Aufklärung und Aberglaube: die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik

Die Reihe Studien zur deutschen Literatur präsentiert herausragende Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur von d

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German Pages 454 [465] Year 1992

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Aufklärung und Aberglaube: die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik

Table of contents :
EINLEITUNG. Aufklärung und Aberglaube
KAPITEL I. Rezeption der Antike (I): Deisidaimonia
1. Antike-Rezeption als »Vorgeschichte«
2. Bedeutungsvielfalt der Deisidaimonia
3. Deisidaimonia in lexikographischer Tradition und im NT
4. Theophrast
5. Plutarch
6. »Adeisidaimonia«: Philosophie als Befreiung vom Aberglauben
KAPITEL II. Rezeption der Antike (II): Superstitio
1. Ciceros Etymologie und Laktanz’ Einwände
2. Philologische Anmerkungen
3. Cicero: »anilis superstitio«
4. Von Cicero zu Lukrez
5. »Tantum religio potuit suadere malorum«
6. Lukrez: »Horror ac metus divinus«
7. Lukrez als Quelle von Religionskritik der Aufklärung
Exkurs: Anti-Lukrez
KAPITEL III. »Moralischer Aberglaube«: Aberglaube als moralisches Problem
1. Christian Thomasius: Befreiung durch Tugend
2. Aberglaube zwischen Moral und Politik
3. Atheismus und Aberglaube: Modell der Mittelstraße
KAPITEL IV. »Non habet carnem et ossa« – Ende des Hexensabbats
1. Die Hexe, der Teufel und ihr Pakt
2. Antonius van Dale: Befreiung durch Geschichte
3. Balthasar Bekker: cartesianische Teufelskritik
4. Christian Thomasius: »non habet carnem et ossa«
5. Kritik des Hexenwahns als Paradigma aufklärerischer Aberglaubensbekämpfung
KAPITEL V. Melancholia superstitionis: das abergläubische Temperament
1. »... der bösen Geister Spielhauß«
2. Das Moralische Temperament
3. Melancholie, Geldgeiz und Aberglaube
4. Melancholia superstitionis
5. Melancholischer Pietismus
6. Aporien und Auflösung der moralischen Temperamentenlehre
KAPITEL VI. Der Arzt als Aufklärer: »physikalischer Aberglaube«
1. Medizin und Aufklärung
2. Melancholie im Widerstreit der Theorien: mechanistische contra animistische Erklärung
3. Michael Alberti
4. Friedrich Hoffmann
5. »Physikalischer Aberglaube«
Abbildungsnachweise
Literaturverzeichnis
A. Bio-bibliographische Hilfsmittel und Wörterbücher
B. Quellen
C. Sekundärliteratur

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band 119

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Martin Pott

Aufklärung und Aberglaube Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Für Ulrike

D6

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pott, Martin: Aufklärung und Aberglaube : die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik / Martin Pott. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 119) NE:GT ISBN 3-484-18119-2

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz, Druck und Buchbinder: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten

Inhalt

EINLEITUNG Aufklärung und Aberglaube

i

KAPITEL I Rezeption der Antike (l): Deisidaimonia

9

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Antike-Rezeption als »Vorgeschichte« Bedeutungsvielfalt der Deisidaimonia Deisidaimonia in lexikographischer Tradition und im NT . . . . Theophrast Plutarch »Adeisidaimonia«: Philosophie als Befreiung vom Aberglauben . .

9 13 18 26 33 38

KAPITEL II Rezeption der Antike (II): Superstitio

41

1. Ciceros Etymologie und Laktanz' Einwände 2. Philologische Anmerkungen 3. Cicero: »anilis superstitio« 4. Von Cicero zu Lukrez 5. »Tantum religio potuit suadere malorum« 6. Lukrez: »Horror ac metus divinus« 7. Lukrez als Quelle von Religionskritik der Aufklärung Exkurs: Anti-Lukrez

41 44 48 $5 j8 61 66 72

KAPITEL III »Moralischer Aberglaube«: Aberglaube als moralisches Problem . . .

78

i. Christian Thomasius: Befreiung durch Tugend 1.1. Christian Thomasius als Aufklärer 1.2. Aberglaube als unvernünftige Liebe 1.3. Aberglaube als Vorurteil und »falsa pietas« 1.4. Zwischen Furcht und Hoffnung: Befreiung vom Aberglauben durch moralische Emanzipation

78 78 82 100 123

2. Aberglaube zwischen Moral und Politik 2.1. C. H. Amthor: »De habitu superstitionis ad vitam civilem« . . . . LZ. Angriffe und Verteidigungen der Position Amthors 3. Atheismus und Aberglaube: Modell der Mittelstraße 3.1. »Gegenüberhaltung der Atheisterey und des Aberglaubens« . . . . 3.2. Die These: Pierre Bayle und der »tugendhafte Atheismus« 3.3. Die Debatte: Atheistische Schreckgespenster 3.4. J. F. Buddes »Theses theologicae de atheismo et superstitione« als Paradigma des goldenen Mittelwegs 3.5. Wahre Aufklärung als »ratio moderata«

KAPITEL IV »Non habet carnem et ossa« - Ende des Hexensabbats

193 195 200 205 207 213 225 226 231 234 239 247 247 262

KAPITEL V Melancholia superstitionis: das abergläubische Temperament . . . . 1. 2. 3. 4.

VI

171 182

193

i. Die Hexe, der Teufel und ihr Pakt 1.1. Hexenbegriff und Pakttheorie 1.2. Luther und der Teufel 1.3. Frühaufklärung und Hexenwahn i. Antonius van Dale: Befreiung durch Geschichte 3. Balthasar Bekker: cartesianische Teufelskritik 4. Christian Thomasius: »non habet carnem et ossa« 4.1. Atheismusverdacht gegenüber der Teufelskritik 4.2. Pietismus und Hexenverfolgung 4.3. Erste Ansätze der Kritik bei Thomasius 4.4. Anticartesianische Kritik des Teufelspaktes j. Kritik des Hexenwahns als Paradigma aufklärerischer Aberglaubensbekämpfung j.i. Entmachtung und »Moralisierung« des Teufels 5.2. Aufklärung und Hexenaberglaube

»... der bösen Geister Spielhauß« Das Moralische Temperament Melancholie, Geldgeiz und Aberglaube Melancholia superstitionis 4.1. Temperament und Religiosität 4.2. Temperamentenlehre und Religionskritik 4.3. »... inclinat ad superstitionem« 5. Melancholischer Pietismus 6. Aporien und Auflösung der moralischen Temperamentenlehre 6.1. Kritik der Temperamentendoktrin 6.2. Psychologie des Aberglaubens (G. F. Meier) 6.3. Vom abergläubischen Hang zum melancholischen Wahn

127 127 140 153 153 ij7 164

. .

267 267 272 278 287 287 293 304 310 319 319 324 332

KAPITEL VI Der Arzt als Aufklärer: »physikalischer Aberglaube«

337

1. Medizin und Aufklärung

337

2. Melancholie im Widerstreit der Theorien: mechanistische contra animistische Erklärung z.i. Descartes, Boerhaave und Weiß: »Lebensgeister«-Modell 2.1. Wedel und Stahl: animistisches Modeil 2.3. Exkurs: physikalische und moralische Teleologie 3. Michael Alberti 3.1. Medizin und Aberglaube 3.2. »Superstitio medica« 3.3. Dämonenglaube und Melancholie 4. Friedrich Hoffmann 4.1. »Medicina rationalis sive mechanica« 4.2. Physikotheologie und physikalischer Aberglaube (Friedrich Hoffmann und Christian Wolff) 4.3. »Von Gewalt und Würckung des Teuffels in natürlichen Cörpern« . . 5. »Physikalischer Aberglaube« 5.1. Theoretischer und praktischer Aberglaube 5.2. Kritik des physikalischen Aberglaubens 5.3. J. P. Eberhard: »Physicalischer Aberglaube« j.4. »Licht auf dem Pharus«

340 340 347 354 357 357 360 364 369 369 377 387 396 396 399 404 408

Abbildungsnachweise

413

Literaturverzeichnis

415

A. Bio-bibliographische Hilfsmittel und Wörterbücher

415

B. Quellen

417

C. Sekundärliteratur

434

VII

Abb. ι: Francis Hutchinson, Historischer Versuch von der Hexerey..., Leipzig 1726

IX

EINLEITUNG Aufklärung und Aberglaube La superstition met le monde entier en flammes; la philosophic les eteint. Voltaire'

i. Aufklärung als Aberglaubenskritik Daß sich Philosophiehistoriker mit dem Aberglauben auseinandersetzen, findet man selten. Die Beschäftigung mit der Aufklärung dagegen ist wesentlich häufiger anzutreffen und nimmt angesichts der neuen Aufklärungskritik unserer Tage in erstaunlichem Maße zu. Die berechtigte und lange Zeit überfällige Diskussion, was Aufklärung heute bedeuten könne, und was unter dem Begriff der Vernunft zu verstehen sei, berührt dabei insbesondere die philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem historischen Phänomen der Aufklärung im späten 17. und im 18. Jahrhundert. Denn eines ist durch die derzeitige Debatte über die »Krise« der neuzeitlichen Vernunft deutlich geworden: Das bislang ruhige Geschäft der Aufklärungsforschung weicht hektischer Betriebsamkeit, je mehr diese erkennt, wie wenig ihr bisheriges Bemühen um einen historischen Begriff von Aufklärung den Ansprüchen der Diskussion genügen kann. Eine solche Einsicht, falls man sie hat und nicht in völliger Ignoranz auf alten Bastionen verharrt, zwingt zu erneuter konzeptueller Anstrengung auf dem Boden historischer Forschung. So rückt vor dem Hintergrund der Fragestellung, wie »Aufklärung« heute philosophiegeschichtlich zu fassen sei, auch der Aberglaube, genauer dessen Kritik durch die Aufklärung in den Blick. Beide, Aufklärung und Aberglaubenskritik, hängen eng miteinander zusammen.1 Dieses nicht allein in dem Sinne, daß die Aufklärung es als ihre Aufgabe betrachtet, das endgültige Ende allen Aberglaubens herbeizuführen, sondern auch unter dem Aspekt, daß sie als eine »Revolution der Denkungsart« im Sinne Kants ihr eigenes Selbstverständnis gerade mit dem Ende des Aberglaubens verknüpft.3 VOLTAIRE: (Art.) Superstition, in:Dictionnairephilosophique (ed. R. Naves. Paris 1969, 624). Allgemeine Anregungen zum Thema Aufklärung und Aberglaube bieten H. BAUSINGER, Aufklärung und Aberglaube (BAUSINGER 1963) und R. VAN DÜLMEN, Christentum, Aufklärung und Magie (in: DÜLMEN 1989, 204-214). Die deutsche Spätaufklärung schien von ihrem Sieg über den Aberglauben überzeugt, was sowohl ihre zunehmende »konservatorische« Sammelleidenschaft »alten« Aberglaubens in vielen Schriften rein kompilierenden Charakters, als auch die Ausdrucks-

Ideen- und mentalitätsgeschichtlich läßt sich der Aberglaube zu denjenigen Konstituentien des aufklärerischen Selbstverständnisses rechnen, die als gemeinsame Grundideen* die verschiedenartigsten Ausformungen der deutschen Aufklärungsbewegung in ein Konzept zusammenführen. Dieses Konzept als ein Ensemble solcher Ideen, die die Aufklärung trotz divergierender Einzelauffassungen als eine geschlossene Bewegung interpretierbar machen, läßt sich vorab in Programm- und Kampfideen unterscheiden. Während die Programmideen auf die Zukunft gerichtet sind und die positiven Zielsetzungen der Aufklärung zum Ausdruck bringen, ihre Hoffnungen und Erwartungen spiegeln, wenden sich die Kampfideen vor allem gegen die Vergangenheit bzw. deren Hypotheken für die Gegenwart. Die Überzeugung, daß eine bessere Zukunft nur im Streit gegen die Vergangenheit durchgesetzt werden kann, ist dabei ein spezifisches, bis heute aktuelles Merkmal von Aufklärung. Für deren Konstitution als geschichtliche Bewegung ist daher die Gruppe der Kampfideen von grundlegender Bedeutung. Noch bevor die wichtigsten Programmideen formuliert und Allgemeingut der Bewegung geworden sind, steht bereits die Gültigkeit der Kampfideen außer Frage. »Verbesserung des Verstandes«, »Mündigkeit«, »Selbstdenken« und »Vervollkommnung des Menschen« als programmatische Topoi sind im Prozeß der Aufklärung eng verklammert mit der historisch vorgängigen Orientierung an »Feindbildern«, — den Feindbildern der Vorurteile, der Schwärmerei (Fanatismus und Enthusiasmus), der Melancholie, der politischen Willkür (usw.) und eben des Aberglaubens. Stärker als andere Bewegungen der Kulturgeschichte ist die Aufklärung zugleich auch eine Kampfgemeinschaft, die ihre Geschlossenheit nicht zuletzt durch bestimmte Feindbilder gewinnt. Die herausragende Rolle, die dabei die Kampfidee des Aberglaubens spielt, tritt bei Immanuel Kant, der bereits am Ausgang der deutschen Aufklärung steht, besonders anschaulich zutage. Neben seinen klassisch gewordenen Programmdefinitionen - wie: »die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung«,* oder: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst weise der Titel dieser Sammlungen bezeugten. Bestes Beispiel sind hier Ernst Urban KELLERS (1730 — 1812) Sammlungen abergläubischer Vorurteile in sechs Stücken seines Werkes Das Grab des Aberglaubens (1777/78 — 1786). Auch Heinrich Ludwig FISCHERS Buch vom Aberglauben (1790), mehrfach aufgelegt und bearbeitet, oder das anonyme Schwarze Buch vom Teufel, Hexen, Gespenstern, Zauberern und Gaunern. Dem Ende des philosophischen Jahrhundert gewidmet (1796) bestätigen diese Tendenz, die erst Johann Jakob ENGEL (1741-1802) wieder problematisierte. S. ders., Über die Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens (in: Schriften, Bd. II. Berlin 1801, 333 — 374). 4 Ich beziehe mich in meiner Typologisierung auf N. HINSKE, Le idee portanti deU'illuminismo tedesco. Tentative di una tipologia (HINSKE 198$). Vgl. neben HINSKE 1984 auch HINSKE 1988: Die Aufklärung und die Schwärmer — Sinn und Funktion einer Kampßdee. > I. KANT: Was heißt: sich im Denken orientieren? (in: Werkausgabe, ed. W. Weischedel, Bd. V. Frankfurt 1977, 283).

verschuldeten Unmündigkeit«6 — stößt man auf eine weitere Aufklärungsbestimmung, die mit Selbstverständlichkeit die Kampfidee des Aberglaubens zum Ausgangspunkt nimmt. In der Kritik der Urteilskraft von 1790 heißt es lapidar: »Befreiung vom Aberglauben heißt Aufklärung«.7 Betrachtet man die an diese knappe Definition anknüpfende Beschreibung dessen, was für Kant Aberglaube bedeutet, wird schnell klar, warum gerade die Kampfidee des Aberglaubens Eingang in die Selbstbestimmung der Aufklärung gefunden hat. Obwohl, so Kant, auch allgemein die »Befreiung von Vorurteilen« Aufklärung genannt werden kann, macht die »Blindheit«, worin der Aberglaube als spezielles Vorurteil den Menschen versetzt, das »Bedürfnis, von anderen geleitet zu werden«, also den »Zustand einer passiven Vernunft«, im besonderen kenntlich. Aberglaube als die »gänzliche Unterwerfung der Vernunft unter Facta«, wie Kant ihn noch an anderer Stelle umschreibt,8 steht für die vollkommene Heteronomie der Vernunft9 und damit für die totale Verkehrung der obersten Aufklärungsmaxime des Selbstdenkens, der Autonomie des Vernünftigen. Selbstbehauptung der Vernunft, wie sie sich hier als Programm artikuliert, gründet zuallererst in der Kritik, und das heißt vor allem in der Aberglaubenskritik. Besonders in der ersten Hälfte der Aufklärungsepoche in Deutschland — in den Jahren 1690—1740 — erweist sich diese Zuordnung als charakteristisch. Die deutsche Frühaufklärung, an deren Anfang naturrechtliche und moralphilosophische Theoriebildungen mit dem Ziel praktischer Emanzipation von religiösen Vorgaben ebenso eine zentrale Rolle gespielt haben, wie die Verselbständigung der Naturwissenschaften und der Medizin, vertritt ihren Anspruch auf moralische Autonomie und wissenschaftliche Selbständigkeit in der Kritik. Nur durch Kritik religiösen, weil falsch-moralischen Aberglaubens und nur durch Kritik physikalischen, weil widernatürlichen Aberglaubens10 erhält der Beginn der Aufklärung in den protestantischen Gebieten Deutschlands seine eigentümliche Gestalt, - eine Gestalt, die weitaus eher im Spiegel der Aberglaubenskritik erkennbar wird als in einer noch kaum ausdifferenzierten Programmatik.

I. KANT: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung s" (a.a.O., Bd. XI, 53). . KANT:ÄV«i»A: der Urteilskraß (a.a.O., Bd. X, 216). I. KANT: Was heißt: sich im Denken orientieren ? (a.a.O., 281). I. KANT:Kritik der Urteilskraft (a.a.O., 226). Zur ersten Unterscheidung von »moralischen« und »physikalischen Aberglauben« s. den Artikel »Aberglaube« in Johann Georg WALCH'S Philosophisches Lexicon (Leipzig '1726, H i77j, Bd. I, Sp. 2-11).

2.

Frühaufklärung: Von Thomasius zu Wolff

Erste tragfähige Konzepte der Aberglaubenstheorie und -kritik legt der Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655 — 1728) vor. Sein mutiges Auftreten gegen Aberglaube und Vorurteile, seine entschlossene und erfolgreiche Kritik des Hexen- und Teufelsglaubens lassen ihn zu einer Gestalt der Zeitenwende werden, die den Beginn von Aufklärung in Deutschland markiert. So sehen bereits Zeitgenossen in Thomasius einen »tapferen Hercules«, der im Kampf gegen die »abscheuliche Bestie der Superstition«, des »Aberglaubens von der Hexerey«, den ersten Sieg für die Bewegung errungen hat." Und gegen Ende des »Philosophischen Jahrhunderts« steht Friedrich Gedicke als Autor der Berlinischen Monatsschrift11 für die Überzeugung ein, sein Zeitalter verdanke Christian Thomasius »die Errettung aus den schmählichen Ketten der Vorurtheile und des Aberglaubens«.'3 Tatsächlich läßt sich mit dem Hallischen Gelehrten eine Geschichte aufklärerischer Aberglaubenskritik in Deutschland beginnen, die ihren praktischen Auftakt in Thomasius' Streit gegen den Hexenwahn nimmt und ihre theoretische Fundierung in dessen Philosophie findet. Thomasius ist jedoch mehr als eine Identifikationsgestalt der Aufklärungsbewegung, soweit sie ihr Handeln als Befreiung vom Aberglauben versteht, er ist zugleich erster Repräsentant der deutschen Aufklärung in ihrem Grundcharakter einer Bewegung eigener Art und eigenen Ursprungs. Nationale Eigenarten prägen den erst allmählich sich vollziehenden Aufbruch Deutschlands in die Neuzeit, die es später leicht machen, eine Rückständigkeit der deutschen Aufklärung vor dem Hintergrund der westeuropäischen Entwicklungen vor allem in Frankreich und England herauszustellen. Im Vergleich mit diesen schneidet die kulturelle Umgestaltung des in Kleinstaaten zer-

" So Christian WEISSBACH (1684 — 1715) im Vorwort seiner Übersetzung von John Wagstaffs Gründlich ausgeführter Materie von der Hexerey (Halle 1711). 11 Auf die aberglaubenskritische Grundhaltung der Berlinischen Monatsschrift und der dahinter stehenden Mittwochsgesellschaft wies jüngst James SCHMIDT (SCHMIDT 1989) nochmals hin. Er erwähnte dabei vor allem den Arzt Johann Karl Wilhelm MÖHSEN (1721 —179j), der in einer Vorlage zur Diskussion der Mittwochsgesellschaft Aufklärung als Kampf gegen Vorurteile und Aberglauben charakterisierte (vgl. KELLER 1896). Zur intensiven Aberglaubensdiskussion der Berlinischen Monatsschrift siehe folgende dort erschienene Artikel: Johann Erich BIESTER, Aberglaube and Schwärmerei in Wirkung und Rükwirkung aufeinander (6, 1785, 375-380); Johann Friedrich ZÖLLNER, Etwas von Vorurtheilen und Aberglauben (i, 1783, 468-475); Friedrich GEDICKE, Ueber den Ursprung der Fabel von der weißen Frau (i, 1783, 3-42) und Gottfried Christian VOIGT, Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland (3, 1784, 297-311 und 453-462). 13 F. GEDICKE: Christian Thomasius (m:Berl. Monatsschrift 23, 1794, 11 — 45, 160—200 und 216 —254; hier: 17 und 35).

splitterten Landes nach 1690 immer schlecht ab. So wird noch heute bisweilen geleugnet, daß es vor 1750, also vor einem feststellbaren größeren Einfluß Englands und Frankreichs, philosophic- wie kulturgeschichtlich Aufklärung in Deutschland gegeben habe.'4 Da hilft nur, die Unterschiede stärker zu betonen, um das eigentlich »Aufklärerische« an der deutschen Aufklärung zu dokumentieren. Und hier ist es die Frühaufklärung, die dazu Gelegenheit und Material bietet. Sie tritt als eine Erneuerung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens auf, die zunächst den Konfessionalismus und Klerikalismus eines politisch wie religiös gespaltenen Landes überwinden will. Als eine Art säkularer Fortsetzung der Reformation Luthers, als »zweite Reformation« beginnt die Selbstbehauptung und Bewußtwerdung eines aufstrebenden Bürgertums, dessen politische Schwäche den Prozeß der Neugestaltung in die Bahnen einer »gemäßigten« Variante von Aufklärung als der Suche nach praktischer Religiosität und moralischer Emanzipation von überlebten Traditionen und Vorstellungen lenkt.1' Vernünftige Praxis als Basis des individuellen und gesellschaftlichen Lebens christlicher Laien wird zur Zielvorgabe philosophischer und theologischer Reflexion; und Befreiung durch Kritik desjenigen, was dieser Praxis entgegen steht, gestaltet den Weg zur bürgerlichen Autonomie und Selbstverwirklichung nach dem Zusammenbruch alter Bindungen spätestens seit dem 3ojährigen Krieg. Moralische Selbstbefreiung heißt vor diesem Hintergrund einerseits, die Theoriebildung auf dem Felde der Ethik (der »Sitten-Lehre«) voranzutreiben, und andererseits, dem Primat der Kritik freien Raum zu geben. Beides leistet Christian Thomasius, dessen Werk weitgehend exemplarisch für die Frühaufklärung als Phase der Kritik, des Überbordwerfens und des Großreinemachens steht. Eine Zeit, die ihren Theoriebedarf weniger mit komplexen Entwürfen philosophischer »Großsysteme«, als mit einem praxisorientierten Eklektizismus deckt, der sich durch kritische, reflektierende Auswahl des jeweils »Nützlichen« und »Zweckmäßigen« auszeichnet. Doch schon zu Lebzeiten von Thomasius verliert diese Vorgehensweise durch den Einfluß des ebenfalls in Halle'6 lehrenden Philosophen Christian Wolff (1679 —1754) ihren Vorbildcharakter. Argumentiert Thomasius primär in 14

Vgl. RÖD 1978/84 (Bd. II, 239): »Man wird sagen dürfen, daß philosophiegeschichtlich mindestens kein Schaden entsteht, wenn man bei der Erörterung der deutschen Philosophie zwischen 1700 und 1750 auf den Ausdruck Aufklärung verzichtet«. '' Zur Charakterisierung der deutschen Frühaufklärung vgl. außer WINTER 1966, WOLLGAST 1982, WOLLGAST 1983, WUNDT 1945 die Arbeiten von W. SCHMIDT-BIGGEMANN (z.B. ScHMiDT-BiGGEMANN 1979) und W. SCHNEIDERS: neben SCHNEIDERS 19793, i97?b, i985aund 198 5b vor allem den Aufsatz Leibniz—Thomasius—Wolf. Die Anfänge der Aufklärung in Deutschland (SCHNEIDERS 1973). '* Vgl. über Halle als Zentrum der deutschen Frühaufklärung MÜHLPFORDT 1953 und HINSKE 1989.

moralisch-praktischem Interesse und fordert in erster Linie die Autonomie der praktischen Vernunft, so dominiert im konsequenten Rationalismus Wolffs die komplementäre Forderung nach Selbständigkeit der theoretischen Vernunft.'7 Während Thomasius und seine Schüler die ersten Jahre der deutschen Frühaufklärung prägen, markiert Christian Wolffs Hinwendung zur Philosophie als einer Fundamental- und Universalwissenschaft das allmählich sich abzeichnende Ende der ersten Etappe der deutschen Aufklärung. Wolffs Neuansatz kennzeichnet aber keine radikale Zäsur, die es nötig macht, mit seinem Auftreten einen klaren Schnitt auf der Zeitskala des Prozesses von Aufklärung in Deutschland vorzunehmen; denn seine Philosophie ist genauso aberglaubenskritisch begründet wie die von Thomasius. Wenn auch in dem Sinne, daß er mehr die theoretische Seite des Aberglaubens als Widerpart wissenschaftlichen Denkens kritisiert, während Thomasius das moralisch Verkehrte im Aberglauben als Widerpart vernünftiger Praxis betont. Beides gehört in der Frühaufklärung zusammen, womit Christian Thomasius an deren Beginn und Christian Wolff an deren Ende'8 sowohl das historische als auch das thematische Terrain dieser Untersuchung abstecken.

3. Kurzer Aufriß der Untersuchung Betrachtet man die chronologische Entwicklung der deutschen Frühaufklärung von Thomasius bis Wolff bildhaft als zeitliche Horizontale, so bildet die Anordnung der Themenfelder aufklärerischer Aberglaubenskritik, an der sich diese Studie orientiert, die dazugehörige thematische Vertikale. Beide, Vertikale und Horizontale, eröffnen jenes Feld, in dem sich die Vielfalt, aber auch die Einheit der Aufklärung als Aberglaubensbekämpfung zeigen. Durch die Aufarbeitung der Brüche und Diskontinuitäten, die diese Vielfalt erst begründen, sowie durch das Erschließen gemeinsamer Topoi, durchgängiger Theorie- und Kritikansätze, die die Einheit ermöglichen, soll die Bedingung der Möglichkeit geschaffen werden, die klassische Frage Was ist Aufklärung ? philosophiehistorisch neu zu beantworten. Damit entspricht die Fragestellung der vorliegenden Arbeit derjenigen Johann Friedrich Zöllners (1753 — 1804) vom Dezember 1783, die Kant für seine

17

18

Über Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung s. einführend HINSKE 1983 sowie SCHNEIDERS 1973. Zur chronologischen wie inhaltlichen Untergliederung der Aufklärungsepoche in Deutschland s. SCHNEIDERS 19833 Gjf.), SCHNEIDERS 1990 und SCHNEIDERS 19858 (3iff.). Das »Generationenschema« als Einteilungsprinzip, das auf M. WUNDT (WUNDT 194$, i?) zurückgeht, läßt sich für die Aberglaubenskritik der Aufklärung zwar auch, jedoch nur mit Schwierigkeiten aufrechterhalten.

Zeit prägend und bis heute zitierfähig beantwortet hat.'51 Fragte Zöllner noch generell, was Aufklärung sei, wird seine Frage hier im Sinne von Was heißt Aufklärung als Aberglaubenskritik ? aufgenommen. Nicht grundsätzliche Aufklärung über Aufklärung wird angestrebt, dazu fehlt dieser wissenschaftlichen Untersuchung der nötige aufklärerische Enthusiasmus zu derlei »verdrießlichem Geschäft« (I. Kant). Vielmehr sollen im Rückgriff auf die Selbstbestimmung der Aufklärung als »Befreiung vom Aberglauben« jene historischen Diskurse rekonstruiert werden, die für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung grundlegend geworden sind. Diese Rekonstruktion findet ihren Ausgangspunkt in der Dokumentation, wie innerhalb der deutschen Frühaufklärung Aberglaube begriffen, d.h. seinen Ursachen, Eigenschaften und Wirkungen nach beschrieben wird,10 und wie die Theorien des Aberglaubens zur Grundlage seiner gleichzeitigen Kritik werden. Ein solches Verfahren entwirft gleichsam ein Spiegelbild der Aufklärung, das sie als »das schlechthin Negative« des Aberglaubens charakterisiert, welcher ihr fortan als das Andere ihrer selbst gegenübersteht. Dieses »Andere«, wie es Hegel in seiner Beschreibung des »Kampfes der Aufklärung mit dem Aberglauben« bereits 1807 in der Pbänomenologie des Geistes analysierte,11 soll in den folgenden sechs Kapiteln zum Gegenstand der Untersuchung werden.11 '' Zur Selbstreflexion und Selbstartikulation der deutschen Aufklärung in der Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? s. neben SCHMIDT 1989 vor allem SCHNEIDERS 1974. 10 Eine kleine Liste allgemeiner Literatur zum Aberglaubensbegriff bzw. -phänomen sei an dieser Stelle angeführt, ging diese Literatur oft ohne ausdrückliche Erwähnung in die vorliegende Arbeit ein. Natürlich ist die Auswahl subjektiv: BURI 1956, FREYBE 1910, HARMENING 1970, HARMENING 1979, HARMENING 1983, HARMENING 1987, HELLWIG 1911, HOFFMANN-KRAYER 1934, HOLTZ 1984, LEHMANN 1925, MEYER 1884, PFLEIDERER 1872, RAUPACH 1852, SIMAR 1878, WAGNER 1941, WUTTKE 1925 und ZIEGLER 1940. Bewußt wurden bes. Studien des 19. Jahrhunderts angegeben, die aus der Nähe zur Aufklärungsepoche leben und Ablehnung wie Zustimmung der aufklärerischen Aberglaubenskritik dokumentieren (so auch ERDMANN 18 ji). Siehe schließlich auch die schöne Studie S. FREUDS, Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum) (FREUD 1969, bes. 285ff.). 11 G. W. F. HEGEL: Phänomenologie des Geistes (in: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, ed. H. Glockner, Bd.-II. Stuttgart31951, 4Mff.; hier: 416). " LV. vorliegende Arbeit stellt sich damit ausdrücklich in die Reihe jener Studien, die in den letzten fünfzehn Jahren den Erklärungswert der Kampfideen zum Ausgangspunkt ihrer Interpretationen der Aufklärung genommen haben. So sind es vor allem die Untersuchungen von H. J. SCHINGS (Melancholie und Aufklärung, 1977), W. SCHNEIDERS (Aufklärung und Vorurteilskritik, 1983), C. BEGEMANN (furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung, 1987), sowie das Heft Die Aufklärung und die Schwärmer der Zeitschrift Aufklärung (1/1988, vgl. HINSKE 1988), die parallel zu dieser Arbeit über Aufklärung und Aberglaube gelesen werden können. Gemeinsam ist ihnen der Hinweis auf die große Bedeutung der Kampfidee des Aberglaubens, die bislang keine monographische Bearbeitung gefunden hat. Wenige, meist der volkskundlichen Disziplin entstammende Teiluntersuchungen haben Material und Anregungen

Jedes der Kapitel umschließt dabei einen selbständigen Themenkreis, der kohärent und abgerundet zu sein beansprucht, d. h. unabhängig von den anderen Kapiteln gelesen werden kann. Diese Aufteilung folgt der Einsicht, daß sich der aufklärerische Diskurs über Aberglauben in unterschiedliche Einzeldiskurse aufspaltet, die die Aberglaubenstheorie und -kritik der deutschen Frühaufklärung bestimmen. Daraus ergibt sich, daß die einzelnen Kapitel der Rekonstruktion jeweils eines dieser Diskurse dienen, den sie geschlossen darstellen. Am Ende jedes Kapitels werden die Untersuchungsergebnisse noch einmal gebündelt und vor dem Hintergrund des Gesamtdiskurses in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Aufklärung und Aberglaube diskutiert. — Ein Verhältnis, das im Zeitalter der Aufklärung selbst die Existenz des »Gelehrten« als Aufklärer zu begründen vermag. So notiert noch Immanuel Kant:*3 »Unter allen Ständen ist keiner unnützlicher als der Gelehrte, so lange er in der Natürlichen Einfalt ist, und keiner nöthiger als derselbe im Stande der Unterdrückung durch Aberglauben ...«.

dazu bieten können, so bes. BAUSINGER 1963, HARMENING 1970 und HARMENJNG 1987 (vgl. ferner SPAMER 1950, WERNER 1955, WAGENER 1968 und DAXELMÜLLER 1979). Für den Bereich der französischen Aufklärung, um damit den kurzen Literaturüberblick zu beenden, erschien 197$ die Arbeit von K. S. WILKINS über Some aspects of the irrational in i8th century France (WILKINS 1975, vgl. WILKINS 1973). I. KANT: Handschriftlicher Nachlaß {Bd. VII), in: Gesammelte Schriften (Berlin i9ioff.,Bd. XX, ).

KAPITEL I Rezeption der Antike (l): Deisidaimonia

I.

