Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum: Beiträge zur Kulturphilosophie, Metaphysik, Philosophiegeschichte, Praktischen Philosophie und Ästhetik [1. Aufl. 2023] 3662676885, 9783662676882

Philosophiehistorische Überblicksdarstellungen vermitteln häufig den Eindruck, im Wiener Kreis herrsche ein Verständnis

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Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum: Beiträge zur Kulturphilosophie, Metaphysik, Philosophiegeschichte, Praktischen Philosophie und Ästhetik [1. Aufl. 2023]
 3662676885, 9783662676882

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick
1 Kulturphilosophie
2 Metaphysik
3 Philosophiegeschichte
4 Praktische Philosophie
5 Ästhetik
6 Ausblick
Literaturverzeichnis
I. Kulturphilosophie
Moritz Schlick zwischen Schopenhauer und Nietzsche
1 Am Anfang waren Schopenhauer und Nietzsche
2 Umrisse der Nietzsche-Rezeption
3 Schopenhauer und Nietzsche in Wien
4 Schlick als Interpret von Schopenhauer und Nietzsche
5 Schluss. Nietzsche und der Krieg
Literaturverzeichnis
Schlicks Kulturbegriff im Kontext
1 Schlicks Kulturbegriff im Kontext seiner Philosophie
2 Schlicks Kulturbegriff im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über Kultur
3 Schlicks Kulturbegriff im Kontext der Sachfrage des TierMensch-Unterschiedes
Literaturverzeichnis
Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers
Die Bedeutsamkeit der Auseinandersetzung mit Schlick für das Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen
2 Die allgemeine Kritik Cassirers am sogenannten „dogmatischen Empirismus“ und dessen kulturphilosophischer Hintergrund
Schluss
Literaturverzeichnis
II. Metaphysik
Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap
1 Einleitung
2 Ein Blick ins Manifest (1929)
3 Ein, zwei Blicke in „Überwindung“ (1931) und „Scheinprobleme“ (1928)
4 Ein Blick in Carnaps Autobiographie (1963) und das Dilemma der Theologen
5 Carnaps Antworten auf Henle und Popper (1963) – und Carnaps Neurath-Rezeption
6 Wirklich ein Dilemma für den Theologen?
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Schlicks dualistischer Monismus zwischen Natur und Kultur
1 Einleitung
2 Erster Versuch – Sein und Sollen
3 Zweiter Versuch – Sorten
4 Dritter Versuch – Reihenfolge
5 Vierter Versuch – Hypothesen und Gesetze
6 Fünfter Versuch – Viskosität und Ethik
7 Freiversuch – Grammatik
8 Sechster Versuch – Zwei Reiche
9 Siebter Versuch – Kollisionsregel
10 Fazit
Literaturverzeichnis
III. Philosophiegeschichte
Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike
Literaturverzeichnis
Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen
1 Welche Quellen?
2 Die Strömung in der Tiefe
2.1 Wellen an der Oberfläche
2.2 Keine Tiefen suchen, wo keine sind
2.3 Abwegig und wenig interessant
3 Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen
3.1 Seherische Offenbarungen
3.2 Susanne K. Langer
3.3 Nicht Heinrich Gomperz
3.4 Arthur Schopenhauer
4 Mündungsdelta
Literaturverzeichnis
Antihistorismus im Wiener Kreis
1 Die Frage des Verstehens
2 Absolute Vernunft
3 Historismus
4 Der Berliner Historismus
5 Wiener Antihistoristen
6 Moritz Schlick
7 Heinrich Gomperz
8 Heinrich Neider
9 Fazit
Literaturverzeichnis
IV. Praktische Philosophie
Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung
1 Theodor und Heinrich Gomperz zur Hygiene (Diätetik)
2 Heinrich Gomperz und das Konzept der Selbstvervollkommnung
3 Leibniz und das Konzept der Vervollkommnung
4 Kants Ausführungen zur Diätetik
5 Friedrich Jodl über Vervollkommnung
6 Karl Menger
7 Victor Kraft
8 Herbert Feigl
9 Rudolf Carnap
10 Ludwig Wittgenstein
11 Ethik als Lebensform und Pflicht zur Selbstvervollkommnung
12 Ethische und theologische Grundsätze für die Mathematik
Literaturverzeichnis
Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik und der Geist des Kapitalismus oder der dritte Weg zwischen Marx und Weber als der Weg des „Marxismus eines Jesuiten“
1 Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
Kraus’ Auseinandersetzung mit Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
3 Webers protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
4 Neuraths großer Irrtum oder Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus als empirische Studie
5 Konklusion
Literaturverzeichnis
Staat als Moralproblem – Das Politische in Moritz Schlicks Kulturphilosophie
1 Einleitung: Schlick und die Kulturphilosophie
2 Die parteipolitische Dimension
3 Die effektivpolitische Dimension
4 Die moralpolitische Dimension
5 Schluss
Literaturverzeichnis
V. Ästhetik
Schlicks unvollendete Kunsttheorie
Literaturverzeichnis
Moritz Schlick über „Geniales Raten“
1 Das „Raten“ in wissenschaftlichen Kontexten
2 Schlicks Erkenntnisbegriff in Früh- und Spätwerk
3 Schlicks Ausführungen in „Logik und Erkenntnistheorie“
4 Wissenschaft und Kunst
Literaturverzeichnis
VI. Ausblick
Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma? Heinrich Scholz für und gegen den Wiener Kreis
1 Einleitung
2 Die Quellen
3 Heinrich Scholz (1884–1956): Biographischer Rahmen
4 Scholz’ Kritik am logischen Empirismus
5 Rückblende 1: Scholz und Schlick ab 1919
6 Rückblende 2: Scholz und Carnap 1922–1929
7 Schlick schreibt 1931 an Scholz – aber schickt er es ihm?
8 Reichenbachs Rezension von Scholz’ Logikgeschichte (1931)
9 Carnap und Scholz, 1931–1955
Literaturverzeichnis
Programmatisches zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein
1 Einige Dimensionen der Komplexität des Verhältnisses
2 Schwierige Datenlage & Perspektiven
3 Beispiele möglicher Einflüsse von Schlick auf Wittgenstein
Literaturverzeichnis
Personenregister

Citation preview

S T U D I E N Z U R P H I LO S O P H I E D E S 2 0 . U N D 2 1 . J A H R H U N D E R T S

M. Lemke / K. Leschke / F. Peters / M. Wunsch (Hg.)

Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum Beiträge zur Kulturphilosophie, Metaphysik, Philosophiegeschichte, Praktischen Philosophie und Ästhetik

Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts Reihe herausgegeben von Matthias Wunsch, Rostock, Deutschland Michael Großheim, Rostock, Deutschland Heiner Hastedt, Rostock, Deutschland Martin Lemke, Rostock, Deutschland Beirat Christoph Demmerling, Jena, Deutschland Gerald Hartung, Wuppertal, Deutschland Annika Schlitte, Greifswald, Deutschland Christian Thies, Passau, Deutschland

Die „Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts“ stellen ein Forum für ausführliche Auseinandersetzungen mit aktuellen philosophischen Fragestellungen sowie mit Positionen und Debatten der jüngeren Philosophiegeschichte dar. Das Anliegen der Buchreihe ist in doppelter Weise integrativ. Zum einen stammen die in den Bänden verfolgten und thematisierten philosophischen Zugänge aus der ganzen Bandbreite von Denkrichtungen des Referenzzeitraums. Zum anderen verknüpft die Reihe systematische und historische Perspektiven auf in dieser Zeit bestehende philosophische Problemlagen. Auf diese Weise liefert sie Beiträge zu einer systematisch orientierten Philosophiegeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und zum gegenwartsphilosophischen Diskurs vor dem Hintergrund seiner jüngeren philosophiehistorischen Quellen.

Martin Lemke • Konstantin Leschke Friederike Peters • Matthias Wunsch (Hrsg.)

Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum Beiträge zur Kulturphilosophie, Metaphysik, Philosophiegeschichte, Praktischen Philosophie und Ästhetik

Hrsg. Martin Lemke Institut für Philosophie Moritz-Schlick-Forschungsstelle Universität Rostock Rostock, Deutschland

Konstantin Leschke Institut für Philosophie Moritz-Schlick-Forschungsstelle Universität Rostock Rostock, Deutschland

Friederike Peters Institut für Philosophie Moritz-Schlick-Forschungsstelle Universität Rostock Rostock, Deutschland

Matthias Wunsch Institut für Philosophie Moritz-Schlick-Forschungsstelle Universität Rostock Rostock, Deutschland

ISSN 2731-5495 (electronic) ISSN 2731-5487 Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts ISBN 978-3-662-67688-2 ISBN 978-3-662-67689-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © enjoynz/Getty Images/iStock Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Inhaltsverzeichnis

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

7

I. Kulturphilosophie Moritz Schlick zwischen Schopenhauer und Nietzsche Massimo Ferrari

37

Schlicks Kulturbegriff im Kontext Matthias Wunsch

61

Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers Germinal Ladmiral

79

II. Metaphysik Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap Niko Strobach

107

Schlicks dualistischer Monismus zwischen Natur und Kultur Martin Lemke

127

III. Philosophiegeschichte Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike Friederike Peters

151

Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen Konstantin Leschke

163

Antihistorismus im Wiener Kreis Martin Lemke

189

6

Inhaltsverzeichnis

IV. Praktische Philosophie Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung Eva-Maria Engelen

223

Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik und der Geist des Kapitalismus oder der dritte Weg zwischen Marx und Weber als der Weg des „Marxismus eines Jesuiten“ Ulrich Arnswald

243

Staat als Moralproblem – Das Politische in Moritz Schlicks Kulturphilosophie Raphael Borchers & Robert Reimer

265

V. Ästhetik Schlicks unvollendete Kunsttheorie Christian Bonnet

293

Moritz Schlick über „Geniales Raten“ Julia Franke-Reddig

305

VI. Ausblick Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma? Heinrich Scholz für und gegen den Wiener Kreis Niko Strobach

327

Programmatisches zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein Ingolf Max

353

Personenregister

363

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

Der Wiener Kreis gehört nicht zu den philosophischen Denkströmungen des 20. Jahrhunderts, die heute für ihre Kulturphilosophie, Ethik oder politische Philosophie bekannt sind. Blickt man in Überblicksdarstellungen zur neueren Geschichte der Philosophie, so gewinnt man vielmehr den Eindruck, im Wiener Kreis herrsche ein Verständnis von Philosophie vor, das auf eine an der modernen Logik und den Naturwissenschaften orientierte ahistorische Spielart der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie beschränkt ist. Metaphysikfeindlichkeit scheint zum Programm gehört zu haben, während die Philosophiegeschichte oder die Ästhetik anscheinend keine Rolle gespielt haben. In der Arbeit an der Moritz Schlick Gesamtausgabe ist in jüngerer Zeit zunehmend deutlich geworden, dass dieses Bild insbesondere für einen der Initiatoren des Wiener Kreises, Moritz Schlick selbst, nicht zu halten ist. Zwar scheint es für seine Rostocker Zeit teilweise noch zu passen, doch gerade für die Zeit in Wien ab 1922 kann es keine Gültigkeit mehr beanspruchen. Schlick war Ethiker und Kulturphilosoph; in Rostock war er noch Metaphysiker und in Wien hat er über Philosophiegeschichte gearbeitet.1 Dass das eingangs skizzierte Bild einseitig ist, zeigt sich aber nicht nur in Bezug auf Schlick. In der gegenwärtigen Forschung zum Wiener Kreis insgesamt sind zwei Tendenzen zu beobachten, die dieses Bild ergänzen und teilweise korrigieren.

