Design, Philosophie und Medien: Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie [1. Aufl.] 978-3-658-22224-6;978-3-658-22225-3

Medien und Design sind prominente Gegenstände philosophischer Reflexion geworden. Dabei formieren sich Disziplinen überg

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German Pages VIII, 222 [219] Year 2019

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Design, Philosophie und Medien: Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie [1. Aufl.]
 978-3-658-22224-6;978-3-658-22225-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Front Matter ....Pages 1-1
Design und Ästhetik (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 3-19
Philosophie und kritische Theorie des Designs (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 21-37
Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 39-55
Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 57-67
Front Matter ....Pages 69-69
Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 71-85
Photographie und ästhetische Reflexion (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 87-94
Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 95-110
Zur Dialektik des visuellen Nominalismus (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 111-130
Front Matter ....Pages 131-131
Moralphilosophie im Kommunikationsdesign (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 133-149
Die visuelle Sprache der Moral: Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 151-179
Front Matter ....Pages 181-181
Erschließung und Virtualisierung der Welt (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 183-199
Zur Kritik der Medienethik (Gerhard Schweppenhäuser)....Pages 201-222

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Würzburger Beiträge zur Designforschung

Gerhard Schweppenhäuser

Design, Philosophie und Medien Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie

Würzburger Beiträge zur ­Designforschung Reihe herausgegeben von G. Schweppenhäuser, Würzburg, Deutschland C. Bauer, Saarbrücken, Deutschland

Die Würzburger Beiträge zur Designforschung stellen ausgewählte Forschungsarbeiten im Kontext des Masterstudiengangs »Informationsdesign« der Fakultät Gestaltung vor. Schwerpunkt ist »visuelle Bildung« in verschiedenen Bereichen der Vermittlung von Informationen: Aufklärung, Instruktion und Orientierung in einer multimedialen Lebens- und Arbeitswelt. Designforschung heißt dabei sowohl Forschung über Design als auch Forschung mit und durch Design. Die Bücher der Reihe sind Sammelbände mit bis zu drei ausgewählten Beiträgen von AbsolventInnen sowie einem Gastbeitrag, aber auch Textsammlungen einzelner Autorinnen und Autoren oder monografische Studien. Gestalterisch-wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Thomas Friedrich (Hochschule Mannheim), Prof. Carl Frech, Prof. Gertrud Nolte und Prof. Erich Schöls (Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt)

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15981

Gerhard Schweppenhäuser

Design, Philosophie und Medien Perspektiven einer kritischen ­Entwurfs- und Gestaltungstheorie

Gerhard Schweppenhäuser Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt Würzburg, Deutschland

ISSN 2523-8787 ISSN 2523-8795  (electronic) Würzburger Beiträge zur Designforschung ISBN 978-3-658-22225-3  (eBook) ISBN 978-3-658-22224-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorbemerkung

Die Philosophie hat sich in den letzten Jahren für neue Themenbereiche geöffnet. Insbesondere Medien und Design sind Gegenstände philosophischer Reflexion geworden. Dabei formieren sich methodologische, Disziplinen übergreifende Diskurse – speziell dort, wo sich ›angewandte Philosophie‹ im Dialog mit Gestalterinnen und Gestaltern sowie mit Künstlerinnen und Künstlern befindet. Während es einen Diskurs über Medienphilosophie seit gut 15 Jahren gibt (siehe Margreiter 2016 und 2018; Schweppenhäuser 2018), hat die Debatte über philosophische Grundlagen und Horizonte des Designs eigentlich gerade erst begonnen (siehe Dissel 2016, Schweppenhäuser 2016, Arnold 2016, Schweppenhäuser und Bauer 2017 sowie Feige 2018)1. Anfang 2015 fand an der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg die Tagung Philosophical Perspectives On Design statt. Im Februar 2018 gab es auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach ein Panel zum Thema Das ist Designästhetik. Im Juni 2018 veranstalteten die Universität Koblenz-Landau und die Hochschule Furtwangen in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik die Tagung Designästhetik – Theorie und soziale Praxis. Weitere Konferenzen und Publikationen werden folgen; auf diesem Gebiet ist in den kommenden Jahren eine intensive Diskussion zu erwarten. Die Studien des vorliegenden Bandes setzen hier ein. Dabei fokussieren sie die methodologische Perspektive der kritischen Theorie im Kontext von Design- und Medienphilosophie. Die Aufsätze behandeln vornehmlich Fragen des Zusammenhangs von Kommunikationsdesign mit ethischen, ästhetischen und sozialphilosophischen Theoremen. Sie sind zum einen aus Vorträgen auf Fachtagungen und im Rahmen von Vortragsreihen, zum andern aus breit angelegten monografischen Untersuchungen hervorgegangen. Alle dokumentieren einige 1 Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Ausnahme ist das Buch von Andreas Dorschel (2002). V

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Vorbemerkung

Schwerpunkte der Grundlagenforschung an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg. – Wichtige Anregungen habe ich meinen Kollegen Oliver Ruf von der Hochschule Furtwangen und Daniel Martin Feige von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart zu verdanken; für die Korrektur und das Lektorat der Texte in dieser Zusammenstellung danke ich Dr. Frank Hermenau, Kassel.

Literatur Arnold, Florian (2016): Philosophie für Designer, Stuttgart: av edition.
 Dissel, Julia-Constance, Hrsg. (2016): Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, Bielefeld: transcript.
 Dorschel, Andreas (2002): Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg: Winter. 
 Feige, Daniel Martin (2018): Design. Eine philosophische Analyse, Berlin: Suhrkamp. Margreiter, Reinhard (2016): Medienphilosophie. Eine Einführung, Würzburg: Königshausen & Neumann. Margreiter, Reinhard (2018): Media Turn. Perspektiven einer interdiskursiven Medienphilosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann. Schweppenhäuser, Gerhard (2016): Designtheorie, Wiesbaden: Springer VS (Reihe Essentials). Schweppenhäuser, Gerhard, Hrsg. (2018): Handbuch der Medienphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schweppenhäuser, Gerhard und Christian Bauer (2017): Ethik im Kommunikationsdesign. Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung, Würzburg: Königshausen & Neumann.

Inhalt

I

Design und Philosophie

Design und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Philosophie und kritische Theorie des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung . . . . . . . . . . 39 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II Philosophische Aspekte des Kommunikationsdesigns Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Photographie und ästhetische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . 95 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus. Kommunikationsdesign und »alter Realismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

VII

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Inhalt

III Kommunikationsdesign und Ethik Moralphilosophie im Kommunikationsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die visuelle Sprache der Moral. Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 IV Medienphilosophie und Ethik Erschließung und Virtualisierung der Welt. Methodologische und ethische Aspekte der Medienphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Zur Kritik der Medienethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

I Design und Philosophie

Design und Ästhetik*1 Design und Ästhetik Design und Ästhetik

Design ist eine »formgebende Tätigkeit« (Marx 1856–58: 222), die Materie, Praktiken und Kommunikationen, vermittelt durch Entwerfen, brauchbar macht. Dadurch ist Design in zweifacher Hinsicht auf Ästhetik bezogen, denn die Wahrnehmung von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs, aber sie kann mitunter auch selbst substantielle Gebrauchsweise sein.

Geschichte des Ästhetik-Begriffs In der Philosophie war »Ästhetik« zunächst die Theorie sinnlicher Wahrnehmung. Bis ins Mittelalter wurden Theorien des Schönen in Kunst und Natur noch nicht unter den Begriff der Ästhetik gefasst. Bei Aristoteles heißt Aisthesis (αἴσθησις) Wahrnehmung, auch Empfindung und Gefühl. In der Neuzeit war Ästhetik – noch bevor dieser Terminus geprägt wurde – die Lehre von den Erkenntnissen, die wir auf Grundlage sinnlicher Wahrnehmungen haben. Sensualistische Philosophen wie Locke, Condillac und Helvétius fragten, in kritischer Stellung gegen den Rationalismus von Descartes, Leibniz und Spinoza: Wie erkennen wir etwas auf Grundlage der Sinnesdaten, ohne von vornherein Begriffe, Urteile und Schlüsse zu verwenden? An der Schwelle zur Moderne wurde Ästhetik 1750 von Alexander Gottlieb Baumgarten als Theorie sinnlicher Erkenntnis begründet. Er legte dar, dass Erkenntnis nicht nur durch logische Verknüpfung von Begriffen gewonnen wird; es gibt auch außerbegriffliche Synthesisleistungen, die adäquate Bestandteile *

Erstveröffentlichung im Handbuch Designwissenschaft. Theorie – Praxis – Geschichte, hrsg. v. Thomas Hensel u. Oliver Ruf, Stuttgart: Metzler, 2018. Die vorliegende Fassung wurde überarbeitet und ergänzt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_1

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des ganzen menschlichen Erkenntnisinstrumentariums sind. Baumgartens Überwindung der Antithese »Sensualismus vs. Rationalismus« ist allerdings erst viel später gewürdigt worden. Vom Ende des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts trat der Aspekt der Integration von Sinnlichkeit und Verstand zurück. Im 19. Jahrhundert war nicht mehr Philosophie, sondern Naturwissenschaft für die Frage zuständig, wie Sinneswahrnehmung funktioniert (Physik und Biologie, später auch Psychologie als Naturwissenschaft vom Menschen). Nun verstand man unter philosophischer Ästhetik Theorien des Schönen in Kunst und Natur, die fragen, wie wir schöne Objekte wahrnehmen, genauer gesagt: geistig wahrnehmen, also erleben und deuten. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden auch theoretische Mischformen aus beiden Bereichen ausgearbeitet (bisweilen unter dem Namen »Aisthetik«). Heute verstehen die meisten Philosophen unter Ästhetik sowohl Reflexionen, die sich auf Kunst beziehen, als auch die Weisen, in denen wir uns in ästhetischer Einstellung die Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). Damit wird auch einem Hinweis von Sigmund Freud Rechnung getragen. Freud (1919: 229) fand es zweckmäßig, wenn »man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt«. In diesem Sinne ist Ästhetik die philosophische Reflexion der Grundlagen und -formen des Erlebens und Urteilens in Bezug auf die natürliche und gestaltete Umgebung des Menschen.

Systematische Darstellung 1: Typen und Perspektiven ästhetischer Einstellung Wird der Bereich des Naturschönen (und des Naturhässlichen) ausgeklammert, dann kann Ästhetik als Theorie der autonomen und angewandten Künste verstanden werden. Philosophische Theorien versuchen, Anschauungen und Begriffe von Objekten in gedanklichen Prozessen zusammenzubringen, um die Erscheinung der Objekte zu beschreiben und ihre wesentlichen Merkmale zu erfassen. Theorien werden generell entweder im Kontext experimenteller Wissenschaft entwickelt, die nach Gesetzen sucht und Methoden anwendet, welche um quantitativ ausgerichtete empirische Beobachtungen und Experimente zentriert sind. Oder Theorien werden im Kontext interpretierender Wissenschaft entwickelt, die nach Bedeutungen sucht und auf Verstehen von Sinn abzielt; dann ist ihre Methode die Interpretation. Das ist Clifford Geertz’ (1983) Version der auf Wilhelm Dilthey zurückgehenden Unterscheidung zwischen erklärenden Naturwissenschaften, die Kausalitäten aufdecken, und verstehenden Geisteswissenschaften, die Bedeutungen bzw. Sinn erschließen. Beide Typen gibt es auch auf dem Gebiet der Theorie des Ästhetischen. Weiterhin

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gibt es Theorien, die zeigen, dass sich Begriffe im Ganzen erst durch die dialektische Rekonstruktion ihrer Bewegung durch Widersprüche hindurch entfalten. Spätestens von dort aus erweist sich, dass die eingangs vorgenommene Ausklammerung nicht aufrecht zu erhalten ist: Der Bereich der Natur ist nicht nur einer, der – als »äußere Natur« – ästhetische Objekte und Räume für ästhetische Erfahrungen bzw. Erlebnisse bereitstellt; er ist auch – als »innere Natur« – sozusagen der mediale Ort des Ästhetischen selbst, nämlich Ort der Verbindung von Sinneswahrnehmungen, Empfindungen und Gefühlen, welche ebenso zur Wesensbestimmung des Menschen gehören wie seine Verstandesleistung. Wie diese Verbindung in der philosophischen Ästhetik, in der das methodologische Paradigma der Interpretation bzw. Sinndeutung herrscht, jeweils beschrieben wird, kann man sich an vier Typen der ästhetischen Einstellung vergegenwärtigen: • • • •

Betrachtung, Erkenntnis, Erlebnis, Erfahrung.

1. Betrachtung ist Kontemplation, Anschauung – ohne Handlungsziele und Absichten. Die großen Lehrer der ästhetischen Kontemplation waren Platon, Kant und Heidegger. Wer etwas kontemplativ wahrnimmt, sieht vom Nutzen und den Bedeutungen für das eigene Leben ab und widmet sich der Erscheinung: versenkt sich z. B. in den Anblick einer Landschaft, studiert ihre Erscheinung in Einzelheiten, verfolgt Linien und Farbenspiel. Die ästhetische Anschauung ist hier »das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas« (Heidegger 1927: 33). Man deutet die Landschaft nicht, sondern nimmt sie als reines Phänomen, das sich zeigt (Seel 1991: 38 ff.). Sofern das Wahrgenommene als »schön« empfunden wird, wird es laut Kant (1790: A 7) zum Gegenstand eines »reinen uninteressierten Wohlgefallen[s]«. Damit meint Kant natürlich nicht, dass der Gegenstand den Betrachterinnen und Betrachtern gleichgültig wäre. Weil »Interesse« ursprünglich Gewinn, Nutzen und Vorteil bedeutete, ist das Wohlgefallen am ästhetischen Objekt in gewisser Hinsicht gleichsam uneigennützig. Ein Stillleben mit Obst weckt als Objekt ästhetischer Anschauung nicht Appetit, sondern Achtsamkeit für das Zusammenspiel farbiger Formen und die Konstruktion eines Bildraums durch Bildgegenstände. Eine Zitronenpresse kann auch gefallen, wenn man nicht die Absicht hat, sie zu benutzen; sie wird dann ästhetisches Objekt. Dazu muss sie nicht, wie weiland Duchamps Urinal, aus dem Alltagskontext in einen institutionellen Rahmen der »Kunstwelt« (Danto 1964, Dickie 1974) transferiert

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werden. Die kontemplative ästhetische Einstellung vermittelt die Erfahrung, dass etwas gefällt, wie und wo es ist. 2. Um Erkenntnis ist die semiotische Ästhetik (Jakobson, Eco) insofern zentriert, als sie den Zeichencharakter der ästhetischen Mitteilung von anderen Mitteilungsarten unterscheidet. Ihr kognitivistischer Erklärungsansatz geht davon aus, dass ästhetische Objekte in der Rezeption »gelesen« werden – wie im mittelalterlichen Denken die Natur als Buch Gottes – und somit, vermittelt durch ihren Textstatus, in ihrer ästhetischen Funktion erkannt bzw. dekodiert werden. In der ästhetischen Dekodierung sind die Zeichen nicht den Gegenständen untergeordnet, für die sie stehen. Die Form ist selbstreferenziell; das Material der Mitteilung kann als solches wahrgenommen werden. Roman Jakobson (1960) hat das die »poetische Funktion« des Zeichens genannt. Hier geht es nicht um das Was, sondern um das Wie: Sprache wird Lautmaterial (Ton, Klang und Sprachform), Bilder werden Bildmaterial (Farbe und Bildform). Wenn beispielsweise Hans Hillmann für ein Segelregatta-Plakat drei blaue Rechtecke aus Papier auf einem weißen Blatt anordnet und dabei ein spitzes weißes Dreieck vor blauem Hintergrund erscheint, tritt der Eigenwert des Mediums ins Bewusstsein; die Zeichen werden gleichsam spürbar. Zugleich ist aber aus semiotischer Perspektive davon auszugehen, dass auch die nicht primär ästhetische Funktionalität gestalteter Artefakte bereits konstitutiv voraussetzt, dass ihre Benutzer deren funktionsspezifisch kodierte Formgestaltung wahrnehmen und dekodieren können. Sie erkennen beispielsweise, dass es sich bei einem Artefakt um ein Messer handelt, weil es die entsprechende Form erhalten hat, selbst dann, wenn es sich z. B. um ein Spielzeugmesser handelt, das für den typischen Gebrauch nicht tauglich wäre (Posner 1992: 21 ff.) – Der hermeneutische, ebenfalls erkenntnisorientierte Ansatz betont, dass in der Rezeption Sinngehalt und Verweisungsbezüge erschlossen werden, in die das ästhetische Objekt gestellt ist (Gadamer 1958). Ästhetische Erfahrung ist demnach nicht nur Ausdruck und Erlebnis, sondern stets auch eine Weise des Verstehens, wodurch Ästhetik ausdrücklich aus der Entgegensetzung zur Wissenschaft herausgeholt werden soll, welche die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit unzulässigerweise monopolisiere (Menke 1991: 104 ff.; Grondin 2012: 340 f.). 3. Der phänomenologisch-wahrnehmungstheoretische Erklärungsansatz legt den Schwerpunkt auf das Erleben. Hier ist ästhetische Rezeption sinnlich-leiblicher Mitvollzug eines Geschehens (und zugleich beurteilender Nachvollzug des wahrnehmenden, vorstellenden und emotionalen Erlebnisses). Die phänomenologische Ästhetik untersucht die Wirkungen, die Dinge, Orte oder andere Menschen auf wahrnehmende Subjekte haben (Husserl 1904/05, Merleau-Ponty 1948, Böhme 1995). Erlebt werden Bezüge zwischen Selbst und Anderen, Ver-

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bindungen von Subjekt und Objekt in der Gegenwart des ästhetischen Objekts. Der Zwischenbereich, welcher Subjekt und Objekt umschließt, wird mit dem Begriff der »Atmosphäre« gekennzeichnet (siehe unten, S. 15). 4. Erfahrung spielt im handlungsbezogenen Erklärungsansatz der pragmatistischen Ästhetik die Hauptrolle. Ästhetische Erfahrung ist dort die vielgestaltige Weise praktischer Weltaneignung: wechselseitige Veränderung von Subjekt und Objekt, die nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt, sondern diverse Ebenen sozialer Interaktion betrifft. Schönheit oder formale Schlüssigkeit von Objekten wird demnach nicht ohne Bezug zu ihrem Gebrauch empfunden. Die Angemessenheit von Artefakten an Verwendungszwecke wird zum Kriterium ästhetischen Gelingens, aber nicht im Sinne des designtheoretischen Funktionalismus, sondern in einem erweiterten Sinn von »Verwendung«. John Dewey (1934: 42) hat ästhetische Erfahrung als Praxis bezeichnet, die künstlerische und außerkünstlerische Bereiche umfasst und nicht nur bei der Kunstrezeption im Spiel ist, sondern auch beim Design der alltäglichen Umgebung: Das Untersuchungsfeld der Ästhetik ist für ihn »das Bewußtsein der Sinne«. George Herbert Mead bezeichnet ästhetische Erfahrung als besondere Form der Erschließung von Bedeutung. In der Industriegesellschaft würden die Menschen von der Erfahrung der Zwecke abgetrennt, die sie in ihrem technisch-instrumentellen Handeln eigentlich verfolgen. Im Glück der Betrachtung erfahren sie Lebensbereiche und Objekte, die nicht im Mittel-Charakter für fremde Zwecke aufgehen. Die Befriedigung, die solche Betrachtung gewährt, ist für Mead (1926: 345 ff.) ein Anzeichen, dass es im Bereich der Ästhetik nicht um praxisferne Zweckfreiheit geht, sondern darum, zwischen handlungsentlasteter ästhetischer Betrachtung und lebensweltlichem Handeln Sinnzusammenhänge herzustellen. Den vier Typen der ästhetischen Einstellung entsprechen grundsätzlich vier Perspektiven in Bezug auf ästhetische Erfahrungen bzw. Erlebnisse: die Beobachter-, die Teilnehmer-, die Benutzer- und die Herstellerperspektive. Die Herstellerperspektive wird in traditionellen Produktionsästhetiken und Lehrbüchern, aber auch im zeitgenössischen Kreativitätsdiskurs zum Thema. In der Teilnehmerperspektive hat die ästhetische Erfahrung handlungsrelevante Lebensbezüge. Ästhetische Objekte werden dann nicht losgelöst von Interessen und Bedürfnissen betrachtet. Sie intensivieren das eigene Erleben oder drücken es herab; sie haben Bedeutung, weil sie mit den eigenen Aktivitäten, Plänen, Hoffnungen und Ängsten verbunden sind. Wenn es um Design geht, sind die Teilnehmer die Benutzer. Stühle oder mobile Endgeräte zur Internetkommunikation z. B. werden als ästhetische Objekte hauptsächlich im Modus ihrer Verwendung wahrgenommen. Ein Stuhl lässt die Benutzer ihren Körper als einen durch die Form des Sitzobjekts

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nach- und mitgeformten Körper empfinden; nicht nur für die aktuelle Dauer der Nutzung, auch im Hinblick auf das Körpergefühl bei Dauerverwendung. Wurde der Stuhl z. B. von Arne Jacobsen entworfen, ist das entsprechende Nutzungsempfinden mit hoher Wahrscheinlich positiv. Kommt die Beobachterperspektive hinzu, kann in diesem Fall eine handlungs- bzw. nutzungsentlastete Sichtweise den Stuhl als Objekt der angewandten Kunst in die bewusste Wahrnehmung treten lassen. Selbstverständlich gibt es auch Mischungen von Hersteller- und Teilnehmerperspektive, z. B. bei musikalischen und theatralen Aufführungen, sowie Mischungen von Hersteller- und Beobachterperspektive, etwa bei der Reflexion auf eigene Produkte. Eco (1962: 43) hat den Aspekt betont, dass Menschen durch eigenständige Aneignung von Produkten des modernen Industriedesigns in die Lage versetzt werden, ihre Lebensformen im ästhetischen Sinne, also »nach dem eigenen Geschmack und den eigenen Bedürfnissen herzustellen und anzuordnen«.

Systematische Darstellung 2: Typen der Kunstästhetik Grundsätzlich kann man drei Typen der Kunstästhetik unterscheiden, die ihren Schwerpunkt jeweils auf Darstellung (Mimesis), Ausdruck (Expression) oder Form legen. Darstellungsästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Objektives im jeweils eigenen Medium so wiedergeben, dass es für die Betrachter in transformierter Gestalt gegenwärtig ist. Ausdrucksästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke Subjektives so formen, dass es als Expression nachvollziehbar und erfahrbar wird, der Empfindungen und inneres Geschehen der Betrachter korrespondiert. Formästhetiken beschreiben, wie Kunstwerke ihre eigene Formgestalt als solche in den Vordergrund stellen. Die Frage ist, ob bzw. inwiefern sich diese Trias auch auf den Bereich der angewandten Künste übertragen lässt. Hier zeigt sich, dass dies jeweils nur für Teilaspekte sinnvoll ist, die allerdings nicht unwichtig sind. Wenn Designobjekte auch eine Zeichendimension haben, spielt die Darstellung insofern eine Rolle, als die Funktion des Objekts repräsentiert werden muss, damit es benutzt werden kann. Als Beispiel für diese Hinsicht der Darstellungsästhetik kann man den postmodernen Entwurf eines Fahrkartenautomaten von der Gruppe »Kunstflug« aus dem Jahre 1987 nehmen. Der Automat ist in seiner Funktionalität durch Mikroelektronik gleichsam körperlos geworden und wird für die Benutzer nur dadurch erkennbar, dass seine kommunikative Formensprache auf die herkömmliche Gestalt eines Fahrkartenschalterhäuschens anspielt, in der ein Verkäufer sitzt (Selle 1994: 360). Ein Beispiel für designerische Ausdrucksästhetik ist der, ebenfalls postmoderne, Stuhl »Louis Ghost« von Philipp Stark. Hier ist das (imaginierte) Gefühl Gestalt

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geworden, das mit dem herrschaftlichen Platznehmen auf einem prunkvollen Sitzmöbel verbunden wird und nun, in demokratischer Gesinnung, für alle Benutzer zugänglich werden soll. Zugleich stellt der Stuhl auch eine Mischform aus Ausdrucks- und Darstellungsästhetik dar, denn die mimetische Formsprache des Entwurfs konnotiert fürstliches Repräsentationsdesign und wird vermittels des durchsichtigen Baustoffs relativiert. Formalistische Ästhetiken sind insbesondere zuständig für die Kunstpraktiken der Avantgarde im 20. Jahrhundert, in denen die Form nicht mehr primär Vermittlerin von Inhalten ist, sondern als solche wahrgenommen werden soll. Ein Beispiel für postavantgardistischen Formalismus im Design sind Poster von Stefan Sagmeister, der auf Fotografien von Gesichtern oder Körpern handschriftliche Mitteilungen anordnet, auf deren Inhalt es weitaus weniger ankommt als auf den Wiedererkennungseffekt, der die Arbeit als Ganze dem Markenzeichen »Sagmeister« unterordnet. Einen vierten Typus, der aus diesem Ansatz hervorging, könnte man als Wirkungsästhetik bezeichnen. Ein Beispiel auf dem Grafikdesign der klassischen Moderne ist Jan Tschicholds »neue Typografie«, die aus Daten Informationen machen möchte, um autonomes kommunikatives Handeln zu ermöglichen. Dazu müsse alles »Unwichtige« wie Serifen, Ornamente und Personalstil weggelassen, die Gestaltung auf elementare Strukturen reduziert und der Ausdruck so knapp wie möglich gehalten werden.

Historische Darstellung 1: Glanz und Elend der Schönheit Anhand des philosophischen Begriffs der Schönheit lässt sich nachvollziehen, wie sich ein klassisches Konzept in der Designästhetik des 20. Jahrhunderts unter veränderten Bedingungen bewährt hat. In der Alltagssprache versteht man unter Schönheit das, was lebendige Wesen, natürliche Objekte und Artefakte für Betrachter anziehend und bewundernswert macht. Als Gründe kommen Liebreiz, Freundlichkeit, aber auch Nützlichkeit infrage. In der Philosophie wird unter Schönheit zunächst weniger das Wahrnehmbare selbst als vielmehr seine (ideelle) Grundlage verstanden. Das »Wesen« des Erscheinenden ist demnach nur begrifflich rekonstruierbar. Als solche ist Schönheit nicht durch Wahrnehmung allein zu erschließen; Erkenntnisvermögen und Vernunft sind in Tätigkeit zu setzen. Schönheit ist dann ein Merkmal der Form von etwas, die Form selbst aber ein Inneres, Strukturelles, die nicht gesehen, gehört oder gespürt werden kann, sondern begriffen und verstanden werden muss. Diese Bestimmung findet sich zuerst in voller Ausprägung bei Platon. Sie ist aus der Entgegensetzung gewonnen, in die das Schöne als vollendet Geformtes zum

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Formlosen gestellt wird. Das Formlose ist Chaos (griechisch für »regellose Masse«); regelhafte Ordnung heißt im auf griechisch Kosmos, was auch »Schmuck« bedeutet (daher »Kosmetik«). Das Formlos-Chaotische, Regellose ist das Hässliche, die Form des Schönen ist »durch Ordnung, Maß und Proportion bestimmt« (Franke 2004, 329). Wo etwas zum Betrachten oder Anhören gestaltet ist, kommt es auf Formen und Verhältnisse an. Gelungene (Kunst-)Werke und vollendete Geschöpfe der Natur zeichnen sich dadurch aus, dass die innere Ordnung ihrer Form von außen erkennbar ist. Schönheit muss zwar mit den Sinnen wahrnehmbar sein, aber sie bleibt, dieser Auffassung zufolge, eine primär innere Eigenschaft: allgemeine Struktur und Form, die den zahllosen verschiedenen Erscheinungsweisen von Schönheit als ihr Wesen zugrunde liegt. Die Form macht ein Artefakt zum gelungenen Objekt, ein Lebewesen zur anmutigen Gestalt und eine Landschaft zum beeindruckenden Raum. Bei Hume und Kant wird Schönheit nicht mehr als Eigenschaft der Objekte verstanden, sondern als Werturteil des Subjekts. Sie ist demnach keine Eigenschaft schöner Dinge, sondern ein Prädikat, das Objekten zugesprochen wird, die erfreulich, anziehend, anmutig usw. wirken. Kants Theorie des Schönen richtet den Fokus auf die Form des Urteils über Objekte, die im Subjekt Wohlgefallen erregen, ohne dass es diese besitzen oder sich ihrer bemächtigen möchte. Die Empfindung stellt sich demnach ein, weil der betrachtete Gegenstand in sich zweckmäßig erscheint, obwohl dies beim Betrachter nicht mit der Vorstellung eines entsprechenden äußeren Zwecks verbunden ist (also nicht mit der Vorstellung eines Verwendungszwecks oder eines zu erreichenden Zielzustands, zu dem hin sich das Objekt entwickele). Jedes ästhetische Urteil zielt implizit auf allseitige Zustimmung, strenggenommen: Allgemeingültigkeit. Daran hält auch Kant bei aller Subjektivierung des Schönheitsbegriffs fest. Er nimmt an, dass es einen ästhetischen Gemeinsinn gibt, den sensus communis aestheticus, einen common sense der ästhetischen Empfindung. Streit über Geschmacksfragen ist also möglich und sinnvoll. Hegel stellt hingegen die Eigenschaften der Objekte in den Brennpunkt. In diesem Sinne können wir fragen: Warum wird einem Objekt das Prädikat »X ist schön« zugesprochen und einem anderen nicht? Weil Schönheit die wahrnehmbare Folge davon ist, dass sich die innere Freiheit eines Objekts der Betrachtung in der äußeren Wirklichkeit ausdrückt, wäre Hegels Antwort. Auch für Hegel (1853–38: 155 f.) ist die »Betrachtung des Schönen liberaler Art«: Betrachter wollen es nicht besitzen und benutzen; sie lassen es, unabhängig von den eigenen Absichten, gewähren. Ästhetische Urteilskraft und Geschmack sind demnach wohl subjektiv, aber sie beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht gänzlich unterworfen ist. Sie sind nicht unabhängig davon, die Eigenschaften des »schön« genannten Objekts sind nicht beliebiger Art. Je harmonischer etwas im Verhältnis von Details und Ganzem

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gestaltet ist, als desto schöner wird es empfunden. Den Grund sieht Hegel darin, dass die wesentliche Form umso freier zur Erscheinung kommt, je artikulierter sich die Form von etwas präsentiert. Desto größer ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass die Betrachter das Urteil aussprechen: »Dies ist schön.« Voraussetzung ist freilich, wie schon Thomas von Aquin betonte, dass das Objekt unversehrt bzw. vollendet ist, die Teile zu einem Ganzen zusammenstimmen und sein Erscheinungsbild klar hervortritt (Franke 2004: 330). Nietzsche lehnt die Verbindung der Ästhetik und Ethik in Hegels Konzept der Schönheit als verwirklichter Freiheit ab. Die Einheit des Subjekts konstituiert sich für ihn nicht primär über Intellekt und Vernunft, sondern über leibhafte Erfahrung, wodurch sein Konzept von Ästhetik wieder markant auf das antike Verständnis des Begriffs zurückgeführt wird. Nietzsche plädiert für ein Philosophieren »am Leitfaden des Leibes« (Nietzsche 1885: 565; siehe Joisten 1993: 105 ff.). Deshalb hält er auch Kants Theorie des Ästhetischen für falsch, denn ästhetische Objekte würden genau dann begehrt, wenn sie sich als dem Lebensgefühl zuträglich, d. h. als nützlich, erweisen. In den ästhetischen Diskursen des 20. Jahrhunderts dominiert eine Tendenz zur Diskreditierung der »schönen« Künste, die aus der Perspektive von Theorien des Ästhetischen, welche an Wahrheit und Engagement orientiert sind, als ideologische Verklärung des Scheiterns des Projekts humaner Zivilisation erscheinen. Traditionelle ästhetische Werte wandern für eine Weile in den Bereich der durch angewandte Künste ästhetisierten Lebenswelt aus, und somit auch ins Design. Ende des 20. Jahrhunderts hat die postmoderne Ästhetik darauf reagiert. Sie proklamiert die unendliche Kontextualisierung der Lebenswelt durch Zeichen, deren Bedeutungen immerzu neu interpretiert werden können und auf nichts Bleibendes mehr bezogen sind. Ihre Merkmale sind »Seinsunsicherheit und Zeichenfreiheit« (Weibel 1991: 208). Die populäre Variante postmoderner Ästhetik erklärt die Funktionsorientierung der Moderne für veraltet und affimiert dekorativ-konsumistische, stilvermischende Formensprachen der Massenkultur, die auf sämtliche Bereiche der Produkt- und Kommunikationsgestaltung übertragen werden – nach der Devise: »Learning from Las Vegas«. Schönheit ist hier von der Aufgabe entlastet, sinnliche Erscheinung von Wahrheit zu sein. Die andere Variante postmoderner Ästhetik geht davon aus, dass das Versprechen der Moderne, soziokulturelle Fortschritte im Bewusstsein der Freiheit zu verwirklichen, im Verlauf der Destruktions- und Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts gebrochen wurde. Es sei jedoch normativ nicht überholt, sondern befinde sich im »Widerstreit« (Lyotard 1987) mit sich selbst. Zentrale Kategorie der Ästhetik ist nach dieser Auffassung nicht mehr das Schöne, sondern das Erhabene – als Synonym für das nicht Darstellbare. Im Anschluss an Lyotard – der seine Ästhetik an Werken des abstrakten Expressio-

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nismus und der Konzeptkunst entwickelte – hat Wolfgang Welsch für das Design des 21. Jahrhunderts die Orientierung an Pluralität und multidimensionalen Identitäten gefordert. Es gehe einerseits um »eine neuartige Gestaltung« der Benutzeroberflächen entkörperlichter mikroelektronischer Apparate »durch projektive Besetzung mit Metaphern, Visionen und Fiktionen«, damit auf ihnen »fiktionale, emotionale, sensuelle und ikonische Werte« zur Erscheinung kommen könnten (Welsch 1993: 216). Und andererseits gehe es um ein Design im erweiterten Sinne, das den soziokulturellen Rahmen für alternative Formen von Wirtschaft, Politik und des Umgangs mit der Natur entwirft (ebd.: 218). Der Überschwang, der viele Proklamationen postmoderner Ästhetik kennzeichnet, ist längst abgeflaut. Dennoch wurde das Bewusstsein für zwei wichtige Aspekte geschärft: Designobjekte können als Gegenstände ästhetischer Erfahrung beschrieben werden, die sich analog zu künstlerischen Objekten und ihrem Trägermaterial verhalten. Und Designprozesse können als Medien »aisthetischer« Kommunikationspraktiken beschrieben werden, die stets auch im Horizont gesellschaftlicher Emanzipation zu denken ist.

Historische Darstellung 2: Ästhetik und Design Klassisch-ästhetische Ansätze mit direktem Bezug auf Design wurden bereits von Edmund Burke und Immanuel Kant formuliert. Die empiristische Theorie von Burke (1757) führt den Impuls des Schönheitsempfindens auf den Fortpflanzungs- und den Geselligkeitstrieb zurück. Während das Große – welches ebenso wie das Schreckliche das Gefühl des Erhabenen auslöst – bewundert werde, werde das Kleine geliebt. Bei ausnahmsweise auftretenden großen schönen Objekten komme der glamour-Faktor dazu. Reine und helle Farben wirkten schön, düstere und trübe lösten konträre Wirkung aus. Die Eigenschaft der Glätte bewirke wohlwollende Empfindungen – Burke nennt Pflanzen, Abhänge in Gärten, Wasserläufe in der Landschaft, Vogelgefieder und Pelz im Tierreich, glatte Menschenhaut oder polierte Oberflächen häuslichen Zierrats. Ein weiteres Kriterium schöner Körper sei die allmähliche Änderung, die in Williams Hogarths sanft geschwungener Schönheits-Linie Ausdruck finde (die Wellenlinie ist für Hogarth die Linie der Schönheit, während die Schlangenlinie die Linie des Reizes ist). Haltungen und Bewegungen würden als schön empfunden, wenn sie leicht wirken, die Bestandteile einander ergänzen und sich nicht im Wege sind. In der empirismuskritischen, aber keineswegs empiriefernen Ästhetik von Kant gibt es nicht nur das interesselose Wohlgefallen an Produkten der freien

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»schönen Künste«, sondern auch das Interesse am Schönen, das den angewandten, »angenehmen Künsten« zugehört. Designobjekte können demnach als Medium der Mitteilung von Gefühlen dienen (Böhme 1999: 29–34). Auch im Bereich der Lebenswelt sei die Schönheit der gestalteten nützlichen und erfreulichen Dinge frei, insofern sie nicht über rationale Begriffe zu erfassen ist. Frei aber auch im praktisch-handlungsbezogenen Sinne: In einer Umgebung, die durch gestaltete Objekte geprägt ist, entstehen Spielräume der Phantasie; das Lebensgefühl wird stimuliert und die Kommunikation über die Gefühle der Betrachter in der Gegenwart schöner Objekte wird angeregt. Kants Schüler Schiller (1801) hat dies in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als »Vorschein des Reichs der Freiheit« (Böhme 1999: 26) interpretiert. Seit dem 20. Jahrhundert sind folgende Theorien der Ästhetik designrelevant: • • • • • •

Funktionsästhetik, Emanzipationsästhetik, Warenästhetik, Atmosphären-Ästhetik, Informationsästhetik sowie neuronale und evolutionsbiologische Ästhetik.

Der funktionsästhetischen Lehre von Walter Gropius zufolge wird der optimal gefertigte Gebrauchsgegenstand auch die schönste Gestalt haben. Erfahrene Benutzer und Betrachter empfinden etwas, das mehr der Zierde dient als seiner Zweckbestimmung, nicht als schön. Gestaltete Gegenstände sollen durch ihre Anwendung im täglichen Gebrauch bestimmt sein; alles, was darüber hinausgeht, insbesondere das Dekorative, ist überflüssig. Gropius ist der Klassizist in der Gestaltungspraxis der Moderne. Er fragt wie Platon nach der Wesensbestimmung der Objekte durch Funktionsrelationen; dies führt ihn »zu dem Ergebnis, daß durch die entschlossene Berücksichtigung aller modernen Herstellungsmethoden, Konstruktionen und Materialien Formen entstehen, die, von der Überlieferung abweichend, oft ungewohnt und überraschend wirken.« (Gropius 1926: 168) Seit Ende der 1960er Jahre wurden drei Argumente der Kritik am Funktionalismus vorgetragen. Der Funktionalismus reglementiere und reduziere die Bedürfnisse der Menschen. Zu diesem kulturtheoretischen Argument kommt ein ästhetisches: Der Funktionalismus sei nicht das Ende der »Stile« und nicht die selbsternannte universale, wissenschaftlich-ästhetische Antwort auf alle Gestaltungsfragen, sondern selbst ein Stil unter anderen, legitimen. Nicht zuletzt gibt es ein philosophisches Argument: Die These des Funktionalismus, dass etwas, das wahr und gut ist, per se auch schön ist, stimme nicht.

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In den Emanzipationsästhetiken von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno hängen ästhetische Autonomie und die soziale Autonomie des Subjekts zusammen. Benjamin begrüßt den Feldzug, den die Avantgarde des 20. Jahrhunderts gegen die angewandte Ästhetik der Gründerzeit führt, welche den Schein der Einmaligkeit und erlesenen Entrücktheit von Kunst- und Gestaltungerlebnissen verklärt hatte. Benjamin nennt jenen Schein die »Aura«. Diese werde in Filmkunst, Design und Architektur zertrümmert und durch fortgeschrittene, massentaugliche Produktionstechniken ersetzt. Dass Designprodukte und Häuser der Moderne wenige Jahrzehnte später als »Designklassiker« hoch bezahlt und kultisch verehrt werden, wäre in Benjamins Augen die Folge des Scheiterns der gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, deren Teil sie ursprünglich waren (Friedrich 2007: 169). In seiner Medienästhetik versucht Benjamin (1939) zu beschreiben, wie ein »Massenpublikum« aus zerstreuten Betrachtern kommunikativ und medial handlungsfähig werden und damit die Voraussetzung für seine soziale Autonomie schaffen kann. Nach Adorno sind sowohl der Emanzipationsprozess der Kunstwerke als auch der Emanzipationsprozess des bürgerlichen Subjekts vom inneren Widerspruch sozialen Fortschritts im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse durchzogen. Das Freiheitsversprechen, das in der Programmatik der bürgerlichen Gesellschaft für alle gelten soll, wird nur für Einige verwirklicht, die von der privaten Aneignung des gemeinsam produzierten Mehrwerts leben. Die Befreiung der Kunst aus den Fesseln von Ritual- und Repräsentationszwecken sowie von Wahrnehmungskonventionen zielt auf gestaltendes Eingreifen der Künste ins gesellschaftliche Leben. Er scheitert aber, weil Kunstwerke und Kunstpraxis in der kapitalistisch-kulturindustriellen Gesellschaft Funktionen der Ersatzreligion oder dekorative und wertsteigernde Aufgaben übernehmen. Wird die Frage, »wie das Ganze einer Gesellschaft, als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint« (Adorno 1957: 51), auf Architektur und Design erweitert, leitet das über zur Rekonstruktion der Dialektik des Funktionalismus. Ästhetischer Fortschritt wird im Funktionalismus als Erscheinung des gesellschaftlichen aufgefasst; doch die Statik der sozialen Eigentums- und Produktionsverhältnisse (bei gleichzeitiger Dynamik der technisch-wirtschaftlichen Produktivkräfte) hemmt die fortschrittliche Entwicklung. Die Reduktion auf Funktionen wird zur Reduktion auf wirtschaftliche Verwertung. Der funktionalistische Kult des Nützlichen kranke daran, dass die Menschen, denen die Dinge nutzen sollen, nicht jene freien, selbstbestimmten Subjekte eines vernünftigen sozialen Ganzen sind, in dem sie und die Dinge nicht mehr auf ihre ökonomischen Funktionen reduziert wären (Adorno 1965, Paetzold 1974, Schweppenhäuser 2012). Die Warenästhetik von Wolfgang Fritz Haug ist auf die Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert einer Ware und dem Gebrauchswertversprechen aufgebaut. Das

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Design, die Verpackung und die darum herum inszenierte Produktwerbung der Ware geben dieses Versprechen, damit ihr Tauschwert im Kauf realisiert werden kann. Der ästhetische Schein des Waren-Designs hat eine phantasmagorische Funktion: Es produziert eine Wunsch-Welt der Gebrauchsphantasien, die aber für den Produktionszweck keine Rolle spielen. Dieser besteht weder im Hochkapitalismus der industriellen Massenproduktion noch im Spätkapitalismus der Oligopole darin, Bedürfnisse der Käufer zu befriedigen. Waren müssen keinen wirklichen Gebrauchsnutzen für die Käufer haben – sie müssen ausschließlich den in ihnen abstrakt aufgehäuften Mehrwert realisieren, indem sie verkauft werden. An die Stelle des Gebrauchswerts tritt das Bild des Gebrauchswerts, es »löst sich […] ab vom Warenleib, dessen Aufmachung sich in der Verpackung steigert und von der Werbung überregional verbreitet wird« (Haug 2009: 41). Gernot Böhme unterscheidet in seiner Atmosphären-Ästhetik zwischen sinnlichen und sozialen Eindruckscharakteren. Sich-Zeigen-Können und -Wollen gehören demnach zur leiblichen Gegenwart als Teil eines Geflechts kommunikativer Äußerungen. Kommunikation besteht nicht nur aus Mitteilung von Zeichen, die gedeutet und verstanden werden, sondern auch aus Ausdrucks- und Eindrucksqualitäten: Das Befinden, die Emotionalität, des einen kommt zum Ausdruck und bewirkt einen Eindruck, der sich auf das Befinden des anderen auswirkt. Wenn Menschen etwas oder sich selbst inszenieren, dient es der Steigerung des Lebens durch besondere Erlebnisqualitäten. Inszenierungen von Kleidung, Haartracht, Wohnungen, Haus und Garten oder öffentlichen Orten schaffen Atmosphären, in denen andere einen Eindruck davon bekommen, wie jemand innerhalb einer Ausstrahlung zur Erscheinung kommt und sich darstellt. Menschen spüren Atmosphären, wenn sie in sie eintreten; sie sind Wirkungen auf Subjekte, die durch Eigenschaften von Objekten ausgelöst werden. Design ist für Böhme »ästhetische Arbeit«, die darin besteht, »Dingen, Umgebungen oder auch dem Menschen selbst solche Eigenschaften zu geben, die von ihm etwas ausgehen lassen«, also: »Atmosphären zu machen« (Böhme 1995: 35). In unserem Zusammenhang kann man auch Körper-Design als »ästhetische Arbeit« bezeichnen. Max Benses Informationsästhetik orientiert sich an den Naturwissenschaften und deren beobachtender, klassifizierend-messender Herangehensweise. Sie versteht sich als »materiale« und »objektive« Ästhetik und sieht ab von ästhetischen Empfindungen der Produzenten und Rezipienten sowie von deren Interpretationen. Bense (1969: 7) fokussiert die ästhetischen Eigenschaften oder »Zustände« der Objekte, »die an Naturgegenständen, künstlerischen Objekten, Kunstwerken oder Design beobachtbar sind«. Sie gelte es objektiv zu beschreiben. Um vom Objektivismus wieder in die Dimension zeichenbasierter Information und Kommunikation zu gelangen, unterscheidet Bense zwischen Zeichen und Signalen. Signale gehen demnach von

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den Objekten aus und werden, als Bewusstseinstatsachen perzipierender Subjekte, zu Zeichen. »›Signale‹ sind physische Substrate der Weltobjekte, ›Zeichen‹ jedoch phänomenale Substrate des Bewußtseins.« (Ebd.: 10) Nach dieser Operation spannt Bense ein semiotisches Netz aus triadischen Kategorien von Peirce und Morris über die ›Objektwelt‹. Zeichenrelationen beschreiben das Verhältnis der Zeichen zu dem, was sie bezeichnen und der Form, in der sie es tun sowie zu dem, der es mit ihnen tut: Zeichenfunktionen bestimmen die Verwendung der Relationen in Anwendung, Kodierung und Kommunikation; Zeichenoperationen sind Verkettung, Selbstbezug und daraus gebildete Zeichen höherer Ordnung und deren Struktur. Bense übersetzt traditionelle ästhetische Kategorien in informationstheoretische, damit seine statistische Ästhetik Konzepte ästhetischer Eigenschaften formalisieren, quantifizieren und messen kann. Ziel ist, vorhersagen zu können, wann sich Ordnungen und Formen bilden, die als ästhetische Eigenschaften bezeichnet werden können. Die Pointe der Informationsästhetik besteht in ihrem Anspruch, als generative Ästhetik bei der »Herstellung exakt kalkulierter ästhetischer Objekte (Design, Computerlyrik)« (Henckmann 2004: 335) zu assistieren. Das Konzept einer Programmierung des Schönen (Bense 1960) wird beispielsweise in den computergenerierten ästhetischen Objekten von Georg Nees (2014) umgesetzt; aber auch in der Techno-Musik und im Sound-Design der Gegenwart lassen sich Spuren dieses Programms entdecken. Neuronale und evolutionsbiologische Ästhetiken sind besonders dann von Interesse, wenn es um die Frage nach kulturübergreifenden Invarianten des Schönheitsempfindens geht. Neurowissenschaftlichen Wahrnehmungs-Untersuchungen zufolge ist das ästhetische Vergnügen, welches durchs Erkennen von selbstähnlichen Strukturen oder Mustern wie Symmetrie und Goldener Schnitt ausgelöst wird, deshalb besonders intensiv, weil dabei nicht nur im jeweils aktiven Cortexareal Abgrenzungs- und Identifikationsvorgänge absolviert werden, sondern auch andere Areale anklingen (Welsch 2009: 107). Der evolutionäre Ansatz wiederum beschäftigt sich mit der Frage nach der Attraktivität von Lebewesen, Landschaften und Artefakten. Hier wird die Attraktivität der Faktoren des kognitiven Vergnügens beim Erkennen komplexer Muster und der Freude angesichts von weiträumigen Landschaften mit Wasservorkommen und schützender Vegetation aus der naturgeschichtlichen Zuträglichkeit für Entwicklung der Menschheit abgeleitet (ebd.). Die Attraktivität gewisser Proportionen des Körperbaus wird auf deren Korrelation mit der Förderlichkeit zur sexuellen Reproduktion zurückgeführt (Welsch 2009: 94 f.). Es scheint mitunter, als sei die kulturalistische Phase auch in der Ästhetik des Designs ans Ende gekommen und als würde sie durch einen neuen Naturalismus

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abgelöst.12Ob dies den falschen Schein verfestigt, dass die sozialen Relationen und Konditionen, unter denen Menschen gestaltete Objekte produzieren, rezipieren und anwenden, im Prinzip so unveränderlich sind wie Naturverhältnisse und anthropologische Konstanten – oder ob es im Gegenteil dazu beiträgt, die Naturbasis gestalterischer Arbeit klarer zu begreifen, auf deren Grundlage Design als »ästhetische Form praktischer Welterschließung« (Feige 2018: 9) in historisch immer wieder neuen Gestalten stattfindet, wird sich zeigen. Um es mit Marie Luise Kaschnitz zu sagen: Es steht noch dahin.

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Philosophie und kritische Theorie des Designs*1 Philosophie und kritische Theorie des Designs Philosophie und kritische Theorie des Designs

Der erste Teil dieses Textes enthält eine kurze Beschreibung der Gegenstände und Methoden kritischer Theorie. Im zweiten Teil werden die Umrisse einer kritischen Theorie des Designs mithilfe eines ideengeschichtlichen Exkurses skizziert. Im dritten Teil wird – in Auseinandersetzung mit einem kürzlich vorgelegten Beitrag zu einer politischen Designphilosophie – zu zeigen versucht, was kritische Design­ theorie als Ideologiekritik leisten kann.

Was ist kritische Theorie? Kritische Theorie ist die philosophische und gesellschaftstheoretische Reflexion der sozialen Emanzipationsbewegungen in der Moderne: Reflexion ihrer Errungenschaften, ihrer Hemmnisse und ihres Scheiterns. Weil sie nicht kontemplativ, sondern praxisreflexiv ist, kann sie ihre Gegenstände beschreiben, konstruieren und zugleich kritisieren. Kritische Theorie ist daher deskriptiv und normativ sowie in dem Sinne dialektisch, dass sie die Bewegungen der Gegen­sätze in sich rekonstruiert, durch die ihre Gegenstände gekennzeich­net sind. Insofern ist kritische Theorie eine philosophische Theorie im Sinne von Hegel und Marx. Sie erkennt in den Begriffen, Urteilen und Schlüssen philosophischer Reflexion den *

Der Text ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 7. Juni 2017 im Rahmen der Vortragsreihe Architektur & Ideologie. Die Herrschaft der Ware und der urbane Raum an der Technischen Universität Darmstadt gehalten habe. Er erscheint auch in: Philosophie des Designs, hrsg. v. Daniel Martin Feige, Florian Arnold u. Markus Rautzenberg, Bielefeld: Transcript (Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architektur- und Designtheorie), 2018.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_2

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»komprimierteste[n] Ausdruck der historischen Bewegung« der Epoche, auf die sich diese Reflexion jeweils be­zieht, und sie fragt nach der »immanenten Vernunft und Unvernunft« (Mensching 1992: 13) der historischen Bewegungen. Das heißt, kritische Theorie fragt nach der Wirklichkeit und Möglichkeit ihrer Gegenstände, also nach ihrem So-Sein und ihrem vernünftig begründbaren Sollen. Daher bewahrt sie sich, als philosophische Theorie, eine relative Autonomie gegenüber der Praxis; diese wird als negative, in sich ambivalente und antagonistische Totalität gedacht, welche reale Herrschaft über Natur und Menschen ebenso umfasst wie mögliche und punktuell reale Freiheit von Naturzwang und sozialer Herrschaft. Die philosophische Autonomie kritischer Theorie ist relativ, weil sie als Reflexionsform praktischer Eman­zipations­bewegungen in diese involviert ist. Sie reflektiert Manifestationen materieller und geistiger Arbeit als soziokulturelle Praxisformen. Sie geht davon aus, wie der Soziologe Heinz Maus (1963: 312) schrieb, »daß die Menschen die Produzenten ihrer historischen Lebensformen sind, die klassenmäßige Form der gesellschaftlichen Arbeit indessen allen ihren Reaktionsweisen, d. h. ihrer Kultur, bislang den Stempel aufdrückt«. Kultur ist ein Bestandteil des Produktionszusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Zusammenhang lässt sich durch vier philosophische Kategorien kennzeichnen: Vernunft, Freiheit, Arbeit und Eigentum. Sie sind seit dem 18. Jahrhundert systematisch im arbeitsteiligen Kontext von Metaphysik und Erkenntnistheorie, Ethik und politischer Philosophie reflektiert worden. Bis heute, schrieb Herbert Marcuse (1937: 234), sind sie vor allem »als ökonomische und politische Fragen relevant«. Daran hat sich 80 Jahre später, wie mir scheint, kaum etwas geändert. Marcuse hat die Begriffsfelder folgendermaßen abgesteckt: Es geht um die »Beziehungen der Menschen im Produktionspro­zeß«, um »die Verwendung des Produkts der gesellschaftlichen Arbeit« und nicht zuletzt um »die aktive Teilnahme der Menschen an der ökonomischen und politischen Verwaltung des Ganzen« (ebd.). Diese Felder gilt es im Sinne einer post-hegelschen Theorie des objektiven Geistes, die sozialphilosophisch neu ausbuchstabiert wird, auf ihren unabgegoltenen Gehalt hin zu untersuchen. Die »reale Möglichkeit« (ebd.), dass die gestaltende Partizipation am wirtschaftlichen und politischen Ganzen, von der Marcuse seinerzeit sprach, wirklich stattfindet, dass das gesellschaftliche Arbeitsprodukt allen zukommt und soziale Beziehungen im Zusammenhang der materiellen und geistigen Produktion als selbstbestimmte, freiheitliche Kommunikationsverhältnisse gestaltet werden können – diese »reale Möglichkeit« ist seither, im Hinblick auf ihre technisch-materiellen Voraussetzungen, eher größer geworden. Zugleich ist sie aber, im Hinblick auf die Formen ihrer Verwirklichung, immer unwahrscheinlicher geworden. Zunächst ging kritische Theorie von einem objektiven gesellschaftlichen »Interesse an Emanzipation« (Honneth 1994: 47) aus, das sich »in der sozialen Alltagskultur«

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und »Alltagswirklichkeit« (ebd.: 46) ausmachen lässt. Später wurde das Konzept der Emanzipation durch das der Kommunikation erweitert; damit sollte der Einsicht Rechnung getragen werden, dass nicht nur die Arbeit Grundlage des sozialen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit ist, sondern auch intersubjektive Verständigung. Aus dieser Sicht wird das humane Potenzial »zur kommunikativen Verständigung« (ebd.: 49) durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet, die »eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse« (ebd.: 59) erforderlich macht. Die kritische Theorie ist nicht als normativistische Theorie konzipiert, die Versprechen einklagt, die in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Gesellschaft gegeben und später, in der Phase ihrer Konsolidierung, gebrochen wurden, sondern, wie gesagt, als dialektische Theorie, die in der kritischen Rekonstruktion der Bewegung der Begriffe durch ihre Widersprüche hindurch die Gegensätze und Antagonismen rekonstruiert, deren begriffene Darstellung ihre philosophische Reflexion zu sein beanspruchte (und mitunter noch immer beansprucht, sofern sie sich nicht, im Sinne des linguistic turn, von der Analyse von Sachfragen abgewendet und gänzlich der Analyse von Sprachfragen verschrieben hat). Kritische Theorie analysiert ihre Untersuchungsgegenstände, indem sie Konflikte beschreibt, die ihnen zugrunde liegen. Dabei unterscheidet sie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit des Gegenstandes. Sie stellt die zu beobachtenden Phänomene und die zu (re-)konstruierenden Gesetzmäßigkeiten dar, denen gemäß sich die Phänomene »verhalten«. Und sie konstruiert die Potenziale, die in Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten enthalten sind, sich aber nicht entwickeln können, weil sie durch den zugrundeliegenden Konflikt gehemmt oder blockiert werden. Phänomene der Wirklichkeit sind aus den Metamorphosen der Begriffe herzuleiten, in denen sich Veränderungen der Stellung des Gedankens zur Objektivität manifestieren – also aus der dialektischen Rekonstruktion der Bewegung der Phänomene. Die dialektische Bewegung der Begriffe ist die Darstellung der widersprüchlichen Entfaltung der Sachen. »Dialektik«, sagte Adorno in einer Frankfurter Vorlesung, ist »eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur der Sache« (Adorno 1958: 9).

Welche Gegenstände hat eine kritische Theorie des Designs? Das Design von Produkten und Kommunikationszusammenhängen ist ein Produktions- und Rezeptionszusammenhang, der zur industrie­kapitalisti­schen Reproduktionspraxis gehört. Die Gestaltung sozio­kultureller Arbeits- und Verständigungsverhältnisse hat ideologische und emanzipatorische Dimensionen. Die

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philosophische Methode der kritischen Theorie ist, wie gesagt, die dialektische Darstellung innerer, gegensätzlicher Bestimmungen im jeweiligen Gegenstand. Im Sinne einer vorläufigen, unsystematischen Aufzählung von Phänomenen der Wahrnehmung und der Gebrauchserfahrung im Alltag können die Gegensätze, die das Produktdesign und das Kommunikationsdesign kennzeichnen, mit folgenden Begriffspaaren beschrieben werden: Bedürfnis und Begehren; Information (bzw. Aufklärung) und Reklame (bzw. Public Relations); verständigungsorientierte und strategische Kommunikation; enger und weiter Designbegriff (Formgebung als äußerliche Zutat oder als soziale Gestaltung). Wenn eine kritische Theorie des Designs nicht beim bloßen »Einerseits-andererseits« oder »Sowohl-als-auch« stehen bleiben (siehe unten, S. 28–35), sondern der Bewegung der Gegensätze in sich nachgehen will, dann sollte sie zeigen können, dass sich ein »Basiskonflikt« beschreiben lässt, der Designphänomenen (und Designdiskursen) der Gegenwart als Einheit von einander widersprechenden Bestimmungen innewohnt. Analoge und digitale Artefakte und Kommunikationsformate sind dazu vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, wie sich in ihnen das (gedanklich und normativ) Allgemeine einer autonom gestalteten Lebenswirklichkeit in der privaten und in der öffentlichen Sphäre (deren Trennung dabei überwunden würde) zum partikularen Motiv der privaten Aneignung unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaftsausübung verhält, in dem es zum Ausdruck und zur Wirkung kommt. Die thesenhafte Antwort lautet, dass das Partikulare die Realisierung eines vernünftigen Allgemeinen konflikthaft blockiert und zugleich seine Entwicklung durch produktive Ergänzung ermöglicht. Sie lautet daher auch, dass die Emanzipation des Besonderen (in Gestalt des partikularen Profitinteresses) die Formulierung eines (nicht abstrakt, sondern konkret gesellschaftlich) Allgemeinen überhaupt erst möglich macht, dessen Verwirklichung es dann jedoch, im geschichtlichen Verlauf, tendenziell erstickt. Die Dialektik des Universalen und Partikularen ist als soziale Dominanz des Partikularen stillgestellt, wobei das Partikulare um seine Singularität gebracht wird, weil es in der Warenform zum abstrakt-allgemeinen, einheitsstiftenden Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion erhoben wird. Der grundsätzliche Konflikt besteht also in dem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnis, das Designformen und -formate hervorbringt und ihre Entfaltung (d. h. ihre Nutzung im Hinblick auf Produktion und Rezeption) zugleich befördert und hemmt. Wie kommt dieser Konflikt zum Ausdruck? Design wird in der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt partikularer Ästhetisierung realisiert. Zugleich enthält es aber ein telos, welches darüber hinausreicht: die bedürfnis- und verständigungsorientierte Gestaltung der alltäglichen Lebensverhältnisse. Die bestehende, durch gesellschaftliche Arbeitsteilung sich herstellende Form von Design enthält insofern einen normativen, emanzipatorischen

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Überhang über die gesellschaftliche Form, in der sie sich herstellt. Durch Design wird eine humane Gestaltung der Lebens- und Arbeitswelt überhaupt erst ermöglicht. Zugleich steht selbstbestimmter Nutzung und sozialem Design (autonomer Produktion) jedoch eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine Prä­formation der Formgestaltung gegenüber. Letztere geht indes nicht zwingend aus der Beschaffenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor. Sie entsteht vielmehr durch die spezifischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung: Soziales, öffentliches Potenzial wird blockiert durch private Aneignung des durch Design produzierten Mehrwerts. Mit anderen Worten: Design kann Ausdruck und Werkzeug von Freiheit und kultureller Selbstbestimmung sein, es ist zunächst einmal aber Instrument der Profiterzeugung in der Warenökonomie und der Kontrolle im Dienst politischer Herrschaft. Das öffentliche (menschheitlich-uinversale) Potenzial wäre freilich nicht ohne die private Verwertungsstruktur zu haben. Oder, vorsichtiger formuliert: Das Potenzial manifestiert sich vorerst überhaupt nur in der falschen, aber wirklichen Gestalt. Denn ohne die den Produktionsverhältnissen immanente Profitausrichtung wäre Design als Bestandteil der Produktivkräfte nicht entwickelt worden. Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können, die nun wie ein Sach- oder Naturzwang erscheint. In vereinfachter marxscher Terminologie kann man daher von einem Konflikt zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert des Designs sprechen. Design hat dekorative, phantasmagorische und eskapistische Momente, aber auch konstruktiv-emanzipa­torische. Der reale Partikularismus ist die Grundlage des ideologisch-phantasierten Universalismus einer sittlich und ästhetisch gestalteten Welt, eines gelingenden Lebens für alle. Zugleich ist diese Phantasie jedoch auch entstellter Vorschein eines noch nicht existierenden realen Universalismus. Dass das Potenzial autonomen sozialen Designs auf Realisierung wartet, die durch die Grundlagen blockiert wird, denen es sich verdankt, kann nicht ohne historische Reflexion begriffen werden. Kunst und industrielle Produktion traten im 19. Jahrhundert mit der Entfaltung der Industrialisierung auseinander. Die Arbeit wurde zentrale gesellschaftliche Vermittlungsinstanz, aber nicht als selbstbestimmte kreative Arbeit, sondern als Lohnarbeit. Kreative Arbeit wurde dem Bereich der autonomen Künste zugeordnet. Dort wurden nicht per se als Waren gedachte Artefakte produziert. Ästhetisch betrachtet, ist ihr Warencharakter akzidentell, aber für den freien Künstler als Markt­subjekt ist er unverzichtbar. Lohnarbeit hingegen gehört in den Bereich der Herstellung und Ver­marktung von Waren. In der Moderne befreite sich die Nützlichkeit gleichsam aus ihrer untergeordneten Funktion gegenüber der Schönheit. Der »ästhetische Überschuß, der die Produktion

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des Handwerks beseelte« (Wellmer 1985: 115), erschien unter den Bedingungen industrieller Produktion unzeitgemäß. Er wurde als volkswirtschaftlich schädlicher Überfluss diffamiert, am wort- und wirkmächtigsten bekanntlich bei Adolf Loos. Die Freiheit der Künste war eine späte, fragile Errungenschaft und zudem nur von kurzer Dauer. An den weltanschaulichen Kunstdebatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich zeigen, dass im überlieferten Streit um »freie« und »angewandte Kunst« wahre und ideologische Momente in­einander verschlungen sind. Ästhetische Erfahrung befreite sich in dieser Phase von fremdbestimmten Einschränkungen. So rechnete es der Kunstwissenschaftler Konrad Fiedler (1881: 115) dem Naturalismus in Literatur und Malerei hoch an, dass er »die Emanzipation der Kunst aus der Bevormundung durch eine fremde Autorität« bewirkt habe. Kunst »will nicht mehr Mittel sein für fremde Zwecke, sie will von jedem Zwang befreit sein« (ebd.: 116) – nur noch das Leben und die Welt darstellen, wie sie sind. Die Auffassung des l’art pour l’art radikalisierte diese Haltung, obwohl sie sich gegen Naturalismus und Realismus richtete. Nun ging es nicht mehr um eine welthaltige, »getreue Darstellung« (ebd.: 108). Die »Ansicht […], daß die Kunst einen ganz bestimmten Teil der dem menschlichen Geschlecht gestellten Aufgaben zu lösen habe« (ebd.: 114), wurde ihrerseits als »Bevormundung« (ebd.: 115) empfunden. Werke wurden denkbar und gestaltbar, die nur ihrem eigenen Formgesetz verpflichtet sind; Werke, die sich der Unterordnung unter Kriterien verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und deren Rezeption liegen. Zugleich war diese Emanzipation der ästhetischen Erfahrung aber auch eine Absage an die objektive Verpflichtung auf humane Zwecke, der alle Produkte unterliegen, also auch künstlerische. In der Ablösung von dieser Verpflichtung trieb Kunst, die bei sich selbst bleibt, die ideologische Unwahrheit der alten Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit auf die Spitze. Jene Trennung ist die Signatur gesellschaftlicher Herrschaft. Sie wäre als solche nicht zu affirmieren, sondern selbst noch einmal der Kritik zu unterziehen – nicht durch Verzicht auf ästhetische Produktion, sondern durch Reflexion auf diesen Widerspruch, die im Fortgang der Arbeit am Formgesetz selbst durchsichtig zu vollziehen wäre. Wenn und solange dies unterbleibt, setzt sich autonome Kunst ins Unrecht gegenüber der angewandten Kunst. Ihre Freiheit wäre eben nicht die Setzung als Selbstzweck, die verabsolutierte Arbeitsteilung, die den Vorzeichen gesellschaftlicher Herrschaft verhaftet bleibt. Freiheit der Kunst müsste sich immer auch durch ihre Bindungen an humane Zwecken manifestieren. Die soziale Aufgabe der Künstler tritt nur zu Tage, wenn ihre Arbeit in den Dienst herrschaftlicher und kommerzieller Zwecke genommen wird. Insofern hat es ein Moment der Ideologie, wenn die »angewandten« Künste aus dem Schatten der »freien« treten und gleichberechtigt werden wollen. Andererseits ist Zweckgebundenheit der Kunst zunächst einmal Heteronomie.

