosen usw. ist; Bauer 1957 Verbrechen 7 Massenprodukte eines zivilisatorischen Fliessbandes; Passauer Neue Presse 3. 10. 1958 Die Geschichte der Eroberung des kulturell und zivilisatorisch hochstehenden christlichen Ostroms durch die barbarischen . . . Türken; Stuttgarter Ztg. 7. 3. 1959 die Entwicklungsbank soll den . . . süd- und mittelamerikanischen Volkswirtschaften bei der Verwirklichung zivilisatorischer und wirtschaftlicher Projekte helfen; Mühlmann 1962 Homo 392 Idee einer zivilisatorischen Sendung; Offenburger Tagebl. 5. 10. 1971 Der Griff zur schmerzlindernden Tablette ist für viele Zeitgenossen . . . zu einem „zivilisatorischen Reflex" geworden; FAZ 14. 12. 1971 während sie [Engländer] bereit sind, Kanadiern oder Australiern britischer Abstammung dasselbe Privileg zuzugestehen, sehen sie die Freizügigkeit zwischen anderen Ländern und Großbritannien geradezu als unzivilisatorischen Gewaltakt an; Die Zeit 20. 11. 1981 Panik und der dauernde Zusammenbruch der zivilisatorischen Grundregeln bestimmen die Situation. Reporter brüllen, Pressesprecher lügen.

Zivilisator: Scheffel 1870 (Luise v. Kobell 1894 Erinn. II 144) die schöne Civilisatoren-Gesellschaft [der Franzosen]; 1942 Berl. Mon'h. 389 Österreich als Kulturträger, ja als Zivilisator im Ostraum.

zivilisieren V.trans., Anfang 18. Jh. aufgekommene Rückbildung zu älterem —» zivilisiert; a zunächst bes. auf Personen bezogen in der Bed. 'jmdm. Anstand, Benehmen, Manieren, Höflichkeit beibringen; jmdn. gesittet(er) machen, (zu korrektem, feinem gesellschaftlichem Verhalten) erziehen, (aus-)bilden, humanisieren', vereinzelt als V.reflex. für 'sich ein gepflegtes, ordentliches Aussehen geben, sich kultivieren, pflegen', früher vereinzelt auch von Sachen für 'verfeinern'; unter Einwirkung von —Zivilisation auch übertragen auf Völker, Gesellschaften in der Bed. '(primitive Völker) aus dem Naturzustand heraus- und der (europäischen) Zivilisation zuführen', häufig positiv wertend für '(primitive Völker) mit den Errungenschaften der Zivilisation bekanntmachen, ihnen zivilisatorischen (technisch-wissenschaftlichen) Fortschritt bringen', vereinzelt als V.reflex. für 'sich der Zivilisation anpassen, unterwerfen', gelegentlich mit Ablehnung der dabei verwendeten kolonialistischen, imperialistischen Methoden auch leicht abwertend verwendet; dazu seit spätem 18. Jh. das Verbalsubst. Zivilisierung F. (-; ohne PI.), meist von Personen, Völkergemeinschaften, in der Bed. 'Erziehung zu (äußerer, formaler) Gesittung, Höflichkeit, gesellschaftlichen Umgangsformen; Versittlichung', auch je nach Standpunkt wertend verwendet für '(gewaltsame) Verbreitung der Zivilisation 27 Fremdwörterbuch

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zivilisieren

und der mit ihr verbundenen (technisch-industriellen) Gesellschafts- und Wirtschaftsformen', mit der vereinzelt nachgewiesenen Präfixbildung Uberzivilisierung F. (-; ohne PI.) 'zu weit gehende Form der Zivilisierung'; im 19. Jh. die Gelegenheitsableitung an jmdm. herumzivilisieren '(jmdn., z. B. einen Volksstamm) in die Zivilisation zu integrieren suchen'; seit Mitte 19. Jh. vereinzelt die adj. Ableitung (un-)zivilisierbar '(un-)fähig, (un-)geeignet, in den Stand der Zivilisation überführt zu werden', b Im 20. Jh. vereinzelt auf geographische Gebiete bezogen in der Bed. 'mit technischen Mitteln urbar, nutzbar, bewohnbar machen; kultivieren'. zivilisieren a: Wächtler 1703 Handb. 64 civilisiren, einen die höflichkeit lehren . . . er musz sich erstlich ein wenig civilisiren lassen; er ist noch nicht wohl civilisiret (DWB); Morator 1727 Convers.-Lex. o. S. Civilisiren . . . höflich machen (PFLAUM); Dusch 1765 Br. II 71 von einem arkadischen, in Paris civilisirten Schäfer; Herder 1772 (V 9) Sprache, die . . . verfeinert, civilisirt und humanisirt worden (DWB); Schlegel 1798 Kunstlehre 3 Zu Künstlern können nur wenige zivilisiert werden; Krause 1798 Bern. z. Schlegels Kunstlehre 3 zivilisieren, selbbilden, durch Gesellschaft und in Gesellschaft lebbilden (kultivieren); Füllehorn 1802 Rhetorik 36 civilisiren, entwildern, gesitten, versittlichen; Heine vor 1830 (S. W. VII 43) [Diese Völker] sind jetzt gefährlicher als je, seitdem sie sich zivilisieren und glaceehandschuh tragen (DWB); Menzel 1835 Geist d. Gesch. 190 den Wilden kann man civilisiren; Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. I 181 [Die Türken] sollen ja civilisirt werden; 1854 Prutz' Museum I 443 Zum „Civilisiren" und „Europäisiren" [der Türken] ist nachher Zeit; Gregorovius 1854 Wanderjahre I 140 Es sind meist die deutschen Maler, welche das Gasthausleben in den kleinen Küsten- und Gebirgsörtern auf solchen Fuß civilisiren und vielfach kann man sie als Missionare der Gasthauscultur betrachten; Reumont 1862 Zeitgenossen 1200 [der Papst] als Personification des civilisirenden und harmonisirenden Princips und Vermögens in der Ausübung zweier Gewalten, der religiösen und der bürgerlichen; Du Bois-Reymond 1870 Reden I 80 Seit den Tagen der ersten Republik . . . leben [die Franzosen] des Wahnes, sie vermöchten auf uns civilisirend, wie sie es nennen, zu wirken, uns einen politischen oder socialen Fortschritt zu bringen; Bruckbräu 1870 Heer 29 Ich kann der Welt nichts Bess'res thun, als sie civilisiren. Und darf deshalb auch niemals ruh'n, Und keine Zeit verlieren. Mit der Civilisation Ist dann der ew'ge Frieden schon zum Heil der Welt gestiftet; Nordau 1881 Kreml I 86 Englands weltgeschichtliche Aufgabe ist eine andere: es ist die, zu kolonisieren, nicht zu civilisieren. England rottet barbarische Völker aus . . . So hat es Nordamerika . . . der Kultur erobert, so civilisiert es jetzt Südafrika und

Neuseeland; Eucken 1904 Strömungen 227 Kultivieren, Zivilisieren, Polieren, Polizieren, Aufklären; Schäffle 1906 Soziologie 238 [der] zivilisierende Daseinskampf; Stimmen d. Zeit 78 (1910) 20 barbarische Völker zu zivilisieren; V'schr. Sozialgesch. 14 (1918) 588 Die römische respublica erhebt den Anspruch, auch die ihr noch nicht angehörigen Fremden, im Gegensatz zu den cives technisch als gentes bezeichneten Völker in sich aufzunehmen, zu „zivilisieren"; Beri. Illustr. Nachtausg. 2. 2. 1933 Die südamerikanischen Regierungen müssen nur etwas tun, um die wilden Indianer zu zivilisieren; Keyser 1938 Bevölkerungsgesch. Dtschlds. 284 [man] versuchte die zigeuner durch ansiedlung zu „zivilisieren" (DWB); Rosenstock-Huessy 1951 Rev. 307 Hier gilt es nur die Größe der Kraft aufzudecken, die dem Landadel [in England] zuströmen mußte, um ihn in derartigem Ausmaß zu „zivilisieren"; Akkermann 1954 Mode 162 Alle Stände sollen und müssen möglichst humanisiert und zivilisiert werden; Claudius 1956 Grüne Oliven 371 du mußt dich wieder zivilisieren (WDG); Behrendt 1962 Mensch 25 Die Gesellschaft „zivilisiert" also den jungen Menschen. herumzivilisieren: vor 1817 Globus IV 380 300 Jahre hat man an ihm [dem Indianer] herumcivilisirt (SANDERS 1871). zivilisierbar: Dürringsfeld 1857 Dalmatien I 176 Das wollte sagen, sie wären vorläufig noch uncivilisirbar; Brandt 1901 Ost-Asien II 317 Herr Kelton hat mir viel von den furchtbaren Grausamkeiten erzählt, die die Indianer verübten, hielt sie aber doch für zivilisierbar. Zivilisierung: Kant 1784 Idee 402f. Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Uberlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; Der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinaus-

zivilisiert läuft, macht bloß die Zivilisierung aus (PFLAUM); 1796 (Hölderlin-]ahrb. (1958) 9) Aber darf ein Mädchen in jedem der Stände, welche die Civilisirung hervorgebracht hat, hineintreten?; Kant 1799 Kritik d. Urteilskraft XXIX 157 Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte noch sich selbst ausputzen . . . sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloss Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang der Civilisirung) (PFLAUM); ders. vor 1804 Über Pädagogik IX 449f. man [muß] darauf sehen, daß der Mensch auch klug werde, in die menschliche Gesellschaft passe, daß er beliebt sei und Einfluß habe. Hierzu gehört eine gewisse Art von Cultur, die man Civilisirung nennt. Zu derselben sind Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit erforderlich (PFLAUM); Niemeyer 1822 Beob. II 397 Anm. Angelegenheit der religiösen Cultur, und, was davon die unmittelbare Folge ist, die Civilisirung von Millionen; 1858 Staats-Wb. III 187 sucht das Übel an der Wurzel anzugreifen und deshalb seine Bestrebungen direkt auf Civilisirung der afrikanischen Negervölker zu richten; Nordau 1881 Kreml I 87 [die] Civilisirung Asiens; Polit.-anthropolog. Mon'schr. 15 (1916-17) 294 das Ausland, namentlich England und Amerika, würden diesen Zug nach dem Westen als das erste Zeichen der innern Einkehr, der „Entbarbarisierung" und „Zivilisierung" Deutschlands mit Wohlwollen begrüßen; Kerr 1920 Welt II 108 Zivilisierung der Menschennatur; Bonn 1927 Geld u. Geist 119 Zivilisierung des Westens; Dtsch. AZ. 26. 8. 1935 Die Aufgabe der Kolonisierung und Zivilisierung Abessiniens wird das italienische Volk für mindestens 50 Jahre beschäftigt halten . . . Die Erschließung der Reichtümer Abessiniens wird Italien und der ganzen Welt zugute kommen; ebd. 23. 11. 1935 Ein göttliches Mandat der Zivilisierung (Überschr.) Der Bischof von Triest hielt eine Rede, in der er sagte, daß das abessinische Unternehmen auf die Gerechtigkeit und die Mission der Zivilisation gegründet sei, die die Religion den Christen vorschreibe. Das italienische Volk solle siegreich den ungerechten Waffen der habsüchtigen Egoisten widerstehen, die sich einem göttlichen Man-

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dat der Zivilisierung von Unterdrückten der barbarischen Stämme entgegensetzen wollten; Picht 1940 soldat. Mensch 53 Hier [beim Engländer], wo die Zivilisation nicht wie in Frankreich vorausgesetzt werden kann, handelt es sich um die Zivilisierung. Das heisst Bändigung und Läuterung einer ursprünglichen Wildheit, ja Ruchlosigkeit; 1943 Geopolitik 311 „Zivilisierung" [der Naturvölker], d. h. Ausbreitung westeuropäischer Zivilisation, kapitalistischer Wirtschaftsmethoden und christlicher Mission über afrikanische und ozeanische Eingeborene; Bartz 1950 Alaska 311 Bei der eigenartigen Kulturgruppe der Eyak im Gebiet des Unterlaufes des Cooper River war der „Zivilisierungsvorgang" zu Ende des vorigen Jahrhunderts praktisch beendet; Süddtsch. Ztg. 9. 6. 1954 Der Hang zum Wechsel als Folge der Zivilisierung unseres Lebens erscheint der Wissenschaft eine noch wesentlichere Ursache der Eheauflösung als die wirtschaftliche Unsicherheit; ebd. 28. 5. 1955 Die Gegner des neuen Badens erklären, daß durch die geplante „Zivilisierung" des beliebten Freibadeplatzes das Idyllische verloren gehe; es würde einem privaten Geschäftsinteresse geopfert werden; Hoffmann 1955 Humanismus 15 diese Kulturen [in Westeuropa sind] durch römische Zivilisierung der Länder entstanden; Mühlmann 1962 Homo 399 Der Prozeß der Zivilisierung ist nicht umkehrbar; Stuttgarter Ztg. 16. 7. 1966 Die Parole: „Laßt die Polizei die Verbrecher bekämpfen, sie wird dafür bezahlt", war ursprünglich ein Mittel der Zivilisierungskampagne, die in Gang gesetzt worden war, nachdem der Wilde Westen mit seinen Selbsthilfemethoden gegen das Banditenwesen endgültig besiegelt und Gesetz und Ordnung . . . eingezogen waren. Dberzivilisierung: Mummert 1936 hoffen Überzivilisierung der Städte.

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zivilisieren b: Harden 1927 Versailles 173 zivilisieren und nutzbar machen; Süddtsch. Ztg. 14. 8. 1954 Die „Beschäftigungstheorie" . . . liegt den Feldwebeln . . . fern, getreu der Ausbildungsvorschrift, die „Engineers" zu intelligenten Technikern zu machen, die in wenigen Tagen eine Wüste „zivilisieren" können.

zivilisiert Adj., im späteren 17. Jh. entlehnt aus gleichbed. frz. civilisé (zu civiliser 'zur Höflichkeit, zum korrekten gesellschaftlichen Verhalten, Benehmen erziehen, bilden', auch 'aus dem (primitiven) Naturzustand in einen höheren (moralischen, sozialen) Entwicklungsstand überführen', früher auch 'einen Strafprozeß in einen Zivilprozeß umwandeln'); a von Anfang an, bes. unter Einwirkung von —» Zivilisation gegen Ende 18. Jh., als positiver Wertbegriff auf Völkergemein27*

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zivilisiert

Schäften, Nationen bezogen in der Bed. '(im Unterschied zu den Naturvölkern) die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Zivilisation besitzend; in bezug auf die äußeren Lebensformen auf Grund der entwickelteren (elementaren) materiellen Bedingungen fortgeschritten', selten auch von eroberten Naturvölkern für '(durch Unterwerfung) kolonisiert und in Berührung mit der Zivilisation gebracht' (Ggs. unzivilisiert, wild, primitiv, barbarisch), als Grundwort in Zss. wie halb-, hochzivilisiert und in Syntagmen wie (un-)zivilisierte Länder, Nationen, Völker, Staaten und bes. im schlagwortartigen Syntagma die (un-)zivilisierte Welt 'Gesamtheit der (nicht) als zivilisiert geltenden Nationen'; gleichzeitig auch, meist positiv wertend und gleichbed. mit kultiviert, auf (das gesellschaftliche Verhalten und die Lebensart von) Personen bezogen in der Bed. 'durch die Zivilisation geformt, geprägt; den Regeln, Normen, Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs entsprechend; gesittet, gebildet, Kultur und Bildung habend/zeigend', auch '(dem Äußeren nach) gepflegt, ordentlich (aussehend, auftretend)' und vereinzelt 'verfeinert, sensibilisiert' (Ggs. unzivilisiert, unhöflich, unsittlich, grob), in Syntagmen wie (ein) zivilisierter Mensch, sich zivilisiert aufführen, vgl. —» zivil ld; seit spätem 18. Jh. vereinzelt, im 19./20. Jh. mit dem zunehmenden Sichtbarwerden der schädlichen Auswirkungen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts oder unter Hervorhebung der Natürlichkeit, Ungekünsteltheit o. ä. der sog. primitiven Völker oder des Natürlichen, Naturhaften überhaupt häufiger negativ wertend und in Abgrenzung von kultiviert verwendet für '(allein) das Äußerliche, Materielle, Formale (des Lebens) betonend; unnatürlich, gekünstelt', von Personen, Handlungen, Verhaltensweisen, auch von Lebensgewohnheiten, Sitten, Kleidung o. ä., und 'mechanisiert, (durch und durch) technisiert; (total) verwaltet', von Zuständen, Verhältnissen o. ä. Dazu seit Mitte 19. Jh. die seltene subst. Ableitung Zivilisiertheit F. (-; ohne PI.) '(Grad der) Anpassung/Angepaßtheit an die jeweilige Zivilisation; erreichte Stufe der Zivilisation; der Zivilisationsstufe entsprechendes gesellschaftliches Verhalten, Gesittetheit, Kultiviertheit' (Ggs. Unzivilisiertheit); seit späterem 19. Jh. die Präfixbildung überzivilisiert 'in übertriebener Weise zivilisiert; durch Zivilisation verdorben, zerstört; verweichlicht, degeneriert; dekadent', dafür im früheren 20. Jh. die Gelegenheitsbildungen super- und verzivilisiert 'total zivilisiert', b Seit spätem 19. Jh. speziell auch auf Landschaften, Orte, Berge übertragen in der Bed. 'durch die Zivilisation, von der zivilisatorischen Tätigkeit des Menschen erschlossen, unterworfen, bezwungen, in die (menschliche) Zivilisation integriert; bewohnt', auch '(als Reiseziel) bekannt, besucht'. zivilisiert a: Francisci 1670 Das alleredelste Unglück 99 Ohnangesehen dieselbe [Völker] somit nicht uncivilisirt, noch grausam und unbarmherzig sind: spürt man doch in diesem Stück von ihnen eine rechte Wolffs-Art; Leibniz 1679 Ermahnung 300 Je mehr nun dieser leute in einem land, je mehr ist die Nation abgefeinert oder civilisirt, und desto glückseliger und tapferer sind die einwohner; Happel 1685 Relation II 400 Dasz man aber diese edle Geschöpf . . . wie sich manche uncivilisirte Gröblinge bemühen, unter die Füsse treten, und den . . . Dienstboten vergleichen wolle, solches ist eine schäntliche Grobheit;