1

Das wird sich im Einzelnen verdeutlichen lassen, sobald einige Bände der Moritz Schlick Gesamtausgabe (Schlick, MSGA), die aktuell in Arbeit sind, publiziert sind. Zu Schlicks Ethik wird neben dem bereits vorliegenden Band MSGA I/3 der Band MSGA II/3.2 erscheinen. Seine Arbeiten zur Kulturphilosophie werden in MSGA II/4.1 versammelt. Die Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte und inwiefern Schlick bis Mitte der 1920er Jahre noch Metaphysiker war, werden MSGA II/5.2a und b dokumentieren. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_1

7

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Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

Die erste bereits in den 1980er Jahren einsetzende und bis heute andauernde Tendenz besteht darin, die gesellschaftliche Wirkung des Kreises aufzuarbeiten. Denn der Wiener Kreis war ebenso sehr, wie er ein wissenschaftliches Phänomen war, ein „Kulturphänomen“ (Strobach 2008, 281). Eine Reihe von seinen Mitgliedern war im Kontext der Wiener „Spätaufklärung“ (Stadler 1981), die durch Volksbildungsbewegung, Monistenbund, Freidenkerbewegung, Ethische Bewegung und sozialreformerische Vereine geprägt war (Stadler 1982, Teil 2; Siegetsleitner 2014, 67–88), auf vielfältige Weise gesellschaftlich und politisch engagiert. Die zweite Tendenz betrifft die philosophische Bandbreite des Wiener Kreises. In der jüngeren Forschung zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der betont wird, dass die philosophischen Interessen vieler Mitglieder des Wiener Kreises weit über die Erkenntnistheorie und die Philosophie der Naturwissenschaften hinausgehen (Uebel 2000; Mormann 2010). Das Motto dieser Forschungsrichtung kann mit Anne Siegetsleitner, einer Protagonistin dieser Entwicklung, so formuliert werden: „Das Marginalisierte in den Fokus rücken“ (Siegetsleitner 2014, 30). Siegetsleitner selbst hat dieses Vorhaben materialreich und übersichtlich für den Themenbereich „Ethik und Moral im Wiener Kreis“ verfolgt. Der vorliegende Sammelband knüpft an das genannte Motto an. Er erweitert den Blick jedoch auf weitere bisher randständige Themenkomplexe der Erforschung des Wiener Kreises. Über die Ethik hinaus rückt er auch Fragen der Kulturphilosophie, der Metaphysik, der Philosophiegeschichte, der politischen Philosophie und der Ästhetik in den Fokus. Neben Schlick geht es in den hier versammelten Beiträgen etwa um Positionen von Rudolf Carnap, Kurt Gödel, Heinrich Gomperz, Otto Neurath und Heinrich Scholz, sowie um die Auseinandersetzung dieser mit Zeitgenossen wie Ernst Cassirer, Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger, Wolfgang Köhler, Carl Schmitt, Werner Sombart, Oswald Spengler, Max Weber und etlichen mehr. Das thematische und personelle Spektrum des vorliegenden Bandes macht es ratsam, sich eingangs in gebündelter Form einen Überblick über den Stand der Forschung zur Kulturphilosophie, Metaphysik, Philosophiegeschichte, Praktischen Philosophie und Ästhetik im Wiener Kreis zu verschaffen. Damit wird unmittelbar der Einstiegspunkt für die einzelnen Aufsätze des Bandes markiert und verdeutlicht, mittelbar aber auch ein Beitrag zur Erschließung der Grundlage für weitere Forschungen auf diesen Gebieten geleistet. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts war zwar geprägt von Richtungen und Schulen, die oft auch mit bestimmten Themen und Positionen identifiziert wurden. Verstehen werden wir diese Zeit aber nur, wenn wir uns von der Vorstellung geschlossener Gruppen und einseitigen Etikettierungen lösen. Dieser Band möchte einen Beitrag leisten, die Forschung in diese Richtung voranzubringen.

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick

1

9

Kulturphilosophie

Das frühe 20. Jahrhundert wird oft als Geburtsstunde der modernen Kulturphilosophie angesehen. Der erste Beleg für die Verwendung des Begriffs ist wohl Ferdinand Tönnies’ Habilitationsschrift „Gemeinschaft und Gesellschaft. Theorem der KulturPhilosophie“ von 1881. Aber andere Philosophen der damals noch jungen Disziplin – wie Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, Georg Simmel, Heinrich Rickert, Ernst Cassirer oder Oswald Spengler – sind heute prominenter. Viele der genannten Kulturphilosophen waren Lehrer von Mitgliedern des Wiener Kreises oder übten auf diese in anderer Weise starken Einfluss aus.2 Dennoch wird der Positivismus des Wiener Kreises, der sich maßgeblich an den Ergebnissen der Naturwissenschaften orientiert, oft als Gegenpol zu kulturphilosophischen Strömungen angesehen. In diesen Strömungen lassen sich, grob gesagt, drei kulturbezogene Thematiken ausmachen: das Leiden an der Kultur (philosophische Kulturkritik), die Wissenschaften der Kultur (Philosophie der Kulturwissenschaften) und der Aufbau von Kultur überhaupt bzw. geschichtlich-konkreten Kulturen (strukturelle bzw. materiale Kulturphilosophie) (vgl. dazu Perpeet 1976). Gerade bei Moritz Schlick als Initiator des Wiener Kreises würde man nicht unbedingt erwarten, dass er versuchen würde, eine eigene Form von Kulturphilosophie zu entwickeln. Genau dies hat er jedoch getan, auch wenn er zu Lebzeiten kein Werk zur Kulturphilosophie veröffentlicht hat. Sein posthum erschienenes Buch Natur und Kultur ist eine von seinem Schüler Josef Rauscher stark überarbeitete Version eines Manuskripts, an dem Schlick seit dem Sommer 1932 gearbeitet hat. Schlick sah dieses Buch als sein Hauptwerk, leider ist es jedoch durch seinen frühzeitigen Tod unvollendet geblieben. Insbesondere der letzte Teil des geplanten Werks, das ursprünglich „Natur, Kultur, Kunst“ heißen sollte, fehlt fast komplett. In vielen bisher unveröffentlichten Schriften Schlicks ist die Kulturphilosophie von großer Bedeutung:3 In der Vorlesung Ethik und Kulturphilosophie (Schlick, A.22 und B.24), die Schlick im Wintersemester 1935/6 hielt, kritisiert er die zeitgenössische Kulturphilosophie für die Benutzung von metaphysischen Ausdrücken: „Die üblichen Systeme 2

Neurath sah Tönnies als wichtigen Lehrer und Vaterfigur (Sandner 2014, 26 u. 43), hörte Vorlesungen bei Simmel (vgl. Sandner 2014, 45) und schrieb den „Anti-Spengler“ (vgl. Neurath 1921). Schlick beschrieb in seinem Lebenslauf, dass die Vorlesungen von Dilthey ihn fesselten (vgl. Schlick, C.2a, Bl. 7), gesteht in einer Vorlesung Windelband und Rickert zu, bei der „Abgrenzung der Ziele der naturwissenschaftlichen Disziplinen von denen der kulturwissenschaftlichen gewisse Verdienste erworben“ (Schlick, MSGA I/6, 538) zu haben, kritisiert Spengler an vielen Stellen in seinem Werk und hatte regen Kontakt zu Cassirer. Vgl. Schlicks in MSGA III erscheinenden Briefwechsel sowie Mormann 2016 und im vorliegenden Band den Aufsatz von Ferrari. 3 Eine Vielzahl dieser Schriften werden in MSGA II/3.2 und II/4.1 erscheinen.

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Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

der Kulturphilosophie und Ethik leiden daran, dass man vieldeutige Ausdrücke nicht vermeidet“ (Schlick, B.24, Bl. 3). Er versucht nun, eine eigene Kulturphilosophie zu entwickeln. Jedoch bemerkt er bald, dass man die Fragen der Ethik und die der Kulturphilosophie nicht getrennt voneinander behandeln kann. Ein ähnlicher Befund findet sich in der Vorlesung Philosophie der Kultur und Geschichte (Schlick, A.19, B.5 und B.6) vom Sommersemester 1934, hier sagt Schlick: „Phil[osophie] der Kultur und Phil[osophie] der Gesch[ichte] sind eigentlich dasselbe. [...] Interessant an der ‚Geschichte‘ ist nur die Kultur. Im Wesen der Kultur liegt es, dass sie Geschichte – Entwicklung – ist.“ (Schlick, B.6, Bl. 1) In einem Fragment aus dem Nachlass von Schlick findet sich auch die Rückführung der politischen auf die kulturphilosophischen Fragen: „Das Problem der Politik ist in letzter Linie das Kulturproblem: […] eine Ordn[un]g der menschlichen Gesellschaft zu schaffen, in welcher ein Maximum an Zufriedenheit herrscht.“ (Schlick, A.134-5, Bl. 1) Schlick behauptet, eine eigene Form von Kulturphilosophie zu betreiben. Da sein Kulturbegriff so verschiedene Aspekte involviert, wie Moral, Geschichte und Politik, und sich auch von anderen Mitgliedern des Wiener Kreises Schriften zu diesen Gebieten finden lassen, könnte man vermuten, dass auch andere Mitglieder des Wiener Kreises Kulturphilosophie betrieben haben. Otto Neurath hat eine Vielzahl von politischen und soziologischen Schriften verfasst,4 jedoch hätte er selbst nicht von sich behauptet, Kulturphilosoph zu sein. Er hätte sich eher als Gesellschaftstechniker bezeichnet.5 Einen der damals am meisten gelesenen Kulturphilosophen, und zwar Oswald Spengler, kritisiert er an verschiedenen Stellen auf das Schärfste, etwa im „Anti-Spengler“ (Neurath 1921). Auch bei anderen Mitgliedern des Wiener Kreises finden sich beispielsweise ethische Schriften (etwa Menger 1934 und Kraft 1937), aber auch hier wird nicht ausdrücklich ein Bezug zur Kulturphilosophie deutlich gemacht. Gleichwohl war Schlick nicht der einzige Vertreter des Wiener Kreises, der auch Kulturphilosoph ist. Zwei andere Mitglieder des Wiener Kreises, die sich mit Kulturphilosophie, und zwar im Sinne einer Philosophie der Kulturwissenschaften beschäftigten, sind Heinrich Gomperz und Heinrich Neider. Gomperz kritisiert in „Über Sinn und Sinngebilde, Erklären und Verstehen“ (Gomperz 1929) die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften als provisorisch und vorübergehend. Neider sieht in seiner bei Schlick eingereichten Dissertation „Die Bedeutung des Verstehens für die Methode der sogenannten Geisteswissenschaften“ (Neider 1930) lediglich einen graduellen Unterschied zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften, keinen prinzipiellen. Zur weiteren Behandlung dieser Schriften siehe 4 5

Gesammelt in Neurath 1998. Zu Neuraths Gesellschaftstechnik vgl. den Beitrag von Friederike Peters in diesem Band.