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Doch dadurch stehen Kunstproduktion und ästhetische Erfahrung modellhaft für einen Zustand ein, in dem die Menschen, als gesellschaftliche Subjekte, nicht mehr heteronom wären.1 Design als Inbegriff »angewandter Kunst« ist, wenn man so will, ein Vor-Schein ästhetischer Wahrheit in falscher Gestalt. Auch auf dem digitalen Feld. Dort scheint die früh- und hochkapitalistische Trennung der Arbeitenden von den Arbeitsmitteln der Vergangenheit anzugehören, wenn menschliche Arbeit in ständig wachsendem Ausmaß über Computer in Wert gesetzt wird. Traditionelle Industrieproduktion wird an die Peripherie abgedrängt (sofern es denn noch sinnvoll ist, China als peripher zu apostrophieren). Aber weil tendenziell alle Menschen der Logik der Digitalisierung unterworfen werden, sind die ökonomische Verfügung über ihre Arbeitsleistungen und die herrschaftliche Kontrolle ihrer physischen und psychischen Aktivitäten auf dem neusten Stand der Technik gesichert. Aus der Perspektive kritischer Theorie ist das die universal gewordene technische Rationalität. Sie hat sich als post-hierachische und post-bürokratische Form der Organisation einer Gesellschaft etabliert, die zwar keine Industriegesellschaft im klassischen Sinne Max Webers mehr ist, sich aber in ihren Arbeits- und Freizeitformen mehr denn je der »kapitalistischen Rationalität« (Marcuse 1964: 82) verpflichtet sieht, die sich in jener Epoche durchgesetzt hat. Diese Rationalität ist Weber zufolge formal, mathematisierend und quantifizierend. Die Gestalten der »Ökonomie und Technik« (ebd.: 81), die aus ihr hervorgehen, sind grundsätzlich von der »Reduktion von Qualität auf Quantität« (ebd.: 82) geprägt. Darauf basiert die spezifisch moderne Form der »Herrschaft über alle (auf Quantitäten und Tauschwerte reduzierten) Besonderheiten« (ebd.). Fünfzig Jahre nach dieser Diagnose Marcuses, im Zeitalter der mikroelektronischen Revolution und der zivilen Nutzung der für militärische Zwecke entwickelten Informations-, Kommunikations- und Ortungstechnologien, ist die Technik, als mikroelektronisch-digitale, nicht mehr Mittel der Lebensverbesserung, sondern Zweck sämtlicher Lebensvollzüge. Nicht nur auf der Ebene der wirtschaftlich-politischen Propaganda und der biometrischen Kontrolle, auch in der individuellen und kollektiven Selbstwahrnehmung und -darstellung erscheint 1 In der Gegenwartskunst ist die Problematik der Kunstautonomie bekanntlich immer wieder gesehen worden. Ein prominentes und wirkmächtiges Beispiel: Okwui Enwezor proklamierte für die documenta 11, es gehe darum, »die Bedingungen zu untersuchen, unter denen aktuelle Kunst in ihren vielfältigen Ausdrucksformen entsteht. Wir möchten eine Sicht von Kunst entwickeln, die offen ist, authentisch und zeitgemäß, gleichzeitig aber auch sehr analytisch bei der Auseinandersetzung mit den historischen Systemen, in denen sie stattfindet. Wir wollen eine Kunst, die der verbreiteten Ansicht entgegentritt, alle Kunst sei sich selbst genug und besitze eine eigene Sprache, die anderen Disziplinen keinen Zugang ermögliche.« (Zitiert nach Mertin 2002)

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die digitale Infrastruktur, entwickelt für den Bedarf des militärisch-industriellen Komplexes, wie eine Entelechie des Handelns, des Produzierens und des Verbrauchens.2 Die universale Verbreitung mikroelektronischer Produktions- und Kommunikationsmittel in Gestalt digitaler Endgeräte, die alle, die sie verwenden, als potenzielle Gestalterinnen und Gestalter erscheinen lassen, schafft einen Zustand gesellschaftlicher Heteronomie, indem sie Kommunikation durch und durch in Warenform bringt.

Kritische Theorie und heideggerische Design-Ideologie Der Weg zu einer dialektischen Theorie des Designs führt über die Frage nach Wahrheit und Ideologie des Konzepts von Design. In dem Buch Weltentwerfen des Architekten Friedrich von Borries, der in Hamburg Designtheorie lehrt, gibt es dazu vielversprechende Ansätze. Methodisch geht Borries allerdings nicht dialektisch vor, sondern dichotomisch. Er formuliert eine Reihe ambivalenter Merkmalsbestimmungen, um die Zwiespältigkeit des Designs in Geschichte und Gegenwart zu bestimmen. Dabei verwendet er einen weiten Designbegriff, der nicht nur Produkte und Oberflächen umfasst und nicht nur äußere Erscheinungsformen, sondern vor allem auch innere, strukturelle Formen: »Design gestaltet die Form, in der eine Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert.« (Borries 2016: 30) Mit Recht bezeichnet Borries die Tätigkeit von Designern als »Entwerfen« (ebd.: 11). Von diesem Begriff ausgehend, knüpft er an ein existenzialontologisches Wortspiel aus Heideggers Sein und Zeit an, wo es heißt, der Mensch werde ins Dasein geworfen und müsse sich durch einen Ent-Wurf wieder aus dieser Ge-Worfenheit herausarbeiten. Borries versieht Heideggers Motiv mit einem Gegensinn: Alles, was entworfen und gestaltet ist, sei sowohl ent-werfend (im Sinne von befreiend), als auch unter-werfend. Entwerfen ist demnach nicht nur Entwurf als komplementäres Gegenstück zur heideggerschen »Geworfenheit«, sondern auch »das Gegenteil von Unterwerfen« (ebd.: 9). 2 »Die Technik zieht […] in ihrer heute vorherrschenden Form […] alle soziale und politische Fantasie an sich […], sie droht jede andere Möglichkeit des besseren sozialen und politischen Lebens in technische Utopie zu verwandeln. Fortschritt wird tendenziell synonym mit einer Welt der besser funktionierenden Flachbildschirme, Handys, Computer und Funknetze als moderne Warenfetische. Das Mittel Technik mutiert damit selbst zum Subjekt und die Menschen und ihre Körper werden zu deren Anhängseln: ihre Käufer, ihre Datengeber, ihre Ausbeutungsobjekte […]. Diese Relation bildet die Kehrseite der neuen Möglichkeiten der Benutzung digitaler Geräte.« (Bock 2016: 23)

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Dies begründet Borries zunächst mit einem Gedanken, den er von Hannah Arendt übernimmt. Die Konditionen des menschlichen Zusammenlebens sind einerseits gegeben und werden als solche vorgefunden, andererseits unterliegen sie aber auch ständiger Umgestaltung. »Der Mensch lebt unter Bedingungen, die die Menschheit selbst geschaffen hat« (ebd.: 16), resümiert Borries und bringt diese Unterscheidung zwischen Individuum und Gattung in Verbindung mit den Konzepten der Entfremdung und Verdinglichung sowie dem Theorem vom Fetischcharakter der Ware bei Marx. Der Schein, dass nicht die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, sondern natürliche Eigenschaften der Waren die wirtschaftliche Reproduktion und deren politische Regulierung bestimmen, werde durch Kulturindustrie perfektioniert. Andererseits könne jener Schein aber durch Design entzaubert werden. Denn Design könne sichtbar, »anschaulich, greifbar« machen, »welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen der Gestaltung der Dinge zugrunde liegen. Design kann […] als Ausdruck von Normen, aber auch von Ängsten und Hoffnungen verstanden werden: Es verdinglicht die Bedingungen«, die nun »selbst zum Gegenstand von Design« (ebd.: 18) werden können. Die Tätigkeit von Designern versteht Borries daher als »grundlegenden, emanzipatorischen Akt« (ebd.: 11). Denn »Design schafft Freiheit« (ebd.: 9). Den politischen Aspekt des Entwurfs leitet Borries von Vilém Flusser her, der die Welt nicht als Gegebenheit, sondern als Ergebnis menschlichen Entwurfs konzipiert habe. Dass dieser Zug nicht so recht zu Arendts Konzept passt, bei der die Welt immer auch Gegebenheit ist, stört den philosophierenden Architekten nicht weiter. Design ist ihm zufolge Bedingung der Möglichkeit von »Handlungen, die zuvor nicht möglich oder nicht denkbar waren«; dadurch begrenze Design »aber auch den Möglichkeitsraum, weil es neue Bedingungen schafft. Alles, was gestaltet wird, entwirft und unterwirft.« (Ebd.) Designen ist also in sich zwiespältig und damit mehr als nur eine arbeitsteilige oder bloß ästhetische Tätigkeit. »Diese dem Design inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische. Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand.« (Ebd.: 10) In der Tat: Viele Designprodukte können ihre Benutzerinnen und Benutzer sowohl einschränken als auch entschränken. Stühle können entlasten und eine freie Körperwahrnehmung unterstützen, aber auch zu Haltungen nötigen, die physisch unzuträglich und repräsentativ falsch sind, etwa hierarchisch erhöhend oder erniedrigend. Digitale Kommunikationstechnologien können freiheitliche Selbstverständigung und politische Willensbildung ermöglichen; sie setzen ihre Nutzerinnen und Nutzer aber auch dem Sperrfeuer der Werbepropaganda aus, lassen sie ins Überwachungsnetz der Staatsgewalt gehen und formatieren nicht nur ihre mitteilende Kommunikation, sondern auch ihre Selbstexpression und

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Selbstwahrnehmung. Ohne Design auf relativ hohem Standard geht in technologisch hochgerüsteten spätkapitalistischen Gesellschaften nichts und Borries weiß das selbstverständlich. Daher will er, wie der Untertitel seiner Schrift verheißt, eine politische Designtheorie vorlegen. »Design ist politisch«, schreibt er, »weil Design in die Beschaffenheit der Welt eingreift.« (Ebd.: 31) Das allgegenwärtige Design sei die Gestalt, in der »sich unsere Unmündigkeit [materialisiert]: In der Art, wie wir uns kleiden, wie wir wohnen, mit welchen Dingen wir uns umgeben etc., lassen wir uns von der Ästhetik der kapitalistischen Kulturindustrie affizieren und geben uns ihren leeren Versprechungen hin.« (Ebd.: 14, Fußnote) Solch »freiwilliger Unterwerfung« habe sich ein »sich als politisch verstehendes, entwerfendes Design« (ebd.) entgegenzustellen. Dann werde Design »subversiv, gefährlich, aufrührerisch« (ebd.: 14 f.). Borries zufolge ist Entwerfen also ein in sich ambivalenter, sowohl herrschaftlicher als auch freiheitlicher Vorgang. Entwerfen als Unterwerfen sei daher von »Entwerfen, verstanden als das Gegenteil von Unterwerfen«, zu unterscheiden – und Letzteres sei nichts anderes als »die praktische Umsetzung von Aufklärung« (ebd.: 15) im Sinne von Kant. Designer könnten beim Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit helfen, indem sie das Nachdenken darüber unterstützen, dass »wir uns an vielen Stellen aus Bequemlichkeit den ökonomischen und kulturellen Bedingungen des globalen Kapitalismus sowie den damit verbundenen Formen von Unfreiheit [unterwerfen]« (ebd.: 14, Fußnote). Was zeichnet demgegenüber Design aus, das nicht entwirft, sondern unterwirft? »Unterwerfendes Design bestätigt bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse, indem es diese funktional und ästhetisch manifestiert« (ebd.: 21). Und wie tut es das? Indem es »Objekte, Räume und Kontexte« herstellt, »die die Handlungsmöglichkeiten ihrer Benutzer nicht – oder nur in einem vorgegebenen Rahmen – erweitern.« (Ebd.) Stattdessen inszeniert es Angebote oder Imperative zur Identifikation und »sichert […] die bestehende Ordnung« (ebd.). Denn »Unterwerfung« geschehe in den westlichen Gesellschaften »nicht primär durch Zwang, sondern freiwillig« (ebd.: 22). Hier grenzt sich Borries von Foucault und Deleuze ab: »Disziplinierung und Kontrolle« (ebd.: 21 f.) hätten zwar nicht aufgehört zu bestehen, seien aber komplett internalisiert und würden hinter einen neuen Attraktor zurücktreten, nämlich hinter die »Konsumkultur« (ebd.: 23), von der die Suggestion ausgehe, die bestehende Ordnung sei eine optimale »Grundlage der eigenen Entfaltungsmöglichkeit« (ebd.: 22 f., Fußnote). Borries nennet diese Form der fremdbestimmten Sozialisierung die »Suggestionsgesellschaft« (ebd.: 22.). Sie stimuliere die Menschen zur »Autosuggestion von Unabhängigkeit« und zur »Selbsttäuschung« über ihre Chancen zur »Selbstverwirklichung« (ebd.: 23). Der freiwilligen Entmächtigung stünden aber auch designerische Tendenzen zur Ermächtigung gegenüber: entwerfendes Design, das eine »bessere Gesellschaft […] erschaffen« will, »in der die Beziehungen der Menschen untereinander und

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zu ihrer Umwelt neu organisiert sind« (ebd.: 25). Was zeichnet Design aus, das auf diese Weise entwirft? Es versuche, »seinen Benutzern und Rezipienten echte Handlungsspielräume für ihr Leben zurückzugeben. Es stattet sie mit den Technologien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens aus.« (Ebd.) Design als Form politischer Praxis ist demzufolge ein unerlässlicher Bestandteil der Auseinandersetzung mit den natürlichen Lebensgrundlagen. »Der Mensch führt einen Kampf gegen die Natur. […] Naturgewalten, Begegnungen mit wilden Tieren etc.« würden »den Menschen immer wieder an seine existenzielle Unterworfenheit« (ebd.: 58) erinnern.3 Design, so Borries, sei überlebensnotwendig, weil jede Art von Arbeit und Technik aktiv oder passiv mit Gestaltung zusammenhängt. Design, das von der Angst ums Überleben bestimmt ist, könne seinerseits lebensbedrohliche Folgen annehmen. Borries stützt sich auf Gehlen, Anders und Sloterdijk und betont, dass schützende Institutionen sich gegen diejenigen kehren können, zu deren Schutz sie gedacht sind; dass »die Entwürfe« »des Menschen« »seine eigenen Fähigkeiten« »überfordern«; und dass Design in der Moderne eine Macht simuliert, welche die Menschen in Wahrheit nicht haben, weil ihr individuelles und kollektives Überleben bedroht bleibe. Daher verfestige sich das zeitweilig angelegte, angstgetriebene »Überlebensdesign« zum dauerhaften »Sicherheitsdesign«, es werde zum Selbstzweck und »stellt den permanenten Ausnahmezustand her.« (Ebd.: 51) »Angst ist das Herrschaftsinstrument der Gegenwart.« (Ebd.) »Eine Steigerung erfährt die Angst des Menschen vor der Natur in der Angst vor der zweiten Natur.« (Ebd.: 59) Entsprechend würden Gesellschaft und eigenes Selbst tendenziell heteronom, also unterwerfend, gestaltet. Dagegen biete entwerfendes Design befreiende Kräfte auf. Design sei im sozioökonomischen Alltag verwurzelt, könne aber kraft »spekulativer Wunschproduktion und künstlerischer Imaginationskraft« (ebd.:137) auch darüber hinaus gelangen und »neue Möglichkeiten von Welt« (ebd.) entwerfen. Borries’ Designphilosophie, soviel dürfte deutlich geworden sein, will heterogene gedankliche Motive verbinden. Phänomenologie und Neoaristotelismus werden schwungvoll mit einer neomarxistischen Kantlektüre verquickt. Heideggers existenzialontologischer Kalauer über das Entwerfen aus der Geworfenheit soll mit Arendts Begriff der Bedingtheit und Flussers Projekttheorie des Subjekts gewissermaßen politisiert werden und dadurch als kantianische Grundlage einer sozialen Gestal3 An dieser und an anderen Stellen verfällt Borries in einen Jargon der Eigentlichkeit, der an jenen erinnert, den Adorno bei der Heidegger-Schule der jungen Bundesrepublik Deutschland beobachtete. Der Jargon nehme, nur scheinbar radikal, »das gesamte menschliche Dasein« (Bollnow in Adorno 1964: 435) ins Visier; dabei produziere er Wort- und Denkhülsen, die die soziale und historische Vermitteltheit des Daseins verdecken.

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tungstheorie funktionieren, die Design mit Adorno als verdinglichte gesellschaftliche Arbeitsform versteht und gesellschaftliche Entfremdung durch Kulturindustrie in einer emanzipatorischen Wendung über sich selbst hinausführen möchte. Es kann bestimmt nicht schaden, wenn praktizierende Gestalterinnen und Gestalter, auch schon während ihres Studiums, auf so eine bunte Weise mit fragmentierten philosophischen Motiven bekannt gemacht werden. Aber kann das als Theorieprojekt gut gehen? Arendt und Flusser kann man in diesem Zusammenhang vielleicht vernachlässigen, aber man kommt nicht umhin, sich den Kontext genauer anzusehen, in dem Heidegger seine entsprechenden Gedanken entfaltet hat. Borries hat das offenbar nicht sehr gründlich getan, und das bringt ihn in Schwierigkeiten. Denn seine Dichotomie aus Ent-Werfen und Unter-Werfen lässt sich von Heidegger nicht herleiten, weil dort das Welt-Entwerfen immer schon Selbst-Unterwerfung ist (nämlich Unterwerfung des Daseienden unter das Sein). Heidegger, dem es bekanntlich nicht um Design, sondern um Dasein ging, sprach von der »Weltoffenheit des Daseins« (Heidegger 1927: 137) und bestimmte diese antagonistisch. Der daseiende Mensch stelle sich in seiner »Stimmung« (ebd.: 134) (seiner jeweiligen Gestimmtheit) der »Betroffenheit« durch die »Widerständigkeit« und der »Bedrohlichkeit des Zuhandenen« (ebd.). Indem der Mensch seiner so gearteten »Befindlichkeit« (ebd.) innewerde, öffne er sich dem Dasein und erschließe sich die Welt, derer er bedarf. »In der Befindlichkeit liegt existenzial eine erschließende Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann.« (Ebd.: 137 f.) Wenn der Mensch sich für die Welt öffne, erschließe sich aber nicht nur die Welt dem Menschen, sondern das Dasein (also der einzelne Mensch) erschließe sich selbst. »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen«, schreibt Heidegger, »ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.« (Ebd.: 134)4 Für Heidegger ist Dasein ›In-der-Welt-Sein‹ (Heidegger 1929: 39, Fußnote). Doch was ist für ihn die Welt? Nicht das Sein selbst, sondern vielmehr ein Produkt des einzelnen, daseienden Menschen. Welt ist die Totalität dessen, worin der finale Daseinsgrund besteht, heißt es in Heideggers Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« aus dem Jahre 1929, in dem das Motiv des Weltentwerfens eingeführt wird. Heidegger entwickelt diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles und Kant. Verknappt – und dadurch hoffentlich verständlich – wiedergegeben: Indem

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»In der Stimmung wird das In-der-Welt-Sein, das das Dasein ›zu sein‹ hat […], hinsichtlich seines Vor- und Aufgegebenseins erschlossen; im Entwurf ›wirft‹ sich das Dasein in das vorgegebene Zu-Sein als sein Worumwillen und versteht es als ›Möglichsein‹. In der Befindlichkeit wird gleichsam die Notwendigkeit dieses Möglichseins erschlossen, im Entwurf wird es als Möglichsein erschlossen.« (Tugendhat 1970: 305.)

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ich mir als existierender Mensch vor Augen führe, worin der letzte Grund meines Daseins besteht, gebe ich mir ein Ziel und dem Sein etwas vor. Ich überschreite das Dasein; indem ich ein Weltbild entwerfe, mache ich mir sozusagen ein vorläufiges Bild vom Sein. Das tue ich aber nur, damit das Sein selbst sich mir offenbart und mir zu verstehen gibt, was es wirklich ist. Bei Heidegger (1929: 39) klingt das so: »Der Entwurf von Welt […] ist […] auch immer Überwurf der entworfenen Welt über das Seiende. Der vorgängige Überwurf ermöglicht erst, daß Seiendes als solches sich offenbart. Dieses Geschehen des entwerfenden Überwurfs, worin sich das Sein des Daseins zeitigt, ist das In-der-Welt-Sein.« Das Sein gibt sich eine zeitliche Form, indem es sich gleichsam als Dasein inkorporiert; es nimmt nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich Gestalt an. Ich wiederum gehe als Seiender in die Welt, in meine Welt, ein – nur um sie und mich selbst zu überschreiten und dadurch seiender zu werden. Erst dann gewinne ich die »Möglichkeit der Wahrheit des Verstehens von Sein«, und solches Verstehen ist für Heidegger (1929: 40) nichts anderes »als enthüllendes Entwerfen von Sein«. »Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne«, verkündet Heidegger (1929: 54) am Schluss seiner Überlegungen. »Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.« (Ebd.) Transzendenz ist hier ein Bereich, aus dem sich das Sein höchstselbst meldet. Es erteilt mir, dem bloß Seienden (sofern ich denn imstande bin, dies zu vernehmen), den Bescheid, meine »Ichheit« dranzugeben. Ich befreie mich im Entwurf lediglich von meiner überheblichen Haltung gegenüber dem Sein. Solches Entwerfen zielt per se nicht auf Selbstermächtigung, Befreiung oder gar Emanzipation, sondern auf Demut. Unterwerfung ist das Ziel des heideggerschen Entwurfs und zugleich sein letzter Grund. Aus der Perspektive der kritischen Theorie lautet die Quintessenz der Heidegger-Lektüre: Die Existenzialontologie supponiert konkreter, je besonderer Subjektivität eine vermeintlich übergreifende Allgemeinheit des Ontologischen. Heideggers Trick, heißt es in Karl Heinz Haags Frankfurter Habilitationsschrift, ist die »Ersetzung des philosophierenden Subjekts durch das Wort ›Dasein‹« (Haag 1960: 80). Im einzelnen Dasein inkorporiere sich gleichsam das allgemeine Sein und damit werde das »›Sein‹ zum ›Wesen des Menschen‹« (ebd.) gemacht. Wenn dann vom »Denken des Seins« (Heidegger 1949: 7) die Rede ist, soll das sowohl ein Denken des allgemeinen, überzeitlichen Seins selbst sein, als auch das Nachdenken des Menschen. Dieser wiederum ist für Heidegger als einzelner Mensch – nicht

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etwa geschichtlich, sondern vielmehr »geschicklich« (ebd.) – eine Besonderung des allgemeinen Seins und als solche denkt er über das Sein im Allgemeinen nach. »Was allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen angeblich völlig unabhängigen ›Sein‹ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung würde es in die Dialektik von Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade ausgenommen sein soll.« (Haag 1960: 81) Was das Sein an sich selbst ist, wird von Heidegger niemals bestimmt. Es gilt ihm als das Ontologische, welches etwas grundsätzlich anderes sein soll als das Ontische (das bloß Seiende). Zur Bestimmung des Seins finden sich bei Heidegger nur tautologische Aussagen. Sie sollen verbergen, dass »das Sein« nichts anderes ist als das Ergebnis einer abstrakten Reflexion des denkenden Subjekts auf seine Objekte, also auf konkret Seiendes. Ein konkret Seiendes (das Subjekt) reflektiert auf anderes konkret Seiendes (die Objekte), abstrahiert jedoch von der beiderseitigen Konkretion. Die inhaltslose Formel, die dabei herauskommt, wird ausgegeben als »ein ontologisch Erstes, auf das Subjekt und Objekt zu reduzieren wären« (ebd.: 82). Aber das Sein ist »in Wahrheit selber Produkt, nämlich das letzte Überbleibsel der philosophierenden Abstraktion« (ebd.: 83). Es hat keine »Realität«, es ist lediglich »eine Abstraktion des Bewußtseins von seinem Inhalt, des Subjekts vom Objekt« (ebd.). Dadurch wird bei Heidegger »der Anschein erzeugt«, schreibt Haag (1960: 83), »als gewinne hier der Mensch, das ›Dasein‹, eine Beziehung zu einem von ihm unabhängigen ›Sein‹.« Was bei Heidegger als reine Unmittelbarkeit erscheint, ist also tatsächlich »ein durch und durch Vermitteltes« (ebd.). Er verabsolutiert diese Vermittlungsbestimmung als ontologische Differenz und gibt sie als reine Identität aus. »Identität und Nichtidentität« sind bei Heidegger vermeintlich »radikal getrennt«; ein »Werden« oder eine »Dialektik« von »Subjekt und Objekt« (ebd.) gibt es angeblich nicht. Mein Fazit: Heideggers (1929: 47) Konzept des »Weltentwurfs« taugt nicht als Grundlage einer politisch-emanzipatorischen Designtheorie. Denn es mündet darin, dass die »Endlichkeit der Freiheit des Daseins« (ebd.) bewiesen werden soll. Darin besteht nämlich für Heidegger das ›Gründen der Freiheit‹ (vgl. ebd.), und das ist etwas substanziell anderes als der ›grundlegende, emanzipatorische Akt‹, für den sich Borries (2016: 11) begeistert. Wenn er das mit Adornos Theorie der kulturindustriellen Unterwerfung der Menschen zusammenbringen will, bewegt er sich auf ganz dünnem Eis. Der Imperativ der Kulturindustrie lautet Adorno (1963: 343) zufolge: »du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken.« Aus kulturindustriellen Produkten und Formaten spreche die latente Drohung, dass ausgegrenzt werde, wer nicht mitmacht und sich anpasst. »Das Einverständnis, das sie [die Kulturindustrie] propagiert, verstärkt blinde,

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unerhellte Autorität.« (Ebd.: 344) Vier Jahre vor dem großen »Erwachen«, der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, schwärmte Heidegger (1929: 54), dass der bloß daseiende Mensch »im Mitsein« seine »Ichheit darangeben« solle, »um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen«. Aus Adornos (1963: 344) Perspektive gehört solches Philosophieren zur Frühgeschichte jener kulturindustriellen »Beförderung und Ausbeutung der Ich-Schwäche, zu der die gegenwärtige Gesellschaft, mit ihrer Zusammenballung von Macht, ihre ohnmächtigen Angehörigen ohnehin verurteilt«. Heideggers komplementäre Anordnung von Geworfenheit und Entwurf erweist sich als autoritative Verklammerung, aus der sich Menschen, die als »Dasein« zu Exemplaren des »Seins« depotenziert sind, schlechthin nicht befreien können. Im Ent-Wurf können sie sich allenfalls ihres Ichs entledigen; dass sie sich zu selbstbestimmten Subjekten machen, ist in der existenzialontologischen Lehre nicht vorgesehen. Heideggers Konzept des Weltentwerfens, das er nicht erst als praktizierender Nationalsozialist, sondern bereits kurz nach Sein und Zeit publiziert hat, steht den emanzipatorischen politischen Intentionen der Borries’schen Philosophie des Entwerfens diametral entgegen.

Designphilosophie und die »utopische Funktion« des »transzendierenden Ornaments« Ein Denker, der in Borries’ umfangreicher Galerie philosophischer Gewährsleute nicht vorkommt, wäre vielleicht hilfreich gewesen, um das missliche Sowohlals-auch seines sozialen Designbegriffs zuzuspitzen – mit Blick auf den inneren Widerspruch, der in der professionellen Tätigkeit des Entwerfens steckt. Mit Ernst Bloch kann man nämlich recht präzise zwischen ideologischen und utopischen Momenten des Designs unterscheiden. Bloch hat in der Philosophie des deutschen Idealismus (zu dem er nicht nur Hegel und Fichte zählt, sondern auch Kant) einen subjektiven Faktor am Werk gesehen, der auf den historischen Materialismus und auf eine ihm adäquate Praxis deute. In Blochs Terminologie ist das der »Wunschund Willenszug […] im Überschreiten, in den Überholungen« (Bloch 1954: 167). Im deutschen Idealismus werde – wenn auch in abstrakter Gestalt – das imaginäre Transzendieren auf philosophische Begriffe gebracht, in denen »das Subjekt die Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene sich vorbehält« (ebd.: 168). Die Praxistheorie von Marx knüpfe daran kritisch an. Dort sei der subjektive Faktor »mit dem objektiven Faktor der gesellschaftlichen Tendenz, des Real-Mögli­chen vermittelt« (ebd.). Die »utopische Funktion« (ebd.: 161) habe sich in revolutionärer Tätigkeit konkretisiert. In der Philosophie des deutschen Idea-

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lismus hingegen sei der subjektive Faktor auf halben Wege steckengeblieben. Sein gedankliches Überschreiten sei, verglichen mit der revolutionären Herausarbeitung des gesellschaftlich Neuen, »täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung« (ebd.: 169). Gleichwohl seien die gedanklichen »Vervollkommnungs- und Bedeutungsfiguren« (ebd.), die aus derartiger Ideologie hervorgehen, von hoher Relevanz für ein antizipierendes Bewusstsein. An diesem Punkt könnte eine kritische Theorie des Designs an Bloch anknüpfen (ohne sich die Aporien seiner leninistischen Theorie der Revolution einzuhandeln). In Momenten der ideologischen Intention von Philosophie und Kunst, meinte Bloch, sei eine zwar »uneigentliche«, aber keineswegs gänzlich unauthentische »Antizipation des Besseren« (ebd.) aufbewahrt. Daher sei die »intendierte Verschönerung des Vorhandenen […] immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken« (ebd.). »Die Frage ist nun«, schrieb Bloch, »ob und inwieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt.« (Ebd.) Dies gilt über die Philosophie hinaus zum einen für die Architektur, die Bloch im Prinzip Hoffnung betrachtet, und zum andern für das Design, nämlich im Sinne des Gestaltungsdiskurses in Blochs Geist der Utopie. Dieser Gestaltungsdiskurs spürt der eigentümlichen Bewegung nach, in der angewandte Kunst, in einer Art »Vorspiel« und »Korrektiv«, die Grenze »zur transzendierenden Form« und zum »mehrdimensionalen, transzendierenden Ornament« (Bloch 1923: 29; siehe Bloch 1954: 819–872) erkundet und sich anschickt, sie zu überschreiten.

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Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung*1 Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung

In der Diskussion über eine wissenschaftliche Fundierung der Praxis von Gestalterinnen und Gestaltern wird seit Langem zwischen einem engen und einem erweiterten Begriff von Design unterschieden. Claudia Mareis (2014: 41) spricht zutreffend von einer »Entgrenzung des Designbegriffs«. Bruno Latour hat sich vor einigen Jahren – mit einer Hommage an Peter Sloterdijk, der seinerzeit der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe als Rektor vorstand – in diese Debatte eingebracht. Latour arbeitet mit einem sehr weiten Designbegriff, der jegliche gestalterische Aktivität umfasst – nicht bloß die Gestaltung »alltäglicher Objekte« des Gebrauchs, sondern überhaupt gestaltende Eingriffe in »Städte, Landschaften, Nationen, Kulturen, Körper, Gene und […] die Natur selbst« (Latour 2009: 357). Dieser Designbegriff, meint der Technik- und Wissenschaftssoziologe, sei ein »wirksamer Ersatz für die Begriffe des Machens, Bauens und Konstruierens« (ebd.: 367). Der homo faber habe als Hersteller, Bauherr und Konstrukteur zur Überheblichkeit tendiert; postmoderne Designer seien in dieser Hinsicht viel bescheidener. Latour *

Ursprünglich ein Vortrag bei der Tagung Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus: Sozialkritik und Ethik in der marxistischen Tradition des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar am 10. Januar 2016. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danke ich Christian Bauer, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle und Ilse Schütte-Kronauer. Der Text erschien unter dem Titel »Ideologie und Utopie des Designs. Latours Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung« in: Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus. Modelle kritischen Denkens, hrsg. v. Rüdiger Dannemann, Henry Pickford u. Hans-Ernst Schiller, Wiesbaden: VS, 2018, S. 255–272. Der Obertitel des Aufsatzes war als Hommage an das gleichnamige, wegweisende Buch von Gert Selle aus dem Jahr 1973 gedacht. Eine frühere Fassung publizierte Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 315 (1/2016), S. 68–81. – Teile des Textes wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign. Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung aufgenommen, das ich gemeinsam mit Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 205–227).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_3

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beschreibt die Differenz zum modernistischen Designverständnis im Stil der Rede von männlichen und weiblichen Tugenden. Die Moderne habe ihre Legitimation aus den Narrativen »Emanzipation, Loslösung, Modernisierung, Entwicklung und Beherrschung« geschöpft (ebd.: 357). Die postmodernen Narrative »Bindung, Zuwendung, Verwicklung, Abhängigkeit und Fürsorge« (ebd.: 357) würden hingegen auch das Verständnis von Gestaltung verändern. Latour meint, dass dem Design eine eigene Makro-Ethik innewohnt: Für das Weiterleben der Menschheit sei es wichtig, von »Design zu sprechen und nicht von Konstruktion, Schöpfung oder Herstellung« (ebd.: 369). Design sei »einer der Begriffe«, »die das Wort ›Revolution‹ ersetzt haben« (ebd.: 358). Was ist damit gemeint? Was soll aus der vollmundigen Gegenüberstellung von Design und Revolution für das Verständnis und die Praxis von Gestaltung folgen? Um dem nachzugehen, werde ich Latours Postmodernismus mit einer kritischen Designtheorie konfrontieren. Zunächst diskutiere ich Latours Lesart von Ethik und Humanismus (1). Dann werfe ich einen Blick auf seine Darstellung der Sloter­dijkKritik von Habermas (2) und rekapituliere Aspekte aufklärerischer Rationalität (3). Am Schluss skizziere ich das Programm eines »stellvertretenden Designs« mit sozialem Antizipationspotenzial (4).

Latours Lesart von Ethik und Humanismus Bekanntlich bezeichnen postmoderne Denkerinnen und Denker die Epoche der industriell-kapitalistischen, wissenschaftlich-technisch gestützten Produktionsweise nicht selten als die Moderne; diese wiederum identifizieren sie mit der okzidentalen Denkbewegung der Aufklärung. Aus postmoderner Sicht herrschte, dieser Erzählung zufolge, in der Tradition der Aufklärung die Überzeugung, dass Dinge grundsätzlich substanziell veränderbar und Handlungsspielräume für Menschen unendlich erweiterbar sind. Das Programm sei die menschliche Emanzipation gewesen: Befreiung von natürlichen und sozialen Zwängen durch Beherrschung der Dinge. Aus Latours Sicht liegt dem die irrige Annahme zugrunde, dass Gegenstände von Erkenntnis und praktischer Bearbeitung Tatsachen sind. Stattdessen sei nach dem Ende des Projekts der Moderne klar geworden, dass Fakten nichts schlechthin Gegebenes sind. Das Bemühen um Dominanz über die dem Subjekt faktisch gegenüberstehenden Objekte habe in die Irre geführt. Befreiung und Entfesselung würden daher durch andere »Werte« ersetzt: Bindung, Vorsicht, Behutsamkeit im Umgang mit den Dingen.

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Insofern habe Design ethische Implikationen, meint Latour (2009: 357): Es mache Objekte zu Dingen, und Dinge seien »uns angehende Sachen«. Dies impliziere eine Wertorientierung, nämlich Behutsamkeit. Sie gehe aus den veränderten Konzepten von Objekten und Handlungen hervor. Statt der Fiktion »neutraler Tatsachen« anzuhängen, seien wir bemüht, »uns angehende Sachen« (ebd.: 360) zu erkennen. Durch die »Transformation von Objekten in Zeichen« werde zudem eine neue »Aufmerksamkeit für Bedeutung«, für die »Interpretation« und »Exegese« der Dinge und für die »Sprache der Zeichen« (ebd.) möglich. Durch Hermeneutisierung und Semiotisierung der Objektwelt könne man erkennen, dass Objekte keineswegs starre Gegebenheiten sind, sondern Projekte. Und insbesondere »Artefakte werden begreiflich als komplexe Versammlungen widersprüchlicher Sachverhalte« (ebd.). Für diese antisubstantialistische Sicht hätte man sich auf David Humes (moderne) Unterscheidung zwischen den relations of ideas und den matters of fact berufen können, also auf den Unterschied zwischen »Vorstellungsbeziehungen und Tatsachenverhältnissen« (Horkheimer 1987: 434). Doch anders als bei Hume geht es bei Latour nicht um die skeptische Reduktion der Frage »nach der Gültigkeit der Naturwissenschaften« (ebd.: 436) auf das Subjekt. Denn Latour will nicht nur die Objekt-Kategorie überwinden, er möchte auch die Konzeption des Subjekts als Fiktion enttarnen. Dafür sollen methodologische bzw. epistemologische und ontologische Überlegungen eine Verbindung eingehen. Der Fetischcharakter der Tatsachen in den empirischen Wissenschaften wird hinterfragt. Dieser sei hervorgegangen aus einer vermeintlich bloß »erfundenen Differenzierung von Akteuren und Objekten« (Packard 2015: 367). Latours neuartige Beschreibung der natürlichen und sozialen Welt mit dem Modell hybrider Netzwerke, bestehend aus Akteuren unterschiedlichster Provenienz, richtet sich sowohl gegen den Tatsachenfetischismus wie gegen die – Latour zufolge fälschlicherweise statuierte – Unterscheidung zwischen Moderne und Prämoderne. Diese doppelte Entwindung soll es erlauben, »Menschen, Dinge und Tiere zunächst ohne Unterwerfung unter Hierarchisierungen von Mensch- und Geistbegriffen zu denken« (ebd.). Dabei wird von der Akteur-Netzwerk-Theorie aber sogleich wieder eine neuerliche Mystifikation erzeugt. Die universalisierende Rede von allerlei »Aktanten« wird zum begrifflichen Schema, hinter dem die »hochtechnologische Verdinglichung« (Haug 2015: 333) verschwindet; also die Warenform, die Menschen, Tiere, natürliche Ressourcen und Artefakte zu Momenten im Verwertungsprozess von Kapital macht. Latour verbindet Differenzkult und Entdifferenzierung über sein Anknüpfen an Heidegger (Loheit 2015: 340 ff.). Neoontologisch rekurriert er mit Heidegger auf das Althochdeutsche: Die Dinge werden als »Versammlungen« bezeichnet (Latour 2009: 371) und die Objekte als »Zusammenkünfte«, denn sie seien keine Tatsachen, sondern etwas, das ›uns angeht‹; etwas, um das »wir uns kümmern

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müssen« (ebd.: 360). Weil Dinge nicht darauf reduziert werden dürften, dass sie Produkte menschlicher Arbeit sind, habe man sich (generell, aber insbesondere als Designerin und Designer) vom Konzept der Neuschöpfung und der absoluten Anfänge und Ursprünge zu verabschieden. Gegen die Hybris der säkularisierten Vorstellung einer creatio ex nihilo – die übrigens schon Adorno (1965), unter ganz anderen Voraussetzungen, bekämpft hat – macht Latour geltend, dass Design transitorisch ist: Es sei »immer etwas Abhelfendes«, nämlich eine »nachfolgende Aufgabe« im besten Sinne, die darin besteht, etwas, das »stets […] bereits […] da« ist, »lebendiger, kommerzieller, verwendbarer, benutzerfreundlicher, annehmbarer, nachhaltiger und so weiter zu machen« (Latour 2009: 361). Damit soll die inhärente Ethik des Designs zu Tage treten: Wenn es keine Tatsachen gibt, sondern nur Dinge und Kombinationen von Dingen und Lebewesen, gelte die moderne Dichotomie von Tatsachenfeststellungen und Werturteilen nicht mehr. Vielmehr werde klar, dass Design per se eine normative Dimension hat. Wenn alles designt ist, sei die Frage unabweisbar, ob etwas »gut oder schlecht designt worden ist« (ebd.: 362). Dann werde klar, dass es keine normfreie Faktizität gibt. Alles, was uns umgibt, ist stets auch von uns mitproduziert und daher bewertbar und bewertungsbedürftig. Latours Unbehagen am Dogma der Dichotomie von Sein und Sollen, die sich seit Hume und Max Weber eingebürgert hat, ist nachvollziehbar. Aber um seine Design-Ethik einschätzen und bewerten zu können, muss man klären, was er überhaupt unter »Moderne« versteht. Latour zufolge ist diese Epoche durch die philosophische Alternative »Emanzipation« oder »Bindung« (ebd.: 365) gekennzeichnet. Dahinter steht, so würde ich philosophiegeschichtlich etwas präziser formulieren, auf der einen Seite die revolutionäre Linie der kritisch-materialistischen Philosophie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Und auf der anderen Seite stehen die gegenaufklärerische Philosophie des 19. und der Neokonservatismus des 20. Jahrhunderts. Während jene den Fortschritt propagiert hätten, bilanzieren diese seine Kosten. Latour (2008: 22) schließt den »Modernismus« heideggerisch mit dem »Humanismus« kurz; Moderne werde »oft über den Humanismus definiert«, schreibt er, und dabei würde »die gleichzeitige Geburt der ›Nicht-Menschheit‹« vergessen, nämlich »die der Dinge oder Objekte oder Tiere«. Das soll bedeuten, dass Dinge, Objekte und nichtmenschliche Lebewesen ihren ontologischen Status nur vermittelt durch eine differenzproduzierende Selbstdefinition des Menschen zugewiesen bekommen, der ihr So-Sein depotenziert, indem er sie sich verfügbar macht. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Nichtmensch hat demnach kein fundamentum in re. Der

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»Postfundamentalismus«1 verweigert der metaphysischen Unterscheidungslehre die Gefolgschaft. Heidegger (1947: 19) hatte behauptet, die Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale in der antiken, christlichen und neuzeitlichen Philosophie, bis hin zum Marxismus und Existenzialismus, würde das wahre Wesen des Menschen verkennen, nämlich seine Sendung als »Hirt des Seins«. Nachdem die Alliierten die deutsche Wehrmacht sowie ihre Anhänger und Unterstützer besiegt hatten, plädierte Heidegger für einen neuen, demütig daherkommenden Humanismus, der das Menschsein in den Dienst des Seins als solchem stellt. Er sollte den seinsmäßig unbehausten Menschen der Moderne in die Heimat jener Ordnung zurückführen, die das Seinsgeschick ihm bestimmt. – Heraus aus Heimatlosigkeit und Entfremdung, zurück zum Sein: Heideggers zugleich atheistische und pastorale Gedankenführung ähnelt »der christlichen Auffassung der menschlichen Geschichte als dem Abfall von Gott und der Rückkehr zu Gott« (Rockmore 2000: 171). Latour übersetzt dies in Wissenschaftstheorie. Damit knüpft er an die Wissenschaftskritik der 1980er Jahre an und verarbeitet Motive, die – zur gleichen Zeit wie Heideggers Anklage der Seinsvergessenheit, aber mit völlig anderer Stoßrichtung – von Horkheimer und Adorno (1947; Horkheimer 1947) formuliert worden sind. Für Latour ist die Selbstüberhebung der Menschen die Signatur der Moderne und Prometheus deren mythologische Allegorie. Aus seiner Sicht sind »Technik und Wissenschaft« für die Human-Modernisten »Träger unbestreitbarer Notwendigkeiten« (Latour 2009: 368) im Dienste der Menschen. Sie reduzieren Dinge auf Tatsachen und tun den Objekten Gewalt an. Für Anti-Modernisten hingegen sind die Dinge keine faktischen, materialen Objekte; dazu werden sie erst durch modernen Technokratismus. Alfred Schmidt (1977: 65) hat einmal wohlwollend resümiert: »Dass die Hybris des Subjekts gerade in den – allemal metaphysisch begründeten – Humanismen waltet, zählt zu den wichtigsten Resultaten Heideggers.« Schmidt sah hier einen Berührungspunkt mit der Theorie der Naturbeherrschung von Horkheimer und Adorno. Die besagt bekanntlich, dass Herrschaft über Natur nicht per se zu mehr Freiheit führt, weil sie, in Gestalt sozialer und ökonomischer Herrschaftsapparate, die innere und äußere Natur der Menschen unterdrückt. Schmidt ist zuzustimmen, wenn er schreibt: »Soll Naturbeherrschung ihrerseits beherrscht werden und menschliche Geschichte aufhören, verlängerte Naturgeschichte zu sein, so bedarf es eines neuen Denkens, das die Dinge ausreden lässt.« (Ebd.: 65) Aber dabei muss 1

Siehe dazu Loheit 2015 (340 ff.), der das Buch Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft von Oliver Machart (Frankfurt/M. 2013) diskutiert, in dem Heideggers metaphysikkritischer Ansatz auf die Soziologie übertragen wird.

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auf alle Fälle zwischen dem metaphorischen Sprachgebrauch der kritischen Theorie und der »ontologischen Gleichschaltung aller Dinge und Lebewesen« (Haug 2015: 326) unterschieden werden. Wenn Horkheimer, Adorno oder Benjamin sich dem Ausdruck der Dinge zuwandten, taten sie dies, um an den Dingen die Spuren ihrer Zurichtung durch die Menschen wahrzunehmen. Sie suchten, mit semiotischem Blick, nach indexikalischen Zeichen; sie wählten die Darstellungsform der Allegorie als Übersetzungsmedium für nichtsprachliche Ausdruckscharaktere. So wird die »Sprache« der Dinge lesbar wie ein Text.2 Latour hingegen phantasiert von einem »Parlament der Dinge«, in dem die Rechte nichtmenschlicher Wesen ausgehandelt werden, also die vermeintlichen Rechte all jener vernetzten »Aktanten«, unter denen sich Latour auch Mischwesen aus Mensch und Maschine vorstellt. So wird aus einer richtigen Einsicht, die dabei helfen könnte, dass wir lernen, ›die Dinge ausreden zu lassen‹, am Ende eine Variante des Obskurantismus, bei dem das Konzept des Subjekts abstrakt negiert wird. Die Wurzeln dieser Negation scheinen tief in Latours Heidegger-Rezeption verhaftet. Heideggers ›neuer Humanismus‹ »verwirft […] alle Subjektauffassungen, die zu ›Biologismus‹ und ›Pragmatismus‹ führen« (Rockmore 2000: 171). Aber sein Antisubjektivismus ist autoritär. Karl-Heinz Haag hat das im letzten Kapitel der Kritik der neueren Ontologie herausgearbeitet. Sein Ergebnis: »Man muß die Heideggersche Fundamentalontologie als den Versuch bezeichnen, das Wissen einzuschränken, um für ein archaisches Denken Platz zu schaffen.« (Haag 1960: 93) Ebenso wie »der moderne Positivismus […] verkündet auch sie dem Individuum einfach, daß das Abstrakte für konkret zu gelten habe, daß es die Wahrheit sei. Sie dient so objektiv der Negation der Menschlichkeit.« (Ebd.)3 »Dinge, die sich 2 Scott Lash (1999) hat in seiner Auseinandersetzung mit Latour betont, dass es einer materialistisch inspirierten Deutung der Dingwelt um »Objektsuche als allegorische und metonymische Praxis« geht. Methodisch sei dabei so vorzugehen, dass »wir Objekte reflexiv der zeitgenössischen Kultur entnehmen und dann in unsere eigene allegorische Ordnung wieder einbetten, eine Ordnung, die nicht- und postnarrativ ist. Eine Ordnung der Suche, des Verfolgens […]. Es hat mit dem zu tun, was Lefèbvre einen ›Weg‹ nennt, einen materiellen Weg, einen indexikalischen und taktilen Weg, dem wir folgen, den wir dann verlassen und wieder aufnehmen. Vielleicht produzieren wir auf diese Weise Sinn und Bedeutung in der zeitgenössischen Kultur.« In ironischer Zuspitzung gegen Latour formuliert Lash sein Resümee: »Wir Nichtmodernen sind nicht Vermittler, sondern materialistische ›Verfolger‹, Spurensucher. Wir finden nicht Kant’sche Regeln, sondern ›Wege‹. Wir schaffen unsere Hybriden nicht durch Vermittlung als Analogie-Maschinen, sondern als ›Verfolger‹, als AllegoristInnen.« 3 Haags damaliger Kollege Hermann Schweppenhäuser hat den autoritären Gestus von Heideggers Ermächtigungserklärung der Sprache über die sprechenden Subjekte kritisiert. »Die Sprache ist das Haus des Seins«, heißt es in Heideggers Brief über den Humanismus.

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versammeln« und »uns angehen«: Das ist Latours postmoderne Neuausgabe der neo-ontologischen Anweisung, dass »das Abstrakte für konkret zu gelten habe«. Wenn Latour unterstellt, Humanismus und Moderne seien identische kulturelle Bewegungen, dann übergeht er, auf Heideggers Spuren, die Unterschiede zwischen dem modernen wissenschaftlichen Selbstverständnis und der geistesgeschichtlichen Selbstgenügsamkeit des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert, als die gefestigten Eigentums- und Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft offenbar dazu geführt hatten, dass die Radikalität der Reflexion der Totalität von Natur und Gesellschaft im Medium einer philosophischen, kritischen oder gar revolutionären Vernunft nachließ.

Latours Darstellung der Sloterdijk-Kritik von Habermas Für Latour liegt der Fehler des ›alten‹ Humanismus ebenso wie für Heidegger darin, dass er in traditioneller Metaphysik verhaftet ist. Doch Latour scheint dabei zu übersehen, dass die Philosophie der Moderne sich von der traditionellen Metaphysik abgesetzt hat. Dazu passt es, wie er den Frontverlauf der Kontroverse zwischen Habermas (2001; siehe Quante 2015) und Sloterdijk (1999), anlässlich von dessen Überlegungen zu Gentechnologie und Menschenzüchtung, neu definiert. Habermas’ Haltung erscheint bei Latour als Kritik eines modern-humanistischen, aber skrupulösen Philosophen am skrupellosen Machbarkeitsdenken der Moderne. Doch die Kritik übersehe, dass der Problemkern die übergeordnete Differenz zwischen den Subjekten (den Menschen) und den Objekten (den Sachen) ist. »Habermas entgeht«, schreibt Latour (2009: 368), »dass Humanisten, wenn sie Menschen anklagen, ›Menschen wie Objekte zu behandeln‹, überhaupt nicht merken, dass sie selbst die Objekte unfair behandeln. Ein Humanist kann sich nicht vorstellen, dass Objekte Dinge sein können […]. Humanisten beschäftigen sich allein mit Menschen; alles Übrige ist für sie bloße Materialität oder kalte Objektivität.« Sloterdijk hingegen erscheint bei Latour als Kritiker des falschen, gewalttätigen Objektivismus: Er »behandelt Menschen nicht als objektive Tatsachen, wie es eben die Humanisten tun. Sondern er behandelt sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen als ›Angelegenheiten von großer Wichtigkeit‹, mit denen sorgsam umgegangen werden muss« (Latour 2009: 368). Nicht Subjekte sprechen und denken, sondern die Sprache selbst. Heidegger behauptet, dass »deren Wesen, ganz wie bei mythischen Gottheiten, in ihrem Namen liege, welcher für alle Reflexion und Vermittlung tabu ist« (Schweppenhäuser 1958: 143).

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Latour denunziert die Verdinglichungskritik, die Habermas an der Gentechnologie übt, als Neuauflage der überlieferten Geringschätzung der Dinge, die den Menschen untergeordnet werden. Möglicherweise handelt es sich hier nicht um ein (ungewolltes oder gezieltes) Missverständnis, sondern um eine eigenwillige Habermas-Deutung; doch dies geht aus Latours Ausführungen nicht klar hervor. Wie dem auch sei: Es ist ganz sicher kein Geheimnis, dass Habermas die verständigungsorientierte Kommunikation zwischen Menschen und das nicht-repressive Verhältnis zu den Dingen sowie zur äußeren und inneren Natur zusammendenkt. Nicht, dass beides de facto zusammengehört. Letzteres ist nach Habermas vielmehr ethische Norm, aber zugleich auch Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation, die es explizit zu machen gilt. Gleichwohl bleibt Latours (2009: 369) Argument bedenkenswert, dass man in den Debatten über Eingriffe ins menschliche Genom und »posthumanistische[n] Cyborg-Träume« übersehen habe, dass die Wahrheit nicht auf einer der beiden Seiten stehe – also weder in der technowissenschaftlichen Optimierung von Mensch und Natur noch in deren Tabuisierung, sondern allein »in einer seltsamen Kombination von Bewahrung und Erneuerung« (ebd.: 370). Aber wird diese Einsicht wirklich erst durch einen neuen Designbegriff möglich? Einen, der im Wesentlichen darin besteht, das eliminierte Konzept der Revolution zu ersetzen? Ich denke nicht. Zur Begründung muss ich allerdings etwas weiter ausholen. Dabei stütze ich mich auf ideen- und sozialgeschichtliche Studien von Günther Mensching, Wolfgang Pohrt und Oskar Negt. Ich möchte zeigen, dass Latours Skizze des Paradigmenwechsels im Bereich von Gestaltung und Design wissenschafts- und sozialgeschichtlich auf tönernen Füßen steht.

Aufklärung und Rationalität der Moderne Wer die Pathologien der Moderne auf zuviel Vernunft zurückführt und dem Denken der Aufklärung anlastet, geht in die Irre. Der Begriff wissenschaftlicher und praktischer Vernunft war von 1789 bis 1918 (sowie in den anschließenden Jahren der künstlerischen Avantgarden, die ihn kritisch unter die Lupe nahmen) durch ein wohlbegründetes Vertrauen gekennzeichnet. Demnach könnte es gelingen, durch freie Forschung und ihre Kommunikation im öffentlichen Diskurs die Lebensverhältnisse für alle zu verbessern. Dazu galt es, den Fortschritt der Wissenschaften und ihre philosophische Reflexion in Einklang mit dem technischen Fortschritt der Produktion und Verteilung von Gütern zu bringen. »Die französische Aufklärung ist ein großes Beispiel für die Auseinandersetzung zwischen der Vernunft und den

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bis in das religiöse und politische Gebiet hinein vorgeschobenen mythologischen Blendwerken.« (Kracauer 1963: 56) Dass sich diese Täuschungen in der Moderne nicht einfach in Luft auflösten, hing bekanntlich mit spezifischen ökonomischen Faktoren zusammen. Der emphatische Vernunftbegriff der Aufklärung artikulierte »die Möglichkeit von Autonomie, die sich in solidarischem Dialog entfalten könnte« (Mensching 1971: 231). Gleichwohl waren die moralischen und politischen Überlegungen der Aufklärungsphilosophie nicht zureichend mit den »objektiven Interessenkonflikten in der Gesellschaft« (ebd.) ihrer Zeit und der sich anschließenden bürgerlichen Epoche vermittelt. Für die Denker der Aufklärung und ihre Nachfolger waren industrielle und soziale Revolution zwei Seiten einer Medaille. Es galt, eine veraltete politische Ordnung zu stürzen, die den Fortschritt von Naturerkenntnis und Naturbeherrschung zugunsten aller Menschen blockierte, weil sie sich neusten Erkenntnissen über »Moral, Religion, Handel und Politik« (Pohrt 1974: 57) verweigerte. Der gemeinsame Horizont waren vernünftig geordnete politische und soziale Zustände: Planung statt Willkür und chaotischer Kampf der Interessen (ebd.: 58). Der aufklärerische Begriff der Vernunft war universal, er verknüpfte naturwissenschaftliche Forschung mit der Erkenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten. Wissenschaftlicher und politischer Fortschritt sollten sich wechselseitig bedingen. Was Vernunft als wahr erkennt, muss auch praktisch (also politisch und gesellschaftlich) realisiert werden. Der natürliche und soziale Lebenszusammenhang im Ganzen war durch den Typus der Rationalität, den das aufstrebende Bürgertum verkörperte, zu begreifen und zu beherrschen (ebd.: 46). Dass sich die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Produktions- und Eigentumsverhältnissen etablierte, war insofern eine Bedingung für die relative Emanzipation aller. Sie eröffnete einen Möglichkeitsraum für die tatsächliche Emanzipation der gesamten Menschheit durch bewusste Koordination des Handelns – und damit die Perspektive eines Zustands nach der bürgerlichen Gesellschaft. Doch schon bald artikulierte sich die Erfahrung, dass der umfassende Vernunftbegriff zerfällt und die wissenschaftlichen Disziplinen auseinanderbrechen. Mit dem politischen Siegeszug des Bürgertums wurde die Verbindung von wissenschaftlicher und politisch-praktischer Vernunft verabschiedet. Philosophie erhob nicht mehr den Anspruch, Erkenntnisse verschiedenster Wissensbereiche zu vermitteln. Die revolutionäre Perspektive, soziales Handeln vernünftig und planvoll in fortschrittlichem Sinne zu gestalten, kam abhanden. Die wissenschaftlichen Teildisziplinen wurden »Elemente eines Betriebes, der nicht von einer universellen Vernunft, sondern von einer staatlichen Anstalt und teilweise schon von der Industrie zusammengehalten wird« (ebd.: 47). Gefragt sind seither kontextlose Einzelerkenntnisse und Forschungen, die auf aktuelle Erfordernisse der industriellen Produktion angewendet und wirtschaftlich verwertet werden

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können. Die Perspektive einer gesellschaftlichen Organisation des Wissens ging verloren. Sie wurde nicht mehr gebraucht, um den gesellschaftlichen Reichtum zu vermehren und seine private Aneignung sicherzustellen. Die entsprechende Wissenschaftstheorie hat Auguste Comte mit der Begründung des Positivismus formuliert: Religion und Metaphysik haben ihre Legitimation verloren, nur die Fakten sollen gelten, denn das gesellschaftliche Leben folgt ähnlichen Gesetzen wie die Natur (Negt 1974: 29 ff.). Comtes Soziologie ist eine Naturwissenschaft der Gesellschaft. In der Gegenbewegung zur »positiven« Tatsachenwissenschaft zog sich die Philosophie vielfach darauf zurück, Werte und Ideen aus der Überlieferung des Neuhumanismus zu beschwören – oder zu problematisieren.4 So wie Heidegger (1947: 38), der feststellte, dass »der in das Massenwesen ausgelieferte Mensch der Technik« »nach einer verbindlichen Anweisung« und nach »Bindung« verlange, die ihm die Technik aber nicht geben könne. Auch Latour grenzt sich vom Positivismus ab, wie ja schon angesichts seiner eingangs erwähnten Kritik des Tatsachen-Konzepts deutlich geworden ist. Er beschwört wie Heidegger die »Bindung«, aber er thematisiert nicht, wie etwa Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, den konstitutiven Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Wissenschaftssystem. Latours Überlegungen zum postmodernen Design, das nicht mehr auf Wachstum und Innovation fixiert ist, suchen nach dem Ausweg aus der Krise der Moderne, und die führt er auf die fatale Fiktion des Schöpferischen zurück. Die Kreation aus dem Nichts gibt es nicht, so mahnt er; wir können (und sollten) immer nur Bestehendes überarbeiten. Das heißt für Latour: die Selbstüberhebung des Subjekts zurücknehmen, wie ein vorsichtiger Prometheus agieren. Wer den Geist der Aufklärung und der Moderne auf die Ideologie von Wachstumszwang und Expansion der Warenproduktion reduziert, greift aber zu kurz. Denn jener Geist ist zutiefst ambivalent. Latour scheint aufklärerisches Denken und technokratisch verkürzte Vernunft für ein- und dasselbe zu halten. Der Formulierung von Schmidt (1977: 65), dass »Glanz und Elend der Moderne […] im zwiespältigen Charakter von Subjektivität« beschlossen liegen, könnte Latour vermutlich zustimmen,5 aber wohl kaum meiner Folgerung daraus: Ich meine, es gilt erstens, diesen Zwiespalt dialektisch zu rekonstruieren und zweitens, den in 4

Am Ende dieser Linie steht die Klage über »die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen«, zu der die moderne Technik beiträgt, in der sich das »Wesen des Materialismus verbirgt« (Heidegger 1947: 27). 5 Latour (2008: 65) vertritt innerhalb des postmodernen Diskurses eine »nichtmoderne« Position, die (immerhin) eine »retrospektive Haltung« einnimmt, »die entfaltet, statt zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren«. Aufgrund dieser Haltung solle es möglich sein, »die Verfassung der Modernen« ebenso zu berücksichtigen, wie »die Populationen von

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seinen Widersprüchen verborgenen normativen Kern herauszupräparieren, der sich in der Epoche der Moderne zugleich manifestiert, verhüllt und ins Gegenteil verkehrt hat. Das heißt, es geht darum, die Dialektik der Aufklärung zu rekonstruieren – nicht darum, einen Dualismus zu konstruieren, in dem auf der einen Seite Humanismus, Aufklärung und Moderne stehen und auf der anderen die »politische Ökologie« (Latour 2009: 370) und ihr Design.

Zur kritischen Theorie des Designs Designtheorien bestehen aus explikativen Diskursen mit Begriffserläuterungen und normativen Diskursen, in denen Geltungsansprüche begründet werden (Schnädelbach 1977: 177 ff. und ders. 2003: 512). Als hermeneutische Theorien rekonstruieren sie Erfahrungsweisen kultureller Ausdrucksgestalten. Sie haben zudem semiotische und handlungstheoretische Aspekte. Zeichen und Artefakten liegen Kodierungen zugrunde. Sie beziehen sich auf Vergesellschaftungs-, Naturund Herrschaftsverhältnisse. Ihre Analyse muss in den Horizont der Auslegung reflexiv einfließen. Eine kritische Designtheorie6 ermittelt und beurteilt spezifische Leistungen und Grenzen ihres Analyseobjekts. Sie entwickelt Darstellung und Kritik ihrer Gegenstände gleichzeitig, betreibt also schon die Analyse als Kritik. Ihre Begriffe sind deskriptiv und normativ. Deskriptionen können aus dieser Perspektive nur dann stimmig geraten, wenn nicht nur nominalistisch paraphrasiert wird oder positivistisch Fakten gesammelt werden. Beschreibungen der Formen von Design und Erklärungen ihrer gesellschaftlichen Grundlagen werden in einer kritischen Theorie des Designs mit der normativen Explikation ihres kontrafaktischen Potenzials verbunden. Kritische Designtheorie rekonstruiert ihr Gegenstandsfeld als dialektisch verstandene »Gesamtkonstellation«. Deren Bestandteile sind die unterschiedlichen Perspektiven auf Objekte im Untersuchungsfeld. Und darüber hinaus auch die Perspektiven auf dessen Rahmung durch Handlungsregeln sowie durch »soziale Konflikte und Herrschaftsbeziehungen« (Steinert 1998: 68). Diese »Gesamtkonstellation« wird als »dialektisch« bezeichnet, weil sie Gegensätze und Antagonismen, die im Gegenstandsfeld angelegt sind und als theoretische Ungereimtheiten oder

Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden« (ebd.) – also: die Versammlung der ›Dinge‹. 6 Das Folgende entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 16–20.

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Widersprüche wiederkehren können, begrifflich bestimmt und die Bewegung des Widersprüchlichen in den Begriffen rekonstruiert. Ein Blick auf die design- und architekturgeschichtliche Debatte über den Funktionalismus kann deutlich machen, dass eine immanente Sozialkritik an Phänomenen der kulturellen Moderne weiter führt als die postmoderne Verabschiedung ihres normativen Potenzials. Wer das Konzept des Funktionalismus abstrakt negiert, verpasst die entscheidende Differenz zwischen Mono- und Plurifunktionalismus. Der Zwiespalt des Bauhaus-Designs bestand darin, dass sich in seinen Produkten sozialer Gerechtigkeitsanspruch manifestiert, aber verwendet werden sie zumeist als elitäre Distinktionsmerkmale. Dieser Zwiespalt kann als prophetische Vorwegnahme späterer Produktivkraftentfaltung gedeutet werden: Es gab sie seinerzeit noch nicht im nötigen Ausmaß, um Güter und symbolisch-ästhetische Werte für alle zugänglich zu machen. Heutzutage würden die entfalteten Produktivkräfte genau das ermöglichen. Den Zwiespalt kann man aber auch als Folge paternalistischer Machtphantasien von Designern und Architekten auffassen, die davon träumten, Menschen umzuerziehen, und normative Ästhetik mit Ethik vermischten. Und nicht zuletzt kann der Zwiespalt als Indikator für ein sozioökonomisches Reflexionsdefizit im Bauhaus interpretiert werden. Dann stellt sich die Angelegenheit so dar: Man war von der falschen Annahme ausgegangen, soziale Gerechtigkeit ließe sich durch Versorgung aller Bevölkerungsschichten mit »gut« und »zweckmäßig« gestalteten, daher »schönen« Gegenständen und Behausungen verwirklichen – ohne dass zuvor die Produktions- und Eigentumsverhältnisse grundlegend geändert werden müssten. Eine dialektische Designtheorie nobilitiert nicht eine dieser Beschreibungen als richtig und verwirft die anderen als falsch. Sie versucht vielmehr, folgende Fragen zu beantworten: Mit welchen Elementen der Deutungsmodelle lassen sich Aspekte des Untersuchungsfeldes aufschließen? Welche Perspektiven nehmen die Urheber der Deutungsmodelle ein? Welche soziohistorischen Hintergründe, welche herrschaftlichen und diskursiven Rahmungen prägen sie? Das Bauhaus entwarf in Weimar, Dessau und Berlin eine Utopie des Designs, die über Entwurf und Herstellung von Gebrauchsdingen hinausging; sie wollte die industrielle Arbeitsteilung überwinden. Kunst, die nicht mehr als autonom verstanden wurde, sollte in den sozialen Prozess integriert werden. Im Bauhaus-Programm wurde »die Einheit der Welt und damit ihre Gestaltbarkeit« (Hirdina 2001: 53) betont. Damit war es Teil der europäischen Avantgarde, die die Kluft zwischen Kunst und Lebenspraxis überbrücken wollte. Die Nationalsozialisten erzwangen auf dem Gebiet der angewandten Künste bekanntlich einen Qualitätsexodus. Bald darauf trat ein ökonomistisch reformierter Funktionalismus unter dem Label »International Style« von den USA aus seinen Siegeszug um die ganze Welt an, die praktischer,

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effizienter und produktiver wurde – aber nicht bewohnbarer. Der Funktionalismus funktioniert nicht, jedenfalls nicht in Bezug auf die vitalen Bedürfnisse der Menschen, argumentierte Adorno in seinem Vortrag »Funktionalismus heute« beim Werkbund in Berlin. Woran krankte der funktionalistische Kult des Nützlichen? Daran, dass die Menschen, denen die Dinge nutzen sollen, nicht die freien, selbstbestimmten Subjekte eines vernünftig eingerichteten sozialen Ganzen sind, in dem sie und die Dinge nicht mehr auf ihre ökonomischen Funktionen reduziert wären. »Alles Nützliche ist in der Gesellschaft entstellt, verhext«, argumentierte Adorno (1965: 392): »Dass sie die Dinge erscheinen lässt, als wären sie um der Menschen willen da, ist Lüge; sie werden produziert um des Profits willen, befriedigen die Bedürfnisse nur beiher, rufen diese nach Profitinteressen hervor und stutzen sie ihnen gemäß zurecht.« Die spätere, postmoderne Kritik am Funktionalismus basiert auf zwei Argumenten, die sich in den1960er und 1970er Jahren herauskristallisiert haben. Demnach ist erstens die Behauptung der Einheit von Funktion und Form reduktionistisch. Und zweitens haben gestaltete Dinge verschiedene Aufgaben. Sie dienen der Funktion, der Information sowie den ästhetischen Bedürfnissen der Benutzer und sind Bedeutungsträger. All das kann nicht auf eine Formel gebracht werden. Das Design der funktionalen Stadt sollte die Bereiche Wohnen und Erholen, Produzieren und Distribuieren wohltuend auseinanderhalten. Die monofunktionalistische Aufteilung in Zonen, die durch Verkehrswege verbunden werden, war von ihrem Pionier Le Corbusier »menschenfreundlich gemeint«. Sie endete aber, wie Thomas Friedrich (2008: 168) – in Anlehnung an Jane Jacobs, Alexander Mitscherlich und Klaus Horn – zusammenfasst, in »trostlosen Hochhaussiedlungen am Stadtrand, in die die Menschen letztlich nur zum Schlafen fahren«, in »öden Naherholungsgebieten« und Innenstädten, die zu Kaufstätten verkümmern und sich »nach Ladenschluss in Geisterstädte verwandeln«. Reurbanisierung der Städte wäre daher eine Wiederherstellung ihrer Plurifunktionalität. Die postmoderne Kritik und Praxis in Architektur und Design hat aber nicht selten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Anstatt die »immanente Kritik einer hinter ihren eigenen Begriff zurückgefallenen Moderne« zu formulieren, zelebrierte sie »die Wiederentdeckung der symbolischen Funktion« als »ideologische […] oder autoritäre […] Geste« (Wellmer 1985: 127; siehe Habermas 1985). Auch Latours animistische Vision eines »Parlaments der Dinge« führt nicht aus den Aporien des modernen Designs hinaus. Das könnte nur ein Neuansatz – und zwar einer, der von Neuem die alte Frage stellt, ob und wie Menschen zum autonomen Subjekt ihrer praktischen gesellschaftlichen Beziehungen werden können.