Leibniz 1700 Dtsch. Sehr. II 277 ein Commercium nicht nur von Waaren und Manufacturen, sondern auch von Licht und Weisheit mit dieser gleichsam andern civilisirten Welt und Anti-Europa [China]; 1702 Europ. Fama 7 [der] civilisirten Lebens-Art; 1708 Grobianus o. S. Der unhöfflich Monsieur Klotz mit poetischer Feder beschrieben und allen gescheuten und civilisirten gemüthern zu belachen vorgestellet (PFLAUM); Vischer 1709 Informator 168 unter civilisirten Nationen; Marperger 1716 Küchendict. 1162 ein civilisirteres, aber auch darbey zärtlicheres Leben; Leibniz vor 1717 (W. V 186f.) [daß die Türken] wie alle Barbaren, den

zivilisiert civilisirten völckern an leibesstärke im handgemenge . . . auch wohl gar im ringen, springen, lauffen . . . und sonst in allem dem, so auf die that ankommt [überlegen sind] (PFLAUM); Landeron 1724 Merckw. Reisen 61 Das schöne und civilisirte Leipzig erweckte alle Zufriedenheit in mir (PFLAUM); Fleming 1726 Soldat 13 So viel ist gewiß, daß zwey oder drey Laster bey unserer ietzigen galanten und civilisirten Welt nicht mehr so in Schwange gehen, als wie vor diesen; Rohr 1729 Zeremoniellwiss. II 478 Nachdem man auch im Kriege nach Erbarkeit, Zucht . . . zu fragen pflegt, wenn von christlichen und civilisirten Völckern die Rede ist; Lindenborn 1742 Diogenes II 200 welches junge Hansel würde sich nicht zu tode ärgern, wenn es an jedem Orte, wo nur ein Spiegel anzutreffen ist . . . seine . . . genothzüchtigte Härlein . . . bald vor- bald hinterwärts stellet, woferne ihme der uneivilisirte Spiegel seine Tölpels-Masque in seinen eigentlichen Farben austruckete?; Herder-Nicolai 1772 Briefw. 74 in unsern civilisirten und durch systematische Wissenschaften aufgeklärten Zeiten; Forster 1778 S. Sehr. I 173 [Schätze der Natur] die dem ersten civilisirten volk zu theil und nützlich werden müssen, welches sich die mühe geben wird sie aufzusuchen; ebd. 252 die verderbten sitten der civilisirten völker; ebd. 312 lasterhafte gemüthsarten gibts unter allen Völkern; aber einem bösewichte in diesen inseln könnten wir in England oder andern civilisirten ländern fünfzig entgegen stellen; ebd. 364 Herr Hodges wünschte ihn bei dieser Gelegenheit abzuzeichnen; da es aber dem Indianer an einem gewissen Grad von Aufmerksamkeit und Nachdenken fehlte, den man bei allen uneivilisirten Völkern vermißt (DWB); Lessing vor 1781 (W. III 499) Es sind doch rechte uneivilisirte Leute in der Stadt; Kant 1784 W. IV 304 wir sind civilisirt, bis zum überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher artigkeit und anständigkeit (DWB); 1784 Leben d. Eulenspiegel I 104 feine civilisirte Gesellschaften; 1787 Journal d. Moden II 337 Kleidung soll, neben ihrem Nutzen, auch dem Auge gefallen. Dieses Axiom ist unumstöslich, bey allen Nationen in allen auch nur einigermassen civilisirten Ständen; Lauckhard 1792 Leben II 511 Nein, so toll treibens die Studenten doch jetzt nicht mehr. Heutzutage sind sie wirklich civilisirter; Herder 1793 Br. XVII 55 Aus dem civilisirten Europa wenigsten sollten sie [Eroberungskriege] . . . alle verbannt seyn; Schiller 1793—94 Erziehung XII 15 die zivilisierten Klassen; Smith 1794 Nationalreichtum (Ubers.) I 3 Unter civilisirten und blühenden Nationen; Schlegel 1798 Kunstlehre 3 die Kultur einer jeden zivilisierten Einrichtung besteht darin, dass ein jeder sein eignes Feld bearbeite, wovon er die

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Früchte andern mitteilt; Lueder 1800 Nationalindustrie I 20 Rückfall civilisirter Völker in diese Barbarey; Herder vor 1802 (W. XVIII149) Da er Europa durchreiset hat, so führt er ein langes Register der Ehrennamen an, die alle civilisirte und uneivilisirte Nationen . . . den Deutschen geben; Novalis vor 1802 (Sehr. III 64) es gibt drei hauptmenschenrassen: wilde, zivilisierte barbaren, Europäer (DWB); 1804 Briefw. Gentz-Müller 24 so stünden wir [Österreich] heute an der Spitze der civilisirten Welt; Guts Muths 1804 Gymn. 34 [des] civilisirten Bürgers; Koch-Sternfeld 1805 Versuch über Nahrung und Unterhalt in civilisirten Staaten (Titel); Heinrich 1808 Maasse u. Gewichte 124 So lang die Römer die Beherrscher des civilisirten Europa waren, circulirte ohne Zweifel unter den ihren fasces gehorchenden Völkern dasselbe Maas und Gewicht; 1814 Was haben wir 11 Der Handel ist das Band, welches die ganze civilisirte Welt zu einer grossen Familie vereinigt; Rehfues 1814 Reden II 2 die civilisirtesten Menschen Europas [Deutsche, Österreicher] für die heilige Sache der Cultur aller kommenden Geschlechter im gerechten, offenen . . . Gotteskampfe; 1815 Fahnenbergs Magazin VI 19 die ebenso uneivilisirten als unweisen Zolleinschränkungsgesetze; Ritter 1822 Erdk. I 462 Der Reichtum der zunächst anwohnenden uneivilisirten Völker im Norden von Cumassi . . . besteht in Cameelen; Vico 1822 Leben (Übers.) 45 dem Averroes, dessen Auslegung die Araber nicht menschlicher und civilisirter gemacht, als sie vorher waren; Athenstädt 1823 Eur. II 285 es schickt und paßt sich die Verfassung der Öffentlichkeit nicht für civilisirte Staaten, und für der Gesetzgebung gegenwärtig hohe Cultur; Koch-Sternfeld 1825 Beyträge I 384 Patrimonial-, Landsassen-, Territorial-, Nationalstaat; so bezeichnet man die Stufenleiter der civilisirten Völker; Dalberg 1830 Betrachtungen 34 Gewohnheit im Leiden ist es, die den wilden Menschen mehr dulden macht, als den civilisirten; Schwarzenberg 1831 Rückblicke a. Algier 3 am Ufer des mittelländischen Meeres, den Küsten der schönsten und zivilisirtesten Länder von Europa; Lady Morgan 1831 Frankreich (Übers.) 1 87 wohlgeübte und hochcivilisirte Geruchsnerven; Hegel 1832- 45 W. XVIII 29 Was man Unschuld der Kinder oder uneivilisirter Nationen nennt, ist noch nicht Moralität; Schleiermacher 1834 S. W. I 12, 244 Die Staaten . . . die gleichsam als Grenzorte der civilisirten Welt mit der uneivilisirten in der nächsten Berührung sind; Owen 1840 moral. Welt (Übers.) 46 bei der Bildung der menschlichen Gesellschaft in den Ländern, welche die civilisirten heissen; Bemoulli 1841 Populationistik 1 In den meisten civilisirten Staaten, in fast allen europäischen also, bemüht

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zivilisiert

man sich die Grösse der Bevölkerung zu kennen; Schücking 1843 Br. 175 wir männer lernen allerhand original kennen . . . und ihr [Frauen] habt immer dieselben glatten, zivilisierten zuckerwasser-charaktere um euch (DWB); Droste-Hülshoff 1843 Br. II 149 Fränzchen ist so jung und redselig geworden und Max so guter laune und zivilisiert, dasz alle leute davon reden (DWB); Zschokke 1844 Ährenlese I 1 unser civilisirtes jahrhundert der halbbarbarei (DWB); Hahn-Hahn 1844 Oriental. Br. I 54 Im civilisirten Europa, wo der Reisende Alles findet, was ihm angeboten und aufgedrungen wird, was er nur irgend bedarf; Döderlein 1846 Reden u. Aufs. II 3) dass wir unsere Muttersprache mit fremden Federn verunstalten, zugleich aber ist es ein weit grösserer Gewinn, wenn tief in das Leben eingreifende Begriffe, die ein allgemeines Eigenthum der ganzen civilisirten Welt geworden, auch den gleichen Laut für alle haben; Hackländer 1846 Reise i. d. Orient 119 Es wäre nicht nöthig die Türken auszurotten oder zu verjagen, man sollte ihnen nur zu Hilfe kommen durch Einführung einer geordneten civilisirten Regierung; Kohl 1846 Dänemark 1209 [Marktsänger] ziehen . . . in die civilisirte und uncivilisirte Welt hinaus; Jordan 1847 Wanderungen 32 ein Planet, der von lauter Barbaren, d. h. im Verhältnisse zu unseren Begriffen uncivilisirten Geschöpfen bewohnt wird; Kohl 1851 Rhein I 16 bei den wilden, wie bei den halb und ganz civilisirten [Nationen]; Wickede 1854 Soldatenleben II 183 Meilenweit von uns war keine menschliche Wohnung, außer den Hütten der Viehhirten und einem kleinen Dorfe, das von halbcivilisirten Indianern bewohnt wurde; Görtz 1854 Reise III 185 Die Haltung des Javanen ist aufrecht und edel . . . Uberhaupt flösst seine Erscheinung mehr Achtung ein als man im allgemeinen einem Halbcivilisirten zugestehen mag; Schleider 1855 Studien 39 Die ganze Existenz der civilisirten Nationen in Europa und Nordamerika ist bedingt durch den Besitz von Pferd, Rind und Schaf; Heine vor 1856 W. I 375 Diese uncivilisirte, abergläubisch blinde Heide glaubte noch an Treu und Ehre; ders. 1856 Reise u. d. Erde II 42 das übermässige Schnüren unserer civilisirten Schönen; Willkomm 1857 Ammer 329 Naturforscher, die sich in unbekannte Länder, unter uncivilisirte Nationen oder Volksstämme wagen; Fontane 1858 Br. I 95 Aber der zivilisierte Mensch ist ein sehr kompliziertes Ding, und hat eine Unzahl kleiner feiner Bedürfnisse, auch wenn er weder raucht noch Billard spielt; 1860 Hausblätter I 74 die Eintheilung in civilisirte und uncivilisirte Stämme; Suckow 1862 Sold'leben 333 So näherten wir uns . . . den civilisirten europäischen Regionen, wo doch wenigstens einige Ordnung und nicht mehr, wie während des ganzen

Feldzuges, jenes Faustrecht herrschte, als jedermann an Lebensmitteln nahm, was er nur immer erhaschen konnte; Seid 1864 Reisen 427 je gastlicher ein Land, desto uncivilisirter; Hohenlohe-Ingelfingen 1864 - 70 Leben III 406 Es ist zwar unter zivilisierten Nationen Sitte, sich nicht plötzlich mit Krieg anzufallen; Schücking 1867 Künstlerleidenschaft 199 In diese wilde Gestrüpp- und Waldwelt drang ihm sicherlich kein civilisirter Mensch nach; Hesslein 1867 Neger-Bar. 38 feineren Genüsse des civilisirten Lebens; König um 1875 Hum. I 145 Wer in nächtlicher Stunde ein Haus durch das Fenster verläßt, dem ist der Einbruch schon bewiesen. Ein ehrlicher Mann geht durch die Tür hinaus, wie es in jedem civilisirten Lande Sitte und Gebrauch ist; Laube 1875- 82 Ges. Sehr. VIII164 Heldengedichte hat nur eine uncivilisirte oder halbcivilisirte Nation; Hönig 1882 Mannszucht 173 den zivilisierten noch den unzivilisierten Krieg (Rebellion); Bluntschli 1884 Denkw. I 93 machten mir die Franzosen den Eindruck einer hochcivilisirten Nation; Nordau 1884 Lügen 253 Wenn der ererbte Landbesitz des Grundeigenthümers große Wertzunahme erfährt, so ist es, weil die Zahl der vom Grund und Boden losgerissenen Arbeiter wächst, die Industrie an Ausdehnung gewinnt, die Großstädte überwuchern, die hauptsächlich auf das Gewerbe gerichtete Arbeit der civilisirten Gesellschaft den Preis der Nahrungsmittel in demselben Maße steigert, in welchem sie den der Industrieprodukte herabdrückt, mit einem Worte, weil andere Individuen arbeiten, nicht, weil der Grundbesitzer selbst thätig ist; Katscher 1888 Nebelland 299 Die Weiber des civilisirten Abendlandes sind in Sachen der Kleidung ärger als die Wilden; ebd. 302 Die weibliche Tracht der civilisirten abendländischen Kreise ist keine nützliche Dienerin; Kist 1888 Erlebnisse 59 Der Oberst der grossen, nobeln, an der Spitze der zivilisierten Welt marschierenden Nation; Meurer 1892 Bergsteiger 5 bald wird es in den hochzivilisierten europäischen Staaten keinen namhaften halbwegs ansehnlichen Ort mehr geben, zu dem uns nicht das Dampfvehikel bringen könnte; Franke-Schievelbein 1894 Rotdorn 199 Er verabscheute den Cigarrendampf und begriff nicht, wie ein civilisirter Mensch Gefallen daran finden könne; Rüstige um 1895 Maler 99 Der Tag hatte sich endlich eingestellt, an welchem ich wieder „zivilisiert" . . . das Strassenpflaster betreten durfte; Büchner 1898 Sterbelager 5 mitten im Schoss der zivilisierten Gesellschaft kann man Individuen begegnen, welche geistig kaum höher stehen . . . als ihre wilden Verwandten der Gegenwart oder Urzeit; Dtsch. Revue 25 (1900) I 169 Regierung eines hochzivilisierten und hochkultivierten Reiches; ebd. IV 189 Annexion irgend eines unzivilisirten

zivilisiert Staates; Brandt 1901 Ost-Asien I 155 Ich brauchte eine gute Stunde und sehr viel Wasser, Seife und Handtücher, um mich wieder in einen halbwegs civilisirten Menschen zu verwandeln; Carpenter 1903 Zivilisation (Ubers.) 25 der Zustand der uncivilisirten Völker; Peters 1904 England 30 dass London ein kultureller Brennpunkt der zivilisierten Welt ist; 1906 Anleitg. z. wiss. Beobachtungen II 4 [die Naturvölker der Südsee sind] durch unsere Kolonisation „zivilisiert", d.h. mit fremden Elementen vermischt und zermürbt und ausgerottet; Heinroth 1906 Enttäuschungen I 102 [junges Mädchen] raffte die abgelegten Kleidungsstücke zusammen . . . und verwandelte sich . . . hastig in eine zivilisierte junge Dame; BriegerWasservogel 1911 Verkehr 3 Die Kaufehe, in unzivilisiertesten Formen bei uns Zivilisierten wieder eingeführt; Haeckel 1913 LW. 455 Civilvölker (civilisirte Völker im viertheiligen System von Sutherland); Voss 1915 Ges. Reden 149 Bis vor Ausbruch des schrecklichen Krieges, der . . . die ganze zivilisierte und unzivilisierte Welt in Mitleidenschaft gezogen hat; Johnston 1917 Menschenverst. 37 Hätten nicht europäische Mächte eingegriffen, so wären sie in demselben Zustand verharrt, in dem sie seit Jahrhunderten lebten, eine halbzivilisierte Kaste von Sklavenhaltern, die ein herrliches, mit Naturschätzen reich begabtes Land mißbrauchten; Schmitz 1926 Dämon 97 zumal das französische Tunis . . . ein entschieden zivilisierteres Dasein ermöglichte als das damalige Sizilien; Berl. Illustr. Ztg. 1929 Nr. 19 daß die Oberfläche der zivilisierten Erde sich im Laufe eines Menschenalters mächtig verwandelt hat; Berl. Illustr. Nachtausg. 24. 6. 1931 Das dänische Grönland ist jetzt hoch zivilisiert; Voss. Ztg. 25. 8. 1931 Da die Wirtschaft und das Wohlergehen nicht nur der britischen Nation, sondern eines großen Teils der zivilisierten Welt auf das Vertrauen in das Pfund Sterling aufgebaut . . . ist; Nora 1932 Am Färbergraben 173 Daß diese scheinbar einzigartige Widerstandskraft bloß uns „Zivilisierten" ungeheuerlich vorkommt, bezeugen die Naturvölker, namentlich die nomadenhaften; Berl. Illustr. Nachtausg. 1. 2. 1933 Das zivilisierte Leben in Rio ermüdet ihn bald; Dtsch. AZ. 8. 1. 1935 Kommen wir dann heim, braten wir uns die Leber am Feuer vor dem Zelt und würden nichts von allen den Talmigenüssen der zivilisierten Welt eintauschen gegen unser primitives Jägerglück; ebd. 27. 8. 1935 In Kürze muß die Sterbeziffer vieler zivilisierter Völker . . . steil emporschnellen; ebd. 5. 9. 1935 Der Erzbischof legt die Worte des Papstes dahin aus, daß dieser sich mit seinen Worten an die zivilisierten Nationen und ihre Beziehungen zu den rückständigen Rassen gewendet habe; ebd. 6. 9. 1935 In zivilisierten Staaten erfolgt die

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Aberkennung des Bürgerrechtes dann, wenn . . . Ehrenrühriges gegen jemanden vorliegt; Sieburg 1935 Gott 83 Pan tritt hier [in Frankreich] mit zivilisiertesten Umgangsformen auf; Grüne Post 6. 10. 1935 was hatte er diese Wochen hindurch für ein Leben geführt, die Trapper im unzivilisierten Nordamerika zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts konnten es nicht romantischer und — primitiver geführt haben; Gläser 1946 Unvergängliche 56 ein zivilisierter Mensch, weit über den Muff dieser Kleinstadt mit ihrer heimtückischen Moral; Goetz 1948 Drache 7 die Überlegenheit zivilisirter Lebensgewohnheiten; Süddtsch. Ztg. 21. 3. 1950 Kampf . . . gegen die Vermassung der Menschen und für die Erhaltung von geistigen und moralischen Kräften, ohne die ein nationales Leben nicht mehr ist als eine zivilisierte Barbarei; ebd. 27. 4. 1950 Hochzivilisierte Länder haben eigene Strafarbeitslager; ebd. 9. 1. 1951 In zivilisierten Gegenden, die ihnen mehr vertraut sind, zum Beispiel in Europa, würden die amerikanischen Streitkräfte fraglos Besseres leisten als in Korea; De Man 1951 Vermassung 83 so erklärt es sich, dass die „Wilden" oder „Barbaren" die „Zivilisierten" . . . oft durch eine Empfindlichkeit für Formen der Lebensart . . . in Erstaunen setzen; Münch. Merkur 16. 8. 1954 In ihren [Portugiesen] Kolonien verläuft die Trennung nicht zwischen Weißen und Farbigen, sondern zwischen denen, die bereits, und denen, die noch nicht „civilizados" („Zivilisierte") geworden sind; Eppelsheimer 1955 Schild 51 Verlorensein der Europäer an das „Unzivilisierte"; Süddtsch. Ztg. 10. 4. 1958 Die Portorikaner . . . die aus der primitiven Armut ihres Landes in eine andere, „zivilisierte", fliehen; ebd. 7. 3. 1959 Er ist ebenso ein Film von den Kongonegern — nicht den fortgeschrittenen, die zur Zeit in Aufstände verwickelt, sondern den Ur- und Waldnegern, die noch aufs Souveränste unzivilisiert sind; Stuttgarter Ztg. 19. 9. 1959 Wenn Frankreich demnächst vor den Vereinten Nationen wegen Algerien angegriffen werde, so geschehe das durch Staaten, die man kaum als zivilisiert betrachten könne; Offenburger Tagebl. 28. 4. 1962 Der Friede werde gegenwärtig durch gegenseitige Furcht erhalten . . . dieser Zustand [sei] auf lange Sicht für die Würde der zivilisierten Menschheit unannehmbar; ebd. 31. 3. 1965 was Washington mit seinen . . . Maßnahmen in Vietnam versucht, ist eine Antwort auf Herausforderungen zu finden, mit denen die zivilisierte Welt bisher nicht fertiggeworden ist; FAZ 21. 3. 1970 Die D D R ist weltbekannt, wann wird sie anerkannt, Herr Brandt?; Die D D R ist zivilisiert, was man bei Ahlers gar nicht spürt; ebd. 9. 5. 1970 Betrachtung der Errungenschaften unsrer zivilisierten Gesellschaft . . . wie nahezu

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Zivilist

jedermann zum Pfuschen neigt; Die Zeit 11. 9. 1981 Daß eine junge Frau wegen Teilnahme an einer Demonstration eingesperrt wird . . . wäre in allen zivilisierten Ländern Europas einfach undenkbar; ebd. 22. 1. 1982 daß Interessenausgleich das Kennzeichen zivilisierter Politik ist. superzivilisiert: Aich 1937 Im Dienste 113 Der Umwandlungsprozeß auch des superzivilisierten Grossstadtmenschen. überzivilisiert: Goltz 1862— 64 Feigenblätter I 191 in überzivilisirten, von . . . luxusgenüssen . . . überwucherten Zeiten (DWB); ZDtsch. Alpenver. 2 (1871) 9 [die] übercivilisirten Menschen; Manes 1911 Land 58 für den überzivilisierten Mitteleuropäer männlichen und weiblichen Geschlechts; Lamprecht 1912 DGjV I 220 Sie [die Roheit] findet sich wieder in dem Herrenkult der Überzivilisierten, der auch heute noch nicht ganz überwunden ist; Hesse 1925 Strassenecken 36 [ein] überzivilisierter Mensch; Strich 1928 Dichtung 217 [der] überzivilisierte Geist; Börsen-Ztg. 7. 2. 1937 Wie urhafte Riesen einer vergangenen Welt ragen sie in unsere überzivilisierte Gegenwart; Baer 1940 Ernährung 7 die Verständnislosigkeit der überzivilisierten Völker für die Landschaften an sich; Ortega y Gasset 1943 Wesen (Übers.) 88 [der] überzivilisierten Seele. verzivilisiert: Mayer 1935 Entdeckung zivilisiert, ja sogar so verzivilisiert.