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick

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im vorliegenden Band den Aufsatz „Antihistorismus im Wiener Kreis“ von Martin Lemke. Da „Kultur“ bei Schlick nur schwer trennbar ist von den Begriffen „Ethik“, „Politik“ und „Geschichte“ finden sich immer wieder kleinere Hinweise zu Schlicks Kulturphilosophie, etwa in der Sekundärliteratur zu seiner Ethik.6 Es gibt auch einige   Rezensionen zu Schlicks posthum erschienenem Werk Natur und Kultur (Dopp 1954, Kaiser 1955), eine direkte Abhandlung zum Thema „Kultur“ bei Schlick liegt bis jetzt nach unserem Wissen aber nicht vor. In dem hier vorliegenden Band finden sich nun zwei Aufsätze, die Schlicks Kulturphilosophie in den Fokus bringen. Massimo Ferrari stellt dar, inwiefern Schlicks jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Nietzsche seine Kulturphilosophie prägte. Matthias Wunsch arbeitet die systematischen Zusammenhänge in Schlicks eher weitem Kulturbegriff heraus und bettet ihn in den zeitgenössischen Kontext ein. Darüber hinaus wendet sich Germinal Ladmiral Ernst Cassirer zu und zeigt, inwiefern dessen Auseinandersetzung mit dem logischen Empirismus für die Entwicklung seines eigenen kulturphilosophischen Projekts bedeutsam war. Massimo Ferrari ergänzt das übliche Bild von Moritz Schlick als Interpret der Relativitätstheorie und Mitbegründer der wissenschaftlichen Weltauffassung, indem er den Spuren von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche in Schlicks Denken zu Fragen der Ethik, Lebens- und Kulturphilosophie nachgeht. In seiner materialreichen Studie werden Grundzüge und Umrisse der allgemeinen akademischen Auseinandersetzung mit Schopenhauer seit den 1860er Jahren und mit Nietzsche seit der Jahrhundertwende sichtbar. Was Schlick betrifft, reicht Ferraris Untersuchungszeitraum vom Erscheinen des Frühwerks Lebensweisheit (1908) bis zu einer im Wintersemester 1922/23 gehaltenen Vorlesung zu Schopenhauer und Nietzsche in Wien. Ferrari arbeitet überzeugend heraus, wie sehr Schlick für sein eigenes Denken von Schopenhauers moralphilosophischer Perspektive und Kant-Kritik und von Nietzsches kulturphilosophischer Perspektive und „Positivismus“ profitiert hat. Matthias Wunsch setzt sich in seinem Aufsatz mit (so der Titel) „Schlicks Kulturbegriff im Kontext“ auseinander. Er verdeutlicht erstens in der Binnenperspektive von Schlicks eigener Philosophie die systematischen Verhältnisse zwischen „Kultur“ einerseits und „Geschichte“, „Moral“ sowie „Natur“ andererseits. Außerdem untersucht er Schlicks Kulturdenken zweitens im Zusammenhang mit den damals zeitgenössischen Diskussionen über Kultur in den Einzelwissenschaften und in der Philosophie. Drittens erörtert er Schlicks Kulturbegriff im Horizont einer konkreten Sachfrage, und zwar der Frage, welche Rolle der Kulturbegriff für die Problematik des Unterschiedes zwischen Menschen und anderen Tieren spielt. Im Rahmen dieser 6

Siehe aber die relativ ausführliche Behandlung bei Siegetsleitner 2014, Abschnitte 9.2 und 9.3.

12

Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

dreifachen Kontextualisierung werden Grundzüge einer originellen Kulturphilosophie sichtbar, die sowohl gegenüber Schlicks Erkenntnisphilosophie als auch gegenüber seiner Ethik systematisch eigenständig ist. Germinal Ladmiral stellt in seinem Aufsatz „Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers“ dar, welche Einwände Ernst Cassirer gegen den logischen Empirismus vorbringt und wie umgekehrt diese Auseinandersetzung auf Cassirers eigene „Philosophie der symbolischen Formen“ zurückwirkt. Dabei verteidigt Ladmiral drei Thesen: Erstens war die von Cassirer mit den logischen Empiristen geführte Auseinandersetzung wichtig für seine Wende vom Marburger Neukantianismus zur Kulturphilosophie. Zweitens richteten sich Cassirers Einwände vor allem gegen den empiristischen Reduktionismus. Drittens kritisierte er Reste von kantischen Momenten im Reduktionismus, nämlich besonders die Unterscheidung von Erscheinungs- und Verstandeswelt. Im Gegensatz zum logischen Empirismus vertrat Cassirer kein neues Wahrheitsideal, dem die Wissenschaft zustreben sollte, sondern schaute der Kultur- und damit Wissenschaftsgeschichte selbst ein solches Ziel ab, der sie sich annähere.

2

Metaphysik

Wenn es um Metaphysik im Zusammenhang mit dem Wiener Kreis geht, dann in den allermeisten Fällen eigentlich um die Ablehnung der Metaphysik: Das Programm des Wiener Kreises wurde und wird sowohl von Zeitgenossen als auch der anknüpfenden Forschung, von Sympathisanten, Kritikern und Gegnern als metaphysikfeindlich, antimetaphysisch, Angriff auf die Metaphysik, Leugnung alles Metaphysischen etc. eingestuft.7 Diese Einordnung ist zunächst nachvollziehbar. In der manchmal als „Manifest“ bezeichneten Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis wird eine „nicht nur metaphysikfreie, sondern antimetaphysische Einstellung“ als gemeinsames Ziel formuliert (Carnap et al. 1929/2012, 13). Auf der Prager Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften von 1929 – auf der u. a. Mitglieder des Wiener Kreises zum ersten Mal gemeinsam international auftraten – verkündete Hans Hahn, dass ein „Großteil dessen, was in Philosophie, Metaphysik und Theologie abgehandelt wird“ als sinnlos betrachtet werden muss.8 Rudolf Carnap wählte für einen 7

Vgl. z. B. Feigl/Blumberg 1931; Ayer 1936, 3ff.; Sauter 1936; Horkeimer 1937; Haller 1993, 2 und 131; Uebel 2020, Absatz 1. 8 Hahn 1930, 98. Vgl. zur Prager Tagung Stadler 2015, 158ff.

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick

13

Aufsatz den programmatischen Titel „Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (Carnap 1931). Weitere derartige Beispiele ließen sich aufzählen. Will man nun aber das Thema „Metaphysik im Wiener Kreis“ behandeln, ist eine solche Einstufung in mindestens zwei Hinsichten problematisch: Das erste Problem ist, dass dadurch suggeriert wird, diese antimetaphysische Haltung sei eine einheitliche Position des Wiener Kreises, dass sie also von allen oder zumindest den meisten Mitgliedern des Kreises über einen langen Zeitraum hinweg vertreten wurde. Nun liegen aber bislang keine ausführlichen Studien zu einer Antimetaphysik des Wiener Kreises insgesamt vor, sondern lediglich zu einzelnen Mitgliedern, etwa Rudolf Carnap.9 Dennoch wird die Ablehnung der Metaphysik im Endeffekt oft als charakteristisch für ‚den‘ Wiener Kreis erklärt (vgl. Köhler 1991, 131), ein Bild, das sich nach wie vor auch in allgemeinen philosophiehistorischen Darstellungen niederschlägt.10 Das ist merkwürdig, weil das Bild eines einheitlichen, geschlossenen Wiener Kreises in der Forschung eigentlich seit langem problematisiert wird.11 Auch wird die Haltung zur Metaphysik im und um den Wiener Kreis, z. B. anhand von Moritz Schlicks und Ludwig Wittgensteins Kritik am „Manifest“, nicht mehr als homogen betrachtet.12 Diesen Problemkreis betreffen auch die Beiträge von Niko Strobach, die anhand von Rudolf Carnap und Heinrich Scholz dazu beitragen sollen, die Positionen, die im und um den Wiener Kreis zu metaphysischen Themen vertreten wurden, weiter zu differenzieren. Das zweite Problem ist, dass auf diese Weise nicht die Metaphysik des Wiener Kreises im Fokus steht, sondern etwas, was man dessen „Meta-Metaphysik“ nennen könnte:13 Nicht die Thesen und Argumente von Mitgliedern des Wiener Kreises, die als metaphysisch einzuordnen sind, werden in den meisten Fällen thematisiert,14 sondern, was sie über die Metaphysik sagen – z. B. welche Sätze aus welchen Gründen als metaphysisch und damit als sinnlos eingestuft werden sollten.15 Beide Probleme haben miteinander zu tun: Wenn man den Wiener Kreis – aus welchen Gründen auch immer – als einigermaßen einheitliche, antimetaphysische

9

Siehe etwa Creath 2014 und 2017; Damböck 2018 und Moreira 2018. Kenny 2012, 69f.; Basile/ Röd 2014, 287–294; Ruffing 2015, 290f. 11 Haller 1982, 26; Stadler 2015, 67; Uebel 2020, Abschnitt 1. 12 Haller 1993, 7; Stadler 2015, 285ff.; Sigmund 2018, 139f. 13 Moreira 2018. In z. B. Quine 1951 wird über die Meta-Metaphysik von Carnap geschrieben, in Hintikka 1991 wiederum sowohl über Carnaps Meta-Metaphysik als auch über die Kritik von Quine und anderen. Es lassen sich vermutlich einige „Meta“s vor „Metaphysik“ aneinanderreihen. 14 Gadenne 2003; Wendel 2010 u. 2013a/b. 15 Köhler 1991, Abschnitte 3 u. 4; Uebel 2020, Abschnitte 3.1 u. 3.6. 10

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Martin Lemke, Konstantin Leschke, Friederike Peters, Matthias Wunsch

Bewegung charakterisiert, fragt man nicht nach den metaphysischen Thesen und Argumenten seiner Mitglieder. Wenn man nicht nach solchen Thesen fragt, kann man das vorgefasste Bild aber nicht prüfen. Die Aufsätze in diesem Sammelband sollen einen Beitrag dazu leisten, die Metaphysik des Kreises selbst in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne greift auch Martin Lemke in seinem Beitrag eine These von Schlick – den Dualismus von Natur- und Kulturgesetzen – auf und prüft ihren möglichen metaphysischen Charakter. Niko Strobach zeigt in seinem Beitrag „Theologie bei Rudolf Carnap“, dass Carnap trotz heftiger Kritik an der Metaphysik auch sinnvolle Theologie zuließ. Es könnte sich zwar herausstellen, dass sie falsch ist, im Gegensatz zur Metaphysik ist sie aber nicht sinnlos. Dabei muss man Theologie im ursprünglichen Wortsinn, als „Rede über Gott“, verstehen. Strobach zeigt, dass Carnap damit eine deutlich differenziertere Position vertrat als diejenige, die im „Manifest“ des Wiener Kreises formuliert ist. Dort wird die gesamte Theologie verworfen. Interessant ist, dass bei Carnap nicht die hoch entwickelte abstrakte Theologie übrigbleibt, sondern eine mythologische und empirische Theologie, die sich in einer physikalistischen Sprache darstellen lässt, die Theologen jedoch vor ein Dilemma stellt. Martin Lemkes Aufsatz „Schlicks dualistischer Monismus zwischen Natur und Kultur“ untersucht, ob sich zwei Thesen konsistent zusammen vertreten lassen, die Moritz Schlick vertrat und die zumindest in Europa auch heute noch zu den philosophischen Alltagsintuitionen gehören: der Monismus der Erfahrung und der Dualismus der Gesetze. Ersterer behauptet, dass die Erfahrung die einzige Möglichkeit ist, wissenschaftlich zu begründen. Letzterer besagt, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen Naturgesetzen und Gesetzen der Kultur – z. B. Spielregeln, Verordnungen, ethischen Normen – gibt. Wenn der Monismus zutrifft, dann muss der Dualismus allein durch Erfahrung begründet werden können. Kann er es nicht, dann muss er als metaphysische These betrachtet werden. Der Aufsatz spielt sieben Begründungsversuche durch, die Schlick im Laufe seiner Karriere nur andeutete, und zeigt, wo sie scheitern und dass sie scheitern mussten. Der Dualismus der Gesetze ist eine metaphysische These Schlicks, über deren metaphysischen Charakter er sich wahrscheinlich nicht bewusst war.