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Stellvertretendes Design Den »zwiespältigen Charakter von Subjektivität« reflektieren ist also etwas anderes als den Gedanken ersatzlos streichen, dass Menschen durch intersubjektive Verständigung und entsprechende Praxis zum Kollektiv-Subjekt ihrer selbstbestimmten gesellschaftlichen Beziehungen werden könnten. Denn das hieße, die soziale Geschäftsgrundlage von Design kündigen und seine immanente Ethik ignorieren.7 Für William Morris bestand der Zweck von Design im 19. Jahrhundert darin, arbeitenden Menschen Befriedigung und Freude bei phantasievoller Qualitätsarbeit zu vermitteln. Es sollte die seelische und somatische Entwicklung der Menschheit unterstützen. Das sei aber nur durch die Überwindung des Klassenantagonismus zu erreichen – wenn es »keine erniedrigten Klassen mehr gibt, denen man die Schmutzarbeit aufbürden kann« (Morris 1879: 53) und alle Menschen frei, gleich und solidarisch »inmitten schöner Dinge« (ebd.: 60) leben können. Der Darmstädter Designhistoriker Kai Buchholz stellte fest, »dass sich die wesentliche kulturelle Aufgabe des Designs seit 1850 nicht geändert hat. Nach wie vor geht es darum, unter den Bedingungen der technischen Zivilisation eine humane Lebenswelt zu gestalten« (Buchholz 2012: 205). Design ist Entwurf für den Bedarf des Bestehenden – und Entwurf eines noch gar nicht Seienden. Im Sinne von Ernst Bloch (1923: 28 f.) ist es ein »Vorspiel«: ein »Wachtraum«, in dem der Blick hin »zu einer anderen Welt« gerichtet ist – also ein Wachtraum der Befreiung. Und dafür, so meine These, brauchen wir ein stellvertretendes Design. Was heißt »stellvertretend«? Um das deutlich zu machen, möchte ich an den Grundgedanken von Adornos negativer Moralphilosophie erinnern. Angesichts der Unmöglichkeit, im ungerecht eingerichteten gesellschaftlichen Ganzen ethisch »richtig« zu leben, solle man versuchen, ein »stellvertretendes Leben« zu führen. Damit meinte Adorno, dass man versuchen solle, »in den engsten Beziehungen der Menschen so etwas wie Modelle eines richtigen Lebens zu erstellen«; man sollte also, wann immer es geht, so miteinander umgehen, »wie man […] sich vorstellen könnte, daß das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen Menschen beschaffen sein müßte« (Adorno 1956/57). Daran möchte ich anknüpfen. Meine Maximen für ein »stellvertretendes Design« variieren die altbekannte Antinomie, in die man nach Wolfgang Fritz Haug gerät, wenn man versucht, »im Kapitalismus über diesen hinaus zu gestalten«8.

7 Die folgenden Abschnitte unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: VIII, 4, 33 u. 35. 8 E-Mail von W. F. Haug, 4.12.2015.

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1. Man sollte daher so entwerfen, als ob das Primäre nicht Verwertung, Markt und Image-Fragen wären, sondern der – womöglich lebenslange – Gebrauchswert. 2. Man sollte so entwerfen, als ob nicht Individualkonsum der entscheidende Faktor wäre, sondern kollektive Aneignung. 3. Man sollte so entwerfen, als ob der Imperativ, Aufmerksamkeit zu erregen, nicht die alleinige Existenzberechtigung für Beiträge zur öffentlichen Kommunikation wäre. 4. Man sollte so entwerfen, als ob die Beziehungen der Menschen nicht durch Warenform und Tauschverhältnis modelliert wären. 5. Man sollte so entwerfen, als wäre Kommunikation an Verständigung und solidarischem Handeln orientiert – und nicht an strategischer Bearbeitung von »Zielgruppen« in »Kampagnen«. 6. Man sollte so entwerfen, als wäre jeder Mensch niemals nur Mittel für die Ziele der Gestalter und ihrer Auftraggeber, sondern jederzeit zugleich Zweck an sich selbst.

Ästhetische Antizipation und soziale Utopie »Stellvertretendes Design« muss der Paradoxie von Produktivismus und Konsumismus Rechnung tragen – also dem Wachstumsparadox der Moderne. Aber es darf nicht hinter die Errungenschaften der Moderne zurückfallen und das Konzept »Emanzipation« durch »Bindung, Zuwendung, Verwicklung, Abhängigkeit und Fürsorge« ersetzen, wie Latour (2009: 357) nahelegt. Es muss auch stellvertretend für das Interesse an einem freien, vernunftbestimmten und ästhetisch erfüllten Leben einstehen. Stellvertretendes Design sollte also das uneingelöste Versprechen der Designmoderne repräsentieren. Es sollte auch »bewahren«, wie Latour fordert, aber nicht nur. Das Motiv der Innovation, das postmodern als gewalttätig und totalitär denunziert wurde, ist zu rehabilitieren. Denn eine Neugestaltung der Lebensverhältnisse, die sich primär an vitalen Bedürfnissen orientiert, steht nach wie vor aus. Die Dinge kommen nicht dadurch zu sich selbst, dass sie zu Quasi-Akteuren auf dem digitalen Feld gegenwärtiger Kapitalakkumulation erklärt werden.

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Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs*2 Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs Nominalismus und Realismus in der Ästhetik des Designs

Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst fragt traditionell nach der freien Schönheit von Objekten; sie vernachlässigt die Frage, ob es eine Schönheit des Brauchbaren gibt. Die Designästhetik des Funktionalismus behauptet dagegen, dass es eine von der Brauchbarkeit getrennte Schönheit nicht gibt. – Im Folgenden befrage ich philosophische Konzepte der Schönheit auf ihre Brauchbarkeit für eine Ästhetik des Designs. Und zwar mit Blick auf die Problematik, ob es sinnvoll ist anzunehmen, dass es eine »den Objekten inhärente Eigenschaft, ›schön‹ zu sein« gibt – oder ob »Schönheit und deren attraktive Repräsentation« nichts anderes sind als »ein soziales Konstrukt, das zwar auf der Natur des Menschen basier[t], aber diese Bedingungen kulturell weitestgehend überform[t]« (Brock 2002: 584)1.3 * Vortrag auf der Tagung Designästhetik – Theorie und soziale Praxis der Universität Koblenz-Landau und der Hochschule Furtwangen in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik im Arp-Museum, Rolandseck, am 15. Juni 2018. Erstveröffentlichung in: Musik & Ästhetik, 22. Jg., Heft 4/2018, S. 29–38. 1 »Eine historische Ausprägung des Disputs kennen wir als den mittelalterlichen Universalienstreit oder den Realismus-/Naturalismusstreit in den Künsten des 19. Jahrhunderts. In diesen querelles versuchte man zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Man ging von der beobachtbaren Tatsache aus, daß Menschen objektinhärente Eigenschaften anerkannten, indem sie sie als ›rot‹, ›belebt‹, ›schwer‹ oder andererseits als ›andersfarbig‹, ›unbelebt‹ oder ›leicht‹ kennzeichneten. Diese gleichen Kennzeichnungen der verschiedenen Dinge gewinne man aus der Zusammenfassung der Eigenschaften, die den verschiedenen Dingen gleichermaßen zukommen: die Eigenschaft rot zu sein, lebendig zu sein, schwer zu sein etc. Das hieße auch, daß die einzelnen unterschiedlichen Dinge Repräsentationen der Eigenschaften seien, die sie gemeinsam haben. Also müßten diese gemeinsamen Eigenschaften bereits vor der Ausformung der einzelnen Objekte in der menschlichen Wahrnehmung, in Urteilen und Handeln/Herstellen gegeben sein. Die gemeinsamen Eigenschaften nannte man Universalia. Die Frage lautete: sind diese Universalia auf gleiche Weise real wie die verschiedenen Objekte, die sie gleichermaßen repräsentieren? © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_4

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Was ist ästhetischer Realismus? In der analytischen Philosophie nennt man »ästhetische Realisten« diejenigen, die es für sinnvoll halten, zu sagen, dass Objekte ästhetische Eigenschaften haben können – oder, allgemeiner gesprochen: dass es ästhetische Eigenschaften gibt. Kritiker dieser Position sagen: Ja, Objekte haben Eigenschaften, aber es wäre sinnlos zu sagen, dass sie ästhetische Eigenschaften haben. Demnach bringen ästhetische Aussagen nichts anderes als eine Werthaltung zum Ausdruck. Diese gemäßigt nominalistische Position wird auch »ästhetischer Naturalismus« genannt. Ihm zufolge gilt mit Blick auf Design-Artefakte: Dinge besitzen natürliche, d. h. physikalische und chemische Eigenschaften; sie sind fest, flüssig, hart, weich, hell, dunkel, bunt, einfarbig usw. Dass Menschen sie als schön, hässlich, langweilig oder spannend bewerten, habe mit diesen Eigenschaften selbst nichts zu tun. Dagegen argumentieren Verteidiger des ästhetischen Realismus, dass es sinnvoll ist, Dingen ästhetische Eigenschaften zuzusprechen. So oder so: Die Begründung ist für Gestaltung und Nutzung von Designobjekten klarerweise relevant. Ich möchte deutlich machen, warum und inwiefern Design­ ästhetik über den Rahmen der sprachanalytischen Diskussion von Nominalismus und Realismus hinausgehen sollte. Dazu werde ich zuerst systematisch und dann historisch vorgehen. Ich werde erst den Schlagabtausch der Argumente zwischen ästhetischen Nominalisten und Realisten betrachten, anschließend einige Positionen aus der Philosophiegeschichte, und sodann werde ich versuchen, designästhetische Anknüpfungsunkte an die philosophische Ästhetik zu nennen. Betrachten wir zunächst die Kritik am ästhetischen Realismus etwas genauer. Ästhetische Nominalisten halten es nicht für sinnvoll zu sagen, dass Objekte ästhetische Eigenschaften haben können. Sie meinen, Objekte haben Eigenschaften, und Aussagen darüber bringen Werthaltungen zum Ausdruck. Wenn ich sage: »Die Lampe ist schön«, dann ist »schön« nicht das Prädikat einer Eigenschaft der Lampe, sondern Ausdruck meiner Einstellung. Wenn sie mir nicht gefällt, würde ich sagen, sie sei »unschön« oder »hässlich«. Aber dann hätte ich nichts über die Lampe oder über ihre Eigenschaften gesagt. Aus dieser Sicht ist es ein Kategorienfehler, Aussagen über Einstellungen und Werthaltungen als Aussagen über Eigenschaften der Dinge auszugeben. Korrekt müsste ich sagen: »Die Lampe gefällt mir« oder »gefällt mir Oder sind diese Universalia bloße Namen für die allgemeinen Eigenschaften, die wir aus den verschiedenen Objekten durch Abstraktion gewinnen? Realist wurde genannt, wer die ›Röte‹ oder die ›Schönheit‹ oder die ›Schwere‹ auf die gleiche Weise für real gegeben hielt wie die als ›rot‹, ›schön‹ und ›schwer‹ wahrgenommenen Dinge. Nominalist wurde genannt, wer die Universalia für bloße Substantiv-Bildungen von Eigenschaftsworten der Dinge hielt. Nur eine gedankliche oder sprachliche Abstraktionsleistung ermöglicht es uns, von ›Röte‹, ›Schönheit‹ und ›Schwere‹ zu sprechen, obwohl nur die einzelnen roten, schönen und schweren Objekte real gegeben sind.« (Brock 2002: 585 f.)

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nicht.« Und die Verwirrung würde sich fortsetzen, sagen die Nominalisten, wenn ich nicht merke, dass »Die Lampe ist schön« kein ästhetisches Urteil ist. Denn hier werde ja keine Eigenschaft von einem Objekt prädiziert, sondern eine Aussage über meine Befindlichkeit gemacht. Korrekt müsste es lauten: »Ich empfinde Gefallen an der Lampe.« Kritiker des ästhetischen Realismus gehen aber noch weiter: Sie vertreten die Ansicht, dass Dinge keine ästhetischen Eigenschaften haben können. Von Dingen könne nur ausgesagt werden, dass sie natürliche Eigenschaften haben. Die Werthaltungen der Subjekte, die sie betrachten, sind demnach etwas ganz anderes. Sinnvollerweise könne ausgesagt werden: »Die Lampe ist mittelgroß«, »ist überwiegend weiß« oder »besteht aus Metall«; aber nicht: »Die Lampe ist schön« oder »ist hässlich«. Sinnvoll wäre eine Aussage wie zum Beispiel: »Gegenstände, die mittelgroß und überwiegend weiß sind, aus Metall bestehen und Licht spenden, gefallen mir.« Dagegen argumentieren Verteidiger des ästhetischen Realismus, dass es sinnvoll sein kann, Dingen ästhetische Eigenschaften zuzusprechen. Sie weisen das Kategorienfehler-Argument mit folgender Begründung zurück: Auch eine Person, der mittelgroße, überwiegend weiße, aus Metall bestehende Gegenstände im Allgemeinen vielleicht nicht gefallen, könnte durchaus das Urteil aussprechen, dass diese Lampe »schön ist«. Sie mag sie vielleicht nicht; aber aufgrund ihres Wissens über Proportionen, Materialbehandlung und das Verhältnis von Funktion und Form, sowie aufgrund designgeschichtlicher Kenntnisse, kann sie zu dem Urteil gelangen, dass das sprachlich-kulturelle Prädikat »schön« in diesem Fall eine angemessene Zuschreibung ist. Dann könnte sie sagen: »Ich mag die Lampe nicht, aber schön ist sie«, oder: »Die Lampe gefällt mir zwar nicht, aber sie ist schön«. Wie einem ja mitunter auch ein Mensch nicht gefällt, so schön er auch sein mag ... Solche Aussagen müsste ein ästhetischer Nominalist als Selbstwiderspruch bemängeln, da er die Aussage »X gefällt mir« als korrektes Äquivalent für »X ist schön« setzt. – Die Person aus unserem Beispiel könnte also rational zwischen Attraktivität und Schönheit unterscheiden.2 Noch etwas kommt hinzu: Die Person aus dem Beispiel könnte ihre Aussage begründen; sie könnte Argumente anführen, um die Prädikate »schön« und »hässlich« gegeneinander abzugrenzen, um ihre Verwendungsweise auf jeweilige Objekte zu beziehen usw. Wer möchte, kann sich diesen Problembestand bei Hume, Kant und Hegel vergegenwärtigen. Hume und Kant verstehen Schönheit nicht mehr als Eigenschaft der Objekte, sondern als Werturteil des Subjekts. Nicht als objektive Eigenschaft 2

Nebenbei: Falls es sich um einen Attraktivitätsforscher handelt, wäre das besonders erfreulich, denn die tun in der Regel so, als sei ihnen diese philosophische Unterscheidung unbekannt oder als hätte sie keine Relevanz für ihre empirischen Untersuchungen.

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schöner Dinge, sondern als Prädikat, das wir Objekten zusprechen, die auf uns erfreulich, anziehend, anmutig usw. wirken. »Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst: Sie existiert nur im Geist, der sie betrachtet«3, lehrte der Nominalist Hume. Wenn aber die Wahrnehmung des Schönen eine subjektive Angelegenheit ist, dann stellt sich die Frage, warum wir denn dem einen Objekt das Prädikat »ist schön« zusprechen und dem anderen nicht. Urteilende Subjekte können sich ja irren und falsche Prädikate aussprechen. Ästhetische Urteilskraft und Geschmack sind subjektive Vollzüge, aber sie beziehen sich auf etwas, das dem Subjekt nicht gänzlich unterworfen ist. Die Vollzüge sind nicht unabhängig und die Eigenschaften des Objekts nicht beliebig austauschbar. Wenn man sagt »Ich finde X schön« oder »X ist schön«, liegt unausgesprochen zugrunde, dass wir X schön finden, weil X schön ist, also weil X diese oder jene Eigenschaft hat, aufgrund deren wir das Urteil »ist schön« aussprechen. Dem ästhetischen Subjektivismus steht also nicht nur ein leicht zu entkräftender Objektivismus entgegen, sondern auch das Konzept der Affordanz aus der Psychologie. Ihm zufolge nehmen »Lebewesen die Gegenstände in ihrer Umwelt vor dem Hintergrund der eigenen Körperausstattung beziehungsweise den entsprechenden Handlungsmöglichkeiten wahr[…]« (Zillien 2009). Kurz gesagt: Gegen ästhetischen Subjektivismus spricht immer auch der »Angebotscharakter eines Objektes« (ebd.). Das war auch Kant bereits klar. Er hat den Schönheitsbegriff im Anschluss an Hume zwar subjektiviert, aber gleichwohl festgestellt, dass ästhetische Urteile unausgesprochen auf allseitige Zustimmung zielen. Dass es einen ästhetischen Gemeinsinn gibt, heißt freilich nicht, dass sich alle immer einig wären. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Weil es ihn gibt, ist es sinnvoll, über Geschmacksurteile zu streiten. Grundlage des Streits ist das Geschmacksurteil des Subjekts, aber bei der Begründung oder Ablehnung dieses Urteils beziehen sich alle notwendigerweise auch auf das Objekt, worüber geurteilt wird. Bei Hegel dagegen wird Schönheit, die er als vermittelt über den subjektivierenden Geist denkt, wieder eine objektive Eigenschaft der schönen Dinge. Sie ist für Hegel die wahrnehmbare Folge davon, dass innere Freiheit sich in der äußeren 3 »Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates them; and each mind perceives a different beauty. One person may even perceive deformity, where another is sensible of beauty; and every individual ought to acquiesce in his own sentiment, without pretending to regulate those of others. To seek the real beauty, or real deformity, is as fruitless an enquiry, as to pretend to ascertain the real sweet or real bitter. According to the disposition of the organs, the same object may be both sweet and bitter; and the proverb has justly determined it to be fruitless to dispute concerning tastes. It is very natural, and even quite necessary, to extend this axiom to mental, as well as bodily taste« (Hume 1742: I.XXIII.8).

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Erscheinung ausdrückt. Je harmonischer das Verhältnis von Detail und Ganzem gestaltet ist, desto schöner finden wir es. Warum? Weil seine wesentliche Form desto freier zur Erscheinung kommt. Je artikulierter und ausdrücklicher sich die Form von etwas präsentiert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Betrachtenden das Urteil aussprechen: »Dies ist schön.« Wenn die Form eines natürlichen Objekts weder durch »Übermaß« noch durch »Unmaß« gekennzeichnet ist, werden wir es wahrscheinlich schön finden. Um es mit dem Hegelianer Karl Rosenkranz (1853: 22) zu sagen: wenn keine »Zerstörung der reinen, von der Natur an sich angestrebten Form« stattfindet. Sofern das aber der Fall ist, werden wir wahrscheinlich urteilen: ›Dies ist hässlich.‹ Bei Menschen kommt zur äußeren Freiheit der Bewegung und des Handelns die innere Freiheit hinzu, die Freiheit der »Selbstbestimmung« (ebd.: 33). Für die idealistische Ästhetik ist Menschen »Naturschönheit« (ebd.: 36) gegeben; durch Freiheit wird sie zur Kulturschönheit. Zu überlegen wäre, ob auch Artefakte in diesem Sinne Kulturschönheiten sind – wenn oder insofern sie, als Erzeugnisse produktiver und kreativer Arbeit, Resultate freier oder befreiender Tätigkeit von Menschen sind. Formal und von der Analyse der Begriffsverwendung her kann man die Position des ästhetischen Realismus zusammenfassend so formulieren: Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Dinge ästhetische Eigenschaften haben können, die in betrachtenden Subjekten ästhetische Erlebnisqualitäten hervorrufen können. Die analytische Philosophin Maria Reicher (2005: 78) hat das folgendermaßen formuliert: »Dass ein Gegenstand schön ist, heißt […]: Der Gegenstand hat die Disposition, in einem Subjekt unter bestimmten […] Bedingungen ein Schönheitsgefühl zu verursachen. In diesem Sinn sind […] ästhetische Wertqualitäten objektive Eigenschaften in den Dingen selber.« Ist damit die Position des ästhetischen Nominalismus vom Tisch? Ich denke nicht. Sie kann durchaus zur Klärung begrifflicher Bestimmungen beitragen, die für eine Ästhetik des Designs benötigt werden. Wenn ich es richtig sehe, gibt es nur relativ wenige Ausführungen über ästhetischen Nominalismus im Bereich des Designs, aber einige im Bereich der Kunst. Um klarer zu sehen, welche Fragestellungen und Ergebnisse aus den Ausführungen über ästhetischen Nominalismus im Bereich der Kunst sich in den Bereich des Designs übertragen lassen, werden wir uns eine nominalistische Designphilosophie der Gegenwart anschauen und danach einen Philosophen befragen, dessen Argumente über den ästhetischen Nominalismus in der Kunstdebatte relevant sind.

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Der philosophische Nominalismus des ausgehenden Mittelalters4 hat die realistische »Bezeichnungsrelation« (Schmid Noerr 1986: 357) zwischen Sprache und Wirklichkeit aufgelöst. Oder, um es mit einer Formulierung aus Platons Dialog Timaios zu sagen: Der Nominalismus leugnet, dass die »Darstellung« »mit dem, was sie darstellt, auch in innerer Verwandtschaft stehen muß« (Timaios: 29). Nominalistische Designtheorien der Gegenwart beschränken sich aufs Beschreiben. Sie lehnen es ab, ihre Gegenstände zu erklären oder zu bewerten. Es darf nur beschrieben werden, wie die Nutzer etwas bewerten. Und die Frage nach Wesensbestimmungen steht unter Bann des Essentialismus-Tabus. Jakob Steinbrenner (2016: 90–92) zum Beispiel ersetzt die Frage »Was ist Design?« durch die Frage »Wann ist Design?« Zur Begründung führt er an: Weder das Entworfensein eines Objekts, noch, dass es von einer bestimmten Person zu einem bestimmten Gebrauchszweck entworfen wurde, taugt als Unterscheidungskriterium für die Bestimmung, was ein Designobjekt ist und was nicht. Steinbrenner definiert daher wie folgt: »Zu einem Designobjekt wird […] ein Gebrauchsobjekt dadurch, dass wir seine Funktionsweise ästhetisch bewerten.« (Ebd.: 97) Ja – so lässt sich beschreiben, wann wir etwas unter welchem Aspekt betrachten. Aber es lässt sich nicht immer verstehen, warum, und auch nicht klären, ob dies den Gegenständen und Sachverhalten gerecht wird oder nicht.5 Nominalistische Designtheorie kann in Ungereimtheiten führen. Angenommen, ich »bewerte« Poul Henningsens PH5-Leuchten über meinem Esstisch einmal nicht »ästhetisch« – sind sie dann keine »Designobjekte« mehr? Ist diese »Nicht-Bewertung« stationär? Sind die Leuchten also nur solange keine Designobjekte, wie ich ihre Funktionsweise nicht ästhetisch bewerte? Dann könnte ich ihr Designobjekt-Sein genauso an- und ausschalten wie ihre Beleuchtungsfunktion. Oder, ein entgegengesetztes Beispiel: Angenommen, ich »bewerte« die Papprollen, auf die das Toilettenpapier in der Fabrik gewickelt wurde, »ästhetisch«, sagen wir, weil ich damit ein Modell bauen möchte und die Rollen als geformte Körper betrachte. Oder: Ich verwende sie gar nicht, sondern sehe sie einfach nur an (Heidegger bezeichnete das als Begaffen). Dadurch werden die Rollen aber nicht zu Designobjekten. Wenn ich das Designobjekt-Sein meiner Poul-Henningsen-Leuchten nach Belieben an- und ausschalten könnte, würde meine Beschreibung nicht an die Objekte selbst heranreichen. Aber sie würde auch die Konvention verfehlen, der gemäß PH-5-Leuchten als Designgegenstände 4 Ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Philosophie: Der »ältere philosophische Begriffsrealismus« lehrte, dass »die Allgemeinbegriffe der Sprache deshalb die Wirklichkeit ›treffen‹, weil nur das Allgemeine wahrhaft existiert«, weil »die Wirklichkeit selbst eine logische (und damit sprachliche) Struktur« (Schmid Noerr 1986: 357) hat. 5 Dieser Absatz entstand unter Verwendung von Schweppenhäuser 2016: 15–16.

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bezeichnet werden und Papprollen für Toilettenpapier nicht. Denn selbst so eine Konvention ist ja stets auch sachlich motiviert. Ich würde also nur die Namen auswechseln, die ich den Dingen gebe. Und das lehrte der Nominalismus im ausgehenden Mittelalter. Begriffe waren für ihn bloße Namen, ohne Halt an den Gegenständen, für die sie zeichenhaft stehen. Der Neo-Nominalismus sagt das auch (Goodmann 1968 u. 1978). Daher kann (und will) er keine philosophischen Begriffe verwenden. – Er möchte auch nicht erklären, wie es sein kann, dass abstrakte Sachverhalte sich sozusagen materialisieren und dennoch nicht aufhören, auch abstrakt zu sein. Theorien des Entwerfens kreisen aber um diese Problematik. Es nützt nichts, wenn man so tut, als gäbe es sie nicht mehr, wenn man die Sprache von allem Begrifflichen reinigt. Damit will ich aber nicht sagen, dass ich die entmystifizierende Kraft des nominalistischen Ansatzes gering schätze. Und damit bin ich bei Adornos Theorie des Nominalismus. Adorno (1970: 296–334) setzt methodologisch auf einer anderen Ebene an: Er beschreibt, wie der Kampf gegen das Begrifflich-Allgemeine geführt wurde, um die Befreiung des Besonderen zu konzipieren. Ästhetischer Nominalismus ist bei Adorno eine produktions- und werkästhetische Kategorie in rekonstruktiver Absicht. Historisch gehört sie zur europäischen Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und semantisch steht sie für ihr Programm der Emanzipation des Einzelwerks von den Gepflogenheiten und Darstellungskonventionen der Gattung. Adorno legt zweierlei dar. Erstens: Die Befreiung des besonderen Einzelwerks ist ohne den Bruch mit den allgemeinen Rahmungen der Gattung, aus der es hervorgeht, nicht denkbar. Zweitens: Das Einzelwerk wird jene allgemeinen Rahmungen aber nie ganz los. Das zeigt Adorno an musikästhetischen Formfragen, anhand der Fuge bei Bach und der Durchführung im Sonatenhauptsatz bei Haydn und Beethoven. Schönbergs Ausbruch aus den Tonartbeziehungen des Quintenzirkels war die radikalste Absage an die westliche Tonalität. Aber auch sie errichtete bekanntlich ein neues Regime der Form: das Prinzip der Gleichberechtigung aller Töne und Halbtöne einer Reihe von zwölf aufeinander bezogenen Tönen; eine Ordnung, aus der kein emanzipiertes Einzelwerk ausbrechen soll. Diese Ambivalenz kann man auch an einem anderen Beispiel belegen, das ganz und gar nicht auf Adornos Linie liegt. Als Charlie Parker sich entschied, seiner Version des Liedes »Cherokee« nicht durch ornamentale Variationen der Melodie eine neue Gestalt zu geben, sondern dadurch, die Harmonien beizubehalten, aber auf ihrer Grundlage improvisierend eine völlig neue Melodieführung zu entwickeln, war das formale Prinzip des Be Bop entstanden. Im Adorno’schen Sinne nominalistisch, befreite Parker die Jazzimprovisation durch eine Aufwertung, die sie formal ins Zentrum des musikalischen Geschehens stellt; er entfremdete den

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Jazz von seinen Aufgaben als Tanzmusik. Zugleich war das formale Prinzip des Be Bop aber eben auch ein allgemeines Prinzip der Beherrschung des musikalischen Materials. Die Improvisation hatte entlang harmonischer Progression und vorgegebener Akkordfolgen durch verschiedene Tonarten zu erfolgen. Sie konnte jetzt nahezu universal angewandt werden, um immerzu neue Wendung zu schaffen, aber sie war nicht schlechthin frei, sondern in ein Set von Regeln eingebettet. Um nur einige zu nennen: Das Thema war vor und nach der Improvisation unisono zu spielen, die Verwendung von verminderter Quinte und unaufgelösten Septakkorden war obligatorisch usw. Nun aber wieder zurück zum Design. Der ästhetische Realismus der Designtheorie wird von Walter Gropius’ gestalterischem Prinzip der Wesensforschung beim Entwurf mustergültig verkörpert. Und selbstverständlich auch von dem industriedesignerischen Prinzip der Typisierung, das daraus abgeleitet wurde. Beim Entwurf, der Gestaltung und der Produktion von Gebrauchsgegenständen und visuellen Kommunikationsmedien scheint es sich auf den ersten Blick zu erübrigen, nach nominalistischen Einzelformen zu suchen. Hier handelt es sich stets um Einzelexemplare von Typen. Zur Aporie des ästhetischen Nominalismus, die Adorno diskutiert, kommt es unter Bedingungen moderner Industrieproduktion gar nicht erst. Die Produkte und Kommunikationszusammenhänge von Industrie- und Grafikdesign sind von vornherein Exemplare, im Sinne von Charles Sanders Peirce sind sie tokens, die auf einen type zurückverweisen. »Token« ist in der semiotischen Terminologie von Peirce (1906: 4.537) bekanntlich der Name für existierende Einzeldinge, »Type« der Name für die »definiert kennzeichnende Form«: »a definitely significant form«, schreibt Peirce, verleiht den individuellen Exemplaren ihre allgemeine Identität – nicht jedoch ihre besondere Identität. Die Repräsentation des Type in verschiedensten Tokens ist ja auch im Buchdruck eminent wichtig, wo es nicht um die emanzipierte Einzelform gehen kann, sondern um distinkte und jeweils klar erkennbare Manifestationen des Allgemeinen im Besonderen. Aber dennoch sind wir damit wieder mitten in der Nominalismusproblematik angekommen. Nun allerdings nicht auf ästhetischem, sondern auf ontologischem und epistemischem Gebiet. Und da geht es in erster Linie um die Unterscheidung zwischen der äußeren Form der Dinge (ihrer Erscheinungsform) und der inneren Form der Dinge. Bei Aristoteles ist die innere Form die Wesensform; die innere Form eines Naturdings ist die »gestaltende Form seines Werdens« (Haag 1983: 9). Bei Marx ist die innere Form aller Dinge die Warenform, die nicht nur Artefakte, sondern auch Naturdinge annehmen, sobald sie in den universalen Prozess der Verwertung eingegliedert werden.

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Wenn man die aktuelle Tendenz zur Individuierung im Design (genauer gesagt: zur Individuierung der Designprodukte) betrachtet, scheint es, als sei das Problem des ästhetischen Nominalismus zurückgekommen. Oder, besser gesagt, es scheint im Bereich des Designs Relevanz zu gewinnen. Nicht zuletzt, oder sagen wir besser: ganz besonders im Bereich des Selbst-Designs. Je höher die individuelle Besonderheit des eigenen Profils auf der digitalen Kommunikationsplattform, desto besser, lautet die Maxime. Und desto erkennbarer, überwachbarer wird die Person hinter dem Profil (Borries 2016; Bernard 2017). Die spannungsvollen Verschiebungen im Kraftfeld von Allgemeinem und Besonderem bekommen hier eine Dimension, die über den Bereich des Ästhetischen zwar weit hinausreicht, ihn als Medium jedoch unabdingbar benötigt, um sich zu entfalten. Dabei entfaltet sich auch die Präsenz des Allgemeinen im Besonderen, sozusagen als Kollateral-Effekt des intendierten Designs. Als man sich Ende der 1960er Jahre in der Designtheorie vom funktionalistischen Paradigma verabschiedete, orientierte man sich am Theoriemodell des semiotischen Strukturalismus, einer Fortsetzung nominalistischer Aufklärung. Designprodukte und Designprozesse wurden mehr als Zeichen aufgefasst und weniger als nützliche, zweckmäßige Objekte oder Verläufe. Als zentral galt nun der Aspekt, dass Design Bedeutungszusammenhänge produziert, weil seine Produkte Bedeutungsträger sind, die als Teile von Kodierungssystemen fungieren. Im neueren designtheoretischen Diskurs ist bemerkt worden, dass dieser Aspekt nicht nur vom Strukturalismus geltend gemacht wurde, sondern auch von der kritischen Theorie. Adorno (1965: 381 f.) hat in seiner berühmten Rede vor dem Werkbund in Berlin darauf hingewiesen, dass die ›praktischen Formen‹ der »Gebrauchsdinge« fast nie nur aus ihrem Gebrauch abzuleiten sind, sondern so gut wie immer auch einen ›symbolischen‹ Charakter haben. Er hat nach Adorno zwei Ebenen: Gestaltete Objekte können zeichenhaft auf anderes verweisen und sie können ein Ausdrucksmoment haben. Mit Letzterem kommt der anti-nominalistische Aspekt des Sprachbegriffs ins Spiel, den Adorno von Benjamin übernommen hatte. Sprache ist demnach wesentlich nicht ein kodiertes System arbiträrer Verwendungsregeln, sondern zum einen Ausdruck des Subjekts und zum anderen die Anstrengung, den Dingen ihren einzig angemessenen Namen zu geben. Erst in dritter Linie ist Sprache ein (nominalistischer) Code zur Bezeichnung und Verständigung. Diese nominalismuskritische Sprachauffassung ist im designtheoretischen Diskurs leider nicht zum Thema gemacht worden. Der Paradigmenwechsel von der Funktionalität zur Semiotik und zur Semantik der Produkte wird vielmehr als Einsatzpunkt des Kulturalismus interpretiert. Dieser wird affirmiert als »Bezugnahme auf übergeordnete sinnstiftende Kontexte und Strukturen« (Mareis 2014: 118), die dem designerischen Denken und Entwerfen gutgetan habe. Daher kommt

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im Designdiskurs ein Aspekt nicht zum Tragen, die in Adornos und Benjamins Fragmenten zu einer Theorie des Designs steckt: Dass die Befreiung der Dinge vom »Fluch nützlich zu sein« (Benjamin 1982: 1130) eine praktisch-ästhetische Kritik der kapitalistischen Produktions- und Verwertungsweise ist. Die traditionelle Ausgrenzung der Brauchbarkeit aus der Ästhetik zugunsten eines vermeintlich interesselosen Wohlgefallens am schönen Objekt, das zwar keinen Zweck habe, aber in sich zweckmäßig organisiert wirke, wird bei Benjamin und Adorno gegenwendig als Kritik an der gesellschaftlichen Trennung des Schönen vom Brauchbaren gelesen. Denn die Dinge wären erst dann vom »Fluch« befreit, nützlich zu sein, wenn sie nicht mehr auf ihren Tauschwert reduziert würden – und wenn die Menschen vom »Fluch«, oder besser: vom Zwang befreit wären, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen zu müssen. Dafür bedürfte es freilich »eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts«, das seine Praxis an »einem gesamtgesellschaftlichen Zweck« ausrichtet und nicht bloß »an partikularen Zwecken« (Adorno 1965: 393) der sozialen Herrschaft und der Akkumulation von Kapital. Erst dann wäre es denkbar, aus der Verdinglichungsfalle herauszukommen. Wenn dann »die ganz nützlich gewordenen Dinge ihre Kälte verlören«, schrieb Adorno (1965: 392), müssten vielleicht nicht allein die Menschen »nicht länger leiden unter dem Dingcharakter der Welt: ebenso widerführe den Dingen das Ihre, sobald sie ganz ihren Zweck fänden, erlöst von der eigenen Dinglichkeit«. Mit diesem Gedanken knüpfte Adorno an die »exakte Phantasie« der französischen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts an. Er unterstellte nicht, dass die Wahrscheinlichkeit realer Befreiung von sozialer Fremdbestimmtheit dadurch ansteigen würde. Aber seine ästhetische Antizipation, dass die Dinge erst dann gleichsam zu sich selbst kommen könnten, wenn sie von ihrer Instrumentalisierung bei der »Beherrschung und Ausbeutung« (ebd.) der Menschen ›gereinigt‹ wären, scheint immer noch verlockend. Sie lässt sich aber nur denken, wenn die nominalistische Verabschiedung der Begriffe nicht das letzte Wort hat.

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Literatur Adorno, Theodor W. (1965): »Funktionalismus heute«, in, ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt/M. 1977, S. 375-395. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, hrsg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Bd. V.2, hrsg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bernard, Andreas (2017): Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt/M.: Fischer. Borries, Friedrich von (2016): Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp. Brock, Bazon (2002): Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Autor v. A. Zika, Köln: DuMont. Goodmann, Nelson (1968): Sprachen der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973. Goodmann, Nelson (1978): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990. Haag, Karl Heinz (1983): Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hume, David (1742): Essays, Moral, Political, and Literary, Part I, Essay XXIII: »Of The Standard Of Taste« (http://www.econlib.org/library/LFBooks/Hume/hmMPL23.html [letzter Abruf: 12.8.2018]). Mareis, Claudia (2014): Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg: Junius. Peirce, Charles S.: »Prolegomena to an Apology for Pragmaticism«, in: The Monist, Bd. 16, 1906, S. 492–546 (Peirce: Collected Papers, 4.537; https://colorysemiotica.files.wordpress. com/2014/08/peirce-collectedpapers.pdf [letzter Abruf: 12.8.2018]). Platon: Timaios, in: ders., Sämtliche Dialoge, hrsg. u. übers. v. O. Apelt, Leipzig: Felix Meiner, 1922, S. 29–187 (Reprint Koblenz: Edition Kramer, 2013, Bd. VI). Reicher, Maria E. (2005): Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Rosenkranz, Karl (1853): Ästhetik des Häßlichen, Stuttgart: Reclam, 2015. Schmid Noerr, Gunzelin (1986): »Wahrheit, Macht und Sprache in der Philosophie. Zu Horkheimers sprachphilosophischen Reflexionen in seinen nachgelassenen Schriften 1939 bis 1946«, in: Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, hrsg. v. A. Schmidt u. N. Altwicker, Frankfurt/M.: Fischer, S. 349–370. Schweppenhäuser, Gerhard (2016): Designtheorie, Wiesbaden: Springer VS. Steinbrenner, Jakob (2016): »Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst«, in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandschaften, hrsg. v. J.-C. Dissel, Bielefeld: transcript, S. 89–105. Zillien, Nicole (2009): »Die (Wieder-)Entdeckung der Medien. Das Affordanzkonzept in der Mediensoziologie«, in: Sociologia Internationalis. Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations- und Kulturforschung 2/2009 (https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb4/ prof/SOZ/AMK/PDF_Dateien/Affordanz.pdf [letzter Abruf: 27.3.2018).

II Philosophische Aspekte des Kommunikationsdesigns

Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation*1 Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation Ästhetische Erfahrung, Design und Kommunikation

Es gibt nicht viele philosophische Beiträge zur Ästhetik des Designs, und die sind zumeist dem Produktdesign gewidmet. Das könnte mit dem zugrundeliegenden Konzept ästhetischer Erfahrung zusammenhängen. Darauf möchte ich zu Beginn eingehen und anschließend einen neueren Ansatz zu einer philosophischen Design­ ästhetik diskutieren. In Abgrenzung davon werde ich dann, aus der Perspektive der Kritischen Theorie, über Grundlagen einer Ästhetik des Kommunikationsdesigns nachdenken. Danach werde ich noch einmal das Thema der ästhetischen Erfahrung aufgreifen, nun aber unter Aspekten der Gehalts- und der Ereignisästhetik.

Ästhetik als Hermeneutik der Kunst und als Theorie ästhetischer Erfahrung Wenn philosophische Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst verstanden wird, ist Kunst, wie zum Beispiel bei Georg Bertram (2011: 14), »das Gesamt der Dinge […], in Auseinandersetzung mit denen wir ästhetische Erfahrungen machen«. Im Umkehrschluss heißt das: Ästhetische Erfahrungen haben wir nur mit Objekten der Kunst. Ein Merkmal von Kunst bestehe darin, »dass sie Verständigungsgewohnheiten irritiert«, schreibt Bertram (2007: 36) mit Bezug auf die Kunsttheorie von Adorno. Kunst entziehe sich »dem Verstehen, dem gewohnten Umgang mit symbolischen Medien« (ebd.: 37). »Das Kunstwerk bildet in ästhetischen Medien *

Der Text lag meinem Vortrag auf dem Panel Das ist Designästhetik! beim X. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am 19. Februar 2018 zugrunde. Ich danke Oliver Ruf für die Einladung zur Mitwirkung sowie Ruth Dommaschk und Thomas Friedrich für anschauliche Hinweise.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_5

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jeweils eigene Formen und Strukturen aus. Dadurch widersetzt es sich dem Verstehen« (ebd.). Die »Irritation und Unverständlichkeit der Kunst« (ebd.) komme daher, dass die Rezeption eines Kunstwerks ein Prozess ist, der nie abgeschlossen werden kann. Jede Deutung, jede Entschlüsselung des Sinnes oder der Bedeutung eines Kunstwerks, kann irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich neue Sinnebenen und Bedeutungsgehalte erschließen, die sich zuvor nicht aufgetan hatten (bzw. von denen wir zuvor keine Ahnung hatten). Bertram verweist darauf, dass Hegel Ästhetik noch als Philosophie der ›schönen‹ Kunst bezeichnen musste, um klarzustellen, dass philosophische Kunsttheorie sich nicht auf die nicht ›schönen‹ Künste bezieht. Also nicht auf die ›nicht freien Künste‹, wie zum Beispiel das Kunsthandwerk. Heute, schreibt Bertram (2011: 14), müsse man das nicht mehr hervorheben. Ästhetik könne bündig Philosophie der Kunst genannt werden, denn Bereiche wie das Kunsthandwerk würden ja nicht mehr als Kunst gelten. Wenn sie deshalb auch nicht in den Gegenstandsbereich einer Theorie ästhetischer Erfahrungen fallen, wird der Begriff ästhetischer Erfahrung erheblich verengt. Bertram und andere maßgebliche Ästhetiker legen den Schwerpunkt ihrer Auseinandersetzung mit Kunstwerken denn auch auf das ›Verstehen‹, während »Wahrnehmung« und ›sinnliche Auseinandersetzung‹ sekundär werden (ebd.: 12). Die Position, die ästhetische Erfahrung mit Verstehen von Kunst gleichsetzt, ist aber nicht die einzige. Es gibt andere Konzepte ›ästhetischer Erfahrung‹. Ich möchte zwei hervorheben, die einander zwar nicht direkt widersprechen, aber einen Gegensatz bilden. Das eine Konzept fokussiert die Distanz zur Alltagspraxis. Im ästhetischen Erfahrungsmodus entfernen wir uns demnach von Handlungszwecken und vom Nutzen der Objekte. Ästhetische Erfahrung ist dann wesentlich Lust am gesteigerten Daseinsvollzug in produktiver, weil handlungs- und deutungsentlasteter seelischer wie somatischer Anspannung (Mead 1926; Henckmann 1998: 45 f.). Ästhetische Erfahrung ist hier primär Erfahrung der grundsätzlichen Unbestimmbarkeit ästhetischer Objekte und Wahrnehmungen, die es philosophisch zu reflektieren gilt. Diese Position vertritt Christoph Menke, und ich zähle auch Bertrams ästhetische Hermeneutik dazu. Daniel Martin Feige betont in Anknüpfung an Adorno die kontraintuitive Irritationskraft von Kunst, in deren Formgesetz sich Vernunft im emphatischen Sinne manifestiert: »Kunst als Kunst«, sagt Feige (2017: 208), ist »Ausdruck einer anderen Rationalität als der verkürzten Rationalität, die bloß nach dem Nutzen von Gegenständen fragt«. Für Kunstwerke gelte, »dass sie […] in der Konstitution ihrer Elemente logisch und schlüssig sind, aber dennoch keinen außerästhetischen Kriterien der Logizität und Schlüssigkeit gehorchen. Es ist eine je individuell verkörperte […] unvertretbare […] und damit eine paradoxe Logizität. Kunst eignet somit ein gegenüber der gesellschaftlichen Realität gegen-

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wendiges Moment: […] nicht durch […] manifeste Inhalte […], sondern vielmehr durch ihre Form« (ebd.: 209). Das andere Konzept fokussiert die Gegenseite der autonomen Form: Demnach ist ästhetische Erfahrung »eine Weise, sich in der Welt zu orientieren« (Küpper und Menke 2003: 11). Sie ist kein »subjektives Ereignis«, sondern »eine Praxis, in der Subjekte und Objekte zusammengeschlossen sind« (ebd.: 13). Hier geht es um die Weisen, in denen wir uns in ästhetischer Einstellung die Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). John Dewey hat dort angesetzt, aber nicht nur Pragmatisten argumentieren so, sondern auch Neonominalisten und postmoderne Philosophen. Sie bestätigen damit indirekt Sigmund Freud (1919: 229), der vor fast 100 Jahren forderte, dass »man die Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt«. Ästhetik ist dann die philosophische Reflexion der Grundlagen und Grundformen des Erlebens und des Urteilens in Bezug auf die natürliche und auf die gestaltete Umgebung des Menschen. Ihre Gegenstände sind nicht nur Kunstwerke, sondern auch Dinge des Alltagslebens und der Natur. In diesem Sinne betrachtet Gernot Böhme das Design als Erfahrungsbereich der Ästhetisierung des Alltags. Vielleicht sind seine Beiträge zur Ästhetik der angewandten Künste gerade deshalb so innovativ, weil sie fest in der philosophischen Tradition verankert sind. Böhme (1995: 10) möchte die philosophische Ästhetik wieder als Theorie sinnlicher Erkenntnis rehabilitieren, um jene Erkenntnisweise der Ästhetik, die »in der Welt etwas entdeckt, das anderen Erkenntnisweisen nicht zugänglich ist«, als solche zu erfassen. Dafür nimmt er die ästhetische Erfahrungsweise in den Blick und grenzt sich von einer kognitivistischen Urteilsästhetik ab. Die sei auf das Sprechen über ästhetische Objekte als Kunstwerke fixiert und darauf, zu ›beurteilen‹, woran Menschen ästhetisch Anteil nehmen, also auf »die Frage der Berechtigung der Teilnahme an etwas oder der Ablehnung von etwas« (ebd.: 23). Vor diesem Hintergrund will Böhme eine »neue Ästhetik« (ebd.: 7) und eine »Kritik der ästhetischen Ökonomie« (ebd.: 10) begründen. Darauf werde ich noch zurückkommen; aber zunächst möchte ich auf seine Lesart von Kant eingehen.

Kant und eine Ästhetik des Designs Böhme liest Kant nicht als kognitivistischen, auf Kunstwerke fixierten Urteilsästhetiker, sondern als Geschmacksästhetiker, der den ästhetischen Sinn (wie in der englischen Tradition) als Medium zivilisierter Verständigung versteht. Böhme meint, »von den Objekten her« sei Kants Ästhetik in erster Linie eine »Ästhetik des

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Designs«: »Es geht um Kleidung, um Tapeten, Vorgärten und Tafelmusik« (Böhme 2016: 81). Anknüpfungspunkt sind die Stellen in der Kritik der Urteilskraft, an denen Kant beschreibt, wie Menschen sich mit Objekten umgeben, die sie schön finden. Nicht nur aufgrund ihres Bedürfnisses, in schöner Umgebung zu leben, sondern weil sie die Empfindungen, die solche Umgebungen auslösen, mit anderen teilen möchten. Und primär, weil sie sich durch die schönen Objekte anderen mitteilen würden – nicht verbal und rational, sondern emotional. »›Mitteilen‹ bedeutet […], den anderen an dem, was man fühlt, teilnehmen zu lassen« (ebd.: 82), schreibt Böhme. »Das gelingt einem aber nicht primär durch reden, sondern indem man sich mit geschmackvollen Dingen umgibt, durch die man anderen Menschen die Gelegenheit gibt, die eigenen Präferenzen affektiv mitzuvollziehen.« (Ebd.) In diesem Konzept ästhetischer Kommunikation wird Ästhetik in der Tat im Sinne Freuds als »Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens« verstanden. Ich stimme Böhme zu, wenn er dem (in meinen Worten) medialen Aspekt des Produktdesigns und der Raumgestaltung eine markante Rolle in Kants philosophischer Theorie einer aufgeklärten Zivilisiertheit zuspricht. Aber nun muss ich zwei Fragen stellen. Erstens: Wie weit kann man Böhmes Lesart folgen, dass Kants Ästhetik keine Urteilsästhetik ist? Zweitens: Wie weit lässt sich die These verteidigen, dass Kants Ästhetik eine »Ästhetik des Designs« ist? 1. Zu Böhmes Lesart der Urteilsästhetik: Kant unterschied bekanntlich ästhetische Urteile von theoretischen Erkenntnisurteilen und praktischen Handlungsurteilen. Ästhetische Urteile sagen nichts über die Wahrheit dessen aus, worauf sie sich beziehen, auch nichts über seine Wirklichkeit. Das gilt für Urteile über Kunst und für Geschmacksurteile (die nicht ganz deckungsgleich sind, weil beim Kunsturteil immer auch der kulturelle Wert des künstlerischen Beitrags in Betracht zu ziehen sei (Kant 1790: 421 ff. u. 444 ff.; siehe Dorschel 2003: 105). Geschmacksurteile prädizieren auch nicht eine Eigenschaft von einem Gegenstand (Böhme 1999: 14 f.); sie geben lediglich Auskunft, ob der Person, die ästhetisch urteilt, etwas am Beurteilten liegt. Der Satz »Der Stuhl ist schön« ist insofern eine uneigentliche Redeweise: Sie tut so, als ob sie eine Aussage ist, deren logische Stimmigkeit und sachliche Richtigkeit überprüft werden kann. Sie tut, als ob ausgesagt würde, dass Schönheit eine Eigenschaft ist, die von dem Stuhl ausgesagt wird. Richtig wäre, zu sagen: »Ich finde den Stuhl schön«. Diese Aussage impliziert nicht, dass dasjenige, worauf sie sich bezieht, wahr ist oder falsch, d. h. dem Objekt adäquat oder nicht; sie impliziert auch nicht, dass es wirklich ist oder sein sollte. Über Wahrheit oder Unwahrheit des ästhetischen Objekts kann das ästhetische Urteil nichts sagen, und ob das Objekt existiert oder nicht, spielt keine Rolle. Es kann ja auch von einem Einhorn die Rede sein

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statt von einem Stuhl. Für Kant drückt das ästhetische Urteil Wohlgefallen oder Missfallen am Objekt aus; es ist indifferent gegenüber Fragen, die Erkenntnisse über das Objekt betreffen, und ohne Interesse am Modus seiner Existenz. 2. So weit, so bekannt. Aber: Demnach gehören Designobjekte, streng genommen, überhaupt nicht in den Geltungsbereich ästhetischer Urteile. Denn Designobjekte werden immer auch im praktischen Interesse betrachtet. Sie werden, genauer gesagt, nie nur betrachtet: Eine kontemplative Haltung zu Designobjekten ist nicht möglich, solange ihre Betrachtung nicht vom Gebrauch getrennt wird. Wenn Letzteres geschieht, sind sie aber keine Designobjekte mehr, sondern Kunstobjekte. Menschen, die Museen besuchen, wissen das heutzutage; auch in einer Duchamps-Ausstellung würde man seine Notdurft nur auf der Toilette verrichten. Schiller (1792–93: 75, zit. nach Dorschel 2003: 97) war konsequent, als er aus Kants Lehre vom ästhetischen Wohlgefallen, das frei von Interessen sei, den Schluss zog, dass »die Nützlichkeit vom Schönen ausgeschlossen ist«, und damit die moderne Autonomieästhetik begründete, die wenig später von Carl Philipp Moritz und Goethe ausgearbeitet wurde. Paradox scheint es daher, wenn Kant an exponierter Stelle Objekte der dekorativen Künste heranzieht, um den Gedankengang seiner Ästhetik der Urteilskraft zu demonstrieren, die auf der Differenz zu theoretischen und praktischen Urteilen fundiert ist. Nicht nur Naturerscheinungen, sondern eben auch dekorative Künste dienen ihm dazu, zu klären, was er unter ›freier‹, das heißt nicht ›bloß anhängender‹ Schönheit versteht. Während ›bloß anhängende‹ Schönheit einem Objekt nur im Hinblick darauf zugesprochen werde, ob es seinen Zweck perfekt erfülle, entfalle diese Bedingung, wo wir es mit ›freier‹ Schönheit zu tun haben. Hier, sagt Kant, würde das hochentwickelte Geschmacksurteil gerade darauf ansprechen, dass die Schönheit »gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zwecks bestimmten Gegenstande zukomme[…], sondern frei und für sich gefalle[…]. So bedeuten«, fährt Kant (1790: 310) fort, »die Zeichnungen à la greque, das Laubwerk […] auf Papiertapeten usw. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.« Daher, und nur daher, könne ihre rein formale Zweckmäßigkeit goutiert werden (Kant 1790: 303). Soweit Kant. Dagegen wäre einzuwenden, dass Gegenstände des Produktdesigns zu jeder Zeit nur im Horizont der Vermittlung von praktischem und ästhetischem Urteil adäquat interpretiert werden können, denn als Produkte gesellschaftlicher Arbeit tragen sie »die unauslöschliche Spur der Natur im Artefakt« (Rantis 2017: 92). Der Stoff oder das Papier, mit dem die Wände bespannt sind, haben aufgrund ihrer Materialeigenschaften einen Nutzen, auf den das praktische Interesse ihrer Anwender gerichtet ist: Sie binden Feuchtigkeit und glätten raue Stellen der Wände.

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Darüber hinaus können sie auch noch praktisch nutzlose, »freie« Eigenschaften haben, die wir ästhetisch beurteilen, wenn Muster und Farben unser Auge erfreuen und unseren Geist anregen, dem freien Spiel der Arabesken oder dem Muster der Streifen nachzugehen. Und das geschieht, wenn ihre Ornamente, Farben und Materialeigenschaften naturanaloge Merkmale aufweisen und dadurch das Leben derer, die sich mit ihnen umgeben, kultiviert erscheinen lassen. Aber sie tun es im Modus ihrer Verwendung, nicht nur kontemplativ und auch nicht nur kommunikativ (worauf Böhme abhebt). Kants Rezeptionsästhetik bezieht sich auf eine vorbürgerliche Ding- und Erfahrungswelt. Hier ist die letztlich inadäquate Trennung von Form und Funktion angelegt, die später von der Architektur- und Designtheorie des frühen 20. Jahrhunderts in einer beeindruckenden Selbstinszenierung revoziert werden sollte. Worauf basiert der Musterfall des autonomen Geschmacksurteils, in dem die »Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht« ›belebt‹ und ›beschäftig‹ werden und in dem die Lust, die dabei empfunden wird, »auf keine Weise praktisch« ist? Er basiert darauf, dass Erzeugnissen der erweiterten Reproduktion, also der Kultivierung durch arbeitsteilige Naturbeherrschung im praktischen Alltagsgebrauch, formale Schönheit attestiert werden kann, weil die Benutzer ihre Einstellung zum Objekt wechseln. Das Konzept der ästhetischen Einstellung wird zwar bei Kant noch nicht expliziert, aber ich halte es an dieser Stelle für vertretbar, den Gedankengang so zu rekonstruieren. Hinzu kommt im Bereich des Kommunikationsdesigns, dass das Erkenntnisurteil hier ein wesentlicher Bestandteil des Rezeptionsvorgangs ist. Kommunikationsdesign hat folgende Aufgabenbereiche: 1. Vermarktung und Verpackung; 2. Information (z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln und Flughäfen); 3. Aufklärung und Bildung (z. B. in Publizistik und Wissenschaft sowie in Medien aller Art, die Lehr- und Lernprozesse unterstützen); 4. Werte-Erziehung im öffentlichen Raum (z. B. Kampagnen gegen Raserei auf Autobahnen oder medizinische Fotos auf Zigarettenschachteln); 5. Unterhaltung. Innerhalb dieser Bereiche gibt es Querverbindungen der Funktionen und Rezeptionspraktiken. Wenn man diese Bereiche und Verwendungsweisen aus der Perspektive einer kantianischen Urteilsästhetik in den Blick nimmt, ist ihnen eines gemeinsam: Die Objekte werden ent-ästhetisiert. Kommunikationsdesign macht sie praktischen Interessen dienlich oder der Wahrheitsprüfung zugänglich (oder beides). Es macht sie für nicht-ästhetische Zwecke verfügbar und unterläuft die Unterscheidung zwischen theoretischen Erkenntnisurteilen, praktischen Handlungsurteilen und Geschmacksurteilen. Der (vielleicht frustrierende) Befund lautet also: Aus dieser Perspektive betreibt Kommunikationsdesign die Ent-Ästhetisierung von Objekten und Rezeptionsprozessen.

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Was wäre hier die Entsprechung zu dem, was Andreas Dorschel, von dem eine der wenigen philosophischen Untersuchungen zur Ästhetik des Produktdesigns stammt, als die »Ästhetik des Brauchbaren« bezeichnet? Formaspekte visueller Kommunikation sind vor allem Lesbarkeit, Verständlichkeit und, im weitesten Sinne, bildhafte Anmutung. Ästhetische Aspekte sind in den Wirkungszusammenhängen gestalteter Kommunikation keineswegs nur sekundäre, im Sinne Kants (1790: 310) ›bloß adhärierende‹ Qualitäten. Auch hier gilt, was Dorschel (2003: 9) vom Produktdesign sagt: »daß die Anforderungen der Sache ästhetische Qualitäten nicht einschränken müssen, sondern« geradezu auch »provozieren können«. Ich würde sagen, man könnte hier von einer »Ästhetik des Lesbaren« sprechen oder von einer »Ästhetik des Mitteilbaren«. Aber über diesen semiotischen – genauer gesagt: syntaktischen und pragmatischen – Aspekten darf man den phänomenologischen Aspekt oder, wenn man so will, den wahrnehmungsphilosophischen Aspekt des Sich-Zeigens von Formen nicht übersehen. Daher würde ich empfehlen, in Anlehnung an Lambert Wiesing, hier von einer »Ästhetik der Sichtbarkeit« zu sprechen. Nicht von ›reiner‹, ›isolierter‹ Sichtbarkeit, für die sich Wiesing im Anschluss an Konrad Fiedlers formale Ästhetik interessiert. Im Kontext des Kommunikationsdesigns geht es eben nicht um jene »Abspaltung des Nursichtbaren, des Schattenhaften zu einer eigenen Form des Seins«, wie Wiesing (2008: 175) – mit Fiedler und Robert Musil – im Blick auf die Kunst betont.

Ästhetik der Sichtbarkeit Ich plädiere dafür, eine »Ästhetik der Sichtbarkeit« vom soziokulturellen Potenzial des Kommunikationsdesigns her zu denken. Dafür gilt es, zwischen »sichtbar werden« und »sichtbar machen« zu unterscheiden. Meine These ist: In der Vielfalt der auf Singularität zielenden ästhetischen Formen visueller Designkulturen wie in der Produktwerbung, der Dokumentation und im Selbst-Design kommt stets auch ein Allgemeines »zur Erscheinung«, ein gesellschaftliches, kulturelles Allgemeines, das Resultat von Abstraktion ist und zugleich von konkreter Herrschaft. Ich möchte das erläutern, indem ich Umrisse einer kritischen Theorie des Kommunikationsdesigns skizziere. Grafikdesign gehört der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise an, in der die zeichen- und bildhafte Ästhetisierung industrieller Massenprodukte immer wichtiger wurde. Werbegrafik wurde im 19. Jahrhundert als Distributionsbeschleuniger gebraucht, der »den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite« gibt, wie Georg Simmel 1896 schrieb (zit. nach Böhme 2016: 107). Im

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20. Jahrhundert erzeugte Grafikdesign, im Verbund mit den neuen audiovisuellen Medien, Bedürfnisse, die das Leben immer kultivierter machen, wenn auch stets nur in Teilen, und weckte Begierden, die immer größer werden, je mehr man sie zu stillen versucht. Aber zugleich artikulierte sich im Design visueller Kommunikation auch eine innere Formbestimmtheit, die über diese Primärfunktionen hinausreicht. Lesbarkeit von Kultur und Wissenschaft, Visualisierung sozialer, politischer und wissenschaftlicher Fakten – das waren zentrale Anliegen der Avantgarde, für die Namen wie Jan Tschichold, Gerd Arntz und Otto Neurath stehen. Kommunikationsdesign zielt auf die verständigungsorientierte Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Zugleich steht der selbstbestimmten Nutzung und dem sozialen Design eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine sozioökonomische Präformation der Formgestaltung gegenüber. Letztere geht nicht zwingend aus der Beschaffenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor. Sie entsteht durch Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung. Kommunikationsdesign ist potenziell Werkzeug und Ausdruck von freier kultureller Selbstbestimmung, aber es realisiert sich vor allem als Instrument von Warenökonomie und politischer Kontrolle. Das öffentliche Potenzial wäre freilich nicht ohne die private Verwertungsstruktur zu haben. Denn ohne die den Produktionsverhältnissen immanente Profitausrichtung wäre die Produktivkraft »Design« nicht hervorgebracht worden. Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können, die wie ein Sach- oder gar Naturzwang erscheint. Kommunikationsdesign gehört zu Marketing und Branding, aber auch zur Herstellung soziokultureller Autonomie. Es ist Teil der Maschine, die das visuelle Unbewusste kolonisiert und die Formate vorgibt, in denen wir unser Leben nach aktuellen Erfordernissen der ästhetischen Ökonomie inszenieren; aber es ist auch dem Fernziel der Verständigung einer kommunikativ handelnden Menschheit verpflichtet. Kommunikationsdesign schafft intersubjektive Verständigung auf Grundlage eines Objektbezugs; es bezieht sich auf eine Lebensumgebung, die durch Arbeit und Interaktion gestaltet wird. Mündige, kommunikativ interagierende Menschen, die politische Freiheit herstellen, sind die Subjekte der Aufklärung. Design gehört zu ihrer Praxis, unterliegt aber auch deren Dialektik. Die ästhetische Dimension dieser Dialektik kann man, mit Gernot Böhme, als Raum der »ästhetischen Ökonomie« im gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Wirtschaftsweise bezeichnen. Es sind demnach nicht mehr allein die kulturindustriell standardisierte Massenunterhaltung und die attraktive »Aufmachung, das Arrangement würde Adorno sagen« (Böhme 2016: 100), nämlich das Arrangement der Waren, sondern

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die ästhetische Erfahrung überhaupt und speziell die Inszenierung des eigenen Lebens, die in eine widersprüchliche Dynamik hineingesogen werden.1

Kommunikationsdesign und ästhetischer Eigensinn In der Auseinandersetzung mit Böhmes Mitteilungskonzept lassen sich also auch konzeptionelle Beiträge zu einer Ästhetik des Kommunikationsdesigns herleiten. Aber auf schlüssige Weise nur dann, würde ich sagen, wenn die eingangs kurz diskutierte negative Formästhetik nicht einfach übergangen wird. Für Feige und Adorno manifestiert sich die kontraintuitive Irritationskraft von Kunstwerken über deren Formgesetz, sofern dieses imstande sei, Vernunft im emphatischen Sinn als ›ein gegenüber der gesellschaftlichen Realität gegenwendiges Moment‹ zu realisieren; nämlich immer dann, wenn ihm eine Logik der freien Synthesis von Teilen zugrundeliegt, die nicht gegen einander austauschbar sind. Das leuchtet ein, wenn von autonomen Kunstwerken die Rede ist, die allein ihrem Formgesetz verpflichtet sind und sich der Unterordnung unter Kriterien verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und deren Rezeption liegen. Doch wie steht es mit den sogenannten angewandten Künsten? Können sie ›gegenwendige Momente gegenüber der gesellschaftlichen Realität‹ aufweisen und Medien einer kritischen ästhetischen Erfahrung werden? Oder können das ausschließlich autonome Kunstwerke? 1 Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich (2006: 42) erläutert »den Charakter der Dingkultur« in Anlehnung an die Ästhetik Kants mit dem Hinweis auf die »Erfahrung«, die wir im Umgang mit Artefakten machen. Es handele sich um eine »Erfahrung […], es mit etwas zu tun zu haben, das zwar eine Richtung vorgibt, aber noch kein bestimmtes Ziel definiert. Wie ein Baum oder ein Ornament zu diversen Phantasien veranlassen und weder als bloß kontingent und gleichgültig noch als funktional fremdbestimmt erfahren werden, so kann auch ein Ding, besonders ein Markenprodukt, jenseits seines Gebrauchswerts sinnvoll scheinen, ohne daß man jedoch angeben könnte, worin genau sein Sinn bestehen – und sich erschöpfen – sollte.« (Ebd.) So entstehe eine flexible Gestaltungsmöglichkeit für die Selbstpräsentation: »der individuelle Selbstentwurf erfährt eine Bestätigung. Statt maßzuregeln oder zu determinieren, bietet das Ding seinem Besitzer eine Formatierungshilfe, dient aber zugleich als Variable.« (Ebd.) Die Besonderheit des einzelnen Dings ist freilich nur exemplarische Erscheinung eines Allgemeinen, das aus der gesellschaftlichen Beziehung der Menschen zu den Konditionen der Warenform resultiert. Oder, wie Ullrich (ohne Bezug auf die marxsche Theorie des Warenfetischs) formuliert: »Daß sie nur eine allgemeine Aura besitzen, macht Markenprodukte jedoch auch leicht verwechselbar. Ähnlich wie Losungen auf Parteitagen sind die Slogans, die für sie werben, häufig nur ›leere Codes‹.« (Ebd.: 42 f.)