Antike-Rezeption als »Vorgeschichte«

Die Aberglaubenskritik der deutschen Aufklärung folgt zwei Zielsetzungen: einmal der praktischen Bekämpfung des Aberglaubens in allen seinen Formen und Gestalten durch »Aufklärung« der Abergläubischen über ihr Fehlverhalten und dessen Ursachen; und zweitens dem theoretischen Verstehen dessen, was Aberglaube ist, durch Klärung seines Begriffs und durch Erhellung der Sachverhalte, die ihn begründen. In dieser zweiten Absicht erweist sich »Aufklärung« als Forderung und Durchsetzung von begrifflicher Klarheit und Deutlichkeit und wiederholt dabei den Anspruch der regula generalis Rene Descartes': »clare et distincte percipere«. Ihr praktischer Kampf gegen den Aberglauben stützt sich auf die Einsicht, daß nur derjenige, der selbst über klare Begriffe verfügt, fähig ist, andere aufzuklären. Den Aberglauben zu begreifen, heißt schon den ersten Sieg über ihn zu erringen. Was Aberglaube sei, welche Merkmale ihn beschreiben, und welche Ursachen zu ihm führen: eine Theorie des Aberglaubens bildet den sichersten Ausgangspunkt zu seiner Bekämpfung. Im Bemühen, den Aberglauben gleichsam im Begriff zu bannen, weiß sich die Aufklärung trotz scheinbaren Neubeginns in langer Tradition. Diese erweist sich einerseits als linear und kontinuierlich, erleidet andererseits aber als rezipierte Tradition notwendig Brüche. Präferenzen, vermeintliche Wahlverwandschaften und nicht selten Mißverständnisse gestalten das Verhältnis aufklärerischer dilucidatio notionum (Wolff) zu ihr vorgängigen Definitionsversuchen des Aberglaubens. Die Rezeptionsvorgänge nachzuzeichnen, auf denen ein solches Verhältnis gründet, läßt Sachverhalte in den Blick gelangen, die dem Selbstverständnis der deutschen Aufklärung weitere Akzente geben können. - Aber noch viel mehr: Rezeptionsgeschichte zu beschreiben ist der Versuch, theoriegeschichtlich die »materiellen Existenzbedingungen« aufklärerischer Aberglaubenskritik aufzuzeigen, ihre »Vorgeschichte«' zu erfassen. So spiegelt sich (begriffsgeschichtDen Begriff aus seinem ökonomischen Zusammenhang zu lösen (K. MARX:Kritik der politischen Ökonomie, in:MEW 13, 9) und ihn in den hier vorgegebenen zu stellen, sei gestattet; vgl. J. JOUBERT: »Toutes les belles paroles sont susceptibles de plus d'une

lieh) die antike Vorgeschichte einer Aberglaubenstheorie der deutschen Aufklärung im griechisch-lateinischen Begriffspaar deisidaimonia— superstitio wider. In der Analyse und kritischen Prüfung der Bedeutungen dieser antiken Begriffe erweist sich die Aufklärung anders als z. B. die Renaissance als epochale Bewegung, die im bezug auf die Tradition Selbständigkeit und eigene Konturen entwickeln konnte. Eine Beschreibung dieser Entwicklung findet ihren Ausgangspunkt denkbar einfach: Der Bezug zur Tradition wird deutlich im Zitat. Dabei lassen bereits Gebrauch und Gestalt der Fußnoten, die antike Schriftsteller zur Klärung des Begriffs »Aberglaube« zu Rate ziehen, Rückschlüsse auf einige Charakteristika aufklärerischer Antikerezeption zu. Sie bilden gleichsam die Eckpunkte der Rezeption von deisidaimonia und superstitio und deren inhaltlichen Ausprägungen im Altertum. Der »wahre« Aufklärer mißtraut dem Zitat. Er verachtet dessen Funktion als Autoritätsbeweis und ordnet dessen Gebrauch der Hauptabsicht, der Erhellung von Sachverhalten, unter. Im Zitat wird eine Aussage herangezogen, deren Gültigkeit nicht von der Autorität des Aussagenden abhängt, sondern von der Plausibilität des Ausgesagten. »Denn Vernunftwahrheiten gelten anonymisch; hier ist nicht die Frage: wer hat es gesagt, sondern was hat er gesagt?« (Kant).1 Neben der Forderung nach Klarheit und Deutlichkeit des Denkens will ein Aufklärer der Forderung nach dessen Selbständigkeit Genüge leisten. Bereits seit der Frühzeit der Aufklärung ist bekannt, welche Gefahren im Vorurteil der Autorität (praejudicium auctoritatis) liegen, wo »unvernünftige Liebe« gegenüber menschlichem Ansehen die Fesselung des eigenen Verstandes auf lange Zeit hin bedeutet. Christian Thomasius, dessen Vorurteilstheorie genauso wie seine Aberglaubenstheorie als grundlegend für die deutsche Frühaufklärung gelten muß, benennt dieses treffend: »Aber wenn einer einmahl aus Thörichter Liebe zu menschlicher Autorität eine falsche Meinung eingesogen, ist dieselbe so schwer wieder loß zu werden...«.' Sich von Vorurteilen zu befreien, heißt selbständige Urteile zu ermöglichen: für das Verhältnis zur Antike gelten damit andere Bedingungen, als sie sich in Zeiten humanistischer Antikerezeption darboten. Das Ideengut des Humanismus galt als in der griechisch-römischen Antike beschlossen und verlangte zu seiner Erfüllung die Nachahmung und Reproduktion des Altertums. Mit dem Anspruch des Selbstdenkens konfrontiert, ist die Vorstellung von unbedingter Autorität der Antike einer ausdrücklichen Relativierung ausgesetzt. Die große Literaturdebatte der Querelle des anciens et signification. Quand un beau mot presente un sens plus beau que celui de l'auteur, il faut l'adopter« (Du style XVII; zit. nach W. Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt 1982, 604). I. KANT:Logi£ (1800), in: Werkausgabe (a.a.O., Bd. VI, 508). C. THOMASIUS -.Einleitung zur Vernunftlehre (Halle 1691,307). Zu Thomasius s. Kapitel III, Abschnitt I. 10

des modernes in Frankreich (1687/88) kennzeichnet in diesem Zusammenhang (neben dem kritischen Werk Pierre Bayles, s.u. Kap. Ill) den dortigen Beginn der Frühaufklärung, wo der »zu lange in Anspruch genomme Kredit der antiken Vorbildkunst« gekündigt wird (W. Krauss),4 und keine Vorbilder im Denken, sondern Möglichkeiten selbsttätigen Denkens gesucht werden. In die Ausdrucksweise einer Vorurteilstheorie übertragen, ergibt sich so der Begriff des »Vorurteils des Altertums«, welches nach Kant die Grenzen einer »gemäßigten Achtung« überschreiten läßt, so daß »wir die Alten zu Schatzmeistern der Erkenntnisse und Wissenschaften machen, den relativen Wert ihrer Schriften zu einem absoluten erheben und ihrer Leitung uns blindlings anvertrauen«. Diesem Vorurteil zu verfallen impliziert, »den Verstand in seine Kinderjahre zurückführen und den Gebrauch des selbsteigenen Talents vernachlässigen«.5 Nur insofern die Antike den Forderungen selbständigen, d.h. gemäß dem Selbstverständnis der Aufklärung auch »vernünftigen«, Denkens genügen kann, wird sie weiterhin Autorität beanspruchen können. Es handelt sich dabei aber ausschließlich um die Autorität der Sache selbst, welche in der Gültigkeit von Aussagen gründet, die unabhängig vom historisch gewachsenen Ansehen antiker Autoren einer kritischen Prüfung standgehalten haben. Deshalb erscheint auch der häufige Schluß, das »Ansehen des Altertums« sei im Zeitalter der Aufklärung »im Sinken«, nicht hinreichend begründet.6 Vielmehr sollte von einem relativierenden Umgang mit der Antike gesprochen werden, der von Kant ganz richtig mit dem Ausdruck »gemässigte Achtung« beschrieben wird. Antike Autoren behalten zwar eine hervorgehobene Position innerhalb wissenschaftlicher, philosophischer Argumentationen,7 verlieren jedoch ihre Autorität für die letztinstanzliche Entscheidung in Sachfragen. In »beratender Funktion« behält die Tradition Gültigkeit; und wo nicht mehr nach Autoritäten des Altertums für die Beweisführung gesucht wird, finden sich in der Literatur der Aufklärung Hinweise auf Kongenialität und gedankliche Verwandtschaft mit antiken Schriftstellern eben auch auf dem Felde der Aberglaubenskritik. Für die Rezeption antiker Aberglaubensbegriffe ergibt sich daraus folgende Konstellation: Wo innerhalb der Tradition des Altertums Aussagen zur superKRAUSS 1971, 13. — Vgl. MÖLLER 1986, 3$ zur Bedeutung Fontenelles. I. KANT:£og»& (a.a.O., 509 — 510). So z.B. bei PAULSEN 1896 (Bd. , 487!^.); vgl. REICHE 1924 (126-130). Vgl. MUHLACK 1985, bes. 100: »Das griechisch-römische Altertum spielt im aufklärerischen Denken keine exklusive Rolle wie im Humanismus ..., hat aber gleichwohl durchaus eine herausgehobene Stellung. Das Ideal einer aufgeklärten Zivilisation, das die Aufklärer erfüllt, steht in keinem primären Bezug zu einer bestimmten geschichtlichen Epoche oder überhaupt zur Geschichte, sondern ist allein durch Prinzipien der Vernunft legitimiert«.

stitio bzw. deisidaimonia gemacht worden sind, werden sie in vollem Umfang, aber unter den Bedingungen der Vorurteilskritik für die Entwicklung aufklärerischer Aberglaubenskonzepte nutzbar. Die Nutzbarmachung geschieht deshalb nicht durch mechanische Assimilation und geschickte Konstruktion von Argumentationszusammenhängen, wie sie den Autoritätsbeweis kennzeichnen, sondern mit Bedacht und dem Interesse, vorurteilsfrei in Widerspruch und Bejahung lebendige Tradition abzubilden und fruchtbar zu machen. Totes Begriffsmaterial sind sttperstitio und deisidaimonia nicht, ihre Worterklärung durch die Aufklärung läßt nichts an der Vitalität8 des Selbstdenkens vermissen und unterstreicht damit erneut Kants Identifikation von »Aufklärung« mit der Maxime, »den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) zu suchen«. Dabei bleibt anzumerken, daß einer philologisch angemessenen Rezeption der antiken Begriffe (wie sie neuhumanistische Strömungen des 19. Jahrhunderts gefordert hätten) im »Philosophischen Jahrhundert« häufig der Weg versperrt ist. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts geht die Beschäftigung mit der griechischen Sprache stark zurück, die Herausgabe griechischer Autoren gerät ins Stocken; es wird allenfalls Griechisch gelernt, um ein Verständnis des Neuen Testaments in der Ursprache aufrecht zu halten. Der Sinn und die inhaltliche Füllung griechischer Begriffe werden durch die lateinische Übersetzung tradiert; ein Umstand, der sich in weit größerem Maße als unvorteilhaft erweist, da auch die Pflege des Lateinischen und die Lektüre der römischen Schriftsteller abnimmt. Trotzdem bleibt ein Grundbestand an Gelehrsamkeit erhalten, der durch Lexika und umfangreiche Kompendien die griechischen und römischen Altertümer zugänglich macht.' Wörterbücher sind es häufig, die den Zugang zur antiken Begriffsgeschichte des Aberglaubens offen halten; nicht selten lediglich in der Form etymologischer Berichterstattung ' Nicht selten kann die Haltung der aufklärerischen Antikerezeption mit einem Ausspruch Friedrich NIETZSCHES verglichen werden: »Gewiss, wir brauchen Historic, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht... Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat...« (Vom Nutzen und Nachteil der Historic, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. I, München-Berlin-New York 1980,145). ' Die Altertumswissenschaft (pntiquaria, archaeographie) und ihre Vertreter standen selten in hohem Ansehen, wie aus J. A. FABRICIUS' Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit von 1752 hervorgeht: »Weil diese Wissenschaft angenehm ist, und man sich dabey weniger Anstoß zu besorgen hat, als bey ändern, sie zwar Witz und Urtheilungskraft, aber am meisten Gedächtniß erfodert, und ein mäßiger Fleiß und Aufmerksamkeit es hier ziemlich weit bringen kan, welches das gemeinste Naturel der Studirenden ist, so findet sie viele Liebhaber ..., doch fallen dabey viele Irrthümer, Betrügereyen, Eitelkeiten und Thorheiten vor, so daß man zuweilen die Antiquarios spottsweise Wttrmschneider nennet« (Leipzig 1751, Bd. I, 326-317). Vgl. J. G. WALCH, Philosophisches Lexicon (Leipzig '1775, Bd. I, Sp.i36-138 s.v. »Alterthümer«).

und bündelnder Zitation der wichtigsten Klassikerstellen, wodurch sich besonders die Rezeption des griechischen Begriffs der demdaimonia als vielfältig vermittelt darstellt und in zahlreichen Fällen ohne umfassende Kenntnis der genauen Theoriezusammenhänge innerhalb der antiken Schriften geschieht.10 Die Forderung nach philologischer Genauigkeit an die Aufklärung zu stellen, ist ihrem Selbstverständnis jedoch unangemessen. Den geschilderten objektiven Mißständen korrespondiert die subjektive Einstellung einer Ablehnung altertumskundlicher Gelehrsamkeit, die oft als »Wurmschneiderei« verächtlich gemacht wird. In der Frühzeit der deutschen Aufklärung nannte Christian Thomasius solche Forderung »Pedanterey«, die einer anderen Lehrund Lernart Platz machen sollte, nämlich solchen studio, elegantoria, in denen auch die antiken Schriftsteller in einer ihm angemessen erscheinenden Weise, d.h. in lebendiger, selbständig agierender und nützlicher Gelehrsamkeit berücksichtigt werden:" Es wäre zu wüntschen, daß nicht alleine die studierende Jugend auf die alten Philosophos, und andere alte Griechische und Lateinische Scribenten gewiesen würde; oder zum wenigsten wir alten Kerl fleißiger darinne läsen. Wenn man des Platonis opera, des Plutarchi moralia, des Diogenis Laertii vitas, Xenophontem, Ciceronis libros Philosophicos, Senecam und andere bey Zeiten studierete, würde es vielleicht besser um die Gelahrtheit stehen, als wenn man sich mit des Aristotelis organo, libris ad Nicomachum, magnis moralibus, libris Politicorum, oder mit denen ineptiis scholasticorum, die alle reliquien von der Gelehrsamkeit vollends in succum et sanguinem einer Pedanterey verkehren, schleppet und bald zu tode martert.

2. Bedeutungsvielfalt der Deisidaimonia Deisiäaimonia'1 gehört einer späteren Sprachstufe des Griechischen an und ist zusammengesetzt aus deido (sich fürchten) und daimon. Furcht oder Scheu vor dem daimon ist die einfachste und vorgängige Worterklärung, die jedoch be10

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Merkwürdigstes Beispiel für diesen Umstand sind die Disquisitiones magicarum libri VI («J99) des Jesuiten Martin A. DELRIO (i$51 -1608), die mehr als 10 Auflagen erlebten und wohl die bündigste Zusammenfassung der Etymologie und Begriffsgeschichte von superstitio enthielten (in der Ausgabe Köln 1657, 6ff.). Es ist zu vermuten, daß dieses gelehrte, aber kritiklose Werk, das u. a. die Folteranwendung in Hexenprozessen förderte, in zahlreichen Fällen zur Orientierung herangezogen wurde und den unmittelbaren Blick auf die antiken Quellen ersetzte. Bedeutendstes Beispiel ist das Werk des umfassend gebildeten Gelehrten Gerhard Johann Vossius (1577 — 1649), der in seinem Buche De Theologia gentili et physiologia Christiana: sive de origins ac progress* idololatriae ... libri II (1641) einen Überblick zur antiken Begriffsgeschichte verschaffte und die ersten Ansätze einer Loslösung von scholastischer Überformung der Begriffe bot (in der Ausgabe Frankfurt 1668,16 - n). C. THOMASIUS: Monatsgespräche, April 1688 (Halle 1690, Bd. 1,600-601). Zur Begriffsgeschichte von deisidaimom'a s. BABICK 1891, RIESS 189$ Uiff.), BOLKESTEIN 1919 (jff.), KOETS 1929 und MOELLERING 196}

reits überholt wird durch den vielfältigen Begriffsgebrauch in der griechischen Antike bis ins Neue Testament. Von negativ-tadelnd »Dämonenfurcht« und »Aberglaube« bis positiv »Frömmigkeit« und »Religion« reicht die Vielfalt inhaltlicher Bestimmungen, die der Begriff nach dem literarischen Befund vertritt. Je nach Gewicht und Betonung der beiden Bestandteile deido und daimon ergeben sich Nuancen des Wortsinns: Wie in vielen Sprachen haben auch im Griechischen die Wörter des Fürchtens eine doppelte Bedeutung, einmal »angsterfüllt sein«, dann »Ehrfurcht, Scheu haben«.'3 So kann man Frömmigkeit empfehlen mit toüs theoüs phoboü^ wie auch der Begriff theoüs dedienai als »Ehrfurcht vor den Göttern haben« öfter belegt ist.1' Auch der zweite Teil des Wortes ermöglicht eine doppelte Auffassung der Objektbestimmung daimon. Im Anschluß an philologische Untersuchungen von Andres und Bolkestein1* läßt sich die Überzeugung vertreten, daimon und theos seien Synonyma, wobei daimon vielleicht sogar das ältere Wort sei. Die Bezeichnung des Gottes als daimon findet sich im 4. Jahrhundert v.Chr. ebenso wie im Homerischen Epos, wo sowohl bestimmte Gottheiten (Aphrodite, //. III,42o; Zeus, //. XV.468) als auch das unbestimmt Göttliche gemeint sind. Zwar bezeichnen Synonyma denselben Gegenstand, aber stets in einem anderen Aspekt, so daß sich ein Unterschied im Wortgebrauch von daimon und theos bemerken läßt,'7 der den Wortsinn von deisidaimonia in das rechte Licht rücken kann. Daimon wird dann benützt, wenn eine höhere unbestimmte Macht in das Menschenleben eingreift. Theos ist dagegen der Gott als Mittelpunkt seines Kultes, als eindeutig vorstellbares Wesen, das in seiner Verhaltensweise vom Menschen erfaßbar ist. Der Gott ist daimon, wenn er heil- oder unheilbringend in das menschliche Leben einbricht, wobei der Grund und die Art und Weise seines Handelns nicht klar erkannt werden können, und nur das Faktum des Eingriffs festgestellt wird. So z.B. bei Homer, Ilias XV,468: Teukros führt das Springen seiner Bogensehne auf das Wirken eines daimon zurück, der sich später als Zeus herausstellt. Oder 111,420, wo Aphrodite, die Helena zwingt, zu Paris zu gehen, daimon genannt wird, um die Art, wie die Göttin ihren Willen durchsetzt, als unbegreiflich zu beschreiben. Lykaion (//. XXI,?}) führt es auf 13

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Belegt bei ARISTOTELES, Oeconomica 111,144: »Duplex enim timoris species est, alia quidem fit cum verecundia et pudore, qua utuntur ad patres filii sobrii et honesti et cives compositi ad benignos rectores, alia vero cum inimicitia et odio, sicut servi ad dominos et cives ad tyrannos iniurios et inequos«. ISOKRATES, Orationes I,i6. Vgl. auch denLXAT-Text von£x. 20,12 mitLev. 19,3. LYSIAS, Orationes XXXII,i3; ANTIPHANES, Comoediae 1,27; AISCHINES, Orationes I,JO (s. BOLKESTEIN 1929, 4!.).

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ANDRES, Art. Daimon in RE, Suppl.III (1918) 267 — 322 (bes. 279 — 283); BOLKESTEIN 1929 (jff. und iiff.). Vgl. die Überlegungen von P. STEINMETZ in seinem Kommentar zu Theophrasts Characteres XVI,i (München 1962, i82ff.).

den daimon zurück, daß er dem Achill in die Hände gefallen ist, und meint damit Zeus (s. XXI,83). Ähnliches gilt für den Aspektunterschied von to daimonion und theion.'* Nennt Isokrates (436/35 — 338) als Initiator seiner Vorstellungen nicht sein Alter, sondern to daimonion, meint er eine unbegreiflich wirkende göttliche Macht (Orationes V,i49f.)· Entsprechend ist auch das berühmte daimonion des Sokrates eine göttliche Kraft, dessen Wirken zu spüren, dessen Art und Weise wie auch Zweck des Wirkens aber nicht zu erfassen ist. »Sokrates hätte sein daimonion niemals theion nennen können« (P. Steinmetz). Wenn das Wort mit theoi zusammengestellt wird, meint es in der Regel die Gesamtheit des übernatürlichen Waltens; so z.B. bei Demosthenes, Orationes XIX,239:oi theoi kaito daimonion (vgl. , ). Die Etymologie läßt deshalb vermuten, daß deisidaimonia in etwa »Gottesfurcht« heißt; das Objekt der Furcht verstanden als unbestimmt göttliches, wofür lateinische Übersetzer treffend das Wort numen vorgeschlagen haben. Dämonen oder gar Gespenster als Gegenstand der Furcht anzunehmen, um den Begriff zu erklären, entspricht in keinem Falle dem antiken Wortgebrauch, sondern weist vielmehr auf spätere christliche Deutungen1' hin, die deifidaimonia zur Abwehr des heidnischen Dämonenglaubens nutzbar machten. Dort sind auch die Wurzeln aufklärerischer Interpretation von deisidaimonia zu finden, die im Zusammenhang der Kritik des Teufels- und Gespensteraberglaubens stattfindet (s.u. Kap. IV). Der ursprüngliche Wortsinn von deisidaimonia ist also positiv im Sinne von »Gottesfurcht« aufzufassen, — eine Tatsache, die der Gebrauch des überlieferungsgeschichtlich früher anzutreffenden Adjektivs deisidaimon bis zu Aristoteles bezeugt. Die Zahl der Belegstellen ist durch eine äußerst dürftige Überlieferung auf drei eingeschränkt; außer bei Aristoteles begegnet deisidaimon zweimal bei Xenophon." In seiner Charakterskizze des Agiselaos hebt Xenophon dessen Frömmigkeit besonders hervor: Agesilaos war ein Muster im theous sehein (1,27), ein paradeigma des theosebes ( , ). Nach Aufzählung vieler Beispiele für dessen fromme Gesinnung schließt Xenophon die Charakteristik mit den Worten: »aei de deisidaimon en, nomizon toüs men kalös zontas outo eudatmonas, toüs de eukleös teteleutekotas ede makan'oits« (XI, s). Der Kontext läßt für deisidaimon keine andere Bedeutung zu als »gottesfürchtig«.21 Ebensowenig an der zweiten Stelle in der Institutio Cyri (111,3,58). Kyros hat vor der Schlacht die Losung »Zeus symmachos« ausgegeben, die er zugleich als Schlachtruf und Ruhmeslied des Gottes anstimmte, wobei sich bald der Gesang S. BOLKESTEIN 1919 (liff.).

So bei CLEMENS ALEXANDRINUS, Protreptikos III, 42, i, und AUGUSTINUS, De civitateDei VII, 33; vgl. dazu ausführlich KOETS 1929, 84 — 96. Vgl. KOETS 1929 (6ff.) und BOLKESTEIN 1929 (31.). Zit. nach der Ausgabe der Opera omnia, Bd. V, ed. E. C. MARCHANT (Oxford 1910).

der Soldaten daran anschloß. Dieses wird von Xenophon psychologisch motiviert: en to toioüto gär oi deisidaimones etton toüs anthropous phoboüntai. Diejenigen, die die Götter fürchten, furchten umso weniger die Menschen, einschließlich der Feinde. Xenophons Wortspiel mit der doppelten Bedeutung von »Fürchten« legt eindringlich die erneute Interpretation von deisidaimonia im Sinne von »Gottesfurcht« nahe." Der Übergang zu einem negativen Gebrauch von deisidaimon findet sich dann bei Aristoteles.23 In der Politik (V,ii) diskutiert er die Tyrannis, die sich auf zwei Arten stabilisieren läßt. Einmal durch Gewalt, die allen Widerstand aus dem Wege räumt; und zweitens der entgegengesetzte Fall, daß der Tyrann unter der Voraussetzung, seine Gewalt bliebe ungeschwächt, sich soweit als möglich wie ein König verhält. »Die Rolle eines Königs mit Geschick spielen« umfaßt für Aristoteles u.a. ein scheinbares Maßhalten im Umgang mit den Staatseinkünften, der Schein der Selbstbeherrschung und der Pflichterfüllung gegenüber den Göttern. Der Tyrann »soll die Pflichten gegen die Götter immer sorgfältig zu beobachten scheinen; denn dann befürchten die Menschen von ihm weniger gesetzwidrige Handlungen, wenn sie den Regenten für deisidaimon halten, und dann stellen sie ihm auch weniger nach dem Leben, da sie annehmen, daß auch die Götter ihm beistehen.« Dei d'aneu abelterias phainesthai toiouton, — jedoch darf er sich dabei nicht auf törichte Weise benehmen (1314 b 38).J4 Auch für Aristoteles bedeutet deisidaimon sein dasselbe wie theoüs spoudazein und theon phrontizein, jedoch mit dem Zusatz, daß man auch auf törichte Weise (abelteros) gottesfürchtig sein kann. Dieser Zusatz markiert den Beginn einer fortschreitenden Entwicklung des pejorativen Gebrauchs von deisidaimonia (ohne daß der positive Sprachgebrauch i.S. von »gottesfurchtig« aufgegeben wird), die beim Aristoteles-Schüler Theophrast (371-287) in der Charakterskizze des deisidaimon ihren ersten Höhepunkt findet. In Theophrasts ethikoi charakteres findet sich überlieferungsgeschichtlich erstmals sowohl das Substantiv deisidaimonia wie auch die eindeutig pejorative Beurteilung der damit bezeichneten Verhaltensweise. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, daß erst im Umkreis Theophrasts im Übergang zum 3. Jahrhundert der Begriff im abfälligen Sinn gebraucht worden ist. Die Entwicklung muß vor dem Hintergrund intellektueller Auseinandersetzungen mit neuen und alten Formen der Volksfrömmigkeit gesehen werden, die im 5. und 4. Jahrhundert aufgekommen sind und bis heute unter dem Titel einer »ersten Aufklä12

Zit. nach Institutio Cyri, ed. A. HUG (Leipzig 1905, 117).

1J

Vgl. KOETS 1929 (8 — 9), BOLKESTEIN 1919 (7 — 9) und MOELLERING 1963 (45 — 46).

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Übers, nach O. GIGON (Politik, München 1973, 197); - bis auf den letzten Satz, den O. Gigon als »Doch soll dies ohne Schwächlichkeit geschehen« unzureichend übersetzt (vgl. BOLKESTEIN 1919, 7).

rung« diskutiert werden.2' So sind u.a. die Schriften der Kyniker und Sophisten mit ihrer Kritik am überlieferten Glauben kaum erhalten. Wenn das Wort deisidaimonia Negatives ausdrücken sollte, ist es gewiß in ihren Schriften zu vermuten.26 Diogenes Laertius, Biograph und Doxograph der griechischen Philosophie, gibt in diesem Zusammenhang in den Vitae Philosophorum eine Andekdote des Zoilus von Perga wieder, die das Verhältnis Diogenes' v. Sinope, des Begründers der Kynischen Schule, zur deisidaimonia wie folgt beschreibt: Als Diogenes einst sah, »wie ein Weib sich in höchst anstößiger Weise vor den Göttern niederwarf, wollte er ihre deisidaimonia austreiben, trat an sie heran und sagte: >Schämst du dich nicht, o Weib, dich vor dem etwa hinter dir stehenden Gotte — denn alles ist seiner voll — bloßzustellen ?g.i7,22: »Den Atheniensern zum wenigsten sagt Paulus unter die Augen: >Ihr Männer von Athen, ich sehe euch, daß ihr in allen Stücken alzu abergläubig seyd8

. Littre übersetzt mit »affranchissement de la superstition« (a.a.O., i)j). Vgl. die Übernahme der hippokratischen Beschreibung des Arztes in den Sachartikel »Artzt« des Zedlerschen Universal-Lexicon (ZEDLER II, 1747): »Hippokrates saget Tr. de decenti ornattt § ; : Medicus Philosophus est Deo aequalis ... Und diesen Satz erläutert er mit bald folgenden Worten: Nam omnia, quae ad sapientiam requiruntur, insunt in Medicina... alienitas a superstitione ...« (vgl, Kap. VI, Abschnitt i). " R. DESCARTES-.Discours de la metbode ( , ), in: (Euvres, a.a.O., Vol. VI, 62. 100 Michael ALBERTI: Dissertatio medica de superstitione medica (Halle 1723, 4; Resp.: D. G. Kletschke). — Albertis medizinische Superstitionstheorie ist Gegenstand des VI. Kapitels (Abschn.3). — Vgl. auch den interessanten Hinweis des Schweizer Arztes Simon-Andre TISSOT (1728 -1797), der feststellte, daß Mediziner generell nicht in der Lage seien, mit dem Aberglauben zu paktieren (De la sante des gens de lettres. Lausanne 1768; deutsch: Von der Gesundheit der Gelehrten ... Zürich 1768, 71.). 39

adeisidaimonia Schule machte. - Unter dem Pseudonym Adeisidaimon («der vom Aberglauben Freie») erschien eine Vielzahl von Schriften der Aberglaubenskritik.'01 Besonders John Toland (1670-172 z) machte Adeisidaimon als Ehrentitel populär,101 indem er Theophrasts deisidaimon den »unsuperstitious man« gegenüberstellte, der seine Befreiung vom Aberglauben der Philosophie zu verdanken hatte.103 Die hippokratische Bestimmung der Philosophie als adeisidaimonia prägte das Selbstverständnis der Aufklärung: Immanuel Kants Satz, »Aufklärung ist Befreiung vom Aberglauben«, der zum Ausgangspunkt dieser Untersuchung wurde, fand seine Wurzeln ebenso in der griechischen Antike wie viele andere Fragestellungen aufklärerischer Aberglaubenskritik auch. Die antike Theorie der deisidaimonia begründete das Verständnis des Aberglaubens im Sinne einer Affektenlehre, die neben einer reinen Irrtumstheorie auch eine Psychologie des Aberglaubens notwendig werden ließ (s. Kap.V, Abschn. 6).

Siehe M. HOLZMANN/H. BOHATTA, Deutsches Anonymenlexikon 1501 — 1850 (Bd. I. Weimar 1902, 28), E. WELLER, Lexicon Pseudonymorum. Wörterbuch der Pseudonymen aller Zeiten und Völker... (Regensburg 886, 4). John TOLAND: Adeisidaemon, sive Titus Livius a sttperstitione vindicatus (Den Haag 1709). — Daß sich unter dem Pseudonym Adeisidaimon auch der Gegenaufklärer verbergen kann, belegt die Wahre Geschichte von Erscheinung eines Verstorbenen in Braunschweig nebst denen von diesen Gespenst gesamieten Nachrichten; ans Licht gestellet von Adeisidaimone (Braunschweig 1748). In der »wahren« Geschichte aus der Feder von Johann Christoph HARENBERG (1696—1774) dreht sich alles um den spukenden ehemaligen Hofmeister Dörien des Braunschweiger Carolinums, dessen Vorsteher Harenberg war, — eine Geschichte, die 1746 geschehen eine Reihe kleinerer und größerer Schriften provozierte (s. J. G. T. GRÄSSE: Bibliotheca magica et pneumatica. Leipzig 1843, 92). Nochmals erzählt wird diese Gespenstergeschichte von Heinrich JUNG-STILLING (1740—1817) in seiner Theorie der Geisterkunde von 1808, einer der schärfsten Angriffe auf die aufklärerische Aberglaubenskritik (in der heutigen Ausgabe: Nördlingen 1987, 286 — 292). Vgl. Some memoirs of the life and writings of Mr. J. Toland, m:A collection of several pieces of Air. J. Toland (Vol. I. London 1726, XLIV): »About the same time came out a pamphlet, intitelt Clito, a Poem on the force of Eloquence. The Editor tells us, that Mr. Toland is the Autor of it, and that he is understood in the Poem as Adeisidaemon, which signifies unsuperstitious*. 40

KAPITEL II Rezeption der Antike (II): Superstitio

i. Ciceros Etymologie und Laktanz' Einwände Denn was gut Latein sei, können wir nur aus dem Cicero lernen ...

/. Kant' »Der Gebrauch des Wortes superstitio (Aberglaube) ist bekannt genug, die Etymologie aber ungewiß.« So beschreibt Christian August Crusius (1715 — 1775)' den Umstand, daß ein weithin geläufiges und vielfältig verwendetes Wort wie superstitio seiner sprachgeschichtlichen Herkunft nach ein »Rätselwort« geblieben ist. Dieses Rätsel zu lösen, vielleicht mit der richtigen Etymologie dem Wortsinn näher zu kommen und damit den Begriff des Aberglaubens enger zu umreißen, ist in vielen Fällen ein erstes Anliegen der Aberglaubenstheorie im Zeitalter der Aufklärung. Sowohl die Antike wie auch das Mittelalter teilen die Auffassung, die Etymologie habe eine große Bedeutung für die Sacherklärung und Begriffsbestimmung: d.h. die Etymologie als veriloquium einer sprachlichen Bezeichnung kann zur Realdefinition des Bezeichneten vieles beitragen.' In diesem Sinne äußert sich der »letzte abendländische Kirchenlehrer« und Enzyklopädist Isidor von Sevilla (ca. 560-636) in seinen Etymologiae seu Origines:4 »Nam cum videris unde ortum est nomen, citius vim ejus intelligis. Omnis enim rei inspectio, etymologia cognita, planior est«. Isidor ist es auch, der sub voce superstitio dem Mittelalter und somit auch der Neuzeit jene Ciceronische Worterklänmg überliefert,5 die im besonderen die Begriffsprägungen der aufklärerischen Aberglaubenskritik in Deutschland beeinflußt.