243 so

Zivilisiertheit: Fontane-Lepel 1852 Briefw. II 9 daß ich erst einen Ort gefunden habe, wo man für sein schweres Geld wenigstens gut ißt. Was folgt daraus? nicht mehr und nicht minder als eine

gewisse Uncivilisirtheit, als ein halber Barbarismus; Nordau 1881 Paris I 282 Uncivilisirtheit; Brandes 1885 Essays I 52 ökonomische Unzivilisiertheit; Ziegler 1903 Kultur 141 [der] materiellen Zivilisiertheit (PFLAUM); Blass 1912 Weltmeister I 158 klamaukbetonte Zivilisiertheit (PFLAUM); Hahn 1929 Steigerung 60 [der] naturfremden Zivilisiertheit des modernen Weibes; Preuss. Jahbücher 216 (1929) 86 Die eckigen Formen des empirischen Menschen kennzeichnen den Hermannen vom Oberrhein, die besondere Unzivilisiertheit in gesellschaftlichen Dingen läßt das volkstümliche Sozialmilieu der Geburt erkennen; Hellpach 1939 Geopsyche 3 Zivilisiertheit und Kultiviertheit. zivilisiert b: Röse 1884 Revanche 327 Der Lustort [Deauville] stand . . . hochzivilisirt auf dem ehemals öden Terrain; Lübke 1891 Lebenser. 260 die Erbärmlichkeit des Wirthshauses . . . zwang uns, nach dem nicht sehr fern gelegenen etwas civilisirteren Montepulcium zu fahren; 1906 ZDöAlpenver. 197 ist der Vignemale ein zivilisierter Berg; er ist wohl der populärste Gipfel der ganzen Pyrenäen; Hausenstein 1935 Wanderungen 50 Die Bäderstadt ist ein Garten, und die Natur, die bis in die Badestadt hereinsteht, ist zivilisiert. Sie ist gezähmt; Süddtsch. Ztg. 17. 10. 1950 Der zivilisierteste Berg Europas (Uberschr.) Auf der Zugspitze wurde . . . gesprengt und gemauert . . . Das kommende Jahr . . . sieht ein bemerkenswertes (Millionen-)Bauprojekt auf dem Plan: ein Gebäude, das über dem alten „Münchner Haus" erstehen und . . . Hotelbetrieb . . . aufnehmen soll . . . So wird . . . der alte Steinriese den immerhin etwas zweifelhaften Ruf genießen, der „zivilisierteste" Berg Europas zu sein.

Z i v i l i s t 1 M . ( - e n ; - e n ) , E n d e 17. J h . entlehnt aus gleichbed. mlat. civilista ( z u ins civile 'Zivilrecht' < lat. civilis, —*zivil); anfangs auch in der F o r m Zivilista; veraltete P e r s o n e n b e z e i c h n u n g in der B e d . ' K e n n e r , L e h r e r ( o d e r Student) des bürgerlichen o d e r Zivilrechts; Rechtsgelehrter, Staatswissenschaftler'; dazu seit E n d e 1 8 . J h . die ebenfalls veraltete adj. Ableitung z i v i l i s t i s c h 'das Zivilrecht betreffend; b ü r g e r r e c h t lich, staatswissenschaftlich'; A n f a n g 2 0 . J h . gebucht ( 1 9 1 1 bei Petri) u n d in neuester Zeit vereinzelt belegt die subst. Ableitung Z i v i l i s t i k F . ( - ; o h n e P I . ) in der B e d . ' L e h r e des Zivil-, B ü r g e r r e c h t s ' . Zivilist: Kirchmaier 1698 Bergwerck 2 Civilisten; Kirsch 1718 comu copiae 222h civilista, der sich auf weltliche (kayserliche) recht leget und studiret (DWB); Zincke 1752 Camer. Bibl. IV 956 [der zukünftige Cameralist] wenn er auch wie man zu sagen pflegt, kein sonderlicher Civiliste ist, so . . . muss doch sein Hauptwerk [Hauptstudium] . . .

sein; Amaranthes 1773 Frauenzimmer-Lex. I 745 civilist, lehrer, kenner, Student des bürgerlichen rechts (DWB); Knigge 1789 Umgang II 95 Civilist; Goethe 1811ff. D. u. W. XXII 31 Zivilist; Wieland vor 1813 (S. W. XVIII169) alle doktores, kanonisten und civilisten (DWB); Goethe vor 1832 (XXVIII 49) Schöpflin, der sich in der

Zivilist höhern Sphäre des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte . . . fühlte eine unüberwindliche ja ungerechte abneigung gegen den zustand des civilisten (DWB); J. Grimm 1846 Kl. Sehr. VII 569 Dieser ausgang ista war aber längst unter uns so eingebürgert, dasz er grammatisch unangreifbar scheint und in fünfzig andern anwendungen sich volles recht erwarb, gleich legist, canonist, civilist, jurist und damit nicht die rechtslehrer wähnen, das wort allein geworben zu haben, gleich donatist, spinozist, botanist . . . von civilist bilden sie keinen civilismus, umgekehrt von pedantismus kein pedantist, da es schon pedant gibt und pedanten allzuviel; Riehl 1865-72 Vorträge I 472 Civilisten; Köln. Ztg. 25. 2. 1916 Was ist ein Zivilist? . . . im Gegensatz zu den übrigen Lehrern der Rechts- und Staatswissenschaft ein Hochschullehrer des bürgerlichen Rechts; Gal 1926 summa legum 112 man könnte versucht sein, an den Zivilisten Raymundus Cumanus zu denken, der

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um 1400 professor des Zivilrechtes in Bologna und Padua gewesen ist (DWB). zivilistisch: Hugo 1790 Civilistisches Magazin (Titel); ders. 1792 Lehrbuch eines civilistischen Cursus (Titel) (beide DWB); 1823 Civilist. Magazin 11 Schon der Titel: Civilistisches Magazin sagt . . . über wie viele und wichtige Theile der Rechtsgelehrsamkeit man hier gar keine Aufsätze erwarten darf; 1919 ZfPolitik 473 [die] Leistung seiner Arbeit als einer „Art öffentlichen Dienstes" . . . bedeutete . . . eine völlige Umwälzung in der ganzen bisherigen rechtlich-politischen Bewertung der sozialen und wirtschaftlichen Dinge: die Ersetzung der bisherigen zivilistisch-individualistischen Wertung durch die publizistisch-kollektivistische. Zivilistik: 1969 Festschr. a. Lentze 449 Die Historische Schule der österreichischen Zivilistik.

Z i v i l i s t 2 M . ( - e n ; - e n ) , E n d e 1 8 . J h . a u f g e k o m m e n e A b l e i t u n g z u —»zivil

lc;

P e r s o n e n b e z e i c h n u n g in d e r B e d . ' j m d . , d e r n i c h t A n g e h ö r i g e r des Militärs, der Streitkräfte seines L a n d e s ist ( u n d d a h e r Zivilkleidung t r ä g t ) , Z i v i l p e r s o n , B ü r g e r ' , v o n A n f a n g an u n d bes. i m G e f o l g e d e r m i t d e m p r e u s s i s c h e n

Wilhelmismus

v e r b u n d e n e n W e r t s c h ä t z u n g des Militärs leicht a b s c h ä t z i g v e r w e n d e t u n d negativ assoziiert m i t Ä n g s t l i c h k e i t , Feigheit ( Z i v i l i s t e n p a c k , - v e r s t a n d ) , gelegentlich p o s i tiv assoziiert m i t E h r l i c h k e i t , O r d e n t l i c h k e i t , in n e u e s t e r Z e i t vereinzelt bildlich v e r w e n d e t ; d a z u A n f a n g 19. J h . die adj. A b l e i t u n g z i v i l i s t i s c h ' d e m B ü r g e r s t a n d , Zivil a n g e h ö r i g , b ü r g e r l i c h , nichtmilitärisch ( u n d d a h e r bürgerlich gekleidet, nicht u n i f o r m i e r t ) ' , gelegentlich je n a c h S t a n d p u n k t negativ o d e r positiv b e w e r t e t ; i m 2 0 . J h . die Gelegenheitsableitung Z i v i l i s t e n t u m , leicht a b w e r t e n d für 'nichtmilit ä r i s c h e r , ziviler C h a r a k t e r ' . Zivilist: 1791 Journal d. Moden VI 12 [vom Militär, das] auf einen armen Civilisten herabsieht; Goethe 1809 Wahlver. XX 50 die Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel .und der dritte Stand, der Soldat und der Civilist; Normann 1833 österr. II 1,46 dagegen kann man die Offiziere nicht lieben wegen . . . ihrer blöden Verachtung der Civilisten; Droste-Hülshoff 1838 Br. 1273 den Preuszen, besonders den friedlichen Zivilisten, war höllenangst (DWB); Raumer 1849 Br. Frankf. Paris I 396 Gestern Abend beim General Cavaignac, unzählige Officiere, wenig schwarze Civilisten, noch weniger Damen; 1850 Mephistopheles 108, 4h deshalb nehmen wir denn auch ohne weiteres an, dasz der preuszische soldat in allen, dem beschränkten civilistenverstande unbegreiflichen, das civilistengemüth empörenden handlungen, nie gegen den ausdrücklichen befehl seiner obern handelt (DWB); Töpfer um 1850 Ges.

dram. W. I 4 solche vertrocknete civilistenseele! (DWB); Freytag 1855 Soll u. Haben 1381 hier und da machte der Spaßvogel der Compagnie seinen Witz über die schnellfüßigen Civilisten; 1864 Hausblätter II 45 „Civilistenlieder" waren ihm in der Seele verhasst; Mahler 1864 Über d. Eider 129 Baron von Thomsdorf machte als Civilist freiwillig bei den östreichischen Truppen den Feldzug . . . mit; ebd. 267 um neugierigen Reisenden einen kleinen Schrecken einzujagen, und sie des Genusses von einiger Todesangst, wie sie dem Civilisten auf einem nicht ganz sichern Blachfelde ziemt, theilhaftig zu machen; Hohenlohe-Ingelfingen 1864 Leben III 121 Es war nur ein einziger Zivilist in der Kirche, ein alter Schloßdiener aus Grevenstein; König um 1875 Hum. I 55 Es mußte verdächtig erscheinen, wenn er als Civilist in der Wachtstube Nachforschungen anstellte, und war seine Befürchtung begründet, so erhielt er erst

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Zölibat

dann seine Uniform zurück, wenn der Verhaftete wieder in Freiheit gesetzt wurde; Dahn 1895 Erinn. IV 2, 178 mein Civilisten-Verstand; Meinecke 1896 Boyen I 390 dasz also der chef der Ökonomie im frieden ein militär . . . im kriege aber ein Zivilist war (DWB); Köln. Ztg. 25. 2. 1916 Was ist ein Zivilist? Im Gegensatz zum Soldaten ein Bürger; Lania 1925 Hitler 35 Ein grosser Teil der Offiziere, durch ihre ganze Erziehung, durch Umgebung und Tradition in einem scharfen Gegensatz zur Arbeiterschaft, zum „Zivilistenpack" aufgewachsen; Heilborn 1929 Revolutionen II 258 Zivilist in Uniform; Mimra 1930 Batterie 206 schäbiger Zivilist; Lokal-Anz. 17. 1. 1933 Er, ein Zivilist, führte die deutsche Waffenstillstandskommission; ebd. 17. 7. 1934 Die Spaziergänger haben einen mächtigen Schreck bekommen — schließlich wird man nicht alle Augenblicke von einem „Zivilisten" angehalten und nach den Personalien befragt; Uexküll 1936 Welten 179 Herr Oberst bemühen sich, Zivilistengewäsch zu lesen — ich nie; Brauer 1936 Im Dienste Bismarcks 379 dass wir „Zivilisten" ganz unfähig seien, militärische Fragen zu verstehen, geschweige zu vertreten; Münch. N. N. 25. 9. 1944 Der Aufstand in Warschau begann . . . als gut bewaffnete Zivilisten von den Dächern der Innenstadt das Feuer eröffneten . . . Hat in der Kriegsführung unserer Tage der waffenlose „Zivilist" das Daseinsrecht verloren?; Zweig 1947 Ungeduld 242 wie ihr Zivilisten euch das Militär vorstellt (WDG); Süddtsch. Ztg. 29. 11. 1950 daß es ja nicht nur um die Gleichberechtigung deutscher Truppenkontingente, sondern auch um die der armen „Zivilisten" geht; Herzfeld 1958 Aufs. 149 ein penetranter Zivilist; Stuttgarter Ztg. 5. 1. 1962 „Zivilisten" auf der Kanzel. Ausbildung von Lektoren in Württemberg (Uberschr.) Die Württ. Evangelische Landeskirche h a t . . . die Lektorenarbeit zu neuem Leben erweckt. 140 Männer aus dem ganzen Land, die sich zum Lektorenamt berufen fühlten, ließen sich seither in Wochenendtagungen unterweisen . . . In ihrem [der Lektoren] Kreis sind alle Berufe

vertreten, vom Arbeiter, Kraftfahrer oder H a n d werker bis hin zum Lehrer, Prokuristen, Bankdirektor und Amtsrichter; Dürrenmatt 1963 Romulus III Ich bin ein Zivilist und habe die O f f i ziersehre nie begriffen (WDG); Trommler 1966 Roman 143 [ein ehemaliger österreichischer O f f i zier] der als Amtsrat allmählich zu seiner Vergangenheit zurückfindet um im Einholen dessen, was er gewesen ist, endgültig in den Stand des „Zivilisten" überzusetzen; Görlitz 1967 Gesch. Generalstab 212 Der Generalstab rief jetzt die „Zivilisten", die Politiker zu Hilfe. Zivilisten tum: Niekisch 1929 Gedanken 17 dass bereits in den Tagen des Friedens das „Zivilistent u m " der politischen Führung einen leise verächtlichen Beigeschmack annahm. zivilistisch: Novalis vor 1802 Sehr. II 160 der könig sollte noch mehr militärische und zivilistische adjutanten haben (DWB); Bismarck 1870 Br. a. d. Kriege 66 Ich enthalte mich natürlich, meine civilistische Ansicht solchen Autoritäten gegenüber geltend machen zu wollen; Teuber 1881 Jugendleben I 5 meine „civilistischen" Leser; Wolff 1894 Novellen 71 da nütze eben keine zivilistische Zaghaftigkeit, hier gälte es mit militärischer Schneidigkeit vorzugehen; Schweizer. Mon'h. 2 (1922- 23) 628 Offiziere . . . mit zivilistisch anmutender Hornbrille auf der Nase; Bahr 1927 Zauberstab 107 Friedliebende zivilistische Volksbeglückung; Voss. Ztg. 11. 1. 1931 Leutnant Pasenow, der um sich herum die Geburt eines gefährlich subordinationslosen, zivilistischen Denkens ungreifbar aufsteigen fühlt; Münch. N. N. 31. 10. 1944 Wer Minister Muti kannte, der wußte, daß diesem Draufgänger, dessen Mut durch Verleihung der goldenen Tapferkeitsmedaille anerkannt ist, eine „zivilistische" Tätigkeit . . . schon gar nicht mehr genügen konnte; Zweig 1950 Einsetzung e. Königs 44 die kriegslage . . . gestatte [leider nicht] . . . die militärverwaltung Litauens noch weiter zivilistisch umzubauen (DWB).

Zölibat M., auch N . (-(e)s; ohne PI.), im früheren 16. Jh. entlehnt aus lat. caelibatus, coelibatus 'eheloser Stand, Ehelosigkeit des Mannes; Witwerstand' (zu caelebs, coelebs 'unvermählt, ehelos; verwitwet' vom Mann), zunächst in der lat. (flekt.) Form und bis Ende 19. Jh. in unterschiedlichen Schreibungen; in der Bed. 'Stand der Ehelosigkeit', im katholischen Kirchenrecht für '(Verpflichtung zum) Stand der Ehelosigkeit von Klerikern mit höheren Weihen', bes. in den Zss. Zwangs-, Pflichtzölibat und den Syntagmen im Zölibat leben 'unverheiratet und sexuell enthaltsam leben', den Zölibat ablegen 'das Gelübde der Ehelosigkeit und sexuellen Enthaltsamkeit ablegen' und in den juristischen Fachausdrücken Zölibatsklausel, -bestimmung 'Vereinbarung innerhalb eines Arbeitsvertrags über das

Zölibat

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Erlöschen des Arbeitsverhältnisses mit einer Eheschließung des Arbeitnehmers', bes. 'Heiratsverbot für Angehörige des öffentlichen Dienstes'; dazu im späten 18. Jh. vereinzelt die subst. Ableitung C e l i b a n t 'Unverheirateter, Eheloser', seit Anfang 19. J h . die wohl nach frz. célibataire 'ledig, unverheiratet' gebildete adj. Ableitung z ö l i b a t ä r 'ehelos, unverheiratet', speziell auch im (kirchen-)rechtlichen Bereich in der Bed. 'zur Ehelosigkeit verpflichtend, verpflichtet; im Zölibat (lebend)', seit späterem 19. Jh. gelegentlich belegtes Z ö l i b a t ä r M . ( - s ; -e) 'unverheirateter, sexuell enthaltsam lebender Mann', im späten 19. J h . die adj. Gelegenheitsableitung z ö l i b a t i v 'zur Ehelosigkeit tendierend'. Zölibat: Lauterbach 1538 Tagebuch 41 Coelibatus; Luther 1540 Tischreden (V 100, 5) Cloester vnd coelibatum wolten wir nicht halten; Mathesius 1566 Luther 214" Leset lieben freunde das 51. Capitel im Jeremia/so werdet jr mercken/das der Prophet nicht schlecht wider die feste Stadt Babilon/sondern fürnemlich wider jren Bel/vnd lesterliche Abgotterey weyssaget/die wil Gott durch der Deutschen bergleut wort angreyffen/einreyssen/ vnnd also schleyffen, das Meß/caelibat, Kloster/ vnnd all jr Maosini, vbereinander falle/wie der Philistiner rathauß; Dannhauer 1642 Katechismusmilch I 54 Also wer die Gabe der Keuschheit vor Zeiten gehabt; der hat ihm den coelibat und Mönchenstand mögen erwehlen; ebd. 1646 (III 194) Die Ander Predigt. Von dem Coelibat, dem ledigen Standt, und ehelosen Leben; Tetzel 1689 Unterredgn. 118 doch halte ich dafür der Ehestand sei dem Coelibat weit fürzuziehen; Marperger 1717 Verheiratung 94 den Coelibat oder Ehlosen Stand; Winckelmann 1750 briefl. (Jahrbuch Samml. Kippenberg I 33) bey seinem grossen Vermögen und coelibat, worin er lebet; Westenrieder 1782 Vorst. 9 Lehrgebäude dieser Celibatsenthusiasten . . . Geschichte des Celibats; ebd. 302 Celibatgesetz; ebd. 459 der Celibat an sich; Wieland 1782 Gespr. (XV 347) gegen den Cölibat der Geistlichen . . . Aufhebung des Cölibats unsrer Geistlichkeit; Stattler 1791 Reformationsart 1 Beybehaltung des Cölibats bey der katholischen Priesterschaft; 1799 Merkur (W.) III320 Anm. der Cölibat der Geistlichen; Steffens 1817gegenwärtige Zeit I 92 Cölibat der Mönche . . . Cölibat der Heere; Fries 1818 Philos. I 67 das Cölibat der vornehmen Geistlichkeit; 1829 Jahrbücher d. Gesch. I 296 Uber den Cölibat der katholischen Geistlichen (Uberschr.); ebd. 1830 (I 501) Cölibat oder Priesterehelosigkeit . . . Die Ehe der Priester liegt im Wesen der Reform, welcher die Reaction trotzig entgegen tritt; Steinmann 1844 Mefistofeles V 222 naturwidrigen Cölibatgesetzes; 1846 Wessenberg-Briefw. 190 [der] Priestercölibat; Gutzkow 1875 (46) Säkularbilder (VIII 228) dass . . . das Cölibat bei einem österreichischen Diplomaten lieber gesehen wird als seine Verheirathung;

