Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung [1 ed.] 9783428515561, 9783428115563

Pilgerreisen als Ausdruck mittelalterlicher Frömmigkeit führten die Menschen in ihnen völlig unbekannte Länder, Kulturen

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Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung [1 ed.]
 9783428515561, 9783428115563

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CARMEN v. SAMSON-HIMMELSTJERNA

Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung

BERLINER HISTORISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin

Band 37

Deutsche Pilger des Mittelalters im Spiegel ihrer Berichte und der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung Von

Carmen v. Samson-Himmelstjema

Duncker & Humblot . Berlin

Der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2000 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Infonnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 188 Alle Rechte vorbehalten

© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0720-6941 ISBN 3-428-11556-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 0 Internet: hup://www.duncker-humblot.de

Dank Die vorliegende Arbeit hat ihren Ursprung in einem Hauptseminar zum Pilgerwesen im Mittelalter, angeboten von Professor Dr. Kaspar Elm, das ich in meinem ersten Berliner Semester im Winter 1984/1985 besuchte. Im seI ben Semester hörte ich die Vorlesung von Frau Professor Dr. Ursula Hennig über das Nibelungenlied. Im Laufe der folgenden, vielen Jahre wurden Professor Hennig und Professor Elm zu meinen akademischen Lehrern und standen mir in vielerlei Hinsicht zur Seite. So beantwortete Frau Professor Hennig im Sommer 1989 meine hilflose Frage, wie denn überhaupt anzufangen sei mit meiner motivgeschichtlichen Arbeit, mit Freundlichkeit: "Dann schauen Sie doch mal unter ,Pilger' im Großen Lexer nach, nicht wahr, mein Mädchen." Für ihre Geduld und Nachsicht bei ihren Bemühungen, mir ein sorgfältiges und logisch nachvollziehbares philologisches Arbeiten beizubringen, sei ihr sehr herzlich gedankt. Mit Herrn Professor Elm durfte ich mehrere Exkursionen unternehmen, von denen unvergeßlich ist die Reise ins Heilige Land, die gemeinsam mit Islamwissenschaftlern um Professor Dr. Angelika Neuwirth unternommen wurde. In schönster Illustration von Interdisziplinarität wurde in den Referaten wechselweise von der "Katastrophe" und vom "Triumph" von Hattin gesprochen ... In den Seminaren, Vorlesungsnachgesprächen und Begegnungen mit Professor Elm lernte ich, wie Geschichte im Spannungsfeld der großen Entwicklungen und der Einzelschicksale geschrieben wird und konnte das von ihm Gelernte auf vielen Ebenen nutzen, wofür ich ihm immer dankbar sein werde. Die Arbeit an dieser Dissertation wurde in den Jahren 1994 bis 1996 gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes, ihr bin ich - auch für die vorangegangene Förderung in Studienzeiten - zu großem Dank verpflichtet. Durch einen freundlichen Zufall wurde Professor Dr. Arnulf Baring mein Vertrauensdozent, mit dem ich ebenfalls eine wunderbare Reise machen durfte, nach Rußland und Estland. Für seine Betreuung als mein Mentor möchte ich mich herzlich bedanken. Alle drei haben mich in meinem Lesen und Denken, aber auch in meinem Tun und Schreiben geprägt. Meine Eltern, deren beider Biographien von der Bewegung fort von einem Ort, hin zum anderen geprägt sind, haben mir in meiner Kindheit die Welt gezeigt und mich in zwei sehr unterschiedlichen Kulturen groß werden lassen. Dafür und für die vielen anderen Prozesse, die sie mir ermöglicht haben, bin ich ihnen sehr dankbar. Die vorliegende Arbeit haben sie von Juni bis Dezember 1997 finanziell unterstützt und mir dadurch eine der seltenen intensiven Arbeitsphasen ermöglicht.

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Dank

Meinen Kollegen und Freunden, die mich über viele Jahre hinweg und weit in ihre eigenen akademischen Karrieren hinein in Gesprächen, Arbeitsgruppentreffen, in langen Korrektur- und Entwurfssitzungen, auf unseren Exkursionen und in Telephonaten unterstützt und ermuntert haben, sei (endlich) an dieser Stelle gedankt. Dr. Andreas Rüther, Dr. Johannes Pahlitzsch, Dr. Monika Costard und Dr. Annegret Fiebig (t) haben auf vielen Ebenen große Verdienste. Im täglichen, vermeintlich Kleinen standen mir treu zur Seite die Mitarbeiter von Samson-Übersetzungen. In niemandes Stellenbeschreibung ist zu lesen "Doktorarbeit zum hundertzwanzigsten Mal ausdrucken", "schnell nach Dahlem fahren, ein Buch im Seminar besorgen", "Eingabe der Korrekturen prüfen", "schlechte Laune von Frau v. Samson ertragen, wenn sie gestern abend mal wieder nicht weitergekommen ist". Und doch ist das alles so geschehen, und die eigentliche Arbeit unseres Büros ist obendrein noch geleistet worden. Mit solch einem Team freut man sich auf die nächsten Projekte! Besonderer Dank gilt zuletzt, aber innigst, meinem Lebensgefallrten und Freund Dr. Karl-Viktor v. Schöning, dank dessen Zuneigung und Unterstützung ich die vielen Anforderungen, die in den vergangenen drei Jahren an mich gestellt wurden, meistem konnte. Ohne seine als Einladung getarnten, aber durchaus energisch jeden Sonntag vorgebrachten Aufforderungen, jetzt aber endlich mit dem Computer zu ihm zu kommen und dort die Dissertation für die Veröffentlichung zu bearbeiten, wäre diese Arbeit nicht mehr zustande gekommen. Sie ist ihm, nicht allein aus diesem Grunde, in Liebe und Dankbarkeit zugeeignet. Berlin-Charlottenburg, im Mai 2004

Carmen v. Samson-Himmelstjerna

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung und Ziel der Arbeit ...................................................

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11. Stand der Forschung..............................................................

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111. Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen ............................ 1. Herangezogene Quellen ........................................................ 2. Gattungszuordnung der Quellen ................................................ 3. Vergleichbarkeit verschiedener Gattungen ..................................... 4. Vergleichbarkeit deutscher mit lateinischen Quellen ........................... 5. Vorgehensweise der Untersuchung ........................ . ............ . .......

23 23 24 25 27 28

IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters...................

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1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae ........................... 30 a) Der Verfasser ................................................................ 30 b) Die Quellen des Johannes von Würzburg ................................... 34 c) Die Beschreibung des Heiligen Landes ..................................... 36 d) Das Nationalbewußtsein des Johannes von Würzburg .............. . ....... 47 e) Theologische Erörterungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 f) Die Verfahrensweise des Johannes .......................................... 51 g) Johannes - ein Christ und ein Deutscher im Heiligen Land................. 57 2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis ......................................... 58 a) Der Autor.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . . . .. 58 b) Die Quellen des Theodericus ................................................ 61 c) Die Beschreibung der heiligen Orte ......................................... 61 d) Die besonderen Interessen des Theoderich . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . .. . .. . . . . . 72 e) Der Kirchenmann Theoderich ............................................... 75 f) Die erzählerische Verfahrens weise des Theodericus ........................ 77 g) Theodericus' Erleben der Fremde ........................................... 79 3. Burchard von Straßburg, Itinerarium ...... . .................................... 81 a) Der Autor.................................................................... 81 b) Die Quellen und Rezipienten Burchards .................................... 87 c) Die Beschreibung der Reise ................................................. 88 d) Burchard - ein Tourist? Ein Diplomat? Ein Spion? ......................... 94 4. Arnold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis in der Slawenchronik . 95 a) Die Werke des Autors ....................................................... 96 b) Der Autor und seine Umgebung ............................................ 99 c) Die Rezipienten und Quellen Arnolds ...................................... 103 d) Die Beschreibung der Reise. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. .. . . .. . . . . . . . .. . . . . 105 e) Pilgerfahrt und Politik ....................................................... 113

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Inhaltsverzeichnis 5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium . . .. . . . . . ... ... ... . .. . . ... . . ... . . . . ... . . . . a) Der Autor ......... .. ......... . ................. .... . . ....... . ..... .. ........ . b) Die Quellen Wilbrands .... .... . . .... .. . .. .... . . ... ....... .. .. . .. . ........... c) Die Beschreibung der Reise ... .. . .... . . . . . . ...... .... .. . . ..... .. .. . . . . . .... . d) Wilbrand, der Erzähler ........ . ...... .. ......... .. ........ . ..... '" . . . . . . . . .. 6. Philippi Descriptio Terrae Sanctae . .. . . . . . ......... . ....... ... . . . .. .. . . . . . . . . . . a) Der Autor ... .. ................ . . . ...... . ...... . .. . . ... . .... . .... .. . . .. . ... . .. b) Die Quellen und Rezipienten des Textes ................ . ........ . ... . ...... c) Der Text ............ . .. . . . . . ... . . .. . . ......... . ......... . . . . . .... . .. ..... .. . . . d) Verfaßte Philipp ein Handbuch für Fremdenführer? ......................... 7. Wilhelm von Boldenseie (Otto von Neuhaus), Hodoeporicon ad Terram Sanctarn . .... ....... ... .......... . . . . . . . .. . ..... . ..... . ............ .. ..... . . . ... .. .. .. a) Der Autor .. .. . .... . . . ................ .. ......... . ......... . ........ .. ........ b) Der Text ... . ... . ..... . ....... . ............................................ . . . . c) Wilhe1m von Boldenseie - ein Beobachter ...... . ....... . ...... . ... .. ... . .. .

118 118 121 126 137 138 138 140 141 145 146 146 150 160

V. Der Typus Pilger in den als Berichten überlieferten Texten .. . . . ...... .. ....... 162 VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen ..... . ......... . ................ . ........... 165 I. Der Pilger in der sogenannten Spielmannsepik .... .. . . ....... . . . .. .. .. ... ...... a) "König Rother" .... . ........ .. .................. . ........ . ......... . . . ...... . b) "Herzog Ernst" . . . . ........... . ... . . . . .. ....... ... ........ ... .... . ....... . . . . c) "Salman und Morolf" . ... . ... . ...... . . .. .. ... .. ......... ... ........ . .... . .. . d) "St. Oswalt" ................................................................. e) "Orendel" . . . ..... . . . . .. . . . . . . ... . ......... ... .... ... . . .... .. ...... .. ....... .. f) "Graf Rudolf" ....... . ............................................ . . . ........ g) "Dukus Horant" ..... .. ...... .. ......... . ...... ... . . ... . . . . . . .. . . . . . . .. . . . .. .. 2. Der Pilger in der höfischen Dichtung . .... . . . . . . . . . . . . . . . .... . .... . . ... ....... . . a) Hartmann von Aue, "Gregorius" ............................................ b) Wolfram von Eschenbach, "Parzival" .. . . . . . ... . . . . .. . . . . . . . . ..... . . . ... . . . . c) Gottfried von Straßburg, "Tristan" ... . ........... . ...... . .......... .. ... . ... 3. Der Pilger in späterer höfischer Dichtung - als Nebenfigur ..................... a) Rudolf von Ems, "Barlaam und Josaphat" .... .. ....... . . . .. . . ...... .. . ... .. b) Rudolf von Ems, "Der guote Gerhart" . ......... . ....... .. .. . ..... . . . . . . . . . .. c) Konrad Fleck, "Flore und Blanscheflur" ........ . ..... . .. ... ................ d) Die "Kudrun" . . . . . . . .. . . . . . .. .. . . ... . . . .... . .. . . ... .. . . . . ... ..... .... .... . ... e) Johann von Würzburg, "Wilhelm von Österreich" ......... . ................ 4. Der Pilger in späterer höfischer Dichtung - als Held ...... . ... . . .. .......... . .. a) Ulrich von Lichtenstein, "Frauendienst" ........ . ...... . . ... ..... .. . . . . . . . . . b) Konrad von Würzburg, "Das Herzmaere" ................................... c) "Mai und Beaflor" . . ....... . ............ . . . ...... . .......... . ... . .. .. . . ... . .. d) Ulrich von Etzenbach, "Wilhelm von Wenden" .............................

165 166 172 174 183 189 200 202 203 203 215 224 234 234 237 241 242 245 248 248 255 257 261

VII. Die Entwicklung des Typus "Pilger" in der mittelhochdeutschen erzählenden Dichtung ......... .. ................. .. ...... . ......... ... ..... . ... . ....... . ........ 270

Inhaltsverzeichnis

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VIII. Schluß: Das Bild des Pilgers ...................................................... 273 Quellen- und Literaturverzeichnis ...................................................... 278 Quellen. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 278 Literatur. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 283 Register ........... . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 308

I. Einleitung und Ziel der Arbeit Eines der größten Wagnisse, die das Mittelalter kennt, ist der Aufbruch von der Heimat als Pilger: allein, unbewaffnet, mit wenig Geld, als reuiger Büßer von Sünden und als Fremder in allen Orten. Frei von den heimatlichen sozialen Zuordnungen, die ein sicheres Koordinatensystem bieten, muß er sich nun in der Abgrenzung seiner Person in einer oft feindlichen Umwelt üben. Mit der Erfahrung des eigenen Ich geht einher die Erfahrung der Welt: der Pilger hat Gelegenheit, fremden Kulturen zu begegnen und mit fremden Menschen und Sitten Kontakt aufzunehmen. Zu dem damit verbundenen inneren Wachstum gesellen sich Weltkenntnis und Lebenserfahrung als Gewinn einer solchen Reise. Die Situation des Pilgers besitzt in einer Zeit, die geprägt ist von rigiden sozialen Differenzierungen, eine Faszination, die heute kaum nachvollziehbar ist. Er ist ein Fremder, der sich außerhalb der Gesellschaft bewegt und dennoch ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Gemeinschaft bleibt, der die Welt und seine eigene Position in ihr kennenlernt und trotzdem mit seinem Tun Gott dient, der die halbe Welt durchreisen darf und dabei seine Sünden büßt, der von Almosen und Armenspeisungen lebt und trotzdem geachtet wird, der reich oder arm sein kann, eines entsetzlichen Verbrechens schuldig oder ausschließlich um sein Seelenheil besorgt. Gleichzeitig ist jedem mittelalterlichen Menschen bewußt, daß er sich jederzeit aus dem festgefügten Geflecht von Beziehungen lösen, mit dem Segen seines Seelsorgers aufbrechen und für eine bestimmte Zeit die Freiheit, die eine solche Reise bietet, erleben kann l . Besonders im 11. und 12. Jahrhundert erlebte das Pilgerwesen einen ungeheuren Aufschwung 2 , der sicherlich im Zusammenhang mit den Kreuzzügen zu sehen ist, aber auch als Ausdruck einer immer stärker werdenden Sehnsucht verstanden werden kann, für eine Zeit aus der vertrauten Gemeinschaft herauszutreten und selbst, als eigene Person, in Kontakt zu Gott und seiner Welt zu treten. Dieser Wunsch führt Unzählige auf die Straßen und Wege nach Santiago de Compostela, Rom, Canterbury, Köln, Aachen, Jerusalem, Wilsnack und zu zahlreichen anderen Wallfahrtskirchen, deren ausgetretene Steinstufen heute noch von den Massen, die sie gestiegen sind, zeugen. 1 Ludwig Schmugge, "Pilgerfahrt macht frei" - Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens. In: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 74 (1979). S. 16-31 stellt die Bedingungen der Pilgerfahrt im Mittelalter dar und berücksichtigt besonders den Aspekt der Mobilität. 2 Vgl. Jonathan Sumption, Pilgrimage. An Image of Mediaeval Religion. London 1975. S.1l4ff.

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I. Einleitung und Ziel der Arbeit

Eine allzu idealisierte Vorstellung der vom Pilger erlebten Freiheit ist allerdings zu relativieren. Zum einen wurden Pilgerfahrten auch als kirchliche Strafe verordnet 3 , waren also nicht unbedingt freiwillig. Gleichzeitig sind die Gefahren, die von muslimischen Banditen im Heiligen Land 4 oder auch christlichen Räubern auf den Straßen Europas drohten, nicht zu unterschätzen. Eine Pilgerfahrt zu unternehmen hieß auch, die Mühseligkeit und die Strapazen einer Fußwanderung über die Alpen, die Pyrenäen oder quer durch Kleinasien auf sich zu nehmen; auch, sich in einem kleinen Schiff auf das Mittelmeer zu wagen; auch, in Pilgerhospizen mit Menschen unterschiedlichster Art zu übernachten, und dies nur im Krankheitsfalle länger als drei Tage; auch, von der Barmherzigkeit anderer zu leben und in den meisten Fällen kein Geld mit sich zu führen, das geraubt werden könnte. Natürlich gab es Pilger, die komfortabel reisen konnten; und genauso gab es größere Gruppen von Pilgern, die als Gemeinschaft eine weniger leichte Beute darstellten. Doch belegen die zahlreichen Neugründungen von Pilgerhospitälern im Hochmittelalter5 , daß ein solches Netz von Versorgungs stellen für ärmere Reisende einem Bedürfnis der Zeit entspricht 6 • Es kann von einem "Stand der Pilger" gesprochen werden, der all diejenigen vereint, die sich außerhalb ihres eigenen gesellschaftlichen Mikrokosmos befinden, der sie in eine größere gesellschaftliche (nämlich christliche) Gemeinschaft einordnet. Gemeinsam ist ihnen allen ihr Status als Fremde in der Fremde - und doch sind sie der Allgemeinheit vertraut: zum einen gehören Pilger zum Straßenbild, zum anderen dürften viele Menschen das Erlebnis des Pilgerns selber erfahren haben, zum dritten sind in allen nur denkbaren Textgattungen Pilger als Motiv vertreten. Diese Vertrautheit ist besonders für das höfische Publikum anzunehmen, für das die Epen des 12. und 13. Jahrhunderts geschrieben wurden. Es kennt den Pilger als Almosen heischende Figur am Hofe, aber zu weiten Teilen sicherlich auch die eigene Pilgerfahrt; es kennt den Pilger als Motiv in erbaulicher Literatur, als Figur in Epen und Chroniken, als Autor von Reiseberichten?

In der vorliegenden Arbeit sollen hauptsächlich zwei bislang in der Forschung klar voneinander abgegrenzte Gattungen betrachtet werden, in denen Pilger promi3 fan van Herwaarden, Opgelegde Bedevaarten. Amsterdam 1978 untersucht für den niederländischen Raum Pilgerfahrten, die als Strafe auferlegt wurden. Er geht dabei nicht nur auf die als Buße von der Kirche auferlegten, sondern auch die von weltlichen Gerichten verhängten Fahrten ein. 4 Der russische Mönch Danie1 berichtet von häufigen Begegnungen mit Banditen und der immer wieder geäußerten Furcht vor den Heiden: The Life and Journey of Danie1, Abbot of the Russian Lands. In: Jerusalem Pilgrimage 1099-1185. Hrsg. von J. Wilkinson, J. Hili, W. F. Ryan. London 1988. S.120-171. Vgl. S.151, 154, 156, 163. 5 Vgl. Ludwig Schmugge, Die Anfange des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven (1984). S.I-82, der die Entstehung von Hospizen entlang den europäischen Pilgerstraßen nachzeichnet. 6 V gl. auch: Unterwegs sein im Spätmittelalter. Hrsg. von Peter Moraw. Berlin 1985. (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 1.). 7 Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Innsbruck 1900. Nachdruck Aalen 1967 stellt eine chronologisch geordnete Liste deutscher Reisender auf.

1. Einleitung und Ziel der Arbeit

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nent figurieren. Zum einen sind dies die fiktionalen Werke des frühen und hohen Mittelalters, zum anderen die sogenannten Pilgerberichte, unter denen sich allerdings ein Brief, eine Chronik sowie einige offenbar als Reiseführer gedachte Werke befinden.

In der erzählenden Dichtung ist der Pilger fast omnipräsent, ist in allen Bereichen und Gattungen der deutschen Literatur des Mittelalters anzutreffen: Natürlich in den als Pilgerberichten überlieferten Texten, in Minneliedern, Tierbispein, Predigten, Kreuzzugsaufrufen, Spottgedichten, Allegorien und zahlreichen erzählenden Dichtungen. Überall evoziert er die Reise in feme und fremde Gegenden und die Suche nach größerer Nähe zu Gott. Durch charakteristische Merkmale wie seine äußere Erscheinung (Stab und Tasche, Reisekleidung), aber auch durch sein Wissen von der Welt ist der Pilger dabei für die Rezipienten leicht erkennbar. In der Figur des Pilgers vereint sich das reale, allseits bekannte Erlebnis des Pilgerns mit der Imagination des Dichters (oder desjenigen, der eine Reise berichtet), der die Figur auf verschiedenste Weise in seine Handlung einführt und diese damit unterschiedlich beeintlußt. Gleichzeitig kann er in der Gestaltung seiner Figur das Verhältnis von Realem zu Imaginärem verschieben: ,,[ ... ] das Reale verliert in gewissem Maße seine Bestimmtheit, während anderseits das Imaginäre [... ] aus seiner Unbestimmtheit herausgeholt wird"8. Dies ist nicht nur in der fiktionalen Literatur so, sondern ist auch in den vermeintlich die Realität abbildenden Pilgerberichten zu beobachten. Der durch seine äußere Situation und Erscheinung klar definierte Pilger ist im Hinblick auf seinen eigentlichen Stand, seinen Anlaß für die Pilgerfahrt, seine Vertrauenswürdigkeit und sein genaues geographisches Ziel immer schillernd und kann in jede Richtung entwickelt werden - Grund genug für jeden Autor, eine solche Figur in seine Dichtung aufzunehmen oder als Ich-Erzähler eine Pilgerfahrt zu schildern. Sie ist, sei sie nun fiktional gedacht oder Grundlage für einen autobiographisch gefärbten Bericht, für eine solche Schnittmenge zwischen Realität und Fiktion besonders geeignet, ist doch dem Publikum das Pilgern als Lebensform bekannt. Sie kann daher als Element, das Assoziationen von Unabhängigkeit, femen Ländern, Welterfahrung, aber auch Verunsicherung und Einsamkeit wachruft, in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt werden. Für eine Einwirkung auf die Handlung einer fiktionalen Erzählung sind mehrere Möglichkeiten denkbar: ein Pilger kann die Handlung fördern oder retardieren, die Handlung von ihrem eigentlichen Ziel entfernen oder auf Vergangenes, vor der Handlung Liegendes hinweisen 9• Er kann als Randfigur auftreten, die in aller Kürze 8 Walter Haug, Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter. In: Entzauberung der Welt. Hrsg. von J. F. Poag, T. C. Fox. Tübingen 1989. S. 1-17. S. 17. 9 Vgl. Johann Wolfgang v. Goethe und Friedrich Schiller, Über epische und dramatische Dichtung. In: J.w' v. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. Zürich 1950. Bd. 14: Schriften zur Literatur. S. 367-370. S. 368.

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I. Einleitung und Ziel der Arbeit

eine Funktion in der Handlung wahrnimmt, oder er kann der Held einer Erzählung sein, die seine Pilgerfahrt thematisiert. Letzteres ist natürlich auch in den sogenannten Pilgerberichten der Fall. Gleichzeitig kann der Autor auf die Motivation seiner Figur eingehen und deren Gründe für die Pilgerfahrt beschreiben. Gibt er sich als Autor eines Pilgerberichts, entscheidet er, welche Momente "seiner" Reise und "seines" Erlebens er besonders hervorheben will, was für seine Rezipienten von Bedeutung oder wissenswert ist, was er als bekannt voraussetzen darf und was dazu dient, seine Leser- oder Hörerschaft zu unterhalten. Die Variabilität des Motivs und die Freiheit, die der Dichter einer Erzählung oder eines Pilgerberichts damit in der Gestaltung hat, legen die Vermutung nahe, daß der Pilger als literarische Figur im Laufe der Literaturgeschichte von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts einen Wandel erfahren haeo. Da dies nicht unabhängig von der Entwicklung der Literatur der Zeit geschehen konnte, bietet es sich an, die Untersuchung an den üblichen literarhistorischen Kategorien "Sogenannte Spie1mannsepik", "Höfische Dichtung" und "Spätere höfische Dichtung" auszurichten. Gleichzeitig unternimmt die vorliegende Untersuchung den Versuch, den Kontext und die Differenz zwischen Pilgerberichten und der fiktionalen Widerspiegelung des Pilgers zu erfassen. Gibt es eine Interaktion zwischen den anscheinend die Realität schildernden Pilgerberichten und der fiktionalen Literatur? Finden fiktionale Werke Eingang in Pilgerberichte, haben sie diese gar beeinflußt, und wie ist es umgekehrt - hat ein Autor bei der Schilderung seiner Pilgerfigur einen Reisebericht zur Hand gehabt? Vorrangiges Ziel dieser Arbeit ist es, die strengen Gattungsgrenzen, die lange Zeit zwischen den verschiedenen Textsorten gezogen wurden, in Frage zu stellen und anhand des Motivs Pilger, also dem Helden sowohl fiktionaler Werke als auch der berichtenden Texte, einen Einblick zu gewinnen in das Zusammenspiel zwischen Autor und Rezipienten, zwischen Faktizität und Fiktion - aber auch, und ganz wesentlich, Erkenntnisse über den Pilger des Mittelalters zu gewinnen. Im Bemühen um diese Erkenntnisse wurde die Forschungsliteratur bis 1997 berücksichtigt.

\0 Gerd TeIlenbach, Zur Frühgeschichte abendländischer Reisebeschreibungen. In: Historia integra. Festschrift für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Hans Fenske, Wolfgang Reinhard und Ernst Schulin. Berlin 1977. S. 51-80 beschreibt z. B. eine solche Veränderung für Reiseberichte ab dem 13. Jahrhundert, die sich verstärkt den irdischen Gegebenheiten zuwenden.

11. Stand der Forschung Das Pilgerwesen im Mittelalter ist seit geraumer Zeit in das Interesse der breiteren Öffentlichkeit gerückt. Den Auftakt hierfür bildete die Ausstellung "Wallfahrt kennt keine Grenzen" von 1984 in München, und die ausführliche Berichterstattung über den Kongreß "peregrinatio" in Bonn von 1991 1 kann als Beleg für das anhaltende Interesse eines größeren Publikums gewertet werden. Ausgaben von Pilgerberichten in sechzehnter Auflage wie die "Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers"2 oder Neuauflagen populärwissenschaftlicher Werke wie die Studie über Margery Kempe 3, stehen neben Ausgaben von Pilgerberichten 4 wie der von R. B. C. Huygens besorgten, die der Forschung eine neue Sicht ermöglichen. Doch bedienen solche Ausgaben nicht nur philologische Interessen. Die Edition von Moseley der Reisen von Sir lohn Mandeville oder das Werk Sollbachs über Felix Fabers Reise ins Heilige Land 5 sind wohl eher für den historisch interessierten Laien gedacht. Repräsentative Bildbände vor allem über den lakobsweg, die insbesondere in Frankreich (Bottineau, Dupront) oder Italien (Caucci von Saucken, Camusso) Absatz finden, werden ins Deutsche übersetzt 6 und liegen oft in der zweiten oder dritten Auflage vor. Eine einführende Darstellung zum Reisen im Mittelalter wurde von Norbert Ohler vorgelege, rasch gefolgt von einem Werk zum Pilgerleben mit dem sicherlich die Leser anziehenden Untertitel "Zwischen Deutschlandfunk, Tag für Tag, 2. Oktober 1991. EmmanuelJungclaussen (Hrsg.), Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Kasan 1870. 16. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1987. 3 Louise Collis, The Apprentice Saint. London 1964. Zweite Auflage unter dem Titel "Memoirs of a Medieval Woman. The Life and Times of Margery Kempe" New York 1983. Übersetzung einer gekürzten Fassung ins Deutsche von Ebba D. Drolshagen Berlin 1986. 4 R. B. C. Huygens (Hg.), Peregrinationes Tres. Saewulf, John of Würzburg, Theodericus. (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis 139). Tumhout 1994. 5 C.W.R.D. Moseley (Hrsg.), The Travels of Sir John Mandeville. London 1983. Nachdruck 1987. Gerhard E. Sol/bach, In Gottes Namen fahren wir. Die Pilgerfahrt des Felix Faber ins Heilige Land und zum Katharinengrab auf dem Sinai A.D.1483. Kettwig 1990. 6 Yves Bottineau, Les Chemins de Saint-Jacques. Paris 1983. Deutsche Übersetzung von Sybille A. Rott-IIlfeid unter dem Titel "Der Weg der Jakobspilger. Geschichte, Kunst und Kultur der Wallfahrt nach Santiago de Compostela". Bergisch Gladbach 1987. Norman Foster, Auf den Spuren der Pilger. Die großen Wallfahrten im Mittelalter. Frankfurt 1990. Alphonse Du· pront, Saint-Jacques de Compostelle. Puissances du pelerinage. Paris 1985. Paolo Caucci von Saucken, Santiago de Compostela. Pilgerwege. Aus dem Italienischen übersetzt von Marcus Würmli. Augsburg 1996. Lorenzo Camusso, Reisebuch Europa 1492. Wege durch die alte Welt. Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann. München und Zürich 1990, 2. Auflage 1991. 7 Norbert Ohler, Reisen im Mittelalter. München 1986. I

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11. Stand der Forschung

Andacht und Abenteuer"8. Alexander Demandt ging auf das Alteritätserlebnis im Mittelalter ein mit seiner Studie "Mit Fremden leben"9, die 1995 erschien. Fester Bestandteil des Sortiments ist die von Klaus Herbers betreute Reihe der "Jakobus-Studien", die seit ihrem Beginn im Jahre 1986 mit einer Ausgabe eines Pilgerführers nach Santiago de Compostela 10 Themen wie die europäischen Pilgerwege 11, die Spiritualität des Pilgerns 12 und den Codex Calixtinus 13 behandelt hat, um nur einige der abgedeckten Themen zu benennen. Die Gründe für dieses verstärkte Interesse sind kaum zu benennen, will man von Gemeinplätzen wie der Sehnsucht im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert nach einer poetischeren Zeit absehen. Die Grundlagen für diese Faszination sind jedenfalls bereits im letzten Jahrhundert gelegt worden. An dieser Stelle sind zwei Historiker zu nennen, die der modernen Pilgerforschung grundlegende Werkzeuge an die Hand gegeben haben - so sehr ihre Arbeiten auch im Nachhinein revidiert worden sein mögen. Es sind dies Titus Tobler und Reinhold Röhricht. Im Jahre 1849 veröffentlichte Titus Tobler gleich drei Werke zur Topographie des Heiligen Landes, die Bethlehem, Golgatha und Nazareth nach eigener "Anschau" und nach den Quellen beschrieben und darüber hinaus zu Teilen mit Plänen versehen waren 14. Vier Jahre später folgte der erste Band einer Topographie Jerusalems, der zweite erschien 1854 15 • Damit stellte Tobler der Forschung seiner Zeit die Topographie des Landes, das die Pilger bereist hatten, zur Verfügung und wirkte beispielgebend für Melchior de Vogüe, der 1860 "Les Eglises de la Terre Sainte" publizierte 16. Doch führte Tobler seine Arbeit weiter, brachte Text und Topographie zusammen: 1867 gab er die "Bibliographia geographica Palestinae" 17 heraus, in der 8 Norbert Ohler, Pilgerleben im Mittelalter. Zwischen Andacht und Abenteuer. Freiburg, Basel, Wien 1994. 9 Alexander Demandt, Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. 10 Klaus Herbers, Der Jakobsweg. Mit einem mittelalterlichen Pilgerführer unterwegs nach Santiago de Compostela. 2. Auflage Tübingen 1986. 11 Robert Plätz (Hrsg.), Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt. Tübingen 1990. 2. Aufl. 1993. 12 Klaus Herbers, Robert Plätz (Hrsg.), Spiritualität des Pilgems. Tübingen 1993. 13 lohn Williams, Alison Stones (Hrsg.), The Codex Calixtinus and the Shrine of St. James. Tübingen 1992. 14 Titus Tobler, Bethlehem in Palästina. Topographisch und historisch nach Anschau und Quellen geschildert. St. Gallen/Bem 1849. Ders., Golgatha. Seine Kirchen und Klöster. nach Quellen und Anschau. Mit Ansichten und Plänen. St. GallenlBem 1849. Ders., Nazareth in Palästina. Nebst anhang der vierten wanderung. Berlin 1849. 15 Titus Tobler, Zwei Bücher Topographie von Jerusalem und seinen Umgebungen. 1. Buch: Die Heilige Stadt. Berlin 1853.2. Buch: Die Umgebungen. Berlin 1854. Ders., Planographie von Jerusalem. Gotha 1857. 16 Melchior de Vogüe, Les Eglises de la Terre Sainte. Paris 1860. 17 Titus Tobler, Bibliographia geographica Palestinae. Zunächst kritischer Übersicht gedruckter und ungedruckter Beschreibungen der Reisen ins Heilige Land. Leipzig 1867.

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Beschreibungen von Heilig-Land-Fahrten im Überblick aufgeführt wurden. Dies wird für ihn der Anlaß gewesen sein, sich weiter mit Pilgerberichten zu beschäftigen, denn im Jahre 1874 folgte darauf die Ausgabe von als Berichte bezeichneten Texten von Willibald, Bernardus Monachus, Johannes von Würzburg, zweier anonymer Reisender und Johannes Poloner unter dem Titel "Descriptiones Terrae Sanctae" 18. 1879 folgte schließlich der gemeinsam mit Augustus M olinier 19 erarbeitete Überblick über die Reisen ins Heilige Land. Dieses Konzept griff ein Jahr später Reinhold Röhricht auf. Mit Heinrich Meisner gab er 1880 die "Deutschen Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande"20 heraus, ein chronologisch geordneter Überblick der Reisen deutschsprachiger bzw. aus dem deutschsprachigen Raum stammender Pilger. 1900 erschien das Werk erneut in überarbeiteter Form und allein unter Röhrichts Namen 21 ; es ist 1967 nachgedruckt worden. In die Mitte dieser Erscheinungsdaten fällt für das Jahr 1890 eine Ausweitung dieser Herangehensweise: Sein "Chronologisches Verzeichnis der von 333 bis 1878 verfaßten Literatur über das Heilige Land mit dem Versuch einer Kartographie"22 erschien 1890 und ist bis heute das Nachschlagewerk, das von Pilgerforschern zuerst herangezogen wird. Es ist 1963 nachgedruckt worden. Röhricht nahm in seiner Beschäftigung mit dem Heiligen Land den umgekehrten Weg, vergleicht man seinen Werdegang mit dem Toblers . Befaßte letzterer sich zunächst mit den geographischen Bedingungen und fand von dort zu den Reiseschilderungen, so entwickelte sich Röhricht vom Philologen zum Kartographen. Die von ihm gesammelten, aus dem 7. bis zum 16. Jahrhundert stammenden Karten und Pläne zur Palästinakunde erschienen in den Jahren 1891 bis 1895 in der Zeitschrift des deutschen Palästinavereins, wo 1898 auch seine Studie zu Marino Sanudo dem Älteren als Kartograph publiziert wurde 23 . Die weitere Entwicklung des Forschungsinteresses verlief nach diesem Beginn nicht mehr linear. Vielmehr scheint das Interesse an den Pilgern einen Umweg über die Beschäftigung mit den Kreuzzügen genommen zu haben. Nach der 1935 von earl Erdmann erschienenen Untersuchung "Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens"24 Titus Tobler, Descriptiones Terrae Sanctae. Leipzig 1874. Titus Tobler mit Augustus Molinier, Itinera Hierosolymitana et Descriptiones Terrae Sanctae. Genf 1879 (Nachdruck Osnabrtick 1966). 20 Reinhhold Röhricht und Heinrich Meisner, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Berlin 1880. 21 Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Innsbruck 1900 (Nachdruck Aalen 1967). 22 Reinhold Röhricht, Chronologisches Verzeichnis der von 333 bis 1878 verfaßten Literatur über das Heilige Land mit dem Versuch einer Kartographie. Berlin 1890. Verbesserte und vermehrte Neuausgabe mit einern Vorwort von David. H. K. Amiran. Jerusalem 1963. 23 Reinhold Röhricht, Karten und Pläne zur Palästinakunde aus dem VII. bis XVI. Jahrhundert. In: Zeitschrift des deutschen Palästinavereins 14 (1891), S. 8-11,87-92, 137-141; ZDPV 15 (1892), S. 35-39, 185-192; und ZDPV 18 (1895), S. 173-182. Ders., Marino Sanudo sen. als Kartograph Palästinas. In: ZDPV 21 (1898), S. 84-126 und Tafel 4. 24 earl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Stuttgart 1935. 18 19

2 v. Samson-Himmelstjema

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ging es zunächst darum, die Geschichte von Outremer zu erforschen. Diese Darstellungen entsprechen ihrem Wesen nach, betrachtet man sie aus der Sicht der Pilgerforschung, den geographischen Grundlagenwerken von Tobler und Röhricht, wurde durch sie doch die Situation der Heiliglandfahrer in Palästina, was die politischen oder gar kriegerischen Umstände angeht, deutlicher. Runcimans dreibändige Geschichte der Kreuzzüge bildete hier den Auftakr2s und wurde im deutschen Sprachraum durch Hans Eberhard Mayers Werk 26 ergänzt. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts intensivierte sich das Interesse an den Kreuzzügen. Friedrich-Wilhelm WentzlaJf-Eggebert veröffentlichte 1960 die "Kreuzzugsdichtung des Mittelalters"27, während 1962 Stephen loseph Kaplowitt in seiner Dissertation auf den Einfluß der Kreuzzüge auf die Kaiserchronik 28 einging. Das "Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen"29 wurde wenige Jahre später, nämlich 1966, behandelt. Diese Studie kann als wegweisend für die spätere Untersuchung von lutta Rüth zu "Jerusalern und das Heilige Land in der deutschen Versepik des Mittelalters (1150-1453)"30 gelten, wird doch hier auf ähnliche Weise ein Motiv in der Literatur erforscht. In dieser Reihe von Werken, die eher das Umfeld der Pilgerfahrt abhandeln, bilden die Dissertation von lohannes Schmitz über ,,sühnewallfahrten im Mittelalter"31 und die auf Pilger konzentrierte Festschrift für lohn Meier aus dem Jahre 1934 32 die Ausnahme. Über die Arbeiten Valmar eramers in den 40er und 50er Jahren zum Heiligen Grab 33 findet das Forschungsinteresse dann wieder zu den Pilgern zurück. eramer schrieb über den Ritterorden vom Heiligen Grabe, in den insbesondere adlige Pilger 25 Steven Runeiman, A History of the Crusades. 3 Bde. Cambridge University Press 1951. Nachdruck London 1986. 26 Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart!Berlin/Köln 71989. 27 Friedrich-Wilhelm Wentzlajf-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Berlin 1960. 28 Stephen loseph Kaplowitt, Influences and Reflections of the Crusades in the Kaiserchronik. 3 Bde. University ofPennsylvania (Diss.) 1962. 29 Hans Szklenar, Studien zum Bild des Orients in vorhöfischen deutschen Epen. Göttingen 1966. 30 lutta Rüth, Jerusalem und das Heilige Land in der deutschen Versepik des Mittelalters (1150-1453). Göppingen 1992. 3\ lohannes Schmitz, Sühnewallfahrten im Mittelalter. Bonn 1910. 32 Wallfahrt und Volkstum in Geschichte und Leben. Festschrift für John Meier. Düsseldorf 1934. (Forschungen zur Volkskunde 16/17). 33 Valmar eramer, Der Ritterorden vom Heiligen Grab von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart. Ein geschichtlicher Abriß. Köln 1952. (Palästinahefte des deutschen Vereins vom Heiligen Lande 46/48). Ders., Der Ritterschlag am Heiligen Grabe. Zur Entstehung und Frühgeschichte des Ritterordens vom Heiligen Grabe. In: Das Heilige Land in Vergangenheit und Gegenwart. Bd.2, S.137-199. Ders., Das Rittertum vom Heiligen Grabe im 14. und 15. Jahrhundert. In: Das Heilige Land in Vergangenheit und Gegenwart. Bd. 3, S. 111-200. Ders. mit Gustav Meinertz, Das Heilige Land in Vergangenheit und Gegenwart. Gesammelte Beiträge und Berichte zur Palästinaforschung. 3 Bde. Köln 1939, 1940, 1941. (Palästinahefte des deutschen Vereins vom Heiligen Lande 24-27; 33-36).

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aufgenommen wurden. Seine Aufsätze wurden von den Palästinaheften des deutschen Vereins vom Heiligen Lande in den Jahren 1939 bis 1941 gesammelt herausgegeben. Die Erforschung des sanctissimi sepulcri und der Jerusalemverehrung machte sich Kaspar Elm zu eigen mit Studien über den Ritterorden vom Heiligen Grab 34 , das Kapitel vom Heiligen Grab 35 , das weibliche Religiosenturn in dessen Umkreis 36 , von denen einige 1998 in einem Sammelband nachgedruckt wurden, der die Geschichte Jerusalems im allgemeinen 37 beleuchtet. Des weiteren wurde das Thema "Pilgerfahrt" im Rahmen der Beschäftigung mit der mittelalterlichen LaienfrömmigkeieS bzw. mit der Analyse historisch-geographischer Kenntnisse oder Ideen 39 wieder aufgegriffen und mit verstärktem Interesse 34 Ders., Milites oder fratres? Über den Ursprung des Ritterordens vom Hig. Grab. In: Deus 10 volt 55 (1995), S. 53-56. Ders., Milites Sancti Sepulcri. Histoire et antecedents de l'ordre des chevaliers du Saint-Sepulcre. In: La Orden des Santo Sepulcro. Actas de las Segundas Jornadas de Estudio (Zaragoza, 23. - 26.11.1995). Zaragoza 1996. S. 55-66. 35 Kaspar Elm, De Ordo Canonicorum regularium SS. Sepulchri Dominici Hierosolymitani. De kanunniken en kanunnikessen van het Heilig Graf in de loop der tijden. In: De Priorij Emmaus, Maarssen 1989, S.16-27. Ders., Die Vitacanonica der regulierten Chorherren vom Heiligen Grab in Jerusa1em. In: M. Derwich (Hrsg.), La vie quotidienne des moines et chanoines reguliers au moyen age et temps modemes. Actes du Premier Colloque International du C.A.R.H.C.O.R., Wroclaw-Ksiaz, 30. Novembre au 4 Decembre 1994. Wroclaw 1995, S.181-192. Ders., Canonici dei Tempio di Gerusalemme, in: Dizionario deglie Istituti di Perfezione IX, Roma 1997, c. 884-886. 36 Kaspar Elm, Fratres et Sorores Sanctissimi Sepulcri. Beiträge zu ..fraternitas", ..familia" und weiblichem Religiosenturn im Umkreis des Kapitels vom Hig. Grab. In: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975). S.287-333. Die Frauen vom Heiligen Grab. Weibliches Religiosenturn und laikaie Frömmigkeit im Dienst des Heiligen Grabes. Aachen 1997. Nachgedruckt in: Ders.: Umbilicus Mundi. Beiträge zur Geschichte Jerusalems, der Kreuzzüge, des Kapitels vom Hlg. Grab in Jerusalem und der Ritterorden. Brügge 1998. S. 219-251. Ders.: Die Frauen vom H!. Grab und das Kapitel der Grabbasilika von Herusalem in Mittelalter und Neuzeit. In: Festschrift des Klosters vom H!. Grab in Baden-Baden 167~1970, Baden-Baden 1970, S. 3-16. 37 Kaspar Elm, Umbilicus Mundi. Beiträge zur Geschichte Jerusalems, der Kreuzzüge, des Kapitels vom Hig. Grab in Jerusalem und der Ritterorden. Brügge 1998. 38 Gilles Gerard Meersseman, Ordo fraternitatis. Confraternite e piete dei laici nel medioevo. In collaborazione con Gian Piero Pacini. 3 Bde. Rom 1977. Robert Konrad, Das himmlische und das irdische Jerusalem im mittelalterlichen Denken. In: Speculum Historiale. Festschrift für Johannes Spör!. Freiburg/München 1965. Beatrice Dansette, Les pelerinages occidentaux en Terre Sainte: une pratique de la .. Devotion Modeme" ala fin du Moyen Age? Relation inedite d'un pelerinage effectue en 1486. In: Archivum Franciscanum Historicum 72 (1979), S. 106133 und S. 330-428. Wolfgang Schneider, Peregrinatio Hierosolymitana: Studien zum spätmittelalterlichen Jerusalembrauchtum und zu den aus der Heiliglandfahrt hervorgegangenen nordwesteuropäischen Jerusalembruderschaften. Diss. Münster 1982. 39 Anna-Dorothee v. den Brincken, Mappa mundi und Chronographia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters. In: Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters 24 (1968), S. 118-186. dies., Die ,Nationes Christianorum orientalium' im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Köln/Wien 1973. (Kölner historische Abhandlungen 22). Dies.:, Mundus figura rotunda. In: Omamenta Ecclesiae. Hrsg. von A. Legner. Bd. I. Köln 1985 (Katalog zur Ausstellung).

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11. Stand der Forschung

behandelt. Ein erstes Herangehen bieten dabei die sozialgeschichtlichen Darstellungen des Pilgerverkehrs und seiner Bedeutung von Ludwig Schmugge 40 • Mit den Reisebedingungen der Pilgerfahrt befassen sich Sylvia Schein 41 , Marie-Luise FavreauLilie 42 sowie einige Beiträge zu dem von Hans Conrad Peyer herausgegebene Band über Gastfreundschaft im Mittelalter43 • Dem Reisen im Spätmittelalter widmet sich die von Peter Moraw herausgegebene Sammlung "Unterwegs sein im Spätmittelalter"44. Seit 1986 erscheint die Reihe der Jakobus-Studien, herausgegeben von Klaus Herbers und Robert Plötz 45 • Von grundsätzlicher Bedeutung ist das Werk von Nathan Schur, das die Arbeiten Reinhold Röhrichts fortführt: eine thematische Bibliographie von Reiseberichten 46 • Daß die Pilgerfahrt nicht als ein ausschließlich christlich-abendländisches Phänomen zu betrachten ist, belegt die Arbeit von Suraiya Faroqhi 47 , die den islamischen Hadj beschreibt. In Frankreich gibt es eher grundsätzliche Darstellungen des Gegenstands. Es sei in diesem Zusammenhang verwiesen auf Edmond-Rene Labande 46 , auf Alphonse Dupront49 , auf Marie-Humbert Vicaire so , auf Pierre-Andre Sigal S1 , aber auch auf das zweibändige Werk über Armut im Mittelalter von Michel Mollat 52 , das in geS. 99-106. J. K. Hyde, Medieval Descriptions of Cities. In: Bulletin of the John Rylands Library 48 (1965/66), S. 308-340. Joachim G. Leihhäuser, Mappa mundi. Die geistige Eroberung der Welt. Berlin 1958. Werner Müller, Die Heilige Stadt. Roma quadrata, himmlisches Jerusalern und die Mythe vom Weltnabel. Stuttgart 1961. 40 Ludwig Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven (1984). S. 1-82. Ders., Pilgerfahrt macht frei. Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens. In: Römische Quartalsschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 74 (1979). S.16-31. 41 Sylvia Schein, Latin Hospices in Jerusalem in the Late Middle Ages. In: Zeitschrift des deutschen Palästinavereins 101 (1985), S. 82-92. 42 Marie-Luise Favreau-Lilie, Die italienischen Kirchen im Heiligen Land (1098-1291). In: Studi veneziani n.s.12 (1987), S.15-101. 43 Hans Conrad Peyer, Hrsg: Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München/Wien 1983. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 3.) Mit einem Beitrag von Ludwig Schmugge zum organisierten Pilgerverkehr. 44 Peter Moraw (Hrsg.), Unterwegs sein im Spätmittelalter. Berlin 1985. (Beiheft 1 der Zeitschrift für Historische Forschung). 45 z. B. Europäische Wege der Santiago-Pilgerfahrt. Tübingen 1990. 46 Nathan Schur, Jerusalem in Pilgrims' and Travellers' Accounts. A Thematic Bibliography of Western Christian Itineraries 1300-1917. J erusalem 1980. 47 Suraiya Faroqhi:, Herrscher über Mekka. Die Geschichte der Pilgerfahrt. München/Zürich 1990. 48 Edmond-Rene Labande, Recherehes sur les peJerins dans I'Europe des XIe et Xlle siecJes. In: Cahiers de civiJisation medievale 1 (1958), S. 159-169. 49 Alphonse Dupront, Saint-Jacques de Compostelle. Puissances du pelerinage. Paris 1985. Ders., Du Sacre. Croisades et pelerinages. Images et langages. Paris 1987. 50 Marie-Humbert Vicaire, Les trois itinerances du pelerinage aux XIIIe et XIVe siecJes. In: Cahiers de Fanjeaux. Le Pelerinage 15 (1980). S.17-41. 51 Pierre-Andre Sigal, Reliques, pelerinages et miracJes dans I 'Eglise medievale (Xie - Xlle siecJes). In: Revue de I'Eglise de France. LXXVI (197), Hefte 6-12 (1990). S.193-211. Ders., Les differents types de pelerinage au Moyen Age. In: Wallfahrt kennt keine Grenzen. S. 76-86.

11. Stand der Forschung

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kürzter Fonn ins Deutsche übersetzt worden ist 53 • Doch gibt es auch speziellere Untersuchungen, so von Yves Dossat 54, fean Richard 55 und Henri Gilles 56 , welch letzterer sich mit den juristischen Aspekten der Pilgerfahrt befaßt. Die Beschäftigung mit Straf- und Bußpilgerfahrten wurde - seit dem Artikel von Cyrille Vogel 57 - weitergeführt von Robin Ann Aronstarn 58 , fan van Herwaarden 59 und Gerard fugnot 60 • Mit weiteren rechtlichen Aspekten der Kreuznahme, aber auch mit der Pilgerfahrt hat sich ebenfalls farnes A. Brundage 61 beschäftigt. Die mit den Pilgerberichten an sich beschäftigte Forschung hat sich vor allem in den letzten Jahren intensiviert. Amold Esch vergleicht Berichte, die innerhalb einer Reisegruppe entstanden sind 62 , während Herbert Feilke Felix Faber in den Gesamtzusammenhang der Pilgerliteratur des Spätmittelalters stellt63 • Christiane Hippler 64 und Claudia Zrenner 65 führen jeweils literaturwissenschaftlich relevante Analysen 52 Michel Mollat, Etudes sur l'histoire de la pauvrete. 2 Bde. Paris 1974. (Publications de la Sorbonne, Serie "Etudes" 8). 53 Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter. Aus dem Französischen übersetzt von Ursula Irsigler. München 1984. 54 Yves Dossat, Types exceptionnels de pelerins. L'heretique, le voyageur deguise, le professionnel. In: Cahiers de Fanjeaux. Le Pelerin 15. 1980. S. 207-225. 55 fean Richard. Les recits de voyages et de pelerinages. Typologie des sources du Moyen Age occidental. Typologie des sources du moyen age occidental. Hrsg. von L. Genicot. Tumhout 1981. S.I-84. Ders., Les relations entre l'orient et l'occident au Moyen Age.1977. 56 Henri Gilles. Lex peregrinorum. In: Cahiers de Fanjeaux. Le Pälerin 15. 1980. S.161-189. 57 Cyrille Vogel, Le Pelerinage penitentiel. In: Convegni dei Centro di Studi sulla Spiritualita MedievaleIV. Todi 1963. S. 39-94. 58 Robin Ann Aronstarn, Penitential Pilgrimages to Rome in the Early Middle Ages. In: Archivum historiae pontificae 13 (1975). S.65-83. 59 Jan van Herwaarden, Opgelegde Bedevaarten. Amsterdam 1978. 60 Gerard fugnot. Le pelerinage et le droit penal d'apres les lettres de remission accordees par le roi de France. In: Cahiers de Fanjeaux. Le Pelerinage 15 (1980). S.191-206. 61 farnes A. Brundage, Medieval Canon Law and the Crusader. University of Wisconsin Press 1969. Ders., Law, Sex and Christi an Society in Medieval Europe. University ofChicago Press 1987. 62 Arnold Esch, Vier Schweizer Parallelberichte von einer Jerusalemfahrt im Jahre 1519. In: Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift für Ulrich Im Hof zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Nicolai Bemard und Quirinus Reichen. Bem 1982. S. 138-184. Ders., Gemeinsames Erlebnis - individueller Bericht. Vier Parallel berichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgem 1480. In: Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984). S. 385-416. 63 Herbert Feilke, Felix Fabris Evagatorium über seine Reise in das Heilige Land: Eine Untersuchung über die Pilgerliteratur des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt a.M. 1976 (Europäische Hochschulschriften 155). 64 Christiane Hippier, Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters. Frankfurt a. M. 1987. (Europäische Hochschulschriften I, 968). 65 Claudia Zrenner, Die Berichte der europäischen Jerusalempilger (1475-1500). Ein literarischer Vergleich im historischen Kontext. Bem 1981. (Europäische Hochschulschriften I, 382).

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11. Stand der Forschung

von Pilgerberichten durch, während Ludwig Schmugge eine Betrachtung der Motivstrukturen im Pilgerwesen vomimmt 66 • Von dort ist der Schritt bis zur Erforschung der geistigen Voraussetzungen der Reisenden nicht weit. Was zunächst von Rainer Christoph Schwinges eingeleitet wurde 67 , konnte Friederike Hassauer fortführen, die zwei unterschiedliche Berichte im Hinblick auf die in ihnen zum Ausdruck kommende Alteritätserfahrung verglich: den des Kaufmanns Marco Polo und den des Kreuzfahrers Jean de Joinville 68 • Mit dem Bild, das man sich im 13. Jahrhundert vom Königreich Jerusalem machte, beschäftigt sich Sylvia Schein 69 • In diesem Zusammenhang sei noch verwiesen auf die interdisziplinär angelegten Studien von Man/red Frank, der die peregrinatio aeterna 70 behandelt, und von Erwin Kobel, der die Zusammenhänge zwischen Räumlichkeit und ihrer literarischen Darstellung aufdeckel. Dietrich Huschenbett hat sich vor allem der spätmittelalterlichen Pilgerfahrt gewidmet 72 • Neben seinen zahlreichen Untersuchungen zum Thema ist das von ihm geleitete Forschungsprojekt "Deutsche Pilgerberichte im späten Mittelalter" zu nennen. Das aus ihm hervorgegangene Repertorium ist Grundlage jeder weiteren Forschung.

66 Ludwig Schmugge, Kollektive und individuelle Motivstrukturen im mittelalterlichen Pilgerwesen. In: Migration in der Feudalgesellschaft. Hrsg. von Gerhard Jarlitz und Albert Müller. Frankfurt/New York 1988. S. 263-289. 67 Rainer Christoph Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Stuttgart 1977. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 15). 68 Friederike Hassauer, Volks sprachliche Reiseliteratur: Faszination des Reisens und räumlicher ordo. In: La litterature historiographique des origines 11 1500. tome 1. Heidelberg 1986. (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. XIII). S.259-283. 69 Sylvia Schein, The Image of the Crusader Kingdom of Jerusalem in the Thirteenth Century. In: Revue beige de philologie et d'histoire 64 (1986). S.704-717. 70 Manfred Frank: Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt 1979. 71 Erwin Kobel, Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen Dichtung. Zürich 1951. 72 Dietrich Huschenbett, Hermann von Sachsenheim. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts. Berlin 1962 (Philologische Studien und Quellen 12). Ders., Von landen und ynselen. Literarische und geistliche Meerfahrten nach Palästina im späten Mittelalter. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Hrsg. von Norbert R. Wolf. Wiesbaden 1987. S. 187-207. Ders., Die Literatur der deutschen Pilgerreisen nach Jerusalem im späten Mittelalter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 29-46. Ders., Der tradierte und erfahrene Orient. Zur Frage der Traditionsgebundenheit sogenannter geistlicher und ausgeführter Pilgerreisen.

IU. Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen Die in dieser Arbeit an Pilger gerichteten Fragen befassen sich letztlich damit, welche Dimensionen die Existenz eines Pilgers beinhaltet. Was sind die Gründe für seinen Aufbruch? Wie erlebt er die Stationen seiner Reise und die toca sancta, zu denen er sich begibt? Wie steht er den fremden Ländern und ihren Kulturen gegenüber, durch die er kommt und denen er begegnet? Wie empfindet er die ungewohnte Freiheit auf Zeit, die als einziger nur noch der Eremit mit ihm gemeinsam hat? Mit wem hat er Kontakt? Wie verständigt er sich, wenn er die fremden Sprachen nicht kennt? Nimmt er den Kontakt mit Fremden nur auf, um seinen Bedarf an Reisenotwendigkeiten zu decken, oder kommt es zu einem wirklichen Gedankenaustausch? Welche Absichten verfolgt der Wallfahrer mit der Niederschrift seiner Erfahrungen, sofern wir den Bericht für authentisch halten? Wie wird er von seiner Umwelt wahrgenommen, wie wird er von Personen widergespiegelt, die ihm begegnen? Welche Rolle übernimmt er im Leben anderer (hier also: in der Handlung eines Textes)? Welche für die Rezipienten? Wer also ist der Pilger?

1. Herangezogene Quellen Die Zeugnisse, die zur Beantwortung dieser Fragen beitragen können, sind unterschiedlicher Art. Es wurden in dieser Untersuchung verschiedene Textsorten berücksichtigt: Werke, die als authentische Schilderung einer vom Erzähler unternommenen Reise überliefert wurden, stehen neben Reiseführern, historischen oder geographischen Abrissen, Berichten in Chroniken und epischen Dichtungen. Unabhängig von ihrer Zuschreibung zu einer Gattung tragen alle diese Texte auf ihre Weise dazu bei, die Pilgerfahrt als eine der Daseinsformen des mittelalterlichen Menschen zu beleuchten. An erster Stelle der Quellen stehen die als Textsorte ,Pilgerbericht' bezeichneten Werke. Sie werden als literarische Selbstzeugnisse von Pilgern überliefert, die neben den explizit formulierten Details ihrer Reise (Entfernungen einzelner Orte voneinander, besuchte Attraktionen, angesteuerte Herbergen, Merkmale heiliger Stätten usw.) auch zwischen den Zeilen Aufschluß geben über die Erwartungen, Reaktionen, Vorurteile und den Lernprozeß der Reisenden. Pilgerberichte gelten als Texte, die in dieser Hinsicht die größte Realitätsnähe haben. Als weitere aussagekräftige und zahlenmäßig stärkste Quellengruppe ist die fiktionale Spiegelung des Pilgerwesens in der mittelhochdeutschen erzählenden Dich-

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111. Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen

tung anzusehen. Diese Literaturfonn beansprucht nicht, mehr oder weniger objektiv über real Erlebtes zu berichten, sondern stellt in der Regel eine ideale Welt dar, in der der Pilger eine feste Position im Erzählgeschehen einnimmt. Weitere literarische Fonnen sind Briefe wie der des Burchard von Straßburg, in dem er seine Reise beschreibt, chronikalische Schilderungen wie die Arnolds von Lübeck oder Texte, die mit der Intention verfaßt wurden, dem Leser einen Reiseführer an die Hand zu geben.

2. Gattungszuordnung der Quellen Bei näherer Betrachtung der hier behandelten Texte stellt sich allerdings heraus, daß die anerkannten und üblichen Zuordnungen zu einer bestimmten Gattung trügerisch sein können. So ist der Brief Burchards von Straßburg unter anderem in Arnolds von Lübeck Chronik überliefert. Durch diesen Kontext erhält er einen anderen Wert, erscheint er doch nun von stärkerer Historizität. Ähnlich schwer greifbar ist die Chronik Arnolds. Diejenigen Passagen, die sich mit Heinrich dem Löwen befassen, sind deutlich im Hinblick auf den Auftraggeber gestaltet. Gelegentlich scheint es sich bei dem Werk weniger um eine Chronik als vielmehr um welfische Hauspanegyrik zu handeln. Auch in ihrem Binnenverhältnis sind diese Beschreibungen häufig disparat, finden wir doch in den als "Pilgerbericht" bezeichneten Texten fiktionale oder gar dichterische Einschübe. Arnold von Lübeck teilt eine märchenhaft den Sieg des Guten über das Böse demonstrierende Begebenheit mit, während sich Johannes von Würzburg wohl aus gekränktem Nationalstolz zu einem wütenden politischen Gedicht hinreißen läßt. Versucht man dennoch, zu einer positiven Definition der als "Pilgerberichte" bezeichneten Texte zu gelangen, läßt sich als einziges eindeutiges, allen Berichten zuweis bares Merkmal konstatieren, daß ein mehr oder minder deutlich auftretender Ich-Erzähler über eine Reise ins Heilige Land berichtet. Alles weitere unterscheidet sich erheblich von einander. Folgt der eine Text dem Bestreben, eine Vorlage mit Infonnationen über biblische Ereignisse zu ergänzen, läßt ein anderer diese fast ganz außer Acht. Angaben über Jerusalem, ein Reiseziel, das wohl kein Heiliglandfahrer ausläßt, ob er nun in seinem Bericht ausführlich darüber schreibt oder nicht (oder auch umgekehrt: das er erwähnt, ob er dort auch gewesen ist oder nicht), sind in zeitlich nur gering auseinanderliegenden Pilgerberichten widersprüchlich und ennöglichen es kaum, die historischen Veränderungen der städtischen Topographie nachzuvollziehen. Entsprechend disparat sind die Texte überliefert - die einen stehen im Kontext von geographischen Schilderungen des Nahen Ostens, die anderen werden in chronikalische Sammlungen eingegliedert, und dritte wiederum sind so unterhaltsam, daß sie in direkte Nachbarschaft zu Abenteuerromanen vom Schlage des "Herzog Ernst" rücken.

3. Vergleichbarkeit verschiedener Gattungen

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Es ist in der Forschung bislang nicht so recht gelungen, eine Gattungsgeschichte des Pilgerberichts zu schreiben. Möglicherweise ist ein Grund dafür in der, der älteren Forschung zugrundeliegenden, fraglosen Akzeptanz der oben genannten Prämisse zu sehen: Der Ich-Erzähler ist eine reale Person, die tatsächlich ins Heilige Land aufgebrochen ist und die beschriebenen Stätten auch wirklich gesehen hat. Spätestens seit den Untersuchungen zu lohn of Mandeville und Marco Polo wird jedoch in zunehmendem Maße deutlich, daß sich die Autoren solcher Texte mindestens einige philologische Freiheiten genommen haben. So ist lohn de Mandeville bekanntermaßen auf seiner Reise wohl nicht weiter gekommen als bis zur örtlichen Bibliothek, ebenso wird der von Marco Polo I behauptete lange und politisch aktive Aufenthalt in China mittlerweile bezweifelt. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit mitnichten das Ziel verfolgt wird, die Berichte als gänzlich erfunden zu "entlarven", so macht sie sich dennoch die Erkenntnisse von Wood insofern zunutze, als sie sich von der oben genannten Prämisse zunächst verabschiedet. Die sogenannten Pilgerberichte sind Texte, die eine Reise ins Heilige Land beschreiben - ohne daß die darin geschilderten Begebenheiten exakt dem Erleben ihrer Autoren entsprechen müssen.

3. Vergleichbarkeit verschiedener Gattungen Auch wenn der Autor eines Pilgerberichts angibt, eigene Erfahrungen zum Gegenstand seines Textes zu machen, trifft er dennoch eine Auswahl aus den Begebenheiten, die er für berichtenswert hält, und läßt fort, was er nicht tradiert wissen will. Die Pilgerberichte stellen damit eine "Schnittmenge" von Realität und Fiktion dar, die vom später sich in der deutschen Sprache entwickelnden Ausdruck "eine Reise schreiben"2 widergespiegelt wird: Reisen und Schreiben sind hier sprachlich untrennbar verbunden und durchdringen sich - reisend schrieb man oder reiste schreibend, jedenfalls aber schrieb man die Reise so auf, wie sie sich am angenehmsten lesen würde. Diese Literarisierung der Reise ist auch schon in den hier behandelten frühen Zeugnissen anzutreffen. Der Autor eines mittelalterlichen Pilgerberichts stellt seine eigene Person in der gleichen Weise in den Handlungsablauf, wie der Dichter eines Epos den fiktionalen Pilger. Indem der Reisebericht-Autor seinen eigenen Text aus anderen, fremden Reisebeschreibungen kompiliert, tut er nichts anderes als der Dichter eines epischen Gedichts, der seinen Pilger als peregrinus ex machina die verknoteten Handlungsstränge eines Plots lösen läßt - von außen gewonnene, fast schon als kanonisch geltende Ingredienzen werden zur Gestaltung des Textes verwandt. Daß in einer autobiographischen Schilderung die Person des Erzählers umgestaltet und stilisiert wird, kann unter anderem darin begründet sein, daß es sich bei vielen Pilgerberichten um Dedikationstexte handelt, die an die Vorgesetzten oder an eine Gemeinschaft von dem Autor bekannten Personen adressiert sind. I

2

Frances Wood, Did Marco Polo Go To China? London, 1995. Johann Gott/ried Seume, Mein Leben. Hrsg. von Jörg Drews. Stuttgart 1991.

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III. Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen

Auch in ihrer Intention sind die vorgeblichen Tatsachenberichte mit der fiktionalen Literatur vergleichbar. Mögen Pilgerberichte auch vorgeben, alles, nur nicht unterhaltend sein zu wollen, und es als ihre Absicht bezeichnen, die Daheimgebliebenen zur geistlichen Pilgerfahrt anzuleiten, so belegen die Texte durch ihre sprachliche oder erzählerische Gestaltung, daß das didaktische Anliegen durchaus unterhaltend verwirklicht werden kann. Umgekehrt ist es mittlerweile zur communis opinio geworden, daß kein Text der fiktionalen Literatur ausschließlich zur Unterhaltung seines Publikums geschrieben wurde. Der didaktische Ansatz wird beispielsweise in der Figur des literarischen Pilgers deutlich, der auf Grund seiner Reisen einen erheblichen Zuwachs an Lebenserfahrung und Weisheit, aber auch an konkretem Wissen über aktuelle Ereignisse gewonnen hat. Die ausführlichen Schilderungen der langen, beschwerlichen, aber auch faszinierenden Fahrten, die Erkenntnis, daß weite Reisen einen Wissenszuwachs verursachen, sind hingegen eindeutig Erfahrungswerte. Die These der vorliegenden Arbeit, dass sich ein Phänomen über Gattungsgrenzen hinweg betrachten lässt, ist bereits andernorts vertreten worden. So ist dies bei der Erforschung von Fragen der Mündlichkeit oder Schriftlichkeit von Texten 3 , der Individualität und Subjektivität im Mittelalter4 und insbesondere der Frage der Fiktionalität von Texten - hierbei sind jüngst in der Germanistik der höfische RomanS bzw. der Artusroman 6 betrachtet worden - der Fall gewesen. Diese Überlegungen führten dazu, daß die Literaturgeschichte, die lange Zeit als ein sich stetig entwikkeinder, diachroner "Progreß" galt, zunehmend als eine "synchrone Gattungsgeschichte der Codes"? verstanden wurde. Gleichzeitig wurde jeder Text als "offener, dynamischer Raum einer Pluralität von Stimmen"g begriffen. Betrachtet man die Konstitution mittelalterlicher dichterischer Texte, ist diese Idee einleuchtend. So hat Ulrich Müller in seinen Studien zu Walthers von der Vogelweide Reichston 9 nachweisen können, daß dieser als polyfunktional einsetzbare Propagandadichtung für die verschiedensten Interessenträger genutzt und vom Dichter selbst so geschrieben worden ist. Vgl. Paul Zumthor, La lettre et la voix. 1987. Peter Dronke, Poetic Individuality in the Middle Ages. Oxford 1970. 5 Vgl. Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200. (Philologische Studien und Quellen 129). Berlin 1994. 6 Vgl. Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. (Beiheft 12 der GRM). Heidelberg 1994. 7 Friedrich Woljzettel, Zum Stand und Problem der Intertextualitätsforschung im Mittelalter (aus romanistischer Sicht). In: Ders.: (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. (Beiträge der Deutschen Sektionstagung der Internationalen Artusgesellschaft vom 16. bis 19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.). Giessen 1990. S.2. 8 Ders., S.4. 9 Vlrich Müller, Der Reichston Walthers von der Vogelweide. In: Ulrich Müller, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974. 3

4

4. Vergleichbarkeit deutscher mit lateinischen Quellen

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4. Vergleichbarkeit deutscher mit lateinischen Quellen Die in der vorliegenden Arbeit behandelten Texte sind in unterschiedlichen Sprachen abgefaßt worden - die als Pilgerberichte überlieferten auf Latein, die fiktionalen Texte auf Deutsch. Diese Tatsache wird in der Forschung gerne für ihre nicht gegebene Vergleichbarkeit angeführt, da in der unterschiedlichen sprachlichen Fassung doch noch einmal die ohnehin schon gegebene Gattungsgrenze zementiert werde. Die zahlreichen, für ein höfisches Laienpublikum geschriebenen lateinischen Dichtungen belegen jedoch, daß im Hochmittelalter lateinische und hochdeutsche Texte gleichennaßen rezipiert wurden. Ein Beispiel hierfür ist der Hof zu Braunschweig im zwölften Jahrhundert. Im Umkreis Heinrichs des Löwen entstanden mehrere Werke in beiden Sprachen, oder es wurden Übersetzungen gefertigt. So schreibt der Pfaffe Konrad im Epilog des Rolandsliedes, er habe das in Frankreich geschriebene Buch mit dem Auftrag lO erhalten, dieses in die deutsche Sprache zu übertragen. Er habe bei der Arbeit zunächst den Umweg über die lateinische Sprache gewählt: also an dem buoche gescribin stat injranczischer zungen, so Mn ich iz in die latfne bedwungin, danne in die tutiske gekeret 11 •

Dieser Einblick in seine Vorgehensweise, den der Pfaffe Konrad gewährt, bleibt auf der sprachlich-technischen Umsetzungsebene. Doch muß eine Sprachgrenze noch lange nicht bedeuten, daß ein Autor auf der Suche nach einem interessanten Stoff oder einer Figur vor deren sprachlicher Gestaltung Halt machen muß. So wird in dieser Arbeit auf Wilbrands von Oldenburg Reisebeschreibung eingegangen, in der sich ein Held Ospinel findet, der auch aus der Karl Meinet Kompilation bekannt ist, welche wiederum, so die These Karl Bartschs, auf jüngere französische Rolandslieder zurückgegriffen haben könnte 12 • Das bedeutet, dass in einem Pilgerbericht in lateinischer Sprache eine Figur aus altfranzösischen Chroniken auftritt, die zur selben Zeit als Held in einem mittelhochdeutschen Epos dargestellt wird. 10 Daß Heinrich der Löwe der als "Herzog Heinrich" genannte Auftraggeber war, der auf Bitten seiner Gemahlin, der Tochter eines mächtigen Fürsten (also Mathilde von England) Konrad diese Arbeit auftrug, ist seit der von Dieter Kartschoke als Dissertation 1965 vorgelegten Interpretation unbestritten. Dieter Kartschoke, Die Datierung des deutschen Rolandsliedes (Germanistische Abhandlungen 9), 1965 schließt sein Werk auf S. 167 mit den Worten ,,[ ... ] der ursprüngliche Epilog wurde im engen Anschluß an die Arbeit an der Dichtung unter dem Eindruck der Pilgerfahrt des Herzogs ,erweitert' - Fertigstellung des ,Rolandsliedes' um 1172." 11 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hg. von earl Wesle. 2. Auflage besorgt von Peter Wapnewski. Tübingen 1967. vv.9080ff. 12 Karl Bartsch, Zum Karlmeinet. In: Germania 6 (1861), S. 28-43.

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III. Methodischer Ansatz und theoretische Grundlagen

Entsprechend werden in der vorliegenden Arbeit den sieben lateinischen Quellen, die von der Forschung als Pilgerberichte bezeichnet werden, neunzehn mittelhochdeutsche erzählende Texte gegenübergestellt, die die Figur des Pilgers verwenden.

s.