I. KANT: Über eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790), in: Werkausgabe (a.a.O., Bd. V, 334). C. A. CRUSIUS: Gründliche Belehrung vom Aberglauben zur Aufklärung des Unterschiedes zwischen Religion und Aberglauben (Leipzig 1767, 4). Vgl. ALTHEIM 1951/53 (Bd. II, 84). Isidor v. SEVILLA: Etymologiae seu Origines I 29,1 (ed. PL 82, 105). Zu Isidor s. ALTANER 1960 (458-461). Etymologiae seu Origines X,244 (ed. PL 82, 393).

Im zweiten Buch der Schrift De natura deorum erläutert Cicero den Unterschied von religio und superstitio. Er bemerkt hierzu:6 non enim philosophi solum veruzn etiam maiores nostri superstitionem a religione seperaverunt. Nam qui totos dies precabantur et immolabant, ut sibi sui liberi superstites essent, superstitiosi sunt appellati, quod nomen patuit postea latius... (Il,z8).

Eine Übersetzung des frühen 18. Jahrhunderts drückt die Ciceronische Bestimmung der superstitio besonders schön aus: »Denn nicht nur die Weltweisen, sondern auch unsere Vorfahren haben die Religion von dem Aberglauben abgesondert. Denn die gantze Tage durch beteten und opfferten, daß ihre Kinder möchten beym Leben erhalten werden (superstates), selbige hat man abergläubische Leute genannt, (superstitiosus von dem Worte superstes) welches Wort hernach eine weitläufigere Bedeutung bekommen«.7 Diese etymologische Ableitung von superstitio, die auf die Bedeutung von superstes = überlebend rekurriert, läßt sich in allen Schriften aufklärerischer Aberglaubenstheorie wiederfinden, und nur in wenigen Fällen wird dieser Herleitung widersprochen. Einwände, die Ciceros Etymologie als sprachlich nicht korrekt und der Sache unangemessen bezeichnen, verweisen dabei häufig auf die kritischen Bemerkungen des Kirchenvaters Laktanz , der in seinen 304/13 verfaßten Divinae institutions die Ciceronische Ableitung rundweg als inepta, als albern und lächerlich ablehnt. Dieses Verfahren, den von den Humanisten aufgrund seiner Latinität als »christlichen Cicero« gerühmten Kirchenlehrer gegen seinen Namensgeber auszuspielen, ist auch in der orthodox inspirierten Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts weiterhin beliebt und spiegelt dabei die Auseinandersetzung zwischen christlich-orthodoxer Apologetik und aufklärerischer Literatur, die Ciceros Etymologie von superstitio »auf ihre Fahnen schreibt«, wider. Seine Ablehnung der »albernen« Etymologie begründet Laktanz interessanterweise weniger mit einem sprachlich angemesseneren, als mit einem der »Sache selbst« entsprechenden Hinweis: »haec interpretatio quam inepta sit, ex re ipsa licet noscere« !* Dabei versucht er deutlich zu machen, wie unklar Cicero den Grenzverlauf zwischen superstitio und religio gelassen hat. In De natura deorum ergänzte dieser seine s«pmizi»o-Erklärung mit einer Etymologie von religio, in der religio von re-legere im Sinne von »achtgeben« bzw. »bedenken« abgeleitet wird:'

' CICERO: De natura deorum, in: Scripta quae manserunt omnia, Fasc.4j (Post O. PLASBERG ed. W. Ax, Stuttgart {'1933) 1980, 77-78). 7 J. F. BUDDE: Lehr-Sätze von der Atbeisterey und dem Aberglauben (Jena "1713,595). * LAKTANZ: Divinae institutiones IV,i8 (ed. CSEL 19, 389 — die folgenden Zitate ebd., 389-391). » De natura deorum , (ed. W. Ax, a.a.O., 78).

Quia autem omnia, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tanquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, ut elegantes ex eligendo, tanquam ex diligendo dilegentes, ex intelligendo intelligentes. His enim verbis omnibus inest vis legendi eadem, quae in religiose (II, 28).

Die durch das Wort religio gekennzeichnte Bedenklichkeit und Achtsamkeit kann je nach Interpretation leicht als Ängstlichkeit bzw. Angst verstanden werden, so daß ein begrifflicher Austausch von religio und superstitio, die ursprünglich den graduellen Unterschied zwischen Scheu und Angst andeuten sollten, möglich wird. Ein Umstand, den Cicero im angeschlossenen Satz auch bemerkt, Laktanz ihm aber negativ anrechnet: »Ita factum est in superstitioso et religioso alterum vitii nomen alterum laudis«. Daß mit dem Adjektiv religiosus tatsächlich das Verhalten eines superstitiosus beschrieben wurde (und also Laktanz dem Cicero rein sprachgeschichtlich keinen Vorwurf machen kann) bestätigt auch Nigidius Figulus in Aulus Gellius' Noctes Atticae (IV 9,2):'° »religiosus is appelatur, qui nimia et superstitiosa religione sese alligaverat, eaque res vitio assignabatur«. Die tadelnde Bedeutung von religiosus sieht Nigidius morphologisch durch das Suffix -osus bezeichnet, das in diesem Fall ein Übermaß an Religiosität kennzeichnet: »Hoc inclinamentum semper huiuscemodi verborum, ut: vinosus, mulierosus, religiosus, nummosus significat copiam quandam immodicam rei...«. An begriffliche Unklarheiten, die Cicero gelassen hat, will Laktanz seine Argumentation anknüpfen und verlangt nach einer genaueren Differenzierung der in seinen Augen nicht austauschbaren Begriffe: Während sich religio und superstitio nach Cicero nur dadurch unterscheiden, daß die superstitiosi übermäßig die Götter anflehen, ihre Kinder mögen am Leben bleiben, setzt Laktanz die Trennung am gemeinsamen Merkmal von religio und superstitio an. Beide sind Verehrung der Götter, beide gebrauchen Kultformen und gründen auf religiösen Vorstellungen. Erst unterschiedliche Kultausübung und verschiedene religiöse Inhalte bedingen nach Laktanz eine begriffliche Differenz von religio und superstitio, wobei der erste Begriff für den wahren Kult Gottes und die richtigen theologischen Vorstellungen steht, der zweite hingegen für die falschen religiösen Inhalte und Rituale: »nimirum religio veri cultus est, superstitio falsi«." Vom christlichen Standpunkt aus fällt Laktanz natürlich eine Unterscheidung in wahren und falschen Kult Gottes nicht schwer, und superstitio erhält AULUS GELLIUS:Noctes Atticae IV 9,2 (ed. A. LION, Göttingen 1825, 159). »Nimirum religio veri cultus est, superstitio falsi. et omnino quid colas interest, non quemadmodum colas aut quid precere. sed quia deorum cultores religiosos se putant, cum sint superstitiosi, nee religionem possunt a superstitione discernere nee significantiam nominum exprimere. diximus nomen religionis a vinculo pietatis esse deductum, quod hominem sibi deus religaverit et pietate constrinxerit, quia servire nos ei ut domino et obsequi ut patri necesse est.« 43

vor diesem Hintergrund eine andere »Etymologie«, die jedoch wie bei Cicero superstes (= überlebend) als Bezugspunkt nimmt: »Superstitiosi autem vocantur non qui filios superstites Optant — omnes enim optamus —, sed aut ii qui superstitem memoriam defunctorum colunt aut qui parentibus suis superstites colebant imagines eorum domi tamquam deos penates«. Etwas konsequenzlos hat sich der etymologische Rückgriff auf superstes auch bei Laktanz erhalten, so daß sein Vorwurf an Cicero, er habe eine »alberne« Worterklärung entworfen, nur die inhaltliche Begriffsbeschreibung angreift. Schließlich bleibt Ciceros Etymologie als sprachgeschichtlicher Versuch selbst für Laktanz überzeugend. Beider Standpunkte sind verschieden genug, daß im Zeitalter der Aufklärung nur selten auffällt, wie wenig Cicero und Laktanz um eine korrekte etymologische Ableitung von superstitio aus superstes = überlebend bemüht sind. - Daß aber der Kirchenlehrer inhaltliche Kriterien zur Begriffsbestimmung von superstitio heranzieht, die im Gegensatz zu denen Ciceros nur relativen Wert haben (nämlich den einer »wahren« Religion gegenüber einer »Falschen«), wird ausdrücklich in der Aberglaubenskritik der Aufklärung bemerkt: Cicero bestimmt den Gehalt von superstitio eben nicht von superstes her, sondern durch die Maßlosigkeit und Ängstlichkeit der superstitiosi, die »totos dies precabantur et immolabant«. Laktanz bezieht sich zwar auch auf superstes, verknüpft seine begriffliche Bestimmung aber mit der Vorstellung, daß der heidnische Götterkult aus der Verehrung der Verstorbenen (der Penaten) entstanden sei, womit er diesem »Götzendienst« den Kult des »einen und wahren Gottes« gegenüberstellen kann: »superstitiosi ergo multos ac falsos deos colunt, rtos autem religiosi qui uni et vero deo supplicamus«!

2. Philologische Anmerkungen Hier ist der geeignete Ort für einen kurzen Seitenblick auf die gegenwärtigen Erklärungsversuche des Rätselwortes superstitio.11 Grundsätzlich läßt sich dabei vorwegnehmen, daß auch die durch philologische Erkenntnisse des Neuhumanismus »gelehrter« gewordene Etymologiediskussion in den meisten Fällen ihren Ausgangspunkt vom Adjektiv superstes nimmt. Bezeichend sind vor allem frühe ethnologische Äußerungen, die den Gegenstand ihrer Forschungen als vergangene Formen volksreligiösen Lebens ansehen und ihn mit »Überlebsel« (survival)1* oder »Überbleibsel« in Anlehnung an die überkommene Be12

Zur philologischen Diskussion von superstitio, die bis heute unentschieden ist, vgl. HAHN 1840, MAUTHNER 1922/23 (Bd. I, 5 — 8), LINKOMIES 1931, FREUDENBERGER 1967 (189-199), CALDERONE 1972, GRODZYNSKI 1974 und HARMENING 1979 (263').

'' So bei Edward Burnett TAYLOR: Primitive Culture (Bd. I-II, London '1929; z.B. Bd. I, i6f., 72 usw.). 44

deutung von superstes1* bezeichnen. Daß hier eine Erbschaft des Zeitalters der Aufklärung vorliegt, ist dem Sprachgebrauch nach belegbar'5 und bestätigt sich besonders in einem kurzen Vermerk Jakob Grimms (1785 — 1863), der an eine Aufzählung der verschiedensten Bezeichnungen für »Aberglaube« die Feststellung knüpft, sie seien alle dem lateinischen superstitio nachgebildet, »das selbst aus superstes abzuleiten ist, und ein im einzelnen menschen fortbestehendes verharren bei ansichten bezeichnet, welche die große menge vernünftig fahren läßt«.'* Natürlich bestimmt hier wiederum die Sacherklärung die Etymologie und die Rückkehr zu einer rein sprachlichen Ableitung fällt schwer. Dieses Dilemma gilt auch für die klassische Philologie, deren Beiträge zur Wongeschichte von ittperstitio mit Nachdruck an superstes als Zentrum der Überlegungen festhalten. Ganz im Sinn der animistischen Theorie E. B. Taylors stellt E. MüllerGraupa fest, daß superstes als »Euphemismus für den Geist des Verstorbenen, den Totengeist« zu verstehen sei, »der nach Anschauung der Primitiven wiederkehrt und als Gespenst spukt und umgeht«.'7 Superstitio erweist sich als »Dämonen- und Gespensterglaube«, wobei Müller-Graupa niemand Geringeren als Arthur Schopenhauer zum Zeugen anruft, der in seinen Parerga und Paralipomena ganz ähnlich vermutete: »Ich vermuthe jedoch den Ursprung des Wortes darin, daß es, von Hause aus, bloß den Gespensterglauben bezeichnet habe, nämlich: defunctorum manes circumvagari, ergo mortuos adhuc superstites esse«.1' Einen anderen, vielfach beachteten Beitrag lieferte E. Linkomies mit dem Hinweis auf die eingeschränkte Bedeutung von superstes im Sinne von »jemanden überleben«, »über dem Besiegten, am Boden liegenden Gegner stehen«, woraus sich seiner Meinung nach für superstitio die grundsätzliche Bedeutung von »Überlegenheit« ergibt: »superstitio ist dasselbe wie superiorem esse«." Spezifizieren läßt sich die inhaltliche Bestimmung dahin, daß im römischen Sprachgebrauch mit superstitio besonders die Zauberei angesprochen wurde, denn es 14

RIESS 1874, 29. E. RIESS äußerte sich Jahre später (RIESS 1895, 41) differenzierter: »I have elsewhere derived the word from superstes and interpreted it as survival. I do not, by any means, consider this etymology as certain, but in lack of something better {!), I still venture to adhere to it«. 11 So z.B. bei Christian August CRUSIUS, Abhandlung von den Ueberbleibseln des Heidenthums in den Meynungen vom Tode ... (Leipzig 1765), oder bei Johann Salomo SEMLER im Vorwort zum anonymen Versuch einer biblischen Dämonologie (Halle 1776). Vgl. den Begriffsgebrauch von Überbleibsel bei H. JUNG-STILLING, Theorie der Geisterkunde (1808), a.a.O., 203. " GRIMM 1835, 639. 17 MÜLLER-GRAUPA 1931, 63. 18 A. SCHOPENHAUER: Parerga und Paralipomena (§ 303) in: Zürcher Ausgabe, Bd. X. (Zürich 1977, 626). " LINKOMIES 1931,81. 45

handelt sich dabei um eine »Überlegenheit hinsichtlich der Dämonen, ... der Geister«.10 Aber auch diese Etymologie, die sich ergänzen ließe mit dem Hinweis S. W. F. Margadants,11 die älteste Bedeutung von superstes sei »Zeuge«, vermag das Rätsel von superstitio nicht zu lösen. — »Es gilt auf die älteste Bedeutung zurückzugehen, die uns in diesem Falle einen deutlichen Fingerzeig gibt«. Diese Richtung einzuschlagen, ist der Vorschlag W. F. Ottos," dessen Erklärungsversuch von superstitio neue Wege zu gehen verspricht und in letzter Zeit deutlich (besonders in der volkskundlichen Forschung) den Vorzug erhält. Die »älteste Bedeutung« findet Otto weniger in superstes als im Umfeld des Wortgebrauches von superstitiosus, vor allem in der alten Komödie bei Plautus (* 184 v.Chr.). Dessen nur in Bruchstücken erhaltenes Werk bildet das erste größere Sprachdokument des Altlateins und verweist an einigen Stellen23 auf den Wortgebrauch »wahrsagend« für superstitiosus. Im Intrigen- und Erkennungsstück Curculio (»Der Kornwurm«) findet sich der Satz »superstitiosus hie quidemst: vera praedicat« (V.}?/), den Otto sinngemäß mit »das ist ein Wahrsager, er trifft das Richtige« übersetzt.14 An anderer Stelle, im Amphytrio (der bekannten Tragikkomödie und Mythentravestie) bestätigt sich die Übersetzung Ottos: »illic homo superstitiosust« (V.^i)) — »der Mann ist ein Wahrsager«.2' Die Schlußfolgerung aus dieser Tatsache, daß superstitiosus den »Wahrsager, Propheten, ja sogar den in heiligen Wahnsinn Wahrsagenden« in den altlateinischen Quellen bezeichnet, läßt es Otto als undenkbar erscheinen, superstitio hätte ursprünglich ganz allgemein so etwas wie »Aberglaube« bedeutet und wäre nur speziell zur Bezeichnung des Wahrsagens verwendet worden. Ebenso fällt ihm auf, daß »der Begriff des Tadelnswerten ... dieser ältesten Gebrauchsweise vollkommen fern« ist.1* An solche Überlegungen schließt Otto seinen Vermittlungsversuch zwischen superstitiosus und superstitio an, der ihm nicht ganz zu Unrecht unter den Philologen herbe Kritik27 eingebracht hat:28 " Ebd., 84. 11

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MARGADANT 1930, 284. - Weitere Etymologien bei A. WALDE, Lateinisches Etymologisches Wörterbuch (1954), 631 — 633. OTTO 1909/11, 51 - Vgl. bereits HAHN 1840, 5! Auch E. RIESS kennt diesen Weg: RIESS 1895, 41 und 41 Anm. 3 + 6. Siehe G. LODGE:LexiconPlautinum (Vol. II. Leipzig 1933, 742 s.v. »superstitiosus«). PLAUTUS: Comoediae, ed. F. LEO (Vol. I. Berlin '1958,314; vgl. OTTO 1909/11, 51). Ed. F. LEO, Vol. I, 17; vgl. auchRudens 1139: »Quid, si ista aut superstitiosa aut hariolast, atque omnia, quidquid inerit, vera dicat?« Ebenso war der republikanischen Tragödie dieser Wortgebrauch bekannt, s. ENNIUS, Alexander, Vv. 34—36.

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er-kluger Weiber«, vermutete. Trotzdem ist die enge Anbindung der Aufklärung an die begriffliche Bestimmung von superstitio durch Cicero unbestritten und ihre Folgewirkung trotz vorhandener Mißdeutungen (oder infolgedessen?) - weitreichend genug, Cicero tatsächlich als den malleus superstitionis zu bezeichnen, wie dies der britische Frühaufklärerjohn Toland (1670 — 1722) vorschlug. Kurz und eindrucksvoll unterstrich er im Entwurf einer Gesamtausgabe von Ciceros Schriften, mit der Toland seine Bewunderung des großen Lateiners krönen wollte, die Bedeutung Ciceros für die aufklärerische Aberglaubenskritik: »Et Tullius profecto prae cunctis mortalibus superstitionis malleus dici poterat«.4" Nicht allein die Tatsache, daß superstitio als Wortbildung vor Cicero nicht anzutreffen ist,49 oder daß eine deutlich abschätzige Akzentuierung des Begriffs überhaupt erst seit seiner Zeit feststellbar ist,'0 läßt die ciceronische Etymologie und Begriffsbestimmung eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Aberglaubenstheorie der deutschen Aufklärer spielen. Vielmehr ist es die weit verbreitete Einschätzung, in Cicero auch der Motivation nach einen Wahlverwandten in der Bekämpfung des Aberglaubens und der Verfolgung der allgemeinen Ziele von Aufklärung gefunden zu haben. Auf vielen Gebieten der philosophischen Auseinandersetzung läßt sich »Roms größter Rhetor« zum Bundesgenossen machen; selbst im Streit gegen die »scholastischen Grillen« aristotelisch gebundener Philosophie ist er eine große argumentative Hilfe, so daß sich besonders in der Frühaufklärung ein wachsendes Interesse an Ciceros Schriften bei gleichzeitigem großem Desinteresse an der peripatetischen Philosophie bemerkbar macht.5' löst, z.B. in bezug auf den Gespensterglauben (III. Hundert, No. 21, S. 28jff.), legt die oft unkommentierte Menge an Beschreibungen des Volksglaubens die Vermutung nahe, daß die Rockenphilosophie weniger der Aufklärung, als der weiteren Faszination durch den Aberglauben dienlich war. — Gleiches gilt für viele andere Sammlungen dieser Art, die dem Reiz der Polymathie erliegen und so eine Art »Halbaufklärung« propagieren. Ein schönes Beispiel bietet hier Johann Jakob BRÄUNER (1647-1718), Physikalisch- und historisch-erörterte Curiositäten; Oder Entlarvter teufflischer Aberglaube (Frankfurt/M. 1737), - ein Werk, dessen »aufklärerischer Anspruch« am Verlangen scheitert, »bey jedem Capitel einige rare und recht wunderwürdige Historien, nebst noch ändern seltsamen und lesenswerthen Sachen, zu nützlicher Erbauung und Zeitkürtzung« anzuführen. 48 J. TOLAND: Cicero illustratus (1712), in: Collection of several pieces... (Vol. I, London 1726, 283). Nicht ohne Anspielung auf den Malleus maleficarum (1487) von J. Sprenger und H. Institoris, dem Grundbuch der Hexenverfolgung (s. Kap. IV, Abschn. i). 4 » LINKOMIES 1931, 73. 10 FREUDENBERGER 1967,189. 11 So bemerkt David Hume (1711 —1776) ein wachsendes Interesse an Cicero bei großem Desinteresse an der peripatetischen Philosophie: »The fame of Cicero flourishes at

Nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Aberglauben und dessen konkreten Gestalten, also in der Kritik, erweist sich Cicero als ein wichtiger »Stichwortgeber«, sondern auch im konstruktiven Bestreben, sich von dogmatischen »Wahrheiten« der Offenbarungsreligion zu emanzipieren und Begründungskonzepte natürlicher Religion und Ethik zu entwickeln, konnte die deutsche Aufklärung - wenn auch in anderem Umfang als z.B. in England'1 — auf ihn zurückgreifen. So lassen sich die üblichen Beweise natürlicher Religion auf zwei begrenzen, die beide im Cicero nachzulesen sind" und in der Argumentation einer Theologia naturalis (besonders im Wolffianismus) gerne herangezogen wurden. Dieser Hinweis allein kann die zusätzliche Wertschätzung deutlich machen, die Cicero als Vorbild im Kampf gegen religiöse Vorurteile und Aberglauben erfährt. Ohne Übertreibung läßt sich in vielen Fällen dann auch G. Gawlicks Beschreibung von Ciceros Ansehen in der britischen Philosophie des 18. Jahrhunderts auf die deutsche Aufklärung übertragen :54

present; but that of Aristotle is utterly decayed« (An enquiry concerning human understanding (1748), in: The philosophical Works. Ed. by T. H. GREEN and T. H. GROSE, a.a.O., Vol. IV, 5). *' Vgl. ZIELINSKI 1967 (110 — 224) und GAWLICK 1967. Siehe ebenso GAWLICK 1963, 4of.: »Wenn die britischen Philosophen des 18. Jahrhunderts neben Bacon und Newton ein Vorbild hatten, dann war es Cicero ...«. 13 Sie gehen letztlich auf Epikur zurück. Der eine führt an, daß es kein Volk und keine Menschen gibt, die nicht auch ohne jede Unterweisung einen Vorbegriff (/inticipatio = prolepsis) von den Göttern haben; Cicero spricht zudem von einer eingepflanzten und eingeborenen Vorstellung (innatae cognitiones) der Götter und folgert: »de quo autern omnium natura consentit, id verum esse necesse est; esse igitur deos confitendum est« (De natura deorttm 1,16—17; ed- W· Ax, a.a.O., 18). Dieser Beweis läßt sich mit dem Hinweis auf einen consensus omnium gentium ergänzen; denn »alle glauben, es gebe eine göttliche Kraft und Natur, und dies nicht aufgrund irgendeiner Verabredung oder Abmachung unter den Menschen und nicht, weil es eine durch Sitten und Gesetze vorgeschriebene Meinung wäre« (Tusculanes 1,30; ed. O. GIGON, a.a. O., 34f.). Beide, sowohl der intuitive als auch der empirische Teil dieses Beweises (»nulla gens tarn fera, nemo omnium tarn sit inmanis, cuius mentem non imbuerit deorum opinio«), bedingen einander, wobei der zweite Teil des Beweises notwendigerweise des ersten Teils bedarf: die notio communis erklärt sich als notio innata. — Verschieden von diesem »Doppelbeweis« ist der andere bei Cicero anzutreffende: der kosmologisch-teleologische Gottesbeweis. Er deutet auf den geregelten und geordneten Lauf der Dinge und läßt die Schlußfolgerung dringlich werden, daß es einen Geist gibt, der diese Bewegung der Natur regiert: »cum videat omnium rerum rationem modus disciplinam, non possit ea sine causa fieri iudicare, sed esse aliquem intellegat ... statuat necesse est ab aliqua mente tantos naturae motus gubernari« (De natura deorum II,$; ed. W. Ax, a.a.O., 5$). — Zur Rezeption von Ciceros Gottesbeweisen im 18. Jahrhundert s. ZIELINSKI 1967 (2i2ff.) und GARTENSCHLÄGER 1968 (9iff.); — zu den Beweisen selbst s. BOYANCE 1971. 14 GAWLICK 1967,664 (vgl. ZIELINSKI 1967, 224).

Cicero became the champion in the fight against priestcraft and superstition and was finally distinguished with the honorary title of a free-thinker.

Gegenüber solchen Urteilen, die auch das Verhältnis der französischen Aufklärung" zu Cicero in großem Umfange bestimmten, sperrte sich die Entwicklung der deutschen Aufklärungsphilosophie dennoch in manchen Teilen. Zwar fand im 16. und 17. Jahrhundert auch in Deutschland als Reaktion auf die aristotelisch-scholastische Tradition ein zweiter Aufschwung der nichtperipatetischen antiken Lehren statt, insbesondere in der Moralphilosophie,'6 doch wurde lange Zeit der Verdacht des Atheismus gegenüber Cicero und der Stoa geäußert und zu einem nicht zu unterschätzenden Hemmnis. Gerade der häufige Rückgriff vieler deistischer und freidenkerischer Philosophen des englischen und französischen Raumes (z. B. Pierre Bayle und John Toland) auf stoisches Gedankengut nährte zusätzlich das seit dem Mittelalter zur Tradition gewordene Mißtrauen: »Die Stoiker konnten viel Wesens von Gott machen, und doch war ihre Lehre an sich selbst atheistisch, indem sie Gott und die Natur für eins ausgaben«.'7 Mit solchen Makel möglichen Atheismus' (oder gar »Spinozismus'«) behaftet hatte es jeder antike Schriftsteller schwer, in der weiterhin von christlichtheologischen Argumenten berührten Aberglaubensdiskussion der deutschen Frühaufklärung uneingeschränktes Gehör zu bekommen. Der Ciceronischen Superstitionsdefinition verhalf häufig der Hinweis zum Durchbruch, daß auch die Kirchenväter dessen Schriften als Argumentationshilfe in ihrem Kampf gegen Heidentum und Götzendienst betrachet und insbesondere aus den Büchern

" Besonders sind hier Pierre Bayle und Voltaire zu nennen. Siehe ZIELINSKI 1967 (24 j — 257), GARTENSCHLÄGER 1968 und DAY 1965. — Vgl. auch die Aussage Jean Louis CASTILLONS in seinem Essai sur les errettrs et les superstitions (Amsterdam 1765, 26): »A mon avis, de tous les philosophes, le plus sense, dumoins des intervalles, c'est Ciceron«. (< Die systematische Erneuerung des Stoizismus geht bekanntlich von Justus LIPSIUS' (1547-1606) Manuductio ad Stoicam philosophiam von 1604 aus, der schon 1606 die ElementA Stoicae philosophiae moralis von Caspar SCIOPIUS folgten. Neben dem 1662 erschienenen Traktat Le sage des Stoique ou I'Homme sans passions des Franziskaners Antoine LEGRAND sind auch kleinere Dissertationen von Jakob THOMASIUS (1622 — 1684) zur Stoa bedeutsam geworden. Vgl. Daniel Georg MORHOF (1639 — :691), Polyhistor literariits, philosophicus etpracticus... (' 1688), Vol.II. Lübeck 1747, 22 —14 (»De philosophiae Stoicae scriptoribus«). " Johann Georg WALCH: Philosophisches Lexicon (a.a.O., Bd. I, 213 s.v. »Atheisterey«). Siehe auch Walch's Historische und theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten außer der Evangelisch-Lutherischen Kirche (Bd. VI/i, Jena 1736, 46): »In der Stoischen Schule hatte man ein solches Systema, welches dem Spinozismo nahekommt.« — Vgl. J. F. REIMMANN, Historia universales atheismi et atheorum (Hildesheim 1725, 273-278). 53

De Divinatione und De natura deorum umfangreiches Material zur Bekämpfung unchristlicher Religionsausübung bezogen haben.5' Das Urteil über Cicero und die Stoa wurde differenzierter, je weniger sich die Aufklärung in ihrer Entwicklung mit dem Verdacht atheistischer Anwandlungen ihrer antiken Vorbilder abgab." Insbesondere innerhalb der Frühaufklärung wurden genügend Versuche unternommen, das Meinungsbild über den »Atheismus« der Stoa zu verändern. So bemühte sich z. B. der Rostocker Theologe Johann Christian Burgmann (1697 — 1775) in einer Exercitatio philosophica de Stoa a Spinozismo et atheismo exculpanda (1721)*° um eine genaue Betrachtung der Vorwürfe gegenüber den Stoikern; und auch die folgende Stellungsnahme des bedeutenden Moralphilosophen und Theologen Johann Franz Budde (1667-1729) nahm Cicero vor dem Atheismusverdacht genügend in Schutz und ließ seine Begriffserklärung von superstitio ohne weitere Hemmnisse für die Aberglaubenstheorie fruchtbar werden:6' Im übrigen ist das, was ich gesagt habe, daß auch einige der heydnischen Philosophorum die Religion gebührender Weise von dem Aberglauben unterschieden haben, auch von dem Zeugnisse Ciceronis zu erkennen, welcher uns zugleich den wahren Ursprung aller beyden Wörter lehrt.

Der von Budde angesprochene »wahre Ursprung« von superstitio, d.h. die traditionelle etymologische Erklärung aus sttperstes = überlebend, verbunden mit dem ciceronischen Ausdruck der anilis superstitio, machte es in der Folgezeit der Aufklärung möglich, Aberglauben wesentlich als Überkommenes, Veraltetes, als »alter Aberglaube« und Relikt vergangener Generationen und Zeiten (finsteres Mittelalter!) zu beurteilen, um auch im historischen Entwurf das Neue der Aufklärungsbewegung herauszustreichen: Das Überlebte, Veraltete und Hinderliche des Aberglaubens mahnte eine Wende zum Besseren an, deren Durchführung ganz im Zeichen eines neuen »Philosophischen Jahrhunderts« stand. '' Vgl. J. F. BUDDE: Theses theologicae de atheismo et superstitione (Jena 1717, 98ff.). Weitaus deutlicher äußerte sich hierzu J. TOLAND: »Can any man be so stupid as to count Cicero ... a Heathen, who, in his admirable Treatise of Divinatione and of the Nature of Gods, has demonstratively subverted their Polytheisms, Sacrifies, pretended Relevations, Prophecys, and Miracles ...« (Letters to Serena. London 1704, 117). — Zur Stellung der Kirchenväter gegenüber Cicero vgl. WARKOTSCH 1973. " Vgl. das Zedlersche Universal-Lexicon (ZEDLER VI, 20 — 31 s.v. »Cicero, M. Tullius«): »... der vornehmste unter allen lateinischen Rednern, und darbey nicht ein ungeschickter Weltweise ...« (20). io Johann Christian BURGMANN: Exercitatio philosophica de Stoa a Spinozismo et atheismo exculpanda (Wittenberg 1721; Resp.: F. J. Helms und A. Holtermann). Zu Burgmann s. DBA 168, 52-67. Siehe auch die Dissertation von Johann Christian WOLF (1683 —1739), Atheismifaiso suspecti vindicate (Wittenberg '1710, '1717; Resp. P. A. Boysen), wo ausführlich zum »Atheismus« der Stoa Stellung genommen wird. 6 ' ]. F. BUDDE: Lehr-Sätze von der Atheisterey und dem Aberglauben,.. (Jena '1723, 595). 54

Das Motto der Aberglaubenskritik, durch echte Erkenntnis den Aberglauben auszurotten, um die wahre Religion zu verteidigen, stammte ebenso von Cicero, und nicht wenige Aufklärer*1 schmückten damit die Titelblätter ihrer Kritikschriften: »ut religio propaganda etiam est, quae est iuncta cum cognitione naturae, sic superstitiones stirpes omnes eligendae« !*3

4. Von Cicero zu Lukrez Altersschwachsinn und Altweiberglaube verbinden große Kreise der Aufklärung mit dem Ciceronischen Begriff der anilis superstitio (bzw. superstitio mulierbris), wobei sie in dieser Interpretation Unterstützung durch die lateinischen Kommentatoren des 4. Jahrhunderts erhalten.*4 Diese spätantike Scholienliteratur erläuten schwierige Stellen der lateinischen Nationalliteratur (vor allem Vergil, Horaz und Terenz), belegt ungewöhnliche Formen durch Parallelen, notiert rhetorische Figuren, gibt mythologische und antiquarische Erklärungen, wobei natürlich neben echter Erläuterung manches steht, das allein als Kuriosität gesammelt wird: es sind besonders die Etymologien, die namentlich für seltene Wörter gerne angeführt werden. Die Eigenarten des »Rätselwortes« superstitio versucht das Scholion dabei mit besonderer Sorgfalt zu berücksichtigen: Der Schöpfer der meistgebräuchlichen Schulgrammatik des Mittelalters (Ars grammatica) und Lehrer des Hl. Hieronymus - Aelius Donatus (4. Jh. n.Chr.) - gibt in seinem Terenz-Kommentar die entsprechenden Hinweise, um superstitio »als ein dem Senilen verschwisterten Schwachsinn«*' zu definieren. Zur Terenz-Stelle Andria III 2,7 (»deos quaeso ut sit superstes«) bemerkt Donatus, superstes bedeute soviel wie salvus, und fügt unvermittelt hinzu: »alias superstites sunt senes et anus, quia aetate multis superstites iam delirant, unde et superstitiosi, qui deos inanis timent, quod est signum deliramenti« !** Bestätigung findet diese enge Verküpfung von Aberglaube und Schwachsinn beim Vergilkommentator Servius, der offensichtlich direkt an Donatus anknüpft:*7 In seinem Carmen heroicum, derAeneis, spricht Vergil (70 — 19 v.Chr.) von der »vana superstitio veterumque ignara deorum« und versucht damit eine 61

So z. B. John Toland auf dem Titelblatt seiner Schrift Adeisidaimon sive Titus Livius a superstitions vindicates... (Den Haag 1709).