Spitzer 1879 H. 29 Der Heiratslustige, den ich eher für einen Erfinder, der auf eine Verschärfung des Cölibats ein Patent nehmen wolle, gehalten hätte, als für einen Bräutigam, hat auch schon eine Braut; Nordau 1881 Paris 1281 Cölibatsfanatiker; Ihering 1884 Zweck i. Recht I 457 der Cölibat ist seinem Prinzip nach eine gesellschaftswidrige Einrichtung; Brandes 1885 Essays I 66 Die moderne Auffassung der Fragen Cölibat, Keuschheit, Ehe, Unsittlichkeit, stammt in den lutherisch-protestantischen Ländern von Luther; Dtsch. Volkswart 1926 o. S. Zu den Ideen, die, unserm Volke wesensungleich, nur unter stärksten Widerständen eingeführt wurden, gehört das Zölibat der römischen Geistlichen; Dtsch. AZ. 27. 8. 1935 Wenn jemand das Cölibat abgelegt hat und trotzdem heirate, sei ja die Ehe zivilrechtlich auch gültig; Münch. N. N. 12. 1. 1939 Wie lagen dagegen die Dinge in System-Oesterreich. Hier gab es keinen wirtschaftlichen Aufschwung, keine großzügige Arbeitsbeschaffung, keine Ehestandsdarlehen und Ausstattungsbeihilfen, dafür aber eine immer zunehmende Arbeitslosigkeit, eine starke Senkung von Löhnen und Gehältern, Abbaugesetze und Zölibatsbestimmungen in vielen staatlichen Stellungen; Mosca 1950 Klasse 161 dass das Zölibat des katholischen Klerus der Natur widerspricht; Süddtsch. Ztg. (Ostern) 1953 Zölibatsklausel für Beamtinnen fällt (Überschr.) Nach dem Inkrafttreten der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist. . . auch im Beamtenrecht zunächst erhebliche Rechtsunsicherheit zu erwarten. Die sogenannte Zölibatsklausel, nach der Beamtinnen im Falle der Eheschließung entlassen werden können, falle beispielsweise weg; ebd. 3. 5. 1954 Päpstliche Enzyklika zum Zölibat (Uberschr.); ebd. 15. 5. 1957 Eine Hochzeit ist kein Kündigungsgrund. Das Bundesarbeitsgericht erklärt die „Zölibatsklausel" für nichtig (Uberschr.); Arbeitgeber 20. 5. 1957 Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. Zölibatsklauseln sind verfassungswidrig (Uberschr.); FAZ 4. 3. 1967 Wirkung des Coelibats (Überschr.) Welt 24. 6. 1967 Papst Paul VI. hat . . . die priesterliche Zölibatsverpflichtung in der römisch-katholischen Kirche mit Nachdruck

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Zoologie

bestätigt; FAZ 8. 1. 1970 Pastoralkonferenz für Aufhebung des Zölibats (Uberschr.); ebd. 15. 1. 1970 Für die Abschaffung des Pflichtzölibats haben sich die . . . Bischöfe und Geistlichen aus den brasilianischen Nordoststaaten einstimmig ausgesprochen; ebd. 11. 3. 1970 Den Zölibat auch nur wegdenken bedeutet schon den Prozeß der Selbstvernichtung einleiten; ebd. 23. 3. 1970 Der Zölibat — eine Entscheidungsfrage für die Kirche (Überschr.); Offenburger Tagebl. 30. 9. 1971 Mehrere Sprecher der Operation betonten dazu, daß das Zölibat zwar nicht das wichtigste Thema sei, ohne seine Diskussion aber die Priesterfrage nicht gelöst werden könne . . . Der Saarbrücker Pastoraltheologe Prof. Heinz Schuster illustrierte das mit den Worten: „Es kann heute nicht einmal mehr ein Kardinal durch Rom gehen, ohne daß hinter seinem Rücken der Verdacht geäußert würde, er halte den Zölibat nur wegen der Verpflichtung und nicht aus freier Entscheidung." FAZ 27. 10. 1971 Sie [die Bischofssynode] sieht in der gewachsenen Tradition des Zölibates eine der stärksten Ausdrucksweisen der Spiritualität in der Westkirche; ebd. 1. 11. 1971 Soll der Pflichtzölibat in der lateinischen Kirche bewahrt werden?; Mannh. Morgen 20. 11. 1980 Viele Jugendliche könnten nicht verstehen, daß die Kirche trotz Priestermangels „so unumstößlich" am Zölibat, der Ehelosigkeit der Priester, festhalte. Celibant: Westenrieder 1782 Vorst. 1} Eben sogar keine Vortheile genossen die Celibanten in der Monarchie der Römer; ebd. 409 Anm. Die Geschichte aller Zeiten beweist es, daß die geistlichen Celibanten immer die brauchbarsten Werkzeuge waren, Empörungen in den Staaten zu erregen . . . und folglich den römischen Hof recht nach Herzenswunsch zu verherrlichen. zölibatär: Wieland vor 1813 (XL 223) Kant hält das cölibatäre Leben für tauglicher zur langen Dauer (KEHREIN); Rosenkranz 1848-56 Polit. Br. 127 Aberglaube und Unglaube haben sich unter den Massen geteilt. Der politische Formalismus ist frei geworden, allein die Gewissen sind

nicht frei, und durch die Mütter und Töchter beherrscht der zölibatäre Klerus, der geistliche Mitherr der Familien, indirekt auch die Männer; Bad. Ztg. 14. 1. 1970 Zölibatäres Relikt fällt (Uberschr.) Früher war es jungen Polizeibeamten bei der Bereitschaftspolizei ganz untersagt zu heiraten. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) führte seit zwei Jahrzehnten einen erbitterten Kampf gegen diese Zölibatären Bestimmungen für Polizeibeamte; FAZ 11. 3. 1970 wird die — [vom Priester] ehemals frei gewählte — zölibatäre Lebensform zu einem das Ich beherrschenden und die Freiheit des Denkens blockierenden Zwang; ebd. 23. 3. 1970 die Erhaltung einer Machtstruktur, die in der Verfügbarkeit eines zölibatären Klerus eine starke Stütze hat; Die Zeit 25. 12. 1981 monogam gehaltene Männchen [Fruchtfliegen] wurden durchschnittlich acht Wochen alt, während zölibatär lebende Männchen länger als neun Wochen lebten. Zölibatär: Stolz 1870 Honig VI 78 Ein Zölibatär ist. . . von andern Menschen gehasst und verfolgt wie eine Eule von den Singvögeln; Gutzkow 1875 (46) Säkularbilder (VII28) Der freiwillige Cölibat scheint den gezwungenen zu verdrängen. Die römischen Geistlichen haben Aussicht, bald jene Frauen heirathen zu dürfen, welche die Cölibatäre verschmähen. Diese Herren heirathen nicht mehr, wie ein grosser Theil der Männer aufgehört hat zu tanzen; Kraus 1895-99 Tagebücher Vorw. XII [im Leben des Priesters gibt es viele Spannungen, auch] in der Beziehung des Zölibatärs zur Frau; Bahr 1933 Volk 12f. Und der Orden - gerade das hat dazu geholfen, ihm sein Grab zu schaufeln — bedeutete immer nur ein dünne, landfremde Herrenschicht pflicht- und berufsmäßiger Zölibatäre. Die Seßhaften aber, die Nachkommenschaft zeugten und sich dem Boden verbanden . . . waren auch im Ordensland Niedersachsen; Brandl 1936 Inn 91 Die Geistlichen als Zölibatäre; 1957 Brot und Wein 101 [in amerikanischem College] Dozenten, wirkliche oder zeitweilige Zölibatäre. zölibativ: Röse 1884 Revanche 65 Der cölibative Zug geht von den ersten Häusern des Staates aus.

Zoologie F. (-; ohne PI), Anfang 18. Jh. aufgekommen in der gelehrtenlat. Form zoologia ( < gelehrtengriech. ^cooXoyia (OED), gebildet aus griech. ^cIjov (i^coov) 'lebendiges Wesen; Tier' und Xöyog 'Rede, Wort; Gegenstand, Inhalt der Rede; Vernunft; Überlegung, Nachdenken'), erst seit spätem 18. Jh. in der heutigen Form; fachspr. Bezeichnung für 'Lehre, Wissenschaft vom tierischen Leben' als Teilgebiet (neben der Botanik) der Biologie, anfangs vereinzelt auf Medizin und Pharmazie bezogen; dazu seit Ende 18. Jh. die Personenbezeichnung Zoologe M. (-n; -n) 'mit

Zoologie

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der Erforschung der Tierwelt, dem tierischen Leben befaßter Wissenschaftler; Tierforscher', seit früherem 19. Jh. (gebucht 1838 bei Heyse) die adj. Ableitung zoologisch 'auf das Tier(reich) bezogen, ihm zugehörig; auf die Wissenschaft vom tierischen Leben bezogen; tierkundlich' und bes. in dem aus gleichbed. engl. zoological garden(s) entlehnten Syntagma zoologischer Garten 'Tierpark, -garten' als Bezeichnung für eine Einrichtung, die der Haltung und Schaustellung einheimischer und fremder Tiere, auch der Züchtung und (Verhaltens)-Forschung dient, ugs. gelegentlich abgekürzt Zoologische M. (-n; ohne PI.) als Bezeichnung für den Berliner Zoo, dafür auch seit spätem 19. Jh. aus gleichbed. engl, zoo (verkürzt aus zoological garden(s)) entlehntes Zoo M. (-s und - ; -s). Vgl. daneben Zo(o)-, zo(o)- in zahlreichen seit dem 19. Jh. nachgewiesenen subst. und adj. fachspr. Bildungen wie Zooanthropie 'Wahnvorstellung, ein Tier zu sein', Zoogeographie 'Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung von Tieren; Tiergeographie', Zoolatrie 'Anbetung tiergestaltiger Götter; Tierkult', zoogen 'aus tierischen Resten entstanden, gebildet'. Zoologie: Woyt 1709 Gazophylacium 1028 Zoologia, eine Rede von den Thieren, ist dasjenige Theil der Pharmacie, welches der Thiere Natur, Kräffte, und die Präparata von denenselben aufführet und erkläret; Denis 1778 Einltg. II 120 Zoologie; 1823 ZfForstw. 11,8 Jagdzoologie; Herbart 1841 Vöries. 139 Von der Zoologie knüpft sich das Leichteste und Unbedenklichste schon in den Kinderjahren an Bilderbücher; Dem Knaben paßt zuerst das Leichteste der Botanik beim Pflanzensammeln; ebd. 162 Schon kleine Knaben können sich mit Bilderbüchern für Zoologie, dann mit Analyse von Pflanzen, die sie gesammelt haben, beschäftigen; Haeckel 1913 LW. 105 Zoologie (Thierkunde); Johnston 1917 Menschenverstand 123 Zu den übrigen „unbedingt notwendigen" Gegenständen müßten ferner gehören die Elemente der Zoologie; 1930 Sachs. Lebensbilder 1216 die „Stammbaumzoologie", hauptsächlich unter Haeckels Führung; FAZ 12. 1. 1970 Die Zoologie ist in innere Bewegung geraten, was sich ja am deutlichsten in dem neuen Begriff des Verhaltens ausspricht, der heute alle zoologische Forschung beherrscht. Zoo: Nordau 1881 Kreml II 139 An diesem Tage gab es weder Feste noch Besuche noch Hyde Park-Promenade; man ging nur in die Kirche . . . und allenfalls in den zoologischen Garten, den „Zoo"; 1885 (Wilke 1930 Erinn. 57) nahe dem „Zoo"; Dunger 1909 Engländern 58 Eine Anzahl solcher englischer Kurzwörter haben wir unmittelbar übernommen wie . . . Zoo in Berlin gebräuchlich für Zoologischer Garten (engl. Zoo); Huret 1909 Berlin 57 der Zoologische Garten — oder der Zoo, wie man ihn nennen muss; Süddtsch. Monatsh. 26 (1926) 670 So haben wir 29 Fremdwörterbuch

. . . in The Hairy Ape die Wiederholung des Käfigmotivs in drei aufeinanderfolgenden Formen: die stahlumkleideten, vollgepferchten Schlafräume der Heizer auf einem Ozeandampfer, die vergitterten Zellen eines Gefängnisses und die Käfige der Tiere im „Zoo"; Herl. Illustr. Nachtausg. 31. 1. 1933 im Wintergarten ist ein kleiner Zoo eingerichtet; ebd. 18. 5. 1933 Da, wo heute der Ufa-Palast und die Ausstellungshallen stehen, war früher die Gärtnerei des Zoo; LokalAnz. 24. 6. 1933 Die Zoobesucher werden ihre Freude haben, all diese hübschen, seltenen und interessanten Tiere selbst zu entdecken!; ebd. 26. 8. 1934 Zoohandlung mit Wohnung verkauft krankheitshalber; ebd. 12. 9. 1934 Seht ihr, Heck sagt es auch, alle Zootiere gehen an Seelenschmerz, an Heimweh nach der Freiheit zugrunde! . . . Die Wisente wären . . . heute vollständig ausgerottet, hätten sich ihrer nicht in erster Linie die deutschen Zoofachleute angenommen; Berl. Morgenpost 8. 9. 1935 Aus den Kindertagen des Zoo (Uberschr.) Wie sich . . . unser Zoo zum ersten aller europäischen Tiergärten entwickelt hat, das haben viele Leser ja selbst miterlebt; Dtsch AZ. 6. 7. 1944 Der erste Berliner Zoo-Führer enthielt einige merkwürdige Tierbeschreibungen; Süddtsch. Ztg. 25. 1. 1949 Tagung der deutschen Zoodirektoren (Überschr.) Die deutschen Zoos haben durch die Währungsreform ihre finanziellen Reserven größtenteils verloren; Offenburger Tagebl. 31. 12. 1958 Die einstige Residenzstadt der badischen Großherzöge hat den Ehrgeiz, die Stadt mit dem schönsten Zoo in Südwestdeutschland zu werden; Passauer Neue Presse 10. 7. 1958 Tiere aus fast allen Erdteilen haben ihre Wiege in den deutschen Zoos . . . Bernhard Grzimek, Direktor des Frankfurter Zoos, ist nach Afrika gereist;

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zyklisch

Süddtsch. Ztg. 9. 6. 1960 München, dir fehlt der Zoo! Wenn du Großstadt sein willst, mußt du dich zu ihm bekennen!; Stuttgarter Ztg. 18. 2. 1961 Im Berliner Zoo ist zum erstenmal in einem deutschen Tiergarten ein Gibbon-Affe geboren worden; Offenburger Tagebl. 21. 3. 1967 Zum erstenmal wurde ein Zoo — in Karlsruhe heißt er Stadtgarten — in die Gesamtplanung eingefügt; Stuttgarter Ztg. 6. 5. 1969 Zoologische Gärten sind überall Zuschußbetriebe . . . Es kommt nur darauf an, wieviel . . . dem Staat . . . das Bildungsinstitut Zoo wert ist; ebd. 1. 7. 1969 der größte Tierpark Europas, der älteste Zoologische Garten Deutschlands, feiert den 125. Geburtstag — natürlich der Berliner Zoo; ebd. Der Anfang des Berliner Zoos im Tiergarten . . . war recht mühsam; FAZ 3. 6. 1970 Der Zoo - Arche Noah unserer Zeit; Mannh. Morgen 31. 7. 1980 ein Tiger entweicht aus dem Moskauer Zoo und erlebt eine Reihe unangenehmer Überraschungen. Zoologe: Schrank 1798 Fauna Boica 111 hier steht gar oft der Botanist und der Zoologe still, und keiner wagt es, den organischen Körper, den er vor sich hat, in sein Gebiet aufzunehmen, weil er nicht ungerecht seyn will; Herbart 1841 Vöries. 57 So wenn einer bloß Botaniker . . . oder Zoolog sein will; Berl. Illustr. Nacbtausg. 29. 3. 1934 verwahrte sich Dr. Heck mit seiner Zoologenehre; Berl. Morgenpost 8. 9. 1935 Der Gedanke, auch in Berlin einen Tierpark zu schaffen, wie ihn London, Paris und Amsterdam schon längst besaßen, geht auf den Afrikaforscher und Zoologen Lichtenstein zurück; 1974 Brockhaus Konversationslex. XX 736 Die deutschen Zoologen sind in der Deutschen Zoolog. Gesellschaft zusammengeschlossen. Jährlich findet ein deutscher, alle drei bis fünf Jahre ein internat. Zoologenkongreß statt; Die Zeit 16. 5. 1980 Deshalb bringt der Münchner Zoologe jetzt das Geld für seine Arbeiten und für den Lebensunterhalt selbst auf. zoologisch: Carus 1866 Lebenserinn. IV 27 Zoologischer Garten; Preuss. Jahrbücher 30 (1872) 137 Gründung zoologischer Stationen; Heyse 1873 Kinder d. Welt II 262 zoologischer Garten; Preuss. Jahrbücher 35 (1875) 544 Einweihung der zoologischen Station in Neapel; Nordau 1884 Lügen 63 All das findet auch auf die Menschheit seine Anwendung. Sie ist in ihrer Gesammtheit

eine zoologische Einheit und wird von einem einzigen Lebensgesetze regiert; Stinde 1886 Wandertruppe 118 die zoologischen Gärten; 1906 Naturwiss. Wochenschr. 689 Zoologische Gärten und naturhistorische Museen (Oberschr.); Kyber 1925 Tierschutz 81 Zoologischen Gärten; Münch. N. N. 4. 8. 1940 Im Frühjahr 1860 . . . errichtete der Unternehmer J . Benedikt den ersten Münchner Zoologischen Garten. Dieser Tierpark . . . war von bescheidenem Ausmaß; Süddtsch. Ztg. 22. 11. 1950 Das Kulturministerium kauft einen Arbeitsplatz im „Zoologischen Institut" (Überschr.) Die „Zoologische Station" in Neapel — ein Hort internationaler Einigkeit im Geiste (Bildunterschr.); Münch. Abendztg. 30. 4. 1958 Verein Zoologischer Gärten; Münch. Stadtanz. 14. 8. 1958 Sie [eine seltsame Turmruine] ist das letzte Überbleibsel des Schwabinger Tierparks, der von 1862 bis 1870 Münchens erster Zoologischer Garten gewesen ist; Süddtsch. Ztg. 9. 6. 1960 Schon im Jahre 1862 besaß München einen kleinen Zoologischen Garten; Stuttgarter Ztg. 6. 5. 1969 Zoologische Gärten sind überall Zuschußbetriebe . . . Es kommt nur darauf an, wieviel . . . dem . . . Staat . . . das Bildungsinstitut Zoo wert ist; ebd. 1. 7. 1969 der größte Tierpark Europas, der älteste Zoologische Garten Deutschlands, feiert den 125. Geburtstag — natürlich der Berliner Zoo; FAZ 12. 1. 1970 Die Zoologie ist in innere Bewegung geraten, was sich ja am deutlichsten in dem neuen Begriff des Verhaltens ausspricht, der heute alle zoologische Forschung beherrscht; 1974 Brockhaus Konversationslex. XX 736 Der 'klassische' Z. G. [Zoologische Garten] beherbergt möglichst viele Tierarten in wenigen Exemplaren, im Tierpark hingegen werden weniger Arten, aber in Herden oder Zuchtgruppen . . . auf großen Flächen gehalten, die ein Bild des natürlichen Lebensraumes andeuten und Lebensgemeinschaften darstellen sollen. Die heutigen Z. G. sind meist eine Synthese aus 'klassischem' Zoo und Tierpark. Zoologische: Fontane 1897 Stechlin 471 da waren wir in einem 'Tiergarten', aber in einem richtigen, mit allerlei Tieren drin. Und den nennen sie den Zoologischen; Graf 1925 Gesicht 247 Im Zoologischen (Überschr.); Keun 1936 Mädchen (1959) 81 immerzu die Rehe im Zoologischen füttern (DUDEN).