Vorgehensweise der Untersuchung

Im Interesse einer möglichst dem jeweiligen Text angemessenen Betrachtungsweise wurde jede Quelle einem dose reading unterzogen, um ihren jeweiligen Aussagewert sowie ihre Position im literarischen Leben der Zeit so weit wie möglich zu ermitteln. Bei der Analyse der Pilgerberichte wurde auf bestimmte Merkmale geachtet, was teilweise der Vorgehensweise zur Auswertung von Pilgerberichten des Sonderforschungsbereichs 226 der Universität Würzburg: "Deutsche Pilgerberichte im späten Mittelalter"!3 entspricht. So wurden zunächst die äußeren Bedingtheiten des Autors geklärt, die ihn in einen regionalen, familiären, sozialen und intellektuellen Zusammenhang einordnen. Eigene Angaben des Autors zu seiner Person, beispielsweise in Widmungsschreiben an eventuelle Auftraggeber, Hinweise auf die Abfassungszeit des Berichtes, etwa genannte Mitreisende und zeitgebundene Merkmale der besuchten Orte haben geholfen, diese zu definieren. Ebenfalls von Interesse war der in Zeit und Ort erfahrbare Raum, der in den Berichten vorgestellt wird. Angaben zur Wegstrecke oder zur Reisezeit, Nennungen von Pilgerstationen mit ihren Ablässen, die zu erledigenden Formalitäten und sonstige Besonderheiten der Orte wurden auf ihre Aussagefähigkeit hin geprüft. Neben der vom Autor angegebenen Intentionalität des Berichts wurden sowohl die textintemen als auch die textexternen Merkmale kritisch betrachtet. Rhetorische Mittel, z. B. die Anrede der Rezipienten oder die Einbeziehung von deren Erfahrung, wie eindeutig als fiktional oder als kopiert erkennbare Einschübe wurden thematisiert. Besonderes Augenmerk wurde auf die Indizien gelegt, die auf Veränderungen und Entwicklungen hinsichtlich solcher Faktoren wie Selbstverständnis des Ich-Erzählers oder des literarischen Pilgers, Erleben der Pilgerfahrt und der Ziele im Heiligen Land, Umgang mit anderen Kulturen hindeuten. Die Stellung der jeweiligen Protagonisten innerhalb des Handlungsgefüges ihrer Texte wurde dabei genau untersucht. Fremdheitsgefühl, Begegnungen mit Fremden, das Erleben fremder Sprachen und Kulturen, Zitate oder Anspielungen oder das Bewußtsein der Situation des Schreibenden als Autor wurden im Falle der Pilgerberichte herangezogen. Die literarischen Pilger wurden unter Zugrundelegung ähnlicher Kriterien betrachtet. Die erzählerische Funktion des Pilgers, der Raum, der ihm im Erzählgeschehen gewährt wird, seine Position in der Erzählung (HeldlNebenheldlRandfi13 V gl. S. 161 der Teilprojektbeschreibung des Finanzierungsantrages 1990-92 für den Sonderforschungsbereich 226 der Universitäten Würzburg und Eichstätt: "Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter".

5. Vorgehensweise der Untersuchung

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gur), seine äußeren Merkmale (stereotyp Stab, Tasche, Kutte, bzw. differenzierte Darstellung) und seine individuellen Züge (besondere Kenntnisse oder emotionale Regungen) sind dabei alle in gleichem Maße von Bedeutung. Der Raum, den die Schilderung der Pilgerfahrt selbst einnimmt, wird natürlich von dem sonstigen epischen Geschehen abgegrenzt. Diese Methode bot unter anderem die Möglichkeit, auch Zwischenformen oder Gattungsgrenzen überschreitende Texte zu erfassen, die einen erheblichen Beitrag zur Gewinnung eines konturierten Bildes vom Pilger im Mittelalter leisten. So ist die Darstellung einer Pilgerfahrt durch einen anderen Autor als den Pilger selbst, wie dies in der Beschreibung von Heinrichs des Löwen Pilgerfahrt durch Arnold von Lübeck geschieht, als Übergangs form zwischen den beiden genannten Genres zu sehen.

IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters 1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae a) Der Verfasser Nur aus dem Reisebericht des Würzburger Priesters Johannes selbst können wir einige spärliche Erkenntnisse über dessen Autor gewinnen, darin ist Alfred Wendehorst l durchaus zuzustimmen. Von größtem Interesse ist dabei die Zeit, in der Johannes im Heiligen Land war: Um 1165, so schließt sich R. B. C. Huygens, Herausgeber von Johannes' Bericht2 der Datierung von Graboi"s3 an und präzisiert damit diejenige von Tobler 4 und Manitius 5 auf "um 1160 oder 1170": in diesem Zeitraum hat er eine Fahrt ins Heilige Land unternommen. Die Belege für eine solche zeitliche Bestimmung liefert der Text. Eine erste grobe Einordnung bietet Johannes' Auskunft über eine silberne Inschrift in der Grabeskirche 6 - da der byzantinische Kaiser Manuell. Komnenos während seiner Regierungszeit von 1140 bis 1180 alle Inschriften in der Grabeskirche hat vergolden lassen, muß der Bericht Johannes' vor diese Renovierungsarbeiten fallen. Die Eroberung Jerusalems durch Saladin im Jahre 1187 und die nachfolgende Umwandlung vieler Kirchen und christlicher Heiligtümer in islamische bzw. deren Rückführung zu ihrer ursprünglichen Nutzung (wie im Falle des Felsendomes) dient hier als terminus ante quem. Genauere Datierungsmöglichkeiten bieten die von Johannes tradierten Anschuldigungen gegen den Templerorden, er habe - vom Gegner dazu bestochen - König 1 VL 2IV 822-824. 2 R . B. C. Huygens (Hg.), Peregrinationes Tres. Saewulf, John of Würzburg, Theodericus. (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis 139). Turnhout 1994. S. 27 f. und vor allem S. 28, Anm.22. Falls nicht anders angemerkt, beziehen sich alle Zitate aus der Descriptio Terrae Sanctae des Johannes auf diese Ausgabe. 3 Aryeh Graboi"s: Le pelerin occidental en Terre Sainte a I'epoque des croises et ses realites: la relation de pelerinage de Jean de Wurtzbourg. In: Melanges E. R. Labande, Poitiers 1974. S.367-376. S. 369, siehe insbesondere Anm. 13. 4 Titus Tobler, Descriptiones Terrae sanctae, Leipzig 1874. Vorläufer der Noten zu Johannes Wirziburgensis. S. 417. 5 Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Band 3. München 1931. S.620. 6 S. 122, Z. 1084.

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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Konrad III. davon überzeugt, Damaskus verloren zu geben 7. Der Bericht muß daher nach 1148 entstanden sein, und darüber hinaus nach 1149, denn er gibt die Liturgie des Einweihungsgottesdienstes der soeben umgebauten Grabeskirche vom 15. Juli (ohne das Jahr 1149 zu nennen) wieder 8 • Die Beschreibung der Grabeskirche, die Notierung der oben genannten Liturgie und das genaue Wissen über die Bedeutung des 15. Juli für Jerusalem (Eroberung 1099) deuten daraufhin, daß der Verfasser an diesem Tag in der Heiligen Stadt zugegen war. Auch die Tatsache, daß er genau berichten kann, dass anlässlich des drei Tage später liegenden Geburtstages Gottfrieds von Bouillon Almosen gegeben wurden, legt dies nahe. Johannes war außerdem an einem 25. Juli (Fest des Jacobus Maior) in Jerusalem, wie er selbst schreibt, denn dieses Fest hat er feierlich in der St. Annenkirche begangen 9 • Am 1. August (Vincula St. Petri) nahm er in der Kapelle zum Gedenken an Petri Gefangenschaft an einer Messe teil (oder feierte sie selbst; die Handschriften sind hier nicht eindeutig). Er ergänzt seine Beschreibung der Verklärung Christi auf dem Berg Thabor durch die Auskunft, dieses Ereignis werde in der syrischen Kirche am Tag des heiligen Sixtus (6. August) gefeiert. Die Liturgie dieses Kirchenfestes fügt er im Anhang bei, und so kann vermutet werden, daß er an diesem Tag in Palästina war. Seine Bemerkung, daß die Grenzen des Heiligen Landes im Süden hinter dem Nil und im Norden hinter Damaskus hätten liegen können, wenn nach der Eroberung der Terra Saneta mehr Deutsche dort geblieben wären lO , wird von Graboi's auf die Versuche Amalrichs I. bezogen, zwischen 1163 und 1164 in Ägypten Fuß zu fassen, sei es im Kampf gegen Nur ad-Din selbst, sei es gemeinsam mit dem fatimidischen Wezir Schawar gegen den von Nur ad-Din mit der Verteidigung des Landes beauftragten General Schirkuh 11 • Weitere Eingrenzungsmöglichkeiten des Besuchsjahres bieten die in der Beschreibung vorgestellten Bauten, vor allem derjenigen in Jerusalem. Die von Johannes erwähnte, 1152 von den Kreuzfahrern errichtete Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg l2 liefert einen ersten Hinweis. Die Erwähnung der Burg Montroyal, die Balduin I. zur Verteidigung des Reiches David ausgebaut habe 13, deutet nach Graboi's 7 Johannes S . 135, Z.1378-1381 : .. r.. .] sed hii nescio quo infortunio sive exfalsosive ex vero quoad famae relationem aspersi sunt perjidiae dolo, quod tamen manifeste probatum est per factum illud apud Damscum cum rege Cunrado ... Vgl. hierzu Steven S. Runciman, A History of the Crusades. 3 Bde. Cambridge 1954. Bd. 2, S. 283 f. sowie Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart!Berlin/Köln 71989, S.96f. 8 Appendix liturgica: Idus Iulii dedicatio aecc1esia Sancti Sepu1cri. S. 139. 9 S . 136 Z.1402f. 10 Johannes S . 126, Z. 1164-1167. 11 Graboi's, Le pelerin occidental, loc. cit., S. 374 f. V gl. auch Mayer, Geschichte der Kreuzzüge. S. 100ff. Runciman, A History of the Crusades. Bd.2, S. 367ff. 12 S. 126, Z. 1171: ubi hodie extat magna aecc/esia. Merkwürdig ist allerdings, daß dieser kleine Bau als große Kirche bezeichnet wird. 13 Johannes S. 102, Z.563-566: in Arabia Mons ille Regalis quem domnus Baldwinus primus rex Francorum in lherusalem ad terram il/am Christicolis subiugavit et ad tuendum regnum Davidjirmum reddidit.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

darauf hin, daß Saladin noch nicht "den Thron bestiegen hatte" 14, denn fortan sei es mit der Ruhe in dieser Gegend vorbei gewesen. Allerdings scheint Graboi's außer Acht gelassen zu haben, daß diese Beobachtung aus der Heilig-Land-Beschreibung des Rorgo Fretellus (ca. 1143-1151 verfaßt) entlehnt ist l5 • Ähnlich verhält es sich mit einem anderen Indiz: Johannes erwähnt in seiner Beschreibung der Geburtskirche in Bethlehem nicht 16 deren von 1165 bis 1169 vorgenommene Renovierung durch byzantinische Künstler l7 • Da er auch hier seiner Vorlage Fretellus 18 folgt, der diese Kirche nur geringfügig ausführlicher behandelt, kann dieses Nicht-Erwähnen nicht zur Datierung des Berichts herangezogen werden. Zuletzt wird gemeinhin die im Libellus de Locis Sanctis beschriebene HeiligLand-Reise des Theoderich herangezogen, die im Anschluß behandelt wird. Theodericus, der wohl in der Zeit zwischen Oktober 1164 und vor Juli 1174 im Heiligen Lande unterwegs war, beschreibt oft dieselben Gebäude wie Johannes, und vermerkt in den meisten Fällen einen ähnlichen baulichen Zustand. So schreibt Theoderich wie auch Johannes, daß die im Haram entstehende Kirche für den Templerorden noch nicht fertiggestellt war l9 . Von der Kirche am Jakobsbrunnen in Samaria berichtet Johannes, sie sei noch im Bau befindlich 20, während Theoderich den Bau als abgeschlossen bezeichneei. Dieser Beleg ist insofern problematisch als Huygens diese Passage als ein Fretellus-Zitat nachgewiesen hat. Damit ist es zumindest denkbar, daß Johannes diese Kirche gar nicht selbst gesehen hat 22 • Die Tatsache, daß zwei Inschriften von Johannes als silbern beschrieben werden 23 , die bei Theoderich vergoldet sind 24 , hat Huygens dahingehend gedeutet, daß sie nachträglich vergoldet wurden 25 • 14 Graboi's, Le pelerin occidental, loc.cit., S. 369, Anm.13: "avant I'avenement". Gemeint ist wohl der Aufstieg des Wezirs von Ägypten zu größerer Macht nach dem Tode Nur ad-Dins am 15. Mai 1174 und seine Annahme des Titels "Sultan von Ägypten und Syrien". 15 Petrus Cornelis Boeren, Rorgo Fretellus et sa description de la Terre Sainte. Histoire et edition du texte (= VerhandeIingen der koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde. Nieuwe Reeks, Deel 105). Amsterdam/Oxford/New York 1980. c.24, Z.3-6. 16 S. 86, Z.183ff. Johannes berichtet nur, daß Hieronymus, Paula und Eustochium in ihr begraben seien. 17 Vgl. Albert Storme, Les Pelerins celebres de Terre Sainte. Franciscan Printing Press Jerusalem s. a. [1984]. S. 54: ,,[ ...] et avant les travaux de reparation et de decoration realises dans la basilique de Bethleem en 1165-1169." und Graboi's loc. cit., S. 369, Anm. 13. 18 loc. eit. eap,47, Z. 9-11. 19 Johannes: nondum tarnen consummatae (S.135, Z.1371), Theoderich: novam condunt ecclesiam (S. 165, Z. 706-707). 20 Johannes S. 84, Z.134: ubi nunc aecclesia constituitur. 21 Theodericus S.187, Z.1360: in ecclesia super eum exstructa situs. 22 Huygens, loc. cit., S. 28. Fretellus loc. eit., e,43, Z. 13-14. 23 Johannes S.121, Z.1058 und S.122, Z.1084. 24 Theoderich S.148, Z. 182 und S.149, Z.191. 25 Huygens, loc. eit., S. 28. Allerdings sei vor Johannes' laxem Umgang mit den Begriffen Gold und Silber gewarnt, siehe seine Behauptung, Judas habe Christus für dreißig aureos verraten.

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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Angesichts dieser zeitlichen Eingrenzungen kann Johannes' Reise mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Zeit um 1165 datiert werden. In jedem Fall verfaßte Johannes bald nach seiner Rückkehr den uns überlieferten Bericht, den er seinem socius et domesticus Dietricus widmet. Es gibt mehrere Beteuerungen inniger Freundschaft. Anhaltspunkte für ein anderes Verhältnis als das unter gleichgestellten Hausgenossen lassen sich von dem Text allerdings nicht gewinnen 26 • Die Intention ist zweierlei Art: Dietrich soll- falls er einmal ins Heilige Land kommt - alle Stätten sofort erkennen können; ist ihm eine solche Reise nicht möglich, so soll er durch die Lektüre zu einer größeren Andacht gelangen. Johannes teilt fast nichts über sich selbst mit. So gut wie alles muß aus seinem Text erschlossen werden. Er leitet seinen Widmungsbrief ein mit der Aussage, dank der Gnade Gottes habe er seine Stellung in der Würzburger Kirche inne. Er muß die Priesterweihe erhalten haben, denn später wird er wiedergegeben mit den Worten, er habe in Jerusalem eine Messe gefeiert. Seine Sprachkenntnisse werden sich auf Latein beschränkt haben. Auf keinen Fall konnte er Arabisch, denn eine arabische Inschrift über dem Paradiesestor des Tempeldoms nennt er lediglich, ohne sie übersetzen 27. Auch Hebräisch oder Griechisch scheint er nicht beherrscht zu haben, da er Fretellus' falsche Auskünfte wiederholt: Hebron (im Arabischen schon seit langem Al-Khalil) hieße, so behauptet er, sarracenice (eigentlich hebräisch) Kariatharbe, um die Stadt der vier Patriarchen zu bezeichnen 28 • Auch wenn es zu weit führt, Johannes mit Graboi"s der mangelnden Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber den Verhältnissen seiner Zeit zu bezichtigen 29 , ist es doch auffällig, daß er seine Quelle an solchen Stellen nicht korrigiert, was die Vermutung nahelegt, daß er es einfach nicht vermochte. Ob Johannes wirklich alle Orte, die er in der Beschreibung nennt, selbst gesehen hat, ist fraglich. An einigen Stellen bemerkt er, das gerade Berichtete sei ihm selbst aufgefallen oder dort von jemandem erzählt worden. Es gibt keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Gemeint sind das Geburtszimmer Mariae in Nazareth 30, die Maria-Magdalenen-Kirche in Jerusalem 31 , die Grabeskirche 32 , das Hospital der Johan26 Ferdinand Khull, Zweier deutscher Ordensleute Pilgerfahrten nach Jerusalem. SeparatAbdruck der Gabe des katholischen Press-Vereines in der Diözese Seckau für das Jahr 1895. Graz, 1895. Anhang: Johannes v. Würzburg wählt S. 107 den Begriff "Folgemann" für domesticus, der jedoch ein Abhängigkeitsverhältnis impliziert, das so wohl nicht geltend gemacht werden kann. Grabois, Le pe1erin occidental, nennt Dietrich gar einen "servant et compagnon" des Johannes, S. 369. Zur Diskussion um die Person des Adressaten siehe Kapitel III. A. 2.; dort auch zum zeitlichen Verhältnis der Berichte von Johannes und Theodericus. 27 S. 92, Z. 345 f. in cuius superliminari plures litterae Sarrachenicae sunt appositae. 28 S. 99, Z. 501 ff. Tobler: S. 176f. Theodericus zieht sich aus der Affäre, indem er einfach feststellt, "früher" habe man den Ort so genannt: S. 180, Z.1163. 29 Grabois, Le pelerin occidental, loc. cit, S. 371. "C 'est un exemple, non pas seulement d'ignorance, mais aussi d'absence de tout contact avec la population du pays [... ]". 30 S.81 , Z. 61. 31 S. 110, Z. 797. 32 S. 117, Z. 953f.

3 v. Samson-Himmelstjema

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

niter in Jerusalem 33 und die St. Annenkirche außerhalb der alten Stadtmauer der Heiligen Stadt 34 . Damit können Nazareth und Jerusalem als einigermaßen gesicherte Stationen seiner Reise gelten. Auffällige geographische Fehler legen die Vermutung nahe, daß Johannes in Galiläa nicht sehr lange unterwegs war. Seiner Meinung nach fließt der Jor (und nicht der Jordan) in den See Genezareth 35 . Er meint der Zusammenfluß dieses Flusses mit dem Dan liege am Berg Gilboe 36 und Kana liege östlich von Nazareth 37 . Ein wohl vorrangig historisches Interesse führt dazu, daß kleinere, in der Bibel bedeutsame Orte wie Kapernaum berücksichtigt werden, Akkon hingegen nur kurz erwähnt wird 38 . b) Die Quellen des Johannes von Würzburg Johannes folgt einer Vorlage, die er in seiner Einleitung auch erwähnt: ein vir reverendus habe schon lange vor ihm das Heilige Land beschrieben. Tobler stellte hierzu fest: "Unter dem nachher erwähnten viro reverendo scheint Arculf oder Beda Venerabilis verstanden zu sein"39. Rose fand hingegen: "gemeint ist der gleich selbst [in der Handschrift mit überlieferte] folgende Adamnanus"40. Aus diesem Durcheinander hat Huygens mit seiner Ausgabe einen Weg gebahnt. Man kann ihm nur zustimmen, daß es sich hier "ohne Zweifel" um den oben bereits genannten Fretellus41 handeln muß. Im Verhältnis zu seiner Quelle verfährt Johannes auf sehr eigene Weise. Er richtet sich mitnichten in seiner Gliederung nach ihr, sondern setzt Teile des Textes von Fretellus dort ein, wo sie ihm sinnvoll erscheinen. Hierbei stellt er sogar die Reihenfolge einzelner Sätze um, wenn ihm dies angemessen erscheint. So bringt er in die Beschreibung der Ereignisse im Leben Jesu, die sich im Tempel abspielen, in eine zeitliche Reihenfolge, indem er die Vertreibung der Händler aus dem Tempel nach dem Gespräch des Zwölfjährigen mit den jüdischen Gelehrten stattfinden läßt 42 . Allerdings vermißt man diese Genauigkeit geradezu, wenn Johannes seine teilweise höchst unpräzise Quelle Fretellus mit einer gewissen Kritiklosigkeit überS.131, Z. 1285. S.136, Z.1402f. 35 S.105, Z.629-647. 36 S.I04, Z.624. 37 S. 81, Z. 62. 38 S. 80, Z. 55: Sephor;s civ;tas, via que duc;t Achon. Vgl. Aryeh Grabols, Les pelerins occidentaux en Terre Sainte et Acre: d' Accon des croises aSaint-Jean d' Acre. In: Studi medievali 24 (1983), S.247-264. Hier S. 250. 39 Tobler, loc. cit., S.426. 40 loc. eit., S. 1012. Von Adamnanus stammt allerdings nur die Einleitung zu Arculfs Text. 41 Huygens, S. 19 und S. 79, Apparat I zu Z.29. 42 S. 89, Z. 265 ff. 33

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1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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nimmt. Die Bemerkung Huygens', der mittelalterliche Mensch habe die Bibel gut gekannt 43 wird immer wieder durch Fretellus (und auch durch Johannes) widerlegt: zahlreiche Erwähnungen biblischer Ereignisse, Personen oder Zusammenhänge sind im Detail ungenau. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, daß die Bibel im Vergleich zur Tradition, zu Kommentaren und zur erbaulichen Literatur wohl einen weniger großen Stellenwert hatte 44 , als dies für Protestanten des 20. Jahrhunderts denkbar sein mag. Einige Texte werden von Johannes' Quelle Fretellus zitiert, die ungenannt bleiben und von Huygens ermittelt wurden. Diese Gewährsleute oder -texte sind: Wilhelm von Tyrus 45 , Isidors Etymologie 46 , die Schriften des Hieronymus 47 (De situ et nominibus locorum Hebraicorum 48 , Liber interpretationis hebraicorum nominum, Commentarius in prophetam Jonam 49 , Commentariorum in Hiezechie1em libri XIV 50, Commentariorum in Matthaeum libri IV 51 ). Auch die klassische Literatur ist Fretellus bekannt und scheint Johannes erwähnenswert; so verweist er darauf, daß Königin Dido in Sidon geboren wurde 52. In den Fällen, in denen Johannes ohne Fretellus auf eine Vorlage zurückgreift, bemerkt man seinen sorgfältigen Umgang mit ihr: Immer wieder zitiert er die Hieronymus zugeschriebene mariologische Abhandlung Cogitis me 53 , die er auch als Quelle angibt. Nennt er den Autor nicht, so finden wir - etwa im Falle des Augustinus - die Angabe quaedam expositio innuit 54 bzw. doctores nostri 55 • Huygens, loc. eit., S. 24. Vgl. David Norton, A History of the Bible as Literature: From Antiquity to 1700. Cambridge 1993. Vgl. auch F. W. Oediger, Um die Klerusbildung im Spätmittelalter. HJb 50 (1930), S.145-188. 45 V gl. die Ausführungen zu 1Yrus Z. 573 f. und zu Medan Z. 636-640; in bezug auf die Verratsvorwürfe gegenüber den Templern s.Z.1380f. 46 Zum Wind am See Genezareth, S. 106, Z. 673. 47 S. Hieronymi presbyteri opera. (= Corpus Christianorum Series latina). Turnholt 1959. Bd. 72, T. I, 1. S.57-161. 48 PI 23, Sp.903-976. 49 S. Hieronymi presbyteri opera. (= Corpus Christianorum Series latina). Turnholt 1969. Bd.76, T.I, 6. S.377-419. 50 S. Hieronymi presbyteri opera. (= Corpus Christianorum Series latina). Turnholt 1964. Bd. 75, T. 1,4. 51 S. Hieronymi presbyteri opera. (= Corpus Christianorum Series latina). Turnholt 1969. Bd.77 T. 1,7. 52 S. 102, Z. 583. 53 Ripberger (Hg.): Der Pseudo-Hieronymus-BriefIX "Cogitis me". Freiburg 1962. S.5963. Johannes nennt den Brief S. 86, Z. 185 f. und S. 128, Z. 1216 und zitiert ihn wenig später wortwörtlich (Z. 1229-1232). 54 Augustinus, Tractatus in Iohannem 55, 3, CC 36, S. 465, 8-13. Johannes von Würzburg: S. 114, Z. 848. 55 Damit ist unter anderem Gregor der Große gemeint, Homiliae XL in evangelia, PL 76 Sp.1075-1314. Nr.33. 43

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

c) Die Beschreibung des Heiligen Landes Johannes beginnt seinen Text mit einem Widmungsschreiben an Dietrich, seinen "Gefahrten und Hausgenossen". Eine solche Widmung ist in anderen Pilgerberichten nicht zu finden. Seinem Freund wünscht er Gesundheit und die contemplatio Jerusalems, einer Stadt, so zitiert er den Psalm 121, in der man zusammenkommen soll. Diese Bemerkung verrät eines der Anliegen, die Johannes verfolgt: Dietrich solle, falls er selbst einmal diese Reise unternähme, gleich ohne Mühe die Heiligen Orte erkennen können, oder aber - falls ihm dieser Besuch nicht vergönnt sei - mit der Lektüre der Beschreibung eine größere Andacht erreichen können 56. Eine doppelte Zweckbestimmung wie diese hat selbstverständlich die historische Forschung zu Interpretationen herausgefordert. Diese Idee, so Michel Zink 57 , entspricht der Definition von Meditation und auch der Kontemplation, die man in den erbaulichen Schriften der Zeit finde: die Phantasie mit Hilfe solcher Schriften anzuregen, um sich einen Augenblick im Leben Christi vergegenwärtigen zu können. Jean Richard bemerkt dazu, daß auch die im liturgischen Anhang des Textes notierten Gebete im Kontext dieser meditativen Versenkung zu sehen sind 58 • Diese erwähnt Christiane Deluz nicht, sondern geht vielmehr auf die Inschriften ein, die Johannes so zahlreich niederschreibt: diese seien Zeugen für die Rolle der Kleriker, in den Gläubigen im Heiligen Land die rechte Frömmigkeit hervorzurufen 59. Inwieweit hierin mit Graboi's eine grundsätzliche Entscheidung des Autors gesehen werden kann, sich allem Profanen zu enthalten 60 , scheint angesichts der detaillierten Angaben über die alltäglichen Bedürfnisse des Johanniterhospitals und der ausgesprochen politischen Äußerungen eher fraglich, wenn auch - nach dieser Vorrede - die Intention des Autors sicherlich in diese Richtung gegangen sein wird. Ludwig Schmugge hingegen scheint weder die Vorrede, die im Anhang aufgeführten liturgien und Gebete noch die Inschriften bemerkt zu haben - unter der Rubrik "Die Pilgerführer" nennt er Johannes' Beschreibung ein "Handbuch der Heiligen Stätten Palästinas [... ] unter Verwendung einschlägiger Bibel- und Väterzitate [... ]"61. S. 79, Z. 26f.: ampliorem quoad sanctificationem ipsorum devotionem habebis. Michel Zink, Pourquoi raconter son voyage? Debuts et prologues d'une chronique de la Croisade et de deux itineraires de Terre Saint. In: Voyage, quete, pelerinage dans la litterature et la civilisation medievales. Aix-en-Provence 1976. S.237-254. Hier S. 247. Seine These, solche Widmungsschreiben seien einzigartig, ist nicht haltbar; schon Rorgo Fretellus widmete seine Schrift dem Grafen Raimund von Toulouse bzw. Heinrich Sdyck, Bischof von 01mütz. 58 Jean Richard, Les recits de voyages et de pelerinages (= Typologie des sources du Moyen Age occidentaI38). Turnhout 1981. S.69. 59 Christiane Deluz, Prier a Jerusalem. Permanence et evolution d'apres quelques recits de peIerins occidentaux du Ve au XVe siecIes. In: La Priere au Moyen Age (litterature et civilisation). Aix-en-Provence 1981. S.187-21O. Hier S.194. 60 Aryeh Graboi's, Le concept du ,contemptus mundi' dans les pratiques des pelerins occidentaux en Terre Sainte a I'epoque des croisades. In: Medieaevalia Christiana, Hommage a R. Foreville. Hg. von C. E. Viola. Tournais 1989. S. 290-305. Hier S. 295. 56 57

I. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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Johannes betont im folgenden seinen Willen, nach Kräften jeden Wunsch des Freundes zu erfüllen 62, denn diesem sei er auf Grund seiner hohen Moral, seiner Gottesfurcht und der häuslichen Gemeinschaft, die sie pflegten, auf das Herzlichste zugetan 63. Zu seiner Verfahrens weise bemerkt er: Auch wenn die Orte schon an anderer Stelle beschrieben worden seien 64 , so wolle er doch, nachdem lange Zeit vergangen, Jerusalem schon oft von Feinden erobert und zerstört worden sei und sich darum sehr verändert habe 65 , eine Beschreibung wagen. So klar und sorgfältig wie möglich habe er sich bemüht, die Tatsachen und Inschriften, seien sie in Versen oder nichtgebundener Sprache verfaßt, niederzuschreiben 66 • Auslassen wolle er jedoch die weit entfernten Stätten, da diese ausreichend von anderen beschrieben worden seien 67 • Johannes beschreibt als erstes Nazareth, die Stadt, die auf Grund der Verkündung von der Menschwerdung des Herrn gefeiert wird und die, da sie der Anfang unserer Erlösung sei 68 , deswegen auch am Anfang seines Berichts stehe. Dies ist eine erste Andeutung von Johannes' Vorgehensweise, auf die er später noch zu sprechen kommt. Auf die Stadt der Geburt des Herrn 69 folgt die Geburtsstadt Marias, Sepphoris, dann Kana, der Berg Thabor, der Berg Hermon, Nain, En-Dor, das Tal Megiddo, das Gebirge Gilboa, Bet Schean, Dotan zwischen Genon und Sebastia. Mit diesen Orten ist die erste Beschreibung der Städte Galiläas abgeschlossen, und nach einem kurzen Exkurs über den Verbleib des Kopfes Johannes' des Täufers (in Poitou) und seines Zeigefingers (in St. Jean de Maurienne) wendet sich der Text, angeregt durch Samaria als zeitweiliger Begräbnisstätte des Täufers, dieser Region zu. Samarien wird nach Osten durch Dan und Bethel abgegrenzt. Es werden die Orte beschrieben, die im Leben Jakobs eine besondere Rolle spielten: Sichern, Bethel, der Jakobsbrunnen, die Eiche bei Sichern, unter der Jakob auf dem Weg nach Bethel die Abgötter begrub. Der letzte Ort, der vor der ersten Erwähnung Jerusalems steht, ist Silo oder Rama, die Stätte, an der bis in die Zeiten des Königs David die Bundeslade und der Tabernakel des Herrn aufbewahrt wurden - unzweifelhaft ist darin ein programmatischer Anspruch zu sehen. Ähnlich auch in der Ortsbestimmung: Neun Städte in allen 6\ Ludwig Schmugge, Die Anfänge des organisierten Pilgerverkehrs im Mittelalter. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 64 (1984). S. 1-83. Hier S. 68. 62 S. 79, Z. 9: nulla vota tua, in quorum tamen completione sedulitatis meae requiratur opera, quantum ad possibilitatem birium mearum patiantur cassari optato fine. 63 S. 79, Z. 4-7. 64 S. 79, Z. 29. Siehe auch: Quellen. 65 S. 79, Z. 30 und S. 80, Z. 31 und Z. 33. 66 S. 79, Z. 18 ff. 67 S. 80, Z. 37 f . 68 S. 80, Z. 39: propter exordium nostrae redemptionis. 69 Zur Legende um Jesus, der für seine Mutter Wasser aus dem Brunnen holt, s. Theoderich, S. 193 Z. 1519ff. und Anmerkung von Huygens, und B. Bagatti, Antichi villaggi cristiani di Galilea. (Pubblicazioni dello studio biblico francescano, Collezione minore n.13). Jerusalem 1971. S.36.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Himmelsrichtungen werden bemüht, um die genaue Position Jerusalems (in ihrer Mitte) zu verdeutlichen 70. Doch weder Johannes noch seine Quelle Fretellus fahren an dieser Stelle mit der Beschreibung der "heiligsten Stadt Judäas"71 fort, wie man eigentlich erwarten würde 72. Vielmehr wird Bethlehem in ähnlicher Ausführlichkeit wie Nazareth zuvor thematisiert. Die Ereignisse um Christi Geburt werden berichtet und eine im leoninischen Versmaß gehaltene Inschrift am Ort der Geburt Christi 73 erwähnt. Wiederum folgt ein Anlauf, Jerusalem zu beschreiben, indem die weit verbreitete Meinung zitiert wird, die Stadt sei der Mittelpunkt der Welt. Johannes kürzt den Rest der Ausführungen des Fretellus, beschreibt zunächst den Berg Moria, erwähnt den Tempelbau und dessen Zerstörungen durch Nebuchadnezar und den Pharao Necho. Doch bricht er hier ab, um seinen Leser, also seinen lieben Freund 74 Dietricus nicht mit den vielen Zerstörungen und Wiederaufbauten zu langweilen und beginnt mit der Erzählung von Christi Leben: hier sei Jesus am achten Tag beschnitten worden, und die Vorhaut befinde sich jetzt ... Auch diese Fehl-Information (denn Jesus wurde in Bethlehem beschnitten 75) führt nicht zum Ziel. Johannes verläßt die Zwänge seiner Vorlage und erläutert seine eigene Vorgehensweise, die im nachfolgenden Abschnitt erörtert wird. Es sei hier nur gesagt, daß er- der Offenbarung des Johannes 76 folgend - das Leben Jesu mit seinen Stationen Geburt, Taufe, Leiden, Begräbnis, Auferstehung, Auffahrt und Sitz am Jüngsten Gericht verbindet. Die Lösung des siebten Siegels wird erst am Jüngsten Gericht zu erfahren sein, doch die anderen sechs, dessen erstes (Fleischwerdung des Herrn) er schon beschrieben hat, will er in seiner Beschreibung nachvollziehbar machen. "Nun aber kehren wir wieder zur Darstellung des Herrn zurück"77 - mit diesen Worten kommt Johannes nach seinen theoretischen Erörterungen wieder zur Beschreibung des Tempels und der Darstellung Jesu. In einem Exkurs zur Beschneidung Jesu führt er aus, daß sie seiner Meinung nach abgeschafft werden sollte, wiewohl sie auch als alttestamentlicher Antitypus für die Reinigung von den Sünden gelten mag und durch Jesus zu ihrer Vollendung gebracht wurde. Denn die Be70 Allerdings bemerkt der Schreiber m 2 der Handschrift T, die Huygens als Leithandschrift für seine Edition diente, am Rande, hier handele es sich um nota situm locorum circa Ierusalem. Mit der Sigle T wird der Codex cJm 19418 der Bayerischen Staatsbibliothek München bezeichnet, er stammt aus dem Benediktinerkloster Tegernsee und ist Ende des 12., möglicherweise Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden. Auf seinen 83 Blättern überliefert das Manuskript ausschließlich den Reisebericht des Johannes mit dem allen Handschriften gemeinsamem Appendix inscriptionum. 71 S. 85, Z. 152. 72 Und wie Tobler es in seiner Ausgabe herstellt: Tobler, loc. eil., S. 117 f. 73 Bulst vermuten S. 71 ihrer Ausgabe des Theodericus, Johannes habe Bethlehem nie gesehen, geben hierfür jedoch keine Belege an. V gl. Anm. 1 zu Kap. XXXIII. 74 S. 87, Z. 222. 75 Lc 2,21. 76 Apoc.5,9. 77 S. 89, Z. 257: Nunc vero redeamus ad representationem domini ...

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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schneidung werde im Neuen Testament nicht als Sakrament genannt. Im übrigen rechne er selbst sie auch nicht zu den oben genannten sieben Siegeln. Dann folgen die Ereignisse im Leben Jesu, die sich im Tempel zu Jerusalem abgespielt haben: seine Darstellung, Simeons Prophezeiung, seine Unterweisung, das Lob der armen Witwe, die Versuchung durch den Teufel. Johannes fügt hier, angeregt durch eine Inschrift, die Darstellung Mariae im Tempel (21. November) ein. Auch den Trost, den sie dort von Engeln erhielt, erwähnt er, durch eine weitere Inschrift daran erinnert Die von Johannes erwähnten Inschriften und Mosaike sind das Ergebnis der 1115 begonnenen Renovierung des Templum Domini, die vor allem nach der Plünderung durch den Normannen Tankred notwendig geworden war 78 • In deren Rahmen wurde der Felsen mit Marmorplatten umfaßt und mit einem Altar und Kreuz versehen - auch deswegen, so Sylvia Schein, um die Kanoniker daran zu hindern, Stücke vom Felsen abzuschlagen und als Reliquien zu verkaufen 79. Daher verwundert der Bericht des Johannes, von hier habe Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben und dabei solch übermenschliche Kraft entwickelt, daß sein Fußabdruck im Felsen zUfÜckblieb 80 - der war durch die Marmorverkleidung eigentlich nicht mehr zu sehen. Im weiteren beschreibt Johannes die Verkündigung an Zacharias, und dessen Tod 81 ein. Indem er Zacharias, den Vater von Johannes dem Täufer, mit Secharja, dem Sohn des Barachias 82 gleichsetzt, folgt er einer weit verbreiteten Tradition. Auch hier orientiert er sich bei dem Gang durch die Stadt an Ereignissen und Personen: Secharjas Martyrium führt ihn hinaus vor den Felsendom, in dem der Ort von Secharjas Leiden mit einem Altar gekennzeichnet war. Die Sarazenen hätten diesen später zu einer Sonnenuhr umgebaut Nachdem er seinen Leser auf diese Weise vor das Gebäude geführt hat, schildert Johannes die äußere Gestalt des Tempels, das Mosaik im oberen Teil und die untere Verkleidung mit Marmorplatten, die nur von den vier Türen unterbrochen ist. Es folgt deren Beschreibung, beginnend mit dem östlichen Kettentor (Bab es-Silsileh) und dem gegenüberliegenden Kettendom, der von den Kreuzfahrern in eine Kapelle zu Ehren des hl. Jakobus umgewandelt worden war. Dieser erste Bischof von Jerusalem 83 war von den Juden im Jahr 62 vom Tempeldach gestürzt worden und wurde, so folgt Johannes seiner Vorlage Fretellus, 78 Vgl. hierzu Albert von Aachen, Historia Hierosolymitana. In: Recueil des Historiens des Croisades. Historiens Occidentaux IV. S.479. und H. Busse, Vom Felsendom zum Templum Domini. In: Das heilige Land im Mittelalter: Begegnungsraum zwischen Orient und Okzident. Hg. von W. Fischer u. a .. Neustadt 1982. S. 19-20. 79 Sylvia Schein, Between Mount Moriah and the Holy Sepulchre: The Changing Traditions of the Temple Mount in the Central Middle Ages. In: Traditio. Studies in Ancient and Medieval History, Thought and Religion 40 (1984). S.175-195 . Hier S.183. Schein gibt für diese Angabe keine Quelle an. 80 S. 90, Z. 285 ff. 81 Mt 23,35. 82 Gen.4,8. 83 Seite 92, Z. 331 f.: primus pontifexfuit sub gratia in Ierusalem.

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dann mit der Keule eines Walkers umgebracht. Bald nach der Eroberung Jerusalems waren im Kettendom Inschriften angebracht worden, die diese (Um-)Widmung erläuterten - Johannes notiert auch diese. Er zitiert die Inschriften des im Norden gelegenen Paradieses tores und des Westtors, das gegenüber vom Chorherrenkloster liegt. Das Südtor hingegen liege gegenüber dem aedificium Salemonis, das er später 84 einen Palast (palatium) nennt - gemeint ist die Al Aqsä-Moschee. Der detaillierten Beschreibung der Türen des Fe1sendoms, die unterschiedlich viele Blätter aufweisen, folgt die des Tempelinneren. Er geht auf das Tambour ein, die zwölf Säulen, die es tragen, werden dabei von den vier tragenden Pfeilern differenziert. Die Feststellung Augustinus' , alles sei Götzendienst, was ohne den Glauben an Christus geschehe 85 , untermauert für Johannes die Aufhängung des zum Leidwesen der Muslime dort zu sehenden Kreuzes und leitet über zur Betrachtung der Inschriften an der Außenwand des Tempels. Besonders hebt Johannes die architektonisch problematische Neigung der Fläche des Haram hervor, um sich dann nach Osten, zur Porta Aurea, zu wenden. Diese sei immer geschlossen mit Ausnahme des Palmsonntags und der Kreuzerhebung, an welchen Tagen das Tor allen Menschen, ob Pilgern oder Einheimischen, offenstehe 86 . Im Tal Josaphat befinde sich ein Friedhof direkt unter dem Goldenen Tor. Dann kehrt Johannes wieder in den Haram zurück, lobt die Schönheit der eben schon erwähnten Arkaden Al-Mawäzln und differenziert die Erhöhung des Felsendomes (atrium) vom Haram (planicies), die an der nördlichen Seite - wie auch heute noch - auf einer Ebene liegen. Es ist auf Grund solcher topographischer und historischer Darstellungen, daß Tobler die Beschreibung als "mustergültig"87 bezeichnet. Johannes schließt mit den bescheidenen Worten, das möge nun genügen, er werde niemandem eine bessere Beschreibung neiden 88 . Einigermaßen abrupt kehrt er sich nun wieder dem Leben und Leiden Jesu zu, verläßt Jerusalem und schreibt Fretellus' knappe Aussagen über die Taufe Christi ab. Merkwürdig ist, daß hier eine als "Siegel" vorgestellte Station im Leben Jesu eindeutig nicht behandelt wird. Johannes fügt immerhin hinzu, daß der Jordan aus den Flüssen Jor und Dan gebildet worden sei, doch dann hält er sich wieder streng an seine Vorlage: Die Versuchung Christi auf dem Mons Quarentena, die Heilung Elisas an der dortigen Quelle, die Heilung des Blinden vor Jericho, Bethagla als Ort der Ägypter Klage 89 , Engeddi, der Berg Kara, - doch plötzlich findet man sich auf dem Berg Karmel wieder, dann in Gergessa am See Genezareth, und schließlich in der Hafenstadt Caesarea, von wo aus man in die Gegend südlich von Jerusalem zurückkehrt. Hebron wird mit allen Sehenswürdigkeiten in seiner Umgebung geschilS. 134, Z.1365f. De Trinitate 1, 6 (13), ce 50, S. 43, 117-118. 86 S. 96, Z. 474 f.: universa papulo aperitur, peregrinorum sive civium. 87 Tobler, loc.cit., S.417. 88 S. 96, Z. 440: poeiori flon invidemus. 89 Interessant ist in diesem Kontext die Bezeichnung des Orts als loeus gyri und nicht, wie sonst üblich,planetus Aegypti. Erstere ist wohl so zu interpretieren, daß die trauernden Ägypter im Kreise um Jakobs Sarg schritten. 84 85

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dert: das Tal der Tränen, der Berg Mamre wird gefolgt von der Beschreibung des Toten Meeres und dem alttestamentlichen Geschehen, das dort stattgefunden hat. Auch wirtschaftlich relevante Auskünfte werden gegeben: dort gewänne man das für vieles notwendige Bitumen 90 • Die Ereignisse des Buches Numeri werden wiedergegeben. Es kommt zu einer Aufzählung der in Arabien zu findenden Berge: in Arabia Helim [... ], in Arabia mons Oreb [... ], in Arabia mons Abarym [... ], in Arabia mons ille Regalis 91 , den Balduin 92 zum Schutz des Heiligen Landes befestigte. Ein Kreuzfahrerkastell in diese Reihe der in der Bibel genannten Berge zu stellen, verdeutlicht den Herrschaftsanspruch der Kreuzfahrer noch einmal. Diese Aussage wird im übrigen später von Theodericus genau so übernommen 93 • In einem geographischen Schnellverfahren wird der Leser dann nach Norden geführt: Arabien grenze an Idumäa, dieses sei die Gegend um Damaskus, die sich "unter" (gemeint ist wohl: südlich von) Syrien befände, das Libanon-Gebirge trenne Phönizien von Idumäa, und darin befände sich Tyrus 94 - wo Christus nie weilte, aber vor dem er auf einem (biblisch nicht belegten 95 ) Marmorstein gesessen habe. Daß dieser später von den Franci et Venetici zerstört wurde, übernimmt Johannes von Fretellus; dies kann als erster Vorbote auf die später folgenden deutlich antifranzösischen Äußerungen gewertet werden. Jedenfalls führt er den Leser weiter nach Damaskus und dessen Region, die insbesondere durch Hiob und seine drei ihn besuchenden Freunde bekannt ist. Der Berg Libanon, die angebliche Speisung des Jordan aus den Flüssen Jor und Dan und deren (fälschlich dem Gebirge Gilboa zugeordneter) Zusammenfluß und weiterer Lauf werden thematisiert, wobei die geographischen Angaben hierzu heillos verwirrend sind. Der Dan fließe in der Nähe der Pyramide des Hiob, der Jor bilde einen See (gemeint ist wohl der See Semachonitis), ehe er zwischen Bethsaida und Kapernaum in den See Genezareth fließe 96 • Immerhin hat diese atemberaubende Flußfahrt den Leser an Orte gebracht, an denen einige der wichtigsten Ereignisse im Leben Christi stattfanden: Bethsaida, Chorazain, Kapernaum, den Berg der Seligpreisungen und den Ort des Speisewunders. Es folgen das heidnische Galiläa, Magdalum, Tiberias, Bethulia und Dothaim. Auf den Bericht über den Verkauf Josephs an die Ismaeliten folgt unvermittelt eine Beschreibung von Jerusalem, die am westlichen Tor beginnt. Von dieser Seite aus sei die Stadt sub secundo Israel 97 - damit meinen Fretellus und Johannes beide S. 101, Z. 541: multis necessarium. S.lOlf., zuletztZ.564. 92 Wahrscheinlich bezieht sich Johannes hier auf Balduin 1., in dessen Regierungszeit zahlreiche Fortifikationen gebaut wurden. 93 S. 178, Z. 1099ff. 94 S. 102, Z. 576ff. 95 Jesus lehrt zwar einige Male im Sitzen: Lc 5,17; im SchiffLe 5,3; im Tempel Lc 2,46, jedoch nirgends auf einem Marmorblock. 96 S.105, Z.629-647. 97 S. 107, Z. 687. 90 9\

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Gottfried von Bouillon 98 - befreit worden. Doch wieder nimmt uns der Autor nicht gleich in die Stadt hinein, wieder nähern wir uns nur im Kreis - wurden oben neun Städte bemüht, um Jerusalems Lage zu bestimmen, so folgt jetzt die Beschreibung der Orte um die Stadt Jerusalem herum. Der See Birket Mamilla, der Berg Modin, Lydda (Diospolis) bei Ramatha, Thekua, Ain Karim, Jericho werden genannt. Zu Fretellus' Angaben über Jericho fügt Johannes noch die von Lukas (19, 2-10) berichtete Begegnung Jesu mit Zachäus hinzu. Dann folgen Orte, die näher an der Stadt liegen: neben dem Ölberg sei der Berg des Verderbens. Am Teich Siloah halten Fretellus und Johannes erneut inne und erinnern sich an die Heilung des Blinden. Der Teich Siloah wurde später von Leprakranken aufgesucht, die in ihm in der Hoffnung auf Heilung badeten 99 - möglicherweise hat das Johannes an das Bad des Naeman im Jordan erinnert 100, dessen Zweifel lOl daran er ausführlich erörtert. Mit der Beschreibung des Tales Josaphat entfernt sich Johannes zusehends von seiner Vorlage. War in den letzten 350 Zeilen Fretellus' Text nur gelegentlich um Johannes' eigene Aussagen ergänzt, so kehrt sich das Verhältnis von Quelle und eigenem Text nun um. Denn anschließend an die Benennung der im Tal gelegenen Grabmale folgt ein kurzer methodischer Exkurs: Die beiden Siegel der Geburt und Taufe seien nunmehr vom Herrn wie ein Löwe aus dem Stamme Juda gelöst worden - nun sei es an der Zeit, auf die anderen einzugehen. Und folgerichtig setzt er an, den Einzug Jesu in die Heilige Stadt zu berichten, der seine Passion einleitete. Doch wieder muß der Leser warten, denn Johannes fügt die Ereignisse in Bethania vor dem "Palmsonntag" ein. Hierbei interessiert ihn vor allem ein Problem: die Identität der Frau, die Jesu Haupt salbte. Nach einer ausführlichen Erläuterung (siehe unten) ist es nun endlich so weit: als die Zeit der Passion nahte, ut diximus lO2 , sei Jesus in die Heilige Stadt eingezogen. Es scheint, als habe Johannes sich nur auf diese Weise seinem eigentlichen Thema: den Stationen Jesu in der Heiligen Stadt, nähern können. Schließlich fanden hier die Ereignisse statt, die die vier weiteren Siegel ausmachen. Eine gewisse Scheu mag ihn vor ihrer Schilderung ergriffen haben. Er beginnt mit dem letzten Abendmahl auf dem Berg Zion, beschreibt das Coenaculum und stellt die Frage, zu welchem Zeitpunkt (vor oder nach dem Essen) und an welchem Ort (Obergeschoß oder Krypta) Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen haben könnte. Johannes führt uns zum Ölberg und an den Ort, an dem Jesus betete, als seine Jünger schliefen, zeigt uns die dort errichtete Kirche, deren Namen er nennt: aecclesia Salvatoris,103 die Steine, auf denen der Herr kniete, schließlich den (in der Bibel nicht bes. Boeren in seiner Fretellus-Ausgabe, S. 38 f. (Anm. 113). Eugene Hoade OFM, Guide to the Holy Land. Franciscan Printing Press, Jerusalem 1984. S.246. 100 Johannes S. 109, Z. 726. Non ad eandem aquam Naaman [ ... ] missus est scheint das Wissen um diese später dem Teich zugeschriebene Heilfahigkeit anzudeuten. 101 4 Reg 5,12. 102 S. 113, Z. 823. 103 S. 114, Z. 874. siehe hierzu das Kapitel zu Theodericus' Libellus de Iods sanctis. 98 99

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legten) Abdruck seiner Finger in der Grotte der Agonie. Leise Zweifel kann man der Bemerkung entnehmen, daß Jesus - wie auch immer es um diese Fingerabdrücke stehe - in jedem Falle noch anderes, Größeres gewirkt habe 104. Von dort wurde Jesus auf den Berg Zion zum Prätorium gebracht, das heute noch gezeigt werde 105. Die Erwähnung einzelner Ereignissen wird teilweise verknüpft mit kurzen Beschreibungen der sie kommemorierenden Gebäude: die Verleugnung des Petrus in der Kirche St. Peter in Gallicantus, die Kreuztragung durch Simon von Kyrene in einer Kapelle. Auch die Verspottung des Herrn wird erwähnt (siehe unten). Von hier aus führt Johannes den Leser nach Golgatha und bemerkt, es sei allgemein üblich, daß Hinrichtungsstätten außerhalb der Städte auf höher gelegenen Orten lägen lO6 • Damals sei hier ein Feld gewesen lO7 : ein Hinweis, der den Lesern helfen konnte, sich in den vielen Kapellen und Gängen der Grabeskirche zurechtzufinden. Auch Johannes ist sich nicht sicher: gegenüber dem Kalvarienberg läge das Gefangnis Christi, "doch andere hingegen halten einen anderen Ort dafür, wie ich hörte, als ich dort war" 108. Johannes beschreibt den Kalvarienberg und die darunter liegende Adamskapelle, den Ort, an dem das dritte Sakrament erfüllt und das dritte Siegel des verschlossenen Buches gelöst worden sei 109. Er geht auf die Legende ein, hier sei Adam begraben worden, weist sie aber zurück: dessen Grab liege bekanntermaßen in Hebron, gemeint sei vielmehr, daß Adam durch Jesu Tod erlöst worden sei. Es ist allerdings rätselhaft, daß er in bezug auf den genauen Standort des Kreuzes auf dem Felsen Golgatha zwei Alternativen angibt, die so in keinem anderen Pilgerbericht zu finden sind: ein rundes Loch, in das die Gläubigen Opfergaben legten, und den Ort, an dem eine aufrecht stehende runde Steinsäule gezeigt werde. Letztere sei als Standort allerdings wahrscheinlicher, da sie mit dem nach rechts vom Kreuz fließenden Blut Christi besser zu vereinbaren sei 110. In jedem Fall aber sei das Antlitz des Herrn in Richtung Osten gewendet gewesen lll • Transeamus ad reliqua ll2 , mahnt er sich und seine Leser, und wendet sich dem Nabel der Welt 113 im Chor der Kanoniker zu. Hier, so berichtet er mit Fretellus, sei Christus der Maria von Magdala erschienen, sein Leichnam von Joseph gesalbt worden und er selbst zuletzt in die Hölle hinabgestiegen. Damit sei auch das vierte Siegel geS. 115, Z. 889ff. S. 116, Z. 903 f. Das Haus des Kaiphas wird heute im Bereich des armenischen Klosters vor dem Zionstor vermutet; Ausgrabungen haben noch nicht stattgefunden. 106 S. 117, Z. 946ff. 107 S.117, Z. 949. 108 S. 117, Z. 951-954. 109 S. 119, Z.I006f. 110 S.119, Z.992f. 111 S. 119, Z.996f. 112 S. 119, Z. 1008. 113 Auffällig ist, das dieser nicht- wie in anderen Quellen berichtet- als eingelassenes Zeichen im Fußboden beschrieben wird, sondern in modum altaris designatus. 104 105

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

löst l14 . Diesem folgt das fünfte: an genau demselben Ort sei der Löwe von Juda von den Toten auferstanden, und hier habe der Engel den Frauen die Auferstehung kundgetan. Johannes erwähnt die Emmausjünger, denen Christus "in der Erscheinung eines Pilgers"115 entgegengetreten sei. Dieser Bericht führt Johannes, seiner Vorlage Fretellus folgend, zu weiteren Berichten über Erscheinungen: Vor den Jüngern auf dem Berg Zion und später vor Thomas. Johannes ruft ein Mosaik in der Krypta der "größeren Kirche" (also der Hagia Sion) in Erinnerung, das diese Begegnung darstellt 11 6. Auch die Erscheinung am See von Tiberias erwähnt er und nutzt die Gelegenheit zu einem eschatologischen Hinweis: dies sei nicht nur ein Beweis für Christi Auferstehung, sondern auch für die zukünftige Auferstehung aller Verstorbenen 117. Danach kehrt er zurück zum Heiligen Grab, das er genau beschreibt - zwei Türen, eine für die Eintretenden, eine für diejenigen, die es verlassen. Im Vorraum befinde sich ein Wächter. Details wie die silberne Kuppel über dem Altar Ad Sanctum SepuJcrum werden genannt 118 • Er unterläßt es, wie viele andere Pilger die Maße des Grabes Christi zu nehmen und erwähnt nicht das über dem Grab befindliche Mosaik, das Joseph, Nicodemus, Maria und die drei Marien darstelle 19. Es wird unten darauf eingegangen, warum Johannes diese Darstellung bewußt übergangen haben wird. Bemerkenswert ist die Erwähnung, daß auf Grund eines neuen Gebäudes, dessen Eingang an dieser Stel1e liege, die Reihenfolge der Mannorsäulen in der Rotunde um das Heilige Grab unterbrochen sei. Hier handelt es sich um den am 15. Juli 1149 geweihten Chor der Kanoniker, ein "geräumiges" 120 Bauwerk. An dessen Ende befindet sich ein Hochaltar, über dem ein Mosaik den Triumph Christi über den Tod zeigt: Aus der Hölle holt er Adam hervor l21 • Für Prozessionen, so charakterisiert Johannes den Ort, sei in al1e Richtungen ausreichend Platz. Daß zwei der Antiphone, die er anschließend notiert, der Ostennesse entnommen sind, entspricht wohl dem Geist dieses Ortes. Auffäl1ig ist al1erdings, daß er in diesem Kontext nicht auf das österliche Feuerwunder eingeht. Die Zisterne in der Nähe des Kanonikerklosters, in der Helena das Kreuz fand, wird genannt. Dann wendet Johannes sich dem Datum des 15. Juli zu, des Tages, an dem der Einnahme Jerusalems im Jahre 1099 gedacht wird und an dem die Grabeskirche 1149 geweiht wurde. An dieser Stel1e läßt er sich ganz von seinem eigentlichen Thema abbringen: er schreibt sich seinen Ärger von S.120, Z. 1022. S. 120, Z. 1029 peregrini sub specie. Vgl. L. Thier, Christus Peregrinus. Christus als Pilger in der Sicht von Theologen, Predigern und Mystikern des Mittelalters. In: Ecclesia peregrina. Josef Lenzenweger zum 70. Geburtstag. Hg. von K. Amon u. a. Wien 1986, S. 29-41. 116 S.121, Z. 1038f. 117 S.121, Z.I044f. 118 S. 121, Z.1046ff. 119 Siehe Theodericus, S.147, Z.155ff. 120 Satis latum Z. 1078, satis longum Z. 1072. 121 Gezeigt wird Christus, wie er in der linken Hand das Kreuz, in der rechten Adam, mit einem Riesenschritt in den Himmel aufsteigt. Dieses Motiv scheint bekannt, Tobler verweist in seiner Ausgabe des Theodericus S. 179 auf eine im Bayerischen Nationalmuseum zu München befindliche Elfenbeinschnitzerei. 114 115

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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der Seele, daß den Franzosen eine größere Rolle bei der Eroberung Jerusalems zugebilligt werde als den Deutschen (siehe unten). Johannes führt uns auf den Ölberg, wo Jesus Christus auf einer Wolke in den Himmel entrückt wurde, um das sechste Siegel zu erläutern. Merkwürdig ist allerdings eine Ungenauigkeit in der Darstellung. Die Himmelfahrtskapelle bezeichnet Johannes als magna aecclesia - was bei einem Durchmesser von 6,6 m wohl als übertrieben bezeichnet werden kann. Es herrscht in der ganzen Passage ein gewisses Durcheinander, denn er berichtet über das Pfingstwunder, das nicht nur in den Evangelien beschrieben sondern auch auf einem Mosaik dargestellt ist - allerdings befindet sich dies im Coenaculum auf dem Berge Zion. Dort starb Maria, sagt er - deren Grab sich wiederum auf dem Ölberg befindet 122 - der Leser wird von einer gewissen Unsicherheit erlaßt. Die Tatsache, daß Marias Leichnam nach acht Tagen nicht mehr in ihrem Grab zu finden war, veranlaßt Johannes zu einem kurzen Lob auf die Jungfrau (siehe auch untenstehend), in dem er zweimal den Hieronymus zugeschriebenen Brief Cogitis me zitiert. Er geht dann auf das Mariengrab ein, das an der östlichen Öffnung des Tales Josaphat liegt, und notiert einige die Gottesmutter verherrlichende Inschriften. Die Beschäftigung mit dem Ölberg führt Johannes dazu, die Ausrichtung an den sieben Siegeln seiner Beschreibung zu beenden. Die sechs Siegel hat er behandelt, und da das siebte Siegel dem noch zu erwartenden Jüngsten Gericht entspricht (das der Überlieferung nach im Tale Josaphat stattfinden soll), kann hier dieser Abschnitt abgeschlossen werden. Johannes tut dies in der Art eines Reiseführers 123: nun könne man sich den jüngeren Orten und den neu errichteten Heiligtümern zuwenden. Auf dem Weg in die Stadt zurück - diesmal über den Berg Zion - werden einige trivia des Fretellus angefügt, auf die Johannes nicht näher eingeht, die aber für Pilger von Interesse sein könnten, wie der Acker Hacheldama des Judas, auf dem Pilger beerdigt werden. In der Stadt selbst geht er geradewegs auf die südlich der Grabeskirche gelegene Kirche Johannes des Täufers zu, deren Einordnung unter die oben genannten neueren Bauwerke allerdings merkwürdig ist: Das Gotteshaus gilt als das älteste Jerusalems, die Unterkirche des Dreikonchenbaus entstand im 5. Jahrhundert. Begeistert berichtet Johannes von dem die Kirche umgebenden Hospital des Johanniterordens, das dem Gelände den persischen Namen Muristan gegeben hat. Er gibt genaue Zahlen, wieviele Kranke dort versorgt werden (2.000), wieviele Patienten täglich sterben (50) und sofort durch Neuzugänge ersetzt werden, und erwähnt, daß genausoviele Anne mit Essen und Bettler mit Brot versorgt werden, wie es Patienten gibt. Die Aufzählung, die durch ein fast plauderndes Quid plura? 124 fortgeführt wird und den Leser darüber unterrichtet, selbst die Verwalter und Schatzmeister 125 wüßten 122 123 124 125

S. 128, Z. 1204. S. 130, Z. 1266f. S. 131, Z. 1289. S. 132, Z.1294ff. procuratores et dispensatores.

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nicht mehr, wieviel die gesamte Summe der Ausgaben betrage, endet mit der Angabe, die Johanniter bildeten Soldaten zur Verteidigung des Heiligen Landes aus, die in verschiedenen Kastellen Palästinas in der Kriegskunst ausgebildet würden. Dem Kloster Ad Sanctam Mariam Maiorem, das ganz in der Nähe der Johanniter liege, sei ein cenobium angegliedert, das sich die Mönche des darin beheimateten Ordens und die Johanniterbrüder teilten. Darunter scheint zu verstehen zu sein, daß die Wohnanlage von den Mönchen und den Johannitem geteilt wurde, welche sie gemeinsam hatten errichten lassen. J ohannes geht sodann auf das in der Nähe des Davidsturmes gelegene armenische Kloster ein, wobei er dessen riesige Ausmaße übergeht. Die Angabe, daß es dem heiligen Sabas gewidmet sei, scheint eine Verwechslung mit dem im Kidrontal gelegenen Kloster Mar Saba zu sein. Einer besonderen Erwähnung wert ist die im 12. Jahrhundert errichtete Kirche zu Ehren Jakobs des Älteren sowie das Hospiz für die armenischen Armen. Die Straße weiter hinunter in Richtung Tempel kommt man durch eine kleine Seitengasse zum Deutschen Haus, "dem wenige oder keine Menschen anderer Nation etwas Gutes angedeihen lassen" 126. Der Weg führt zur Kapelle Petri Gefangenschaft, in die er auf Befehl des Herodes geworfen worden war und aus der er sich mit der Hilfe eines Engels befreite. Von diesem ausführlich beschriebenem Wunder kündet eine Inschrift. Johannes vermerkt, daß diese kleine Kapelle bei weitem nicht so dotiert und dekoriert sei, wie sie es verdiene 127. Am Tag Vincula St. Petri werde dort eine Messe gefeiert, notiert die Handschrift B. T hingegen hat missam celebravi. Angesichts der Sympathie, die der Würzburger Priester dieser Kirche entgegenbringt, scheint es nicht unwahrscheinlich zu sein, daß dem auch so war. Johannes führt seine Leser von dort zum Tempelberg und betrachtet die restlichen Gebäude im Haram. Die Al Aqsä-Moschee hält er zwar konsequent für den Palast Salomos 128, doch die Ställe identifiziert er richtig. Er geht auf die Gebäude des Templerordens ein und erwähnt dessen reichen Besitz, im Heiligen Land und anderswo. Man gebe auch dort Almosen, aber nicht ein Zehntel dessen, was die Johanniter verteilten. Auch wenn man die Ritter zur Verteidigung des Heiligen Landes einsetze, hafte ihnen doch der Ruf der Treulosigkeit an 129. Das Haus Simeons des Gerechten, der Jesus bei der Darstellung im Tempel in den Armen hielt, befindet sich in der Nähe. Auf der anderen (nördlichen) Seite des Haram hinter dem Tor ist die St. Annenkirche zu sehen. Die dort auf einem Mosaik darS. 133, Z. 1337. S. 134, Z. 1358 ff. 128 S. 134, Z. 1365 f. 129 S. 135, Z. 1377 ff. Er bezieht sich damit vermutlich auf die Aufgabe von Damaskus 1148, zu der die Templer Konrad III. überredet haben sollen, da sie vom Gegner bestochen waren. s. S. 28 FN 99. 126 121

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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gestellte Geburt Mariens finde man, so erklärt Johannes seinen Lesern, ausführlicher in der Vita der St. Anna dargestellt 130. Neben der Kirche befinde sich der Teich Bethesda, dessen heilende Wirkung Fretellus beschreibt. Geht man weiter in Richtung Stadtzentrum und dann auf die Stadtmauer zu, so komme man zur jakobitischen Kirche St. Maria Magdalena. Ein bißchen übellaunig schließt Johannes: "Von der wir schon alles gesagt haben, was wir zu sagen wissen" 131 - hierbei bezieht er sich auf seinen untenstehend unter e. behandelten Exkurs über die Problematik der drei Marien 132. Geht man weiter auf der zum Tale Josaphat führenden Straße in Richtung Stephanstor und Stephanskirche, gelangt man in die Nähe der Grabeskirche und zum Ecce Homo Bogen - ein Ort, der auch ohne die dort errichtete Kirche heilig sei und verehrt werde 133. Die syrische Kirche zu Ehren des Karithon wird noch kurz erwähnt. Dann schließt Johannes seinen Bericht. Er wendet sich nun unmittelbar an seine Leser. Es fällt auf, daß Dietrich, dem das Werk gewidmet ist, nicht angesprochen wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, ein Stadtführer spreche zum Abschluß eines Rundgangs: Die Heiligtümer der Heiligen Stadt habe er zeigen wollen, beginnend mit dem Heiligen Grab, um das Davidstor herumführend und nun wieder am Ausgangspunkt angekommen. Zahlreiche Kapellen und kleinere Kirchen, die Gläubige aller möglichen Sprachen errichtet hätten, habe er ausgelassen. Die Liste dieser Nationen, von denen er eine Auswahl nennt, wäre viel zu lang, daher wolle er nun ein Ende machen. Johannes schließt seine Beschreibung mit einem Amen.

d) Das Nationalbewußtsein des Johannes von Würzburg Die ältere deutsche Forschung hat Johannes zu einem "warme[n] deutsche[n] Patriote[n]"134 erklärt (schreibt hingegen ein Franzose, so wird seine Haltung "nationalisme chatouilleux" 135 genannt), und auch in der jüngeren Literatur finden wir Hinweise auf den "deutlich nationalistisch-antifranzösische[n] Einschlag"136 oder, vorsichtiger, auf ein frühes "Zeugnis für das erwachende Nationalgefühl" 137. AnnaDorothee v. den Brincken beschränkt sich darauf festzustellen, Johannes sei "der erste Abendländer, dem [... ] in Jerusalem die Vielfalt der dort anwesenden Christen [... ] deutlich wird, und der die Einzelgruppen namhaft macht" 138. S. 136, Z. 1400. Vgl. Bibliotheca Hagiographica Latina S.483-488. S.136, Z.1417f. 132 S.III, Z. 782ff. 133 S. 136, Z. 1420f., insbesondere Z. 1429f. 134 Tobler, loc. cit., S. 417. 135 Storme, loc. cit., S. 56. 136 Ludwig Schmugge, loc. cit., S. 68. 137 Alfred Wendehorst, Johannes von Würzburg. In: NDB Bd. 10, 1974, S. 577. 138 Anna-Dorothee v. den Brincken, Die "Nationes Christianorum Orientalium" im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Köln/Wien 1973. S.3. 130 131

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Wie aber drückt Johannes das Bewußtsein, ein Deutscher zu sein, aus? Das erste Anzeichen eines Nationalgefühls, auf das Huygens hinweist, liefert allerdings keinen Hinweis auf die Haltung des Johannes, der an dieser Stelle schlicht (mit seiner Quelle Fretellus) notiert, daß der Marmorstein vor Tyrus von den Franzosen und Venetianern zerstört worden sei 139. Somit ist keine eigene Abgrenzung des Autors nur vom westlichen Nachbarland gegeben. In der Beschreibung der Grabeskirche wird die nationale Zugehörigkeit des Johannes offensichtlich. Angeregt durch die Erwähnung des Geburtstages von Gottfried von Bouillon, der wohlgemerkt, so schreibt unser Autor, einer deutschen Familie entstamme und der an diesem Tag ein allgemeines Almosengeben verordnet habe, empört Johannes ganz besonders, daß die Befreiung der Stadt allein den Franzosen zugesprochen werde. Sogar das Andenken Wiggers, eines besonders tapferen deutschen Ritters, sei geschändet worden, indem sein Sarkophag mit dem Namen irgendeines französischen Ritters überschrieben worden sei. Steward hat die Vermutung aufgestellt, dies könne der Sarkophag des Philippe d' Aubigny sein, der heute noch neben dem Hauptportal der Grabeskirche zu sehen ist l40 • Doch nicht nur das, außen am Denkmal- es ist unklar, ob damit die Johanneskapelle oder die Grabeskirche selbst gemeint ist - sei eine Inschrift angebracht worden, die ausschließlich die Leistungen der Franzosen bei der Einnahme der Stadt lobe. Dies kann Johannes ohne Entgegnung nicht stehen lassen: "Nicht Franzosen, sondern Franken, die Stärkeren mit dem Schwert befreiten die heilige Stadt Jerusalem, so lange unterjocht, aus der verschiedenartigsten Herrschaft der Heiden: Ein Franke, kein Franzose: Wigger, Gundram, auch Graf Gottfried sind wahre Beweise, daß dies alles wohlbekannt iSt."141

Johannes geht noch weiter: der Grund, warum die Stadt in die Hände der Franzosen, Lothringer, Normannen, Provenzalen, Auvergner, Spanier und Burgunder gefallen ist, sei gewesen, daß alle Deutschen um Gottfried und Balduin auf Grund ihres Heimwehs in aller Eile nach Hause zurückgekehrt seien - und so sei es gekommen, daß den deutschen Kreuzfahrern noch nicht einmal ein Stadtteil zugesprochen worden sei. Und so ergeht er sich in historischem Wunschdenken: Wenn doch damals mehr Deutsche dageblieben wären, dann hätte das Königreich Jerusalem ganz andere Ausmaße, dann lägen seine Grenzen weit hinter Damaskus und dem Nil. 139 S. 102, Z. 576ff. Stewart. loc. cit., S.41, Anm. I. 141 S. 125, Z.1145 ff. Für die Rezeptionsgeschichte ist von Interesse, daß Krinner die einleitenden Worte zu Johannes' "Gegeninschrift" geändert hat. Das zwar selbstbewußte, doch eher persönliche: Contra quod ego der Handschrift T (B, A und M lassen diesen Satz ganz aus) ist bei ihm (und nach ihm Migne: Patrologia Latina 155, Sp.1055 A - 1090C. Hier Sp.1082B) zu einem allgemeineren Anspruch formulierenden Sed contra hos merito dictorum vertitur ordo geworden. 140

I. lohannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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An dieser Passage zeigt sich eindeutig Johannes' Überzeugung, dass die Rolle seines Volkes bei der Eroberung und Verwaltung des Heiligen Landes ungerechtfertigterweise zu gering bewertet werde. Er ärgert sich um so mehr darüber, als er meint, die Franzosen würden sich mit fremden Federn schmücken. Seine antifranzösische Einstellung wird auch an späterer Stelle noch einmal spürbar. Die Erwähnung des Hospitals des Johanniterordens veranlaßt ihn zu einem begeisterten Lob der Leistungen des Ordens, dessen Domizil in einer Handschrift als "heiliges Haus" 142 bezeichnet wird. Das ist von Runeiman dahingehend verstanden worden, daß Johannes in ihm eine Institution gefunden hätte, die ausschließlich von Deutschen betrieben worden sei 143. Dies läßt sich jedoch, da sich der Orden im 12. Jahrhundert noch in "seiner formativen Phase befand" 144 und ganz allgemein, losgelöst von nationalen Interessen, seinen Sinn im Dienst an den "Herren Kranken" und in der Verteidigung des Heiligen Landes sah, nicht bestätigen. In starkem Gegensatz hierzu stehen die Auskünfte über den Templerorden. Unbescheidenheit (große Gebäude auf dem Tempelberg), Reichtum ohne Großzügigkeit und bei geringem Gemeinsinn (sie gäben nur ein Zehntel der Almosen der Johanniter) und auch noch Verrat (Damaskus) - das ist der Eindruck, den der Leser mit den Templern verbindet. Die negative Haltung des Johannes zu diesem Orden kann möglicherweise dadurch erklärt werden, daß beim ersten Generalkapitel um 1160 möglicherweise meistenteils Franzosen als Ritter und Dienstbrüder teilnahmen l45 • Diese Andeutungen entsprechen wohl der von Wilhelm von Tyrus geäußerten Kritik an denen, qui fuerunt viri religiosi und die nun nur noch als filii perditissimi, filii scelerati,fidei Christianae praevaricatores zu bezeichnen sind l46 • Abschließend sei die wohl mit Bedauern gegebene Auskunft angeführt, das Domus Alemannorum bekomme von wenigen, die keine Deutsche seien, etwas zugute. Sie spricht etwas milder, aber dennoch unmißverständlich, von einem Bewußtsein nationaler Identität. e) Theologische Erörterungen Beide Autoren, Fretellus und Johannes, stellen im Zusammenhang mit der Erörterung biblischer Ereignisse abstraktere theologische Beobachtungen an - in der Folge der Beschreibung einer Bewirtung Abrahams mit Brot und Wein finden wir beispielsweise die knappe Feststellung, dies sei ein Typus des Altars Christi im Zu142 S. 132, Z. 1303. 143 Runeiman, loc. cit., S. 294. 144 Yehuda Karmon, Die lohanniter und Malteser. Ritter und Samariter. Die Wandlungen des Ordens vom Heiligen lohannes. München 1987. S.43. 145 Joan Evans, Life in Medieval France. New York 31969. S. 85 f. 146 Wilhelm von Tyrus, in: Recueil des Historiens des Croisades, Occ., I, S. 1015. 4 v. Samson-Himmelstjema

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stand des Heils 147. Beiden Autoren also ist der mehrfache Schriftsinn als Interpretationsmodell geläufig 148 Ein theologisches Problem um die Salbungsszene in Bethanien führt Johannes sehr viel detaillierter aus. Der Evangelist Johannes nennt Maria Magdalena als jene Frau, die so verschwenderisch ein ganzes Salbengefäß auf Jesu Haupt goß, Lukas bezeichnet sie nur als Sünderin, während Matthäus und Markus von einer Namenlosen schreiben 149. Johannes von Würzburg referiert daraufhin 150 die Ansicht Gregors des Großen 151, die beiden Frauen: die Sünderin Maria Magdalena, die mit ihren Tränen Jesu Füße wusch und sie mit ihren Haaren trocknete, und die namenlose Salberin seien identisch. Bei der Salbung nämlich sei Maria Magdalena eine andere, da ihre Sünden ihr vergeben worden seien, und was vorher aus Reue geschah, sei nun im Überschwang der Verehrung getan worden. Johannes weitet das Problem dann insofern aus, als er auf die Überlieferung eingeht, an der Stelle der Kirche St. Maria Magdalena nahe der St. Annenkirche vor Jerusalem habe Simeons Haus gestanden. Doch das, so empört er sich fast, steht in jedem Fall in Bethanien, mögen die Evangelien auch schwer zu verstehen sein, dies sei gewiß. Er schließt diesen Passus fast resignativ: Wolle jemand genaueres darüber wissen, so reise er doch selbst nach Jerusalem und frage bei den klügeren Einwohnern dieser Gegend (gemeint sind wohl die jakobitischen Mönche, die die Kirche in ihrer Obhut haben) nach, "denn in anderen Schriften habe ich nicht das geringste über diese Dinge gefunden."152 Diese von ihm angenommene Identität der drei Marien ist wohl der Grund dafür, daß die Darstellung der drei Frauen auf einem Mosaik im Grab Christi keine Erwähnung in seiner Beschreibung findet. An späterer Stelle deutet er die Tatsache, daß auf dem Berg Zion, auf den Jesus zum Gericht geführt wurde, der am stärksten befestigte Platz Jerusalems sei. Wie eine Mutter wache der Berg über die Unterstadt, weswegen Jerusalern wahrhaftig als Tochter Zions zu bezeichnen sei 153. Zur Adamskapelle, in der der Legende und einem darin befindlichen Mosaik nach Adam beigesetzt worden sein soll, stellt Johannes lapidar fest: Das Blut Christi, das durch den gespaltenen Fels hinabrann, habe nicht Adam aus dem Grab in den Himmel geholt, sondern habe ihn vielmehr erlöst 154. Zu einem ähnlichen Ereignis, nämlich die von Hieronymus angedeutete Aufnahme Marien in den Himmel i55 , will er nicht einS. 82, Z. 81: quod figurat altare Christi sub gratia. Vgl. Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. S. 1-31. 149 Mt. 26, 7; Mc 14,3; Lc 7,36; 10 12, 1-8. 150 S.111, Z. 775 ff. 151 Homilia in evangelia 33, PL 76, co!. 1075-1314, hier 1239C. 152 S. 112, Z. 813 ff. nam in aliqua scriptura nec tantum de his reperi. 153 S. 115, Z. 897-900. Er zitiert hier den Propheten Jesaja (62, 11). 154 S. 118, Z. 975. 155 Johannes zitiert den Hieronymus zugeschriebenen BriefIX "Cogitis me", S. 128, Z.1216. 147 148

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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deutig Stellung nehmen, doch sei dem, wie es sei: "wir glauben", daß die selige Jungfrau Maria eine solche Himmelfahrt verdiente, und daß Jesus in jedem Fall willens und in der Lage gewesen wäre, ihre Seele und ihren Leichnam in den Himmel aufzunehmen 156. Auf wen er sich mit "wir" bezieht, ob dies mehr ist als eine die Rezipienten einschließende Formulierung, erwähnt Johannes aber nicht.

f) Die Verfahrensweise des Johannes Johannes geht ausführlich auf die von ihm geplante Art der Darstellung ein. Kurz bevor er mit der Beschreibung von Jerusalem beginnt, macht er einen methodischen Exkurs: Er hat, so schreibt er, die im Buch der Offenbarung genannten sieben Siegel 157 auf das Leben Christi bezogen. Die eschatologisch bedeutsamen Stationen in dessen Leben seien wie diese sieben Siegel, wobei das letzte Siegel das Jüngste Gericht darstelle. Die Ausrichtung einer Heilig-Land-Beschreibung am Leben Jesu ist nicht besonders auffallend 158, doch sind die Konsequenz, mit der Johannes dies durchführt, und die so betonte eschatologische Ausrichtung der Beschreibung einzigartig. Der Passus sei hier in Übersetzung wiedergegeben: .. Das erste Sakrament ist, wie wir schon sagten, in der Stadt Nazareth durch die Menschwerdung des Herrn gefeiert worden; das zweite wahrlich durch die Geburt desselben in Bethlehem in Juda erfüllt, das dritte, das Ypapanti domini genannt wird, also die ,Darstellung Christi', bedeutet, daß er am vierzigsten Tag nach seiner Geburt im Tempel des Herrn gezeigt wurde. Um nun fortzufahren: Diese drei sind unter einem der Siegel zusammenzufassen, derer es sieben gibt und mit denen jenes Buch in der Apokalypse versiegelt ist (Apoc.5, 1-8) und das von niemandem aufgetan werden kann außer von jenem Lamm, das vom Anfang der Welt an geschlachtet ist und wovon gesagt wird (Apoc. 5,9) Du bist würdig Herr und so weiter. Diese sieben Siegel werden aber von manchen folgendermaßen interpretiert: die Geburt des Herrn beziehungsweise seine Menschwerdung, Taufe, Leiden, Abstieg in das Reich der Toten, Auferstehung, Auffahrt, Sitz am Jüngsten Gericht. Von diesen sieben aber sind bereits sechs in der Gegend von Jerusalem durch unseren Herrn Jesus Christus gelöst worden, das siebte wird durch das Eingehen in unserem Herrn gelöst werden, dessen Vollendung weder eine bestimmte Stunde noch ein bestimmter Ort zugeschrieben sind, wenngleich vom Propheten Joel als Stimme des Herrn gesagt ist: so werde ich alle Heiden im Tal Josaphat zusammenbringen und will dort mit ihnen rechten. (Ioel 3,2). Aber von diesen Dingen ist anderswo zu lesen, wir wollen zur Darstellung des Herrn zurückkehren [... ]" 159

Diese Erläuterungen des Autors über die Struktur seines Textes sind von Tobler mit dem Hinweis auf die Ausgaben von Krinner und Migne gestrichen worden. Wie S.128, Z.1217ff. Apoc. 5, 1-3 und 6,1 ff. 158 Vgl. Martin Sommer/eid, Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalempilger im ausgehenden Mittelalter. In: DVjs 2 (1924), S. 816-851. Hier S. 835, der zu Johannes' Disposition feststellt: ..also ganz und gar mittelalterliche Chronologie". 159 S. 88, Z. 239 bis S. 89, Z.257. 156 157

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

nebenbei finden wir die Auskunft: "Unser pilger spielt mit den 7 siegeln der offenbarung Johannes'. [... ] Ich liess sie alle weg; sie mögen bei Pez [... ] nachgelesen werden."160 Es ist der Ausgabe von Huygens zu verdanken, daß wir dies nun am rechten Ort - nämlich im Text selbst - tun können. Die von J ohannes intendierte Struktur kann durch Marginalien der bereits erwähnten Handschrift T (siehe Fußnote 70 auf S. 38) und der Handschrift B 161 deutlich gemacht werden. Sie stehen neben nicht weiter gekennzeichneten Textpassagen, aber auch neben spezifischen Ausführungen zu diesem Thema. Es ist das Verdienst von Huygens, sie in seiner Ausgabe vermerkt zu haben. Die Hand m2 verdeutlicht in T die Struktur des Textes, auch in B finden sich diese Notizen. Im einzelnen: In T steht neben dem Anfang der Beschreibung Mariae Verkündigung./. Sigillum l62 • Neben der Interpretation von Bethlehem als Haus des Brotes finden wir in B Sigillum .Il. und in T .Il. Sigillum 163 - allerdings entspricht dieses Siegel eigentlich dem Sakrament der Taufe, wie er später ausdrücklich feststellt l64 . Doch wird diese nur sehr kurz umrissen, und - was viel erstaunlicher ist - sie steht nach der Beschreibung des Templum Domini und den darin stattgefundenen Vorgängen. Diese Diskrepanz in einem ansonsten sorgfältig befolgten und trotz aller narrativen Schwierigkeiten durchgehaltenen Programm ist nicht zu erklären. Das dritte Siegel wird von beiden Handschriften dem Beginn der Passion des Herrn in Bethania zugeordnet, am Rande notiert 165 und deutlich thematisiert l66 . Hier unterläuft dem Schreiber von B insofern ein Fehler, als er die abschließende Formulierung tercium sacramentum est impletum et tercium sigillum clausi libri dicitur solutumfuisse wohl mißversteht - er setzt an den Rand ein Sigillum .111., eine Bezeichnung, die bislang am Anfang und nicht am Ende einer Passage zu lesen war. Das vierte und fünfte Siegel folgen sehr nah auf einander, was wohl bei dem Schreiber von B zu einer gewissen Verwirrung führt. Die Hand m2 ordnet in T das vierte Siegel in einer Randnotiz (Johannes' Intention entsprechend) dem Abstieg in das Reich des Todes zu und das fünfte der Auferstehung, wie es auch im Text deutlich gesagt wird l67 . B hingegen vermerkt diesen Passus nicht gesondert, sondern hebt nur das fünfte Siegel hervor l68 . Das sechste Siegel schließlich, die Auffahrt in den Himmel, wird in beiden Handschriften am Rande neben ihrer ausführlichen Thematisierung 160

Tob/er, loc. cit., S.422.