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P. VERGILIUS MARO: The Works of Virgil (With a commentary of J. CONINGTON. Rev. by H. NETTLESHIP, Vol. III. London 88}, 104). Vgl. den Kommentar von J. Conington zu dieser Stelle (a.a.O., 698). Servius zu Aen. , /; in: SERVIUS GRAMMATICUS, In Vergilii carmina commentarii (Ed. G. THILO et H. HAGEN, Vol. II. Leipzig 1881/87, 116). Eine besonders gegen Ende des 17. Jahrhunderts beliebte Stelle, um gleich diejenigen genauer benennen zu können, »qui delirant«. Siehe z.B. die Dissertatio juridica de superstitione (1685) von Johann Christoph HÄRTUNG (t 1695) im i. Kap., These i: »superstitionem a superstite dictam, eo quod anicularum propria sit, quas multis per aetatem superstites esse experientia testatur, (unde et vulgo eine alte Hexen) et ita delirant«! (Jena 168 5, AutorResp.: M. Karnatz). Ebd. — Isidor v. Sevilla, der wie oben gezeigt die Ciceronische Etymologie tradiert hatte, fasst die wichtigsten antiken Versuche zur Erklärung des Wortes zusammen. Eine Zusammenfassung, die besonders Lukrez berücksichtigt. Er schickt aber auch eine »spezifisch christliche« Wonerklärung voran: »Superstitio dicta, eo quod sit super/Ina, aut superinstituta observatio. Alii dicunt a senibus, quia multis annis superstites per aetatem delirant, et errant superstitione quadam, nescientes quae vetera colant, aut quae veterum ignari asciscant. Lucretius autem superstitionem dicit superstantium rerum, id est, coelestium et divinarum, quae super nos stant, sed male dicit« (Etymologiae seu Origines VIII 3,6 —7;ed./ J £ 8z, 297). Gegen FREUDENBERGER 1967, 190, und HAHN 1940, 22.

sehe Worterklärung, wobei er superstitio und religio tatsächlich synonym setzt: »superstitio autem religio, metus, eo quod superstet capitis omnis religio«.71 Der Text der Lukrez-Stelle erweist sich philologisch als kohärent, und eine irrtümliche Zitierung scheint ausgeschlossen: problematisch ist allein der synonyme Gebrauch von religio und superstitio. Dieser Schwierigkeit nachzugehen, die im Zeitalter der Aufklärung verschieden gelöst wurde, eröffnet den Zugang zu einem andersartigen Rezeptionsstrang antiker Begriffe für das Problemfeld »Aberglaube«: Der synonyme Wortgebrauch von religio für superstitio bei Lukrez markierte während seiner Rezeption im 18. Jahrhundert den Übergang von der Aberglaubens- zur Religionskritik; ein Übergang, der gerade in der deutschen Aufklärung nur selten geschah, zumal die epikureische Tradition des Lehrgedichts De rerum natura als antiker Wegbereiter des modernen Materialismus und Atheismus angesehen und nicht nur allein von der christlichen Orthodoxie bekämpft wurde. Die Rezeptionsprobleme des Lukrezschen re/tgio-Begriffs waren völlig andere als diejenigen von superstitio innerhalb der übrigen antiken Quellen, — und falls eine Rezeption geschah, so vollzog sie sich in den ersten Jahrzehnten der Frühaufklärung verdeckt, um dem Vorwurf der Religionskritik zu entgehen,73 den jede Bezugnahme auf Lukrez' Begriffserklärung implizierte. Die Berechtigung* dieses Vorwurfs zu überprüfen bzw. die engen Verbindungen von aufklärerischer Religionskritik und dem religioBegriff des Epikureers (wie sie z. B. für die französischen »Lumieres« eindeutig sind) vorzuzeichnen, macht eine Analyse des Wortgebrauchs im Lehrgedicht De rerum natura nötig, die im folgenden unternommen werden soll.

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Servius zu Aen. XII,8i6/i 7 (ed. G. THILO/H. HAGEN, a.a.O., Vol. II, 643). Vgl. den Kommentar zu Aen, ,/ij: »Religione patrum timore: et est reciprocum ... religio ... id est metus ... connexa enim sunt timor et religio...« (a.a.O., Vol. 1,323). In Deutschland geschieht die Übernahme der lucretianischen Sacherklärung oft versteckt und anonym. Die Motivation, in diesem Falle Anonymität zu wahren, ist klar: die mögliche Gleichsetzung von Religion und Aberglauben durch die lukrezsche Begriffsbestimmung setzt dem Atheismusverdacht aus; vgl. Gerhard Johannes Vossius (1577-1649), De Theologia gentili et physiologia Christiana: sive De Origine ac Progressu Idololatriae... (Frankfurt '1641, 1668, in) - wo lediglich vermerkt wird: »Latinis superstitio, a superstando«. Oder Johann Joachim ZENTGRAV (1643 -1707), Dissertatio de superstitione et remediis superstitiosis insignioribus ... (Straßburg 1677; AutorResp.: J. D. Rein): »Latini superstitionem dicunt a superstando vel superinstando, quod sit quasi religio quaedam ex rebus supra nos constitutis, sideribus imprimis, aliquid sibi promittens metuensque« (2). Die Namensnennung von Lukrez wird vermieden, hingewiesen wird nur auf die sog. Latini (vgl. aber Kap. III, Abschn. 2). 57

5- »Tantum religio potuit suadere malorum« Epikur und Lukrez sind mächtige, aber zwiespältige Hintergrundfiguren des 17. und 18. Jahrhunderts ... I P. Saine" Lukrez leitet sein Lehrgedicht De rerum natura (der Titel ist dem Peri physeos frühgriechischer Epen nachgebildet) mit einer Anrufung der alma Venus ein, der dann ein Lobpreis seines Lehrers Epikur folgt. Auf diesen Abschnitt des ersten Proömiums bezieht sich der Hinweis des Servius und all derer, die der Ableitung »superstitio a superstando« (G.J. Vossius) folgen: Humana ante oculos foede cum vita iaceret in terris oppressa gravi sub religione quae caput a caeli regionibus ostendebat horribili super aspectu mortalibus inst ans, primum Graius homo mortalis tollere contra est oculos ausus primusque obsistere contra, quem neque fama deum nee fulmina nee minitanti murmure compressit caelum ...

(1,62 — 69).

Das Elogium7' preist Epikur als den ersten, der es gewagt hat, der »Schreckensfratze« religio entgegenzutreten: »primum Graius homo7* ... tollere contra est oculos ausus primusque obsistere contra«. Die religio streckt nach der Beschreibung des Lukrez ihr Haupt aus den Himmelsregionen den Menschen entgegen und bereitet ihnen ein Leben unter der ständigen Bedrohung durch Blitz und Donner (»vita in terris oppressa«) und der fama deorum, dem »Gerede« von Göttern. Die gravis religio wird als »super ... instans« eingeführt, was die Ab-

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SAINE 19763, 331. " Lateinische Textgrundlage ist die Edition von C. BAILEY (De rerum natura libri VI. Ed. with prolegomena, critical apparatus, translation and commentary, Vol. I—III. Oxford 1947). Für die deutsche Übersetzung wurde auf die lat.-dt. Ausgabe von K. BÜCHNER (Stuttgart 1973) zurückgegriffen (in Zweifelsfällen wurde auch die Ausgabe von H. DIELS berücksichtigt). 7< Die namentliche Nennung Epikurs wird von Lukrez durchgehend vermieden; nicht selten wird der Eindruck erweckt, den Namen des Meisters auszusprechen, wäre die Verletzung eines Tabus: »deus ille fuit, deus« (V,8)! Ein einziges Mal wird der Name Epikurs erwähnt, jedoch innerhalb einer langen Liste großer Männer der Vergangenheit (111,1041). — Der Ausdruck »Graius homo« selbst stammt von ENNIUS, Xwn. 177: »Navus repertus homo Graius patre Graius homo rex«, und wird ebenso gebraucht bei VERGIL, Aen. , . — Zur Frage, ob der Vers »primum Graius homo ...« nicht allein Epikur, sondern verschiedenen theoretische Vorläufer des Lukrez meint, s. EDELSTEIN 1940 (dagegen 1,75: »victor« bezeichnet eindeutig eine Person und die Proömien des ganzen Lehrgedichts verweisen klar auf Epikur; bes. 111,3: »O Graiae gentis decus ...«). 58

leitung des Servius aus super-instare bzw. super-stare für superstitio erklärt (das Verb superinsto selbst ist unbekannt). Der Hinweis, daß superstitio als ausgebildetes Wort vor Cicero nicht anzutreffen ist, muß an dieser Stelle wiederholt werden; - erhält er doch eine zusätzliche Bedeutung, da nach einer Notiz des Hl. Hieronymus Cicero die posthume Ausgabe des Lukrezschen Werkes besorgt haben soll: »... aliquos libros ... quos postea Cicero emendavit«.77 Beweisen läßt sich mit diesem Hinweis, der selbst umstritten ist, nichts, doch bleibt er im Zeitalter der Aufklärung keinesfalls unbemerkt78 und läßt Spekulationen über einen möglichen Zusammenhang der lucretianischen Wortverbindung von super und instans mit der Wortbildung superstitio aus Ciceronischer Zeit freien Lauf. - In einem solchem Zusammenhang vermutet zumindest schon Servius den re/igio-Begriff des Lukrez, wenn er die communio nominis von religio und superstitio in metus bzw. timor gegründet sieht, die (wie oben gezeigt7') eine Austauschbarkeit beider Begriffe je nach Interpretation ermöglichen kann. Welche inhaltliche Füllung gibt aber Lukrez seinem Begriff der religio, und welche Merkmale bestimmen dabei die Synonymität mit superstitio ? Sein Lehrgedicht, das in vielfältigen Editionen des 16. und 17. Jahrhunderts der Aufklärung zur Verfügung stand,80 und dessen philosophischer Hintergrund durch die Arbeiten Pierre Gassendis und seiner Anhänger Franjois Bernier und Jacob du Rondel über die Lehren Epikurs8' in breitem Umfange erarbeitet war, verzeichnet das Wort religio an 14 Stellen:82 Die auffälligste Häufung des Begriffs geschieht im Proömium des I. Buches, wo auch das Elogium 77 78 79

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Hieronymus bei EUSEB, Werke (ed. GCS 24, Leipzig 1913, Bd. VII/i, 149). Vgl. das Zedlersche Universal-Lexicon (ZEDLER XVIII, 751)· S. vorhergehenden Abschnitt; zum Begriff religio s. bes. OTTO 1909/11 und KOBBERT 1910, die konträre Standpunkte einnehmen. Vgl. nochmals N. Figulus bei GELLIUS, Noct. Att. IV 9,2 (ed. A. LION, a.a.O., 159). Eine Liste dieser Editionen findet sich bei GORDON 1962 (mit Abb. von Titelblättern) und bei FLEISCHMANN 1964 (269-273). Vgl. ROCHOT 1944 und BLOCH 1971! Gassendis umfangreiche Interpretationen zu Epikur wurden von dem Mediziner F. BERNIER zu einem weiterhin umfänglichen Kompendium zusammengefaßt (Abrege de la philosophic de Gassendi, 7 Bde., 1678). Zu den bekanntesten Anhängern Gassendis gehörten neben J. du Rondel, der in einem Buch über das Leben und die Moral Epikurs schrieb, der Arzt und Skeptiker Samuel Sorbiere und der Baron des Coustures. — S. auch C. THOMASIUS, Ausübung der Sittenlehre (Halle 1696, 5if.): »... des Epicuri Philosophie, von dem Gassendo wieder aufgewärmet, und von Bernier in einen kurtzen Extract gebracht worden ...«. Zur Vollständigkeit: 1,63.78.83.101.109; 11,44.660; 111,54; IV,7; V,86.n4; VI,62.i276. Vgl. J. PAULSON, Index Lucretianus (Gothenburg 1911, i35f.). — Zur folgenden Interpretation, die das rezeptionsgeschichtlich Relevante zu bündeln versucht, vgl. u.a. ACKERMANN 1979 (122 — 140), ALTHEIM 1951/53 (11,74 — 82), HOWE 1957, MEWALDT 1935, MÜLLER 1967, REGENBOGEN 1932 (53-62) und SCHRIJVERS 1970 (308-312). 59

Epikurs als Sieger über die Schreckensfratze religio anzutreffen ist. Die drohende Macht der religio (»minitans« 1,68; »compressit« 1,69; »oppressa« 1,69) verkörpert sich in der Gestalt der Götter und findet ihren Ausdruck m furchteinflößenden Geschehnissen des Himmels, als deren aufregendste Blitz und Donner angeführt werden. Eine ausführliche Aufzählung davon gibt Lukrez in V, ii 9 off.(vgl.VI,2 5 off.): luna dies et nox et noctis signa severa noctivagaeque faces caeli flammaeque volantes, nubila sol imbres nix venti fulmina grando et rapidi fremitus et murmura magna minarum.

Aber nicht nur im Bereich der Natur entfaltet sich für ihn das Unwesen der religio. Im gesellschaftlichen Miteinander der Menschen wirkt ihre Macht ebenso und übt unheilvollen Einfluß aus: »saepius illa religio peperit scelerosa atque impia facta« (l,82f.)! Als eindrucksvollstes Beispiel ruchloser, aus religio verübter Taten, die als »impia facta« wahrer Frömmigkeit widersprechen, schildert Lukrez den Mythos der aulischen Iphigenie.** Der entsprechende Abschnitt 1,84 — 100 von De rerum natura zeichnet sich durch seine literarisch bestechende Beschreibung der Opferung Iphigenies aus, die in in ihrer Singularität erstaunliche inhaltliche Abweichungen von der geläufigen Tradition dieses Mythos aufweist. Mit Bedacht wählt Lukrez den in der Ilias (IX, 145 und 286) als älter belegten Namen Iphianassa für die Tochter Agamemnons und Klytaimestras, den Euripides (Or. 23) in seiner Standardisierung des Mythos durch Iphigenie ersetzt hatte. Weder eine Verwechslung, noch »archaisierende Neigung« liegen hier zugrunde,'4 vielmehr ist diese Namensgebung ein eindeutiger Hinweis auf Lukrez' Absicht, die Opferszene an ältere Überlieferungen anknüpfen zu lassen.8' Die Motivation zur Wahl tiefer liegender Traditionsschichten läßt sich aus der Konstellation der einzelnen Abweichungen ersehen. Lukrez führt Iphigenie als wehrloses, stumm vor Furcht in die Knie sinkendes Opfer ein (»muta metu terram genibus summissa«), bei deren Anblick die Umstehenden Tränen vergießen müssen. Der Gegensatz zur anderslautenden Tradition könnte nicht größer sein, wenn beispielsweise Cicero Iphigenie in den Tusculanes (l,n6) auf'' Die Vollständigkeit des rezeptionsgeschichtlich relevanten Materials zum IphigenieMythos dokumentieren das Zedlersche Universal-Lexicon (ZEDLER XIV, 1242 — 1244 s.v. »Iphigenia«) und Benjamin HEDERICH, Gründliches mythologisches Lexicon (verm, und verb, von J. J. Schwaben. Leipzig 1770, 1363 — 1366 s.v. »Iphigenia«). Eine Zusammenstellung der antiken Quellen findet sich bei CROISELLE 1962 (221 — 225 mit Abb.). 84 So C. BAILEY und K. BÜCHNER in ihren Kommentaren. "' Daß Lukrez die aulische Iphigenie des EURIPIDES mit im Blick hat, belegt der Vers 1,94 (»daß sie zuerst schenkt Vaters Namen den König«): Obwohl er den Standard des Euripides bewußt durchbrechen will, lehnt er sich hier an ihn an: »als erste nannte ich Dich Vater und Du mich Kind« (jph. Aul. 1220) 60

rechten Ganges zur eigenen Opferung gehen läßt: »Iphigenia Aulide duci se immolandam iubet, >ut hostium eliciatur suo Vgl. die Wesensbestimmung des Menschen, die Thomasius in der Ausübung der Sittenlehre (a.a.O., 81) gibt. 26 Vgl. Einleitung zur Vernunßlehre: »Die Rede ist eine Anzeigung der menschlichen Gedancken, und sind diese beyde stetswährend mit einander verknüpfft, weßwegen auch die Gedancken von denen Alten sind eine innerliche Rede genennet worden« (a.a.O., 100). »Ich habe einer innerlichen Rede erwehnet, und habe bißher noch keinen angetroffen, der nicht bey seinen Gedancken die Empfindligkeit bey sich gehabt, wenn ein andrer mit ihm redet« (a.a.O., .).

deshalb auch von der »vernünfftigen Liebe oder Zuneigung zu einer ruhigen und friedlichen Gesellschafft« (345). Daß an dieser Stelle das begründende Prinzip der Rechtslehre und die vernünftige Liebe als Prinzip der Ethik wieder zusammengeführt wurden, basierte auf ihrer gemeinsamen Verwurzelung in der auf Verständigung angelegten (kommunikativen) Vernunftnatur des Menschen. Wie W. Schneiders zeigt, schloß Thomasius in den Institutiones die traditonelle Naturrechtsbegründung aus der recta ratio bzw. der natura hominis rationales mit der modernen Begründung aus dem Geselligkeitsprinzip noch enger als zuvor zusammen, denn das »Vernünftige ist das Gesellige, weil die Vernunft selber wesentlich gesellig ist«.27 Im Zusammenhang der Sittenlehre, »die den Menschen unterweiset, worinnen seine wahre und höchste Glückseligkeit bestehet« (57), ergab sich für Christian Thomasius aus der Wesensbestimmung des Menschen als vernünftig Liebenden nur eine Schlußfolgerung: Die »wahre und höchste Glückseligkeit« müßte in der vernünftigen Liebe zu suchen sein, weil Glück und Tugend nicht anders als in der Vollendung und Verwirklichung der menschlichen Natur gesehen werden könnten. Charakterisierte Thomasius einerseits die Glückseligkeit als Gemütsruhe, die als »ruhige Belustigung« definiert wurde, »welche darinn besteht, daß der Mensch weder Schmerzen noch Freude über etwas empfindet« (Sj),18 führte er sie andererseits wieder mit der vernünftigen Liebe zusammen: Denn »wollest du dannenhero dieses höchste Gut des Menschen mehr nach seinem Ursprung und Würckung als nach seinem Wesen benennen, köntest du es eine vernünfftige Liebe heissen. Denn die vernünfftige Liebe ist nichts anders als eine Vereinigung gleicher Gemüther, die das gröste Gut besitzen« (88). — Thomasius entnahm den Begriff der Gemütsruhe noch der antiken Moralphilosophie (wobei eine größere Annäherung an die .Atardxte-Vorstellung der Epikureer als an das Ideal der Apathie im Stoizismus festzustellen ist), spitzte diesen jedoch unter Einbeziehung der Liebesnatur des Menschen dahin zu, daß sich die Gemütsruhe weniger als individuelles Glücksstreben, sondern vielmehr als Streben nach Vereinigung mit anderen Menschen erwies. Die Glückseligkeit in der Gemütsruhe und die Tugend der vernünftigen Liebe bedingten einander gegenseitig — in dem Sinne, so Thomasius, »daß die Gemüts-Ruhe aus der Liebe anderer Menschen entspriesse, und dieselbe stetswehrend wiederumb würcke« (157).

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SCHNEIDERS 1971 (109—113, hier: 110). Zu Thomasius' Naturrechtslehre und Rechtstheorie s. RÖD 1970 (151-184), RÜPING 1968, WIEBKING 1973, HAMMERSTEIN 1979 sowie LINK 1979(253—271). C. Thomasius bezeichnet die Gemütsruhe gelegentlich auch als »indifferente Belustigung des Gemüths« (Monatsgespräche, a.a.O., Bd. III, 28).

So konnte die Tugend als Vollendung der menschlichen Liebesnatur zugleich »Mutter und Tochter der wahren Glückseligkeit« sein (in), was in der Ausübung der Sittenlehre vier Jahre später bestätigt wurde: »Die vernünfftige Liebe ist die Gemüths-Ruhe«.'' /. 2.2. Menschen - und Gottesliebe Während der Begriff der Gemütsruhe, den Thomasius antiken Vorstellungen entlehnte, seine Zuspitzung und neuartige Bestimmung durch Einführung des Liebesgedankens erfuhr, entwickelte sich umgekehrt aus dem Grundkonzept christlicher Liebesethik, der augustinischen Caritas ordinata^ deren säkulare Variante. Thomasius' Moralphilosophie kann vor allem als eine »Säkularisation der christlichen Liebesethik«31 verstanden werden, die ihren Begriff vernünftiger Liebe zwar an der Idee der friedfertigen Liebe zum Menschen und zu Gott orientierte, diese jedoch in wesentlichen Punkten reduzierte und umgestaltete. Dem Axiom caritas incipit a se ipsa, daß wahre Menschen- und Gottesliebe aus natürlicher Selbstliebe entspringe,32 stimmte Thomasius in keiner Weise zu, ganz im Gegenteil erkannte seine Einleitung zur Sittenlehre die Eigen- oder Selbstliebe nur als zweitrangiges Phänomen an: »man möge ... von der rechten und verbothenen Selbst-Liebe reden was man wolle, alle Menschen auch so gar die Lasterhafftesten (lieben) andere Geschöpffe würcklich mehr ... als sich selbst« (88). Für Thomasius war die Selbstliebe bloß eine abgeleitete und aus Gründen der Selbsterhaltung gebotene Tugend,33 die ihm als sekundäres Moment im Hinblick auf die vernünftigen Menschenliebe erschien. Das paradoxum (wie Thomasius es nennt), »daß das Wesen des Menschen mehr in einer Liebe anderer Menschen, als in einer so genannten Selbst-Liebe bestehe«, obwohl es umgekehrt scheint (157), löste sich entsprechend auf: Die Interpretationsfrage, wie das sicut te ipsum der christlichen Liebesforderung (Mt. 19,19! Lev. 19,18) verstanden werden müßte, beantwortete er dahingehend, daß die '' Ausübung der Sittenlehre (a.a.O., 1741.). 30 Die Lehre der caritas ordinata läßt sich auf Augustinus zurückführen, der z. B. in De civitateDei bündig formuliert: »definitio brevis et vera virtutis, ordo est amoris« (De civitate Dei XV,22; ed. CChrL XLVIII, 488). Zur Caritas ordinata vgl. ARENDT 1929. Hinsichtlich ihrer Bedeutung für Thomasius s. SCHNEIDERS 1971 (bes. 25 — 30 und 69)· 11 So SCHNEIDERS 1971,152. ** Augustinus schreibt z.B.: »Dilige proximum tuum tanquam te ipsum: sed prius est ut tiligas te ipsum« (De disciplina Christiana VI, 5; ed. CChrL XLVI, 213). Oder noch stärker: »regulam diligendi proximum a semet ipso dilector accepit« (De civitate Dei I,2o;ed.CaW.XLVH, 22). " Vgl. in der Einleitung zur Sittenlehre das 8.Hauptstück: »Von der vernünfftigen Liebe gegen uns selbst« (a.a.O., 338-354).

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Selbstliebe des Menschen keine Vorstufe zur Nächstenliebe wäre, sondern im Gegenteil von ihr abhinge.34 Auch die Gottesliebe interpretierte Christian Thomasius im Anschluß an seine Neubestimmung der Menschenliebe anders. Im Umkreis der Auslegung von Mt. 19,19 bzw. Lev. 19,18 (diliges proximum tuum ipsum) stellte sich ihm das Problem, die Gottesliebe mit der Nächstenliebe als oberste Gebote miteinander verbinden und zugleich deren Unterschiede genauer bestimmen zu können. Schon Augustinus versuchte eine entsprechende Problemlösung innerhalb seiner Caritas ordinata -Lehre,3' indem der Kirchenvater das Verbindende beider Gebote christlicher Liebe in der Selbstliebe gegründet sah. Das erste Gebot der Gottesliebe war in Mt. , . gegeben, wo Christus auf die Pharisäerfrage, »Meister, welches Gebot ist das größte im Gesetz?«, antwortete: »Diliges dominum tuum ex toto corde tuo, et ex tota anima tua, et in tota mente tua. Hoc est maximum et primum mandatum«. So die Vulgata. Das zweite Gebot (Mt. 22,39^), das der Nächstenliebe, glich dem ersten: »Secundum autem simile est huic: Diliges proximum tuum, sicut teipsum. In his duobus mandatis universa lex pendet«. Das Christuswort implizierte eine Gleichgewichtigkeit der Gebote, wobei Augustinus das tertium comparationis in der Auslegung des Paulus, Rom. 13,9^, fand. Paulus pries dort die Liebe als die Vollendung des Gesetzes: »Diliges proximum tuum tanquam teipsum. Dilectio proximi malum non operatur. Plenitudo autem legis, caritas«.** In der Caritas auf Grundlage der Selbstliebe war also das Gemeinsame der beiden Hauptgebote anzutreffen, oder wie Augustinus anderswo bemerkte: »quae duo erant, unum factum est«.37 Fundament der Caritas blieb für Augustinus die Selbstliebe (»prius est ut diliges te ipsum«), die Thomasius jedoch als sekundär betrachtete. So stellte sich ihm ohne das verbindende Elemement der Selbstliebe die Aufgabe, zwar die Gleichgewichtigkeit von Gottes- und Menschenliebe beizubehalten, aber deren qualitative Verschiedenheit zu betonen. Dies führte zu einer Neuinterpretation der Gottesliebe, einer noch größeren Distanz zur christlichen Caritas ordinata-Lehre, und — in diesem Zusammenhang weitaus wichti-

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Vgl. ebd., 343: »Denn es fließet nicht alleine, wie gedacht, die Liebe gegen uns selbst aus der Liebe anderer Menschen her, sondern die Liebe anderer Menschen ist auch eine Richt-Schnur der Liebe gegen uns selbst... So ist auch hiernechst die Liebe anderer Menschen eine Richt-Schnur der Liebe gegen uns selbst, theils in Betrachtung, wie dieselbe einzurichten sey, theils in Ansehen, wie die Liebe gegen uns selbst der Liebe anderer Menschen weichen müsse«. " Hier ist besonders die Argumentation in Kap. V-VI von De disäplina Christiana (ed. CChrL XLVI, 112 — 213) angesprochen. 3 ' Zu bemerken ist, daß Augustinus den Vulgata-Ttia. an der entscheidenden Stelle anders als geläufig vorfand. Üblicherweise war zu lesen: »Plenitudo autem legis est dilectio«. 17 De disciplina Christiana VI )5 (ed. CChrL XLVI, 212). 86

ger - auch zu einer neukonstituierten Theorie des Aberglaubens, der sich nun im Gegensatz zur echten Gottes- und Menschenliebe befand. /. 2. j. Natürliche Theologie und Religion Im III. Hauptstück der Einleitung zur Sittenlehre thematisierte Thomasius Gott als den »Ursprung aller menschlichen Glückseeligkeit« und beschäftigte sich deshalb mit dem, »was die natürliche Erkäntniß desselben zu der grösten Glückseeligkeit contribuire« (115-153). Natürliche Theologie und natürliche Religion wurden so zum Gegenstand der Ethik. Thomasius erste Absicht war es, wie in seinen bisherigen Schriften auch3', einer Vermischung theologischer und philosophischer Aussagen zu entgehen, einem »Mischmasch«, »der nicht allein abgeschmackt, sondern auch auf gewisse Masse gefährlich ist«.3* Zwar sei es nötig, von Gott als dem Ursprung menschlicher Glückseligkeit ausreichend Erkenntnisse zu gewinnen, da »wir ohne diese nöthige Erkäntniß nicht einmahl die ... Gemüths-Ruhe rechtschaffend begreiffen oder besitzen können« (119), doch könne nach Thomasius' Überzeugung diese Erkenntnis allein »das Licht der gesunden Vernunfft ohne Beytrag göttlicher Offenbahrung« gewährleisten.40 Die Gründe für diesen eingeschlagenen Weg waren einleuchtend, ermöglichte dieser doch größere Einsichtigkeit und (überkonfessionelle) Verbindlichkeit der Argumentation als der unsichere und von theologischen Streitereien übersäte Pfad von Geheimnisdeuterei in biblischen oder dogmatischen Büchern. Thomasius ging konsequent von der Selbständigkeit natürlicher Verstandeserkenntnis gegenüber der Theologie und deren Erkenntnisquellen in Offenbarung und Glauben aus. Auch gegenüber reiner Vernunfterkenntnis erweise sich Gott als existentes Wesen4' und ebenso als die erste Ursache, von »welcher alle veränderliche und bewegliche Dinge ihren Ursprung haben« (121). Über dieses bloß »formalen concepte« von Gott als causa prima herrsche Thomasius' Überzeugung nach allgemeiner Konsens, genauso wie die Tatsache der Schöpfung »nicht für ein der Vernunfft zuwider lauffendes Ding« unter den Philosophen gehalten werde 38

Bedeutsam sind hier C. Thomasius' Institutiones jurisprudence divinae von 1687/88, die in wesentlichen Punkten die folgende Argumentation der Sittenlehre bereits ausgearbeitet haben. Auch in den Institutionen versucht Thomasius, der »Philosophiae cum Theologia mixtio, pessimo more a Scholasticis introducta« zu entgehen (Halle '1720, Diss.prooem., 43). Mit Nachdruck betont er: »me non Theologum, inepte inter dissentientes Theologos« (ebd., 37). 39 Monatsgespräche, a.a.O., Bd. I, 337. *° »Der ist nicht gelehrt, der das natürliche und übernatürliche Licht untereinander wirfft« (Einleitung zur Vernunftlehre, a.a.O., 88). — Zu Thomasius' Unterscheidung der »zwey sonderbaren Lichte« s. ebd., Soff. 41 »Ob ein Gott sey? wird kein vernünfftiger Mensch die geringste Ursache in Zweiffei zu ziehen finden ...« (ebd., 120).