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Philosophiegeschichte

Die Beschäftigung des Wiener Kreises mit der Philosophiegeschichte ist kaum erforscht. Thomas Uebels Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy fasst den aktuellen Stand wie folgt zusammen:

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„Much confusion exists concerning the Vienna Circle and history, that is, both concerning the Vienna Circle’s attitude towards the history of philosophy and science and concerning its own place in that history. As more has been learnt about the history of the Vienna Circle itself – the development and variety of its doctrines as well as its own prehistory as a philosophical forum – this confusion can be addressed more adequately.“ (Uebel 2020)

Zwei Phänomene, die miteinander zusammenhängen, charakterisieren die Beschäftigung des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts mit der Philosophiegeschichte. Eines ist der Streit um den Historismus. Die historistische Betrachtungsweise der Geschichte insgesamt und der Philosophie ist gekennzeichnet durch eine „rein empirische Betrachtungsweise“ sowie die „Vertiefung in die Besonderheit“ und will den „Wert des einzelnen Tatbestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung bestimmen“ (Dilthey 1883, XVI). Historisten glaubten also nicht, dass es Begriffe gibt, die in der ganzen Geistesgeschichte anwendbar sind und es erlauben, Entwicklungstendenzen und Bewertungen festzustellen. Der Streit um den Historismus erfasste alle Geisteswissenschaften vom Recht bis zur Kunstgeschichte, von der Nationalökonomie bis zur Philologie. Diese Debatten sind größtenteils und auch schon recht lange gut erforscht. Schon 1936 verfasste Friedrich Meinecke Die Entstehung des Historismus. Einen aktuelleren Überblick bietet Friedrich Jaegers und Jörg Rüsens Geschichte des Historismus (1992). Auf den Wiener Kreis wird dabei nicht eingegangen. Dabei liegt es nahe, das Verhältnis des Wiener Kreises besonders zum Berliner Historismus zu erforschen. Denn es gibt sowohl inhaltliche als auch biographische Verbindungen. Empirismus und Metaphysikkritik wurden auch von Dilthey und seinen Schülern vertreten. Moritz Schlick und Victor Kraft haben bei Dilthey studiert, Kraft zusätzlich bei Simmel. Otto Neurath studierte auch in Berlin und wurde durch Gustav von Schmoller promoviert, Heinrich Gomperz studierte bei Harnack Kirchengeschichte. Mit dem Historismus-Problem war das zweite Phänomen verbunden, und zwar die Entstehung der modernen Hermeneutik. Wenn eine historische Epoche nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann, stellte sich die Frage, mit welcher Methode das möglich sein soll. 1808 beschrieb Friedrich Ast in seinen Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik den später sogenannten hermeneutischen Zirkel (Ast 1808, 179–185). Von da an begann eine heute gut erforschte Diskussion, die unter anderem über Friedrich Schleiermacher, Kuno Fischer, Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer über die französische Philosophie bis heute reicht. In der von Axel Bühler herausgegebenen Aufsatzsammlung Unzeitgemäße Hermeneutik geht es um die Entstehung der modernen Hermeutik in der Aufklärung

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bis etwa zu Schleiermacher (Bühler (Hg.) 1994). Einen guten Überblick von da an bietet die Monographie Verstehen und Rationalität von Oliver R. Scholz (2016). Er beschreibt darin auch knapp die Einflüsse der Diskussion auf die Sprachphilosophie Gottlob Freges, Alfred Tarskis und Willard Van Orman Quines. Den Einfluss der Hermeneutik auf Freges Logik beschreibt auch Wolfgang Detel in einem eigenen Kapitel von Geist und Verstehen (2011). Darin findet sich zudem ein Unterkapitel zum logischen Empirismus (Detel 2011, 269–283), das jedoch auf Verstehen nur im Zusammenhang mit dem empiristischen Sinnkriterium eingeht. Christian Damböck hat in seinem Buch über den Deutschen Empirismus gezeigt, dass eine indirekte Beeinflussung Carnaps durch Dilthey-Schüler wahrscheinlich ist (Damböck 2017). Aber die Einflüsse der Hermeneutik auf den ganzen Wiener Kreis sind unerforscht. Tatsächlich gab es eine Auseinandersetzung mit der Hermeneutik und dem Historismus im Diskussionszirkel um Heinrich Gomperz. Die personelle Einbindung dieses Gesprächszirkels in das Gesamtphänomen „Wiener Kreis“ ist trotz spärlicher Quellenlage zwar gut erforscht (Stadler 2015, 241–250), aber die inhaltliche Aufarbeitung   steht noch aus. Das ist insofern eine empfindliche Lücke, als aus dem Gomperz-Kreis heraus zwei große Arbeiten zur Auseinandersetzung mit der Hermeneutik entstanden, und zwar Gomperz’ Sinn und Sinngebilde von 1929 und Heinrich Neiders Dissertation Die Bedeutung des Verstehens für die Methode der sogenannten Geisteswissenschaften, die von Schlick betreut und bewertet wurde. Schlick selbst kritisierte die Hermeneutik 1927 und 1929.16 Beim jetzigen Forschungsstand ist nicht klar, ob die Kritik an der Hermeneutik und dem Historismus eine Position des ganzen Kreises ist oder auf Gomperz, Neider und Schlick beschränkt blieb. Auch die Art der vorgebrachten Argumente ist noch unklar. Mit dem Historismus-Problem wurde die Geschichte der Philosophie selbst zu einem philosophischen Problem. Das ist umso mehr der Fall, da die Sache auch umgedreht werden kann. Nicht die Philosophie fragt sich, wie ihre Geschichte richtig zu schreiben ist, sondern die Geschichte kann dazu befragt werden, welches die richtige Philosophie ist. Entsprechend wuchs das Interesse von Philosophen, die Geschichte ihres Fachs zu studieren, um daraus Argumente für die Richtigkeit ihrer eigenen Position zu ziehen. Karl-Heinz Lembeck hat dies für Paul Natorps und Hermann Cohens Platon-Lektüre gezeigt und diese Art, sich mit Philosophiegeschichte zu befassen, als „Philosophiegeschichtsphilosophie“ bezeichnet (Lembeck 1994, 1). Vittorio Hösle untersucht in Wahrheit und Geschichte, wie besonders die Philosophen von Parmenides bis Platon immer wieder als Quelle für philosophische Argumente herangezogen 16

Siehe die Vorrede zu dem Buch von Waismann über Wittgensteins Philosophie (Schlick, MSGA II/1.2, 65–86) und den Vortrag über „Philosophie und Naturwissenschaft“ (Schlick, MSGA I/6, 521– 545).

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wurden, und nennt diesen Zugang „Theorie der Philosophiegeschichte“ (Hösle 1984, 148). Neben Cohen und Natorp sind weitere Philosophen zu nenen, die sich auf diese Weise mit der Geschichte ihres Fachs auseinandersetzten. Friedrich Albert Lange schrieb etwa seine Geschichte des Materialismus, um die Falschheit genau dieser Position aus ihrem vielmaligen Scheitern nachzuweisen. Ähnliche Arbeiten sind das Weltproblem Joseph Petzoldts, Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob oder Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Schlick hat sich mit allen vier genannten Werken befasst und arbeitete in den 1930er Jahren an einer großen Monographie, in der er selbst in der beschriebenen Weise vorging. Darin versuchte er zu zeigen, dass die Eleaten einen Fehler gemacht hatten, der unmittelbar zur Entstehung der Metaphysik und mittelbar der ganzen Philosophie bis heute führte. Zusammen mit dem Beitrag von Eva-Maria Engelen über „Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-)Vervollkommnung“ bezeugen die Beiträge dieses Teils des vorliegenden Sammelbandes, wie intensiv sich zentrale Figuren im und um den Wiener Kreis mit der Philosophiegeschichte, insbesondere der antiken Philosophie, sowie mit ihren methodologischen Problemen beschäftigt haben. In ihrem Aufsatz „Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike“ arbeitet Friederike Peters heraus, auf welchen philosophiehistorischen Quellen die Einheitswissenschaft im Allgemeinen und die Gesellschaftstechnik im Speziellen aufbaut. Die Antike ist hierbei von fast schon überraschender Wichtigkeit bei Neurath. Bei der Ausarbeitung vom „Plan der Pläne“ zur Umstrukturierung und Sozialisierung der Gesellschaft werden erstaunlich oft Parallelen zu der antiken Schule der Epikureer gezogen und sogar direkte Linien von Epikur zu Marx aufgezeigt.   Mit der epikureischen Glückslehre, der Kritik an der Metaphysik und mit modernen Methoden wie der statistischen Erhebung soll der Proletarier zum Gesellschaftstechniker gebildet werden. Die Untersuchung der Selbst-Einordnung in eine antike Philosophietradition bringt überraschende Ergebnisse zutage, wie die Nähe der Magie der Frühzeit zur wissenschaftlichen Weltanschauung. Konstantin Leschke rekonstruiert in seinem Beitrag „Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen“ Schlicks Position. Im Fokus stehen vor allem Schlicks um 1927 verfasste „Vorrede“ zu den von ihm herausgegebenen Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung sowie die „Historische Einleitung in die Philosophie“ von 1935. Schlick versuche, die ganze Philosophiegeschichte auf einen Irrtum bei den Eleaten zurückzuführen und dem von ihm bevorzugten Empirismus eine herausragende Stellung in der Philosophiegeschichte zuzuweisen, da dieser den Irrtum zurücknehmen könne. Dabei gehe Schlick bei der Auswahl der Quellen für seine Dar-

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stellung der Philosophiegeschichte nicht unvoreingenommen vor. Leschke argumentiert, Schlick mache sich darum genau dessen schuldig, was er selbst in der Vorrede in Bezug auf die Philosophiegeschichtsschreibung kritisiere. Martin Lemke zeigt in seinem Aufsatz zum „Antihistorismus im Wiener Kreis“ anhand biographischer Verbindungen mit bisher wenig beachteten Texten, wie der Wiener Kreis von den Debatten um Historismus und Hermeneutik beeinflusst wurde und wie er sie weitergeführt hat. Im Mittelpunkt stehen pars pro toto Heinrich Gomperz, Neider und Schlick. Lemke zeigt, dass sich die drei intensiv mit den Berliner Historisten um Dilthey befasst hatten und eine Gegenposition entwickelten, nach der die Methoden der Geisteswissenschaften zwar nicht ganz überflüssig, aber doch nur Provisorien sind, die sich beim weiteren Fortschritt der Wissenschaften erübrigen werden. Insbesondere Schlicks Überlegungen ähnelten denjenigen Hegels zur Geschichte der Philosophie. Schlick nahm wie Hegel an, dass es einen absoluten Standpunkt gibt, von dem aus sich der Hergang der Philosophiegeschichte bewerten lässt. An die Stelle des absoluten Geistes setzte Schlick ab 1929 die Logik Freges und Russells.

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Praktische Philosophie

Um den Forschungsstand im Feld der Praktischen Philosophie zu dokumentieren, möchten wir auf vier Punkte eingehen: auf die Dokumentation des praktischen Engagements von Mitgliedern des Wiener Kreises, auf den Diskussionsstand zur logisch-empiristischen Ethik bzw. Moralphilosophie, d. h. der praktischen Philosophie im engen Sinn, auf Forschungen zur Auseinandersetzung von Mitgliedern des Wiener Kreises mit Fragen der Lebensführung und auf einige Untersuchungen von Positionen, die im Wiener Kreis zur praktischen Philosophie im weiten Sinn vertreten worden sind, also etwa in der Sozialphilosophie, politischen Philosophie, Rechtsphilosophie und philosophischen Pädagogik.17 Gut dokumentiert ist, dass sich eine Reihe von Mitgliedern des Wiener Kreises in Fragen der Schulreform und in der Volksbildungsarbeit engagiert hat,18 letzteres insbesondere durch Lehrtätigkeit an Wiener Volkshochschulen (Stadler 2015, 316– 350). Eine innovative und einflussreiche gesellschaftliche Institution für die Volksund Arbeiterbildung war auch das von Otto Neurath initiierte „Gesellschafts- und 17

Auf den Forschungsstand zur Kulturphilosophie im Wiener Kreis sind wir bereits weiter oben eingegangen. 18 Siegetsleitner 2014, 70–73; Stadler 2015, 309–316.