zyklisch Adj., Mitte 18. Jh. aufgekommen in dem aus lat. scriptor cyclicus (Horaz) 'epischer Dichter, der den Mythenkreis im Zusammenhang behandelte' (zurückgehend auf gleichbed. griech. o[ icukXikoi (PI.), zu KUKXiKÖq 'kreisförmig, -rund') teillehnübersetzten Syntagma zyklischer Dichter, fachspr. auch in der Form

zyklisch

431

kyklisch; 1 in der Bed. 'in einem Zyklus dargestellt; in einem geschlossenen Ganzen in thematisch/inhaltlicher Verbundenheit aufeinanderfolgend' (-»Zyklus 2), anfangs häufig auf die Antike bezogen im Syntagma zyklischer Dichter 'epischer Dichter, der die einzelnen Mythen vom Ursprung der Welt bis zu Telegonus, den Sohn des Odysseus, im Zusammenhang behandelte', dann auch auf formal entsprechende Werke in Literatur, Kunst und Musik ausgedehnt; dazu seit früherem 19. Jh. (gebucht 1838 bei Heyse) die selten nachgewiesene Personenbezeichnung Zykliker, auch Kykliker, M. (-s; -), 'zyklischer Dichter'. 2 Erst seit früherem 20. Jh. in der Bed. 'periodisch ablaufend; regelmäßig wiederkehrend' (—»Zyklus 1), mit fachspr. Präfixbildungen wie a-, mono-, polyzyklisch; a zunächst im Bereich der Wirtschaftswissenschaft, z. B. im Syntagma zyklische Schwankungen (der Konjunktur), vgl. —» Zyklus l b ; b in jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft bezogen auf historische Prozesse und Abläufe, vgl. —* Zyklus la; c gleichzeitig gebucht in der Chemie für 'ring-, kreisförmig angelegt', bezogen auf organische Verbindungen (zyklische Verbindungen). zyklisch 1 : Schlegel 1759 Abhandlungen 427 die cyklischen Dichter, die Verfasser der Theogonien und Kosmogonien; Herder 1793 - 95 Br. (XVII 179) sogenannten cyklischen Dichtern; den. 1796 Br. (XVIII 33) Mehr als eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein cyklisches Gedicht zu lesen; Meyer 1798 (Sehr. XV 26) zyklisches Ganze; ebd. 9 In den Bildern, welche die Geschichten Mosis enthalten, scheinen uns die Gegenstände am besten angegeben . . . Soweit könnte das Ganze wirklich für ein Muster cyldischer Darstellung gelten, die Geschichte wäre summarisch, deutlich und in ihren Hauptmomenten vorgetragen; aber zwischen die beyden lezten Stüke ist der Tanz ums goldne Kalb und die Anbetung der Wolkensäule nicht glücklich eingeschoben, sie stehen so müßig als überflüssig da; Goethe 1799 Br. (W. XIV 61) cyklische Reihe [von Zeitung]; Hoffmann 1814 Berganza (I 130) die zehn Gebote zyklisch in Schauspielen zu behandeln; Vico 1822 Grundzüge (Übers.) (Reg.) Cyklische Dichter; Körting 1884 Anfänge d. Renaissanceliteratur i. Italien I 297 Das Mittelalter liebte in poetischen Werken, wie in wissenschaftlichen, die Anwendung der cyklischen Composition; Riegl 1901 Kunstindustrie 124 das Aufkommen zyklischer Darstellungsreihen; Schmarsow 1905 Grundbegriffe 335 Anm. Beispiele zyklischer Darstellung; Kircher 1906 Philosophie 134 Cyklische Philosophie; Wätzold 1921 Kunsthistoriker I 164 Idee des Zyklischen [bei Goethe]; Süddtsch. Mon'h. 21 (1924) H. 12 390 die Entwicklung der zyklischen Methode der Literaturwissenschaft ist noch das Werk der Zukunft; Beri Illustr. Nachtausg. 23. 2. 1933 Man hört acht japanische Lieder, fünf zierliche Vogellieder, sechs Lieder des Hafis an Suleima und sechs Lieder „Amore". Die Komponistin schätzt an29*

scheinend die zyklische Form; Gmelin 1950 Zyklenroman 9 Die Idee des zyklischen Gesellschaftsromans im 19.Jh.: Balzac. Zola. France; Horaz (1957) Buch v. d. Dichtkunst (Übers.) 239 Auch darfst du nicht anfangen, wie einst der Homeride im kyklischen Epos; Adorno 1958 Noten I 66 [Marcel Prousts] zyklisches Werk; Süddtsch. Ztg. 11. 3. 1970 mit . . . einer zyklischen Aufführung der Brandenburgischen Konzerte. Zykliker: Rosenkranz 1855 Poesie u. ihre Gesch. 145 Die Kykliker des troischen Sagenkreises (SANDERS 1871). zyklisch 2a: 1931 Handb. d. Amerikakunde 70 zyklischen Schwankungen der Konjunktur; Süddtsch. Ztg. 22. 8. 1958 Die Rezession von 1957/58 war kurz und scharf; ihre Ursachen waren teils psychologisch, teils dem Zusammentreffen zyklischer Bewegungen zuzuschreiben; Frankf. Rundsch. 1. 2. 1968 Im Pkw-Bereich sei schon aus lagerzyklischen Gründen in diesem Jahr mit einer Belebung der Produktion zu rechnen. zyklisch 2b: 1950 Neue Rundschau 288 Die Menschheitskrisen sind zyklisch, was sich nirgends besser beobachten lässt als in der Geschichte der bildenden Künste. Authentischer Primitivismus, reiner Klassizismus, akademischer Klassizismus, allzu geschickter Realismus, Rückkehr zu einem künstlichen Primitivismus — man findet diese Kurve; De Man 1951 Vermassung 28 Lauf der Geschichte [nach Vico] . . . Jede dieser Entwicklungen verläuft „zyklisch" und führt zu ihrem Ausgangspunkt zurück; 1956 KluckhohnFestg. 264 dem zyklischen Ablauf der Geschichte; Mühlmann 1962 Homo 17 Ablehnung der „zykli-

432

zyklopisch

sehen" Kulturauffassung Toynbees; 1965 Aspekte 158 Die Zeiterfahrung der moderni des 12. . . . Jh. ist . . . nicht zyklisch, sondern typologisch. a-, mono-, polyzyklisch: 1927 ZDöAlpenver. 46 Bei verschiedenen Cladocerenarten können nun

im Laufe eines Jahres mehrere derartige Zyklen oder nur ein solcher oder endlich gar keine . . . beobachtet werden, und man bezeichnet sie mit Rücksicht darauf als poly-, mono- oder azyklische Formen.

zyklopisch Adj., seit späterem 16. Jh. nachgewiesene Ableitung von Zyklop M. (-en; -en), im Sing. Name eines einäugigen Riesen der griechischen Sage, im PI. Eigenname eines sagenhaften riesenwüchsigen, einäugigen, als gesetzlos und menschenfressend geltenden Volksstammes an der sizilianischen Küste, angebliche Erbauer gigantischer, aus unbehauenen Felsblöcken zusammengesetzter Mauern (Zyklopenmauern) (aus lat. Cyclops, griech. KVKXCDOJJ, eigentlich 'der Rundäugige', zurückgehend auf KUicXog 'Kreis' und öajj 'Auge'), früher in unterschiedlichen Schreibungen; a zunächst auf menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen bezogen in der heute veralteten Bed. 'barbarisch, grausam; unmäßig, maßlos; wild, unzivilisiert, gesetzlos; ungefüg, grobschlächtig'; b seit Anfang 19. Jh. in der Bed. 'nach Art der Zyklopen (erbaut)' (vgl. gleichbed. lat. Cyclopius, griech. KUKXO)n;(e)iog), bes. im Syntagma zyklopische Mauer, von daher bildlich verwendet im Sinne von 'gigantisch, riesenhaft, von unvorstellbarem Ausmaß; ungefüg (aufgetürmt)'; dafür im 19./20. Jh. auch die selten nachgewiesenen, ebenfalls von Zyklop abgeleiteten Adj. zyklopenhaft, -artig; c seit frühem 20. Jh. fachspr. in Soziologie und Psychologie im Syntagma zyklopische Familie 'in extremer Weise vaterrechtlich strukturierte Familie'. zyklopisch a: Menius 1564 (Chron. Carionis III 241) und unter einem gottlosen und ertichten schein der religion . . . unerhörte und mehr als cyclopische grausamkeit üben (DWB); Roth 1587 Jesus Sirach I 24 solcher leute traget heutiges tages der erdboden mehr als gut ist, die nur nach cyclopischer art leben und weder gottes zorn noch gerichte im allergeringsten nicht achten (DWB); 1590 Frischlin 499 Dann als ich in meiner oratio de vita rustica allein obiter etlicher Adelspersonen cyclopisches Wesen hatt gescholten; Gigas 1595 Postilla 18 so sehet und höret jhr auch, wie ein viehisch, sardanapalisch, epicureisch, cyclopisch, unstötes, wildes wüstes leben die weit führet (DWB); Wedel um 1600 Hausbuch 355 ciclopische; Artomedes 1609 Christi. Außleg. I 576 und was für ein wüst, wild cyclopisch leben und wesen wolte sich erheben . . . wenn alle zucht und erbarkeit solte danieder ligen? (DWB); Meyfart 1637 D. jüngste Gericht II 78 im vorgehenden andern capitel stehet angezogen das exempel desz königs Belsazers, der in einer cyclopischen gasterei mit seinen gewaltigen und hauptleuten sasse (DWB); Dannhauer 1642 Katechismusmilch 1125 so verleugnen sie ihn [Gott] mit der That, leben ungöttlich, cyclopisch und übel; Seifert 1647 Gewissens-Buch 63 Cyclopischen vnverstand;

Breckling 1660 Speculum A 8" so nun das licht in dem leibe finsternisz ist, wie grosz wird dann die finsternisz selber sein, was für ein blinder cyclopischer leib wird das sein (DWB); Weise 1673 Erznarren 157 Der Mahler hatte diß Cyclopische und Bestialische Wesen mit angesehen, als er nun alles nach der Ordnung referirte, sagte Gelanor: Ist das nicht eine Thorheit bey uns Teutschen, daß wir so unbarmhertzig auf das liebe Getrancke losgehn. zyklopisch b: 1805 Merkur (W.) I 28 die Benennung Cyklopisches Mauerwerk; Brun 1809 Episoden II 194 wo cyklopische Felsenmauern sich thürmen, von uralten kolossalen Steineichen überragt; Schubert 1830 Gesch. d. Seele 863 die ungeheuren Bauwerke der sogenannt cyclopischen Art; Kohl 1843 Irland II 191 cyklopischen Baumeister [in Irland]; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre III 90 Zyklopische Arbeit!; Lewald 1843 Mappe 252 den Ruinen der Ebersteinburg . . . deren Gemäuer aus grossen, fast unbehauenen Felsstücken besteht, gleichsam wie ein cyclopischer Bau der Urzeit; Bachofen 1851 Griech. Reise 101 [Mykene] So liegt nun das [Löwen-]Tor am Ende eines langen und tiefen Ganges, der wohl mehr als irgend ein anderer Teil der Festung den

Zyklus Begriff zyklopischer Kraft, Kunstfertigkeit und Unverwüstlichkeit lebendig erregt; Kohl 1852 siidöstl. D. I 364 [Alpen als] cyklopisches Gemäuer; 1888 Wien I 66 von all den cyklopischen Bauten . . . der Industriepalast, die Maschinenhalle und der Kunsthof; Steub 1895 Drei Sommer in Tirol II 153 Gegen die Höhe steigen . . . cyklopische Mauern auf, welche Weinlauben, Oelbäume, nebst manchem Belvedere tragen; Brand 1901 Ost-Asien II 179 [Schloß] auf einem Hügel gelegen, zu dem eine steile Rampe hinaufführte; der gewaltigen cyklopischen Mauern, die den aus 1585 datierenden Palast umgaben, habe ich bereits Erwähnung gethan; Kaiser 1911 Lebenserinn. 216 welch ein cyklopisches Schatzhaus von geistigen und materiellen Kräften Deutschland ist; Weber 1926 Max Weber 227 [in Irland] Die jährlich [aus den Feldern] herausgepflügten Steine hat man an den Grenzen aufgeschüttet, später Grenzmauern davon zyklopisch ohne Mittel gebaut; Gläser 1932 Gut 155 Eine zyklopische Mauer standen die Vogesen am westlichen Himmel; Berl. Illustr. Nachtausg. 23. 1. 1933 Die Entdeckung Fawcetts, daß die Bauwerke in Bahia im brasilianischen Urwald denselben architektonischen Charakter trugen wie die bekannten Bauwerke des zyklopischen Stils, mußte seine Forscherseele entzünden . . . Es gibt einen Stil in der prähistorischen Architektur, der als der zyklopische bekannt ist; Schauwecker 1937 Kasematte 199 zyklopische Gestalten in den wüsten Schatten, die von den flackernden Kerzenstummeln an die Wand und die Decke geworfen wurden; Süddtsch. Ztg. 31. 3. 1950 Das zweite Kapitel war Churchills zyklopisch hingeschmetterte Bemerkung, Deutschland müsse seinen Anteil an der Verteidigung Westeuropas übernehmen, eine zyklopische Anregung deshalb, weil sie denkbar unbehauen war, die Wünsche des deutschen Volkes völlig außer acht ließ . . . Seinem ungeschliffenen Kieselstein ließ Churchill am Dienstag einen sehr viel eleganter

433

zugespitzten folgen; ebd. 5. 3. 1951 Er hat neue technische Möglichkeiten sinngerecht verwandt, indem er bei offener Szene die zyklopischen Massen geisterhaft leicht bewegte und damit ein Äußerliches mit schicksalhafter Faszination durchtränkte; ebd. 21. 6. 1952 Die zyklopische Form der Steinplastik Wotrubas erscheint gesucht; Dörfler 1957 Wessobrunner 33 Turm mit den zyklopischen Quadern; Niebelschütz 1961 Spiel 116 Welch ein zyklopischer Aufwand an Zerstreuungen niedrigsten Niveaus ringsum! zyklopenartig: 1893 ZDöAlpenver. 273 Schon schmückte die Frühsonne die höchsten Zinnen des prächtigen Gebirgstheaters, dessen cyklopenartige Felsbauten und wild barocke Formen an die Dolomite Süd-Tirols erinnern. Zyklopenhaft: Rodenberg 1863 Strassensängerin III 224 Die Arbeit nahte sich ihrem Ende. Das mechanische Stöhnen der nächtlichen Arbeiter die — cyclopenhaft, riesige Schatten werfend — um den düstern Brand der Laternen versammelt waren; 1891 ZDöAlpenver. 367 Gleich hinter den Hütten gewahren wir die haushohen Trümmer eines riesenhaften Bergsturzes. Staunend blicken wir die steile Wand hinauf, von welcher diese cyklopenhaften Trümmer losbrachen; 1914 Bürgerhaus i. d. Schweiz IV VII Diese Mauertrümmer [alter schwyzer Herrensitze] mit ihrem in den Grundbauten fast zyklopenhaften Aussehen; Uhde-Benays 1947 Im Lichte 33 Adolf Hildebrands zyklopenhafte Statur. zyklopisch c: Brentano 1924 Grundbedingungen 31 Die Familientheorie. Man nennt sie . . . die patriarchalische oder, nach einer Stelle bei Homer, auch die zyklopische; 1928 Krisis d. Psychoanalyse 1120 Ursprünglich hätte [nach Freud] der Mensch in sogen, zyklopischen Familien gelebt, in denen alle sexuellen Rechte durch den herrschenden Alten monopolisiert gewesen seien.

Z y k l u s M . ( - ; Z y k l e n ) , seit s p ä t e m 1 8 . J h . n a c h g e w i e s e n , z u r ü c k g e h e n d a u f lat. cyclus mlat.

in seinen B e d . ' Z e i t p e r i o d e ' u n d ' p e r i o d i s c h e r W e c h s e l d e r K u r m i t t e l ' ( v g l .

cyclus (orbis)

' E r d k r e i s ' ) u n d g r i e c h . KUKXO^ ' K r e i s , U m k r e i s ; R u n d ; K r e i s l a u f

(des J a h r e s ) ; e p i s c h e r S a g e n k r e i s ' , f r ü h e r a u c h in d e r F o r m Zykel g e l e g e n t l i c h in d e r g r i e c h . F o r m ;

gebucht, fachspr.

1 in d e r B e d . ' r e g e l m ä ß i g sich

wiederholende

Abfolge; periodisch, zirkulär verlaufende E n t w i c k l u n g ; Zeitperiode, Reihe, F o l g e ; K r e i s ( l a u f ) ' , a b e s . a u f h i s t o r i s c h e P r o z e s s e u n d E n t w i c k l u n g e n b e z o g e n , speziell i m B e r e i c h d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t , - p h i l o s o p h i e in Z s s . w i e Z y k l u s - / Z y k l e n t h e o r i e ' G e s a m t h e i t d e r A u f f a s s u n g e n älterer S t a a t s l e h r e n ü b e r d e n p e r i o d i s c h e r f o l g e n d e n W e c h s e l v o n R e g i e r u n g s f o r m e n ' , K u l t u r z y k l u s ' T h e o r i e ü b e r die in r e g e l m ä ß i g e r A b f o l g e u n d W i e d e r k e h r a u f t r e t e n d e n P h a s e n v o n K u l t u r e n u n d S t i l e n ' ; b seit frühem 20. Jh.

auch im Bereich der Wirtschaft,

b e s . in Z s s . w i e

Wachstums-,

434

Zyklus

Konjunkturzyklus 'regelmäßiger Wechsel zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und Stagnation der Wirtschaft', Schweinezyklus als Bezeichnung des Demonstrationsbeispiels zur Erklärung der periodischen Abfolge von Minimal- und Maximalproduktion und der jeweils damit zusammenhängenden Preisentwicklung, Lagerzyklus 'periodische Abfolge von Minimal- und Maximaleindeckung der Läger in Abhängigkeit von der konjunkturellen Lage'; c fachspr. in der Medizin für 'Periode' als Bezeichnung der zwischen zwei Regelblutungen der Frau liegenden Zeitspanne (Monatszyklus), im medizinisch-pharmazeutischen Bereich auch für 'periodische Abfolge in der Medikamenteneinnahme' (Einnahmezyklus). 2 Seit Ende 18. Jh. auch in der Bed. 'Abfolge, Aufeinanderfolge, Reihe von thematisch/inhaltlich verbundenen Einzelteilen in einem geschlossenen Ganzen', z . B . einem Kunstwerk (—»zyklisch 1), als Bestimmungs- und vor allem als Grundwort in oft fachspr. Zss. in Literatur- und Musikwissenschaft und Kunst wie Zyklusroman; Dramen-, Wagner-, Lieder-, Bilderzyklus, auch auf andere Bereiche ausgedehnt. Vgl. daneben Zykl(o)~, zykl(o) in zahlreichen fachspr. Bildungen wie Zyklostome, Zyklothymie, zyklometrisch. Zyklus la: Potter 1778 Archäologie III 3, 15 Von den Cyklen [Zeitperioden] der Griechen (Oberschr.); Herder 1791-96 Kl. Sehr. (XVIII 514) Aber die Musen wandern; oft sinds dieselben Ursachen, die hier jede ächte Poesie tödten, dort verjüngen, und auch bei demselben Volk, wenn es nicht ganz in die Barbarei versinkt, scheint ein Cyklus obzuwalten, der nach düstern desto hellere Zeiten hervorbringt; ders. 1799 Verstand (XXI 58) den Zahlencyklus, die Dekade; 1802 Neue ADB 74, 440 auch keineswegs auf den Cyklus eines Jahres beschränkt; Görres 1810 Fall I 149 Wie die Pflanze an den Wechsel der Jahreszeiten, der sterbliche Mensch an die Perioden der Menschenalter gebunden ist, also die Geschichte, unbeschadet ihrer Freiheit, an grössere Cyklen, die etwa mit den grossen magnetischen und elektrischen Jahren zusammenfallen; Kömer 1812 (III 191) Von großer Arbeit ward mir prophezeit: Beginne denn der Cyklus meiner Thaten Mit meines Herzens eignem schwersten Sieg!; Carus 1835 Reise II 348 dass ich jetzt gleichsam in einen neuen Lebens-Cyklus eintreten muss; Kohl 1844 hrit. Inseln III 8 nach einem Cyklus von Jahren [erst wiederkehrend]; Wirth 1904 Volkstum 228 nach dem Cyklusglauben der Babylonier und Chinesen besteht das Leben der Menschheit aus kreisenden Umläufen, aus der regelmässigen Wiederkehr derselben Entwicklung; 1927 ZDöAlpenver. 46 Bei verschiedenen Cladocerenarten können nun im Laufe eines Jahres mehrere derartige Zyklen oder nur ein solcher oder endlich gar keine . . . beobachtet werden, und man bezeichnet sie mit Rücksicht darauf als poly-, mono- oder azyklische Formen; Borchardt 1928 Handlungen