(124). Soweit sollte die Erkenntnis eines »ächten Philosophus« gehen, der außerdem im »Schöpfer der veränderlichen Dinge auch zugleich ... einen Erhalter derselben« sehen — »und von der göttlichen Providentz seiner Vernunfft nach etwas zu lallen« lernen könne (126). Weitere Erkenntnisse müßten der natürlichen Vernunft versagt bleiben: »hier steht (sie) nun in der Erkäntniß Gottes stille, und hütet sich, daß sie nicht weitergehe als in ihrem Vermögen ist« (131). Sie wisse wohl, daß Gott mehr Vollkommenheiten besitze, als zu begreifen möglich sei, doch überläßt sie »das übrige einem höhern Licht der göttlichen Offenbahrung« (131). Auf der Basis einer solchen Selbstbescheidung der Vernunft in »gebierender Ehrerbietung« ( $)41 unternahm Thomasius mit einem Minimum an natürlicher Theologie eine neuartige Interpretation der Gottesliebe, wobei er theologische Aussagen über eine »übernatürliche Liebe« zu Gott mit Rigorosität aus der philosophischen Ethik ausklammerte: Denn diese sei seinen Vorstellungen nach »nicht auff die zeitliche Glückseeligkeit dieses Lebens, sondern auff eine zukünftige, davon die menschliche Vernunft nach ihrer Schwachheit nichts weiß«, gerichtet (194). Nur die natürliche Gottesliebe solle Gegenstand des Interesses werden, obwohl sie dem »Grade« nach geringer als die »übernatürliche Christenliebe« anzusehen sei/3 aber dennoch »sozusagen ein Staffel (bilde), dadurch man zu der christlichen Liebe gelangen kan«.44 Die natürliche Gottesliebe entspringt für Thomasius aus der Anerkennung Gottes als Schöpfer des Menschen: Gott wird nicht mehr unmittelbar als summum bonum geliebt, sondern aus Verpflichtung. »Weil der Mensch sein gantzes Wesen ursprünglich von Gott herkömmt«, so Thomasius, »auch nothwendig derselbe alles Gute Gott allein zu dancken habe«. Die besondere Verpflichtung besteht deshalb darin, »sein Thun und Lassen nach dem Göttlichen Willen einzurichten« (i3if.), oder kurz: Gott zu lieben.4' Diese Liebe muß sich als »stetswehrende Bemühung und Verlangen, sich mit Gott zu vereinigen« gestalten, ein Verlangen, das jedoch immer unerfüllt bleibt, da der Mensch zu einer Vereinigung mit dem vollkommensten Wesen aufgrund seiner eigenen Unvollkommenheit »gantz unvermögend« ist. Hier liegt die Differenz von Gottes- und Menschenliebe begründet, die Christian Thomasius nach seinem Verzicht auf das verbindende Dritte, die Selbstliebe, nachvollziehen mußte: Die vernünftige Liebe als »Vereinigung gleicher Gemüther, die das gröste Gut besitzen« (88), ist 42

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Dazu die Institutiones: »Neque enim scio, scriptura adjutus, essentiam Dei, sed admiror, et ea, quae scriptura hac de re mihi revelavit, sine scientia philosophica credo« (a.a.O., Diss.prooem., 24). Monatsgespräche, a.a.O., Bd. III, 98*;. Einleitung zur Sittenlehre (a.a.O., Zuschrift). So erhält die auf einem theologischen Voluntarismus basierende Rechtsverpflichtung ihr Pendant innerhalb der Liebesethik. Vgl. Institutiones (a.a.O., 17): »jus hominis ultimo a voluntate Dei... est deducendum«.

eine Freundschaft unter Menschen, wie sie mit Gott gar nicht möglich sein kann."6 Nachdem Gott aber den Menschen als liebendes Wesen geschaffen hat, kann wahre Gottesliebe unmittelbar nur in Menschenliebe aufgehen, indem sie die unerfüllbare Vereinigung mit Gott in der Vereinigung der Menschen untereinander aufhebt. »Gott weiset dich nach dem Trieb natürlicher Vernunfft an die Liebe der Menschen, weil du nach deiner natürlichen Erkäntniß keinen vernünfftigeren Gottesdienst finden kanst, als wenn du dein Hertze mit ändern Menschen vereinigst«. Die Liebe zum Ändern wird zum Kriterium echter Gottesliebe (19if.), denn sie ist nicht (wie in der christlichen Tradition) aus der Gottesliebe abzuleitendes Gebot, sondern als natürliche Wesens- (7rte&-)Erfüllung dieser sogar vorgelagert. Ein solcher Vorrang der Menschenliebe läßt Thomasius endgültig aus dem Schema der Caritas ordinata ausbrechen, was ihn jedoch zusätzlich zwingt, die natürliche Gottesliebe und den darin begriffenen vernünftigen Gottesdienst genauer einzugrenzen. 1.2.4. Vernünftiger Gottesdienst Der Mensch ist Gott aus Verpflichtung Liebe schuldig, eine Liebe, die sich nach Aussage der Einleitung zur Sittenlehre parallel zur reduzierten natürlichen Theologie in einer ebenso reduzierten, auf ein Minimum beschränkten natürlichen Religion ausdrücken muß. Thomasius nennt als Mindestbestandteile solcher Religionsausübung ein »innigliches Vertrauen« und »demüthige Ehrfurcht« (132). Außer diesen beiden Momenten und der aktiven Menschenliebe, die zusammen den »vernünftigen Gottesdienst« (192) ausmachen, weiß der Mensch »der natürlichen Erkäntniß nach von keinem anderen Gottesdienst, als von dieser aus kindlichem Vertrauen und Ehrfurcht herrührenden Begierde, sein Leben nach Gottes Willen anzustellen« (132, i6if.). Die Begierde, Gottes Willen zu erfüllen, nennt Thomasius den »innerlichen Gottesdienst«.47 4
493~S43)· 81 C. THOMASIUS: Dissertatio nova ad Petri Poireti libros ... (1708), in: Programmata Thomasiana (Halle 1724, 636). 8) C. THOMASIUS: Problema juridicum, an haeresis sit crimen? vom 14. 7.1697; Resp. war J. C. Rübe (zit. nach den Dissertations varii Imprimis iuridici argumenti, Tom. II. Halle 1774, 114—140). Deutsch in: Außerlesene Schriften ... (a.a.O., Bd. I, 2iiff.) — Zu dieser Dissertation vgl. RÜPING 1968 ($9 — 61), HERRMANN 1971 (26 — 32) und WIEBKING 1973 (173 — 176). " 4 Vgl. C. THOMASIUS: Versuch vom Wesen des Geistes ... (Halle 1699, 181): »Denn die Liebe soll eine hertzliche Liebe seyn, und wenn ich sagte, ich liebte jemand von gantzen Gehirne, würde mich gewiß jederman auslachen«. Zur Unterscheidung von Hirnund Herzensglaube vgl. die entsprechenden Passagen in An haeresis sit crimen (a.a.O.) bzw. die Interpretation meines Aufsatzes Thomasius' philosophischer Glaube ( 1989, bes. 235-238). 105

Hertzens ist, und allein aus der Liebe entstehet«, erwuchs aus der pessimistischen Einsicht, »daß alle Verderbnis und Verbesserung des Verstandes von dem Willen und seinen Affecten herrühre, und also der Begriff der Wahrheit im Verstande niemals von sich selbst etwas Gutes im Willen zuwege bringe.« Eine solche voluntaristische Verschärfung des moralphilosophischen Standpunkts8' verband sich mit der Gewißheit, daß intellektuelle Einsicht niemals moralische Besserung initiieren könnte; — es wäre eine »falsche Regel« anzunehmen, der Hirnglaube (also verstandesgemäßes Nachdenken) könne »die Liebe im Hertzen erwecken«. Was die Ausübung der Sittenlehre bereits andeutete, nämlich »daß das Hertze eine viel subtilere Empfindung als das Gehirne« hätte, um die Besserung des ganzen Menschen zu erreichen (9 j), blieb für Thomasius ausgemachte Sache auch nach Überwindung der »religiösen Krise«. Nur der Fehler (das Vorurteil), den Herzensglauben mit Intuition oder schwärmerisch-mystischer Gottesschau zu verwechseln, sollte überwunden werden: der scheinbar gut gemeinte Ratschlag, man müsse erst seine Vernunft »wegschmeissen«,86 um zu einem tugendhaften und gottgefälligen Leben zu gelangen, erschien ihm schließlich als pure Unvernunft. Thomasius gewann mehr und mehr die Einsicht, daß schwärmerische Religiosität oft nur das Eingeständnis eigener Unvernunft war und daß Übervernünftigkeit in der mystischen Theologie nur Überheblichkeit oder Hilflosigkeit darstellte. Nichts anderes als ein solcher error de ratione abjicienda'7 veranlaßte ihn, das Verhältnis von Vernunft und Glaube mit neuer Klarheit und frei von religiösen Vorurteilen zu überdenken. Angesichts des Primates der Praxis innerhalb der thomasianischen Philosophiekonzeption gewannen die erwähnten Verse Jak. 1,14 — 26 in der Dissertatio de |J

Allgemein zur Intensivierung von Thomasius' voluntaristischer Position vgl. JAITNER 1939 (28 — 31), SCHNEIDERS 1971 (231 — 237) und JARRAS 1975 (161 — 174). Dieser verschärfte Voluntarismus hält sich auch nach Überwindung der »religiösen Krise«. Innerhalb der Neufassung seines Naturrechts in den Fundamenta juris naturae ('1705, 4 1718) finden sich dazu genügend Belege: »Forma essentialis hominis consistat in voluntate« (ebd., 19). »Principium dirigens actiones humanas esse non intellectum, sed voluntatem« (ebd.). »Voluntas est primum agens animae humanae, quia movet intellectum« (ebd., 4$). 86 In seiner Schrift Des Freyherrn von Pufendorff politische Betrachtung der geistlichen Monarchie des Stuhls zu Rom ... (1714) berichtet Thomasius: »Ich hörte, daß man von der Verderbnüß der Vernunft mir viel vorsagte ... Und ob man mir gleich nicht so platt vorsagte, daß ich die Vernunfft wegschmeissen solte; sondern daß man mich nur auf ein einfältiges Wesen und lauters übergeben der Göttlichen Eingebung wiese, so wurde ich doch endlich gewahr, was hinter diesen Vermahnungen, die sonst an sich selbst, wenn sie recht erklähret, und von dem Mißbrauch gesäubert werden, nicht zu verwerffen seyn, verborgen war, wenn man nicht sehr behutsam mit denenselben umgehet« (a.a.O., Zuschrift). — Und im Anschluß: »Ich dancke aber Gott, daß er mich so geleitet, daß ich meine Vernunfft nicht weggeschmissen, ob mir schon solches offte gerathen wurde« (a.a.O., 197). Zit. nach SCHNEIDERS 1971 (237, Anm. 24). "7 C. THOMASius:Z)isserf 359~3 6 °» sowie Johann MOLLER, Cimbria litterata ... (Haunia 1745, Bd. II, 36 — 38), und Hermann KELLENBENZ, (Art.) Amt hör, Christoph Heinrich (in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. II, Neumünster 1971, 34 — 36). 129

»meticulosum erga numen affectum«, als furchtsamen Affekt gegenüber dem Göttlichen, wie es in der gängigen Version von Isaak Casaubonus hieß (s.o. Kap. I, Abschn. 4), verband Amthor mit der Aberglaubensbestimmung des Lukrez als »metus sive timor inanis et superfluus rerum superstantium« (s. Kap. II, Abschn. 5 f.). Im philologischen Sinn vielleicht einwandfrei setzte die Übernahme der lukrezschen Definition dennoch einen deutlichen Akzent. Lukrez gebrauchte statt superstitio die Vokabel religio zur Kennzeichnung des abergläubischen horror divinus, was seinen Sprachgebrauch über Jahrhunderte für die christliche Superstitionskritik diskreditierte. Bezug auf Lukrez zu nehmen galt immer als Zeichen religionskritischer Gesinnung, die in Vers , des Lehrgedichts De rerum natura häufig ihr Leitmotto suchte: tantum religio potuit suadere malorum. Dieser Akzent fand also Eingang in Amthors umfängliche Definition des Aberglaubens, die damit unter besonderen Vorzeichen zu lesen war: »superstitionem in genere definirem per affectionem mentis corruptae, qua aut de ipso Deo ejusque cultu, aut de potentiis rerum creatarum plura et alia credimus, qua revelatio aut recta ratio tradunt« (11/12). So komplex diese Umschreibung auch schien, so bot sie Amthor doch die Möglichkeit durch nachfolgende Erklärungen der einzelnen Segmente sein Aberglaubenskonzept aufzurollen und für die Kritik nutzbar zu machen. Aberglaube als Affektion eines verderbten Geistes, die uns mehr und anderes von Gott, dessen Kultus und den Kräften der geschaffenen Dinge glauben läßt, als Offenbarung und Vernunft vorgeben. Der erste Teil der Definition — affectio mentis corruptae — rührte ganz aus Thomasius' Interpretation des Aberglaubens als einem unvernünftigen Affekt schlechten Willens her. Ausgehend von dessen voluntaristischer Unterscheidung zwischen Herzens- und Hirnglaube (s.o.), sah Amthor im verderbten Willen die erste Quelle des Aberglaubens, weniger in einem Versagen der Verstandeskräfte. »Primarius superstitionis fons magis sit in voluntate, quam intellectu corrupto quarendus« (12). Gegenüber dem philosophischen Glauben als dem aus gutem Willen resultierenden Gleichgewicht intellektueller und voluntativer Kräfte bzw. Neigungen — so Amthor in direktem Bezug auf Thomasius' Konzept De vera fide juridica von 1699 — erwies sich der Aberglaube als corrupta species fidei (13) auf der Basis verderbten Willens. Solche inclinatio cordis corrupta (14) wurde zur Grundlage falscher Vorstellungen sowohl über Gott und dessen kultischer Verehrung, als auch über dessen Schöpfung. Im Rückgriff auf Christian Thomasius' Lehre von den Primäraffektionen des Willens, Furcht und Hoffnung, die dieser bereits in den Fundamenta juris naturae (170$) zur Neufassung seiner Aberglaubenskonzeption als spes et metus irrationalis nutzte (s.o.), faßte Amthor das gesamte Affektenbild der Abergläubischen im Begriff der metus servilis (16). Die Furcht als Primäraffektion des Willens unterdrücke jede vernünftige Erkenntnis des göttlichen 130

Willens und seiner Absichten im verordneten Kult und in der geschaffenen Natur. In überflüssigen Zeremonien und nur äußerlichem Kult verfehle der Aberglaube den gottgewollten inneren Gottesdienst in Gemütsruhe und einfacher Menschenliebe (16); in Wunderglauben und ständiger Angst vor unerklärlichen Naturphänomenen (}off.) setzten sich Affekte durch, die Gottes Schöpfung als furchteinflößend und von fremden dämonischen Mächten beseelt verzerrten. Ohne auf Amthors Kritik des »physikalischen« Aberglaubens näher eingehen zu wollen (dazu s. Kap. VI), bleibt doch festzuhalten, daß er jeden Irrtum über Naturvorgänge ursächlich nicht auf fehlende Verstandesleistungen, sondern auf Fehlfunktionen des Willens zurückführte. Den Ehrgeiz, die eigene Macht durch Wissen um dämonische, übernatürliche Wirkungen und Kräfte zu steigern, warf er dementsprechend Kabbalisten und Rosenkreuzern vor (36), — und in seiner grundsätzlichen Kritik des Teufels- und Hexenglaubens prangerte er stärker die moralischen Fehlleistungen als die eindeutigen Irrtümer über ein mögliches Wirken des Teufels in der physikalisch geordneten Welt an. Daß Amthor für die Widerlegung des Hexenglaubens neben Balthasar Bekker auch Hobbes und Spinoza heranzog (37), warf genauso ein bezeichnendes Licht auf die Intentionen seiner Schrift wie die Übernahme der lukrezschen Aberglaubensbestimmung. Radikaler als sein Lehrer Thomasius wollte Amthor nicht allein die Ursachen des Aberglaubens benennen, sondern ebenso deren Verankerung im politischen Interessenfeld offenlegen. Die Frage, welche moralischen Eigenschaften zum Aberglauben fuhren (47), beantwortete er deshalb doppelt. Auf der einen Seite erwuchs die abergläubische Neigung individuell aus der jeweiligen willentlichen Verfassung des Menschen, die nach ihrer »Haupt-Passion« (so schon Thomasius) benennbar wurde. Vor allem die »Geld-Liebe« (avaritia) als Metapher einseitiger Ausrichtung auf äußerliche, »irdische« Güter bestimmte die indinatio ad superstitionem (49). Die Hauptleidenschaft korrespondierte für Amthor mit dem Temperamententyp: melancholia, hießen ihm die Abergläubischen, wofür er sich auf Malebranches Analyse des Hexenwahns (s. Kap. IV, Abschn. 3) berief, um die Temperamentendoktrin für die Aberglaubenskritik nutzbar zu machen. Was sich bei Amthor mit der Synonymsetzung von Melancholie und avaritia enim credula ex inepto metu (49) nur andeutete, bildete innerhalb der Aberglaubensdiskussion des Thomasianismus den Ansatzpunkt zu einer ausführlichen Theorie der melancholia superstitionis; dazu aber Kapitel V. Ambitio, Ehrgeiz, und das korrespondierende Temperament des Cholerischen signalisierte auf der anderen Seite die moralischen Eigenschaften derer, denen der Aberglaube weniger aus Gründen eigener Furcht und Leichtgläubigkeit am Herzen lag, denn aus purem Interesse der Machterhaltung und -Steigerung. Ihre willentliche Disposition (voluptas) zum Aberglauben fand andere Formen als die der Furchtsamen, Verängstigten und mit Vorurteilen Beladenen: in äußerlichen Gottesdienst, leeren Glaubensformeln und »pharisäischem« Dog-

matismus zeigten sich Ausprägungen des Willens zur Herrschaft und Unterdrückung. 2. i.j. Aberglaube als System der Unterdrückung Mit gezielten Hinweisen auf Deutungen der Kirchenhistorie seitens Christian Thomasius und Gottfried Arnolds — wodurch dessen Unpartbeyische Kircbenund Ketzer-Historic erneut ihren Charakter als Grundbuch der deutschen Frühaufklärung bestätigte - stellte Amthor die Geschichte der christlichen Religion als Prozeß der Überformung des einfachen Herzensglaubens durch einen Köhler- und bloß formalen Glauben dar (24), der hauptsächlich politischen Interessen des Klerus gegenüber den Laien diente (20-18). Die einfache Laienfrömmigkeit des Urchristentums wich einer credulitas Pythagorica (27), die sich mit einfacher Aufrechnung religiöser Pflichten in erstarrten, äußerlichen Formen nicht allein der täglichen moralischen Praxis, sondern auch des Seelenheils der Laien bemächtigen wollte. Die frühchristliche Tendenz zu fest institutionalisierten Ämtern wurde mit der berechtigten Sorge um die Kontinuität der sich mehrenden und sich weiterentwickelnden Gemeinden im Glauben und Ethos der Anfänge begründet, doch in einem stärker werdenden Prozeß der Erstarrung wandelte sich das christliche Evangelium mehr und mehr von der Frohbotschaft zum »Gesetz« und zur »Lehre«, die mit Nachdruck ein kirchliches Amt zu verlangen schien. Der Gedanke der »apostolischen Sukzession« verlor allmählich seine theologische Ursprünglichkeit, und auch die Nachfolge Petri (Mt. 16,17 — 19) fand schließlich ihre starre Verankerung im »papistischen« Dogma römischer Autorität. Wo kirchliche Amtsträger noch als Vorbilder und Lehrer, Vermittler des Evangeliums und Diener der Gemeinde gelten sollten, kehrten stattdessen die Stellvertreter und Verwalter des Glaubens ein. Zwischen Klerus und Laien öffnete sich ein breiter Graben, der sich in allen Bereichen des religiösen Lebens auswirkte und mit der Verbindung kirchlicher und staatlicher Interessen auch politisch wirksam wurde. Diese Kluft konnte an urchristlichen Idealen und Bedingungen gemessen nur als Verderben des wahren Christentums aufgefaßt werden, — und vor allem in neureformatorischen, pietistischen Kreisen, die das Umfeld des Thomasianismus bestimmten, wurde der Ruf nach einem allgemeinen Priestertum der Laien laut, um die offensichtlichen Mißstände zu beheben. Amthor verschärfte diesen Standpunkt mit der Charakterisierung dieser Machthierarchie zwischen Klerus und Laien als unchristlichen und widervernünftigen Aberglauben. Aberglaube deshalb, weil weder Offenbarung noch Vernunft Gründe für die Existenz klerikaler Herrschaft angeben konnten. Heftig kritisierte der Kieler Staatsrechtler die superstitiosa Clericorum et Laicorum distinctio als Pervertierung christlicher Gemeinschaftsideale (66), - und als Jurist bemängelte er vor 132

allem den Ausschluß der Laien von der kirchlichen Rechtssprechung: »hac injusta clericorum ursurpatio, qua Laici in genere ab Ecclesiastica jurisdictione excludebantur« (74). Wären die Laien an der Rechtsfindung beteiligt worden, hätte es niemals religiös motivierte Verfolgungen und Ungerechtigkeiten in der Geschichte des Christentums gegeben. Die enge Verbindung kirchlicher und staatlicher Rechtsansprüche, die Verflechtung religiöser Dogmen mit politischen Zielsetzungen waren niemals Sache des einfachen, »hertzlich frommen« Christen gewesen. Hingegen blieb das Begriffspaar superstitio et tyrannis (70) immer Zeichen der Kirchenspaltung in die herrschende Minderheit des Klerus und der unmündigen Masse der Laien. Amthor erinnerte mit Gottfried Arnold an die großen Ketzerverfolgungen und bezog sich besonders auf Beispiele solcher »Sekten«, die wegen ihrer Predigt zu echter christlicher Umkehr verfolgt wurden. Er nannte die Waldenser und Hussiten (80) und scheute sich auch nicht, den orthodoxen Streit gegen sogenannte »Atheisten« als genauso willkürliche Maßnahme zu kritisieren wie die Hetze gegenüber religiös Andersdenkenden (76ff.). Nur Machtwille konnte dazu führen, die offensichtliche Dummheit der Gottesleugner strafen zu wollen. Toleranz gegenüber solchen geistigen Fehlleistungen einer verschwindenden Minderheit »spekulativer Atheisten« wäre weitaus angebrachter angesichts der großen Gruppe praktischer Atheisten, die ohne echte Frömmigkeit in rein formaler Religionsausübung verharrten (Hypokrisie). 2.1.4. Scholastische Aberglaubenstheorie als Herrschaftsinstrument des Klerus Enfin, une religion dont les maximes tendent a rendre les hommes intolerante, les souverains persecuteurs, les sujets esclaves ou rebelles; une religion dont les dogmes obscurs sont des sujets eternels des disputes; une religion dont les principes decouragent les hommes et les detournent de songer a leurs vrais intirets — une teile religion dis-je, est destructive pour toute societe. P. H. T.d'Holbach1"

Die Aberglaubenskritik wandelte sich bei Amthor immer mehr zur Religionskritik, d.h. zur Kritik der etablierten Religionen, soweit sie dem klerikalen Machtansprüchen untergeordnet und nach deren Vorgaben strukturiert waren. Amthor ging jedoch einen Schritt weiter und demonstrierte am Beispiel der Hexenverfolgungen, daß die bisherige aber weiterhin dominierende theologisch geprägte Aberglaubenstheorie weniger dem Phänomen des Aberglaubens ge'" P. H. T. D'HOLBACH: Le christianisme devoiU ou Examen des principes et des effets de la religion chretienne (1761), in: Premieres CEuvres (ed. P. Charbonnel, Paris 1971, 119). 133

recht werden wollte, sondern im Gegenteil das System politischer Unterdrükkung aus religiösen Aberglauben stabilisierte. Die größten und grausamsten Verfolgungen aus religiös gerechtfertigten Motiven waren die Hexenprozesse (Sjff.), deren ungerechtes Verfahren das abergläubische Bündnis von Staat und Kirche nur allzu deutlich vor Augen führte. Basis jedes Prozesses war ein scholastisch perfektioniertes Argumentationsgebäude, das hinter jeder »abergläubischen«, d.h. religiös abweichenden Haltung gleich den Teufel am Werk sah. Im Falle der Hexen schloß dieser ausdrückliche Bündnisse (pacta expressa) mit den Frauen, um ihnen Macht über Tiere, Menschen und die Kräfte der Natur zu verleihen; Pakte, die mit der sog. Teufelsbuhlschaft besiegelt wurden und im Schadenszauber ihre Wirkung entfalteten. Stillschweigende Bündnisse (pacta tacita) waren dagegen Grundlage jeder abergläubischen, religionswidrigen Handlung: Thomas von Aquins Summa theologiae gab die bis in die lutherische Orthodoxie sich überlebende Lehrmeinung vor, daß keine Superstition ohne die Tätigkeit von Dämonen geschehen könnte; und da jede Superstition seinem Diktum nach als vitium religioni oppositum begriffen werden mußte,'5' standen in Gestalt eines jeden »Abergläubischen« nicht allein die Hexen, sondern alle, die einem nicht rechtmäßigen Kult (cultus indebitus)'*7 nachfolgten, auf der Seite des Teufels. Hinter solchen Vorstellungen verbarg sich die augustinische Zweireichelehre, welche in manichäischer Konstruktion eines Gottesund Teufelsstaates die scholastische Pakttheorie in Richtung eines diesseitigen Krieges gegen vermeintliche Teufelsdiener zu verschärfen half (zur Pakttheorie ausführlich Kap. IV, Abschnitt i). Auf der einen Seite also diejenigen, die den rechtmäßigen Kult Gottes vollzogen; »rechtmäßig« nur in dem Sinne, wie der Klerus die religiösen Dogmen den Laien auslegte. Und auf der anderen Seite diejenigen, die sich vom Teufel (meistens unbewußt) verführen ließen, der »wahren« Religion zu entsagen und dem Teufelsreich beizutreten. Dieses Reich mußte mit allen Mitteln bekämpft werden; »alle Mittel«, — das hieß nicht nur im Falle der Hexen auch Gewalt und Unterdrückung. Christoph Heinrich Amthor sah in der theologischen Superstitionstheorie das eigentliche Herrschaftsinstrument des Klerus gegenüber den Laien, — ermöglichte es doch jederzeit, auf Grundlage der Theorie stillschweigender oder ausdrücklicher Teufelsbündnisse jede religiöse Abweichung als gotteswidrigen, teufelsdienerischen Aberglauben zu brandmarken und im Falle der Hexerei auch mit Feuer und Schwert verfolgen zu lassen. Der Skandal war jedoch, daß 156

"7

Th. v. AQUIN: Summa theologiae, II/II, qu. 92 art.i (= Opera, omnia. Ed. Leon, magna, Tom. IX, 298). Vgl. außer Kap. IV (Abschn. i) die Ausführungen bei HARMENING 1979 (bes. 309ff.). Ebd., art. 2 (= a.a.O., 299).

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diese fabula in cerebro Cleri Pontißcii nata (90) gerade in der lutherischen Kirche ihren Fortbestand gefunden hatte, was die Intensität der Hexenverfolgungen in den reformierten Ländern nachdrücklich bestätigte. Amthor war sich sicher, in jedem Aberglaubenstraktat reformierter Theologen die scholastische Pakttheorie wiederfinden zu können: als gut konserviertes und weiterentwickeltes Mittel der Unterdrückung Andersdenkender; und nicht, wie seitens der Orthodoxie behauptet wurde, aufgrund ihrer argumentativen Richtigkeit. Dabei griff der Kenner der theologischen Superstitionsliteratur aus der Vielzahl von Traktaten de superstitione einen heraus (Sjff.), um seine These zu bestätigen: den weit verbreiteten Tractatus practicus de superstitione (1664) des mecklenburgischen Oberhofpredigers Josua Arnd (1626-1687). Amthor hätte auch jede andere Schrift theologischen Ursprunges nehmen können, wie noch zu zeigen sein wird. Josua Arnd1'8 hielt sich tatsächlich eng an Thomas v. Aquin, den Kirchenlehrer der verfeindeten »Papisten«. Dabei übernahm er dessen Beschreibung des Aberglaubens als falsa religio, cultus vitiosus und cultus indebitus ( (.\ dem einerseits Verstandesirrtümer und schlechte Affekte (17), andererseits aber — und das war entscheidender — ein Abfall vom rechten Glauben zugrunde lagen (121): oriatur ex infedilitate, vel crassa ignorantia veraeßdei. Causa efficiens (streng aristotelisch) war immer der Dämon; superstitio, ex pacto cum diabolo vel occulto vel manifesto (9) bzw. ex pacto cum Daemone tacito vel expresso (45). Wo der Wunsch der Vater des Gedankens wäre, so Amthor, müßte jeder Aberglaube als Teufelsdienst verstanden werden; angesichts der wesentlich schlüssigeren Erklärung des Aberglaubens als anthropologisch fundiertes Fehlverhalten (die auch J. Arnd kannte, 17) könnte das heftige Insistieren auf die Pakttheorie des Aberglaubens nur als Wille zu Lüge und Betrug verstanden werden (89). Josua Arnd galt dem Kritiker Amthor als Repräsentant des Lügensystems (non interpretari, sed fingere et mentiri) orthodoxer Aberglaubenskritik: überall sah diese über die wahren Ursachen des Aberglaubens hinweg und täuschte Werke des Teufels dort vor, wo sie andere auszugrenzen und zu disziplinieren hoffte. Mit dieser Einschätzung der scholastisch geprägten Aberglaubenstheorie als Instrument der Sozialdisziplinierung hatte Amthor recht, was ein kurzer Querschnitt durch die theologische Aberglaubensliteratur des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts bestätigen kann. 2. i. f. »Der Teufel, der schlaue und giftige Menschenfeind* Von einer regelrechten Dämonomanie gekennzeichnet entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in ihren Auslegern weit ins iS.Jahrhun''* J. ARND: Tractatus practicus de superstitione quatenus vulgo vanam exercet observantiam, vel alias deducit ad magiam (Güstrow 1664). Über J. Arnd s. ZEDLER II, 1574. 135

den hineinreichend, eine sich reformiert dünkende, in ihren theoretischen Wurzeln aber scholastisch fundierte Aberglaubensliteratur der lutherischen Orthodoxie.1" Nach dem Motto, »wo eine Kirche stehet, da bauet der Teuffei eine Capelle daneben«, beschrieben nicht allein Theologen, sondern auch Juristen wie Johann Christoph Härtung (t 1695) jede Superstition als Dämonenpakt und Abfall von der einen, wahren Religion. In seiner Dissertatio juridica de superstitione (1685) stellte Härtung fest: »causa efficiens superstitionis principalis est ipse Diabolus« (H,i).I war es doch die kleine Schrift Plutarchs, der er den argumentativen Ansatz seiner Überlegungen verdankte: ». . . il s'agit de les comparer Tun avec l'autre par rapport a la Morale« (123). Die Gegenüberstellung von Atheisten und Abergläubigen unter moralischen Kriterien hatte Plutarch bereits vorexerziert (dazu ausführlich Kap. I, Abschn. 5) und auch die positive Beschreibung des affektlosen, indifferenten Atheisten (apatheia pros to theion) gegenüber den von Leidenschaften getriebenen Abergläubigen fand sich bei Bayle wieder. Dieser sprach in abgeänderter Form von unterschiedlichen Temperamenten der Gottlosen und der Götzendiener (93). Während ein Atheist ein ruhiges und friedfertiges Temperament habe, zeichneten sich die Abergläubischen durch eine unruhige und nervöse Verfassung ihrer seelisch-körperlichen Konstitution aus (vgl. zur Temperamentenlehre des Aberglaubens Kap. V). Der Kontrast zwischen Aberglaube und Atheismus erklärte für Bayle außerdem die Problematik, warum Atheisten nur unter großen Schwierigkeiten von den Vorzügen der Religion zu überzeugen wären (77^, n8ff.). Solange die christliche Religion vor allem im Bereich ihres äußerlichen Kultes weiterhin alle Varianten heidnischen Götzendienstes (Dämonenglaube) und naiven Aberglaubens (Wunder etc.) mit sich schleppe, blieben die Atheisten bei ihrem verPLUTARCH: Pert deisidaimomas (a.a.O., 1691). Bayle benutzte die französische Übersetzung von Tanaquil LE FEVRE (Saumur 1666). Zum Bild des »Bayle lucretien« s. Exkurs zum Kap. II. 162

ständlichen Abscheu; und die Gefahr bleibe erhalten, daß immer mehr Menschen, die aus moralischem Interesse und lauteren Absichten ihre Vernunft gebrauchten, in den Atheismus getrieben werden. 2. Das zweite Hauptmoment der Bayleschen Argumentation innerhalb der Pensees diverses vertritt die eigentliche theoretische Begründung der These vom »tugendhaften Atheismus«. Während die fortdauernde Gegenüberstellung der moralischen Eigenschaften von Atheisten und Abergläubischen das äußerliche Bild des athee vertueux positiv besetzte und dessen Vorzüge einsichtig zu machen half, streute Pierre Bayle einige Bemerkungen in den Text ein, welche die innere Verfassung, d.h. die philosophische Begründung des moralischen Atheismus beschrieben. Zieht man Bayles verstreute Hinweise (86, 94, 109, ii4f., 118 usw.) zu einer These zusammen, wird der eigentliche Sprengstoff der Kometenschrift sichtbar. Nicht allein, daß im Vergleich zum Aberglauben der Atheismus besser abschnitt und nach außen hin Moralität bewies, die Möglichkeit atheistischer Tugend ließ sich nach Bayles Überzeugung sogar theoretisch begründen, womit diese sich als autonome, d. h. unabhängig von theonom (religiös) organisierten Morallehren bestehende Ethik erwies (114). Auch ohne die Kenntnis religiöser Dogmen, ohne ein Wissen von Gott und dessen Willen wisse jeder Mensch, so Pierre Bayle, zwischen Tugend und Laster zu unterscheiden. Was ehrenhaft, schicklich und notwendig sei, um Moralität zu gewährleisten, könne jeder ohne Reflexion auf Gott entscheiden. Allein aus dem Wissen um dasjenige, was dem eigenen Glück zuträglich oder abträglich sei, verhalte sich der Mensch moralisch, denn er folge nur seiner Vernunft und Natur: »L'homme est naturellement raisonable, il n'aime jamais sans connoitre, il se porte necessairement a l'amour de son bonheur, et a la heine de son malheur« (86). Vernunft und Natur bildeten für Bayle die Eckpfeiler einfacher, aber letztlich alles umschließender Moralität, die ohne jeden Gottesbegriff auskäme. »La Raison et la Nature« umrissen seiner Überzeugung nach (ii8) das weite Feld moralischen Handelns, auf dem sich der Mensch instinktiv zurecht fände. Dieser Instinkt der Vernunft ( instinct de la Raison, 94) half zur Unterscheidung zwischen gut und böse, tugendhaft und lasterhaft - und bildete das Instrument zur Begründung natürlicher Tugend: »cette Raison et cette intelligence, par laquelle tous les hommes comprennent la verite des premiers principes de Metaphysique et de Morale« (115). Die Konformität moralischen Handelns mit vernünftiger Einsicht (les Lumieres de la Raison, 109) und natürlicher Anlage garantierte auf diese Weise ein Leben, das ohne jede Erkenntnis Gottes (114) zur Tugend führen konnte. Und Bayle ging noch einen Schritt weiter: Vom einzelnen Atheisten auf mehrere geschlossen, gelte dann auch der Satz, daß selbst eine Gesellschaft aus lauter Atheisten denkbar wäre. »Une societe d'Athees se feroit des Loix de bienseance et d'honneur« (109^), was angesichts vieler Staaten, die durch Aber-

glauben und religiösen Fanatismus zugrunde gegangen waren, fast schon wünschenswert schien. Obwohl der Rotterdamer Philosoph durch komplizierte argumentative Verschlingungen, durch geschickte Rhetorik und durch Errichtung einer ungeheuren theologischen Fassade, die doch nur ein Kartenhaus war,1'4 seinen Aussagen zum Atheismus den Charakter einer Hypothese geben wollte, waren sie sicherlich geeignet, einen unparteiischen Geist zum Atheismus zu führen. Das konnte der Leser trotz anderslautender Beteuerungen relativ rasch merken, und Bayle wußte selbst um die atheistischen Konsequenzen seiner Darlegungen. Auch die 1704 erschienene Fortsetzung seiner Kometenschrift, die Continuation des Pensees Diverses vermochte den Eindruck nicht zu verwischen, Bayle predige öffentlich den Atheismus. Zwar strich auch die Continuation den Hypothesencharakter seiner Überlegungen erneut heraus, doch sammelte sich weiterhin genügend Material theoretischer Begründung des »tugendhaften Atheismus« an. Da half es Bayle auch wenig, durch eine lange Liste von Theologen und Philosophen, die er ausführlich erläuterte, die Rechtmäßigkeit seiner Thesen bestätigen zu lassen. Verblüffend war immerhin, daß als Krönung dieser Aufzählung von Gelehrten der Name von Christian Thomasius auftauchte! Bayle versuchte gerade dessen Zeugnis (»un celebre Professeur en Droit dans Academic de Hai«) durch großzügige Zitate zur Stützung seiner Hypothese brauchbar zu machen; und vor allem Thomasius' Schrift De vera pietate juridica (1701), in welcher der Hallensische Jurist ihn erstmals öffentlich unterstützte (s.o.), schien dafür besonders geeignet.21' Bayle, der mit Thomasius wahrscheinlich in Kontakt stand, wußte sehr wohl um die Unterschiede zwischen der eigenen Begründung atheistischer Moral und dem Standpunkt letztlich theonomer Ethikbegründung bei Thomasius. Trotzdem, so wie Thomasius Bayles Thesen innerhalb seiner Aberglaubenskritik nutzbar machte (s.o.), nahm auch dieser den deutschen Philosophen als brauchbaren Schutzschild gegenüber dem Atheismusverdacht. 3.3. Die Debatte: atheistische Schreckgespenster Dieser Verdacht blieb dennoch nicht aus: Die als Hypothese gekleidete These vom atheisme vertueux wurde von einer breiten Front der Polemik abgelehnt, und eine mit Ungestüm entbrannte Debatte ging nur in die eine Richtung, Bayle als Atheisten oder Freidenker anzuklagen. Eines der späteren Freidenker-Ver-

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So CANTELLI 1969, 551.: »... e Bayle ... ha trovatto il modo, grazie alia sua insuperabile dialettica e alia sua vastissima erudizione, di nascondere il proprio ateismo dietro una facciata telogicache, per quanto possa sembrare maestosa allo sguardo, non e in realta altroche un enorme castello di cartapesta«. Continuation des Pensees diverses, a.a.O., 395.