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick

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Wirtschaftsmuseum in Wien“ (1925–1934). In den Ausstellungen des über Wien und Österreich hinaus wirksamen Museums ging es darum, soziale Themen (Arbeit, Städtebau, Sozialversicherung, Sozialhygiene) und ökonomische Zusammenhänge mit den Mitteln der Statistik für einen möglichst breiten Adressatenkreis bildhaft darzustellen.19 Gegen Ende der 1920er Jahre ist zudem der „Verein Ernst Mach“ (1928– 1934) gegründet worden, der ein wichtiges Instrument zur Förderung und Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung im Rahmen von Vorträgen und Veröffentlichungen war und dessen Geschichte in der Forschung schon seit einiger Zeit gut aufgearbeitet ist (Stadler 1982, 135–212). Im Gründungsaufruf des Vereins, in dem etwa Moritz Schlick sowie Hans Hahn als Obmänner und Otto Neurath sowie Rudolf Carnap als Schriftführer fungierten, kommt das Selbstverständnis zum Ausdruck, dass „die öffentliche und private Lebensgestaltung“ „gedankliche[r] Werkzeuge“ bedarf, die insbesondere der „moderne[] Empirismus“ formen kann (Stadler 2015, 153). Das gesellschaftliche Engagement von Mitgliedern des Wiener Kreises wird manchmal auch als die politische Dimension ihrer Metaphysikkritik gesehen.20 Die „Wissenschaftliche Weltauffassung“, so der Titel des bereits erwähnten, als Gemeinschaftsarbeit von Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath entstandenen „Manifests“ des Wiener Kreises, ist nicht nur eine theoretische Auffassung von Welt, sondern geht auch mit einer politischen Haltung zur Gesellschaft einher. Der programmatischen Formulierung des Manifests zufolge „durchdringt“ der „Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen des persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst“ und hilft, „die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen [zu] leiten“ (Carnap et al. 1929/2012, 30). In dem Text fehlt weitgehend die philosophische Reflexion auf diese Durchdringung und Leithilfe. Das ist dem Charakter eines Manifests geschuldet. In der Forschungsliteratur wird aber auch auf eine wichtige konzeptionelle Schwäche des Texts hingewiesen. Er gehe von einem grundlegenden Gegensatz zwischen Wissenschaft und Leben aus, um dann eine „mysteriöse osmotische Beziehung“ zwischen ihnen zu postulieren (Mormann 2013, 106f., 111), indem er abschließend erklärt: „Die Wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben, und das Leben nimmt sie auf“ (Carnap et al. 1929/2012, 30). Ebenso tiefliegend ist das in der Forschungsdiskussion bereits länger bekannte Problem der Vereinbarkeit des im Manifest dargelegten praktische Fragen umfassenden Rationalitätsprogramms mit der theoretischen Konzeption des Logischen Empirismus: Die rationalen Grundsätze, nach denen das gesellschaftliche Leben gestaltet werden soll, können

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Sandner 2014, 176–194; Hartmann (Hg.) 2015; Stadler 2015, 351–362; Nemeth 2019. Stadler 2015, 262f.; Damböck 2018; Uebel 2005.

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keinen Bestand haben, wenn normative Sätze den theoretischen Grundannahmen des Logischen Empirismus zufolge sinnlos sind (Hegselmann 1984, 58–61). In der jüngeren Forschung hat sich allerdings herausgestellt, dass eine Auffassung logisch-empiristischer Ethik zu eng ist, nach der deren legitime Aufgabe nicht in der normativen oder inhaltlichen Ethik bestehen könne, sondern nur in der Analyse der moralischen Sprache oder in empirischen Untersuchungen etwa zur Moralpsychologie oder -soziologie. Eine solche Auffassung, die Anne Siegetsleitner in ihrer weitgespannten Studie zur Ethik und Moral im Wiener Kreis als die „Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik“ beschreibt, könne sich zwar „auf ein paar Stellen bei Carnap und auf die Position Ayers“ berufen, keinesfalls aber stellvertretend für die anderen Mitglieder des Wiener Kreises geltend gemacht werden (Siegetsleitner 2014, 65). Besonders eindrücklich zeigt sich dies in den einzelnen Untersuchungen der Studie zu Karl Menger, Otto Neurath, Philipp Frank, Moritz Schlick, Victor Kraft und Herbert Feigl.21 Hinsichtlich der Bedeutung der Ethik und von Fragen der Lebensführung für die verschiedenen Mitglieder des Wiener Kreises stellt Moritz Schlick einen Sonderfall dar. Denn „[e]thische und lebensphilosophische Probleme“, darauf hat Massimo Ferrari hingewiesen, stehen „nicht am Rande, sondern im Zentrum der Philosophie Schlicks von seinen ersten Anfängen an bis zur Blütezeit des Wiener Kreises“ (Ferrari 2016, 7). Indem dies in der Forschung zunehmend deutlich werde, so fasst Ferrari mit Blick auf neuere Publikationen zusammen, erscheine es „plausibel, ein anderes Bild des Propheten der wissenschaftlichen Philosophie zu zeichnen und seine Einordnung innerhalb des Logischen Empirismus zum Teil zu revidieren“ (Ferrari 2016, 7). Doch Schlick ist nicht der einzige Vertreter des Wiener Kreises, über den ein Umlernen in Bezug auf Fragen der Lebensführung und nach dem Sinn des Lebens im Gange ist. Gegenwärtig rückt auch Kurt Gödel, der als Student Mitglied des Kreises war, stark in den Fokus der Forschung. Er hat individualethische Überlegungen zu Fragen der Lebensführung angestellt, die kürzlich etwa im zweiten Nachlassband seiner Philosophischen Notizbücher erschienen sind (Gödel 2020). Der vorliegende Band enthält dazu einen Aufsatz der Herausgeberin der Notizbücher, Eva-Maria Engelen. Geht man von dem Forschungsergebnis aus, dass die „Mitglieder des Wiener Kreises in ihrer moralischen Grundausrichtung“ übereinstimmen, für die Feigls und Carnaps Terminus „wissenschaftlicher Humanismus“ angemessen ist (Siegetsleitner 2014, 403), dann stellt sich die Frage, wie praktische Philosophie im weiten Sinn im 21

Siegetsleitner 2014, 163–402. Siehe auch die Beiträge zu verschiedenen dieser Autoren in Siegetsleitner (Hg.) 2010; zu Carnap siehe Schilpp 1963, speziell zu seiner Ethik auch Siegetsleitner 2014, 89–162, sowie Damböck 2022; zur Ethik bei Menger siehe Czaniera 1997.

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Logischen Empirismus verstanden werden kann. Auf diese Weise wird über die Ethik im engen Sinn hinaus nach der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie, der Rechtsphilosophie und der philosophischen Pädagogik im Logischen Empirismus gefragt. Für die Sozialphilosophie und die politische Philosophie hat insbesondere Otto Neurath wichtige Beiträge geliefert (z. B. Neurath 1928 u. 1931). Diese Dimension seines Schaffens wird prägnant in der von Günther Sandner verfassten intellektuellen und politischen Biographie zu Neurath herausgearbeitet.22 Auch Neuraths Arbeiten zur Ökonomie sind Gegenstand neuerer Diskussionen (Nemeth et al. (Hg.) 2007), unter anderem in ihrem Verhältnis zu Max Weber (Uebel 2019). Neuraths Auseinandersetzung mit Weber, hier mit dessen Buch zur protestantischen Ethik und dem Geist der Kapitalismus, ist auch ein Thema des vorliegenden Bandes, und zwar in einem Beitrag von Ulrich Arnswald. Weitere Forschungen zum Begriff und Ort des Politischen im Wiener Kreis stellen ein Desiderat dar. Im vorliegenden Band gehen Raphael Borchers und Robert Reimer diese Aufgabe mit Blick auf Moritz Schlick an. Zur Rechtsphilosophie im Wiener Kreis liegt eine von Eric Hilgendorf eingeleitete und herausgegebene Sammlung von Texten zur Moral- und Rechtsphilosophie des Logischen Empirismus vor (Hilgendorf (Hg.) 1998). Außerdem gibt es den von Friedrich Stadler herausgegebenen Sammelband zu Felix Kaufmann, der Mitglied des Kreises und in Wien Privatdozent für Rechtsphilosophie war.23 Für die Bildungsphilosophie und philosophische Pädagogik im Wiener Kreis ist es wiederum Otto Neurath, dem eine hervorragende Bedeutung zukommt. Seine in den Kontext der Wissenschaftlichen Weltauffassung eingebettete aufklärungsorientierte Bildpädagogik ist in jüngerer Zeit erstmals Gegenstand einer umfassenden monographischen Darstellung geworden (Groß 2015). Im Wiener Kreis wurde die Idee einer allgemeinen Moral weitgehend abgelehnt. Die obersten Prinzipien einer solchen Moral lassen sich mit dem erkenntnistheoretischen Hintergrund des Kreises nicht begründen. Eva-Maria Engelen weist in ihrem Beitrag „Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-)Vervollkommnung“ an den Aufzeichnungen Kurt Gödels nach, dass damit dennoch nicht gezeigt wäre, dass eine Ethik im Wiener Kreis unmöglich wäre. Gödel vertrat in seinen Notizen eine an der antiken Ethik orientierte Individualethik, deren Ziel die Selbstvervollkommnung ist. Engelen rekonstruiert die Grundlinien aus Gödels Manuskripten. In einem abschließenden Schritt weist sie nach, dass diese Ethik nicht unverbunden

22 23

Sandner 2014; außerdem: Cartwright et al. (Hg.) 1996; Smith 2000; Sandner 2019. Stadler (Hg.) 1997; vgl. zudem Jabloner/Stadler (Hg.) 2001.

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neben Gödels mathematischen Arbeiten steht, sondern Gödels Art, Mathematik zu treiben, durch diese Individualethik und ihre heuristischen Maximen bestimmt ist. In seinem Beitrag „Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik und der Geist des Kapitalismus oder der dritte Weg zwischen Marx und Weber als der Weg des ‚Marxismus eines Jesuiten‘“ rekonstruiert Ulrich Arnswald die Entstehung eines „unproduktiven Missverständnisses“: Die Äußerungen Otto Neuraths über Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus lassen Arnswald zufolge darauf schließen, dass ersterer Webers Buch lediglich über Johann Baptist Kraus’ Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus rezipiert hat. Diese Rezeption aus zweiter Hand führe zu zahlreichen Fehldeutungen – insbesondere in Bezug auf Webers Idealtypen und die Bedeutung von „Geist“ –, die Arnswald auch anhand einer eigenen Weber-Exegese aufzeigt. Wo Neurath Weber einen vulgären Idealismus unterstellt, sieht Arnswald ein gemeinsames Anliegen von beiden, nämlich eine empirisch ausgerichtete Soziologie. Dass Neurath diese Gemeinsamkeit aufgrund seiner vorbelasteten Rezeption nicht erkennen konnte, ist für Arnswald die eigentliche „Tragik“ dieses Missverständnisses. In dem Aufsatz „Staat als Moralproblem – Das Politische in Moritz Schlicks Kulturphilosophie“ plädieren Raphael Borchers und Robert Reimer dafür, Schlicks kulturphilosophische Überlegungen zum Staat als politische ernst zu nehmen. Um das zu begründen, unterscheiden sie drei politische Dimensionen im Wiener Kreis bzw. bei Schlick. In der parteipolitischen Dimension führen die Autoren vor allem auf historischer Ebene aus, wie die Rezeption des Wiener Kreises als apolitisch zustande kam und warum Schlick Neuraths Schrift Empirische Soziologie so vehement ablehnte. In der effektivpolitischen Dimension wird einerseits dargestellt, wie einige Mitglieder des Wiener Kreises im Manifest Wissenschaftlichkeit als aufklärerischen Fortschritt, der reale Verbesserungen der Lebensverhältnisse von Menschen mit sich bringt, interpretieren. Andererseits wird ausgeführt, wie sich Schlick einer polemischen Wertauseinandersetzung enthält; er präferierte eine eher indirekt politische Mitgestaltung durch die Wissenschaft. In der moralpolitischen Dimension wird gezeigt, welche Uneindeutigkeiten in Schlicks Schriften zur Moral und Kultur gefunden werden können, nicht zuletzt, weil sich die beiden Begriffe für ihn nicht trennen lassen.