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Letzteres würde ich nicht sagen. Im Kommunikationsdesign muss ›Ästhetik der Sichtbarkeit‹ nicht nur bedeuten, dass die Visualisierung von Strukturen und Prozessen auf eine Weise zu erfolgen hat, die nicht irritiert, sondern attraktiv und sozialkonformistisch ist. Bei der Gestaltung von Orientierungssystemen auf Flughäfen sollte die Irritation der Benutzer natürlich nicht das primäre Ziel sein. Aber auch angewandte visuelle Kunst kann nach dem »Ausdruck einer anderen Rationalität« suchen – um es nochmals mit Feige (2017: 208) zu sagen –, die nicht, wie die »verkürzte[…] Rationalität […] bloß nach dem Nutzen von Gegenständen fragt«. Auch verständigungsorientierte Kommunikationsgestaltung kann »Verständigungsgewohnheiten irritier[en]« und sich »dem Verstehen, dem gewohnten Umgang mit symbolischen Medien« entziehen, wie Bertram (2007: 36) mit Bezug auf Adorno formuliert. Auch Kommunikationsdesign kann »in ästhetischen Medien jeweils eigene Formen und Strukturen aus[bilden]« (ebd.: 37). An zwei Beispielen, »Klassikern« der populären Kultur, lässt sich das verdeutlichen: am Buchcover von Klau mich von 1968 und am Cover der LP Sticky Fingers von 1971. Auf dem Buch von Rainer Langhans und Fritz Teufel sieht man den stilisierten Umriss von vier Fingern einer rechten Hand, der Daumen ist auf der Umschlagrückseite zu erkennen. Sichtbar wird ein Griff nach dem Buch, nach einer Ware, deren Titel in leuchtend blauen, plakativ großen Lettern eine paradoxe Intervention formuliert. Der Inhalt des Buches besteht seinerseits aus »geklauten« Inhalten. Als Faksimiles reproduziert, werden amtliche Schreiben und Pressezitate rund um die Prozesse gegen Langhans und Teufel zu Zeugen und Beweismitteln in einem imaginären Prozess im Kopf der Leserinnen und Leser. Er soll darüber aufklären, wie sich die bürgerliche Gesellschaft der Etablierten die Rebellion der jungen Leute durch Kriminalisierung und Medienmanipulation vom Hals hält. Auf dem Cover der Rolling-Stones-Platte drei Jahre später sind die klebrig-verunreinigten Finger, von denen der Titel spricht, gar nicht zu sehen. Für sie steht metonymisch der dinglich-reale, gebrauchsfertige Reißverschluss, der die Plattenhülle zum sexuellen Partialobjekt macht. Die politische Geste der Achtundsechziger wird abgelöst von der hedonistischen Pose, die die Popkultur der 1970er Jahre kennzeichnet. Unser Kontextwissen über den Gestalter Andy Warhol, dessen Freund hier sozusagen das Dessous-Model gewesen sein soll, sagt uns, dass diese neue Ästhetik der Sichtbarkeit gleichwohl den sexuellen Befreiungsimpuls fortsetzt, der mit den Achtundsechzigern ins Zentrum der Alltagskultur getreten ist.

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Gehaltsästhetik, Ereignisästhetik und Kommunikationsdesign Offenbar empfiehlt es sich, im Zusammenhang mit Design eben nicht nur Formästhetiken zu konsultieren, sondern auch auf zwei konkurrierende Modelle ästhetischer Erfahrung zurückzugreifen. (1) Ästhetische Erfahrung bedeutet seit Kant, formelhaft verkürzt: Perzeption plus Reflexion. So auch in Hegels Philosophie der Kunst. Doch anders als in Kants dualem Konzept des Geschmacksurteils, das auf seinen Grund im Subjekt zurückgeführt wird, läuft es dort nicht auf das freie Zusammenspiel der Sinneswahrnehmung mit der Verstandestätigkeit hinaus. Hegel will das Erkenntnismoment in der Sinneswahrnehmung und das Wahrnehmungsmoment im Begriff rekonstruieren. Seine philosophische Ästhetik beobachtet, wie sich diese Gegensätze durch einander hindurchbewegen. Während sich in Kants Konzept ästhetischer Erfahrung die befreite Subjektivität manifestiert, manifestiert sich in Hegels Konzept die objektivierte Freiheit. Im Mittelpunkt steht hier das Verstehen geschichtlicher, d. h. soziokultureller Prozessgestalten in ästhetischer Rezeption. Ästhetische Objekte verkörpern durch ihre jeweilige Form einen jeweiligen geschichtlichen Gehalt, der ihre Stellung zur Objektivität bestimmt. Nimmt man Hegels nicht-formalistischen Begriff der Form zum Ausgangspunkt, kann man sagen: Es geht um die Anschauung von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt ästhetischer Objekte. Für Hegel gibt es bekanntlich drei symbolische Formen, in denen sich das Bewusstsein dem Absoluten – also Gott, der Unendlichkeit oder dem Geist – nähert. Kunst produziert äußere, sichtbare Bilder; ihr Medium ist die Anschauung. Religion geht einen Schritt weiter nach innen. Sie produziert innere Bilder – Träume und Visionen; ihr Medium ist die Vorstellung. Philosophie als höchste Annäherung an das Absolute durch Distanzierung vom sensuell Wahrgenommenen produziert Begriffe; ihr Medium ist das Denken. Anschauung und Vorstellung sind bei Hegel freilich alles andere als geistfrei. Weil sie bereits am Begriff teilhaben, ist Kunst für ihn ein wahrheitsfähiges Medium. Aber zugleich sind Anschauung und Vorstellung auch das Andere des Geistes. Deshalb kann erst philosophische Erkenntnis den Wahrheitsgehalt von Kunstwerken erschließen. Das Schöne als sinnliches Scheinen der Idee ist Erscheinung des abstrakten Begriffs. »Freie Kunst« und »angewandte« Künste sind in Hegels Ästhetik, wie zu Beginn erwähnt wurde, in einem hierarchischen Gefälle angeordnet. Können Designobjekte dann überhaupt als Verkörperung einer anderen Stellung menschlicher (Produktions-) Freiheit zur Objektivität gelten? Als objektiv intendierte Werkästhetik

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rehabilitiert Hegels Kunstphilosophie die Produktionslehre. Sie tut das zwar als Ideologie eines nachholenden Durchlaufens des Schöpfungsprozesses, welchen der absolute Geist inauguriere. De facto ratifiziert sie jedoch die praktische Selbstgewissheit des modernen industriellen Produktionsprozesses. Die Gewissheit, dass im schönen Werk Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit anschaulich vermittelt sind, transponiert den Gedanken, dass Natur ein »Moment menschlicher Praxis« (Schmidt 1993: 19) ist, in die Ästhetik. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Entkoppelung des Konzepts ästhetischer Erfahrung vom Kunstbetrieb, zur Einbeziehung von Gebrauchsgegenständen und Alltagsumgebungen als legitime Gegenstände ästhetischer Rezeption. Bekanntlich hat Hegel diesen Schritt aber nicht getan. Die Künste sind für ihn unterschiedlich komplexe Medien der Darstellung Gottes, mit anderen Worten: der Freiheit des Geistes. Aus dieser Perspektive ist die angewandte Kunst des Kommunikationsdesigns, wenn überhaupt, dann eine Vorstufe zur ästhetischen Praxis. Es handelt sich zwar nicht gerade, wie in der kantischen Perspektive, um eine Weise der Ent-Ästhetisierung der Dinge. Aber die Ästhetik des Kommunikationsdesigns ist – anders als die Architektur, die Hegel als symbolische Darstellung des Göttlichen vermittels der Gestaltung seiner Behausungen lobt – eine immanente Ästhetik. Die symbolisierende Gestaltung religiöser Devotionalien oder die religiösen Semantiken, die Dingen des profanen Gebrauchs mitunter appliziert werden, können nicht als Gegenargument herangezogen werden. Denn Hegels Entwicklungskonzept kann die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit von symbolisch-bildlicher, klassisch-humanistischer Skulptur und der romantisch-empfindsamen Kunstsprachen von Malerei, Musik und Literatur nicht als jeweils authentische Erscheinungen unterschiedlicher Stellungen des Bewusstseins zur Objektivität gelten lassen. Der Rückgang hinter den erreichten Stand der Ausbildung dieser Reflexionskünste auf anschauliche Verbildlichung des Heiligen oder seiner Stellvertretungen wird als regressive Verfallsform delegitimiert. (2) Von Nietzsche ausgehend, formierte sich mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Konzept der ästhetischen Einstellung als neues Paradigma. Eine zentrale Begriffskonstellation in Nietzsches Philosophie ist bekanntlich die des Werts, der Wertung und der Umwertung. »Werthgefühle und Werthunterschiede« (Nietzsche 1886: 105) sind das A und O seines Denkens. Das ästhetische wird mit dem praktischen Interesse verbunden, wenn Nietzsche (1872: 47) in seiner frühen Theorie der Künste behauptet: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. Mit negativem Bezug auf das Erkenntnisurteil erklärt er die Kunst als zauberisches Heilmittel für theoretische Menschen, die in der »Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit […] überall nur das Entsetzliche

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oder Absurde des Seins« (ebd.: 57) sehen würden. Ästhetische Erfahrung hat bei Nietzsche »eine Affirmation des Lebens und damit das Weiterleben zu ermöglichen« (Wellberry 2018). Dass diese Wende in der europäischen Philosophie nur durch Zufall mehr oder weniger parallel mit der Ästhetisierung des (Alltags-) Lebens durch die visuelle Kommunikation der industriellen Massenproduktion einsetzte, halte ich für unwahrscheinlich. Mit und nach Nietzsche eröffnet die ästhetische Einstellung als überlegene Alternative zur moralischen Weltdeutung genuine Bereiche des Erlebens, weil es die Kategorie des Ereignisses zum Fokus ästhetischer Reflexion macht. Nietzsche hat das Werk als zentrale ästhetische Kategorie verabschiedet. An dessen Stelle tritt der gestalterische Akt. Das schöpferische »Kunstschaffen« (Meyer 1993: 4) wird als höchster Ausdruck des Lebens angesehen. Kunst ist beim späteren Nietzsche nicht nur Überlebensmittel, sondern »Steigerung des Lebens«, weil sie »Ausdruck des Schaffenden« (ebd.) ist. Bei Nietzsche wird philosophische Ästhetik wieder zur Urteilsästhetik: Ästhetische Urteile sind für ihn – und die hierin an ihn anschließende Phänomenologie – grundsätzlich Werturteile (zur Phänomenologie siehe Henckmann 1998).

Entkunstung der Kunst und kommunikative Verrätselung von Alltagsobjekten Wenn ästhetische Erfahrung primär nicht mehr auf Werke ausgerichtet ist, sondern auf Reflexionsprozesse bei der Betrachtung, können Kunstobjekte ununterscheidbar von Alltagsobjekten werden, ohne dass dies der ästhetischen Erfahrung Abbruch täte. Rüdiger Bubner (2003: 47) hat den zeitgenössischen Trend zur Ausstellungskunst in den Events gesehen, die in Museen und an anderen Stellen des öffentlichen Raums stattfinden, als Folge der modernen Verschiebung ästhetischer Erfahrung auf den Raum »zwischen Ding und Reflexion«. Das »planmäßige Schillern moderner Kunstprodukte«, schreibt Bubner (2003: 42), »löst unvermeidlich eine Reflexionsfolge aus. Täuschst du dich, oder täuscht das Objekt? Sind das Steine und Suppendosen, oder ist das Ganze installiert? Was soll es denn bedeuten, wenn es schon nichts sagt?« Für Bubner (2003: 47) geht die Subjektivierung der ästhetischen Erfahrung mit dem Risiko einher, dass Kunstinszenierungen der Wiederbelebung der archaischen Kult-Funktionen dienen und der Kunstbetrieb zum wirtschaftspolitischen Standortfaktor bei der »Image-Vermarktung in internationaler Urbanitätskonkurrenz« degeneriert. Andererseits sieht Bubner auch eine Chance darin, dass sich der einst avantgardistische Reflexionszwang in einen kuratorischen Gemeinplatz

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verwandelt hat, denn daraus entstehe die Nötigung, in Diskurse einzutreten. »Kant und die Kommunikationstheoretiker der Gegenwart«, schreibt er, »stellen sich eine aufgeklärte Öffentlichkeit vor, deren Interaktion auf Grundlage subjektiver Kunsturteile entsteht.« (Ebd.) Grundlage dafür sei Kants Konzept des ästhetischen Gemeinsinns, der nicht nur die Grundlage für Verständigung über Schönheitsfragen ist, sondern auch die psychische Instanz, welche die einzelnen Sinne »zur Einheit einer verständigen Weltauffassung verbindet« (ebd.: 45). Ich erlaube mir, Bubners Motiv hier mit einem Wort von Adorno zusammenzufassen, das er selbst nicht verwendet hat: die »Entkunstung der Kunst«. Und ich plädiere nun dafür, »Entkunstung« der Kunst und die ästhetisierende Aufwertung von Designobjekten als komplementäre Erscheinungen zu deuten. Adorno spricht deshalb vom »Rätselcharakter« der Kunst: Er betont, dass Kunstwerke sich der Kommunikation entziehen, ja, dass sie es tun müssen, um authentisch zu sein, womit er meint, dass ihr Ausdruck und ihre Form nicht durch soziokulturelle Wahrnehmung- und Darstellungsgewohnheiten gegängelt sind. Aber dennoch stimmt es, wenn Bertram (2007: 37) konstatiert, dass Adorno Kunst gleichwohl »in dem Sinne als kommunikativ« versteht, »dass sie durch Entzug in das weltliche Verständnisgeschehen eingreift.« Im Kunstsektor verlangt die inszenierte Rätselhaftigkeit der Dinge nach Reflexion über den Sinn, den Sinnverzicht und Deutungsverweigerung haben könnten. Im Designbereich lädt die inszenierte Mehrfachkodierung des Zweckmäßigen zur Deutung seines Sinngehalts ein.

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Photographie und ästhetische Reflexion*1 Photographie und ästhetische Reflexion Photographie und ästhetische Reflexion

Die antike Philosophie kannte den neuzeitlichen Begriff der Ästhetik noch nicht. Aisthesis hieß Wahrnehmung, auch Empfindung und Gefühl. In der Neuzeit war Ästhetik zunächst die Lehre von den Erkenntnissen, die wir auf Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung haben. Man fragte: Wie erkennen wir etwas, ohne Begriffe, Urteile und Schlüsse zu verwenden – also nur durch die Sinnesdaten? Im 19. Jahrhundert waren die Naturwissenschaften für die Frage zuständig, wie die Sinneswahrnehmung funktioniert: Physik und Biologie, später auch Psychologie, die Naturwissenschaft vom Menschen. Nun verstand man unter Ästhetik Kunstphilosophie; man fragte, wie wir schöne ›Objekte‹ wahrnehmen, genauer gesagt: ›geistig wahrnehmen‹, also erleben und deuten. Heute verstehen die meisten Philosophen unter Ästhetik Reflexionen, die sich auf Kunst beziehen, aber auch die Weisen, wie wir uns in ästhetischer Einstellung die Wirklichkeit erschließen (Welsch 1993: 150). In ästhetischer Erfahrung verbinden sich affektive und kognitive Elemente. Warum ›brauchen‹ Menschen so etwas? Eine Antwort lautet: Weil das der privilegierte Ort ist, an dem unser Fühlen präsent wird. Oder, mit anderen Worten: Der Ort, an dem unsere Bedürfnisse artikuliert, vergegenwärtigt und innovativ verändert werden. Das »Grundmotiv ästhetischer Wertschätzung« ist das Bedürfnis »nach unverkürztem kommunikativen Ausdruck von Menschen« (Koppe 2004: 145 f.). Wenn Bedürfnisse in der ästhetischen Darstellung als erfüllte Bedürfnisse vergegenwärtigt werden, verwendet man das Prädikat schön, werden sie im Modus ihrer Frustration vergegenwärtigt, Prädikate wie hässlich, schrecklich, grässlich oder auch erhaben – je nach dem Grad der Frustration und der Hoffnung, die dem Subjekt bleibt.

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Vortrag bei den Darmstädter Tagen der Fotografie am 26. April 2014.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_6

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In der Alltagskommunikation werden erfüllte und unerfüllte Bedürfnisse meist durch verbale Stereotypen repräsentiert. Die Alltagssprache denotiert, Konnotationen spielen eine sekundäre Rolle. Wenn sich der Erfahrungshorizont durch die ›Sprachen der Kunst‹ erweitert, wird die standardisierte Wahrnehmung durch ein Primat der ästhetischen Form irritiert, das die Konnotationen aufwertet. Ich sage beispielsweise zu einer Kollegin: »Warst du schon mal in Italien?«, aber Goethes Mignon fragt: »Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen?« In den ›Sprachen der Kunst‹ wird die Kontingenz der Zeichen überschritten. Ästhetische Zeichen sind nicht willkürlich und konventionell. Sie suchen nach nicht austauschbaren, ›nichtidentischen‹ Ausdrucksgestalten für das, was sie bezeichnen. Die ›bedürfnisartikulierenden‹ Sprachen der Künste kommen jenseits der Schematisierungen der Lebenswelt, ihrer Alltagssprache und der am Nutzen orientierten Gestaltung ins Spiel. Kunst und andere Spielarten ästhetischer Gestaltung artikulieren unsere Bedürfnisse differenzierter und intensiver. Sie formen sie neu. Ihre Möglichkeiten und der Raum ihrer Befriedigungen werden klarer erkennbar, ebenso auch der Mangel und das Fehlen. Ich fasse zusammen: Ästhetik ist die begriffliche Klärung der Grundlagen der ästhetischen Erfahrung. Ästhetische Erfahrung machen wir mit Kunstwerken, in der Natur und im Alltag. Sie ist durch Medien vermittelt, die heute nicht mehr als Teil eines privilegierten Kunst-Bereichs oder eines Kunstrituals aufgefasst werden. Heute erwartet man von ästhetischer Erfahrung nicht mehr unbedingt, dass sie ›schön ist‹. Das entspricht der Entwicklung der philosophischen Ästhetik. Sie untersucht seit dem 19. Jahrhundert nicht nur das Konzept der ›Schönheit‹, sondern auch die Konzepte des ›Erhabenen‹, des ›Komischen‹ oder ›Lächerlichen‹, des ›Hässlichen‹ oder des ›Schrecklichen‹ und ›Grässlichen‹. In Kunstausstellungen, bei Punkrock-Konzerten oder Raves mit Techno-Geräuschen kann man ästhetische Erfahrungen machen, die nichts mehr mit visueller und musikalischer Schönheit zu tun haben. Wenn ich ein Video von Bill Viola betrachte, kommt es darauf an, dass ich ein Problem oder ein Statement erfasse und affektiv beteiligt bin. Beim Punk geht es um Ausdruck und Haltung, beim Techno um Körpererfahrung in Bewegung. Das ist dann so ähnlich wie beim Sport und der hat natürlich auch eine ästhetische Dimension. Ästhetik ist also tatsächlich eine »Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens« geworden, wie Freud vorgeschlagen hatte. Ich werde fünf Modelle der ästhetischen Einstellung vorstellen: Kontemplation, Korrespondenz, Imagination, Differenz und Kritik.1 1 Drei von ihnen – Kontemplation, Korrespondenz und Imagination – gehen auf die Naturästhetik zurück (siehe Seel 1991 a), doch auch sie lassen sich ohne Weiteres auf

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(1) Kontemplation ist Betrachtung, die von Handlungen, Intentionen, Interessen, Nutzen und Interpretationen absieht. Die Erscheinung einer Landschaft beispielsweise wird in ihrer Anwesenheit als Erscheinung wahrgenommen (Seel 1991 a: 39). (2) Im Korrespondenz-Modell hat die ästhetische Erfahrung handlungsrelevante Lebensbezüge. Dann empfindet man z. B. die Landschaft als Lebensraum, der das eigene Erleben intensiviert oder herabdrückt. Dann ist die Landschaft nicht Objekt der reinen Anschauung, das losgelöst von Interessen und Bedürfnissen betrachtet wird. Man ist darin involviert. Die Dinge und Lebewesen sind verbunden mit Tätigkeiten, Plänen, Hoffnungen und Ängsten. Sie haben Bedeutung: Der Wanderweg führt zu einer Stelle, an der man einmal ein wichtiges Gespräch geführt hat. Man macht einen Spaziergang, um sich in Ruhe eine Strategie für das Gespräch mit dem Chef über die Gehaltserhöhung zu überlegen. Die Wetterlage ist beunruhigend, weil sich ein Unwetter zusammenzieht. Die Gegend »korrespondiert« mit den eigenen »Lebensinteressen« (Seel 1991 a: 90). Die Objekte, mit denen man ästhetische Erfahrungen macht, antworten gleichsam auf die Impulse, mit denen man sie besetzt. Die Richtung der Ästhetik, in der man die Wirkungen untersucht, die Dinge, Orte oder andere Menschen auf wahrnehmende Subjekte haben, ist die Phänomenologie – von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty bis hin zu Hermann Schmitz und Gernot Böhme. Dort kann man lernen, dass die Empfindungen des Subjekts nicht bloß Projektionen sind. Ich spüre etwas, weil von dem, was ich wahrnehme, etwas ausgeht, das meine Empfindung bewirkt. Es geht um einen Zwischenbereich, der Subjekt und Objekt umschließt; er wird mit dem Begriff der »Atmosphäre« gekennzeichnet. Gefragt wird nach der »Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden« (Böhme 1995: 22 f.). – Ein Landschaftsbild kann man zum Beispiel im Kinderzimmer aufhängen, um eine Atmosphäre aufzubauen, in der das Kind für die Dinge des Lebens zuversichtlich gestimmt wird. (3) Im Imaginations-Modell der ästhetischen Einstellung nimmt man Gegenstände der Anschauung als gestaltete Objekte wahr. Das Bild einer Landschaft wird dann nicht als Landschaft gesehen, sondern als Bild. Diese Einstellung ist reflexiv, sie wendet sich zurück auf den Wahrnehmungsakt und seine besonderen Bedingungen. Man sagt z. B.: »Diese Landschaft sieht aus wie von Cézanne gemalt«, oder: »Heute sieht die Stadt aus wie von Cartier-Bresson fotografiert«. Die Zeichen und die Form, die eine ästhetische Erfahrung bewirken, treten ins Bewusstsein. Die Dinge sprechen die Sprache der Kunst (Seel 1991 a: 136). Sie teilen sich mit, indem sie ihre eigene Wirklichkeit erschaffen. Das Landschaftsbild wird auf seine Machart hin betrachtet und mit anderen großen Vertretern dieses Genres verglichen. alle anderen Bereiche der Ästhetik übertragen. Zu den Modellen Kritik und Differenz siehe Schweppenhäuser 2007: 27–33.

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Die Richtung der Ästhetik, die diesen Bereich am besten erschlossen hat, ist die Semiotik. Semiotische Ästhetik unterscheidet den Zeichencharakter der ästhetischen Mitteilung von anderen Mitteilungsarten. In der ästhetischen Funktion ist das Zeichen nicht dem Gegenstand untergeordnet, für das es steht. Die Form ist selbstreferenziell und das Material der Mitteilung kann als solches wahrgenommen werden. Roman Jakobson hat das die »poetische Funktion« des Zeichens genannt (siehe Friedrich 1999: 87 ff.). Hier geht es nicht um das ›Was‹, sondern um das ›Wie‹. Sprache wird ›Lautmaterial‹: Ton, Klang und Sprachform. Bilder werden ›Bildmaterial‹: Farbe und Bildform. Der Eigenwert des Mediums tritt ins Bewusstsein, die Zeichen werden gleichsam ›spürbar‹. Aus dieser Perspektive sind Kunstwerke »Zeichen«, »deren Bedeutung es ist, zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen« (Seel 1991 b: 61). (4) Das Differenz-Modell beschreibt ästhetische Prozesse als Annäherungen an das ›Andere‹ und ›Unverfügbare‹, das sich der Repräsentation entzieht und nur in ästhetischen Chiffren erfahrbar wird. In diesem Modell ist Ästhetik wieder in erster Linie Kunsttheorie. In der Systemtheorie wird mit der Kategorie der Differenz operiert, um zu beschreiben, was Kunst leistet. Die fiktionale und bildliche Wirklichkeit der Kunst unterscheidet sich von der realen. Kunst ist ›Realitätsverdoppelung‹, meinte Luhmann. Sie schafft eine zweite Realität, die zwar fiktional ist, aber Strukturähnlichkeit mit der nichtfiktionalen Realität hat. Ihre Operationen folgen einer eigenen Sinnrationalität. Der Sinn von Kunst ist es, eine Differenz zwischen Kunstsystem und allem Übrigen zu schaffen, und zwar mit ästhetischen Mitteln, also Farben, Noten, Worten usw. Luhmann hat betont, dass die neue Realität, die »imaginäre Welt der Kunst« »eine Position« ermöglicht, »von der aus etwas anderes als Realität bestimmt werden kann. Ohne solche Differenzmarkierungen wäre die Welt einfach das, was sie ist, und so, wie sie ist.« (Luhmann 1995: 229) (5) Wer schließlich mit dem Kritik-Modell in der Ästhetik arbeitet, knüpft an ihr kognitives und ihr pragmatisches Potenzial an. In der Philosophie heißt ›etwas kritisieren‹, seine spezifische Leistung und Funktionsweise zu bestimmen. Nehmen wir beispielsweise eine medienphilosophische ›Kritik des Fernsehens‹. Das ist keine Auseinandersetzung mit mangelhafter Programmqualität oder mit Folgen des Fernsehkonsums, die nicht wünschenswert sind. Nein, es handelt sich um die Bestimmung der besonderen Leistung, also der Funktions- und Wirkungsweise dieses Mediums, durch die es sich von anderen Medien, zum Beispiel dem Radio, unterscheidet: Was kann man nur im Medium Fernsehen realisieren, was nicht oder nicht so gut usw. Im Kritik-Modell wird jene Dimension des Ästhetischen akzentuiert, die die Wirklichkeit nicht verdoppelt, sondern verändert: Was sind die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung? Welche Hinweise gibt eine ästhetische Ordnung, um eine andere gesellschaftliche Ordnung zu antizipieren? Wie wird ästhetische Erfahrung verhindert oder manipuliert? –

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Auch hier geht es um die besondere Beschaffenheit ästhetischer Erfahrung, die sie von anderen Formen der Erfahrung unterscheidet. Ästhetische Erfahrung stiftet Erkenntnis und ermöglicht Handlungen, weil sie kognitive, affektive, sensorische und imaginäre Prozesse im Menschen verbindet – und zwar als freie Verbindung, ohne Hierarchie, die Sinne und Phantasie dem Verstand unterwirft. Und nun zur Ästhetik der Fotografie: Ich möchte zeigen, wie die Varianten der ästhetischen Einstellung im Alltag unserer Bilderwelt in einem konkreten Fall aussehen. Meine Beispiele nehme ich nicht aus der inszenierten, auf ästhetische Wirkung zielenden Fotografie. Denn gerade an Beispielen, die man nicht der ›schönen Kunst‹ zuordnen würde, lässt sich gut zeigen, was die ästhetische Einstellung ausmacht. Daher habe ich ein Pressefoto ausgewählt, das preisgekrönte Bild »Signal« von John Stanmeyer aus dem Jahr 2013.2 (1) In der kontemplativen Einstellung widmet man sich der Erscheinung, ohne sie zu deuten. Man nimmt die Szenerie als reines Phänomen der Anschauung wahr. Hier sind acht Menschen zu sehen, eine nicht eindeutig zu identifizierende Silhouette, Meer, Himmel und sechs Leuchtkörper. Der Bildraum erschließt sich über elementare Parameter der Gestaltwahrnehmung – also Vordergrund und Hintergrund bzw. Figur und Grund – sowie durch die Staffelung der Personen in zunehmender Entfernung von der Kameraposition. Die Personen bilden im Ganzen eine Gruppe; einige scheinen kleine Untergruppen zu bilden, andere eher für sich zu stehen. Räumlichkeit und Atmosphäre des Bildes kommen natürlich auch durch die reduzierte Farbigkeit zustande: Blautöne, Schwarz und Weiß. Fünf Leuchtkörper sind direkt zu sehen, einer indirekt, weil er das Gesicht einer Person erhellt. Einer der Leuchtkörper ist ein Himmelskörper, bei den anderen handelt es sich um technische Artefakte. Auffällig ist die ungewöhnliche Position, die gerichtete Haltung über Kopfhöhe. – Die Personen stehen wie Statuen. Ihre gestaffelte Anordnung verleiht dem Bild die Spannung einer eingefrorenen rhythmischen Bewegung. Zwanglos ließe sich die Bildkomposition als Dreiecksform beschreiben; die Schenkel des Dreiecks werden vom Saum des Lichtscheins gebildet. Die helle Scheibe des Mondes mit einigen konzentrischen Kreisen wirkt wie der Mittelpunkt einer spiraligen Anziehung, zu der die Personen hinzustreben scheinen ... Das sind nur einige von vielen möglichen Konnotationen des Bildes, die sich auf der kontemplativen Einstellungsebene erschließen. 2

»African migrants on the shore of Djibouti City at night raise their phones in an attempt to catch an inexpensive signal from neighboring Somalia – a tenuous link to relatives abroad. Djibouti is a common stop-off point for migrants in transit from such countries as Somalia, Ethiopia and Eritrea, seeking a better life in Europe and the Middle East.« (https://www.worldpressphoto.org/collection/photo/2014/contemporary-issues/ john-stanmeyer [letzter Abruf: 13.8.2018]).

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(2) Wenn die ästhetische Einstellung die der Korrespondenz ist, gibt es handlungsrelevante Lebensbezüge – obwohl das Bildgeschehen so eigentümlich und fremdartig erscheint. Aufgrund meiner Lebenserfahrung weiß ich, dass die Personen Mobiltelefone in der Hand halten. Ich weiß ferner, dass das Foto nachts aufgenommen wurde – und nicht, wie es früher beim Film hieß, in der »amerikanischen Nacht«, also bei Tage mit entsprechenden Kamerafiltern. (Wäre der Himmelskörper die Sonne, sähe die Reflexion der Strahlen auf der Wasseroberfläche anders aus.) Wenn ich die exponierte Figur in der Bildmitte betrachte, sagt mir das Allgemeinwissen, dass es sich vermutlich um einen Menschen handelt, der afrikanische Wurzeln hat. Ich verarbeite die Darstellung eines Vorgangs in der realen Welt als Erfahrung, die bei der Orientierung hilft. Ich versetze mich in die Lage der Menschen. Wenn ich die vitale Daseinserfahrung habe, dass der Empfang beim Mobiltelefon Probleme bereiten kann, verstehe ich, dass sie die Geräte nicht nach oben halten, um selfies zu schießen. Und ich weiß aus der textlichen Rahmung des Bildes, dass es sich um Flüchtlinge handelt, die Kontakt zu ihren Angehörigen suchen; vielleicht auch zu den Helfern, ohne die sie verloren wären. Ich kann mir vorstellen, dass die hoch ästhetische, vielleicht sogar romantische Atmosphäre des Bildes von den Abgebildeten ganz anders erlebt wird, nämlich als angstvolle Spannung, vermischt mit schwacher Hoffnung auf ein besseres Morgen. (3) Im Imaginations-Modell der ästhetischen Einstellung werden Objekte der Anschauung als Kunstobjekte wahrgenommen. Das Bild von acht Personen mit Telefonen bei Mondschein am Meer ist dann nicht in erster Linie Sachinformation, sondern Bild. Die Dreieckskomposition verweist auf die Tradition der christlichen Ikonografie. Das Wasser wird zum Verweis auf die Tradition der Marinemalerei. Die Farbigkeit erlaubt Bezüge zur Malerei der frühen und späten Moderne, von der Romantik über die monochrome Malerei bis hin zur Land Art. (Bekannte Beispiele wären das Bild »Seestück bei Mondschein auf dem Meer« von Caspar David Friedrich aus den Jahren 1827/28 im Museum der Bildenden Künste, Leipzig, und Robert Smithsons »Spiral Jetty« von 1970.) Die Anordnung der Personen evoziert Erinnerungen an Kult- und Ritualformen. – Diese Einstellung ist reflexiv; sie wendet sich zurück auf die besonderen Bedingungen der Wahrnehmung, in diesem Fall sind es kulturell überlieferte. (4) Gleichwohl ist klar, dass es sich bei diesem Bild nicht um Kunst handelt, die durch Realitätsverdoppelung eine zweite, fiktionale Realität erzeugt. Hier geht es nicht um die Produktion der Differenz zwischen dem System, innerhalb dessen das Bild operiert, und allem Übrigen. Im Gegenteil: Ein Pressefoto ist, der Intention nach, ja ein Dokument. Der ›Klassiker‹ der semiotischen Analyse der Strukturen von Medienbildern ist ein Text von Roland Barthes (1961): »Die Fotografie als Botschaft«. Auch wenn es dort um

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Pressefotos aus einer vergangenen Ära geht, die durch das digitale Bild abgelöst wurde, ist es lohnenswert, sich noch einmal mit Barthes (1961: 12) »strukturale[r] Analyse der fotografischen Botschaft« zu beschäftigen. Ihm zufolge erscheint Fotografie wie eine »Botschaft ohne code« (ebd.: 15), die lediglich denotiert; daher schreibt man ihr »besondere Glaubwürdigkeit« (ebd.: 17) zu. Tatsächlich funktionieren Fotografien aber gerade deshalb, weil sie »eine denotiert-konnotierte Doppelstruktur« (ebd.: 18) besitzen. Jedes Foto denotiert manifeste, offizielle Bedeutungen und konnotiert latente Bedeutungen. Die Letzteren folgen kulturellen Kodierungen, sie sind also nicht einfach den individuellen Assoziationen überlassen. So entstehen visuelle »Mythologien«. »[A]lles vollzieht sich, als ob das Bild auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe, als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete«, schrieb Barthes (1957: 113). Er wollte die »Naturalisierung des Kulturellen« (Barthes 1961: 21) entmythologisieren, indem er zeigte, dass Bedeutungen immer von Menschen gemacht und daher veränderbar sind. Im Falle von Bildern hieß das, ihre textartige Struktur zu entziffern. Die Denotationen der ikonischen Botschaft sind die Personen, Dinge und visuellen Merkmale des Raumes; also alles, was das Bild zu sehen gibt. Mit den Worten von Barthes (1961: 12): Die Denotation erfolgt über »die Linien, Oberflächen und Schattierungen«, und, das müssen wir hinzufügen, über die Farben – also über die Faktoren, durch die ein Foto visuelle Analogien mit dem fotografierten Signifikat erzeugt. Die Konnotationen der ikonischen Nachricht hängen hier vor allem am stummen Ausdruck der Personen und an der Atmosphäre des Bildes. Sie gehen in die Richtung, die ich zuvor aus der Perspektive des Korrespondenz-Modells und des Imaginations-Modells beschrieben hatte. Das kulturelle Bildgedächtnis stellt Konnotationen bereit: Rituale, abenteuerliche Reisen, Licht in der Nacht. Die vitale Daseinserfahrung und das Alltagswissen bereiten den Boden für andere Konnotationen: Ausgrenzung, Kampf ums Überleben in einer globalisierten kapitalistischen Ökonomie, Chancen und Grenzen von Kommunikationstechnologien und social media. (5) Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Kritik-Modell der ästhetischen Einstellung, wo jene Dimension des Ästhetischen betont wird, die darauf ausgeht, die Wirklichkeit zu verändern. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung sind in diesem Fall die warenförmigen Gesetze der Produktion und Vermarktung, die in den Massenmedien herrschen. Ästhetische Erfahrung wird hier immer auch manipuliert, um Aufmerksamkeit als Anreiz für Kaufentscheidungen zu instrumentalisieren. Oder um sie zur Ressource bei der Herstellung von Einverständnis mit dem bestehenden Zustand von Welt und Gesellschaft zu nutzen. In diesem Zusammenhang geht es um die Spannung zwischen Vermarktung und Aufforderung zum Eingreifen, die viele Pressefotos prägt. Ein Dokument des sozialen Geschehens kann ästhetisch verklären, aber auch Erkenntnis stiften und

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zum Handeln motivieren, indem es einen moralischen Impuls auslöst – indem es zu sagen scheint: Das muss aufhören! Um den Bilderfetisch einer Bildkritik zu unterziehen, die phänomenologische, semiotische und ideologiekritische Aspekte verbindet, muss das kontemplative Modell der ästhetischen Einstellung überschritten werden und die Modelle der Korrespondenz und der Kritik müssen einbezogen werden. Dann kann man die Bilder erschließen, mit denen die Medienindustrie unser visuelles Unbewusstes kolonisiert. Und Antworten auf die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung finden sowie auf die Frage, wie ästhetische Erfahrung manipuliert wird. Und dann kann man auch all die anderen Bilder erschließen, mit denen wir aus freien Stücken kommunikative und ästhetische Erfahrungen machen.

Literatur Barthes, Roland (1957): Mythen des Alltags, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998. Barthes, Roland (1961): »Die Fotografie als Botschaft«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 11–27. Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Friedrich, Thomas (1999): Bewußtseinsleistung und Struktur. Aspekte einer phänomenologisch-strukturalistischen Theorie des Erlebens, Würzburg: Königshausen & Neumann. Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 1984. Koppe, Franz (2004): Grundbegriffe der Ästhetik, Paderborn: Mentis. Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Schweppenhäuser, Gerhard (2007): Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Frankfurt/M., New York: Campus. Seel, Martin (1991 a): Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Seel, Martin (1991 b): »Kunst, Wahrheit, Welterschließung«, in: Perspektiven der Kulturphilosophie, hrsg. v. F. Koppe, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 36–80. Welsch, Wolfgang (1993): Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam.

Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung*2 Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Im Folgenden werden philosophische Aspekte des Kommunikationsdesigns aus der Perspektive der semiotischen Kulturtheorie und der kritischen Theorie skizziert. Ich werde argumentieren, dass diese Aspekte als Dialektik visueller Aufklärung beschrieben werden können: Im Kommunikationsdesign manifestiert sich gleichzeitig der normative Gedanke eines vernünftigen Allgemeinen (die autonom gestaltete Lebenswirklichkeit in privater und öffentlicher Sphäre) und das Verwertungsinteresse unter herrschaftlichen Konditionen (die Befreiung des Besonderen als Antizipation eines konkret Allgemeinen, deren partikulare Form dessen Realisierung jedoch blockiert). Vor diesem Hintergrund werde ich mich mit Otto Neuraths Ansatz und der aktuellen Debatte über Ziele und Methoden der Designwissenschaft auseinandersetzen. In der heutigen Designforschung wird Neurath nicht gerecht, wer verkennt, dass er die Verbindung von Wissenschaft und Kommunikationsdesign als Teil einer gesellschaftlichen Revolutionierung der Produktions- und Distributionsverhältnisse entworfen hat, die nach einem vernünftigen Plan verlaufen sollte. Andererseits hat Neurath selbst sein eigenes Ziel insofern verfehlt, als er mit seinem Verständnis von Wissenschaft die innere Form der Information, also ihre Warenform, nicht begreifbar machen kann.13

Vortrag auf der Tagung Was war Design? des Instituts für Geschichte und Theorie der Gestaltung an der Universität der Künste in Berlin am 9. Dezember 2017 und im »Designlabor« des Master-Studiengangs Informationsdesign der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg am 17. Januar 2017. 1 Für die konzise Zusammenfassung des Neurath-Aspekts in den letzten beiden Sätzen danke ich Thomas Friedrich. *

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_7

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Kommunikationsdesign und visuelle Dialektik der Aufklärung

Design als kulturelle Semiotisierung der Wirklichkeit Die Wahrnehmung von Formen gehört akzidentell stets zum Modus des Gebrauchs von gestalteten Objekten, aber mitunter ist sie selbst substanzielle Gebrauchsweise. Letzteres gilt für den Bereich des Designs, der »Kommunikationsdesign« genannt wird (und in dem es nicht nur um die Wahrnehmung von Objekten, sondern auch um die von Prozessen geht). Kommunikationsdesign entstand bekanntlich im Zeitalter industrieller Massenproduktion als Produktwerbung. In den Gesellschaften der fordistischen Periode (tendenzielle Vollbeschäftigung, Massenkonsum und kulturindustriell organisierte Freizeitgestaltung) kam es zur Blüte und half bei der »Programmierung des Publikums« und der »Kolonisierung des visuellen Unbewussten« (Fredric Jameson). Zugleich war Kommunikationsdesign aber nicht nur visuelles Marketing und Propaganda. Die Gestaltung visueller Kommunikation ist stets auch visuelle Aufklärung gewesen. Das zeigen semiotische Kulturtheorien, wenn sie auf den historischen und soziokulturellen Charakter von Semiosen reflektieren, um den naturalistischen oder (im Sinne von Roland Barthes) den »mythologischen« Schein zu destruieren, dass es eine natürliche oder metaphysische Motiviertheit der Zeichen gibt. Allgemein kann die soziale Praxis der Kultur als ein kollektiver Prozess der Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit (Posner 1992: 37) beschrieben werden. Kommunikationsdesign ist für den öffentlichen Prozess der Semiotisierung unerlässlich (und das gilt auch für die Epoche, als das Design noch keine arbeitsteilig ausgeübte Tätigkeit mit definiertem Berufsbild war). Lebensumgebungen werden durch Arbeit und Interaktion verändert und – partiell, regional, aber kontinuierlich – in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. In diesem Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeutungsgeflechten mittels Zeichengebrauch bezeichnet. Husserl und Heidegger bezeichneten Kultur als »das Thema des interaktiv deutenden und handelnden Menschen« (Orth 1997: 54). »Die Wirklichkeit, wenn sie denn erscheint, erscheint dem Menschen als ›seine‹, ihm nähere oder fernere ›Welt‹. Der Inbegriff der Phänomene gerät damit zum Begriff der Kultur.« (Ebd.) Kultur ist die Wirklichkeit, die sich Menschen durch Deutung aneignen. Die Bedeutungsgeflechte, deren Zusammenhang »Kultur« genannt wird, entstehen durch Semiotisierung der Wirklichkeit mittels wandlungsfähiger Kodierungen. Daher sind Kommunikationsdesignerinnen und Kommunikationsdesigner »Kulturschaffende«. Aber nicht alle Kulturschaffenden sind Kommunikationsdesignerinnen und Kommunikationsdesigner. Was ist deren spezifische Tätigkeit? Was unterscheidet sie von allen anderen, die ebenfalls Kultur produzieren, indem sie Segmente der

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Wirklichkeit semiotisieren, z. B. durch Übersetzung körperlicher Phänomene in medizinische Kodes oder alltagspraktischer Konflikte in juristische Kodes? Um mit semiotischen Termini zu erläutern, was Kodierung ist, muss man die Frage beantworten, was kulturelle Texte sind. Folgt man Roland Posner, dann kann die semiotische Kulturtheorie grundsätzlich »jede lineare Folge kodierter Zeichen« (Posner 1992: 24) als Text beschreiben: beispielsweise Verkehrsschilder, eine gotische Kathedrale oder alltägliche Werkzeuge. Eine Sequenz von Hinweisen an einer Schnellstraße wird zum Text, weil man die einzelnen Zeichen in rascher Folge liest und als handlungsleitenden Zeichenzusammenhang erschließt. Eine gotische Kathedrale bietet sich den Benutzern ebenfalls als »Text« dar, weil Bauplan und Ausführung ein geordneter Zusammenhang von Bezeichnungen sind, die für markante Bestandteile der christlichen Heilsgeschichte stehen. Für diese Beispiele ist die linear-sequenzielle Lektüre wesentlich; aber auch wenn die nicht vonnöten ist, zum Beispiel bei Werkzeugen, kann im semiotischen Sinn von einem Text die Rede sein, weil »ihre Form in ihrer Kultur als Signifikant für ihre Funktion wahrgenommen wird« (ebd.: 31). Der Beitrag von Kommunikationsdesignerinnen und -designern zur Produktion kultureller Sinnzusammenhänge mittels Zeichen besteht erstens darin, dass sie dies professionell tun. Sie tun es zweitens, indem sie Zeichen in geformte Text- und Bildgestalten verwandeln. Drittens tun sie dies für einen öffentlichen Raum. Dort gestalten sie strategische und verständigungsorientierte Botschaften. Sie helfen einerseits dabei, Menschen durch werbliche Botschaften und Propaganda zu instrumentalisieren. Andererseits tragen sie durch Strukturierung und Vermittlung von Informationen zur Erweiterung der Selbstbestimmung kommunizierender Menschen bei. Kommunikationsdesign übersetzt nicht kodierte Wirklichkeitssegmente in Kodes (im Sinne der Erschließung durch primäre Kodierung), es vertextet die Objektwelt. Über diese primäre Kodierung hinaus werden Texte aus bestehenden Kodes in andere Kodes übersetzt; und zwar mit Hilfe von Transformationsregeln (im Sinne von Charles William Morris), die sicherstellen, dass der unterschiedliche Zeichengebrauch adäquat übertragen wird, damit die Verwender kommunizieren können. Walter Benjamin hat gefragt, was die »Aufgabe des Übersetzers« ist. Er meinte: Übersetzer zeigen, dass es eine vernünftige Idee ist anzunehmen, dass es eine universale Sprache aller Menschen gibt. Man kann die Idee der gemeinsamen Sprache mythologisch oder theologisch als »Ursprache« verstehen – missverstehen, würde ich dann sagen. Man kann sie aber auch als »regulative Idee« im Sinne von Immanuel Kant verstehen. Damit ist ein normatives Verfahrensziel gemeint: Wenn man das Ziel allgemeiner Verständigung erreichen will, muss man die Regel befolgen, stets so vorzugehen, als könnten grundsätzlich alle Sprachen ineinander übersetzt

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werden. Darin besteht die prozedurale Verfahrensrationalität der regulativen Idee. Der Möglichkeit nach ist Kommunikationsdesign die visuelle Seite dieses Projekts.2 Kommunikationsdesign hilft bei der Herstellung soziokultureller Autonomie: Es ist der regulativen Idee, dem Fernziel der Verständigung einer kommunikativ handelnden Menschheit verpflichtet. Kommunikationsdesign schafft intersubjektive Verständigung auf Grundlage eines Objektbezugs; es bezieht sich auf eine Lebensumgebung, die durch Arbeit und Interaktion gestaltet wird. Also bewegt es sich in der Sphäre des öffentlichen Vernunftgebrauchs und des öffentlichen Handelns. Darin hatte Kant das Merkmal gesellschaftlicher Aufklärung gesehen. Aus der Forderung nach sozialer Freiheit zur öffentlichen Erörterung wissenschaftlicher, gesellschaftlicher sowie kultureller und religiöser Themen hat Kant die Forderung nach politischer Freiheit abgeleitet. Zusammenleben in vernünftig begründeter Gleichheit und Freiheit: das war die Sozialutopie der Aufklärung. Ihr Programm ist der Ausgang aus einer Unmündigkeit, die durch Herrschaft erzwungen, aber auch selbstverschuldet ist, in herrschaftsfreie Kommunikations- und Interaktionsverhältnisse. Das verbale und visuelle Design, das solche Verhältnisse, in Verbindung mit Wissenschaft, Technik und Politik, anbahnt, gehört zur Praxis der Aufklärung.

Aufklärung, Naturbeherrschung und Infografik Max Weber hat darauf hingewiesen, dass Aufklärung fortschreitende Naturbeherrschung voraussetzt. Mit dem Begriff der Rationalisierung meinte Weber (1919: 594) das credo der Aufklärung, dass „es […] prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, […] daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne.« Die Verfahrensrationalität moderner Wissenschaft beruht auf Quantifizierung, Messung, Operationalisierung und statistischer Erfassung. Als Infografik (ein Genre des Kommunikationsdesigns, das es seit dem 19. Jahrhundert gibt) ist das in den letzten Jahren populär geworden. Statistisches Wissen wird visuell so aufbereitet, dass die Gesetze der Gestaltwahrnehmung greifen. Eine Vielfalt von Einzelinformationen wird reduziert und als Muster dargestellt. Aus

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Bedeutungsdifferenzen, die sich beim verbalen und visuellen Übersetzen nicht transponieren lassen (zumal auf der konnotativen Ebene), sind nicht notwendigerweise Verluste. Sie können zum Differenzierungsgewinn beitragen: Wenn ihre Unübersetzbarkeit ins Bewusstsein tritt, kann man sie verbal oder visuell umschreiben und begreifen. Vokabular und Syntax erweitern sich permanent.

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chaotischer Mannigfaltigkeit wird ein einheitliches Ganzes. So wird ein Muster der Wirklichkeit in ein Sinn-Bild übersetzt, das zwischen Sinnlichkeit und Sinn oszilliert, zwischen konkreter Anschaulichkeit und begrifflicher Abstraktion.3 Infografiken wollen nicht nur Tatsachen aufzählen. Sie zielen auf synchrones Erfassen komplexer Wirkungszusammenhänge. In der Rezeption eines Textes würde dies diachron und Schritt für Schritt erfolgen; Infografiken bieten eine bildartig-synchrone Einsicht in die Zusammenhänge an. Worte und Zahlen gehören aber stets auch dazu. Das stellt die Infografiken in die Tradition der Allegorie, einer barocken Text-Bild-Form: Gedanklich-abstrakter Gehalt wird in eine sinnlich-anschauliche Gestalt übersetzt;4 erläuternde Worte werden hinzugefügt, die oft zugleich alles wieder verrätseln. Die Texte dienen der Erschließung der intendierten Bedeutung »hinter« der sinnlichen Präsentation. Aber Infografiken sind keine Allegorien, sondern Metaphern – Metaphern für Statistiken. Infografik ist visualisiertes wissenschaftliches Wissen. Insofern gehört sie zum Arsenal rationaler Aufklärung. Wenn die Rationalität der Aufklärung, wie Weber sagte, darin besteht, »daß man alle Dinge durch Berechnen beherrschen« kann, dann heißt das aber auch, dass der herrschaftskritische Impuls der Aufklärung gegenwendig wird, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno etwa 20 Jahre nach Weber feststellten. Herrschaftskritik hatte die Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich aus der Taufe gehoben und zu Beginn der bürgerlichen Epoche vehement bestimmt. Aber technische Naturbeherrschung durch wissenschaftliche Aufklärung ist die Grundlage politischer und sozialer Herrschaft. Wird sie zum Maß aller Dinge, dann wird aus Herrschaftskritik Herrschaftssicherung. Naturbeherrschung, das höchste und letzte rationale Ziel, wird zur Norm sozialen Handelns. Vermessung und statistische Erfassung für die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten erscheinen als ultima ratio. Emanzipation der Menschen durch Naturbeherrschung verlängert die Herrschaft von Menschen über Menschen.

3 Man kann es auch, im Sinne von Hegel, umgekehrt formulieren. Hegel vertrat die Ansicht, dass die philosophische Rekonstruktion der Wirklichkeit im Begriff eigentlich den Namen Konkretion verdient, weil sie eine Vielzahl von Einzeltatsachen und Einzelbeobachtungen zusammenzieht, also kon-grediert, während der gerade, unmittelbare Blick auf die bunte Vielfalt der Wirklichkeit, der an ihrer Oberflächenerscheinung haften bleibt, von den zugrundeliegenden Strukturen abstrahiert und das Wesen, von dem die Erscheinungen ein Bild geben, nicht begreift. In diesem Sinne wäre also die sinnliche Anschauung abstrakt und die denkende Erfahrung einer textlich-begriffliche Struktur konkret. 4 »Abstrakt« im nicht-hegelschen Sinne.

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Für Horkheimer und Adorno ist das die Dialektik der Aufklärung: Die Einsicht, dass die Ordnung der Welt nicht von Natur aus besteht, sondern von Menschen gemacht ist, führt nicht in die Freiheit. Frei wäre eine menschliche Gesellschaft, die das Subjekt ihres geschichtlichen Handelns ist. Doch an die Stelle der (rational nicht mehr haltbaren) Vorstellung einer natürlichen Ordnung ist nicht das Ziel getreten, eine vernünftige, bewusst und selbst gemachte Ordnung herzustellen. Statt gemeinsamer Bemühung um eine vernünftige Sozialordnung aus Freiheit in solidarischer Praxis regiert ein »subjektlose[s] Allgemeine[s]« (Mensching 1992: 11) – das moderne Produktions- und Konkurrenzverhältnis. Die Frage ist, ob man ihm mit statistischen Erkenntnismethoden beikommen kann.

Utopie und Ideologie der (Bild-)Statistik Schauen wir uns an, wie der Vater der kritischen Infografik das Projekt wissenschaftsmethodologisch begründet hat. Otto Neuraths »Wiener Methode der Bildstatistik« stellt soziale Daten und Tendenzen mit vereinfachten, typisierten Zeichen dar. Neurath wollte »mit seinen Konzepten der visuellen Kommunikation« Informationen mit einer global kommunizierbaren visuellen Sprache »so schnell und einfach wie möglich […] vermitteln.« (Hartle 2018: 138) Neurath gehörte zum Wiener Kreis; im Geiste des logischen Positivismus drang er auf »Entschlackung und Universalisierung durch Vereinheitlichung« (ebd.: 140) der Aussagen. »Der gewöhnliche Bürger«, schrieb er, »sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann« (Neurath, zit. nach Hartmann und Bauer 2006: 28). Statistiken eignen sich bestens, um logisch sauber visualisiert zu werden. Piktogramme sind dafür ideal; sie sind aufs Wesentliche reduziert und von allem gereinigt, was von der Botschaft ablenken könnte. Aber Statistiken sind gerade aufgrund ihrer Transparenz und Eindeutigkeit nicht gegen Ideologie gefeit. In der kritischen geografischen Forschung ist in den letzten Jahren untersucht worden, wie Statistiken zu falschem Bewusstsein beitragen können. Als Fazit wurde festgehalten: »Jede Statistik ist anfällig für Ideologie, weil sie isolierende Abstraktionen benötigt und notwendigerweise de-kontextualisiert.« (Bothe 2014: 51) Ihre Erscheinungsform kann den Eindruck hervorrufen, dass die Relationen, die zwischen den präsentierten Sachverhalten hergestellt werden, alternativlos sind (ebd.: 52). Statistische Fakten erscheinen geschichtslos; auch, wenn sie inhaltlich das Gegenteil besagen. Wir haben es mit dem Phänomen der Verdinglichung zu

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tun. Fakten, »Räume« und »Territorien« werden gezeigt, aber »deren soziale Bedingtheit« wird per se nicht sichtbar. »[D]er ideologische Charakter von Statistik kann […] in der Darstellung und in der Form selbst liegen, wenn deren Charakter als soziales Produkt unsichtbar wird.« (Ebd.)5 Das ist natürlich auch in der Designtheorie untersucht worden. Thomas Friedrich (2015: 11) schreibt in seinem Aufsatz »Kritik der Informationsgrafiken« dazu Folgendes: »Daten systematisch zu ordnen, um […] aus ihnen […] Informationen, im besten Fall sogar Wissen zu machen, ist voraussetzungsvoll. Es gibt […] unterschiedliche Weisen solcher […] Ordnung – durchgesetzt hat sich die statistische […], welche die Lebenswelt in eine Zahlenwelt transformiert. Die erlebte Alltagswelt ist aber voll von Widersprüchen, sie ist antagonistisch aufgebaut; die physikalische, die soziale und die subjektiv-psychologische Welt sind in der Lebenswelt […] miteinander verwoben. Sie, bzw. Teile von ihr, statistisch darstellbar zu machen, erfordert eine spezifische Zurichtung. Die Darstellung der Welt in Zahlen suggeriert […] Objektivität. Ihre […] Zurichtung der Lebenswelt, die ohne Gewalt in unterschiedlichen Formen und Abstufungen gar nicht zu denken ist, wird dabei häufig verschleiert, ebenso dahinter stehende Interessen der Auftraggeber von Statistiken.« Friedrich zeigt das anhand der Arbeitslosigkeits-Statistiken in Deutschland. Die sehen jedes Jahr schöner aus, weil die Berechnungsweise verändert wird, mit der man das Datenmaterial informationell aufbereitet. Das wird aber nicht mitkommuniziert. Auch Neuraths emanzipatorische ISOTYPE ›transformiert die Lebenswelt in eine Zahlenwelt‹. Die Leseweise des statistischen Materials ist auch dort von der Art und Weise geprägt, in der wir gelernt haben, konventionelle Statistiken zu lesen.6 Sie präsentieren Ausschnitte aus dem »komplizierten Netz« der »Oberfläche«, wie es in dem Manifest des Wiener Kreises heißt, das Neurath mitverfasste. Das kann zur ikonischen Verdinglichung werden.

5 »Wenn sich diese Statistiken dann noch auf Räume bzw. Territorien beziehen, wird auch deren soziale Bedingtheit unsichtbar. Zu den Gefahren der Verdinglichung von Statistiken kommt […] die des Raumfetischismus, der die ›physische Lage im Raum‹ […] ohne Berücksichtigung [von] dessen Gewordenheit als Erklärung ansieht: ›Diese doppelte Reifizierung ist dann auch doppelt anfällig für Ideologieproduktion‹.« (Bothe 2014: 52) 6 Erich Schöls hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Neurath angesichts des propagandistischen Einsatzes der Wiener Methode im Kooperationsinstitut ISOSTAT in Moskau durch die russische Regierung Vorbehalte gegen die Ideologisierung des Einsatzes von Statistiken anmeldete und seine Aktivitäten dort beendete.

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Designwissenschaft und Auftragsforschung Neurath war Nationalökonom und Philosoph. Er vertrat einen empiristischen, metaphysikfeindlichen Ansatz. Auch insofern bietet es sich geradezu an, ihn zur Galionsfigur der Designforschung zu machen, die in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen hat. Designforschung ist sowohl die Praxis als auch das umstrittene normative Zentrum der Designwissenschaft. Sofern sie sich überhaupt als Disziplin versteht, ist sie eine relativ junge Fachrichtung. Die akademische Professionalisierung der Designausbildung begann hierzulande in den 1970er Jahren, als Werkkunstschulen sich in Gestaltungsfachbereiche an Fachhochschulen oder Kunsthochschulen verwandelten. Heute fordern deren Vertreter von Hochschulleitungen und Ministerien Geld für eigene Forschungsprojekte. Zur Begründung verweisen sie auf die enorme Relevanz von Design als ökonomische und kulturelle Produktiv- und Vermarktungskraft. Im Zeitalter der Digitalisierung hat die Verwissenschaftlichung der Produktionsweisen ein neues Niveau erreicht. Das hat auch zur Verwissenschaftlichung des Designs geführt. Innerhalb der Design-Community wird das keineswegs einhellig begrüßt. Hier ist strittig, wie hoch der Forschungsanteil an Designfachbereichen sein sollte, und strittig ist auch, ob es überhaupt genuine Designwissenschaft und Designforschung gibt. Was wären deren Gegenstände? Welche Methoden sind anzuwenden, welche Forschungsziele anzuvisieren? Die Auffassung des Verhältnisses von Design, Wissenschaft und Forschung hat sich verändert; das gehört zu der Veränderung dessen, was allgemein unter Wissenschaft verstanden wird. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist diese Veränderung in einer Studie über The New Production of Knowledge beschrieben worden (Gibbons et al. 1994/2014). Die deutsche Übersetzung erschien zehn Jahre später unter dem dramatisierenden Titel: Wissenschaft neu denken. Wissenschaft und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit. Die Autorinnen und Autoren dieser Studie untersuchten The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. Ein Ergebnis war folgendes: Die Reorganisation des wissenschaftlichen Sektors zu den Konditionen einer verschärften Weltmarktkonkurrenz hat dazu geführt, dass sich Forschungsprozesse aus ihren traditionellen Formen lösen; sie werden sozusagen unakademischer. Früher dominierte disziplinär orientierte Arbeit; seither wird eher projekt- und anwendungsorientiert geforscht. Das verändert das Verständnis von wissenschaftlicher Forschung. Finanziert werden Forschungsvorhaben meist nur, wenn sie disziplinenübergreifend angelegt sind und ihre Nutzanwendung belegen können. Entsprechend habe sich das Selbstverständnis der Beteiligten verändert: Forscherinnen und Forscher sehen sich weniger als Fachgelehrte innerhalb über-

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lieferter Wissenschaftssektoren und mehr als Praktiker der Wissensproduktion, die in unbeständigen Teams arbeiten, die auf aktuelle Auftraggeber und Budgets zugeschnitten sind. Arbeitsteilung wird durch das Bewusstsein abgelöst, dass die unterschiedlichen Bereiche sozialer Wissensproduktion zusammenhängen. Wissenschaft wird als ein Teil sozialer Praxis im Zusammenhang mit Kultur und Wirtschaft verstanden (Gibbons et al. 1994: 1–16; Mareis 2010: 21). Menschen auf dem Gebiet der Wissensproduktion seien miteinander durch ihre »gemeinsamen intellektuellen Orientierungen« sowie »durch materielle und ökonomische Interessen verbunden« (Gibbons et al. 1994: 8). Das richtet sich auch gegen wissenschaftliche Selbstbestimmung. »Wissenschaft und Forschung« könnten nicht mehr »als ein autonomer Raum verstanden werden«, resümiert Claudia Mareis (2010: 20). Wissenschaftlich erzeugtes Wissen »hat nützlich zu sein, sei es für die Industrie, für die Regierung oder für die Gesellschaft im allgemeinen Sinne. Dieser Imperativ ist von Anfang an gegenwärtig.« (Gibbons et al. 1994: 4) Forschungsteams aus Sozialwissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen und Geschäftsleuten tun sich kurzfristig zusammen, wenn »die Natur des Problems es erfordert« (ebd.: 5). Auch die Humanwissenschaften seien willkommen, wenn das »Nachdenken über die Werte vonnöten ist, die in menschlichen Bestrebungen und Vorhaben impliziert sind« (ebd.). In den Fachbereichen Philosophie, Anthropologie und Geschichte habe sich »die Angebotsseite solchen Nachdenkens von der Nachfrageseite abgelöst« (ebd.: 8), heißt es in der Studie. Die Humanwissenschaften hätten sich entfernt »von den Geschäftsleuten, Ingenieuren, Ärzten, behördlichen Agenturen und der allgemeinen Öffentlichkeit, die bei einer enormen Bandbreite von Themen praktische oder ethische Führung braucht« (ebd.). Dies würde sich jedoch allmählich ändern. Diese neue Auffassung von Wissenschaft bezeichnen die Autoren der britisch-schweizerischen Studie liebevoll als mode two (im Gegensatz zum traditionell akademischen Wissenschaftsverständnis im sogenannten mode one). Im mode two konvergieren die systemischen Regelkreise von Wissenschaft und Wirtschaft. Das kontext- und anwendungsbezogene Problemlösungswissen folgt dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage (ebd.: 4). Im Zuge dieses Prozesses tritt die Designforschung auf den Plan und bietet sich als generalistische Problemlöserin an. Wenn es um eine passende Wissenschaftstheorie geht, beruft man sich nicht selten auf Neurath, den Pionier der transdisziplinären Verbindung von Wissenschaft und Grafikdesign. Dass Neurath das als Teil einer sozialistischen Revolutionierung der Produktions- und Distributionsverhältnisse entworfen hat, in der gesellschaftliche Arbeit und die Verteilung ihrer Ergebnisse einem vernünftigen Plan zu folgen hätten, wird meist geflissentlich übergangen. Neurath wird zum Stichwortgeber bei der planlosen Ökonomisierung von Kultur und Gesellschaft, die er Zeit seines Lebens bekämpft hat.