18 In Cicero mündet der geschlossene griechische Gedankenzyklus nicht nur eben ein, um einen philhellenischen Römer mehr . . . zu erzeugen: sondern erst an diese Einmündung und an das, was aus ihr entsteht, knüpft sich die Ausbildung der griechisch-römischen Kulturgemeinschaft zu dem, was erst seitdem das klassische Altertum heissen konnte; ebd. 19 In Leibnitz wird die französische Philosophie und Mathematik, nach historischer Erschöpfung ihres kurzen und glänzenden Zyklus, zur neuen Enzyklopädie umgeboren; Nord u. Süd 52 (1929) 295 Zyklus der Kriege; Voss. Ztg. 11. 10. 1930 während er Turati um seiner Verdienste willen, in dem Großen Faschistenrat beläßt. Das heißt, es soll so aufgefaßt sein: nicht eine Person hat versagt oder hat sich erschöpft, sondern ein Zyklus ist abgeschlossen und ein neuer beginnt; Giuliano 1941 Latinität 35 historischer Zyklus; Münch. N. N. 5. 1. 1941 Jeder spürt, daß eine alte Welt im Versinken ist und daß ein neuer geschichtlicher Zyklus unter Stürmen und Opfern an seine Stelle tritt. Stärker als sonst tritt das Gemeinsame, Bindende, die Schicksalsgemeinschaft, ins Bewußtsein; Blätter f . dtsch. Philosophie 17 (1943) 401 Jede organische Form . . . ist etwas, was in einem fortgesetzten Wechsel der Bestandteile sich erhält — im weiteren Sinne durch gewisse "Entwicklungszyklen" hindurch, also in periodischer Wiederkehr mehrerer gesetzmäßig abwechselnder Formen; De Man 1951 Vermassung 105 die Sonn- und Feiertage im Zyklus der Arbeitswoche; Schock 1952 Soziologie 76 Zyklentheorie der Geschichte [bei Vico]; 1961 Dies Univ. VIII 89 durch Altern und andere mit dem sog. Lebenszyklus des Menschen und der

Zyklus

435

Familie zusammenhängende Vorgänge; Mühlmann 1962 Homo 202 Der wichtigste Vorläufer der religionsgeschichtlichen Zyklustheorie ist also J. F. Lafitau . . . Der „Urmonotheismus" ist eine evolutionistische Zyklustheorie, eine Kreislauftheorie; RF 75 (1963) 134 Vicos Zyklentheorie; Wagner 1965 Historiker 132 Anm. [Toynbee] die Zyklentheorie — also die Theorie des Müssens — überbaut sie aber durch den Glauben an einen eindeutigen religiösen Fortschritt; 1966 Kulturanthropologie 389 Anm. Der Ausdruck „Umlauf" (rotation) scheint den dynamischen Aspekt besser auszudrücken, als das Wort „Zyklus", das oft für die Beschreibung von Progression . . . verwendet wird; FAZ 25. 5. 1970 Der Todeszyklus in Nahost (Uberschr.).

ihre Produktion drosseln; ebd. 20. 11. 1971 Konjunkturelle Zyklen schlagen sich im Umsatzund Auftragseingang des . . . Unternehmens . . . nur mit zeitlicher Verzögerung nieder; Offenburger Tagebl. 6. 11. 1971 Allerdings war bei Auslaufen des vorangegangenen Wachstumszyklus im Jahre 1966 die Arbeitslosenzahl im gleichen Monat merklich stärker angestiegen.

Zyklus lb: Schumpeter 1926 wirtschaftl. Entwicklung 318 Zyklus der Konjunktur; Heinrich 1928 Grundlagen 193 Zyklus der Konjunktur; ebd. 273 Der Umschwung des „Konjunkturzyklus"; Brauer 1929 Sozialismus (Reg.) Zyklus der Konjunktur; 1956 Handwb. Sozialwiss. IX 171 Schweinezyklus; 1961 Dies Univ. VIII 90 im wirtschaftlichen Bereich der bekannte Schweinezyklus; Roth 1964 ABC d. Wirtschaft 309 Bis zum ersten Weltkrieg hat man eine gewisse Regelmäßigkeit im Auf und Ab der Wirtschaft erkennen können (Konjunkturzyklus). — In den Jahrzehnten seit dem ersten Weltkrieg versuchen die Regierungen aller hochindustrialisierten Volkswirtschaften, den Konjunkturzyklus unwirksam zu machen, da in seinem Gefolge unliebsame soziale Mißstände auftreten (Krisen, Arbeitslosigkeit); Süddtsch. Ztg. 10. 10. 1964 Wirtschaftsstudenten lernen im zweiten Semester, daß es den sogenannten „Schweinezyklus" gibt: Ist das Angebot knapp und der Preis hoch, so steigen die Bauern ein und produzieren Ferkel auf Teufel komm'raus. Die Folgen sind regelmäßig stark sinkende Erlöse wegen zu großen Angebotes, die ihrerseits wieder zur Produktionseinschränkung und damit zu hohen Schweinepreisen führen — und immer so weiter; FAZ 31. 8. 1970 Zudem ist der Investitionsgüterbereich immer derjenige, der zuerst einen konjunkturellen Wandel anzeigt, und nicht der Konsumgüterbereich, der im konjunkturellen Zyklus immer eher etwas hinterherhinkt; ebd. 7. 11. 1970 Leidiger Lager-Zyklus (Uberschr.) Schon als die Walzstahlkontore formiert wurden, gab es unter ihren geistigen Vätern manchen Optimisten, der da meinte, nun werde man auch mit dem Problem des Lagerzyklus besser fertig werden. Heute erweist sich, daß auch die Kontore mit dem Übel des Lagerzyklus nicht fertig geworden sind. Wegen des Abbaus übervoller Läger müssen die Hüttenwerke bei noch immer steigendem Stahlverbrauch

Zyklus 2: Meyer 1798 (Sehr. VIII15) Die Bedingung, daß ein Werk der bildenden Kunst sich selbst ganz aussprechen müsse, verengt freylich den Kreis historischer Darstellungen, besonders für einzelne Bilder, deswegen ist es rathsam aus mehrern zusammen einen Cyklus zu formiren, eine Geschichte in ihren Folgen darzustellen, und dergestalt das Kunstgebiet, das Reich der Gegenstände wieder zu erweitern; ebd. VIII 26 Der Künstler, welcher es übernimmt, eine Geschichte als Cyklus zu behandeln, oder, um so zusagen, uns eine Erzählung vor Augen zu stellen, muß zu seinen Bildern die bedeutendsten und für die Darstellung bequemsten Puncte derselben auszusuchen wissen; ebd. IX3 Der berühmteste ausgeführte Cyklus ist in den Logen des Vatikans, wo Rafael die Geschichte des alten Testaments, von der Schöpfung an bis auf Christum, in zwey und fünfzig Bildern, durch seine Schüler mahlen lassen; Goethe 1799 Br. (W. XIV 96) Schillers Wallensteinischer Cyklus auf die Bühne eingeführt; Becker 1803 Dichtkunst 161 bot der Cyklus der thebanischen Mythen in der Geschichte von ödipus, die dem dramatischen Dichter . . . vorgearbeitet war; Schleiermacher 1832 Ästhetik 72 Wie das Dogma System werden will, so auch die Kunstdarstellung strebt, einen Cyclus zu bilden, er sei nun mythologisch oder symbolisch; Grabbe 1835 Theater (4) 40 dieses Stück ist als der etwas laut tönende . . . Prolog zu seinem Dramencyklus . . . zu betrachten; Lotze 1849 (II 432) Cyklus von Gemälden; Schadow 1854 Vasari 85 einen ganzen Cyklus grosser Darstellungen in weiten architektonischen Räumen; Spitzer 1879 H. 31 Seine langjährige Wirthschafterin habe ihm nämlich eine silberne Uhr, die ihm von einem katholischen Jungfrauenverein, in dem er einen Cyclus von Vorträgen über den wohlthätigen Einfluss der Keuschheit auf die Gesundheit gehalten habe, als Ehrengeschenk überreicht worden war, aus dem

Zyklus lc: 1981 Geigy Pharmazeutica Yermonil Gebrauchsanweisung u. Information 3 Die Ovulation erfolgt im Normalfall etwa um die Mitte des Zyklus (als Zyklus bezeichnet man die Zeit vom Anfang einer Monatsblutung bis zum Beginn der nächsten); ebd. 11 Dadurch verkürzt sich dieser Einnahmezyklus schließlich um einen Tag.

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Kasten gestohlen und wahrscheinlich an einen Juden verkauft; Luckenbach 1880 Das Verhältnis der griechischen Vasenbilder zu den Gedichten des epischen Kyklos (Titel); Riehl 1885 Vorträge II360 Bildercyklen; Lübke 1891 Altes 8 Gemäldezyklus; Falke 1897 Sie war reizend 6 Meine Frau war musikalisch genug, um sich dort wirklich zu amüsieren, wie sie sagte. Sie hatte den ganzen Wagnerzyklus zweimal durchgemacht und schwärmte für Millöcker und den „Trompeter" von Nessler. Aber sie genoss alles naiv, wie man Limonade trinkt. Auch war sie aufrichtig genug, ihr mehrtägiges Unwohlsein während der Cyklustage einzugestehen und auf Wagners Rechnung zu schreiben; Diederichs 1916 Br. 278 Vortragszyklus; Voss. Ztg. 26. 11. 1926 In den eleganten Atelierräumen von Becker und Maaß begann vor einem sehr guten Five o'clock-tea-Publikum Herr Hans Schönlank mit einem Zyklus mündlicher Buchkritik; Strich 1928 Dichtung 7 Das homerische Epos war Gemeinschaftsdichtung im wahrsten Sinn des Wortes. Nicht einer hat es gesungen. Es war unendlich fortzusetzen. Was wir Homer nennen, ist nur eine Epoche in einem gewaltigen Zyklus; Gumppenberg 1929 Lebenserinn. 106 ,Trilogie des Todes', einem Cyklus dreier Einakter; Lokal-Anz. 6. 1. 1933 Im Berliner Funkhaus sang der Baritonist Richard Klewitz zum ersten Male einen Zyklus von Liedern des italienischen Philosophen Campanella, die . . . Paul Amadeus Pisk in Musik gesetzt hat; Berl. Illustr. Nachtausg. 22. 3. 1933 Aus erarbeitetem und gesammeltem Anschauungsmaterial solcher Unterrichts-Zyklen ist die jetzige ständige Schulausstellung entstan-

den, aus ihnen wird sie ergänzt; NZ. (Basel) 27. 5. 1949 5. Zykluskonzert. Die drei letzten Symphonien Mozarts (Überschr.); Gmelin 1950 Zyklenroman 13 So erwächst für Balzac . . . die Idee des Zyklenromans als des naturalistischen . . . Sittenbildes; ebd. 21 Verbindung des chronistischen Zyklenromans mit dem biographischen eingeleitet; 1952 Festg. a. Reinhardt 13 [Epen um Ilias und Odyssee herumgruppiert, die dann später] den sogenannten „Epischen Zyklus" bildeten; Wirkendes Wort 5 (1954/55) 189 Der besondere Kompositionsstil der Alterswerke Goethes sei die symbolische Bilderreihe, der Zyklus; Schadewaldt 1960 Hellas 402 ein Kranz von Epen, der epische Kyklos, wie man später sagte; Die Zeit 27. 3. 1981 Und Solomon geht so weit, die Form des Variationenzyklus, deren späte, paradigmatische Ausprägung die Diabelli-Variationen darstellen, als Abbild seelischer Prozesse zu deuten, deren Mechanismus durch die Psychoanalyse entdeckt worden ist; Mannh. Morgen 10. 6. 1981 Wer von den Expressionisten hätte sich mit dem Thema [Clown, Manege, Kabarett, Artistik] nicht auseinandergesetzt, einige sogar in ganzen Zyklen! Die düstere Seite dieser Darbietungen repräsentiert zum Beispiel der Zigeuner-Zyklus Otto Pankoks; Die Zeit 20. 11. 1981 Als Peter Paul Rubens um 1602 einen Gemäldezyklus mit Geschichten aus Vergil lieferte, war er noch um Kabinettqualitäten bemüht . . . Da man den großen Zyklus des Caesar-Triumphes von Mantegna nicht aus dem nahen Hampton Court herüberholte, erinnern Photos und Nachstiche an die Römertugenden, die man propagierte.

Zylinder M. (-s; -), im späteren 16. Jh. entlehnt aus lat. cylindrus 'walzenförmiger Stein; Walze (zum Ebnen des Bodens)' und 'abwickelbare Fläche, die erzeugt wird, indem man durch alle Punkte einer Kurve im dreidimensionalen euklidischen Raum parallele Gerade zeichnet' ( < gleichbed. griech. KuXivÖQog), zunächst auch in der lat. (flekt.) Form, vereinzelt in der Schreibung Cilinder; la Fachausdruck der Mathematik in der Bed. 'Körper, dessen beide von gekrümmten Linien begrenzte (meist kreisförmige) Grundflächen parallel, eben, kongruent und durch eine Mantelfläche miteinander verbunden sind', allgemeiner verwendet auch für 'Walze; Rundsäule' und im technischen Bereich für 'röhrenförmiger Hohlkörper (in dem sich ein Kolben bewegt)' (vgl. lb); Grund- und Bestimmungswort in Zss. wie Glaszylinder 'röhrenförmiges Lampenglas zum Schutze der Leuchtflamme', Zylinderbüro 'Schreibsekretär, der durch einen Viertel- oder Halbzylinder verschlossen wird; Rollbüro', Zylinderuhr 'Taschenuhr, deren Spiralfeder an einem Hohlzylinder befestigt ist'; dazu seit früherem 17. Jh. die adj. Ableitung zylindrisch 'walzenförmig, längsrund', dafür gelegentlich auch zylinderförmig; b von daher seit früherem 20. Jh. übertragen verwendet für 'Autotyp, -motor mit einer bestimmten Anzahl von Zylindern', nur als Grundwort in Zss. mit einer Zahl als Bestimmungs-

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wort (z. B. Achtzylinder); dazu gleichzeitig die ebenfalls nur als Grundwort in Zss. vorkommende adj. Ableitung -zylindrig (z.B. achtzylindrig). 2 Seit Mitte 19. Jh. nachgewiesen als Bezeichnung (statt älterem hoher Hut; vgl. ugs. ironisch Angströhre) für den aus England über Frankreich in die Herrenmode eingedrungenen röhrenförmigen Herrenhut aus Filz oder Seide mit wechselnd breiter Krempe, der heute Teil konventioneller Fest- oder traditioneller Berufsbekleidung ist; von Anfang an konkurrierend mit der 2s. Zylinderhut. Zylinder la: Maaler 1561 Teutsch Spraacb o. S. Zylinder ist auch ein gattung eines sonnenzeytlins oder compasses. Cylindrus; Jacob 1565 New u. woblgegründt Recbenb. 317k item ich hab ein ronde seul, so man sonsten ein cilinder nennet. . . die ronde flech desz cilinders (DWB); Fischart 1575 Garg. 176 zu seinen bundschuhen worden auffgepracht . . . sammat . . . vnnd atlas . . . welche fein artlich zerfetzelt, zerschnitten vnd zerstochen waren, auch mir paralelischen gleichweitstehenden linien, vnnd einformlichen cylindern vnnd rollen zusammen gehenckt (DWB); Wallhausen 1616 Kriegsmanual 20k Cylinder — Ein Waltze; Schwenter 1636 Delitiae phys.-math. 138 auff ein Cylinder oder rund Corpus; Harsdörffer 1647 Gesprechsp. VII 209 Man nimt einen Spiegel in Form eines Cylinders, oder einer kleinen runden Seulen; 1694 Euclides 280 Waltze (Cylindrus); Naudé 1706 Messkunst 183 Von der Ober-Fläche der Eck-Seule und der runden Seule, oder der des Prismatis und des Cylindri; ebd. 184 so heisset es . . . ein Cylindrus oder runde Seule; Scheucbzer 1711 Physica I 176 daß sein [Ring] Durchschnitt oder Durchmesser des Cylinders Durchmesser übertrifft um 9/100 Theil; Marperger 1716 Vollst. Küch- u. Keller Dict. 302h Fasser / Dolia . . . sind gewisse Cylinder / oder auch ovalrunde Gefasse / in welche truckene und flüssige Sachen eingethan / darinn in der Haushaltung verwahrt / bey Kaufleuten aber über Land verschickt werden: man nennet solche auch Tonnen / Stückfässer zu Laste; Keyssler 1729 Reisen (Ausg. 1776) I 28 [Münze bei Innsbruck] Das Werk besteht aus zween stählernen Cylindris oder Walzen, zwischen welchen die silbernen oder goldenen Bleche, hineingesteckt und durchgetrieben werden; Sturm 1777 Civil-Baukunst 8 Ein Säulen-Stock, Walze oder Cylinder; Beyer 1785 Bergbau 300 Schneidet man einen Cylinder mit seinen Grundflächen parallel: so giebt der Schnitt einen den Grundflächen gleichen Kreiß: Meyer 1798 Sehr. 154 Unter dem Beding der Beobachtung obengedachter Regel der Massen, oder einen hellen und dunkeln Seite, kann der Maler eine bekleidete Figur . . . entweder gerundet, gleichsam als einen Cilinder, oder eckig, gleichsam als eine Pfeiler-Gestalt betrachten; Poppe 1837 Erfin-

dungen 289 Cylinderuhren; Mahler 1860 Milit. Bilderbuch 108 eine silberne Cylinderuhr; Springer 1877 Banquier 51 Cylinderbureaus; Kretzer 1887 Timpe 285 Der Zylinder der Arbeitslampe war gesprungen und ein Stück davon auf die Drehbank gefallen; Sundermann 1893 Heimat 7 (Bühnenanweisung) hinter dem Sofa ein altmodisches Cylinderbureau; Böhn 1919 Rokoko 94 Cylinderbureau; Renn 1947 Adel im Untergang 43 plötzlich sprang er auf, ergriff den besen, liesz ihn mit seinem langen stiel sausen und schlug den Zylinder der lampe ab, ganz knapp über der weiszen lampenglocke (DWB); Viebig 1949 Die vor d. Toren 50 die lampe schwalchte und schwalchte, der rötliche rauch stieg zum Zylinder heraus; es roch förmlich nach brand (DWB); 1969 Ullstein Möbelbuch 130f. Denn auch das Rollbureau hat einen Kommodenuntersatz, ein Schreibkasten-Zwischenteil und darüber einen Aufsatz. Trotzdem ist es eine originale Erfindung, weil es diese drei Elemente auf eine besondre Art zusammenfügt, bei der die Betonung auf dem gewölbten Viertelzylinder-Abschluß der eigentlichen Schreibzone beruht; ebd. 194 Rollbureau, auch Zylinderbureau . . . Schreibtisch, der durch einen Viertel- oder Halbzylinder verschlossen wird. Beim öffnen schiebt sich der Zylinder zwischen Rückwand und Schubladenteil, drückt dabei meist die Schreibplatte etwas nach vorn. Kommt in der Mitte des 18.Jh.s auf. zylinderförmig: Schönaich 1754 Ästhetik 90 Cylinderförmichte; Kurz 1843 Schillers Heimatjahre III 129 Das zylinderförmige Bein, das militärische Tuch . . . erweckte ihm eine Vermutung. zylindrisch: Schwenter 1636 Delitiae phys.-math. 263 cylindrisch Rohr; Saussure 1781 Reisen durch d. Alpen (Ubers.) I 28 eines genau cylindrischen blechernen Gefässes; Berenhorst 1798 Kriegskunst II 186f. fand Prinz Friedrich von Braunschweig im Jahre 1773, daß ein Ladstock oben und unten gleich dick, weder umgekehrt noch verkürzt zu werden brauchte. Die Ladstücke erhielten demnach diese zylindrische Form; ebd. 343 Anm. Nämlich die zylindrischen Ladstöcke und die trichterförmigen Zündlöchter; Koralle 1928 Juni