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Ästhetik

In einem Aufsatz zur „werttheoretischen Dimension im Wiener Kreis“ mit dem Titel „Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst“ hat Friedrich Stadler zurecht bemerkt, dass es „keine explizite Kunsttheorie im Wiener Kreis [gibt], auch nicht von einzelnen Mitgliedern“ (Stadler 1995, 635). Trotzdem lassen sich in einigen Texten von Mitgliedern des Wiener Kreises zumindest ästhetische Ansätze finden. Auch hierzu hat sich die Forschung in den letzten Jahren weiterentwickelt. Von Moritz Schlick stammt ein Aufsatz explizit zu einem ästhetischen Thema: „Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung“, der 1909 im Archiv für die gesamte Psychologie erschien, und in vielen seiner ethischen Texte klingen ästhetische Überlegungen an. Hier sind vor allem die Texte Lebensweisheit (Schlick, MSGA I/3, 43–332), „Vom Sinn des Lebens“ (Schlick, MSGA I/6, 99–125) und „Der Sinn des Lebens“ (Schlick, A.71) sowie das unvollendete Werk „Natur, Kultur, Kunst“ zu nennen. Darüber hinaus gibt es dazu zahlreiche weitere Fragmente im Nachlass. Neurath, der Generalsekretär des Österreichischen Siedlungs- und Kleingartenverbands und Direktor des Museums für Siedlungs- und Städtebau in Wien war, verfasste einige Schriften zur Architektur, unter anderem auch zum Bauhaus: „Das neue Bauhaus in Dessau“ (Neurath 1926). Dass einige Mitglieder des Wiener Kreises zu Vorträgen nach Dessau eingeladen wurden (u. a. Neurath, Carnap und Feigl), legt schon historisch eine gewisse Verwandtschaft nahe. Die Nähe des Logischen Empirismus zur Architektur allgemein und vor allem zu „sachlichen“ Architekturschulen wurde in der Forschung verschiedentlich dokumentiert.24 Bei Neurath finden sich auch an den Schnittstellen zur Pädagogik immer wieder Annäherungen an ästhetische Themen, vor allem in seinen bildpädagogischen Schriften (gesammelt in Neurath 1991), aber auch bei Victor Kraft, etwa in seinem Aufsatz „Kind und Kunst“ (Kraft 1906). Historisch lassen sich Einflüsse des Logischen Empirismus auf verschiedene Kunstformen nachweisen. Dies gilt etwa für die Literatur oder die bildende Kunst.25 Als Sammelwerke, die mehrere der hier bereits aufgezählten Themengebiete behandeln, seien Arnswald/Stadler/Weibel (Hg.) 2019 erwähnt sowie die beiden Bände Blaukopf 1996 und Seiler/Stadler (Hg.) 2000, die im Projekt „Wissenschaftliche

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Brachliotis/Bessai 2019; Galison 2001; Dahms 2001. Siehe als Sammelband zu dieser Thematik auch Thurm-Nemeth (Hg.) 1998. 25 Zu ersterer vgl. Scherer 2019 u. 1993; Schmidt-Dengler (Hg.) 1998. Zu letzterer vgl. Hörisch 2019 u. Weibel 2019.

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Weltauffassung und Kunst. Kunst, Kunsttheorie und Kunstforschung im wissenschaftlichen Diskurs“ des Instituts Wiener Kreis entstanden sind. Weitgehend unbeleuchtet geblieben ist bis heute ein mögliches Verhältnis von Ästhetik und Erkenntnistheorie im Wiener Kreis.26 In Bezug auf Moritz Schlick ergibt sich hier ein ambivalentes Bild, das in den beiden Beiträgen von Christian Bonnet und Julia Franke-Reddig deutlich wird: Einerseits lassen sich Zeugnisse dafür anführen, dass Kunst für Schlick mit Erkenntnis nichts zu tun haben soll; andererseits lässt sich das geniale Raten, das in Schlicks Erkenntnistheorie eine Rolle spielt, am besten mit Hilfe von Konzepten aus der Ästhetik verstehen. In seinem Aufsatz „Schlicks unvollendete Kunsttheorie“ gibt Christian Bonnet einen Überblick über Schlicks Beschäftigung mit der Kunst, die einen Großteil von dessen Schaffen durchzieht, von seinem frühen Werk Lebensweisheit (1908) bis zu seinem unvollendeten „Natur, Kultur, Kunst“ (entstanden 1936). Bonnet stellt dar, wie Kunst – obwohl sie für Schlick „überhaupt nichts“ mit Erkenntnis zu tun habe – für diesen dennoch von zentraler Wichtigkeit war. Für Schlick entsteht Kunst in der Umwandlung von Mitteln zu Zwecken, ähnlich wie das Spiel. Weitergehend wird die Entstehung der bildenden Künste nach Schlick ausgeführt. Wenn der „struggle for life“ beendet ist, beginnt der Mensch mit der Schönheit der Natur zu wetteifern. Bonnet führt weiterhin aus, welche Sonderstellung die Poesie und die Musik bei Schlick innehaben. Anschließend wird dargestellt, warum nach Schlick das künstliche Schöne immer unvollkommen bleiben wird und die Menschen von ihrem Leid erst erlöst werden durch Kunst, die wieder Natur ist – was wiederum den „Tod der Kunst“ mit sich bringt. Letztlich zeigt Bonnet, wie viel unerwartete Metaphysik in Schlicks Ausführungen steckt und welche erstaunlichen Parallelen zu Schopenhauer gefunden werden können. Julia Franke-Reddig wendet sich mit Moritz Schlicks Konzeption des „genialen Ratens“ einem Thema zu, das in der Schlick-Forschung bislang zu wenig Beachtung gefunden hat. Sie zeigt, dass diese Konzeption zum einen Schlicks Erkenntnisphilosophie ergänzt und zum anderen eine Brücke zwischen dieser und seiner Kunstphilosophie schlägt. Geniales Raten ist für Schlick in epistemischer Hinsicht ein geistiger Prozess, der die allgemeinen Sätze über die Natur hervorbringt und für Wissenschaft konstitutiv ist. Franke-Reddig erörtert, wie sich dieser Prozess, den Schlick auch als „Intuition“ bezeichnet, zu dessen Konzeption von Erkenntnis verhält, zumal sich Schlick schon früh gegen die Auffassung wendet, es könne irgendeine Art von intuitiver Erkenntnis geben. Sie zeigt, dass dieser Prozess, dessen Natur für Schlick Gegenstand der Psychologie ist, kein Denken, sondern ein schöpferischer Akt ist, der eine Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Kunst begründet. 26

Vgl. aber Brand 1988, insbes. 19–36.

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Ausblick

In Bezug auf den Wiener Kreis stellt sich eine Reihe von Identitäts- und Abgrenzungsfragen: Wer gehört zu seinen Mitgliedern und wer nicht? Steht er für eine einheitliche philosophische Denkrichtung? Wie lässt diese sich gegebenenfalls inhaltlich kennzeichnen und von anderen philosophischen Denkrichtungen unterscheiden? Diese Fragen sind Gegenstand umfangreicher Diskussionen.27 Obwohl der Wiener Kreis ein für seine Mitglieder und von außen identifizierbares Gebilde von Personen, Positionen und Problemstellungen ist, scheinen seine Grenzen weder personell noch durch inhaltliche Kriterien in einer trennscharfen Weise bestimmt zu sein. Für seine theoretische Erfassung kämen grundsätzlich mehrere wissenschaftsphilosophisch etablierte Kategorien in Frage: „Paradigma“ (Thomas Kuhn), „Forschungsprogramm“ (Imre Lakatos), „Denkkollektiv“ bzw. „Denkstil“ (Ludwik Fleck) oder „epistemische Kultur“ (Karin Knorr Cetina). Zudem wäre in philosophiehistorischer Hinsicht zu überlegen, ob es sich beim Wiener Kreis um eine „Konstellation“ im Sinne der von Dieter Henrich mit Blick auf die frühe klassische deutsche Philosophie entwickelten und bewährten Methode der Konstellationsforschung handelt (Henrich 1991 u. 2004). Man kann Martin Mulsow zufolge von einer philosophischen Konstellation sprechen, falls Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente einen „dichten Zusammenhang“ bilden und in der Weise wechselseitig aufeinander einwirken, dass sich die philosophische Leistung und Entwicklung der betreffenden Personen und Positionen nur durch eine „Analyse dieses Zusammenhangs, nicht aber seiner isolierten Bestandteile“ verstehen lässt (Mulsow 2005, 74). Konstellationsforschung mag da zum Einsatz kommen, wo vor dem Hintergrund eines engen Austauschs in kurzer Zeit viele systematisch bedeutsame problemverwandte, aber lösungsdifferente philosophische Entwürfe und Konzeptionen entstehen. Als spezifisch philosophische Methode muss sie sich allerdings stärker als Mentalitätsgeschichten und Netzwerkanalysen um eine Analyse und Rekonstruktion der inhaltlichen Dimension und argumentativen Ausrichtung solcher Entwürfe und Konzeptionen bemühen.28 Wenngleich die Konstellationsforschung neben der klassischen deutschen Philosophie auch bereits an anderen Fallbeispielen erprobt wird (Comenius-Kreis, Platoniker von Cambridge,

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An dieser Stelle sei nur auf Haller 1993, Stadler 2015, Sigmund 2018 verwiesen. Mulsow 2005, 92f.; vgl. Stamm 2005, 34–36, 39f.

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Gottsched-Kreis), wurde die Methode bislang noch nicht ausdrücklich auf den Wiener Kreis angewendet.29 Angesichts der bereits vorliegenden umfangreichen Studien zum Wiener Kreis erscheinen die Bedingungen dafür jedoch günstig. In der im 20. Jahrhundert zunehmend vernetzten akademischen Welt sind für den Ursprung, die Identität und Dynamik philosophischer Gruppierungen abgesehen von konkurrierenden Denkrichtungen auch wohlwollende kritische Begleiter und ähnlich orientierte Impulsgeber von großer Bedeutung. Für den Wiener Kreis hatten etwa Heinrich Scholz, Heinrich Gomperz und Ludwig Wittgenstein diese Funktion an der Kreisperipherie. Während das Verhältnis zwischen Gomperz und dem Wiener Kreis bereits in einem Abschnitt von Martin Lemkes Aufsatz „Antihistorismus im Wiener Kreis“ thematisiert wird (vgl. auch Stadler 2015, 241–250), widmen sich im letzten Teil des vorliegenden Bandes zwei Beiträge dem Verhältnis zwischen Scholz bzw. Wittgenstein und dem Wiener Kreis. Niko Strobach schildert in seinem Beitrag „Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma? Heinrich Scholz für und gegen den Wiener Kreis“ zum einen den biographischen Hintergrund von Heinrich Scholz, der mancherlei Verbindungen zum Wiener Kreis erkennen lässt, vor allem die Wertschätzung der modernen Logik – die Scholz in Kiel über Russells und Whiteheads Principia für sich entdeckte – und persönliche Kontakte zu verschiedenen Mitgliedern. Zum anderen zeigt Strobach, dass sich gerade in Anbetracht der gemeinsamen inhaltlichen Interessen eine bemerkenswerte Diskrepanz ergibt. Denn obwohl Scholz, wie auch etwa Moritz Schlick und Rudolf Carnap, die Wichtigkeit der modernen Logik betont, zieht er doch ganz andere Schlüsse. Für ihn ist sie ein „Werkzeug für eine bessere Metaphysik“, nicht das Mittel, um diese zu überwinden oder überflüssig zu machen. Strobach versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob dies zu einem unüberwindbaren Gegensatz führt oder sich Brücken bauen lassen. Von der systematisch größten Bedeutung für die Diskussionen des Wiener Kreises war wohl Wittgenstein. Seinen Tractatus las man 1924/25 bei den Treffen des Kreises Satz für Satz. Ende 1924 nahm Schlick Kontakt zu Wittgenstein auf, doch es kam erst im Februar 1927 zu einem ersten Treffen. In der Folge entwickelten sich die Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern des Kreises (Schlick, Neurath, Carnap, Waismann) zu Wittgenstein sehr unterschiedlich.30 Das ist nicht nur den unterschied-

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Zu „Fallstudien und Anwendungen“ der Konstellationsforschung siehe die Beiträge in Teil III des Sammelbandes Mulsow/Stamm (Hg.) 2005. Im Vorwort wird erwähnt, dass für den Band ursprünglich auch eine Untersuchung zum Wiener Kreis geplant war, aber nicht realisiert wurde (Mulsow/Stamm (Hg.) 2005, 10f.). 30 Stern 2007; Stadler 2015, 225–240.