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zeichnisse, das Freydenker-Lexicon von Johann Anton Trinius (1722 — 1784) aus dem Jahre 1759, widmete der Diskussion Bayles besondere Aufmerksamkeit und stellte überdies fest: »Diesem Baue gehöret unter den Freygeistern ein vornehmer Rang«.21' Pierre Bayle fand sich also unter der allgemein beschimpften und verrufenen Gruppe der Freigeister wieder, den »Atheisten, Naturalisten, Deisten, groben Indifferentisten, Skeptikern und dergleichen Leute«, wie sie Trinius in der Vorrede seines Lexikons untergliederte. Die These vom lügenhaften Atheismus, die sich in drei Einzelthesen auflösen ließ (i. Der Aberglaube ist schlimmer als der Atheismus; 2. Der Atheismus führt nicht notwendig zum Verfall der Sitten; 3. Eine Gesellschaft aus lauter Atheisten ist denkbar), provozierte eine Flut von Gegenschriften, die Trinius' Freydenker-Lexicon gewissenhaft aufzählte. Besonders in Deutschland1'7 war es die lutherische Orthodoxie, die ziemlich rasch zu Gegenschlägen ausholte. Bereits 1695 veröffentlichte Johann Georg Pritz (1662-1732), der trotz seines orthodoxen Einschlags 1710 die Spenersche Lehrkanzel in Frankfurt/Main übernehmen sollte, eine Polemik1'8 De atheismo et in sefoedo et humano generi noxio, die seinen damaligen Leipziger Ruf als »Atheistenfresser« nur bestärkte.11' Ihm lag unter Hinweis auf die eindeutige moralische Verwerflichkeit der Gottlosen eine Widerlegung der These am Herzen, Atheisten könnten einen Staat bilden, wo sie tugendhaft lebten (bes. i6ff.). Ein Fakultätskollege von Pritz, der Leipziger Theologe Johann Georg Abicht (1672 — 1740) unterstützte dessen Ausführungen durch eine weitere Disputatio moralis de damno atheismo in republica (1703),"° die sich in ihrer Polemik (bes. § 24) nur wenig von seinen späteren Streitschriften gegen Christian Wolff und dessen Schüler unterschied. Eine erste Bibliographie der Debatte, natürlich nicht ohne eigene negative Stellungsnahme, bot der Rostocker Theologe Zacharias Grape (1671 — 1713), der die Controversiam recentissimam: an atheismus necessario ducat ad corruptionera morum (1697) ausführlich schilderte und im Geiste Pierre Jurieus, auf den er sich hauptsächlich bezog, entschied."1 Grape ging es speziell um die Einzel-

J. A. TRINIUS: Freydenker-Lexicon oder Einleitung in die Geschichte der neueren Freygeister, ihre Schriften und deren Widerlegungen (Leipzig—Bernburg 1759, 61). Der Bayle-Artikel umfaßt 30 Seiten (ebd., 60 — 89). Zur Bayle-Rezeption in Deutschland vgl. SAUDER 1975. J. G. PRITZ: De atheismo et in se foedo et humano generi noxio (Leipzig 169$; Resp.: Johann Friedrich Vogt). Zu Pritz s. ADB XXVI, 602-604; HIRSCHING VIII/2, ijo152. Vgl. J. G. PRiTz:Z)e imperioDei in atheos contra Thomam Hobbesium (Leipzig 1695). J. G. ABICHT: Disputatio moralis de damno atheismo in republica (Leipzig 1703; Resp.: Job. Adolf v. Loos). Zu Abicht s. ADB I, 20 — 21, undJöCHER I, 23 — 24. Z. GRAPE: Controversiam recentissimam, an atheismus necessario ducat ad corruptionem morum, inter Cl. Dn. Jurieu et Cl. Dn. Bayle nuper in Belgio adhibitam (Rostock 165

these (No. 2), ob der Atheismus überhaupt Moralität hervorbringen könne, und mußte dieses verneinen, da nur eine (offenbarungs-)theologisch gegründete Ethik funktioniere. Ähnlich noch 1750 der Greifswalder Theologe Jakob Heinrich v. Balthasar (1690—1763), der eine Gelegentliche Untersuchung der Frage: Ob ein Atheist ein tugendsames Leben führen könne, oder nicht? mit dem Fazit beschloß, die Vorstellung eines moralischen Atheisten grenze an krankhafte Einbildung. Gemünzt war diese Feststellung weniger auf Bayle, sondern bereits auf Spinoza, dem besonderem Exempel eines athee vertueux.1" Spinoza spielte überhaupt die entscheidende Rolle in der weiteren Debatte über den »tugendhaften Atheismus«, galt sein philosophisches System doch als besonders abschreckendes Beispiel der Gottlosigkeit. Valentin Ernst Löscher (1672-1749), der wohl bekannteste Vorkämpfer der lutherischen Orthodoxie gegen alles Abweichende, seien es Pietisten oder Atheisten, bereitete in diesem Sinne auch die enge Verknüpfung der polemischen Bayle-Debatte mit der allgemeineren Atheismus- bzw. Spinozismus-Diskussion vor. Seine Praenotiones theologicae contra naturalistarum et fanaticorum omne genus, Atheos, Deistas, Indifferentistas, Antiscripturarios (usw.)"3 schlugen, wie der Titel 1708 anzeigte, einen grossen Bogen in der Apologetik und plazierten Bayle (bes. i9if., 56ff., 22off.) zusammen mit Spinoza (z.B. 23ff.) ins Zentrum der Atheismusschelte der orthodoxen Theologie. Diese hatte sich im Anschluß an Marin Mersenne (1588-i648) 224 und Gisbert Voetius (1589-1676)"' entwickelt, die als ungleiches Zweigestirn (der eine Katholik, der andere Reformierter) den Zitaten-Steinbruch für die Hauptphase der Diskussion in den Jahren 1660 bis 1720 bildeten. Überall schienen Atheisten, Deisten, Indifferentisten und ähnliche Schreckgespenster aus dem Boden zu wachsen: waren es zuerst noch cartesianisch beeinflußte Philosophen oder Theologen, die kritisch mit der geoffenbarten Religion umgingen, kamen später »Spinozisten« oder solche, die der Meinung Bayles Positives abgewonnen hatten, dazu, denen der Groll der »Allgemeinheit« galt.21* Für diese »Allgemeinheit«, d. h. einen scheinbaren Konsens aller Christen, sprach vor allem die '1697, 1709; Resp.: Abraham Heinrich Grosse). Zu Grape s. ADB IX, 584, u. DBA 415,168-279. J. H. VON BALTHASAR: Gelegentliche Untersuchung der Frage: Ob ein Atheist ein tugendsames Leben führen könne, oder nicht? (Greifswald 1750). Zu Balthasar s. DBA 53, 7 — 26, und ADB II, 30 — 32. V. E. LÖSCHER: Praenotiones theologicae contra naturalistarum et fanaticorum omne genus... (Wittenberg 1708 u.ö.). — Zu Löscher vgl. ADB XIX, 209 —213. Zur Auseinandersetzung Löschers mit Bayle s. GRESCHAT 1971 (bes. 252ff.). M. MERSENNE:L'impiete des Deistes, Athees et Libertins dece temps (Paris 1624). G. VoETius:De atheismo I—/V(Resp.: Walther de Bruyn, 1639), in: Selectarum disputationum theologicarum pars prima (Utrecht 1648, 114 — 226). Vgl. BARTH 1971, 77ff. Zur Atheismusdiskussion der Jahre 1660—1720 vgl. die Studie von H.-M. BARTH (BARTH 1971), sowie die Aufsätze LEUBE 1924 und SPARN 1984. 166

lutherische Orthodoxie, die in Deutschland ihre Apologetik mit großer Siegesgewißheit begann. Athens devictus nannte sich dementsprechend der Ausführliche Bericht von den Atheisten, Gottesverächtern, Schriftschändern, Religionsspöttern, Epicureern ... Kirchen und Predigerfeinden, den Johann Müller (1598 — 1672) als eine »gründliche Widerlegung ihrer erschrecklichen und verdammlichen Irrthümer« 1672 vorlegte."7 Und ebenso der Athens convictus des Kieler Theologen Christoph Franck (1642-1704),"' der kurz und knapp den Atheisten den Garaus machte. Die Masse der apologetischen Literatur hatte reine Schutzfunktion, diente als Praeservatif wider die Pest der heutigen Atheisten,"9 - andere Schriften (besonders gegen Ende der Debatte in den 2 oer Jahren) begriffen sich bereits als nützliche Nachschlagewerke, um den Gegner kennenzulernen und dessen Argumente besser widerlegen zu können. So Johann Albert Fabricius' (16681734) Delectus argumentorum et syllabus scriptorum, qui veritatem religionis Christianae adversus Atheos, Epicureos, Deistas seu Naturalistas ... asserverunt (1725), als dessen Fortsetzung sich übrigens das bereits erwähnte FreydenkerLexicon von J. A. Trinius verstand; oder die bekannte Historia universalis atheismi et atheorum (1725) von Jakob Friedrich Reimmann (1668 —174^).^° Drei Namen wurden vor allen anderen genannt und als Triumvirat radikaler Religionskritik angefeindet. Unter Verkehrung der Legende vom Buch De Tubus Impostoribus entstand das Bild der »drei Ertz-Betrüger« Herbert of Cherburys, Hobbes' und Spinozas, wie sie der Hamburger Theologe Michael Berns (1657-1728) schon 1682 in seinem Altar der Atheisten, der Heyden und Christen titulierte.2'1 Ebenso der Kieler Theologieprofessor Christian Kortholt (1633"7 J. MÜLLER: Athens devictus oder Ausführlicher Bericht von den Atheisten, Gottesverächtern, Schrißschändern (usw.) (Hamburg '1672, "1685). Über Müller s. JÖCHER III, 731, und DBA 869,54 — 92 (vgl. BARTH 1971, 2jf.). 118 C. FRANCK: Atheus convictus, brevi dissertations exhibitus (Kiel 1672; Resp.: Johannes Clausen). Zu C. Franck s. JÖCHER II, 715. "' So der Titel einer 1661 in Rostock erschienenen Schrift des Theologen Theophil GROSSGEBAUER (1627-1661). Über Grossgebauer s. DBA 427, 263-269. 1)0 Vgl. auch folgende Schriften: Christoph Gottlob GRUNDIG (1707 — 1780): Geschichte und wahre Beschaffenheit derer heutigen Deisten und Freydenker ... (Cöthen 1748); Andreas KUNAD (1677 —1746):De atheis praecipue Us, qui speculativi dicuntur (Zerbst 1706); Gottlieb Samuel TREUER (1683—1743): Oeconomia systematis moralis atheorum (Helmstedt 1718); Jenkin THOMASIUS (= Jenkin Phillips): Historia atheismi, breviter delineata (Basel 1709 bzw. Altdorf 1713). Sowie die Einzeluntersuchungen von Johann Jakob SYRBIUS (1674—1738): De atheismi origine (Jena 1720); und Friedrich Christian BAUMEISTER (1709 — 1785): Quaestio, an philosophus possit esse atheus (Wittenberg 1734). 1)1 M. BERNS: Altar der Atheisten, der Heyden und der Christen ... Wider die 3 Ertz-Betrieger Hobbert (sie!), Hobbes und Spinoza (Hamburg 1682). Über Berns vgl. DBA 76, 99 — 100, ROSKOFF 1869 (Bd. II, 46 { .) und RUSTMEIER 1970. 167

1694)5 der 1690 in einem De Tribus Impostoribus Aiagnis Liber in Gestalt dieses Triumvirats die »novi philosophi« abfertigte.131 Wie auch Valentin Ernst Löscher sahen Berns und Kortholt besonders gegenüber Herben, Hobbes und Spinoza die Notwendigkeit gegeben, die bisherige theologisch-philosophische Tradition zu verteidigen. Vor allem am biblischen Gottesbild des der Welt frei gegenüberstehenden Herrn und Regenten versuchte man festzuhalten und ebenso die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Kultformen festzuschreiben. Der oberste Vorwurf war natürlich derjenige, die »Atheisten« verwerfen die biblische Offenbarung und setzen an ihre Stelle die Vernunft, - eine zugespitzte, aber kaum falsche Interpretation.1" Nicht die Offenbarung Gottes, sondern die menschliche Vernunft schien zu bestimmen, was fortan Wirklichkeit sei; eine Ungeheuerlichkeit angesichts der orthodoxen Formel, wonach die Offenbarung zwar nicht gegen die Vernunft, dennoch aber über ihr stehe. Mit erschreckender Selbstgerechtigkeit - so mußte es die Orthodoxie verstehen — gebärdete sich die subjektive Vernunft einiger verwirrter Gemüter (Narren und Toren nach Auskunft von Psalm 14,1 !)234 in der Kritik des Althergebrachten, d. h. in der Kritik der geoffenbarten Religion und ihres legitimen Kultes, und stellte dieser philosophische Systeme gegenüber, die zwar einen Begriff Gottes, dessen geoffenbarten Namen jedoch kaum zu kennen schienen. So E. Herbert of Cherbury (1583-1648), der in mehreren Schriften (De veritate, 1624; De causis errorum, 1645; &e religione gentilium, 1645) Überreste der heidnischen Religionen im Christentum anprangerte und die biblische Religion anscheinend völlig der Rechtsprechung der Vernunft, des obersten und allen Menschen gleichen Instinktes unterwarf, aus dem heraus auch alle praktische Sittlichkeit stamme.1" So auch Th. Hobbes (1588 — 1679), dessen Leviathan (1651) scharfe Kritik an Priesterherrschaft und religiösen Aberglauben übte und deshalb das biblische 131

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1)1

C. KORTHOLT: De Tribus Impostoribus Magnis Liber (Kiel '1690, '1700). Über Kortholt s. u.a. SPARN 1984 Gsff.). Vgl. V. E. LÖSCHER, Praenotiones theologicae ... (a.a.O., 214): »Et qui possint aliter sentire, qui et in Christiana religione, ut audivimus, nihil quam jus naturae dari putant« ? Der Topos von ft. 14,1 gehörte zum wichtigsten Inventar christlicher Apologetik und wurde in der deutschen Frühaufklärung häufig im Gegensatzpaar »vernünftige Religion«/»atheistische Narrheit« benutzt. Vgl. Johann Ulrich FROMMANN (1669 — 1715): Athens stultus, sive disputatio inauguralis. Stultitia Atbeismi ex Psalm. XIV, v. i (Tübingen 1713; Resp.: C. F. Faber); Franz Ulrich RIES (1695-1755):Dissertatio pbilosophica de atheis, eorum stultitia (Marburg 1725; Resp.: W. L. Hermann); sowie Johann MEYER (f 1751): Die Närrische Welt in ihrer Narrheit oder Entdeckte Quellen der Atheisterey undFreydenckerey... (Breslau-Leipzig 1752). Siehe die von G. GAWLICK hrsg. und eingeleiteten Neuausgaben (Stuttgart-Bad Cannstatt 1966 — 1967).

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Bild vom Reich der Finsternis (s. Eph. 6,12; Mt. 9,34 u· I 2 > 2 6 ) weniger auf das Herrschaftsgebiet des Satans, als auf den Zustand der Unterdrückung durch Aberglaube und Priesterbetrug münzte. The Kingdom of Darkness hieß der vierte und letzte Teil des Leviathan, der eine »Verschwörung von Betrügern« aufdeckte, »die zur Erlangung der Herrschaft über die Menschen in dieser gegenwärtigen Welt versuchen, durch dunkle und irrige Lehren das Licht der Natur und des Evangeliums auszulöschen, um die Menschen von der Vorbereitung auf das künftige Reich Gottes abzubringen« (6o^).n6 Diese confederacy of deceivers, in der lateinischen Übersetzung von 1670 impostorum confoederatio,1*7 stützte ihre ungewöhnlich stabile Macht auf Aberglaube und Unwissenheit, auf bloßen »Altweiberglauben« (old wives' fahles, 686), der sich als Bilder oder Wahnvorstellungen des Gehirns, als Relikte der heidnischen Religion, Mißbrauch der Hl. Schrift, Götzendienst oder nur als falsche und ungesicherte Überlieferungen entpuppte (60 5 ff.). Dahinter stand nach Hobbes' Überzeugung vor allem die theologisch-philosophische Tradition, deren aristotelischscholastisches Grundgerüst er als vain philosophy bzw. inanis philosophia kritisierte (664). Was diese an Perversion natürlicher Vernunft und an Blindheit des Verstandes (671) erzeugt hatte, zeige — so Hobbes — die klassische Dämonenlehre, die als Gespenster- und Hexenglaube ihr Unwesen getrieben hatte (637ff.).lj8 Wenn es denn Gespenster und Dämonen gäbe, dann in Gestalt der Kleriker; denn »Dämonen wohnen in der Finsternis, an einsamen Orten und in Gräbern. Die Kleriker wandeln ebenso in der Dunkelheit der Lehre, in Klöstern, Kirchen und auf Friedhöfen«. Parallelen zwischen dem Klerus und dem Reich der Gespenster konnte Hobbes in großer Zahl aufzeigen (698^). Ein Unterschied jedoch blieb: während Dämonen weder Fleisch noch Bein hatten (s. Lfc.24,36), waren die Priester höchst real, nutzten Furcht und Unwissenheit der Menschen, ihren Betrug auszuweiten und »den Rahm des Landes abzuschöpfen« (699). Da half nur ein Mittel, der Exorzismus (700), und Th. Hobbes empfahl es metaphorisch gemeint gegenüber dem Klerus, um das Reich der Finsternis durch Vertreibung der Betrüger zu beseitigen. Und schließlich Spinoza (1632 — 1677), dessem »atheistischen Lehrgebäude« das Freydenker-Lexicon von J. A. Trinius ähnlich viel Aufmerksamkeit widmete, wie dem »Freygeist« P. Bayle.139 Spinozas Philosophie galt vielen schon vor 2)4

Zit. nach T. HOBBES: The English Works (ed.W. Molesworth, a.a.O., Bd. III, 6ojff.). *>7 T. HOBBES: Opera philosophica quae latine scripsit omnia (ed. W. Molesworth, a.a.O., Bd. III, 449)· 2)8 Vgl. Opera philosophica ..., a.a.O., 499: »Ab hac doctrina de essentiis et formis substantialibus seperatis daemonologia Graecorum in ecclesia... relicta est; et superstitio illa, quam deisidaimontan vocant Graeci, sive metum phantasmatum«. 2J ' J. A. TRINIUS, a.a.O., 417-444. 169

jeglicher Veröffentlichung als Ausgeburt eines »Atheisten und Religionsverächters von Gesinnung, - eines gemeinschädlichen Subjekts«, wie bereits 1655 ein niederländisches Urteil bestätigte.140 Der 1670 anonym publizierte Tractatus theologico-politicus entfachte dann einen Sturm der Entrüstung, der mit Herausgabe der Opera posthuma (1677) nur an Gewalt zunahm. Der Tractatus wie auch Spinozas Ethik (1675) waren selbst für Christian Thomasius unannehmbar, der sonst Toleranz und Denkfreiheit für viele zu Unrecht des Atheismus angeklagte Abweichler im philosophischen Denken eingefordert und sich mit Nachdruck gegen das lärmende Geschrei der Ketzermacher erhoben hatte. Wie sein Vater, der als einer der ersten in Deutschland 1670 gegen Spinoza Stellung bezogen hatte,14' hielt auch er den Spinozismus für eine große Gefahr, der es entschieden zu begegnen galt. Dieses nicht aus plötzlichen orthodoxen Neigungen, sondern aus dem Wissen, wie wenig sich seine eigenen Überzeugungen mit denen Spinozas vereinbaren ließen. Vor allem der Intellektualismus, den Spinozas Philosophie unter dem Signet more geometrico demonstrata propagierte, stand Thomasius' Voluntarismus diametral gegenüber; wobei auch sein moralphilosophischer Pessimismus schon im Ansatz Spinozas Hoffnung desavouierte, durch bloßen Vernunftgebrauch zu einem tugendhaften Leben zu gelangen:» ex solo rationis ductu vivere« (II,236).141 Die Apologetik der lutherischen Orthodoxie war hingegen durch ein allgemeines Gefühl einer Bedrohung der kirchlichen Wahrheiten gekennzeichnet. Neben Spinozas Gottesbegriff wurde vor allem seine Religionskritik, welche offenkundig die positive Religion mit Aberglauben gleichsetze, Anlaß zu heftigem Widerstand.143 Spinoza sprach vom Aberglauben als der Folge menschlicher Furcht vor einem Ungewissen Schicksal und meinte damit zugleich die Offenbarungsreligion (111,5). Denn auch diese stützte sich weniger auf vernünftige Einsicht ihrer Anhänger, als auf Unwissenheit, Vorurteile und vor allem auf ungeregelte Affekte, deren Palette von Furcht zu Hoffnung (11,178), von Traurigkeit zu Fröhlichkeit reichte (II, 275), und die durch bloße Einbildungen und Träume sowie Betrügereien seitens der Priester genährt wurden (111,5). Furcht war für Spinoza, der eng mit der lukrezschen Religionskritik verbunden war (s. Kap. II), Ursprung alles Aberglaubens und dessen Vorstellungswelt, in der auch Religion als ursprünglich einfache Frömmigkeit zu Wundergläubigkeit und »Altweibergeschwätz« verkommen mußte (II, 236). Dort, wo »non J4

° Nach BOHRMANN 1914, u. Jakob THOMASIUS: Programma adversus anonymum, de Übertäte pbilosopbandi (in: Dissertationes LXIII varii argumenti, ed. Chr.Thomasius, Halle 1693, 571 — 584). Über Christian Thomasius' Stellung zum Spinozismus vgl. jetzt GAWLICK 1989. 141 ZU. nach den Opera (ed. C. Gebhardt, Bd. I-IV, Heidelberg 1914). !4i Über Spinozas Religions- und Aberglaubenskritik vgl. u. a. BOHRMANN 1914, MISRAHI 1978 und STRAUSS 1930 (bes. io7ff. und 249ff.). Zitatbelege für superstitio und reitgio finden sich in E. GIANCOTTI BoscHERiNi:Z,ext'cow Spinozanum (Den Haag 1970). 141

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ex ratione, sed ex solo affectu« gelebt wurde (111,6), herrschten erschreckende Vorurteile über moralische Wertmaßstäbe (11,79), kam es zu Verbrechen und erbarmungslosen Verfolgungen derer, die nicht der vana religio (111,6), sondern eher dem Licht der eigenen Vernunft folgen wollten. »Superstitio ... nullos magis odit, quam qui veram scientiam, veramque vitam colunt« (lll,i° Ebd., 146. 286

medizinischen, iatrophysikalischen Temperamentenlehren verstanden werden kann. In deren Kategoriensystem entsteht das Bild einer seelischen Naturanlage des Aberglaubens, dessen »psychophysische« Konstante das melancholische Temperament ist.'1

Melancholia superstitionis

4.1. Temperament und Religiosität Zwei Initiativen für die Entwicklung der Moralphilosophie gingen von Thomasius aus: Einmal durch seine Hervorhebung des hohen Erkenntniswertes der Temperamentenlehre für die Ethik, dann durch seine im Ansatz entwickelte Verbindung des Aberglaubens mit dessen natürlicher Anlage im melancholischem Temperament. Thomasius' Versuch, die Temperamentendoktrin als integralen Bestandteil der Ethik einzuführen, fand sowohl unter seinen moralphilosophisch interessierten Schülern, als auch in der pietistisch beeinflußten Moraltheologie viele Nachahmer. Schon 1708 verschaffte der Sohn Philipp Jakob Speners, Jakob Karl Spener (1684—1730), im Rückgriff auf die geschichtliche Entwicklung der Temperamentenlehre seit der hippokratischen Schule den »Temperamentisten« den nötigen Grundstock historischen Wissens um ihren Gegenstand. Speners Historia doctrinae de temperamentis bominum, die er unter Anleitung Johann Franz Beispiele für die Anwendung dieser Überlegungen finden sich bei Thomasius häufig. Besonders seine Kritik des Hexenaberglaubens (s. o. Kap. IV, Abschn. 4) gibt dem Erklärungswert der Melancholie (= Geldgeiz) deutlich Ausdruck. In der Dissertation Vom Laster der Zauberey (1701) wird das Teufelsbündnis mit dem Hinweis auf die geistige Natur des Satans geleugnet, nicht aber daß er »auff eine geistliche und unsichtbare Weise ... in den gottlosen Menschen seine Würckung hat« (a.a.O., 47). Diese Wirkung läßt sich im Rückgriff auf das Bild vom »Melancholischen Teufel« verstehen. Auf der einen Seite steht die seelische Verfassung der Abergläubischen, die Thomasius mit dem Satz umschreibt: »Der ist ja schon des Teuffels Leibeigener, welcher sich der Wollust, dem Geitz und der Hofarth ergeben hat« (a.a.O., 75). Und auf der anderen Seite ist die charakteristische Geistesverfassung des Teufels anzusetzen, die schon 1699 im Versuch vom Wesen des Geistes beschrieben wurde: »Denn der Satan ist... auch ein Geist des Geitzes. Der Geitz aber, als in welchem lauter Mangel der Liebe ist, ist die höchste Kälte« (a.a.O., 96). Die analoge Geistesbeschaffenheit von Teufel und Abergläubigen, die sich im Geiz zeigt, läßt eine Wirkung des Satans auf den Menschen zu. Mit dieser Vorstellung bindet sich Thomasius stark an Johann Weiers (und Jakob Böhmes!) Thesen zur Melancholie und fällt somit hinter einen Großteil zeitgenössischer Erklärungsversuche des Hexenwahns aus natürlicher Melancholie zurück, die ein Wirken des Teufels gänzlich leugnen (zum Wirken des Teufels auf einen Melancholiker nach Jakob Böhme s. De quatuor complexionibus, a.a.O., 2i$i.: »In keiner Complexion wird des Teufels Wille sehrer offenbar ... als in der Melancholischen ...« usw.). 287

Buddes in Jena verfaßte,'* besticht noch heute durch ihre Detailkenntnis, die allein dem Zweck dienen sollte, die begrifflichen Kategorien der Temperamententheorie »turn physice turn etiam moraliter« nutzbar zu machen (2). Daß der historische Abriß mit einer warmen Empfehlung der thomasianischen Verbindung von Temperamentlehre und Ethik (»clare et egregie illustratam«) schloß, verstand sich dabei von selbst, wurde Thomasius doch von Spener quasi als Erfinder der Übernahme medizinischer Erkenntnisse für die Moralphilosophie angesehen (88). Die im selben Jahr in Leipzig veröffentlichte Physiologia moralis de temperamentorum propensionumque humanarum connexione von Gottfried Polycarp Müller (1685 —1747)" gehörte wie die 1713 in Halle gehaltene Disputatio moralis de temperamentorum in actiones morales influxu Theodor Johann Seelmanns'4 zu den bedeutenderen von Thomasius beeinflußten akademischen Schriften über die moralphilosophische Relevanz der Temperamente, während die Mehrzahl universitärer Abhandlungen de temperamentis kaum in die ethische Dis-

Jakob Karl SPENER (Autor-Resp.): Historia doctrinae de temperamentis bominum. Jena 1708 (Praeses: J. F. BUDDE). Mit großer Vorliebe fürs Detail informiert Spener u.a. über Hippokrates (2 iff.), Aristoteles (bes. zu Problemata , s. 33ff.), Galen (54ff.), Scipio Claramontius (der für die Entwicklung der Temperamentendoktrin am Ende des 17. Jhs. nicht zu vernachlässigen ist, 78ff.) und Jakob Böhme, dessen Stellenwert hier nochmals unterstrichen wird (79 — 83). Speners abschließende Empfehlung der thomasianischen Verbindung von Ethik und Temperamentendoktrin (88) wird ergänzt durch den Hinweis auf die Weiterentwicklungen dieser Idee bei J. F. Budde (»strictim praeterea ac accuratissime«). — Zu J. K. Spener, später Prof. der Geschichte in Wittenberg, s. HIRSCHING XII/j, 368 - 378, und ADB XXXV, 101-102. Gottfried Polycarp MÜLLER: Pbysiologia moralis de temperamentorum propensionumque humanarum connexione (Leipzig 1708; Resp.: J. G. Am Ende). — Zu Müller, mystisch-pietistisch beeinflußt (Poired) und seit 1708 in Leipzig an der philosophischen Fakultät, s. OTTO II, 649 — 655, und DBA 868, 51 — 72. — Müller möchte mit dem Begriff einer »Physiologia moralis« der engen Verbindung von Medizin und Ethik Ausdruck geben; die genaue Definition dieser Wissenschaftsdisziplin lautet: »physeos temperamentorum consideratio talis, quae horum emanationem in Dispositiones voluntatis et mutuam interse connexionem subinducat« (5). Durch einen starken, moralphilosophischen Pessimismus, der die Unwandelbarkeit der durch die Temperamente bestimmten Gemütsneigungen befürchtet, stellt Müller den therapeutischen Nutzen seiner Physiologia moralis selbst in Frage. Sie dient eher der Selbsterkenntnis und der pietistisch zu verstehenden Selbstbescheidung (zur Melancholiedefinition s. ; zur Gleichsetzung von Melancholie und Geiz s. 32). Theodor Johann SEELMANN: Disputatio moralis de temperamentorum in actiones morales influxu (Halle 1713; Resp.: E. C. Am Ende). — Über Seelmann ist kein biographisches Material verfügbar, auch aus dem Titelblatt der Disputation geht wenig hervor. Die Disputation entwirft in kurzen Thesen eine eingängige Darstellung der moralischen Temperamentenlehre: »ex thesibus brevissimis ... quomodo temperamenta in mores et actiones hominum influant« (These XIX). — Die Gleichsetzung von Melancholie und Geldgeiz erfolgt über das Analogon der Kälte: »inducit autem frigiditas avaritiam« (These X). 288

kussion eingriff. Diese wurde weitaus mehr bestimmt durch moralphilosophische Gesamtentwürfe, in denen die körperlichen und seelischen Temperamente eingeschlossen wurden (s.u. Budde, Gundling), oder durch solche Veröffentlichungen, die sich gewissermaßen als Handbücher allein der Theorie und praktischen Anwendung der Temperamentendoktrin zuwandten. Zu nennen sind nur die zwei wichtigsten, die in ihrer intellektuellen Herkunft auch den Interessentenkreis ihrer Bücher widerspiegeln. Der Warhafftige Temperamentist (1716) des Arztes und Philosophen Johann Daniel Longolius (1677 — 1740) stellte die Erkenntnis der natürlichen und moralischen Temperamente als Grundlage der »untrüglichen Kunst« vor, der »Menschen Gemüther nach ihren natürlichen und moralischen Haupt-Eigenschaften zu unterscheiden«." Im Anschluß an seine 1705 in Halle gehaltene Dissertation De differentia temperamentorum animi a passione dominante*6 verweigerte auch er als Thomasius- und Stahlschüler einer direkten Identifizierung von körperlichem und seelischem Temperament die Zustimmung, ohne jedoch die Möglichkeit zu leugnen, z. B. das Verhalten der »schwarzgalligten Leute« auf eben die »Galle der Melancholicorum«, die »dunckler und schwärtzer ist als die Galle der Menschen von ändern Temperamenten«, zurückführen zu können (67^). Das Hauptinteresse von Longolius lag auf der Affinität der von ihm nicht immer genau beschriebenen humoralen Substrate zu ganz bestimmten moralischen Eigenschaften, - besonders zu den religiösen Qualitäten der jeweiligen Temperamenttypen, auf die er nicht unbeeinflußt vom Erkenntnisinteresse des hallischen Pietismus mit Vorliebe sein Augenmerk richtete (izSff., ^ .). ? Dem Interesse pietistischer Kreise kam der Historisch-moralische Entwurf/ der Temperamenten (1733, 2 '737) des Hamburger Hauslehrers und Predigers Johann Wilhelm Appelius (t 1757) besonders entgegen.'8 Dieser entwarf ausführ" Johann Daniel LONGOLIUS: Warhaffiiger Temperamentiit, oder unhetrügliche Kunst der Menschen Gemüther nach ihren natürlichen und moralischen Haupt-Eigenschaften zu unterscheiden (Budissin 1716). — Zum körperlichen Temperament s. dort 45ff., ii3ff.; zum moralischen Temperament bes. 52ff. und ijsff. Longolius, der seine Arbeit G. E. Stahl widmet, beschreibt 67-78 ausführlich das melancholische Temperament, ausgehend von einem Kupferstich (nach S. 66 abgebildet), den ihm sein Verleger vorgelegt hatte. Außer den drei Hauptlastern als moralische Temperamente führt er zusätzlich solche der Völlerei (i3zff.), der Geilheit (i4off.), des Müßiggangs (i46ff.) usw. als sog. »Lustseuchen« ein. — Über Longolius s. DBA 780, 124 — 131, und OTTO H, 499-502. (i J. D. LONGOLIUS (Praeses): De differentia temperamentorum animi a passione dominante (Halle 1705; Resp.: E. J. Rittmeyer). 17 Das religiöse Verhalten des Melancholikers beschreibt er folgendermaßen: »Das Gewissen eines Melancholici ist nicht minder, als seine übrigen Empfindung, ein gewaltig Ding. Ist es unruhig, so fürchtet es die Züchtigungen des Geistes Gottes recht scharff ...«(a.a.O, 76f.). '8 Johann Wilhelm APPELIUS : Historisch-moralischer Entwurffder Temperamenten und der hieraus entstehenden Neigungen des Gemüths, Sitten und Naturells ... (Hamburg .89

liehe Charakterbeschreibungen der vier Temperamententypen und der »hieraus entstehenden Neigungen des Gemüths, Sitten und Naturells«. Der melancholische Typ" degeneriere angesichts der in ihm dominanten Gemütsneigung des Geldgeizes zum Prototypen des unsittlichen und falschreligiösen Menschen, für den Appelius die biblische Gestalt des Christusverräters Judas als Beispiel einfiel (ijff.): »Melancholici begehen um den kleinsten Gewinnst die grösseste lachete, dann sie haben kein iudicium, dahero beging Judas das abscheuliche Verbrechen, und verrieth seinen Meister um 30 Silberlinge ...«. Der Geizige »hat mit lauter irrdischen Sachen zu thun, und wird ein rechter Unmensch« (160); und das sowohl in sozialer (i6off.) wie in religiöser Hinsicht (ij7ff.). Auf der einen Seite sei, so Appelius, »wohl kein Laster der Socialitaet mehr zuwider, als der Geitz« (160), denn seinen »Fliehten gegen andere« könne der Melancholische/Geizige aus Habsucht und Isolierung kaum nachkommen. »Ein Geldgeitziger schließet sein Hertz gäntzlich zu gegen jederman« (161). Hinsichtlich der Pflichten gegen Gott zeichne sich auf der anderen Seite ein weit schlimmeres Bild: Das Herz des melancholischen Menschen ist »recht Felsenhart« (17) und gegenüber den religiösen Anliegen verschlossen. Es sei so kalt und trocken wie jener Fels, auf dem das Samenkorn des biblischen SämannGleichnisses (Lk. 8,5 — 6) verdorren mußte; ein Gleichnis, das für Appelius »einigermassen illustriret«, wie auch die anderen Temperamententypen zu verstehen seien (i8f.). Beim Typus des Melancholien* dachte er zunächst an die orthodox Gläubigen, die sich »halßstarrig« und verstockt der pietistischen Herzensfrömmigkeit nicht öffnen wollten (158, vgl. 17). Aber er erweiterte die Beschreibung auch auf die Abergläubischen, zu denen von der Orthodoxie (»Heucheley«) der Weg nicht weit sei. Aus Mangel an judicium stecke der Melancholisch-Abergläubische in religiösen Irrtümern (17) und hänge sein Herz an den äußerlichen Gottesdienst, dessen irdischer Schein dem Geiz entgegenkomme: »Den Geitzigen führet sein Geitz ferner, was den äußerlichen Gottesdienst betrifft, zur Superstition und Aberglauben« (157). Weil die Geizigen »sehr furchtsam und leichtgläubig« seien, — ihre »servilische Furcht« sie dazu treibe, »auff eine irraisonable Arth Gott zu dienen«, tauge ihr innerlicher Gottesdienst nichts (158).