Die Texte der Berliner Handschrift cod.lat. oct. 32 (olim 861) (8) befassen sich ausschließlich (die im 16. Jahrhundert der Handschrift zugebundenen kleineren Texte werden hier nicht berücksichtigt) mit dem Heiligen Land. B ist sehr eng mit T verwandt und weist ebenfalls den dort beschriebenen Appendix liturgica auf. 162 S. 80, Z.51. 163 S. 85, Z. 155 und 157. 164 S. 110, Z. 757. 165 S. 110, Z. 760. 166 S.119, Z.1006f. 167 S.120, Z.122f.: Ecce quartum sigillum et quartum sacramentum. 168 Lc. 24,4-6. Johannes: S.120, Z. 1027. 161

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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im Text notiert 169, und zwar im Zusammenhang mit der Beschreibung der Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg. Das siebte Siegel, bezogen auf das Endgericht, kann natürlich noch nicht bezeichnet werden, doch verweist Johannes nach seiner Beschreibung des Tales Josaphat darauf l70 - also des Ortes, an dem dem Propheten Joel zufolge I71 das Jüngste Gericht stattfinden wird. Angesichts dieser Gliederung seines Textes ist es daher einleuchtend, daß die Stadt Jerusalem den größten Raum der Beschreibung einnimmt, und daß in den im liturgischen Anhang aufgeführten Gebeten immer wieder gehofft wird, man möge das himmlische Jerusalem erlangen. Schließlich, so fügt man hinzu, ist das irdische Jerusalem der Statthalter des himmlischen, und die figura der späteren Erlösung. Johannes (und auch die seinen Text kopierenden Schreiber von T und B) haben also die eschatologische Bedeutung des Lebens Jesu für den einzelnen - und insbesondere für den Leser der Descriptio - mit den Orten verbunden, die heilsgeschichtlich relevante Lebensstationen waren. Die im Widmungsschreiben geäußerte Hoffnung, der Leser möge durch diese Beschreibung zu einer größeren Andacht kommen und sich in das Leben Christi versenken, wird auf diese Weise erfüllt. Johannes hat damit der geographisch-historischen Erzählweise des Fretellus ein biographisch-eschatologisches Prinzip hinzugefügt. Dessen Muster sieht folgende Punkte vor: sachliche Infonnationen wie Rang (Nazareth als Hauptstadt Galiläas), Entfernung von vorher genannten Städten, falls bekannt, der Name des Erbauers. Gibt es Ehrennamen, werden diese aufgelistet. Sollten sich etymologische Deutungen anschließen lassen, werden auch diese angeführt. Es folgen Auskünfte darüber, wer aus dieser Stadt stammt und schließlich die Ereignisse des Alten und des Neuen Testaments, die sich in ihr abgespielt haben. Im letzten Drittel des Textes wird deutlich, daß Johannes sich mit der Vereinbarung dieser beiden Prinzipien schwer tut. Immer wieder ahmt er seine Vorlage nach, indem er seine Infonnationen an den genannten Orten ausrichtet. Andererseits will er aber dem Leben Jesu nachspüren und dessen heilsgeschichtliche Bedeutung an den Orten offenbar werden lassen. Dies führt zu erzählerischen und strukturellen Konflikten, da an den Stationen des Lebens Jesu auch andere interessante Begebenheiten stattfanden. Ein Beispiel ist die erste Erwähnung Jerusalems, die jedoch nicht zu einem (literarisch vollzogenen) Eintreten in die Stadt führt. Denn zuerst muß der Leser nach Bethlehem geführt werden: die Stadt Jesu Geburt muß selbstverständlich vor seiner Darstellung im Tempel beschrieben werden. Doch Johannes will nicht ausschließlich eine Anleitung für eine meditative Betrachtung der Passion Christi geben, er vertritt durchaus die Sichtweise der Kreuzfahrer im Heiligen Land, die mit vielen verschiedenen Mitteln versuchen, ihre Position zu konsolidieren. Dazu gehört auch, die Rechtmäßigkeit und eine lange Dauer 169

170 171

S. 126, Z. 1169. S. 130, Z. 1263 ff.

Ioel 3,2. Johannes zitiert ihn S. 89, Z. 255; s. o.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

der christlichen Herrschaft in Palästina zu postulieren. Deutlich wird dieses Bestreben in der Beschreibung des Felsens und des Felsendomes. Der Felsen wurde, möglicherweise in Analogie zur Verehrung, die ihm die Muslime entgegen brachten, von den Kreuzfahrern zum Allerheiligsten der Stadt erklärt. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft wurden ihm zahlreiche Traditionen zugeschrieben: vom Aufbewahrungsort der Bundeslade bis zum Versteck Jesu vor den Häschern 172. Spätestens mit dem Bau der 1152 vollendeten Himmelfahrtskapelle auf dem Berg Zion hatte jedenfalls diese Zu schreibung , die wohl an Mohammeds von hier aus angetretener nächtlicher Himmelsreise orientiert war, ein Ende. Johannes von Würzburg berichtet eine Legende, die die Rückgewinnung des Felsendoms für das Christentum rechtfertigen soll: Von hier habe Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben und dabei solch übermenschliche Kraft entwickelt, daß sein Fußabdruck im Felsen zurückgeblieben sei 173. Allerdings kann er den Fußabdruck auf dem Felsen unter der Marmorverkleidung nicht gesehen haben. Theodericus, der kurz nach ihm reiste, erwähnt den Felsen mit keinem Wort. Es mag als philologische Haarspalterei angesehen werden, doch können auch Auslassungen einen Hinweis auf die Vorgehensweise unseres Autors geben: Ein einziger Hinweis auf den islamischen Ursprung des Felsendoms entschlüpft Johannes, als er zur Inschrift über dem Paradiesestor bemerkt: "darüber sind einige sarazen ische Buchstaben angebracht" 174. Man ist versucht, als Grund für diese Knappheit schlichtes Desinteresse zu sehen. Doch hat Grabois darauf hingewiesen, daß in dieser Ungenauigkeit Methode sein könnte 17S : Um eine Kontinuität des Kultus im Felsendom zu insinuieren, zieht Johannes es möglicherweise vor, sich in wolkigen Formulierungen über die verschiedenen, von anderen angenommenen Erbauer und Renovierer zu ergehen und vermeidet es bewußt, einen exakten Abriß der Geschichte des Tempels zu geben, mit der Begründung: ne relatori videatur absurdum auditorique tediosum 176 • Mit umso größerer Akribie, die diese vorgeblich leserfreundliche Vergeßlichkeit Lügen straft, korrigiert er gleich danach die Meinung, Jakob habe seine Vision 177, die bereits Eingang in das Bildprogramm des Templum Domini gefunden hatte, hier erlebt. Bei aller Bewunderung für den Tempel 178 , das sei ganz woanders gewesen: in der Nähe der großen Mahumeria. Ein Rätsel gibt allerdings die lange Abfolge von Stätten im Heiligen Land nach der ersten Beschreibung Jerusalems auf - sie haben keinen Bezug zum Leben Jesu und werden in einer durchaus wirr zu nennenden Folge aufgeführt. Auffallig ist, daß 172 Schein, loc, cit., S.186ff. 173 S.90,Z.285ff. 174 S. 92, Z. 345 f. in cuius superliminari plures litterae Sarrachenicae sunt appositae. 175 Aryeh Graboi's, Le concept du ,contemptus mundi', 10c. cit., S. 298. 176S.87,Z.219. 177 Gen 28, 10-15. Die Inschrift ist im übrigen ein merkwürdig verändertes Zitat von Gen 28, 13: terram in qua dormis tibi dabo et semini tuo wird gemacht zum (immerhin leoninischen) haec tua sit terra, Jacob, cum prole futura. 178 S. 91, Z. 297 f.: salva templi reverentia.

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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der Großteil dieser Passage (von Z. 427 bis 722) fast ohne weitere Einfügungen von Fretellus abgeschrieben ist - und daß die Handschriften A 179 und M 180 diese auslassen. Fast wirkt es so, als fühle sich Johannes verpflichtet, diese Orte in eine HeiligLand-Beschreibung aufzunehmen, ohne dort gewesen zu sein - oder sie in Wahrheit mit seinem Anliegen in Verbindung bringen zu können. Zu Johannes' Umgang mit seiner Quelle ist folgendes zu sagen: Er fügt dem von Fretellus Vorgegebenen gelegentlich eigene Beobachtungen oder Früchte seiner Lektüre hinzu, die die (häufig nicht gesicherten) Auskünfte über die einzelnen Stätten ergänzen. So wird die Beschreibung der Verklärung Christi auf dem Berg Thabor durch die Auskunft bereichert, dieses Ereignis werde in der syrischen Kirche am Tag des heiligen Sixtus (6. August) besonders gefeiert. Auch jüngere Legenden finden ihren Niederschlag. So berichtet er, die Einwohner der Stadt Nain behaupteten, der Sohn der Witwe, den Jesus am Stadttor wieder zum Leben erweckte 181 , sei später der Apostel Bartholomäus geworden. Diese Information ist in keiner der vor Johannes datierten Beschreibungen zu finden 182, nur im altfranzösischen Bericht "Les pelerinaiges por aler en Iherusalem" von 1231 findet sie sich wieder 183 • Aus welchen Quellen Bagatti schöpfte, der feststellt: "Die Pilger des Mittelalters" hielten den Wiederbelebten für den Apostel 18\ ist nicht klar. Diese Ergänzungen werden häufig ohne eine eigene Stellungnahme gebracht. Zum Beispiel übernimmt Johannes die Aussage des Fretellus, daß Maria (wie ihre Mutter) in Sepphoris geboren wurde, um dann zusätzlich ausführlich Hieronymus 185 zu referieren: Maria sei nicht nur in Nazareth, sondern gar in jenem Raum geboren, in dem ihr die Empfängnis Christi verkündet wurde. Abschließend vermerkt er: "Die Stelle zeigt man, an einem besonderen Ort, an dem ich war und den ich gesehen und mir besonders gemerkt habe" 186. 179 Manuskript Add. 22349 der British Library. Nach Huygens lässt sich aus dieser Tatsache "ohne Zweifel" schließen, daß der Londoner Codex identisch sein muß mit dem Molsheimer Original für die Handschrift W.A ist im 14. Jahrhundert geschrieben worden und entstammt, dies wird aus den im Codex überlieferten Texten deutlich, einem klösterlichen Umfeld. 180 Münchner Codex cIm 8485 aus dem 15. Jahrhundert, eng mit A verwandt. 181 Lc 7, 11-17. 182 vgI. Baldi, Enchiridion, loc. eit., S. 341 ff., insbes. Nm. 530-533. 183 Michelant/Raynaud, Itineraire a Jerusalem et Decriptions de la Terre Sainte rediges en fran~ais aux Xle, XIIe, et XIIIe siecIes, publies par Henri Michelant et Gaston Raynaud. Soeiete de I'Orient latin, Serie geographique III, Genf 1882. S.IO!. 184 vgI. Bagatti, loc. eit.: I pellegrini dei Medio Evo ritengono che il faneiuIlo sia proprio I'apostolo Bartolomeo. S.263. 185 Pseudo-Hieronymus, Epistola 50 (De nativitate sanctae Mariae), PL 30, Spalte 298B (59 in eodem cubiculo ... ). Im übrigen wird in Sp.303C auch noch die Verkündigung Mariae in dieses cubiculum verlegt. 186 S. 81, Z. 60f. Hoc adhuc ibidem ostenditur in loco distincto, ut presens vidi et notavi. Übersetzung von Khull, S. 109: "Dies zeigt man auch dort auf einem besonderen Platze, wie ich selbst es sah und bemerkte". Storme beobachtet S. 54 eine stärkere Neigung Johannes' zur Meinung Hieronymus'; dies scheint angesichts der nüchternen Berichterstattung kaum belegbar.

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Johannes ist, so verrät sein Umgang mit Bibelzitaten, ein Mann von Dezenz. Fretellus schließt seinen Abriß der alttestamentarischen Kämpfe am Fuße des Berges En-Dor mit einem Zitat aus Psalm 82, 11: "Sie wurden bei En-Dor vertilgt und zu Mist auf dem Acker" 187. Johannes hingegen wählt - bei aller Freude über den Siegdie wesentlich milderen Worte aus Psalm 88: "Thabor und Herrnon jauchzen über deinen Namen."'88 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, daß sowohl Fretellus als auch Johannes anschließend den Tod Isebels referieren. In der Bibel endet der Bericht darüber mit den Worten: "und der Leichnam Isebels soll wie Mist auf dem Felde sein im Gefilde von Jesreel, daß man nicht sagen könne: das ist Isebe!." 189 Johannes hat mithin durch die vorher durchgeführte Glättung des Textes auf diesen inneren Bezug verzichtet. In den Passagen, in denen Johannes seinen Text frei von einer Vorlage gestaltet, ist eine besondere Art des Zugangs zu den beschriebenen Orten und den an ihnen stattfindenden Ereignissen festzustellen: Er wird eindeutig durch das Bildprogramm, die Inschriften oder die Eigenschaften der Orte, die er besucht, angeregt - ob zur Erzählung einer Geschichte (Jesu Vertreibung der Händler aus dem Tempel), zu Widerspruch (Jakobs Traum im Felsendom), zum assoziativen Abschwenken auf ein anderes Thema (vom Teich Siloah zum Bad des leprakranken Naeman im Jordan) oder zu theologischen Erörterungen (wo fand die Fuß waschung der Jünger statt?). Dies sind die Punkte, an denen er seinen Bericht verankert. Gelegentlich thematisiert er seine Anregungen selbst; immer wieder trifft man auf Aussagen wie hoc adhuc ibidem indicat pictura existens '90 • Besonders interessant ist eine Stelle, an der Johannes sogar seinen eigentlichen Kontext verläßt und (wohl angeregt vom Anblick des gespaltenen Felsens in der Adamskapelle 191) eine häufig anzutreffende ikonographische Konstante erläutert: Der gemeinhin auf Darstellungen der Kreuzigung zu Füßen des Kreuzes liegende Totenkopf sei ein Symbol des Todes und der Zerstörung. Merkwürdig ist, daß Johannes - bei aller Selbständigkeit und Akribie im Umgang mit seiner Vorlage - dennoch einige Fehler unterlaufen. So folgt er seiner Quelle, in der nahe Bethlehem gelegenen Kirche des heiligen Karithon könne man die vor Gram gestorbenen Mönche des Heiligen noch in den Stellungen sehen, in denen sie dahingerafft wurde. Diese seien später, so Fretellus, nach Jerusalem übertragen worden 192 - was ja bedeutet, daß sie in der Kirche nicht mehr zu sehen sein können und daß der vorangegangene Satz hätte gestrichen werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit dem Tal Josaphat, von dem Johannes anfangs (frei von seiner Quelle) ausPs. 82,11: contriti sunt in Aendor fuerunt quasi sterquilinium terrae. S. 82, Z. 89f., Ps. 88,13: Thabor et Hermon in nomine tuo exultabunt. 189 4. Reg 9,37: et erunt carnes Hiezabel sicut stercus super faciem terrae in agro Hiezrahel ita ut preatereuntes dicant haecine est illa Hiezabel. 190 S. 114, Z. 872. 191 S.118, Z. 981 ff. 192 S. 86, Z. 183. Siehe Fretellus, c.48, 8-9. 187 188

1. Johannes von Würzburg, Descriptio Terrae Sanctae

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führlich schreibt und den Propheten Joel zitiert l93 . Später, als Johannes sich wieder Jerusalem annähert, kopiert er Fretellus' Beschreibung des Tales, inklusive der kurzen Andeutung des Prophetenwortes l94 , das der Leser bereits kennt. Andererseits läßt sich Johannes auch von seiner Quelle anregen. Nach einer äußerst knappen Wiedergabe der Verkündigung (mit von Hieronymus entlehnter l95 Interpretation des Wesens der Mutter Gottes) lesen wir einen Einschub: "Manche fragten, Was kann aus Nazareth Gutes kommen?"196. Diese Frage wurde, so berichtet der Evangelist Johannes, von Nathanael gestellt - der wenig später von Fretellus, und ihm folgend Johannes, erwähnt wird, weil er nämlich aus der nächsten beschriebenen Stadt, Kana, stammt. Betrachtet man die Stellen, in denen Johannes seine Vorlage verläßt, so ist bemerkenswert, daß der historisch orientierte Beschreibungsstil eher in den Passagen vorherrscht, in denen er sich nach Fretellus richtet, während dort, wo er ganz frei arbeitet und ,sein' Jerusalem beschreibt, eine sehr starke Lebendigkeit in der Darstellung zu bemerken ist. Grabois formuliert: "Cette description des sanctuaires amena le pelerin de la realite du passe ala realite de son temps." 197 Dem ist insofern zuzustimmen, als Johannes im ersten Teil seiner Beschreibung nur sehr gelegentlich auf aktuelle (veränderte) Informationen zurückgreift (Geburtsort Marien, Sohn der Witwe von Nain), um im letzten Drittel in der Beschreibung Jerusalems mit ausgesprochener Wachheit die politischen, historischen und sozialen Gegebenheiten wiederzugeben. g) Johannes - ein Christ und ein Deutscher im Heiligen Land Johannes hat durch die von ihm geschaffene Methode erreicht, daß er - und nach ihm seine Leser - das Leben Christi und seine Verheißung nachgegangen sind. Gleichzeitig hat er - indem er immer wieder auf das von ihm Beobachtete und Bemerkte Rekurs nahm - ihm im Heiligen Land zugetragene oder auffallende Informationen berücksichtigt. Diese waren nicht nur religiöser, sondern auch politischhistorischer Natur. In diesem Bereich macht Johannes aus seinem starken nationalen Gefühl kein Hehl, ohne jedoch irgendeinen Suprematsanspruch zu formulieren. Er ist einfach der Meinung, daß den Deutschen als guten Kämpfern auch Anerkennung gebühre. Und, so meint man zwischen den Zeilen lesen zu können, dazu möchte er mit dieser Beschreibung auch ein wenig beitragen. Damit ist bereits angedeutet, was durch den ganzen Text durchschimmert: hier hat eine sehr eigenständige 198 Persönlichkeit mit einer klar definierten Absicht ge schrie193 S. 89, Z. 255 f., Joel 3,2. 194 S.110, Z. 746f. 195 Hieronymus, Interpretationes. S.137, Z.24-25. 196 Joh. 1,46. 197

Grabois, Le pelerin occidental, loc. eit, S. 373.

198 Siehe Michel Zink, Pourquoi raeonter son voyage? Debuts et prologues d'une chronique

de la Croisade et de deux itineraires de Terre Saint. In: Voyage, quete, peIerinage dans la litte-

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ben. Was Johannes beschreibt und berichtet, steht in der Regel unter dem oben genannten Motto. Er ordnet sich nur dann Fretellus unter, wenn ihn die Materie nicht sonderlich interessiert. An den Stellen aber, an denen er für sein Programm die Aufmerksamkeit des Lesers haben möchte, stellt er seine Vorlage um, schreibt sie neu und macht schließlich aus dieser Heilig-Land-Beschreibung ganz und gar seinen Text.

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis a) Der Autor Die Identität des Theoderich hat lange Anlaß zu Vermutungen gegeben. Naheliegend war die Annahme, die Tobler zuerst formulierte : der Autor dieses Büchleins sei jener socius et domesticus des Johannes, der offenbar doch die Gelegenheit gefunden hatte, das Heilige Land zu besuchen. Diese Ansicht vertrat (mit einiger Vorsicht) Alfred Wendehorst noch 1983 im Verfasserlexikon 199. Huygens hat zu bedenken gegeben, daß Theoderich in diesem Fall nicht sehr höflich mit seinem Freund umgegangen wäre: Schließlich widmete dieser ihm immerhin einen ganzen Bericht, er hingegen erwähnte Johannes mit keinem Wort 2OO • Tobler setzte Theodericus darüber hinaus mit dem Bischof von Würzburg Dietrich von Hohenburg gleich 20I , der im Jahre 1223 oder 1224 sein Amt antrat und im Jahr darauf als 76jähriger verstarb 202 • Er stellte fest, daß dieser durchaus 1172 (im Alter von 25 Jahren) ins Heilige Land hätte reisen können. Diese Identifikation scheint Jonathan Sumption besonders überzeugt zu haben, der von "Dietrich of Wurzburg" reder203 • 1867 204 hatte Tobter die ihm von Wilhelm Anton Neumann mitgeteilte Möglichkeit erwogen, daß Theodericus aus Hirsau hätte stammen können, da er bei Trithemius erwähnt sei. Diese Information gab de Sandoli im Vorwort seiner Übersetzung wieder 205 , doch rature et la civilisation medievales. Aix-en-Provence 1976. S. 237-254. Hier S. 247: ,,[ ... ] cette epitre revele I' erudit, I'homme de lettres, le eIere". 199 VL 2IV 822 f. 200 Huygens,loc.eit., S. 29: ,,[ ... ] Had Th truly been lW's friend Dietrich, then he did not return the compliment by so much as mentioning 10hn's name." 201 "Es scheint nun höchst wahr, dass Dietrich [... ] dernämliche Theodericus ist [...]". Tobler, Descriptiones Terrae Sanctae. 1874. Vorläufer zu den noten zu 10hannes Wirziburgensis. S.416. Einen anderen Theodoricus, der in der Zeit von 1213 bis 1224 Bischof in Würzburg gewesen sei, machte Michel Zink ausfindig: Pourquoi raconter son voyage? Debuts et prologues d'une chronique de la Croisade et de deux itineraires de Terre Saint. In: Voyage, quete, pelerinage dans la litterature et la civilisation medievales. Aix-en-Provence 1976. S. 237-254. Hier S. 246. 202 Vgl. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands 4,1958, S. 959. 203 Jonathan Sumption, Pilgrimage. An Image of Mediaeval Religion. London 1974. S. 129. Aryeh Grabois schließt sich ihm an und nennt einen "Theodoric de Würzburg": Les pelerins occidentaux en Terre Saint au Moyen Age. Une minorite etrangere dans sa patrie spirituelle. In: Studi medievali, serie terza, 30 (1989). S. 15-48, hier S. 29 Anm. 36. 204 Bibliographia, loc. eil., S. 18. 205 de Sandoli, loc. cit., S. 311 .

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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hat Huygens 206 nachgewiesen, daß dies nicht zutreffen kann; Trithemius nennt den Hersfelder (!) Benediktinermönch Dietrich von Amorbach und schreibt ihm eine Heilig-Land-Beschreibung ZU 207 , ohne daß man wüßte, welcher Text gemeint ist. Marie Luise Bulst wies all diese Vorstellungen zurück: Theoderich sei "weder als Adressat des Johannes, noch sonst zu bestimmen''208. Wie im Falle des Johannes von Würzburg wissen wir vom Autor des "Büchleins" wenig, ahnen bestenfalls, daß er Priester gewesen sein könnte, und natürlich das, was er uns im Zusammenhang mit seiner Reise mitteilt. Da Theodericus vom "jetzigen König" 209 Amalrich berichtet, muß er vor dessen Tod am 11. Juli 1174 im Heiligen Land gewesen sein. Auch Nur ad-Din (t 15. Mai 1174) lebt noch, scheint aus der Aussage hervorzugehen, vor dem Halapiensis tyrannus schützten die Burgen der Templer und Johanniter in Samarien 21O . Des weiteren schreibt er vom Fall Bänyäs' 2ll, und muß daher nach dem Oktober 1164 im Heiligen Lande gewesen sein. Die Handschriften nennen zwar das Jahr 1171, und Huygens hat dieses Datum in seiner Ausgabe emendiert 212 , was insofern einleuchtet, als es für Theodericus ganz offenbar mehr um die Einnahme der Stadt selbst als nur um die Nennung eines korrekten Datums geht. Die von Theodericus beschriebenen Gebäude bieten allerdings einen Anhaltspunkt, und viele hat auch Johannes genannt. So bemerken beide, daß die im Haram gebaute Kirche für die Templer noch nicht fertiggestellt sei 2l3 • Von der Kirche am Jakobsbrunnen in Samaria schreibt Johannes, sie sei noch im Bau befindlich, während Theoderich sie als fertiggestellt bezeichnee l4 • Weitere Belege für eine frühere Reise des Johannes ist die Tatsache, daß er eine Inschrift (Christus resurgens) und das Ciborium über dem Altar Ad Sanctum Sepulcrum in der Grabeskirche als silbern beschreibt 215 , während Theoderich sie als vergoldet bezeichnet2 16 • Es ist durchaus denkbar, daß die vom byzantinischen Kaiser Manuel Komnenos in Auftrag gegebenen Renovierungsarbeiten in der Zeit zwischen den beiden Reisen stattgefun206 R. B. C. Huygens (Hg.), Peregrinationes Tres. Saewulf, John of Würzburg, Theodericus. (Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis 139). Tumhout 1994. S. 29f., Anm. 27. Falls nicht anders angemerkt, beziehen sich alle Zitate auf diese Ausgabe. 207 Johannes Trithemius, De viris illustribus aSB, Buch 11, Kapitel 86, S. 48 in: Ioannis Trithemii ... abbatis eruditissimi opera pia et spiritualia quotquot vel olim typis expressa vel MSS reperiri potuerunt. Johannes Busaeus Mainz 1605. Huygens loc. cit. Anm. 27, S. 29 f. 208 Theodericus Libellus de locis sanctis. Hg. von M. L. und W. Bulst. Heidelberg 1976. S. 6. 209 S. 154, Z. 375 f. 210 S.189, Z.1412. 211 S. 190, Z. 1440-1443. Hec a modernis Belina appelatur, quam anno incarnationis [. ..] millesimo centesimo LXIII pagani Christianis eripientes sua in ea presidie locaverunt. 212 Vgl. Huygens, loc. cit., S. 26. 213 Johannes: nondum ... consummatae (S.135, Z.1371), Theoderich: novam condunt ecclesiam (S. 165, Z. 706-707). 214 S. 187, Z. 1360: ecclesia [. ..] exstructa. 215 Ciborium: S.121, Z.1058. Inschrift: S.122, Z.1084. 216 Ciborium: S.149, Z.191. Inschrift S.148, Z.182.

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den haben. Ein letztes Indiz ist die Erlöserkirche im Garten Gethsemane - dort, so Theoderich, werde noch eine zweite Kirche errichtet 217 , die Johannes nicht erwähnt - mit deren Bau also, so können wir schließen, zur Zeit von Johannes' Reise noch nicht begonnen worden war. Rätsel gibt in diesem Kontext allerdings die Nennung einer von Theoderich so bezeichneten "neuen Kirche auf dem Ölberg" auf, die noch gebaut werde 218 • Johannes hingegen nennt an dieser Stelle eine capella cum caverna 219 , kennt ihren Namen: aecclesia Salvatoris und weist auf die darin befindlichen Steine hin, auf denen Jesus beim Beten kniete 220. Es ist durchaus möglich, dies als einen Hinweis auf eine Renovierung oder Vergrößerung der kleinen Kapelle zu werten, doch bleibt hier eine Ungewißheit bestehen. Verschiedene textinterne Hinweise ermöglichen eine noch etwas genauere Datierung. Theoderich war, so schreibt er, am Palmsonntag in Jerusalem, denn an diesem Tag beerdigte er auf dem Blutacker einen Mitreisenden 221 • Am Tag darauf222 war er in Jericho, in dessen Oase er zu seinem Erstaunen reife Gerste bemerkt. Dies deutet darauf hin, daß der Ostertermin in dem Jahr relativ spät gefallen sein muß, wofür die Jahre 1172 (16. April) oder 1169 (20. April) in Frage kommen. Huygens plädiert (gegen Tobler, der diese Beschreibung in die Zeit zwischen 1171 und 1173 setze23 ) für eine Datierung auf 1169 224 und näher an Johannes' Bericht, da beide von der noch nicht fertiggestellten Kirche der Templer schreiben. Später datiert er im kritischen Apparat ganz genau: am 14. April 1169 war Theodericus in Jericho 225 • Theoderichs Reise war in jedem Fall nicht von Müßiggang geprägt: fünf Tage nach seinem Besuch in Jericho - also am Karsamstag - ist er wieder in Jerusalem, wo er die Osternacht feiert und das österliche Feuerwunder226 anschaulich beschreibt. Schon am Mittwoch nach Ostern ist er nach Akkon zurückgekehrt, um mit demselben Schiff, mit dem er gekommen war, wieder in die Heimat zurück zu reisen 227 . In bezug auf Theoderichs Herkunft sind zwei Textstellen von besonderem Interesse. Zum einen ist es die Erwähnung, daß der auf der Reise verstorbene und von ihm beerdigte Gefährte Adolf aus Köln stammt 228 • Zum anderen ist es der Vergleich nova nunc edijicatur ecclesia, 895-897. S. 171, Z. 896: in quo loco nova nunc edificatur ecclesia. 219 S. 114, Z. 870. 220 S.114f., Z. 874ff. 221 S. 147, Z. 125. 222 S. 175, Z. 1012: maturum vero ordeum secunda Palmarumferia ibi perspeximus. 223 Titus Tobler, Theoderici Libellus de locis sanctis, editus ca. A.D.II72. Nach handschriften mit bemerkungen herausgegeben von T. T. St. Gallen/paris 1865. Vorläufer zu den Noten zu Theodericus. S. - siehe Stewart, übersetzte Einleitung, S. viii. 224 Huygens, loc. cit., S. 28. 225 S. 175, Anm. zu Z. 1012. 226 S. 152, Z. 289 ff. 227 S. 186, Z. 1320ff. 228 S. 147, Z. 125 f. 217

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2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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der Rotunde in der Grabeskirche mit der des Aachener Münsters, die Theoderich also gekannt haben muß. Mit Bulst ist daher anzunehmen, "daß er aus dem Westen des Reichs kam"229.

b) Die Quellen des Theodericus Wie Johannes läßt sich auch Theoderich von der Beschreibung des Rorgo Fretellus anregen. Doch zitiert er ihn in geringerem Maße als Johannes (laut Huygens stammt gut über ein Viertel seines Textes aus dieser Vorlage)230. Weitere Quellen sind Eugesippus 23I , ein Anonymus latinus 232 sowie der von Wilhelm Anton Neumann herausgegebene Innominatus VI 233 • Alle vier gehen, so Bulst in ihrer Einleitung zum Theoderich 234, auf das von Tobler angenommene "alte Compendium" zurück. Theoderich gibt durchaus an, wo er zitiert - vor allem, so gewinnt man den Eindruck, wenn er sich selbst nicht mehr ganz sicher ist. Für die problematische Aussage, Jerusalem befinde sich auf dem höchsten Punkt des Gebirges Judäa, führt er 235 gleich zwei Gewährsleute an: quod Iosephus 236 atque Ieronimus 237 attestantur. Er kennt Hieronymus' De situ et nominibus locorum Hebraicorum 238 (De distantiis 10corum), und zitiert den Kirchenvater in bezug auf die Eiche bei Mamre 239 •

c) Die Beschreibung der heiligen Orte Theodericus hat sein Werk in der Art eines geographischen Lehrbuches aufgebaut, obwohl dies - ausweislich seiner unten behandelten Vorrede an den Lesermitnichten seine ausschließliche Intention ist. Er beginnt mit einem geographischen Abriß über das Land Kanaan, das allen Bibellesem bekannt sei und sich in die drei Provinzen Judäa, Samaria und Galiläa teile. Der Abschnitt 11 befaßt sich mit Judäa, Bulst, loc. cit., S. 6. Huygens, loc. cit., S. 19. 231 Eugesippus. Tractatus de distantiis locorum terrae sanctae quem compilavit Eugesippus MLX. In: Leonis Allatii Symmikta sive opuscula Graeca et Latina. Venetia 1733. 232 Nach Bulst. S. 6 f. von de Vogüe herausgegeben, jedoch finden sich keine näheren Angaben im Literaturverzeichnis und eine Ausgabe durch De Vogüe war nicht zu ermitteln. 233 Wilhelm Anton Neumann, Drei mittelalterliche Pilgerschriften. 11. Innominatus VI (Pseudo-Beda). In: Österreichische Vierteljahrsschrift für katholische Theologie 7 (1868) S.397-438. 234 loc. cit., S. 7. 235 S. 145, Z. 60f. 236 Antiquitates 5, 78 (Loeb). 237 Epistola 46,3, eSEL 54, S. 332, 20-21: urbs cuncta sublimior est ludaea. 238 PL 23, 907 A. 239 S.181, Z.1176. 229 230

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das Theodericus mit Augen und mit Ohren (was wohl heißen soll: durch die Berichte anderer) kennengelernt hat. Dessen Hauptstadt ist Jerusalem, das so in der besonders fruchtbaren Provinz liege wie das Auge im Kopf, und aus dem Gnade, Erlösung und Leben flössen 240 . Die judäischen Weinstöcke, Oliven- und Feigenbäume hat Theoderich auf den Bergen und Hügeln selbst gesehen, betont er 241 . Die Stadt befindet sich auf dem höchsten Punkt des Gebirges, das zu den Grenzen hin abflache, ja sie liege auf der Spitze eines Berges 242 . Diese Auskunft führt natürlich zu Schwierigkeiten, wenn man sie mit dem Psalmwort zusammenbringen will: "Wie um Jerusalem Berge sind"243, und so rettet sich Theodericus anschließend in die Aussage, die Stadt sei eben in sich hügelig (colliculosa). Denn es gilt, den Berg Moria mit dem Templum Domini vom Ölberg (der höher sei als alle anderen 244 !) zu unterscheiden, und dann - wie so viele Pilger seiner Zeit - sich der Stadt vom Freudenberg aus zu nähern. Dies tut Theoderich und kommt durch das Kidrontal, am Grab des Josaphat vorbei 245 zum Außenwerk. Hier hält er inne und beschreibt zunächst das Aussehen der Stadt in großem Detail, was verrät, daß er auch anderes als die heiligen Stätten wahrgenommen hat. Ähnlich liebevoll beschreibt er den Davidsturm, um dann über den Berg Zion zum Blutacker zu kommen. Dort, so bemerkt er fast nebenbei, hat er einen Reisegefährten aus Köln namens Adolf beerdigt (etiam in die sancto Palmarum quendamfratrem nos trum defunctum nomine Adolfum, de Colonie natum, sepelevimus)246, und bietet uns damit die eine mögliche Vermutung über seine Person: die Tatsache, daß er als Priester geweiht sein könnte. Der Gebrauch des Verbums in der I. Person Plural ist nicht eindeutig genug, um hier einen gänzlich klaren Schluß zuzulassen. Einige andere Stätten um den Berg Gihon herum veranlassen ihn zu einem archäologischen Exkurs. Danach macht sich Theoderich an sein eigentliches Werk: von den Orten zu erzählen, deretwegen die Stadt ,heilig' genannt werde 247 . Die erste dieser Stätten ist die Grabeskirche und in ihr das Grab Christi. Er beschreibt es in allen Details, wobei er allerdings (Fretellus folgend!) den Stein des Engels als den Ort bezeichnet, an dem Joseph und Nikodemus den Leichnam Christi ablegten 248 . Interessanterweise gibt er an, daß er diese Information aus einer Quelle bezogen habe; aus der vorsichtigen Formulierung ubi corpus dominicum [... ] positum fuisse [... ] narratur könnte man eine gewisse Distanzierung von ihr heraushören. Umso ge240 Dieses Bild wiederholt sich noch einmal: Der Kalvarienberg ist in der Grabeskirche genauso charakterisiert. S.155, Z. 384. 241 S. 144, Z. 58/59: Yidimus - aspeximus. 242 S. 145, Z. 60: in montium summa eminentia. 243 Ps. 125, 2. 244 S. 145, Z. 73. 245 Siehe Hoade, S. 216. 246 S.147, Z.125f. 247 S. 147, Z. 136: Restat ergo ut de locis sanctis, propter que ipsa ciYitas ,saneta' yocatur, disseramus. 248 S. 147, Z. 152. Tobler bemerkt im Anmerkungsteil seiner Ausgabe, S. 177: "Diese sage liebte den Wandel."

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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nauer sind seine Angaben über das Grab 249. Weniger genau ist die Angabe über in der Rotunde befindliche Säulen 25o , doch kann dies auch ein Schreiberfehler sein, liegen doch zwischen Niederschrift und Abschrift fast drei Jahrhunderte. Voller Bewunderung berichtet er von den schönen Mosaiken, gibt die Inschriften wieder, sofern sie lateinisch sind, und lobt die hervorragende Arbeit der Franzosen bei der Errichtung des Domherrenchors. Auch auf den Gesang der Chorherren geht er ebenso ein wie auf deren Präbenden - sie erhielten die eine Hälfte der Einnahmen des Heiligen Grabes, während der Patriarch die andere bekäme 251 • Von dort kommen wir zum Hochaltar, der laut Theoderich jedoch nicht dem Heiligen Grab geweiht ist, wie bei Johannes berichtet 252 , sondern nomini et honori domini Salvatoris attitulatum 253 Es muß sich jedoch um denselben Altar handeln, da das dahinter beschriebene Mosaik: Christus als Bezwinger des Todes von beiden geschildert wird. Er nennt noch einige altariola und die in der Grabeskirche feiernden nationes Christianorum und kommt dann auf ein ihn besonders interessierendes Thema: das Wunder des Heiligen Feuers in der Osternacht, dem er das Kapitel VIII seines Textes widmet. Theoderich hat dieses Feuer selbst erlebt und beschreibt auf das Bewegendste die "große und unruhige Erwartung" der Anwesenden, die "nicht ohne Tränen" immer wieder "Gott hilf!" oder "Jerusalem: Heiliges Grab" ausriefen 254 • Er beschreibt die und geht auf die Eigenwilligkeit des Feuers ein: Es erscheine wann und wo es wolle. Ihm selbst wurde allerdings zuteil, das Feuer genau um die neunte Stunde in der Grabeskirche in den Lampen erscheinen zu sehen 255 •

Im folgenden scheint Theodericus einen eher zügig durchgeführten Rundgang durch die Kirche zu referieren. Er nennt die einzelnen Kapellen, wobei er darauf achtet, anzugeben, in wessen Obhut sie stehen: que sub Surianorum custodia consistit 256 , führt verschiedene Altäre auf, geht durch den Chorumgang der , um dann zur Helenakapelle, zur Kreuzfindungskapelle, der Kapelle der Verspottung und zu den fünf Gräbern der fränkischen Könige zu gelangen 257 • Von dort schreitet er - über die Kapelle Johannes' des Täufers - zum Kalvarienberg. Er beschreibt die Ausstattung der Kapelle mit größter Sorgfalt. Anders als Johannes von Würzburg nennt er nur den Ort mit dem kopfgroßen Loch im Boden als den Standort des Kreuzes und berichtet - dies im übrigen als einzige Quelle S. 148, Z. 175f. zweieinhalb Fuß breit, eine Elle und einen Fuß lang. Er nennt sechzehn, Johannes von Würzburg hingegen berichtet von acht, was dann stimmt, wenn man die beiden anders gestalteten Säulen neben den südlichen und westlichen Stützpfeilern ausnimmt, siehe Hoade , Grundriß der Grabeskirche S. 128 und Jonathan RileySmith, GroBer Bildatlas der Kreuzzüge. Freiburg/Basel/Wien 1992. S.46f. 25 1 S.151 , Z. 254. 252 S. 122, Z.1075ff. 253 S. 151, Z.256. 254 S. 152, Z. 295 ff. 255 S. 152, Z. 31O. 256 S. 153, Z. 323. 257 S. 154, Z. 362 ff. 249

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daß Pilger ihren Kopf und ihr Gesicht in diese Aushöhlung hineinpreßten 258 • Auch die Tatsache, daß die von Pilgern mitgebrachten Kreuze oben in der Kapelle abgelegt und am Karsamstag von den Wächtern verbrannt werden, erwähnt lediglich er 259 . Über die Golgathakapelle klagt er, sie sei zu dunkel, berichtet aber dennoch von einer (goldenen) Inschrift. Die nachfolgend aufgeführte Inscriptio gehört inhaltlich zum Templum Domini (Darstellung Mariens) und ist somit als ein Schreiberfehler zu betrachten - darin sind sich Bulst 260 und Huygens 261 mit Tobler durchaus einig, der in seiner Ausgabe die Inschrift kommentarlos an ihren rechten Platz rückte. Rasch führt Theodericus nun seinen Leser an verschiedenen Kapellen und einer Säulenarkade vorbei zur Johanniskirche und zum angeschlossenen Hospital. Auch er ist begeistert von den zur Fürsorge für die Armen und zum Unterhalt der Bedürftigen unternommenen Anstrengungen und fürchtet, er könne sie mit Worten niemandem glaubhaft machen, der dies alles nicht mit eigenen Augen gesehen habe 262 . Allerdings nennt er die Anlage einen Palast 263 und verweist mit deutlichen Worten auf die Macht der Johanniter und der Templer, die auf Grund ihrer umfangreichen Besitzungen in Judäa größer als die eines jeden Königs oder Tyrannen sei 264 . Wie Johannes von Würzburg erwähnt Theodericus auf dem Weg zum Templum Domini zwei Maria geweihte Kirchen, die er sehr detailliert beschreibt und in denen wir S. Maria Maior und S. Maria Latina wiedererkennen 265 . Auf derselben Straße wie Johannes von Würzburg (nämlich der heutigen King David Street) führt Theodericus uns zum Tempelberg, auf den wir durch die Porta Speciosa: das Kettentor treten. Ein von ihm genanntes großes Bassin, in dem die Opfertiere gewaschen worden sein sollen, stiftet Verwirrung: Theoderich vermutet, die dorthin führenden Leitungen kämen von der Grabeskirche und durch diese gelange das österliche Feuer auf den Tempelberg. Ähnlich unsicher ist unser Verfasser in bezug auf ein am Kettentor befindliches Grab "irgendeines reichen Mannes"266. Theodericus nennt einige kleinere Bauwerke des Haram, bei denen er sich nur kurz aufhält. Doch ist von besonderem Interesse die nur kurz erwähnte Schule der Jungfrau Maria: zwei Häuschen seien zu sehen, quarum una {...] scola dicitur fuisS. 155, Z.408. S.155, Z.4l4ff. 260 S. 63, Anm. 7. 261 S. 156, App. 262 S. 157, Z.466. 263 S. 157, Z. 472. 264 S. 158, Z.475. 265 S.158, Z.482ff. Vgl. hierzu die Ausführungen von Tobler, Ausgabe, S.186-191; Bulst, loc. cit., S. 63, Anm. 2. Diese Kirchen mit ihren Klöstern stehen nicht mehr. 266 S.159, Z.518. Am Kettentor sind heutzutage allerdings zwei Gräber (Hussein I. von Arabien und Mohammed Ali, der indische Muslimenführer) zu besichtigen; möglicherweise stehen sie in der Tradition dieses Reichen. 258

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2. Theoderieus, Libellus de Locis Sanctis

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se beate Marie 267 • Diese Auskunft ist - aus unerfindlichen Gründen - erst wieder im fünfzehnten Jahrhundert bei Felix Faber und Amold von Harff zu finden. Von diesen kleinen Gebäuden aus geht Theodericus zum Templum Domini selbst. Er nennt dieselben Inschriftstafeln an den Wänden wie Johannes von Würzburg, wenn auch in anderer Reihenfolge, und vermerkt dann für den Nikolausaltar Inschriften, die nach Huygens' Vermutung die Daten verschiedener Restaurierungen wiedergeben könnten 268 . Doch nimmt Wunder, daß der Tempel des Herrn nach Auskunft Theodericus' Maria geweiht sein soll. Diese Äußerung hat in späterer Zeit Folgen gezeitigt, denn H. Busse bemerkt 1982 wohl auf deren Grundlage, das Templum Domini sei in der Kreuzfahrerzeit im wesentlichen als Marienkirche betrachtet worden 269 . Dagegen wendet sich Syfvia Schein, die zu Recht darauf hinweist, daß ein solcher Schluß auf der Grundlage einer einzigen Quelle nicht akzeptabel sei 270 • Die Auskunft, der Felsendom sei auf Veranlassung der byzantinischen Kaiserin Helena gebaut worden27 1, die Theodericus am Anfang und am Ende 272 der Chronologie der Zerstörungen und Wiederaufbauten des Tempels gibt, geht möglicherweise auf die gereimte Geschichte des Felsendoms zurück, die der Prior des Templum Domini von 1118-1131, Achard von Arrouaise, verfaßte 273 • Dies entspricht im übrigen den auch bei Johannes von Würzburg auszumachenden Bestrebungen, eine größtmögliche Kontinuität in der christlichen Belegung des Tempels zu postulieren. Überraschenderweise finden wir im Templum Domini den Mittelpunkt der Erde wieder und auch den Ort, an dem Jakob die Himmelsleiter sah, nämlich am Felsen selbst. Daß Theodericus diesen überhaupt bemerkt hat, geht nur aus dieser Zuschreibung hervor. Daß der angeblich in uno remotus cubito gelegene Ort der Vision des Jakob wirklich der Fels ist, macht die daran angebrachte Inschrift deutlich, die mit der von Johannes berichteten vergleichbar ist 274 • Bufst begründen 275 die Ungenauigkeit in der Darstellung damit, daß der Fels mit Marmor verkleidet worden war, dennoch ist die lieblose Behandlung des Allerheiligsten merkwürdig. Theodericus wendet sich dem Palast Sa10mos, der Al Aqsä-Moschee zu, deren Grundriß er er als den einer Basilika bezeichnet 276 • Bei ihm seien die Ritter des Templerordens, die das Heilige Land unermüdlich 277 bewachten, ansässig. Die GeS. 159, Z. 526 f. Huygens, loe. cit., S. 26f. Durch einen Druckfehler ist dieser Altar als in der "Church of the Holy Sepulcre" befindlich angegeben. 269 H. Busse, loc. eit., S. 270 Sylvia Schein, loc. cit., S. 178 und Anm. 11. 271 S. 163, Z. 639ff. 272 S. 164, Z. 677 f. 273 Acardus de Arroasia, Tractatus super Templo Salomonis. In: Corona Quernea, Festgabe für Karl Strecker (= Schriften der MGH 6). Hg. von P. Lehman. Leipzig 1941. S. 329. 274 S. 162, Z. 605. JW: S. 90, Z. 291 f. 275 S. 65, Anm.9. 276 S. 164, Z. 684: ecclesie est Jormatum. 277 S. 164, Z. 688: ad custodiendam ... semper invigilant. 267 268

5 v. Samson-Himmelstjema

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

bäude seien von einer solch riesigen Größe, daß es der Hörer kaum glauben könnte, wenn er es in Worte fassen würde 278 • Ihre schier unendlichen Besitzungen, so der Autor, ermöglichen den Templern und Johannitern große Macht. Der Autor verläßt den Tempelberg im Norden und geht zum Haus Simeons des Gerechten, in dem die Wiege Christi verehrt wird. Der Teich Siloah veranlaßt ihn zu einer Auseinandersetzung mit dessen Quelle, um dann noch einmal- fast abschließend - einen Überblick über die Lage der Stadt zu geben: dieser Teich habe einmal mitten in der Stadt gelegen, nun aber - da die meisten Menschen um die Grabeskirche herum wohnten -liege er außerhalb 279 • Dies entspricht der städtebaulichen Entwicklung Jerusalems nach seiner Einnahme durch die Kreuzfahrer 280 • Abrupt unterbricht Theodericus seinen Erzählgang: fortan will er die Reihenfolge seines Berichts an der Passion Christi ausrichten - um, so wiederholt er, seinen Lesern die Teilhabe am Himmelreich zu erleichtern 281 • Dieses Vorhaben führt dazu, daß sie Jerusalem verlassen und Bethania sehen wie auch Bethphage, wo Jesus für seinen Einzug in die Stadt eine Eselin holen ließ. Doch schon geht es zurück nach Jerusalern, wo Christus durch die sich wundersam allein öffnende Porta Aurea einzog 282 • Es folgt eine Beschreibung der Gefängniskapelle Petri und dann eine der Tradition entsprechende Darstellung des Berges Zion, auf dem Maria gestorben ist, das letzte Abendmahl stattgefunden hat, die Fußwaschung in der Krypta, der Ort, wo Jesus dem zweifelnden Thomas erschien, das Stephansgrab. Interessant ist der Hinweis auf eine vor dem Chor befindliche marmorne Säule, um die die simplices homines herumzugehen pflegten 283 • Von der Beschreibung des Berges Zion geht er über zum Garten Gethsemane und zum Grab Mariens, an dem er die Legende des Juden berichtet, dem die Hände verdorrten, als er das Tuch von der Bahre der Toten ziehen wollte 284 • Anscheinend ist Theodericus von dieser Legende so sehr in Anspruch genommen, daß er zum Garten Gethsemane in südliche Richtung gehen will, obwohl dieser in nord-nord-östlicher Richtung liegt. Dort findet sich die bereits erwähnte, in der Beschreibung des Theodericus noch im Bau befindliche Kirche, die Johannes schon als fertiggestellte aecclesia Salvatoris kennt, und ein Handabdruck Christi - allerdings mit sechs Druckstellen 285 • Wie es dazu gekommen sein könnte, erklärt Theodericus nicht. Die nächste Station ist das Haus des Kaiphas, das Theodericus wie in mittelalterlichen Quellen üblich 286 mit dem Prätorium zusammenlegt. Er schildert die Säule, 278 279 280 281 282 283

284 285 286

S. 165, Z. 703 f. A. 167, Z. 756ff. Vgl. Schein, loe.eit., S.179. S.167, Z.761. Diese Legende "ist sonst nicht bekannt", so Rulst, Anm. 2 zu Kapitel XX, S. 66. S. 169, Z. 827. Siehe Jaeobus de Voragine, Legenda aurea. S.587. S. 171, Z. 894. Vgl. hierzu Tobler, Ausgabe, S. 200f.

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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an der Christus gemartert wurde, nennt eine vor der Kirche befindliche Inschrift über die Marterung und geht dann zur nahegelegenen Kirche "Galiläa". Da er ihren eigentlichen Namen - Gallicantus - nicht erwähnt, möchte man Theodericus fast zu denjenigen rechnen, die die Bezeichnung nur vulgariter kennen, wie es Johannes von Würzburg schreibt 287 , wäre da nicht seine sehr lebendige Beschreibung der Kirche um den Ort, an dem Petrus sich nach der Verleugnung Christi versteckte. Erstaunlich ist, daß er von zwei Gliedern einer Kette berichtet288, die dort verehrt würden und sich ganz offensichtlich auf Petri spätere Gefangenschaft beziehen, und ebenso erstaunlich ist, daß nach ihm die Armenier den Ort bewachen - bei Johannes von Würzburg war die Kirche in Händen griechischer Mönche 289. An dieser Stelle unterbricht Theodericus seine Beschreibung mit einer Anrede an den Leser, in der er ihn über das weitere Verfahren unterrichtet. Er führt ihn dann in Richtung des Stephanstors, also noch einmal zum Grab des Pilatus, zum Mariengrab und zum Teich Bethesda, um dann auf die westliche Seite der Stadt zu gehen, wo sich das Hospital für die Aussätzigen befindet. Die nahegelegene Zisterne der Johanniter scheint dem Autor identisch zu sein mit dem lacus Legerii des LazarusHospitals 290. Er kehrt daraufhin wieder um, geht nach Norden zum Damaskustor und beschreibt die dort gelegene Stephanskirche, die im Besitz des Klosters S. Maria Latina sei 291 . Das Hospiz am Damaskustor erwähnt er ebenso wie die Kirche "eines gewissen Heiligen namens Karithon", die in der Obhut armenischer 292 (bei Johannes von Würzburg: syrischer 293 ) Mönche sei. Merkwürdig ist die Einleitung Post hec, mit der er die Beschreibung des Ölbergs beginnt - es wird wohl ein gedanklicher Anschluß an den Tod Christi sein. Dort jedenfalls sind die Orte, an denen die Himmelfahrt Christi stattfand, und Theodericus gibt eine detallierte Beschreibung der Kirche und des Steins. Auf dem Weg vom Berg herab zeigt er die Pater-noster-Kirche, in der sich unter dem Altar ein Autograph Christi befinden soll, das die Pilger küssen können 294 . Diese Überlieferung ist bei keinem anderen Autor zu finden. Hier endet die Beschreibung Jerusalems. Theodericus führt seine Leser dann nach Bethania in das dortige St. Lazarus-Kloster, in dem Nonnen unter einer Äbtissin (gemeint ist Yveta, die von ihm bereits erwähnte Tochter Balduins 11. und Schwester Me1isendis')295 ihr Ordens leben führen. S. 116, Z. 914. S. 172, Z. 921. 289 S. 116, Z. 921. 290 Siehe Bulst, S. 69, Anm. 5 zu Kap. XXVI. 291 Wie dies auch von Papst Hadrian IV 1158 bestätigt wurde, siehe Regesta Regni Hierosolymitani (MXCVII - MCCXCI), ed. R. Röhricht. Oeniponti 1893. nr. 331 und Bulst, S. 69, Anm. 7 zu Kap. XXVI. 292 S. 173, Z. 960. 293 S. 137, Z. 1434. 294 S. 174, Z. 987. Vgl. Hoade, S. 264ff. 295 S. 174, Z.999. Vgl. Mayer, S.86. 287 288

S*

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

"Gar merkwürdig"296 ist es, daß er Joseph in eine cisterna rubea in der Nähe von Jericho werfen läßt, doch folgt er hier seiner Quelle Fretellus 297- anders als Johannes von Würzburg und die sonstige Überlieferung, die diesen Ort in Dothain 298 sehen. Auch im weiteren steht unser Autor allein, als er eine bei Jericho gelegene Templerburg beschreibt. Diese setzt Tobler vorsichtig mit Maledoin gleich 299 , doch ist darüber keine letzte Sicherheit zu erlangen. Die als Garten Abrahams 3°O bezeichnete Oase wird als riesiges Gelände bezeichnet, dessen Grenzen wohl der Wadi Qelt darstellt 30I . Von dort steigt die Pilgergesellschaft zum Berg der Versuchung auf. Theoderich betont die Beschwerlichkeit dieses Weges: Auf allen vieren habe man manchmal kriechen müssen. Oben angekommen, nennt er nicht nur die Marienkapelle, einen Kreuzaltar, das Grab des heiligen Pelligrinus, sondern auch den Stein, den die Legende als den Sitz des Teufels während der Versuchungsszene bezeichnet. Doch hat Theodericus auch Sinn für den schönen Blick ins Umland. N ach einem Gebet am Jordan in einer riesigen Menge von Mitpilgern (60.000 seien es gewesen, und eine noch größere Gruppe sei kürzlich nach Jerusalem zUTÜckgekehrt 302) führt er uns zu der Stelle, an der Jesus getauft wurde. Auf Grund eines Überfalls auf sechs Mönche durch den Fürsten Zenghi stünde dort jetzt ein starkes Fort der Templer, das auch die fruchtbare Ebene bei Jericho schützen solle. Die dort wachsenden Rosen und Weintrauben erwähnt er insbesondere und verweist darauf, daß dieses Gebiet der Rechtsprechung des Lazarusklosters in Bethanien unterworfen sei. Damit meint er das Geschenk der Königin Melisendis an ihre Schwester Yveta, die ganze Stadt Jericho 303 . Ab dem Kapitel XXXI folgt Theodericus in stärkerem Maße als bisher seinen Vorlagen 304 . Das kann einer der Gründe sein, warum es ab dieser Stelle etwas durcheinander gerät. Genauso wie Johannes berichtet er über die Wüste der Kinder Israel und die Berge dort, wobei er wie dieser die Burg Montroyal in eine Reihe mit ihnen stellt 305 - doch dann ist er schon wieder in Jerusalem und tritt aus dem Tor am Davidsturm heraus, um durch das Tal Hinnom zu gehen, verweist auf das "Feld der grauen Erbsen" und dessen Entstehung dadurch, daß die simplices peregrini 306 dort Steine hinabwerfen, um dann zum Grab der Rachel zu gelangen. Von dort ist der Weg nicht weit nach Bethlehem, der gloriosa civitas 307 , eine etwas überschwengliche Be296

Tob/er, S. 206.

297 c. 71,1-5 . 29& S. 83, Z. 104-105. 299

300 301 302

303 304 305 306

307

S. 206. S. 176, Z. 1055. S.175. Z.IOO6. S. 177 ,. Z 1065 ff. S. 178, Z. 1085. Vgl. Mayer, S. 86. Bu/st: "Das im Folgenden Beschriebene hat Th. nicht gesehen", S. 70, vgl. Tobler S. 209 f. S. 178, Z. 1099ff. S. 179, Z. 1122. S. 179 Z. 1128.

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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zeichnung für die Stadt des Brotes, die er ausführlich beschreibt. Er verlegt das Grab des Joseph von Arimathia hierher, das allgemein in der Grabeskirche gesehen wird, berichtet vom Altar in der Geburtskrypta, in dessen Mauer ebenfalls drei Löcher es den Pilgern ermöglichen, diesen zu küssen 308 , nennt das Grab des Hieronymus und geht auf zwei Ereignisse um die Geburt Christi ein (die Heiligen Drei Könige, die dem Stern folgten, und die Verkündigung des Engels an die Schafhirten). Von dort führt Theodericus seine Leser nach Hebron, dessen hebräischen Namen Kariatharbe er als ältere Bezeichnung (Cariatharbe olim vocabatur 309 ) erwähnt. Wie Johannes und Fretellus vor ihm nennt er die Gräber von Adam, Abraham, Isaak und Jakob mit ihren Frauen Eva, Sara, Rebekka und Lea, die Höhle Mamre, die rote Erde in der Nähe der Stadt, die Eiche dirps, deren Bezeichnung wohl ein mißglückter Versuch ist, den arabischen Begriff dulbun bzw. das syroaramäische dulbä wiederzugeben 3!O. Die Legende über die besonderen Heilkräfte der Wurzeln dieses Baumes wiederholt er ebenso wie die Beschreibung des Toten Meeres. Für seine Aussage, jedes Jahr träten Steine und Holz et aliae materiae 311 zur Mahnung an den Niedergang der Städte Sodom, Gomorrha, Seboin und Adama an die Oberfläche des lacus Aspaltidis findet sich keine Quelle, wie auch für seinen Bericht über die zur Salzsäule erstarrte Frau Lots, die mit zunehmendem und abnehmendem Mond wachse bzw. schrumpfe 3 12 Alle anderen Angaben über das so vielfach verwendbare Bitumen, die Stadt Karnain und den Berg der Moabiter sind aus Fretellus entnommen. Im Kapitel XXXVI, das Theodericus offenbar ohne Rekurs auf eine Vorlage geschrieben hat 3I3 , findet sich eine Liste der Küstenstädte, die ausgerechnet mit Gaza beginnt, dann aber richtig mit Askalon und Jaffa fortgeführt wird. Es folgen Angaben über Arimathia, die Heimatstadt Josephs, sowie über das Feld Habakuk. Dann führt Theodericus seine Leser erneut in Richtung Jerusalem, um in aller Ausführlichkeit das Carnarium leonis zu beschreiben, das auch Johannes von Würzburg 314 kurz erwähnt und das in den Quellen beider Texte zu finden ist 315 , wenn auch nicht in dieser Blutrünstigkeit. Von dort führt er den Leser zum Kreuzkloster, in der Obhut der Surianen, wo König Salomo den Baum als passend hatte schneiden lassen, der bis zur Kreuzigung Christi dort aufgehoben worden war 316 • Für diese Legende hat Theodericus keine Vorlage. Von dort geht man nach St. Jean de Bois, das Theodericus Silvestris nennt 317 und wo Zacharias und Elisabeth wohnten. Vom Berg Modin berichtet er, 308

309 310 311 312

313 314

315 316 317

s. 180, Z. 1145.