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Als die Autonomie der Wissenschaft bei Entscheidungsträgern, Forschenden und Studierenden noch etwas galt, taten sich, oftmals unbeabsichtigt, Räume auf, die nun verloren gehen, wenn sich der wissenschaftliche Sektor neu formiert. Wissenschaft gilt als soziale und kulturelle Praxis, aber geformt wird sie von den Imperativen wirtschaftlicher und politischer Herrschaft. Empirische Forschung muss sich nützlich machen, für Industrie, Militär und Machthaber aller Art sowie für die Verwaltung sozialer und kultureller Belange. Andernfalls werden ihr die Subsistenzmittel entzogen. In der Folge entsteht eine Filterblase aus konformistischen Projektanträgen. Der Bertelsmann-Konzern hat die Bologna-Reform auf den Weg gebracht, die das akademische Studium durch Verkürzung der Studienzeiten und Einschränkung der Möglichkeiten zu inhaltlicher Vertiefung in eine berufsvorbereitende Ausbildung verwandelte. Die Lobbyarbeit der Medien- und Bildungsindustrie sorgt dafür, dass auf politischem Wege eine dauerhafte Nachfrage für ihr Angebot gesichert wird. Zurück zur Designwissenschaft und Designforschung: Was wären deren Gegenstände? Welche Methoden sind anzuwenden, welche Forschungsziele anzuvisieren? Ich plädiere dafür, die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass Design wissenschaftliche und forschende Aufgaben übernimmt, in ihrer Widersprüchlichkeit zu beschreiben. Wenn die Emanzipation des Kommunikationsdesigns Bestandteil einer Entautonomisierung und Funktionalisierung der Wissenschaften für eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Reproduktion ist, dann ist genau das als Konflikt zum Thema zu machen. Zu untersuchen wäre, welchen Part Kommunikationsdesign übernimmt, wenn die Aneignung der Arbeitskraft als Ware und die Verwertung des Werts durch strategische Kommunikation zur Manipulation der Verwender abgesichert und der politische Herrschaftsrahmen dafür stabil gehalten wird. Zu untersuchen wäre, welche Möglichkeiten Kommunikationsdesign hat, sich dem zu verweigern und die Selbstbestimmung der Benutzerinnen und Benutzer zu befördern. Und zwar im regulativen Sinne einer universalen Sprache mündiger Menschen, die sich autonom verständigen können und ihre Codes zur kulturellen Semiotisierung der Wirklichkeit selbst schreiben. Einst als Distributionsbeschleuniger für die Warenzirkulation eingeführt, kann Kommunikationsdesign Beiträge zur De-Kommodifizierung der Lebenswelt leisten. Ich finde es daher wichtig, darüber nachzudenken, ob Design als versatiler Vernetzungsdienstleister für marktgängige Forschung im Sinne von mode two verstanden wird oder als Zweig der Kultur- und Sozialwissenschaften. Kommunikationsdesign als angewandte, kritische Humanwissenschaft: Das wäre mein Favorit.

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Kommodifizierung der Information Otto Neurath wollte wissenschaftliche Methoden und gestalterische Mittel einsetzen, um soziale Beziehungen zu revolutionieren. Dabei musste analysiert werden, ob die ökonomischen Institutionen geeignet sind, das Glück der größten Zahl zu maximieren. Wie gesagt: Das Ziel war eine vernünftige, planmäßige Organisation sozioökonomischer Prozesse, in der das Partikularinteresse der Kapitalverwertung durch das Universalinteresse an gerechter Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands abgelöst wird. Volkspädagogische Aufklärung sollte den Weg zur freiheitlich-sozialistischen Lebensgestaltung ebnen. Die Entfaltung der visuellen Produktivkräfte sollte genutzt werden, um selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen. Neurath hatte erkannt, dass visuelles Lehren in einer Epoche unerlässlich wird, in der Menschen einen »großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme [empfangen]. Die Tageszeitungen bringen von Jahr zu Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte Reklamewesen, das […] mit optischen Signalen […] arbeitet« (Neurath, zit. nach Hartmann und Bauer 2006: 26). Aus diesem pädagogischen Befund leitete er die Forderung ab: »Das System einer Bildersprache [hat] Sätze der Wissenschaft in Bilder zu verwandeln« (ebd.: 116). Dieselbe soziokulturelle Tendenz, in deren Verlauf sich Design als Zweig der interdisziplinären Wissensproduktion emanzipiert, ist aber auch die Tendenz, in deren Verlauf Informationen zur Ware werden. Es ist die Tendenz, die alle menschliche Poiesis und Praxis (alles Herstellen und Tun) den Gesetzen des Marktes unterwirft, und der ist in der Moderne bekanntlich den Gesetzen einer Produktionsweise unterworfen, die man als kapitalistische bezeichnet. Dass Informationen zur Ware werden, heißt nicht nur, dass sie käuflich zu erwerben sind. Es geht nicht um diesen äußeren Umstand, sondern um ihre innere Form. Information als Ware folgt dem Gesetz der Verwertung des investierten und produzierten Werts. Eine Ware ist dazu da, auf dem Markt den Mehrwert zu realisieren, der bei ihrer Produktion aufgespeichert wurde. Wirtschaftliche Relevanz hat sie nur vermöge ihres Tauschwerts. Ihr Gebrauchswert ist lediglich das Substrat für die Realisierung des potenziellen Werts. Ihr Gebrauchswert ist also (in der Terminologie der aristotelischen Philosophie des Mittelalters) akzidentell, nur beiherspielend. Waren werden nicht in erster Linie um seinetwillen produziert. Da die Produktion von Waren unter Bedingungen der Konkurrenz sich immerfort vervielfacht, gibt es immer mehr Waren, deren Gebrauchswert nur Anhängsel ihrer Tauschbarkeit ist. Wenn man beispielsweise den Müll zur Ware macht, wird es immer mehr Müll geben. Ein Mittel zur Vervielfachung des Mülls sind Verpackungen; die

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sollen nicht nur die Ware beim Transport schützen, sondern, mittels Design, den »Inszenierungswert« (Gernot Böhme) des Produkts für die Käufer visuell realisieren. Unter den Bedingungen der warenproduzierenden Konkurrenzökonomie muss es auch immer mehr Informationen geben; ob und wozu jemand sie braucht, ist zwar nicht völlig egal, aber doch zweitrangig.

Untiefen des neopositivistischen Wissenschaftskonzepts Es gehört zur Dialektik der designerischen Aufklärung, dass die Errungenschaften der visuellen Kommunikation von Wissen die Ziele nicht erreicht haben, für die Neurath ein Forscherleben lang stand. Meiner Ansicht nach hängt das nicht nur mit widrigen äußeren Umständen zusammen, sondern auch mit Neuraths Auffassung von Wissenschaft. Es sei nicht deren Aufgabe, hinter den sinnlich wahrnehmbaren und empirisch überprüfbaren Dingen nach Wesensbestimmungen zu suchen. Wissenschaft müsse an der Oberfläche bleiben. Mit den Worten von Neurath und seinen Kollegen vom Wiener Kreis: »Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine ›Tiefen‹; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen faßbares Netz.« (Hahn/Neurath/Carnap 1929: 11) Neuraths Ideal, fasst Johan Hartle zusammen, war »eine ›befreite Symbolik‹ aus […] wertfreien, positiven Zeichen«; »Befreiung hieß […] auch […] Befreiung von Mehrdeutigkeit, Ikonizität und ästhetischer Unbestimmtheit.« (Hartle 2018: 140) Im Manifest des Wiener Kreises, das Neurath im Jahre 1929 mitverfasst hat, heißt es, »die Bewegung der wissenschaftlichen Weltauffassung« sei »empiristisch und positivistisch«: »es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruht.« (Hahn/Neurath/Carnap 1929: 15) Mit diesen begrifflichen Mitteln kann man aber die innere Warenform, die die Dinge und die Praxis in der kapitalistischen Produktionsweise annehmen, nicht erfassen. Neuraths positivistischer Empirismus hat genau an dem Punkt zu kurz gegriffen, an dem die kritische Theorie das Wesen des »automatischen Subjekts« der bürgerlichen Gesellschaft auf den Begriff bringen konnte. »Der Wesensbegriff«, schrieb der Frankfurter Philosoph Günther Mensching (1975: 175), »der die moderne Gesellschaft als Totalität konstituiert und doch nicht als erscheinendes Einzelfaktum dingfest gemacht werden kann, ist das Kapital, daseiende Abstraktion, die sich durch die Einzelmomente des Prozesses der neueren Geschichte hindurch reproduziert«. Damit wären wir wieder bei Aristoteles und Marx: bei der Warenform als innerer Form, die das Denken und Handeln prägt. Marx hatte argumentiert,

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dass Wissenschaft die Voraussetzung für Kritik ist, denn »alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen« (Marx 1894: 825). Seine kritische Theorie der Gesellschaft auf wissenschaftlicher Basis geht von der Distinktion zwischen Wesen und Erscheinung aus, die dem Kategorienarsenal der Metaphysik entstammt. »Daher ist der Marxsche Materialismus immanent genötigt, die Realität des Abstrakten zu unterstellen.« (Mensching 1987: 69) Dass der Begriff der Form aristotelische und thomistische Wurzeln hat, ist offenkundig, aber das disqualifiziert ihn nicht als metaphysische Erblast, auch nicht im Bereich des Designs. Von hier aus kann man nämlich wieder an das Prinzip Infografik anknüpfen und Neuraths visuelle Sprache nutzen, um Ideologien zu durchleuchten. Und zwar in Verbindung mit Diskursen.7

7 Das wurde in der Würzburger Master-Thesis von Benedikt Martini (2017) mit Erfolg versucht. Ihr Thema sind populäre ökonomische Narrative. Durch eine Verbindung von Infografiken und theoretischen Exkursen wird über die Mythen aufgeklärt, die diesen Narrativen zugrunde liegen. Martinis Arbeit positioniert sich gleichzeitig im öffentlichen Raum, im virtuellen Raum und in Buchform. Dabei wird die »soziale Bedingtheit« der Fakten und der fake news sichtbar gemacht. Die Verbindung mit Diskursen, in denen die innere Form ökonomischer Vergesellschaftung thematisiert wird, unterläuft den möglichen »ideologischen Charakter« von Statistiken und den Positivismus des »unmittelbar Gegebenen«.

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Benedikt Martini befasst sich mit der Rolle des Kommunikationsdesigns zwischen Manipulation und Information. Eine fundierte öffentliche Meinungsbildung über das bestehende Wirtschaftssystem scheint unmöglich, weil Inhalte oft verkürzt und häufig ohne größeren Kontext dargestellt werden. Wie ließe sich demgegenüber ein visuelles Angebot zur Wissensvermittlung über das bestehende Wirtschaftssystem schaffen, sodass offene und komplexe Diskurse ermöglicht werden?

Benedikt Martini

Manipulation oder Information? Politisches Kommunikationsdesign in der »Postdemokratie«

VSA:

Fundierte öffentliche Meinungsbildung ist seit der Finanzkrise von 2008 nahezu unmöglich. Wie kann ein sozial und politisch verantwortliches Design jenseits von Werbung und PR umgesetzt werden?

Benedikt Martini Manipulation oder Information?

Abbildungen

ISBN 978-3-89965-757-9 9 783899 657579

Martini_Manipulation_oder_Information.indd 1

www.vsa-verlag.de

VSA:

Zentrale Impulse enthält sein Ansatz aus der in den 1920er Jahren maßgeblich von Otto Neurath (mit Unterstützung des Grafikers Gerd Arntz) entwickelten Wiener Methode der Bildstatistik. Mit Plakat- und Servietten-Grafiken sowie Bierdeckel-Texten bereitet der Autor ökonomische Sachverhalte auf und macht so ein fortschrittliches Konzept der Arbeiter- und Volksbildung für die Anforderungen medialer Diskurse im 21. Jahrhundert nutzbar.

29.05.2017 07:37:10

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Quelle aller Abbildungen: Benedikt Martini, Manipulation oder Information? Politisches Kommunikationsdesign in der »Postdemokratie«, Hamburg: VSA, 2017.

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Literatur Bothe, Julian (2014): Kritik und Statistik. Nutzen und Gefahren statistischen Wissens für Kritische Geographien anhand der Positionen von Popper, Marx, Derrida und Foucault, Abschlussarbeit im Masterstudiengang Geographie »Global Transformations and Environmental Change« der HafenCity Universität Hamburg, Institut für Geographie (https://www.hcu-hamburg.de/fileadmin/documents/Professoren_und_Mitarbeiter/ Joerg_Pohlan/Bothe_Julian_Masterarbeit_2014_Kritik_und_Statistik_errata.pdf [letzter Abruf: 13.8.2018)]. Friedrich, Thomas (2015): »Kritik der Informationsgrafiken«, in: Informationsvisualisierung. Missbrauch und Möglichkeit, hrsg. v. V. Götz u. A. Rigamonti, Stuttgart: av edition, S. 11–13. Gibbons, Michael, Camille Limoges, Helga Nowotny, Simon Schwartzman, Peter Scott u. Martin Trow (1994): The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage (dt.: Wissenschaft neu denken. Wissenschaft und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist: Velbrück, 2004, 4. Aufl. 2014). Hahn, Hans, Otto Neurath und Rudolf Carnap (1929): »Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis«, hrsg. v. Verein Ernst Mach, in: Wiener Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Philipp Frank, Hans Hahn, Karl Menger, Edgar Zilsel
und Gustav Bergmann, hrsg. v. M. Stölzner u. T. Uebel, Hamburg: Meiner, 2006, S. 3–16. Hartle, Johan F. (2018): »Abbildlichkeit und Transparenz der Zeichen. Otto Neuraths sozialdemokratische Bildpolitik«, in: Handbuch der Medienphilosophie, hrsg. v. G. Schweppenhäuser, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 137–143. Hartmann, Frank, und Erwin K. Bauer (2006): Bildersprache. Otto Neurath Visualisierungen, Wien: WUV. Martini, Benedikt (2017): Manipulation oder Information? Politisches Kommunikationsdesign in der »Postdemokratie«, Hamburg: VSA. Marx, Karl (1894): Das Kapital. Dritter Band, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1967. Mensching, Günther (1975): »Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins«, in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹. Beiträge und Interpretationen, hrsg. v. P. Bulthaup, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 170–192. Mensching, Günther (1987): »Nominalistische und realistische Momente des Marxschen Arbeitsbegriffs«, in: Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, hrsg. v. G. Schweppenhäuser, D. zu Klampen u. R. Johannes, Lüneburg: zu Klampen, 2. Aufl., S. 58–76. Mensching, Günther (1992): Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart: Metzler. Orth, Ernst Wolfgang (1997): »Heidegger und Husserl. Kultur als Horizont des Erscheinens«, in: Heidegger – neu gelesen, hrsg. v. M. Happel, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 54–74. Posner, Roland (1992): »Was ist Kultur? Zur semiotischen Explikation anthropologischer Grundbegriffe«, in: Kultur-Evolution. Fallstudien und Synthese, hrsg. v. M. Landsch, H. Karnowski u. I. Bystrina, Frankfurt/M.: Peter Lang, S. 1–65. (https://www.semiotik. tu-berlin.de/fileadmin/fg150/Posner-Texte/Posner_Was_ist_Kultur.pdf [letzter Abruf: 13.8.2018]). Weber, Max (1919): »Wissenschaft als Beruf«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 582–613.

Zur Dialektik des visuellen Nominalismus Kommunikationsdesign und »alter Realismus«*1 Zur Dialektik des visuellen Nominalismus

In der sozialen Porträtfotografie des 20. Jahrhunderts steckt ein unerledigtes Problempotenzial aus der Tradition des philosophischen Universalienrealismus. Das werde ich in Anknüpfung an Alfred Döblins Lesart der Arbeiten von August Sander rekonstruieren. Aber ist über den Klassiker sozialdokumentarischer Porträtfotografie nicht schon längst alles gesagt? Kürzlich war zum Beispiel in Hans Beltings Buch Faces. Eine Geschichte des Gesichts zu lesen: »Nach dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entwickelte August Sander […] das neuartige Projekt, die Menschen offen als Repräsentanten von Berufen und Ständen abzubilden. Er zeigte sie als soziale Typen in ganzfigurigen Ansichten ihrer gesellschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit am Schreibtisch oder auf der Baustelle […] gleichsam alle Stände, selbst die bisher ausgeschlossenen Klassen, [wurden] in offiziellen Fotografien mit einer je eigenen Norm vorgestellt.« (Belting 2013: 224) »Das Projekt«, schrieb Belting (2013: 224), »wurde gleichsam im Widerstand gegen das bürgerliche Porträt entworfen«, und deshalb träten dort »die lange geleugneten Widersprüche in der Gesellschaft offen zutage«. Und auch dazu, was Döblin über Sander geschrieben hat, scheint schon alles gesagt. Die Verbindung ist ja bestens bekannt: Döblin schrieb die Einleitung zu einem Buch mit einer Auswahl von Sanders großem Projekt, einer noch nie dagewesenen, konzeptionell strukturierten *

Für Anregungen danke ich Hyun Kang Kim; für eine kritische Lektüre früherer Fassungen und für weiterführende Literaturhinweise Christoph Naumann-Zimmer. – Dem Text liegen Vorträge auf der Tagung Realism in Design an der Hochschule Düsseldorf am 20. Mai 2017, in Sven Kramers Seminar Realismuskonzepte in Literatur und Film an der Universität Lüneburg am 1. Juni 2017, und beim Symposion Perspektiven der Fotografie zugrunde, das Marcus Kaiser an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg am 9. November 2017 geleitet hat. Der Text enthält Auszüge aus dem Manuskript meines Buchs Revisionen des Realismus. Zwischen Sozialporträt und Profilbild, das 2018 im Metzler Verlag erscheint.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_8

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Sammlung von Porträtfotografien seiner Gesellschaft in jener Epoche. Das Buch hieß Antlitz der Zeit, im Untertitel: Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. Es hat Ende der 1920er Jahre Aufsehen erregt, die Kritiker haben es gefeiert, und bis in die jüngste Zeit fand es Nachahmer; zum Beispiel Stefan Moses, der ebenfalls das Adjektiv »deutsch« im Titel verwendete, aber, anders als Sander, Menschen vor einem ausgespannten hellen Tuch fotografierte, mit einem Attribut in der Hand, das ihren Beruf indizieren soll. Im Diskurs der Fotogeschichte wurde Antlitz der Zeit Ende gegen der 1970er Jahre als paradigmatisches Werk anerkannt. Dafür war Susan Sontags Buch On Photography von 1977 wichtig. Sontag hatte sich dabei an Walter Benjamins »Kleine Geschichte der Fotografie« von 1931 angelehnt, die bis heute als ein Referenzwerk der Fototheorie gilt. Als Benjamin dort die Bedeutung von Sanders Arbeiten würdigte, war er auch auf Döblins Einleitung zu sprechen gekommen. Man könnte beinahe sagen, das ging auch gar nicht anders. Döblin war 1929 ein Schriftsteller von Weltruf, Berlin Alexanderplatz war im selben Jahr erschienen wie Antlitz der Zeit. Für Kurt Wolff, den Verleger, war es also ein großer Erfolg, dass er Döblin als Autor für eine Einleitung gewinnen konnte. An Döblin kam keiner vorbei.

Die halbierte Döblin-Rezeption Auch nach Benjamin haben sich so gut wie alle, die über Sanders Porträtfotografie schrieben, auf Döblin bezogen. Aber, und darum geht es mir: Immer und ausschließlich nur auf einen von zwei Aspekten, unter denen Döblin Sander rezipiert hat. Demnach sah Döblin Sanders Bedeutung darin, die Fotografie zum Medium wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht zu haben; nicht zu einem Medium naturwissenschaftlicher, sondern zu einem Medium sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Das haben alle Autorinnen und Autoren, von Benjamin über Susan Sontag bis zur Gegenwart, zu Recht betont. Döblin (1929: 13) schrieb über Antlitz der Zeit: »Man hat vor sich eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre. Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa von Trachten, das schafft der Blick dieses Photographen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein enormes photographisches Können.« Und dann prägte Döblin, der ja ursprünglich Mediziner war, ein sprachliches Bild, das lange fortwirkte: »Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie

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gewonnen. Es steht uns frei, allerhand aus seinen Bildern herauszulesen, die Bilder sind im ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre.« (Ebd.: 13 f.; Hervorh.: G.S.) Benjamin hat das bestätigt; aber nicht aus historischem Interesse, sondern aus politischem. Für ihn lag Sanders Verdienst darin, dass er den physiognomischen Blick wissenschaftlich rehabilitiert. »Sanders Werk ist viel mehr als ein Bildbuch«, schrieb er: Es ist »ein Übungsatlas« (Benjamin 1931: 381) für das Training des politischen Blicks, den man brauche, um in der Klassengesellschaft am Vorabend des Nationalsozialismus zu überleben. Sanders Fotoarbeiten würden im »physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interesse« die »menschlichen Zusammenhänge« (Benjamin 1931: 383) erforschen. Die späteren Autorinnen und Autoren haben sich auf dieser Linie bewegt – auch dann, wenn sie nicht wie Benjamin aus der Perspektive einer Politisierung der Ästhetik argumentierten. Mit Döblin wurde das Innovative und Vorbildliche von Sanders Arbeit in der Verwissenschaftlichung der Fotografie gesehen. Je nach Standpunkt galten die Resultate wissenschaftlicher Fotografie als wertfreie Erkenntnisse oder als Elemente einer wissenschaftlich abgesicherten politischen Praxis. (Letzteres war, nebenbei gesagt, die Intention von Sander, der sich der Sozialdemokratie nahe fühlte. Er verstand sich als politischer Fotograf, auch wenn er damit nicht Agitation und Propaganda meinte.) Aber wie gesagt: In dieser Rezeptionslinie von Benjamin bis zur Gegenwart ist etwas übersehen worden. Döblins Label »wissenschaftliche Fotografie« war nämlich nur die eine Hälfte seiner Lesart. Die andere bezog sich nicht auf die Natur- und Sozialwissenschaft, sondern auf die Philosophie. Denn Döblin zufolge kehrt in Sanders Fotografie der Universalienstreit der spätmittelalterlichen Philosophie zurück. Mit Blick auf seinen Zeitgenossen Sigmund Freud, den Döblin in diesem Zusammenhang freilich nicht bemüht hat, kann man sagen: Der Universalienstreit kehrte als Wiederkehr des Verdrängten zurück. Döblin meinte, in Sanders Fotos käme der ›metaphysische Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen‹ (Hegel) ästhetisch zur ›Erscheinung‹. Kann man heute noch so argumentieren? Ich würde sagen: Ja. Um einen Gedanken aus Bertrand Russels Theorie der Bedeutung zu variieren: »Ohne die Annahme der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus« (Schick 1993: 614). Doch dafür müssen wir in diesem Fall die besondere, individuelle Erscheinungsform der porträtierten Personen in Beziehung zu einem negativen Allgemeinen setzen. Ansätze zur Visualisierung des sozial Allgemeinen im je Besonderen verweisen auf ein unabgegoltenes Potenzial des »alten« Realismus, also des Begriffsrealismus. Dies ist aber nicht ontologisch, sondern sozialphilosophisch zu rekonstruieren.

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Die Wiederkehr des Universalienstreits in der Porträtfotografie des 20. Jahrhunderts: Mit diesem Ansatz hat Döblin die sozialdokumentarische Porträtfotografie von Sander aufgeschlossen. Sander sei ein Fotograf des Universalienrealismus gewesen. Seine Fotografien würden sichtbar machen, dass das abstrakte soziale Allgemeine über die Individualität der Personen dominiert. Die Frage, wie sich gesellschaftliche Realabstraktionen visuell manifestieren, steht quer zum konstruktivistischen Konsens in der Medientheorie. – An dieser Stelle sehe ich einen Berührungspunkt mit der Debatte über den »neuen Realismus« in der Philosophie. Was man ›die Wirklichkeit‹ nennt, ist demzufolge nicht nur das Ergebnis soziokulturell kodierter Konstruktion. Ja – wir erfahren Wirklichkeit vermittelt durch Begriffe. Aber es ist denknotwendig anzunehmen, dass wir mit etwas vorgängig Existierendem zu rechnen haben, auf das sich soziokulturelle Konstruktionen sowie zeichenhafte und begriffliche Repräsentationssysteme, durch die wir Realität erschließen, beziehen. Diese Position unterscheidet sich von einem naiven Realismus durch die Annahme – um es mit Markus Gabriel (2014) zu sagen –, »dass wir die Wirklichkeiten, auf die wir Bezug nehmen, tatsächlich begrifflich und perspektivisch vermittelt erfahren. Diese Begriffe und Perspektiven sind selbst Wirklichkeiten und deswegen ihrerseits erkennbar.«

Sanders Beitrag zur visuellen Kommunikation Bevor ich nun der visuellen Wiederkehr des philosophischen Problems ›daseiender Begriffe‹ weiter nachgehe, möchte ich aber klären, ob und inwiefern meine Fragestellung überhaupt designrelevant ist. August Sander war schließlich, im landläufigen Sinne des Wortes, kein Designer. Manche Betrachter würden seine Arbeiten eher als fotografische Kunstwerke bezeichnen; so auch sein Nachfahre Julian, der findet, dass es höchste Zeit wäre, den Urgroßvater endlich »als Künstler und in der Kunstgeschichte« zu würdigen »und nicht nur in der engen Nische der Fotografie«1. Ich antworte darauf mit einem werkgeschichtlichen Hinweis. Sander verstand sich zu Beginn seiner Laufbahn tatsächlich als künstlerischer Fotograf, aber seine berühmten Arbeiten sind erst entstanden, nachdem er sich von der Auffassung abgewandt hat, dass Fotografie »Kunst« im bürgerlichen Sinne ist. Das hat Ulrich Keller schon 1980 klargestellt; in seinem Standardwerk, einem instruktiven Beitrag zur posthumen Erstveröffentlichung des Zyklus Menschen des 20. Jahrhunderts, schreibt er: »spätestens 1922 hatte [Sand]er mit allen kunstphotographischen 1 Süddeutsche Zeitung, 4./5. März 2017, S. 22.

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Ambitionen gebrochen, um ›exakte Photographie‹ zu betreiben, wie er sie nannte« (Keller 1994: 25). Nun entwickelte Sander seinen dokumentarisch-soziologischen Stil, mit dem er in die Foto- (und Wissenschafts-) Geschichte eingegangen ist. – Aber vielleicht muss man ja gar nicht so strikt unterscheiden zwischen künstlerischen Arbeiten und Fotoarbeiten, die dokumentarische Intentionen verfolgen und dabei ästhetisch hochgradig durchgearbeitet sind. Bei Sanders Porträts handelt es sich um angewandte Kunst: keine kommerzielle, kein »Kunstgewerbe«, sondern »angewandt« im Sinne von wissenschaftlicher Aufklärung. »Angewandte Kunst« – das ist zwar nicht gerade das aktuellste Synonym für Kommunikationsdesign, aber doch ein ganz passables.2

Philosophischer und visueller Realismus Döblin hat 1929 in seiner Einleitung zur Publikation der Auswahl von Sanders Porträtfotografien also für eine Revision des philosophiegeschichtlichen Prozesses plädiert, in dem die Universalienrealisten unterlegen sind. Döblin ist nicht in philosophiehistorische Detail gegangen; aber er hat Sanders dokumentarische Fotografie in die Nachfolge einer Debatte gestellt, die Hegel (1833/1836: 572) in der Geschichte der Philosophie folgendermaßen zusammengefasst hatte: »Der Realismus der Scholastiker behauptet, daß das Allgemeine ein Selbständiges, Fürsichseiendes, Existierendes sei […]. Wogegen die […] Nominalisten […] behaupteten, das Universale sei nur Vorstellung, subjektive Verallgemeinerung, Produkt des denkenden Geistes; wenn man Gattungen usf. formiere, so seien dies nur Namen, […] Vorstellungen für uns, die wir machen, – nur das Individuelle sei das Reale.« Döblin wollte mit seiner Lesart zeigen, dass nicht nur das Individuelle real ist, sondern auch etwas, für das Hegel die Synonyme Allgemeines und Universales verwendete. Dahinter steht grundsätzlich zunächst einmal die Frage, wie Wirklich2

Im Sinne des produktiven Missverständnisses, auf das Bernhard Bürdek (mit Bezug auf Herbert Read) hingewiesen hat: Unter »applied art« verstand man im Sprachgebrauch des britischen Kunsthandwerks Verzierungen, die auf Gegenstände appliziert, also ›aufgetragen‹ oder ›angebracht‹ wurden (Bürdek 2012: 65). Mit der Zeit verschob sich die Bedeutung des Aufbringens von Ornamenten, die im Kontext der Moderne zumeist abwertend konnotiert war. Sie wurde allmählich als (überwiegend positiv konnotierte) Manifestation der lebens- und gesellschaftspraktischen Wirkmächtigkeit künstlerischer Gestaltung verstanden. Also als Manifestation einer Gestaltung, die sich, diesseits eines umkämpften Bereichs radikaler Autonomie, im Hier und Jetzt nützlich macht – so, wie heutzutage eine Applikation auf dem Datenspeicher des Mobiltelefons.

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keitssegmente, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind, durch visuelle Semiotisierung kodiert werden (können). Mein Antwortversuch lautet: Sie werden erkennbar, weil sie (bzw. dann, wenn sie) durch die Visualisierung begrifflich bestimmbar werden. Visueller Realismus ist insofern eine Ikonisierung, die hilft, »Realabstraktionen« zu erschließen. Realabstraktionen sind Resultate eines gesellschaftlichen Allgemeinen. Aber nicht des vernünftigen Allgemeinen, das die Philosophie seit der Aufklärung als normatives Leitbild zugrunde legt. Solch ein vernünftiges Allgemeines ist noch nirgends Wirklichkeit geworden. Vorerst folgen Realabstraktionen aus der Reduktion konkreter Mannigfaltigkeit menschlicher Tätigkeit auf wirtschaftlich verwertbare Merkmale unter Bedingungen sozialer Herrschaft, die stets auch durch Gewalt und Repression gekennzeichnet ist.

Ein Bild der bestehenden Gesellschaftsordnung? Wer von Kindesbeinen an in einer Kultur technisch reproduzierter Bilder sozialisiert wurde, muss sich heute vermutlich erst einmal klar machen, was die Faszination von Sanders Arbeiten für die Zeitgenossen ausmachte. Technisch perfekte Aufnahmen kannte man zu dieser Zeit aus den Illustrierten Zeitungen, aber dort waren in der Regel spektakuläre Ereignisse, ›bedeutende Persönlichkeiten‹ der Politik und celebrities aus der Unterhaltungsbranche zu sehen – aber nicht Menschen, die sich aufgrund ihrer Alltäglichkeit normalerweise sozusagen im Bereich des Unsichtbaren bewegten. Die ersten Abbildungen in Sanders Buch zeigten »Westerwälder Bauern«. Es folgte »Der Herr Lehrer«; dann wurde es, mit »Kleinstadtbürgern« und Handwerkern, städtisch. Nach einem Generationenbild »Mutter und Tochter, Bauer und Bergmannsfrau« als Übergang folgten »Landproletarierkinder«, eine »Arbeiterfamilie«, eine »Proletariermutter« mit Kleinkind, ein »Berliner Kohlenträger«, ein »Arbeiterrat aus dem Ruhrgebiet«, ein »Handlanger«, ein »Kommunistischer Führer« und drei »Revolutionäre«. »Werkstudenten« und ein »Kräuterheiliger« gingen katholischen und evangelischen »Geistlichen« voran. Nach drei Porträts aus dem Bürgertum sah man ein männliches Mitglied der »Jugendbewegung«, dann wieder Berufsporträts. Bilder aus der Welt der Schüler und Studenten schlossen sich an und weiter ging es mit den ›höheren Ständen‹. Anschließend trat ein »Bürgerliches berufstätiges Ehepaar« auf den Plan, das aussah, als sei es Siegfried Kracauers legendärer Sozialforschungs-Reportage Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland entstiegen (die allerdings erst ein Jahr später, 1930, erschienen ist). Es folgten Personen, die man früher als ›Kunst- und Kulturschaffende‹ bezeichnet hätte und heute ›Kreative‹ nennt. Die letzten Porträts

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schienen durch eine absteigende Linie verbunden: junge Vertreter der »Bohème«, ein »Schankkellner«, eine »Putzfrau«, ein »Abgebauter Seemann« und schließlich, das letzte Bild der Sammlung: »Arbeitslos«. Einige Bilder sind ins kulturelle Gedächtnis eingegangen: der »Konditor«, die »Revolutionäre« um Erich Mühsam, der stolz wirkende »Handlanger« oder die drei »Jungbauern« auf dem Weg zum Tanzvergnügen. Der Arbeitslose aus dem Jahre 1928 steht in einer ikonischen Reihe mit den berühmten sozialdokumentarischen Aufnahmen, die zur gleichen Zeit, der Zeit der wirtschaftlichen Depression in den USA, für die Farm Security Administration gemacht wurden. Weniger präsent ist heute Sanders Gesamtkonzept. Sein ehrgeiziges Projekt ging weit über die Auswahl hinaus, die in Antlitz der Zeit veröffentlicht wurde. Im vollen Umfang konnte es nie realisiert werden. Sander (1929, zit. nach Keller 1994: 9) wollte einen visuellen Aufriss der »bestehenden Gesellschaftsordnung« geben – wissenschaftlich, aber auch sozialkritisch. Er verstand sich als teilnehmender Beobachter. Sein sozialanthropologisches Spurensicherungsprojekt war eine Expedition ins Innere der eigenen Kultur. Ulrich Keller hat beschrieben, wie Sander sich nach dem Ersten Weltkrieg von der eigenen sozialen Klasse distanzierte. Die »Qualität des ›Exakten‹, die seine Bilder nun annehmen«, war demnach ein »Signal des Übergangs von der kunstphotographischen Verklärung des Bürgertums zu dessen […] sachliche[r] Inventarisierung.« (Keller 1994: 25) Dabei konnte Sander an ältere Arbeiten anknüpfen. Einige waren in seiner ersten Karriere als konventioneller Porträtfotograf mit künstlerischen Ambitionen entstanden. Andere hatte er in freier Tätigkeit gemacht, geleitet von kontemplativer Neugier auf seine nähere Umgebung. Nun plante Sander also »einen photographischen Querschnitt durch alle Berufe, Klassen und Lebensbereiche des Weimarer Deutschland«, berichtet Keller (1994: 25). »Grundstock und Grundmuster dieses Projekts waren in den Westerwälder Bauernportraits bereits vorhanden. Der […] Versuch, die Einzelperson als Teil eines sozialen Mikrokosmos zu verstehen, ihre Prägung durch gruppenspezifische Formen des Familienlebens, der der Arbeit und des Vergnügens darzustellen, wird jetzt […] zum klaren Konzept ausgearbeitet und auf die verschiedenen Gesellschaftspartner angewendet, auf Arbeiter und Handwerker, das kleine, mittlere und große Bürgertum sowie auf Randgruppen wie Zirkusleute und Landstreicher.« (Ebd.) Sander legte für seine Struktur der »bestehenden Gesellschaftsordnung« drei Prinzipien zugrunde: die zyklische Bewegung des geschichtlichen Verlaufs, die soziale Gliederung nach Berufsständen und die Aufteilung des Lebens in öffentliches und privates (siehe Keller 1994: 47 f.). Diese Prinzipien spiegelten sich in der Anordnung der Bildgruppen wider. Sanders weltanschauliche Vorstellung von historischen Kreisläufen aus Aufstieg, Niedergang und Verfall war in den 1920er Jahren keine Seltenheit. Sie prägte die Ordnung der Bilder in Antlitz der Zeit. Da

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bildeten ländliche Bauernporträts den Auftakt, daran schlossen sich städtische Handwerkerporträts an, und denen wiederum Menschen der Großstadt, geprägt von den Produktionszusammenhängen der Industrie. Außer den Arbeitenden lebten in der Großstadt die höheren Stände, aber auch jene, die nach Sanders Auffassung entweder zur kulturellen Hochblüte oder aber zur ›Dekadenz‹ gehörten. Dazwischen, gleichsam am Rande des sozialen Abgrunds, jene, die niedere Dienste leisten. Nicht in Antlitz der Zeit enthalten sind Bilder von Menschen in sozial und politisch bedrohten Lebenslagen. Sie sind im großen Kompendium Menschen des 20. Jahrhunderts in der Abteilung »Großstadttypen« zu sehen: zum Beispiel ein »Bettler«, ein »Fürsorge-Empfänger« oder ein »Stadtstreicher« (Sander 1994: 404–406). Ebenso fehlten jene damals bereits vorliegenden Bilder aus der Gruppe, die Sander in seinen unveröffentlichten Mappen als »Letzte Menschen«3 bezeichnet hat: die »Zwergwüchsigen« und die »Tote«, die »Kleinwüchsige[n]« und die Toten, die bei Sander (2002 b: VII/45/9-10 u. VII/45/14–15) »Materie« genannt werden. Ab 1930 kamen für diese Rubrik beispielsweise hinzu: ein »Alter Bauer«, ein »Explosionsopfer«, »Blinde« und »Blinde Kinder« (Sander 2002 b: VII/45/13, VII/45/12 u. VII/45/27). Um 1938 entstand die Porträtgruppe »Verfolgte« (Sander 2002 a: VI/42/1-12): jüdische Mitbürger, die vor einem neutral grauen Hintergrund sitzen, was die Bilder von den anderen unterscheidet, die in der häuslichen und beruflichen Umgebung der Porträtierten gemacht wurden, oder in einer Landschaft, mit der sie in Verbindung standen, oder in ihrer urbanen Lebenswelt. Die Bildgruppe »Verfolgte« in Menschen des 20. Jahrhunderts geht jenen »Letzte[n] Menschen« voraus, deren Bilder das Kompendium beschließen.

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Dieser Bezeichnung liegt eine falsche Nietzsche-Lesart zugrunde: Die »letzten Menschen« sind in dessen seinerzeit viel gelesenem Zarathustra-Buch keineswegs sozial Deklassierte; sie sind keine Absteiger, sondern vielmehr die Repräsentanten eines saturierten bürgerlichen juste milieu, das nicht weiß, dass es am Abgrund steht. Friedrich Nietzsches Zarathustra-Figur will die träge und demokratisch verweichlichte Gesellschaft der »letzten Menschen« wachrütteln, damit sie sich auf die nahende Ankunft des »Übermenschen« vorbereitet. Das zielt nicht auf gesellschaftlich Marginalisierte, Behinderte und Menschen, die ohne Hilfe nicht überleben können, sondern ganz im Gegenteil auf die gute Gesellschaft des mainstream. Dort sind zwischenmenschliche Konflikte durch psychotechnische Therapie scheinbar behoben, die Lebensnot ist durch Beruhigungsmittel – bis hin zur Sterbehilfe und erleichterten Arbeitsbedingungen – gelindert, und soziale Antagonismen sind durch Gleichverteilung und Demokratie beschwichtigt, wenn auch nicht beseitigt.

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Distanz und Einfühlungsvermögen Ich finde, die vielfältige Erscheinung des sozial Allgemeinen im Individuell-Besonderen wird oft dadurch begünstigt, dass Sander den Menschen, die er porträtierte, relativ strenge Parameter vorgab. Innerhalb dieser Parameter konnten (und sollten) die Menschen aber ihren ganz eigenen Ausdruck finden. Weil Sander einen allgemeinen Rahmen vorgab, damit der je besondere, individuelle Eigenausdruck besser herauskommen soll (was tatsächlich gelang, würde ich sagen), tritt das sozial Allgemeine, das sie bestimmt, umso deutlicher hervor – und zwar häufig als Selbststilisierung. Der »Großindustrielle« aus Köln (Nr. 46) ist eine der wenigen Personen, die nicht in die Kamera schaut, und die einzige im Antlitz der Zeit, die ein Vollprofil zeigt. Es ist, als würde der Herr Kommerzienrat einem Maler für ein repräsentatives Porträt Modell sitzen, auf dem ein Visionär des industriellen Fortschritts neue Ziele anvisiert. Der »Pianist« (Nr. 53) tritt als Repräsentant des seelisch und geistig ›Höheren‹ auf. Er nimmt eine Pose ein, die darauf angelegt scheint, dass man ihn nur ja nicht übersieht. Sie wird durch Attribute unterstützt: In der Länge hilft der Hut, in der Breite tut der feine Gehstock in der Hand mit abgewinkeltem Arm das Seine. Abendgarderobe und die Partitur lassen keinen Zweifel daran, dass der Künstler auf dem Weg zu einer bedeutenden Darbietung ist. Dazu passt freilich das Tageslicht nicht so recht, das den großen Saal durchflutet; aber vielleicht sieht man den Meister ja bei einer Matinee ... Wir wissen aus der Forschung, dass es sich hier nicht um eine autonome Inszenierung des Fotografen handelte, sondern um eine Dokumentation. Anders als der Pianist mit Geltungsbedürfnis, wirkt der Komponist Paul Hindemith (Nr. 52) ganz in sich zurückgenommen und in sich ruhend. Er verkleinert seine Körperfläche und scheint die Betrachter prüfend anzuschauen. Der zu seiner Zeit als gemäßigt revolutionär geltende Tonkünstler zeigt keine Spur von repräsentativem Gehabe. Hindemith stammte aus einer Hanauer Arbeiterfamilie mit handwerklich-kaufmännischen Vorfahren aus dem Tschechischen. Bis die Nationalsozialisten ihn aus Deutschland vertrieben, war er dort überaus erfolgreich. Eine heute noch verbreitete Porträtaufnahme aus dem Jahre 1923, die man zum Vergleich heranziehen kann,4 passt besser zum konventionellen Bild des gefeierten Kulturschaffenden durch künstlerische Fotografie: Die Figur im tadellosen Smoking nimmt eine klassische Denkerpose ein; sie scheint im Nirgendwo zu sitzen, der Hintergrund mutet an wie eine Kohlezeichnung.

4 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/be/Paul_Hindemith_1923.jpg (letzter Abruf: 7.8.2018)

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Aufgrund der Distanz, die Sander zu den Menschen einnahm, wird deren Freiheit, Haltung und Ausdruck selbst zu bestimmen, nicht beschnitten. Bei Sander ging die Distanz allerdings mit Einfühlungsvermögen einher. Das merkt man noch dem Kontrast an, der zwischen Porträts im eigenen Soziotop (im Hause oder draußen) und Porträts von Verfolgten besteht, denen ihr eigener Raum genommen wurde. Auch ein Vergleich des berühmten Porträts des Arbeitslosen in Antlitz der Zeit in der Form, wie es ins Buch aufgenommen wurde (Nr. 60), mit dem nicht ausgeschnittenen Bild, das die Umgebung, die große Stadt, zeigt5 macht Sanders Einfühlungsvermögen spürbar.

Nominalismus und Realismus in der Fotografie In Döblins Lesart wird das Allgemeine sichtbar, dem die Einzelnen ihr Dasein und ihr So-Sein verdanken, das gesellschaftlich Allgemeine also, von dem sie auf Gedeih und Verderb abhängen. Die menschliche Haltung ist beinah die gleiche, aber der soziale Raum macht den Unterschied ums Ganze. – Döblin hat in seiner klugen Einleitung für Antlitz der Zeit, wie gesagt, auf ein Problem aus der Philosophiegeschichte zurückgegriffen, das damals wie heute als längst erledigt galt. Der sogenannte Universalienstreit war eine Debatte im ausgehenden Mittelalter. Noch einmal: Die Frage war, ob den Allgemeinbegriffen Realität zugesprochen werden kann, mit denen Aristoteles die Welt ordnete, indem er die Dinge in der Welt, logisch folgerichtig, in Gattungen, Arten und Individuen einteilte, oder ob Realität lediglich von besonderen Einzeldingen ausgesagt werden dürfe. Die Universalisten argumentierten so: Den Allgemeinbegriffen, aufgrund derer die Dinge in der Welt in Gattungen, Arten und Individuen eingeteilt werden, muss etwas in der Realität selbst entsprechen. Geordnete Erkenntnis ist nur möglich, wenn sie sich an der objektiven Ordnung der Wirklichkeit ausrichtet. Die Nominalisten argumentierten hingegen so: Allgemeinbegriffe sind reine Verstandesgebilde. Sie besitzen keinerlei Fundament in der Realität; sie sind nichts weiter als Rubriken und Registraturmappen. Begriffe sind Sammelordner, in denen wir Wahrnehmungen und Beobachtungen nach Gutdünken ordnen. Sie sind nicht Ausdruck und

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https://images.metmuseum.org/CRDImages/ph/web-large/DP228689.jpg (letzter Abruf: 7.8.2018)

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Abbild objektiver Realität, sondern (nur) Konstruktionen des Verstandes. Etwas Allgemeines existiert nicht.6 Damit hatten die Nominalisten den Weg für die neuzeitliche Beobachtungswissenschaft frei gemacht. Nur Theologen und verstockte Metaphysiker, so schien es, wollten sich damit nicht abfinden. Döblin war anderer Ansicht. Er interessierte sich für die Visualisierung eines Allgemeinen, das selbst nicht unmittelbar in Erscheinung tritt, aber für die sichtbaren, besonderen Einzelmenschen konstitutiv ist. Wie gesagt: Auf Sanders Fotografien werde sichtbar, dass ein soziales Allgemeines über die humane Individualität der porträtierten Individuen dominiert. Wenn sich zeigen lässt, dass es sich hier nicht um eine Äquivokation handelt, also nicht um einen philosophischen Kategorienfehler, sondern um eine legitime Übertragung ontologischer und erkenntnistheoretischer Gedankengänge in sozialphilosophische Zusammenhänge, dann lässt sich das unerledigte Potenzial des philosophischen Begriffsrealismus freilegen. Döblin hat die Beobachter bei der Arbeit beobachtet. Er unterschied drei Typen von Fotografen. Die ersten waren für ihn Porträtfotografen, die auf ästhetische Effekte aus sind und sich insofern als Künstler sehen, als sie das Gesicht der porträtierten Person nur als Material für ihr Bild wahrnehmen. Die zweiten hielt er für Porträtfotografen, die »möglichst ähnlich« fotografieren wollen: »das Persönliche, Private, Einmalige, an diesem Menschen soll auf der Platte festgehalten werden« (Döblin 1929: 12). Döblin (1929: 13) nannte »diese Ähnlichkeitsphotographen« »Nominalisten, die keine Kenntnis von den großen Allgemeinheiten haben.« Er meinte, sie würden sich den individuellen Einzeldingen hingeben und darüber das Allgemeine vergessen. »Die Nominalisten«, schrieb er, »waren der Meinung, daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent sind, die Realisten hielten aber dafür, nur die Allgemeinheiten, die Universalien, sagen wir die Gattung, sagen wir die Idee, sind eigentlich real und existent.« (Döblin 1929: 7) Und schließlich gab es nach Döblin (1929: 13) noch eine dritte Gruppe, nämlich Porträtfotografen, die 6

Die bedeutendsten Vertreter des Nominalismus waren Wilhelm von Ockham, Johannes Roscelin und Peter Abaelard. – In einem bis heute renommierten philosophiehistorischen Kompendium, das 1927 in der 11., bearbeiteten Auflage erschienen war, lesen wir, dass es im Universalienstreit um die Frage ging, ob genus und species (Gattung und Art), die Zentralbegriffe der aristotelischen Kategorienlehre, »substantielle Existenz haben oder bloß in unseren Gedanken« sind – genauer gesagt, um die Frage, »ob sie, falls sie substantiell existieren, Körper oder unkörperliche Wesen seien, und ob sie von den sinnlich wahrnehmbaren Objekten gesondert oder nur in und an diesen existieren. […] Mit dieser Fragestellung wurde nun jene andere […] in Zusammenhang gebracht, ob die Kategorien res oder voces sein. Daraus ergibt sich dann die Hauptverschiedenheit der Auffassung, indem die einen die Universalien für res, die anderen für voces hielten, der Gegensatz also des Realismus und Nominalismus.« (Ueberweg 1956: 205.)

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›Anhänger des Realismus‹ sind. »Sie halten die großen Universalien für wirksam und real« (ebd.). In der Geschichte der Philosophie, schrieb Döblin (1929: 7), waren die »Nominalisten […] der Meinung, daß nur die Einzeldinge wirklich real und existent sind«. So ähnlich würden die meisten Porträtfotografen die Welt sehen: Sie würden sich den besonderen Einzelnen hingeben und darüber das Allgemeine vergessen. Sander – so das Ergebnis von Döblins Beobachtung zweiter Ordnung – gehört zu den Porträtfotografen des Universalienrealismus. Seine Fotografien sind nicht »ähnliche Bilder, bei denen man bestimmt und leicht den Herrn X oder die Frau Y erkennt«. Nein: Wie oben bereits zitiert wurde, erkenne man, aufgrund von Sanders universalienrealistischem Parameter, hier »eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie, der letzten dreißig Jahre« (Döblin 1929: 7). Sander fotografierte Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Sie erscheinen lebendig und ausdrucksvoll, aber Leben und Ausdruck sind durch ihre soziale Rolle vermittelt. Das je Individuelle und Besondere tritt in den Hintergrund. Das geht über Bekleidung und professionellen Habitus hinaus. Bis in die Physiognomie hinein sind die Menschen Repräsentanten ihres Standes, ihrer Schicht oder ihrer Klasse: »der Herr Wachtmeister«, »der Pianist« und so weiter. Das Besondere ist immer schon durchs soziale Allgemeine geformt und damit relativiert. Dieses Allgemeine ist meta-subjektiv, eine strukturelle, begriffliche Entität, die nicht unmittelbar als solche in Erscheinung treten und sensuell wahrnehmbar werden kann. Indem Sander also intuitiv den Erkenntnisstandpunkt des philosophischen Realismus einnimmt, meinte Döblin (1929: 14), habe er die »vergleichende Photographie« begründet und »einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie gewonnen«. In diesem Licht erscheint das Erbe der scholastischen Philosophie nicht als metaphysischer Zopf, den ein wahrhaft modernes Denken abschneiden müsse, sondern im Gegenteil als Basis einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Betrachtung der – wie man es von heute aus sagen könnte – systemisch (fremd-) bestimmten sozialen Lebenswelt.

Die Dialektik des Nominalismus Döblins Ehrenrettung der Universalienrealisten ist erläuterungsbedürftig. Denn bei ihnen war ja nicht von einem sozialen Allgemeinen (im modernen Sinne) die Rede. Aber Döblins Lesart trägt einem latenten gesellschaftstheoretischen Gehalt der universalienrealistischen Philosophie Rechnung. Um das zu verdeutlichen, möchte ich die Dialektik von Realismus und Nominalismus kurz skizzieren. Dabei folge ich den Philosophen Günther Mensching, Christoph Türcke und Karl Heinz Haag.

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Bis zum Ausgang des Mittelalters wurde die Realität nach dem Modell einer göttlichen Weltordnung beschrieben. Sie ruhte auf hierarchischen Prinzipien, die feudale Herrschaftsordnung galt als ihre weltliche Gestalt. Man hielt es für beweisbar, dass die Ordnung der Dinge in der Natur und der menschlichen Gemeinschaft auf Prinzipien beruht, die durch menschliche Vernunft erkennbar sind. Sie allein verleihen der Realität Bestand, weil sie aus der göttlichen Vernunft entspringen. Ihre Erkenntnis sei möglich, weil die subjektive Menschenvernunft sie, gemäß den Regeln der Logik, rekonstruieren kann. Im Universalienstreit argumentierten die nominalistischen Kritiker gegen die Annahme, dass die begriffliche Ordnung der Dinge auch ihre seinsmäßige Ordnung ist. »Die Universalien sind nur im subjektiven Denken allgemein« (Mensching 1995: 51). Das Allgemeine sei lediglich eine gedankliche Konstruktion. Es habe kein objektives fundamentum in re und werde den Bestimmungen der Einzeldinge, die sich beobachten lassen, nur additiv beigefügt. Denn egal ob es um Bezeichnungen für konkrete Gegenstände, Lebewesen und Artefakte gehe oder um Bezeichnungen für abstrakte Gegenstände: »Das Benennen von Dingen sei lediglich ein bestimmter, eingespielter Gebrauch von Namen, den man so, aber auch anders festsetzen kann, weil sie in der Natur keine Entsprechung haben.« (Türcke 2008: 190) Daher komme eben auch den Universalien kein Sein zu; dies könne man lediglich empirischen Einzeldingen zusprechen. Im Universalienrealismus würden Worte, die in Wirklichkeit substanzlose Begriffe sind, so betrachtet, als wären sie von höherer, eigentlicher Seinsbeschaffenheit. Doch erst umgekehrt werde ein Schuh daraus: Einzeldinge würden aufgrund von Ähnlichkeiten, die sie miteinander aufweisen, zu Gattungen und Arten zusammengefasst. Der Verstand konstruiere dann, in einer letzten Abstraktion, das »rein Allgemeine« (Mensching 1995: 51), das als solches nicht existiere. Die nominalistische Aufwertung der Einzeldinge bereitete die soziale Emanzipation der Individuen vor. De facto haben die Nominalisten das Modell einer universalen Weltordnung zerstört und der feudalen Herrschaftsordnung den Boden unter den Füßen weggezogen – auch wenn das gar nicht ihre Absicht war. Sie haben die neuzeitliche Vorstellung vorbereitet, dass wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung die Grundlage freier individueller Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Zusammenhang ist. Die Position des Begriffsrealismus gilt seit dem Triumph der via moderna in den Wissenschaften als erledigt. Nominalismus ist auch das Bewusstsein der Semiotisierung von Segmenten der Wirklichkeit im kulturellen Prozess. Aber warum ist das ein Problem? Was hatte Döblin an dem Ansatz zu beanstanden, den er die »nominalistische« Porträtfotografie nennt? Sozialphilosophische Kritiker des Nominalismus gehen davon aus, dass die Menschen als Individuen (also, in philosophischer Terminologie: als ›Besondere‹) immer vom ›Allgemeinen‹,

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d. h. von sozialen Bewegungsgesetzen, bestimmt sind, und zwar weit mehr, als es den Anschein hat. Der Nominalismus hat sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Er zeigte, dass die Menschen die Ordnung der Welt selbst herstellen, untergrub dabei aber die Erkenntnis, dass diese Ordnung zwar selbstgemacht, aber zugleich auch fremdbestimmt ist. Die allgemeinen Bewegungsgesetze, denen wir uns als Individuen nach wie vor unterwerfen müssen, produzieren wir zwar selbst, aber, mit den Worten von Marx: Wir tun es »nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« (Marx 1852: 115) Mit Herbert Marcuse kann man hinzufügen, dass »die Ökonomie als die fundierende Schicht« in der bürgerlichen Gesellschaft »derart zum ›Wesentlichen‹ geworden ist, daß alle anderen Schichten [der gesellschaftlichen Wirklichkeit] zu ihrer ›Erscheinungsform‹ geworden sind« (Marcuse 1936: 69). Noch einmal: Nominalistisches Denken nimmt Selbstbestimmung vorweg, die sich begrifflich von der statischen Ordnung einer unveränderlichen Natur befreit, und diese Freiheit in der industriellen Produktionsweise auch praktisch herstellt. »Die Autonomie der Menschen gegenüber der Naturordnung, welche der Nominalismus theoretisch antizipiert, galt es danach produktiv herzustellen, die Welt jenem Selbstbewußtsein gemäß einzurichten«, schreibt Günther Mensching: »Darin erschließt sich die Perspektive eines Fortschritts, der die Produktivkräfte gesellschaftlich entfesselt« (Mensching 1984: 43). Dieser Fortschritt bedeutet aber einen Bruch im menschlichen Selbstverständnis. »Die Einsicht, daß die Individuen in produktiver Tätigkeit selbst die Begriffe hervorbringen und sie zu Urteilen und Schlüssen verknüpfen, erscheint […] in einem neuen Licht«, schreibt Christoph Türcke, »wenn ihr der Boden entzogen wird, auf dem sie bei Thomas von Aquin noch stand: die Gewißheit, daß die Strukturen des Denkens bei aller Selbstständigkeit letztlich doch in denen des Seins ihr sicheres Fundament haben. Geht diese Gewißheit verloren, weil die Gesellschaft, auf die sie sich gründet, zerfällt, so werden die Menschen in einer zuvor nicht gekannten Weise auf sich zurückgeworfen.« (Türcke 1983: 22; siehe Türcke 2016: 36–42) Natur wird zum bloßen Substrat von Naturbeherrschung. Sie wird als an sich selbst bestimmungslos vorgestellt und zur Projektionsfläche industrieller Eingriffe degradiert (Haag 1983: 54–67). Realität scheint kein objektives Fundament mehr zu haben, auf dem sie, außerhalb des Dafürhaltens der Subjekte, stehen könnte. Der Nominalismus macht den Weg frei für die Anerkennung des Individuell-Besonderen; aber er leugnet, dass es immer noch durch Allgemeines vermittelt ist, und liefert es so dessen Herrschaft aus. Für Thomas Hobbes zum Beispiel, der den Nominalismus in politische Philosophie umsetzte, gab es keine wesensmäßigen Bestimmungen der Individuen mehr, durch deren Erkenntnis sich Gesetze und Herrschaft vor der kritisch prüfenden Vernunft

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zu legitimieren hätten. Stattdessen verfügt der Staat autoritär über alle Einzelnen (Haag 2005: 7 ff.). Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, so kann man Döblins Ansatz vor diesem Hintergrund resümieren, sind (noch) gar nicht die unverwechselbaren Individuen, die sie sein sollten, gemäß ihrem Anspruch auf menschliche Würde. Sie sind bis ins Innerste geprägt vom Äußerlichen, dem gesellschaftlichen Allgemeinen – »soziale Charaktermasken« im Sinne von Marx.

Spur und Zeichen, Konstruktivismus und Essentialismus Im fototheoretischen Diskurs wurde Döblins Einleitung zu Sanders Antlitz der Zeit im Prinzip zur Kenntnis genommen, aber im Detail hat niemand daran angeknüpft. Die originelle Verbindung mit dem Universalienrealismus wurde übergangen, auch noch, nachdem Auszüge aus Döblins Sander-Vorwort 30 Jahre später in der Schweizer Kulturzeitschrift Du ein weiteres Mal veröffentlicht wurden (Döblin 1959). Fragen des Realismus der Fotografie wurden entweder im Rahmen des ästhetischen, des bildtheoretischen oder des ontologischen Realismus diskutiert. Die ontologische Drift kam über die Konzepte der ›Spur‹ und der ›Einschreibung‹ in den Diskurs. Ist das fotografische Bild als reale, indexikalische Spur zu ›lesen‹ oder als symbolische Konstruktion, die arbiträr ist und nur aufgrund von Konventionen gilt? In der Frühzeit des Mediums galten Fotos als Spuren von Einschreibungen, die reale Objekte mittels physikalischer und chemischer Abläufe, die der Fotograf kontrolliert, selbst hinterlassen. Das wird im Alltagsgebrauch oder vor Gericht ja noch heute so empfunden. Spätestens durch die Digitalisierung der Fotografie ist solch ein Realismus aber eigentlich unmöglich geworden. Und bereits für die analoge Fotografie ist gezeigt worden, dass Fotografien niemals Widerspiegelungen ansichseiender Wirklichkeit sind, sondern semiotische Konstruktionen. Die ideologiekritische Semiotik von Roland Barthes (1961) hat den naturalistisch-realistischen Schein, ganz im Geist des Nominalismus, dekonstruiert. Stuart Hall, der an die strukturale Zeichenanalyse von Barthes angeschlossen hat, betonte in seinen Überlegungen zur Produktion und Aneignung von kodierten Botschaften der visuellen Sprache, dass visueller Realismus stets ein Resultat bestimmter diskursiver Praktiken ist. »Auch ikonische Zeichen sind […] kodierte Zeichen«, sagt Hall (1995: 95; Übers.: G.S.): »Naturalismus und ›Realismus‹ – die scheinbare Treue, welche die Repräsentation dem Ding oder dem Begriff hält, die repräsentiert werden, sind Ergebnis und Effekt einer gewissen spezifischen Artikulation der Sprache in Bezug auf das ›Reale‹«, also: »Ergebnis einer diskursi-

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ven Praxis.« Die Wahrnehmung visueller Zeichen ist eine Art Lektüre, sie findet unter Bedingungen der unbewussten Dekodierung von Zeichentexturen statt. Kants Synthesis der Apperzeption, die alle Subjekte immer schon übergreift, wird im semiotischen Strukturalismus der Cultural-Studies-Schule auf der Ebene der Zeichen-Entschlüsselung mit der Marx’schen Analyse des Arbeitsprozesses unter Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation zusammengebracht. Die Produktion visueller Botschaften ist demnach ins gesamtgesellschaftliche Produktionsverhältnis eingelassen, und ihre Rezeption ebenso. Durch Analyse der Signifikation soll der Text lesbar werden, der sich zwischen die Wirklichkeit und die Subjekte schiebt, aber es geht nicht darum, Welt und Wirklichkeit in den Text aufzulösen. Der kulturtheoretische Sozialkonstruktivismus der Cultural Studies geht nicht so weit wie der später in Mode gekommene radikale Konstruktivismus. Dieser unterläuft die Grundlagen intersubjektiver Verständigung über Gesellschaft und Natur, wenn er die Möglichkeit der Annahme einer außersubjektiven Wirklichkeit grundsätzlich für widersinnig erklärt. Cultural Studies wollen durch Reflexion der Überkreuzungen von Diskurspraktiken und Ideologien über die Differenz zwischen der Welt und dem kodierten Text aufklären. Solche semiotische Aufklärung, die soziale Mechanismen der Produktion von Bedeutung analysiert, ist nominalistische Ideologiekritik. Aber genau dort trifft sie sich mit Döblins Kritik des visuellen Nominalismus. Denn das soziale Allgemeine einer durch Klassen und Herrschaft bestimmten Gesellschaft hat nicht aufgehört zu existieren, es entzieht sich nur der Erkennbarkeit. Die provokante Implikation der Döblin-These ist jedoch im Fotodiskurs, wie ich nun schon mehrfach gesagt habe, nicht bemerkt worden. Dort wurde überhaupt nicht auf das Verhältnis von Universalienrealismus und -nominalismus eingegangen; aber es ging, wenn man so will, um Folgeprobleme, die mit dem Dilemma von positivistischer Sozialstatistik und essentialistischer Typenlehre zu tun haben. Konkret wurden entweder Versuche aus dem 19. Jahrhundert diskutiert, vermeintliche »Verbrechertypen« mithilfe fotografischer Visualisierung anthropometrisch zu erfassen, oder aber die Frage, wie die Verbreitung digitaler Fototechnik dabei hilft, die essentialistische Illusion zu zerstören, dass Fotos auf magische Weise die Präsenz eines Objekts repräsentieren würden, welches real existiert oder real existiert hat. Ersteres ist das Thema der Abhandlung »Der Körper und das Archiv« von Allan Sekula aus dem Jahre 1986; Letzteres war Thema in einem Aufsatz von Wolfgang Ullrich von 1997. Sekula, der Konzeptkünstler und Fotograf, der seinen Ansatz der Dokumentarfotografie als »critical realism« bezeichnet hat, setzt sich in seiner Abhandlung kritisch mit dem Problem auseinander, das ein im 19. Jahrhundert dominierender empiristisch-nominalistischer Ansatz hat, der »Verbrechertypen« (Sekula 2003: 309)

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kartografieren möchte. Diesem Rückfall in naivsten Realismus der Menschentypen, den Sekula (2003: 24) als »essentialistisches Typologiesystem« bezeichnet, stand alsbald ein »nominalistisches Identifikationssystem« gegenüber, mit dem kriminelles Tun detektivisch aufgeklärt werden sollte. Nun sollte keine Typologie mehr erarbeitet werden, sondern eine komplette Dokumentation der Vielfalt erscheinender Merkmale, anhand derer man einzelne kriminelle Individuen aufspüren und überwachen könnte. Die vollständige empirische Dokumentation der Totalität erwies sich natürlich binnen Kurzem als ein Ding der Unmöglichkeit. Sekula (2003: 24 f.) hat gezeigt, wie diese Extreme, die er treffend »die beiden Pole der positivistischen Regulierungsversuche sozialer Abweichungen« nennt, als dialektische Momente eines in sich widersprüchlichen Bild von den Ursachen der Kriminalität in der bürgerlichen Gesellschaft zusammengehören. Angesichts der Fotografie im Alltag konstatierte Ullrich (1997: 64), dass die Bildbetrachter oftmals noch ein »essentialistisches Bildverständnis – eine Bildvergessenheit« – an den Tag legen würden. Diese Rezeptionseinstellung sei jedoch auf dem Rückzug, weil die digitale Bildproduktion auf dem Vormarsch ist. Die Selfie-Kultur von heute, so argumentiert Ullrich in einem neueren Aufsatz, ist nicht auf Individualismus und Narzissmus zurückzuführen.7 Ullrich (2015) meint, hier würde ein Zeichencode etabliert, ein universal verständliches Set von Ausdrucksgesten 7

So eine Sicht auf das Phänomen scheint sich ja durchaus anzubieten – z. B. im Anschluss an Überlegungen von Marshall McLuhan (1964: 57 ff.), der die Faszination der Anwender technischer Geräte als Symptom ihrer Selbstverliebtheit gedeutet hat. In der Tat ist diese Deutung heute ein populäres Motiv jener Kulturkritik, die sich vom Populären abgrenzen möchte. Allerdings gilt es zu beachten, dass McLuhan nicht psychologisch ansetzte, sondern technik-deterministisch. Damit das Sinn ergibt, bestritt McLuhan, dass Narziss im Mythos autoerotisch auf sich selbst fixiert gewesen sei. »Der Jüngling Narziß faßte sein eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person auf. Diese Ausweitung seiner selbst im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten und wiederholten Abbilds wurde. […] worauf es bei dieser Sage ankommt, das ist der Umstand, daß Menschen sofort von jeder Ausweitung ihrer selbst in einem andern Stoff als dem menschlichen fasziniert sind.« (McLuhan 1964: 57) »Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers […] Als Erweiterung und Beschleunigung des Sinneslebens beeinflußt jedes Medium sofort die gesamte Sinnesorganisation« (McLuhan 1964: 61). Für McLuhan ist es daher nichts Anstößiges, wenn Menschen auf ihre Kommunikationsinstrumente fixiert sind, denn er meint: »die dauernde Aufnahme unserer eigenen Technik in den Alltag versetzt uns in die narzißtische Rolle unterschwelligen Bewußtseins oder der Betäubung in bezug auf diese Abbilder von uns selbst. Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen, machen wir uns zu ihren Servomechanismen. Deswegen müssen wir, um sie überhaupt verwenden zu können, diesen Objekten, diesen Ausweitungen unserer selbst, wie Göttern kleinerer Religionen dienen.« (McLuhan 1964: 63)

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für die digitale Kommunikation emotionaler Momente und Befindlichkeiten. Dem stimme ich grundsätzlich zu; aber anders als Ullrich würde ich betonen, dass dabei das individuelle Interesse für die kulturindustrielle Integration der Endverbraucher sorgt. Bei der Entwicklung eines neuen kommunikativen Codes produzieren wir visuelle Kulturwaren. Die erscheinen als höchste Stufe der Individualität (oder, für Kulturkritiker: als hemmungsloser Individualismus). Sie sind aber Erscheinungsweisen des Konkurrenzkampfs um Aufmerksamkeit. Hier findet keine verständigungsorientierte Kommunikation, kein selbstbestimmter Austausch statt. Die »Kolonisierung des visuellen Unbewussten« (Jameson) durch die allgemeinen »Imperative der Macht und des Geldes« (Habermas) in Produktion und Verwaltung – sie hat in der Selfie-Kulturindustrie ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Mit den universalen selfies folgen wir aus freien Stücken dem allgemeinen sozialen Imperativ der Wahrnehmbarkeit. Dieser ist das Zentrum der Aufmerksamkeitsökonomie einer digitalisierten Konkurrenzgesellschaft. Das individuell Besondere erscheint als das Einzige, was zählt; soziale und zwischenmenschliche Allgemeinheit scheint zurückzutreten, universale Prinzipien und Werte lösen sich auf. Im spätmodernen Kulturkapitalismus wird das Singuläre gefeiert, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz (2017: 7 f.): »Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren […] Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen. […] Standen in der alten Industriegesellschaft […] formale Qualifikationen und Leistungsanforderungen im Vordergrund, so geht es in der neuen Wissens- und Kulturökonomie darum, dass die Arbeitssubjekte ein außergewöhnliches ›Profil‹ entwickeln.« Meine These im Anschluss daran: Wenn das Individuelle als das neue Allgemeine auftritt, kommt darin das alte soziale Allgemeine zu neuer Erscheinung. Wir sind Besitzer von Arbeitskraft, die als Ware getauscht wird, um Mehrwert zu produzieren. Arbeitskraft zählt nicht primär, weil sie konkrete, individuelle Gebrauchswerte schafft, sondern weil sie abstrakten, allgemeinen Tauschwert besitzt – in der Fabrik, im Serviceund Kreativbereich und immer stärker auch in der Bildungs- und Kulturindustrie. Wie dem auch sei: Döblin zufolge ist Sanders Realismus kein ästhetischer oder dingontologischer, sondern ein metaphysischer Begriffsrealismus. Selbstverständlich ist das cum grano salis zu verstehen: Döblin wollte wohl kaum behaupten, dass Sanders Phantasie einer geordneten Ständegesellschaft soziologischer Kritik standgehalten hätte. Es war sicherlich auch nicht so gemeint, als würde sich die Seinsweise philosophischer Allgemeinbegriffe in den fotografischen Porträts als höherstufige Seinswirklichkeit erweisen. Allgemeinbegriffe sind tatsächlich so abstrakt, wie die Nominalisten behauptet hatten. Aber die Fotografien, das kann man in einer Terminologie sagen, die Döblin nicht verwendet hat, demonstrieren

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die Realität sozialer Abstraktionen. Und eine Pointe der nominalismuskritischen Sander-Lesart, die Döblin selbst dabei gar nicht herausgearbeitet hat, besteht in Folgendem: Durch visuelle Verwandlung in ikonische Zeichen werden symbolische Zeichen im Sinne von Peirce, also Begriffe, die konventionell festgelegt worden sind, als realexistent erkennbar. Es scheint, als sollte Russel Recht behalten: »Ohne die Annahme der Existenz von realen Abstrakta kommen wir nicht aus.«

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III Kommunikationsdesign und Ethik

Moralphilosophie im Kommunikationsdesign*1 Moralphilosophie im Kommunikationsdesign Moralphilosophie im Kommunikationsdesign

Kommunikationsdesign ist kein »moralfreier Raum«, denn dergleichen gibt es in der Gesellschaft und Kultur nicht. Die Verbindung von Kommunikationsdesign und Ethik ist daher keine bloße Zuschreibung »von außen«. Kommunikationsdesigner entwickeln nicht nur Strategien für irgendwelche Mitteilungsziele, die man bei ihnen in Auftrag gibt. Sie fragen immer auch, wie die kommunikativen Zwecke zu bewerten sind, welche Mittel für welchen Zweck gerechtfertigt sind, welche nicht usw. Der ethische Diskurs, den es im Design durchaus gibt, wird aber fast ausschließlich von Vertretern des Produktdesigns geführt; Stimmen aus dem Kommunikationsdesign sind selten zu hören. Für Otl Aicher (1991: 67), den guten Geist von Ulm, stand fest: »der designer ist eine art moralist. […] Seine tägliche arbeit besteht aus wertungen.« Gestalter, so würde ich diese robust formulierte Aussage interpretieren, treffen Entscheidungen, die ethisch begründbar sein sollten. Ihre Produkte drücken ihre moralischen Haltungen aus und bewerten die bestehende Welt.