733> '1737)· Über Appelius, der als Theologe 1733-39 in Hamburg Hauslehrer war, 1738 Ehrenmitglied der deutschen Gesellschaft zu Göttingen wurde und später als Prediger in Barrien/Sulingen unterkam, s. DBA 29, 300 — 301. Zitiert wird nach der i. Auflage 1733. Zur Bestimmung des melancholischen Temperamentes vgl. Historisch-moralischer Ent-wurff.,., a.a.O., zf., 8ff., i/f., 21, ijii., is3ff. etc. — Appelius ist durchgängig von Budde beeinflußt, insbesondere bei der Zuspitzung seiner Temperamentendiskussion auf die Philautie, die Selbstliebe, als Ursprung aller Untugenden und Zentrum der Temperamentenwirkung (bes. 9 iff.). Seine Erörterung dieser Problematik wird hier beiseitegelassen, da sie bei Budde verbindlicher und in ihrer Anbindung an die Sündenmystik Johann Arndts deutlicher formuliert wird (s. u. Abschn. 5). 290

Steigere er sich zudem in emotionale und mystische Verblendetheit, so kehre sich nach Appelius' Überzeugung Aberglauben in Schwärmerei und Fanatismus um. »Wann sie aber echauffiret werden, so sind (die Melancholiker) geneigt, sehr wunderliche Dinge anzufangen, fallen auf den Fanaticismum und Enthusiasmum und bringen allerhand Paradoxa vor ...« (s). Die eindrucksvollsten Beispiele der Verbindung von Fanatismus und Aberglauben mit dem melancholischen Temperament fand Appelius in der Geschichte der katholischen Kirche; er erwähnte die melancholische Flucht ins »Closter-Leben« (158), den geschickten »Griff der Geistlichkeit beym Anfange des Pabstthums«, sich der »abergläubischen Einfalt des gemeinen Mannes« zu ihrem Vorteil und ihrer Bereicherung zu bedienen, — und die biblische Prophetic, daß aus dem Geiz das Werk des Anti-Christ entstehen werde, den Appelius natürlich reformatorisch gesinnt mit dem Papst als Vertreter der melancholischen Grundtendenz der römischen Kirche identifizierte. Mit solchen »Illustrationen«, zu denen auch der spanische König Phillip II. als Protektor der Inquisition zählte (164), trug Appelius zur pietistischen Popularisierung der Idee einer melancholia sttperstitionis bei, indem er mit großem Geschick Charakterschilderungen im theophrastischen Geiste (s. o. Kap. l) mit Vorstellungen von der abergläubischen Neigung des melancholischen Temperaments verband. Der Theorie nach war er jedoch völlig abhängig von seinem Lehrer Johann Franz Budde, dessen Melancholietheorie er fast wörtlich übernahm, zu deren Verbreitung außerhalb akademischer Kreise er aber Wesentliches beitrug (zu Budde s. u. Abschn. 4). Die enge Verbundenheit der jeweiligen Temperamente mit einem bestimmten religiösen Habitus, wie es bei Appelius relativ deutlich war, wurde Gegenstand vieler Untersuchungen, die sich den »melancholischen Religionisten« zum Thema nahmen.60 Insbesondere gingen dort die Beobachtungen dahin, dem cholerischen Naturell eine atheistische Veranlagung und dem Melancholiker genuin falsche Religionsvorstellungen zuzuordnen, deren Bandbreite von orthodoxer Hypokrisie über Aberglauben hin zum Enthusiasmus reichte. Auch die historische Entwicklung der polemisch eingefärbten Diskussion schwarzgalliger Religiosität verlief in dieser Reihenfolge, so daß die Spätaufklärung in der Melancholie vornehmlich die Ursache der Schwärmerei bekämpfen sollte.6'

Vgl. den Abschnitt Der melancholische Religionist in der Untersuchung von H. J. Schings(SCHINGS 1977, ii^ff.). Darauf kann hier nicht eingegangen werden, s. dazu den entsprechenden Abschnitt in SCHINGS 1977 (i8jff.); Schings Untersuchung über »Melancholie und Aufklärung« kann gerade für den Bereich der Spätaufklärung, die verstärkt in der Melancholie die Ursache der Schwärmerei sieht, als vorbildlich gelten. Die Grenzen zwischen der Schwärmerei und dem Aberglauben bleiben aber im Hinblick auf die Melancholie als gemeinsamer Ursache fließend. 291

Das feurige Temperament, der Hochmut, die Tollkühnheit und die ausgeprägte »Judiciösität« des Cholerikers trieben ihn schnell in die Gottlosigkeit; und der atra bilis ließen sich je nach Beimischung der anderen Substrate die verschiedensten religiösen Fehlformen anhängen. J. W. Appelius nannte auch hier Beispiele, daß »die theoretische Atheisterey ... sich nur bei den Ehrgeitzigen befindet«, und zitierte neben dem antiken »Gottesleugner« Lukrez den Erzatheisten Spinoza, dessen cholerisches Temperament ihn verfuhrt haben soll, »die Welt als eine Machine an(zusehen) und Gott und die Welt zu confundiren«(i36ff.). Interessant war deshalb der Versuch des Physikers und Theologen Johann Friedrich Wucherer (1682 — 1737), theoretisch eine genaue Vermischung des cholerischen mit dem melancholischen Typus durchzuspielen, um aus »der Balance und Contre-Balance derer menschlichen Gemüthsneigungen« den Zustand religiöser Ausgeglichenheit zu gewinnen. Die Idee zu seiner Dissertatio de aequilibrio adfectuum in temperamento cholerico-melancholico, in ordine ad religionem, muneris curam et patientiam (Jena 1722)'* wollte Wucherer sogar von Thomasius, dem »Vir ingeniosissimus« (4), selbst erhalten haben. Im Anschluß an dessen kaum ausgeführte Temperamentenlehre ergab sich leicht die Zuordnung des Cholerikers zum Atheismus aufgrund übersteigerter Furchtlosigkeit: »Atheismum fovet in pectore suo cholericus«, da ihn seine ganze Gemütsverfassung für die »summa impietas et novarum opinionum monstra« (Spinoza!) empfänglich mache (6). Die Möglichkeit, die Gottlosigkeit dieses Temperamententypus einzudämmen, gäbe die Beimischung schwarzer Galle. Für sich allein neige der Melancholiker aufgrund übermäßiger Furchtsamkeit (»timiditas naturalis«) und einem ausgeprägten Hang zur Heuchelei schnell zur Hypokrisie und zum äußerlichen Gottesdienst als Zeichen allen Aberglaubens: »melancholici in dissimulatione et timiditate occupantur« (6). Aber eine Spur von dessen »absurda affectatio« knechtiger Gottesfurcht dem cholerischen Temperament beigemischt, vermindere deutlich die Gefahr eines Abfalls von Gott; und umgekehrt, eine gewisse Menge der »arrogantia« des Cholerikers verändere die devote Haltung ängstlicher Religiosität der Melancholiker. Wucherer war überzeugt, daß nach diesem Rezept einer »mixtio cholerico-melancholica« das Pro'' Johann Friedrich WUCHERER: Dissertatio de aequilibrio adfectuum in temperamento cholerico-melancholico, in ordine ad religionem, muneris curam et patientiam, i. e. Von der Balance und Contre-Balance derer menschlichen Gemüthsneigungen ... (Jena 1721; Resp.: Johann Christian Zeumer). S. auch die dazu parallel erschienene Dissertatio de aequilibrio adfectuum in temperamento cholerico-sanguineo ... (Jena 1721; Resp.: David Rolfs). Seit 1717 als Prof. der Physik (und seit 1729 als Prof. der Theologie) in Jena beschäftigt sich J. F. Wucherer häufig mit den »Gemüths-Neigungen« der Menschen und deren moralischen Qualitäten: So z.B. in den Dissertationen De usu adfectuum (1716), De definitione et divisione adfectuum (1719) und De adfectuum remediis praeservantibus (1721). Dazu JÖCHER IV, 2o8jf. Über den bes. von Budde und Thomasius beeinflußten Wucherers. DBA 1396, 71 — 79. 292

blem heuchlerischer und falscher Frömmigkeit genauso wie das des Atheismus gelöst werden könnte: »simul atque cessaverint illa, statim cessat devota agendi ratio, eaque omnia, quae alioqui sub pietatis specie mire blandiebantur singulis ...«(8).

4.2. Temperamentenlehre und Religionskritik La piete suivrait-elle aussi la loi de ce maudit temperament? Helas! comment en disconvenir? Son influence ne se remarque que trop sensiblement dans le meme devot. II voit, selon qu'il est affecte, un Dieu vengeur ou misericordieux, les enfers ou les cieux ouverts; il tremble de frayeur ou il brüle d'amour... Denis Diderot6*

Wucherers Dissertation war nur eines von möglichen Beispielen für die frühaufklärerische Hoffnung, aus der Kenntnis menschlicher Temperamentenlage auf den damit verbundenen religiös-moralischen Habitus zu schließen und diesen (unter der Prämisse einer körperlich-seelischen Wechselwirkung) medizinisch und pädagogisch in Richtung wahrer, vernünftiger und »herzlicher« Frömmigkeit therapieren zu können. In einer Hinsicht jedoch stand die Erklärung religiösen Verhaltens durch die verschiedenen Temperamente vor einem Dilemma, das an dieser Stelle Erwähnung finden soll, bevor abschließend der Topos der melancholia superstitionis in seiner vollen Ausprägung bei Gundling und Budde behandelt wird. Die Feststellung einer Abhängigkeit zwischen Religiosität und Temperament führte zu der Frage, inwieweit auch die Gottesvorstellungen hiervon beeinflußt würden. Besonders am Beispiel des Melancholikers ließ sich zeigen, daß seiner knechtischen Gottesfurcht, welche in Aberglauben und Hypokrisie mündete, die Vorstellung des strafenden und grausamen Gottes korrespondierte. Beantwortete sich also die Frage nach einer Interdependenz von Gottesbild und Temperament positiv, so ergab sich in der frühaufklärerischen Diskussion eine daran anknüpfende Problemstellung von großer theologischer Brisanz. Die Brisanz wurde dadurch noch gesteigert, daß es eben Spinoza war, der mit Konsequenz die subjektive Temperamentenlage auch für die verschiedenen Gottesbilder der biblischen Offenbarung verantwortlich machte. In den einleitenden Kapiteln des Tractatus theologico-politicus (1670), die von der Prophetic handelten, zeigte er auf, wie sich die Gottesvorstellung in jedem einzelnen Propheten Phisiologia, a.a.O., 909. 14

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Phisiologia, a.a.O., 897 — 898. — Vgl. die Schilderung bei J. P. EBERHARD, Abhandlunge» vom physikalischen Aberglauben und der Magie (Halle 1778, 2).

Benedikt Spinoza war zwar sehr melancholisch aber gar nicht abergläubisch. Inzwischen gestehet er doch, daß er einsmahl einen 7 Schuh hohen Brasilianer mit seinen nach Art dieses Volks herabhangenden gelben Haaren gesehen, der über den ganzen Leib krätzig war. So habe sich diese Vorstellung so lebhaft bei ihm eingedrukt, daß er diesen Kerl beständig vor Augen gehabt, auch so gar des Nachts von ihm geträumt, und die Vorstellung desselben kaum durch den ganzen Tag über fortgesetztes tiefes Nachdenken habe loß werden können...

Nicht erst durch Boerhaave rückte das Pathologische der melancholischen Einbildung in den Mittelpunkt des Interesses. Im Zusammenhang der Hexenfrage wies bereits N. Malebranche auf krankhafte Vorstellungen hin, die aus einer melancholic au cerveau resultierten (s. o. Kap. IV), und verglich den Hexenwahn mit einer Volksseuche, einer contagion de imagination.^ Auch er gab dafür eine mechanistische Erklärung, die auf die grundlegende Funktion der Spiritus animales zurückgriff: ».. .lors que l'imagination manque d'esprits animaux ou lors qu'il ont peu de force et de mouvement l'esprit devient timide et superstiteux«/6 Malebranches Thesen initierten spezielle Untersuchungen zur Pathologia daemoniaca (s. Kap. V, Abschn. i), während die Zahl medizinischer Untersuchungen zum pathologischen Charakter der Melancholie stetig zunahm.17 Es gab kaum einen der großen Mediziner des ausgehenden 17. Jahrhunderts, der nicht wenigstens eine Dissertation zum seelischen Krankheitsbild der Schwarzgalligen publizierte und auf diese Weise dazu beitrug, die aufklärerische Diktion vom »abergläubischen Wahn« bzw. von »melancholischer Furcht« begrifflich vorzubereiten. So ließ Bernhard Weiß, genannt Albinus (1653 — 1721) in Frankfurt a.d. Oder 1687 eine Disputatio medica de melancholia verteidigen,18 in der er neben einer '' N. MALEBRANCHE: Remarques sur fin quatro de la Recherche de la verite (1680/81), in: (Euvres completes (ed. A. Robinet, Vol. XVII/i, $47): »Car enfin la contagion de rimagination corromt tout. C'est une maladie populaire qui gagne plus promptement les esprits que la peste n'infecte les corps ...«. - Vgl. Recherche de la verite (1674), in: (Euvres completes, a.a.O., Vol. I, 370 — 376. ·« Ebd. 17 Zu nennen sind nur die wichtigsten Arbeiten: Schon vor 1680 erschien die Disputatio inauguralis medica de melancholia diagnoses, prognosei kai therapei (gr.) in genere des Jenenser Arztes Johann Theodor SCHENCK (1619-1671) (Jena 1662; Resp.: Konrad Eckhard. Zu Schenck s. DBA 1096, 314-317), sowie in dessen Todesjahr ebenfalls in Jena eine Disputatio medica de melancholia seines Kollegen Johann Arnold FRIDERICI (1637-1671) (Jena 1671; Resp.: Johann Konrad Fuchs; zu Friderici s. DBA 347, 8586). - Nach 1700 sind außer den noch zu beschreibenden Arbeiten von F. Hoffmann und M. Alberti folgende Schriften wichtig: Johann Wolfgang Friedrich BÖNNEKEN (1769), Disputatio inauguralis medica. Melancholia vulgo Die Schwermüthigkeit (Erfurt 1718; zu Bönneken s. DBA 119, 87); Simon Paul HILSCHER (1681-1748), Dissertatio inauguralis medica de melancholia (Jena 1717; Resp.: Johann Bernhard Müller; zu Hilscher s. DBA 539, 40- 54). Jl B. ALBINUS: Disputatio medica inauguralis de melancholia (Frankfurt/Oder 1687; Resp.: Georg Konrad Wolff)· Über Albinus s. ADB I, 221 — 211, und DBA 13, 109 — 345

knappen mechanistischen Erklärung der Melancholie als Krankheitsursache eine ausführliche Beschreibung der melancholischen Bewußtseinszustände vorlegte. Wie Boerhaave, dessen Kollege er nach 1702 in Leyden wurde, sah er direkte Wechselwirkungen zwischen Seelenbewegung und Körperstruktur bzw. den Bewegungen der »Lebensgeister« (VII, Xf.),2' drängte aber zu einer Unterscheidung melancholischer von anderen Zuständen durch exakte phänomenale Beschreibung. Um das Pathologische der Melancholie von ähnlichen Bewußtseinsstörungen wie Wahnvorstellungen aufgrund von Verletzungen oder fiebrigen Erkrankungen abzugrenzen, nutzte Albinus umfangreiches Literaturmaterial und eigene Beobachtungen, in denen die simple Erfahrung, »delirant Melancholici« (XII), durch vielfältige Beispiele illustriert wurde. So wiesen beispielsweise antike Schriftsteller häufig auf die vermeintliche Sehergabe der Schwarzgalligen hin, die mit genau zu beschreibenden psychischen Umständen einherging: »multi se vates esse opinantur, et augurantur de rebus futuris« (X). Angst, Traurigkeit, falsche Zuversicht und Fröhlichkeit bedingen und begleiten melancholische Einbildungen, deren offensichtliche Irrtümlichkeit durch die Intensität der Affekte kompensiert wird. Die weit verbreitete Bestimmung der Melancholie als delirium sine febre cum timore innerhalb der medizinischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts erweiterte Weiß um diese Wechselbeziehung von Einbildung und Leidenschaften, wodurch er eine Definition melancholischen Wahnsinns lieferte, die den Grundstock zu einer ausführlichen Psychologie des delirium melancholicum darstellte, wie sie auch im Zusammenhang der bereits geschilderten philosophischen Theorie der Melancholie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde (s.o. Kap. V, Abschn. 5): »distinctior mihi videretur descriptio: Quod sit delirium sine febre, quo delirans imaginatur de re aliqua singular! vel paucis aliquot, tanquam verum id quod est falsum, et tristis est aut laetus, timens aut securus, prout imaginatio ilia conjuncta est cum speciebus tristitiae, laetitiae, timoris, securitatis« (l).

115 (interessant auch H. Boerhaaves Totenrede auf seinen Leidener Kollegen Albinus: Oratio academica de vita et obitu Albini. Leyden 1721). Vgl. a.a.O., These VII: »Animae passiones conservantur et corroborantur per aliquem motum spirituum, quae continuae cum siut, nee nobis ab iis temperare possimus, perpetuum spirituum argurunt motum, qui si modum excedat, terrestrem et crassum relinquit sanguinem; hue accedit quod ilia passio adeo occupet animam in consideratione objecti, ut adhibeat omnes Spiritus, qui sunt in cerebro ad ejus imaginem sibi repraesentandam et sistat omnes motus glandis, qui non inserviunt huic affectui (R. de Cartes, de pass. part. 2. § 120)«. — Nicht nur an dieser Stelle, sondern relativ häufig finden sich Verweise auf Descartes' Traktat über die Leidenschaften der Seele (s. z. B. These X). 346

2.2. Wedel und Stahl: animistisches Modell Ein anderer einflußreicher Mediziner an der Schwelle zum 18. Jahrhundert war Georg Wolfgang Wedel (1645 — 1721), dessen Untersuchungen zur Melancholie zwei Jahre vor denjenigen Albinus' als Dissertatio medica de melancholia in Jena veröffentlicht wurden.'0 Ob sich Weiß speziell mit Wedels Thesen auseinandergesetzt hat, kann nur gemutmaßt werden, doch liegt diese Vermutung nahe, da sich Wedels Arbeit in zentralen theoretischen Fragen als völliges Gegenstück zu Erklärungsmodellen der latrophysik präsentiert. Auch hier wird primär auf die Erscheinungsformen der melancholischen Krankheit abgehoben, weniger auf deren Ursachen, die Wedel stark der chemiatrischen Tradition verhaftet als »humorem melancholicum sive succum atrum« beschreibt (4). Die spezifische Differenz des melancholischen Deliriums gegenüber anderen Wahnzuständen gewinnt er u.a. aus der Analyse abergläubischer Vorstellungen (»inanes visiones«): Insbesondere die Lykanthropie oder der Gespensterglaube (sf), dem er übrigens 1693 eine vielbeachtete, aber undurchsichtige Abhandlung widmet,3' lassen ihn zu einer Definition der Melancholie gelangen, die Furcht und Traurigkeit als Hauptaffekte dieses Wahns bei gleichzeitiger Abwesenheit von fiebriger Erkrankung und Wutanfällen kennzeichnen: delirium sinefebre et furore cum metu et tristitia (o). Im Gegensatz zur latrophysik erkennt Wedel in Furcht und Traurigkeit jedoch keine gestörten Bewegungen der »Lebensgeister«, die ihren Sitz im Gehirn haben, sondern bezeichnet sie als Passionen des Herzens (n), dem Sitz der menschlichen Seele. Seiner Ansicht nach gilt die Reihenfolge der Affektionen, »prius cor, hinc cerebrum afficiatur« (n), da vor jeglicher Bewegung der »Lebensgeister« erst eine Veränderung der Seele im Herzen als animae sedes principalis et radicalis stattgefunden haben muß. Bewußt lehnt Wedel die ausschließliche Erklärung von Leidenschaften durch mechanische Prinzipien ab und verlagert die Kausalität auf das immaterielle Prinzip einer anima sensitiva rationalis (7), für deren argumenative Einführung er auf Johann Baptista van Helmont (1577-1644) zurückgreift, dessen spiritualistisch-mystische Naturspekulationen die latrophysik heftig bekämpfte.32 Mit der Namensnennung Helmonts eröffnet sich die gesamte Dimension der medizintheoretischen Auseinandersetzungen am Ausgang des 17. Jahrhunderts, die nicht ohne Grund eng mit der Melancholietheorie bzw. allgemeiner mit der Theorie seelischer Krankheiten verbunden sind. Wedels Rückgriff auf )0

G. W. WEDEL: Dissertatio medica inattguralis de melancholia. (Jena 1685; Resp.: Johann Georg Neuse). Über Wedel s. ADB XLI, 403; HIRSCHING XVI/i, 46-47, und DBA 1338,318-331. JI G. W. WEDEL:Dissertatio medica de spectris (Jena '1693, '1698; Resp.: E. H. Wedel). >' Über J. B. van Helmont s. ROTHSCHUH 1953 Usff.) und bes. PAGEL 1931. 347

den Seelenbegriff des Flamen Van Helmont geschah in polemischer Absetzung zur mechanistischen Medizin; eine Polemik, mit der Wedel nicht allein stand, und die in der Neubelebung mystisch-spekulativer Begriffe der Schriften Helmonts und der Paracelsisten eigenes Profil gewann. Im Gefolge der antiken, platonisch-aristotelischen Seelenlehren entwickelte Helmont eine Staffelung des Seelischen und Geistigen, die drei Stufen unterschied :Archeus, Anima sensitiva und Afens. Der Archeus entspricht dem vegetativen System einschließlich den Kräften der inneren Sekretion und den besonderen Bau- und Funktionsplänen der Organe. Er ist rein konzeptuell von den eigentlichen Seelenkräften getrennt, wenn auch im einzelnen diese Scheidung nie scharf durchgeführt wird. Die Anima sensitiva umfaßt bei Helmont nicht nur die niederen Denk-, Erkenntnis-, Sinnes- und Willensfunktionen, sondern ist auch Repräsentant des Körperganzen, der Individualität und damit Instanz für Gesundheit und Krankheit des Menschen. Die Mens endlich stellt die Verbindung zum Göttlichen, Transzendenten, zur Weltseele im Sinne der Paracelsisten her. Das Seelische ist also bei Helmont nicht nur rational und intellektual zu verstehen, sondern zugleich als Ausdruck der Ganzheit, als Zentrum körperlicher und geistiger Bewegung. Darin lag der Anknüpfungspunkt für die Gegner der mechanistischen Medizin, hier bot sich die Möglichkeit, den Schwierigkeiten des cartesianischen Dualismus' von Leib und Seele zu entgehen, der sich als das Dilemma theoretischer Medizin am Ausgang des 17. Jahrhunderts erwiesen hatte, und den Hegemonieanspruch iatrophysikalischer Erklärungsmodelle zu negieren. Descartes widersprach oft und mit Nachdruck jeglicher Annahme eines immateriellen Prinzip, einer anima sensitiva, und wies darauf hin, daß sich jede Form des Lebens aus mechanisch-materialistischen Prinzipien erklären ließe. So heißt es im Tratte de l'Homme (1664) an einer jedem latrophysiker vertrauten Stelle: »... il ne faut point a leur occasion concevoir en eile (cette machine du corps) aucune autre Ame vegetative, ny sensitive, ny aucun autre principe de mouvement et de vie (!), que son sang et ses esprits, agitez par la chaleur du feu qui brüle continuellement dans son coeur, et qui n'est point d'autre nature que tous les feux qui sont dans les corps inanimez«.33 Kein anderes Lebensprinzip als das der mechanischen Physik! — Der anklingende Ton von Übermut verstärkte sich innerhalb der stetig wachsenden Gruppe der latrophysiker zu Arroganz gegenüber denjenigen, denen das Lebendige und besonders das Bewußtsein weiterhin Problem blieb. Ihre Gegenreaktion fiel dementsprechend scharf aus: »Schämen sollten sich die Ärzte, derart von der Medizin (als Wissenschaft vom Lebendigen) zu sprechen und sie ins Gerede zu bringen! Denn erst seitdem die cartesischen Subtilitäten und Erfindungen in die Medizin eingezogen sind, entstand bei der Physik und Mechanik » R. DESCARTES: Traite de l'Homme (a.a.O., Vol. XI, 101). 348

... ein solcher Übermut. Gottlob sind die Mittel vorhanden, die Medizin wieder zu reinigen, damit sie ihr eigener Herr werde und bleibe ...«. Diese geharnischte Polemik findet sich bei Georg Ernst Stahl (1659-1734),34 der seit der Gründung der Universität Halle (1694) dort lehrte und Halle in 22Jähriger Tätigkeit auch auf dem Gebiete der Medizin zu dem werden ließ, als das es heute angesehen wird: zu dem Zentrum der deutschen Frühaufklärung. Stahl fühlte sich tatsächlich in der Lage, die Mittel zur Reinigung der Medizin von physikalischer Überformung bereitzustellen und dafür ein Theoriekonzept zu entwickeln, das höheren Erklärungswert als das Maschinenmodell der latrophysik besitze. Für ihn waren die »Analogien doch närrisch, nach denen die Automatici sämtliche Kriterien, die sie in dieser oder jener Maschine finden, nun auch mit aller Gewalt auf die Vitalbewegungen übertragen wollen«;" die Spezifität des Lebendigen entginge so allen, die einen Teil, nämlich die mechanische Bewegungsstruktur des Körpers, zum Ausdruck des Ganzen von Bewegung, Selbsterhaltung und Reproduktion lebendiger Organismen machen. Schon in einer der ersten Disputationen, die Stahl an der medizinischen Fakultät in Halle halten ließ, der Disputatio de passionibus animi corpus humanum varie alterantibus von 1695, lassen sich die Grundzüge einer animistischen bzw. organischen Theorie des Lebens ausmachen;'6 einer Theorie, die sich nicht ohne Grund am Problem des »mannigfaltigen Einflusses von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper« entwickelte. Dem menschlichen Körper wird ein beständig und sinnvoll wirkendes Prinzip zur Erhaltung der Synergie der Teile, zur Erhaltung und Wiederherstellung des Ganzen unterlegt. Stahl nimmt ein formbildendes, zur Regulation und Regeneration fähiges Kraftzentruni an, dessen Wirkung auf die Erhaltung der Oeconomia vitalis gerichtet ist. Dieses vitale Agens wird unter dem Begriff der Anima gefaßt. In dem vielschichtigen Begriff bringt Stahl Funktionen unter, die teils im Psychischen, teils im Physiologischen ablaufen, bald der Anima rationalis, der sinnvoll das Ganze verwaltenden Seele, bald der hippokratischen Physis, der Naturheilkraft in ihrer dynamischen-entelecheischen Ausrichtung, zugewiesen werden. Die Anima aristotelischer Abkunft wird zum organischen Ordnungsprinzip, das letzlich wie bei Van Helmont philosophisch unscharf bleibt. Es ist mehr als 34

G. E. STAHL: Dissertatio inauguralis medico, de medicina medicinae curiosae (Halle 1714, Resp.: J. F. Donzelina; übers, von B. J. GOTTLIEB in Sudhoffs Klassiker d. Medizin, Bd. XXXVI, Leipzig 1961, 47-53, hier: ji). Zu Stahl und seiner vitalistischen Theorie vgl. DRIESCH 1928 (27^.), DIEPGEN 1949 (299ff.), ROTHSCHUH 1953 ^ff.), GEYER-KORDESCH 1989, SUTTER 1989 (103-113) und bes. GOTTLIEB 1943. - Eine Liste von Stahls Schriften findet sich im ZEDLER XXXIX, 888 -894. » Ebd. )er-stitio als Ab- und Über -glaube) gestützt wird, und wie sehr sich dessen zwei Aspekte untereinander mischen, tritt immer mehr hervor. Denn die dem mechanistischen Denken unterstellte Gottesvorstellung genügt lediglich nicht derjenigen des Animismus, der außer einer Seelenleitung des Körpers die übergeordnete Seelen- und Körperleitung nach ideologischen Grundsätzen durch den göttlichen Willen annimmt: »... quod anima rationalis suum corpus moveat et dirigat, ac quidem corpus se ipsum per divinam voluntatem et vires a Deo ipsi concessas actuare et dirigere debeat« (i j). Alle Mechanisten »e schola Cartesii« machen nach Überzeugung der Animisten die lebendigen Wesen zu seelenlosen »Automaten« (17), leugnen den

Vgl. a.a.O., 16: »ex ... superstitiosis opinionibus aliae aniles traditiones oriantur, velut si motus est materialis, cogitatio vero est motus, ergo cogitatio est materialis ... rationem exercendi cadit in materiam«. 363

menschlichen Willen, indem sie Ethik und Physik gleichsetzen (17), und setzen schließlich die materielle Welt als materia per se activa an Gottes Stelle. Der Eindruck, Alberti sei im polemischen Gebrauch des Aberglaubensbegriffes gegenüber dem mechanischen Materialismus letzlich Theologe geblieben und mache die medizinische Auseinandersetzung zum Vehikel seiner theologischen Vorstellungen, ist nicht von der Hand zu weisen, aber kurzschlüssig. Vielmehr gilt, daß die organisch-teleologische Theorie des Animismus einen quasi-theologischen Charakter annimmt, dessen inhaltliche, physikotheologische Ausprägungen Analogien zur Vorstellungswelt des Pietismus aufweisen. Zentrales Paradigma des analogen Miteinander animistischer und pietistischer Konzeptionen ist die Stahlsche Grundkategorie der Oeconomia vitalis, die ihr Pendant im Begriff der Oeconomia caritatis als geschichtsmetaphysischer Kategorie besonders der Theologie Franckes7* findet. Die heilsgeschichtliche Verheißung der »Fülle der Zeiten«, die sich im neutestamentlichen Sprachgebrauch der oikonomia tes charitos widerspiegelt (Eph. 1,10; 3,2.9; Koll. 1,25), bildet die offenbarungstheologische Konstante pietistischen Verständnisses des Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte umfassenden Heilsplans Gottes; und zugleich den Anknüpfungspunkt zum analogen, animistischen Verständnis der oeconomia vitalis divina als gottgelenkte Ausrichtung der natürlichen Körperund Seelenkräfte zum Zwecke größter Vollendung und Gesundung. Michael Albertis Kritik der superstitio medica gerät aufgrund ihrer Motivation durch ein quasitheologisches Verständnis des Animismus aus den Fugen und ersetzt begriffliche Klarheit durch diffuse Polemik. Die animistische Annahme einer Beseeltheit des Lebendigen wird zum Hindernis, die klare Trennung von physikalischem und religiösem Aberglauben durchzuhalten; ein Hindernis, das gerade auf einem anderen Gebiet aufklärerischer Aberglaubenskritik, der Kritik des Dämonenglaubens; seine hemmende Kraft noch weitaus stärker entfaltet: 3.3. Dämonenglaube und Melancholie 1725, also fast ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von Christian Thomasius' De crimine magiae, läßt Alberti eine Dissertation De potestate Diaboli in corpus humanum verteidigen.77 Schon der Titel signalisiert den erneuten Versuch, die im Zusammenhang der Hexenproblematik immer wieder neu diskutierte Frage nach den »leiblichen Besitzungen des Teufels« lösen zu wollen (s.o. Kap. IV). 76

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Zum Begriff der oeconomia divina in der Theologie A. H. Franckes s. z. B. HIRSCH 1964 (Bd. II, 191-194). M. ALBERTI: Dissertatio inangttralis medica de potestate diaboli in corpus humanum (Halle 1725; Resp.: Johann Friedrich Corvinus).