Das weite philosophische Spektrum des Wiener Kreises: Ein Forschungsüberblick

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lichen persönlichen und intellektuellen Temperamenten der Protagonisten geschuldet, sondern auch der rasanten Dynamik, in der sich die jeweiligen philosophischen Positionen entwickeln. In der Forschung besteht die Tendenz, die Beeinflussung des Wiener Kreises durch Wittgenstein als eher einseitig anzusehen. Inwiefern umgekehrt Wittgenstein durch Mitglieder des Wiener Kreises beeinflusst wurde, wird kaum thematisiert. Ingolf Max wendet sich daher einer Forschungslücke zu, wenn er mit seinen „Bemerkungen zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein“ eine Diskussion darüber in Gang bringen möchte, welche möglichen Einflüsse von Schlick auf Wittgenstein vorliegen. Zudem regt er an, kritisch zu überprüfen, ob es in der bisherigen Forschung zu einer Überschätzung des Einflusses von Wittgenstein auf Schlick gekommen ist. Seines Erachtens bieten neuere Bände der Moritz Schlick Gesamtausgabe genau dafür Anhaltspunkte und werden auch die noch ausstehenden Bände eine Grundlage liefern, um Schlick als eigenständigen und kreativen Denker zu profilieren, der auf eine umfassende Philosophie abzielt.

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I. Kulturphilosophie

Moritz Schlick zwischen Schopenhauer und Nietzsche Massimo Ferrari

1

Am Anfang waren Schopenhauer und Nietzsche

Schopenhauer und Nietzsche haben eine bedeutende Rolle in Schlicks philosophischem Werdegang gespielt. Es geht um einen bis dato wenig berücksichtigten Umstand, dem freilich nicht bloß eine biographische Bedeutung zukommt. Denn Schopenhauer und Nietzsche sind zwei Hauptfiguren, die nicht nur die Bildungszeit Schlicks prägten, sondern auch seine spätere philosophische Tätigkeit, und zwar bis auf die Wiener Zeit, verschiedenartig beeinflusst haben. Dieser Einfluss lässt sich besser verstehen, wenn das übliche Bild von Schlick als subtilem Ausleger der Relativitätstheorie und als Vater der wissenschaftlichen Weltauffassung erheblich modifiziert bzw. ergänzt wird. Wie Edgar Zilsel anlässlich der brutalen Ermordung Schlicks bemerkte, war neben der wissenschaftlichen Arbeit auch „eine zweite Linie“ deutlich, die „ganz ebenso zu seinem Werk gehört“. Nach Zilsel wollte sich [Schlick] keineswegs auf Wissenschaftstheorie beschränken; exakte Forschung und glückliche und glückverbreitende Lebensgestaltung wollte er grundsätzlich vereinigen, ja Leben und Fühlen hielt er, wie er mehrmals schrieb, im Grunde für wichtiger als Erkennen und Wissen. Das Interesse für Lebensfragen führte ihn weiter zu den Problemen der Kulturphilosophie.1

Nicht anders machte auch Herbert Feigl darauf aufmerksam, dass von Anfang an „die Probleme der Lebensanschauung [für Schlick] mindestens so wichtig [waren], wie die Aufgaben der Erkenntnislogik, deren Bedeutung er wohl vornehmlich seinen Weltruf als Philosoph verdankt“ (Feigl 1937/38, 395).

1

Zilsel 1937, 162. Friedrich Waismann spricht ausdrücklich von einer „Lebensphilosophie Schlicks“ (Waismann 1938, XIV). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_2

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Massimo Ferrari

Tatsächlich kennzeichnen „die Probleme der Lebensanschauung“ die Bildungsjahre Schlicks, der sich schon in seiner frühen Jugend mit philosophischen Fragen von erheblichem Belang auch für seine spätere Entwicklung befasste. Man könnte behaupten, dass auch im Falle Schlicks das gilt, was in Bezug auf den jungen Aby Warburg einmal gesagt worden ist: „Wie so oft, erzählt die Jugend schon einen wesentlichen Teil des ganzen Lebens“ (Roeck 1997, 9). In diesem Zusammenhang bilden Schopenhauer und Nietzsche „einen wesentlichen Teil“ auch der philosophischen Ausbildung Schlicks. Aus einer unveröffentlichten autobiographischen Skizze erfahren wir, dass der junge Schlick sich mit philosophischer Lektüre von Platon, Descartes, Kant und eben Schopenhauer und Nietzsche schon früh beschäftigt hatte. Nach ausdrücklichen Zeugnissen von Schlick selbst waren es besonders Nietzsche und Kant, die eine merkliche Wirkung auf ihn ausübten. Nietzsches Fröhliche Wissenschaft und die Aphorismen von Zarathustra stellten für Schlick eine anregende Entdeckung dar, enttäuscht war er aber von Kants Kritik der praktischen Vernunft, die „keine Antwort gab auf diejenigen Fragen, deren Lösung bei ihm zu finden ich so heiß erhoffte.“2 Das Hauptproblem, das dem jungen Schlick am Herzen lag, war also das Problem der Begründung der Moral, das Kant seiner Meinung nach nicht zu lösen vermocht hatte – eine kritische Haltung, die keine wesentliche Veränderung im Laufe der späteren gedanklichen Entwicklung Schlicks erfuhr. Damit hängt auch zusammen, dass Schlick mit der deutschen Lebensphilosophie um die Jahrhundertwende gut vertraut war. 1907 hatte Schlick den Jenaer Lebensphilosophen Rudolf Eucken besucht, der in demselben Jahr ein Buch über den Sinn und Wert des Lebens veröffentlicht hatte. Dort waren einige philosophische Fragen durchgearbeitet, die den breiten Horizont des menschlichen Lebens in seinen ausdifferenzierten Tendenzen, Spannungen und ungelösten Geheimnissen betreffen. Euckens Plädoyer für ein „Reich des Geistes“ und seine Kritik der Modernität im Namen eines erneuten und echten Sinnes des Lebens gelten damit als Zeugnis der geistigen Situation der Zeit – eine Situation, die auch der junge Schlick mit ähnlich kritischen Augen sah.3 Insgesamt sind aber die philosophischen Anfänge Schlicks von den Fragen der Ethik geprägt.4 Der künftige Vater des Wiener Kreises betrat die philosophische 2

Schlick, C.2c, Bl. 3f. Diese Notizen stammen aus der autobiographischen Skizze, die im Nachlass aufbewahrt ist. Vgl. dazu auch Iven 2008, 52–56. 3 Eucken 1918. Zu Schlicks Zusammentreffen mit Eucken im Juli 1907 vgl. Iven 2008, 157. Eucken war in Jena Kollege von Ernst Haeckel und wollte ihm gegenüber einen „Monismus des Geistes“ geltend machen (vgl. Dathe 2000, 41–59). Zu Eucken vgl. das ausgezeichnete Porträt von Graf 1997. 4 Es ist daran erinnert, dass Schlick auch später die Zentralität der Ethik klar hervorheben wird. So erklärt er zu Beginn seiner in Rostock gehaltenen Vorlesung Grundprobleme der Ethik (WS 1912/1913): „Alle Fragen, die der Mensch ja gestellt hat und überhaupt stellen kann, sind für ihn

Moritz Schlick zwischen Schopenhauer und Nietzsche

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Bühne erstmals im Jahr 1908 mit einem Werk zur Lebensweisheit, nachdem er sich schon länger mit den Grundproblemen der Ethik bzw., um den Titel eines späteren Aufsatzes von ihm aufzugreifen, mit der Frage „nach dem Sinn des Lebens“ beschäftigt hatte.5 In dem Buch zur Lebensweisheit werden einige typische Aspekte der Kritik der modernen Zivilisation aufgenommen und eben darum bezieht sich Schlick insbesondere auf Schopenhauer und Nietzsche, die offensichtlich seine eigene Diagnose des Zeitalters der Technik und der verlorenen Einheit zwischen Natur und Kultur inspirieren. Die vom jungen Schlick ausgearbeitete Lebensphilosophie bietet damit eine merkwürdige Mischung aus Spencer, Wundt, Schopenhauer und Nietzsche, aus pathetischem Aufruf zur Liebe und kritischer Einstellung gegenüber der modernen Gesellschaft (vgl. Mormann 2010, 263–285). Das Grundmotiv bleibt allerdings das Thema der Lust, oder genauer: des Willens zur Lust. „Die Ursache alles, alles Handelns ist der Wille zur Lust. [...] Der Wille zur Lust beherrscht die ganze Welt.“ (Schlick, MSGA I/3, 71, 83) Und weiter noch: „Der Wille zum Glück des Menschen, der das menschliche Leben beherrscht, ist nur eine kleine Offenbarung des großen Willens zur Lust in der Natur, der die ganze Welt regiert.“ (Schlick, MSGA I/3, 84) In diesem Zusammenhang versucht Schlick, eine psychologisch-kausale Erklärung des menschlichen Handelns zu erarbeiten, die die traditionelle Ethik der Pflichten und der Werte radikal in Frage stellt. Für Schlick bilden die Hypostasierung des Wertbegriffs losgelöst vom Lustbegriff und die Rede von einem „absoluten Sollen“ nur „eine philosophische Konstruktion, die der Erfahrung widerspricht“ (Schlick, MSGA I/3, 87). Dabei polemisiert Schlick gegen die rigoristische Ethik Kants, die in seiner Sicht die völlige Entsagung des Lebens, der Instinkte und der Gefühle bedeutet. Schlicks eudämonistische Ethik will vielmehr ein körperlich-geistiges, lustvolles Leben fördern, das die notwendige Voraussetzung für die Lebensweisheit, vor allem aber für die menschliche Glückseligkeit bildet. Dabei spielt Nietzsches Kritik der Moral eine bedeutende Rolle. Nietzsche ist sicher eine außerordentlich wichtige Quelle nicht nur für den jungen Schlick, sondern auch für seine späteren Bemühungen um eine neue Grundlegung der Ethik, gegen jede Form von Rigorismus und Intellektualismus kantischer Prägung sowie gegen die Abtrennung der moralischen Tugenden von dem Leben – eine Ethik also für das Leben, nicht aber abgelöst vom Leben (vgl. Schlick, MSGA I/3, 270–281). Bemerkenswert ist aber auch, dass Schlick in diesem Zusammenhang von einem „Willen zur Wahrheit“ spricht: Es geht um den Trieb nach der wissenschaftlichen Erkenntnis, der aus dem Leben entspringt überhaupt nur wichtig und bedeutsam durch die Beziehung zu der grossen Fundamentalfrage: wie sollen wir handeln?“ Bei der Ethik – fügt Schlick hinzu – haben wir es nicht mit einer „wissenschaftliche[n] Frage“, sondern mit „eine[r] Lebensfrage“ zu tun (Schlick, A.4a, Bl. 1f.). 5 Schlick, MSGA I/3, 43–332. Vgl. auch Schlick, MSGA I/6, 99–125.