S. 180, Z. 1163. S. 181, Z. 1176. Vgl. Stewart, S. 53, Anm.1 und Bu/st, Anm. 5 zu Kap. XXXIV S. 72. S. 181, Z.1196. S.182, Z. 1201. Vgl. Bu/st S. 73, Anm. zum Kapitel. S. 108, Z.697. Fretellus c. 68, Z. 4, Eugesippus S. 7. S.183, Z. 1250ff. S. 184, Z. 1257.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

dieser würde a modernis Belmont genannt - gemeint ist damit wohl das so bezeichnete castrum der Kreuzfahrer, das allerdings nicht auf diesem Berg liegt. Es folgen weitere Befestigungen und Berge: Emmaus, die Berge von Sophim, Ramatha (das er mit Rames/Ramla verwechselt 318 ), Silo mit der Bundeslade. Deren Geschichte referiert er ausführlich, wobei er allerdings die Orte, an denen sie aufbewahrt worden sein soll bzw. von wo aus Rettungsfeldzüge aufbrachen, ein wenig durcheinander bringt 319 • Auf sichererem Terrain bewegt er sich, wenn er berichtet, daß die Zisterzensier (congregatio monastice professionis, qui Grisi appelatur 320 ) in Silo wirkten, wo er das Grab des Propheten Samuel vermutet. Von Lydda geht Theoderich über eine "schöne und angenehme Ebene"321 in Richtung Akkon, wobei er Caesaraea Palaestinae und den Berg mit der Stadt "Caipha", an dem die Silberlinge des Judas gefertigt worden sein sollen 322 , erwähnt. Das castellum novum ungefähr fünf Kilometer vor Akkon ist ihm nur eine kurze Erwähnung wert, sehr viel mehr weiß er über die Gefahren zu berichten, die denjenigen Schiffen drohen, die im Hafen der Stadt anlegen wollen - die Wogen seien riesige Massen, die auf die Küste eindonnerten 323 • In Akkon hießen sowohl ein Templerhospiz als auch ein Haus der Johanniter die Ankommenden willkommen. Die Burgen dieser Orden säumten auch die Straße von Jerusalern an die Küste. Diese ausführliche Beschreibung ist David Jacoby zufolge ein Beleg für die Anziehungskraft der Stadt für Pilger, die insbesondere durch die Steuerfreiheit von mitgebrachten Gütern gesteigert wurde 324 . Obwohl Theodericus schon Bezug nimmt auf den Hafen, auf die schier unglaubliche Zahl der darin befindlichen Schiffe (dreißig 325 , korrigiert Huygens die bei Tobler und Bulst zu lesenden achtzig 326), kehrt er noch einmal in die Nähe von Jerusalem zurück und beschreibt die nördlich davon gelegene kleine Kirche, von der aus man zum ersten Mal Jerusalem erblickt und wo die Pilger "von großer Freude erregt ihre Kreuze niederzulegen pflegen" 327. Dies ist Shu 'fat 328 (und nicht der Freudenberg), denn an derselben Straße liegt die a modernis so bezeichnete Große Mahumeria, deren alter Name Theodericus entfallen ist 329 . Von einem weiteren Ort aus (vermutlich St. Gilles) S. 184, Z. 1267. Vgl. Bu/st, Anm.1O zu Kap. XXXVIII, S. 74. 320 S. 185, Z. 1288f. Vgl. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte im Königreich Jerusalem, 1977, S.113. 321 S. 185, Z.1293. 322 Auch hierfür ist keine Quelle bekannt. 323 S. 185, Z. undarum ingentibus cumulis vehementer sese col/identibus. 324 David Jacoby, Pelerinage medieval et sanctuaires de Terre Sainte: La perspective venitienne. In: Ateneo Veneto. Atti e memeorie. Venedig 1986. S.27-58, hier S. 27. 325 S.186, Z.1321. 326 Tob/er, S. 91; Bu/st, S.43. 327 S.186, Z.1331. 328 Vgl. Hoade, S.529. 329 S. 186 Z. 1340 menti excidit. 318 319

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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sieht man den Davidstunn - "nicht ohne Seufzen"33o. Doch anstatt weiter nach Jerusalem zu gehen, führt der Autor seine Rezipienten weiter nach Nablus in Samarien und bemerkt die im Dienste 33l des Königs von Jerusalem, der Templer oder der Johanniter dort arbeitenden Araber. Die Stadt wird ganz im Stile seiner Vorlage Fretellus geschildert: ihre Lage, die Herkunft ihres Namens, die Ereignisse, die in ihr stattfanden (Jakobsbrunnen, Jerobeams zwei Kälber, Josephs Überreste). Es folgen Fretellus entnommene Beschreibungen der Stadt Samaria (auch Sebaste genannt; diese Identität kannte Johannes nicht) und mit der Johanneslegende verknüpfte Orte (Krypta für die Propheten Elisa und Abdias, zwischen denen Johannes begraben wurde), Ginaea, das Tal Megiddo, das Gebirge Gilboa, Bethsan. Nach der Beschreibung dieser alttestamentarischen Ereignisse geht Theoderich auf den See Genezareth ein und beschreibt die Ereignisse im Leben Christi, die dort stattfanden. Hier folgt Theodericus weiter Fretellus und trennt sich nur in der Nennung von Banyas und dessen Eroberung durch Nur ad-Din von ihm. Ein deutlicher Beleg für diese Kopiertätigkeit ist im übrigen die Fadheit, mit der auf die jeden Sommer in die Ebene kommenden Araber verwiesen wird 332 ; sie spricht im übrigen dafür, daß Theodericus im Frühjahr gereist ist - hätte er die genannten Menschenmassen selber gesehen, wäre da ein ganz anderer Text entstanden! Es folgen Beschreibungen von Bethsaida, Cedar, Chorazain, Kapemaum, des Sees Genezareth, TIberias, des Berges Thabor, Nain, En-Dor. In Nazareth, dem Ort der Verkündigung, trennt Theodericus sich wiederum von seiner Vorlage. Er beschreibt als einziger die dortige Marienkirche, die Bischofssitz ist. In ihr finde sich die Kapelle der Verkündigung, das Grab Josephs und schließlich der Ort, an dem Maria geboren wurde (siehe hierzu auch Johannes von Würzburg). Die Stadt genieße den besonderen Schutz Gottes - sobald die Heiden versuchten, sie einzunehmen, werden sie von Blindheit befallen. Theoderich erzählt eine bekannte Geschichte aus der Kindheit Jesu die er allerdings um ein nirgends sonst berichtetes Wunder erweitert: der Knabe habe, als seine Spielkameraden den Krug zerbrachen, das Wasser in seinem Gewande nach Hause gebracht 333 , doch wollte seine Mutter es nicht trinken: quod non satis honeste eam visus est detulisse. Fast als sei er ärgerlich (quasi indignans) habe Jesus das Wasser zu Boden geschüttet, und sofort sei dort ein Brunnen entsprungen. Mit der Beschreibung des Precipitium kehrt Theodericus wieder zu Fretellus zurück. Er verläßt ihn im folgenden nur, um auf Templerburgen und geographische Besonderheiten (Zielorte von Straßen) hinzuweisen. Sepphori, Kana Galileae, Akkon, Damaskus, Sueta, Theman, Antiochien, Tyrus. S. 186 Z. 1339. Stewart übersetzte: "under the safe-conduct", S. 61. Vgl. hierzu H. E. Mayer, Bistümer, Klöster und Stifte im Königreich Jerusalem, 1977. 332 S.191,Z.1452ff. 333 S.193, Z. 1522ff. Der erste Teil dieser Legende wird genauso von Bagatti, Antichi villaggi cristiani di Galilea, loc. cit., S. 36 -leider ohne Quellenangabe - berichtet. 330

331

IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

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Dann folgt eine Liste der Städte, die in der Gewalt der Christen sind: Die civitates maritime magne atque murate 334 Mamistra, Antiochia, Tripolis, das heutige Tursolt 33S ), Gibeleth, Baruth, dessen geographische Lage (eigentlich im Süden) uninteressanter ist als die Legende über die Juden, die ein Kreuz verspotteten und sich, als daraus heilendes Blut hervorfloß, taufen ließen. Theodericus hat dies von seinen Vorlagen übernommen, doch ist die Lebendigkeit seiner Darstellung sein eigen. Abschließend geht er noch auf Tyrus (Surs), dessen Befestigungen und Hafen ein, und nennt Kastel Imberti, Akkon, Jaffa, Gaza (!) und Askalon. Theodericus schließt seinen Bericht in der Hoffnung, daß die durch seine Beschreibung erlangte Kenntnis der Orte nun der Leser oder Hörer zur Liebe zu Jesus Christus anregen möge, ein Anliegen, das er auch in seiner Vorrede formuliert hatte.

d) Die besonderen Interessen des Theoderich Der Autor ist besonders an Geographie, militärischen Befestigungen, archäologischen Fakten, den alltäglichen Lebensbedingungen der Einwohner des Heiligen Landes und dessen Geschichte interessiert. So beginnt er seine Beschreibung von Jerusalem mit einem geographischen Überblick sozusagen aus der Vogelperspektive: Die Lage der Stadt mitten in Judäa ist eine erste Eingrenzung, doch dann kommt eine Auflistung weiterer Details. Die Stadt sei von länglicher Form mit fünf Ecken, deren eine transversus 336 sei - gemeint ist der westliche Knick am Davidsturm. Auch geologische Fragen erörtert er, z. B. die sich bei Fretellus findende Behauptung, der Teich Siloah werde von einer auf dem Berg Sil0 337 befindlichen Quelle gespeist. Dies kann in seinen Augen nicht wahr sein 338 , da verschiedene andere Berge dazwischen liegen und auch kein Tal die beiden miteinander direkt verbindet. Tatsächlich ist die auf dem Berg Gihon befindliche, noch heute stoßartig aufsprudelnde Quelle, wie Theodericus es beschreibt339 , im 8. bis 7. Jahrhundert vor Christus mit dem Siloah-Teich verbunden worden, nachzulesen in den Büchern der Könige 340 • Angesichts des großen geographischen Interesses sind zwei grobe Fehler erstaunlich. Gaza, so findet Theoderich, liegt nördlich von Hebron 341 und Beirut westlich der Küstenstädte 342 • In keinem der beiden Fälle hat er die gegenteiligen Angaben von Fretellus übernommen. 334 335 336 337 338 339 340

341 342

S. 195, Z.1573. Vgl. Wilbrand von Oldenburg, Peregrinatio I, XIX 1 für Tarsus, ed. Laurent, S. 176. S. 146, Z. 95. Mit diesem sonst nirgends genannten Berg meint er wahrscheinlich den Freudenberg. S. 166, Z. 743 ff. quod michi est in ambiguo. S. 166, Z. 749f. 1. Reg 1,33 und 2. Reg 20,20. S. 182, Z.1212. S.195, Z.1578.

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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Theoderichs Beschreibung beschränkt sich nicht auf die Heiligtümer der Christenheit, sondern schließt auch das Leben derjenigen ein, die in ihrem Umkreis wohnen. Die sieben Tore der Stadt, die mit großen Steinen gepflasterten und mitunter überdachten Straßen, die mit flachen Dächern versehenen Häuser, die Zisternen, in denen Regenwasser aufgefangen wird 343 , weil die Stadtbewohner anders kein Wasser sammeln können, und das aus dem weit entfernten Libanon, stets in der Furcht vor den Angriffen der Heiden, zu beschaffende Holz vermitteln einen Eindruck vom Leben im Heiligen Land, wie er einem europäischen Reisenden sofort auffallen würde. Doch ebenso auf die wirtschaftlichen Details des Lebens vermag er einzugehen, zum Beispiel auf die Einkünfte der Domherren der Grabeskirche. Auch Fragen von praktischem Interesse erörtert er. Die Aufgabe der Wächter des Grabes Christi bestand darin, zu großes Gedränge zu vermeiden, indem sie eine Höchstzahl von zwölf344 Personen in das Heiligtum zuließen. In dem den Stein umgebenden Marmor seien drei Löcher gebohrt worden, damit die Pilger den Stein küssen könnten. Es könnten dort fünf Männer kniend beten 345 • Das Gedränge um die Kreuzigungsstätte sei gelegentlich so stark, daß für die Besucher Lebensgefahr bestünde 346 • Fasziniert ist Theoderich von Befestigungsanlagen. Gleich am Anfang seines Berichts nennt er die zahlreichen Türme, Mauern und Bollwerke Jerusalems und beschreibt das Außenwerk, das in einem zweiten Ring die Stadt umschließt. Dessen Bezeichnung barbicana notiert er gewissenhaft 347 • Der Davidsturm mit seiner unvergleichlichen Stärke und den riesigen Steinen 348 hat es ihm besonders angetan. Auch der Stadt Tyrus läßt er eine besonders detaillierte Beschreibung angedeihen 349. Theodericus geht auf die Türme und Häuser der Templerriuer, die die Pilger zum Jordan begleiten 350, und auf ihre Waffen- und Vorratskammern auf dem Berg der Versuchung 351 ein. Erstaunlich ist daher, daß die Elisa-Quelle, an der die Pilger vor ihrem Aufstieg zum Berg der Versuchung 352 übernachten, bei der evidenten Gefahr durch die Araber nur an einer Seite von den Templern gemeinsam mit den Johannitern geschützt wird - an den anderen drei Seiten schützen sie die Grenzen des Gartens vor Übergriffen 353, und man fragt sich, ob die Bezeichnung für die Pilger: nos pauperes 354 343

Diese Zisternen sind in Ausgrabungen in großer Zahl entdeckt worden, siehe auch Bulst,

s. 58, Anm. 7.

Hoade, S. 126, nennt achthundert Jahre später ein Maximum von vier Personen. S.148, Z.165ff. 346 S. 155, Z. 393. 347 S.145, Z.87ff., hier besonders Z.90. 348 S. 146, Z. 106ff. 349 S. 196, Z. 1600. 350 S. 175, Z. 1013 f. 351 S. 176, Z. 1052 f. 352 S. 176, Z. 1056 ff. 353 S. 177. Z. 1059. 354 S. 177, Z. 1061. 344

345

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

nicht auf diese Situation Bezug nimmt. Am Jordan selbst befinde sich ein weiteres Fort der Templer 355 • Auch ein von den Templern angelegtes Kastell auf dem Karmel ist eine Erwähnung wert, diente es doch den Seefahrern als Orientierungspunkt 356 • Auffallend langweilig hingegen sind die immer gleichen Beschreibungen der Wehranlagen: die oben erwähnten Türme, Mauem und Bollwerke (in unveränderter Reihenfolge) sollen ausnahmslos vor den Schandtaten der Heiden (insidias gentilium) schützen. Es sind dies die südlich des Berges Zion gelegenen Befestigungsanlagen 357 , die Marienkirche im Tal Josaphat 358 und das Kreuzkloster 359 • Das archäologisches Interesse des Theodoricus wird immer wieder offenbar. So geht Theoderich aktiv auf die Suche nach Resten von Gebäuden aus der Zeit Christi, aber leider: nulla vel pauca potuimus reperire signa 360 • Doch immerhin: neben der St. Annenkirche befinde sich das Haus des Pilatus, und nachdem er lange nach den Gebäuden des Herodes gesucht habe, von denen Josephus berichte 361 , sei er auf eine Wand der Festung Antonia des Herodes gestoßen. Zwar stellt die Wand, die er meint, eigentlich die Ostseite der unter Hadrian gebauten Aelia Capitolina dar, doch sind die Suche und das Bemühen allein schon bemerkenswert. Später identifiziert er die Nordmauer des Haram korrekt als Rest der Burg Antonia 362 • Auch modeme Technik kann ihn begeistern. Am Berg Petit Hermon verfügt die Burg La Feve der Templer nicht nur über eine große Zisterne, sondern auch über eine rotierende Maschine (also ein Schöpfrad) zur Wasserversorgung 363 • Theoderich ist von einer gewissen Begeisterungsfahigkeit, was ästhetische Eindrücke angeht. Immer möchte er dem Leser bzw. Hörer die Schönheit und Einzigartigkeit eines Gebäudes oder eines Mosaikes nahe bringen und ist auch in der Lage, dieses anschaulich zu schildern. Einige Beispiele aus der (mirifice gestalteten) Grabeskirche mögen hier genügen: die Darstellung des Immanuel 364 in der Rotunde über dem Grab Christi und das Mosaik, das hinter dem Hochaltar Christus als Bezwinger des Todes zeigt 365 • Der Autor beherrscht weder das Griechische noch interessiert er sich für griechische Texte. Wiederholt gibt er an, es befinde sich an einem Ort (beispielsweise am Gurtsims in der Rotunde um das Grab Christi) eine Inschrift, allerdings in griechiS.l77, Z.1075f. S. 185, Z. 1304. 357 S. 168, Z. 799 f. 358 S. 170, Z. 860 ff. 359 S. 183, Z. 1249. 360 S.147, Z.129. 361 S. 147, Z. 131 ff. Theoderich hat offenbar Flavius Josephus' Bellum ludicum gelesen. 362 S.165, Z. 718. 363 S. 189, Z. 1417: castrum ... rotalem machinam ad deducendam aquam habentem. Vgl. Bulst, Anm. zu Kap. XLIV 7, S.76. 364 S. ISO, Z. 227 ff. Gemeint ist die Darstellung des Knaben Jesus, siehe Is .. 7, 14. 365 S. 151, Z. 260 ff. Siehe hierzu auch Johannes von Würzburg. 355

356

2. Theoderieus, Libellus de LoGis Sanctis

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scher Sprache 366 - von ihrem Inhalt erfahren wir nichts. Eine Ausnahme macht der darauffolgend berichtete Gruß der Engel zur Darstellung des Knaben Jesus herum, dem - wohl von den Kreuzfahrern - eine lateinische Übersetzung hinzugefügt worden ist. Auffällig sind angesichts dieser Liebe zum Detail gewisse Ungenauigkeiten. Joseph und Nikodemus "belegen" den Engelstein im Grab Christi wie auch den Nabel der Welt in der Grabeskirche. Dieser Mittelpunkt der Welt wird von Theodericus in den Tempel des Herrn verlegt, da Jesus dort gesagt haben soll, hier befinde er sich. Diese Doppelung der Lage des umbilicus mundi ist auf die Herausbildung neuer Traditionen zurückzuführen, die sich in der Heiligen Stadt im 12. Jahrhundert - und vor allem im Haram as Sharif - ausbildeten 367 • Das politische Interesse Theoderichs scheint nicht übermäßig entwickelt gewesen zu sein, doch die Belange der Kirche insgesamt liegen ihm jedoch am Herzen. So berichtet er von den fünf Gräbern der fränkischen Könige 368 in der Grabeskirche; seine Charakterisierung der Herrscher beschränkt sich auf genealogische Angaben: Balduin III. ist der Bruder (und Vorgänger) des jetzigen Königs, also Amalrich; Balduin I. der Bruder Gottfrieds von Bouillon; und Fulko ist der Vater des gegenwärtigen Königs - all dies eher naheliegend. Gottfried von Bouillon wird nicht nur dafür gelobt, daß unter seiner Führung Jerusalem erobert wurde, sondern auch, daß er einen (lateinischen) Patriarchen einsetzte und ein Kapitel in der Grabeskirche errichtete. Der letzte verbleibende König, Balduin 11., wird als der Vater der Äbtissin des Lazarusklosters in Bethanien bezeichnet. Da Theodericus dieses Kloster auch beschreibt 369 , kann diese Angabe, damit zusammengenommen, möglicherweise Beleg für einen Besuch des Autors in diesem Kloster sein. Auch für ihn neue Bezeichnungen gibt er gerne wieder. Die barbicana vor der Stadt wurden oben bereits genannt, später erläutert er, daß der griechische Begriff für Hospiz xenodochium sei 370. Es geht, so darf aus diesen Indizien geschlossen werden, ein ausgesprochen wacher Mensch durch das Heilige Land, der vieles gesehen hat und bemüht ist, trotz der meditativen Grundhaltung seines Berichts auch die gegenwärtigen Verhältnisse zu schildern. e) Der Kirchenmann Theoderich Theodericus ist Kirchenmann, das geht aus seinem Text hervor, ohne daß es je explizit gesagt würde. So differenziert er mehrfach eine bei Laien übliche Bezeich366 367 368 369 370

S. ISO, Z. 224. V gl. Schein, loe. eil., S. 186 ff. S. 154, Z. 362 ff. S. 174, Z. 994 ff. S. 173, Z. 957.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

nung von dem unter Priestern üblichen Begriff, etwa im Fall des Berg Quarantana: Diesen nennten nur die Laien so - während er und seinesgleichen ihn als mons Quadragenum37 1bezeichnen. Eine Scheidung der in der Osternacht in der Grabeskirche auf das Heilige Feuer wartende Menge in clerus et populus 372 kann hingegen auch als Bezeichnung der Gesamtheit der Anwesenden verstanden werden. Theodericus' Sprachstil entspricht seiner Intention, das Mitleiden mit der Passion Christi bei seinem Leser bzw. Hörer hervorzurufen: "Wie er will ich jetzt den Berg Zion besteigen [... ] doch vorher will ich mich mit Petrus gefangennehmen lassen"373. Hier scheint eine Verstärkung der vereinnahmenden ersten Person Plural vorzuliegen, indem im Moment der Rezeption durch die erste Person Singular eine Identität von Autor und Rezipient gestiftet werden soll. Auch direkte Ansprachen finden sich: "Wenn du dann eintrittst [... ] findest du [... ]"374. Die detaillierte Schilderung der Not Christi vor seiner Festnahme, als er zitterte und schwankte, bringt dem Leser den Heiland sehr viel näher 375 . Anders als Johannes von Würzburg geht Theoderich äußerst selten auf biblische Ereignisse ein. Wenn dies der Fall ist, stimmen seine Angaben in der Regel, es sei denn, er übernimmt den Text des Fretellus. Beispielsweise ist die Verwechslung des Zacharias, Sohn des Barachias und Prophet, mit dem gleichnamigen Sohn des Jojada 376 vor ihm schon Fretellus 377 und Johannes von Würzburg 378 unterlaufen. Ein weiterer Hinweis auf seinen Stand ist die Sachkenntnis verratende Angabe, die Kanoniker der Grabeskirche brächten ihren schönen Gesang nach den Teilen des Officium Beatae Mariae Virginis zu Gehör, die den kanonischen Stunden entsprächen 379 . Ähnliche Kenntnis der Liturgie verrät die Beobachtung, daß das Heilige Feuer, das in der Grabeskirche in der Osternacht erscheint, erst in den Tempe1dom getragen werden muß, ehe eine einzige der anderen Kerzen angezündet werden kann - ausgenommen hiervon ist die Kerze des Patriarchen 380. Andererseits ist eine gewisse Kritiklosigkeit auffällig: Vom Templum Domini berichtet er, hier sei der Ort, an dem Jakob die Himmelsleiter gesehen habe 381 , um im Zusammenhang mit Bethel dieselbe Geschichte zu wiederholen, die er an dieser Stelle allerdings von Fretellus abschreibt 382 • 371 S. 175, Z. 1025. 372

373

374 375 376 377

378 379 380 381

382

S. 152, Z. 294 f. S.167, Z.784f. S. 168, Z. 80 I und 802. und öfter: tibi occurrit: S. 171, Z. 886. S. 171, Z. 902 f. 2. Par 24,20-22. c. 56, 3-4. S. 91, Z. 316f. S.150f., Z. 252ff. S.152, Z. 314ff. S.162, Z.605. S.188, Z.1374ff.

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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Hingegen ist erstaunlich, daß auch er - wie Johannes - den fluß, an dem Jakob mit dem Engel kämpfte, nicht richtig zu benennen weiß. Der Jabbok ist bei ihm der torrens Iadach 383 • f) Die erzählerische Verfahrensweise des Theodericus

Theodericus wendet sich immer wieder direkt an seine Leser und Hörer. Es gibt Stellen, an denen er ihnen erläutert, wie er den Aufbau seines Berichts zu gestalten gedenkt. Auffälligstes Beispiel dafür ist der Prolog, in dem er die Art, wie sein Bericht zu lesen sei, gen au darlegt. Zunächst nennt er die Adressaten seines Werkes: Für alle, die die Heilige Dreieinigkeit und unseren Herren Jesus Christus verehren, habe er, der nichts weiter als ein Stück Unflat unter allen Mönchen und Christen sei, geschrieben. Sein Ziel sei es, ihnen durch die Beschreibung der Leiden Christi zu ermöglichen, bei dem Herrn die Freuden des ewigen Lebens zu genießen. Es ist auffällig, daß die verba gerade dieser beiden Nebensätze jeweils an den Schluß plaziert sind, so daß hier Reimprosa entsteht: communicare und conregnare 384• Die Beschreibung der heiligen ürte, an denen Christus nicht nur seine Menschnatur, sondern auch unsere Erlösung erfüllte, habe er so sorgfältig wie möglich gestaltet, wobei er sich sowohl auf die eigenen Eindrücke als auch auf die wahrheitsgetreuen Berichte anderer verlassen habe 385 • Sein Anliegen sei es, das Verlangen derjenigen, die nicht selbst in das Heilige Land hätten reisen können, zu stillen, indem er ihnen Kenntnis von den Dingen vermittele, die sie nicht sehen oder hören konnten. Doch nicht nur einfache Neugier auf die Fremde soll befriedigt werden - Theoderich mahnt seinen Leser, daß er sich bei der Lektüre immer an Christus erinnere und - ihn in der Erinnerung haltend -lieben lerne. Diesem ersten Schritt folgt ein ganzer Weg, bestimmt von der Liebe zu Gott, der schließlich zur Erlösung führt: Der Leser möge durch die Liebe zu dem, der für ihn dort ging, Mitleiden spüren, über dieses Mitleiden eine Sehnsucht erreichen, durch diese Sehnsucht die Vergebung seiner Sünden erlangen, von der Vergebung der Sünden die Gnade erreichen und vermittels dieser Gnade am Himmelreich teilhaben. Was zu verleihen derjenige gnädig genug sein möge, der mit dem Vater und dem Heiligen Geist bis in alle Ewigkeit lebt und regiert. Theoderich schließt mit einem "Amen", das hier so gar nicht fremd wirken will, denn von den zu erfüllenden Wünschen hat er seinen Leser auf den Weg zur Erlangung des Ewigen Heils und in ein Gebet geführt. Die Bitte um den Gnadenerweis ist, so weist Huygens im Apparat 386 nach, ein Echo des Messtextes für den 26. Juli. Es wäre denkbar 387 , daß Theoderich - aus dem Heiligen Land zurückgekehrt und S. 194, Z. 1554. S. 143, Z. 4 und 5. 385 S.143, Z. 8f.: vel ipsi visu cognovimus vel aliorum veraci relalu didicimus. 3H6 S. 143, Z. 21. Dies ist das Fest der heiligen Anna. 387 Er ist entweder am 23. April 1169 oder am 19. April 1172 abgereist. Selbst bei erschwerten Reisebedingungen ist es möglich, daß er zwölf Wochen später wieder in seiner Heimat ist. 383

384

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

möglicherweise schon bei der Niederschrift seines Buches - diesen Passus unter dem noch frischen Eindruck der Messe in sein Werk integriert hat. In der Vorrede und dem Schluß verleiht der Autor seiner Hoffnung Ausdruck, er habe sein Vorhaben verwirklichen können - im Leser und Hörer eine größere Liebe zu Christus hervorzurufen - daß dieses Werk nicht ausschließlich als Pilgerführer gelesen werden will, als den es Jean Richard darstellt 388 . Zwar wird die Vorrede im Text erst ganz zum Schluß wieder aufgegriffen, doch wird sie in allen Handschriften überliefert und ist als das Element, das das Werk des Theodericus zu einer "Art geistiger Dienstleistung"389 macht, zu verstehen. Das besondere Verhältnis des Autors zu seinen Rezipienten führt dazu, daß diese teilhaben an seiner Verfahrensweise: Ehe Theodericus Jerusalem verläßt, läßt er seine Leser wissen, hier sei die Beschreibung Jerusalems, das eine ähnliche Bedeutung habe im Heiligen Land wie der Kopf am Körper 390 , beendet. Dann wendet er sich zum zweiten Mal Bethania zu. Umgekehrt zögert er nicht, auch Lücken zuzugeben: der Name der a modernis so bezeichneten Großen Mahumeria ist ihm entfallen 391 • Auf dem Berg Zion unterbricht er seine Beschreibung und unterrichtet seinen Leser darüber, wie er im weiteren zu verfahren gedenkt: Alles, was es über Jesus Christus und die durch seine Präsenz geheiligten Orte zu erzählen gäbe, habe er berichtet, nun gehe er daran, über seine Freunde und über andere Sehenswürdigkeiten zu berichten, schließlich werde er über die Dinge schreiben, die er selbst gesehen habe oder die ihm berichtet worden seien 392 • Dieses Versprechen löst der Autor jedoch nicht ein, schreibt er doch nach dieser Ankündigung von Christi Leben und seiner Passion und scheint sich so, wie Johannes, nicht von diesem Thema lösen zu können. Auf seine Rezipienten geht der Autor immer wieder ein. So schreibt er, daß seine Hörer (!) wohl kaum glauben könnten, wie groß und prächtig das neue Haus der Templer auf dem Tempelberg sei. An einer Stelle, die ihn in Zweifel darüber versetzt, ob der Teich Siloah von einer am Berg Silo gelegenen Quelle gespeist werde, bricht er ab und berichtet nur noch das, was er sicher weiß. Zum Schluß äußert er die Hoffnung, seine Leser oder Hörer seien nunmehr durch sein Werk zur Liebe zu Christi gebracht worden. Theoderich gibt in seinem Prolog an, daß er eigene neben die aus Quellen gewonnenen Beobachtungen stellt. Fest steht, daß die Stellen, in denen er selbst schreibt, nicht nur von besonderer Lebendigkeit, sondern auch von größter Klarheit sind. Wo es ihm nicht möglich ist, genaue Angaben zu machen, teilt er uns den Grund dafür mit. So heißt es von den Inschriften über den Bögen um den Altar Ad Sanctum SeJean Richard, loe. eit. nennt das Werk wiederholt einen guide: S. 46 und S. 73. Ludwig Schmugge, loe. eit., S. 69. 390 S.174, Z.992f. 391 S.186, Z.1340: menÜ excidit. Dies ist umso bedauerlicher, als ereinige1ahrhunderte später nicht ermittelbar ist. 392 S. 172, Z. 932 ff. 388

389

2. Theodericus, Libellus de Locis Sanctis

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pulcrum, die Farben seien "gewiß verblaßt" 393 , so daß nur einige wenige entzifferbar gewesen seien. g) Theodericus' Erleben der Fremde

Auffällig ist die große Lebendigkeit, mit der Theoderich seine Reiseerlebnisse schildert. Auch über die Jahrhunderte hinweg ist die Bewegung spürbar, mit der er die Osternacht beschreibt und die Reaktionen der Menschen um ihn herum. Doch ist er bei weitem nicht ausschließlich gefühlsbetont; vielmehr finden wir immer wieder Stellen, an denen er dem Leser zu verstehen gibt, mit welcher Akribie er sich bemüht hat, die Richtigkeit dessen zu überprüfen, das er berichtet: michi plurimum scrutandi 394 , michi est in ambiguo 395 , oder er rechnet Zahlenangaben neu nach 396 • Die Gefährdung seiner Lage als Christ, umgeben von Muslimen, ist ihm wohl bewußt 397 , und er weist auf die Notwendigkeit hin, Verstärkungen in den Festungen anzubringen 398 • Theoderich unterscheidet 399 die im Heiligen Land anwesenden Gruppen, nicht nach Sprachen und nationaler Herkunft, sondern nach ihrem Ritus - Unterschiede unter den Lateinern macht er nicht. Damit ist er Vorreiter - v. den Brincken zufolge wird diese Art des Umgangs von allen Beschreibern des heiligen Landes so fortgeführt 4°O. Die Surianen nehmen unter den Ostchristen eine Vorrangstellung ein, so daß er diese gleich nach den Lateinern anführt. Die Jakobiten finden eine besondere Erwähnung, da sie H ebreorum more Posaunen bliesen. Dies kann, so v. den Brincken 4fJ1 , auf eigener Beobachtung beruhen, kann aber auch daher rühren, daß er die Jakobiten mehr oder minder etymologisch auf die Söhne Jakobs, die Kinder Israel, zurückverfolgen will. Die Unterscheidung der Riten mag erklären, warum Theodericus - anders als Johannes - keine nationalen Sympathien oder Antipathien gegenüber den christlichen Gemeinschaften anführt. Allerdings betrachtet er Andersgläubige nicht mit dieser Toleranz: die "ungläubigen Juden" haben schließlich mit ihren "grausamen Händen" Christus ermordet. Man hat das Gefühl, er sei der Meinung, die Vertreibung der Juden nach der Eroberung durch Vespasian und Titus geschähe ihnen als homicidi 402 ganz recht. Die im Land anzutreffenden Muslime werden von Theoderich aus393 394 395 396

397 398 399

400 401

402

S. 149, Z. 201: colorum in quibusdam abolitionem.

S. 147, Z. 132f. S. 166, Z. 743 ff. S. 165, Z. 691 f. und S. 177, Z. 1064f. S.146, Z. 104f. S. 145, Z . 87f. S. 152, Z. 285 f. V. den Brincken, loc. ci!., S. 4. v. den Brincken, loc. ci!., S. 213. S. 144, Z. 35 f.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

schließlich als Heiden (gentiles oder pagani) bezeichnet, vor deren Nachstellungen (insidias) sich das ganze Heilige Land fürchtet 403 • Fast gespenstisch mutet die Szene an, in der er ebenso beschreibt, wie 60.000 am Jordan betende Pilger von den Heiden auf den gegenüberliegenden Bergen zu beobachten waren 404 • Auch später 405 begegnet er Sarazenen, die mit Eseln und Ochsen eine Ebene bei Nablus umpflügten 406 , deren clamor horrisonus eine nicht geringe Furcht verursachte. Bulst schreibt 407 in bezug auf diese bei den TextsteIlen, Theodericus betone in seinem Werk das friedliche Verhalten der Muslime - das scheint allerdings eine zu freundliche Interpretation zu sein. Gleichfalls vergißt er nicht, wenig später zu berichten, Sanginus (also der etwas blutrünstig verstümmelte Name des Fürsten von Mosul und Aleppo Imad ad-Din Zenghi) hätte sechs Mönche in der Nähe der Taufstelle Christi enthauptet - wobei der Umstand, daß dieser nie so weit nach Süden kam, die Glaubwürdigkeit unseres Autors schwächt 408 • Theodericus liefert darüber hinaus eine besonders blutrünstige Beschreibung des Carnarium leonis, in dem die Leichname unzähliger Pilger liegen sollen, denen vor langer Zeit (unter Chosdroes, so Fretellus 409 ) der Zugang zur Stadt verwehrt wurde. Die Sarazenen brachten die halb verhungerten und wehrlosen Christen um; als sie jedoch die Leichname verbrennen wollten, schickte Gott einen Löwen, der sie in diese Höhle legte 41O • Es ist offenbar, daß mit Theodericus jemand durch das Heilige Land gereist ist, der einen besonders wachen Blick für die Dinge um sich herum hatte und diese auch gerne berichtet. Gleichzeitig ist er von einem starken Bewußtsein von den Gefahren einer Reise im feindlichen Ausland geprägt, das sich in jeder Erwähnung der Muslime niederschlägt. Ganz offenbar hatte er in der kurzen Zeit, in der er in Palästina war, keinen Kontakt zu dem arabischem Teil der dortigen Bevölkerung, denn ein positives Gespräch hätte dieser interessierte und interessante Beobachter sicherlich berichtet. Doch geht Theodericus auf den Spuren Christi in einem Land, das zu dieser Zeit unter christlicher und europäischer Herrschaft steht - und darüber lernen wir sehr viel.

S.I77, Z.1059 und öfter. S.177, Z.1067ff. 405 S. 187, Z. 1346ff. 406 Bu/st: ihre Herden vorübertrieben. 407 Bulst, loc. cit., S. 5. 408 S. 177. Z. 1074. V gl. Stewart, S.49, Anm.4, der Theodericus' Darstellung für glaubwürdig hält, und Bulst, S. 70 Anm. 2. Kap. XXX. 409 c. 68, Z. 1-4. 410 S. 183, Z. 1230-1243. 403 404

3. Burchard von Straßburg, Itinerarium

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3. Burchard von Straßburg, Itinerarium a) Der Autor Zahlreiche Unsicherheiten beherrschten lange die Diskussion um Burchard von Straßburg. Weder sein Name, noch sein Amt, noch sein Text, dessen genauer Titel oder überhaupt die Zahl der möglicherweise sonst von ihm verfaßten Texte waren tatsächlich so endgültig und gen au bestimmt, wie es in der Neuen Deutschen Biographie 4 !! und im Verfasserlexikon 4 !2 dargestellt wurde. Allerdings war die Ausgangslage für die Forschung auch alles andere als einfach: In Handschriften und Bibliothekskatalogen wurden Texte verschiedener Sorten (Briefe, die sog. Chronica Brocardi, ein itinerarium ad terram sanctam, eine Kreuzzugsgeschichte) Burchard auch dann zugeschrieben, wenn in ihnen lediglich ein kaiserlicher Notar oder bischöflicher Vicedominus Burchard genannt wird. Darüber hinaus wurde der hier behandelte Reisebericht in die Chronik Arnolds von Lübeck 4I3 integriert, jedoch nicht ihm, sondern einem Gerardus Argentinensem vicedominus zugeschrieben. J. C. M. Laurent überprüfte die Überlieferung und stellte fest, daß es sich in der Fehlbenennung des Autors (Gerhard) um einen (allerdings in beachtlich vielen Handschriften tradierten) Schreiberfehler handeln 4 !4 und Burchard gemeint sein muß. Die Diskussion darüber, wer für welchen Text als Autor gelten könne, wurde vor über hundert Jahren, nämlich dank Paul Scheffer-Boichorst4 !5, beendet Die erste Nachricht über einen Text Burchards bieten Quetifund Echard, die auf einen Auszug seines Reiseberichts der Basler Handschrift MS.B X35 4 !6 aufmerksam gemacht wurden und den Autor (ohne Angabe von Gründen) als vir eruditus in ihrem Überblick über die dominikanischen Autoren 4 !7 führten. Dies erstaunt, gibt Burchard selbst doch an, knapp vierzig Jahre vor der Gründung des Ordo Praedicatorum (1216) Gott/ried Opitz, NDB III (1957), S. 30. F.J. Worstbrock, in VL I 21978, Sp. 1118-1119. 413 MGH SS XXI, S. 100-250, Burchards Text S. 235-241. Lib. VII, cap. 8. 414 J. C. M. Laurent, Über Burchard von Straßburg. In: Serapeum 17 (1856). S.255-256. Hier S. 255: "Der Name Gerhard ist nämlich ein Schreibfehler Amolds von Lübeck. [.. .] Es ist kein Zweifel, dass der [... ] unter dem Namen Gerhard bekannte Schriftsteller fortan Burchard zu nennen ist." Vgl. auch dens., Burchard von Straßburg. In: Serapeum 19 (1858). S. 145-176. Hier S. 145ff. 415 Paul Scheffer-Boichorst, Der kaiserliche Notar und der Straßburger Vitztum Burchard. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F.4 (1889), S.456-477. 4 16 Dies ist der älteste und entgegen Röhrichts Angabe im Chronologischen Verzeichnis, loc. cit., S. 39 immer noch vorhandene Baseler Pergamentkodex mit der Sigle Ba, der um 1300 geschrieben wurde. Die 120 Blätter werden eingeleitet von Magister Thetmarus' "De terra saneta", auf die der Burchardauszug folgt. Mirakelberichte, expositiuncula orationis dominicae, naturwissenschaftliche Abhandlungen und Gedichte über den Wind oder das Alter der Welt, ein Brief des Hieronymus an Eustochium (Nr. 22) scheinen mit weiteren Texten zum Zwecke der Allgemeinbildung zusammengestellt worden zu sein. 417 Jacobus Quetif, Jacobus Echard: Scriptores ordinis praedicatorum recensiti, notisque historicis et criticis illustrati ... Paris 1719/1721, Nachdruck New York 1959. Bd. 1, S. 394. 41 1

412

6 v. Samson-Himmelstjema

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

gereist zu sein. Der Grund für diese Fehlzuschreibung wird wohl ein Lesefehler des Schreibers sein: Liest man bei der Jahresangabe des Textes .M.oco.LXXvo418 das L als C, so kommt man auf 1225 (MCCXXV), neun Jahre nach der Gründung des Ordens. Daß dies leicht geschehen kann, belegt die Berliner Handschrift Ms. theol. lat. qu.141 419 , die ebendiese Jahreszahl auffol. 22' tradiert. Kaeppeli 420 hat dies stillschweigend korrigiert und führt Burchard nicht mehr. Doch bietet der Berliner Text noch in anderer Hinsicht Anlaß zu Diskussionen. Der Titel gibt auf den Blättern 22'-24' ein Reiseziel an: Burchardus Argentinensis: itinerarium ad terram sanctam. Diese Angaben mögen es gewesen sein, die frühe Historiker 421 und spätere Herausgeber 422 sowie Forscher 423 bewogen haben, den Text unter die Heilig-Land-Beschreibungen einzuordnen. Burchard wird in manchen Handschriften mit der Behauptung wiedergegeben, selber in Jerusalem gewesen zu sein. Auf Grund dieser Rezeptions- und Forschungsgeschichte wird sein Reisebericht, der sich vor allem mit Ägypten und Syrien befaßt, dennoch in dieser Arbeit berücksichtigt. Burchhard von Straßburg ist nicht nur durch seinen Bericht als Autor hervorgetreten. Im 19 . Jahrhundert wurde auf zwei in der Kölner Königschronik überlieferte Briefe 424 hingewiesen, die der kaiserliche Notar Burchard an den Abt Nikolaus von Siegburg gerichtet hatte. Das erste Schreiben berichtet von einer Reise, die der Verfasser im Auftrag Kaiser Friedrichs im Erzbistum Salzburg zur Wahrnehmung der 418 Vgl. Gustav Meyer und Max Burckhardt, Die mittelalterlichen Handschriften der Universtitätsbibliothek Basel. Beschreibendes Verzeichnis. Abt. B: Theologische Pergamenthandschriften. Bd.lI. Basel 1966. S.768. 419 Vgl. Gerard Achten, Die theologischen lateinischen Handschriften in quarto der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin. Teil 1. Wiesbaden 1979. S. 37-42. Die Handschrift mit der Sigle Be der Staatsbibliotheken Preußischer Kulturbesitz wurde um 1420 und 1450/60 geschrieben; die beiden Teile wurden noch im 15. Jahrhundert zusammengefügt. Der ältere Teil (bis fol. 76) besteht im wesentlichen aus Pilgerschriften: "De terra sancta" Descripturi disposicionem terre sancte, Odoricus de foro julii, Magister Thetmarus und Burchards Text unter dem Titel Itinerarium in terram sanctam. Der zweite Teil, wohl in der Bendiktinerabtei Abdinghof bei Paderborn zusammengestellt und dort auch mit dem ersten Teil verbunden, überliefert unter anderem Traktate, Märtyrerberichte und Lebensgeschichten, eine Genealogie der Herzöge von Kleve bis Herzog Adolf, gefolgt von einer Liste der Bischöfe von Köln und Paderborn. 420 Thomas Kaeppeli, Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi. Bd.1. Rom 1970. 421 Jacob von Vitry, Historia Hierosolimitana. In: lacob Gretser, lacobi de Vitriaco Opera omnia, Bd. III. Regensburg 1734. 422 lulesde Saint-Genois, Voyages faits en Terre Sainte parThetrnaren 1217 etpar Burchard de Strasbourg en 1175, 1189 ou 1225. Memoires de I'academie de Bruxelles XXVI, 1851, S.58-61. 423 Vgl. 1.C.M. Laurent. Burchard von Straßburg. In: Serapeum 19., S.145-154. "Dass aber Burchard im Jahre 1175 in's heilige Land gereist sei, steht nach Arnold von Lübeck und unsern besten Handschriften kritisch fest." 424 Laurent, Serapeum 19, S. 146 nennt zunächst nur einen Brief. Zwei Briefe kennen: Cardauns, v. Burchard von Straßburg in: ADB 11, S.566. Scheffer-Boichorst, S.456. W. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Berlin 1886 5 11. S.405.

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Interessen des Reiches unternommen hatte, das zweite ist auf 1162 datiert und berichtet die Ereignisse um die Niederwerfung Mailands 425 . Auf Grund dieses Briefes vermutete Wattenbach, der Autor dieser Briefe sei für denjenigen Teil der Annales Colonienses maximi verantwortlich 426 , der sich mit den Ereignissen ab 1159 befasse. Eine weitere Zuschreibung in Gesners Bibliotheca 427 führte darüber hinaus dazu, daß Burchard als Autor einer Kreuzzugsgeschichte 428 galt, die sich im Besitz des Wiener Arztes und Historikers Wolfgang Lazius (1514-1565) befunden haben soll. Scheffer-Boichorst mochte diese zuerst von Laurent erhobene 429 und von Wattenbach in der dritten Auflage seiner "Geschichtsquellen" vertretene 430 , später von föeher in seinem Gelehrtenlexikon tradierte 431 Zu schreibung nicht abweisen 432 • Wattenbach jedoch ergänzte in der fünften Auflage die Angaben zu diesem Text um die Vermutung, hier könne es sich um eine "Verwechselung mit dem oben erwähnten Reisebericht Burchards"433 handeln. In der späteren Forschung wird nicht erörtert, welcher Text überhaupt gemeint ist. Möglicherweise handelt es sich um eine Kompilation der Chronik Burchards von Ursberg 434 mit den Gesta Friderici Otto-Rahewins 435 . Da der Text jedoch nicht vorliegt, muß dies Vermutung bleiben. Alle diese Texte wurden nun ein und demselben Autor zugeschrieben, obwohl dessen Name im zwölften Jahrhundert nicht selten anzutreffen ist 436 . So war der Burchard, der im kaiserlichen Auftrag in den Nahen Osten reiste und einen Reisebericht verfaßte, für Laurent437 identisch mit dem kaiserlichen Notar - und gleichzeitig Autor der Briefe und der Kreuzzugsgeschichte, worin ihm Wattenbach 438 und Cardauns 439 folgten. 425 Überliefert sind beide in der Kölner Königschronik: Chronica regie Coloniensis. Hrsg. von Georg Waitz. Hannover 1880. S.108-111. 426 Wattenbach, loc. cit. 5Il S. 405. 427 Bibliotheca instituta et collecta primum a Conrado Gesnero, deinde in epitome redacta etc. per losephum Simlerum. Tiguri 1547, S. 104. 428 Brocardi annales de Friderici in Terra sancta gestis. Diese galt spätestens seit Cardauns' Aufsatz in der ADB als ,jetzt verloren". 429 Laurent, Serapeum 19, S.147. 430 Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen. Berlin 31874. S. 310-312. Hier S. 311. 431 löcher, Gelehrtenlexikon, s. v. Brocardus. 432 Schejfer-Boichorst, loc. cit., S. 460f. 433 Wattenbach, 5Il, S.406 Anm. 1. 434 Hrsg. v. Oswald Holder-Egger und Bernhard v. Simson in MGH SS rer. Germ., Bd. 16. 21916. 435 Ottonis et Rahewini Gesta Friderici imperatoris. Hrsg. von Georg Waitz und Bernhard v. Simson. (= Bd.46 MGH, Scriptores rerum Germanicarum). Hannover 1912. V gl. E. Ottmar, Das Carmen de Friderico I. imp. aus Bergamo und seine Beziehungen zu Otto-Rahewins Gesta Friderici, Gunthers Ligurinus und Burchards von Ursperg Chronik. In: Neues Archiv 46 (1926), S.430-489. Zu Burchard insbesondere S.473 ff. 436 Vgl. Quetif/Echard: suo seculo usitatissimum. S. 394. 437 l. C.M. Laurent, Burchard von Straßburg. In: Serapeum 19 (1858). S. 146. 438 w. Wattenbach, loc.cit., S.405. 439 Cardauns, loc. cit. 6'

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Der These von einer multiplen Autorschaft bereitete Paul Scheffer-Boichorst 1889 ein Ende 440 . Er stellte anhand verschiedener, am kaiserlichen Hofe und in Straßburg ausgestellter Urkunden fest, daß der Notar, der zuerst 1161/62 urkundete und zuletzt 1177/78 auftrat, nicht zwischenzeitlich bzw. parallel, nämlich spätestens ab 1175 und bis 1194, als bischöflicher Verwaltungs beamter fungieren konnte, wie es dennoch in jüngster Literatur angenommen wurde 44 !. Auf Grund stilistischer Untersuchungen konnte Scheffer-Boichorst nachweisen, daß der Notar ungleich sprachlich gewandter und von ganz anderem (historischem) Interesse geprägt war, als der in "klappernd [m]onotone[m]" Tonfall über seine Reise berichtende Vitztum 442 . Auf diese Erkenntnisse reagierte Wattenbach in der sechsten Auflage seiner ,Geschichtsquellen' . Er setzte den Notar nicht mehr mit dem Berichterstatter gleich und sprach ihm des weiteren die Autorschaft an der Kölner Chronik ab 443 ,

Scheffer-Boichorst ging noch weiter und erkannte in Burchard einen Angehörigen des Thomasstiftes zu Straßburg, wenn er auch "nicht eigentlich Kanoniker war"444: Er begründete dies damit, daß der Vicedominus in verschiedenen (nicht allen) Urkunden "inmitten der Geistlichkeit"445 geführt werde und, anläßlich einer Schenkung von zwei Talenten an das Stift, in der Urkunde alsfrater noster bezeichnet wurde. Es mögen dennoch Zweifel geäußert werden, inwieweit dieses so fraglos akzeptiert werden kann, wie es Gottfried Opitz 446 tat. Denn seit 1109, beginnend mit dem vicedominus Diepold 447 , werden ausdrücklich auch Laien als Inhaber dieser Position genannt 448 . Darüber hinaus legen Ton und Intention des Burchardschen Berichts eine eher weltliche Gesinnung nahe. Durchaus möglich, wenn auch nicht eindeutig belegbar, ist die Annahme Kindlers von Knobloch 449 , Burchard entstamme der Straßburger Ministerialenfamilie Beger, die in späterer Zeit das bischöfliche Vicedominium als Erbamt inne hatte. Burchard stand auch in Beziehung zum kaiserlichen Hof. Er wird als Zeuge einer wahrscheinlich in Straßburg ausgestellten, undatierten Urkunde Friedrichs Barbarossa genannt450, und erwidert wohl auf dessen Paul Schejfer-Boichorst, loc. eit. August Potthast, Repertorium fontium historiae medii aevi. Bd. II 1968, S. 607: Capellanus et notarius imperialis a.1177-1178; vicedominus Argentinensis (Strasbourg). Laurent, Serapeum 19, S. 146: "so konnte er 1162 sehr wohl schon desselben Kaisers Notar sein". v. den Brincken, loc. cit., führt den Vicedominus von Straßburg im Register als "kaiserlichen Notar". 442 Schejfer-Boichorst, loc. cit., S. 467. 443 Wattenbach, loc. cit. 6II Berlin 1894. S.444. 444 Schejfer-Boichorst, loc. cit., S. 471, Anm. 1. 445 Schejfer-Boichorst, loc. eit., S.470. 446 Gottfried Opitz, loc. cit. Der Autor beginnt seinen biographischen Überblick mit der Auskunft: "B. war Kanoniker des St.-Thomas-Stiftes in Straßburg." 447 Straßburger Urkundenbuch I, 55, Nr.68 u. Ö. 448 1143 wird Walfried als Laie genannt, Straßburger U.B. 73, Nr.92. Der direkte Vorgänger Burchards, Otto, ebenfalls: Straßburger U.B. 89, Nr. 103. 449 Julius Kindler von Knobloch, Das goldene Buch von Straßburg. S. 26, S. 387. 450 St. 4555, zitiert nach Schejfer-Boichorst, loc. eit., S.470, Anm. l. Vgl. insbesondere 440

441

S.472.

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Veranlassung im Jahre 1175 451 den Besuch der Gesandten Saladins (vom Frühjahr 1174)452. Dies war in jedem Fall - auch wenn die eigentlichen Gründe für die Entsendung Burchards unklar bleiben - eine schwierige Mission 453 : Am 11. Juli des Jahres war König Amalrich von Jerusalem gestorben. Kurz vor seinem Tod hatte er begonnen, mit Byzanz Kontakt aufzunehmen; möglicherweise, um mit Kaiser Manuel Komnenos gegen Ägypten vorzugehen. Auch mit den syrischen Assassinen und deren Scheich Raschid ad-Din Sinan hatte es erste Kontakte gegeben, die jedoch nicht weiter ausgebaut wurden. Der Nachfolger Amalrichs war der dreizehnjährige, leprakranke Balduin IV., für den zunächst der Vertraute des Vaters, Miles von Plancy, die Regierungsgeschäfte übernahm. Bald wurde er von dem Grafen Raimund von Tripoli abgelöst. Mit diesem Wechsel festigten sich die Positionen der Interessensgruppen: der Johanniter und örtlichen Barone um Raimund auf der einen, und der Templer sowie der "Neuankömmlinge" auf der anderen Seite. Saladins Reich befand sich gerade in einer Übergangsphase. Des Großwesirs von Ägypten Gegenspieler Nur ad-Din war am 15. Mai 1174 gestorben. Dennoch war die Herrschaft Saladins in Ägypten alles andere als fest. Der schiitische Adel intrigierte weiter gegen ihn. Sein Bruder Turan kundschaftete sogar aus, ob man notfalls in den Sudan fliehen könnte. In Syrien konnte Saladin die Gunst der Stunde nutzen. Die Zengiden waren so uneinig in der Wahl eines Nachfolgers für Nur ad-Din, daß Saladin 1174 Damaskus besetzen und zwei Jahre später die Witwe seines Kontrahenten heiraten konnte. Die Gründe für die Entsendung Burchards sind unklar. Scheffer-Boichorst vermutet, daß er Saladins Gesandtschaft während ihres Besuchs 1173/1174 kennenlernte. Da er romanisch sprechen konnte, wie an zwei Stellen seines Berichts deutlich wird, wählte man ihn auf Grund des "näheren Verkehr[s], den er schon in Deutschland mit den Saracenen gepflogen"454 hatte, aus. Er selbst schweigt sich über die Ziele und Hintergründe seiner Reise völlig aus. Doch ist anzunehmen, daß er- angesichts der schwierigen politischen Lage im Nahen Osten - über andere Fähigkeiten als nur sein Kommunikationstalent verfügt haben muß. Einige werden auch in seinem Bericht deutlich. 451 lu/es de St. Genois hat sich, trotz der genauen Datumsangabe in allen Quellen, von den Ähnlichkeiten mit Magister Thietmars Bericht von 1217 irritieren lassen, wie es sich im Titel seines Werks ausdrückt, s. o. Doch handelt es sich, nach Auskunft von l . C. M . Laurent in seiner Ausgabe des Thietmar (S. 55 f.) bei den Genter und Basler Handschriften um spätere Bearbeitungen des Textes aus dem 14. Jahrhundert, die auch auf Burchards Reisebericht zurückgegriffen haben. 452 Die Gesandtschaft befand sich am 24. März 1174 in Aachen. Vgl. Annales Aquenses, MGH SS XXIV. Sp.38. 453 Vgl. für die folgenden Ausführungen H. E. Mayer, loc. eit., S. 112ff. und Runciman, loc. cit. Bd.2. S. 397 ff. 454 Scheffer-Boichorst, loc. cit., S.474.

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Reinhold Röhricht455 hat auf den durchaus regen Kontakt zwischen Saladin und Friedrich Barbarossa hingewiesen. Neben den drei Gesandtschaften, die in den Jahren 1173/74, 1180 und 1184 aus dem Morgenland kamen, empfing der Kaiser einen undatierten Brief Saladins, der die Ankunft des Genueser Gesandten Albericus bestätigt und ankündigt, einen "Butair Esmair" an den kaiserlichen Hof zu entsenden - den Röhricht als Abii Tähir Ismail ibn Iasin al-Djili identifiziert. Saladin betont, daß, obgleich man so weit von einander entfernt sei, ihre Herzen und Wünsche vereint seien 456 . Damit reiht sich Burchards Reise in eine ganze Serie von diplomatischen Kontakten ein. Es ist denkbar, daß mit der Entsendung Burchards nicht nur auf Saladins Gesandtschaft reagiert werden sollte, sondern auch auf die im nachfolgenden Kapitel behandelte Heilig-Land-Fahrt Heinrichs des Löwen in den Jahren 1172/1173. Von dieser berichtet Amold von Lübeck in der Chronica Slavorum, die im übrigen auch Burchards Text enthält 457 • Das Auftreten Heinrichs war außerordentlich prunkvoll. Der Herzog wurde zumindest bei einer Gelegenheit mit königlichem Zeremoniell empfangen, nämlich am Hofe Kaiser Manue1s 11. in Konstantinopel 458 . Heinrich, der durch seine neue Verwandtschaft (seit 1168 war er mit Mathilde, der Tochter des englischen Königs Heinrich 11. von Plantagenet verheiratet) internationales Prestige gewonnen hatte, nutzte seine Reise wohl im wesentlichen zur Steigerung seines Ansehens. Nicht nur dadurch wurde seine Position im Verhältnis zu Friedrich Barbarossa zusehends stärker 459 . In der jüngeren Forschung ist die Darstellung Jordans, "das gute politische Einvernehmen zwischen Kaiser und Herzog"460 sei erst 1176 in Chiavenna mit dem Fußfall Friedrichs zerbrochen, revidiert worden. Diesem Eklat sei vielmehr ein stetiges "Auseinanderdriften der Interessen"461 der beiden Fürsten vorausgegangen. Möglicherweise sind diese beiden Reisen ein wei455

579.

Reinhold Röhricht, Zur Geschichte der Kreuzzüge. In: Neues Archiv 11 (1886), S. 571-

456 Röhricht, loc. cit. : [ .. .] corda nostra semper coniuncta erunt, quamvis longa terrarum spacio corpora nostra separata teneant. 457 Amold von Lübeck, Chronica Slavorum, Lib. I, cap. 1-12: De peregrinatione Heinrici dueis.loc.cit., S.115-125. Claus-Peter Hasse hat jüngst die Vermutung formuliert, daß "eine persönliche Teilnahme des Autors oder zumindest die Vorlage mündlicher Berichte eines Augenzeugen wahrscheinlich" seien. (Die Jerusalemwallfahrt Heinrichs des Löwen, Herzog von Bayern und Sachsen Ilnn3. In: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Bd. 2 Essays. Hg. von Jochen Luckhard und Franz Niehoff. München 1995. S.551. 458 Amold von Lübeck, loc. cit. Lib. I, cap.4. S. 119. 459 V gl. Karl Jordan, Heinrich der Löwe. Eine Biographie. München 21980. Kapitel 8: Auf der Höhe der Macht. S. 149-187. 460 Jordan, loc. eit., S. 191 . 461 MartinMöhle, Der Braunschweiger Dom Heinrichs des Löwen. Die Architektur der Stiftskirche St. Blasius von 1173-1250. (= Beiheft 11 zum Braunschweigischen Jahrbuch). Braunschweig 1995. S. 17. Möhte referiert auf den vorangegangenen Seiten einen diese These vertretenden Vortrag von Johannes Fried aus dem Jahre 1993, dessen Titel er leider nicht angibt.

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terer Beleg dafür: der Kaiser Rotbart konnte gehofft haben, seinen Gegenspieler mit einem Beitrag zur Befriedung der Situation in Outremer zu übertrumpfen. In jedem Fall aber gewinnt die Mission Burchards vor diesem Hintergrund eine weitere Facette. Über die Interessen, die Burchard bei Saladin vertreten sollte, schweigt er sich aus. Sicher ist jedoch, daß seine Darstellung der geographischen, landwirtschaftlichen, ethnologischen und wirtschaftlichen Besonderheiten Ägyptens und Syriens auf ein nicht unbeträchtliches Interesse stieß, das belegt die durchaus breite Überlieferung seines Textes 462 •

b) Die Quellen und Rezipienten Burchards In bezug auf die lateinischen Vorlagen warnt Devos vor voreiligen Entscheidungen, was die Benutzung anderer Texte durch Burchard angeht 463 • Er hat für die berichtete Legende von Sai'dnaia feststellen können, daß Burchard und Thietmar beide auf eine arabische Quelle zurückgegriffen haben, wie es vor ihm bereits H. Zayat festgestellt 464 hatte. Wichtigster Beleg hierfür ist das im Bericht über die Verbringung des Marienbildnisses von Jerusalem nach Saldnaia angegebene Datum. Das in arabischen Quellen nach der muslimischen Zeitrechnung genannte Jahr 1370 (das dem Jahr 1059 christlicher Zeitrechnung entspricht) führte natürlich 1175 bzw. 1217 zu Verwirrung 465 , so daß es zu merkwürdigen Verschreibungen kam. Paul Devos hat des weiteren, Laurent folgend 466 , aufgezeigt, daß Burchards Reisebericht wohl im Jakob von Vitry zugeschriebenen dritten Buch der Historia Ori462 Neben den bereits erwähnten Handschriften Ba und Be überliefert den Auszug aus Burchards Bericht auch die Genter Handschrift 486 (G) aus dem 15. Jahrhundert. Den Text in voller Länge bieten die Vatikanische Handschrift 1058 (V) aus dem 13. Jahrhundert (Vgl. Codices Vaticani Latini. Tomus 11, pars prior. Recensuit Augustus Pelzer. Vatikan 1931), die Wiener Pergamenthandschrift 362 (Vind) aus dem 14. Jahrhundert (Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in bibliotheca palatina Vindobonensi asservatorum ed. Academia caesarea Vindobonensis. Bd.I-II. Nachdruck Graz 1965. S. 54 f.) (nach Lehmann die "Urfassung" Burchards), sowie die 1944 verbrannten (Potthast, loc. cit., S. 608: a.1944 igne destructus) Münchner Fragmente (M), zwei aufeinander folgende Quaternionen aus dem 14. Jahrhundert. Der von Wattenbach (Deutschlands Geschichtsquellen 511. S.405 Anm.4. "Auch der Wiener Cod. 362 hat die Jahreszahl 1175; ebenso Cod. Vat. 1202, Arch. XII, 223") und SchefferBoichorst Ooc. cit., S.474, Anm.4) genannte cod. 1202 der Vatikanischen Bibliothek überliefert tatsächlich keinen einzigen Pilgerbericht. 463 "Bien hardi ce1ui qui pn!tendait fixer avec rigueur les limites et les origines [... ]." Devos, S.270. 464 H. Zayat, Histoire de Sai·danaya. In: Analeeta Bollandiana 51 (1933), S. 434-438. 465 Daher wurde die Angabe MCCCLXX im Codex Vindobonensis zu einem einfachen 370, indem die Tausenderziffer fortgelassen wurde, dem Codex Vaticanus und Arnold von Lübeck scheint dies wohl zu früh, und sie machen 870 (VIIIC et LXX) daraus, während die Münchner Fragmente diese Zahlen umkehren und CLXXVIII- 178 - daraus machen. 466 Laurent, Serapeum 19, S.147.

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entalis et Occidentalis 467 verwertet worden ist, insbesondere die Bemerkungen über Saidnaia, die Wüste und Damaskus sowie der Überblick über die Assassinen.

c) Die Beschreibung der Reise In allen Handschriften wird als erstes der Grund für die Reise Burchards angegeben: die Mission im Namen Friedrichs Barbarossa. Dieser Satz wird in jeder Handschrift, die den Text eigenständig überliefert, in der ersten Person konstruiert, während Arnold von Lübeck, die Aussage seiner Chronik anpassend, in der dritten Person schreibt: der Kaiser habe den Vicedominus geschickt 468 . Über die Hintergründe dieser Mission zu unterrichten, erachtet der Verfasser ganz offenbar nicht als seine Aufgabe, vielmehr ist es sein Anliegen, zu berichten, was er gesehen hat. Auch die "hierzulande" (in Europa bzw. im Reich) als selten oder außerordentlich empfundenen Dinge, die ihm erzählt wurden und die er als glaubwürdig ansah 469 , wolle er notieren. Der Text beginnt als Reisebericht. Burchard gibt an, wo und wann er sich einschiffte: am 6. September 1175 in Genua. Es kann mitSchejfer-Boichorst470 vennutet werden, daß er direkt vom kaiserlichen Hofe kam, der Ende August in Pavia weilte. Von Genua ging die Reise zwischen Korsika und Sardinien, die ihn beide durch ihre Schönheit beeindrucken, deren Bevölkerungen sich jedoch unterscheiden: Während die Korsen kämpferisch wirkten, seien die Sarden viri ejfeminati et deformes 471 • Den Beleg für die Burchard von Devos vorgeworfene "Ansammlung phantastischer Anekdoten"472 liefert die Erwähnung des giftigen Wassers, das zu trinken die Menschen und das zu überfliegen die Vögel das Leben koste. Auch an Sizilien kommt sein Schiff vorbei, welche Insel voll der Quellen und Flüsse, Kräuter und Früchte und durchaus reich an Einwohnern sei, denn mehrere Städte fänden sich dort. Malta sei von Muslimen bewohnt, befinde sich aber unter der Herrschaft des Königs von Sizilien 473 . Dies ist verbürgt: Roger 11. hatte in seinen zwischen 1123 und 1128 unternommenen Eroberungszügen im Mittelmeerraum die Insel für das sizilisch-nonnannische Reich sichern können 474 • Von "Panteleon"475 bzw. "Pameleon"476 (gemeint ist wohl Pantellaria) hingegen ist der Reisende weniger angetan: scheue Höhlenmenschen ernährten 467 Jacob Gretser, Jacobi de Vitriaco Opera omnia, Bd. III. Regensburg 1734. Vgl. Ph. Funk, Jakob von Vitry, Leben und Werke, Leipzig 1909 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Heft 3). 468 Anno [00'] domnus Frithericus Romanorum imperator et augustus misit domnum Gerardum Argentinensem vicedominum in Egyptum [00'] MGH, S. 235. 469 Lehmann, S. 63, MGH, S. 235. 470 Scheffer-Boichorst, loc. eit., S.474, auf der Grundlage von St. 4178'. 471 Lehmann, S. 63, MGH, S. 236. 472 Devos, loe. eit., S. 262. 473 Lehmann, S. 63, MGH, S. 236. 474 V gl. Runciman, loc. cit. Bd.2. S.251. 475 MGH, S. 236. 476 Lehmann, S. 63.

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sich im wesentlichen von Vieh, da nur wenig Ackerbau möglich sei. Die Reihenfolge der Schilderung ist verwirrend: Pantellaria liegt nordwestlich von Malta und müßte eigentlich, wenn man eine chronologisch-geographische Ordnung der Reise von italien nach Ägypten annimmt, vor dieser Insel beschrieben werden. Hier scheint der Text durcheinander geraten zu sein, denn ähnlich merkwürdig ist die an dieser Stelle eingefügte Beschreibung eines schwarzen Nomadenvolkes, zu dem Burchard nach sechs oder sieben Tagen gestoßen sein will- obwohl er sich noch auf dem Meer befindet. Abschließend folgt die Beschreibung der Wale und der fliegenden Fische, die Burchard auf dem Meer gesehen hat 477 • Alexandria ist der Ort, an dem Burchard das Reich des Wesirs von Ägypten zuerst betritt, und als erstes sieht und beschreibt er die Leuchttürme der Hafenstadt. Hier leben, so berichtet er, unter der Herrschaft des Königs von BabyIon (damit ist Saladin gemeint) Sarazenen, Juden und Christen miteinander. Wenn er auch die verschiedenen Nil-Arme, die die Stadt umgeben, mit dem Euphrat gleichsetzt, so sind doch die anderen Auskünfte recht genau: Die Handelsstadt nähme über den Hafen jährlich 8.000 Mark Silbers an Zöllen ein. Die Bevölkerung beziehe das Trinkwasser einzig über Aquädukte aus Zisternen, in denen das jährlich einmal über die Ufer tretenden Nilwasser gesammelt werde. Mehrere christliche Kirchen gäbe es hier, so St. Markus, in der man die Gebeine von siebzig Märtyrern verehre. In einer merkwürdigen Überlagerung der Ereignisse berichtet Burchard, daß Markus dort nicht nur sein Evangelium geschrieben habe, sondern auch in derselben Kirche begraben liege. Dort würden die Patriarchen gewählt, geweiht und begraben. Die Christen in Alexandria unterständen einem griechisch-orthodoxen Patriarchen 478 • Diese Angabe ist merkwürdig, da die Mehrheit der Christen in Ägypten koptisch 479 war, doch ist richtig, daß sich der Patriarchensitz der griechisch-orthodoxen Kirche in Alexandria befand, wie er es noch heute tut. Mit dem Blick eines Touristen geht er durch die Stadt, weist auf die Ruinen des Pharaonenpalastes hin, beschreibt die Salzgewinnungsanlagen vor den Toren der Stadt und geht noch einmal auf die jährlich stattfindende Überflutung des Gebietes zwischen Mitte Juni und Mitte September ein. Im März sei hier Erntezeit, wundert er sich, und beflügelt von dieser Merkwürdigkeit, fügt er dem noch weitere hinzu: Die Ziegen und Schafe werfen zweimal jährlich 480 , und Pferde kreuze man hier mit Eseln. Man bemerkt Leichtgläubigkeit (denn auch wenn letztere Aussage stimmt, ist erstere falsch) neben Informationsfreude. Die Christen in Alexandria, so schreibt er, lebten in Armut und hätten es besonders schwer481 , denn sie zahlten an den König von Babylon (also an den Wesir von Ägypten) hohe Tribute. Doch stehe in fast jedem Dorf eine Kirche. Lehmann, S. 63 f., MGH, S. 236. Vgl. Runeiman, The Eastem Schism. 479 Vgl. Aziz Atya, The History of Eastem Christianity. 480 Bei einer Trächtigkeitsperiode von 145 bis 157 Tagen bei Hausschafen ist dies wohl kaum zu leisten. 481 Lehmann, S. 65, MGH, S.237: lpsum autemgenus hominum miserrimum est et misere vivit. 477

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Von Alexandria führt es ihn weiter nach Babyion, das er als drei verschiedene, zu unterschiedlichen historischen Epochen bestehende Städte beschreibt. In der ersten, am fluß Chobar gelegenen, befinde sich der Turm zu Babel; dort habe Nebuchadnezar gelebt. Im zweiten Babyion, am Nil und am Fuße eines Berges, sei der Wohnsitz des alttestamentarischen Pharao gewesen. Beide seien nicht mehr bewohnt. Das neue Babyion (damit meint er Alt-Kairo, den bisherigen Regierungssitz Saladins) hingegen sei ausschließlich von Händlern bewohnt. Burchard bestaunt - wie schon Benjamin von Tudela 482 - die Schiffe, die hochbeladen mit Gewürzen aus Indien den Nil hinauf nach Alexandria weiterfahren. In der Wüste vor der Stadt fanden sich merkwürdige montes lapidibus marmoreis maximis et aliis quadratis artificio erecti 483 • Es ist deutlich, daß Burchard die Pyramiden gesehen haben muß. In Kairo wohnten ebenfalls Sarazenen, Juden und Christen beieinander, wobei jede Nation ihr eigenes Recht und Gesetz befolge. Mehrere christliche Kirchen bemerkt Burchard, ohne jedoch einzeln auf sie einzugehen. Der einzige Balsamgarten der Welt befinde sich hier. Aus der Beschreibung der Bäume und ihres Nutzens ist erkennbar, daß Burchard eine Kautschukplantage gesehen hat, denn er berichtet von der Gewinnung und Herstellung von Gummi: Die aus der Rinde der Stämme rinnende Flüssigkeit werde gesammelt, sechs Monate in Taubenmist gelagert und (nachdem die im Taubenmist konzentrierte Säure die Flüssigkeit zu Gummi koaguliert hat, fügen wir hinzu) dann vom Unrat getrennt. Dieser Sinn für das Praktische verläßt Burchard auch nicht, als er die (im Balsamgarten gelegene) Quelle beschreibt, an der Maria mit Jesus (Joseph wird nicht genannt) auf der Flucht vor den Schergen des Herodes Halt machte. Denn sie ruhte sich nicht nur aus, sondern wusch dort auch die Windeln ihres Kindes. Der Ort werde, so Burchard, auch von den Muslimen in Ehren gehalten. Auch wenn sie die Apostel als Propheten verehrten, Marien Geburtstag feierten und an die jungfräuliche Empfangnis sowie an Christi Auferstehung glaubten, weigerten sie sich anzuerkennen, daß er Gottes Sohn war. Auch an einem anderen Ort ruhte Maria. Die Palme, unter der sie rastete, neigte sich zu ihr hinab, um ihr Datteln zu reichen. Dieser Baum habe sich niemals fallen lassen. Burchard erwähnt, es gäbe noch weitere Heiligtümer, ohne jedoch auf deren Lage oder Namen einzugehen. Er fügt an dieser Stelle eine Beschreibung des Nil/Euphrat ein, der im Paradies entspringe und den Rhein an Größe überträfe - wohl der einzige Versuch, mittels eines Vergleichs die überwältigende Fremde einzuordnen 484 • In dem Gewässer wohnten wilde Pferde, die sich im Wasser versteckten (also Nilpferde) sowie Krokodile, die er ausführlich beschreibt. Eine Wall482 Der Rabbi Benjamin bar Jona von Tudela reiste vor 1173 durch Kleinasien und durch die arabische Welt. Eine Übersetzung seines Reiseberichts durch Stefan Schreiner findet sich in: Jüdische Reisen im Mittelalter. Leipzig 1991. S. 7-119. Hier S.113. Vgl. auch W. Heyd, Histoire du Commerce du Levant au Moyen Age. Leipzig 1886. S. 384. 483 Lehmann, S.65, MGH, S.237. 484 Vgl. Arnold Esch, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters. In: Historische Zeitschrift 253 (1991), S.281-312.