»An Diabolus proxima et immediate operatione hominum corpora alterare, affligere et morbis evidentibus invadere queat?«, lautet die allgemeinere Formulierung dieses Problems bei Alberti (7), der vom Standpunkt des Arztes und Naturwissenschaftlers darauf eine Antwort finden möchte. Außer den Hexenvorfällen, die nach gemeinem Verständnis auf einem leiblichen Bündnis des Satans beruhen, interessieren ihn besonders Krankheiten aus dem Bereich derPathologia Daemoniaca, deren Ursachen nicht allein nach Meinung der Volksmedizin, sondern auch vieler Ärztekollegen in dämonischen und satanischen Kräften zu suchen seien. Mit solchem Aberglauben (»vana superstitio«), der dem Teufel mehr Fähigkeiten und Kräfte zuordnet, als ihm seinem Wesen nach zukommen, will Alberti aufräumen. Hierfür sind zwei grundlegende Sachverhalte zu klären: Zunächst ist die Frage nach dem tatsächlichen Wesen des Teufels zu beantworten, um seine wirklichen Kräfte beurteilen zu können; und zweitens ist der Raum zu umgrenzen, in welchem der Teufel aufgrund seiner richtig beschriebenen Eigenschaften und Fähigkeiten innerhalb der animistisch verstandenen Natur (Körperwelt) wirken kann. Erst nach Klärung dieser Probleme beantwortet sich die grundsätzliche Frage nach einer unmittelbaren Wirkung des Satans auf menschliche Körper und ergibt sich die Möglichkeit, das Abergläubische im Teufelsglauben bzw. im Glauben an »dämonische« Krankheiten zu bestimmen. Im Rückgriff auf neutestamentliche Beschreibungen des Satans (z.B. Joh. 8,44; Eph. 6,16) bestimmt Alberti dessen Wesen im Dasein als Engel,7* der trotz seines Himmelsturzes (2 Petr. 2,4; Apk. 12,7 — 9) die geistigen Qualitäten und Fähigkeiten der Engel behalten hat, sie jedoch als »böser Geist« und »Vater der Lüge« ins Gegenteil verkehrt: »Diabolus ut pote Angelus non perdidit suam essentiam...« (10). Die Engel sind ihrer Natur nach (»ex lumine rationis et revelationis«!) immaterielle und körperlose Wesen, deren Eigenschaften nicht allein mentaler, sondern auch motorischer Art sind. »Essentia Spiritus«, so Alberti, »in activitate, in vi motrice, in mente consistat« (n). Die Bewegungskraft der Geister (also auch des Teufels) verhält sich analog zum Bewegungsprinzip der oeconomia vitalis beseelter Körper, über dessen Vermittlung eine Wirkung der Geister- auf die Körperwelt möglich wird.7' Der Teufel kann dementsprechend auf den menschlichen Körper Einfluß nehmen; jedoch nicht direkt, sondern nur über den »extraordinarius accessus« (29) einer Beeinflussung der Seelenkräfte und Gemütsbewegungen des Men78

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A.a.O., 9 — io: »Diabolus angelus a Deo primum optimis et perfectissimis qualitatibus praeditus, creatus, ob suam vero ambitionem omni beatitudine orbatus est extremae condemnation! traditus, mali non modo origo, sed omne malum contra Deum et opera Dei indefesso studio tentans, adeoque tanquam perpetuum hostem boni se exhibens...«. A.a.O., i): »Spiritus per facultatem suam motricem cum corporibus communicare possunt.« 365

sehen. Indem er falsche und schreckenserregende Einbildungen und Affekte produziert, gelingt es ihm über den Umweg der Anima als der Bewegungsursache des Körpers Veränderungen des Leibes hervorzurufen, die als »dämonische Krankheiten« verstanden werden können.80 Über unbeseelte und tote Körper hat er keine Macht, und so sind z. B. alle Erzählungen von Totenerweckungen, Leichenerscheinungen usw. purer Aberglaube. Alberti beruft sich hier auf Untersuchungen Christian Friedrich Garmanns (1640—1708) über sog. miracula mortuorum, die er 1709 durch seinen Schüler (und dessen Sohn) Emmanuel Hermann Garmann zusammen mit einer Dissertatio de cadavere et miraculis in genere herausgeben ließ.8' Er selbst widmet dieser Problematik 1725 eine Abhandlung De spectris?1 Die Frage nach einer unmittelbaren Wirkung des Satans auf den menschlichen Körper, die den Ausgangspunkt seiner Untersuchung bildete, kann Alberti also negativ beantworten; eine mittelbare Wirkung nimmt er hingegen an. Damit setzt er sich entschieden von Autoren ab, die ein Wirken des Teufels in der Welt grundsätzlich leugnen, und bezieht eine ähnliche Position wie Christian Thomasius, der ebenso nur das direkte »leibliche Bündniß« als Tatbestand des crimen magiae verwarf (s. o. Kap. IV, Abschn. 4.4.). Die Leugnung einer operatio Diaboli in hoc mundo, wie sie Alberti besonders Balthasar Bekker vorwirft, resultiere allein aus einem materialistischen bzw. cartesianischen Mißverständnis des geistigen Wesens der Engel und des Teufels.8' Die Realität des satanischen Wirkens in der Welt nicht anzuerkennen, ist dem Animisten und Pietisten Alberti extremer Ausdruck eines »leichtgläubigen, dummen und vorurteilsbeladenen Charakters« (13); und im Eifer der Polemik versucht er zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem er das falsche Teufelsverständnis der Bekkerianer, Mechanisten und Cartesianer zusammen mit den geläufigen Volksmeinungen als Aberglauben brandmarkt.

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A.a.O., 9: »ut animam hominis corrumpere, eidem perversas tales ideas et sensationes, pavores, terrores, illecebras, pravosque alios affectus communicare queat, ut subinde propter has corruptiones mirae alterationes et offensiones corpori inferantur«. '' C. F. GARMANN: De miraculis mortuorum libri ires. Quibus praemissa dissertatio de cadavere et miraculis in genere. Of us physico-medicum curiosis observationibus, experimentis, aliisque rebus ... exornatum et editum a E. H. Garmann (Dresden—Leipzig 1709, i466p.ü). - Über C. F. Garmann s. DBA 369, 74. Sein Sohn Emmanuel Heinrich wurde nach dem Medizinstudium bei Alberti und Hoffmann »Stadtphysikus« zu Schneeberg (vgl. BLC 120, 143). 81 M. ALBERTI: Dissertatio inauguralis medica de spectris (Halle 1725; Resp.: Johann Adam Struve). 8) A.a.O., 22: Bekkers Satz, »nullum detur commercium«, sei falsch. »Antiquus ille error, quod ens incorporeum in subjectum corporeum nullum habet vim.« — Alberti nennt diesen Irrtum »neotericorum physicorum et mechanicorum error.« 366

»Wer den Teuffei verachtet als ohnmächtigen Geist, wird desto leichter von ihm gefället«, sagte Philipp Jakob Spener8* im Zusammenhang der pietistischen Teufelslehre (s. Kap. IV, Abschn. 4.2.), die M. Alberti ausführlich als Beleg für die Tatsache heranzieht, daß der Teufel seine geistigen Kräfte letztlich von Gott erhalten habe und mit dessen Zulassung in der Welt wirke (14). Eine Leugnung der satanischen Einflußnahme auf den Menschen kommt damit einer Leugnung des göttlichen Willens gleich und erfüllt als aberrans fides die Definition des Aberglaubens. Alberti kämpft mit großen Schwierigkeiten, als Mediziner das Abergläubische am Teufelsglauben auszumachen. Unter den Voraussetzungen der animistischen Pneumatologie muß er den Satan als mittelbare geistige Ursache von Krankheiten anerkennen, jedoch nur in dem Umfange, wie Seelen- und Körperkonstitution der erkrankten Menschen dies zulassen. Michael Alberti ist ganz Pietist, wenn er darauf hinweist, daß nur in einer moralisch verdorbenen und gottesfernen Seele Einflußmöglichkeiten für den Teufel gegeben sind; und er ist ganz Mediziner,wenn er körperliche Dispositionen ausfindig macht, die aufgrund der animistisch zu verstehenden Wechselwirkung von Leib und Seele, einem »nexus animae cum corpore firmus«, diese Seelenkonstitution vorbereiten (39). Interessanterweise gibt es nun Krankheiten der Seele und des Körpers, die nach außen hin dieselben Merkmale wie die sog. »dämonischen« Krankheiten aufweisen und in vielen Fällen mit diesen verwechselt werden. Eine Krankheit ragt unter allen hervor: die Melancholie (3zff.). Als laesio seu perturbatio rationis et phantasiae, also als Verwirrung der Seelenkräfte der Vernunft und Einbildung, wie er die Melancholie an anderer Stelle in einer Schrift De melancholia vera et simulata (1743)*' beschreibt, bietet diese »Geisteskrankheit« genau das Mileu, in dem »dämonische« Schreckensund Krankheitsbilder entstehen können. Melancholiker zeichnen sich nach Maßgabe dieser späteren Arbeit Albertis durch ein spezifisches Affektenmuster (Traurigkeit, Furcht, Todessehnsucht) und damit gekoppelte Einbildungen (»phantasmata«) aus (nf.). Zwei Wahnideen sind dabei am häufigsten anzutreffen: Während die einen in die irrige Idee verfallen, sie seien Könige, Wahrsager oder gar der Papst, so fürchten die anderen, sie stünden im Pakt mit dem Teufel (»pacta cum diabolo iniisse«, 20). Außer seelischen Ursachen für solche Einbildungen (wie Todesangst, religiöse Furcht und Trauer) gibt es nach Untersuchungen Albertis einige wenige P. J. SPENER: Die Evangelische Lebens-Pflichten in einem Jahrgange der Predigten (Teil I. Frankfurt/M. 1707,350). M. ALBERTI : Dissertatio inaug, medico-forensis de melancholia vera et simulata (Halle 1743; Autor-Resp.: Gottfried Lebrecht Graebner). — Definition der Melancholie: »Melancholia est laesio seu perturbatio rationis et phantasiae, quae rectum ejus et ordinatum agendi modum interrumpit, ut aliena idea quasi inseratur et secundum hanc actiones perperam exerceantur« (4). 367

körperliche Ursachen, die abhängig vom Geschlecht und Lebensalter der Menschen sind (i3ff.)· Daß so viele Frauen für Hexen gehalten wurden, liegt an ihren Einbildungen, die durch spezielle Frauenkrankheiten hervorgerufen werden; daß so viele alte Menschen in abergläubische Vorstellungen verfallen, resultiert aus dem fortschreitenden Verfall ihrer Organe (i6).8< Der gebräuchliche Topos vom »Altweiberglauben« erhält hier durch Alberti genauso seine medizinische Grundlegung, wie die spätaufklärerische Erklärung »weiblicher« Gemütskrankheiten durch Fehlfunktionen der Geschlechtsorgane (»hysterische Dämpfe«).87 Am Beispiel des melancholischen Wahns läßt sich nach Albertis Überzeugung das Abergläubische am allgemeinen Dämonenglauben als bloße Einbildungen beschreiben, die durch bestimmte Affekte (bes. Furcht und Trauer) und einige spezielle körperliche Krankheiten entstehen. Dem psychologisch geschulten Arzt entgehen keine Anzeichen abergläubischer Manie, denen er durch Medikamente, Aderlässe oder vorbeugende Maßnahmen begegnen kann. Zur medizinischen Prophylaxe gehört z. B. die ausdrückliche Ermahnung, keinen Tee oder Kaffee zu trinken, da deren stoffliche Zusammensetzung sehr dem melancholischem Saft ähnelt. In einem Tractatus medico-historicus mit dem plakativen Obertitel De tribus impostoribus (1731) warnt Alberti vor den »drey berüchtigten Verführern des Volckes«; neben der »Erwehlung commoder Tage« und der »Anschaffung derer Haus-Apothecken« ist es das »Getränck des Thee oder Cafee«, vor deren Genuß er in volksaufklärerischer Absicht warnt.88 Letztlich versagt die medizinische Bestimmung des weit verbreiteten Teufelglaubens als einem melancholischen Wahn jedoch an dem Punkte, wo sie mit dem animistischen Zugeständnis einer möglichen »geistlichen« Wirkung des Satans kollidiert. Denn es verbleibt in jeder ärztlichen Beurteilung melancholischer Einbildungen das »Restrisiko« einer tatsächlichen Einwirkung des Teufels, die Alberti in Einzelfällen einräumt. Anders als Christian Thomasius, der nur eine »psychologische« Wirkung des Bösen aufgrund innerlicher Bereitschaft der »Gottlosen« annimmt,'9 muß sein Medizinerkollege dem Teufel 8
5ff. So die übliche Beschreibung der melancholischen Affekte (a.a.O., 10): Die Melancholiker seien »timidi, tristes, sum tardi in expediendis negotiis ... auxii, suspiciosi dissidentes, et facile desperant de rerum successu, valde dispositi ad terrorem, meticulisitatem...«. 393

Verwirrung gehen kann, ist Hoffmann aus seiner ärztlichen Praxis bewußt, nachdem er als medizinischer Sachverständiger in einem Gerichtsprozeß einen Kindesmörder für schuldunfähig erklären mußte: von melancholischen Veränderungen des Gemütszustandes gekennzeichnet war der Mann in Verfolgungswahn und völlige Furcht verfallen, sah Gespenster und eigentümliche Zeichen und tötete nach langem Leiden in einem Anfall von Schwermut und fixen Wahn ein kleines Kind. Ein solch erschreckender Fall'53 wurde für den Mediziner ein weiterer Ansporn, den gefährlichen Inhalten des Teufelsglaubens zu begegnen. Eben weil der Teufel, so Hoffmanns weiterführende Argumentation in der Untersuchung Von Gewalt und Würckung des Teuffels in natürlichen Cörpern, keine physische Macht hat, »seines Gefallens in der Menschen Phantasie zu würcken«, da er nur »Moral-Ursache«, nicht aber unmittelbare Wirkursache von Bewegung ist, muß eine »gewisse Zubereitung« in der Einbildungskraft vorhanden sein (21), die den Glauben an seine Macht und Gewalt in der Welt hervorruft und stärkt. Diese »Zubereitung« leistet das melancholische Temperament, dessen Wirkung je nach Alter, Lebensumstand, Ernährung, Wohnortklima und anderen Faktoren verschieden ist,'54 weswegen sich besonders bei alten Leuten und Frauen, bei solchen die harte und schwere Nahrung zu sich nehmen oder in rauhem und kaltem Klima leben, eine ausgeprägte Neigung zum Hexenglauben zeige. Mit einem nur im Hinblick auf die damalige Euphorie des wissenschaftlichen Aufbruchs zu verstehenden Erklärungswillen weist Hoffmann dementsprechend nach, daß z. B. die hohe Zahl von Hexenprozessen in Westfalen auf die dortige Gewohnheit zurückzuführen ist, »grobe und harte Speise wie Erbsen, Bohnen, Pumpernickel und Schweinefleisch« zu essen (22). So belustigend Friedrich Hoffmanns Rigorismus im Versuch, alle Phänomene des Teufel- und Hexenglaubens mit klaren und nachvollziehbaren Grün-

F. HOFFMANN-.Medicina consultatoria ... (Teil I. Halle 1721, Casus IV): »De Homicidio ex affectu melancholico« (1717), 16 — 23, bes. 21: »Daß melancholicia affectos ein unruhiger Schlaff mit schwehren ängstlichen Träumen, dabey Schrekken und Furcht verknüpfet, befalle. Sie auch öffters mit Gesichtern und Gespenstern gequälet werden ... Wenn sie auf einem Objecte beständig bleiben {= fixe Idee), es ihnen immer in Gedancken kommt, sie betrübt und traurig machet...«. A.a.O., 2i: »Wir spüren demnach, daß alle diejenigen, die sehr vollblütig seyn, und ein dickes Geblüt haben, wenn das Blut in ihnen, durch die Adern des Gehirns langsam circuliret, sich besser dazu schicken, daß der Teuffei sein Spiel mit ihnen haben könne, als diejenigen, welche ein dünnes, flüßiges, bewegliches und reines Geblüt in Adern haben. Also lehrt uns die gewiße Erfahrung, daß angeführte Ursachen halben die Melancholischen, alten Leute, Weibs-Personen, item die mit einer melancholia hypochondrica behafftet, und welche sich harter, grober Speise gebrauchen, die wenig Spiritus in sich haben, und unter einem rauhen kalten Himmel wohnen, ingleichen wo die Lufft grob und dicke ist, teuffelischen Verblendungen sehr unterworffen sind.« 394

den zu erklären, auch sein mag - in doppelter Hinsicht ist es ihm gelungen, über die Macht und Wirkung des Teufels Aufklärung zu verschaffen. Einerseits erweist sich seiner Argumentation nach die Vorstellung als falsch, der Teufel könne in der physikalisch vollständig erklärbaren Welt physische Wirkungen hervorbringen. Als immaterieller Geist kann dieser in der Körperwelt nichts bewirken; der Glaube an eine Wunderkraft des Teufels, welche über die natürliche Ordnung erkennbarer Naturgesetze erhaben wäre, ist unbegründeter physikalischer Aberglaube. Andererseits bleibt ebenso der Glaube an eine mehr als nur psychisch zu begreifende Wirkung des Teufels im Menschen unbegründet: Unter Rückgriff auf die Theorie der Melancholia superstitionis, der melancholischen Neigung zum Aberglauben, beschreibt Hoffmann die Vorstellungen des Hexenglaubens als Hirngespinste krankhafter Phantasie, deren Erkrankung aus körperlichen Ursachen herrührt. Mit Nachdruck kann der Mediziner feststellen, daß die »meisten Würckungen des Teuffels in den Hexen, ... als da sind ihre Wegführung auf den Brokkelsberg, Entzückungen, Erscheinungen der Gespenster, Pakt und Verbindung mit dem Teuffei, Verwandlung der Hexen in allerley Thiere« usw. nur als »phantastische Verblendungen« kranker, ja wahnsinniger Menschen zu begreifen sind. Die besondere Leistung Friedrich Hoffmanns für die Aberglaubenskritik der deutschen Frühaufklärung besteht nicht allein darin, konsequenter als der von ihm kritisierte Balthasar Bekker im Konzept des physikalischen Aberglaubens die Autonomie einer nach physikalischen Gesetzen geordneten Natur gegen den Teufelglauben angeführt zu haben, sondern auch die »psychologische«, genauer die pathopsychologische Seite des Aberglaubens mit diesem Ansatz zu verknüpfen. — In die Ausdrucksweise Hoffmanns übertragen, ging es ihm um die konzeptuelle Vernetzung der Frage, »was der Teuffei in der grossen Welt verrichten könne«, d. h. im Makrokosmos der Körperwelt, mit der Problematik, »was er in der kleinen Welt«, d. h. im menschlichen Mikrokosmos von Leib und Seele zu wirken imstande ist (20). Herauszustellen, wie gering diese Wirkung ist, nämlich nur »geistlich« als causa moralis, gelang dem Mediziner auf dieselbe Weise wie die Widerlegung der teuflischen Werke in der Natur: durch Verbindung des rationalistischen Wissenschaftsbegriffs einer Medicina rationalis sive mechanica mit der empirischen Methode einer Scientia experimentalis. Vernunft und Erfahrung bildeten die Grundprinzipien von Hoffmanns Aberglaubenskritik, deren Anwendung sein Werk in einzigartiger Weise dokumentiert. Schließlich war es die allgemeine Menschenvernunft, in die er für die Überwindung des Aberglaubens seine Hoffnung setzte; - und für diese Hoffnung kann Friedrich Hoffmann in besonderem Maße als Beispiel gelten: Und daß wir es noch deutlicher und kürtzer sehen, so ist der Satan heutiges Tages so viel seine Wirckungen in dem menschlichen Geschlecht anlanget, härter gebunden und gefesselt, als vor Zeiten; und wird zweiffelsfrey mit der Zeit seine Macht immer 395

kleiner und geringer werden. Denn es lasset sich fast aller Orten das Licht der Wahrheit in der Menschen Gemüthern heller sehen, Künste und Wissenschafften kommen auffs höchste, — man gehet auffs höchste der Vernunffi nach» (29).

j. »Physikalischer Aberglaube« 5.1. Theoretischer und praktischer Aberglaube In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Aberglaubens in religiöser, d. h. vor allem moralischer Hinsicht konstituierte sich unter den Leitbegriffen natürliche Religion bzw. natürliche Tugend (»vernünftige Liebe«) im Anschluß an Christian Thomasius eine moralische Emanzipationsbewegung, die sich unter Einfluß des frühen Pietismus noch als »zweite Reformation« gegenüber dem sogenannten »Rest papistischen Sauerteiges des Aberglaubens« im Luthertum verstehen konnte. Während bei Thomasius und seiner Schule die Begründung moralischer Praxis durch allgemeine Menschenvernunft angesichts konfessioneller Spaltung im Vordergrund des Interesses stand — wobei u.a. die Toleranzfrage gegenüber einem unbegründbaren und damit potentiell abergläubischen »äußerlichen Gottesdienst« gestellt wurde —, verschob sich mit wachsendem Einfluß der leibniz-wolffianischen Philosophie der Blickwinkel vom moralisch-voluntaristischen Aspekt der Aberglaubenskritik (moralischer Aberglaube) hin zum naturwissenschaftlich-rationalistischen Charakter der Kritik (physikalischer Aberglaube). Einerseits gründete diese Verschiebung (wie bereits bemerkt) in einer anderen Akzentuierung des Vernunftbegriffs. Thomasius' Verständnis natürlicher Vernunft orientierte sich vor allem an der inneren, auch voluntative Kräfte integrierenden Natur des Menschen, wobei solcher Orientierung seine antiszientistische Haltung gegenüber naturwissenschaftlicher Betrachtung der äußeren Natur entsprach (s. o.). Demgegenüber konstruierte Christian Wolff einen Zusammenhang innerer und äußerer Natur im Sinne eines rationalistischen Vernunftbegriffs, der zum Fundament seiner szientistischen, am Vorbild der Mathesis universales und der Experimentalwissenschaften orientierten Philosophiekonzeption wurde. Andererseits geschah die Aspektverschiebung vom moralischem zum physikalischen Aberglauben im Kern durch Konstitution einer physikalischen Theologie, die Gesetze der Natur mit Gottes »Absichten« gleichsetzte und damit konsequent die Unkenntnis bzw. Mißachtung natürlicher Erkenntnis als Aberglauben kennzeichnen ließ. Nach dem Schema einer Analogie von natürlichen Wirkursachen und göttlichen Zweckursachen, oder wie bei Leibniz einer »prästabilisierten Harmonie« zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der 396

Gnade,'" entstand die Möglichkeit, »physikalisch« vom Aberglauben zu reden, also schon im heute üblichen Sprachgebrauch vom Aberglauben als unbegründeter Annahme von Phänomenen, die natürlicher Einsicht widersprechen. »Du hast alles geordnet, nach Maß, Zahl und Gewicht«, diese Aussage alttestamentlicher Weisheit (Weish. 11,20; vgl./es. Str. 17,18) konnte die offenbarungstheologische Folie zum Konzept des physikalischen Aberglaubens bilden, das seine theoretische Schärfe erst durch die Gruppe jener »aufgeklärten Mediziner« fand, die der wolffianischen Philosophie als einer »Ursachen- und Prinzipienwissenschaft« nahestanden. Am Beispiel Friedrich Hoffmanns, der in engem Kontakt zu Christian Wolff theoretisch wirksam werden konnte, wurde der Stellenwert der Ärzte als Träger des naturwissenschaftlichen Wissens der Zeit für die Entwicklung aufklärerischer Aberglaubenskritik besonders deutlich. Als philosophische Ärzte, die in Einlösung des hippokratischen Ideals einer Synthese von praktisch interessierter Philosophie und theoretisch gebildeter »Physik« auch dem Ziel der (hippokratischen) Adeisidaimonia als Freiheit vom Aberglauben nahekamen, machten sie früh eine der zentralsten Erscheinungen im Aberglauben aus: die Melancholie als psycho-physische Veranlagung des Menschen zum Aberglauben (vgl. Abschn. 2) oder als Resultat krankhafter Geistesverwirrung des Menschen durch abergläubische Einbildung (»melancholischer Wahn«).1'6 Betrachtet man die »Akzentverschiebung« vom moralischen zum physikalischen Aberglauben genauer, wird neben der Ablösung thomasianischer durch wolffianische Theoriekonzepte eine Verlagerung des aufklärerischen Interesses deutlich. Die von Johann Georg Walch (1693 — 1775) in seinem Philosophischen Lexicon ('1726) durchgeführte Trennung von theoretischem und praktischem Aberglauben, die derjenigen in physikalischen und moralischen entsprach, legte den Interessenschwerpunkt ganz in thomasianischen Geist auf den praktischen Aberglauben.'57 Während der theoretische Aberglaube als bloßer Irrtum und intellektuelles Vorurteil, »den Effekt für die wirkende Ursache zu halten« und in natürlichen Dingen irrigerweise Übernatürliches zu vermuten, nur der Lächerlichkeit preisgegeben und als Einfalt und Dummheit gerügt wurde, galt der praktische Aberglaube nicht allein »als abgeschmackt, sondern auch gar gefähr"' Vgl. G. W. LEIBNIZ, Monadologie §§ 7 8ff. Die schon in Kap. V dokumentierte Aspektverschiebung von melancholischer Naturanlage zum psychologischen Phänomen des melancholischen Wahns läßt sich auch unter den Medizinern nachvollziehen (s. Abschn. 2). Vgl. dazu auch den Artikel Melancholia in dem von Albrecht v. HALLER herausgegebenen Fachlexikon Onomatologia medica completa, oder Medicinisches Lexicon ... (Frankfurt—Leipzig 1755, Sp- 979-9*4)· '" J. G. WALCH, Philosophisches Lexicon ('1726, '1775), a.a.O., Bd. I, Sp. 2-11. Dasselbe im ZEDLER I, 107 — 111. M
' S. WERENFELS: Dissertatio de superstitione in rebus physicis (1715), in: Opuscula theologica, philosophica et philologica (Tom. III, Basel "1782, 131 — 142). Über S. Werenfels siehe u. a. ADB XLII, 5 - 8. 398

schied: superstitio in rebus physicis »non ea, quatn Theologi condemnant, sed quam Philosoph! rident« (132). Der physikalische Aberglaube blieb eine läßliche Sünde; ihm gegenüber erhob sich der moralische Zeigefinger häufig nur in halber Höhe, und auch Werenfels beließ es bei der Lächerlichkeit theoretischer Irrtümer seitens der Abergläubigen. Ob es die Astrologorum delirii (137) waren oder jene Agricolarum regulae (142) des »bäuerlichen Unverstandes«, gefährlicher waren immer abergläubische Praktiken, die der christlichen Religion und Moral entgegenstanden. Folgerichtig weitergedacht (aber Werenfels selbst nicht unterstellt) zeigte sich hier die häufig im Christentum geübte Praxis, Aberglauben eher zuzulassen (und nicht allein auf dem niedrigen Niveau der Reliquien- und Heiligenverehrung) und sich weitaus mehr vermeintlichen Häresien (mithilfe des relativen Begriffs als Aberglauben gebrandmarkt) strafend zuzuwenden. 5.2. Kritik des physikalischen Aberglaubens Mit dem stärker werdenden Einfluß wolffianischer Positionen änderte sich die Lage: nachsichtiges Schmunzeln über die Unwissenheit des »gemeinen Mannes« oder schallendes Lachen über die Dummheit der Unbelehrbaren blieb zwar seitens der Philosophen an der Tagesordnung, mischte sich aber mittlerweile mit ernsteren Tönen. Untersuchungen wie die Dissertatio physica de curiosa et superstitiosa rusticorum physica (1691) des Rektors Friedrich Friese (1668 — 1721) am Altenburger Gymnasium,'" die eine bunte Sammlung abergläubischer Bräuche unter der Landbevölkerung (quer durch die Historic) boten, verloren ihren kuriosen Charakter, auch wenn der neue strenge Tonfall angesichts vorhandener Lächerlichkeiten kaum immer durchzuhalten war. Selbst Christian Wolff, der sich intensiv mit Problemen der Landwirtschaft beschäftigte1'0 und die besondere Schädlichkeit vieler »von dem Aberglauben herstammender Bauren-Practica« bemerkte, konnte seine Schüler nur mit Mühe davon überzeugen, mit mehr aufklärerischen Ernst dem Aberglauben des »gemeinen Mannes« entgegenzutreten.1*1 Seine feste Überzeugung, die »Erkänntniß eines Weltweisen« bestehe darin, »daß er zeiget, wie dasjenige, was geschiehet, geschehen kan oder möglich ist«, schloß den Willen zur Abschaffung des besonderen, »bäuerlichen« Aberglaubens ein;'61 — und in einer kleinen Schrift Von den Vorbedeutungen oder Wunderdingen'^ aus dem Jahre 1722 '" F. FRIESE: Dissertatio physica de curiosa et superstitiosa rusticorum physica (Leipzig 1691; Resp.: Johann Karl Ritter). Über Friese siehe JÖCHER II, 763. lio Vgl. J. C. GOTTSCHED, Historische Lobschrift..., a.a.O., 41 ff. 161 Siehe C. WOLFF: Verniinfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (Frankfurt—Leipzig'1726, § 136). 162 Ebd. |6J C. WOLFF: Gesammelte kleine philosophische Schriften, a.. a.O., Bd. IV, 142-146.

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mahnte er die Philosophen, angesichts von Kometen- und Wetterzeichenglaube »dem Aberglauben seine gehörigen Schranken zu setzen«. Erst Unwissenheit in der Physik habe »dieses Vorurtheil auf die Bahn gebracht«, welches nun durch Vermittlung von Sachverstand und Erklärung »ungegründeter Meynungen« beseitigt werden müsse. Mit Titeln wie Neue Wahrheiten zum Vortheil der Naturturkunde und des gesellschaftlichen Lebens oder auch Versuche gründlicher Erläuterung merckwürdiger Begebenheiten in der Natur entstanden zahlreiche »gelehrte« Schriften unter Schülern und Anhängern Christian Wolffs, um dessen Verpflichtung zur Aberglaubenskritik einzulösen. Man stritt gegen den Glauben an Vorbedeutungen, teuflische Kräfte, Gespenster und Himmelszeichen; schrieb wie noch relativ spät Martin Knutzen (1713-1751), der wichtige Lehrer Kants, weitere Abhandlungen zum klassisch gewordenen Thema des Kometenaberglaubens (Vernünfftige Gedancken von den Cometen);'64 und stürzte sich mit Elan auf jeden physikalisch interessanten Gegenstand, mit dem das sogenannte »Volk« abergläubische Vorstellungen verband. Als in den }oer Jahren Berichte von Toten nach Deutschland drangen, die in Ungarn und Serbien aus dem Grab zurückkehrten, um den Lebenden das Blut auszusaugen, war einerseits das bis heute interessante und von Polidori bzw. Stoker im 19. Jahrhunden zumZ)rÄC«/Ä-Motiv verarbeitete Vampirthema16' geboren, andererseits bot sich dem Wolffianismus die einmalige Chance, den Glauben an naturwissenschaftlich Unerklärliches mit Vehemenz und dem ganzen Arsenal physikalischen Wissens anzugreifen. Die Breite der damaligen Diskussionltt würde eine eigene Untersuchung erfordern, aber einige signifikante Meinungsäußerungen sollten doch erwähnt werden. Auffällig war vor allem

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