* Ursprünglich ein Vortrag auf der Tagung Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg am 25. Oktober 2012. Erstveröffentlichung in: Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung, hrsg. v. Christian Bauer, Gertrud Nolte u. Gerhard Schweppenhäuser, Würzburg: Königs­hausen & Neumann, 2015, S. 39–55. Die vorliegende Fassung wurde gekürzt und überarbeitet. Eine frühere, längere Fassung erschien unter dem Titel »Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen: Moralphilosophie im Kommunikationsdesign« in: Zwischen den Kulturen. In Gedenken an Heinz Paetzold, hrsg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik u. Helmut Schneider, Kassel: Kassel University Press 2012 (Kasseler Philosophische Schriften – Neue Folge, Bd. 5), S. 154–173. – Teile des Textes wurden in das Buch Ethik im Kommunikationsdesign. Verständigung, Verantwortung und Orientierung als Kriterien visueller Gestaltung aufgenommen, das ich gemeinsam mit Christian Bauer verfasst habe (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_9

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Ethische Modelle und Konzepte Ist ein »Moralist« dasselbe wie ein »Ethiker«? »Moral« nennt man die individuellen Überzeugungen von Menschen und auch die Sitten in einer Gemeinschaft, »Ethik« ist hingegen, um es mit Erlinger (2012) zu sagen, »Nachdenken über Moral«. Oder, um es mit Niklas Luhmann (1989) zu sagen: Ethik ist die »Reflexionstheorie der Moral«. Allerdings nicht, wie Luhmann meinte, im Sinne einer Theorie, die ihren Gegenstand bloß wie ein Spiegel reflektiert, rein deskriptiv verfährt und keine normativ-kritische, begründete Stellung zu ihrem Gegenstand einnehmen kann. Ethik fragt vielmehr reflexiv nach den Prinzipien und Geltungsansprüchen, die unseren moralischen Überzeugungen zugrunde liegen. Ein Moralist will die bestehenden Sitten durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vorbild beeinflussen, während ein Ethiker ein Moralphilosoph ist, der Begründungen von Moralprinzipien betrachtet, sie interpretiert und ihre Qualität untersucht. Beides ist in unserem Zusammenhang wichtig. Wie gesagt: Gestalter und Wissenschaftler aus dem Bereich der visuellen Kommunikation haben sich mit Beiträgen zum Thema »Design und Ethik« bislang zurückgehalten. Aicher war eine der wenigen Ausnahmen. Eine weitere Ausnahme ist das Buch Form:Ethik. Ein Brevier für Gestalter von Hajo Eickloff und Jan Teunen. Die Autoren postulieren Werte, die für alle akzeptabel sind: für Entwerfer, Hersteller, Konsumenten und Werber. Aber ihr Buch strotzt vor Unverbindlichkeit; die postulierten Werte heißen Naturbewahrung, Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher Nutzen, Schönheit und Kreativität. Wer würde dem widersprechen? Die Autoren schreiben: »Für Gestalter kann es wichtig sein, sich eine Sensibilität für den unsichtbaren Bauplan des Universums zu bewahren, weil er dadurch eine Verantwortung für seine Mitmenschen, seine Umwelt und gegenüber zukünftigen Generationen gewinnt.« (Eickloff und Teunen 2006: 111) Wie Verantwortung als ethischer Wert begründet wird, geht daraus aber nicht hervor. – Ich werde weiter unten ein philosophisches Begründungsmodell der Verantwortung ansprechen. Eine profunde Auseinandersetzung mit visueller Kommunikation anhand von moralphilosophischen Kategorien müsste dort ansetzen, wo es weh tut – also bei den normativen Konflikten, in die Gestalter geraten können. Stellen wir uns vor, es geht um Gebrauchsanleitungen für eine Herz-Lungen-Maschine oder für Landminen. Oder es geht darum, ob man Werbung für Fair-Trade-Produkte aus der Landwirtschaft macht, oder für Kleidung, die von ausgebeuteten Kindern genäht wurde. Dann gibt es wohl einen Konsens, was moralisch »in Ordnung« ist und was nicht. Aber zum Beispiel bei der AIDS-Aufklärung hört der Konsens schon auf. Wenn die Religion ins Spiel kommt, lässt sich die Ächtung von Kondomen moralisch begründen, nämlich mit der Ehrfurcht vor Gottes Einrichtung der Natur. Man kann dann ja durchaus der Meinung sein, dass Empfängnisverhütung mit der Verantwortung »für den

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unsichtbaren Bauplan des Universums« nicht vereinbar ist. Wenn man eine Kampagne für Kondomverwendung macht, muss man also begründen können, wieso es moralisch falsch ist, keine Kondome zu verwenden. Wenn man sich dafür auf eine Wertediskussion einlässt, könnte sie auf die Frage hinauslaufen: Was ist der höhere Wert? ›Fortpflanzung mit hohem Risiko oder Schutz der Gesundheit?‹ Man könnte auch zwischen zwei Geboten abwägen: entweder ›Du sollst die Fortpflanzung nicht behindern‹ oder ›Du sollst dich und andere vor Schaden bewahren‹. Will man die Diskussion aber nicht auf der Ebene von Wertpräferenzen führen, so kann man auf formalem Wege versuchen zu zeigen, dass das Verbot in sich nicht stimmig ist. Etwa folgendermaßen: Wenn ›das Leben‹ als solches der höchste Wert ist, gilt das ja auch für das Leben jedes einzelnen, der sich also vor einer HIV-Infektion schützen sollte. Eine ähnliche Argumentation könnte man auch vorbringen, wenn es um Aufklärung über Möglichkeiten und Risiken von Schwangerschaftsabbrüchen geht. Denn auch hier kann man das Leben als allgemeinen Wert verstehen, der den einzelnen Menschen vorgeordnet ist – oder man kann die Auffassung vertreten, dass Leben immer nur als konkretes Leben von einzelnen Menschen moralisch relevant ist. Oft ist die Lage aber uneindeutig, oder aber es ist nicht mehr nur die Moralphilosophie zuständig, weil man sich auf dem Reflexionsgebiet der politischen Philosophie befindet. Unter einem anderen Aspekt betrachtet, kann man hier aber auch den Übergang von der allgemeinen Ethik zur angewandten Ethik ansetzen (siehe dazu Thurnherr 2000 und Nida-Rümelin 2005). Als »allgemeine Ethik« bezeichnet man im Fachdiskurs der Philosophie die Reflexion und Begründung von Moralprinzipien; deren Gegenpol ist gewissermaßen die moralische Kasuistik. Also die Betrachtung und Diskussion konkreter Einzelfälle. Die »angewandte Ethik« ist zwischen der Prinzipienbegründung und der Einzelfallanalyse angesiedelt: Es handelt sich hier um die Bemühung, Übergänge zwischen dem allgemeinen Bereich und dem der Einzelfälle zu entwickeln, also anwendbare Regeln zur Orientierung zu formulieren, die näher am empirischen Geschehen dran sind als Allgemeinprinzipien, aber gleichwohl noch einen gewissen Grad von Allgemeinheit besitzen. Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder Moralprinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, angesichts von konkreten Herausforderungen des moralischen Gefühls. Wenn wir aber nur gefühlsethisch argumentieren und alles auf den moralischen Impuls setzen würden, hätten wir keine Instanz für normative Kritik. Die ist aber nötig – besonders, wenn moralische Impulse ausbleiben. Dann geht es nicht ohne Rationalität (Adorno 1966: 226 ff.). Wenn es im Zusammenhang moralischer Konflikte und ihrer ethischen Reflexion auf die Begründungen, also auf Argumente, ankommt, führt die Beschwörung

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von Werten (oder die Verkündung einer pantheistischen Weltanschauung wie im zitierten Ethik-Brevier für Gestalter) nicht weit. Es geht aber auch anders. First Things First, das Manifest des Grafikdesigners Ken Garland, plädierte schon 1964 für die Priorität nützlicher und dauerhafter Formen der Kommunikation. Statt Werbung für Konsumvielfalt sollten sich Grafikdesigner Dingen widmen, die zum »nationalen Wohlstand« beitragen. Garland nennt Orientierungssysteme, Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Bedienungsanleitungen, Lehrmittel, Filme und Fernsehfeatures, Industriefotografie und wissenschaftliche Veröffentlichungen. Sie sollen Bildung, Erziehung und Kultur sowie größere Aufmerksamkeit für die Welt im Allgemeinen fördern. 35 Jahre später veröffentlichten die Adbusters das Manifesto 2000. Die Autoren stellten selbstkritisch fest, dass sie als Werbeprofis ihren Beitrag zur Verstümmelung des öffentlichen Diskurses leisten. Reklame, Marketing und Markenentwicklung erziehen Bürger zu Konsumenten und verändern Sprache, Gefühle, Kommunikation und Interaktion. Designer sollten aber bei der Entwicklung kultureller Neuerungen mitwirken, z. B. mit sozialen Marketingkampagnen, Büchern, Zeitschriften, Ausstellungen, Lehrmitteln, Fernsehprogrammen, Filmen und Wohltätigkeitsprojekten. Die visuelle Sprache der Gestalter soll dem Konsumismus den Kampf ansagen: weg vom Produktmarketing, hin zu demokratischer Kommunikation. Beiden Manifesten liegen ethische Argumentationen zugrunde. Sie greifen auf folgende Werte zurück: sozialer Nutzen, Nachhaltigkeit und demokratische Teilhabe. Grundlage ist die utilitaristische Ethik, wie sie John Stuart Mill im 19. Jahrhundert formuliert hat. Sie besagt: Der soziale Gesamtnutzen (oder: der Gesamtgewinn) steht über dem egoistischen Gewinninteresse. Daher ist nur ein solches Handeln gerechtfertigt, das zum maximalen Glück der größten Zahl von Menschen beiträgt. Das Einzelinteresse wird aber nicht verleugnet: Die kritischen Manifeste rufen nicht zum Berufswechsel oder zum Branchenboykott auf. Sie legen Kommunikationsdesignern ans Herz, ihren Lebensunterhalt auf anständige, sozial und kulturell zuträgliche Weise zu verdienen. Kann man den ethischen Anspruch im Kommunikationsdesign auch von anderen Positionen aus begründen als vom Utilitarismus? Als weitere Bezugspunkte bieten sich die Verantwortungsethik, die Pflichtethik oder die Ethik des Mitleids bzw. der Solidarität an. Auch die Ethik des Willens zur Macht kann eine Rolle spielen. Ich werde das im Folgenden ausführen und dann am Ende die – von Kant inspirierte – These vertreten, dass die beste Ethik des Kommunikationsdesigns eine Ethik der Kommunikation ist. Schauen wir uns zunächst die Bereiche des Kommunikationsdesigns an. Ich unterscheide vier Sektoren, die jeweils mehrere Medienbereiche übergreifen: 1. Information, Bildung und Aufklärung, 2. soziale Kampagnen, 3. Public Relations

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und 4. Werbung. Den Punkt Public Relations werde ich hier allerdings nicht behandeln, damit der Rahmen des Beitrags nicht gesprengt wird.

Information, Bildung und Aufklärung Zunächst zum ersten Sektor. Der Pionier auf dem Gebiet sozialer Aufklärung, Bildung und Information durch visuelle Kommunikation war Otto Neurath, auf den sich heute u. a. Ruedi Baur beruft. Neurath wollte Experten-Informationen aus Wissenschaft und Politik allgemeinverständlich gestalten, damit arbeitende Menschen sie nutzen können, um ihre Lebenslage zu verbessern. Die Verantwortung des Gestalters war für Neurath an eine sozialethische Haltung gebunden. Die Lebensverhältnisse können mithilfe von Forschung und Wissenschaft verbessert werden, wenn wir unsere sozialen Beziehungen vernünftig gestalten, das heißt: planen. Das war bei Neurath übrigens keine Volkspädagogik der »guten Form«. Deren Vertreter glaubten – ganz im guten Geist von Ulm – sicher zu wissen, was die »gute Form« ist und wie sich »gute Menschen« verhalten sollen. Kommunikationsdesign als Aufklärung ist aber etwas anderes, nämlich Hilfe zum selbstständigen Wahrnehmen und Denken. Kant lehrte, dass Vernunft nur praktisch werden kann, wenn sich Menschen aus Freiheit selbst bestimmen; Freiheit ist nur denkbar, wenn die Grundlage unseres Handelns widerspruchsfrei verallgemeinert werden kann. Diese Argumentation ist formal, hat aber inhaltliche Folgen. Nach Kant (1788: A 54) sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass der Grundsatz der Handlung »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«. Dann würde er »die Menschheit« in sich und in allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant 1788: A 155) auffassen. Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff bleibt auf das Eigeninteresse konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt. Das utilitaristische Nutzenkalkül des Gemeinwohls ist längst vom wohlfahrtsstaatlichen Planungsgedanken abgekoppelt. Das spricht, nebenbei gesagt, gegen die utilitaristische Begründung aus den Manifesten von Garland und den Adbusters. Aufklärung richtet sich an den erkennenden Verstand und die reflektierende Vernunft. Sie kann sich aber auch an das Gefühl richten. Als Beispiel sei auf Jan Bannings Fotoreportagen über Langzeitwirkungen von Kriegen hingewiesen: Sie zeigen Menschen mit Geburtsfehlern, die entstanden sind, weil das Pflanzengift

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in die Nahrungskette gelangt ist, mit dem die US-Army den vietnamesischen Urwald verseuchte, um freie Sicht für ihre Bombardements zu bekommen. Oder sie zeigen Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in Asien zur Prostitution gezwungen wurden.1 Banning erinnert daran, wie Opfer imperialistischer Gewalt heute leben. Dergestalt können Fotoreportagen moralische Impulse geben. Zu dieser Erinnerungsarbeit gehört, dass Banning Interviews mit den Menschen führt, die er porträtiert, und das Wissen aus dieser intensiven Kommunikation in die Präsentation seiner Arbeiten in Büchern oder Vorträgen einbringt. Noch einmal zur Erinnerung: Wenn man nicht exklusiv auf die kantische Urteilskraft oder auf Schopenhauers moralisches Gefühl setzen will, sondern – wie Adorno – davon ausgeht, dass in moralischen Impulsen die rationale und die emotionale Moralbegründung verbunden sind, dann leitet man moralisches Handeln nicht aus ethischen Werten oder rationalen Moralprinzipien ab, sondern man nimmt an, dass der moral sense mehr ist als die verpflichtende Vernunft; aber man verlässt sich nicht auf den moral sense. Daher versucht die moralische Impulstheorie, eine Verbindung zwischen vor-rationaler moralischer Intuition und begrifflicher Reflexion zu verankern (Adorno 1966: 358 f.). Nun eine kurze Zusammenfassung des Bisherigen: Der Bereich Information, Bildung und Aufklärung kann »von innen her« ethisch programmiert und reflektiert werden. Hier werden Vernunftgründe für selbstbestimmtes Handeln angeboten, oft universalistische Moralprinzipien zugrunde gelegt und manchmal moralische Impulse gegeben.

Soziale Kampagnen Soziale Kampagnen sind häufig »angewandte Ethik« in visueller Form – wie z. B. Mobilisierung für das soziale Miteinander oder gegen rituelle Genitalverstümmelungen, Warnungen vor Raserei oder Hinweise für effektives Händewaschen in Zeiten von Pandemiegefahr. Hier geht es um Verhaltensänderung im Sinne moralischer Grundsätze. Der Standpunkt der Moral ist unparteiisch, aber nicht neutral. Dieser Bereich ist also »von innen her« moralisch motiviert. Die Motive lassen sich auf drei normative Begründungstypen zurückführen: Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemeinwohl. Raserei, Suff und mangelnde Hygiene können volkswirtschaftliche Probleme im Sinne der utilitaristischen 1 http://www.janbanning.com/gallery/agent-orange-children-of-the-white-mist/ (13.8.2012); http://www.janbanning.com/gallery/comfort-women/ (13.8.2018).

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Ethik schaffen. Genitalverstümmelungen (siehe unten: 155 ff., sowie Mende 2011) verstoßen gegen die Maxime des negativen Utilitarismus, soviel Leid wie möglich zu vermeiden. Ein anderer Bezugspunkt ist Schopenhauers Ethik des Mitleids und der Solidarität. Mitleid ist demnach »die alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen«, »die wahre Basis der Moralität« (Schopenhauer 1840: 285). Gerechtigkeit und Menschenliebe können nur aus Mitleid folgen. Schopenhauer argumentiert gegen Kant, dass Mitleid das einzig rational erkennbare Moralprinzip ist, obwohl es selbst nicht rational ist. Das Moralprinzip des Mitleids geht über die rationale, kognitivistische Ethik von Kant hinaus. Hier wird nicht primär auf rationale Urteilskraft gesetzt, sondern (wie ich schon angedeutet habe) auf moralisches Gefühl. Immer öfter tragen soziale Kampagnen Züge von Werbemaßnahmen, mit denen sich soziale Träger im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Spenden-Publikums bemühen. Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid und Gemeinwohl sind dann nur noch akzidentelle Motive. Der substanzielle Beweggrund ist das Selbstbehauptungsinteresse von Organisationen, die bei knappen Ressourcen zu wirtschaftlicher Effizienz gezwungen sind. So verlieren Selbstbestimmung, Mitleid und Gemeinwohl ihren Status als Zwecke, denn sie werden zu Mitteln, um die eigenen Aktivität in gutem Licht erscheinen zu lassen und sich auf dem Markt des Mitleids gegen Mitbewerber durchzusetzen. Das kann man zwar mit Zweckrationalität begründen (»Der Zweck heiligt die Mittel«), aber moralphilosophisch betrachtet ist es problematisch.

Werbung Werbung – oder, wie ich lieber sage: Reklame – hat die Aufgabe, Aufmerksamkeit zu erregen, Konsumeinstellungen zu festigen oder umzulenken und Kaufhandlungen zu motivieren. Reklame vermittelt Informationen und löst Empfindungen aus. Sie beeinflusst das Fühlen, Denken und Handeln im Sinne kommerzieller Zwecke. Sie spricht nicht nur Bedürfnisse an, sie weckt vor allem Begehrnisse. Bedürfnisse dienen der Erhaltung des Lebens, Begehrnisse dienen »der Inszenierung, der Ausstaffierung und Steigerung des Lebens« (Böhme 2001: 70). Im Gegensatz zu Bedürfnissen können Begehrnisse nicht befriedigt werden; sie werden »durch ihre Befriedigung nicht gestillt […], sondern vielmehr gesteigert.« (Ebd.: 71). Moralische Fragen stellen sich im Kommunikationsdesign, wenn es um die Mittel, um die Zwecke und um den Kontext geht. Wir müssen also erstens fragen, ob die Mittel der Werbung ethisch legitim sind.

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Wenn Werbung suggestiv und manipulierend arbeitet, ist sie nicht von innen heraus an moralische Prinzipien gebunden – oft ist ein »unmoralisches Angebot« auffälliger und vermeintlich wirkungsvoller als jedes andere. Edward Bernays (1929: 52 f.), der Begründer der Public Relations, hatte mit Bezug auf Freuds Theorie der verdrängten Triebwünsche bemerkt: »Eine Ware wird nicht wegen ihres spezifischen Werts oder wegen ihres Nutzens begehrt, sondern weil sie als Symbol für etwas anderes steht; für eine Sehnsucht, die der Konsument sich aus Scham nicht eingesteht. […] Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich selbst verbergen.« Wer sich psychologische Tricks zunutze macht, behandelt die Menschen seiner Zielgruppe nicht wie Subjekte, sondern eben wie (militärische) Ziele. Er erkennt deren Anspruch auf Selbstbestimmung nicht an. Das verstößt gegen das Instrumentalisierungsverbot, welches, Kant zufolge, aus unseren Begriffen der Person und der Menschenwürde folgt. Menschen sollten durch Suggestion und Manipulation auch nicht zu ›guten Zwecken‹ geführt werden, sondern nur durch vernünftiges Informieren und Überzeugen. Andernfalls behandelte man sie nicht »immer auch als Zweck an sich selbst«, sondern nur noch als Mittel. Zweitens ist zu fragen, ob die Zwecke der Werbung ethisch legitim sind. Sinn und Zweck von Werbung ist die Beeinflussung der Konsumenten im Interesse der Auftraggeber. Diese Interessen sind nicht verallgemeinerbar, sondern – per definitionem – an partikulare Standpunkte gebunden. Das universalistische Postulat der freien Selbstbestimmung jeder Person ist mit dem Zweck von Werbung daher häufig nicht vereinbar. – Auf den Bereich »Kontext« werde ich noch eingehen. Halten wir fest: Weil Werbung bzw. Reklame per se nicht auf Moralnormen und -prinzipien verpflichtet ist, muss sie von außen ethisch »überwacht« werden. Nun könnte man aber mit Nietzsche das Konzept des Gewissens als Zentrum der rationalen Pflichtmoral problematisieren. Das heißt, man könnte den Maßstab anzweifeln, der bei dieser Kritik der Werbung zugrunde gelegt wird. Moral, lautet Nietzsches Argument, ist nicht an sich gut, sondern immer nur gut für etwas. Sie ist kein Zweck an sich selbst, sondern Mittel für etwas, das außerhalb von ihr liegt. Denn Moral sei notwendig, damit Menschen überleben können, also etwas Naturhaftes, das nur im Hinblick auf das Leben zu erklären ist. »Leben« ist für Nietzsche zweierlei: biologischer Naturzusammenhang und geschichtliche Entfaltung von Kultur und Zivilisation. Das Leben sei »jenseits von gut und böse«, es gebe keine »moralischen Phänomene« im Leben, »sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen« (Nietzsche 1886: 92). Moral ist für Nietzsche eine Erscheinungsform des Willens zum Leben, und damit meint er: des Willens zur Macht. Angenommen, man würde so weit gehen, Werbung in diesem Sinne als allgemeines Lebensphänomen zu verstehen. Dann könnte man argumentieren, dass die suggestive Instrumentalisierung anderer Menschen nicht unberechtigt ist.

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Das Bedürfnis nach Erhaltung und Steigerung des eigenen Daseins, der »Wille zur Macht«, wäre dann das Zentrum aller Lebensregungen – vom Körpergeschehen bis zu den feinsten kulturellen Gestaltungen. Und eine seiner machtvollen soziokulturellen Manifestationen wäre die suggestive (Ver-)Formung unseres Begehrens durch die modernen Mittel der Werbung. Wer so argumentieren würde, wäre ein moralphilosophischer Nihilist und erläge einer Täuschung, denn er deutete Erscheinungen, die auf die entwickelte Marktwirtschaft zurückzuführen sind, wie Naturphänomene. (Das tun heute allerdings viele, vor allem im Dunstkreis der populären Hirnforschung, aber dadurch wird es nicht richtiger.) Wenn man diesen Denkfehler vermeiden will, dann kann man sagen: Werbung als Information, die den Produkt- und Preisvergleich ermöglicht, ist ethisch korrekt, Werbung als manipulative Rhetorik nicht. Die Frage ist nur: Wo verläuft die Grenze? Das wäre jeweils an Fallbeispielen zu untersuchen. Werbung will heute allerdings immer seltener zum Kauf überreden. Sie versucht auch »nur noch selten, […] Kunden […] die Vorteile eines Produkts zu erklären«, wie Thomas Steinfeld (2009) zutreffend festgestellt hat. Stattdessen »illustriert« sie »die Ware, verzichtet auf Text und Argument, schafft für jedes Ding eine eigene Wirklichkeit, in die der Kunde eintreten muss wie in einen Traum.« (Ebd.) So wird sie zum Schrittmacher der Ästhetisierung des Alltagslebens und der Inszenierung von allerlei verschiedenen Lebensformen. Wenn die Diagnose zutrifft, dass Werbung heute Inszenierung ist, die das Leben ausstaffiert und steigert, dann könnte man fragen, ob es eine ästhetische Rechtfertigung für Formen der Werbung gibt, die ethisch nicht legitimierbar sind. Nietzsche (1872: 47) sagte: »nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«. Könnten wir dann, frei nach Nietzsche, sagen: »Als ästhetisches Phänomen ist Werbung moralisch gerechtfertigt«? Für Nietzsche kann es keine moralische Rechtfertigung des Daseins geben, weil Moral nichts anderes ist als die Delegitimierung des Daseins, die ins Werk gesetzt wird, indem man schlechtes Gewissen und Schuldgefühl installiert. Wenn es überhaupt einen Wert des Daseins gibt, dann kann er nicht mit moralischen Kategorien beschrieben werden; eine Rechtfertigung des Daseins ist nur in der Ästhetik zu finden. Der Wert des Daseins bestand für Nietzsche in der ästhetischen Erfahrung, d. h. in der Wahrnehmung des Daseins als Ereignis. Die Ästhetisierung der Lebenswelt, die populäre Kultur des 20. Jahrhunderts im Zeichen des Konsumismus der Massenproduktion, ist also ohne Nietzsches vitalistische Theorie ästhetischer Erfahrung gar nicht zu begreifen. Man kann nun folgende Grenzwerte benennen: Auf der einen Seite stimuliert Werbung kreative Kräfte im visuellen und narrativen Bereich. Auf der anderen Seite korrumpiert sie unsere Urteilskraft – auch in moralischer Hinsicht.

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Darüber hinaus gibt es ein Phänomen, das Roland Posner (1998) treffend als »semiotische Umweltverschmutzung« bezeichnet hat: Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit werden nicht nur durch Gestank und Lärm eingeschränkt, sondern auch durch das »Rauschen«, mit dem die Werbebotschaften alle Kanäle erfüllen. Wer in der Werbung arbeitet, kann auf die »Ökologie der Zeichen« (Posner) achten und versuchen, nachhaltig mit symbolischen Ressourcen umzugehen.

Verantwortungsethik und Transformationsdesign In den 1990er-Jahren, als »Nachhaltigkeit« noch kein Schlagwort war, bezogen sich Produktdesigner gern auf die Verantwortungsethik von Hans Jonas. Design sollte ökologisch, generationen- und sozialverträglich sein. Wie hatte Jonas sein »Prinzip Verantwortung« begründet? Er hatte »eine neue Art von Demut« (Jonas 1984: 55) gefordert, und zwar »wegen der exzessiven Größe unserer Macht«. Zwiespältige Errungen­schaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen. Daher sollten wir in unserem nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik »die Kategorie des Heiligen« (ebd.: 57) wiederherstellen. Wir sollten von Neuem »Ehrfurcht und Schaudern« (ebd.: 392) lernen. So könnten wir uns »vor den Irrwegen unserer Macht schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit« (ebd.: 393) fördern. Jonas hat eine komplexe Begründung seines Moralprinzips geliefert. Eickloff und Teunen hingegen verkünden in ihrem Brevier für Gestalter nur noch eine banal-pantheistische Weltanschauung aus zweiter Hand. Aber dennoch ist das »Prinzip Verantwortung« von Jonas bis heute strittig. »Das Heilige« ist in sich höchst zwiespältig. »Ehrfurcht und Schaudern« kann es nur auslösen, wenn es nicht begriffen wird. Das Heilige ist mit Gewalt verbunden und mit Angstgefühlen besetzt – jedenfalls dann, wenn es authentisch so empfunden und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird. Das ist keine gute Basis für freies, vernunftbestimmtes Handeln. Plausibler als eine Reanimation des »Heiligen« scheint ein neuer Ansatz zu sein, der »Transformationsdesign« genannt wird. Das ist ein Vorschlag, wie man heute im Produktdesign das Ruder herumreißen könnte. Von allem weniger, Beschränkung in der Produktion und im Konsum, das ›Verhältnis von Rohstoff und Erzeugnis‹ (Welzer 2012 a: 11) neu denken – das sind die Maximen des »Transformationsdesigns«. Man könnte es auf die Formel bringen: Flohmarkt statt Supermarkt. Dieser Ansatz wird von dem Sozialpsychologen Harald Welzer vertreten, der das innovative Fach an der Universität Flensburg lehrt. Er möchte »konkrete Wege für veränderte Mobilitätsformen, Wirtschaftsformen, Ernährung, Konsum und so weiter […] un-

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tersuchen« (Welzer 2012 b). Produktdesign soll nicht mehr die »Formensprache der Konsumwirtschaft« (Welzer 2012 a: 10) sein. Die Aufgabe des Produktdesigns sieht Welzer (2012 a: 11) darin, nicht mehr »unablässig zusätzliche Dinge in die Welt zu bringen, die man nicht braucht, sondern die, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen«. Und damit ist man eigentlich schon vom Produktdesign zum Kommunikationsdesign übergegangen. Denn Welzer schlägt vor, dass Designer »nicht eine coole Flasche für ein Mineralwasser aus Fidschi […] entwerfen, sondern den Hinweis auf den nächsten Wasserhahn« (ebd.). – »Transformationsdesign« nimmt den Nachhaltigkeitsdiskurs auf, möchte aber seine Form, seinen Gestus ändern. Dazu hat Welzer eine Stiftung namens »Futurzwei« gegründet. »Die Aufgabe der Stiftung ist es«, sagt er, »eine andere Form der Kommunikation über Nachhaltigkeitsthemen zu etablieren. Also wir machen keine Kommunikation mehr, in der wir sagen: ›Es darf jetzt nicht mehr als so und so viel CO2 in die Luft geblasen werden‹, ›Es ist fünf vor zwölf – die Katastrophe steht vor der Tür‹. Die Stiftung kümmert sich vielmehr um die Kommunikation von bereits funktionierenden nachhaltigen Formen des Wirtschaftens und Lebens. Sie stellt Menschen vor, die heute schon die Dinge fundamental anders machen« (Welzer 2012 b).

Ethische Grenzwerte der Werbung zwischen strategischer und verständigungsorientierter Kommunikation Kommen wir nun noch einmal zurück auf die ethischen Grenzwerte der Werbung. Wer in der Werbung arbeitet, kann versuchen, sich so weit es geht an Moralprinzipien zu halten bzw. nirgendwo mitzumachen, wo dagegen verstoßen wird. Natürlich gibt es keine ethischen Probleme, wenn Verlage auf ihre Buchproduktion aufmerksam machen und dabei Autorenfotos und Zitate aus Kaufempfehlungen aus dem Feuilleton verwenden. Auch andere Formen der Buchwerbung verstoßen kaum gegen das Instrumentalisierungsverbot von Personen (selbst wenn sie in absurde Geheimniskrämerei ausartet, wie es seinerzeit der Fall war, als das Erscheinen des ersten ›Post-Potter‹-Buchs der Harry-Potter-Autorin im Vorfeld vermarktet wurde). Es gibt auch keine Ethikprobleme, wenn Baumärkte ihre Geräteschuppen in digital bearbeiteten Bildern mit blauem Himmel und grünen Rasen präsentieren. Werbung und Ethik können auch zusammengehen, zum Beispiel bei Produkten, deren ethische Bilanz besser ist als andere: Fair-Trade-Produkte, ›ökologisch korrekte‹ Produkte etc. Niemand würde bestreiten, dass es moralisch besser ist, für Produkte zu werben, bei denen keine Kinder ausgebeutet werden, Arbeiter halbwegs angemessen bezahlt und natürliche Ressourcen nicht geschädigt werden.

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Die Grenze dürfte dort liegen, wo derartiges Werben das Gewissen beruhigen soll oder Teil eines kollektiven Buß-Rituals wird. Nun gibt es nicht nur Pflichten gegen andere, sondern auch Pflichten gegen uns selbst. Und daraus entstehen immer wieder Pflichtenkollisionen. Angenommen, ein Kommunikationsdesigner lehnt es ab, für eine Bank zu werben, die möchte, dass die Kunden Geld in Aktienfonds anlegen, deren Kursgewinne bei der Wette auf steigende Preise für Agrarprodukte ursächlich mit Hunger und Elend zusammenhängen. Das Beispiel ist nicht erdacht, sondern dokumentiert. »Eine umstrittene Werbeaktion der Deutschen Bank für einen Fonds ruft Globalisierungsgegner auf den Plan«, berichtete vor zehn Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ 2008). In der Tat – das Geldhaus hatte mit den Sätzen geworben: »Freuen Sie sich über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe – mit dem Agriculture Euro Fond haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten Agrarrohstoffe zu partizipieren. Investition in etwas Greifbares.«

Abb. 1 Bildquelle: http://myhead.soup.io/post/2801478/Deutsche-Bank-wirbt-mit-der-HungerkriseFreuen-Sie [letzter Abruf: 24.3.2018]

ATTAC (2008) wurde ein paar Wochen später deutlicher: »Während die Hungerkrise verzweifelte Menschen in Haiti, Bangladesh, Westafrika und anderswo auf die Straße treibt und auch in Deutschland viele Eltern ihre Kinder nicht mehr ausreichend

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ernähren können, wirbt die Deutsche Bank für die Spekulation mit Getreide – auf Brötchentüten bei Frankfurter Bäckern. […] Attac, die kritischen Aktionäre und Urgewald protestieren anlässlich der Hauptversammlung der Deutschen Bank vor der Festhalle der Messe Frankfurt gegen die skrupellose Geschäftspolitik des Unternehmens. Wir fordern […] sofort die Werbung und die Ausweitung der Spekulation mit Lebensmitteln zu stoppen.« Auch ein parodistisches Umfunktionieren mit den Mitteln des Kommunika­ tionsdesigns wäre eine Option, die sich in die Tradition politischer Aufklärung von Heartfield und Brecht stellen würde.2

Abb. 2 Bildquelle: http://blog.pantoffelpunk.de/wp-content/uploads/2008/05/hunger4.jpg [letzter Abruf: 12.7.2015]

2 Bertolt Brecht hat das Verfahren des Umfunktionierens visueller Botschaften durch Neuvertextung und Veränderung des Dekodierungszusammenhangs in seinem Buch Kriegsfibel von 1955 paradigmatisch mit propagandistisch-kulturindustriellem Bildmaterial demonstriert. »Brechts Kriegsfibel, da sie auf das Erlernen eines ›Neuen Sehens‹ von Fotos hin angelegt ist, belässt […] das Objekt dieser Befragung, die Fotos, weitgehend unverändert, muss es aber von seinem ursprünglichen (Publikations-)Zusammenhang […] trennen und neu kontextualisieren.« (Seibert 2009: 67)

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Wenn er dann seinen Job verliert oder seine Agentur schließen muss, hat er zwar der Pflicht gemäß gehandelt, niemandem zu helfen, der die Not von anderen ausbeutet. Aber er kann nicht mehr für sich und seine Familie sorgen. Welche Pflicht hat den Vorrang? Wägen wir ab: Der Gestalter konnte ja vorher wissen, dass seine Entscheidung für die Werbebranche seine moralische Integrität eines Tages auf die Probe stellen würde. Es scheint zumutbar, wenn man erwartet, dass er seine Familie nun durch andere Arbeit ernährt. Aber wer rigoros moralische Sauberkeit fordert, überfordert den Einzelnen. Und er übersieht, wie wichtig es ist, dass Menschen mit intaktem Gewissen nicht von vornherein einen Bogen um die werbetreibende Wirtschaft machen. Man sollte zumindest versuchen, auch da moralisch verantwortlich zu handeln, wo es im Allgemeinen unverantwortlich zugeht. Es ist ja schließlich nicht ausgeschlossen, dass ethisch nachdenkliche Gestalter ihre Kunden mit guten Gründen davon überzeugen, dass es besser ist, moralisch zu handeln. Wie kann man der »Ethik-Ferne« der Werbung abhelfen? Gebote und Verbote »von außen« gibt es ja. Aber verbindliche Werte und Normen müssen »von innen« entwickelt werden, also durch Selbstreflexion der Werbedesigner. Wir haben gesehen, dass es dazu Ansätze gibt wie z. B. die First-Things-First-Manifeste. »Von innen«: das heißt durch Reflexion auf die kommunikativen Zwecke. Die Grenze solcher Reflexion besteht darin, dass Werbung strategische Kommunikation ist und keine verständigungsorientierte Kommunikation. Strategisches Handeln orientiert sich am Erfolg, kommunikatives Handeln an Verständigung und am Konsens. Ich schlage daher vor, die ethische Reflexion des Kommunikationsdesigns am Begriff der Kommunikation festzumachen.

Ethik der Kommunikation Ich plädiere dafür, dass wir nicht die ›Werte‹ als Bezugsrahmen nehmen, weil die sich permanent wandeln, sondern deren Form, die konstant bleibt. Statt ›gut oder schlecht‹ sollten wir als Unterscheidungscode ›richtig oder falsch‹ bzw. ›gerecht oder ungerecht‹ ansetzen. Der Bezugsrahmen muss aus normativen Moralprinzipien bestehen. Die Ethik der Kommunikation, die Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas als »Diskursethik« formuliert haben, zeigt, welche Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen Kommunikation stecken. Sie zeigt außerdem die Differenz zwischen dem Faktischen und dem Möglichen. Diskursethik beruht auf dem Gedanken, dass in die Struktur des Sprechens immer schon eine normative Zielvorstellung eingebaut ist. Es ist die Idee konsensueller Verständigung. Diskursethik geht davon

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aus, dass »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt« (Paetzold 1990: 12) wird. Der Grundsatz lautet: Geltung dürfen nur solche Normen beanspruchen, denen alle Beteiligten vernünftigerweise zustimmen könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen müssen von allen Betroffenen ohne Zwang akzeptiert werden können. Deswegen muss auch jeder, der irgendwie beteiligt ist, das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs teilzunehmen. Man kann diesen Gedanken auf das Kommunikationsdesign übertragen. Nicht nur in sprachlicher Kommunikation, sondern auch in visueller Kommunikation steckt das Ziel gleichberechtigter Verständigung und freier Konsensfindung aller Beteiligten. Wer Zeichen in den öffentlichen Raum setzt, muss die Adressaten wie vernünftige Menschen behandeln, ihre Menschenwürde achten und bereit sein, über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns nachzudenken. In visuellen Diskursvorgaben müssen die gerechtfertigten Bedürfnisse aller Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Auch im Werbegeschäft können nur die Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten, also auch die Konsumierenden, vernünftigerweise zustimmen könnten. Jeder muss die Möglichkeit haben, am Diskurs über die normativen Grundlagen des Kommunikationsdesigns teilzunehmen. Damit eine Gestaltungsnorm gelten darf, so kann man Habermas’ (1991: 12) diskursethisch begründetes Kriterium abwandeln, »müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus [ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können«. Um Verständigung zu gewährleisten, soll nie nur strategisch gehandelt werden. Andere Subjekte sind immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner zu achten. Der kategorische Imperativ lautet dann: Gestalte so, dass deine Gestaltungsmaximen in einem Diskurs bestehen könnten, zu dem alle zugelassen sind, die möglicherweise davon betroffen wären. Verbale und visuelle Kommunikation im Alltag haben das Potenzial gleichberechtigter Verständigung. Aber ihre Rahmenbedingungen werden aufgrund der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums« verzerrt, um es mit den Worten von Habermas zu sagen. Habermas ist kein Idealist; er glaubt keineswegs, dass die Diskursethik alle sozialen Hindernisse durch die Kraft der Vernunft aus dem Weg räumen kann. Strategische Ziele blockieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen dominieren und blockieren das vernünftige Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und Profitorientierung behindern die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen; sie hemmen Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und visuelle Kultur in ihrer Entfaltung. So wird verhindert, dass die Idee herrschaftsentlasteter Symbolisierun-

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gen verwirklicht wird. Dagegen ist Widerstand zu leisten – auch mit den Mitteln des Kommunikationsdesigns. Die kommunikativen Zwecke, die mit visuellen Medien realisiert werden, müssen sich durch die Prinzipien ›Selbstbestimmung in Freiheit‹ und ›gleichberechtigte Verständigung‹ rechtfertigen lassen. Andere dürfen nicht zum Zuge kommen. Gestalterinnen und Gestalter, die ethisch reflektieren, werden entdecken, dass sie verpflichtet sind, kognitive und emotionale Fähigkeiten zu fördern, die wir brauchen, um verständigungsorientiert und solidarisch zu handeln und in reflexiven Diskursen gemeinsam darüber nachzudenken. Über die Fragen, ob es einen Ethik-Kodex des Kommunikationsdesigns geben kann, wie er aussehen sollte und ob die Kommunikationsethik sein bester Rahmen wäre, herrscht alles andere als Konsens. Ohne konsensuelle Verständigung wird Konsens aber nicht als regulative Idee der täglichen Praxis anerkannt werden. Zur Durchsetzung können keine Ethik-Kommission des Bundestags und keine Zensurbehörde verhelfen, das kann nur die kritische Selbstreflexion der Akteure im Kommunikationsdesign. Wie das im Einzelnen umgesetzt werden soll, kann ich nicht sagen; es kam mir zunächst einmal darauf an, eine Begründung vorzuschlagen.

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Die visuelle Sprache der Moral Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns*1 Die visuelle Sprache der Moral

Zwei Seiten des Ethos Gibt es ein »ethos« der Kommunikationsdesigner? Das Wort »Ethos« steht in der griechischen Philosophie für Herkommen und Gewohnheit, für Sitte und Brauch in Gemeinschaften, aber auch für den Charakter, also für Überle­g ung, Einsicht und Urteilsfähigkeit. Früher sagte man: für den Charakter eines tugend­haften Menschen. Heute wird man das Wort »Tugend« eher vermeiden und, in der Termino­logie moderner Psycho­lo­gie, von einer Verhaltensdisposition sprechen, also von einer stabilen Charaktereigen­schaft. Der Sachgehalt des Begriffs ist deshalb jedoch nicht überholt. Heraklit lehrte: »ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων« (Kranz 1959: 80). Sein Begriff ēthos wird klassischerweise mit »Wesen«, »Eigenart« oder »Indivi­duali­tät« übersetzt: »Das Wesen eines Menschen ist sein Schicksal«, oder »Die Eigenart eines Menschen ist sein Schicksal«. – Textnah (und mythisch-schlicht konnotiert) heißt es bei Kranz (1959: 81): »Seine Eigenart dem Menschen der Dämon«. Capelle (1968: 156) übersetzt korrekt, doch etwas ungelenk: »Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal.« Die Rede vom Schicksal scheint für heutige Überlegungen zur Ethik wenig ge­eignet; aber Heraklits Intention ist nach­voll­ziehbar, denn ob wir auch nur in die Nähe dessen gelangen, was man ein »gelingendes Leben« nennt, hängt nicht nur davon ab, was man früher »Glücksgüter« nannte – also Einkommen, Erfolg, Gesundheit und dergleichen

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Der Text ist aus einem Vortrag auf der Tagung Philosophical Perspectives On Design an der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg am 16. Januar 2015 hervorgegangen. Er entstand im Kontext des Forschungsprojekts »Kommunikationsdesign und Ethik – Ethik des Kommunikationsdesigns«, das von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wurde. Erstveröffentlichung in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, hrsg. v. Julia-Constance Dissel, Bielefeld: transcript, 2016, S. 31–58. Die vorliegende Fassung wurde geringfügig überarbeitet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_10

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–, sondern maßgeblich davon, ob wir imstande sind, im Einklang mit morali­schen Grundsätzen zu handeln. Und das gilt selbstverständlich auch für Kommunikationsdesigner. Sie be­einflussen Verhalten und Einstellungen ihrer Mitmen­schen durch Inter­ventionen und Inszenierungen im öffentlichen Raum. Daher tun sie gut da­ran, nicht bloß strategisch über die Mittel nachzudenken, mit denen man das effekt­voll ins Werk setzen kann, sondern auch über die Zwecke, die erreicht werden sollen. Aristoteles hat den Zusammenhang zwischen morali­scher Integrität des Individuums und seinem Wir­ken in der Gemein­schaft nicht nur in seinen Überlegungen zur Ethik und deren Verbindun­gen zur politischen Theorie untersucht, die für viele bis heute maßgeb­lich sind, sondern auch in seiner Theorie der Redekunst. Rhetorik ist bei ihm das Bindeglied zwischen Ethik und Politik, zwischen den »Privatverhält­ nissen« und dem »Staatswohl« (Aristoteles 1354 b; Übers.: Sieveke 1995: 9). »Von den Überzeugungs­mitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten«, schrieb Aristoteles. »Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu ver­setzen, oder schließlich in der Rede selbst, d. h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.« (Ebd.: 1356 a; 13)1 Eine Rede kann dem­­nach persuasiv wirken, wenn 1. der Charakter, also das per­for­ma­tive ethos des Vortragenden als glaubwürdig empfunden wird; wenn 2. die Affekte des Publikums durch das pathos des Vortrags richtig einge­ stimmt werden und wenn 3. »Wahres oder Wahrscheinliches« über die Sache, von der die Rede ist, auf rationalem, logischem Wege vermittelt wird. Daran hat sich im Zeitalter der audio­v isuellen, digitalen Massen­medien wenig geändert. Über­ zeugungsfeldzüge im öffentlichen Raum bedienen sich nach wie vor der auf Logik und Inhalt bezogenen logos-Strategie, der emotional orientierten pathos-Strate­gie und der Glaub­w ürdigkeit sugge­rierenden ethos-Strategie (siehe Pfister 1994: 213 f.). Hanno Ehses (2008) hat in seinen Überlegungen zur visuellen Rhe­­­to­rik eine aristotelische Typologie der Handlungsaufforderungen durch Design auf­ge­stellt. 1 »Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daß sie den Redner glaubwürdig erscheinen läßt. Den Anständigen glauben wir nämlich eher und schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewißheit nicht gibt, sondern Zweifel bestehen bleiben. Doch auch das muß sich aus der Rede ergeben und nicht aus einer vorgefaßten Meinung über die Person des Redners. Nicht trifft zu, wie manche der Fachtheoretiker behaupten, daß in der Redekunst auch die Integrität des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste Überzeu­gungskraft hat sozusagen der Charakter. Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn die durch die Rede zu Emotionen gelockt werden. Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir lieben oder hassen. […] Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt.« (Aristoteles: Rhetorik, Übers. Krapinger 1999: 12 [Hervorhebung: G.S.].)

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Sie hilft dabei, den ethischen Aspekt visueller Kommunikation zu klären.2 Beim logos-Appell konzentriert sich die visuelle Sprache auf den Ge­genstand. Die Betrachter sollen durch rationale Argumente über­zeugt werden: Im »logos-Kontext« geht es insbesondere um typo­gra­fische und andere grafische Mittel, mit denen man Informationen glie­dert und hierar­chi­siert, damit sie ver­ständlich und nachvollzieh­bar werden (Ehses 2008: 112 f.). Der logos-Appell wird häufig mit Zeichen artikuliert, die auf kognitiven Wegen wir­ken und sachlich konno­tieren – also Diagramme, Listen und Bilder mit hohem Infor­mations­gehalt. Dieser Appell übernimmt nor­malerweise in »[a]kade­mischen Schriften, Gebrauchsanweisungen und [L]eitsystemen« (ebd.: 113) die Führungs­rolle. Zur rational-kognitiven Ansprache kommt die Arbeit »mit den Gefühlen des Publikums« (ebd.): Der pathos-Appell wirkt über Farben und For­men sowie über Bilder, die affektive Reaktionen hervorrufen. Emotionen werden mithilfe von visuellen Symbolen »in materieller, technologischer oder künst­le­ri­ scher Form« (ebd.) und durch visuell inszenierte ›rhetorische Figuren‹ sti­mu­­liert. Reklame für Verbrauchsgüter und Versicherungen verwenden mit Vor­liebe die Mittel des »pathosbestimmten Designs« (ebd.). Und beim ethos-Appell hört man sozusagen »die Stimme des Desig­ners« (ebd.: 114). Hier, schreibt Ehses, setzt man »auf Glaub­­würdig­keit, Mitgefühl und Verlässlichkeit, um ein Publikum zu über­ zeugen.« (Ebd.: 113) Hier zählen das gehaltvolle, klare Konzept und die markante Ästhetik. Und zwar, um die Persönlichkeit des Designers zu artikulieren: Man setzt »kraftvolle Zeichen« ein, »die auf Integrität […], Vorlie­ben und Empfindlichkeiten […] hinweisen.« »Poster und Medienkampagnen« zu sozialen, politi­schen oder gesund­heit­lichen Themen »sind oft ethos­bestimmt« (ebd.). Ein Aspekt wäre freilich hinzuzufügen: Der Horizont des ethos-Appells ist insofern etwas weiter zu fassen, als hier nicht ausschließlich nur die Haltung des Designers ihren Ausdruck finden und Wirkung entfalten kann, sondern ebenso auch die des Auftraggebers.3 Man kann dann auch »die Stimme des Absenders« hören. Die muss freilich nicht immer vernehmlich hervortreten, und wenn sie es tut, muss die Stimme des Designers nicht notwendigerweise in derselben Tonlage erklingen. Die wirkungsvollsten Mitteilungen dürften in der Regel diejenigen sein, in der beide Stimmen harmonieren. Mitunter mögen aber auch diejenigen besonders 2 Ein verwandter Bereich ist das Arbeitsfeld der »Visual Literacy«; dort widmet man sich seit den 1970er Jahren der Untersuchung »visueller Bildung« aufseiten der Rezipienten, d. h. der Ausbildung kritisch-analytischer, aber auch gestalterischer Bildkompetenz. Dies ist auch eine Reaktion auf die Macht und Allgegenwart suggestiver Botschaften in der visuellen Kommunikation (für den Hinweis danke ich Anke Haarmann). Siehe auch die Debatten zum sogenannten »pictorial turn« (etwa bei Holert 2005). 3 Für den Hinweis darauf danke ich Volker Friedrich, dessen in diesem Punkt abweichende Ethos-Lesart mir einleuchtet.

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auffallen, deren Stimmführungen auseinanderlaufen; Letzteres ist aber vermutlich eher etwas für Spezialisten, die sehr reflektiert bzw. professionell rezipieren. Wie dem auch sei – wenn man »die Stimme des Desig­ners« hört, lebt das Diktum des Heraklit wieder auf, und man kann durchaus in Anlehnung daran sagen: »Das Wesen, der Charakter eines Gestal­ters ist sein Schicksal«. Von ihm hängt es letzten Endes ab, ob die Kampagne ein Er­folg wird. Schon Cicero wusste: Wenn Rhetorik wirken soll, muss der Redner selbst die Einstellung ver­körpern, die er bei den Hörern auslösen möchte. Der Horizont der Themen lässt erkennen, dass das »Ethos« der Ge­stalter nicht allein individualethisch verstanden werden darf. Wir müssen uns auch an den anderen, den weiteren Sinn des grie­chischen Wortes erin­nern. Er ver­weist auf die moralischen Grundlagen des Gemein­­wesens. Nicht nur Individuen haben ein ethos, sondern auch Gemein­schaften und Gesellschaften; deren gelebtes Ethos wird seit Hegel (1820: 292–512) als »Sittlichkeit« bezeichnet. Die Grund­­frage der philosophischen Ethik lautet: »Wie soll ich leben«? Gibt es Kriterien, wie wir uns ver­hal­ten sollen, wofür wir uns ent­scheiden sollen, um gut oder richtig zu leben? Solche Kriterien müssen überindi­v idueller, allge­meiner Art sein. Also nicht nur »Wie soll ich handeln, damit es mir gut geht?«, sondern auch: »Wie soll ich anderen gegenüber angemessen handeln?« Ethik ist eine Theorie, die einerseits klärt, was persönlich zuträg­lich und zweckmäßig ist, und andererseits, wozu man im sozialen Sinne verpflichtet ist, was gerecht und was allgemein notwendig ist. Mit ande­ren Worten: Jede Ethik hat partikulare und universale Aspekte. Lebensformen haben sich in der Moderne bekanntlich ausdifferenziert, Wertorien­tie­run­­­gen sind vielfältig geworden. Individuelle Vorstellungen vom Glück und die Plu­ra­lität der Lebensstile haben zu gegensätzlichen Be­grün­dun­gen von Moral­konzep­ten geführt. Wo­ran kann sich jemand orientieren, der Wertkonflikte und Interessenkonflikte nicht den Gesetzen des Marktes oder dem Recht des Stärkeren überlassen will, sondern auf gerechte Weise schlichten möch­te? Mit einer Formulierung von Gunzelin Schmid Noerr (2012: 36): Es geht darum herauszufinden, was die »allgemeinen, grundlegenden Prinzipien« sind, »aus denen sich besondere moralische Urteile begründen lassen«. Allgemein gespro­chen sind es die Werte und die Normen, die in einer Gemeinschaft, zu­mindest im Grundsatz, anerkannt werden. Mora­lische Werte sind Hinter­grund­annahmen darüber, was zum gelingenden Leben gehört und was eine vernünftig eingerichte­te Gesellschaft aus­macht; moralische Normen sind »handlungsleitende Anweisungen, die dazu dienen, Werte zu realisieren oder gegenüber anderen Ziel­setzungen zu schützen« (ebd.). Das »Ethos« der Kommunikationsdesigner ist also nicht nur die indi­v i­du­elle »Haltung«. Die Charakterdisposition des Einzelnen ist eine Seite, aber zur individual­ ethischen Perspektive muss die sozialethische hin­zu­kommen. Das Zwischenreich

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zwischen Individual­- und Sozialethik sind die berufsethischen standards. Allerdings – dies sei hier nur am Rande vermerkt – gibt es so etwas wie einen Ethikkodex der Kommunika­tions­designer nicht (oder: noch nicht). Was es gibt, sind »die Wirk­sam­ keiten des gelebten Ethos« (Fleischer 1995) auf diesem soziokulturellen und wirt­schaft­ lichen Feld; also nicht nur die pragmatischen »Üblichkeiten« in der Bran­che, sondern auch praktische Vernunft, die sich in Über­lie­ferung und All­tags­praxis manifestiert. Im Folgenden werden einige Beispiele im Hinblick auf die drei »Appelle« der visuellen Rhetorik untersucht, die aus Kam­pagnen gegen female genital mutilation, kurz: »FGM«, stammen. In der unterschiedli­chen Akzentuierung von Vernunft, Emotion und Haltung treten Konturen eines universalisti­schen Ethos der Gestaltung vor Augen.

Abb. 1 Medizinisch Bildquelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Weibliche_Genitalverst%C3%BCmmelung [letzter Abruf: 24.3.2018]

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Zunächst eine Darstellung, die aussieht wie aus dem medizini­schen Lehrbuch. Sie demonstriert Varianten der Genitalverstümmelung. Die anatomische Prä­sen­tation kann als Anleitung zur Durchführung der Eingriffe dienen, sie kann aber auch als Dokumentation der physischen Beschädigung gelesen werden.

Abb. 2 Statistisch Bildquelle: http://salfordwomensaid.org/female-genital-mutilation/ [letzter Abruf: 24.3.2018]

Eine klassische Informationsgrafik aus dem Jahre 2012 präsentiert in sachli­cher Auf­machung gesichertes Wissen über die Verbreitung dieses Ini­tia­tions­ritus. Wo Menschen mit abendländischen »Wert­gefüh­len« (um es mit Nietzsche zu sagen) zumeist empört reagieren, präsentiert ein logos-Appell nüchtern und statistisch Fakten. Die visuelle Sprache wirkt wissen­schaftlich, seriös und informativ. Der Text weist in ruhiger Tonlage auf den soziokulturellen Sinn des Rituals und mögliche Gefahren hin: Es handele sich »häufig« um die Vorbedingung für eine Heirat, »aber« es könne »körperliche und seelische Probleme verursa­chen«. Wohlge­merkt: kann, muss aber nicht ... Zu Risi­ken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Medizinmann oder Schama­nen: Das wäre eine Assoziation, die sich hier aufdrängen könnte – wobei

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freilich bekannt ist, dass die Pro­zedur in der Regel nicht von Männern, sondern von kundigen Frauen ausgeführt wird.

Abb. 3 Gesellschaftlich Bildquelle: https://www.gov.uk/government/news/new-campaign-calls-on-mothers-and-carers-to-end-female-genital-mutilation [letzter Abruf: 14.8.2018]

Dieses Fotoplakat aus der britischen Kampagne »nspcc.org.uk/fgm« visualisiert den pathos-Appell. Wir sehen große Augen, der Kopf eines Kindes stützt sich auf Holz; man weiß nicht, ob es sich geborgen fühlt oder Schutz sucht. Der Text gibt einen

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Hinweis: Es könnte das Kind der Mutter sein, die end­lich Schluss macht mit der schrecklichen Tradition. Oder steht ihm die Traumatisierung noch bevor? Ein­deutig ist die Auf­forde­rung, die an die Betrachterinnen ergeht. Im Kleingedruckten wird das Brauch­tum ohne Wenn und Aber, wenn auch in sachlichem Ton, als Kindesmiss­ hand­lung bezeichnet. Der Hinweis, dass es gegen königlich britische Gesetze verstößt, verstärkt den verbalen logos-Appell. Der feine Riss, der durch die Worte »Genital Mutilation« verläuft, indiziert auf sehr zurückhaltende Weise das gestalterische ethos: eine seriöse Ästhetik, die »Glaub­­würdig­keit« und »Mitgefühl« signalisiert.

Abb. 4 Künstlerisch Bildquelle: http://gomezramos.blogspot.com/2012/02/stop-la-ablacion.html [letzter Abruf: 14.8.2018]

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Abb. 5 Künstlerisch Bildquelle: http://rvpnreligiones.blogspot.com/2016/01/dia-internacional-de-tolerancia-cero. html [letzter Abruf: 14.8.2018]

Weitere Spielarten des pathos-Appells bearbeiten das Thema künst­le­risch: Zunächst Variationen einer figuralen Darstellung als kolorierte Zeichnung oder Farbfotografie, in die das stilisierte Bild einer Rasier­k linge eingearbeitet ist. Es steht als metonymisches Zeichen stellvertre­tend für die ganze Prozedur, die offenbar nicht mit medizinischen Spezialinstrumenten durchge­f ührt wird. Die Farbe Rot konnotiert Blut; ein Beispiel lässt traditionelle Gewänder und Schmuck als Attri­bute der Weiblichkeit fungieren, während ein anderes verschie­de­ne Stufen der Kindheit zur Erscheinung kommen lässt. Die bildrhetorischen Tropen rufen somit unterschiedlich gestufte Affekte hervor, die auf der Textebene suggestiv (»Stop«, »Stop«, »Stop«; »Basta ...«) und in­for­mativ (durch den Hinweis auf den »Internationa­len Tag der Null-Toleranz gegen Beschneidung«) gelenkt werden.

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Abb. 6

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Künstlerisch

Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruenta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]

Abb. 7

Künstlerisch

Bildquelle: http://singenerodedudas.com/blog/mutilacion-genital-femenina-la-mas-cruenta-violacion-de-derechos-humanos/ [letzter Abruf: 14.8.2018]

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Auch in den nächsten beiden Beispielen wird das ikonische Zeichen »Rasierklinge« als pars pro toto eingesetzt, allerdings ist der ethos-Appell jetzt stärker zu vernehmen: Der Hinweis auf einen Dokumentarfilm kombi­niert es mit Fotografie, Typografie und Text; das Plakat der »Stop«-Kampagne verbindet es mit dem grafisch verfremdeten biologischen Zeichen für Weiblichkeit, das bekanntlich von der Frauenbewegung als kämpferisches Symbol umkodiert worden ist. Im Film-Hinweis spielen realistisch reproduzierte Kinderaugen noch eine gewisse Rolle; beim Stop-Plakat dominiert das ästhetisch weitgehend autonome Spiel von Formen und Farben. Dabei wird das symbolische Zeichen für den Feminismus als – freilich stark stilisiertes – ikonisches Zeichen eines Frauenkörpers lesbar, der verletzt wird.

Abb. 8

Sprecherisch

Bildquelle: https://www.rochdaleonline.co.uk/news-features/2/news-headlines/107954/ zero-tolerance-for-fgm [letzter Abruf: 14.8.2018]

Im diesem Beispiel kommt ein Text in der ersten Person Singular dazu: Das »Ich« kann Benutzer, aber auch Gestalter des Posters sein.