3. Burchard von StraBburg, Itinerarium

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fahrtsstätte in Ägypten liege neben einem trockenen Brunnen. Alljährlich, zum Fest der Kirche, fülle sich dieser mit Wasser und speise die herbeigeeilten Pilger. Merkwürdig ist nur, daß Burchard weder den Namen des Ortes, das Datum des Festes noch irgend welche sonstigen Einzelheiten nennt. Es folgt eine Liste weiterer Besonderheiten: Alaun gäbe es, dessen Produktion das Monopol des Königs sei, indische Farbe sei zu finden (dies ist möglich: im Nildelta wachsen diverse Indigofera-Arten wie der Färberknöterich). Viele verschiedene Vogelarten weise das Land auf, darunter Papageien aus Nubien, jedoch keine Gold- oder Silbervorkommen. Eine weitere Besonderheit sind für Burchard die Brutanlagen: Auch deren Einkünfte stünden dem König zu, vermerkt der Verwaltungsbeamte. Nach einer Beschreibung des harten Klimas in Ägypten kommt der Autor auf den Paradiesesglauben der Sarazenen zu sprechen, die ihm von den vier Flüssen mit Wein, Milch, Honig und Wasser erzählt hätten. Außer köstlichen Früchten gäbe es für jeden Mann zur Sättigung seiner körperlichen Begierde täglich eine neue Jungfrau, und wer im Kampf gegen die Christen den Tod erlitten habe, dürfe gar täglich über derer zehn verfügen. Burchard berichtet, er habe nachgefragt, wie das denn möglich sei, da doch nicht nur Jungfrauen stürben, und im übrigen: was würde eigentlich aus den täglich verdorbenen Jungfrauen? In stolzer Bescheidenheit vermerkt er, daß auf diese Frage die Berichterstatter nicht zu antworten wußten ... Abschließend weist Burchard darauf hin, daß in Ägypten zwar wegen der muslimischen Speisegesetze kein Wein angebaut würde, dieser allerdings hier sehr gut wachsen könnte. Wohl auf der Suche nach seinem Gesprächspartner Saladin, der sich zu diesem Zeitpunkt schon in (oder noch vor den Toren von) Damaskus befindet, reist Burchard nach Syrien, wobei er eine riesige Sandwüste durchqueren muß. Dort fanden sich nur die Beduinen zurecht, die sich nach Art der Seeleute an den Sternen orientierten. Auf dem Weg kommt er an dem Ort vorbei, an dem Moses aus dem Felsen Wasser schlug, doch scheint ihn in stärkerem Maße zu interessieren, daß die Wüste undurchquerbar und daher unermeßlich groß sei. Bosdrum, so berichtet er weiter, sei eine ehemals im christlichen Besitz befindliche Stadt, doch jetzt sei sie hauptsächlich von Sarazenen bewohnt, die wenigen dort lebenden Christen seien dem Herrn von Damaskus tributpflichtig 485 • Damaskus selbst sei förmlich ein Paradies auf Erden, in dem viel Wasser flösse. Burchard wiederholt einen schon auf Alexandria angewandten Topos: Die Stadt müsse, auf Grund der zahlreichen dort anzutreffenden alten Leute, sehr gesund sein. Doch wendet er sich bald Sai"dnaia zu, dem Ort, an dem ein ölspendendes Marienbildnis Christen, Sarazenen und Juden ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit von diversen Krankheiten heilt. Sowohl die Araber als auch die Christen kämen oft dorthin, um das Bildnis, dessen Öl niemals versiegt, zu verehren, insbesondere am Tag Mariae Himmelfahrt. Das Bild sei, so berichtet Burchard weiter, von Kaiser 485

V gl. Joshua Prawer, Histoire du Royaume Latin de Jerusalem. 1970n I.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Konstantin in Auftrag gegeben worden, das dann von "irgendeinem Patriarchen"486 nach Jerusalem geführt worden sei. Eine Äbtissin wiederum habe es dann von dort im Jahre 870 487 bzw. 178 488 hierhin gebracht. Es folgt ein Exkurs über die Assassinen, die in den Münchner Fragmenten und der Wiener Handschrift (siehe hierzu Fußnote 462 auf S. 87) mit ihrer lateinischen Bezeichnung genannt sind: et in Latino veteres promontani,489 während Amold von Lübeck den romanischen Begriff nennt: et in Romano segnors de montana 490 . Damit hat Burchard den Titel der Führer der Assasssinen 491 auf das ganze Volk übertragen. Diese Menschen hätten besondere Gewohnheiten, die gegen die Regeln der Muslime verstießen: Sie äßen auch Schweinetleisch 492 und kümmerten sich nicht darum, mit welcher Frau sie zusammenkämen - dies könne auch ihre Mutter oder Schwester sein 493 . Der Fürst bilde junge Männer zu kaum besiegbaren Mördern aus, die ihrem Herren bedingungslos gehorchen würden - eine Darstellung, die Nowell auf der Basis anderer, auch arabischer Quellen bestätigt494 . Diese Männer, so bemerkt Burchard, würden in den zahlreichen Palästen des Fürsten bestens in Latein, Griechisch, Arabisch und Romanisch ausgebildet. Ihre Mehrsprachigkeit wird wiederum von Nowell erläutert: Die Mörder mußten unerkannt an ihre mitunter auch fremdländischen Opfer herankommen können 495 . Auf diese eher blutrünstige Nachricht folgt in Amolds Chronik ein beiläufiger Abriß der weiteren Reiseroute: Von Damaskus führt es Burchard nach Tiberias, Akkon, Jerusalem, Askalon und zurück nach Kairo. Über Jerusalem verliert er kein weiteres Wort 496 . Anscheinend erschien dies schon der MünchnerNatikanischen Bearbeitung merkwürdig, denn sie setzt statt der Behauptung, dorthin gereist zu sein, schlichte Entfemungen 497 , die in der dritten Person gegeben werden. Es ist hier Lehmann, S. 68, MGH, S. 240. MGH, S. 2400. 488 Lehmann, loc. eit., S. 68. 489 Lehmann, S. 68. 490 MGH, S. 240. 491 Vgl. C. E. Nowell, The Old Man of the Mountain. In: Speculum 22 (1947), S.497-519. Hier S.497: "The grand masters [... ] had a title wh ich European crusaders translated as ,The Old Man of the Mountain'." 492 Dies berichtet auch Wilhelm von Tyrus: Guilelmus Tyrensis Archiepiscopus Historia rerum in partibus transmarinis gestarum. Lib. III. In: Migne, Patrologia Latina Bd. 201. 1855. 493 Lehmann, S. 68, MGH, S. 240. 494 Nowell, S. 501: "They were young men who existed only to be the blind instruments of the grand master." 495 Nowell, S. 507: "Since they usually had to sail under false colors to get within reach of their prey, they needed a considerable education, sometimes having to speak foreign languages fluently and to assume the manners and habits of alien cultures." 496 MGH, S. 240: ltem a Damasco per Typeriam usque Accaron ivi, et inde usque lerosolymis, ab lerosolymis vero usque Aschalonam. 497 Lehmann, S. 69: ltem a Damascho per Thabariam usque Achon 4 0r sunt diete et 3 usque lherusalem et a Jherusalem usque Aschalonam II diete. 486

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3. Burchard von Straßburg, Itinerarium

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die (nicht zu beantwortende) Frage zu stellen, ob Burchard wirklich in Jerusalem war, oder ob er sich gezwungen sah, der Konvention der Gattung "Her ad Terram Sanctam" zu folgen und Jerusalem wenigstens zu nennen. Es folgt eine der erstaunlichsten Passagen dieses Berichts. In Kairo 498 bzw. in Ahir (EI Arisch)499 gebe es ein Bordell, das Burchard einer besonderen Erwähnung wert hält. In der MünchnerIVatikanischen Version lesen wir: Nota, apud Kayr publicum prostibulum Sodomitarum est, während der Chronist Arnold diesen Ort heterosexuellen Besuchern vorbehält: Nota, apud Ahir publicum prostibulum meretricum est. Wie es zu dieser Umwidmung kam, ist nicht zu erklären, leichter hingegen die Nichtbeachtung dieser Stelle durch die Forschung des 19. Jahrhunderts. Auffällig ist allerdings, daß Laurent in seiner Übersetzung wohl auf die Parallelüberlieferung der Burchardberichte zurückgreift (er übersetzt die Chronik Arnolds!) und diesen Ort zu einem Bordell "der Sodomiter"5°O macht. Diese Betrachtung führt Burchard zu einer allgemeinen Beobachtung über die arabischen Sitten, beginnend mit den Frauen, die unter Leintüchern verhüllt gingen und unter strengster Bewachung von Eunuchen von allen männlichen Besuchern, sogar dem eigenen Bruder, ferngehalten würden. Die Männer beteten nach ausführlicher Waschung fünf Mal täglich und hielten Gott für den Schöpfer aller Dinge, während Mohammed als sein Prophet gelte 50I . Auch die Rechtsgelehrten würden von ihnen in Ehren gehalten, und nach islamischem Recht könne sich ein Mann sieben Frauen gleichzeitig halten. Wolle er jedoch seine Sklavinnen oder Dienerinnen verführen, so tue er dies quasi non inde habeat peccatum 502 • Ein eventuell im Ergebnis einer solchen Liaison geborenes Kind komme als freier Mensch zur Welt und sei ungeachtet seiner Herkunft erbberechtigt. Eine Art Essay über die Frommen und Ungläubigen beschließt den Text in der Chronik Arnolds. In der MünchnerIVatikanischen Handschrift finden sich hingegen die weniger "wohlwollendes Interesse"503 als vielmehr ein strengeres Urteil widerspiegelnden Schlußworte, die Sarazenen vivunt et regnant cum diabolo in secula seculorum 504 •

Lehmann, S. 69. MGH, S. 240. 500 Laurent, Die Chronik Arnolds von Lübeck. loc. eil., S. 292. SOl Anklänge an das islamische Gebet "Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet" sind möglicherweise in Burchards Feststellung: Credunt enim Dominum creatorem omnium, Maumeth prophetam dicunt esse ... zu sehen. 502 Lehmann, S.69, MGH, S.241. 503 v. den Brincken, loc. cit., S. 362. 504foI.112r. Vgl.DevosS.261. 498

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

d) Burchard - ein Tourist? Ein Diplomat? Ein Spion? Die Interpretationen des Textes Burchards und der sich darin ausdrückenden Persönlichkeit sind sehr vielfältig. Sieht Scheffer-Boichorst in ihm den einfachen Kanoniker, der als "Tourist [... ] nicht Studien, nur Eindrücke [... ] zu Papier"sos bringt, so wird er von Laurent als viel kopierter Autor von drei durchaus bedeutenden Texten angesehen s06 . Devos hingegen läßt nichts an der "assemblage des anecdotes fantaisistes ou incontrölables"so7 gelten, die alle abgeschrieben seien. Diese Urteile gehen sowohl am Bericht als auch an dessen Autor vorbei. Bei erster Lektüre sieht man ihn durchaus als Touristen - interessante, fremdartige Erfahrungen werden mitgeteilt, wie sie einem eben in der Fremde auffallen. Schließlich hat Burchard in seiner Vorrede den Bericht als Sammlung allen Außerordentlichen, Seltenen oder in der Heimat Fremden angekündigt. Der Vergleich des Nils mit dem Rhein zeigt, daß Burchard bemüht ist, dem Leser - und vielleicht auch sich selbst - diese überwältigende Welt in das eigene System zu übersetzen und verständlich zu machen so8 . Daß Burchard als Diplomat reiste, ist Ergebnis der zweiten Lektüre. Jemand, der über seine Mission nur das Datum und den Auftraggeber nennt, hat wohl das erste Gebot der Diplomatie - die Verschwiegenheit - erfüllt. Sprachkenntnisse treten zutage, denn Burchard erwähnt keinen Dolmetscher, hat sich aber mit Muslimen unterhalten und kennt die romanische Bezeichnung für die Assassinen. Die pikante Plauderei unter Männern mag möglicherweise ebenfalls ein Instrument der Diplomatie sein. Die Untersuchung des Textes hat allerdings noch mehr gezeigt. Der Straßburger Wirtschafts beamte zeichnet sich durch große Wachheit und Beobachtungsgabe aus, und zunächst scheint es nur, daß er eben seine berufliche Tätigkeit nicht leugnen kann. Gerne kommt er auf die landwirtschaftlichen Produkte und allgemeinen wirtschaftlichen Einnahmequellen zu sprechen. Technische Errungenschaften wie das künstliche Ausbrüten von Eiern in geheizten Brutöfen oder die Herstellung von Gummi regen ihn zu detaillieren Beschreibungen an. Dabei ist er immer bemüht, genau anzugeben, zu wessen Nutzen sie dienen. Auch die Praxis, Pferde mit Eselinnen zu kreuzen oder die (nicht zu substantiierende) doppelte Trächtigkeit von Schafen und Ziegen finden sein Interesse wie auch sonstige Besonderheiten der Fauna (Papageien, Krokodile, Nilpferde). Gleichzeitig interessieren ihn besonders Mirakelberichte und verehrungs würdige Orte, die der Mutter Gottes geweiht sind. Er vergißt dabei nicht die zahlreichen Menschen zu erwähnen, die jedes Jahr oder öfter diese Stätten besuchen. Schejfer-Boichorst, loc. cit., S. 475. Serapeum 19, S.146f. 507 Devos, loc. cit., S. 262. 508 Möglicherweise ist es in diesem Kontext verständlich, daß er so dezidiert Nil und Euphrat zu ein und demselben Fluß erklärt: Sciendum enim est, quod Eu/rates et Nilus una et eadem aqua est. MGH, S. 236. 505

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4. Amold von Lübeek, De peregrinatione Heinrici ducis

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Burchard schreibt also von den verschiedenen Einnahmequellen Ägyptens und Syriens (Bodenschätze, Landwirtschaft, Zölle, Einnahmen an Heiligtümern). Er berichtet darüber einem Kaiser, der trotz seiner Bindung in Italien und im Deutschen Reich nicht vergessen hat, daß er auch im Heiligen Land aktiv werden muß 509 . Die Gesandtschaft Burchards hat zwei Ziele verfolgt - zum einen die oben bereits erwähnte Kontaktpflege zu Saladin, zum anderen die Erkundung, inwieweit sich eine Eroberung der beschriebenen Gebiete auch lohnen würde. Burchard ist somit als Kundschafter gereist, er hat in seinem Bericht festgehalten, welchen Nutzen die Eroberung von Ägypten und Damaskus haben könnte. Wir haben es hier nicht mit einem Itinerarium des Heiligen Landes zu tun. Burchard läßt Palästina absichtsvoll aus seinem Text heraus, denn dessen lang bekannte wirtschaftliche Parameter zu benennen, wäre in diesem Zusammenhang überflüssig. Bei diesem Bericht handelt es sich offenbar um die Zusammenfassung der Ergebnisse einer Reise, die im Dienste der "Wirtschaftsspionage" unternommen wurde. Er ist damit gerade das "für den Kaiser bestimmte diplomatisch-politische Aktenstück"51O, das dieser möglicherweise genau in der vorliegenden Form verlangt hat.

4. Amold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis in der Slawenchronik Die beiden überlieferten Werke Arnolds von Lübeck verdeutlichen nicht nur die parallele Produktion und Rezeption lateinischer und volkssprachlicher Literatur. Sie bieten darüber hinaus die Möglichkeit, auszuloten, inwieweit im biographisch-historischen Schreiben die fiktionale Literatur und das Verhältnis eines Dichters zu seinem Helden gespiegelt werden kann. Denn Arnold hat als Autor der Beschreibung von Heinrichs wie von Gregorius' vita die Position eines Erzählers einnehmen müssen, unabhängig von der sprachlichen Form, die diese Erzählungen verlangten. Die Beschreibung von Heinrichs des Löwen Pilgerfahrt bietet damit eine besondere Chance, ist doch die Darstellung einer Pilgerfahrt durch einen anderen Autor als den Pilger selbst als Übergangsform zwischen biographischem und fiktionalem Schreiben zu sehen. Denn das Verfahren eines Historiographen, der die Taten eines Fürsten und dessen reale Pilgerfahrt beschreibt, entspricht durchaus der Behandlung, die ein fiktionaler Held durch seinen Dichter erfährt.

509 510

Vgl. Mayer, Kreuzzüge, loe. eit., S.125f. Lehmann, loe. eit., S. 62 streitet dies ab.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

a) Die Werke des Autors Arnold behauptet, nur die unvollendete Chronik Helmolds von Bosau fortgesetzt zu haben 511 . Wie schon D. Berg Arnolds Darstellung für eine "Fehleinschätzung" hielt 5l2 , hat Bernd Ulrich Hucker nachgewiesen, daß "Inhalt und Aufbau der Historia Arnolds dem Zwecke einer Königschronik entsprechen"513, die unter anderem das Kaisertum Ottos IV. legitimieren sollte - nicht zuletzt mit Hilfe der Lebensgeschichte seines so illustren Vaters. Dieser ist, wie Hucker nachweisen konnte, der "Held des ersten, zweiten und fünften Buches"514. Eine besondere Vorliebe für die Schilderung der Ereignisse im Heiligen Land ist in Amolds Werk zu bemerken. Die Reisebeschreibung wird ergänzt durch eine Geschichte des dritten Kreuzzuges Kaiser Friedrichs I. von 1189-1192 (bei Arnold als erster Kreuzzug bezeichnet, da er nur die von Kaisern geleiteten Unternehmen zählt), die das gesamte Buch IV einnimmt. Den in der Forschungsliteratur nicht gezählten, von Kaiser Heinrich VI. initiierten Kreuzzug von 1195/1197 zählt er entsprechend in V. Buch, cap.25-29 als peregrinatio secunda in terram sanctam. Der sogenannte vierte Kreuzzug wird im VI. Buch, cap. 19 und 20 als subactio Grecie geführt. Der von Arnold integrierte Reisebericht Burchards von Straßburg im VII. Buch, cap. 8 ist ein weiteres Zeugnis seines Interesses am Orient. Berechnet man das Textvolumen 515 , kommt man auf fast 30 % des Textes, die sich mit Reisen (ob friedlichen oder bewaffneten) in den Orient befassen. Diese Gewichtung offenbart ein starkes politisches Gespür des Chronisten, der hier das aktuelle Interesse seiner Zeit aufgreift. Die Eroberung Jerusalems durch Saladin im Jahre 1187 hat das Interesse am Heiligen Land deutlich anwachsen lassen. Dieses Thema wird durch drei weitere ergänzt: das deutsch-dänische Verhältnis, die Reichsgeschichte und die Kreuzzüge nach Livland. Es scheint daher fast so, als sei Arnolds Chronik weniger eine Fortschreibung von Helmolds Text als vielmehr eine Ergänzung: Helmold befaßt sich mit den Ereignissen die zur Etablierung der Herrschaft Heinrichs des Löwen führten: die Eroberung Holsteins, der Bau von Städten wie Segeberg und Lübeck, die Kämpfe des Löwen in Sachsen, seine Konflikte mit dem König der Dänen, 511 Ausgabe in MGH SS rer. Germ., 1868. Alle Angaben beziehen sich auf diesen Text. Deutsche Übersetzung von J. C. M. Laurent, Die Chronik Amolds von Lübeck. Neu bearbeitet von W. Wattenbach (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit Bd. 71). Leipzig 31940. Hier S. 115: Quia ... Helmoldus sacerdos historias ... ut voluit, non consummavit Deo cooperante hic operi vellabori insistere decrevimus ... 512 D. Berg, Helmold und Amold. In: Wilhe1m Wattenbach, Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V bis zum Ende des Interregnum. Darmstadt 1976. Bd.l, S.427-441. Zitat aus S.437, Anmerkung. 513 Bernd Ulrich Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum". In: DA 44 (1988), S. 98-119. Hier S.108. 514 Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", loc. cit., S. 103. 515 Ausgabe der MGH insgesamt: 135 Seiten. Pilgerfahrt Heinrichs des Löwen 10 Seiten, dritter Kreuzzug 16 Seiten, vierter Kreuzzug 8 Seiten, Reisebericht Burchard von Straßburg 6 Seiten. Das sind 40 Seiten Text.

4. Amold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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und - als Ende der Chronik - der Friedensschluß mit diesem. Arnold von Lübeck fügt diesen Schilderungen der nordostdeutschen politischen Geschichte Darstellungen prunkvoller oder heldenhafter Fahrten durch ferne, faszinierende Länder bei. Hierbei entspricht die Prächtigkeit der Darstellung den in der höfischen Literatur beschriebenen Szenen. Daß er durchaus die Absicht verfolgt, seine Leser zu unterhalten, belegt das Zitat aus der Epistel De arte poetica des Horaz, mit dem er den Bericht Burchards von Straßburg über seine Reise ins Heilige Land einleitet: aut prodesse volunt aut delectare poetae. Es ist bezeichnend für Arnolds Verständnis seines eigenen Werkes, daß er sich hier wie selbstverständlich Dichter nennt, der gleichzeitig "Unterhaltung und praktischen Nutzen bringen" WiU 516 . Daß er dies auch in seiner hier behandelten Darstellung der Reise Herzog Heinrichs tut, wird zu zeigen sein. Allerdings entspricht diese Bezeichnung auch der Realität: Arnold war nicht nur Historiograph, sondern auch der Dichter der Gesta Gregorii peccatoris 517 • Die Tatsache, daß dieses Werk im Auftrag 518 von Herzog Wilhelm von Lüneburg 519, dem Sohn Heinrichs des Löwen, entstand, setzt es in den Rahmen eines "politisch-genealogischen Selbstverständnisses"52o, wie Volker Mertens darlegt. Denn der Wunsch Wilhelms von Lüneburg, eine lateinische Bearbeitung des hochdeutschen Gregorius-Romans Hartmanns von Aue schreiben zu lassen, ist mehr als nur Beleg für die Beliebtheit des von Hartmann geschilderten Stoffes. Seine Charakterisierung als schlichtes Bestreben, ein "Objekt des repräsentativen Bildungsluxus"521 zu erwerben, wie es Peter F Ganz postuliert, greift zu kurz. Mertens 522 weist nach, daß die 516 aut simul et iucunda et idonea dicere vitae .. Horaz, Satiren und Episteln. Lateinisch und deutsch von Otto Schönberger. Berlin 21991. De arte poetica, Z. 333. S. 254/255. 51 7 Johannes Schilling (Hg.), Amold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition (Palaestra 280), Göttingen 1986. Frühere Ausgabe: Arnoldi Lubecensis Gregorius Peccator de teutonico Hartmanni de Aue in latinum translatus. Hg. von G. v.Buchwald. Kiel 1889. 518 Vgl. hierzu Volker Mertens, Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und in ihrer Wandlung in der Rezeption. München 1978 (Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 67). S. 36. 519 Wilhelm von Lüneburg (\ 183 während der Verbannung seines Vaters in England geboren) urkundete seit 1202 als Herzog von Lüneburg. Dem Stoff der Gregorius-Dichtung wird er wohl zum ersten Mal während seiner Erziehung am Hofe seines Großvaters, Heinrich 11 von England begegnet sein: Mitte des 12. Jahrhunderts wurde am Hofe von Heinrich 11 und Königin Eleonore (von Aquitanien) die altfranzösische Dichtung des Gregoire verfaßt. Als Herzog Wilhelm später (das genaue Datum seiner Ankunft ist nicht bekannt; bis 1193 befand er sich jedenfalls in Geiselhaft) nach Deutschland gezogen war, wird er Hartmanns von Aue 1187/89 verfaßten Roman gehört haben. 520 Mertens, loc. cit., S. 106. 521 Peter F. Ganz, Dienstmann und Abt. "Gregorius Peccator" bei Hartmann von Aue und Amold von Lübeck. In: Emst-Joachim Schmidt (Hg.), Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Wemer Schröder zum 60. Geburtstag. Berlin 1974. S. 250-275. Hier S. 253 . 522 Mertens, loc.eit., S. 106ff.

7 v. Sarnson-Himmelstjema

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Schilderung des Lebens und Büßens des Gregorius von Equitänjä, der schließlich ein Heiliger und Papst wird, den Interessen des Welfenhauses durchaus entgegenkam. Schließlich war dies eine Dichtung über die eigene Familie, denn über die Angevinen-Prinzessin Eleonore von Aquitanien, der Großmutter Wilhelms und Kaiser Ottos, war man direkt mit Gregorius verwandt - und den berühmtesten Büßer des Mittelalters der eigenen Genealogie eingliedern zu können, war durchaus im Interesse des auf dem Höhepunkt seiner Macht stehenden Geschlechts. Da ein lateinisches Werk "im Sinne des zeitgenössischen Literaturbegriffs [als] das höherrangige" galt, wie Dieter Kartschoke 523 deutlich macht, wird die Intention des Auftraggebers noch einmal verdeutlicht: nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Sprache soll der Gegenstand eine Art von Heiligung erfahren. Arnold brachte diese Dichtung unter Schwierigkeiten in die lateinische Sprache, wie er selbst schreibt: Opus, quod nobis iniunxistis de teutonico transferre in latinum, nobis satis est onerosum, quia usum legendi talia non habemus et modum 10cucionis incognitum formidamus. 524 Es ist ihm also nicht nur das Formulieren in der Zielsprache schwer gefallen, sondern auch der Umgang mit der Ausgangssprache, die zu lesen er nicht gewohnt war. Kartschoke interpretiert den die lateinische Formulierung betreffenden Zusatz dahingehend, die Suche nach den lateinischen Äquivalenten sei wohl problematisch gewesen 525 , während Johannes Schilling feststellt, modus locucionis könne "entweder die hochdeutsche Sprache [... ] oder den Stil des ,Gregorius, "526 meinen. Nach Ansicht von Gustav v. Buchwald, dem ersten Herausgeber der lateinischen Gregoriusdichtung, ist die Schwierigkeit dieser Aufgabe nicht in der lateinischen Sprache selbst zu suchen und auch nicht in der Übersetzungsleistung, da "im Volke selber eine Prädisposition [... ], welche das Latein zu einer in den gebildeten Schichten allgemein angewandten Verkehrssprache gemacht" habe, anzunehmen sei 527 • Vielmehr sei es die "Sprachgrenze zwischen Oberdeutsch und Niederdeutsch"528, "welche der Lateinschule Vorschub leistet."529 Buchwald geht sogar so weit, zu postulieren, die Übersetzung sei gefertigt worden, damit das oberdeutsche Werk überhaupt am Hofe des Lüneburger Herzogs verstanden werden konnte 530. 523 Dieter Kartschoke, in die latine bedwungin. Kommunikationsprobleme im Mittelalter und die Übersetzung der >Chanson de Roland< durch den Pfaffen Konrad. In: PBB 111 (1989), S.196-209. Hier S.199. 524 Praefatio, S. 1. 525 Kartschoke, loc. cit., S.208. 526 Johannes Schilling, Amold von Lübeck, Gesta Gregorii Peccatoris. Untersuchungen und Edition. Göttingen 1986 (Palaestra 280). Stellenkommentar. S. 178 f. 527 Gustav v. Buchwald, Einleitung zur Ausgabe. S. XVI. 528 idem, loe. cit. 529 idem, loc. cit., S. XVIII. 530 idem, loc. cit., S. XIV. Unter ähnlichem Gesichtspunkt hat Georg Steer jüngst den ,Lucidarius' untersucht, und die Tatsache, daß dieser Text kein einziges niederdeutsches Wort enthält, ist wichtiger Beleg für seine Auffassung, dieser könne nicht mehr als welfisches Auftragswerk angesehen werden. Georg Steer, Literatur am Braunschweiger Hof Heinrichs des Löwen,

4. Arnold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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b) Der Autor und seine Umgebung Wenig wissen wir über Arnold, was uns seine Werke nicht erzählen. Er berichtet selbst im Prosaepilog seiner Gesta Gregorii, daß er in Braunschweig ausgebildet worden sei: quia ab ipsa puericia [... ] in Bruneswich educatus fuerim 531 , aller Wahrscheinlichkeit nach im Kloster St. Ägidien, in was er später eintrat. Für die in der Literatur vertretenen Thesen, der möglicherweise um 1150 geborenem Arnold sei als Waise in den Benediktinerorden eingetreten 533 , habe einige Zeit bei den Hildesheimer Benediktinern verbracht 534 bzw. sei am Welfenhof aufgewachsen 535 , werden keine Quellen genannt. 1990 äußerte Bernd Ulrich Hucker die Vermutung, Arnold sei möglicherweise der Familie des Edelherren von Dorstadt, Arnold Barbavaria, zuzuordnen 536. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, daß er 1172 im Gefolge des damaligen Abtes von St. Ägidien, des späteren Bischofs Heinrich von Lübeck, an der Pilgerfahrt Herzog Heinrichs des Löwen teilnahm; dafür spricht die Detailfülle seines Textes und die jüngst geltend gemachte "funktionale Bildungsförderung" Heinrichs des Löwen, der eine solche Reise sicherlich auch zur eigenen Bildung genutzt haben wird 537 . Daß Arnold die von ihm geschilderten Ereignisse als Bericht von seinem Abt, vom Kanzler Konrad von Querfurt und anderen "treffliche(n) Berichterstatter(n)"538 gehört hat ist eine seit dem 18. Jahrhundert verbreitete Meinung, die zuerst 1752 von J. G. Eccard in den "Origines Guelficae" geäußert wurde: die Beschreibung Arnolds sei ohne Zweifel unter Benutzung des Tagebuchs seines Abtes Heinrich entstanden 539 • Wilhelm Anton Neumann führte dies noch weiter und schreibt den ganzen Bericht selbst Abt Heinrich ZU 540. Hans Prutz 541 undA. L. Poole 542 legen sich nicht auf diesen fest, sondern vermuten, ein oder mehrere Mitpilger hätten Arnold mit Nachrichten in: Bemd Schneidmüller, Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im Mittelalter. Wiesbaden 1995, S. 347-375. Hier S. 356f. 531 Arnold von Lübeck, Gesta gregorii peccatoris, loc. eit., S. 177. 532 Peter F. Ganz, loc. cit., S. 251. 533 VgI.D. Berg, F.J. Worstbrock, VL 21 472-476; M. Wesehe in LexMA Bd.l, 107f.; HansJoachim Freytag in NDB Bd. 1. S.381. 534 VgI.D. Berg, F.J. Worstbrock, VL 21 472; Hans-Joachim Freytag in NDB Bd.1. S. 381. m Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV (MGH Schriften 34), S.432. 536 Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV (MGH Schriften 34), S.405 und 432. 537 Martin Kintzinger, Bildung und Wissenschaft im hochmittelalterlichen Braunschweig. In: Bemd Schneidmüller, Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Wiesbaden 1995. S.183-203. 538 Wattenbach in ADB, Bd. 1 s. v.; Vgl. Lappenberg im Vorwort der Übersetzung Laurents (s. u).

539 Origines Guelficae. Bd. III hg. von C.L. Scheidius, Hannover 1752. S. 73: usus sine dubio diario Henrici Abbatis S. Aegidii. 540 Wilhelm Anton Neumann, Der Reliquienschatz des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Wien 1891. S. 27. 541 Hans Prutz, Heinrich der Löwe. Leipzig 1865. S.270, Anm.l. 542 A.L. Poole, Henry the Lion. Oxford and London 1912. S.56, Anm.

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über die Fahrt versorgt. Wilhelm v. Giesebrecht äußerte als erster, es sei "an sich nicht unmöglich", eine Teilnahme Amolds selbst anzunehmen 543 , welche Vermutung sich Einar J(branson 544 anschloß. Für ihn ist Amolds Schweigen über eine Teilnahme an der Fahrt kein ausreichender Beleg für ein Zuhausebleiben. Darüber hinaus könnte ein solcher Beleg nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn in der Chronik mehr über die Ereignisse in Braunschweig während Herzog Heinrichs Abwesenheit berichtet würde - was nicht der Fall ist, Amold erwähnt keines der dortigen Ereignisse. Daß nachJ(branson stilistische Unterschiede zu bemerken sein müßten, wenn Amold seine Chronik mit einer fremden Quelle angereichert hätte 545 , überzeugt allerdings; der Chronist hat als Dichter sein sprachliches Können unter Beweis gestellt. Wahrend D. Berg noch von einer mündlichen Tradition des Pilgerberichts ausging 546 , nahm Karl Jordan eine Teilnahme Amolds an der Reise ohne weitere Problematisierung an 547 . Angesichts der Lebendigkeit, mit der die Fahrt dargestellt wird, und des Schweigens, das über die Verhältnisse in Braunschweig herrscht, ist es sinnvoll, hier Jordans und J(bransons Auffassung zu teilen. Die Identifizierung Amolds war Thema insbesondere der Forschung des neunzehnten Jahrhunderts. Lappenberg setzt ihn mit dem Schatzmeister Amold des Lübecker Domkapitels, der zum ersten Mal 1170 genannt wird, gleich. Dieser spielte eine besondere Rolle, als die Heilig-Land-Fahrer ohne den in Tyrus verstorbenen Bischof Konrad von Lübeck nach Braunschweig zurückkehrten. Das Lübecker Domkapitel sandte seinen Custos nach Braunschweig, um Abt Heinrich die Lübekker Bischofswürde anzutragen. Aus der Detailfreude des Berichts über die Gesandtschaft im I. Buch, cap. 13 schließt Lappenberg auf eine Augenzeugenschaft Arnolds 54s . Da der Custos nach 1177 in keiner weiteren Urkunde auftritt, 1177 jedoch ein Amold als erster Abt des neu gegründeten Lübecker Johannisklosters genannt wird, setzt er die beiden Amolde miteinander gleich. Die Handschrift der Bremischen Chronik Rynsberchs aus dem 14. Jahrhundert, die Gegenteiliges berichtet, erklärt er kurzerhand für "unwerth"549. Rudolf Damus 550 verwarf schon 1876 Lappenbergs Identifikation, die Wattenbach in der dritten Ausgabe der Chronik gar nicht mehr erwähnte 551 . Sie wurde 1881 durch den Fund einer Liste der Äbte von St. Johannis zu Lübeck, die mit Amold beginnt und seinen Namen hinzufügt, endgültig 543 Wilhelm v. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Band VI. Leipzig 1888. S.500f. 544 Einar J~ranson, The Palestine Pilgrimage of Henry the Lion. In: Medieval and Historical Essays in Honor of James Westfall Thompson. Ed. by James Lea Cate and Eugene N. Anderson. Chicago 1938. S.146-225. Hier S.151 ff. 545 J~ranson.loc.cit., S.152. 546 Wattenbach/Schmale. loc. cit., S.438. 547 Karl Jordan, Heinrich der Löwe. Eine Biographie. München 31995. S.176. 548 Lappenberg, Vorwort zur 1. Auflage 1853, S. VII. 549 Lappenberg, loc. cit., S. VIII. 550 Rudolf Damus, Die Slavenchronik Arnolds von Lübeck. In: Zeitschrift des Vereins für lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 3 (1876). Hier vor allem S. 195-205. 551 Wattenbach, Anm. 1, S. VII des Vorworts der 3. Auflage 1940.

4. Amold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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widerlegt: lste Arnoldus fuit primus abbas nostre ecclesie, quem H enricus Lubecensis ecclesie episcopus {.. .] vocavit de ecclesia sancti Egydii in Bruneswich. Der Gerufene sei mit einigen Mönchen, Büchern und sonstigen notwendigen Dingen nach Lübeck gekommen und habe dort sein Amt ausgeübt 552 • Ähnliches berichtet die Historia de duce Hinrico, qui dictus est Leo, et Hinrico abbate, post episcopo Lubicensi 553 • Es ist heute communis opinio, daß Arnold mit mehreren Mönchen des Ägidienklosters aus Braunschweig nach Lübeck kam, um im Johanniskloster eine klösterliche Lebensgemeinschaft einzurichten. Arnold wurde den Anforderungen seines Amtes durchaus gerecht. Er ließ sich von Kaiser Friedrich anläßlich dessen Aufenthalt in Lübeck 1181 alle Besitzungen bestätigen und stellte am 25. Mai 1191 das Kloster unter den besonderen Schutz Papst Cölestins m554 . Er tätigte Investitionen und kaufte 1201 dem Grafen von Holstein das Dorf Kührstorf555 ab. Daß Arnold auch politisch tätig war, macht seine Beteiligung als Schiedsrichter in der strittigen Wahl des Bischofs von Schwerin 1195 deutlich. Merkwürdigerweise geht er auf diese Streitigkeiten in seiner Chronik nicht ein; ob aus Bescheidenheit oder Diskretion, sei dahingestellt. Arnold von Lübeck war jedoch nicht nur Chronist. Wie er selbst vermutet, hat seine Chronik wohl dazu geführt, daß er den Auftrag erhielt, Hartmanns von Aue ,Gregorius' in lateinischer Sprache nachzudichten. So schreibt er im Prosaepilog seines , Gregorius peccator': cuius [Heinrichs] gloriam vidimus et eius virtutes gesta et pietatis opera et felicem (ut speramus) decessum in nostro opusculo stilo mediocri habe er beschrieben, und trotz seiner mittleren Stilhöhe sei dieses Werk wohl der Grund, warum andere Gelehrte in der Umgebung des Herzogs (litteratos eciam in ecclesia beati Michaelis) diesen Auftrag nicht erhalten hätten 556 . Interessanterweise bezieht er seinen in der Forschung als "Slawenchronik" geltenden Text ausschließlich auf die Person, mit deren Reise er beginnt. Dies ist ein weiterer Beleg für den biographischen Schwerpunkt der Chronik 557 , wobei angemerkt werden muß, daß der Adressat dieser Worte der Sohn des Beschriebenen ist und in dieser Darstellung wohl auch eine captatio dessen benevolentiae beabsichtigt sein wird.

Mertens schlägt vor 558 , daß eine "Übermittlung" des Textes anläßlich des Hoftags von Otto IV. am 24. Mai 1209 stattgefunden haben könnte. Obwohl Arnold, der die552 o. Holder-Egger, Series Abbaturn S. Johannis Lubicensis et Cismariensium, in: MGH, SS 13 (1881), co1.348 Z. 30. 553 Detlev Hellfaier (Hg.), Die Historia de duce Hinricio- Quelle der Heiligblutverehrung in St. Ägidien zu Braunschweig. In: Heinrich der Löwe, hrsg. von Wolf-Dieter Mohrmann. Göttingen 1980 (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung Heft 39). S.377406. Hier S. 399. 554 Lübecker Urkundenbuch Th. I Nr. VIII. 555 Lübecker Urkundenbuch Th. I Nr. IX und X. 556 Amold von Lübeck, Gesta gregorii peccatoris,loc.cit., S.I77. 557 Vgl. hierzu Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", loc. cit., S.I01. 558 Mertens, loc. cit., S. 36.

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sen Hoftag am Ende seiner Chronik beschreibt, Herzog Wilhelm von Lüneburg nicht ausdrücklich erwähnt 559, geht Mertens dennoch davon aus, daß er bei dieser Gelegenheit dem Gönner und Auftraggeber Hartmanns von Aue, Berthold V. von Zähringen (dux Bertoldus de Ceringe), begegnet sein wird. Herzog Wilhelm wird Hartmanns Dichtung vielleicht nicht unbedingt gleich bei diesem Anlaß "zu Gesicht oder zu Gehör"560 bekommen haben, doch ist die Annahme eines Gesprächs unter Literaturfreunden und -förderern sehr reizvoll, auf das Übersendung des Textes und Auftragsvergabe gefolgt sein mögen. Eine besondere Note gewänne ein solches Gespräch vor allem dadurch, daß so in der zweiten Generation und vermittelst der Literatur ein vorheriger Antagonismus zwischen Welfen und Zähringern aufgelöst worden sein könnte: Heinrich der Löwe war in erster Ehe mit Clementia von Zähringen verheiratet (l148/49); diese Ehe war im November 1162 auf dem Reichstag zu Konstanz geschieden worden 56! , was durchaus zu einer Trübung des Verhältnisses zwischen den beiden Herrscherhäusern geführt haben mag. Arnold von Lübeck hat nach einhelliger Meinung in der Zeit um 1209/1210 zwei umfangreiche und anspruchsvolle Werke vorgelegt. Wie Hucker nachweisen konnte, hat er die Chronik in der Zeit von März bis Ende August 1210 fertiggestellt: Im fünften Buch berichtet er über die Missionierung Livlands und die Vorbereitung des Zuges von 1211/1212. Die von ihm erwähnte 562 Kreuznahme Bischof Bernhards von Paderborn und Y sos von Verden erfolgte im März 1210. Der später maßgeblich an dem Kreuzzug beteiligte Bischof Philipp von Ratzeburg fehlt in Arnolds Liste - er war in der ersten lahreshälfte von 1210 im Gefolge Ottos IV. in Italien 563 und konnte also nicht mitwirken. Die Gesta pontificum unterstützen diese Datierung. Die Chronik endet mit der Kaiserkrönung Ottos IV. in Rom am 4. Oktober 1209. Die Annahme liegt nahe, daß dieses Ende der Chronik einen programmatischen Hintergrund haben mag - schließlich hat das Welfenhaus zu diesem Zeitpunkt die höchste weltliche Macht erreicht, die ihm im deutschen Reich möglich ist. Wie Hukker darstellt, handelt es sich wahrscheinlich um eine im Auftrag von Otto IV. verfaßte Königschronik 564 (Historia regum nennt Amold sein Werk 565 ), die an dem Kaiser befreundete Fürsten und potentielle Unterstützer seines geplanten Kreuzzugs geschickt wurde: Philipp, Bischof von Ratzeburg (Berater des Kaisers), Wilhelm von Lüneburg (der Bruder des Kaisers), Graf AdolfIII. von Holstein-Schaumburg. Die Umdichtung des ,Gregorius' ist damit nicht nur bloßer Folgeauftrag eines zufriedenen Lesers der Biographie des Vaters, sie kann auch als Weiterentwicklung des Lobpreises der Welfen betrachtet werden - von der die Chronik abschließenden 559 Allerdings schreibt er nach einer langen Liste, alii quam plures seien dort gewesen. S.247. 560 Mertens, loc. cit., S. 36. 561 Vgl. Heydel, Itinerar S.. 54. 562 Chronica, lib. V, cap. 30. MGH, S. 212, Z. 14-17. 563 Vgl. Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", loc.cit., S.112ff. 564 Vgl. Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", loc. eit., S. 118f. 565 MGH, lib. VII, cap. 8, S. 235, Z.21.

4. Arnold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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Kaiserkrönung zur Überhöhung und Verheiligung des Geschlechts mithilfe der Dichtung. Sie muß nach dem Spätsommer 1210 und vor dem Tod Wilhelms von Lüneburg (am 12. Dezember 1213) begonnen worden sein. Hans-Joachim Rehr vermutet, die Gesta Gregorii Peccatoris seien zeitgleich mit der Chronik abgefaßt worden 566 , kann diese These jedoch nicht überzeugend belegen. Arnold starb, wie aus dem Necrologium Cismariense 567 hervorgeht, an einem 27. Juni. Sein Tod muß in die Zeit zwischen 1211 und 1214 gefallen sein, da die letzte von ihm bezeugte Urkunde in das erste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts fällt und 1214 bereits sein Nachfolger Gerhard testierte 568 • Angesichts der nach dem Sommer 1210 begonnenen und später vollendeten Arbeit an den Gesta wird wohl ein späterer Zeitpunkt anzunehmen sein 569 • c) Die Rezipienten und Quellen Amolds Die Überlieferung der Chronik Arnolds von Lübeck beruht auf einem Exemplar, das der Autor dem Bischof Philipp (1204-1215) und dem Domkapitel von Ratzeburg 570 widmete. Hucker hat vennutet, daß Kaiser Dtto IV. die Chronik in Auftrag gab und weitere Handschriften des Textes an Wilhelm von Lüneburg und an Graf Adolf III. von Holstein-Schaumburg geschickt wurden 571 • Arnolds Text wurde danach nur in drei Werken tradiert, zwei davon befassen sich bezeichnenderweise mit dem Mann, dessen Wirken einen großen Teil von Arnolds Chronik einnimmt: Heinrich der Löwe. Es sind dies die Historia de duce Hinrico von Hennann Korner und das Werk desselben Titels von Albertus de Krummendick. In den Fragmenta chronicae episcopatus Rrandenburgensis finden sich ebenfalls Spuren von Arnolds von Lübeck Werk. Als Begründung für diese geringe Beachtung der Chronik führte man deren stilistische Schwächen und hölzerne Darstellungsweise an - ein Argument, das verwun566 Hans-Joachim Behr, Studien zur Rezeption volkssprachlicher Texte in der lateinischen Epik des Hochmitte1alters. Frankfurt am Main - Bem - Las Vegas 1978 (Europäische Hochschulschriften Reihe I: Deutsche Literatur und Germanistik Band 234). S. 148. 567 Analecta Cismariensia, hrsg. von Karl Kohlmann. In: Scriptores Slesvico-Holsatensium. Erste Sammlung. Kiel 1875. Quellensammlung der Gesellschaft für Schleswig-Holst.-Lauenb.-Geschichte. Vierter Band. S. 229-395. Hier S. 319. 568 Codex diplomaticus Lubecensis. Lübeckisches Urkundenbuch. IIte Abtheilung. Urkundenbuch des Bisthums Lübeck. Erster Theil. Hrsg. von Wilhelm Leverkus. Oldenburg 1856. Nr.XVIII (1197), XX (1200), XXI (1201), XXVI (121.), XXVII (1214). Vgl. NDB S.381, LexMA Sp. 1007, VUI Sp. 473, Wattenbach-Schmale S. 437. Mertens loc. eit., S. 36. Jordan folgt im Register noch der älteren Forschung (Wattenbach in ADB) und setzt das Todesjahr auf 1212, wie es auch Hucker tut: 1211/1212. O. Holder-Egger,loc.cit., setzt in Anmerkung 7 das Sterbedatum auf den 7. Juni 1213. 569 Hucker setzt seinen Tod in das Jahr 1211 (S.405), was wenig wahrscheinlich scheint. 570 MGH, S.115, Z. 6. 571 Bernd-UlrichHucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", in: DA 44 (1988), S. 98-119. Hier S. I 16ff. Ders., Kaiser Otto IV, Hannover 1990 (MGH Schriften 34). S.432f.

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dert, wenn man bedenkt, daß es dem Chronisten bei seiner lateinischen Neudichtung des Gregorius-Stoffes (größtenteils) gelingt, das in der mittelhochdeutschen Vorlage gefundene Versmaß in seiner lateinischen Version nachzuahmen. Diese Kunstfertigkeit mag an Arnolds Vertrautheit mit den Klassikern der römischen Antike liegen, die sich in seiner Chronik oft bemerkbar macht 572 • Vergil, Horaz und Ovid gehören zu den von ihm am häufigsten zitierten Dichtem, gefolgt von Statius und Fortunatus. Auch zeitgenössische Quellen zieht Arnold heran. Neben der bereits behandelten Reisebeschreibung Burchards von Straßburg nimmt er einen Brief des Kanzlers Konrad über seine Reise nach Apulien (V, 19), zwei Schreiben Balduins von Flandern (kurz vor und kurz nach seiner Krönung zum byzantinischen Kaiser geschrieben) (V, 19-20), zwei Rundschreiben Papst Innozenz' III. zugunsten Ottos IV (VII, 3 und 7) und einen Brief des Domkapitels zu Lübeck an das Kloster St. Ägidien in Braunschweig (die oben genannte Bitte an Abt Heinrich, Bischof zu werden: I, 13) in seine Geschichte auf. Die von Lappenberg genannten Stellen aus einem Rundschreiben des Papstes Clemens III., in dem er 1188 zum Kreuzzug auffordert, nennt D. Berg nicht. Die Kölner Königschronik, mit der insbesondere in der Darstellung Heinrichs VI. wörtliche Übereinstimmungen festzustellen sind, wird nicht unbedingt als Arnolds Vorlage gelten können, da die Parallelen zu dürftig sind, wie Berg dargelegt hat m . Es ist natürlich möglich, daß alle diese Werke in der von Heinrich dem Löwen veranlaßten Kompilation von antiqua scripta cronicorum 574 aufgenommen werden sollten und aus diesem Grunde in Braunschweig zur Verfügung standen. Doch sind diese (nach Nass eventuell als Kompilation einer Weltchronik konzipierten) Annales Brunswicenses verloren gegangen; ihr Inhalt ist nur aus späteren Ableitungen zu mutmaßen, wie auch ihre Benutzung als Arbeitsgrundlage Amolds von Lübeck Spekulation bleiben muß 575 • Zu den Quellen Arnolds für die Beschreibung 576 der Reise des Herzogs sind im 19. Jahrhundert zahlreiche Überlegungen angestellt worden. In jüngster Zeit hat 10sn Vgl. seine Einleitung des Burchard-Berichts mit einem Zitat aus der Ars poetica des Horaz. Die Einleitung der Ausgabe in den MGH weist allein fünf Zitate von Vergil, fünf aus der o. g. Ars poetica, fünf aus Ovid, eines jeweils von Statius und Fortunatus und 25 weitere vermutete Zitate nach. 573 WattenbachlSchmale, loc. cit., S.440. 574 Annales Stederburgenses auctore Gerhardo praeposito, hg. von Georg Heinrich Pertz, MGH SS 16 (1859), S.230. 575 Vgl. Klaus Nass, Geschichtsschreibung am Hofe Heinrichs des Löwen. In: Bernd Schneidmüller, Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im Mittelalter. Wiesbaden 1995. S.123-161. 576 So schreibt J. M. Lappenberg im Vorwort seiner Übersetzung (S. XI der ersten Auflage, S. X der von Wattenbach bearbeiteten 3. Auflage), daß ihr Autor einige "Nachrichten" über Heinrich den Löwen oder den Stauferkaiser über den beiden Herrschern jeweils nahestehende Personen hat erhalten können (Ähnlich WattenbachlSchmale, S.440). Bischof Heinrich von Lübeck, ehedem Abt von St. Ägidien und aus der Zeit dieses Amtes Arnold bekannt, der ihn darüber hinaus nach St. Johannis holte, wird möglicherweise ebenfalls dem Chronisten einiges über Heinrich den Löwen erzählt haben können, dessen Vertrauter er war. Auch der Nachfolger

4. Amold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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hannes Fried nachweisen können, daß Arnold von Lübeck später selbst zur näheren Umgebung des Herzogs gehört hat, so daß die in der Forschung des letzten Jahrhunderts angenommenen mündlichen Informationen wohl eher als Zusatz denn als eigentliche Quelle zu betrachten sind 577 •

d) Die Beschreibung der Reise Den Auftakt zu Arnolds Chronik bildet das in den meisten Handschriften De peregrinatione Heinrici ducis überschriebene Kapitel, das in anderen den Titel De machtilde ducissa trägt. Der Grund für diese Verschiebung ist leicht ersichtlich, geht doch Arnold in diesem Abschnitt auf den Zustand des Herzogtums ein, wobei er sowohl die Außenpolitik als auch die Geschichte seines Geschlechts berücksichtigt. Im Land der Slaven festigte sich der Frieden, ja, der Obotritenfürst Pribizlav war sogar Verbündeter des Herzogs geworden. Herzogin Mechthild, deren Lob zu singen Arnold nicht versäumt, erwartete ein Kind, die 1172 geborene Richenza. Natürlich kann in der Darstellung nicht fehlen, daß Heinrich vor seiner Abreise die Angelegenheiten seines Landes ordnete 578 und Erzbischof Wichmann von Magdeburg dessen Schutz übertrug. Die üblicherweise von Pilgern vorgebrachte Motivation, zur Buße der Sünden das Heilige Grab aufzusuchen und Christus an den Orten zu verehren, an denen er gewirkt hatte 579 , wird von Arnold notiert, wie auch die Tatsache, daß Heinrich am 20. Januar 1172 mit großer Pracht und in Begleitung eines stattlichen Gefolges 580 von Braunschweig aufbrach. Es sei an dieser Stelle vorgreifend notiert, daß alle diese Handlungen und Ereignisse zu den üblichen Topoi der Schilderung eines Fürstenaufbruchs in das Heilige Land in der fiktionalen mittelhochdeutschen Literatur gehören. Die Einschiffung in Regensburg geschah nach Arnolds Darstellung nur in kleinem Kreis: Die Dienerschaft Heinrichs reiste zu Pferde auf dem Landweg entlang der Donau 581 • Amolds Neigung, politische Zusammenhänge am Beispiel von Personen zu verdeutlichen, wird hier zum ersten Mal evident: Er Heinrichs auf dem Bischofsstuhl, der 1182 nach Lübeck gezogene Bischof Konrad von Hildesheim, wird Amold mit Informationen gedient haben können, hatte er doch als Kapellan des kaiserlichen Hofes direkt an der Gestaltung der Reichspolitik teil. Der Graf Adolf von Schaumburg oder jemand aus seiner Umgebung wie auch der aus Bremen stammende Bischof Thiderich von Lübeck werden Amold ebenfalls aufschlußreiche Gesprächspartner gewesen sein. 577 Johannes Fried, "Das goldglänzende Buch". Heinrich der Löwe, sein Evangeliar, sein Selbstverständnis. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 242 (1990), S. 34-79, hier S. 74 f. 578 S. 116: Ordinatis igitur rebus suis. 579 S. 116: pro peccatis suis sanctum visere sepulcrum, ut adorare Dominum in loco ubi steterunt pedes eius. 580 Die Kölner Königschronik vermerkt (irrtümlich für das Jahr 1173), es seien 500 Ritter gewesen: Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. Nach den Texten der MGH in deutscher Bearbeitung herausgegeben von Georg Heinrich Pertz u. a. Band 69: Die Kölner Königschronik Leipzig 51941. 581 S. 117: servi tamen cum equis via terrestri perrexerunt, vespertino tempore semper venientes ad locum determinatum.

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berichtet, daß sich der Gesellschaft nicht nur die jüngeren Brüder des Pfalzgrafen von Wittelsbach 582 anschlossen, sondern auch Bischof Konrad 11. von Würzburg, der im Auftrag Friedrichs Barbarossa beim byzantinischen Kaiser Manuell. um die Hand von dessen Tochter für einen Sohn des Kaisers anhalten sollte 583 . Allerdings erlaubt sich der Chronist eine Interpretation und vermutet, der Kaiser habe Konrad auch deswegen Heinrich den Löwen begleiten lassen, damit dieser umso freundlicher vom byzantinischen Kaiser empfangen werde. Dies kann allerdings nicht ganz zutreffen, da Manuel bereits im Jahre 1164 eine Gesandtschaft an Heinrich den Löwen geschickt hatte, also dessen politische Bedeutung kannte. Diese kleine publizistische Verbeugung vor dem mächtigen staufischen Kaiser, geschrieben um 1210, wird in ihrer Bedeutung noch zu betrachten sein. Ohnsorge sieht diese Begleitung nicht nur im Interesse der Sicherheit Heinrichs des Löwen, sondern geht davon aus, daß der Herzog als "inoffizieller Gesandter"584 des Kaisers auftrat. Jr/Jranson hingegen vermutet mit M. Philippson 585 , daß Konrad auch Anweisungen hatte, alle eventuellen Verhandlungen zwischen dem Basileus und Heinrich zu beobachten 586 . Auf der weiteren Reise mangelt es nach Arnold nicht an Abenteuern; so war die gesamte Gesellschaft äußerst verunsichert, als sie bei ihrer Ankunft in Gran hörte, daß in der Nacht zuvor König Stephan 111. von Ungarn, der Schwiegersohn Herzog Heinrichs Jasomirgott von Österreich, vergiftet worden war 587 . Nach einigen Verhandlungen habe man zwar unter dem Schutz der Ungarn weiterreisen können, sei aber dennoch gegenüber den Gefahren der Natur machtlos gewesen. Dramatisch wirkt der Bericht vom Kentern des herzoglichen Schiffes in den Stromschnellen bei Branitschewo, bei dem Heinrich der Löwe keinen Schaden nahm, während zwei seiner Begleiter schwimmend das Ufer erreichten. Doch auch zu Lande, schon im byzantinischen Reich im sogenannten Bulgarenwald, ging es nach Arnold langsamer als erwartet voran, da die schwer beladenen Wagen im unwegsamen und sumpfigen Gebiet oft zusammenbrachen. Sie wieder in Gang zu bringen, verzögerte die Weiterreise er582 Es handelt sich um Brüder Ottos VI. von Wittelsbach, der sich seit der Belehnung mit dem Herzogtum Bayern 1180 Otto I. von Wittelsbach nannte. An jüngeren Brüdern stehen mehrere zur Auswahl. Konrad, seit 1161 Erzbischof von Mainz, wird nicht mitgereist sein. Friedrich H. Pfalzgraf von Wört und Lengenfeld, oder der Nachfolger Ottos I. als Pfalzgraf von Bayern, sein Bruder Otto III., oder der eher unbekannte Bruder Hermann, oder Udalrich, Propst von Innichen kommen alle als Mitreisende in Frage. 583 Diese Verhandlungen führten später zur Ehe zwischen Philipp von Schwaben und Irene von Byzanz. 5&4 Werner Ohnsorge, Die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas und der "Landesverrat" Heinrichs des Löwen. In: Abendland und Byzanz. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums. Darmstadt 1979. S.456-491. Hier S.473. 585 M. Philippson, Heinrich der Löwe. Braunschweig 21918. S. 383 ff. 586 J(iranson, loc. eit., S. 169. 587 Diese Tatsache gefährdete das sichere Geleit der Reisegesellschaft, da der König nun keinen Begleiter mehr bestimmen konnte, und die Lage in Ungarn sehr unklar war: Königin Agnes war zwar schwanger, hatte aber noch keine Kinder geboren, so daß die Thronfolge nicht zu ihren Gunsten ausfallen würde.

4. Arnold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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heblich. Daher befahl Heinrich, alles Überflüssige an Vorräten und Geschenken im Wald zu lassen. Riesige Haufen Mehl, Wein, Fleisch, Fische und sonstige Köstlichkeiten blieben am Wegesrand liegen 588 • Die hier dargestellte Unwegsamkeit der Straße verwundert insofern, als Reisenden nach Konstantinopel die ausgebauten Heerstraßen der Römer zur Verfügung standen und Heinrich die "Hauptverkehrsader, die Mitteleuropa mit Konstantinopel [... ] verbindet" benutzte 589. Immerhin bietet die Schwierigkeit des Weges eine Gelegenheit, den durchaus reichhaltigen Proviant und gleichzeitig die Zielstrebigkeit des Herzogs darzustellen. Diese wird anläßlich eines Überfalls durch eine Gruppe von serbischen Banditen erneut erprobt. Daß Heinrich diesen wohl auch provoziert haben mochte, indem er Waffen zeigte, mit Fahnen an der serbischen Burg vorüberzog und seine Männer in einer (interessanterweise von Mayer als "wohl fiktive Rede" bezeichneten 590 ) Ansprache aufforderte, tapfer zu kämpfen, suggeriert Arnold - allerdings auch, daß Heinrich sich bewußt war, hier nicht ganz seiner Rolle als Pilger gerecht zu werden 591 • Auffällig an allen diesen Fährnissen ist ihre Variation: Die Bereiche politisch-dynastische Probleme, Gefahren der Natur, unwegsame Strecken und Banditen werden hier berichtet, und damit sind eigentlich (mit Ausnahme von Krankheit) alle die Topoi genannt, die eine Reise beschwerlich machen können. Die Tatsache, daß Arnold an späterer Stelle seiner Chronik für die Reise Friedrichs Barbarossa ähnliche Schwierigkeiten beschreibt 592 (die allerdings von anderen Quellen bestätigt werden 593 ), widerspricht dem Eindruck nicht, daß in der Chronik ein stärkerer schriftstellerischer Gestaltungswille waltete. In jedem Fall erfüllen alle diese Abenteuer einen Zweck: die Reise als außerordentlich schwierig darzustellen und dadurch die Leistung derer, die sie überstanden haben, zu würdigen. Endlich, so berichtet Arnold, konnte die Reisegruppe am Karfreitag vor Byzanz ihr Lager aufschlagen. Am Ostersonntag, peractis sollempniter mysteriis et prandio Jacto 59\ ging sie an den Hof des Basileus. Daß das Treffen der beiden Herrscher zu 588 S.118: Videres igitur immensos acervosfarine purissime proiectos, vasa vinaria plurima et maxima vino plena relicta, carnium, piscium multitudinem ibi negelctam et quicquid deli· ciarum accuratius sibi quisque preparaverat diversis condimentis. 589 Tabula imperii byzantini. Band 6: Thrakien, hrsg. von Peter Soustal. (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Bd.221). Wien 1991. S. 132. 590 Hans Eberhard Mayer, Die Stiftung Herzog Heinrichs des Löwen für das Hl. Grab. In: Heinrich der Löwe. Hrsg. von Wolf-Dieter Mohrmann (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung Heft 39). Göttingen 1980. S. 307-330. Hier S. 313. 59\ S.118: lustum quidem est, ut in peregrinatione positi cum onmi pace et mansuetudine incedamus, et ideo cum signis be/licis ad urbem regiis, ad quem tendimus, procedere non debimus: sed quia isti [. ..] bellum nobis intentare videntur, levate signa et procedamus! [. ..] Hic viribus utendum est. Pugnemus fortiter! 592 Arnold von Lübeck, Chronik, lib. IV, cap. 8 und 9: De peregrinatione imperatoris, S. 171 f. 593 Der sogenannte Ansbert, Historia de expeditione Friderici imperatoris. In: Anton Chroust (Hg.), Quellen zur Geschichte des Kreuzzuges Kaiser Friedrichs I. Berlin 1928. S. 28. Angriffe auf den Heereszug Friedrichs beschreibt die im selben Band herausgegebene Historia Peregrinorum, S. 132. 594 MGH, S.119, Z.18.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Ostern stattfand, kann kein bloßer Zufall gewesen sein. Was auch immer das Ziel des Besuches bei Manuel Komnenos gewesen sein mag - ob er von privaten Motiven geleitet war, als politischer Sonderbeauftragter des stauffischen Kaisers auftrat oder schon zu dieser Zeit staatsfeindliche Absichten verfolgte 595 - , das Treffen jedenfalls wurde durch die Wahl des Zeitpunktes als besonders bedeutsam herausgestellt. Dem entspricht der Empfang des Herzogs durch den Basi1eus, dessen Besonderheit Arnold unterstreicht, indem er ihm ein eigenes Kapitel widmet. Mit derartiger Pracht wurden eigentlich nur Mitglieder des byzantinischen Kaiserhauses empfangen - eine besondere Ehre also, die Manuel Komnenos nur wenigen fremden Herrschern hatte zuteil werden lassen: 1171 dem König Amalrich von Jerusalem, wie Wilhelm von Tyrus ausführlich berichtet 596 , Ludwig VII. von Frankreich und Balduin III. von Jerusa1em 597 • Es ist anzunehmen, daß dieser Empfang Heinrich den Löwen in seinen "Königsgedanken" durchaus bestärkt haben wird 598 • Am Nachmittag des Ostersonntags berichtet Arnold von einem Streitgespräch mit nicht näher genannten litteratiores Grecorum über die Frage, von wem der Heilige Geist ausgehe. Daß Arnold hier seinen Abt Heinrich ausführlich zitiert und dessen Bescheidenheit wie seine Gelehrsamkeit (vir litteratissimus et facundissimus, modeste inchoans)599 hervorhebt, ist nur verständlich - daß die Griechen allerdings in der Frage klein beigegeben hätten, ist wohl eher sein Wunsch als Tatsache gewesen (non valebant contradicere magistri Grecorum, concedentes Spiritum sanctum procedere a Patre et Filio )600. Eine solche Debatte ist nichts Außergewöhnliches; schon 1112 wurde in Konstantinopel das erste Streitgespräch 601 geführt. Es entspricht allerdings der biographisch orientierten Darstellung Arnolds, daß sie als Erfolg für seinen Abt und somit auch für Herzog Heinrich dargestellt wird. Reich beschenkt - unter anderem mit dem Schiff, mit dem die Pilger ins Heilige Land segeln - bricht die Gruppe auf. Arnold berichtet nachfolgend über die Mari595 Vgl. die zwischen Jpranson, Ohnsorge, v. Kap-Herr, Chalandon, E. Gronen geführte Auseinandersetzung. H. v. Kap-Herr: Die abendländische Politik Kaiser Manuels (Dissertation Straßburg 1881); F. Chalandon: Les Comnene, Jean 11 Comnene et Manuel I Comnene. Paris 1912. E. Gronen, Die Machtpolitik Heinrichs des Löwen und sein Gegensatz gegen das Kaisertum (Eberings Historische Studien 139, Berlin 1919). S.123-126. 596 Wilhelm von Tyrus, lib. XX, cap. 23-24. RHC Hoc. I. 1-2. S. 982-987. Vgl. Ralph-Johannes Lilie, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten. Studien zur Politik des byzantinischen Reiches gegenüber den Staaten der Kreuzfahrer in Syrien und Palästina bis zum vierten Kreuzzug (1096-1204). München 1981. S.196. 591 Wolfgang Georgi, Friedrich Barbarossa und die auswärtigen Mächte. Studien zur Außenpolitik 1159-180. Frankfurt am Main - Bem - New York - Paris 1990 (Europäische Hochschulschriften III, Bd.442), S. 212, nennt nur die letzten beiden Herrscher. 598 Johannes Fried, Königsgedanken Heinrichs des Löwen. In: AK 55 (1973), S.31-35. Vgl. auch Dens., "Das goldglänzende Buch". Heinrich der Löwe, sein Evangeliar, sein Selbstverständnis. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung. Göttingische Gelehrte Anzeigen 242 (1990), S.34-79. 599 MGH, S. 119, Z.43. 600 MGH, S. 120, Z. 24. 601 Vgl. Jannis Spiteris O. F. M. Cap., La Critica Bizantina dei Primato Romano nel seco10 XII. Rom 1979. (Orientalia Christiana Analecta Bd.208).

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envision eines ungenannten Reisenden, von dem vennutet wurde, daß er sich selbst damit meinte. Auch wenn dies gut möglich ist, kann die Vision allerdings auch lediglich erzähltechnisch begründet sein. Schließlich befindet sich die Reisegruppe nun in der letzten Etappe ihrer Reise ins Heilige Land, und der Visionsbericht ermöglicht es dem Erzähler, ein weiteres Lob des Abtes Heinrich im Zusammenhang mit einem bei Pilgerreisen gern gewählten Topos anzuschließen. Denn die Heilige Jungfrau sagt, die orationes eines gewissen Menschen, qui in hae nave me [i. e. Marial invoeare non eessat, hätten das Schiff vor dem Untergang bewahrt. Arnold ist sicher, es seien die seines zwar schwerhörigen, aber feinfühligen Kirchenoberen 602 • Über die Dauer der Reise erfährt der Leser nichts, dafür in umso größerem Detail von dem würdigen Empfang, der dem Herzog in Jerusalem zuteil wird. Hymnen und das Lob Gottes seien ihm zu Ehren von Klerikern gesungen worden. Heinrich stiftet der Grabeskirche drei ewige Lampen 603 , zu deren Erhaltung er den Ertrag von wohl eigens dazu erworbenen Häusern bestimmt604 • Weitere Geschenke und Stiftungen in Jerusalem belegen Heinrichs Großzügigkeit: Die Kapelle des Heiligen Kreuzes wurde mit Mosaiken verziert, ihre Türen mit Silber belegt. Waffen und Geldgeschenke sollten Templer und Johanniter in der Verteidigung des Heiligen Landes unterstützen, während er für sich und die Kirchen und Klöster Braunschweigs Reliquien erwarb 605 • Auf Grund von Arnolds Darstellung wird Herzog Heinrich - der selbstverständlich drei Tage lang Gast König Amalrichs ist und nach seiner Rückkehr vom Jordan zwei Tage vom Patriarchen von Jerusalem beherbergt wird: detinuit eum illie domnus patriareha 606 auch als vorbildlicher fürstlicher Christ dargestellt: Stiftungen, Kauf von Reliquien, Geldspenden sind Ausdruck seiner Frömmigkeit. Von anderen, weniger hochgestellten Pilgern unterscheidet Herzog Heinrich sich allerdings erheblich, und dies wird auch in der Beschreibung der loea saneta Jerusalems und seiner Umgebung deutlich: Visitatis igitur omnibus locis sanetis in 10saphat, in monte Oliveti, in Bethlehem, in Nazareth, abiit ad lordanem, dedueentibus eum Templariis, et inde aseendit Quarentenam 607 • Mehr hat Arnold nicht zu beMGH, S. 120, Z. 36ff. Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern. Bearbeitet von KarZ Jordan (MGH Geschichtsquellen des Mittelalters 500-1500, Laienfürsten und Dynastenurkunden der Kaiserzeit Band 1). Stuttgart 1949. Nr.94, S. 143. 604 Die Urkunde darüber (Staatsarchiv zu Wolfenbüttel, Hist. HS.I2 BI. 128 v und Hist. HS.I3 S.269 (Kopiare). Original ohne Angabe von Signatur genannt in KarZ Jordan, Die Urkunden Heinrichs des Löwen,loc. cit., S.143.) trägt das Siegel des Königs von Jerusalem - ein weiterer Beleg für die auf höchster politischer Ebene anzusiedelnde Reise. Vgl. hierzu Hans Eberhard Mayer, Die Stiftung Herzog Heinrichs des Löwen für das Hl. Grab. loc. cit. 605 Möglicherweise befinden sich zwei in den Armreliquiaren, die als Exponate D 58 und D 60 in der Braunschweiger Ausstellung von 1995 ausgestellt waren, deren einer sicher Heinrich dem Löwen zugeschrieben werden kann; der andere ist zweifelhaft. Vgl. Jochen Luckhardt und Franz Niehoff, Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995. S.243-247. 606 MGH, S.121, Z.22. 607 MGH, S. 121, Z. 11 ff. 602 603

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richten, obwohl er einleitend gerade die religiöse Motivation des Herrschers hervorhob. Es scheint also, daß der Chronist und Biograph in seiner Beschreibung ganz anderes betonen will als die Aspekte, die diese Reise zu einer Pilgerfahrt machten. Diese sind für seine darstellerischen Zwecke ganz offensichtlich nicht von Bedeutung, vielmehr gilt es, den Reichtum und die Wichtigkeit der diplomatischen Kontakte Herzog Heinrichs hervorzuheben. Daß Heinrich der Löwe allerdings durchaus für die Vergebung seiner eigenen Sünden, der seiner Frau und seiner noch ungeborenen Kinder Sorge trägt, belegt die Stiftungsurkunde U. 94, mit der er Einkünfte aus Jerusalemer Häusern für das Öl der oben erwähnten drei ewigen Lampen im Heiligen Grab bestimmt: misericordie instinctu tactus pro remissione omnium peccatorum meorum et inclite uxoris mee ducisse Matildis, magnifici Anglorum regisfi[je, et eorum, quos deus misericordie sue dono michi dedit 608 • Es ist unklar, wie lange Herzog Heinrich im Heiligen Land war, da der Tag seiner Ankunft von Arnold nicht präzise genannt wird. Seine Abreise ist auf Grund eines traurigen Ereignisses näher bestimmbar: der Tod des Bischofs von Lübeck, der auf der Seereise nach Antiochia seiner Krankheit erlag. Sein Nachfolger, der damalige Abt Heinrich von Braunschweig, begleitete ihn auf dieser letzten Reise, schreibt Arnold, und die ausführliche Darstellung legt nahe, daß auch diese Episode in die Reihe der Lobpreisungen des späteren Bischofs gehört. Diese sind so zahlreich, daß man den Eindruck gewinnt, die gehäuften Belege seiner Frömmigkeit sollen die eher weltlich-diplomatische Ausrichtung der Reise Heinrichs ausgleichend ergänzen: Nicht nur geht, wie erwähnt, dank der Gebete des Abtes Heinrich das Schiff nicht unter, sondern er liest jeden Morgen im härenen Gewand die Messe und besteigt trotz seines Alters und seiner körperlichen Schwäche den Berg Quarentana. Auf der Weiterreise wird Heinrich nicht nur von einem christlichen Fürsten unterstützt, insofern als Bohemund III. ihm Schiffe zur Verfügung stellt, sondern wird auch in Tarsus von einer Gesandtschaft Kilidsch Arslans in Empfang genommen, die ihn sicher durch das Territorium des armenischen Fürsten Mlehs nach Ikonium bringt. Wiederum werden die Reisenden auf das freundlichste bewirtet und beschenkt, wobei Heinrich als vorbildlicher Lehensherr und Fürst die Geschenke sowohl an seine Ritter als auch an die kirchlichen Würdenträger weitergibt. Die Ritter dürfen sich Pferde aussuchen, während er kostbare Seidenkleider zu Priestergewändern umarbeiten läßt. Vom Gespräch zwischen Kilidsch Arslan, der behauptet, von einer Christin abzustammen, und dem Herzog berichtet Arnold, letzterer haben diesen immerhin edlen und hilfsbereiten heidnischen Fürsten beschworen, der superstitio gentilitatis zu entsagen 609 • Dieser signalisiert insoweit Einsichtsfähigkeit, als er die Schöpfung des Menschen aus Ton sowie die jungfräuliche Empfangnis Mariens 608 Die Urkunden Heinrichs des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern. Bearbeitet von Karl Jordan. (MGH Geschichtsquellen 500-1500, Laienfürsten- und Dynastenurkunden der Kaiserzeit Band 1). Stuttgart 1957. S. 144, Z. 19ff. 609 MGH, S. 122, Z.21.

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für non difficile ad credendum bezeichnete 610 - sicherlich ein Beweis für die argumentativen Fähigkeiten des Herzogs. Arnold unterbricht seine Erzählung, nachdem er von der Abreise Herzog Heinrichs berichtet hat, mit zwei Incidentia betitelten Kapiteln. Das erste befaßt sich mit dem Stauferkönig Konrad III., der sich - irregeführt durch seinen ductor - plötzlich in der Wüste wiederfand, als er im Herbst 1147 mit dem zweiten Kreuzzug ins Heilige Land zog. Arnold sieht den Grund hierfür in der detestabilis consuetudo des griechischen Königs, sich nicht nur Kaiser nennen zu wollen, sondern allen, die ihm ins Gesicht sehen wollen, eine tiefe Verbeugung und einen Kniekuß abzuverlangen 611 • Dieses Zeichen der Unterwerfung sei dem König ob honorem Romani imperü 612 als nicht vertretbar erschienen. Doch sieht Arnold auch eine Brüskierung des Byzantiners als möglich an, da Konrad selbst lange im byzantinischen Reich verweilt war, ohne den Kaiser zu besuchen. Erst nach langen diplomatischen Verhandlungen zwischen den sapientiores beider Parteien sei es möglich gewesen, einen Kompromiß zu erzielen: Es wurde ein Treffen der beiden Herrscher zu Pferde arrangiert. (Ein solches kennt die sonstige Geschichtsschreibung nicht; vielmehr soll Konrad III. bei seiner Ankunft vor Konstantinopel nach kurzer Pause ohne Besuch nach Kleinasien übergesetzt haben 613 ). In Arnolds Erzählung nahm der Basileus das Verhalten Konrads dennoch übel und schickte ihn in die Wüste - möglicherweise aber auch, so vermutet der Chronist, weil er die vires Teutonicorum 614 fürchtete. Diese Wüste durchquert Herzog Heinrich, so nimmt Arnold nach dieser Episode den Faden wieder auf, und gelangt nach Anikke, eine Burg, die mit Graf Gottfried von Bouillon in Verbindung stehe, von dem nun ebenfalls incidentia zu berichten seien. In diesem Bericht offenbart sich erneut das Talent des Chronisten, Geschichten zu erzählen, die der Leser nicht anders als mit Spannung verfolgt: Nachdem Gottfried lange versucht hatte, die Stadt zu erobern, habe der namenlose princeps castelli einen schon jahrelang von ihm inhaftierten Deutschen beauftragt, dem Herzog ein Angebot zu machen: es sollten zwei ausgewählte Ritter beider Seiten stellvertretend für die Heere kämpfen. Dieser Vorschlag gefiel allen Beteiligten, und so schickte Graf Gottfried den schönen und kräftigen Helias zum Herrscher der Burg, um die näheren Einzelheiten des Zweikampfes auszuhandeln. Als dieser jedoch Helias sah, gefiel er ihm außerordentlich, auch weil unter seinen eigenen Leuten kein so edler und starker Krieger zu finden war. Daher bot er ihm die Hälfte seines Reiches, die Hand seiner Tochter und höchste Ehren an, wolle er die Seiten wechseln - was Helias auch prompt tat. Die Not im christlichen Heer ob dieses Verrats war groß. In dieser Situation überlegte der Graf sogar, selbst den Kampf aufzuneh610 MGH, S. 122, Z. 22. Für die Darstellung Karl Jordans, der Sultan habe daraufhin gefangengenommene Christen freigelassen (loc. eit., S. 179), findet sich bei Amold kein Beleg. 611 MGH, S.122, Z. 34f. 612 MGH, S. 122, Z. 38. 613 Vgl. Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, loc.cit., S. 94. 614 MGH, S. 123, Z. 2.