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o. S. mehr als die Hälfte des ausgehobenen Erdreichs wird nur bewegt, da es an praktischen Geräten für die Herstellung zylindrischer Löcher fehlt. -zylinder lb: Wohl 1932 Reporter 163 Tibor Vecseys riesiger Achtzylinder braust die Landstraße entlang; Lokal-Anz. 15. 5. 1934 Weiterhin wird auch Tazio Nuvolari mit seinem 16-Zylinder-Maserati-Rennwagen am Avusrennen teilnehmen; 1981 ADAC motorweit VI 44 Wenn's also nur um den Kraftstoffverbrauch geht, dann besteht kein zwingender Grund, auf Zwei- oder Dreizylinder umzusteigen, die auch hinsichtlich Fahrleistungen und Laufkultur mit Vierzylindern noch nicht konkurrieren können. Und damit wird man, wenn man Sprit sparen will, auch nicht zum Kleinwagen gezwungen. -zylindrig: Lokal-Anz. 13. 10. 1934 Nach vielen Erwägungen und Beratungen, bei denen man die besten Fachleute zuzog, entschloß man sich für den neunzylindrigen Pegasus-Gebläse-Motor. Zylinder 2: Bibra 1855 narkot. Genussmittel 331 der schwarze Filz-Cylinder, der zum Theil seit etwa 50 Jahren die Frage zu entscheiden scheint, ob man ein anständiger Mensch sei oder nicht; Gutzkow 1858 Zauberer III 296 Sein kurzes, lockiges, schwarzes Haar war von dem „garstigen Cylinder" . . . fest gedrückt; Bibra 1862 Chili I 113 Vom wirklichen Studenten unterscheidet er sich vorzugsweise dadurch, dass er statt der Mütze einen Cylinder trägt; Hohenlohe-Ingelfmgen 1864—70 Leben III 367 Louis Napoleon erschien . . . im schwarzen Zivilkleide mit Paletot, den Zylinderhut mit schwarzem Trauerflor umwunden; Freytag 1871 Aufs. II 16 trug seinen Rock nach englischem Schnitt, fügte sein Haupt in einen schwarzen Cylinderhut; Heyse 1873 Kinder d. Welt 287 der weiße Cylinder saß ihm verwegen auf dem linken Ohr; Faucher 1877 Culturbilder 199 dass er mit dem, was wir heute einen Cylinder nennen oder eine Angströhre, bei Hofe erschienen war; Spitzer 1879 H. 95 Aber während er so sprach, fing er an sich an dem ganzen Körper ängstlich zu befühlen, griff erschrocken in seine linke Brust, schnellte, beide Hände gegen das Gesässe pressend, so plötzlich empor, dass er mit Gewalt gegen die Wagendecke stiess und ihm der Cylinder bis zum Kinn hinabgetrieben wurde; Stinde 1884 Fam. Buchholz I 176 Ein Glück, daß mein Karl einen älteren Cylinder aufgesetzt hatte, um den neuen wäre es schad gewesen; Nordau 1885 Paradoxe 33 Cylinderhut-Vorurtheils; Stinde 1886 Wandertruppe 128 die Herren zogen ihre Fräcke an, bürsteten die Cylinder blank; Kretzer

1887 Timpe 245 Wenn er dann so mit seinem Paket unter dem Arm, den grauen Zylinderhut auf dem Kopf, und mit einem etwas altfränkischen braunen Gehrock angetan, durch die Straßen irrte, kam er sich wie Ahasverus vor, der ewig wandern muß, ohne sein Ziel zu erlangen; Boy-Ed 1892 M. 122 Sehr modern, fast ein wenig gigerlmässig gekleidet, mit dem Cylinderhut auf dem Kopf . . . machte er den Eindruck eines berufsmässigen Pflastertreters; Eckstein 1895 Hartwig 225 Pirkheim stemmte den Rand des feinen Cylinderhutes rechts an den Oberschenkel — eine Pose, die ihm besonders würdevoll dünkte — und fragte mit seinem verbindlichsten Lächeln; Angeli 1905 Wien nach 1848 32f. Völlig verfehmt war der „Zylinder" als das Abzeichen freiheitsfeindlicher, reaktionärer Gesinnung. Günstigenfalls riskierte sein Träger, daß ihm das damals gehässigste Schimpfwort „Schwarzgelber" ringsum in die Ohren gellte, wenn sich nicht etwa fortschrittliche Fäuste fanden, welche die hochaufstrebende Kopfbedekkung durch einen kräftigen Schlag auf das normale Maß freiheitlicher Anschauung herabdrückten . . . Die lange mit so wenig Respekt behandelten Zylinder erfreuten sich nun einer fast ehrfurchtsvollen Wertschätzung und erhielten in richtiger Würdigung der Motive, welche ihnen dazu verholten, den bezeichnenden Namen „Angströhre"; Kretzer um 1910 Stehe auf 187 Er warf sich in seinen Gehrock, setzte sich den neuen, spiegelblanken Zylinderhut auf, machte Lisas Tante seinen Besuch und hielt in aller Form um die Hand der Nichte an; Münch. N. N. 22. 3. 1913 Der erste Zylinderhut. Die Londoner Presse feierte am 19. März in humoristischer Weise das hundertjährige Jubiläum der „Angströhre". Ein Korrespondent der „Pall Mall Gazette" meint jedoch, daß die Jahrhundertfeier des Zylinders etwas verspätet vor sich gehe, denn schon am 15. Januar 1797 erschien ein Hutmacher John Hetherington auf der Straße . . . Auf seinem Kopf thronte ein Seidenhut; Böhmer 1915 Sklavinnen 293 „Ich glaub es jetzt selber", sagte sie ernsthaft. „Der Zylinder bleibt dein Fall." Er machte eine spöttisch beleidigte Miene. „Gesellschaftsmensch also."; Harden 1927 Versailles 71 Herr Wilhelm im Zylinder geht, Auguste nach Kartoffeln steht, dann ist der Krieg vorbei; Voss. Ztg. 27. 5. 1928 Ein Symbol, ja das Abzeichen einer besonderen Kaste war auch der graue, hohe Zylinder. Auch er natürlich, wie fast alles, was in Hamburg Tradition bedeutete, aus England in „die Vorstadt Londons" eingeführt; Lokal-Anz. 7. 2. 1933 Der Z y l i n d e r h u t . . . ist ein Kind der Biedermeierepoche, die keineswegs einen heroischen Charakter hatte und einen günstigen Kurszettel höher bewertete als ein Bulletin von einer siegreichen Schlacht; Berl. Morgenpost

Zyniker 31. 5. 1935 Selbstverständlich war auch eine ganze Armee von Zylinderhut-Trägern unterwegs; Münch. N. N. 26. 2. 1940 stellen Sie sich irgendein nationales Ereignis . . . vor, und sehen Sie sich ein ähnliches Ereignis heute an. Sagen wir, damals eine Denkmalsenthüllung von einem nationalen Heros, etwa Bismarck, oder sagen wir, einen Stapellauf. Der erste Eindruck: ein Feld von Zylindern. (Stürmische Heiterkeit.) Nur Zylinder, überhaupt kein Volk. Und heute nur Volk und keine Zylinder. Das ist der Unterschied! (Tosender Beifall.); ebd. 14. 7. 1940 Dämmerung der Rotröcke und Zylinder (Uberschr.) Ein neutraler Beobachter in London beantwortete diese Frage, daß „der Einsatz zwei gegen eins dafür stehe, daß die Aera der Fuchsjagden und Zylinderhüte von Eton ins Grab sinken wird."; Hilgendorff 1953 Benehmen 63 Zum Frack gehört der Zylinder oder der Chapeau claque. Junge Herren, denen diese Kopfbedeckungen altmodisch erschei-

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nen, dürfen auch ohne Hut im Wagen vorfahren; Enderle 1957 Dr. Joseph Schofer o. S. Schofer hatte oft vor dem Zylinder gewarnt, den manche Herren nach Karlsruhe trügen, um sich für eine Pfarrei großherzoglicher Verleihung vorzustellen. Zu dem echten Demokraten passe der Zylinder nicht, sondern der Schlapphut; FAZ 1. 7. 1967 Daß der standesbewußte Herr in Ascot mit grauem Zylinder und schwarzem Cut zum Meeting erscheint, ist selbstverständlich. Viel weniger selbstverständlich ist es, welche Robe man zum Dressurviereck oder an den Rand des Springsplatzes im Aachener Reiterstadion trägt; Stuttgarter Ztg. 30. 10. 1968 Dieser Brief wurde von der Staatsanwaltschaft wie ein Kaninchen aus dem Zylinder gezaubert; Mannh. Morgen 22. 5. 1981 Die rund 12 000 Schornsteinfeger in der Bundesrepublik legen Leiter und schwarzen Zylinder immer öfter beiseite und kommen stattdessen mit einem Meßkoffer in die Wohnung.

Z y n i k e r M . ( - s ; - ) , seit s p ä t e m 1 6 . J h . v e r e i n z e l t , seit f r ü h e m 1 8 . J h . k o n t i n u ierlich n a c h g e w i e s e n e E n t l e h n u n g aus lat.

Cynicus

( < gleichbed. g r i e c h . R U V I K Ö Ö ,

eigentlich ' h ü n d i s c h e r ( P h i l o s o p h ) ' , z u KUCDV ' H u n d ' ) , antikes S p o t t - u n d S c h i m p f w o r t f ü r den A n h ä n g e r d e r P h i l o s o p h e n s c h u l e des A n t i s t h e n e s ,

zurückzuführen

v e r m u t l i c h s o w o h l auf d e n O r t d e r u r s p r ü n g l i c h e n L e h r t ä t i g k e i t , das G y m n a s i u m auf d e m K w ö ö a g y e g , eigentlich ' H u n d e t u m m e l p l a t z ' , als a u c h auf die b e d ü r f n i s l o se

und

den

äußeren

Anstand

mißachtende

Lebensweise,

Schamlosigkeit

und

U n v e r s c h ä m t h e i t , als d e r e n Sinnbild d e r H u n d galt; v o n d e r Schule d a n n i r o n i s c h a k z e p t i e r t u n d z u r Selbstdarstellung v e r w e n d e t , anfangs in d e r lat. ( f l e k t . ) F o r m ; h i s t o r i s c h e B e z e i c h n u n g , meist pl. v e r w e n d e t , für die A n h ä n g e r d e r P h i l o s o p h e n s c h u l e des A n t i s t h e n e s , h e u t e a u c h in d e r S c h r e i b u n g Kyniker

g e b u c h t ; seit M i t t e

1 8 . J h . allgemeiner für ' d e n ä u ß e r e n A n s t a n d v e r l e t z e n d e r , sich h ö h n i s c h , b ö s a r t i g , beleidigend ü b e r W e r t - u n d N o r m v o r s t e l l u n g e n d e r Gesellschaft h i n w e g s e t z e n d e r Mensch; Menschenverächter', bissiger

in j ü n g s t e r Z e i t a u c h abgeflacht für

'spöttischer,

Mensch'.

Putherheus 1581 Von verbot deren Bücher (Übers.) 119h rechte Cy nici, das ist, leut von hunds arth; Brucker 1731 Fragen I 898 so sind dieselbige Cynici, das ist, die Hündische Philosophi genennet worden; ebd. 901 Als sich aber die Cynici durch ihre Freymündigkeit und TadelSucht bey jedermann verhaßt machten . . . und ihnen daher das schandlichste nachgeredet worden, so nahm man die schon gewohnte Benennung in einem andern, Gleichnis-Weise genommenen Verstand . . . und hieß sie Hündische Philosophos, welche Benennung auch Diogenes zu Behauptung seiner Freyheit sich zu Nutze, und aus dem Schmlh-Nahmen eine Tugend-Benennung gemacht hat; Meier 1749 Anfangsgründe II 97

Allein in Absicht auf seine Kleidung ist er ein Cynicus, weil er darauf niemals Achtung gibt; 1772 Frankf. gel. Anz. 151 Sie reden was sie wollen, mögen sie doch reden! was kümmerts mich. So heist die Aufschrift. Zwo Arten von Menschen leben nach dieser Maxime, sagt der Verf. die großen und die kleinen Sultane, und die Cyniker. Jene weil sie glauben, die andern Menschen wären nur Frösche; diese entweder, weil sie kein Verdienst haben, und sich weder über diesen Mangel ärgern, noch ungerecht genug sind, Belohnungen für etwas zu verlangen, das sie nicht haben; Zimmermann 1784 Einsamkeit I 249 Die griech. Philosophen hatten auch eine besondere Kleidung, und viele unter ihnen beeiferten sich

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zynisch

ungeschliffen, bettelhaft und schmutzig zu erscheinen. Sie wurden daher oft von Strassenjungen und dem Pöbel mishandelt. Sehr weise bewafneten sich die Cyniker mit einem guten Stock; Kotzebue 1801 Jabr II 68 So ein großer Freund des schönen Geschlechts ich auch bin, so setzte mich doch die Erscheinung meiner Wohlthäterin in nicht geringe Verlegenheit. Ich stand ihr gegenüber wie ein Cyniker der Aspasia; Baggesen um 1804 Poet. W. (1836) III 41 sie haben recht, die beiden herren sind ärzte — . . . das heiszt soviel als cyniker (DWB); Gerstäcker 1872 Gardinenpredigten Von. VII Ein sauertöpfischer Cyniker; Perfall 1887 Verhältnis HO dass Lilienfelder, sonst ein ganz umgänglicher Junge, im Punkte der Liebe nichts weiter war als einer jener gefühlstumpfen Cyniker, wie sie die Großstadt zu Hunderten erzieht und ernährt; Eckstein 1889 Camilla 69 Vielleicht um seinen Kredit zu heben, der zurzeit nicht einmal für die Bestellung einer Pomona ausreichte, jedenfalls aber mit der Schamlosigkeit eines Cynikers hatte Giovanni im Klub erklärt; Neresheimer 1899 Komödie 83 Franz, der alte Cyniker, ist in seiner Unfehlbarkeit felsenfest überzeugt; Polenz 1900 Liebe 329 Als Arzt hatte er die Frauen kennengelernt, und nicht gerade von der erhabenen Seite. Eine Zeitlang war er in bezug auf die Weiber geradezu Zyniker gewesen; Wilde 1908 De

profundis (Übers.) 113 dass der sentimentale Mensch immer ein Zyniker im Herzen ist. Ja, Sentimentalität ist nur der Sonn- und Feiertagszynismus; Colerus 1929 Kauflierr 241 Und man sitzt in diesem Land .Irgendwo' so unendlich viel verwurzelter, als wenn man langsamer gekommen wäre. ,Wie aus Staubwolken auf die Erde gefallen', könnte ein Zyniker sagen; Hoche 1936 Weg 47 So spiele ich mit meiner Betrübnis, und weil ich das kann, nennen mich die Leute einen Zyniker; Gläser 1946 Unvergängliche 54 ich wurde ein Zyniker; Stuttgarter Ztg. 12. 4. 1969 Bequem zurückgelehnt, goutiere man folgende Zynikerschnurren, heruntergehaspelt nach dem bewährten Schema: „Kennen Sie den schon?: „Kennen Sie den schon, den (Frankfurter OB), Willi Brundert?" „Natürlich, das ist doch ein Sozialdemokrat." - „Nee, aber SPD!"; Die Zeit 27. 11. 1981 Mit Kwizinski, der nicht zuletzt auch ein illusionsloser Zyniker ist, wie man sie unter Ostblockdiplomaten nicht selten antrifft, hat die Sowjetunion in Genf einen Verhandlungsführer, dessen politische Philosophie sich kaum von der seines erzkonservativen amerikanischen Gegenspielers Paul Nitze unterscheidet; ebd. 15. 1. 1982 Sind ausgerechnet wir Deutschen zu Zynikern geworden, die das Leid der Polen nicht bewegt?

zynisch Adj., seit spätem 16. Jh. vereinzelt, seit früherem 18. Jh. kontinuierlich belegte Entlehnung aus gleichbed. lat. Cynicus (zu griech. Kdvlkö^, —»Zyniker); gelegentlich auf die Philosophenschule der Kyniker bezogen, anfangs vereinzelt von der Mahlzeit für '(nach Art der Kyniker) ärmlich; ohne Wein', dann allgemein verwendet in der Bed. 'die Regeln des äußeren Anstands verletzend, d. h. schmutzig, unordentlich, von abstoßend vernachlässigtem Äußern; grob, unflätig, obszön, frivol, allzu freizügig', meist aber und heute nur noch 'Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft höhnisch, schamlos verachtend; zersetzend', oft auch abgeflacht für 'spöttisch, bissig'. Fischart 1575 Garg. 61 Vil weniger acht er den Cynischen Hundsschlamp, das ist, ein Malzeit ohn Wein: vnnd das Schwebisch Suppenmal; Brucker 1731 Fragen I 898 Von der Secta Cynica (Uberschr.) Es ist aber die Folge der Cynischen Lehrer in der Schule zu Athen diese: Antisthenes; 1752 Gleim-Ramler 1369 Der vierte spotete dieser Meinung, und sagte, ein Schiffer und eine Scheure reimten sich so zusammen wie — ich mag den Ausdruck dieses cynischen Kunstrichters nicht wiederholen; Geliert vor 1769 S. Sehr. IV175 wer fleiszig und richtig in die collegia geht, wer seine vier bis fünf stunden des tages hört, der kann nachdem machen, was er will, er mag trinken, er

mag spielen, er mag sich herumschlagen, er mag sich anderen ausschweifungen überlassen, das hat nichts zu sagen, er bleibt allemal ein wackerer Student; und die seele des studirens ist die freyheit. kurz, ihre sitten sind etwas cynisch (DWB); Guibert 1773 Tagebuch (Übers.) 234 Ich habe den Anzug des Königs [Friedrich des Großen] noch nicht geschildert. Er war zu seltsam, zu zynisch, um ihn nicht festzuhalten. . . . eine Stutzperücke mit Zopf und Schleife, die von vorn und seitlich mit ihren Locken anschließen sollte, aber durch den Hut und den Schweiß derart in Unordnung geraten ist, daß man das fettige Band, das sie fast umschnürt, überall sieht; Zimmermann 1784 Ein-

zynisch samkeit II 7 Ebenso unvertilgbar ist eines cynischen Einsamen heiliger Respekt für seine Grillen und tiefe Bewunderung seiner selbst; ebd. 1785 (III 75) alten cynischen Mantel umhängen; Nicolai 1790 Anekdoten H. VI 173 Dieser Chevalier Massot lebte, wie gesagt, viele Jahre lang sehr eingezogen und dabey wie ein cynischer Philosoph. Sein aus Frankreich mitgebrachter Bedienter durfte ihn des Tages nur zweymal besuchen, des Morgens, um ihm Brod, Wein, Fleisch und eine große Flasche Wasser, des Abends aber bloß Wasser zu bringen, allezeit aber seine Thüre zu verschließen; Forster vor 1794 S. Sehr. (1843) V 141 um den gemeinen matrosen, der, sich selbst gelassen, ziemlich cynisch einhergeht, zur reinlichkeit anzuhalten, pflegte Cook gewöhnlich des sonntags die ganze mannschaft zu mustern (DWB); PUckler-Muskau 1843 Tutti IV 199 Noch weniger aber ist in den Gesellschaften vornehmer Leute unverheiratheten Damen je eine cynische Freiheit gestattet worden, wie hier Gesandtenund Grafentöchter sie fortwährend ausüben, als stammten sie nicht aus einem großen, sondern aus einem öffentlichen Hause her; Lewald 1836 Aquarelle I 122 In Kleidung und Haltung zeigte er nichts von der Eleganz, die Castelli auszeichnete; sie waren nachlässig, cynisch; ein in Wien seltener Fall; ebd. 8 Ist es denn so lange her, daß . . . frömmelnde Heuchelei und cynischster Unglaube alle Religiosität erstickten?; 1841 Europa I 87 Dagegen möchte Referent dem zwar cynischen, aber von ächtem deutschen Mutterwitze durchdrungenen Karl Julius Weber . . . mehr Gerechtigkeit vindiciren; Holtei 1861 Erz. Sehr. XXI 91 einige cynische Spöttereien, den zarten punkt betreffend (DWB); Vischer 1861 Krit. Gänge N. F. II 9 aber immer ist der Held zu weich, nirgends ist der spritzende Most seines derbgesättigten Wesens, sein cynischer Humor, seine Energie und Furchtbarkeit zu erkennen; Spielhagen 1866 In Reih & Glied I 342 Ferdinand brach in lautes cynisches Lachen aus; Hillebrand 1874 Frankreich 36 cynischster Zote; Treitschke 1874 Jahre 477 der cynischen Menschenverachtung des 18. Jhs.; Rutenberg 1877 Zinne 191 cynisch-rohen Bierwitz; Hillebrand 1881 Jahrh. d. Revol. 366 Wir lügen nicht gegen Andre, vor Allem aber nicht gegen uns selber. Es steht den Enthusiasten frei, dieß Prosa und Cynismus zu nennen. Wir ziehen es vor mit Montesquieu prosaisch und mit Friedrich II. cynisch zu sein, als mit Victor Hugo zu dichten und mit Joseph Görres zu schwärmen;Nordau 1881 Paris II wenn schon die aufgeregten Zuhörerinnen die Augen schlössen, um wenigstens nicht zu sehen, wie sich der Prediger kopfüber in den Abgrund eines cynischen Gedankens oder einer derbfleischlichen Situation stürzen werde; ebd. 285 Man