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Abb. 9 Reißerisch Bildquelle: http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2884&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D=7725514 [letzter Abruf: 24.3.2018]

In diesem Beispiel steht der ethos-Appell, die Stimme der Gestal­ter, im Vordergrund. Der Text ist markant formuliert: Hier werden keine Nach­­rich­ten vorgelesen, sondern ein Missstand ange­pran­gert. »300 Mädchen jede Stunde« – anschauli­cher geht es kaum. Keine Umschrei­bung, keine Bemühung um Rück­sicht auf schwache Gemüter oder politisch korrekte Kritiker; es heißt forciert konkret: Den Mädchen »wer­den mit einer Glas­scherbe die Ge­ni­talien abgeschnitten«. Der Ge­dan­ke daran sei »unerträglich«. Und mit der zupacke­nden Kürze werblicher Sprache geht es im nächsten Satz elliptisch wei­ter: »Genau wie die Schmerzen, die sie ein Leben lang begleiten.« Hier wird auf dem pathos-Register gespielt, doch die dominierende Tonlage entstammt dem ethos-Appell – dem kompromisslosen Engagement gegen das Böse und der gestalterischen Kreativität. Der Ton ist das Gegenstück zur eingangs betrachteten Info-Grafik: Empörung und Zorn statt betonter Sachlichkeit. Die Pressemeldung zur Kampagne zeigt, wie dies aufgenommen wurde: »Das Plakat zeigt eine junge Frau mit dunkler Haut, schwarzen Haaren. Obwohl unbekleidet und schutzlos wirkend, blickt sie entschlossen in die Augen des Betrachters. Das

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Plakat ist eingerissen. Ein Stück Schulter fehlt der Frau. Erst beim zweiten Blick wird deutlich, dass der angebliche Riss im Plakat Absicht ist. [...] Das Plakat ist Teil der heute zum Frauentag startenden Kampagne ›Gewalt gegen Frauen ist Alltag‹ von Terres des Femmes. Ziel der Kampagne ist es, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, das in Vergessenheit zu geraten droht. [...] Die Gelder für die Kampagne kommen deswegen nicht von Terres des Femmes. Die Werbeagentur Heymann Schnell zahlt die Rechnung. Gut für den Geldbeutel von Terre des Femmes und gut fürs Image der Agentur.« (taz 2007) Das augentäuschende Detail, der Riss im Bild als Sinnbild für die Zerstörung phy­sischer Identität – darauf muss man erst einmal kommen; wer das ge­sehen und verstanden hat, wird es nicht so schnell wieder vergessen. Das lässt sich die Werbe­agentur etwas kosten; es ist ja für den guten Zweck und für das eigene Image.

Abb. 10 Sarkastisch Bildquelle: http://16days.thepixelproject.net/16-organisations-charities-and-grassroots-groups-working-to-stop-fgm/ [letzter Abruf: 24.3.2018]

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Das letzte Beispiel geht noch einen Schritt weiter: Der ethos-Appell erlaubt sich ein kontrolliert-zynisches Rollenspiel. »Jetzt noch die Klitoris heraus­schnei­­den, und sie ist perfekt«, sagt eine fiktive Person, die gleichsam als Ver­körpe­rung eines menschenverachtenden Frauenbildes auftritt. Hier wird das rhetori­sche Stilmittel des Sarkasmus im Text eingesetzt und in die visuelle Spra­che über­setzt. Wir sehen ein hellhäutiges model, das gewiss nicht den afrikanisch-asiatischen Kulturraum konnotiert. Wird das demnächst auch bei uns eingeführt? So könnte eine nahe liegende Assoziation lauten. Im klein­gedruck­ten Text wird erläutert, was rückständige Menschen »in vielen Teilen der Welt« denken, und ihre Tat wird als »grausames Ver­brechen« gebrand­markt. Keine Frage: die Gestalter stehen voll hinter der Botschaft, die sie in die zivilisierte Welt hinausschicken.

Übersetzung ethischer Implikationen Nach der Beispielanalyse nun eine methodi­sche Be­trach­tung. Forschung über Ethik und Kommunika­tions­design hat mehre­re Aspekte: zunächst die Untersuchung der Praxis im Hinblick auf Kriterien aus der Moral­philosophie, also die beschrei­ bende – oder auch kritisch-prüfende – Untersuchung gestalte­rischer Pro­ble­me und Ent­schei­dungen aus ethischer Perspektive. Dazu kommt die Rekonstruk­ tion der morali­schen Posi­tio­nen, die dem Kommunikations­design inhä­rent sind. Oder sagen wir besser: die Übersetzung impliziter moralischer Haltungen, die im Entwur­f mehr oder weniger artikuliert zum Ausdruck kommen, in die explizite Sprache der Moraltheorie. Letzteres ist sozu­sagen die ethische Re­flexions­t heorie der Moral des Gestaltens. Nach Niklas Luhmann (1989) ist »Ethik« die »Reflexionstheorie der Moral«. Bei dieser Definition wird allerdings unterstellt, dass Ethik sinnvollerweise ausschließlich deskriptive Ethik sein kann. Sie könne das Handeln der Menschen gleichsam nur wie ein Spiegel »reflektieren«, also bloß (in Begriffen) abbilden. Luhmanns Definition ist falsch, weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Wenn man Reflexion hingegen nicht nur im physikalischen Sinne versteht, sondern mit einem philosophischen Konzept der Reflexion arbeitet, lässt sich »Reflexionstheorie der Moral« durchaus als Synonym für eine Moralphilosophie verwenden, die das Handeln nicht nur widerspiegelt. Philosophisch über Moral zu »reflektieren« heißt, über Handlungen und deren Grundlagen ›nachzudenken‹ (Kluge 1999: 674) und sie ›prüfend‹ zu ›betrachten‹ (Duden 2018). Daher kann eine philosophische »Reflexionstheorie der Moral« mit guten Gründen normativ-kritisch Stellung nehmen.

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Es dürfte Konsens bestehen, dass Kommunikations­designer nicht nur Stra­ tegien für ihre Auftraggeber entwickeln sollten, sondern auch fragen, wie deren kommu­ni­ka­ti­ve Zwecke zu be­werten und welche Mittel dafür legitim sind. Wir leben zwar in einer Welt – so könnte man mit Karl Kraus (1914: 13) sagen –, in der der »Lebenszweck den Lebensmitteln sub­ordi­niert« wird. Das heißt, wir leben in einer Welt, die sich »im Labyrinth der Öko­no­mie ver­irrt« hat, wie Kraus (1914: 14) mit Schaudern fest­stellte. Aber vielen Menschen, vermutlich den meisten, ist bewusst, dass das Le­ben anders sein könnte und sollte. Und darunter sind eben auch zahl­reiche Kommunikations­designer. Für Otl Aicher (1991: 67), war »der desig­ner […] eine art moralist.« So weit würde ich nicht gehen. Moralisten wollen die herrschenden Sitten be­ein­flussen, durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vor­bild; das wollen Kommu­ni­­ka­tions­designer nicht unbedingt. Aber ich stimme Aichers Intention – wenn ich sie denn richtig ver­standen habe – insofern zu, als Design moralische Haltungen aus­drücken und die Welt bewerten kann. Und zwar auch dann, wenn die »Wert­gefüh­le« und »Wert­ unterscheidun­gen« (um es mit Nietzsche zu sagen) nicht, oder nicht ausdrücklich, re­flektiert werden. Hier gilt es also, zu übersetzen und die impliziten Wert­­haltungen expli­zit zu machen. Darin sehe ich aber nicht nur die Auf­gabe des philo­sophischen Interpreten. Wenn Gestalter Ent­schei­­dungen treffen, die moralisch zu begründen sind, sind ihre Selbstrefle­x ion und ihre eigene Über­setzungskompetenz gefordert.

Intrinsische Ethik und moralfreie Zonen4 Es gibt Felder des Kommunikationsdesigns, die gleichsam von innen heraus moralisch motiviert sind, und Felder ohne intrinsische Moral. Letzteres gilt für Werbung und Public Relations. Deren strategischer Zweck ist Überredung; ihr taktisches Mittel ist die Suggestion. Erich Kästner (1930: 235) ging noch davon aus, dass es eine »ethische Fundierung des Reklamebegriffs« gibt. Er phantasierte vor 80 Jahren auf den Spuren von H. G. Wells über eine weltweite ethi­sche Erneuerung der Menschheit durch Wer­bung als Mittel der Volks­erziehung. »Propaganda«, schrieb Kästner (1930: 237), »ist das Medium aller Werte geworden«. Sie müsse sich lediglich auf mora­lisch relevante Fragen konzentrieren. Kästners Artikel für die Zeitschrift Gebrauchsgraphik trug den 4 Einige Überlegungen und Formulierungen in diesem und dem folgenden Abschnitt (»Mitleid und ›moralischer Impuls‹«) sind aus dem Aufsatz »Moralphilosophie im Kommunikationsdesign« (in diesem Band) übernommen.

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pro­gram­matischen Titel »Reklame und Weltrevolution«. Doch diese ver­meintliche Revolution krankt an einem Wider­spruch. Der tritt bei Edward Bernays, dem Begründer der Lehre von den public relations, deutlich hervor. »Die bewuss­te und zielgerich­tete Mani­pu­lation der Ver­hal­tens­wei­­­sen und Einstellun­gen der Massen ist ein we­sent­licher Be­stand­teil de­mokratischer Gesell­schaften«, schrieb Bernays (1928: 19) etwa zur glei­chen Zeit, als Kästner seine Utopie der moralischen Aufklä­rung durch Reklame publizierte. Denn ohne Manipu­lation, stellte Bernays nüchtern fest, würden die Märkte nicht funktionie­ren. Er ignorierte je­doch, dass die normative Grund­lage jeder Demokra­tie die freie Selbst­bestim­mung aller ist. Unter der dünnen Schicht des Bekenntnisses zur Demokratie kommt beim Theore­tiker der modernen Propaganda denn auch immer wieder der alte Topos autoritärer Massenverachtung zum Vorschein: »Steht kein Vorbild eines Führers zur Verfügung, muss die Herde für sich selbst denken. Dabei greift sie zurück auf Klischees, Schlag­worte oder Bilder« (ebd.: 51). Es ist para­dox, wenn man demokratische Ge­­sell­schaften mit Manipulation durch Public Relations am Leben erhal­ten will. Und es ist vor allem ethisch nicht legitim, weil Menschen zu bloßen Mitteln degra­­diert und nicht – im Sinne von Immanuel Kant – als »Zwecke an sich selbst« geachtet werden: »Nun sage ich: der Mensch […] existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« (Kant 1785: BA 64 f.) Das »Medium aller Werte«, das Kästner beschworen hat, zehrt also die Werte auf – sofern es sich denn um ethi­sche handelt. Von einem kantiani­schen Standpunkt aus betrach­tet, ist das ein Beleg für die Schwie­rigkei­ten, in die sich Wertethiken rasch ver­stricken, weil sie sich per definitio­nem weigern, die oben ange­spro­che­ne Vielfalt partikularer moralischer Werte auf die universale Form des mora­lischen Urteils zu reduzieren und dabei mit guten Gründen auszuwählen. Zurück zum Thema. – Im Unter­schied zu Werbung und Public Relations, die der ethischen Reflexion und Kontrolle »von außen« bedürfen (was freilich nicht heißen soll, dass die nicht von den Menschen ausgeübt werden kann, die in diesen Branchen gestalterisch tätig sind), im Unterschied dazu also sind soziale Kam­pag­­nen häufig »ange­wandte Ethik« in visuell präg­nan­ter Form: beispielsweise Warnun­gen vor Raserei auf Autobah­nen, Hinweise auf die Gefahren des Rauchens, Mobi­lisie­ run­gen gegen Alkohol­missbrauch oder, wie gesehen, gegen rituelle Genital­ver­stüm­ me­­lungen. Solche Kampagnen zielen auf Ver­haltensänderung bei den Adressa­ten im Sinne von moralischen Handlungs­grund­sätzen. Meine These ist, wie gesagt: Eine Ethik des Kommunika­tions­designs, die lediglich bei den individuellen Konflikten und Hand­lungs­­­­entschei­dungen der Designer ansetzen würde, wäre verkürzt, ja gerade­zu halbiert. Es gilt, auch sozialethische

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An­sprüche zu formu­lie­ren, die als kriti­sches Korrektiv gegenüber vorherr­schenden Formen des Für-Richtig-Haltens gelten können. Als reflexives Korrek­tiv kann die Ethik des Kommu­ni­ka­tions­designs eine Normativität mit sozial­­utopi­schem Charak­ter begrün­den und Handlungsalternativen aufzeigen. In der Praxis gelingt das insbesondere dann, wenn logos-, pathos- und ethos-Appell sozusagen im harmonischen Dreiklang auftreten können. Und damit meine ich nicht nur die Gesinnung, die dem Entwurf zugrunde liegt und rationale und emotionale Aspekte ebenso zusammenbringt wie individual- und sozialethische. Nein, ich meine auch die Sache selbst, also den Gegenstand der Kommunikation: Häufig kommen hier die Objek­te den subjektiven Haltungen der Entwerfer entgegen. Die Moti­ve sozialer Kampagnen lassen sich auf drei normative Be­gründungs­ typen zurück­f ühren: Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemein­wohl. Das Gemein­wohl steht im Mittelpunkt der utilitaristischen Ethik. Rase­rei, Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum schaffen in volkswirtschaftlicher Hinsicht Probleme. Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Maxi­me des negativen Utilitarismus, soviel Leid zu vermeiden wie möglich. Andere mögliche Bezugspunkte sind Schopenhauers Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität oder Kants Prinzip der rational begründeten Würde des auto­nomen Menschen. Also noch einmal zurück zur Aufklärungs­kampagnen gegen die kultu­relle Praxis der Genital­verstümmelung: Wir hatten gesehen, dass Desig­nerinnen und Designer sich mo­ra­lisch zur Intervention aufgerufen fühlen. Mit der Freiheit und Autonomie stehen hohe Werte auf dem Spiel. Frei­heit und Selbstbestimmung sind nach Kant Grund­lage der Menschen­w ürde, also Kernbestand von Moral. Für Kant hieß richtiges Handeln, dass Menschen sich aus Freiheit selbst be­stimmen. Freiheit kann nur wirklich werden, wenn Menschen – »niemals bloß […] Mittel« sind, sondern »jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst« (Kant 1785: BA 66 f.; Kant 1788: A 155 f.). Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Menschenwürde, weil sie Freiheit und Selbstbestimmung einschränken (siehe Mende 2011). In der Vorstellung, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, hat sich der Gedanke der Menschen­w ürde im Kampf gegen Sklaverei und Unterdrückung bewährt. Doch was tun, wenn die Betroffenen der­artige Unter­stützung gar nicht wollen? Wenn sie es als Einschrän­ kung ihrer Selbst­be­stimmung auf­fassen, dass man sie daran hindert, vollwerti­ges Mitglied ihrer Gemein­schaft zu werden, indem sie an einem alt­ehrwür­di­gen Ritual teilnehmen? Oder weil man ihnen die Frei­heit nimmt, sich aktiv zu den Grund­werten ihrer Kultur zu be­kennen, die wir für un­moralisch halten? Vielleicht fürch­ten sie sich davor, dass sie ausge­stoßen werden, nicht geheiratet wer­den können und im Elend ver­sinken. Was tun, wenn ihnen all diese Elemente ihres »le­ben­digen Ethos« (Fleischer 1995: 42) wichtiger sind als das Konzept der Menschen­w ürde?

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Das Problem besteht dann – aus entwurfsmethodischer Sicht – darin, dass der ethos-Appell der Gestalter, ihr Engagement für die Werte der okzidentalen Rationalität, aus der vermeintlichen Harmonie mit dem logos- und dem pathos-Appell heraus­f ällt. Freiheit und Selbstbestimmung sind offenbar zwiespältige Werte. Für die Moralphilosophie der Aufklärung ist die Überlegung zentral, dass Individuelles und Allgemeines nicht auseinanderfallen dürfen. Aber wie lassen sich diese Pole der Moral vermitteln? Im Geiste Kants wird man folgendermaßen argumentieren: Alle Menschen möchten glücklich sein; aber was sie darunter verstehen, ist individu­ell höchst verschieden. Moral muss also die Bedingungen dafür schaffen, dass alle ihre Vor­stellun­­­gen vom gelingenden Leben verwirklichen können. Man muss nicht allen vor­schrei­­ben, wie gelingendes Leben aussieht, aber freie und gerechte Lebens­bedingun­gen für alle schaffen. Wenn die Menschheit in jedem einzelnen nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, dann müssten die besonderen Einzel­inter­essen und das allgemei­ne Interesse nicht mehr auseinanderfallen; dann müsste es keinen Widerspruch zwi­schen den Ritualen einer Gemein­schaft und dem individuellen Bedürfnis nach Selbst­bestimmung geben. Junge, unmündige Menschen müssten nicht mit Hilfe althergebrachter Bräuche für fragwürdige Gemeinschaftswerte instrumentalisiert werden. Der ethos-appell könnte auf diesem Terrain zugunsten des logos-Appells zurück­ treten, weil die sozialethischen Intentionen der Gestalter wirkungsvoller zum Ausdruck kommen, wenn vernünftige Argumente für einen politischen Diskurs über ethische Werte und zivili­sa­torische Standards vermittelt werden.

Mitleid und »moralischer Impuls« Man könnte hier aber auch schlicht Mitleid empfinden und deshalb aktiv werden. Dann wäre der logos-Appell die Grundlage eines pathos-Appells, also sozusagen der primäre Inhalt der Sprache der Dinge, oder besser gesagt: der stumme Aus­ drucks­charakter einer Sach­lage, die Gestalter und Betrachter ver­neh­men und durch die sie gestimmt werden. Das Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität wurde von Arthur Schopen­ hauer (1840: 177) for­muliert. Es lautet: »Verletze niemanden, sondern hilf allen, soviel du kannst.« Schopenhauer setzt nicht primär auf die ver­nünf­t ige Urteilskraft, sondern auf das moralische Gefühl. Er argumen­tiert gegen Kant, dass Mitleid das einzig rational erkennbare, wenngleich selbst nicht rationale Moralprinzip ist. Es ist »die alleinige Quelle uneigen­nützi­ger Handlun­gen«, »die wahre Basis der Moralität« (ebd.: 285). Freilich wollen nicht alle Menschen bemitleidet werden.

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Pater­nalistisches Mitleid kann gegen das Recht zur Selbstbestim­mung verstoßen. Aber wenn Mitleid und Solidarität die eigene Haltung bestim­men, wird man tun, was man kann, um gegen die Praxis der Genital­verstümme­lung zu kämpfen. Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder Prinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, ange­sichts von konkreten Herausforderungen des moralischen Gefühls. Theodor W. Adorno hat gezeigt, dass der moralische Impuls, der sich regt, wenn wir vom Leid anderer erfahren, ein ganz wesentlicher Bestandteil des Handelns ist. Aristoteles hat die ethos-Ethik begründet; Schopen­hauer vertrat so­zu­sagen eine Ethik des pathos, während Kant eine Ethik des logos formu­liert hat. Die meisten Moralphilosophen setzen heute entweder auf die Urteilskraft, wie Kant, oder auf das moralische Gefühl, wie Schopen­hauer. Adornos Theorie des moralischen Impulses vermittelt zwischen rationaler und emo­tionaler Ethik (Adorno 1966: 281). Der moralische Impuls ist mehr als Rationalität, mehr als die ver­pflichten­de Vernunft im Sinne Kants. Wenn wir aber, wie Schopen­hauer, nur gefühls­ethisch argumen­tie­ren und alles auf den moralischen Impuls setzen, haben wir keine Instanz für norma­tive Kritik. Doch diese ist nötig – besonders dann, wenn moralische Im­pul­se ausbleiben. Dann geht es nicht ohne Ratio­nalität, nicht ohne den logos. Aber auch wenn derartige Impulse vorhanden sind, kann die moralische Ansprache nur überzeugen, sofern logos- und pathos-Appell nachvollziehbar vermittelt sind. Im Anschluss an Schopenhauer hat Jürgen Habermas (1991) betont: Keine Gerech­tig­keit ohne Menschenliebe und Mitleid. Wer humane Lebens­ver­hält­nisse erreichen möch­te, muss die Verletzlichkeit menschli­cher Subjekte beachten. Denn weil wir ver­letzliche Individuen sind, brauchen wir Auto­nomie und Gleich­berech­ tigung, müssen wir moralische Subjekte wer­den. Aber schützen können wir uns letztlich nur in gemeinschaft­licher, inter­sub­jektiver Praxis, und das heißt: in einer solidarischen Lebens­praxis. Heinz Paetzold (1990: 15) hat das Prinzip der Dis­kursethik von Apel und Habermas einmal so zusammengefasst: »Mora­lisch [...] handelt ein Mensch dann, wenn er« – erstens – »den Bestand der realen Kommu­ni­ka­tionsgemeinschaft nicht gefährdet« und darüber hinaus – zweitens – »in dieser«, also in der realen Kommunikationsgemeinschaft, »zugleich ihre Erweite­rung zur idealen Gemeinschaft anbahnt.« Dabei ist mit dem Wort »ideal« nichts anderes gemeint als die normative Grund­lage des menschlichen Zusammenlebens, die in seiner faktischen Reali­tät zwar oft schwer zu erkennen, aber gleichwohl immer, als Anlage und Möglichkeit, vorhan­den ist. Sie lautet: Kein menschenwürdiges Zusammenleben ohne Kommunikation. Nicht nur im Sinne von Mitteilung! Kommunikation sollte nie nur strategisch sein, sondern immer auch verständigungs­orientiert, und das heißt: an der Möglichkeit solidarischer Praxis orientiert.

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Abb. 11–13

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Realistisch

Bildquellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Tostan#Die_Abschaffung_der_Beschneidung_ am_Beispiel_des_Senegals [26. 01. 2015)]; http://ourglobalhealth.blogspot.de/2013/10/ spotlight-series-time-to-cut-mutilation.html [letzter Abruf: 24.3.2018]; http://skollfoundation.wpengine.netdna-cdn.com/wp-content/uploads/2011/10/tostan1.jpg [letzter Abruf: 13.7.2015]; http://actionnownetwork.com/home/contents/wp-content/uploads/TOSTAN%20 LOGO.jpg [letzter Abruf: 13.7.2015]

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Von hier aus zeichnet sich vielleicht eine Lösung des Di­lemmas bei der Haltung zur Kampagne gegen Genital­verstümme­­lung ab. Man sollte Menschen­w ürde und Menschenrechte nicht von außen als überlegene moralische Werte verkünden (die sich von selbst verstehen und die anderen moralischen Werten überlegen sind). Man sollte dort ansetzen, wo die Betroffe­nen selbst artikulie­ren, dass Leidfrei­heit und Selbst­bestim­mung auch für sie zu ei­nem ge­lingen­den Leben gehören. Selbst dann, wenn sie dafür nicht den Begriff »Men­schen­w ürde« benutzen, nicht der Ansicht sind, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt und individu­elle Selbst­bestim­ mung für sie nicht der oberste Wert ist. In diesem Fall heißt das: Man sollte nicht leugnen, dass Genital­verstümmelung eine soziale Norm ist; man sollte also mit den Menschen sprechen, die daran beteiligt sind. Man sollte fragen, ob wirklich alle, die von dieser Norm betroffen sind, allen Folgen und allen Nebenfolgen zu­stimmen können. Die Kam­pagne »Tostan« in Afri­ka geht so vor5 – bislang noch mit relativ wenig Kommuni­ka­tionsdesign, aber das kann sich ja ändern. Beim Twitter-Auftritt der Kam­pagne wird bereits etwas mehr gestaltet.

Zur Ambivalenz des Verantwortungs-Diskurses Hervorzuheben bleibt, dass der ethos-Appell im Kommunikationsdesign keineswegs nur da zum Tragen kommt, wo explizit moralische oder ethische Inhalte behandelt werden.6 Die Haltung, das Ethos einer Gestalterin oder eines Gestalters kommt auch dort zur Geltung, wo es beispielsweise um typografische Entscheidungen beim Setzen von lyrischen, narrativen oder non-fiktionalen Texten geht. Tritt die Gestaltung dabei in den Vordergrund oder eher zurück? Welche Formen sind dem jeweiligen Inhalt angemessen? Angemessenheit im Sinne von adaequatio ist in formaler Hinsicht nicht weit entfernt vom aptum der klassischen Rhetorik; allerdings geht es, wenn nach adaequatio gefragt ist, nicht um die Konsistenz und Schlüssigkeit der Darstellung im Ganzen, sondern darum, was dem Gegenstand inhaltlich angemessen ist, der in Rede steht. Ist ästhetischer Ausdruck, also ein »subjektiver Faktor«, adäquat, oder sollte besser der Gestus funktionaler Neutralität gewählt werden? Wie Kommunikationsdesigner sich an solchen und vielen anderen ähnlichen Punkten entscheiden, hängt sicher immer auch von ihren »Vorlie­ben und 5

https://www.tostan.org (letzter Abruf: 14.8.2018). – Ich danke Janne Mende dafür, dass sie mich auf die Arbeit dieser Organisation aufmerksam gemacht hat. 6 Für diesen Hinweis danke ich Kai Buchholz.

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Empfindlichkeiten« ab, und es kann durchaus als Indikator für ihre »Glaubwürdigkeit« und »Integrität« gelten – insbesondere im Hinblick auf ihre Bereitschaft, darüber zu reflektieren und überzeugende Gründe angeben zu können. Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich dennoch weiterhin auf dem Gebiet der Analyse von ethos-Appellen mit ethischer Thematik verweilen und ein weiteres Beispiel für eine visuelle Sprache der Moral diskutieren, das deren Möglichkeiten und Risiken aufschlussreich repräsentiert. »Verantwortung« ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Be­griffe im Diskurs über moralische Fragen geworden. Mit den Worten von Hans-Ernst Schiller (2011: 160): »Verant­wortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen wider­spricht.« Es kann sich auch um etwas handeln, was man nicht getan hat oder tut, also um eine Unterlassung. Mitunter wird das Konzept »Verantwortung« zur Psychologisie­rung sozialer Phänomene verwendet. Der Appell an die indi­v iduelle Verantwortung kann ein schlechtes Gewissen installieren. Und auf dem Weg, der vom Sozialstaat mit öffent­licher Gesund­heitsfürsorge zu Verhältnissen geführt hat, in denen sich jeder allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im Konkurrenz­kampf aus ihm wird, ist »Eigen­verant­wortung« sogar zu einem neo­ liberalen Kampfbegriff geworden. Schiller (2011: 183–187) spricht in diesem Zusammenhang von »Selbstverantwortung als Zuschreibung und Überforderung«. Aber auch wenn die Verantwortung des Individuums nicht vom Ge­meinwohl abgekoppelt werden soll, sondern wenn im Gegenteil betont wird, dass jeder Einzelne sich für die Allgemeinheit einsetzen soll, kann die Beschwörung von Verantwortung problematische Züge annehmen. An der Kampagne »BIS DU WAS DAGEGEN TUST« von Amnesty Interna­tio­nal lässt sich die Ambi­valenz moralischer Kommunikation studie­ren.

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Abb. 14–17

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Drastisch

Bildquelle: http://www.amnesty.de/ [letzter Abruf: 27.1.2015]

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In einem gelb unterlegten Fenster der Homepage baut sich, Satz für Satz, der folgende Text auf: »2 Elektroden Die eine am Finger befestigt Die andere am Genital Die Stromspannung wird erhöht Die Stromspannung wird erhöht Die Stromspannung wird erhöht Bis Du was dagegen tust. Auf amnesty.de/stopfolter Amnesty International«

Dazu ist am Ende der Bildfolge das AI-Logo zu sehen. Die Leser sollen sich als moralische Akteure wahrnehmen – auch wenn sie nicht unmittelbar involviert sind. Passivität wird als verachtenswerte Unterlassung dar­gestellt. Die Kampagne übt Druck aus, der im pulsie­ren­den Takt der auftauchenden und verschwinden­den Sätze und im cres­cen­­do der Wiederholung visuell wahrnehm­bar, also gleichsam spürbar, wird. Die affektorientierte Pathos-Strate­gie ist dabei zwar untergeordnet, aber sie ist unter­schwellig wirksam. Die imaginäre Einfühlung in das Leid der Opfer grundiert mein Schuldbewusstsein als Betrachter. Als solchem bleibt mir zwar im visuellen Sinne erspart, was Susan Sontag (2003) »regarding the pain of others« nennt; aber »regarding« hat ja vor allem die Bedeutung »im Hinblick auf«, und die kommt natürlich auch dann mit voller Wucht zur Geltung, wenn im buchstäblichen Sinne nichts zu sehen ist. Auf die inhaltsbezogene Logos-Strategie wird hier ver­zichtet. Im Kreise von Machern und Betrachtern der Kam­pagne wäre es überflüssig, rationale Argumente gegen die Folter vorzubringen. Folter ist eine Methode der Herrschaftsausübung, der man nicht den Anschein von Legitimierbarkeit zubilligen sollte, indem man sich auf einen Austausch von Argumenten »pro und contra« einlässt.7 In dieser bilderlosen, konsequent typografi­schen Dar­stellung dominiert der ethos-Appell: Ein imaginärer Sprecher, der durch sein Enga­ge­ment für die Menschen­ rechte moralisch unangreifbar ist, wendet sich mit einer Schuld­zuweisung an sein 7 Und schon gar nicht auf pseudo-staatsphilosophische Diskurse über die Rechtfertigung der Folter, die nach dem 11. September 2001 wieder Fahrt aufnahmen; siehe dazu Gremliza 2015 sowie zur Folter-Thematik in der Literatur Kramer 2004.

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Gegenüber. Hier geht es nicht darum, Mit­gefühl zu erzeugen; hier soll das Bewusstsein einer Mitschuld ge­weckt werden. Absolution kann nur erhoffen, wer, gemäß der rigorosen Auf­for­de­rung, aktiv wird. Ein Mensch, lautet die An­k lage, wird solange gefol­tert, bis ich etwas dagegen tue. Aber was kann ich denn dagegen tun? Habe ich die Möglichkeit zur Intervention? Ich kann doch allenfalls etwas sehr Indirektes, Mittelbares tun. Das heißt, ich kann per Mausklick eine Petition unter­zeichnen. Dass die Folter darauf­h in endet, ist unwahrscheinlich. Aber ich kann mir immerhin sagen, dass ich mich vor den Kampagnen­machern gerecht­fertigt habe, die mich für meine ignorante Taten­losigkeit zur Rechen­schaft gezogen haben. Hier scheint die Metapher der »Moralkeule« ausnahmsweise einmal angebracht, mit der Martin Walser um die Jahrtausendwende in der Debatte über das Holocaust-Mahnmal in Berlin entgleist war. Aber vielleicht ist eine Keule in diesem Fall ja das geeignete Instrument? Jede Minute, die verstreicht, ohne dass jemand die Folterknechte der Herr­schen­den in aller Welt hindert, Menschen leiden zu lassen, um ihnen Ge­ständ­nisse abzupressen oder sie sonstwie zu erniedrigen, ist verlorene Zeit. Ich fürchte nur, dass mit der »Moralkeule« der morali­sche »Impuls« eher gehemmt oder gar blockiert wird, der sich regen soll­te, »wenn ge­mel­det wird, irgendwo sei gefoltert worden«, wie es Adorno (1966: 181) formuliert hat.8 Kommt der morali­sche Impuls noch ausreichend zum Tragen, wenn ich mich in der Sicherheit wiege, dass ich das Richtige tue, indem ich eine Petition unterzeichne? Ich kann noch einen Schritt weiter gehen und Geld spenden. Beides ist selbstverständlich besser, als wenn gar nichts geschieht. Aber mögli­cher­weise sehen wir hier die Kehrseite der Über­forde­rung des Betrach­ters: nämlich die Überschätzung seiner Interventionsmöglichkeiten.

8 Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Adornos Negativer Dialektik hatte Max Frisch eine Romanfigur die Erfahrung artikulieren lassen, aus Medienberichten zu vernehmen, dass in Algerien gefoltert wird, was eigentlich zutiefst erschüttern müsste, aber unweigerlich zum Hintergrundrauschen der eigenen Befindlichkeitswahrnehmungen wird. »Jetzt arbeiten sie schon eine Stunde an dem Wagen […]: Die Achse ist gestaucht, die Radscheibe verbogen, auch das Kugellager muß wahrscheinlich ersetzt werden. Ich verstehe nicht viel davon. Der Gedanke, hier übernachten zu müssen, schreckt mich; dabei ist es ein ordentlicher Landgasthof. Noch immer habe ich den Mantel nicht ausgezogen, sitze und versuche eine Zeitung zu lesen (man könnte auch mit der Eisenbahn fahren, um nicht hier zu übernachten […]), meine Pfeife saugend, während in Algier (lese ich) gefoltert wird – / Das ist, was stattfindet. / Wenn ich es wieder lese, was in Algier geschieht oder anderswo, und wenn ich es mir einige Augenblicke lang vorstellen kann, gibt es nichts anderes, und die Vorstellung ist kaum auszuhalten. Und ich bin bereit zu jeder Tat. Aber ich sitze hier, eine veraltete Zeitung lesend, und halte es aus. Tatlos … Ich warte auf die Ersatzteile für den Wagen« (Frisch 1964: 32 f.).

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Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber aus der Psychologie der Moral weiß man, dass Rigorismus und Zerknir­schung in Größen­wahn um­schlagen können. Kein Kampf gegen die Folter ohne symbolische Praxis – doch es sollte nicht bei Scheinaktivität bleiben, die das Gewissen beruhigt. Es kommt noch etwas hinzu, nämlich die Gefahr der Abwehrhaltung bei den Adressaten. Dieser Effekt ist aus der empirischen Psychologie bekannt: Wer beim Publikum Einstellungs- oder Verhaltensänderung bewirken möchte, tut gut daran, direkte Schuldzuweisungen zu unterlassen. Sie können dazu motivieren, dass die Angesprochenen die Opfer schlechtmachen, um ihr eigenes Tun oder Unterlassen zu rechtfertigen (Cooney 2011: 41 f.). Nehmen wir an, die Botschaft würde lauten: »Du bist schuld an der Massentierhaltung; denn du bist geizig und willst keine angemessenen Fleischpreise bezahlen«. Das kann zu einer inneren Flucht nach vorn führen, zu Gedanken wie diesen: »Ein paar Schweine und Hühner mehr im Stall – das wird wohl nicht so schlimm sein. Die bekommen doch reichlich zu fressen, und sie werden ja sowieso nur für den Markt gezüchtet.« Die Vorstellung, dass der Gedanke an Folteropfer statt Mit­gefühl Abwehrreaktionen wecken könnte (nach der Devise: »Die werden schon ihren Teil dazu beigetragen haben, dass es überhaupt so weit gekommen ist«) – diese Vorstellung wäre schmerzhaft. Daher ist es aus meiner Sicht auch bei der Anti-Folter-Werbung rat­sam, den logos-Appell zu verstärken und den Ball beim ethos-Appell etwas flacher zu halten. Im Übrigen ist zu bedenken, dass uns der Kampf gegen die Folter nötigt, das Gebiet der Ethik zu verlassen und das der Poli­tik zu betreten. Man könnte beispielsweise zum Nachdenken darüber anregen, wie man die hiesigen politischen Entscheidungs­träger dazu bringen könnte, aus einem Militärbündnis auszutreten, dessen führen­der Staat Folter­gefäng­nisse betreibt und sich dabei von anderen Mitgliedsstaaten unterstützen lässt. Das wäre eine politische Strategie, für die ich mich vor Ort einsetzen könnte. Ich schließe mich Helmut Fleischer (1995: 44) an, der betonte: »das sittliche Sein der Menschen« bestehe in einer Verbindung, in der »das je spezifische Können […] mit dem Wollen und dem Sollen« zusammenfindet und »in ein […] qualifiziertes Wirken« einmündet. Alles zusammen bilde erst »die Wirklichkeit des Ethos«. Der Nor­ma­ti­v ismus der kantianischen Moral­philosophie, die aristotelische EthosEthik und Scho­pen­­hauers Gefühlsethik: Diese Positionen markieren Punkte auf einer ethi­schen Land­karte. Wir sollten sie, wie Adorno es vorgemacht hat, in einer permanenten Such­bewegung durch­laufen. Es sind nicht die Gebiete verfeindeter Stämme. Ihre jeweiligen Fachvertreter gebärden sich zwar häufig, als sei dies der Fall – aber darum müssen sich Kommunikationsdesignerinnen und Kommunikationsdesigner glücklicherweise nicht kümmern.

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IV Medienphilosophie und Ethik

Erschließung und Virtualisierung der Welt Methodologische und ethische Aspekte der Medienphilosophie*1 Erschließung und Virtualisierung der Welt

Günther Anders (1986: 441) bemerkte im Jahre 1980: »Ob der Ausdruck ›Medialität‹ […] den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt.« Ich belasse es vorerst bei dieser Andeutung; am Ende werde ich darauf zurückkommen. Der vorliegende Beitrag gibt zuerst einen knappen Überblick zum Stand der Diskussion über Medienphilosophie als eigenständiges akademisches Fach. Danach werden inhaltliche Überlegungen zur Medienphilosophie vorgestellt und zum Schluss wird ein Ausblick auf medienethische Fragen skizziert.

Was ist »Medienphilosophie«? An deutschen Universitäten wird das Fach »Medienphilosophie« erst seit wenigen Jahren, und auch nur recht sporadisch, gelehrt. Einige interdisziplinäre Fachbereiche bieten es als eigenständiges Fach an, nicht jedoch die klassisch-philosophischen. Viele Philosophen sind skeptisch. Sie fragen: Warum der anspruchsvolle Titel »Medienphilosophie«? Warum spricht man nicht einfach von »philosophischen Theorien der Medien« oder »des Medialen«? Im Prinzip steht der Name »Medienphilosophie« für zwei Ansätze. Der eine wendet sich mit philosophischer Methodik einem neu erschlossenen Phänomenbereich zu. Dieser Bereich wird (je nach methodologischem Paradigma) beschrie*

Der Text ist aus meinem Eröffnungsvortrag bei der Tagung Mit Kindern über Medien ins Philosophieren kommen an der Universität Würzburg am 23. Juni 2017 hervorgegangen. Er erscheint auch in: Mit Kindern über Medien und über Menschen und (andere) Tiere ins Philosophieren kommen. Beiträge zum Philosophieren mit Kindern, hrsg. von Susanna May-Krämer, Kerstin Michalik u. Andreas Nießeler, Münster, LIT, 2018.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_11

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ben, erklärt, verstanden oder rekonstruiert.1 Der andere Ansatz möchte mit der Wahl jenes Phänomenbereichs ein neues philosophisches Paradigma begründen. »Medienphilosophie« ist dann die Philosophie der Medien – und nicht bloß das Philosophieren über einen Gegenstand namens »Medien«. Für die Berechtigung dieses Anspruchs wird ins Feld geführt, dass Philosophieren über »Medien« vom Gegenstand niemals unberührt bleiben kann. Denn seine Reflexion kann ja nicht anders geschehen als vermittelt durch ein Medium (oder mehrere).2 Es ist wahrlich nicht überraschend: Was man vernünftigerweise unter Medienphilosophie versteht, hängt offenbar davon ab, welches Konzept von Philosophie man vertritt; außerdem hängt es davon ab, was für ein Konzept von Medien man hat.3

1 In diesem Ansatz wird »Medienphilosophie als eine Bereichsphilosophie« verstanden, »die eine philosophische Reflexion auf die Medien sein möchte, vor allem im Sinne der Medien als bloßen Mitteln der Kommunikation. Wie Technikphilosophie nicht selbst eine Erscheinungsform von Technik ist und die wie die Staatsphilosophie nicht selbst etatistisch sein muss, so gäbe sich eine solche Medienphilosophie ganz unberührt von ihrer eigenen möglichen Medialität.« (Röttgers 2012: 354) 2 Kurt Röttgers (2012: 354) hat diesen anspruchsvollen Ansatz treffend als eine »Position« bezeichnet, die sich »in die Tradition derjenigen Verwandlungen der Philosophie« stellt, »die mit dem sogenannten linguistic turn einhergehen, d. h. einer Abkehr von bewusstseinsphilosophischen Begründungen der Interpretation unseres Weltverhaltens. Sie unterstellt, dass der medial turn eine noch grundlegendere Grundlegung bieten kann als die Sprachphilosophie […]. Medien eröffnen allgemein einen Schlüssel unserer Weltzugänge«. Lorenz Engell, Inhaber des Lehrstuhls für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar, geht hier erheblich weiter. Er vertauscht genitivus objectivus und subjectivus und sagt, die Rede von Philosophie der Medien bedeute, dass die Medien selbst philosophieren. Medien, meint er, denken selbst, weil sie sich denken. Das Fernsehen, zumal durch die Fernbedienung erweitert, sei eine »philosophische Apparatur« (Engell 2003: 61), es sei gar der Musterfall des »Medien-Denkens« (ebd.: 67). Als z. B. das Fernsehen Live-Bilder der Erde zeigte, die vom Mond aus aufgenommen wurden, seien alle prämedialen Verhältnisse von Raum und Zeit verändert und Virtualität und Aktualität in eins gesetzt worden. Auch das Medium Film ist Engell zufolge ein selbstdenkendes. Das »filmische Bild«, das für Gilles Deleuze ein »Denk-Bild« ist, dürfe »durchaus als denkendes Bild ausgelegt werden« (Fahle und Engell [1997]: 10.) Das »filmische Denken«, unter dem »ein Denken der Bewegung und der Zeit« zu verstehen sei (ebd.), soll demnach nicht das Denken von Filmerinnen oder Filmern sein, sondern die Denktätigkeit des Films selbst – was auch immer man sich darunter vorstellen mag. 3 In dieser Debatte bin ich nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer. Im Frühjahr 2018 erschien das Handbuch der Medienphilosophie, das ich für den Verlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben habe. Beim folgenden Versuch, den beiden genannten, per se überraschungsarmen Aussagen inhaltliche Konturen zu geben, knüpfe ich häufig an Gedanken und Argumente von Autorinnen und Autoren des genannten Handbuchs an.

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Wer argumentiert, dass wir eine Medienphilosophie brauchen, sollte zunächst zeigen können, dass sie etwas leisten kann, das die Medienwissenschaften nicht können. Wodurch unterscheiden sich diese von jener? Letztere orientieren sich an empirischen Methoden. Medienwissenschaftliche Theorien, die diesen Methoden zugrunde liegen oder sie reflektieren, orientieren sich an Bezugswissenschaften und deren Paradigmen. Das sind unter anderem Literatur- und Kulturwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Psychologie. Im Unterschied dazu ist Medienphilosophie grundsätzlich die begriffliche Klärung der Grundlagen dessen, was wir unter einem »Medium« verstehen. Dabei werden die drei Parameter Sprache, Kultur und Gesellschaft angelegt. Bevor ich dies näher erläutere, möchte ich auf den Abstraktionsgrad eingehen, den ein philosophischer Medienbegriff haben sollte. Empirische Medien- und Kommunikationswissenschaftler sind sich nicht einig, ob ein weitgefasster oder ein enggefasster Medienbegriff vorzuziehen ist. Sehr weite Medienbegriffe erweisen sich oftmals als ungeeignet für spezifische Forschungen. Von den Wänden ehedem bewohnter Höhlen über Pferde bis hin zur Luft bestimmen sie beinah alles als »Medium«, was irgendwie mit dem ideellen oder materiellen Transport von irgendetwas zu tun hat. Zu eng gefasste Medienbegriffe hingegen können unzureichend für ein substantielles Verständnis des Gegenstandes sein. Sie übertragen lediglich branchenübliche ad-hoc-Definitionen in die Theorie, etwa den journalistischen Begriff der Medien, der mehr oder weniger synonym mit »Massenkommunikationsmittel« ist. – Ich werde argumentieren, dass man am besten beraten ist, wenn man sowohl mit einem weiten, philosophischen Begriff der Medien arbeitet als auch mit einem engen, medienwissenschaftlichen Begriff. Eine allgemeine Definition stammt von Stanley Cavell (1999: 93): »Ein Medium ist etwas, wodurch etwas Bestimmtes getan oder auf bestimmte Weise gesagt wird.« Dieses Konzept wirkt auf den ersten Blick noch viel weiter gefasst als die unspezifische Subsumtion von Höhlen, Reittieren oder Luft unter den Medienbegriff. Also wird man gut daran tun zu klären, was denn mit »etwas Bestimmtes tun« und »etwas auf bestimmte Weise sagen« gemeint ist. Mein Vorschlag, durchaus im Anschluss an Cavell, lautet: Medien tun als materielle Bedeutungsträger, was sie sagen, indem sie den Benutzern ihren immateriellen Bedeutungsgehalt in einer spezifischen Form übermitteln. Und ich füge (durchaus im Dissens mit dem Paradigma des linguistic turn) hinzu: Die Vermittlungsleistungen von Medien erfolgen nicht nur intersubjektiv, sondern auch zwischen Subjekten und Objekten. Daraus kann eine erste, sozusagen weit ausgreifende These abgeleitet werden: Medien sind Mittel der Welterschließung. Später werde ich eine zweite These vorstellen, die von einem eng gefassten Medienbegriff ausgeht. Zunächst aber zur Frage, was »Welterschließung durch Medien« heißen kann. Grundlegend ist dafür

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zunächst Edmund Husserls Konzept der Intentionalität. Mit diesem Terminus bezeichnet Husserl die »Grundstruktur des Bewusstseins, nach der jedes Bewusstseinserlebnis auf einen Gegenstand gerichtet ist«; es geht »in der Phänomenologie um Gegenstände im ›Wie‹ ihres Gegebenseins im Bewusstsein« (Friedrich 2018: 47). Husserl zufolge finden wir die extramentale Welt nicht einfach fertig vor, konstruieren sie aber auch nicht souverän in Gedanken; sie ist vielmehr in jedem einzelnen Akt des Wahrnehmens und Erkennens als Inhalt von Erfahrung und Bewusstsein immer schon gegeben. Um zu beschreiben, wie Menschen über Medien ihre Welt erschließen, empfiehlt es sich, die Betrachtung einzugrenzen. Ich werde daher die Medienphilosophie in die Nähe von drei weiteren Bindestrich-Philosophien stellen, welche die zuvor angesprochenen Parameter kategorial reflektieren, nämlich Sprachphilosophie, Kulturphilosophie und Sozialphilosophie. Dass es Berührungspunkte zwischen Sprach- und Medienphilosophie gibt, bedarf wohl keiner ausführlichen Begründung. Natürliche Sprachen sind die prominentesten Medien der Humankommunikation. Sprache ist nicht ein Mittel der Kommunikation, sondern die Struktur von Kommunikation überhaupt ist sprachlich (auch die zwischen Menschen und Maschinen oder zwischen vernetzten Maschinen mittels künstlicher Sprachen). Medienphilosophische Ansätze teilen zudem mit der Sprachphilosophie die selbstreflexive Besonderheit, »daß der Gegenstand der Erklärung ihr näher ist als die Gegenstände sonst; denn Sprache wird durch Sprache bestimmt, in Wörtern das Wesen der Wörter bezeichnet« (Schweppenhäuser 1958: 313). Mit Mike Sandbothe (2018: 242) kann an dieser Stelle beispielsweise auf John McDowell und Martin Seel verwiesen werden: Für beide ist die Sprache, das »grundlegende Medium menschlicher Erkenntnis«, »so strukturiert […], dass wir uns ohne sie […] auf nichts intentional beziehen können«. Aber gleichzeitig sei »alles, worauf wir uns in ihr beziehen, von der Sprache selbst als sprachunabhängiger Gegenstand vorausgesetzt« (ebd.). Medien beziehen sich demnach in einer sprachartigen Weise auf Außersprachliches (oder auf Innersprachliches), das nicht identisch mit ihnen ist. Die Behauptung, dass Medien und Kultur nahe beieinander sind, erscheint sicherlich auch nicht allzu gewagt. Kultur – wir können auch sagen: ­Zivilisation – ist eine gesellschaftliche Praxis, bei der erfahrbare Lebensumgebungen in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert werden. Dies erfolgt regional und kontinuierlich. Zeichenzusammenhänge sind die Grundlage, um die Umgebung durch Arbeit und Interaktion zu verändern. Und das heißt: sie sich als Welt anzueignen. In diesem Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeutungsgeflechten mittels Zeichengebrauch bezeichnet. »Die symbolische Formung […] ist ein kontinuierliches Geschehen. Durch kulturelle Kontinuität werden die

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symbolischen Formen untereinander und intern differenziert, relativiert. Doch sie bleiben wie ein Netz aufeinander bezogen.« (Paetzold 1993: XII) Aus dieser Perspektive kann man die Geflechte aus bedeutungstragenden Zeichen die Medien der Kultur nennen. Man kann aber auch umgekehrt sagen: Kultur ist selbst ein Medium, das, genauer besehen, aus Zeichengeflechten besteht, die Bedeutungen produzieren. Auch in der Phänomenologie – jener philosophischen Strömung, die mit Cassirers transzendentalphilosophischem Ansatz konkurriert – wird Kultur als Wirklichkeit bezeichnet, die sich Menschen durch Erleben und Deutung aneignen. Und zwar in zeichenvermittelter Interaktion. Deutend und handelnd produzieren und erschließen wir unsere »nähere oder fernere ›Welt‹« (Orth 1997: 54). Deren Zusammenhang als Handlungsraum nennen wir Kultur. Und auch im Poststrukturalismus ist die welterschließende und weltformende Funktion der Medien betont worden. »Medien sind nicht nur apparative Zurüstungen des Menschen«, referiert Klaus Wiegerling (2018: 174) die Position von Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Medien »zeichnen sich nicht nur durch Vermittlung, Zentrierung und Trägerschaft von Informationen aus, vielmehr kommt ihnen eine Ordnungs- und Sinnstiftungsfunktion zu, die uns die Welt erst denken lässt.« (Ebd.) Für Derrida gilt sogar: »Der Mensch als Subjekt ist Ergebnis medialer Effekte, nicht dessen Ursache.« (Ebd.: 177) Die Semiotisierung der Wirklichkeit kann freilich nur innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge erfolgen. Dort finden Kooperation und kommunikative Interaktion statt – basal über natürliche Sprachen, aber auch über sekundäre, artifizielle Sprachen, die Kodes der medialen Kommunikationsprogramme. Sozialphilosophie legt hier die Erkenntnis zugrunde, dass die Menschen ihren Reproduktionsprozess und dessen kulturelle Reflexionsformen selbst gestalten, wenn auch nicht immer aus freien Stücken. Zum Gestaltungs- bzw. Produktionsparadigma wird das Interaktionsparadigma hinzugenommen, da nicht nur Arbeit, sondern auch intersubjektive Verständigung zu den Grundlagen des sozialen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit gehört. Kritische Sozialphilosophie geht davon aus, dass das humane Potenzial verständigungsorientierter Kommunikation durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet wird und daher »eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse« (Honneth 1994: 59) erforderlich ist. Dies mag als Skizze des Zusammenhangs zwischen Sprachphilosophie, Kulturphilosophie und Sozialphilosophie vorläufig ausreichen. Medienphilosophie reflektiert ihre Gegenstände in einem Kontext der Welterschließung durch soziale Interaktion, die über Sprechen und Zeichenverwendung vermittelt ist. Um es in Anlehnung an Sybille Krämer (2000: 14) zu beschreiben: Wir machen aus unserer Umwelt eine Welt, indem wir unsere Wahrnehmungen denkend reflektieren und mit anderen darüber kommunizieren, »was für uns wirklich ist und

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was ›Wirklichkeit‹ heißt«. Und warum spielen Medien dabei so eine wichtige Rolle? Weil sie uns »Unterscheidungsmöglichkeiten […] eröffnen« (ebd.: 15). Was heißt das? Das werde ich in den folgenden Abschnitten erläutern. Ich möchte versuchen, die Konstellation aus Medien-, Sprach-, Kultur- und Sozialphilosophie mit Blick auf drei Fragen zu perspektivieren: Inwiefern schaffen Medien Wirklichkeit und inwiefern vernichten sie sie? Was könnte Medienkompetenz im philosophischen Sinn heißen? Wie stellt sich die Beziehung der Konzepte Freiheit und Selbstbestimmung in medienethischer Hinsicht dar?

Medien als Wirklichkeitsvermittler und Welterschließer Kultur, hatte ich angedeutet, ist die soziale Praxis der Semiotisierung von Wirklichkeit, vermittelt durch Medien; eine Praxis, die erfahrbare Lebensumgebungen in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert. Der philosophische Blick auf die Medien zeigt: Medien sind immer beteiligt, wenn erfahrbare Lebensumgebung Wirklichkeit wird, die uns gegeben ist. Damit wir uns intentional, also mit Handlungs-, Erkenntnis- oder Verständnisabsichten, auf Ausschnitte der Realität beziehen und sie dadurch zu unserer Wirklichkeit machen können, brauchen wir Medien. In Kant’scher Terminologie ausgedrückt, sind Medien die Bedingungen der Möglichkeit von Welterschließung. Mit Kant muss der nächste Schritt eine Kritik der Medien sein. Damit ist selbstredend nicht gemeint, die Medien schlechtzumachen, sondern zu beschreiben, was Medien leisten können und was nicht – und natürlich auch zu beschreiben, wie sie leisten, was sie leisten. Diese Reflexion ist nicht zuletzt wichtig, um nicht in die Falle eines zirkulären Medien-Apriorismus zu gehen. Dann würde man nämlich bei der Behauptung landen, dass Medien die Welt in Gänze konstituieren, könnte aber nicht angeben, wodurch denn die Medien selbst konstituiert sind. Dieter Mersch (2018: 28) hat diese Falle so beschrieben: »Wenn ›alles‹, was ist, allein in Medien gegeben ist, bleibt die Frage, wie Medien selbst gegeben sind oder sich als solche zu erkennen geben, sodass wir es mit einer petitio principii zu tun bekommen, die […] negiert, was sie behauptet.« Grundsätzlich lässt sich hierzu zweierlei sagen. Zum einen erschließen wir durch Medien eine Welt, die eben nicht von vornherein gegeben ist, sondern erst zur Gegebenheit gemacht werden muss. Dabei prägen die Erschließungsmedien der Welt diese auf eine Weise mit, hinter die wir zu keinem Zeitpunkt zurückgehen können. Die Erschließung der Formen erfolgt zu den Konditionen des Mediums, in dem sie

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erscheinen; so, wie die Form eines Fußabdrucks am Strand im Medium des feuchten Sandes. Zum andern ist diese Welt als Gegebenheit unsere Wirklichkeit. Aber weil sie durch Medien vermittelt wird, ist sie immer auch eine mögliche Wirklichkeit, eine virtuelle Realität. Sie könnte auch anders sein, wenn die Medien anders (oder wenn es andere Medien) wären, durch die wir uns die Welt geben. Damit kommt ein Moment von Kontingenz in die mediale Wirklichkeit. Wir können dahinter nicht zurückgehen. Das kann Euphorie auslösen (›Alles ist möglich‹) oder Depression (›Wenn alles auch ganz anders sein könnte, ist nichts gewiss‹). Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Seitenblick auf die Soziologie, wo vor ein paar Jahren der »Möglichkeitssinn« wiederentdeckt worden ist. Der Ausdruck stammt von Robert Musil, dem Autor des Mannes ohne Eigenschaften. Zur Literatur der klassischen Moderne gehört das ambivalente Erleben von ermutigend-offener Unfestgelegtheit und entmutigend-vager Unbestimmtheit. Und genau das gehört zur Erlebniswelt von heutigen Heranwachsenden. Wie ist die Welt, die ich mir aneigne? Wie könnte sie sein, wenn ich ›in ihr mitspiele‹? Wie wird sie ›mir mitspielen‹? Welche Artikulationen, welche Handlungsweisen passen zu mir? Welche sind für andere anstößig oder für mich nicht akzeptabel? Imaginäres Probehandeln ist der Motivationskern, wenn junge Menschen narrative Fernsehserien (z. B. »Mädchen-WG«) oder scripted-reality-Formate und Casting Shows anschauen und wenn sie in die Bild- und Textwelten von Instagram und Twitter eintauchen. Probehandeln – das ist freilich ein zu rationalistisches Konzept. Eher würde ich sagen, es sind der élan vital, halb- oder unbewusste Wünsche und Phantasmagorien, die junge Menschen viel Zeit mit verschiedenen Medien verbringen lassen, oder auch die Suche nach erotischen und beruflichen Identitätsmöglichkeiten. Um es mit Henri Bergson (1948: 124) zu formulieren: Das Leben ist die »fortgesetzte Schöpfung von unvorhersehbar Neuem«. Leben ist als soziokulturelles Konstrukt auf mediale Darstellungen verwiesen. Dort sehen wir »die Welt, die vor unseren Augen abrollt« (ebd.). Junge Menschen spüren ihr lebendiges Werden besonders stark; »in der beweglichen Welt der Phänomene« – so nennt Bergson das Sein im Ganzen – sehen sie »die Wirklichkeit, die vor unseren Augen schöpferisch entsteht« (ebd.). Solche Betrachtung kann Befriedigung und Glück gewähren. Ich füge hinzu: Auch die mediale Vermittlung der Wirklichkeit kann das. Die Verzauberung, die entstehen kann, wenn wir, wie Bergson schreibt, die »unaufhörlich wieder entstehende Neuheit« und die »bewegliche Originalität der Dinge« (ebd.) entdecken, lässt sich auf Betrachtungen und Erfahrungen in der virtuellen Wirklichkeit übertragen. Das gehört zum Kerngehalt ästhetischer Erfahrung. Bergson meint, »an dem großen Werk der Schöpfung, das […] sich vor unseren Augen abspielt, fühlen wir uns als Mitwirkende, als Schöpfer unserer selbst.« (Ebd.) Wenn wir darauf reflektierten, erweiterten wir unsere Freiheit:

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»Unsere Fähigkeit zu handeln wird intensiver dadurch, daß sie zum Bewußtsein ihrer selbst kommt.« (Ebd.) Dies gilt selbstverständlich umso mehr, wenn wir, wie es sich für Medienphilosophierende geziemt, ›das große Werk der Schöpfung‹ als Ergebnis medialer Kreativität erkennen. Das Nachdenken über »die Beziehungen des Möglichen zum Wirklichen«, schreibt Bergson, ist zwar ein »Gedankenspiel«, aber ein eminent wichtiges: »Es kann eine Vorbereitung zum richtigen Leben sein.« (Ebd., Hervorhebung: G.S.)

Medien als Weltvirtualisierer und Wirklichkeitsformatierer Was ist das »richtige Leben«? Und was wäre das »falsche«? Ist es außerhalb des Rahmens der Lebensphilosophie überhaupt noch sinnvoll, solche Fragen zu stellen? Um dem nachzugehen, werde ich später auf das Medienkonzept der kritischen Theorie eingehen, also auf ein philosophisches Paradigma, innerhalb dessen die – sozialphilosophischen, nicht vitalistischen – Aporien des »richtigen Lebens« bekanntlich höchst relevant sind. Zuvor möchte ich nun aber den zweiten, ziemlich eng gefassten Medienbegriff einführen, den ich ja schon angekündigt hatte. In den Medienwissenschaften wird gern mit formalistischen Medienbegriffen gearbeitet. Ein typisches Beispiel dafür ist derjenige von Werner Faulstich (2002: 26), der Elemente aus der Informationstheorie und der Systemtheorie verbindet: »Ein Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz.« Institution, Organisation, soziale Herrschaft – eine kritische Medienphilosophie muss diese Aspekte im Blick haben. Die Welt, hatte ich gesagt, ist nicht als solche gegeben; sie wird durch Mediengebrauch zur Gegebenheit für uns. Und Medien formen, was sie vermitteln, auf irgendeine Weise mit. Beim identifikatorischen Gebrauch von Massenmedienformaten, der für Heranwachsende offenbar unumgänglich ist, verhält es sich im Prinzip nicht anders als im Beispiel des Fußabdrucks am Strand. Die Form der Objekte (z. B. die Performance und die Beziehungen der Medienfiguren) erhält ihre jeweilige Gestalt aufgrund von Eigenschaften, die dem Medium angehören (z. B. Stileigentümlichkeiten von Medienformaten, die mit Attraktivität, Selbstinszenierung, narzisstischen Spiegelungsangebote oder cliffhangern arbeiten). Ein Medium vermittelt, indem es zwischen zwei Gegenständen, die von ihm unterschieden sind, eine Verbindung herstellt. Es ist (trivialerweise) durch den Bezug auf (mindestens) zwei andere Einheiten gekennzeichnet, die durch das Medium verbunden werden. Im Strand-Beispiel sind das der Beobachter und das

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Lebewesen, das die Fußspur hinterlassen hat. Wenn von Videospielen die Rede ist, sind es gamer und Produzenten. Außerdem ist ein Medium durch den Inhalt gekennzeichnet, den es transportiert: also durch die Form, in der die Spur erscheint oder durch die Themen und die plots und settings sowie durch Regeln der Spiele. Und nicht zuletzt ist es durch seine materiale Beschaffenheit gekennzeichnet; im Beispiel durch die Wassermenge, die der Sand aufnehmen kann, beim Computerspiel durch Spielmechaniken und die Ästhetik des Erscheinungsbildes (siehe Feige 2017). Nun möchte ich aber noch einmal die Betrachtungsebene wechseln. Medien sind konstitutiv für den Sinn bzw. die Bedeutung für die Benutzer, der bzw. die, vermittelt über die Medienverwendung, produziert wird. Man kann sagen, dass Medien Sinn »übertragen«, aber auch, dass sie ihn »zugleich mitbedingen und prägen« (Krämer 2003: 85). Eine philosophische Medientheorie sollte daher »nach der konstitutiven Rolle der Medien für das, was sie vermitteln« (ebd.: 80), fragen. Sybille Krämer stellt vor diesem Hintergrund zwei überlieferte Auffassungen gegenüber. Nach der »geisteswissenschaftlichen« Auffassung sind Medien immer etwas Sekundäres: Hier sind sie die »materiellen Realisierungsbedingungen symbolischer Formen« (ebd.). Es gibt dann »ein Außerhalb von Medien«. Medien erzeugen dann nicht, sondern übertragen. Nach der »kulturalistischen« Auffassung hingegen sind Medien stets etwas Primäres: Sie übertragen nicht, sondern erzeugen. Es gibt dann »kein Außerhalb von Medien«; in dieser Sicht sind Medien die »zeitgenössische Fortbildung eines Sprach-, Zeichen- oder Technikapriori« (ebd.). In dieser Frage nehme ich eine Vermittlungsposition ein – auch, um den zirkulären Medienapriorismus zu vermeiden, auf den Dieter Mersch hingewiesen hat. Ich würde nicht sagen, dass man die geisteswissenschaftliche und die kulturalistische Auffassung nicht verbinden kann. Übertragen durch Erzeugen – das widerspricht sich nicht. Übertragenes wird im Übertragungsvorgang produktiv verändert. Die Spur, die ich im geformten Sand sehen kann, transformiere ich in eine Vorstellung von einem Lebewesen; diese Vorstellung, kann man auch sagen, ist erzeugt worden. Damit greife ich den anderen Punkt wieder auf, von dem ich vorhin ausgegangen bin: Als Welt, die uns gegeben ist, ist die Wirklichkeit immer auch virtual reality, also auch Möglichkeit. Die Tendenz zur Indifferenz von Virtualität und Aktualität sehe ich aber nicht, wie Lorenz Engell, als Indikator dafür, dass Medien selbst zu denken anfangen. Medien sind als Vermittler Bedingung der Möglichkeit von Erlebnissen und Erkenntnissen, sowohl im erkenntnistheoretischen als auch im handlungsbezogenen Sinn. Die Welt (also die Realität für uns) ist vermittelt und ebenso die Wirklichkeit (also die Gesamtheit alles dessen, was als Gegebenes überhaupt wahrnehmbar und erfahrbar ist oder Gegenstand der Reflexion werden kann). Dieser Zusammenhang ist in den Kontext unserer kommunikativen und technologischen Lebenswelt eingelassen. Hier kommt die Medienkritik ins Spiel.

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Kritik ist nach Kant, wie gesagt, die Unterscheidung der Leistungen und Unzuständigkeiten von etwas, durch die sich dessen Möglichkeitsbedingungen rekonstruieren lassen. Nach Hegel und Marx ist Kritik weiterhin die denkende Bestimmung der inneren Widersprüche in den Sachen, die im Denken reflektiert werden, und die Rekonstruktion der Widersprüche in der Bewegung der Begriffe. Begriffe sind das Medium, in dem wir denken. Was heißt das für die Medienphilosophie? »Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet«, schrieben Horkheimer und Adorno (1947: 151). Die Autoren der Dialektik der Aufklärung haben das ironisch als späte Verifikation von Kants Konzepts des »transzendentalen Schemas« (Kant 1787/1972: B 177) dargestellt. Der »Schematismus« ist in der Kritik der reinen Vernunft ein kognitiver Mechanismus. Er vermittelt die Allgemeinheit eines Begriffsinhalts mit der je besonderen, anschaulichen Gestalt, in der sein abstrakter Inhalt zur Erscheinung kommt. Das Schema ist ein »Produkt der Einbildungskraft« (ebd.: B 179). Es synthetisiert die Vielfalt der Wahrnehmungen zur Einheit des Begriffs. Dem Schematismus fällt nach Kant die vorgängige Aufgabe zu, »einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (ebd.: B 179 f.). Der Beitrag der Einbildungskraft zur Erkenntnis besteht darin, zwischen Konzept und Bild zu vermitteln – das heißt: zwischen logischer Abstraktion und konkreter Anschaulichkeit. – Die Aufgabe, »die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen«, schrieben Horkheimer und Adorno (1947: 149), »wird dem Subjekt von der Kulturindustrie abgenommen«. In den kognitiven Akten der Individuen und in den Erscheinungen gesellschaftlich-geschichtlicher Bewegung findet demnach eine funktionale, warenförmige Synthesis statt. Sie ist abstrakt medial, aber zugleich höchst real. Die Einheit der Gesellschaft, so der Befund der kritischen Theorie von Marx, wird durch die ökonomische Wertform vermittelt. Sie stellt Äquivalenz her, indem Nichtidentisches unter abstrakte Identität subsumiert wird. Mit »nichtidentisch« sind hier ganz allgemein die konkreten Gebrauchswerte gemeint, die Menschen produzieren und performen, um in arbeitsteiligen Gesellschaften, vermittelt durch den Tausch von Waren, Bedürfnisse zu befriedigen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der menschlichen Arbeitskraft, die als Ware verkauft und gekauft wird. Hier wie dort wird die qualitative Vielfalt dessen, was mit und durch die Waren realisiert werden kann, unter die abstrakte, weil quantifizierende, Identität des Tauschwerts subsumiert. Und dabei kommt der Arbeitskraft eine besondere Eigenschaft zu. Während ihrer Anwendung (im industriellen Produktionsprozess: an der Maschinerie, auf dem Dienstleistungssektor: direkt am Kunden oder an den Objekten, die ihm gehören) fügt sie den produzierten Gütern und Dienstleistungen mehr Wert hinzu, als der Käufer der Ware Arbeitskraft ihrem Verkäufer laut Arbeitsvertrag bezahlen muss, damit dieser sich ausruhen und seine Arbeitskraft für den kommenden Tag rege-

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nerieren kann. Jener Mehrwert kann und soll sich sodann im Verkauf als Profit realisieren lassen. – Nicht die Herstellung konkreter Gebrauchswerte hält den wirtschaftlichen Motor der Moderne in Gang, sondern die Verwertung von Kapital durch die Produktion von Tauschwert, der mehr Kapital erzeugt. Die vermeintlich reine Unmittelbarkeit der Anschauung ist nicht erst, wie Kant gezeigt hat, durch die Reflexion des Verstandes vermittelt, sondern auch, wie wir seit Marx wissen, immer schon durch die Form der sozialen Synthesis. Wenn wir in naher Zukunft Pay-TV-Abonnements abschließen müssen, um Fußballspiele der Champions League ansehen zu können, mag uns das schmerzlich bewusst werden. Wenn wir aber in Scripted-Reality-Formate eintauchen, in die Selbstinszenierungswelt von Instagram und Facebook oder in die Welt der drolligen Püppchen des Animal-Crossing-Spiels, über das Kinder in die monetär dominierte Tauschgesellschaft einsozialisiert werden, dann nehmen wir diesen Vermittlungsschritt in der Regel nicht als solchen wahr. Medien machen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge wahrnehmbar, haben dabei aber die Besonderheit, gleichsam zurückzutreten und tendenziell unwahrnehmbar zu werden. Für Philosophen sind sie auch deshalb so interessant, weil sich in jedem Mediengebrauch beobachten lässt, dass das Gebrauchte einerseits Bedingung der Möglichkeit ist, etwas anderes wahrzunehmen, und andererseits als solche nicht mitwahrgenommen wird. »Medien kommt die Eigenart zu, dann, wenn sie etwas zur Erscheinung bringen, für die Nutzerwahrnehmung zu verschwinden.« (Krämer 2018: 35)

Mein Leben als You-Tube-Video oder: Was bedeutet »Freiheit« und »Selbstbestimmung« in medienethischer Hinsicht? Meine dritte These lautet: Medienkompetenz braucht aus philosophischer Sicht vor allem eine medienethische Basis. Denn der Vermittlungsschritt, der aus der Wahrnehmung verschwindet, vermittelt nicht nur die Weise, in der agiert und performed wird. Er vermittelt auch die Identifikation mit dem, was wir dort erleben. Auf dem massenmedialen Sektor der Nachrichten und Berichte trägt sich Vergleichbares zu: Inhalte, die moralische Irritation auslösen, nehmen wir vermittelt über Formen wahr, welche die Irritation relativieren. Beispielsweise erhalten wir visuelle und textliche Informationen über grausame Massentierhaltung in einem Kontext, der nicht die industrielle Produktion und Vermarktung von Lebewesen als solche problematisiert, sondern nur deren massenkonsumistische Gestalt.