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men. Wegen seiner Erschöpfung und seiner körperlichem Behinderung durch einen Höcker 615 war dies nicht möglich. Von den Männem Gottfrieds boten sich alle an, die so entstandene Lücke zu füllen. Selbst Kleriker meldeten sich freiwillig. Doch Drogo, ein dem Grafen, seinem Onkel, sehr ergebener Mann, bat um die Ehre, diesen Kampf aufnehmen zu dürfen, als Belohnung für jahrelangen Dienst. Dies wurde ihm gewährt. Amold berichtet ausführlich über die Gebete Gottfrieds, mit denen er Gott anfleht, seinem Kämpen Gedeoni [ ...] fiduciam, Sampsonifortitudinem, ludith de tyranno victoriam 616 zu verleihen. Am vereinbarten Tag ritt Helias, dessen Pferd von seiner neuen Gemahlin über und über mit Glöckchen bestückt worden war, aus der Burg, doch konnte dieser Lärm das Pferd des Drogo nicht irritieren - Graf Gottfried hatte ihm die Ohren mit Wolle und Pech verstopfen lassen. Für die Schilderung des Kampfes bedient sich Amold des Hexameters: Atque diu va lido rimantes corporaferro, I ictibus alternis se comminus afficiebant 617 • Als Drogo endlich den Sieg über Helias davongetragen hat und ihn - nachdem dieser sich zu erkennen gegeben hat - auffordert, dem Heidentum abzuschwören und mit ihm auf seine Burgen zu kommen, weigert sich der Verräter. Nüchtern zeigt Arnold die Konsequenz auf: At ille decollavit eum. Die Burg wurde von den Christen eingenommen 618 , die Gott den Herrn lobten: qui omnia quecunque voluit fecit in celo et in terra 619 • Nach diesen bei den Episoden wird der Leser über die Heimkehr Herzog Heinrichs informiert. In Konstantinopel finden seine Ritter ihre Pferde wieder. Obwohl er sich dagegen sträubt, wird Herzog Heinrich erneut vom byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos (den Arnold als rex bezeichnet) - mit kostbaren Reliquien beschenkt. Daß er auf dem weiteren Heimweg auch vom neuen König von Ungarn Bela III. auf das höchste geehrt und freundlich begrüßt wird, versteht sich mittlerweile von selbst. Mit dessen freiem Geleit kommt er wohlbehalten in Deutschland an und feiert mit Kaiser Friedrich Barbarossa in Augsburg Weihnachten - eine nur angemessene Widerspiegelung des Osterfestes in Byzanz. Als Heinrich nach einem Jahr der Abwesenheit nach Braunschweig zurückkehrt, letati sunt omnes amici eius de adventu ipsiuS 620 • Dieses glückliche Ende seiner Erzählung wird ergänzt durch die zahlreichen Geschenke, die Herzog Heinrich den Kirchen der Stadt macht. An dieser Stelle endet die Beschreibung der Reise Heinrichs des Löwen, doch deutet der Chronist an, was noch zu folgen hat - fast vermutet man, er versichere sich auf diese Weise der Treue seiner Leserschaft: zur Ausschmückung von St. Blasius sei es leider nicht mehr gekommen, weil ihn Heinrichs späteres Unglück daran hinderte, ad quas quidem inviti veniemus 621 • 615 616 617 618 619

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MGH, S. 123, Z.40f.: gibbum in dorso habebat. MGH, S. 124, Z. 6. MGH, S. 124, Z. 21 f. MHG, S. 124, Z. 31. MGH, S. 124, Z. 33. MGH, S.125, Z. 3. MGH, S. 125, Z. 8.

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e) Pilgerfahrt und Politik

Arnold von Lübeck hat mit der oben beschriebenen "Einschaltung von Episoden aus den Kreuzzügen Gottfrieds von Bouillon und Konrads III."622 seiner Neigung zum Erzählen stattgegeben. Ob jedoch die protokollarischen Streitigkeiten zwischen König und Basileus sowie der originelle Vorschlag des muslimischen Gegners von Gottfried von Bouillon Tatsachenberichte sind, ist allerdings fraglich. Aufbau, Gestaltung und Inhalt der beiden Kapitel legen in jedem Fall nahe, daß der Autor seinen Lesern eine literarisch vergnügliche Pause gönnen wollte. Die beiden ,Binnentexte' sind inhaltlich wie formal isoliert im Kontext des Reiseberichts. Keine der Episoden steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Bericht der Reise; weder von Gottfried von Bouillon noch von Konrad III. hört man etwas in der Chronik. Der einzige Grund, warum sie erzählt werden, ist in dem Ort zu sehen, an dem Herzog Heinrich vorbeikommt: venit in terram desertam et aridam nimis, ubi dicitur Conradus rex stetisse 623 und venit ad urbem regis Grecie que dicitur castellum Alamannorum, quia eam dux Godefridus olim tenuerat et inde omnem Turcoriam sibi subiugaverat 624 • Dies entspricht der Praxis der Pilgerberichte, bei der Erwähnung eines Ortes diejenigen Geschichten zu erzählen, die sich an ihm zugetragen haben. Beide Passagen werden mit einem eigenen Schluß versehen, ehe der Text wieder zu Heinrichs Reise zurückkehrt: Et sie misero fine immanis illa expeditio soluta est 625 heißt es zu Konrads Irren in der Wüste. Die Erzählung von Helias und Drogo endet gar mit einem Lob Gottes, qui omnia quecunque voluit fecit in celo et in terra 626 • Beide Einschübe sind auf Grund verschiedener Details der epischen Kleinform zuzurechnen. In der ersten wird der, Helmolds von Bosau kurze Erwähnung 627 ergänzende, Bericht eingeleitet, und zwar sowohl in bezug auf den Ort, an dem er spielt, wie auch auf die Personen der Handlung und deren Motivation. Ort, Zeit und handelnde Personen sind damit vorgestellt. Die Handlung kreist um Verhandlungen, die zunächst in der Verweigerung enden: nec hoc Conrado regi placuit628 • Der Konflikt wird schließlich mit einem Komprorniß gelöst und das scheinbar glückliche Ende beschrieben: Quod factum est 629 • Jedoch - und hier ist der Einfluß der Chronistik zu spüren - folgt ein zweites, unglückliches Ende, das bereits in der Einführung der Geschichte angekündigt worden war: Der Basileus verrät den Kompromißpartner: Konrad und sein Heer enden in der Wüste in der schrecklichsten Einsamkeit - fürwahr eine miserafinis 630 • Die Begründung für den Konflikt der Herrscher Hucker, Die Chronik Amolds von Lübeck als "Historia Regum", loc. eil., S. 104. MGH, S. 122, Z. 29 f. 624 MGH, S.123, Z. 6f. 625 MGH, S.123, Z.4. 626 MGH, S.124, Z.33. 621 MGH, S. 58. Lib. I, cap. 60. 628 MGH, S.122, Z. 39. 629 MGH, S.123, Z. I. 630 MGH, S.123 , Z.4.

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8 v. Samson-Himmelstjema

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liefert der allwissende Erzähler (beide Herrscher sind auf ihre eigene bzw. ihres Reiches Würde bedacht); auch für den an sich unverständlichen Verrat des griechischen Basileus kann er eine Motivation (die Angst vor der Macht der Deutschen) angeben. Die zweite Episode ist ebenfalls klar strukturiert und trägt Merkmale, die an moralisch-exemplarische Mären erinnern. Ihre Struktur ist von außerordentlicher Spannung. Wie in der ersten kleinen Geschichte werden Handlungsort und -personal wie auch die Zeit gleich zu Anfang als Plot angegeben. Durch die ausführliche Beschreibung der Qualitäten des Helyas wie auch der unmenschlichen Verhaltensweise des muslimischen Gegners (seit Jahren schmachtete bei ihm ein Deutscher im Verlies) scheint der Verrat umso abscheulicher. Helyas begeht ihn wegen des Versprechens, für das wohl in allen Mären aller Kulturen der Welt junge Männer Leib und Leben wagten: "Ich gebe dir die Hälfte meines Landes und die Hand meiner Tochter und erhebe dich zu den höchsten Ehren. "631 Daß Arnold danach ein Zitat aus der Apostelgeschichte verwendet, um das Einvernehmen der beiden zu schildern: et facti sunt cor unum et anima una 632 , ist wohl ein seinem Stand angemessener literarischer Kunstgriff. Der Höhepunkt der Erzählung ist eindeutig die Schilderung des Kampfes der beiden Ritter Helyas und Drogo, bei der Arnold in gebundene Sprache verfällt, die Laurent so übersetzt: Und mit gewaltigem Schwerte die Körper einander zerfleischend, Trafen mit wechselnden Hieben sie sich in dem blutigen Kampfe 633 •

Daß in der Erzählung häufig die direkte Rede verwandt wird, ist ein weiterer Hinweis auf ihren unterhaltenden Charakter: als Beleg dafür sind insbesondere die Verhandlungen zwischen Gottfried von Bouillon und dem deutschen Häftling-als-Bote seines namenlosen Gegners anzuführen sowie das laut gesprochene Gebet des Grafen um göttlichen Schutz für Drogo. Arnold verwendet darüber hinaus bekannte Motive aus der damaligen Weltliteratur. Der Vorschlag, zwei Helden mögen stellvertretend für ihr jeweiliges Heer kämpfen, ist ein Echo des in der Bias geschilderten, von Hektor herbeigeführten Zweikampfes mit Achill vor den Mauem von Troja. 634 Die Frau des Helyas ist besorgt um Wohlergehen und Sicherheit ihres frisch angetrauten Mannes und eilt ihm zu Hilfe - ein Motiv, das auch aus dem Nibelungenlied bekannt ist. Graf Gottfried von Bouillon verstopft die Ohren von Drogos Pferd, das folglich im Kampf ruhig bleibt, und man kann vermuten, daß er diesen Kunstgriff Homer entlehnt hat, oder wenn nicht er, dann der Erzähler Amold 635 • Auch die dramatische Schlußszene ist in die631 MGH, S. 123, Z. 31 f.: Dabo tibi dimidium terre mee et jiliam meam copulabo tibi et omni honore te sublimabo. Übersetzung von Laurent, S. 26. 632 Ac 4,32. 633 Laurent, Übersetzung, S.28. 634 Homer, IJias. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München s. a. XXII. Gesang, Verse 91-395. S. 379-387. 635 Homer, Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München s. a. XII. Gesang, Verse 173-177. S.605.

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sem Zusammenhang zu nennen: die bei den Gegner stehen einander gegenüber und erkennen sich nicht 636 . Erst die Frage Drogos nach der Identität seines Gegners klärt diese auf. Er erweist sich im folgenden nicht nur als der kampfestüchtigere, sondern auch als der edlere Ritter, indem er Helyas eine letzte Gelegenheit gibt, dem Heidentum abzuschwören und sein Leben zu retten. Eine ähnliche Szene begegnet im 15. Buch von Wolframs von Eschenbach Parzival: Feirefiz und Parzival, die beiden Halbbrüder, kämpfen miteinander, ohne sich besiegen zu können. Gott greift in diesen Kampf ein (got des niht langer ruohte 637 ) und läßt Parzivals Schwert zerbrechen. Feirefiz, der Heide, nennt seinen Namen und fragt seinen Gegner, wer er sei, und nach einem vorsichtig-mißtrauischen Wortwechsel stellen die beiden fest, daß sie Kinder desselben Vaters sind. Ein "Happy End" also, im Gegensatz zu Arnolds knappen Worten. Die Tatsache, daß Arnold - der ganz unbestritten in direkter Nähe zum Welfenhaus steht - und Wolfram von Eschenbach in ihren Werken dasselbe Motiv verwandt haben, mag ein nur geringer Beitrag zur jüngst in Gang gekommenen Diskussion um die Nähe Wolframs von Eschenbach zu Otto IV. sein. Immerhin unterstützt dies die von Heinz Thomas und Bernd Ulrich Hucker vertretene These, daß Wolfram mindestens auf "Sachverhalte und Ereignisse der Geschichte Ottos IV. anspielen wollte"638 bzw. daß der Kaiser "als Empfänger des Parzival in Betracht"639 zu ziehen sei. So haben wir also zunächst in Arnold einen Autor, der dem oben bereits zitierten Anspruch, seine Leser nicht nur unterweisen, sondern auch unterhalten zu wollen, gerecht wird. Delectare aber und nichts weiter? Folgt man Huckers Ausführungen zu Intention, Auftraggeber und Abfassungszeit der Chronik und der Gesta Gregorii Peccatoris, läßt sich kaum vorstellen, daß Arnold interessante Episoden (auch noch aus Zeiten, die fast 30 bzw. 70 Jahre vor der Reise Heinrichs liegen) nur um des Erzählens willen anfügt, ohne einen konkreten publizistisch-propagandistischen Zweck erfüllen zu wollen. Es sei hier zunächst auf die Erzählung um Konrad und den namenlosen griechischen Kaiser eingegangen. Es ist vorstellbar, daß mit der Beleidigung, ja gar mit dem Verrat des Byzantiners die Richtungsänderung des vierten Kreuzzugs wenn 636 Diese Tatsache ist nicht ganz erklärlich - schließlich befindet sich Drogo überhaupt nur auf Grund des Verrats durch Helyas auf dem Schlachtfeld und müßte daher wissen, wer sein Kontrahent ist. Die in solchen Szenen übliche Begründung für ein gegenseitiges Nicht-Erkennen ist die von beiden Gegnern getragene Rüstung. Sie kann nur Geltung beanspruchen, wenn Drogo nicht weiß, wer vor ihm für den Kampf ausersehen war. 637 Wolfram von Eschenbach, Parzival. Sechste Ausgabe von Kar! Lachmann. Berlin und Leipzig 1926. Nachdruck Berlin 1965. XV, 744,14 (S.338). 638 Heinz Thomas, Zeitgeschichtliche Komponenten in Chretiens ,Perceval' und Wolframs ,Parzival'. In: ZfdPh 112 (1993), S.420-426. Hier S.425. 639 Bemd Ulrich Hucker, Literatur im Umkreis Kaiser Ottos IV. In: Bemd Schneidmüller (Hg.), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Wiesbaden 1995. S.377-406. Hier S. 377. Ders., Wer schrieb was in wessen Auftrag? III. Kolloquium des Klosters Ebstorf: "Das geistige Leben am Hofe Kaiser Ottos IV." Der Heidewanderer. Heimatbeilage der Allgemeinen Zeitung Uelzen 68, 1992, Nr.24, 30 und 31, S. 97-100 und 123-129.

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nicht gerechtfertigt, so wenigstens verständlich gemacht werden soll. Ende Dezember 1202/Anfang Januar 1203 waren Gesandte Philipps von Schwaben mit solchen seines Schwagers, des byzantinischen Thronprätendenten Alexios IV., in Zara (Ungarn) erschienen, um das dort versammelte Kreuzfahrerheer mit außerordentlichen Versprechungen zu veranlassen, Konstantinopel zu überfallen und den vertriebenen Herrscher Isaak 11. Angelos (Vater bzw. Schwiegervater der bei den Auftraggeber der Gesandten) wieder auf dem Thron zu installieren. Bekanntermaßen geschah dies: Die Kreuzfahrer richteten ein Blutbad an, von dem die zeitgenössischen Geschichtsschreiber mit Entsetzen berichten. Arnold von Lübeck bezeichnet diese Begebenheit hingegen trocken als subactio Grecie und redet später lapidar vom introitus Latinorum in Greciam 640 • Er äußert sich selbst nicht darüber, sondern gibt den Wortlaut eines Briefes der Grafen Balduin von Flandern, Ludwig von Blois und Hugo von St. Paul an Otto IV. sowie den des Schreibens des gerade gewählten Kaisers von Konstantinopel, eben jenes Balduin von Flandern, wieder. Geschickt vermeidet er, durch eine eigene Wortwahl Stellung beziehen zu müssen. Das erstaunt zunächst: Während der Ereignisse, die auf dieses Blutbad hinführten, kämpften Philipp von Schwaben und Otto IV. auf das heftigste um den deutschen Thron; es wäre ein leichtes gewesen, an dieser Stelle dem alten Widersacher noch einmal publizistisch entgegenzutreten. Die Gründe für Arnolds Zurückhaltung werden aus der Analyse der zweiten Erzählung ersichtlich: Ein Mann namens Helyas löst sich auf unehrenhafte Weise von dem physisch geschwächten Gottfried von Bouillon, der damit an Autorität verliert 641 • Beide Figuren sind zu früherer Zeit in einer anderen Dichtung sehr viel positiver dargestellt worden. 1198 wurde für Herzog Heinrich I. von Brabant und seine Gemahlin Mathilde der Chanson du Chevalier au Cygne et de Gode/raid de Bouillon 642 von einem sonst unbekannten Dichter namens Renaldus umgearbeitet: Es sollte der legendäre Schwanenritter zum Vorfahren des Brabanter Herzoghauses gemacht werden. Diese Verbindung war auch ohne genealogische Manipulationen herzustellen, da Mathilde als Tochter des Grafen Matthäus von Boulogne in direkter Linie von Eustachius von Bouillon, dem Bruder Gottfrieds und Balduins, abstammte 643 • Dieser wiederum trug den Namen eines der Enkel des Schwanenritters 644 , deslib. VI, cap. 19 und 20. MGH, S. 223, Z. 32 und S. 226, Z.8. Vgl. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990. 642 ed. par Ce/estin Hippeau, 2 Bände, Paris 1874/1877. Nachdruck Genf 1969 (Collection des Poetes fram;:ais du Moyen Age VIII). In deutscher Übersetzung: Die Geschichte vom Schwanenritter. Aus den Chroniken der Troubadoure, übertragen von Ruth Schinner, München 1992. S.7-115. 643 V gl. Histoire litteraire de la France, loc. cit. N. Andrieux-Reix s. v. Croisade, Cycles de la, In: Jean-Pierre de Beaumarchais, Daniel Couty: Dictionnaire des reuvres litteraires de langue fran~aise. Band 1. S.467. Thomas Cramer, Lohengrin. Edition und Untersuchungen. München 1971. S.74ff. 644 Zur Geschichte des Schwanenritters: König Lothar heiratet die wunderschöne Elioxe, die ihm Siebenlinge gebiert und dabei stirbt. Eines der Geschwister muß auf Grund einer Verwün640 641

4. Arnold von Lübeck, De peregrinatione Heinrici ducis

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sen Tochter Ida nach der Legende einen Grafen von Boulogne geheiratet und ihm drei Söhne geboren hatte: Eustachius, Gottfried und Balduin, die Gründer des Königreiches von Jerusalem bzw. der Vorfahre der Herzogin von Brabant. Die Dichtung von Elias handelt also vom legendären Ururgroßvater der Herzogin Mathilde von Brabant. Doch wie anders sind diese leuchtenden Helden bei Arnold dargestellt: Gottfried als buckliger, kampfunfähiger und seiner Autorität beraubter Fürst, der überaus wortreich um den Erfolg betet, und Helias als zwar schöner und hervorragender Kämpfer, der jedoch auf den ersten besten Versuch, ihn zu bestechen, eingeht und seinen Fürsten schnöde verläßt. Daß Drogo als Sieger im Zweikampf seinem unterlegenen Widersacher die übliche Frage stellt, wer er sei, mag ein weiteres verzerrtes Echo der Dichtung vom Schwanenritter sein. Die Gründe für eine solche reichlich grobe Distanzierung vom Hause Brabant sind in Ottos IV. Situation in der Zeit nach 1208 zu sehen. Unmittelbar nach seiner Wahl zum König 1198 war er mit Maria von Brabant, der Tochter Mathildes und Heinrichs, verlobt worden, die damals erst acht Jahre alt war. Es kam allerdings nicht zu einer Eheschließung. Nach sechs Jahren bemühte sich Marias Vater, sie anderweitig zu verheiraten: Er stand in Verhandlungen mit dem Neffen König Philipps von Schwaben, dem späteren Kaiser Friedrich H. Otto IV. heiratete im Jahre 1212 Beatrix von Staufen, eine Tochter Philipps. Dieser Eheschließung gingen lange Verhandlungen voraus, deren Beginn Hucker in die Zeit nach dem Tod der Mutter von Beatrix, Irene, am 27. August 1208 setzt 645 • Es ist daher anzunehmen, daß Otto IV. um 1210 bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf geachtet haben wird, sich möglichst deutlich von seinen vormaligen Brabanter Eheplänen zu distanzieren, um glaubwürdig um Beatrix werben zu können. Möglicherweise steht die hier behandelte Episode in diesem Zusammenhang. Beatrix sollte die Ehe jedoch kein Glück bringen - wenige Tage nach der Eheschließung, am 11. August 1212, starb sie. So konnte ihr Witwer im Mai 1214 doch noch seine Verlobte von vor sechzehn Jahren in Aachen an den Traualtar führen. Ob Arnolds Chronik vor Maria von Brabant geheim gehalten werden mußte, ist natürlich eine Frage, die alle möglichen Phantasien in Gang setzt ... Inwieweit die in Wolframs von Eschenbach Parzival hergestellte Verbindung des Hauses Anjou (Parzival und Feirefiz, wie Otto IV. über seine Mutter davon abschung durch die böse Mutter Lothars die Gestalt eines Schwanes annehmen; diesen umsorgt sein Bruder Elias und nimmt ihn auf seine Reise mit. Im Laufe dieser Fahrt gelangt der Schwanenritter nach Nijmegen und leistet dort der verwitweten Gräfin von Boulogne bei einem Streit um ihre Ländereien Beistand. Wenig später heiratet er deren Tochter Beatrix, der er das Versprechen abnimmt, nie dürfe sie ihn befragen, wer er sei oder woher er komme: Ne me demandes ja qui je sui ne qui non. (Zitiert in: Histoire litteraire de la France, ouvrage commence par des religieux Benedictins de la congregation de Saint-Maur et continue par des Membres de I'Institut. Bd. 2. Paris 1852, Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1971, s. v. Chevalier au Cygne. S. 350-402. Hier S.395). Mit ihr zeugt ereine Tochter Ida, die er jedoch bald verlassen muß, da Beatrix eben doch fragt. Vgl. Celestin Hippeau, Vorwort zur Ausgabe, loc. cit. 64S Bernd Ulrich Hucker, Kaiser Otto IV (MGH Schriften 34). Hannover 1990. S. 98.

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stammt) mit dem Hause Brabant (Loherangrin als Schwanenritter zieht ins Herzogtum Brabant, heiratet die dortige Erbin und zeugt mit ihr Kinder) als verspätete Wiedergutmachung für diesen 1210 vorgebrachten publizistischen ,Schlag unter die Gürtellinie' zu sehen ist, wird von weiteren Untersuchungen der Auftragssituation Wolframs von Eschenbach zu klären sein. Es ist wahrscheinlich, daß die von Arnold im Prosaepilog der Gesta Gregorii Peccator erwähnten Verdienste um die Darstellung der Lebensgeschichte Herzog Heinrichs nicht nur in der Fähigkeit des Autors zu sehen sind, eine Geschichte spannend zu erzählen und elegant umzudichten. Vielmehr haben die Welfen wohl sein Talent geschätzt, im richtigen Moment die richtige politische und personelle Konstellation durch literarische Mittel zu betonen. Um 1210 tat Otto IV. und mit ihm sein Publizist Arnold gut daran, weder die mögliche Schuld Philipps von Schwaben an der Eroberung Konstantinopels noch die geplatzte Verlobung mit Maria von Brabant zu erwähnen. Einem potentiellen Schwiegervater und Ex-Widersacher dennoch den guten Willen zu signalisieren gelingt vielmehr, indem man den ersten Sachverhalt mit Schweigen übergeht bzw. andere Autoren zitiert, den zweiten ironisiert und die ein Herrscherhaus lobende Dichtung persifliert. Daß Arnold in jedem Fall zur Zufriedenheit des Welfenhauses schrieb, belegt der Folgeauftrag, den Gregoriusroman umzudichten. Es ist daher möglich, die derzeit anerkannte These, die Chronik Arnolds von Lübeck diene der Erhöhung des Welfenhauses, zu erweitern. Die Texte Arnolds sind nicht nur im Binnenverhältnis einer Familie zu verstehen, die sich selbst feiert, sondern haben als weithin verbreitete Werke durchaus auch politisch-publizistische Ziele verfolgt. Eingedenk der relativ kleinen Gruppe von literarischen Auftraggebern und Rezipienten von Literatur ist es nicht allzu spekulativ anzunehmen, daß Nachrichten über den Tenor dieser Chronik, wenn nicht gar ein Exemplar derselben, in der Zeit um 1210 in staufische Hände gerieten. Und dorthin konnten zumindestens diese ersten Kapitel, in denen von einem staufisch-welfischen Gegensatz nicht das geringste zu spüren ist, mit großem Nutzen kommen.

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium a) Der Autor Wilbrand ist ein Autor von dem, auf Grund seiner Abkunft und seiner Karriere, Genaueres bekannt ist. Um 1185 als Sohn Heinrichs 1. von Oldenburg in eine nicht nur eng mit dem friesischen Adel, sondern auch mit dem stau fischen Kaiserhaus verbundene Familie hineingeboren 646 , war er schon früh allen geistigen Beschäfti646 H. Lahrkamp, in: LThK 10, Sp. 1122 f. J. C. M. Laurent vermutet seine Geburt "in den siebziger Jahren des zwölften Jahrhunderts". In: Ders., Wilbrands von Oldenburg Reise nach Palästina und Kleinasien. Lateinisch und deutsch mit erklärenden Anmerkungen und einer

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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gungen zugetan und ragte daher aus dem Kreise seiner Altersgenossen hervor; in den Annales Paderbornenses wird insbesondere sein Interesse an den studia literarum betont. 647 Seit 1209 war er Kanonikus zu Hildesheim, später gewählter Probst von Zütphen und Utrecht. Im Jahre 1211 reist er ins Heilige Land; das Jahr ist zum einen durch seine Angaben zu seiner Ankunft am 25. August 648 , zum anderen durch das Datum einer Mondfinsternis belegt, die er am 22. November 1211 (St. Cäcilien) erlebt 649 • Für die in der Forschung tradierte Meinung, daß er diese Reise im Auftrage Ottos IV. 650, im Auftrag Leopolds VII. von Österreich 651 oder gar in beider gemeinsamer Auftrag 652 unternommen habe, findet sich kein Beleg außerhalb von Wilbrands Bericht. Er gibt im zweiten Kapitel des ersten Buches den Grund an, warum man sich zu Schiffe nordwärts begab: ad agendum negocia domini imperatoris Othonis et ducis Austrie. Leopold VII., so führt er weiter aus, habe das Schwert ergriffen - dies ist möglicherweise, mit Laurent, auf die Kreuznahme des Herzogs von Österreich im Jahre 1208 zu Klosterneuburg und seine Hilfeleistung für König Alfons VIII. von Kastilien gegen die Mauren 1210 zu beziehen. Damit ist bereits der Rahmen dieses Berichts gesteckt: Wilbrand reist in hochrangiger Begleitung (u. a. des Deutschordensmeisters Hermann von Salza), in politisch geheimer, aber brisanter Mission, die wahrscheinlich Sondierungen für eine geplante Rückeroberung des Heiligen Landes zum Ziel hat. Nach seiner Reise ist Wilbrand als Probst von Zütphen belegt 653 , um 1220 als Domprobst von Hildesheim 654 • Lahrkamp gibt für seine Angabe, Wilbrand sei auch Probst von St. Nikolai in Magdeburg gewesen, keine Quelle an. Seine Meinung wird in der Forschung sonst nicht vertreten 655 • Die Aufgaben als Hildesheimer Domprobst scheint Wilbrand nicht zur Zufriedenheit des Kapitels erfüllt zu haben: Es liegt ein Biographie des Verfassers herausgegeben von J. C. M. L. Hamburg 1859. S.33. Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen Wilbrands vergl. die Stammtafeln bei G. Rüthning, Oldenburgische Geschichte, Oldenburg 1937, nach S. 696 und Christian Dolfen, Das Taufbecken des Domes zu OsnabTÜck. In: OsnabTÜcker Mitteilungen. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von OsnabTÜck 72 (1964), S. 32f. 647 Nicolaus Schaten, Annales Paderbomenses Pars I. Edit. alt. Monast. Westphal. 1774, S.711. 648 Wilbrand, Lib. I, cap. I, 1. 649 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 1. Es wird im folgenden nach der Zeilenzählung zitiert. 650 H. Lahrkamp, LThK Bd. 10, Sp. 1122; Christian Dolfen, Das Taufbecken des Domes zu Osnabrück. In: Osnabrücker Mitteilungen. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 72 (1964), S.25-37 beruft sich auf A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands IV 791 ff.; Schafen, Annales Paderbomeneses 1711; und auf Wilbrands eigenen Bericht. 651 Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Bd.2 Berlin 1894. S. 361. 652 ADB Bd.42, S.475. 653 Annales Paderbomenses, loc. cit., S. 711; ADB Bd.42, S.474. 654 S. Conr. Berthold. Behrens, Historia praepositorum, decanorum et scholasticorum ecclesiae Hildesheimensis, S. 19ff. 655 H. Lahrkamp, LThK Bd. 10, Sp. 1122.

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Brief von 1221/1222 vor, in dem er bittet, seine lange Abwesenheit zu entschuldigen. Sie sei dadurch begründet gewesen, daß er Friedrich H. nach Italien habe begleiten müssen 656 . Der Kaiser schickte den Hildesheimern zur "Entschädigung" denn auch zwei kostbare Seidenbrokatstoffe 657 . Wilbrands darauf folgende, kurze Regierungszeit als Bischof von Paderborn (1225 bis 1227) war überschattet von einem Rechtsstreit mit dem Domkapitel, das den scheidenden Probst wegen Mißwirtschaft auf Entschädigung verklagte. Das Domkapitel zog jedoch die Klage zurück, als Wilbrand dem Hildesheimer Dom eine Schenkung von 50 Pfund machte 658. Schon vor seinem Amtsantritt als Bischof von Paderborn war Wilbrand als Bisturnsverweser des Bistums Osnabrück, das durch die Amtsenthebung Bischof Engelberts erledigt war, tätig. Im Jahre 1226 übernahm er dazu noch die Verwaltung des Bistums Osnabrück. Während seiner Zeit als Paderborner Bischof lehnte er das Gesuch der Domherren ab, die vita communis aufzulösen: für Laurent ein Beleg "ernstfrommer Gesinnung"659. Paderborn war anscheinend der erste Ort, an dem der Kirchenmann sein militärisches Geschick konkret unter Beweis stellen konnte: er unterwarf im April 1227 die Grafen Volkwin IV. und Adolf I. von Schwalenberg, die seit Jahren mit den Paderborner Bischöfen im Streit lagen 660 . In der zweiten Hälfte des Jahres 1227 reiste er als Gesandter Kaiser Friedrichs H. zu Papst Gregor IX. nach Rom. Inwieweit er in der Zeit der Kreuzzugsvorbereitungen ein 661 oder sogar zwei 662 weitere Male neben seiner Reise von 1212 im Orient war, muß wohl bis auf weiteres unklar bleiben. Von seiner Wahl zum Bischof von Utrecht wurde er am 27. Juli 1227 in Rom in Kenntnis gesetzt. Der Papst bestätigte sogleich seinen so wichtigen Wegbereiter und Förderer des geplanten Kreuzzugs im Amt. Die (einstimmige) Wahl dürfte jedoch nach fast einhelliger Meinung der Forschung weniger wegen seiner Fähigkeiten als Geistlicher als vielmehr auf Grund seiner Qualitäten als strategisch denkender Machtmensch erfolgt sein 663 . Diese Fähigheiten taten not, denn Utrecht war eine ausgesprochen unruhige Diözese. Rudolf von Koevorden hatte in einem Lehnstreit (er beanspruchte die von Egbert von Grönenberg gehaltene Burggrafschaft von Gröningen als ein ihm erblich zustehendes Lehen) die Bauern von Drenthe zunächst gegen Egbert und dann gegen den Bischof Otto 11. siegreich angeführt. Dieser war bei der letzten Schlacht in einen Sumpf geUrkundenbuch des Hochstifts Hildesheim 11 115. ADB Bd.42, S.475 ohne Angabe von Quelle. 658 Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim 11 194. V gl. K. Algermissen, Das romanische Taufbecken des Hildesheimer Domes. Unsere Diözese in Vergangenheit und Gegenwart. Sonderdruck 1958, S.4 f. 659 Laurent, loc. cit., S. 35. 660 Vgl. 1. C. Möller, Geschichte der Weihbischöfe von OsnabTÜck. OsnabTÜck 1887, S.21 f. 66\ Dolfen, loc. cit., S. 32. 662 Dolfen, loc. cit., S. 31. Schaten 1683; A. Moll, Kerkgeschiedenis van Nederland 11 50. 663 Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen, Bd. 2, S. 431. ADB, Bd.43, S. 260. Dolfen will mit Schaten Wilbrand "vor dem Anwurf in Schutz [nehmen], er sei mehr ein biederer Krieger als ein Bischof gewesen". loc. cit., S. 32. 656

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raten und dabei, wehrlos im Schlamm steckend, von den Aufständischen skalpiert und tiefer in den Morast getreten worden 664 . Wilbrands Verwandte, Graf Gerhard von Geldern, der selbst bei der Schlacht zugegen gewesen war, und Graf Florentius IV. von Holland, schlugen Wilbrand als denjenigen vor, der "diesen Frevel rächen sollte"665. Nachdem er im Juli 1228 in Donauwerth investiert worden war und in Werden die Regalien von König Heinrich VII. verliehen bekommen hatte, zog er am 20. August 1228 mit großem Gepränge in Utrecht ein. Noch am selben Tag war es eine seiner ersten Amtshandlungen, einen Kreuzzug (expeditio solemnis et gravis) gegen die Anhänger Rudolfs auszurufen und einen Ablaß zu verkünden 666 . Der Aufstand wurde rasch niedergeschlagen und die Unterwerfung Rudolfs schon bald ausgehandelt. Der Friede währte jedoch nur bis 1229, als Rudolf von Koevorden seine Stammburg wieder besetzte und die Drenther Friesen sich erneut gegen die Herrschaftsansprüche des Bischofs auflehnten. Während der Waffenstillstandsverhandlungen kam Rudolf leichtsinnigerweise selbst zum Bischof. Er wurde in der Burg Hardenberg von den bischöflichen Leuten gefaßt und hingerichtet. Wilbrand mag nicht dahintergestanden haben, doch "scheint [er] wenigstens nicht alles aufgeboten zu haben, um diese Frevelthat zu verhüten"667, die immerhin in seinem Hause und mit seinem Wissen geschah. Es folgten zwei weitere Feldzüge gegen das Volk im Lande Utrecht in den Jahren 1230 und 1232, das sich nach dieser Hinrichtung noch einmal empört erhoben hatte. Es gelang Wilbrand allerdings nicht, die Aufstände niederzuschlagen 668 . Als einzige Handlung seelsorgerischer Art, wenn man sie so nennen will, ist die Gründung des Klosters St. Servatius zu Utrecht überliefert, indem er das Kloster der Zisterzienserinnen von Abstede dorthin verlegte. Am 26. oder 27. Juli 1233 starb Wilbrand in Zwolle, dem er kurz zuvor die Stadtrechte verliehen hatte. b) Die Quellen WiIbrands Im Text Wilbrands finden sich zahlreiche Bezüge zur Literatur seiner Zeit, aber auch zu klassischen Autoren. Daß Wilbrand die Bibel zitiert, überrascht nicht. So verweist er auf das Hohelied 4,15, um eine besonders lebendige Quelle in einem bei Tyrus gelegenen Garten anschaulich zu beschreiben 669 . Auf die Suche nach dem Apostel Paulus verweist er bei der Beschreibung Tarsos 67o . Daß er im zweiten Buch seines Berichts, in dem die eigentliche Pilgerfahrt beschrieben wird, wieder664 Wattenbach, Geschichtsquellen, Bd.2, S.431. Vgl. Albert von Stade zum Jahr 1227, S. 207 der Helmstädter Ausgabe von 1587. 665 Laurent, loc. cit., S. 36. 666 Schaten 1715-718. 667 ADB Bd.42, S.476. 668 Gesta episcoporum Trajectensium, ed. L. Weiland, MGH SS XXIII, 400-426. 669 Wilbrand, Lib. I, cap. 11, 9. 670 Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 3. Zitiert wird aus der Apostelgeschichte 9, 11.

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holt Bibelzitate anführt, um die Begebenheiten an den Orten zu illustrieren, die er besichtigt, ist eine Praxis, die aus den anderen Pilgerberichten hinlänglich bekannt ist. Auch die Autoren der klassischen Antike sind ihm vertraut. Am stärksten, so verrät er selbst, ist seine Zuneigung zu Vergil, den er als maximus ille poetarum bezeichnet 671 • Es ist ihm zu glauben, daß er diese Aussage auf der Basis einer Lektüre der Aeneis trifft, nimmt er doch wiederholt auf sie Bezug. So bezeichnet er bei der Beschreibung von Tyrus dessen Herrscherin Dido als infelix et misera - ein Adjektivpaar, das Vergil immer wieder verwendet, wie er überhaupt ausschließlich emotive Beschreibungen für Dido verwendet. 672 Dreimal bezeichnet er sie als infelix Dido 673 , einmal als infelix Phoenissa 674 und ein anderes Mal als misera 675 • Andere Nennungen der Herrscherin gehen auf ihre Herkunft ein, ohne sie mit einem Adjektiv zu versehen, während eine weitere Stelle die glücklich Verliebte laetissima Dido 676 nennt. Es handelt sich um die vergilische Aeneas-Erzählung, die Wilbrand gelesen hat, nicht um Heinrichs von Veldeke Roman. Es ist durchaus denkbar, daß Wilbrand den im niederdeutschen Raum um 1184 oder 1186 vollendeten Roman gekannt haben könnte. Er setzt sich allerdings deutlich von Heinrichs Darstellung der Dido ab. Dieser bezeichnet die Herrscherin ausschließlich mit Attributen der Macht oder Herrschaft: Dfdo diu rfche 677 , Dfdo diu mare 678 , oder gar beides, mare und rfche 679 • Die edele 680 Herrin bezeichnet sich ein einziges Mal im Selbstgespräch als arme frow 68 1, während ihr Autor mit Kritik an ihrer selbstvergessenen 682 , maßlosen 683 , jamerlichen 684, lasterhaften 685 und unehrenhaften 686 Tat, zu der ihr nur der Teufel geraten haben könnte 687 , nicht spart. Wilbrand, Lib. I, cap. V, 1. P. Vergilius Maro, Aeneis. LateinischIDeutsch. Übersetzt und herausgegeben von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 1994 und 1997. 673 lib. IV, 68; lib. IV, 596, lib. 1,749. 674 lib. I, 712. 675 !ib. I, 344. 676 !ib.I, 685. 677 Heinrich von Veldeke, Eneasroman. MittelhochdeutschlNeuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986. Didö diu riche: 28,34; 36,15; 39,26; 59,19;64,6; 77,10. 678 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 39,1; 67,17. 679 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 35,29; 80,11. 680 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc. cit., 79,29. 681 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 51,17. 682 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 38,17. 683 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 80,19. 684 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.cit., 99,30. 685 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc.eit., 77,33. 686 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc. cit., 99,40. 687 Heinrich von Veldeke, Eneasroman., loc. eit., 80,28 f. 671

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Weitere Stellen legen eine gewisse Identifikation mit dem Helden der Aeneis nahe - so erstarrt Aeneas vor dem gewaltigen Bau einer Burg 688 in Tyrus vor Staunen, wie sich auch Wilbrand für Befestigungsanlagen begeistert. Die Schilderung des Stunnes vor Tripolis, der seine Reisegruppe fast hätte ertrinken lassen 689, ähnelt durchaus dem Erlebnis des Aeneas 69o, der ebenfalls und nur mit Not die libysche Küste erreichte. Daß der Topos des knapp überlebten Stunnes häufig in Zusammenhang mit Pilgerberichten und Pilgerreisen auftritt, ist nicht verwunderlich. Die Stadt Slaudiä, Geburtsort von Wilbrands Lieblingsdichter, ist auch Heimat des vir bellicosus Hospinel, den Wilbrand auftreten läßt und der in der Forschung des neunzehnten Jahrhunderts für einige Aufregung gesorgt hat. Röhricht stellt in der Zeitschrift für deutsche Philologie 691 die Frage, um wen es sich bei diesem Mann handeln könne, von dem laut Wilbrand viele männliche Taten überliefert seien - de quo multa uiriliafacta leguntur 692 • Ein Ospinel wird in der Karl Meinet Kompilation als ein äußerst kampfbegieriger heyde vele vermessen aus Babylonien geschildert 693 . Er ist so sehr darauf erpicht, die Tochter des Marselis, eines der Hauptfeinde Karls des Großen, zu heiraten, daß er beschließt, mehr oder minder im Alleingang die Christen aus Spanien zu vertreiben. In einem Gespräch mit Bischof Turpin, gegen den er kämpft, verlangt Ospinel, gegen Oliver, Roland und Oyger von Dänemark kämpfen zu dürfen: ,,Ich wil sy alle dry bestaen "694. Ospinel ist ein äußerst ritterlicher Mann - nachdem er Bischof Turpin aus dem Sattel gehoben hat, hilft er ihm wieder aufzusitzen und hält ihm dabei den Steigbügel, später sitzt er zum Erstaunen der Franzosen äußerst "gezogenliche / [... ] vur deme konynck riche"695, also Kar!. Dieser stellt fest, Ospinel sei sein "genois"696, wodurch sich der Heide möglicherweise ennutigt fühlt, Karl aufzufordern, das Land zu verlassen - sehr zum Erheitern des Kaisers. Im Kampf gegen Oliver unterliegt Ospine1 schließlich, tritt jedoch noch kurz vor seinem Tod zum Christentum über. Allein diese Handlung muß einen Mann wie Wilbrand überzeugen, eine solche Geschichte zu berichten. Woher aber hatte er die Geschichte? Der sogenannte ,Ospinel'-Einschub "entzieht sich vorläufig einer genaueren textgeschichtlichen Einordnung", so Hartmut 688 P. Vergilius Maro, Aeneis, loc. cit., lib. I, 421 f .: miratur molem Aeneas, magalia quondam, miratur portas strepitumque et strata viarum . 689 Wilbrand, lib. I, cap. VIII, 1. 690 P. Vergilius Maro, Aeneis, loc cit., !ib. I, 157 f. 691 ZfdPh. 692 Wilbrand, Lib. I, cap. V, 1. 693 Karl Meinet. Hrsg. von Adelbert v. Keller. Stuttgart 1858. Nachdruck Amsterdam 1971 . v. 408,61 . Um den Helden Ospinel aus dem Jüngeren Titurel kann es sich hierbei nicht handeln - Albrecht von Scharffenbergs Werk stammt aus der Zeit um 1270, ist also nach Wilbrands Tod verfaßt. 694 KM 411,40. 695 KM 412,64. 696 KM 413,18.

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Beckers 697 • Wir wissen, daß er Bestandteil eines Rolandslied-Passus in der Karl Meinet Kompilation ist, dessen Grundstock wohl eine selbständige Bearbeitung des Rolandsliedes des Pfaffen Konrad ist. Beckers postuliert, daß diese im frühen 13. Jahrhundert am Niederrhein entstanden ist. Wilbrand hat seinen Reisebericht eindeutig nach 1212 verfaßt. Wenn auch die Annahme, daß er die literarischen Novitäten seiner Zeit kannte, vielleicht gewagt ist, hat er jedenfalls mit dieser Allusion eine Anfang des 13. Jahrhunderts durchaus populäre Figur bemüht. So erwähnt die Gascogner Chronik, die zwischen 1205 und 1240 in Bordeaux geschrieben wurde, im Gefolge von Aigulandus, einem Hauptgegner Karls des Großen, einen "Hospinel, 10 roi d'Acie". Diese ,Turpin'-Geschichte aus der Pseudo-Turpin-Übertragung des Nicolaus de Saint-Lis 698 geht möglicherweise auf eine Quelle zurück, die auch der Kompilator des Karl Meinet kannte. Inwieweit Hospinel als der französische Otinel in die Literaturgeschichte eingegangen ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, doch manifestiert sich im Interesse von Jean d'Outremeuse und Jacobo von Acqui die Popularität der Figur 699 • Man sollte sich in dieser Sache auf die These Karl Bartschs besinnen, der schon 1861 anregte, daß jüngere französische Rolandslieder als Quelle des Karl Meinet gelten könnten 700. Möglicherweise ist damit ein kleiner Beitrag zur Beantwortung der Frage von L.A. Haas geleistet, ob "der Kompilator es [das ,Ospinel'-Gedicht] selbst verfaßt oder ein selbständiges Ospinelgedicht vorgefunden hat", denn ein selbständig überliefertes Gedicht ist wahrscheinlicher als Quelle für Wilbrand, scheint er sich doch auf eine Erzählung zu beziehen, die Hospinel als Hauptprotagonisten kennt. Viele der eingestreuten Sentenzen und Verweise auf klassische Autoren sind eher dazu angetan, die Belesenheit und WeItläufigkeit des Autors zu belegen - also etwa die Anspielung in der Vorrede auf das horazische Parturient montes: nascetur ridiculus mus 701 , der Verweis auf den Armen, der seine Herden zählt, der sich in Ovids Metamorphosen finder70 2 , die Nennung des spätantiken Romans Apollonius von Tyrus 703, als Wilbrand in Tyrus einzieht, oder die Wiedergabe von Catos Bemerkungen zum übermäßigen Weingenuß 704 , denen er noch einen Kommentar draufsetzt. Doch nennt er seinen Lesern auch weiterführende Literatur, indem er alle, die mehr über Antiochia erfahren wollen, auf die Apostelgeschichte verweist 705 oder die BeschreiHartmut Beckers in 2VL, 1022. Der Pseudo-Turpin von Compostella. Aus dem Nachlaß von Adalbert Hämel hrsg. von Andre de Mandach. München 1965. 699 Siehe hierzu Paul Aebischer, Etudes sur Otinel. Bem 1960. 700 Karl Bartsch, Zum Karlmeinet. In: Germania 6 (1861), S. 28-43. 701 Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch/Deutsch, übers. von Eckart Schäfer, Stuttgart 21984, v. 139. Wilbrand Prologus, I. 702 P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994. Lib. 13, 824: Pauperis est numerare pecus! 703 Wilbrand, Lib. I, cap. 11, 3. 704 Wilbrand, Lib. I, cap. XXXI, 6. Cato, Distichon, 130 f. 705 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 31. 697

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bung des Hermann von Lugonne anführt, in der alles Wissenswerte über Zypern nachzulesen sei 706 • Umgekehrt setzt Wilbrand auch Texte als bekannt voraus: über die Biographie des Alten vom Berge hätten die Leser schon andernorts genug erfahren, daher wolle er hier schweigen 707. Schließlich zitiert Wilbrand im zweiten Buch seiner Beschreibung Hymnen, die offenbar seine Gefühle im Angesicht einiger Stätten in Jerusalern widerspiegeln. So flicht er in die Beschreibung des Heiligen Grabes die Zeile ein, hier sei der Leib des Herrn in ara erucis torridum 708 hineingelegt worden, eine Zeile aus einem Osterhymnus. Auch ein weiterer Passionshymnus kommt ihm in den Sinn, als er das Loch auf dem Kalvarienberg besichtigt, in dem das Kreuz stand: Dieses sei ein Arbor deeora et julgida , I ornata regis purpura 709. Die Beobachtung, der Leib Marien sei ein templum Dei 71O , erinnert an das Gedicht des Coelius Sedigitus De Nativitate Domini. Ein weiterer Hymnus des Venantius Fortunatus wird von Wilbrand mit Bezug auf Marien Sohn, den alle Elemente anbeten, zitiert 711 . Darüber hinaus greift Wilbrand gerne und oft auf Legenden und Weistümer zurück. Die Stadt Akaron (so nennt er Akkon) hieße eben so, weil hier in heidnischen Urzeiten der gleichnamige Fliegengott verehrt worden sei 7l2 • Wilbrand verwechselt hier wohl Akko mit dem Accaron des vierten Buches der Könige, in dem von Beelzebub, dem König zu Akkaron, die Rede ist1 13 • Petrus soll, so haben es ihm die örtlichen Einwohner berichtet (et dicit vulgus) 714, bei Gloriet den Teufel in eine Höhle gesperrt haben. Alexandretta sei an einem Tag gebaut worden 715, und in Portella ruhten die Gebeine Alexanders des Großen oben in einem Tor, damit er auch noch im Tode über allen, die vorbeikämen, schwebe 7l6 • Eine ausführliche Erörterung ist ihm die Rückreise der Heiligen Drei Könige wert, die in einem Schiff ohne Ruder oder Segel von Jaffa nach Tarsis reisten, was Herodes so in Rage versetzt habe, daß er alle im Hafen von Tarsis liegende Schiffe verbrennen ließ. Die Frage ist ihm immerhin wichtig genug, um auch eine Gegenmeinung zur Erwähnung kommen zu lassen: daß Herodes von einem Sturm nach Tarsis verschlagen wurde 717 • Wilbrand, Lib. I, cap. XXVII, 17. Wilbrand, Lib. I, cap. IX, 6. 708 Wilbrand, Lib. 11, cap. VI, 10. Der Osterhymnus ist im Thesaurus hymnologicus von H. A. Daniel abgedruckt, Bd. I, S. 88: Cuius corpus sanctissimum / in ara crucis torridum / cruore eius roseo / gustando YiYimus Deo. 709 Wilbrand, Lib. II, cap. VI, 22. Vgl. Daniel, Bd. I, S. 160. 710 Wilbrand, Lib. 11, cap. VIII, 3. Vgl. Daniel, Bd. I, S. 142, N. CXIX. 711 Wilbrand, Lib. 11, cap. VIII, 13. Vgl. Daniel, Bd. I, S.I72, No.CXLIV. 7 12 Wilbrand, Lib. I, cap. I, 3. 7 13 IV. Rg I, 16; in deutscher Übersetzung: 2. Könige 1,2. 7 14 Wilbrand, Lib. I, cap. XIII, 5. 715 Wilbrand, Lib. I, cap. XVIII, 3. 7 16 Wilbrand, Lib. I, cap. XVIII, 8. 717 Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 4-8. 706 707

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c) Die Beschreibung der Reise "Dem Buche läßt sich Wert und Brauchbarkeit nicht absprechen"718, so befand Titus Tobler und wies darauf hin, daß Wilbrand ein Land beschreibe, das erst 25 Jahre zuvor durch Saladin mehr oder minder erobert worden sei. Dies werden auch die zeitgenössischen Leser so empfunden haben, denn 1211 hatte man sich mitnichten mit diesem Zustand abgefunden. Mochten die Kreuzzugsvorbereitungen vielleicht noch nicht intensiv betrieben worden sein, so hatte man doch den Gedanken an eine bewaffnete Heilig-Land-Fahrt nicht ganz aufgegeben. So gilt Wilbrands Augenmerk im ersten Teil seines Berichts den militärisch-politischen Bedingungen, denen das Land unterworfen ist, sowie den Befestigungsanlagen der Hafenstädte des Heiligen Landes, von Syrien und Libyen. Dies wird er auch gemeint haben mit seiner in der Vorrede gemachten Aussage, daß er nicht nur als Pilger (non solum me peregrinum) gereist sei. Auf seine "sonstigen Tatigkeiten", die nicht verwerflich gewesen seien, geht er aber nicht näher ein 719 • Auf die durchaus übliche Bescheidenheitsbeteuerung, kaum könne er das Gesehene beschreiben, folgt die Zurückweisung des Verdachts, Eitelkeit (arrogancia) habe ihn zur Niederschrift veraniaßt. Die übliche Begründung (Ermöglichung der peregrinatio spiritualis für die Leser) folgt: es mögen diejenigen, die nicht in das Heilige Land haben reisen können, diese Beschreibung als Möglichkeit ansehen, sich lesend daran zu erfreuen und so ihre Sehnsucht danach zu stillen. Die Bitte um Nachsicht bei all denen, die als Heiliglandfahrer Fehler in seinem Bericht entdecken, entspricht ebenfalls dem üblichen Stil. In der Vorrede zitiert Wilbrand Horaz' Diktum vom kreis senden Berg, der schließlich eine Maus gebiert 720, um seinen Abscheu vor dem stylus grandiloquens, den er nicht zu verwenden gedenkt, zu begründen. Daß er dennoch zu literarischen Stilmitteln Rekurs nimmt, sei hier bereits angemerkt. Zunächst eher rätselhaft ist die Verwendung eines Bibelzitates: Damit der "alte Feind" ihn nicht für einen gewöhnlichen Pilger halte, habe er sich auch mit anderem befaßt. Dieser hostis antiquus geht, so zitiert er den 1. Brief des Petrus 721 , umher wie ein brüllender Löwe. Dabei wandelt er den Text der Vulgata ab, die einen adversarius kennt ohne zu präzisieren, ob es ich dabei um einen alten Feind handelt. Berücksichtigt man jedoch, daß Wilbrand auf seiner Reise mit dem Deutschordensmeister Hermann von Salza den König Leo von Armenien aufgesucht hat, gewinnt der Satz eine ganz andere Bedeutung. Die Fürsten von Kilikien waren tatsächlich alte Feinde der Kreuzfahrerstaaten, hatte es doch von den achtziger Jahren des zwölften Jahrhunderts an bis zur ersten Dezennie des 13. Jahrhunderts zwischen der Grafschaft von Antiochia (die sich später mit der Grafschaft Tripolis verbündete) 718

719

720 721

Tobler, S. 24. Wilbrand, Prologus, 2. Horatius, loc. ci!. 1. Petr. 5,8.

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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und König Leo von Annenien ständig Gebietsstreitigkeiten 722 gegeben, die 1194 schließlich in der Gefangennahme Bohemunds III. von Antiochien durch Leo mündeten. Erst durch das Eingreifen von Heinrich von der Champagne, der Leo aus der Lehnshoheit Antiochiens entließ und ihn zum unmittelbaren Vasallen des deutschen Kaisers machte, wurde in der Region - etwas mehr als zehn Jahre vor Wilbrands Reise - der Friede wiederhergestellt 723 • Es ist denkbar, daß Wilbrand hier den Begriff "Feind" bewußt doppeldeutig verwendet: zum einen soll der Satz durchaus so verstanden werden, daß er dem Teufel mit seiner Pilgerfahrt ein Schnippchen schlägt, aber auch durch sein Verhandlungs geschick den ehemaligen Feind, den armenischen König, hat beeinflussen können. Wilbrand ist nicht allein gereist sondern cum viris providis et honestis, munitus ducis, wie es in der editio princeps heißt. Laurent konjiziert aus nicht ganz klaren Gründen nuncii in der zweiten Auflage, beläßt aber den Deutschordensmeister Hermann von Salza als Begleiter Wilbrands. Dieser teilt seinen Text in zwei Bücher. Das erste befaßt sich mit seiner Reise von Akkon an der Mittelmeerküste entlang bis nach Annenien, von dort nach Zypern und dann wieder ins Heilige Land, um sodann demprincipali voto nostro 724 zu entsprechen und die eigentliche Pilgerfahrt zu beginnen, die im zweiten Buch beschrieben wird. Im ersten Teil offenbart sich deutlich das Interesse Wilbrands an Befestigungsanlagen, das sicherlich (neben seiner Vita) dazu beigetragen haben wird, daß er in der Forschung seit Laurent gerne als "Kriegsherr"725 oder Stratege dargestellt wird. Anhand des Beispiels von Akkon soll im folgenden aufgezeigt werden, welche Struktur diese Beschreibungen haben. Zunächst wird das äußere Erscheinungsbild beschrieben, im Falle Akkons handelt es sich um eine civitas bona et fortis, 726 die am Meeresufer liegt. Die Struktur der Stadt ist quadratisch, an zwei Seiten in einem spitzen Winkel vom Meer umgeben. Die Befestigungen werden sodann genannt (in Akkon: Mauergraben, hohe und feste Tünne an der Stadtmauer, ein guter und sicherer Hafen). Eine Angabe über die Geschichte Akkons (im Juli 1191 sei die Stadt wieder unter christliche Herrschaft gekommen; Wilbrand bezieht sich auf die Eroberung vom 12. Juli) führt ihn zu einer allgemeinen Beschreibung der zeitgeschichtlichen Bedingungen: Akkon habe seit seiner Eroberung während des dritten Kreuzzugs die 722 Steven Runeiman, A History of the Crusades. Bd.2: The Kingdom of Jerusalem. Cambridge University Press 1987. S.430. Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart, Berlin, Köln 71989. S. 222 f. 723 Möglicherweise diente diesem Zweck auch die Hochzeit von Leos Nichte Alix mit Raimund von Antiochia, dem ältesten Sohn von Bohemund III von Antiochia, aus der 1195 ein Sohn Rupin hervorging. 724 Wilbrand, Lib. 11, cap. I, 1. 725 Laurent 1859, S.40. 726 Wilbrand, Lib.1, cap. I, 2.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Templer, den König von Jerusalem, den Patriarchen und andere Geistliche aufgenommen. Die Einwohner der Stadt, Christen, Juden, Muslime, Franken und Lateiner, Griechen und Surianer und Jakobiten, finden ebenfalls sein Interesse. Er geht auf ihre Religionsausübung ein (alle haben sie ihre eigene) 727. Die Herrschaft haben jedoch die Franken und Lateiner inne, eilt er sich zu betonen. Er definiert die suriani als diejenigen, die in Syrien geboren sind, Arabisch (sarraceno) als Muttersprache sprechen sowie Griechisch und Lateinisch beherrschen. "Wie die Griechen"728 folgen sie als Christen der Lehre des Paulus, der ja der Apostel der griechischen Kirche sei. Zu den geographischen Bedingungen der Stadt bemerkt Wilbrand, daß der Libanon bis fast an die Stadt heranreicht und der Berg Kannel von dort aufsteigt. Endlich wendet er sich biblischen Ereignissen zu und erwähnt, daß auf dem Kannel der Prophet Elias von Raben gespeist worden sei - nur berichtet das erste Buch der Könige, diese Speisung habe am Bache Charith stattgefunden 729 • Es ist möglich, daß Wilbrand diese Begebenheit mit der sogenannten Schule des Elias verwechselt hat, die auf dem Berg Kannellag. Das Schema der Betrachtung von außen nach innen wendet Wilbrand auch bei den weiteren von ihm besuchten Stätten an. Geringfügige Abwandlungen führt er ein, indem er die Reihenfolge innerhalb des Mittelteils (selten jedoch im anfanglichen Abschnitt über die Wehrhaftigkeit einer Stadt) ändert, keine Verweise auf die biblischen Begebenheiten bringt oder umgekehrt die Bibel bemerkenswert ausführlich zitiert. Von besonderem Interesse sind für ihn dabei die Burgen der Hospitaliter 730 und Templer 73l , deren Gestalt, aber auch Verwaltung, Bewachung und Finanzierung (zum Teil über Zinszahlungen, weiß er bei den Hospitalitem zu berichten732) er ausführlich beschreibt. Auch die Art der politischen Herrschaft ist von Bedeutung, exemplarisch sei hier Sidon genannt 733 , das außerordentlich fruchtbar sej134 und dessen muslimische Herrscher zur Erhaltung des Friedens Tributzahlungen leisten 735 • Bei der Nennung wirtschaftlicher Faktoren wie etwa im Gebiet produzierte Güter (Baumwolle in der Nähe der Burg Kerak) 736 beschränkt er sich auf Verweise auf die Fruchtbarkeit eines Landes 737 oder den Reichtum einer Stadt 738 • Auch die Zins zahlungen geistlicher 727 728 729 730 731 732 733 734 735 736

737 738

Wilbrand, Lib. I, cap. I, 6. Wilbrand, Lib. I, cap. 1,9. III. Rg 17, 3-6, in deutscher Übersetzung 1. Könige 17, 3-6. Als Beispiel: Wilbrand, Lib. I, cap. XI, 5-8. Wilbrand, Lib. I, cap. IX, 7-8. In Margath. Wilbrand, Lib. I, cap. XI, 7. Wilbrand, Lib. I, cap. IV, 3. Wilbrand, Lib. I, cap. IV, 5. Wilbrand, Lib. I, cap. IV, 3. Wilbrand, Lib. I, cap. IX, 2. Annenien. Wilbrand, Lib. I, cap. XVII, 2. Nikosia, Lib. I, cap. XXVIII, 7.

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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Institutionen, so zum Beispiel die Leistungen, die das syrisch-orthodoxe Kloster auf dem Berg Zion an die Sarazenen zu zahlen hat 739 , interessieren ihn. Es geht Wilbrand jedoch um mehr als einen Bericht über die politischen, wirtschaftlichen und kirchenpolitischen Gegebenheiten einzelner strategisch wichtiger Orte und ihre umliegenden Gebiete. Er liefert vielmehr politische und historische Informationen, wobei er durchaus auch Amüsantes mit Informativem vermischt. So gehe der Name des "verfluchten Turmes" in Akkon mitnichten auf einen Fluch Christi zurück, sondern vielmehr auf die anstrengende Belagerung der Stadt, die dazu geführt habe, daß die Kreuzfahrer den sich so hartnäckig verteidigenden Turm verfluchten 740. Immer wieder bezieht er sich auf die Ereignisse um 1190/1191, erwähnt die Eroberung Akkons 741 wie auch die Jaffas 742, berichtet, wo Friedrich Barbarossa den Tod gefunden hat 743 , erinnert an den vom furor teutonicus geprägten Kampf um Beirut von Konrad von Querfurt und die Zerstörung eines dortigen Klosters 744 , berichtet über einen Sieg Herzogs Leopold V. von Österreich bei Sidon 745 und den Bau einer Burg auf dem Mons Peregrini durch den Grafen von St. Gilles 746. Auffallig ist dabei, daß solche Informationen eher beiläufig eingeflochten werden, als wären sie jedem politisch Interessierten geläufiges Hintergrundwissen. Gleichzeitig führen die Beschreibungen weniger wichtiger Zusammenhänge dazu, daß der Leser über die allgemeine Situation des geschilderten Landes mehr erfahrt. So geht Wilbrand auf die Bewachung des Heiligen Grabes durch vier syrisch-orthodoxe Priester ein 747, die von den Sarazenen gestattet worden sei. Umgekehrt berichtet er von den Straßenräubern, die an der Straße nach Jericho den Reisenden auflauern 748, und verbindet diese Erscheinung mit einem Evangelienzitat über Bettler am Wegesrand 749 • Die zur Ausreise aus Armenien benötigte regia bulla, ein laissez-passer des armenischen Königs, macht deutlich, über welch straffe Organisation das Einwanderungsund Tourismuswesen Armeniens verfügt150 • Auch im zweiten Teil seines Buches geht er auf solche Dinge ein, etwa indem er thematisiert, daß (und wie) sich das Stadtbild Jerusalems im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat1 51 • Von besonderem Interesse ist die Vertrautheit Wilbrands mit der "hohen Politik" seiner Zeit. Die Beschreibung eines Besuchs in Armenien wird eingeleitet mit einer 739 740 741 742 743 744 745 746 747 748 749 750

751

Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Lc 18,35. Wilbrand, Wilbrand,

Lib. 11, IX, 10. Lib. I, cap. I, 12. Lib. I, cap. I, 4. Lib. 11, cap. 11, 12. Lib. I, cap. XXVI, 4 und 19. Lib. I, cap. V, 3. Lib. I, cap. IV, 6. Lib. I, cap. VIII, 6. Lib. 11, cap. VI, 27. Lib. 11, cap. XI, 3. Lib. I, cap. XVII, 1. Lib. 11, cap. VI, 1-5.

9 v. Samson-Himmelstjema

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

knappen biographischen Schilderung König Leos II., der 1198, also bereits nach Heinrichs VI. Tod, vom Erzbischof von Mainz zum König erhoben worden war. Damit war er Lehnsmann des deutschen Kaisers, eine nicht unwesentliche Tatsache, will man die Gründe für Wilbrands achtzehn wöchigen Aufenthalt 752 in Armenien erfassen. Daß diese Krönung einen außen-, ja sogar weltpolitischen Sinn hatte, wird in Wilbrands Bemerkung über Heinrich VI. deutlich: semper rem publicam et romanum imperium augere laboravit 753 • Auch der Krönung im September 1197 Amalrichs von Lusignan zum König von Zypern durch Konrad von Querfurt, Bischof zu Hildesheim 754, gedenkt er kurz 755. Es ist anzunehmen, daß auch hier deutlich gemacht werden soll, über welche Macht das deutsche Kaiserreich in den neunziger Jahren des zwölften Jahrhunderts verfügt. Es ist angenommen worden, daß Wilbrand selbst während seiner Reise eine solche Krönung vorgenommen hat, und zwar diejenige Ruppins (Robin), des Großneffen König Leos und 1195 geborener Sohn von dessen Nichte Alix mit Raimund von Antiochia, Sohn Bohemunds III. Anlaß zu dieser Annahme war für Gebhardi 756 und v. Halem 757 der Nebensatz Wilbrands dominus Ruppinus iunior rex, quem, ut ante dixi, Otho Romanorum imperator ad petitionem senioris regis nuper coronaverat, {. ..} subsequebatur758 • Wie Laurent in einer Anmerkung 759 darlegt, ist diese Behauptung nicht aufrechzuerhalten. Inwieweit man wiederum seiner These folgen kann, Robin sei vom Kaiser Otto IV. selbst Ende 1209 oder Anfang 1210 (also noch vor der Bannung durch den Papst) gekrönt worden, ist allerdings fraglich. In jedem Fall aber ist es einleuchtend, daß eine solche Krönung - wie auch eine diplomatische Gesandtschaft - den Kreuzzugsplänen Ottos sehr förderlich war, sichert sie ihm doch einen wichtigen Verbündeten in der Region. Wilbrands Blick für aktuelle Ereignisse ist eindeutig geprägt. Die Sarazenen werden von ihm als filii iniquitatis bezeichnet. Dieses Zitat aus dem zweiten Buch des Propheten Samuel ist durchaus interessant, geht es darin doch um Gottes Verheißung an David: "Und ich will meinem Volk Israel eine Stätte geben und will es pflanzen, daß es dort wohne und sich nicht mehr ängstigen müsse und die Kinder der Bosheit es nicht mehr bedrängen ... 760 Immer wieder appelliert Wilbrand an die xenophobischen, chauvinistischen Instinkte seiner Leser und ist dabei nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel. So nutzt er eine Beschreibung der Herrschaftsverhältnisse von Gibel (Dschebleh), um den Herrscher und seine Frau, eine Tochter des Sultans von Halaph, im Rückgriff auf ein Bibelzitat als einen der sieben schlimmen Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 15. Wilbrand, Lib. I, cap. XVI, 2. 754 Vgl. H. F. O. Abel, König Philipp der Hohenstaufe. S. 34 und S. 317. 755 Wilbrand, Lib. I, cap. XXVIII, 5. 756 Johann Ludwig. Lev. Gebhardi, S. 72. 757 v. Halern, Geschichte Oldenburgs. Bd. I, S. 183 f. 758 Wilbrand, Lib. I, cap. XXII, 7. 759 Laurent, Wilbrands von Oldenburg Reise nach Palästina und Kleinasien. 1859 loc. cit., Anm. 115, S. 72f. 760 11 Sam 7,10. Wilbrand Lib. I, cap. V, 3. 752 753

5. Wilbrand von OIdenburg, Itinerarium

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Geister zu diffamieren 761. Natürlich macht er auch die Entweihung christlicher Stätten im Heiligen Land zum Thema. So berichtet er, daß an der Stelle der dem Gedächtnis der Steinigung des Heiligen Stephanus gewidmeten Kirche die Esel des Sultans weiden 762 und rührt den Leser mit dem Hinweis darauf, wie verlassen und schutzlos die Kirche zum Heiligen Grab seit der Einnahme Jerusalems durch die Sarazenen sej163. Auch die Errichtung einer Moschee statt eines zerstörten Klosters an der Stelle, an der Christi Himmelfahrt stattfand, ist ihm Anlaß zu einer verbalen Zensur (Sarracenus infidelis ad honorem Mahumet suum oratorium preparavit) 764. Besonders emotional wird Wilbrand, wenn er eigene Erlebnisse berichtet. So empört er sich darüber, dass man beim Einzug in Jerusalem durch ein Tor getrieben und wie das liebe Vieh gezählt werde (im übrigen ein Aufgreifen des Ovid-Zitats aus dem ersten Buch seines Textes!) 765. Als es gilt, die Heilige Stadt zu verlassen, beklagt er sich mit einem Wehschrei über die Tatsache, daß preciosas illas margaritas coram porcis (proh d%r!), also den Ungläubigen, zum Fraße vorlägen 766. Bei all seinem politischen Interesse ist jedoch deutlich, daß Wilbrand trotz allem auch ein Kirchenmann war 767 . Immer wieder verweist er auf kirchliche Strukturen im Heiligen Land, in Armenien oder auf Zypern. So benennt er die jeweiligen Hierarchien, auch wenn ihm der Katholikos der armenischen Kirche dabei - möglicherweise durch einen Schreiberfehler- zum Kate/coste wird 768 . Die Orte werden im Hinblick auf die in ihnen ansässigen Kirchenfürsten charakterisiert; Paphos auf Zypern zum Beispiel wird als Suffragansitz des Erzbischofs von Nikosia 769 genannt. Die liturgischen Bräuche der armenischen Kirche beschreibt Wilbrand mit fast ethnographischem Interesse 770, wobei er voller Anerkennung erwähnt, daß die armenischen Christen infide non errant771 • Insbesondere ist hier die Schilderung des Epiphaniasfestes in cap. XXII zu nennen. Die Präsenz lateinischer Bischöfe in Armenien ist ihm von besonderem Interesse. Er berichtet von den durch Leo von Armenien nach seiner Krönung eingesetzten lateinischen Bischöfen772 , die der König vermutlich 1203 jedoch 761 Wilbrand, Lib. I, cap. XI, 13 zitiert Lc 11,26: et illi duo filii Mahomet et Mammone producant ex se septem spiritus nequiores. 762 Wilbrand, Lib. II, cap. V, 5-6. Es ist unklar weIche Kirche gemeint ist; in Jerusalem gibt es nur das auch Stephanstor genannte Damaskustor als Stätte, an der sein Martyrium erinnert wird. Bagatti nennt ein mögliches Stephansgrab in Gemmala (Jammala). Bagatti, Antichi Villaggi Christiani di Samaria, S. 110. 763 Wilbrand, Lib. II, cap. VI, 8: Que desolata non habens qui consoletur eam ... 764 Wilbrand, Lib. II, cap. IX, 5. 765 Wilbrand, Lib. II, cap. VI, 7. Ovid: Lib. I, cap. VI, 3. 766 Wilbrand, Lib. II, cap. VI, 32. 767 Vgl. hierzu die Dissertation von Johannes Pahlitzsch, Greci und Suriani im Palästina der Kreuzfahrerzeit. Beiträge und Quellen zur Geschichte des griechisch-orthodoxen Patriarchats. 768 Wilbrand, Lib. I, cap. XVII, 12. 769 Wilbrand, Lib. I, cap. XXXI, 1. 770 Wilbrand, Lib. I, cap. XVII, 5-12. 771 Wilbrand, Lib. I, cap. SVII, 6. 772 Wilbrand, Lib. I, cap. XVIIII, 12. 9*

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

wieder des Landes verwies, als er von der Kirche exkommuniziert wurde 773. Das Erzbistum, das auf Anraten von Erzbischof Konrad von Mainz in Tarsis errichtet wurde, ist hingegen anscheinend etwas sanfter untergegangen 774. Übt Wilbrand, wenn auch mit einer kleinen Entschuldigung vorab, Kritik, wie an den Mönchen des Klosters Santa Croce auf Zypern (Monachorum vita, ut pace ipsorum dicam, est dissimilima)775, so bewegt ihn aber insbesondere die Situation der Kirche im Heiligen Land. Die zerstörten, verlassenen Klöster im Gebirge vor Jerusalem erfüllen ihn, da er ihre Namen nicht kennt,776 nicht mit dem Jammer, den er in Jerusalem ob der Inbesitznahme der Heiligen Stätten durch die Sarazenen empfindet. Er erwähnt, daß deren Bewohner einstmals prope suam matrem habitabant 777 - eine nostalgische Reminiszenz, die durchaus wiederum als propagandistisch verstanden werden kann. Der Text Wilbrands ist alles andere als lediglich eine Beschreibung strategisch interessanter Orte oder kirchenpolitischer Strukturen. Immer wieder wird auch sein eigenes Erleben thematisiert. Wir erfahren, daß die Reisegruppe in Tyrus die Antiphon "Brunn der Gärten" gesungen hat 778 , Wilbrand zum ersten Mal sogenannte Adamsäpfel und Zuckerrohr 779 in Baruth gekostet hat und er auf Zypern einen Vogel Strauß sah 780. Er bemerkte, daß dort der Wein zu einer Art Honig gekocht und als Brotaufstrich gegessen wird 781 • Besonders beeindruckt hat ihn die Pflanze Jesusubeledemus, die quasi indignans turgescit et pre indignatione in minuta dirumpitur. Wilbrand schreibt, er wisse, wie wunderlich das scheine, doch habe er es selber gesehen und könne bezeugen, daß es stimme 782 • Auch die Pracht der Orte beeindruckt ihn: Ein Beiruter Prunkgemach beschreibt er mit einer außerordentlichen Liebe zum Detail (so läßt er seinen Daumen über die Verfugungen der Marmorplatten streichen und bemerkt keine Unebenheit) 783 und erwähnt, daß er dort gerne alle Tage säße 784. Die Häuser Antiochiens sähen von außen häßlich aus, seien innen aber besonders prächtig ausgestattet1 85 • Der Wein von Engeddi sei sehr gut1 86 • Einige Kapitel später beschreibt er recht humorvoll die Wirkung übermäßigen Weingenusses bei einem seiner so hochrangigen Mitreisenden, Vgl. Wilken, VI, 24. Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 14. 715 Wilbrand, Lib. I, cap. XXX, 3. 776 Wilbrand, Lib. II, cap. IV, 5. 771 Wilbrand, Lib. II, cap. IV, 5. 778 Wilbrand, Lib. I, cap. II, 11. Vgl. Matthaeus Ludecus, Vesperale et matutinale von 1589, de Sanctis, S. 243. 779 Wilbrand, Lib. I, cap. V, 20. 780 Wilbrand, Lib.l., cap. XXVIII, 12. 781 Wilbrand, Lib. I, cap. XXVII, 15. 782 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 32-35, hier 34 und 35. 783 Wilbrand, Lib. I, cap. V, 14. 784 Wilbrand, Lib. I, cap. V, 16. 785 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 10. 786 Wilbrand, Lib. I, cap. XXIX, 6. 773 774

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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daß er dessen Namen nicht verraten mag: Auf Zypern ritt man nach einem Gelage nach Hause. Da der Herr den Esel für ein Pferd hielt, streckte er die Beine lang aus und stürzte daher zu Boden 787. Ähnlich humoristisch ist seine Schilderung des Epiphaniasfestes in Armenien, bei dem einprecentor nach verschiedenen Vivat-Rufen prompt beim letzten "Amen" von seinem Esel in den fluß fiel 788 • Ein anderes besondere interessantes Reiseerlebnis ist der bereits erwähnte Sturm vor Tripolis, den er in der schrecklichsten aller seiner Nächte erlebte 789 • Die Begleitumstände seiner diplomatischen Mission werden logischerweise in diesem Bericht an den Auftraggeber der Reise thematisiert, so zum Beispiel, daß König Leo der Gesandtschaft nach Tursolt entgegenreiste 790. Schließlich sind die Umstände seiner eigentlichen Pilgerfahrt für einen politisch interessierten Mann eine Erwähnung wert. So beschreibt er, wie die Pilgergruppe ab Jaffa nach Jerusalem begleitet wurde 791, wie sie vor den Mauem Jerusalems warten mußte 792 und danach alle ein Bad im Jordan nahmen, das von Arabern auf der Gegenseite insofern gestört wurde, als sie ipsum fluvium multi luti iniectione turbaverunt793 • Es nimmt nicht wunder, daß ein solch lebendiger Geist sich kritisch mit überlieferten Weistümern und den gegenwärtigen Umständen auseinandersetzt und sich dabei nicht scheut, eigene Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen, so banal sie gelegentlich auch sein mögen. Daß Wilbrand die auf Zypern wohnenden Griechen und Armenier als häßlich empfindet 794 , ist an sich nicht interessant. Doch immer wieder werden solche Betrachtungen Anlaß zum Rekurs auf das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien im Heiligen Land. Er erwähnt, daß jede Volksgruppe ihre eigenen Gesetze beobachtet 795 und charakterisiert auch einzelne Gruppen en detail, so zum Beispiel die der Turkomanen im Gebirge 796. Gleich zu Anfang seines Werkes geht er auf die Situation der verschiedenen christlichen Denominationen ein und differenziert die Frand et Latini, Greci et Suriani, Judei et Jacobini 797 , um somit dem Rezipienten das Verständnis seiner Beschreibung und der kirchenpolitschen Umstände zu erleichtern. Dabei kennzeichnet er immer klar, was seine eigene Meinung (secundum meam opinionem) 798 ist. Doch besteht sein didaktischer Anspruch auch darin, mit Fehlinformationen aufzuräumen, so will es scheinen. Die Arche Noah zum Beispiel, die angeblich nach der Sintflut in Armenien liegen blieb , befindet sich nicht 787 788 789

790 791

792 793 794 795

796 797 798

Wilbrand, Lib. I, cap. XXXI, 4-7. Wilbrand, Lib. I, cap. XXII, 24. Wilbrand, Lib. I, cap. VII, 1. Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 15. Wilbrand, Lib.lI, cap. II1, I. Wilbrand, Lib. 11, cap. V, 3. Wilbrand, Lib. 11, cap. XII, 6. Wilbrand, Lib. I, cap. XXVII, 12. Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 12. Wilbrand, Lib. I, cap. XIII, 2. Wilbrand, Lib. I, cap. I, 6. Wilbrand, Lib. 11, cap. X, 5.