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wußte nicht: hatte man es mit einer buchstäblich „cynischen" Persiflage des patriotischen Allerwelts-Jubels oder mit einer etwas geschmacklos erfundenen originellen Kundgebung zu tun; Walloth 1886 Seelenrätsel 227 mit cynisch-jovialem Gelächter; Wiehert 1889 Grafenkind 186 aus cynischem Behagen am Unreinlichen; Perfall 1890 Liebe 83 das Alles hörte Krolenski aus den abgebrochenen, manchmal etwas wirren Sätzen heraus, die von Seufzern und fluchartigen oder cynischen Zwischenbemerkungen unterbrochen waren; Treitschke 1898 Politik II 209 Cynische Menschenverachtung; Presher um 1900 Untermensch 70 die schmachvollen Sitten- und Seelenzustände, denen sie . . . zynisch das Wort zu reden für nötig befindet; Preuß. Jahrbücher 114 (1903) 89 Es wird dabei darauf hingewiesen, daß die Eisenindustrie nicht das einzige Beispiel einer derartigen ungezügelten Produktion sei, daß dieses auch auf Baumwolle, Kupfer, Silber u. s. w. zutreffe. Diesen Entwicklungstendenzen stehe man mit dem cynischen Worte vom „Struggle for the survival of the fittest" gegenüber; Fontane 1905 Ges. W. I 4, 400 er ist ein schlechter kerl, frivol, zynisch und kein frauenzimmer, und wenn es die keusche Susanne wäre, kann eine minute lang mit ihm zusammen sein, ohne sich einer unpassendheit ausgesetzt zu sehen (DWB); zur Megede 1911 Quitt 345 kalte, cynische Ruhe des Arztes; Kellermann 1925 Schellenberg 31 ein eitles, zynisches Lächeln umspielte seinen . . . Mund; Thiess 1927 Gesicht 229 die großen Gegensätze werden deutlich. Bruckner fromm, Mahler zynisch. Bruckner einfältig, Mahler wissend. Bruckner harmonisch, Mahler gespalten. Bruckner ruhig, Mahler hysterisch; Colerus 1929 Kaufherr 86 Marhold, der sah, daß auch ich meine zynischen Anwandlungen hatte, wollte mir meinen Spaß nicht verderben; ebd. 177 Wenn ich zynisch wäre, würde ich vom jungen Onkel sprechen, von einem erotisch leicht abgetönten Onkel; 1929 Handbuch der Englandkunde II 349f. Dorothy Richardson z . B . wühlt nicht wie der zynische James Joyce allen einer weiblichen Psyche fremden und widerstrebenden Schmutz aus den Bewußtseinstiefen auf; Stegemann 1932 Herren 133 Ein zynisches, lüsternes Lächeln; Lokal-Anz. 24. 1. 1933 Dies war der Abschluß von Verhandlungen der Delegierten, die mit zynischem Leichtsinn, mit einer Unkenntnis, die erschauern läßt, und in einer Verantwortungslosigkeit, wie sie in der Geschichte der zivilisierten Völker überhaupt noch nicht vorhanden war, geführt worden sind; ebd. 4. 7. 1934 Unter großer Bewegung im Saal erklärte der Angeklagte auf eine Frage des Oberstaatsanwalts zynisch, daß er den Ermordeten auf den Hof gejagt habe, damit die

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anderen es sehen sollten, daß Eisholz seinen „Denkzettel" von ihm bekomme; Dietz 1939 Gesellschaft 82 zynisch lächelte; Süddtsch. Ztg. 21. 9. 1931 Aber wahrscheinlich soll der Lärm über Adenauers „zynische Offenheit" einfach darüber hinwegtäuschen, daß sich auch Grotewohl in seiner letzten Erklärung eine Offenherzigkeit geleistet hat, die wir nicht eben zynisch, wohl aber erfrischend und, von seinem Standpunkt aus, überraschend ungeschickt nennen müsen; ebd. 14. 7. 1960 Sie [die amerikanische Regierung] wirft der sowjetischen Regierung eine „zynische Haltung" vor, weil sie den Abschuß erst nach einer

Reihe von Tagen bekanntgegeben habe und sich zudem noch an der Suche nach dem vermißten Flugzeug beteiligt habe; Hilpert 1963 Liebe 6 [Schauspieler zu werden] um . . . das ganze schmerzliche Geschehen auf dieser Erde humorig, ironisch oder zynisch zu betrachten; Bad. Ztg. 1. 6. 1970 Brandt sagte am Sonntag vor dem SPDVorstand in Bonn, Strauß und Czaja hätten den „zynischen Versuch" unternommen, „durch die Mobilisierung nationalistischer Instinkte Rache zu nehmen an dem Verlust der Regierungsmacht"; N. Z. Z. 31. 3. 1979 Irgendwo las ich kürzlich den Satz: „Der Mensch ist so alt, wie er zynisch ist".

Zynismus M. ( - ; Zynismen), im späteren 18. Jh. aufgekommene Ableitung zu —» zynisch (vgl. lat. cynismus, griech. Kimo^iög 'Lehre, Denk- und Verhaltensweise der Kyniker'); a ohne PI. in der Bed. 'allgemeine Wert- und Moralvorstellungen negierende Gesinnung; Schamlosigkeit; höhnisches, spöttisches, zersetzendes Wesen', früher vereinzelt auch für 'die Regeln des äußeren Anstands verletzendes Verhalten; Unordentlichkeit, Unsauberkeit', häufig in Syntagmen wie blanker, kalter, purer Zynismus; dafür in jüngster Zeit die Gelegenheitsableitung Zynik F . (-; ohne PL); b seit Mitte 19. Jh., meist im PI., in der Bed. 'spöttische, höhnische, schamlose Redensarten, Ausdrucksweisen, Reden'. Zynismus a: Guibert 1773 Tagebuch (Ubers.) 234 In all seinen Übungslagern trug er [Friedrich der Große] die Armeeuniform: stets zugeknöpfter Rock . . . übermäßig lang, meistenteils, auch im Sommer, mit einem einstmals feuerroten Seidenplüsch gefüttert, der jetzt aber abgeschabt, gelbrot und an der Stelle, wo er den Degen trägt, mit einem Zeugstück ausgeflickt ist, das erkennen läßt, was dieser Rock in seiner Neuheit war; einen kleinen kupfernen Degen mit einer alten verschossenen Degenquaste . . . Ferner ein Paar Wasserstiefel, einstmals schwarz, die aber jetzt vor Alter und schlechter Behandlung gelb geworden sind . . . Über diesem Rock eine Schärpe, die er gewiß seit seiner Thronbesteigung trägt. Der gleiche Zynismus findet sich in allem, was seine Person betrifft; Wieland 1777 Abnahme (XIV 403) dem Cynismus, wodurch viele heutiges Tages Eindruck zu machen hoffen; 1781 Merkur (W.) I 89 Die Ausgelassenheit unsrer Zeiten, wo ein unflätiger Cynismus in der gelehrten Demokratie die Oberhand gewonnen hat; Klinger 1803 Betr. (XII 248) offne, kühne, biedre, energische Männer, [nachher beschuldigt] eines gewissen Cynismus im Ausdruck und Betragen; Bouterwek 1807Ästhetik 51 Wo durch Rohheit, oder durch Abstumpfung und Verkünstelung der Sinne und des moralischen Gefühls das psychisch, oder moralisch Ekelhafte aufhört, ekelhaft zu seyn, das ästhetische Bedürf-

nis aber übrigens nicht ruht, da entsteht der ästhetische Cynismus. Es giebt einen rohen Cynismus dieser Art, und einen hoch cultivirten. Jener hat das Hanswursttheater für den Pöbel gegründet; dieser hat die geistreiche Obscönität so hoch gesteigert; 1810 Nachrichten Schulwesen in Bayern 14 „Cynismus", schreibt . . . Herder, „verjagt die Gefühle der Schönheit, und mit ihr das zarte Wohlseyn unsers Geschlechts, er brutalisirt die Gattung"; Tieck 1828 (Krit. Sehr. II 215) Und vielen Dichtern ist es, seit Shakespeare, schon so ergangen, dass sie das Unreine, Unedle in ihrer Schwäche für Kraftäusserungen halten und einen gewissen Cynismus, der der Ohnmacht und erkalteten Phantasie nahe liegt, für Titanengesinnung erklären möchten; Steffens 1841 Was ich erlebte III 320 Cynismus des Betragens; Stahr 1847 Italien 1166 den herrschenden Ton eines gewissen forcirten Cynismus; Görtz 1852 Reise 1273 in der deutschen Schnellpost, einem Blatte des niedersten Cynismus; 1852 Prutz' Museum I 728 Ich finde in diesem Roman [Gutzkows], wenn ich ihn mit frühern Producten des Dichters vergleiche, das Aroma einer sittlichen Spannung überall durchdringend, welche den Autor vor manchen Unarten bewahrt hat, die ihn so leicht hinrissen, der Uebertreibung, ja dem feineren Cynismus sich zu überlassen; Gutzkow 1859 Zauberer IV 193 Cynismus ging bis zur Verachtung aller Bildung,

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durch deren Geringschätzung er viele Menschen um so zutraulicher machte; Schmidt 1870 Bilder 27/28 Der Cynismus, mit dem einige Dielettanten der Naturwissenschaft die Kategorien der Materie auf den Geist übertragen; Hillebrand 1876 England 18 Der englische Reformer geht noch heute vor mit. . . jener an Cynismus grenzenden Rücksichtslosigkeit allem Persönlichen gegenüber; ebd. 360 Er [Taine] hat den durchweg sarkastischen Cynismus Fieldung's viel zu ernst aufgefaßt; Lindau 1877 Blätter I 63 mit solchem Cynismus die Schamhaftigkeit verletzt; Schmidt 1878 Portraits 422 nackter Cynismus; Kretzer 1880 Genossen 45 [Couplets geschaffen] um die rohe Sinnlichkeit zu reizen und den Cynismus herauszufordern; ebd. 48 Anekdoten voll von verstecktem Cynismus; Hillebrand 1881 Jahrh. d. Revol. 46 Walpole war ein Feind alles cant. War Niemand dem großen deutschen Landjunker unseres Jahrhunderts unähnlicher in Bezug auf moralische L a x h e i t . . . so glich er ihm doch ungemein in dieser Verachtung des Scheins, der Komödie, der Conventionellen Lüge, auch der anscheinend unschuldigsten. Die pompöse Tugend nennt das freilich Cynismus, damals wie heute; aber diesem Cynismus, der es verschmähte, der Tugend jene Huldigung darzubringen, die, so sagt man, in der Heuchelei besteht, dankte England doch, daß die Wahrheit und mit ihr eine höhere Sittlichkeit in's politische Leben drang; ebd. 143 Wie wohlthuend diese ächt friedericianische Offenheit — die tugendhaften Journalisten unseres Jahrhunderts nennen es Cynismus — absticht gegen den politischen Cant, der seit der Revolution Mode ward!; ebd. 254 Alle niedersten Leidenschaften traten da mit einem crassen Cynismus auf, der Einen manchmal geradezu anwidert; Nordau 1881 Paris II 145 [Schauspieler in einer Rolle] Welch eine Feinheit der Beobachtung, welch eine Wahrheit bis in die unbeachtetsten Details, welch ein kalter schneidender Cynismus in diesem Lohnschreiber, der seine Ueberzeugung und seine Feder an den Meistbietenden verkauft; Möller-Bruck 1899 Neutöner 10 ein kalter Cynismus; Brockhaus 1901 Konversationslex. IV 596 Indem die C. [Zyniker] das Ideal der Bedürfnislosigkeit und Naturgemäßheit in ihrer Lebensart darzustellen suchten, stimmten sie ihr Leben zu einer Einfachheit herab, die sie nicht selten bis zur absichtlichen Verachtung des öffentlichen Anstands trieben, weshalb man noch jetzt unter Cynismus eine absichtliche Vernachlässigung des äußern Anstandes versteht; vor 1901 (Heuss 1947 Gestalten 255) Und was den Zynismus betrifft, so ist derselbe eine Sprache, welche in dieser irdischen Welt von jedermann leicht verstanden wird. Man gewinnt dadurch an Deutlichkeit; und derjenige darf sich dieser Sprache bedienen, welchem

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die Sache in erster Linie steht, während es ihm gleichgültig ist, was andere Leute von seiner Person denken. Zynisch handeln ist schimpflich, aber zynisch reden bedeutet im Geschäft eine große Zeitersparnis; Jodl 1905 (vom Lebenswege I 123) [in Schiller ist] überströmende Sentimentalität und wilder Zynismus, Freigeisterei und christliche Weltgerichtsphantasien; Joel 1915 Weltkultur 41 der brutale Zynismus Deutschlands; Blennerhasset 1916 Aufs. 14 der Zynismus, die Frivolität, die Engherzigkeit der Kritik des 18.Jhs.; Ludwig 1922 Goethe I 3 Junger Cynismus, resignierte Bosheit, ein Witz um jeden Preis kräuselt sich auf jungen Lippen; Fränger 1925 Humor. Vorw. X im ätzenden Zynismus; Niemann 1927 Revolution 25 seine [Lord Northcliffs] mit teuflischem Zynismus erfundenen Greuellegenden; Kautz 1928 Schatten 50 Von der Sinnlichkeit . . . in moderner Freiheit und Pflichtenlosigkeit bis zur blasierten Gleichgültigkeit, zum Zynismus und allseitigen Revolutionismus ist nur mehr ein Schritt; Steynen 1932 Frau 125 seinem zu leichtem Zynismus neigenden Selbstbewußtsein; Lokal-Anz. 4. 6. 1934 Obwohl die deutsche Delegation . . . eine sehr würdige, eine sehr klare und überzeugende Sprache gefunden hatte, ging man über alle diese menschlichen, sachlichen, auf geschichtlichem und göttlichem Recht fußenden Einwände mit einem Zynismus hinweg, der das Hauptzeichen dieser ganzen Pariser Verhandlungen war; Münch. N. N. 10. 3. 1941 Der Zynismus, mit dem die englischen Stimmen sich nun darauf beschränken, die Griechen zum frischfröhlichen Sterben bis zum letzten Mann aufzufordern — bei der gleichzeitigen völlig sachlichen Berechnung, wie lange diese Agonie eines griechischen Widerstandes dauern könnte — hat etwas so Abstoßendes, daß es selbst für englische Mägen unverdaulich zu werden scheint; ebd. 12./ 13. 2. 1944 Die Sendung begann mit den neuesten Bombardierungsmeldungen und wurde mit Mozarts „Ave verum" fortgesetzt. Diese unmittelbare Nachbarschaft von menschlicher Verkommenheit und einem heiligen Lied ist an Zynismus nicht zu überbieten und hat selbst einem so englandfreundlichen Blatte wie der Basler „Nationalzeitung" Veranlassung zu einer äußerst scharfen Polemik gegeben; Klemperer 19491. t, i. 160 nach dem krieg war ich geneigter in 'menschenmaterial' eine peinliche Verwandtschaft mit 'kanonenfutter' zu finden, den gleichen Zynismus hier in bewuszter, dort in unbewuszter Verkörperung zu sehen (DWB); Bettex 1954 Spiegelungen 163 In Hesses Brief an einen jungen Mann vom Sommer 1931 ist die Abwehr schneidend: er zeige in einem Schreiben an den Dichter die „typische Haltung Ihrer Generation: Zynismus auf Grund von Verantwortungslosigkeit, Verzweiflung auf Grund von An-

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archie"; ebd. 169 Der Ring, der in diesem [Hesses] Menschenbild die Strebungen der Persönlichkeit bisher zusammengehalten hatte, war gesprengt; nunmehr zerfällt ihm das Ich widerstandslos in Trieb und Geist, Zynismus und Erlösungsverlangen, und die Welt ihrerseits in zahllose Antinomien; Süddtsch. Ztg. 10./II. 5. 1955 Nur ein Dichter wie Schiller könnte die Deutschen vor Blindheit und Zynismus retten; ebd. 9. 3. 1959 purer Zynismus; Flake 1960 Abend 499 Zynismus der Intellektuellen; Offenburger Tagebl. 23. 4. 1969 „Wenn das Sinnlose zu mächtig wird, muß man es mit dem Sinnlosen bekämpfen." Das klingt allerdings eher nach Wohlstands-Zynismus als nach indischer Weisheit; Süddtsch. Ztg. 28. 3. 1970 der grundsatzlose Zynismus eines politischen Chamäleons; N. Z. Z. 31. 3. 1979 Allem Spott und Zynismus haftet etwas eminent Feindseliges an, denn wir haben dabei ja nicht die guten, sondern die nach unserer Auffassung schlechten und nachteiligen Eigenschaften des „Opfers", also die negativen Seiten, im Auge . . . [Humor] ist demnach positiv und lebensbejahend, während grundlose Kritik und Zynismus nur zu oft ausgesprochen Pessimismus und Negativismus zum Gevatter haben und von einer Missachtung oder gar Verachtung des Mitmenschen zeugen; Die Zeit 20. 11. 1981 Neu ist, daß die am Kommerzfernsehen interessierten Kreise offen oder in subtilem Zynismus das Ende des Gutenberg-Zeitalters beschwören und die Druckmedien schon verächtlich in einem Atemzug mit der Keilschrift nennen; ebd. 15. 1. 1982 Ausgerechnet die Polen sollen sich wieder einmal dem Zwang der Großordnung

fügen, und ausgerechnet wir Deutschen bringen mit bitterem Mitleid Walesa die Grenzen der Freiheit im Nuklearzeitalter bei? Das wäre ein unziemlicher Zynismus, den sich das historische Gespenst, das wir immer gern Weltgeist genannt haben, mit beiden erlaubte. Zynik: Hiller 1950 Köpfe 184 [André Gide] leider ein unanständiger Charakter. Hier begegnen wir einem Ich, das sich sehen lassen kann in seiner vornehmen Furchtlosigkeit, in seiner sozusagen delikaten Zynik. (Zynismus und Frivolität sind nicht Synonyme, sondern Gegensätze). Zynismus b: 1852 Prutz' Museum II 157 in den obscönsten Cynismen; Gottschall 1885 Totenkl. 233 In der That, für die Frivolitäten auf den Bühnen ist es [das Publikum] bereits hinlänglich abgestumpft: warum sollte nicht auch der Nerv getödtet werden, der noch gegen brutale Zynismen empfindlich ist; Fontane 1891 Br. II, 2 276 kleine Frivolitäten, Anzüglichkeiten, selbst Zynismus — was hab ich vornehmen, klugen, geistreichen Frauen gegenüber nicht alles . . . pecciert, ohne zu verletzen!; Leixner 1896 Zettelkasten 21 Cynismen über das Weib; Fontane 1898 Zwanzig 421 seine niemand schonenden Zynismen; ebd. 441 hatten wir ein Wettschwimmen in Cynismen. In Cynismen, aber nicht in Unanständigkeiten; Sternheim 1918 Chr. II 45 ihrer Zynismen Reiz war nicht spitz; Schneider 1951 Rechenschaft 11 [beim jungen Goethe] Zynismen und Absonderlichkeiten des Ausdrucks.