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Von vornherein erscheinen dabei ethischer Konsum und Freilandhaltung von Schlachtvieh für den elitären Biomarkt als positives Identifikationsangebot. Die Frage nach der Legitimität des Lebens unterm Diktat der Warenform, auch im green capitalism, stellt sich auf dieser Grundlage gar nicht erst. Von der sozialen Synthesis, die eine kapitalistisch organisierte Agrarindustrie hervorbringt, wird durch die moralisierende, falsche Behauptung abgelenkt, dass das Elend der landwirtschaftlichen Nutztiere ursächlich aus dem Geiz der Konsumenten hervorgehe, die nicht bereit wären, mehr Geld für Nahrungsmittel auszugeben. Letzteres, das sogenannte Verbraucherverhalten, ist jedoch ebenso Resultat der Konditionen der Weltmarktkonkurrenz wie das Vorgehen im Produktionssektor. Nach Wolfgang Klafki besteht Bildung darin, dass Heranwachsende die »Fähigkeit zur Mitbestimmung« entwickeln. Konkret heißt das: Jeder Mensch soll den »Anspruch«, die »Möglichkeit« und die »Verantwortung für die Gestaltung der gemeinsamen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse« (Wagner 2013: 271) haben können. Allgemein verstand Klafki Bildung als Beitrag zur Entwicklung von drei Grundfähigkeiten: Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Wie sieht es damit aus im Zeitalter der Medialisierung? Mit diesem Begriff wird in den Sozial- und Medienwissenschaften, aber auch in der Medienethik, die Beobachtung interpretiert, »dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmt, da berufliche und private Aktivitäten häufig mit denselben technischen Geräten ausgeübt werden« (Bohlken 2018: 278). Weiterhin steht Medialisierung als kritisches Konzept für die Frage, wie sich »das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger bzw. Produzent und Nutzer« verändert, »wenn die neuen Medien dem Einzelnen zahlreiche Möglichkeiten der direkten Interaktion und der one to many-Kommunikation bieten – vom Bloggen […] über die Organisation politischer Gegenöffentlichkeiten bis hin zur viralen Kommunikation über die sozialen Medien (inklusive viralem Marketing).« (Ebd.) Damit begibt man sich, wie Eike Bohlken treffend bemerkt, auf ein Gebiet, an dem sich »Medienphilosophie, Medienanthropologie und Medienethik« (ebd.) treffen. Aus verschiedenen methodischen Perspektiven muss also der Frage nachgegangen werden, »was Menschen durch eine […] alle Lebensbereiche durchdringenden Mediennutzung aus sich machen können und sollten« (ebd.). Eingangs habe ich Günther Anders erwähnt, der 1980 geschrieben hatte: »Ob der Ausdruck ›Medialität‹ […] den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt.« Nun, bei aller Vorsicht fand Anders dann wohl doch, dass diesem Ausdruck philosophischer Rang zukommt: Er hatte ihn ja selbst eingeführt, und zwar bereits im Jahre 1956, als die philosophischen Spatzen diese Thematik noch nicht von den Dächern pfiffen. Damals hatte Anders mit jener Kategorie allerdings etwas anderes bezeichnet, nämlich etwas, dass in der

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neueren Soziologie meist als Mediatisierung bezeichnet wird. Gemeint ist damit, dass ›mediatisierte‹ oder ›medialisierte‹ Menschen nicht mehr zielbewusst und verantwortungsvoll handeln, sondern dort, wo sie hingestellt werden, konformistisch mitmachen. Das wäre kaum möglich, würden sie nicht durch eine Reihe von Vermittlungsschritten auf Distanz von den Konsequenzen ihres Tuns gehalten. Wir alle sind heute medialisiert, meinte Anders. Wir entscheiden nicht selbst über unsere Handlungsziele, deshalb können wir die Folgen nicht abschätzen und werden »apokalypse-blind« (Anders 1985: 286). Dies gelte nicht bloß für diejenigen, die in untergeordneter Funktion am industriellen Massenmord an den europäischen Juden mitgewirkt hätten oder an Herstellung und Abwurf von Atombomben. Nein, wir alle können mehr herstellen, als wir uns vorzustellen vermögen. Und wir glauben, dass alles, was machbar ist, auch gemacht werden soll; jedenfalls solange, wie wir von den Konsequenzen distanziert bleiben. Dabei spielten die Medien im engeren Sinne eine zentrale Rolle, und zugleich eine paradoxe, denn sie distanzieren durch Annäherung. Sie beliefern uns mit einer fertigen Welt in Bildern. In dieser medialisierten Welt würden wir irgendwie mitmachen, aber nicht im eigentlichen Sinne des Wortes handeln. Günther Anders beobachtete, dass uns die Welt in einem medialen Transformationsprozess konsumgerecht angepasst wird. Als Ware werde sie zum ›Genussmittel‹ und in ein ›Schlaraffenland‹ umgestaltet. Dabei verliere sie Authentizität, Unabsehbarkeit und Widerständigkeit. Denn die Welt als ›Medium der Distanzen‹ löse sich in ihren Raum- und Zeitkategorien auf (Anders 1985: 335 ff.). Am Ende trete die Welt selbst als Ideologie auf, was ausdrückliche Ideologien obsolet mache. »In einer technisch und medial zugerichteten Welt ist das Dasein a priori ein (vor-) geprägtes«; es hat seine, vom frühen Heidegger beschriebene »Fähigkeit verloren […], als ›weltoffenes‹ Subjekt einer unabsehbaren und widerständigen Welt zu begegnen. Welt (als Ware) und Subjekt (als Konsument) sind einander kongruent gemacht.« (Ellensohn/Putz 2018: 67) Die »mediale Situation« ist nach Anders eine Situation, in der sich die Beziehung zwischen Mensch und Welt zu Lasten der Menschen verändert. »Die Welt ist wahr- und vernehmbar, die Subjekte nicht; das Subjekt nimmt teil an der Welt, ohne selbst Teil der Welt zu sein.« (Ebd.: 68) Durch die visuellen und textuellen Medien, meinte Anders, kommt ›die Welt zum Menschen‹, anstatt dass er zu ihr kommt. Die ergebnisoffene Erfahrung, die Menschen mit der Welt machen können, sei durch massenmediale Formatierung erheblich eingeschränkt. Selbstbestimmung und »Widerstand«, auch mit dem Risiko »des Scheiterns« (ebd.), würden tendenziell verschwinden. Man muss sich dem Pessimismus von Günther Anders nicht zur Gänze anschließen. Das Element seiner Medialisierungstheorie, an das anzuknüpfen mir indessen höchst plausibel erscheint, ist nicht primär technik- und kulturkritischer Art; es

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ist der Gedanke, dass Medien das Weltverhältnis in eine Warenform bringen. Die wiederum ist nicht so sehr unter den Aspekten Kommerzialisierung und Güterkonsum via Medien von Belang, sondern vielmehr insofern, als unsere Kommunikation durch Medialisierung in Warenform gebracht wird. Dieser Gedanke verbindet die Medienphilosophie von Günther Anders mit der Kommodifizierungskritik seines (von ihm nicht geliebten) Fachkollegen Adorno. Dass Kommunikation Warenform annimmt, bedeutet, dass ihr Tauschwert Priorität bekommt. Zum Beispiel, wenn Heranwachsende ihre Welt erschließen, indem sie YouTube-Videos anschauen und über soziale Netzwerke und Messengerdienste Kontakt halten. In den Videos packen You-Tuberinnen ihre Warensendungen aus, aber dabei kommt es nicht auf die konkreten Waren an, sondern auf »clicks« und »likes« der Betrachtenden; das ist die Währung, in der die Vorbildlichkeit der Akteure bewertet wird. Und in den Netzwerken zählt am Ende, wie gefragt und wie verfügbar eine Person ist. Hier steht jedoch nicht der Gebrauchswert des so gewonnenen Prestiges im Vordergrund. Das Prestige wird nicht genossen, es wird also nicht konsumiert (im Sinne von ›verbraucht‹), sondern reinvestiert, um die eigene kommunikative Präsenz zu vermehren. Die Telekommunikationswirtschaft ist daran interessiert, dass mehr kommuniziert wird, dass sich das Engagement bei der Kommunikation verstärkt und die Kunden länger an ihren mobilen Endgeräten verweilen.41 Auch von einer eher medienoptimistischen Position aus sollte man Günther Anders’ Diagnosen also im Blick haben: als Tendenzbeschreibungen, nicht als Protokolle vollendeter Tatsachen. Dann kann man seine Diagnosen für medienethische Therapien fruchtbar machen, um »Pathologien« des Mediengebrauchs anzugehen (im Sinne einer Lehre von dem Leiden, das er generieren kann). Nicht nur, wenn es um Suchtphänomene und Cyber-Mobbing geht, haben Erziehungsberechtigte (und Bildungsphilosophen) legitimes Interesse an Gefahrenabwehr und -prävention sowie am Schutz der Persönlichkeit in der öffentlichen Sphäre und im privaten Bereich. Aus Sicht der Medienethik gilt es dann beispielsweise, eine visuelle Kompetenz zu schulen, die sich der »Macht der Bilder« entziehen kann. Man sollte die »Selbstverständlichkeit des Sehens« problematisieren können. Hier, hebt Bohlken (2018: 279) hervor, »geht es einerseits angesichts der heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Bildbearbeitung um die Authentizität von Bildern, um die offene Grenze zwischen Qualitätsverbesserung und Manipulation«, und »andererseits um die Rechte am eigenen Bild bzw. um den Schutz der Privatsphäre abgebildeter Personen.« 4 Dafür wird derzeit Software entwickelt, die Emotionen erkennen kann, indem Textmerkmale und Gesichtsausdrücke ausgewertet werden (vgl. Moorstedt 2017).

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Meiner Ansicht nach sind Medienethiker gut beraten, wenn sie sich am agency-Konzept aus den Cultural Studies orientieren. »Agency« ist im kulturwissenschaftlichen Rahmen gar nicht so leicht zu übersetzen. ›Ermächtigung‹ liest man mitunter, aber dieses Wort konnotiert im deutschen Sprach- und Geschichtsraum nicht gut. ›Human agency‹ bedeutet ›menschliche Einwirkung‹ oder ›menschliches Handeln‹. Als philosophischer Terminus steht agency für ›Handlungsmacht‹ oder ›Handlungsfähigkeit‹. Kulturtheoretische deutschsprachige Äquivalente sind ›Eigenständigkeit‹, kulturelle und politische ›Handlungsfähigkeit‹ oder, so unschön und bildungsbürokratisch es auch klingt: ›Handlungskompetenz‹. Im Konzept agency treffen sich Medienethik, Cultural Studies und kritische Pädagogik (vgl. Winter 2008: 114). Wenn es um Mediengebrauch geht, heißt agency, dass Mediennutzung reflektiertes Handeln im eigenen Interesse sein sollte. Unter Handeln versteht man in der Philosophie erstens, eine Intention zu verwirklichen, der ein Willensmotiv zugrunde liegt; und zweitens ist Handeln zweckgerichtetes Tun, gemeinsam mit anderen – also Praxis im Sinne von Aristoteles. Freies Handeln im Sinne von Kant ist die selbstbestimmte Umsetzung vernunftbestimmter Willensakte.51Damit wären wir noch einmal beim philosophischen Begriff der Autonomie angekommen. Mit Autonomie kann und sollte in der Medienphilosophie vernünftigerweise nicht gemeint sein, dass denkende Fernseher, Filmkameras oder vernetzte Computer philosophieren. Autonomie sollte vielmehr bedeuten, dass Mediennutzerinnen und -nutzer sich aus Fremdbestimmtheit befreien und zu Mitbestimmung und Solidarität fähig werden.

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Zur Kritik der Medienethik*2 Zur Kritik der Medienethik Zur Kritik der Medienethik

Die Verwendung des Begriffs ist mehrdeutig – häufig ist von »Medienethik« die Rede, wenn es um die »Moral« der Massenmedien geht: Was gilt dort als üblich, sittlich geboten und erwünscht oder als illegitim, verachtenswert und empörend? Diese Verwendungsweise entspricht der Rede von der Wirtschaftsethik, verstanden als Arbeitsmoral oder als Werte und Handlungsnormen, die man in der ökonomischen Welt für rechtschaffen und erstrebenswert hält. Zugleich bezeichnet der Begriff »Medienethik« aber auch die wissenschaftliche Untersuchung der Moral, die dem Betrieb der Massenmedien inhärent ist. Die äquivoke Verwendung von »Medienethik« entspricht der Unterscheidung zwischen »Moral« und »Ethik«. »Moral« ist ein Sammelbegriff für die Überzeugungen der Einzelnen, was gut oder gerechtfertigt ist, sowie für die Sitten in einer Gemeinschaft. »Unsere moralischen Orientierungen […] erwachsen aus Meinungen, Erzählungen, Bewertungen, Gefühlen, die wir von der Kultur, in der wir leben, übernommen haben.« (Schmid Noerr 2006 a: 27) Man kann sie als ›gelebte Moral‹ bezeichnen, die in früheren Epochen aus mythischen Erzählungen hergeleitet wurde, während sie in der Moderne ihren Stoff aus den massenmedialen Alltagsmythen der populären Kultur beziehen (ebd.). Das Pendant zur »Moral« ist in diesem Modell der Terminus »Ethik«, der gleichbedeutend mit »Moralphilosophie« ist. Philosophische Ethik fragt, wie Moralprinzipien begründet werden, ob die Begründungen stichhaltig sind und welche moralischen Überzeugungen gerechtfertigt werden können. Geht es um »Medienethik« im Sinne der Berufs- und Standesethiken, wie zum Beispiel im Ethik-Kodex des Deutschen Presserates,13sollte man daher Ursprünglich ein Vortrag in der Reihe Ethik – Wozu und wie weiter? an der Technischen Universität Darmstadt, 13. November 2013. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38-39, 2014, S. 10–38. Die vorliegende Fassung wurde überarbeitet. 1 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (letzter Abruf: 16.8.2018).

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 G. Schweppenhäuser, Design, Philosophie und Medien, Würzburger Beiträge zur Designforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22225-3_12

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besser von »Medienmoral« sprechen. Wenn im Folgenden von »Medienethik« die Rede ist, dann sind moralphilosophische Analysen von Wertorientierungen und Handlungsnormen bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Massenmedien gemeint. Dies folgt dem Sprachgebrauch in der Philosophie und der Medienwissenschaft. Unter Medienethik versteht man dort die »wissenschaftliche Beschäftigung mit der vorhandenen Medienmoral und Kommunikationskultur« Funiok 2002: 54). Einen ausgearbeiteten philosophischen Begriff des Mediums findet man in den Entwürfen der Medienethik in der Regel allerdings nicht. Ein »Medium« ist dort sozusagen die Einzahl von »Medien«, und dieses Wortes wiederum wird im Sinne der journalistischen Rede von »den Massenmedien« verwendet (Presse, Radio, Fernsehen und Internet). – Als deskriptive Ethik fragt Medienethik, was in der dort gängigen Medienpraxis als moralisch gerechtfertigt gilt. Als normative Ethik bewertet sie die Medienpraxis und fragt, welche Werte und Normen hier vernünftigerweise gelten sollten.

Demokratische Öffentlichkeit und Verantwortung Mir geht es nicht um die Darstellung aller Positionen, die gegenwärtig in der Medienethik vertreten werden, sondern um den Versuch, ihre Grundlagen zu skizzieren. Dafür werde ich mich hauptsächlich auf Rüdiger Funiok beziehen; seine Schriften, die hohe Anerkennung unter Fachleuten genießen und auch in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen werden, können als konsensfähiger Extrakt aus der medienethischen Debatte der letzten zwei Jahrzehnte gelten. Maßstab ist für Funiok (2011: 91) »das Gelingen medienvermittelter demokratischer Kommunikation«, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok (ebd.) die Sozialgeschichte der Medien, »ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsentativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.« Medien haben demnach den »gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen und zu fördern« (ebd.: 90), damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »demokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden« (ebd.) könne. Adressaten der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortli-

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chen Handeln, das Funiok (2002: 42) (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steuerungsressource« nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig. Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern vor allem das der Verantwortung (Funiok 2011: 78). Grundlage der Bewertung ist in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob ›aus Pflicht‹ gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medienakteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden« (Schicha/ Brosda 2010: 10), heißt es im Handbuch Medienethik. Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem, es hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. »Verantwortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.« (Schiller 2011: 160) Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte ist Verantwortung allmählich zu einem »Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden« (ebd.), wie Hans-Ernst Schiller resümiert. In der Ethik, die das Konzept seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung« Funiok 2002: 43), die mit Max Weber (1919) wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die voraussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können. In der philosophischen Ethik wird die Frage nach der Verantwortung heute facettenreich formuliert (siehe Bayertz 1995). Christoph Hubig (1993: 71 f. [mit leicht veränderter Interpunktion zitiert]) unterscheidet fünf Aspekte: »Ich übernehme Verantwortung für etwas (Handlungsfolgen, Handlungen, Personen, Güter), in meiner Eigenschaft/Funktion als (als bestimmtes Handlungssubjekt), vor jemandem (Instanz der Verantwortung: Personen, Natur, Gott, Gesellschaft, Staat), unter bestimmten Kriterien (Werten, Prinzipien, Maßstäben), im Blick auf (Schaden/Nutzen), Pflichterfüllung, Haftung etc.)«. Schiller nennt sechs Aspekte. Er beschreibt Verantwortung als »eine zumindest vierstellige Relation. Ein Subjekt, ›jemand‹ (1) ist verantwortlich für sein Tun und Lassen (2) vor einer Instanz (3) nach einer Norm (einem praktischen Gesetz, einer Vorschrift) (4)« (Schiller 2011: 162). Hinzu kämen noch der Faktor »Zeit« und die Frage nach den aktuell »Betroffenen«; denn es ist relevant, ob die Verantwortlichkeit für eine Handlung vorher oder nach ihrer Ausführung geltend gemacht wird, und es ist ebenso relevant, ob die von der Handlung Betroffenen mit der Instanz identisch sind, vor der sich das handelnde Subjekt verantworten muss, oder ob sie nicht mit dieser Instanz identisch sind. Die beiden Modelle ergänzen einander. Während Hubig jeden Aspekt noch einmal im Detail auffächert, fügt Schiller den Zeitfaktor und die mögliche Differenz zwischen Betroffenen und Verantwortungsinstanz hinzu.

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In der Medienethik empfiehlt Funiok (2002: 44), die Frage entsprechend dem neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs zu differenzieren: Wer trägt Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte? Bei aller Diversität ihrer Positionen im Einzelnen steht für die Vertreter der Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwortungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit. Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kritik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden. In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen? Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »strukturellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne? Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten (Funiok 2002: 45 f.).

Massenmediale Akteure Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informationsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokratischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplätzen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt,

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weil es menschenverachtend und frauenfeindlich ist, Gewalt verherrlicht und die Weltsicht der Zuschauer, besonders der jugendlichen, negativ beeinflusst, ist das ebenfalls ethisch problematisch. Es hindert Menschen daran, andere in ihrer Andersheit zu respektieren und friedliche Konfliktlösungen anzustreben. Drittes Beispiel: das Foto des verletzten und gedemütigten Jan-Philipp Reemtsma (1997), das seine Entführer im Kellerverlies aufgenommen hatten. Es wurde gegen seinen ausdrücklichen Willen in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. Das Interesse des Publikums an schauerlichen Details stand gegen den Wunsch des Opfers eines Verbrechens, seine Privatsphäre zu schützen und selbst zu bestimmen, welche Bilder die Öffentlichkeit von ihm kennt. In allen Beispielen wird man weder das Unternehmen, dem der Sender oder das Blatt gehört, noch die angestellten Macher von Verantwortung freisprechen können; ganz zu schweigen von den Ermittlungsbeamten, die sich bestechen ließen und das Foto herausgaben. Aber ihre Verantwortlichkeit liegt offenbar auf unterschiedlichen Ebenen. Entscheidungs- und Handlungsfreiheit eines »Großakteurs« unterscheidet sich erheblich von der, die »Kleinakteure« besitzen, und ihre Macht ist, aufgrund unterschiedlicher Reichweite, nicht gleich groß.

Individualethische und sozialethische Ansätze Berufsethische Instanzen setzen meist individualethisch an und fokussieren die korrekte Gesinnung der Einzelnen in Relation zu ihrer Ausbildung, Berufserfahrung usw. Der Ethikkodex des Deutschen Presserats zum Beispiel sieht in der »Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren«, die vornehmste Aufgabe einer »Berufsethik der Presse«2. Aber das geschieht in einem strikt individualethischen Rahmen. Das Ergebnis sind aus der Sicht von Rüdiger Funiok unzureichende ›individualethische Verantwortungsappelle‹. Sie müssten durch eine sozialethische Perspektive erweitert werden. Denn soviel ist Funiok (2002: 47) klar: »Bedingungen und Entscheidungsspielraum der Einzelakteure« sind »entscheidend vom strukturellen und organisatorischen Kontext bestimmt«3. 2 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018). 3 Die vielfach als unbefriedigend betrachtete, dichotomische Beschreibung von Individual- und Sozialethik könnte durch Christoph Hubigs Modell einer »Umwegethik« als Vermittlungsinstanz erweitert werden (Hubig 1993: 110). Dieses im Kontext der Technikethik entwickelte Modell »appelliert daran, daß Individuen nicht ihre Verantwortung

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Aber auch die Verantwortung des Publikums der traditionellen Massenmedien ist aus Sicht einiger Medienethiker ebensowenig als Individual-Verantwortung zu verstehen wie die Verantwortung der Nutzer der neuen online-Medien. Mediennutzung erfolgt ja stets »in einem sozialen Kontext« (Funiok 2002: 48): Familie, die Gruppe der Gleichaltrigen, Schule, Hochschule usw. Alle, die mit der Herstellung, Verbreitung und Nutzung von Medien zu tun haben, tragen daher Verantwortung: Journalisten, Rundfunk- und Fernsehleute, Mitarbeiter der Werbe- und PR-Branche, Kommunikationsgestalter – auch im Webdesign –, Berufsverbände, Unternehmen, Konzerne – also die »Besitzer und Betreiber von Massenmedien« (ebd.: 49) – ebenso wie das Publikum und alle einzelnen Nutzer. Und auch die sozialen Instanzen, die für die Rahmung und Kritik der Medien zuständig sind, nämlich (in erster Linie) Gesetzgeber und eben die vielbeschworene Öffentlichkeit, seien Verantwortungsträger; zumal dann, wenn sie als »Leserräte«, als »Media-Watch-Initiativen« (ebd.: 48) oder als Ethik-Kommissionen institutionalisiert sind. Ob es um gesetzliche Kontrolle geht, um freiwillige Selbstkontrolle der Medienmacher oder um ein medienkritisches öffentliches Bewusstsein der Mediennutzer: Immer müsse das Ziel eine weitgehende »korporative Selbstverpflichtung« sein (Debatin, zit. nach Funiok 2002: 49). Diese soll, wie gesagt, in sozialethisch haltbare Verantwortung münden, weil im Zentrum der medienethischen Begründung ja nicht mehr der Begriff der Pflicht steht. Nur ein solchermaßen gerechtfertigtes Handeln könne das nachhaltige Vertrauen schaffen, welches für soziales Handeln unabdingbar ist. »Damit Institutionen sich das Vertrauen ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit abschieben, sondern auf dem Umweg über Institutionen wahrnehmen und ihr dadurch zu Geltung verhelfen – über das bloße ›sich verantwortlich fühlen‹ hinaus« (Hubig 1991: 108). Der Appell ergeht an entsprechende Institutionen, die in der Lage sein müssten, aufzuklären, den betroffenen Individuen bei Bedarf »wirtschaftliche und finanzielle Entlastung« zu bieten und »Unternehmer, Forscher und Konsumenten« zu ermutigen, sich nicht vermeintlichen Sach- und Marktzwängen zu unterwerfen (ebd.). Letztlich geht es darum, »Empfehlungen zur ›ethischen Optimierung‹ der Handlungsbedingungen zu erarbeiten« (Bausch 2000: 235), die dem einzelnen Akteur z. B. dabei helfen, bei einem ethischen Konflikt die moralischen Kriterien, die er mit guten Gründen für richtig hält, mit den Erfordernissen der Firma oder sonstigen Einrichtungen zu vermitteln, die jenen Kriterien im Wege stehen. Hubig erläutert dies am Beispiel eines Doktoranden, der feststellt, dass die Kläranlage des Betriebs, in dem er angestellt ist, defekt ist: Wenn er es meldet, droht ihm seitens der Firma Publikationsverbot. Wenn er es deshalb nicht meldet, droht Umweltschaden zu entstehen. Sofern der Doktorand Mitglied eines Berufbandes wäre und dieser Verband einen entsprechenden Ethikkodex hätte, könnte er sich in dieser Lage anonym an den Verband wenden (siehe Conrady 2001). Die »umwegethische« Institution ist in diesem Modell sozusagen das handlungsermöglichende Medium oder besser gesagt: die Vermittlungsinstanz, die es dem Individuum möglich macht, handlungsfähig zu bleiben, ohne (seine) moralische(n) Standards aufgeben zu müssen.

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erhalten, müssen sie ihre korporative Verantwortung wirklich ernst nehmen«, schreibt Funiok (2011: 77), »z. B. dadurch, dass im Leitbild und in Strategiekonzepten Wertprioritäten formuliert werden, dass neben unternehmensstrategischer auch gemeinwohlorientierte Zielsetzungen Gültigkeit besitzen und klare Verantwortungs­ begrenzungen getroffen werden.«

Mediales Handeln ist der Warenform unterworfen Der ›strukturelle und organisatorische Kontext‹ medialen Handelns basiert freilich auf ökonomischen Bedingungen; über deren Vorhandensein ist sich Funiok zwar völlig im Klaren, aber er stellt sie ebensowenig infrage wie andere Medienethiker. Diese Grenze kann eine normativistische Handlungsreflexion offenbar nicht überschreiten – auch nicht als sozialethische. Ökonomische Bedingungen, die subjektübergreifende Zwänge schaffen, sind sowohl durch konfligierende Interessen der Akteure gekennzeichnet als auch durch systemische Imperative. Der Markt als Ort konkurrierender Angebote zwingt zur Konzentration und Zusammenballung von Macht, zur Oligopol- und Monopolbildung. Funioks Fachkollege Christian Schicha (2010: 29) konstatiert an diesem Punkt, dass »die Imperative der Ökonomie im Medienwettbewerb eine zentrale Rolle« spielen und »ggf. konträr zu den medienethischen Idealnormen stehen« können. Idealnormen könnten aber »keine praktische Hilfe bei konkreten Handlungsentscheidungen liefern«, weil sie »zu allgemein, zu unbestimmt und zu rigide« (ebd.) sind. Deshalb müsse man näher an die »Lebenspraxis« herankommen und einen »Kompromiss« finden »zwischen den idealen Ansprüchen und der legitimen Anpassung an die faktischen Gegebenheiten« (ebd.). Dazu weicht Schicha (2010: 30) auf die »anthropologischen und psychologischen Realitäten« aus, die man berücksichtigen müsse, um nicht zu rigide und jenseits des Zumutbaren zu argumentieren. Niemand solle überfordert werden, aber andererseits dürfe man sich auch nicht »zu stark an opportunistischen Gepflogenheiten in der Praxis […] orientieren« (ebd.: 29). So geht Schicha den Imperativen der Ökonomie sogleich wieder aus dem Wege, die er zuvor benannt hatte.4 4 Angesichts der Frage, ob wirtschaftsethische Überlegungen zwangsläufig auf eine bloß moralisierende Kritik hinauslaufen müsse, die stets personalisierend ist und insofern den Gegenstand verfehlen muss, hat Gunzelin Schmid Noerr folgende wichtige Differenzierung formuliert: »Erstens haben Entscheidungsträger auch innerhalb objektiver

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Funiok wiederum argumentiert traditionell philosophisch – er verlässt sich auf den inneren Zusammenhang von Macht, Verantwortlichkeit und Freiheit. Er meint: Auch wenn die »freie Konkurrenz des Marktes« durch »die hochgradigen Konzentrationsprozesse« weitgehend stillgestellt ist, hätten »Medienunternehmer […] Handlungsfreiheit und […] politische Macht, wirtschaftliche, kulturelle und technologische Macht über die physische Umwelt wie über Individuen.« (Funiok 2002: 51) Und weil man sich für Macht ja immer verantworten muss, gilt nach Funiok die Formel: »Je mehr Macht, desto größer sind die Freiheitsgrade.« (Ebd.) Daher muss man sich für seine Macht nicht nur verantworten, sondern man kann es auch, weil man ja frei ist. Folgt aus dem Konzept einer Verantwortung aus Freiheit, dass sie in der Realität wirkmächtig ist? Nun ja, gemeint ist natürlich: Wirkmächtig ist die Idee der Verantwortung als handlungsleitendes Motiv, das durchaus kontrafaktisch sein kann. Einverstanden – die Frage ist dann nur: Wie weit kommt man, wenn man sich auf das normative Leitbild der demokratischen Öffentlichkeit, die Grundlage des medienethischen Ansatzes, verlässt?

Kommunikative Legitimierung und Ideologie Die systemische Rationalität der Medien-Marktwirtschaft (die freilich hinter einen unverkürzten Begriff der Vernunft zurückfällt, weil sie instrumentell auf den Zweck der Vermehrung des warenförmigen Reichtums fixiert ist und im Hinblick auf die Zwecke wirtschaftlichen Handelns bewertungsabstinent bleibt) lässt den medienethischen Normativismus als zu harmlos erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass die Konzentrationstendenz von Märkten kein Naturgesetz ist, sondern ein gesellschaftliches Bewegungsgesetz, dann rückt die Sache in ein anderes Licht: Was schlichte, normfreie Faktizität zu sein scheint, ein soziales Subsystem, welche die Wissenschaft mit ethischen Begriffen allenfalls beschreiben kann, das erweist sich als implizit normatives Konstrukt mit ideologischem Charakter. Doch was genau heißt »Ideologie«? In der kritischen Sozialphilosophie der Gegenwart werden Ideologien als Theorien verstanden, die normative Aussagen als deskriptive präsentieren und sich selbst als solche missverstehen. Ideologien

Strukturvorgaben noch erhebliche Handlungsspielräume, und zweitens ist der politische Rahmen des Wirtschaftshandelns selbst nicht der ethischen Beurteilung entzogen. Wenn moralische Orientierungen und ethische Gründe überhaupt einen Sinn haben, dann müssen sie sich in erster Linie auf die Humanisierung dieser Bedingungen und Folgen der globalisierten Ökonomie beziehen.« (Schmid Noerr 2006 b)

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treten auf, als würden sie nur beschreiben, aber faktisch konstituieren sie soziale und kulturelle Praktiken. Denn Ideologien legen Auffassungen davon nahe, was die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann (Jaeggi 2009: 281). Kritische Theorie erklärt diesen falschen Schein aus seiner Verbindung mit dem falschen gesellschaftlichen Sein.5 Statthalterin der Freiheit ist im medienethischen Konstrukt der demokratische Staat – und zwar nicht nur sein Spielbein, die plurale Meinungsbildung, sondern auch sein Standbein, die Zwangsgewalt. Wenn »die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität« als wichtigste Aufgabe der Medien angesehen wird und deren sozialmoralische Normierung als wichtigste Aufgabe der Medienethik, dann ist Öffentlichkeit der Prüfstein für ihre kritische Reichweite. Funiok (2011: 93) hebt ausdrücklich hervor, dass diese Vorstellung von Öffentlichkeit ein »Leitbild« sei, ein »normatives Konzept«, und er betont: »Die Medienethik kann […] auf diesen normativen Öffentlichkeitsbegriff nicht verzichten.« Unschwer sind hier Ähnlichkeiten mit der anthropologischen Theorie der Öffentlichkeit von Hannah Arendt (2006: 33–97) und der diskurstheoretischen von Jürgen Habermas zu erkennen. Nach Arendt sind wir als Privatexistenzen zunächst fremdbestimmte Natur- und Arbeits-Wesen; erst durch die gemeinsame Praxis des Redens und Handelns in einem republikanischen, öffentlichen Raum werden wir zu freien Menschen. Nach Habermas (1990) wird der literarische bourgeois in den öffentlichen Räumen, welche die parlamentarischen Demokratien sicherstellen, durch aufgeklärte Meinungsbildung zum politischen citoyen, im Idealfall zum Mitglied einer weltweiten Zivilgesellschaft. Solche Vorstellungen unterzieht die dialektische Theorie der bürgerlichen Öffentlichkeit einer – immanent ansetzenden – Ideologiekritik, was ich nun in einem kurzen historischen Rückblick skizzieren möchte, der Dieter Prokop (2001: 170–237) folgt.

5 Nach Marx steht der Ideologiebegriff bekanntlich für Gestalten eines ›notwendig falschen Bewusstseins‹ oder auch eines ›richtigen Bewusstseins von falschen Zuständen‹ – jedoch in legitimatorischer Absicht (siehe Lenk 1984: 26 ff.). Eine Ideologie versucht, Widersprüche zu glätten, die darauf zurückzuführen sind, dass in der Sache, die sie legitimieren soll, Gegensätze stecken, welche sich durch Theorie allein nicht auflösen lassen. Ideologiekritik ist demgemäß der Versuch, aufzuzeigen, dass eine Theorie vorgibt, ihre Gegenstände zu beschreiben, in Wahrheit aber implizit normativ ist, weil sie bestimmte Welt- und Handlungsorientierungen suggeriert.

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Öffentlichkeit und Medienerfahrung Im 18. Jahrhundert etablierten mündige Bürger eine Medienstruktur für aristokratisch und klerikal unkontrollierte Diskurse über Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Bücher, Zeitungspresse und Theater wurden die privatwirtschaftlichen Medien einer »räsonierenden« Öffentlichkeit im Sinne von Kant. Ihr Schlachtschiff war die Enzyklopädie, die mit modernen Marketingmethoden (nämlich mit Subskription und Haustürverkauf) in ganz Europa verbreitet wurde. Kaum war sie auf dem Markt, sprach der königliche Rat auch schon ein Publikationsverbot aus: Diderot hatte in seinem Artikel über »politische Autorität« dargelegt, dass politische Herrschaft ohne Zustimmung der Untertanen in einem rationalen Unterwerfungsvertrag nicht legitimierbar sei. Im Zuge der Französischen Revolution wurden politische Streit­schriften und Pamphlete Bestseller. Von der Schrift Was ist der Dritte Stand? des Abbé Sieyès wurden 300.000 Drucke verkauft; dort ging es um Toleranz, Steuergerechtigkeit, Menschenrechte und gerechte Behandlung der Landarbeiter. Inspiriert von der Unabhängigkeitserklärung der USA rief die Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte aus: das Recht mündiger, männlicher Bürger auf Eigentum und freie Ausübung der Religion sowie die Presse- und Meinungsfreiheit. Als zensurfreie Zone war Öffentlichkeit der zivilgesellschaftliche Überbau der Gewerbefreiheit. Zwei Jahre nach der großen Revolution wurde in Frankreich die Theaterzensur abgeschafft. »Jeder Bürger«, hieß es nun, »darf ein öffentliches Theater errichten und dort Stücke aller Art spielen lassen« (zit. nach Prokop 2001: 172). Gab es Anfang 1791 in Paris neun Theater, so waren es Ende des Jahres bereits 70. Die moderne, mediengestützte Öffentlichkeit hatte von Anfang an zwei Aspekte: Sie galt der Verbreitung revolutionärer wissenschaftlicher und politischer Ideen, und sie war zugleich ein wirtschaftliches Projekt zur Vermehrung der Profite derer, die ihr Kapital auf dem neuen Markt investierten, der ebenso vielversprechend wie riskant war. Ohne kapitalistischen Unternehmergeist hätten sich die aufklärerischen, demokratischen Ideen nicht entfalten können; aber sie konnten sich nur in einer medialen Sphäre verbreiten, in der es primär gar nicht um Inhalte ging, sondern um die mediale Warenform. In Europa und in den USA florierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Massenproduktion; der Handel musste mit Anzeigen, Werbung und Design angekurbelt werden, und medientechnologischer Fortschritt ebnete den Weg zu deren Medium, der Massen­presse. Ein neues technisches Medium, die elektrische Telegrafie, war die Basis der drei großen kommerziellen Nachrichtenagenturen Hava, Reuters und Wolff’s, die in Paris, London und Berlin gegründet wurden und sich 1870 zu einem Weltkartell zusammenschlossen (Prokop 2001: 198). Zuvor hatten

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die Mitarbeiter der Nachrichtenagenturen am Hafen von New York auf einlaufende Schiffe gewartet, um Nachrichten einzukaufen. Nachdem Telegrafen­kabel durch den Atlantischen Ozean verlegt worden waren, war das nicht mehr nötig. Rotationspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports verdrängt. Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öffentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrichtenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusammenhangs« (Habermas 1990: 73) gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt. Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern nur noch ein »kulturkonsumierendes« (ebd.: 248). »Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Kommunikation.« (ebd.: 249). Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz. Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit. Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von Arnold Künzli (1988: 25) – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.« Weiter heißt es bei Künzli: »Das Entrébillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des Bürgertums«, denn: »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl deklarierte.« (Ebd.) Die Verwandlung von Informationen in reine Waren – die technisch reproduzierbar und telekommunikativ sind – setzte sich tendenziell gegen den Regulationswillen der Politik durch. Bismarck versuchte in Deutschland, politische Pressezensur durchzusetzen, hatte damit aber auf lange Sicht keinen Erfolg. Er erließ 1863 »die

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Presseordonanzen, die die gesetzlich ohnehin beschränkte Pressefreiheit weiter einschränkten: Wegen ›regierungsfeindlicher Handlungen‹ konnten Zeitungen nach zweimaliger Verwarnung verboten werden. […] Die Presseordonanzen mussten im gleichen Jahr wegen des Einspruchs des Abgeordnetenhauses zurückgezogen werden, doch führte Bismarck seinen Vernichtungskampf gegen die oppositionelle Presse fort« (Prokop 2001: 233). Die ökonomische Eigenlogik der Verwertung des investierten Werts hat ihre eigenen Gesetze. Eines ist die bereits erwähnte Zusammenballung der ökonomisch Mächtigsten auf dem Markt, die die schwächeren Konkurrenten verdrängen. Die Verwandlung von Informationen in reine Waren brachte es auch mit sich, dass die Konzentrationstendenzen der Marktwirtschaft auf dem Zeitungssektor überall voll durchgriffen.6 Auch im 20. Jahrhundert, unter den Produktionsbedingungen des Fordismus, war die massen­mediale Öffentlichkeit noch privi­legierter Ort der Urteilsbildung freier und gebildeter Bürger. Skandal­e und Sensationen in Zeitung, Radio und Fernsehen waren alltagskulturelle Aufputschmittel für die arbeitsfreie Zeit, einlullende Unterhaltung fungierte als Beruhigungsmittel. Andererseits hörte die Beschäftigung mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen aber nicht einfach auf, denn nun fing auch die Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel an, öffentlich zu »räsonieren«. Ihre Angehörigen hatten ein Interesse daran, über ihre Lebenslage in der Industriegesellschaft zu kommunizieren und über die Aussichten, sie zu verbessern. Wenn sie in kommerziellen Zeitungen Berichte über Skandale und Verbrechen verfolgten und anschließend darüber diskutierten, war das zumindest ein Teil davon (Prokop 2001: 195). Dies wäre ohne das in sich widersprüchliche, bürgerliche Konzept der Öffentlichkeit nicht möglich gewesen. Noch einmal mit den Worten von Künzli (1988: 25): »Indem das Bürgertum in seinem Emanzipationskampf gegen Feudalismus und monarchistische Staatsautorität für sich Oeffentlichkeit konstituierte und im freien Diskurs eine öffentliche Meinung herausbildete, leistete es, auch wenn es noch nicht Oeffentlichkeit an sich war, einen revolutionären Beitrag zur Emanzipa­tion überhaupt.« Und es gab auf der anderen Seite bekanntlich auch das staatliche Rundfunkwesen Großbritanniens und das öffentlich-rechtliche System in der Bundesrepublik, die man als Bastionen der Medien-Domestizierung durch, teilweise steuerfinanzierte, Aufklärung und Bildung der Bevölkerung bezeichnen kann. Wenn das Ideal einer Sphäre aufgeklärter Bürger, die im räsonierenden Diskurs politische und soziale Meinungsbildung betreiben, aus der heutigen Medienlandschaft (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und Internet) verschwindet, handelt 6

In Berlin zum Beispiel entstanden nach 1870 die drei großen Zeitungsverlage von Rudolf Mosse, Leopold Ullstein und August Scherl.

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sich es aber nicht um Fehlverhalten oder Anzeichen von moralischem Verfall. Medienakteure auf einem globalen Markt sehen sich kaum noch in der Pflicht, mündige Bürger zu erziehen. Sie müssen sich in einem Betrieb erhalten, der – über die mediale Warenform – dabei hilft, aus Geld mehr Geld zu machen. Im Blick auf diesen ›Realgrund‹ haben sie sich zu verantworten – alles andere ist nachrangig. Bei verschärfter Kon­kurrenz um die Anteile an den Restprofiten einer (offenbar permanenten) Überakkumulationskrise wird dem Appell an die Verantwortung die Geschäftsgrundlage entzogen. Sensationalismus, Pornografie und Reklame sind Überlebensstrategien in einer Epoche, die geprägt ist durch das »Zeitungssterben« und durch eine umkämpfte Neuverteilung der legalen Zugänge zur Ausbeutung der ›Ressource Aufmerksamkeit‹ (Türcke 2002: 52 ff.). So setzt sich die Kapitallogik durch – auch dort, wo sie partiell suspendiert war: in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern, deren Funktionäre auf hohe Publikumsquoten fixiert sind. Die Massenmedien kehren gleichsam in ihren Grund zurück – Zeitungen waren im Europa der frühen Neuzeit Werbeprospekte der Buchdrucker und das Radio in seinen Anfängen in den USA ein Reklameorgan der Konsum­g üter­industrie. Im Italienischen ist pubblicitá heute das Wort für Werbung. Und in den sogenannten social media wird überwiegend Privates ausgetauscht. Es spricht Einiges dafür, dass Slavoj Žižek (2012) Recht hat, wenn er mit Blick auf das Internet feststellt: »Der öffentliche Raum verschwindet.« Gegen die marktwirtschaftliche Orientierung des Handelns, das an Selbsterhaltung, Selbststeigerung und Überwältigung der Konkurrenten orientiert ist, bringt die Medienethik ihr normatives Bild von Öffentlichkeit in Stellung. Funiok (2011: 94) zentriert es um ein Diskursmodell, das von der Ambivalenz der Öffentlichkeit absieht. In diesem Modell gibt es vier Typen öffentlicher Äußerungen: 1. autoritäre, monologische Kundgaben, 2. Agitation und Propaganda, 3. die Befeuerung kollektiver Erregungszustände und 4. advokatorische Statements zugunsten von Benachteiligten oder zugunsten des Gemeinwohls (ebd.: 94 f.). Die Sympathien sind klar verteilt: Autoritäre Verlautbarungen und agitato­rische Hetze in den Medien gefährden die Demokratie; zivilgesellschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit fördert sie, sofern sie nicht parteiisch auf die Ziele einzelner sozialer Bewegungen fixiert ist. Und wenn öffentliche Erregungsz­ustände aufgegriffen oder angeheizt werden, bis hin zur Formierung als Gegenmacht, könne das sowohl negative Wirkung haben als auch positive (wie im Vorfeld des Untergangs der DDR). Idealerweise zeichne sich der öffentliche Diskurs durch eine Auseinandersetzung aus, die nicht strategisch ist, sondern verständigungsorientiert und argumentativ. Im Diskursmodell der Öffentlichkeit ist Wahrheit der Maßstab für deskriptive Sachaussagen, und normative Richtigkeit, das heißt Gerechtigkeit, ist der Maßstab für praktische

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Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher Behauptungen und zum Ausscheiden unhaltbarer Argumente.« (Ebd.: 94) Gleichberechtigter, sach- und inhaltsorientierter Diskurs, Mündigkeit und Freiheit: Das sind die Werte, die sich in dem medienethischen Postulat manifestieren, nach dem sich Individuen und Instanzen im Prozess der Produktion und Rezeption von Massenmedien einer »korporative[n] Selbstverpflichtung« unterwerfen sollen – in der sie der puren Marktlogik politische Normativität entgegensetzen sollen, um ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden. Die Argumentationsstruktur der Medienethik ist also insofern zirkulär, als die Kategorie der Verantwortung auf den Wert der demokratischen Freiheit zurückgeführt wird und demokratische Freiheit nicht nur als Idealgrund, sondern auch als Realgrund der Verantwortung beschrieben wird. Heikler als die logische Unstimmigkeit ist die moralische: Mit dem Rekurs auf Verantwortung lässt sich so gut wie jedes Handeln irgendwie rechtfertigen, wenn man nicht präzise auf die Handlungszwecke eingeht und die Mittel bewertet, die dazu eingesetzt werden. »Verantwortung übernehmen« kann in der Politik heißen, dass jemand Wirtschaftsminister wird und den Waffenexport fördert; es kann aber auch heißen, dass ein Minister zurücktritt, weil unter seiner Ägide Waffenhandel gefördert wurde.7 Im oben angeführten Beispiel wurde manipulativer Journalismus mit der sozialen Verantwortung der Besitzer der Produktionsmittel für Arbeitsplätze gerechtfertigt, die man ohne hinreichend hohe Zuschauerzahlen und entsprechende Aufträge der Werbewirtschaft gefährden würde. »Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid«8, proklamiert der Ethikkodex des Presserats. Doch was hat man sich unter einer »angemessen sensationelle[n] Darstellung« vorzustellen? Im Übrigen enthält nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit eine innere Ambivalenz, sondern auch der ihm zugehörige Begriff der Mündigkeit. Darauf hat Adorno (1970: 133) hingewiesen: Einerseits sei Mündigkeit die Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft sich in Freiheit selbst bestimmen könne, ohne dass das Resultat mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungen am Ende die »Unvernunft« sei. Andererseits sei es in den bestehenden, naturwüchsigen Gesellschaften dem blinden Zufall und der Ungerechtigkeit unterworfen, ob Menschen zur Mündig7

»Früher hieß ›die Verantwortung übernehmen‹ seinen Rücktritt von einem politischen Amt erklären, in dem etwas schief gegangen war. Heute heißt ›Verantwortung übernehmen‹ aktiv in die Politik einsteigen, und ist man erst einmal drin, dann nimmt man seine Verantwortung wahr, indem man im Amt bleibt und daselbst alle Mögliche verantwortet: Waffenlieferungen in Krisengebiete, krumme Wege der Parteienfinanzierung oder Ganovenstreiche bei der Terrorismusbekämpfung.« (Türcke 1989: 86). 8 http://www.presserat.de/pressekodex/pressekodex/ (16.8.2018).

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keit fähig werden, das heißt, ob und wie sie sprechen, denken und urteilen lernen. Daher gelte es zu begreifen, »daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist« (ebd.: 142).

Instrumentalisierungsverbot Ich denke, die ethische Reflexion der Medienpraxis würde Kontur gewinnen, wenn stattdessen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, zum Begründungsargument wird. Denn das ist letztlich der normative Kern des Diskursmodells, auf das sich die Medienethik in der hier diskutierten Gestalt bezieht. Nach Kant sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass die Maxime, also der Handlungsgrundsatz, »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte« (Kant 1788: A 54). Dann würde er »die Menschheit« in sich selbst und allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck« (Kant 1785: BA 66 f.; siehe Kant 1788: 155 f.) auffassen. Kant antizipiert ein vernunftbestimmtes Allgemeines; erst als Teil davon wären wir imstande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Nach Adorno (1957, zit. nach Schweppenhäuser 2016: 111) liegt die Pointe von Kants Moralphilosophie darin, dass sie »eine Gesellschaft« kritisiert, »in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr Zweck ist.« Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und das allgemeine nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff 9 bleibt auf das Eigeninteresse konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt. Verantwortungsethik soll den Interessenantagonismus in Schach halten, bleibt aber gleichsam zahnlos, weil Verantwortung funktional in eine Vielzahl geschäftlicher Rücksichten und Verbindlichkeiten aufgelöst wird. Als Unterscheidungscode sollte daher statt »verantwortlich oder verantwortungslos« ein anderer angesetzt werden, nämlich: »richtig oder falsch« bzw. »gerecht oder ungerecht«.

9 Noch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff des Interesses oder der Interessen ganz selbstverständlich als Synonym für Zinsen verwendet. (So zum Beispiel in Gustav Freytags Erfolgsroman Soll und Haben, dessen Apologie des deutschen Bürgertums nicht nur auf der Folie einer Kritik des Adels erfolgt, sondern untrennbar aus antisemitischen und nationalistisch-antipolnischen Denkmustern hervorgeht.)

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Verständigung und Verweigerung Zwei Möglichkeiten bieten sich an: Statt »Verantwortung« könnte Medienethik entweder auf das Konzept »Verständigung« zurückgreifen oder auf das Konzept »Verweigerung«. Sie hat also die Wahl zwischen Habermas und Adorno; und vermutlich werden sich auch Perspektiven ergeben, diese Modelle zu einem dritten zu verbinden. Verständigung ist der Diskursethik zufolge das implizite Telos jeder Kommunikation. Diskursethik ist gewissermaßen eine »universalistische Minimalmoral aller Vernunftwesen« (Kettner 2004: 238). Sie leitet die Differenz zwischen Faktischem und Möglichem aus den Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen Kommunikation ab. Weil in der Struktur des Sprechens die Idee konsensueller Verständigung als normative Zielvorstellung eingelassen sei, werde »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt« (Paetzold 1990: 15), also eine gerechte Gesellschaft. Im Diskurs über Medien, so könnte man hier anschließen, dürfen nur solche Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten rational zustimmen könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen geltender Mediennormen müssen von allen Betroffenen ohne Zwang akzeptiert werden können.10 Alle, die irgendwie beteiligt sind, müssen das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs über das Mediengeschehen teilzunehmen. Nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Produzenten. Wenn die Zusammenballung kulturindustrieller Medienmacht dies verhindert, ist sie moralisch nicht zu rechtfertigen. Der Verweis auf die Verantwortung für Arbeitsplätze und die Fortsetzung der Geschäfte kann als unzureichend zurückgewiesen werden. Wer mediale Botschaften in den öffentlichen Raum stellt, muss Vernunft und Menschenwürde der Adressaten achten und bereit sein, über die Grundlagen des 10 Damit eine mediale Handlungsnorm gelten darf, »müssen« – mit den Worten von Habermas (1991: 12) – die »Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus [ihrer] allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können. – Gegen diese Übertragung von Motiven aus der Diskursethik in den medienethischen Diskurs könnten zwei Argumente ins Feld geführt werden: zum einen Habermas’ Ableitung des normativen Geltungsanspruchs aus sprach- und transzendentalpragmatischen Prämissen und zum anderen seine Neufassung des Modells einer deliberativen Öffentlichkeit als staatlicher Integrations- und Legimitationsinstanz aus den 1990er Jahren (siehe dazu Hütig 2003 sowie Schultz 2003). Mein Versuch, diskursethische Motive in eine kritische Reflexion affirmativer Medienethik einzubeziehen, scheint mir dennoch gerechtfertigt, weil er an die Spurenelemente der kritischen Theorie anschließt, die das Ethikkonzept von Habermas jenseits akademischer Selbstbeschäftigung mit philosophischen Ethikdebatten weiterhin interessant machen.

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gemeinsamen Handelns nachzudenken. In medialen Diskursvorgaben müssen die gerechtfertigten Bedürfnisse aller Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Um Verständigung zu gewährleisten, darf nie nur strategisch gehandelt werden; alle anderen müssen immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspartner anerkannt werden. Mediale Kommunikation hat das Potenzial gleichberechtigter Verständigung. Aber ihre Rahmenbedingungen werden aufgrund der »Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums« verzerrt, um es mit Habermas (1981: 400) zu sagen. Funiok möchte »unternehmensstrategische« und »gemeinwohlorientierte Zielsetzungen« harmonisiert sehen, doch sie lassen sich kaum versöhnen. Das »Vertrauen« in die Medieninstitutionen ist als Fundament für »Wertprioritäten« auf Sand gebaut. Strategische Ziele blockieren kommunikative Ziele, partikulare Interessen blockieren das vernünftige Allgemeininteresse. Soziale Machtstrukturen und Profitorientierung behindern die Sprache und die intersubjektiven Beziehungen; sie hemmen Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und mediale Kultur in ihrer Entfaltung. Dagegen ist Widerstand zu leisten. Adorno verstand unter Widerstand eine Haltung, die der Idee richtiger Praxis verpflichtet bleibt, solange diese blockiert ist, weil die Vergesellschaftung mit der Macht von Naturverhältnissen ausgestattet erscheint (siehe Jepsen 2012: 151 ff.). Widerstand wäre heute die Stellvertretung für »ein richtiges Leben« (Adorno 1963: 250). Diese wäre nicht zuletzt auch »Widerstand gegen die konkrete Gestalt der Heteronomie«, »also gegen die ungezählten von außen auferlegten Formen der Moralität«, die nicht mehr in Beziehung zum humanen und freiheitlichen Gehalt der Moralphilosophie stehen, sondern als Repressionsinstrumente »den Charakter des Bösen« (ebd.: 252) annehmen, wie Adorno es formulierte. Als bloße Beschwichtigungsformel kann auch das legitime Verantwortungsprinzip zur heteronomen Gestalt von Moralität werden – zum »guten Gewissen des Opportunismus«, um es mit einer Formulierung von Christoph Türcke zu sagen. Dies gilt aber auch für das Prinzip der Diskursethik. Zumal, wenn man – wie Matthias Kettner (2004: 238) – die Auffassung vertritt, dass Diskursethik »die individuelle wie kollektive Verantwortung […] von Argumentationsgemeinschaften für die vernünftige […] Ausübung diskursiver Macht« zur normativen Grundlage mache. Wer so argumentiert, setzt auf die moralisch integre Kraft der »guten Gründe«, an denen man sich im Handeln orientieren kann. Mit einem Wort: auf die Macht der Vernunft, die zeigt, dass es Gründe gibt, die von allen vernunftbegabten Wesen als »gute Gründe« akzeptiert werden. Eine affirmative Diskursethik tritt das aporetische Erbe idealistischer Moralphilosophie an. Nur wenn man ihre Ambivalenz nicht übersieht, kommt ihre

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Bedeutung als Einspruchsinstanz kritischer Normativität zum Tragen. Es gilt, den Universalismus der Diskursethik durch kritische Theorie zu relativieren. Gunzelin Schmid Noerr (2006 b) hat deutlich gemacht, dass »die diskursive Vernunft allein weder Quelle noch Motiv der Moralität [ist]. Der positive Universalismus eines kommunikativen Minimalkonsenses hat seine Basis im negativen Universalismus, auf den die Ethik der älteren Kritischen Theorie hingewiesen hat. Das die Menschen Verbindende ist demnach ihre Verletzbarkeit und Sterblichkeit, die Beeinträchtigung ihres Selbstwertgefühls. Adorno geht nicht, wie Habermas, von einer idealen Sprechsituation aus, sondern von den Menschen im Stand ihrer faktischen Unfreiheit, und in der wird die moralische Orientierung erfahrbar an ›Auschwitz‹ als einem Paradigma für die äußerste Verletzung der Menschen.«11 Adorno (1963: 251 f.) zufolge ist Moralphilosophie nur zu retten als Differenzbestimmung zu dem, was der Fall ist, und als kritischer Maßstab dessen, was sein könnte oder sollte. Sie muss die Frage nach der Rechtfertigung des Bestehenden aufwerfen. Ist die kritische Dimension erst einmal entbunden, dann ist die der ursprünglichen »sozialen Funktion der Moral« entgegengesetzt, die darin besteht, »die gesellschaftlichen Normen zu verinnerlichen« (Adorno 1956/57, zit. nach Schweppenhäuser 2016: 34). Erst dann ist Raum für die Autonomie des einzelnen. Aus der Ambivalenz der Moral würde nach Adorno nur herrschaftsfreie Praxis herausführen. Ihre Stellvertretung mit Blick auf die Medien wäre eine Mischung aus Verweigerung und Umnutzung, also sowohl Boykott als auch Infiltrierung der Kanäle. Zu diesen überlieferten Optionen der klassischen und neueren Moderne könnte heute der Entwurf einer autonomen Politik der Medien hinzutreten. Dieser hätte Formen des medialen Handelns zu beschreiben und zu erproben, in denen Medienpolitik nicht als Herrschaftsmittel oder als staatliche Geschäftsführung der medialen Produktionsmittel im Privatbesitz, sondern als selbstorganisierte Praxis verstanden wird. Der Verantwortungsbegriff der Medienethik ist als normatives Korrektiv des Medienbetriebs gedacht. Aber weil er so unbestimmt ist, eignet er sich vortrefflich, um dem Betrieb ein gutes Gewisses zu geben – besonders in Verbindung mit dem Öffentlichkeits-Optimismus und dem moralisch überhöhten Konzept der Demokratie. Demokratie ist eine Form politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verwaltung und Herrschaft; sie ist per se moralisch neutral, »gleichermaßen bereit, 11 Dennoch, betont Schmid Noerr, hat »die diskursethische Maxime, nach der nur solche konkreten Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen finden können, ihre notwendige Funktion, insofern in der Moderne alle moralischen Erfahrungen sich der vernünftigen Argumentation und Kritik aussetzen können müssen. Die Erfahrungen gelingenden Lebens müssen sich, um ethisch verbindlich zu sein, auch kommunikativ bewähren.« (Schmid Noerr 2006 b)

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Gutes wie Böses in sich aufzunehmen« (Türcke 1998: 90)12. Solange die öffentliche Sphäre der Medien die ideologischen Geschäfte der ökonomischen Privat-Sphäre betreibt, heißt »demokratische Verantwortung wahrnehmen« nicht viel mehr als: demokratische Herrschaft legitimieren, indem man die Zustimmung seitens der Unterworfenen sicherstellt, die kein Konzept von Widerstand entwickeln können, weil Kritik auf »Meinung« reduziert bleibt (siehe Held 1999, § 10). Wie weit die Medienerziehung in Familie und Schule weiterhelfen kann, die Rüdiger Funiok (2011: 242) fordert, um das Publikum durch »demokratische[] Medienpolitik« an seine »Mitverantwortung für die Qualitätssicherung der Medienkommunikation« zu erinnern und »die Beteiligung des Publikums […] zu verbessern«, steht dahin. Im Zuge der ökonomistischen Beschreibung sämtlicher Lebensbereiche kann Verantwortung sogar zur Geißel werden. Als Instrument der Psychologisierung sozialer Phänomene und Strukturprobleme hilft der Verweis auf die Verantwortlichkeit des Individuums dabei, ein auf Dauer gestelltes schlechtes Gewissen, sei es individuell oder kulturell, zu installieren. Auf dem harten Weg, der von Sozialstaat und öffentlicher Gesundheitsfürsorge zu Verhältnissen führt, in denen sich jeder allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im schutzlosen Konkurrenzkampf um den Lebensunterhalt aus ihm wird, ist »Eigenverantwortung« ein zentraler ideologischer Kampfbegriff geworden (Schiller 2011: 183–187). Gleichwohl kann eine kritische Theorie der Medien von der Medienethik lernen: vor allem, dass sie nicht ohne Handlungstheorie auskommt. Denn eine kritische Medientheorie sollte auch eine Kritik der systemtheoretischen Beschreibung sein, derzufolge die Steuerungsmechanismen des Systems der Massenmedien allein für die Prozesse der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien zuständig sind und normativ-ethische Ansätze als überflüssig gelten. Kritische Medientheorie hat zu rekonstruieren, wie das selbst- oder fremdbestimmte Handeln der sozialen

12 Demokratie ist »weit davon entfernt […], status pacis, Friedensstaat zu sein«. Sie stellt »in den verschiedenen Phasen ihres Bestehens verschiedene Phasen des Kampfes von Mächten, Parteien, Interessen miteinander und gegen­einander dar […]: des Kampfes um den Erweis der Souveränität, der freien Willkür, der Durchsetzung der Ansprüche« (Schweppenhäuser 2013: 183). Zwischen der Idee und der konflikthaften Realität der Demokratie besteht ein Widerspruch: Aus »dem Postulat der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung aller« folgt normativ »die gesellschaftliche Einrichtung der Demokratie und Republik, der gesellschaftliche Zustand der Menschen, in dem sie als Vernünftige, Freihandelnde, selbstregierte Wesen auch tatsächlich existieren. Wo immer also Menschen existie­ren, deren Selbstbestimmung, freies Vernunfthandeln, blockiert wird, dort ist nicht Demokratie und Republik, und wenn es hundertmal so heißt. Selbstbestimmung oder Selbstregieren – damit ist der Zentralpunkt von Herrschaft, Macht, Regime berührt« (ebd.: 182).

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Akteure jene Prozesse formt.13 »Verantwortung« könnte insofern zu einem Schlüsselbegriff einer gesellschaftstheoretisch und historisch reflektierten Ethik werden.

Literatur Adorno, Theodor W. (1957): Probleme der Moralphilosophie, Vorlesung an der Universität Frankfurt im Wintersemester 1956/57, Vorlesung vom 27. Januar 1957; zit. nach Schweppenhäuser 2016. Adorno, Theodor W. (1963): Probleme der Moralphilosophie, in: Ders., Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 10, hrsg. v. T. Schröter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996. Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hrsg. v. G. Kadelbach, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 2006. Bausch, Thomas u. a., Hg. (2000): Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, Münster u. a.: LIT. Bayertz, Kurt, Hg. (1995): Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Conrady, Helene (2001): »Die Bringpflicht der Ingenieure«, in: VDI-Nachrichten, 26.1.2001 [http://www.ingenieur.de/Panorama/Am-Rande/Die-Bringpflicht-Ingenieure (letzter Abruf: 16.8.2018). Funiok, Rüdiger (2002): »Medienethik: Trotz Stolpersteinen ist der Wertediskurs über Me­dien unverzichtbar«, in: Medien und Ethik, hrsg. v. M. Karmasin, Stuttgart: Reclam, S. 37–58. Funiok, Rüdiger (2010): »Publikum«, in: Handbuch Medienethik, hrsg. v. C. Schicha u. C. Brosda, Wiesbaden: VS, S. 232–243. Funiok, Rüdiger (2011): Medienethik. Verantwortung in der Mediengesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer. Habermas, Jürgen (1981): Philosophisch-politische Profile. Dritte erweiterte Auflage, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Held, Karl, Hg. (1999): Der bürgerliche Staat, München: Gegenstandpunkt (online: https:// de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/buergerliche-staat [letzter Abruf: 16.8.2018]). Hubig, Christoph (1991): »Probleme und Perspektiven der Wissenschaftsethik an Fachhochschulen«, in: Aufgaben des Ingenieurs und ethische Verantwortung, hrsg. v. V. Liebig, Karlsruhe: Fachhochschule Karlsruhe (Ethik 1, Report 31), S. 99–109.

13 Wer die Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit allerdings ›ableitungsmarxistisch‹ aus der Herrschaftsfunktion des bürgerlichen Staates deduziert (wie z. B. Held 1999), betreibt damit auch die abstrakte Negation kritischer Moralphilosophie.

Zur Kritik der Medienethik

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