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dort, sondern in einem alia Armenia melius sita in oriente, que altissima habet montem, das habe er recherchiert: ut verius quesivi und sei dabei zur Erkenntnis gekommen, daß diejenigen, die die Arche Noah in Klein-Armenien vermuten, sich vom Gleichklang der Namen haben verwirren lassen 799. Auch die Vorstellung, Tarsis sei der Herkunftsort eines der Heiligen Drei Könige, muß Wilbrand korrigieren, und zwar mit derselben Begründung: at isti sunt in equivoco decepti 8OO , die Magier kämen aus dem Osten und nicht aus dem Süden. Ein drittes Mal muß er sich gegen den verführerischen Gleichklang von Namen wenden, als es um die Frage geht, ob die am Meer gelegene Stadt Capharnaum (eigentlich wohl: Caporcotam) das Kapernaum der Evangelien ist. Hier offenbart sich Wilbrand als Exeget und legt das Bibelwort Lucas 4, 23 zum Beleg aus. Im betreffenden Passus wird Jesus an die Wunder erinnert, die er in Kapernaum wirkte, und gebeten, dies auch in seiner Heimat zu tun:fac et hic in patria tua. Damit könne man den Schluß ziehen, da Jesu Heimat Galiläa war, hätte Kapernaum nicht in Galiläa gelegen. Doch sei es ganz anders: Nazareth sei die Heimat des Herrn, womit klar sei, daß Kapernaum eben doch in Galiläa (und nicht an der Küste) liege 801 • Von grundsätzlicherer Kritik geprägt sind Überlegungen zum Mittelpunkt der Welt, der - dies ist Lesern von Pilgerberichten mittlerweile bekannt - in der Kirche zum Heiligen Grab liegen soll. Wilbrand beruft sich auf Astronomen, die den Mittelpunkt doch eigentlich sub torrida zona, si habitabilis esset 802 , ansetzen. Allerdings bleibt unklar, was die Bewohnbarkeit des Gebiets mit ihrem Status als Mittelpunkt zu tun haben kann. Gegen die Bezeichnung templum Salomonis wehrt Wilbrand sich und verweist darauf, daß Jerusalem cum suo templo fuisse destructam 803 • Er scheint allerdings selbst einem Irrtum aufzusitzen: Was er templum Domini nennt, müßte eigentlich der Felsendom sein, doch fährt er fort, darin würden wöchentlich Gottesdienste abgehalten - was nun wiederum nicht der Fall ist, der Felsendom ist seit seiner Erbauung im 7. Jahrhundert und zu den Zeiten unter muslimischer Herrschaft ein allgemeines Heiligtum ohne Gottesdienste gewesen. Wilbrand schreibt allerdings auch über etwas weniger nachprüfbare Themen, wenn auch selten. Die oben schon erwähnten Weistümer und Legenden, von denen er sich durch Nennung seiner Quelle etwas distanziert, werden durch Begebenheiten ergänzt, deren Echtheit er intensiv beteuert. So berichtet er, daß es in Adene sehr viele incantatores gäbe, quod quidam nostrum experimento didicerunt 804 • Man fragt sich, weIche Erfahrungen da wohl gesammelt wurden. Ein anderes Wunder ist das von Engeln gemalte Marienbild in der Petrus und der Hl. Sophie geweihten Kirche in Tursos, das, sicut enim multi et omnes videre consueverunt, bei dem Lande dro799

800 801 802

801 804

Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand,

Lib.I, cap. XVII, 14. Lib.I, cap. XIX, 4. Lib.II, cap.II, 3. Lib.II, cap. VI, 30. Lib.II, cap. IX, 6. Lib. I, cap. XX, 3.

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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hender Gefahr in Tränen ausbricht 805 • Dieses Wunder ist für Wilbrand so selbstverständlich, daß er seine Rezipienten direkt anspricht, um ihr Verständnis bittend, daß er eine derart bekannte Geschichte nicht weiter ausführt 806 • In diesen Passagen wird deutlich, wie auch an anderen Beispielen, daß Wilbrand von Oldenburg einen Bericht seiner Reise schreibt, der sehr persönlich gehalten ist und außerordentlich viel von ihm selbst verrät. Der Wunsch, alle seine Tage im Prunkgemach von Beirut zu verbringen 807 oder die schreckliche Erinnerung der Stunnnacht vor Tripolis, die er zu den schwärzesten seines Lebens rechnet 808 , die wohl eher in propagandistischer Absicht ausgestoßenen Wehklagen, zum Beispiel über die Eroberung Jaffas durch die Sarazenen 809 , verdeutlichen, daß dieser Text stark autobiographisch geprägt ist. Im zweiten Buch, in dem es um die eigentliche Pilgerfahrt geht, werden solche emotionalen Ausbrüche noch deutlicher: die Freude des Pilgers, auf dem mons gaudii Jerusalems ansichtig zu werden 81O , die sogar noch hyperbolisch gesteigert wird in der Aussage Ubi tanto perculsi sumus gaudio et admiratione, ut eciam illam celestem Hierusalem nos videre putaremus 811 , teilt sich dem Leser direkt mit. Wilbrands Dankbarkeit, nicht nur das Grab von Gottes Sohn, sondern auch das von dessen Mutter gesehen zu haben, teilt sich in einem Ausruf mit, der eigentlich ein Dankesgebet ist: 0 mira circa nos, Sancte Pater, Tue pietatis dignatio, ut uno eodemque die sepulcrum sancte matris et suifilii, Tui Sancti Verbi incarnati, videre mereremur! 812 Eine weitere Fonn, sich selbst als Autor und Person deutlich zu konturieren, ist es, die eigene Herkunft zu thematisieren. So berichtet unser Autor, daß in Antiochia vor der Höhle, in der der Apostel Paulus Briefe zu schreiben pflegte, drei Edelleute bestattet seien: Burggraf Burchard V. von Magdeburg (1189 in Antiochia gestorben)8I3, Hoyer (genannt Oger bei Wilbrand), Graf von Woldenberge (der Jüngere) und schließlich der 1191 verstorbene Onkel: avunculus Wilbrandi de Aldenborch, qui hunc libellum conscripsit 814 , namens Wilbrand Graf von Hallennund, dessen Schwester Beatrix die Mutter des Autors war. Mit einem Gebet endet dieser Passus: Quorum anime requiescant in pace. Amen.815 Es ist hier zweierlei zu bemerken: zum einen nennt sich der Autor selbst, was außerhalb einer Vorrede für die hier behandelten Texte ungewöhnlich ist, zum anderen macht er deutlich, daß seine Familie am Kreuzzug Friedrich Barbarossas beteiligt war und Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 10-11. Wilbrand, Lib. I, cap. XIX, 12. 801 Wilbrand, Lib. I, cap. V, 16. 808 Wilbrand, Lib. I, cap. VII, 1. 809 Wilbrand, Lib. II, cap. II, 11. 8\0 Wilbrand, Lib. II, cap. IV, 3. 8 11 Wilbrand, Lib. II, cap. V, 2. 8 12 Wilbrand, Lib. II, cap. VIII, 6. 81 3 Vgl. Cyriacus Spangenberg, Chronica von Quemfurt aus dem Jahre 1590, S.269. Hieronymus Henninges secundi et tertii regni in quarta monarchia pars altera contingens genealogicis tabellis comprehensas familias Imperatorum S. 104. Wilken IV, Anhang S. 96. 814 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 22. 8 15 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 23. 805

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

ein Verwandter dabei sein Leben gelassen hat. Die Familie Wilbrands und er selbst sind damit in die Geschichte eingeordnet, sind Teil dessen, was er als Zeithistoriker betrachtet. Die Form des Gebets für die Seelenruhe der Verstorbenen wird an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen, als Wilbrand das bislang nicht bekannte Werk des Hermann von Lugonne über Zypern zitiert und hofft: Cuius anime nostra earitativa oratio dignetur reminisci 816 . Diese direkte Ansprache ist eines der vielen Mittel, mit denen Wilbrand die Leser seines Textes in das Geschehen einbezieht. Die Verweise auf andere Werke sind bereits angesprochen worden, doch berichtet er innerhalb seines Textes selber ebenfalls Wissenswertes: So schreibt er in seiner Einführung zu Zypern, über die Struktur der Kirche und das Zusammenleben von Lateinern und Orthodoxen suis locis expediemini - werdet ihr am entsprechenden Ort erfahren 817 (nämlich in den folgenden Kapiteln XXVIII bis XXXII). Auch auf Zypern sollen die Heiligen Drei Könige auf dem Rückweg vorbeigekommen sein, doch darüber, so findet Wilbrand, habe er schon weiter oben ausführlich geschrieben (plene scripsi) 818. Schließlich vertröstet er seine Leser, die eine Beschreibung von Kapernaum erwarten könnten, auf ein späteres Kapitel (De qua suo loeo expediemini)819, das jedoch nicht überliefert ist. Noch direkter ist die Einbeziehung der Leser oder Hörer durch Appelle wie et notate 820 , et nota 821 , seire autem debetis 822 oder ex quo eonsideretis 823 • Auffällig ist, daß diese Intensität der Einwirkung auf das Publikum nur im zweiten Buch anzutreffen ist, in dem es um die Erfahrung von Glaubenswahrheiten geht, die - bei Einsicht in die Bedeutung seiner politischen Mission - von einem Kleriker an erste Stelle gesetzt werden dürften. Im ersten Buch überwiegen Äußerungen, die ein Einverständnis des Rezipienten voraussetzen, wie etwa die Trauer über den Tod Friedrichs Barbarossa (proh dolor!)824 oder der Vergleich der laxen Sitten des Orients mit den strengeren Regeln zuhause in Hildesheim. So äußert er sich verwundert darüber, daß ein Priester bei der Überquerung eines Flusses seinen Schuh verlor und deswegen die feierliche Prozession aufhielt: Huiusmodi negligenciam Hildeshemenses, si Jorte in eorum proeessione aecidisset, eorrexissent severissime 825 • Interessant ist dabei nicht nur die sicherlich strenge Strafe, sondern die durch das Jorte und den Konjunktiv ausgedrückte Unwahrscheinlichkeit, daß ein solcher Lapsus überhaupt vorkommen könnte. Ein letztes Beispiel für Wilbrands Absicht, seine Leser direkt anzusprechen, ist der von ihm geäußerte Wunsch, man 816 817 818 819 820 821 822 823 824 825

Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand, Wilbrand,

Lib. I, cap. XXVII, 18. Lib. I, cap. XXVII, 8. Lib. 11, cap. II, 15. Er bezieht sich auf Lib. I, cap. I, 19. Lib. II, cap. II, 4. Lib. II, cap. II, 11. Lib. II, cap. V, 7. Lib. II, cap. VII, 1. Lib. 11, cap. VIII, 9. Lib. I, cap. XXVI, 4. Lib. I, Cap. XXII, 18.

5. Wilbrand von Oldenburg, Itinerarium

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könnte doch das Schicksal jenes glücklichen Ritters teilen, den die Reisegesellschaft in Antiochia sah und für dessen Erlebnis sich der Autor nachhaltig verbürgt: er fand, nachdem er den sonst nicht nachweisbaren Berg der Abenteuer bestiegen hatte, ein Tischtuch, das ihm, seinen Hausgenossen und Gästen alles aufdeckte, was sein Herz begehrte: Utinam eciam huiusmodi minister hodie vite sueeurreret indigeneie! 826 d) Wilbrand, der Erzähler Man ist sich nicht sicher, ob solche Passagen in Wilbrands Bericht erstaunliche, aber wahre Tatsachen schildern, oder ob er als Erzähler ausschmückt. Das liebevoll beschriebene Prunkgemach in Beirut nimmt sieben lange Sätze in Anspruch 827 , die "Tischlein-deck-dich" Episode bedarf dringend der (ja auch geleisteten) Verbürgung durch den Autor, ist sie dem modemen Leser doch als märchenhaft vertraut, die Schilderung der Feier des Epiphaniasfestes in Armenien ist außerordentlich lebendig und detailreich, und eine weitere Erzählung wird als historisches Ereignis vermittelt, die ein wenig zweifelhaft wirkt: Als die Sarazenen nach jahrelanger Belagerung der vom Grafen von St. Giles erbauten Burg auf dem MonpeIlerin einen nicht näher benannten Sultan um Unterstützung baten, schickte er ihnen per Brieftaube ein ironisches Trostschreiben - er habe ein großes Heer aufgestellt und komme bald. Doch fingen "die Unsrigen" die Taube ab (und hier ist wiederum eine Beteuerung fällig: si eeiam vere casus diei possit, quod ex Divina Provideneia sie aecidit)828, tauschten den Brief gegen eine fingierte Schreckensbotschaft aus und sahen bald danach, wie die Sarazenen kampflos davonzogen. Daß Wilbrand mit literarischen Werken lebte, die Aeneis Vergils oder die Taten des Kriegers Hospinel fast als historische Texte empfand und Hymnen und Antiphone mehr oder minder wie von selbst in seinen Bericht übernahm, ist bereits dargestellt worden. Umso erstaunlicher die eommunis opinio, hier habe ein Haudegen einen Bericht über die strategischen Gegebenheiten im östlichen Mittelmeerraum geschrieben. Daher seien einige Belege für Wilbrands souveränen Umgang mit literarischen Stilmitteln erlaubt. Am auffälligsten sind seine Vergleiche, die sich bis hin zur Hyperbole steigern. Er bezieht sich bei der Schilderung der pompösen Prozession zu Epiphanias auf den Usus in der Heimat (Qui in tanto clamore bueeinarum et aliorum instrumentorum musieorum ineedebant, ut poeius pompam quam proeessionem dueere viderentur) 829 oder führt die strengen Hildesheimer Sitten an. Ob der guten Luft, der schönen Wälder und der frischen Gewässer Armeniens fällt ihm ebenfalls die Heimat ein 830 • Zur Veranschaulichung wählt er deutliche Bilder. So nutzt er zur Verdeut826 827 828 829

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Wilbrand, Lib. I, Wilbrand, Lib. I, Wilbrand, Lib. I, Wilbrand, Lib. I, Wilbrand, Lib. I,

cap. XXV, 6. cap. V, 9-16. cap. VIII, 6-11, hier 9. cap. XXII, 13. cap. XXVI, 1.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

lichung der Größe Antiochias das Bild der staubigen Füße, die der bekäme, der die Stadt durchquere: pulverulentos habens pedes totam terram peragravisse 83 1 - auf dieses Gemeinwissen wird später in der Behandlung des Gregorius-Romans von Hartmann von Aue einzugehen sein. Neigung zur Übertreibung verrät auch die wenig später getroffene Feststellung, von den Bergen in Antiochia sei einer so hoch, ut suo cacumine nubibus innitens cursum planetarum putetur impedire 832 • Eher komisch ist die Erklärung für die Tatsache, daß über dem Grab Christi das Dach der Grabeskirche eine Öffnung habe: so wie die Tonsur der Mönche verhindern solle, daß irgendetwas zwischen dem Geist und dem Schöpfer liege, sic et predictum tectum est abrasum, ut inter ipsum monument et suum aliquando contentum nullum medium esse videatur et celesti gracia custodiatur 833 • Eine eindeutige Personifizierung erfährt bei Wilbrand die Natur, die den bereits erwähnten unendlich hohen Berg in Antiochia nur zu dem Zweck geschaffen hat, ut [ ...] reficeretur et ab alto prospiciens defectum sui naturati consideraret et repararet 834 • Trotz der Aufteilung in zwei Bücher ist die Homogenität des Textes bemerkenswert. Er wurde von einem Autor verfaßt, der ein großes Mitteilungsbedürfnis hat, der seinen Lesern Begebenheiten, Orte oder Gedanken mit allen Mitteln die ihm zur Verfügung stehen vor Augen führen will und sich zu diesem Zweck nicht scheut, auch Persönliches darzustellen. Nimmt er auch Rekurs - und das reichlich - zu Quellen, so nicht, um irgend welche Orte unbesehen in seine Beschreibung aufzunehmen, sondern um seinen Text amüsanter, nachvollziehbarer oder historisch genauer zu machen. Wilbrand ist, neben seinem von der Forschung so oft hervorgehobenen Interesse an Befestigungsbauten und dem politisch-diplomatischen Geschick, das sich in seiner Mission offenbart, ein Literat. Er hat mit belletristischen Texten, mit Musik, mit historischen Darstellungen gelebt und sie in sich aufgenommen. Darüber hinaus ist er ein Autor, der bewußt seine Person in die Rolle "Pilger" einbringt, von seiner eigenen Familie wie von sich selbst als mit der Geschichte verwobener Persönlichkeiten schreibt und deutlich macht, daß er aktiv anderen Gestaltung teilhat.

6. Philippi Deseriptio Terrae Sanetae a) Der Autor Die Freude des Herausgebers Wilhelm Anton Neumann: "So hätten wir denn endlich [... ] einen entschiedenen Namen ,Philippus'!"835 über die Nennung eines 831 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 6.

Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 7. Wilbrand, Lib. 11, cap. VI, 16. 834 Wilbrand, Lib. I, cap. XIV, 8. 835 Wilhelm A. Neumann, Drei mittelalterliche Pilgerschriften. III: Philippi descriptio Terrae Sanctae. In: Österreichische Vierteljahrsschrift für katholische Theologie II (1872) S. 1-78 und S. 165-173. hier S. 1. 832 833

6. Philippi Descriptio Terrae Sanctae

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Autornamens ist verständlich, hat er sich doch vorher mit "Innominati" bezeichneten Autoren und der Überlieferung von deren Texten befaßt. Doch kann seine Begeisterung nicht nachhaltig gewesen sein, denn über den Autor dieses Textes ist de facto nichts bekannt. Schon Tob/er befand: "Schwer ist es den Philippus [...] recht kennen zu lernen [... ]"836, unter anderem deshalb, weil unklar bleibt, ob mit dem Namen ein Autor oder lediglich ein Schreiber gemeint ist. fose! Haupts Versuch 837 , Philippus mit Hertel von Liechtenstein gleichzusetzen und seine Lebenszeit damit in das 14. Jahrhundert zu datieren, auf Grund der Annahme, er sei ins Kloster eingetreten und habe dort den Namen Philippus angenommen, wurde von Neumann energisch abgelehnt 838 . Haupt bezog sich auf einen von drei Hartneiden von Liechtenstein: Hartneid 11., der in der Zeit zwischen 1310 und 1350 urkundet, sowie seiner Söhne, Hartneid III. (1358 zuerst genannt, bis 1377 nachweisbar) und Hartneid IV. (zwischen 1358 und 1396 urkundlich erwähnt). Wer auch immer es von diesen war, ein Hartneid jedenfalls hat dem Lesemeister Leupold eine lateinische Heiliglandbeschreibung gegeben, damit dieser sie übersetze. Haupt geht davon aus, der Übermittier sei auch der Autor, da die Übersetzung im Auftrag des Johannes von Liechtenstein erfolgt sei, kann aber diese ursächliche Verknüpfung nicht begründen. Doch kann Neumann keine Alternativen bieten. Er selbst sagt sich von seiner eigenen These los, der Dominikanerbruder Philippus, der 1234 vom Generalkapitel seines Ordens zum Prior terrae sanctae ernannt wurde 839 , könne diesen Pilgerführer geschrieben haben, und das mit der Begründung, er sei in den 80er Jahren sicherlich zu alt gewesen, eine solche Reise zu unternehmen. Dieses Argument wiegt angesichts der Tatsache, daß es für die Beschreibung des Heiligen Landes nicht unbedingt einer wirklichen Reise bedurfte, vielleicht weniger schwer als die Tatsache, daß Philippus mit keinem Wort eine Zugehörigkeit zum Predigerorden erwähnt und auch nicht als "Frater" genannt wird 840. Drei weitere Philippi werden von Neumann als Autoren in Betracht gezogen, jedoch ohne Resultat: die Franziskanerbruder Philippus de Avisio (de Anicio) und Philippus aPodis, die zu Asdod von den Sarazenen getötet wurden, sowie Philippus Biken, der im 15. Jahrhundert lebte. Es ist bislang nicht geklärt, welcher von diesen der Autor der Descriptio sein kann. Man kann sich nur Haupts Hoffnung anschließen: "Nur ein glücklicher Fund kann diese Verwirrung auflösen."841 Titus Tobler, Bibliographia geographica Palaestinae. Leipzig 1867. S.26. lose! Haupt, Philippi Liber de terra saneta in der deutschen Übersetzung des Augustiner Leserneister Leupold vom Jahre 1377. In: Österreich ische Vierteljahrsschrift für katholische Theologie 10 (1871) S. 513-540. Haupt stellt die Vennutung auf, Philipp sei der von Leupold erwähnte Hertel, der ihm das lateinische Original seiner Übersetzung gegeben habe. 838 Neumann,loc.cit., S. 27. 839 Siehe zu seinem Leben Quetif et Echard, Scriptores ordinis Praedicatorum. Paris 1719. Bd. I, S. 103 ff., wo auch ein Brief dieses Philippus abgedruckt ist. 840 Neumann, loc. cit., S. 12. 841 Haupt, loc.cit., S.514. 836 837

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Im Text sind keine direkten Hinweise auf die Person des Autors zu finden. Er nennt sich selbst nicht und widmet niemandem sein Werk. Reisebegleiter oder Auftraggeber für die Reise werden nicht erwähnt. Kein Prolog führt in Anlaß und Idee einer Reise ein. Statt dessen findet sich in den meisten Handschriften der Untertitel: Iste sunt peregrinationes Ierusalem et tocius terre sancte - ein erster Hinweis darauf, daß es sich bei dem Werk um einen Reiseführer handelt, der ausweislich der hier nicht behandelten handschriftlichen Überlieferung durchaus weite Verbreitung gefunden hat.

b) Die Quellen und Rezipienten des Textes Philipps Text ist abhängig von Fretellus: die Beschreibungen von Hebron, dem Grabe Lots, vom Berg Gabaa, dem mons offensionis, dem Toten Meer, Arabien, der Wüste Quarentena, Modin, dem Berg Cayn, Genezareth, Idumäa, Syrien und Phönizien sind mehr oder minder identisch. Der Text ist um einige Passagen ergänzt worden: sie betreffen Saphran, einige Sehenswürdigkeiten in Jerusalern: das Fenster in der Helenakapelle, Pantaleons Bild, das Haus des Kaiphas, den Stein in der Salvatorkirche, die JohalUleskirche, den Stein vom Berge Sinai sowie Pelagia und Maria Aegyptiae auf dem Ölberg. Die Schilderung des Gartens Gethsemane ist allerdings wesentlich lebendiger als die des Fretellus. Es wird erwähnt, daß Stephanus vor dem Taltore getötet wurde, auf das Prätorium des Pilatus in der Josaphatgasse eingegangen, das Haus des Hanna und der Ort, an dem Judas sich erhängte, werden geschildert, Sankt Maria de Spasmo und das Erbsenfeld werden genannt, ein Teil des Ölbergs wird als Galilea bezeichnet. Die Cyprianskirche sowie die Johanneskirche am Jordan werden als Sehenswürdigkeiten genannt. Von Betlehem werden zusätzlich erwähnt der Ort der Beschneidung und des Nabels, in Tiberias das Wunder mit der Fackel, schließlich werden Sankt Margaretha in Antiochien und Saidnaia genannt, das Fretellus nicht kelUlt. Hier zeigt sich eine textuelle Nähe zu Johannes von Würzburg, der detailliert auf Saidnaia eingeht. Auffällig sind die vielen Verbindungen zu anderen, späteren Texten, die sich erschließen lassen. So ist eindeutig, daß die Secreta fidelium crucis des Marinus Sanutus eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Philippus haben. Der Anfang seines Textes bis zur Schilderung von Samaria stimmt im wesentlichen mit Philippus überein. Das Kapitel 11 des Marinus Sanutus entspricht in weiten Teilen Kapitel 7 des Philippus. Auch der Pilgerbericht des Odoricus a Foro Julii stimmt in weiten Passagen mit dem Philippus zugeschriebenen Text überein: die Schilderungen von Nazareth, Jerusalem, Bethlehem, Bethanien, dem Jordan, Jericho, dem Toten Meer, dem Berg Quarentena, Tiberias und Kapemaum sind sich auffällig ähnlich, wenn sie auch in einer anderen Reihenfolge vorgenommen werden.

6. Philippi Descriptio Terrae Sanctae

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Der Text des Philippus ist im Jahr l377 vom Augustiner-Lesemeister Leupold in das Deutsche übersetzt und mit anderen Texten vereint worden. Im 19. Jahrhundert wurde er von Joseph Haupt unter dem Namen Philipps herausgegeben, was Wilhelm Anton Neumann zu einem nur mühsam zurückhaltenden, aber doch unmißverständlichen Verriß des Unterfangens veranlaßte. Der Text des Leupoldus, so bemerkt er zu Recht 842, bietet genügend eigenständiges, um unter dem Namen dieses Autors überliefert und veröffentlicht zu werden. Die Übersetzung des Leupold ist stark fehlerhaft, er unterscheidet nicht zwischen den von Philipp verwendeten Entfernungsangaben leuca und miliare, sondern verwendet für beide den Terminus "Meile", so daß die Entfernungsangaben seines Textes problematisch sind. Neumann vermutet, daß der von Leupold übersetzte Text des Philippus in außerordentlich schlechter Verfassung gewesen sein muß, da sich zahlreiche Fehler in der Namenswiedergabe darin wiederfinden: "Da wir an Druckfehler deswegen nicht denken, weil sicher die größte Sorgfalt auf die Correctur verwendet wurde, so bleibt ein großes Contingent der verfehlten Namen auf dem Schuldregister des schleuderischen [sic] Abschreibers."843 c) Der Text Die Datierung des Textes durch Neumann beruht auf der Annahme, daß der Autor wirklich im Heiligen Lande reiste und die Auslassung oder Erwähnung von Baudenkmälern auf deren faktischem Fehlen (durch Zerstörung) bzw. Existenz beruht. Daher befindet er, der Text müsse nach der Zerstörung der Kirche von Nazareth geschrieben worden sein. Der Friedensvertrag von Akka von 1283 sah vor, daß die Bausteine der Kirche von Nazareth nicht zum Bau einer neuen Kirche verwandt werden durften. Schutt an der Stelle einer Kirche, das ist einleuchtend, wird ein Autor nicht erwähnen - es sei denn, er möchte auf die politischen Gegebenheiten eines Landes hinweisen, was aber nicht das Anliegen Philipps zu sein scheint. So läßt er die Erwähnung Fretellus', in Sichern werde derzeit an dem Ort, an dem Jesus von der Samaritanerin zu Trinken bekommen habe, eine Kirche gebaut 844 , einfach weg. Es wird zu prüfen sein, ob hinter diesem Desinteresse ein Sinn steht. Als terminus ante quem dient Neumann der Fall Akkons von 1291, da nach dieser Zeit Reisen ins Heilige Land zunächst nicht möglich waren. Darüber hinaus erwähnt Philipp das nobilissimum castrum des Templerordens, das mithin noch nicht zerstört ist. Neumann 845 datiert die Reise des Autors daher auf die Zeit zwischen den Jahren 1285 und 1291. Dabei zieht er interessanterweise auch die erste Erwähnung von Legenden für seine Datierung heran. So berichtet Burchard von Monte Sion in seiner Beschreibung von 1285, Judas habe sich an einer Sykamore vor dem Davidstor erloe. eit., S. 21. Neumann, loe. eit., S. 23. 844 Boeren, loe. eit., S. 28: ubi nunc et ecclesia construitur. 845 Neumann, loe. eit., S. 9.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

hängt 846 : dieser Darstellung schließt sich Philipp an. Auch bei Fehlern hält Philipp sich an seine Quelle: Das Martyrium des Heiligen Stephanus wird von Marinus Sanutus als an gleich zwei Orten stattgefunden dargestellt: zum einen vor dem Damaskustor, das er Porta S. Stephani nennt, zum anderen vor dem Osttor, und genauso stellt Philippus es dar. Der Text folgt zunächst der Struktur der Beschreibung von Johannes von Würzburg, wobei er obendrein dessen Begründung 84? für diese Struktur übernimmt: Würdig sei es, so schiene ihm, die Pilgerfahrt nach Jerusalem mit Nazareth zu beginnen, da dort die Erlösung der Menschheit ihren Anfang genommen habe s4s . Die hier verwendete Anmerkung michi videtur bleibt über lange Zeit das einzige Zeugnis einer Autorpersönlichkeit. Es folgen über lange Passagen die aus Fretellus hinlänglich bekannten Entfernungsangaben und kurzen Hinweise auf biblische oder legendarische Ereignisse. Der Brügger Codex gibt diese teilweise wortwörtlich wieder s49 , während die anderen Handschriften etwas kaum mehr möglich Scheinendes vollbringen, indem sie die knappen Angaben der Quelle kürzen. Die im ersten Kapitel geschilderten Stationen sind: Nazareth, Saltus, Sepphoris, Cana Galiläa, Saphran, der Berg Thabor, Nain, der Berg En-Dor, Cäsaräa, Bethsaida, Chorazain, Sebastia (Samaria), Sichern - mithin das klassische Repertoire einer Reise durch Galiläa, wie sie uns von Johannes von Würzburg und Theoderich geschildert wird. Im Kapitel 11 folgt unter der überschriftartigen Einleitung "Ordo vero peregrinacionum in Ierusalem" in der Brügger Handschrift ein Loblied auf die mater fidei Jerusalem, das dann in eine Schilderung des Kalvarienberges und der Grabeskirche übergeht. Von besonderem Interesse ist, daß auf die Osterliturgie in der Heiliggrabkirche eingegangen wird: Der Diakon, der in der Osternacht das Evangelium verlese, weise bei den Worten "Surrexit non est hic" mit dem Zeigefinger auf das leere Grab Christisso. Diese Information enthalten die anderen Handschriften den Lesern vor. Sie setzen an dieser Stelle mit einer knappen Beschreibung des Rundgangs durch die Grabeskirche ein. An dieser Stelle im Text erfolgt zum ersten Mal der oft noch folgende Hinweis "Postea vadit homo"ssl, und hier gewinnt man zum ersten Mal den Eindruck, es handle sich bei diesem Text um einen Reiseführer. Die Sehenswürdigkeiten werden nacheinander, mit den, sattsam aus anderen Texten bekannten Details, wie dem Mittelpunkt der Erde oder dem Fensterchen der Heiligen Helena, aus dem man die SeeBurehardus de Monte Sion. Hrsg. von Laurent, S.73. Johannes v. Würzburg, S. 80, Zeile 39: propter exordium nostrae redemptionis. 848 Neumann, loe. eit., S. 28: quia dignum est, quod unde nostre redempcionis fuit inicium, indenostre peregrinacionis sumamus exordium. 849 Philippus, loe. eit., S. 30, S. 33 als Beispiel. Cod. 243, ehemals des Zisterzienserklosters "ad Dunas". 850 Philippus, loe. eit., S. 36: In euangelio autem paschali cum dicitur: .. surrexit non est hic" dyaconus qui legit ewangelium digito demonstrat dominicam sepulturam. 851 Philippus, loe. eit., S. 37. 846 847

6. Philippi Descriptio Terrae Sanctae

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len im Fegefeuer weinen hört 852 , aufgeführt. Am Abschluß der Beschäftigung mit den einzelnen Stationen steht der Hinweis auf die Form, in der der Text rezipiert werden soll: Predicte sunt peregrinaciones sive oratoria Sepulchri Domini nostri 853 • Versteht man diesen Satz so, wie er da steht, scheint es sich hier um die Anleitung für einen Reiseführer zu handeln, der hier Anweisungen findet, wohin er seine Gruppe führen und vor allem: was er ihr sagen soll. Ähnlich fahrt der Autor in Kapitel III fort und nennt die Beschreibung einen Ordo peregrinacionis über den Berg Zion. Die übliche Folge der Ereignisse (wie sie in den Evangelien geschildert werden, in Verbindung mit legendarischen Schilderungen) wird hier zum ersten Mal von einer Autorintervention unterbrochen. Als es um die Frage geht, wo der Kopf St. Jakob des Älteren abgeschlagen worden sei, ob in Jerusalem, wo er sich befindet oder in Jaffa, von wo ihn Engel nach Jerusalem transportierten, entscheidet sich Philippus für die erste Variante: quod magis cred0 8S4 • In dieser Passage gibt es darüber hinaus wiederholt verdeckte Verweise auf die Nutzung von Quellen: Quidam dicunt 85S , oder ut dicitur 856 findet sich bei historischen Angaben oder der Behauptung, die Johanneskirche sei die erste Kirche der Welt. Das Kapitel schließt mit dem Hinweis, dies seien die oratoria für den Zionsberg - also Gebete, die an dieser Stelle zu sprechen seien. Auch das vierte Kapitel enthält oratoria, diesmal solche, die auf dem Weg zum Ölberg zu sprechen sind, so die Überschrift: Intermedia oratoria montis Syon et montis oliveti 857 • Auf dieser Strecke kann nichts anderes berichtet werden als die Legende von der verdörrten Hand des Juden, der den Leichnam Marien berührte. Der Weg führt wie immer über den Blutacker. Auf dem Ölberg, mit dem sich das Kapitel V beschäftigt, häufen sich Hinweise auf die wahrnehmbaren Spuren Christi: Der Fuß abdruck in dem Stein, von dem aus er in den Himmel auffuhr, sowie seine Fingerabdrücke in einem Stein des Gartens von Gethsemane 858 • Die Anweisung ist hier deutlich genug: Ibique monstratur 10CUS 859 • Nach diesen verschiedenen Sehenswürdigkeiten scheint ein ordentlicher Fremdenführer auch Alternativen für ein verkürztes Besichtigungsprogramm anzubieten, denn nach dem Besichtigen des Hauses der Martha gibt es die Möglichkeit, an den Jordan zu reisen: Deinde itur ad fluvium lordanis qui vult 860 • In Kapitel VI, das sich weiter mit Jerusalem befaßt, finden wir einen Hinweis auf die aktuelle Situation im Heiligen Land: der Tempelberg sei für Christen gesperrt, 852 853 854 855 856 857 858 859

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Philippus, loe.eit., S. 37. Philippus, loe. eit., S. 38. Philippus, loe. eit., S. 39. Philippus, loe. eit., S. 39. Philippus, loe. eit., S. 40. Philippus, loe. eit., S.42. Philippus, loe. eit., S.46. Philippus, loe. eit., S.43. Philippus, loe. eit., S. 45.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Muslime kämen von nah und fern, um dort zu beten. Auf diese Ausführlichkeit läßt sich allerdings nur die Brügger Handschrift ein, die anderen Handschriften beschränken sich auf das Notwendigste, also die Darstellung des Herm, die Tempelszene und ähnliches. Doch schließen sie diesen Abschnitt ebenfalls mit dem Hinweis auf die Heiligkeit des Ortes im Islam und fügen dann an, aus diesem Grunde ideo nichil de eis [templorum] dico amplius 861 • Hinweise auf die Annenkirche, die Ohnmachtskapelle, den Davidsturm und Sehenswürdigkeiten außerhalb der Stadt beschließen das Kapitel. Zu Bethlehem, das mit Hebron Thema des VII Kapitels ist, findet sich eine weitere persönliche Stellungnahme: die Marienkirche dort sei eine der schönsten Kirchen der Welt, sei sie doch überall mit Mosaiken ausgestattet 862 • In diesem Teil finden sich ausgesprochen leicht faßbare Texte: die Weihnachts geschichte, aber auch die Legende der Erde, die auf Grund der Tränen Marien erreicht, daß Frauen wieder stillen können 863 . Die Stationen Thecua, Engeddi, die Höhle von Adam und Eva, der Berg Mamre und Hebron sind des weiteren aufgeführt. Das achte Kapitel De peregrinacionibus Bethanie et fluvij lordanis befaßt sich mit weiteren biblischen Sehenswürdigkeiten. Besondere Aufmerksamkeit gilt jedoch dem Jordan, in dem ein Bad zu nehmen üblicher Brauch ist: Deinde vadit homo recto itinere ad flumen lordanis ubi homo balneatur in eo loco proprio 864 • Dieses Ziel ist bereits in Kapitel V angesprochen worden, für die, die ein verkürztes Programm wünschen. Die Brügger Handschrift führt die besondere eschatologische Bedeutung eines solchen Bades weiter aus und bemerkt, die ganze Christenheit habe diesen fluß für glücklich und würdig erklärt, so daß ein Bad an dem Ort, an dem Christus sich hatte taufen lassen, nicht nur belebt (vim regenerativam conferens), sondern auch heilige 865 • Der Berg Sinai mit dem Katharinenkloster, Jericho, der Asphaltsee - es folgt eine Aufzählung zahlreicher Orte, die man besichtigen könnte. Eine gewisse Lustlosigkeit läßt jedoch vermuten, daß hier nicht mehr das Programm einer Heiliglandfahrt im bislang üblichen Detail geschildert wird, sondern nur noch darauf eingegangen wird, was man noch zeigen könnte. Schließlich kehrt die Betrachtung wieder in die Nähe Jerusalems zurück, Akkon als Hafenstadt wird thematisiert, wie auch Kapernaum. Das neunte Kapitel schließlich befaßt sich mit Tiberias und den angrenzenden Orten 866 • Der Text folgt wieder eng Fretellus. Es ist auffällig, daß einige Sachverhalte wiederholt berichtet werden: so die Speisung der Fünftausend 867 • Philippus, loc. ci!., S. 50. Philippus, loc. cit., S. 55: una de pulchrioribus tocius mundi. depicta et laborata tota opere mosaico et cooperta plumbo. 863 Philippus, loc.cit., S.57. 864 Philippus, loc. ci!., S. 63. 865 Philippus, loc. ci!., S. 65. 866 Philippus, loc. ci!., S. 165. De peregrinacionibus Tyberiadis et locorum adiacencium. 867 Philippus, loc.ci!., S. 168. 861

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6. Philippi Descriptio Terrae Sanctae

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Kapitel X schließt den Text und befaßt sich mit Damaskus und libanesischen Sehenswürdigkeiten, insbesondere aber dem von Johannes von Würzburg thematisierten Saidnaia 868 • Tyrus, Sarepta, Sidon als Wohnort der Dido - es sind altbekannte Themen, die hier angeschnitten werden. Abrupt, ohne Schlußwort, endet der Text. d) Verfaßte Philipp ein Handbuch für Fremdenführer? Neben vielen anderen stellt sich die Frage nach der Intention dieses Textes. Die vielen Anweisungen, wohin wann man zu gehen habe, und die deutliche Regieanweisung in manchen Kapiteln, die folgende oder vorstehende Rede ginge über ein bestimmtes Thema, legen die Vermutung nahe, daß es sich hier um eine Art Handbuch für Fremdenführer handelt. Reiseleiter bekommen hierin Hinweise, in welcher Reihenfolge sie ihre Gruppe wohin führen sollen und was sie ihr dann erzählen können. Das Vertrauen in deren intellektuellen Fähigkeiten scheint nicht besonders groß zu sein: Die zu den einzelnen Orten berichteten Begebenheiten sind überwiegend neutestamentlich oder legendarisch; aktuelle politische Informationen finden sich kaum. Aus dem Alten Testament finden sich wenige, dann aber einigermaßen vertraute Ereignisse wie das Opfer Isaaks oder die Anbetung der drei Engel durch Abraham. Auch das manifeste Bestreben, das Leben Christi an Spuren sichtbar zu machen, deutet auf ein vorausgesetztes schlichteres Verständnis hin. Die in der Heiliglandbeschreibung gegebenen Informationen umfassen das aus vielen anderen Texten bekannte Standardrepertoire. Detailfreude ist nur an Stätten in und um Jerusalem zu bemerken, weiter entfernt liegendes wird eher kursorisch erwähnt. Auf einen Ort wie den Tempelberg, der zur Zeit der möglichen Abfassung des Textes nicht besucht werden konnte, wird gar nicht erst eingegangen. Damit wird der Eindruck verstärkt, daß es sich hier um ein Werk für die Praxis handelt: eine Handreichung für Fremdenführer, die Basisinformationen zu den einzelnen Orten benötigen. Die gelegentlichen Anweisungen wie Postea vadit horne oder Postea debet homo ire 869 , die sich insbesondere bei der Beschreibung Jerusalems häufen, sind hierfür ein Beleg. Es fcillt zunächst schwer, sich diesen so konkret formulierenden Text als Anleitung zur spirituellen Pilgerfahrt vorzustellen. Doch scheint er zu einer Zeit entstanden zu sein, in der Pilgerfahrten ins Heilige Land ausgesprochen schwierig und gefährlich waren. Auch wenn Neumanns Datierung in die letzten Jahre des 13. Jahrhunderts, also noch vor dem Verlust des Heiligen Landes, durchaus einleuchtet, ist auch vorstellbar, daß der Text nach der Vertreibung der Kreuzfahrer durch die Muslime zur Kenntnis genommen worden sein kann und dann zur Wissensvermittlung über die "Wunder der Welt" oder eben zur geistigen Pilgerschaft gelesen wurde. Diese zusätzliche Rezeptionsform des Textes wird auch durch die vorwiegend im 868 869

Philippus, loe. eit., S. 171. Philippus, loe. eit., S. 52.

10 v. Samson-Himmelstjema

146

IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

15. Jahrhundert stattgefundene Verwendung des Textes deutlich, als es nicht möglich ist, ins Heilige Land zu reisen.

7. Wilhelm von Boldenseie (Otto von Neuhaus), Hodoeporicon ad Terram Sanctam a) Der Autor "Boldensele, der wackere deutsche, reiste mit einem priester und bedienten zu wasser nach [... ] nach Jerusalem. Die von ihm mit klarem blick abgefasste reiseschrift verdient beachtung."87o Diese Empfehlung Titus Toblers aus dem Jahre 1867 hat die Forschung gerne aufgegriffen, haben wir es doch mit einem Mann zu tun, dessen Lebensgeschichte nicht den heutigen Vorstellungen des Daseins im Mittelalter entspricht. Der, wie Heinrich von Herford ihn kennzeichnete, vir in cursibus et Jortuniis multum singularis wurde als Otto von Neuhaus oder Nienhues geboren. Aus der Mindenschen Chronik Meiboms 871 erfahren wir, daß sich nach dem Jahre 1315 Otto von Neuhaus in Wilhelm von Boldenseie umbenannte, da seine Mutter aus diesem Geschlecht stammte. Wir wissen von Meibom, daß Wilhelm aus eigenem Entschluß das Dominikanerkloster St. Paul zu Minden verließ. Er erhielt jedoch in Rom für diesen Austritt Absolution 872 • Dies wird in direkten Zusammenhang zur Heiliglandreise gestellt: et absolutione pro apostasia accepta, ad terram sanctam perrexit. 873 Inwieweit Wilhelm von Boldenseie seine Heilig-Landfahrt "zur Buße seines Vergehens gegen die Ordensregel unternahm", wie es Ferdinand Khull postuliert 874 , ist fraglich. Denn bei seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land reiste Wilhelm über Königssaal in Böhmen nach Avignon, wo er seinem Auftraggeber für die Reise, dem Kardinal Elias Talleyrand de Perigord (1301-1364, Kardinal seit 1331), Bericht erstattete. Daß er die Erlaubnis des Papstes 875 hatte, die Heiligen Orte zu besuchen, erwähnt Wilhelm bei seiner Beschreibung von Bethlehem 876 . Von Avignon brach er nach Köln auf und starb im dortigen Dominikanerkloster, ohne wieder 870 Titus Tobler, Bibliographia geographica Palaestinae, 1867 (Neudruck Amsterdamm 1967), S. 36. 871 Script. I, S. 567. 872 Reinhard Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande, Innsbruck 1900 (Nachdruck Aalen 1967), S. 89. 873 Meibom, zitiert nach Grate/end, Die Edelherren von Boldenseie oder Boldensen. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, Hannover 1855 (Jahrgang 1852), S. 209286, hier S. 228. 874 Ferdinand Khull, Zweier deutscher Ordensleute Pilgerfahrten nach Jerusalem in den Jahren 1333 und 1346. Nach ihren eigenen Aufzeichnungen erzählt von F. K. Separat-Abdruck aus den "Gaben des Katholischen Pressvereines" für das Jahr 1895. Graz.1895. S. 5. 875 Hierbei kann es sich entweder um den am 4. Dezember 1334 verstorbenen Papst Johannes XXII. oder um den am 20. Dezember 1334 gewählten und am 8. Januar 1335 geweihten Papst Benedikt XII. handeln. 876 Wilhelm von Boldenseie, loc. eit., S. 260.

7. Wilhelm von Boldenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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in den Orden eingetreten zu sein und ohne nach Königssaal zurückzukehren, wie er es in einem Brief an den Abt des dortigen Klosters angekündigt hatte 877 . Inwieweit die Namensänderung mit seinem Austritt aus seinem Orden zusammenhing, wie Heinrich von Herford glauben machen will 878 , muß dahingestellt bleiben. Ein letztes Zeugnis findet sich im Bericht des Ludolf von Sudheim, der während seiner Reise in Hebron auf drei renegati aus der Diözese Minden trifft, die als Diener Wilhelms ins Heilige Land gekommen waren und nun dort als domicelli bzw. famuli ihr Leben fristen. Sie berichten, daß ihr ehemaliger Dienstherr bei seiner Reise sowohl vom Sultan als auch von Prinzen und Königen empfangen und "auf das wunderbarste"879 geehrt worden sei. Von sich selbst schreibt Wilhelm in seinem Bericht, daß er zum Ritter vom Heiligen Grab geschlagen worden sei 880 und nennt sich in einem Brief an den Abt von Königssaal in Böhmen, wo er 1336 zwei Monate gelebt hat, miles in coelesti Hierusalem. 881 Daß damit die Aufnahme in den Johanniter-Orden gemeint sein könnte, wie Grotefend und Khull meinen R82 , ist fraglich. Dies sind die wichtigsten Stationen im Leben einer Person, die tatsächlich "beachtung verdient". Die Familie seiner Mutter ist einigermaßen erforscht - die Boldenseie gehörten um die Mitte des 14. Jahrhunderts zum niederen Adel des Fürstentums Lüneburg. Im Dorf Groß-Bollensen und in der Burg Holdenstedt hatte das Geschlecht seine Stammsitze. Im Wappen führte es einen Löwen. Von den Neuhaus wissen wir außer durch Grotefendts Untersuchung kaum etwas. Zwar gibt es im Lüneburgischen einen "Flecken Neuhaus an der EIbe und ein Gut Neuhaus im Amte Eicklingen"883, des weiteren finden wir im Chronicon episcoporum Mindensium des Hermann von Lerbeke den Hinweis auf eine zerstörte steinerne feste Burg Neuhaus 884 , doch ist über die Familie sonst nichts bekannt. Wann genau Wilhelm seine Reise unternahm, ist schwer zu ermitteln. Das einzige Datum, mit dem vorsichtig die Zeit seines Besuchs - denn bei diesem Text ist tatsächlich von einem solchen auszugehen - ermittelt werden kann, steht in Kapitel VI: In ihm heißt es, Wilhelm sei am Donnerstag nach dem Fest der Kreuzerhöhung nach Jerusalem gekommen. Grotefend führt an, daß dieser Mai-Donnerstag im Jahre 1333 auf das Fest Johannis ante portam Latinam gefallen sei, eine Erinnerung an diesen Tag aber angesichts dieses Festes an die Kreuzauffindung wenig wahrscheinlich sei 885 . Klar jedoch ist die Zeit der Abfassung des Berichts: In der Über877

Grote/end, loc. cit., S. 234.

Heinrich von Herford, zitiert bei Grote/end, loc. sit., hier S. 228. Ludolf's von Suchen Reisebuch des heiligen Landes. Hrsg. von Ferdinand Deycks. Münster 1848, S.50. 880 Kapitel VII. 881 Abgedruckt bei Grote/end, loc. cit., auf den Seiten 236 und 237, hier S. 236. 882 Grote/end, S. 229; Khull, loc. cit., S. 5. 883 Grote/end, loc. eit., S. 230. 884 Zitiert bei Grote/end, loc. cit., S. 230. 885 Grote/end, loc. eit., S. 231. 878

879

10'

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

schrift der französischen Übersetzung des Jehan d'Yppre finden wir 1336 die Präzisierung "fais l'an de grace mil CCCXXXVI environ la Penthecouste"886. Wie Wilbrand von Oldenburg reiste auch Wilhelm von Boldenseie zu Schiff an der Küste von Kleinasien entlang, allerdings in umgekehrter Richtung: von Norden nach Süden, von Zypern aus nach Phönizien und Tyrus, über Akkon dann zu Lande nach Gaza und Ägypten, von dort unter dem Schutz des Sultans auf dem Landweg von Ägypten über den Sinai ins Heilige Land und dann nach Syrien (Damaskus) und in den Libanon (Beirut). Er reiste mit großer Entourage, die er möglicherweise selbst finanziert hat: ein Priester, den er in der Geburtskirche eine Messe halten ließ 887 , und mehrere gleichgekleidete Schildträger (et pluribus scutiferis pari veste indutis et habitu militari, gladiis, calcaribus, cultellis) waren seine Reisegenossen, darüber hinaus erwähnt er einen Dolmetscher: Als er in der Heiliggrabkirche viele Menschen einen weißen, in die Mauer eingelassenen Stein, zwar sind dies die Christen illarum partium 888 , mit großer Ehrfurcht küssen sah, erstaunte ihn das. So fragte er durch seinen Dolmetscher glaubwürdige Personen (autenticas personas per interpretem (demandarem]) 889 nach. Von seinen drei in Hebron zurückgelassenen Dienern war bereits die Rede. In Jerusalem war er von weiteren Gefährten begleitet, die in der Grabeskirche den Leib Christi empfingen 890 und berichtet, er habe seine Diener mit außerordentlich starken Waffen an dem Felsen kratzen lassen, in den Gott Moses versetzte und mit seiner Rechten schützte 891 . Ein weiterer Beleg für den großen Aufwand ist die Tatsache, daß Wilhelm es sich leisten konnte, zu Pferd von Kairo über den Sinai zu reiten - für sich, seine Gesellschaft und die Pferde hatte er Lebensmittel, Futter und Wasser für zehn Tage auf Kamelen zu transportieren 892 . Daß Wilhelm bestes Entree bei den Machthabern der Region fand, wird durch sein gesellschaftliches "Programm" deutlich: in Konstantinopel macht er seine Aufwartung beim Kaiser (es wird sich dabei um den von 1328 bis 1341 regierenden Andronikos III. handeln)893, in Ägypten trifft er sich mit dem Sultan (dies wird Sultan al-Nasir Mohammed Bin Qala'un gewesen sein, der mit einigen Unterbrechungen bis 1341 regierte)894 und wird von dessen Fermane auf der Reise ins Heilige Land beschützt, in Jerusalem wird er vom Emir empfangen 895 . Des weiteren berichtet er, er habe ex mandato domini imperatoris 896 einen großen Teil des Heiligen Kreuzes 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896

Zitiert bei Grotefend, loe. eit., S. 231. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 260. Wilhelm von Boldensele,loe.eit., S.267. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 267. Wilhelm von Boldenseie, Kapitel VII. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 256. Ex, 33, 19-23. Wilhelm von Boidenseie, Kapitel IV. Wilhelm von Boidenseie, Kapitel I und VII. Wilhelm von Boidenseie, Kapitel IV. Wilhelm von Boidenseie, Kapitel VII. Wilhelm von Boldensele, loe. eit., S. 239.

7. Wilhelm von Boidenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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gesehen, den Heiligen Rock, den Schwamm, das Rohr und einen Nagel vom Kreuz, nebst anderen heiligen Reliquien. Darüber hinaus beschreibt er eine außerordentliche Begebenheit in der Heiliggrabkirche. Mit Erlaubnis des Emirs von Jerusalem, also des höchsten sarazenischen Befehlshabers der Stadt, feierte er eine Messe und nahm mit einigen seiner Gefahrten das Abendmahl. Um weniger gestört zu sein, hatte ihm der Emir den Schlüssel zum Grabgemach gegeben, und eine Besuchssperre verhängt: Außer jenen, die Wilhelm namentlich genannt hatte und in die Kirche ließ, durfte keiner sie betreten. Diese Ehre ist hoch genug, doch nimmt dann Wunder, was Wilhelm als Ordensmann am Grab tut: Er schlägt am Grabe des Herren zwei seiner Begleiter zum Ritter (jeci duos milites nobiles supra sepulchrum gladios accingendo)897. Wie aus seiner Vorrede deutlich wird, reiste er auf Veranlassung des Bischofs von Limoges, des späteren Kardinals Elias von Talleyrand-Perigord 898 , und möglicherweise steht diese Gastfreundschaft der wichtigsten politischen Akteure damit im Zusammenhang. Sehr unwahrscheinlich ist, daß diese als Analogon zu Heinrichs des Löwen prunkvollem Auftreten zu sehen ist - Wilhelm von Boldenseie bzw. Otto von Neuhaus entstammte keinem regierenden Fürstenhause. Doch kann man ihm nicht ganz glauben, ausschließlicher Zweck seiner Reise sei gewesen, sich einen Wunsch aus Kindertagen (a pueritia visitare desiderari) zu erfüllen und einmal ins Heilige Land zu reisen. Was aber waren die Gründe für diesen großen Empfang, den man ihm bereitete? Röhricht führt als Begründung für die Abfassung des Berichts durch Wilhelm an, Elias von Talleyrand-Perigord habe mit König Philipp von Valois und Peter IV., König von Aragon 1336 gelobt, das Kreuz zu nehmen und sich vorab über das Heilige Land informieren wollen 899 • Das mag sein. Es ist allerdings denkbar, daß schon vor seinem Aufbruch, wann auch immer er Anfang der 30er Jahre des 14. Jahrhunderts erfolgte, klar war, daß der König von Frankreich einen Kreuzzug beabsichtigte und über Wilhelm mit dem vorderen Orient erste diplomatische Kontakte aufgenommen werden sollten. Warum auch ist Wilhelm am 29. September 1337, wie er im Brief an den Abt Peter von Königssaal schreibt 9°O, bei dem Bischof von Limoges zu Besuch, wenn es nicht um die mündliche Berichterstattung über das ging, was schwerlich in einem schriftlichen Bericht über die Heiligen Stätten Platz finden konnte? Nur eine Andeutung gibt einen Hinweis auf den Anlaß für die Reise: die Maroniten im Liba897 Wilhelm von Boidenseie, loc.cit., S. 267. Dieser ganze Vorgang ist erstaunlich. Zum einen ist einer der Akteure ehemaliger Ordensmann, zum anderen fragt man sich, ob er vom Orden des Heiligen Grabes - denn um diesen scheint es sich zu handeln - zu diesem Ritterschlag befugt war, zum dritten ist die Frage, ob dem Emir dies bekannt war, und viertens will man wissen, ob dies im Rahmen einer Ordensveranstaltung geschah, was aber gegen Wilhelms herausgehobene Rolle sprechen würde. 898 Röhricht, Deutsche Pilgerreisen, 1900, loc.cit., S. 89. 899 Röhricht, loc. cit. 900 Grote/end, loc. cit., S. 236/237, hier S. 236.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

non, so erzählt er, warteten auf den nächsten Kreuzzug, um mit den Christen des Abendlandes gegen die Muslime zu kämpfen 90I • Auffällig ist die in Wilhelms Text zutage tretende Skepsis, die er bei Wunderberichten immer wieder äußert: Ubi natura suffieit, non est ad miraeulum reeurrendum 902 ist ein Satz, der seine Haltung genau kennzeichnet. Gleichzeitig offenbart sich auch eine eher gelassene Haltung. Wie er in seiner Widmung an den Bischof schreibt, habe sich bei seiner Reise das Psalmwort sieut audivimus, sie et ridimus 903 oft bewahrheitet. Inwieweit dies nicht doch Ausdruck einer "tieferen Bildung und mannigfachere[r] Kenntnisse" ist, die Grate/end ihm nicht zubilligen will 904 , wird im Laufe der Textanalyse zu sehen sein.

b) Der Text Der Reisebericht Wilhelms folgt dem mittlerweile bekannten Muster insoweit, als auf die Nennung eines besuchten Ortes die ihn betreffenden Informationen folgen, die häufig der Bibel entnommen sind. So finden wir den Hinweis, daß die von Sarazenen zerstörten Kirchen schon in der Apokalypse erwähnt werden, und daß diese auf der Insel Pathmos von dem Jünger, den Jesus lieb hatte, niedergeschrieben wurde. Wilhelm richtet sein Augenmerk auch auf die Pracht der Städte, die politischen Verhältnisse der Länder, die er bereist, die Umstände, unter denen die Christen dort leben sowie auf die aktuellen Entwicklungen. Es ist auffällig, daß bei der Beschreibung der Städte in vielen Fällen außer Erwähnungen ihrer Zerstörungen und der von den Sarazenen gewirkten Verwüstungen nicht viel mehr gesagt wird. Dies ist bei der Beschreibung seines Wegs von Cäsarea über Jaffa nach Rama und Diospolis besonders auffällig 905 • Wilhelm scheint verschiedene Ziele bei der Abfassung seines Textes zu verfolgen, auf die hier eingegangen werden soll. Nichts anderes als eine Abhandlung über den Grund, warum das Meer Mediteraneum heißt, findet sich schon früh im Text: Weil es zwischen den Haupterdteilen Asien, Afrika und Europa liegt und sie voneinander trennt. Genau benennt er, in welchen Himmelsrichtungen die Kontinente liegen: Afrika im Süden, im Westen und Norden Europa, im Osten Asien. Ein Überblick über die Weltmeere schließt sich an: das Pontische und das Kaspische Meer. Wilhelms Kritikfähigkeit wird offenbar: wenn er berichtet, es gäbe keine sichtbare Verbindung zwischen dem Pontischen Meer und dem Kaspischen, denn asserunt tamen quidam 906 , daß die beiden Meere durch einen unterirdischen Fluß miteinander verbunden seien. Wilhelm von Boidenseie. S. 286. Wilhelm von Boidenseie. Kapitel VII. 903 Wilhelm von Boidenseie. Vorrede. Ps 47,9. 904 Grotefend, loe. eit., S. 233. 905 Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 243/244. 906 Wilhe1m von Boidenseie. loe. eit., S. 238. 901

902

7. Wilhelm von Boldenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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Wilhelm geht im Zusammenhang mit seinem Besuch auf der Insel Chios kurz auf die industrielle Produktion von Gummi ein: Aus kleinen Bäumchen fließe das Gummi aus der Rinde, die mit certi instrumenti zu passender Zeit angebohrt würde 907 • Weitere Details, wie wir sie etwa von Burchard von Straßburg erfahren, bietet er nicht. Konstantinopel wird ausführlich beschrieben. Es wird dabei offenbar, daß die Stadt Wilhelm besonders gefallen hat: Die civitas solemnissima 908 besitze einen sehr großen und sehr guten Hafen, sei in ihrer dreieckigen Fonn mit zwei Seiten zum Meer und einer zum Land ausgerichtet. Seine Beschäftigung mit den Kirchen und Paläste der Stadt, deren Mosaik- und Marmorwerke, gipfelt in der überschwenglichen Beschreibung der Hagia Sophia. Wilhelm beschreibt ausführlich die Schönheit der Gebäude in Kadrum und Babylonia. Er bemerkt, daß die Gebäude innen wesentlich schöner seien als außen, da sowohl die Böden als auch die Wände wunderbar mit Marmor und Mosaiken geschmückt seien. 909 Detailliert geht er die Tatsache ein, daß der Leichnam Mohammeds in Mekka auf das Sorgfältigste bewacht werde, in einer schönen Kirche, die als größtes Heiligtum des Islam gelte. Die Legende, Mohammed schwebe in einem Magnetfeld zwischen Himmel und Hölle hält er allerdings für falsch. Für erwähnenswert befindet Wilhelm die Tatsache, daß die Pilgerfahrt nach Mekka von den Muslimen als ein höchst frommes und verdienstreiches Werk angesehen werde. Erstaunlich ist, daß Wilhelm ein Motiv aufgreift, das wir in Bezug auf den Jordan aus anderen Berichten kennen: auf den Zusammenfluß zweier Ströme. Der Nil (quidam tamen dicunt)910 speise sich, wie einige Reisende berichten, aus dem Gihon und dem Phison. Er erwähnt die fruchtbaren und prächtigen Inseln im Fluß ebenso wie die köstlichen Fische, die Aloebäume an seinem Ufer und die in ihm zu findenden Karneole. Grate/end merkt an dieser Stelle eine Randglosse an: Non dicunt isti verum 911 • Es ist unklar, ob sich mit dieser Randglosse in der Wolfenbütteler Handschrift ein Schreiber zu Wort gemeldet hat oder ob Wilhelm sich tatsächlich bei der Überarbeitung seines Textes eines Besseren besonnen hat. Zu Ägypten selbst bemerkt Wilhelm, daß der Nil dieses an sich wüsten-trockene Land fruchtbar und für die Ansiedlung von Menschen geeignet mache. Das AustreWilhelm von Boldensele,loc.cit., S.240. Wilhelm von Boldenseie, loc. cit., S. 238. 909 Wilhelm von Boldense1e, loc. cil., S. 246. 910 Wilhelm von Boldenseie, loc.cit., S.247. 911 Grote/end, loc. cil., S. 247. Grotefend hält im übrigen die Randbemerkungen der Wolfenbütteler Handschrift cod. Weissenburg 40 für Automotate (Grote/end, loc. eit., S. 248, Anm. 2.). Seine Begründung ist allerdings nicht ganz einleuchtend. Er bezieht sich dabei auf eine Glosse am Rand, die im Grunde nur einen Text variierend wiederholt, der im Haupttext zu sehen ist: Vidi in Kadro tres elephantes vivus bekommt am Rand die Notiz: Tres elephantes vidi. Es ist unklar, warum Grotefend dies für eine Notiz aus der Feder des Autors hält. 907 908

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

ten des Flusses über seine Ufer (ex uberante fluvio )912 finde entweder auf natürliche Weise oder von Menschenhand hergestellt (naturaliter vel artificialiter)913 statt. In Ägypten sah Wilhelm einen Elephanten. Seine harte Haut, seine langen Zähne, die den Hauern eines Ebers vergleichbar sind, beschreibt er detailliert, und stellt fest, daß sein langer, einem runden Sack ähnlicher Rüssel sich nach allen Seiten biege. Er fährt fort, die sehr gelehrigen Tiere tanzten und sprangen zur Musik und nutzen ihren Rüssel wie eine Hand. Wilhelm stützt sich auf seine eigenen Beobachtungen, wenn er der allgemeinen Meinung widerspricht, daß Elephanten nicht mehr aufstehen könnten, wenn sie einmal lägen - mit Hilfe ihres Rüssels könnten sie sich sehr wohl hochmanövrieren, wendet er dagegen ein. Ein Trick hat es ihm besonders angetan: Die trainierten Elephanten grüßen mit einer Verbeugung, einknickenden Knien und einem Kuß auf die Erde, wenn sich jemand ihnen nähert, wie es in Ägypten der übliche Gruß ist 914 • Von gleichem Interesse ist für Wilhelm die Giraffe. Um den langen Hals des Tiers zu beschreiben, bedient er sich des Vergleichs mit einer menschlichen Behausung: Ein solches Tier könne von einem normalen Hausdach sein Essen nehmen. Die Giraffe sei friedlich, mit geflecktem Fell 915. Er beschreibt weitere Tiere, von denen manche wie die Affen, Katzen, Maymonen und Papageien für die Erheiterung ihrer Besitzer sorgen. Wilhelm von Boldenseie beschreibt eine Anlage zum Ausbrüten von Eiern, die Johannes von Würzburg vor ihm schon erwähnt hat: In einem Hause in Kadrum stünden viele Öfen, auf die Eier gelegt würden, die durch die Wärme in den Öfen ausgebrütet würden, ohne daß die Hennen dies leisten müßten. Jeder kann soviel Eier bringen, wie er möchte. Die geschlüpften Küken werden dann den Eigentümern der Eier übergeben. Er kann dabei sein Staunen nicht zurückhalten: Hoc mirabilius reputo omnibus, quae viderim in his locis 916 • Wilhelm räumt mit dem Vorurteil auf, daß das Rote Meer wegen seiner Farbe so heiße: Non est autem hoc mare rubeum in hac parte, necfundus rubeus, sed omnibus assimilatur ceteris maribus 9l7 • Er vermutet, daß der Boden des Meeres vielleicht an einer anderen Stelle rot sei und das Meer daher so bezeichnet werde: Potest tamen esse 91 8 • Vom Kloster am Fuße des Berges Sinai sagt Wilhelm, daß es schön und einigermaßen groß sei, mit Blei gedeckt, und gut befestigt, wie an seiner verschlossenen Eisentür deutlich werde. Die Mönche, deren Regel außerordentlich streng sei, seien 912

913 9 14

915 916 917 918

Wilhe1m von Wilhelm von Wilhelm von Wilhe1m von Wilhelm von Wilhelm von Wilhelm von

Boldenseie, Boldenseie, Boldenseie, Boidenseie, Boldenseie, Boidenseie, Boldensele,

loe. eit., S. 248. loe. eit., S. 248. loe. eit., S. 248 . loe. eit., S. 248. loe. eit., S. 250. loe.eit., S. 253-254. loe. eit., S. 254.

7. Wilhelm von Boidenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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sowohl Araber als auch Griechen. Sie tränken nur zu einigen wenigen Festen Wein und auch dann nur in certa mensura modicae quantitatis 919 . Er geht des weiteren auf die Speisegewohnheiten der Mönche ein sowie auf die Reinlichkeit und Helligkeit der Kirche. Von besonderer Prägnanz ist Wilhelms Beschreibung des Heiligen Grabes. Er läßt es vor unseren Augen erstehen, wie jeder Jerusalem-Reisende es selber gesehen gesehen hat, und macht dann deutlich, daß er es selbst ausgemessen hat: Longitudo 9 palmarum communium est. Latitudo vero [. ..] circa 6 palmas utrobique se extendit communes. Circa 12 potest palmas esse dltitudo do munculae supradictae 920 - eine Praxis, die sich in zahlreichen Heilig-Grab-Kapellen in Europa niedergeschlagen hat. Er geht dann auf die Baugeschichte des Grabes ein, und fast meint man, einen warnenden Unterton zu hören: Vero advertendum est 921 , daß dieses Gebäude nicht dasjenige ist, in welchem der Leichnam Christi beigesetzt wurde. Er sei ja, wie berichet werde, in einer Felsenhöhle bestattet worden, wie es damals Sitte war. Das Grab an der Grabeskirche sei jedoch aus mehreren Felsstücken zusammengesetzt, die mit Mörtel zusammengefügt worden seien. Er erlaubt sich dann eine Wertung: Minus artificialiter et minus, quam deceat, ordinate 922 • Ihn empört, daß die Pilger soviel von den Steinen und der Erde um das Grab herum mitnähmen - wenn sie es könnten, würden sie alle Erde mitnehmen, die durch die Fußstapfen Christi geheiligt sei (utique totarn asportarent christi vestigiis consecratam)923, setzt er ironisch nach. Auffallig an der Darstellung Wilhelms ist die Wiederholung des Ausdrucks: Et sciendum. Man meint, einen mahnenden Unterton zu hören: es ist wichtig, dieses zu wissen 924 • Ein bedeutender Zweig der ägyptischen Volkswirtschaft, so beschreibt es Wilhelm, sei der Sklavenhandel. Sowohl Männer als auch Frauen würden verkauft, sofern sie einem anderen Glauben oder einer anderen Sekte angehörten. Ihr Preis richte sich nach ihren Fähigkeiten, ihrer Jugend, Stärke, Gesundheit und Schönheit925 • Auch die Landwirtschaft berücksichtigt er: Hinter Babyion liege ein sehr fruchtbarer Landstrich, der Bezirk Gessen 926 , den auch Ludolfvon Sudheim erwähnt 927 • Dieser sei sehr fruchtbar und voller Weidevieh. Später bemerkt er, daß die schönen und durchaus großen Dörfer in Ägypten zwar über alle zeitlichen Güter (bonis temporalibus)928 verfügten, daß jedoch die Sarazenen weder Wein anbauten noch Schweine hielten, was ihnen ihr Heiliges Buch, der Koran, auf das strengste verböte. 919 920 921 922

923 924 925 926 927 928

Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 254. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 266. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 266. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 266. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 266. Wilhelm von Boidenseie, loc.cit., S.247. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 250. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 250. Ludolf von Sudheim, loc. cil., S. 52. Wilhelm von Boidenseie, loc. cil., S. 245.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Wilhelm hat auch die Pyramiden aufgesucht: Antiquorum monumentafigurae pyramidalis 929 , deren Größe und Höhe ihn ebenso beeindruckt wie die glatten und großen Steine, aus denen sie zusammengefügt seien. In verschiedenen Sprachen fand er darin Inschriften, von denen er eine wiedergibt, die ihn offenbar besonders interessierte: "Die dunkle Ausdrucksweise dieser Verse hielt mich einige Zeit im Bann" (Horum versuum obscura expositio aliquantulum me tenebat)930. Die fünf ersten Verse ergeben einen Sinn, ein Tourist vermißt seinen dulcissime frater und meißelt seine Klage in den Stein. Der letzte Vers ist hingegen unverständlich: Lustra sex intra censoris consulis esse 931 . Denselben Vers hat Ludolf von Sudheim in niederdeutscher Übersetzung überliefert. In der Wolfenbütteler Handschrift Codex Blankob. No. 127 wird dazu angemerkt: "Des se Versch dude eyn wys Man, de se forstat."932 Auch der Herausgeber des Ludolfschen Berichts bemerkt ca. 500 Jahre später "Diesen selbst [... ] besser zu enträthseln, mögen Andere versuchen."933 Wilhe1m wendet sich wiederholt gegen allgemein tradierte Vorstellungen. Dies wird besonders deutlich bei den von ihm besuchten Pyramiden: Dicunt simplices 934 , diese großen Denkmäler seien Kornspeicher gewesen. Doch aufgrund seiner eigenen Beobachtung wisse er, daß dafür gar kein Platz sei, man gelange nur durch eine kleine Tür in einen einzigen Raum im Innern. Er schließt: Verum quod monumenta sint 935 , dies belegten nicht nur die Reiseberichte, die vor dem seinen geschrieben seien, sondern auch vieles andere, was an Ort und Stelle vorzufinden sei. Wilhelm berichtet von seinen Wanderungen entlang des Roten Meeres über drei Tage, die ihn außerordentlich erfreute (Plurimum delectabar)936, da er sich an dem kühlen und sanften Wind der Region erfrischte. Am Meer fand er Korallen, die zwar sehr hübsch seien durch ihre Verzweigungen, jedoch sehr zerbrechlich und dadurch wenig wert. Er nahm zwei oder drei harte Stücke mit, die wie Elfenbein leuchteten (eboris relucentes)937. Von den Reliquien der heiligen Katharina berichtet Wilhelm, daß der. Abt des Klosters mit einem silbernen Instrument die Gebeine, die den Pilgern in ihrem Behältnis gezeigt würden, reibe und die aus ihnen hervortretenden Tropfen an die Gläubigen verteile 938 • Wilhelm scheint diese Flüssigkeit gesehen zu haben, denn er beschreibt sie genau: Sie fließe nur sehr geringfügig und nicht kontinuierlich aus den Gebeinen (non tamen continue)939. 929 930 931 932 933 934 935 936

931 938 939

Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 250. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 252. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 251. Zitiert bei: Grote/end, loe. eit., S. 251, Anrn. 1. Deyeks, loe. eit., S. 20. Wilhe1m von Boidenseie, loe. eit., S. 252. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 252. Wilhe1m von Boidenseie, loe. eit., S. 254. Wilhelm von Boldensele, loe. eit., S. 254. Wilhe1m von Boidenseie, loe.eit., S.255. Wilhelm von Boidenseie, loe. eit., S. 255.

7. Wilhelm von BoIdenseIe Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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In dem Katharinenkloster, berichtet Wilhelm begeistert, könnten Fliegen, Flöhe und anderes Ungeziefer nicht existieren. Auf seine Frage nach dem Grund berichtete man ihm, daß die hier lebenden Heiligen früher so nachhaltig von Ungeziefer gestört wurden, daß sie überlegten, den Ort zu verlassen. Gott habe daraufhin dafür gesorgt, daß in Zukunft niemand mehr auf diese Weise belästigt wurde 940 • Die Tatsache, daß es keine solchen Tiere gäbe, habe er zu seinem Staunen mit eigenen Augen (et oculis meis)941 gesehen. In der Geburtsbasilika zu Betlehem wird seine eigene innere Bewegung noch einmal deutlich, obwohl er den Absatz des Berichts über seinen Besuch etwas zurückhaltend und unter der Deckung eines Bibelzitates942 einleitet: Die Stadt Betlehem, so zitiert der den Evangelisten Matthäus, gelte durchaus nicht als die unwichtigste Stadt der Orte in Judäa 943 , sie sei zwar klein, licet non virtute mysterii 944 . Die Kirche dort, so scheine es ihm (apparet mihi)945, sei durch Mauern, Türme und Vorwerke gut geschützt. Sie sei sehr schön geschmückt, insbesondere die Kapelle mit der Krippe sei mit Marmor und Mosaiken ausgestattet. Dann berichtet er in empathisehern Ton von der Anbetung der Heiligen drei Könige 946 • Obwohl Wilhelm angekündigt hat, daß er die Gegebenheiten am Ort des Templum Salomonis nicht beschreiben will, zählt er eine ganze Reihe von Begebenheiten auf. So berichtet er, daß sich Jesus als Knabe an diesem Ort mit den Schriftgelehrten auseinandersetzte und quaerentibus dulcem responsionem retulit947 . Er erwähnt des weiteren, daß hier der Priester Melchisedech in vorausdeutender Weise (mysticae primitus)948 Gott Brot und Wein geopfert haben soll. Dieser Verweis auf den mehrfachen Schriftsinn (in diesem Fall den sensus spiritualis) zeugt von Wilhelms Vertrautheit mit der Auslegung von Schrift. Diese ganze Passage ist geprägt von einem aufzählen in hoc loco, das nur geringfügig nur zu einem in hoc etiam loco abgewandelt wird. Es wirkt fast wie eine Gebetsfolge, jedenfalls ist es von außerordentlicher Förmlichkeit geprägt. Ähnlich eindrücklich ist die Beschreibung des Ortes, an dem Christus "angespieen, ins Gesicht geschlagen, verspottet, verurteilt, mit Dornen gekrönt, mit dem Baum des Kreuzes beschwert wart und unzählige Schmerzen für uns litt, unleidend Wilhelm von BoIdenseIe, loc. eit., S. 255-256. Wilhelm von BoIdenseIe, loe. eit., S. 255. 942 Mt. 2,6 "et tu Bethleem terra Iuda nequaquam minima es in principibus Iuda", der wiederum Micha 5,1 zitiert. 943 Wilhelm von Boldense1e, loe. eit., S. 259. 944 Wilhelm von BoIdenseIe, loe.eit., S. 260. 945 Wilhelm von Boldensele,loe.eit., S.259. 946 Wilhelm von BoIdenseIe, loe. eit., S. 259. In loco sanctissimo pauperculae Virginis infantulus a Magis adoratur, mysticis muneribus honoratur, stella ductrice ostenditur, in mobili vere immobilis demonstratur, ab angelis et pastoribus coelestibus et humanis praeconiis attollitur evidenter. 947 Wilhelm von BoIdenseIe, loc. eit., S. 262. 948 Wilhelm von BoIdenseIe, loe. eit., S. 261. 940 941

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

trotz des Leidens. "949 Wird hier auch keine Aufforderung direkt ausgesprochen, sich in das Leiden Christi zu versenken, so spürt man als Rezipient doch, hier mitfühlen zu sollen. Wilhelm interpretiert die Fußwaschung der Jünger eschatologisch: In caritate Jundamentum et consummationemfidei solidavit 950 , wobei die Festigung und Vollendung des Glaubens in Christi Liebe als eine persönliche Bemerkung von Wilhelm aufzufassen sind. In Jerusalem nimmt Wilhelm seine Leser mit auf seinen Gang durch die Stadt. So schreibt er am Beginn des Kapitels VII, nachdem er einige Orte Jerusalems betrachtet habe (locis lustratis)951, verbleibe es ihm noch, daß er zum Kavalienberg und zur Grabeskirche fortschreite (prosequar)952, eine in der Wortwahl interessante Feinheit. Er kann die Orte auch beleuchtet haben, kann auch bildlich gesprochen fortgehen zu den beiden folgenden Orten. Doch bleibt im Leser das Gefühl, hier den Autor auf seinem Gang zu begleiten. Wilhelm ist sich der bevorzugten Behandlung durch den Sultan und dessen Unterstellte sehr wohl bewußt. Diese hat er auch zu erreichen gesucht, denn er führt als Begründung für seinen Besuch beim Sultan von Ägypten an, daß er nur mit dessen Empfehlungsbriefen (Obtentis soldani literis)953 bequemer und sicherer die Stätten des Heiligen Landes besuchen wollte. Doch wurde er geradezu verwöhnt, denn seine Zelte wurden auf der Reise von eigens dazu abgestellten Wächtern geschützt, die ihn und die Seinen vor den nächtlichen Gefahren bewahrten. Er vergleicht sich dabei mit den anderen, die aus der Heimat kommen: Magni et parvi, nobiles et ignobiles 954 , doch keiner habe eine solche bevorzugte Behandlung erfahren. Er führt diese nicht auf einen persönlichen Sonderstatus zurück, sondern auf die einzigartige Gnade Gottes. Anschaulich berichtet er von dem Verhalten der jeweiligen Verantwortlichen in den einzelnen Städten, die er aufsucht: Sofort hätten sie sich erhoben, wenn er den Brief des Sultans vorzeigte, hätten das Schreiben geküßt und über ihr Haupt erhoben, um sodann Wilhelm in höchsten Ehren zu halten, ihm sogar Essen zu schenken 955 • Dieser Brief ist so wichtig, daß Wilhelm anscheinend daraus zitiert: Der Sultan habe Anweisung gegeben, ihn ohne jegliche Gebühren an die Heiligen Stätten reisen zu lassen. Auffällig ist die genaue Anführung der Zahlungsformen: Sine omni tributo, exactione, teloneo 956 . Daß Wilhelm mit wachem Blick durch die Welt reiste und ein Auge für die politischen Verhältnisse hatte, wird wiederholt deutlich. Von den Sarazenen schreibt er, 949 950 951

952 953

954 955 956

Übersetzung von Ferdinand Khull, loe. eit., S. 26. Wilhelm von Boldenseie, loe. eit., S. 264. Wilhelm von Boldenseie, loe. eit., S. 265. Wilhelm von Boldenseie, loc. eit., S. 265. Wilhelm von Boldenseie, loe. eit., S. 244. Wilhelrn von Boldenseie, loc. eit., S. 253. Wilhelm von Boldenseie, loc. eit., S. 253. Wilhelm von Boldenseie, loc. eit., S. 253.

7. Wilhelm von Boldenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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daß sie nicht nur Ephesus erobert hätten, sondern auch ganz Kleinasien, das nun seinen Namen Minor Asia verloren habe und allgemein nach seinen ungläubigen Bewohnern (lniquis habitatoribus)957 Turchia, Türkei, genannt würde. Dabei greift Wilhelm aus der Kreuzzugsliteratur bekannte Motive auf: Die Sarazenen, jetzt Türken genannt, hätten nicht nur die sehr schönen Kirchen zerstört, sondern auch die in Kleinasien seßhaften Christen vertrieben, getötet, oder in die Sklaverei verschleppt. Eine andere Gruppe, der Wilhelm auf dem Weg vom Berg Sinai nach Jerusalem, den er in dreizehn Tagen zurücklegt, begegnet, sind Beduinen. Ihr Leben, ihr Unterhalt, ihre Art der Ernährung, ihre Kleidung, ihre physischen Eigenarten beschreibt er, auch ihre Waffenfahigkeit, Tapferkeit und Schnelligkeit. Um den Sultan, so schreibt er, kümmerten sie sich wenig (parvum curant de soldano)958, doch habe dieser ihre Loyalität durch Geschenke und ähnliches erringen können, was sehr klug sei, denn sollten die culturis hujus deserti 959 sich einig sein, dann könnten sie Ägypten und Syrien mit Leichtigkeit besetzen. Auch auf die schwierige Situation zwischen Christen und Sarazenen werden wir von Wilhelm bei der Beschreibung des Grabes der Patriarchen in Hebron aufmerksam gemacht. Der Ort, an dem Abraham, Isaak und Jakob begraben liegen, wird von den Sarazenen heilig gehalten (Habentes in reverentia)960. Sie würden keinem Christen erlauben, diese Stätte zu betreten. Christliche Pilger dürften jedoch, wenn sie es wollten, am Eingang zur Kirche beten. Auch zur Grabeskirche weiß er ähnliches zu berichten: sie sei lange von den Sarazenen besetzt und auch entweiht (profanatus)961 worden. All das sei von den Usurpatoren entfernt worden, was auf irgendeine Weise die devotio jidelium 962 hätte fördern können. Wilhelm ist den irdischen Freuden durchaus nicht abgeneigt. Über Zypern erfahren wir im wesentlichen, daß die dort hergestellten Weine rot seien, doch mit der Zeit verblassten, sie mit dem Alter besser werden und schöner duften und ohne den Zusatz von Wasser wohl weniger genießbar sind, in Wilhelms eleganter Formulierung: Potui minus apta. 963 Daß er sich damit ein wenig widerspricht, lobt er doch den Wein mit einem Zitat aus dem Hohelied (1,13): Botrus cypri dilectus meus mihi in vineis en gaddi, mag auch am Genuß desselben liegen. Daß Wilhelm den weltlichen Vergnügungen durchaus nicht abhold war, belegt eine kurze Beschreibung einer Jagd, die er auf Zypern unternommen hat. Mit Hunden und sehr zahmen Leoparden 964 werden die Bergschafe gejagt. 957 958 959 960 961 962

963

964

Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie, Wilhelm von Boldenseie,

loe. eit., loe. eit., loe. eit., loe. eit., loe.eit., loe. eit., loe.eit., loe. eit.,

S.240. S. 257. S.257. S. 258. S. 266. S. 266. S. 241. S. 242.

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Auffällig ist, daß Wilhelm bei vielen Städten auf deren Befestigungen oder technische Details achtet. So geht er bei seiner Beschreibung Jerusalems auf die Wasserversorgung der Stadt ein. Das Wasser werde künstlich durch Aquädukte in die Stadt gebracht, und mehrere Zisternen belieferten die Bewohner965 • Am Fuße des Berges Sions zur Stadt hin hätte der Sultan eine Burg erbaut, die von deren Befehlshaber und dessen Untergebenen auf das sorgfältigste bewacht werde 966 • Auch geht er auf die Lage des Berges Sion überhaupt ein: Est tamenfortior locus urbis 967 • Die Erwähnung, daß früher dort die Könige Jerusalems wohnten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier um einen Hinweis über den möglichen Ort für den Bau einer Burg geht. Darüber hinaus ist der Begriff ceteri reges Hierusalem 968 als ein Hinweis auf die Bezeichnung der Herrscher in Outremer zu verstehen. Wilhelm beschreibt nicht nur für Konstantinopel die Lage und Art der Befestigung, sondern auch für Tyrus. Die Stadt läge jetzt fast ganz in Trümmern, einzig der Hafen werde von den Sarazenen diligenter bewacht 969 • Da Tyrus fast mitten im Meer gelegen sei und von fast allen Seiten von Wasser umgeben sei, sei folgerichtig die dem Lande zugekehrte Seite von Türmen und sehr starken Mauern beschützt. Da Wilhelm hier das Imperfekt verwendet: erat minuta 970 , ist davon auszugehen, daß auch diese Städte im 14. Jahrhundert zerstört waren. Doch schaut er auch in die Zukunft: Das von den Sarazenen Zerstörte posset tamen de facili repari 971 , hier meint er Akkon. Hinzu kommt sein Interesse an den militärisch-personellen Gegebenheiten: Er beobachtet, daß sich im Schloß des Sultans zu Babylonia 6.000 Personen um die Bewachung und die Dienstleistungen bemühen. Darüber hinaus liegt vor der Burg eine große Zahl von Soldaten, die in Tausendschaften, Hunderschaften, zu Zügen und Gruppen organisiert seien. Ihre Bezahlung, weiß er, entspricht ihrem Rang (secundum gradus SUOS)972. Inwieweit die tradierte Behauptung, Wilhelm sei Johanniter-Ritter geworden, zutrifft, ist fraglich. Seine Beschreibung von Rhodos, wo der Orden nunmehr seinen Hauptsitz hat, gibt zu dieser Vermutung keinen Anlaß. Er geht auf nichts weiter ein als auf die Tatsache, daß die Insel von den Johannitem durch Waffengewalt dem Byzantischen Reich abgenommen worden sei. Dieser heilsame und angenehme Ort sei nicht weit vom Türkischen Reich entfernt. Immer wieder fällt bei Wilhelm auf, daß propagandistische Töne angeschlagen werden. So sagt er von Akkon, die Stadt sei durch Ströme christlichen Blutes gehei965 966

%7 %8 969 970 971 972

Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 261. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 263. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 263. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 263 . Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 242. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 242. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 243. Wilhelm von BoldenseIe, loe. eit., S. 245.

7. Wilhe1m von Boldenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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ligt (consecrata) und es geschähe mit Recht, wenn dieser Ort allgemein verehrt würde 973 • Bei seiner Beschreibung von Babyion erwähnt er die Feindschaft zwischen Muslimen und Christen und fügte eine giftige Invektive gegen Mohammed ein, dessen "Lügen" der Sultan als principalis propugnator et dilatator 974 verbreitet. Von teuflischen Lehren und der Schläue einer Schlange, mit der die armen Wüstenbewohner Arabiens, tiergleiche und ungelehrte Menschen, durch falsche Wunderberichte und Lügen verführt worden seien, ist die Rede. Hinzu kommt, daß der Sultan unter vielen anderen Fehlern auch noch den habe, dem christlichen Glauben auf das höchste feindlich gesinnt zu sein. Ähnlich kriegerisch mutet sein Bericht über Gaza an: Er erwähnt die Erzählung von Samson, der dort nicht nur die Tore der Stadt über einen Berg trug, sondern auch viele Philistiner tötete 975. Von besonderer Lebendigkeit ist seine Beschreibung des Ortes, an dem der brennende Dornbusch stand, nostre salutis ordinem figuraliter convenientius inchoantes 976 • An diesem Platz gingen die Mönche nur barfuß und befahlen dies auch den Pilgern, die dort hinkamen, um der in Exodus 3,5 gegebenen Anweisung Folge zu leisten: "Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist Heiliges Land." Wilhelm bemerkt zu Babylonia, dieses sei zwar nicht dieselbe Stadt, die in der Bibel genannt sei. Doch ähnele sie ihrer Vorgängerin darin, daß sie, so wie das alte Babylon den Kindern Israels feindlich gesonnen war, als das heutige Nobis Christianis veris israelitis 977 ebenfalls ein Feind sei, und zwar von allen anderen Ungläubigen der Schlimmste. Dabei wendet er sich direkt an seine Leser, um ihnen bestimmte Sachverhalte deutlich zu machen. So erläutert er, warum er den Ort so ausführlich beschreibt, an dem das alte Babyion sich befindet: Die einen behaupten, es sei das heutige Baldacum, am Euphrat, andere, es handle sich bei dem großen Trümmerfeld neben dieser Stadt um das alte Babyion. Dann fügt er an, der Ort solle verödet sein (locus autem dersertus dicitur)978. Dies alles habe er gesagt, damit man zwischen dem alten und dem neuen Babyion unterscheiden könne 979 • Diese Art der direkten Anrede und Erläuterung kann auch etwas enttäuschend sein. So geht Wilhelm auf die in Syrien und Ägypten wachsenden Paradiesäpfel ein und teilt dem Leser mit: per transversum quandocumque ipsa diviseris invenies crucijixum 980 • Dies ist um so perfider, als er im zweiten Satz dem Leser mitteilt, daß diese Früchte nicht lange haltbar seien, so daß man sie nicht unverdorben über das Mittelmeer bringen könne. Wilhelm von Boldenseie, loc. cit., S. 243. Wilhelm von Boldense1e, loc. cit., S. 246. 975 Jdc 15,9-17 für die Tötung der Philister, Jdc 16,3 für das Wegtragen der Türen an der Stadt Tor. 976 Wilhelm von Boldenseie, loc. cit., S.254. 977 Wilhelm von Boldenseie, loc. cit., S. 246. 978 Wilhelm von Boldenseie, loc. cit., S. 247. 979 Wilhelm von Boldenseie, loc.cit., S.247. 980 Wilhelm von Boldenseie, loc.cit., S.249. 973 974

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IV. Deutsche Pilgerberichte des Hohen und Späten Mittelalters

Im Hebrontal beschreibt Wilhelm den Platz, an dem Abraham die drei Engel empfing, den Hain Mamre. Er identifiziert sich soweit mit dem Helden seiner kleinen Geschichte, daß er dessen Emotionen und religiöse Gefühle wiedergibt: "Entflammt von der Liebe Gottes und von den Wirren der weltlichen Leidenschaften erlöst durch die göttliche Dreieinigkeit und in der Erkenntnis des unaussprechlichen Geheimnisses der Dreieinigkeit" sei er gewesen 981 • c) Wilhelm von Boldenseie - ein Beobachter Es fällt schwer, den Bericht Wilhelms von Boldensele losgelöst von dem zu betrachten, was wir von seiner Person wissen. Er macht es darüber hinaus dem Leser nicht leicht, seinen Text nur als Text und nicht als Selbstzeugnis zu betrachten. Immer wieder meldet er sich selbst zu Wort, teilt seine Ansichten mit über die Länder, die er bereist, die Menschen, die in ihnen wohnen, die dort herrschenden politischen Verhältnisse. Als dem Leben außerordentlich zugewandter Ordensmann vermittelt er lebendige Eindrücke. Wir sehen durch seine Augen prächtige Schlösser, schmekken mit ihm den köstlichen Zyper-Wein und gehen mit ihm auf Jagd. Auch als Autor ist er höchst eigenständig. Daß in solchen Berichten zu den jeweils beschriebenen Orten biblische Ereignisse zitiert werden, ist altbewährte Praxis. Doch nimmt Wilhelm andere Texte aus der Bibel hinzu, martialischere und sinnlichere. Er verweist auf Simson, der die Tore von Gaza forttrug, erinnert sich bei seiner Kurzkritik des zypriotischen Weines an das Hohelied. Hier schreibt kein am Bibeltext klebender Abkupferer, sondern ein bibelfester Genießer. Gleichzeitig beschreibt er mit außerordentlicher Lebendigkeit biblische Ereignisse und geht so weit, sich in das Erleben einzelner Figuren hineinzuversetzen. Im Hain Mamre läßt er Abrahams Gefühlswelt vor unseren Augen erstehen, in der Krippenkapelle zu Bethlehem scheinen wir mit den Hirten zu fühlen. Die Vermutung liegt nahe, daß Wilhelm diesen Bericht als Nebenprodukt einer diplomatischen Mission verfaßte. Er begegnet oder hat zumindest indirekten Kontakt zu den politischen Führern der von ihm besuchten Länder. Bei seiner Rückkehr nach Europa geht er geradewegs nach Avignon. Es ist davon auszugehen, daß er hier dem Kardinal von Talleyrand-Perigord Bericht erstattete. Es scheint um einen neuen Kreuzzug gegangen zu sein. Propagandistisch anmutende Passagen, in denen immer wieder auf die Zerstörung christlicher Kirchen durch die Sarazenen hingewiesen wird, erscheinen wie ein Zitat der frühen Kreuzzugspropaganda, der Rede Urbans 11. Wiederholt finden wir die Bemerkung, diese oder jene zerstörte Stadt ließe sich rasch wieder aufbauen und sei von vielen Menschen bewohnt - wesentliche Hinweise, für den, der an der Einnahme eines Landes interessiert ist. Um so mehr erstaunt es, daß seine Hinweise auf Befestigungsanlagen skizzenhaft bleiben. Mehr, als daß eine Stadt auf zwei oder drei Seiten vom Meer umgeben, zum Land hin mit festen 981

Wilhelm von Boldenseie, loc. eit., S. 258 .

7. Wilhelm von Boldenseie Hodoeporicon ad Terram Sanctam

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oder weniger festen Mauern gesichert sei und im übrigen einen guten oder nicht so guten Hafen besitze, erfahren wir nicht. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse werden von ihm erstaunlich selten thematisiert. Eher geht er auf das mögliche Wohlleben in Outremer ein. Hier schreibt, so wirkt es, ein Hochadliger für andere Hochadlige, die das gute Leben kennen und schätzen. Wilhe1m löste sich aus einer Gemeinschaft, von seinem Orden, um in einer anderen nach Kleinasien und ins Heilige Land zu reisen. Er ist mit seinen Mitreisenden verbunden, geht auf gemeinsame Erlebnisse mit ihnen ein, nennt in seinem Brief an den Abt von Königssaal sogar seinen Diener mit Namen. Es ist unklar, warum er drei seiner Diener im Heiligen Land ließ, die unter so erbärmlichen Zuständen ihr Dasein fristeten, wie sie Ludolf von Sudheim beschreibt. Wilhelm geht in seinem Text auf diesen Abschied nicht ein. Die Diener selbst sprechen gegenüber Ludolf von keinem Verrat, nur von unglücklichen Umständen. Es erstaunt umso mehr, daß die Hoheiten, denen Wilhelm begegnet sein muß, in seinem Text nur mit ihren Empfehlungsschreiben präsent sind. Auf Befehl des Kaisers von Byzanz durfte er die heiligsten Reliquien des Christentums besichtigen, der Sultan von Ägypten gab ihm einen Geleitbrief, den er ausführlich in seiner ganzen Blumigkeit zitiert - doch wer sie sind, wie sie ihm begegneten, welche Gespräche geführt wurden, wird dem Leser vorenthalten. Nicht jedoch dem Kardinal von Talleyrand, so ist zu vermuten. Wilhelm schweigt sich möglicherweise gerade deswegen über den Sultan aus, weil er ihn zutiefst verachtet. Liest man seine bitterböse Tirade über Mohammed, den Vorkämpfer und Verbreiter scheußlichster Perfidie, wie er ihn nennt 982 , so bestehen keine Zweifel darüber, daß ein eventuelles Gespräch in gespannter Atmosphäre verlaufen sein dürfte. Wir erfahren aus diesem Text mehr über den Autor als über seinen Gegenstand. Hier steht uns eine Person in all ihrem Facettenreichtum gegenüber. Wilhelm von Boldenseie hat dem Kardinal von Talleyrand Bericht erstattet - seinen Lesern hat er ein Stück seines Lebens geschenkt.

982

Wilhe1m von Boldenseie, loc. cit., S. 246.

11 v. Samson-Himmelstjema

V. Der Typus Pilger in den als Berichten überlieferten Texten Die vielen, an die Pilger gerichteten Fragen dieser Arbeit waren unterfüttert von der Annahme, daß sich insbesondere in den Authentizität vorgebenden Texten eine Entwicklung ablesen ließe. Es bräche, beispielsweise, ein von Vorurteilen behafteter, bornierter Eurozentriker auf, der dank seiner positiven Erfahrungen im Heiligen Land geläutert zurückkehrt, um in seinem Bericht als früher Vorläufer Nathans des Weisen den Daheimgebliebenen Toleranz zu predigen. Eine zweite Wunschthese, auf Grund der Analogie zur Entwicklung des Pilger-Motivs in der fiktionalen Literatur geboren, war die lineare Entwicklung des Pilgertypus mit dem Fortschreiten der Geschichte - je näher wir dem 21. Jahrhundert rücken, so die Idee, desto weniger stereotyp die Berichte, desto konturierter und eigenständiger ihre handelnden Personen/Erzähler. Wäre dies das einzige Anliegen der Arbeit gewesen, so hätte sie ihr Ziel gründlich verfehlt. Eine lineare Entwicklung konnte nur in einer Hinsicht festgestellt werden: Mit jedem Bericht, der vorliegend betrachtet wurde, wurde deutlicher, daß weder das eine noch das andere zu konstatieren ist. Johannes von Würzburg, der um 1165 seinen Text verfaßte, ist in keiner Weise eine weniger markante Persönlichkeit als Wilhelm von Boldenseie, der ca. 1333 schrieb. Burchard von Straßburg, der Diplomat auf der Suche nach Saladin, und Theodericus, der trotz allem Wunsch, uns Christi Leiden näher zu bringen, dennoch die Befestigungsanlagen der beschriebenen Städte nicht außer Acht lassen mag, Wilbrand von Oldenburg, der kampfes lustige Bischof und Literat, der auch sich selbst präsent macht in seinem Text, und Philippus, der uns streng ermahnt, wohin wir genau zu gehen haben (" deinde vadit homo recte itinere ... ") - sie alle treten in ihren Texten als klar konturierte Charaktere hervor. Der einzige, der tatsächlich etwas blaß bleibt, ist Heinrich der Löwe, obwohl gerade er in seiner Rolle als aufstrebender Herrscher im Mittelpunkt der Chronik Arnolds von Lübeck steht. Dennoch haben wir einiges gelernt. Etwa, daß die Überlieferung eines Textes als Pilgerbericht noch lange nicht bedeutet, daß dieser es auch ist. Als Beispiel sei Burchards "ltinerarium ad Terram Sanctam" genannt, das eher ein Bericht am Heiligen Lande vorbei ist als in es hinein, würde er nicht von den wirtschaftlichen Gegebenheiten und den Einnahmequellen des (zu erorbernden) Landes schreiben. Umgekehrt ist es im Falle Wilbrands, der uns einen harmlosen Bericht serviert, obwohl er selbst angibt, mit Hermann von Salza in geheimer Mission im kaiserlichen Auftrag gereist zu sein.

V. Der Typus Pilger in den als Berichten überlieferten Texten

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Von Interesse ist, daß die ursprünglich gestellten Fragen nach den persönlichen Reaktionen der Autoren fast gänzlich unbeantwortet bleiben. Das innere Erleben wird - außer im Falle von Johannes von Würzburg mit seiner in Verse gefaßten Empörung - nur mittelbar spürbar, etwa in Theoderichs Beschreibung des österlichen Feuerwunders. Manches läßt sich dabei aus den sachlichen Gegebenheiten erklären: Einsamkeitsgefühle kommen nicht auf, weil man in Begleitung reiste. Die anfangs postulierte "Freiheit auf Zeit" kann von diesen Herren gar nicht als besonders empfunden worden sein, denn sie waren so hohen Ranges, daß sie grundsätzlich frei waren - oder eben, wie im Falle Heinrichs des Löwen zu vermuten ist, weiter in ihrer Rolle gefangen. Entsprechend hatte man Kontakt zu anderen weitestgehend innerhalb der Reisegruppe, oder im Zuge "offizieller" Besuche bei ebenfalls hochrangigen Persönlichkeiten. Einzig von Wilhelm von Boldenseie wissen wir, daß er sich eines Dolmetschers bediente und sich über diesen mit Fremden unterhielt, um mehr über die Grabeskirche zu erfahren. Für den täglichen Bedarf sorgten wohl bei der Mehrheit der Erzähler Bedienstete, die ihre Erlebnisse allerdings nicht niederschrieben. Sie konnten jedoch, wie es bei den Dienern Wilhelms von Boldenseie der Fall war, auch im Heiligen Lande bleiben. Diese renegati waren wohl ein früher Fall dessen, was man später im britischen Empire als "gone native" bezeichnete. Die etwas unfreundliche Bezeichnung der abgefallenen Diener belegt im übrigen die mißtrauische Haltung gegenüber der Fremde, die von den Erzählern an den Tag gelegt wird. Die Gebräuche oder Glaubenshaltungen der Muslime werden, wenn sie denn überhaupt thematisiert sind, eigentlich nur in den sensationelleren Aspekten betrachtet - als Beispiel sei Burchards von Straßburg Gespräch über die Jungfrauen angeführt, derer sich Muslime nach ihrem Tod angeblich im Himmel bedienen dürfen. Zum Erleben der Fremde der Erzähler, ein wesentlicher Aspekt der Betrachtung der Pilgerberichte, ist ebenfalls anzumerken, daß dieses wenn überhaupt, dann eher am Rande thematisiert wird. Vielmehr suchen die Autoren im Schreiben der Texte das Vertraute: sie zitieren bekannte Texte oder Figuren aus der Literatur, und schaffen so bereits im Schreiben (das ja oft auch nach der Rückkehr stattgefunden hat, gehen wir davon aus, daß die Autoren wirklich gereist waren) und im Zuge der späteren Rezeption eine Nähe zu ihren Hörern!Lesern. Der deutlichste Beleg hierfür ist der von Theoderich angestellte Vergleich zwischen der Rotunde der Grabeskirche mit der des Aachener Münsters - um die Grabeskirche zu begreifen, greift er auf ihm bekannte, heimatliche Parameter zurück. Es ist anzunehmen, daß die Intention bei der Niederschrift der als Pilgerbericht überlieferten Texte auch gewesen sein kann, denen, die nicht ins Heilige Land reisen können, ein spirituelles Pilgerfahrterlebnis zu ermöglichen. Wohlgemerkt: auch. Die Texte sind so sehr angereichert mit anderen Themen, daß diese Stoßrichtung nur 11*

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V. Der Typus Pilger in den als Berichten überlieferten Texten

als eine unter mehreren gelten kann - womit sie die facettenreiche Persönlichkeit ihrer Autoren widerspiegeln. Anstatt der also etwas enttäuschend ausbleibenden Antworten auf die eingangs gestellten Fragen hat sich eine Erkenntnis ergeben, die für das Fortschreiten in den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit von großer Bedeutung ist: Der postulierte, reine Tatsachen- und Pilgerbericht ist so nicht gegeben. In den Texten wird munter vermischt, fiktionale Helden werden zu historischen Persönlichkeiten, eher douteuse Begebenheiten werden mit heftiger Beteuerung oder unter Hinzuziehung von Gewährsleuten zur reinen Wahrheit erklärt, und wir stellen fest, daß uns die Gewißheiten in diesen Berichten davonschwimmen. Wenn ein Wirtschaftsbeamter aus Straßburg über Bordelle für die Sodomiter und den Verbleib benutzter Jungfrauen schwadroniert haben will (Burchard), ein Chronist die Genealogie des Schwanenritters bemüht und mit Dichtungen Politik der hintersinnigsten Art betreibt (Amold), wenn ein Autor schließlich selber dichtet, um seiner Empörung Luft zu machen (Johannes) - wo räumen wir da unsere schöne Gewißheit hin, es sei in der Literatur alles fein säuberlich getrennt, Fiktion ist erfunden und Bericht schildert Tatsachen? Im folgenden wird also zu betrachten sein, welche Erkenntnisse uns der Typus des Pilgers in der erzählenden Dichtung weiter über die Dimensionen der Existenz eines Pilgers vermitteln kann.

VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen 1. Der Pilger in der sogenannten Spielmannsepik Mit einer Untersuchung über die sogenannte Spielmannsepik begibt man sich automatisch in die von Curschmann beklagte "Terminologiemisere" I, denn die unter dieser Bezeichnung zusammengefaßten Epen sind einander so ähnlich nicht, daß sie widerspruchslos unter einer solchen Überschrift zusammengefaßt werden könnten. Immerhin: "Eine gewisse Einheit ist am ehesten in der Motivik gegeben"2, und so ist festzustellen, daß in allen der sogenannten Spielmannsepen Pilger als gemeinsames Element vorkommen. Auf Grund dieser Motivgemeinschaft, der allgemein üblichen Datierung ins 12. Jahrhundert und der auch noch in jüngster Zeit postulierten Verfasserschaft durch einen "spilman" werden die Dichtungen in der Literaturwissenschaft als zusammengehörig angesehen, wenn es auch in Einzelfragen noch sehr divergierende Meinungen gibt 3• Im folgenden werden die üblicherweise als "Spielmannsepen" bezeichneten Erzählungen zusammen mit den fragmentarisch überlieferten Dichtungen "Graf Rudolf" und "Dukus Horant" behandelt. In ihnen wird die Orientmotivik häufig in Zusammenhang mit einer Brautwerbungsgeschichte gebracht - mit Ausnahme des "Herzog Ernst". Dennoch sind die Dichtungen sehr unterschiedlich, wie es auch die in ihnen vorgestellten Pilgertypen sind.

I Michael Curschmann, Spielmannsepik. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907 bis 1965. In: DVjs 40 (1966). S.434-478 und 597-647. S.646. 2 Curschmann, S. 598. 3 Die Frage der Entstehungszeit der Epen wird lebhaft diskutiert. Vgl. Helmut de Boor, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770-1170. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart. Hrsg. von H. de B. und Richard Newald. Bd. 1). München 91979. [Zitiert als: de Boor, Bd. 1.]; ders.: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil. 1250-1350. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart. Bd. 3,1). München 41973. [Zitiert als: de Boor, Bd. 3,1.] Die literarhistorische Einordnung ist ähnlich umstritten. Walter Johannes Schröder, Spielmannsepik. Stuttgart 21967 (Sammlung Metzler Band 19). S.15. [Zitiert als: W. J. Schröder, Spielmannsepik.] und Ewald Erb, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis 1160. Band 1, Halbband 2. Berlin 1964. S. 753-796. S.764. weigern sich, die Werke in irgendeinen literarhistorischen Zusammenhang zu setzen. Hermann Schneider, Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Heidelberg 1925. S. 182. postuliert demgegenüber eine große Ähnlichkeit der Dichtungen, die wiederum Curschmann, S. 439 nicht mehr gelten lassen will.

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

a) "König Rother" Eine Handschrift des 12. Jahrhunderts (H) überliefert neben drei Fragmenten fast vollständig den Text des wohl von einem Rheinländer für einen bayrischen Auftraggeber 4 geschriebenen Epos. Eine weite Verbreitung ist dem Werk, dessen "Original [... ] seiner Reimkunst nach in die 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts"5 gehört, nicht vergönnt gewesen. Dies ist verwunderlich, da die zeitgeschichtlichen Bezüge in der Dichtung bemerkt worden sind 6 • Zwei Erzählstränge sind festzustellen 7 , in beiden werden Pilger genannt. Der Szene, die das Motiv der Pilgerfahrt einführt, geht eine lange Brautwerbungsgeschichte voraus, die zuletzt den Herrscher von Bari 8, Rother, zu seiner Braut, Tochter des Kaisers Constantin, führt. Da die von ihm ausgesandten Brautwerber von Constantin gefangengesetzt worden sind, bittet er, der in der Rolle als sein eigener angeblich vertriebener Lehensmann Dietrich zu ihrer Rettung gekommen ist 9 , die Königstochter um Hilfe bei der Befreiung seiner Lehensleute, nachdem seine von ihm selbst unternommene Werbung um ihre Gunst ein erfolgreiches Ende gefunden hat. Die Reaktion der Prinzessin wird wie folgt beschrieben: 4 V gl. de Boor, Bd. I, S.239; Erb, S.770; Curschmann, S.460; und K. v. Bahder, König Rother. Halle 1884. S.6. 5 Curschmann, S. 462. 6 Als historischer Hintergrund werden unter anderem geltend gemacht: der erste Kreuzzug mit dem byzantinischen Kaiser Alexius Komnenos als Vorlage für Konstantin (Friedrich Wilken, Geschichte der Kreuzzüge. Leipzig 1813. Band 2, Anhang 5.), der zweite Kreuzzug und die Werbung Rogers 11. von Sizilien um eine byzantinische Prinzessin für seinen Sohn, mit Manuel Komnenos als Vorlage für Konstantin (Friedrich Panzer, Italische Normannen in deutscher Heldensage. Frankfurt 1925.), der dritte Kreuzzug mit Heinrich VI. als Vorlage für die Figur Rothers und Kaiser Isaak für die Figur Konstantins (Klaus Siegmund, Zeitgeschichte und Dichtung im ,König Rother' : Versuch einer Neudatierung. Berlin 1959. (Philologische Studien und Quellen). Einen Überblick bieten de Boor (Bd.l, S.255) und Curschmann (S. 464 ff.), wobei de Boor zur Frage des byzantinischen Gegenspielers Rothers feststellt, es drehe sich bei Constantin um den "Typus des griechischen Kaisers schlechthin". Kaplowitt sieht ebenfalls für den "König Rother" eine "generalliterary reflection" der jüngeren, aber auch älteren historischen Ereignisse als mög1ich (S. 258 ff.). M eves kommt zum Schluß, daß doch eine konkrete Figur hinter dem historischen Klischee "Constantin = griechischer Kaiser" stehen könnte (S. 47 ff., hier besonders S.53). 7 de Boor, Bd.l, S.239; Curschmann, S.627. Ob in der Handschrift Hein Schreiberwechsel auch die inhaltliche Zweiteilung bei v.2934/35 (Günter Kramer, Zum König Rother. Das Verhältnis des Schreibers der Heidelberger Hs. (H) zu seiner Vorlage. Beiträge (Halle) 82 (1960). S. 1-82. S. 6f.) in RI und RII bestätigt (Vgl. Otto Weisleder, Die Sprache der Heidelberger Handschrift des König Rother (Lautlehre), Greifswald 1914. S. 27 f.), ist umstritten. Schröder hält dem entgegen, daß "alle Teile [00') sich zu einer Einheit zusammen[schließen)" (w. J. Schröder, König Rother. Gehalt und Struktur. In: Spielmannsepik. Hrsg. von W.J. S. Darmstadt 1977. S.323-350. S.338.) [Der Sammelband wird im folgenden als Spielmannsepik zitiert.) 8 Bari war der größte Einschiffungshafen für alle Reisende ins Heilige Land. 9 Dieses Motiv des treu seine Vasallen suchenden und befreienden Lehensherren tritt noch einmal in den "Wolfdietrichen" auf (Wolfdietriche. In: Deutsches Heldenbuch. Dritter Teil. Hrsg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke. Dublin, Zürich 1968), aus denen auch der Name des Berchter von Meran, des wichtigsten Lehensmannes Rothers und auch Wolfdietrichs, entnommen ist.

I. Der Pilger in der sogenannten Spielmannsepik

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Die "Ivncvrowe lac vber nacht. We groz ir ge dance was. Alsiz zo deme tage quam Einin stab sie nam Vnde slovf in ein swarziz gewete. Alse sie sich gewilot hette Einin palmen sie ober ir achslen nam Alse sie vz deme lande wolde gan Vnde hob sich wil drate zo iris vater kemenaten Vnde clofphete an daz turlin. Vf dete do constantin. Also he die magit an gesach Wie listichliche sie zo ime sprach Nv gebvt mir herre vater min Moter er sv lt gesvnt sin. Mir ist so getrovmot Mer ne sende der waldindicger goth Sinin botin vnder dan. Ich moz in abgrunde gan Mit levendigem liphe. Des nist ne hein zwivil Is ne mac mich neman ir wenden. Ich ne wille daz eie lende Buwin immir mere zo troste minir sele."'o

Stab, schwarzes Gewand und ein Palmzweig 11 signalisieren ihren Willen, aufzubrechen, den ihr Vater entsetzt zur Kenntnis nimmt: "Neina lieve tochter min Sage mer waz du willis ia wegich der dir helle." 12 10 König Rother. Hrsg. von Theodor Frings und Joachim Kuhnt. Bonn 1922. vv. 2315 ff. "Die Nacht über lag die Jungfrau und wälzte ihre Gedanken. Als es tagte, nahm sie einen Stab und schlüpfte in ein schwarzes Gewand. Nachdem sie sich verschleiert hatte, legte sie einen Palmzweig auf ihre Schulter, als wolle sie außer Landes reisen, und ging dann eilig zur Kemenate ihres Vater und klopfte an das Türchen. Konstantin öffnete, und als er das Mädchen sah, sprach sie listig zu ihm: ,Mein Vater, erlaubt mir, zu gehen; Mutter, bleibt gesund. Ich hatte einen Traum, daß, wenn mir unterdessen der allmächtige Gott nicht seinen Boten schickt, ich bei lebendigem Leibe zur Hölle gehen muß. Daran gibt es keinen Zweifel, niemand kann das von mir abwenden, daß ich fortwährend die Fremde bewohnen werde, zur Sicherheit meiner Seele. '" 11 Der hier zusätzlich aufgeführte aufgeführte Schleier ist keine weiblichen Pilgern übliche Requisite. Möglicherweise ist es ein gebräuchlicher Bestandteil der Reisekleidung adliger Damen. 12 König Rother, vv. 2342 ff. "Nein, meine liebe Tochter! Sage mir, was du willst: ich stehe dir gegen die Hölle bei."

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

Das beeindruckende Ergebnis dieser etwas einschüchternden Zusage von Unterstützung kann als Beleg für die Interpretation geltend gemacht werden, die der Brautverweigerung einen Machtkampf 13 zugrundeliegen sieht. Da Constantin "niemanden als ranggleich anerkennen" 14 will, kann es keinen Schwiegersohn geben. Ist aber seine Tochter, deren ständige Anwesenheit Voraussetzung für die Äußerung seines politischen Machtwillens ist, auf Reisen, hat Constantin keine Möglichkeit mehr, seine Macht dergestalt zu demonstrieren, daß er Brautwerber töten läßt. In diesem Zusammenhang erscheint es passend, daß die Tochter Konstantins anonym bleibt: sie ist entweder "ivncvrowe" oder "die magit". Ihr Wille zum Aufbruch in die Anonymität des Pilgerns entspricht dieser Namens- und Identitätslosigkeit. So wie sie die Rolle "Prinzessin im heiratsfahigen Alter" erfüllt, kann sie die Rolle "Pilgerin" annehmen 15. Es kommt zum Komprorniß der anonymen Pilgerin mit ihrem Vater: sie darf die Boten drei Tage lang "vazen vnde baden"16. Was vorher I? der Königin verweigert wurde, gestattet Constantin seiner Tochter gegen Stellung eines Bürgen. Diese Aufgabe übernimmt Dietrich/Rother und es gelingt ihm, seinen Leuten Linderung zu verschaffen und Trost zu spenden. Dabei wird er von ihnen als König Rother erkannt. Eine listig eingeleitete Entführung der willigen Prinzessin beendet den Aufenthalt Rothers und seiner Mannen in Griechenland. Fast scheint es, als stünde einem glücklichen Ende nichts mehr entgegen, doch die Rückentführung durch Constantin erfolgt sogleich im Gegenzug, und so muß Rother wiederum aufbrechen. Diesmal allerdings reist er mit einem großen Heer, das er zuvor in der Nähe von Konstantinopel in einem Wald verborgen hielt. Für sich selbst hat er folgenden Plan: ,,00 sprach koninc riche Harde wisliche. Vrunt inde man Ich wille uor constantine gan In walleres wise Weruen mine spise Durch numaris willen."18

Zwei seiner VasalIen begleiten ihn: W.J. Schräder, König Rother. S. 332 f. W.J. Schräder, König Rother. S. 332. 15 Einzige vergleichbare Figur ist hier Bride im "Orendel", die allerdings tatsächlich aufbricht, gefangengenommen wird und erst dann ans Ziel kommt. Doch Bride besitzt im ganzen Epos eine sehr viel stärkere Identität, ist von Anfang an namentlich bekannt und sogar eigenständige Herrscherin. 16 König Rother, v.2346. 17 König Rother, v.1190ff. 18 König Rother, vv. 3657. "Da sprach der mächtige König sehr weise zu ihnen: ,Freunde und Vasallen, ich will zu Konstantin gehen nach Art eines Pilgers und mein Essen damit verdienen, daß ich ihm Neuigkeiten erzähle." 13

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"Do sluffen die helede guode In pilegrimis gewete. Der herzoge uon meran Vn luppolt der getruue man Die uolgitin deme koninge."19

Sogleich treffen die drei auf einen "guoten recken"20, den Rother freundlich grüßt und dann fragt: "waz dar meres ware. Ich bin ein elender man. Na miner spise moz ich gan. Nu sage mir truch herre min Ich bin ein arin pilegrim Vnde uare durch die riche Vii gamerliche. So moz der nothafter man Dicke zo houe gan. Dar uragit man den wallere Gerne numare. Sagistu mir icht durch goch Des wirt dir wole gelonoth."21

Dieser Aspekt des Pilgerwesens: daß man bei Hofe aufgenommen wird, weil man interessante Neuigkeiten zu erzählen hat, wird immer wieder in der erzählenden mittelhochdeutschen Dichtung anzutreffen sein, doch selten ist er so deutlich formuliert wie hier. Fast scheint es, auch durch die ausführliche Begründung, als sei er noch ganz neu und müsse wiederholt zur Begründung für die Wahl dieser List eingeführt werden. Der Angesprochene erzählt gerne und ausführlich von den Taten Rothers am Hofe Konstantins. Während dieser Rekapitulation nennt er seinen Zuhörer "guote pilegrim" und "wallere"22 und bestätigt damit die Wirkung des Kostüms; ein Echo der Bestätigung, die die Verkleidung der Tochter durch die erschrockene Reaktion Konstantins erhalten hatte. Gleichzeitig dürfte diese wiederholte Bezeichnung des eigentlichen Helden als armseliger Pilger durch den Kontrast der Situationen ausgesprochen humoristisch gewirkt haben, wie dies auch für die Szene an sich - ein Held 19 König Rother, vv. 3687ff. "Da schlüpften die tapferen Helden in das Gewand eines Pilgers. Der Herzog von Meran und Luppolt, der treue, folgten dem König." 20 König Rother, v.3693. 21 König Rother, vv. 3697 ff. ,,[ ... ), was es an Neuigkeiten gäbe. ,Ich bin fremder Reisender und muß, um mein Essen zu bekommen, auftreten. Nun sage mir, verehrter Herr, ich bin ein armer Pilger und reise sehr armselig durch die verschiedenen Länder. Wer Not leidet, der muß oft an den Hof gehen: da fragt man den Pilger gerne nach Neuigkeiten. Wenn du mir, aus Liebe zu Gott, etwas erzählst, wird dir das sehr gelohnt werden." Zu eh statt t vgl. v. Bahder, Zum König Rother. In: Germania 29 (1884). S. 257-300. S. 271. 22 König Rother, v.3785 und v. 3789.

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

bekommt seine eigenen Heldentaten noch einmal erzählt - angenommen werden kann. Als Rother wirkliche Neuigkeiten hört, daß nämlich soeben die Hochzeit seiner Frau mit dem Sohn eines Heidenkönigs stattfindet, eilt er in die Stadt, wo "Constantin der riche Saz mit grozin creftin Zo einir wirtschefte Vf ein im erlichen sal. Dar was michil schal Vor den richen kuningen Von wostin babilonie. Rother quam mit listin Zo constantinis tiske." 23

Unbemerkt kriechen Rother und seine Begleiter unter den Tisch. Rother gibt sich seiner Frau zu erkennen und wird auf Grund ihres Stimmungswechsels als anwesend vermutet. Constantin mahnt Rother bei seiner Ehre, das Versteck zu verlassen, ehe man ihn wie einen "vluchtigin dieb"24 suchen müsse. Auch Berchter rät Rother zur Aufgabe, Gott werde sie schon beschützen. Die beiden treten hervor - mit keinem weiteren Wort wird ihr merkwürdiger Aufzug erwähnt. Dies ist insofern erstaunlich, als sie sich immerhin als arme Pilger verkleidet haben, als Menschen, die, wenn sie nicht um ihr Brot singen, so doch dafür erzählen müssen - man würde vermuten, daß sie dies wenigstens dem Erstaunen der anderen preisgäbe, da sie schon nicht spotten. Nichts dergleichen. Die Identität Rothers und Berchters ist so schnell wiederhergestellt, wie sie aufgegeben wurde. Der Ausgang des "König Rother" - Entdeckung des Eindringlings, Verurteilung zum Tode und dramatische Rettung in letzter Sekunde durch das versteckte Heer - entspricht dem im untenstehend behandelten "Salmän und Mörolf". Es wird noch auf die Rettung einzugehen sein. Ein Prestigeverlust durch die Verkleidung als Armer ungewissen Standes ist anzunehmen. Zwar wird dies in der Dichtung nicht kommentiert, doch ist möglicherweise mit dieser Episode "ein verändertes Bild vom Wesen der Herrschaft"25 geschaffen. Der König erniedrigt sich bewußt, um listig den maximalen Überra23 König Rother, v. 3830ff. "Der mächtige Konstantin saß mit vielen Kriegern bei einem Festmahl in einem prächtigen Saal. Da war großer Freudenlärm unter den mächtigen Fürsten aus Wüsten-Babylon. Mit seiner Schlauheit war es Rother gelungen, an den Tisch Konstantins zu kommen." Kramer übersetzt hier mißverständlich: "Rother drang mit verwegener List bis zu Konstantins Tafel" (Günter Kramer, König Rother. Geschichte einer Brautwerbung aus alter Zeit. Berlin 1961.). Ähnlich übersetzt Robert Lichtenstein in: King Rother, University of North Carolina Press. Chapel Hili 1962. S.87: "Then Rother crept with sly design / to the table of King Constantine." Die List Rothers besteht in der Verkleidung als Pilger, die ihm den Zugang zum Fest ermöglicht, und auf sie, nicht auf eine neue, "verwegene List", bezieht sich der Dichter. 24 König Rother, v. 1919. 25 W. J. Schröder, König Rother. S. 335.

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schungseffekt zu erzielen und damit seine Frau zu retten: die Demut, ja fast Tölpelhaftigkeit 26 ist Ausdruck politischer Klugheit. Allerdings ist es nicht Sinn der Pilgerkostümierung, "Constantins Leute für sich zu gewinnen, so daß als Gegner nur die Heiden bleiben,m. Seit Rothers erstem Aufenthalt als Dietrich sind diejenigen, die zu seiner Befreiung eilen, seine Lehensleute. Sie sind sich dessen sehr bewußt: er ist der, "der unsich al generet hat"28. Nicht die Pilgerverkleidung Rothers polarisiert Christen und Heiden 29 , sondern ehemalige Lehensleute des Constantin bewahren ihren neuen Lehensherm vor dem Tod. In der späteren Schlacht mag sich "Begeisterung für den heiligen Krieg der Christen gegen die Heiden"30 manifestieren. Doch sollte daran erinnert werden, daß Constantin ebenfalls Christ ist und trotzdem auf der Seite der Heiden steht. Es scheint eher das Lehensverhältnis zwischen Rother und den ehemals an Constantin gebundenen Lehensleuten im Vordergrund zu stehen, neben einer deutlich werdenden Verachtung für den griechischen Kaiser 3l . In dieser Szene wird ein Motiv aus dem ersten Teil des König Rother (R!) wiederholt, ohne daß darauf direkt Bezug genommen wird: die vorgetäuschte Pilgerfahrt als List, um Zugang zu Menschen zu bekommen, die sonst nicht erreichbar wären. In RI sind es die Boten Rothers, in Rll ist es die Frau Rothers 32 . Der prächtige Auftritt Dietrich/Rothers in RI und die listig eingesetzte Demut Rothers in Rll bieten ein "Doppelbild", das möglicherweise die Gestalt des Rother in "ihrer gewollten Fülle und Rundung"33 erscheinen lassen soll. Allerdings sollte darauf hingewiesen werden, daß eine wirkliche Hinwendung zur Demut 34 wohl nicht in diesem als Kriegslist eingesetzten Pilgerdasein gesehen werden kann, sondern erst in dem späteren Eintritt Rothers in ein Kloster. Die Pilgerszene in Rll ist allerdings nur bedingt Echo der Pilgerszene in Rl. Sie stellt auch einen Kontrast zum Auftreten Dietrich/Rothers in Konstantinopel dar. So 26 V gl. Wentzlajf-Eggebert, der das Hervortreten der beiden aus dem Versteck "ungeschickt" und nur in der "christlichen Glaubenserfahrung" (S. 121) zu begründen sieht, die den beiden Vertrauen auf eine schonungsvolle Behandlung schenkt. 27 W.J. Schröder, König Rother. S. 337. 28 König Rother, V.4034. 29 Vgl. WJ. Schröder, König Rother, S. 337. 30 Wentzlajf-Eggebert, S. 115. 31 Kaplowitt, Influences, S. 54. 32 W.J. Schröder, König Rother, findet S. 342, durch die Gefangennahme und Verurteilung, die er mit dem Pilgerkostüm einleite, erreiche es Rother erst, seine Henker zum Versteck seines Heeres zu führen und gleichzeitig Amold, seinen Lehensmann, auf sich aufmerksam zu machen. 33 WJ. Schröder, König Rother. S. 344. 34 Vgl. Wentzlajf-Eggebert, S. 116ff., der eine solche Haltung Rothers bereits vorher sieht: in dessen Verzicht auf Rache in Konstantinopel. Dazu muß allerdings bemerkt werden, daß die Riesen Asprian und Widolt in ihren Reden die Unwürdigkeit einer Rache erkennen, und Rother erst noch von Berchter überzeugt werden muß, nicht Vergeltung zu üben.

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

kommt er in RI "in recken WiS"35, aber reich übers Meer gefahren, in RII mit großem Heer im Hinterhalt, aber vermeintlich arm 36. So mietet er sich in RI im ersten Haus am Platze ein und hält dort prächtiger Hof als Constantin im Schloß, während er in RII unter dem Tisch einer Gastwirtschaft hervorkriecht. Die beiden wichtigsten Figuren der Brautwerbungsgeschichte erscheinen beide im Pilgerkostüm, das sie in Verfolgung eines bestimmten Zweckes anlegen: die Befreiung des jeweils anderen aus einer mißlichen Lage. Die beiden Szenen stehen in Bezug zu einander, verweisen jedoch auch unabhängig von einander auf eigene Erzählzusammenhänge. b) "Herzog Ernst" Die Dichtung vom Herzog Ernst wird immer wieder in die Nähe derjenigen des "König Rother" gerückt. Sie ist in mittelfränkischem (fragmentarische Handschrift Ades 12. Jahrhunderts) bzw. rheinfränkischem (Handschrift B des 13. Jahrhunderts) Dialekt verfaßt, möglicherweise für einen bayrischen Auftraggeber37 . Anders als der "König Rother" erfreute sich der Stoff einer außerordentlichen Beliebtheit, wurde neu gedichtet (G: Bänkelsängerlied), übersetzt (drei lateinische Fassungen) oder in Prosa umgeschrieben (F). Die Widerspiegelung historischer Ereignisse in der Dichtung 38 ist sowohl für die Rahmenerzählung wie auch für die Orientreise festgestellt worden. Der "Herzog Ernst" bietet keine Brautwerbungsgeschichte, dafür aber das "Kreuzzugserlebnis in einer phantasiebeschwingten Form"39. Im Verlauf der Erzählung von Vergehen, Buße und Versöhnung zwischen Herzog Ernst und seinem Stiefvater, dem Kaiser, gibt es zwei Passagen, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind. Die erste schildert folgende Vorgänge während des Aufenthaltes von Herzog Ernst im Heiligen Land: "die zit kamen über mer bilgerin von diutschem lande, die dem wigande König Rother, V.583. Vgl. W. J. Schröder, König Rother. S. 342. 37 de Boor, Bd. I, S. 243; W. J. Schröder, Spielmannsepik, S. 39; davon abweichend Curschmann, S.469f. 38 Zuerst von Karl Bartsch in seiner Ausgabe: Herzog Ernst. Wien 1869. S. CXXVIII. Eine längere Diskussion hat es in der Forschung um das Verhältnis des "Herzog Ernst" und das Haus Andechs gegeben: WentzlajJ-Eggebert, S. 112; Hans Neumann, Die deutsche Kernfabel des ,Herzog-Ernst' -Epos. In: Euph.45 (1950). S. 140-164; Friedrich Neumann, Das Herzog-ErnstLied und das Haus Andechs. In: ZfdA 93 (1964). S.62-64; Hans-Friedrich Rosen/eid, Das Herzog-Ernst-Lied und das Haus Andechs. In: ZfdA 94 (1965). S. 108-121; Kaplowitt, Herzog Ernst and the Pilgrimage of Henry the Lion. In: Neophil. 52 (1968). S. 387-393. vergleicht in diesem Artikel, der weitgehend dem Kapitel 11, 7 seiner Dissertation (S. 297-309) entspricht, setzt die Pilgerfahrt Heinrichs des Löwen in Beziehung zu der Dichtung. 39 de Boor, Bd.l, S.247. 35

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diu rehten maere sageten und in niht verdageten wie man sin dishalp gedähte. vii maniger ouch von im brähte maere so er her wider kam. da von der keiser dö vernam von im diu rehten maere daz er ze Jerusalem waere und waere vii wol gesunt. daz tet im ein ritter kunt der in dort hate gesehen. ,,40

Nachrichtenübennittler sind also diese Pilger, ganz wie es im "König Rother" deutlich geworden ist. Und sie treten vennittelnd zwischen den Herzog, der sich immer mehr von der Heimat entfernt hat, und den Kaiser, dem sie den Stiefsohn durch die Schilderung seiner Heldentaten näher bringen können. Den Menschen, die selber zwischen zwei Welten leben, gelingt damit die Versöhnung zweier, die in unterschiedlichen Umgebungen auf verschiedene Weise leben. Es ist erwähnenswert, daß die Annäherung von Herzog Ernst an seinen Stiefvater im sogenannten Bänkelsängerlied 41 des 15. Jahrhunderts bewußt durch ihn selbst verfolgt wird: Des Nachts liegt er im Bett, "Do gedacht er an die achte" und faßt den Entschluß, den Kaiser "Mit guoten worten sere" zu grüßen - wie es im anderntags verfaßten Brief an seine Mutter geschieht42 • Der Kaiser hebt, wie zu erwarten, den Bann auf, und der Herzog wird aufgefordert, nach Hause zu kommen, wo er "das peste land" erhält und später selber Kaiser wird 43 • Am Ende des "Herzog Ernst" findet sich eine weitere Pilgerszene. Der Herzog und seine Männer sind in die Heimat zurückgekehrt und wollen sich dort mit dem Kaiser versöhnen. Die Mutter Ernsts hat sie ennutigt, am Gottesdienst teilzunehmen, und so treten sie nach der Evangelienlesung vor den Kaiser: "dise ensfimten sich niht mere: sie kamen wullen und barfuoz. sie vielen dem künige an sinen fuoz: siner gnaden sie in baten."" 40 Herzog Ernst, vv. 5704 ff. "In dieser Zeit kamen Pilger aus dem deutschen Reich über das Meer gereist, die dem Helden die Wahrheit sagten und ihm nicht verschwiegen, wie man dort über ihn dachte. So mancher brachte auch von ihm [dem Herzog] Neuigkeiten zurück, wenn er wiederkehrte. Auf diese Weise hörte der Kaiser nun von ihm die Nachricht, daß er in Jerusalem sei und gesund. Das sagte ihm ein Ritter, der ihn dort gesehen hatte." 4\ Das Lied von Herzog Ernst. Kritisch herausgegeben nach den Druckendes 15. und 16. Jahrhunderts von Kenneth Charles King. Berlin 1959. 42 Das Lied von Herzog Ernst, Str.80,3 und 80,10. 43 Das Lied von Herzog Ernst, Str. 82,8 und 85,7 . .. Herzog Ernst, vv. 5922 ff. "Diese [die Geächteten] warteten nun nicht länger: sie kamen, in Wolle gekleidet und barfuß, heran. Sie warfen sich dem König zu Füßen und flehten ihn um seine Gnade an."

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

Schröder schreibt in seiner Inhaltsübersicht, Ernst nähere sich dem Kaiser "als Pilger verkleidet"45. B lamires bezeichnet es wertungsfrei als "in the garb of pilgrims"46. Zwar ist eine gen aue Trennung zwischen Büßern und Pilgern problematisch, doch sind bloße Füße und Wollgewänder nicht automatisch als Hinweis auf eine Pilgerfahrt zu verstehen. Vielmehr ist diese Stelle Beleg für den der Orientreise u. a. zugrundeliegenden Bußwillen, der sich hier manifestiert. Eine mit Hilfe einer vorgetäuschten Pilgerfahrt erfolgte Aussöhnung wäre im übrigen wenig befriedigend. c) "Salman und Mörolf" Die Überlieferung dieser wohl im fränkischen Rheinland verfaßten Dichtung bietet keine Anhaltspunkte für ihre Datierung 47 • Historische Ereignisse wie die Rückeroberung Akkons durch die Christen 1191 sind als terminus ante quem non angeführt worden 48 , doch als solche von der späteren Forschung wieder verworfen worden 49 • Die Dichtung, die in der sogenannten Mörolfstrophe abgefaßt worden ist, gliedert sich in zwei Teile, deren Episoden teilweise schon im apokryphen "Testament Salomos" zu finden sind. Die Erzählungen sind dann nach Erb von "Jerusalempilgern [... ] im Abendland"50 verbreitet worden. Salmans schöne junge Frau, die Heidin Salme, ist von Fore 51 , dem Lehensherm ihres Vaters, mit ihrem Einverständnis entführt worden. Der düpierte König von Jerusalem bietet seinem Bruder, dem eigentlichen Helden der Dichtung, die Hälfte des Reiches, wenn er ihm seine Frau wieder beschaffe. Unter dem Vorwand, einen Rat einzuholen, geht Mörolf zum Juden Berman, tötet ihn und: ,,[oberthalp dem gurtei] loste [er] dem juden abe die hut; w.J. Schröder, Spielmannsepik, S.47. Blamires, Herzog Ernst, S.67. 47 Nach Curschmann ist der Stoff "vor allem mündlich tradiert und nur gelegentlich und immer wieder neu straffer zusammengefaßt worden" (S.455), während de Boor "höfische Züge [im "Salman und Morolf" sieht, die] dem Dichter wichtiger als die religiösen" sind (Bd. I, S. 251). Erb setzt dieses "exemplarischste der Spielmannsepen" (S. 796) ins 12. Jahrhundert, und macht dafür "äußere Anhaltspunkte" (S.793) wie auch "inhaltliche Momente" (S.795) geltend. Kaplowitt, Influences, loc. cit., datiert das Epos in die Zeit des dritten Kreuzzuges, da die zwischen Bewunderung und Verachtung schwankende Haltung des Dichters gegenüber den Heiden den Gefühlen der Chronisten dieser Zeit entspräche. S. 68 ff. 48 Friedrich Vogt (Hrsg.), SaJman und Morolf. Ein mittelhochdeutsches Spielmannsgedicht. Halle/Saale 1880. S. CXII und CXV. 49 Kaplowitt, loc. cit., weist S. 312 f. darauf hin, daß Akkon nur dreimal genannt wird und seine Eroberung in ganzen zwei Versen abgehandelt wird. Im übrigen werden "slat" und "burg" in der Dichtung terminologisch getrennt, und so handele es sich hier um die Zerstörung von der Burg Princians, nicht aber um die Eroberung seiner ganzen Stadt. 50 Erb, loc. cit., S. 789. 51 Daß in diesem Namen des Gegners der heidnische "Pharao" steckt, hat Vogt (S. LIX) festgestellt. 45

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er [balsamte sie und) leite sie an sinen Iip: ,nO. wil ich nimer erwinden, ich vinde dan daz schöne wip. ",52

Ein Versuch, gegenüber Salman die Verkleidung auszuprobieren, verläuft erfolgreich. Der Leser kann dem König nur Recht geben: ", [Mörolf] din liste sind wunderlich. "'53. Zusätzlich läßt Mörolf sich Stab und Tasche kommen 54 und gelobt, sie immer zu tragen, falls er die Königin nicht fande 55 • Nachdem er seinem Sohn Male alle seine Lehen übertragen hat, bricht er auf: "Mörolf urloup dö genam ze dem richen kunig Salman und zuo manigem ritter her. dö wallete er mit jamer nach der kunigin uber den se. Daz ich o.ch sage daz ist war: er walte [von einer burge ze der andem) vollen sieben jär bitz er kam gein Wendelse in daz lant [... )... 56

Der Begriff "wallen" in der Bedeutung "wandern" verstärkt den von den Pilgerattributen Stab und Tasche erzeugten Eindruck, Mörolf sei Pilger. Ähnlich geht es im "Wolfdietrich" Berhtunc, dem Ziehvater Wolfdietrichs, der auf der Suche nach seinem von der "ruhen Else" entführten Zieh sohn "wallt" und sich dafür mit Stab und Tasche ausgerüstet hat 57 • Als später Wolfdietrich die Frau entführt wird, wiederholt sich die suchende Reise: "er nam ein ruhen kotzen, er legte in an den Iip, sin swert in einen palmen worht er und suocht sin schoenez wip ... 58

Die Pilgerattribute sind hier Reiseausstattung und nicht Zeichen der Buße. Doch ist die Bedeutung des Verbums "wallen" nicht auf ein bloßes "wandern" reduziert, sondern beinhaltet auch ein Moment der Suche nach einem wichtigen Menschen. Die Beschwerlichkeit einer solchen Reise wird später im Prolog von Hartmanns 52 Salman und Mörolf, 162,1 ff. "vom Gürtel aufwärts löste er die Haut des Juden ab, balsamierte sie ein und legte sie sich an: ,nun werde ich nicht mehr zurückkehren, ehe ich nicht die schöne Frau gefunden habe"'. 53 Salman und Mörolf, 172,2. 54 Salman und Mörolf, 173,1 f. 55 Salman und Mörolf, 173,4f. 56 Salman und Mörolf, 177 ,I ff. "Mörolf erbat sich von dem mächtigen König Salman und von manchem tapferen Ritter die Erlaubnis, aufzubrechen. Dann reiste er mit schmerzlichem Verlangen nach der Königin über das Meer. Was ich Euch erzähle, entspricht der Wahrheit: er reiste von einer Burg zur anderen über ganze sieben Jahre, bis er nach Wendel se in das Land kam [... ]" 57 Wolfdietrich B. In: Deutsches Heldenbuch, Dritter Teil. 321 ff. 58 Wolfdietrich B, 396, 2f. "Er nahm eine rauhe Kutte und zog sie sich an, verbarg sein Schwert unter einem Palmzweig und suchte seine schöne Frau."

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VI. Der Pilger in den fiktionalen Quellen

Gregorius deutlich, in dem es sich um "der saelden straze" dreht, die man "wallen und klimmen, waten unde swimmen"59 muß. Das "suchende Umherreisen" aber verweist auf die ursprüngliche Bedeutung der peregrinatio: als zielloses Irren in der Fremde. Als Suche nach Vergebung der Sünden oder nach Festigung im Glauben, vielleicht auch nach der eigenen Identität außerhalb der fest gefügten Gesellschaftsordnung kann dieses Umherwandern verstanden werden. Möglicherweise soll durch diese Pilgerähnlichkeit des Suchenden die Verzweiflung und Intensität seiner Suche unterstrichen werden. Mörolf findet jedoch bald zur Burg Wendel se seines Kontrahenten Fore und legt sein komplettes Kostüm an: "Mörolf Salmanes drfit slouf ze dem andern male in des juden Bermans hilt. einen kotzen leit er an, einen balmen ilf den rucke, ein krucke er under sin achsel nam. Von dannen walte der degen her fif die burg zuo Wendelse."6O

Wie Rother in die Pilgerkutte, so "schlüpft" Mörolf in die grausige Maske, von der vermutet werden kann, daß sie den Träger als einen Juden erscheinen läßt. Dies ist umso auff