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und der durch eine besondere Art von Lust befriedigt werden kann. Die Rede ist also von einer fröhlichen Wissenschaft im Sinne Nietzsches – anders gesagt, die wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht vom Leben getrennt werden, sondern gehört innerlich zum Leben des Weisen.6 Drei Jahre nach der Publikation seines Jugendwerkes begann Schlick seine akademische Karriere als Privatdozent in Rostock und widmete Nietzsche bzw. Schopenhauer und Nietzsche wiederholt seine Vorlesungen (so im WS 1912/1913, 1914/1915 und im SS 1916, 1919 und 1921). Außerdem hielt Schlick noch im WS 1922/23 eine Vorlesung zu Schopenhauer und Nietzsche, also am Anfang seiner Wiener Zeit. Ein Zeugnis davon ist ein späterer Brief Alfred Sterns an Schlick, in dem Stern Schlick daran erinnert, im Jahre 1923 „ein unvergeßliches Nietzsche-Kolleg“ besucht zu haben.7 Aus den Manuskripten dieser Vorlesungen, die neuerdings veröffentlicht wurden, ergeben sich die Umrisse zweier ausführlicher Studien über die von Schlick gepriesenen Denker, die zum gesamten Œeuvre Schlicks tatsächlich dazugehören.8 Aufgrund der im Nachlass aufbewahrten Materialien können wir also die große Bedeutung der Auseinandersetzung Schlicks mit diesen künstlerisch-philosophischen „Genies“ belegen – denn Schopenhauer und Nietzsche haben zwar keine eigentliche „neue Wahrheit“ erarbeitet, doch haben sie neue Standpunkte verbreitet, sodass beide als „groß“ nicht im Sinne einer philosophischen Systematik gepriesen werden können, sondern insofern, als sie als kraftvolle „Anreger“ gegenüber der modernen Kultur wirksam gewesen sind (Schlick, MSGA II/5.1, 369f.). Schlicks gründliches Interesse für Schopenhauer und Nietzsche ist nicht nur auf seine früheren philosophischen Leidenschaften zurückzuführen, sondern erscheint auch im Einklang mit dem „Zeitgeist“. Wie Frederik Beiser ausführlich dokumentiert hat, wurden die deutschen Philosophen von den 1860er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg durch Schopenhauers Erbschaft stark beeinflusst, denn Schopenhauers ständiger Hinweis auf die Grundfragen der Ethik und den Sinn des Lebens erweckte die begeisterte Aufmerksamkeit verschiedener philosophischer Zirkel. Man weiß, dass die Wirkungsgeschichte Schopenhauers insbesondere mit dem Streit über den Pessimismus eng verbunden ist, der möglicherweise die wichtigste philosophische Debatte in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausmacht (vgl. Beiser 2016). Seine Rezeptionsgeschichte hat jedoch nicht nur mit der heftigen querelle über 6

Vgl. Schlick, MSGA I/3, 170–181. In ähnlicher Weise wird sich Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre äußern, wenn er hervorhebt, dass Erkenntnis „eine selbstständige Funktion [ist], deren Ausübung uns unmittelbar Freude bereitet, ein eigener, mit keinem anderen vergleichbaren Weg zur Lust. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden füllt, besteht ihr Wert.“ (Schlick, MSGA I/1, 320) 7 Alfred Stern an Moritz Schlick, 26. März 1935. 8 Vgl. Schlick, MSGA II/5.1. Vgl. auch Ferrari 2009, 44–49.

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den Pessimismus zu tun. Schopenhauer hat zugleich als Erkenntnistheoretiker und Kant-Interpret eine bedeutende Rolle gespielt, sowohl in Bezug auf die Entstehung des frühen Neukantianismus in der 1860er Jahren als auch innerhalb des Materialismusstreites, auf den Schlick selbst – wie wir sehen werden – einging (vgl. Bayertz et al. 2012). Dadurch lässt sich erklären, dass Schopenhauer gewissermaßen auch als Inspirator der wissenschaftlichen Philosophie betrachtet werden kann. Nur ein Beispiel sei hier erwähnt: In Einsteins Berliner Arbeitszimmer hing ein Portrait von Schopenhauer neben denen von Faraday und Maxwell – zwei großen Wissenschaftlern, die Einstein hochschätzte, die aber merkwürdigerweise zusammen mit dem Verfasser von Die Welt als Wille und Vorstellung eine kleine verehrte Familie bildeten. Jedoch ging es Einstein nicht um den Schopenhauer des metaphysischen Willens, sondern um den Schopenhauer des principium individuationis und der grundlegenden Funktion von Raum und Zeit für die Bestimmung der physikalischen Objekte, welche Einstein besonders in Bezug auf das Problem der nicht-Unterscheidbarkeit in der Quantenmechanik berücksichtigte (vgl. Howard 1997, 87–150). Ein derartiger untergründiger Einfluss Schopenhauers ist allerdings auch bei anderen Protagonisten der Physik um die Jahrhundertwende nachweisbar und wirft damit eine Frage auf, die andernorts genauer zu erforschen ist.9 Auch Schlick gehört zu dieser wenig bekannten Geschichte.

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Umrisse der Nietzsche-Rezeption

Wäre es also wünschenswert, auf die Rezeptionsgeschichte der Erkenntnistheorie Schopenhauers innerhalb der wissenschaftlichen Philosophie näher einzugehen, so scheint jedoch in diesem Zusammenhang die Erforschung des Nietzsche-Kultus, der innerhalb der deutschen Kultur und der intellektuellen Kreise um die Jahrhundertwende Gestalt annimmt, nicht weniger aufschlussreich. In der Tat wurde der Streit um Nietzsche allmählich zur Hauptfrage der zeitgenössischen Kultur und lässt sich durch eine beeindruckende Reihe von Studien, Aufsätzen, Diskussionen, Pamphleten und Büchern belegen, die den Verfasser des Zarathustra zum Rang des Kritikers par excellence der modernen décadence bzw. des Bahnbrechers der künstlerischen Avantgarde erhoben (vgl. Aschheim 2000). Es geht allerdings nicht nur um begeisterte Anhänger der Botschaft eines radikalen Umbruchs der Moral, sondern auch um

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Vgl. zum Beispiel Scheibe 2007, 283, der auf den Einfluss Schopenhauers auf Erwin Schrödinger hinweist.

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scharfe Nietzsche-Gegner, die unter anderem seine nur vage Kenntnis der realen Struktur der modernen Gesellschaft deutlich kritisieren (vgl. Tönnies 1897, 72f.). Aber um die Jahrhundertwende begann auch die akademische Philosophie, sich mit dem „Künstler“ und „Denker“ Friedrich Nietzsche auseinanderzusetzen; man denke hier nur an Alois Riehls viel gelesenes Buch von 1897, das auch Schlick in seinen Vorlesungen mehrmals erwähnt (vgl. Riehl 1920). Heinrich Rickert sollte später betonen, dass Riehls Studie „noch heute für wissenschaftliche Menschen eine der lehrreichsten Schriften ist, die es über Nietzsche gibt“ (Rickert 1924/25, 174). Er hatte sicher recht: Riehl war ein „wissenschaftlicher Mensch“, der Nietzsche wesentlich als „Philosoph der Kultur“ schilderte – der Philosoph der Kunst und der Moral, der zugleich „der Reformator des Lebens und der Richter des Lebens“ sein wollte, indem er eine neue Aristokratie des Geistes prophezeite (Riehl 1920, 55, 162). Nietzsche ist für Riehl der Denker, der die „moderne Seele“ zum Ausdruck bringt (Riehl 1920, 160); und deshalb ist er zum „Modephilosophen“ geworden, obwohl er selbst einen solchen Erfolg nicht gewünscht hätte (Riehl 1920, 8). Kritik und Philosophie der Kultur verbinden damit die verschiedenen Phasen seines Denkens. Wie Riehl andernorts bemerkt: „Nietzsche wurde zum Kritiker der moralischen Werte, weil er der Philosoph der Kultur sein wollte“ (Riehl 1921, 196). Diese allgemeine Einschätzung von Nietzsche hängt aber mit einer gründlichen Kritik zusammen, die auf die zentrale Rolle des biologischen, evolutionistisch-darwinistischen Fundaments seiner Erkenntnislehre hinweist (vgl. Riehl 1920, 131f.). Nietzsche erscheint also in der Auslegung Riehls als ein neuer Protagoras oder sogar als ein Vorläufer des Pragmatismus, d. h. als der Vertreter eines „Erkenntnis-Nihilismus“. Der typische Irrtum – meint Riehl – einer seit langem überwundenen Spekulation (vgl. Riehl 1921, 129, 132). Riehls einflussreiches Buch profilierte dabei zwei Hauptthemen der NietzscheRezeption um die Jahrhundertwende. Zum einen geht es um die Bedeutung von Nietzsche (und Schopenhauer) für die moderne Kultur, indem beide – wie Georg Simmel in 1907 betonte – „einen Beitrag zu der allgemeinen Kulturgeschichte des Geistes“ liefern, und zwar im Sinne des Gegensatzes zweier Pole: Die Verzweiflung des Lebens und der Optimismus des Lebens (vgl. Simmel 1995, 169). Und insbesondere kommt Nietzsche der Verdienst zu, eine neue Aufgabe für unsere Zeit gestellt zu haben: Kantisch gesprochen, die (unendliche) Aufgabe des zu vollendenden Übermenschen, der den Weg der Menschheit begleiten und eröffnen muss. Wie Simmel wörtlich sagt, ist das „eine Aufgabe, die mit dem Fortschreiten der Menschheit selbst fortschreitet“ (Simmel 1995, 399). Andererseits profiliert sich ein zweites Thema im Zentrum des „Falles Nietzsche“. Rickert fasst dieses Motiv am besten zusammen, wenn er sich mit Nietzsche im Rahmen einer destruktiven Kritik der Lebensphilosophie der Gegenwart auseinandersetzt. In seinem Buch zu den „Modeströmungen unserer Zeit“ lehnt Rickert

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Nietzsches gesamte Philosophie vehement ab, da Nietzsche einfach eine neue Variante einer biologistischen Erkenntnis- und Lebenstheorie vorgeschlagen habe, die zugleich antidarwinistische Prinzipien und lebensmetaphysische Elemente enthält. Nietzsche vertritt also, in der Sicht Rickerts, eine derjenigen biologistischen und relativistischen Auffassungen der Kultur, welche einen erheblichen Teil der Philosophie der Gegenwart beherrschen und für die insbesondere sowohl Bergson als auch der amerikanische Pragmatismus charakteristisch sind (vgl. Rickert 1920, 100). Diese Strömungen sind ihrerseits in engerem Zusammenhang mit Nietzsche (aber auch mit Schopenhauer) zu betrachten und stehen im unversöhnlichen Gegensatz zur systematischen Philosophie der Werte neukantianischer Prägung, die Rickert selbst geltend machen will (vgl. Troeltsch 1922, 528ff.). Es lässt sich cum grano salis behaupten, dass Riehl, Simmel und Rickert paradigmatische Auslegungen von Nietzsche anregten, die bis Anfang der 1920er Jahren seine philosophische Rezeption kennzeichneten und zugleich den Kontext von Schlicks eigener Interpretation deutlich mitbestimmten. Es soll hier aber auch ein anderer Umstand in Erinnerung gebracht werden: Als Schlick im Wintersemester 1922/23 seine letzte Vorlesung zu Schopenhauer und Nietzsche in Wien hielt, war die akademische Philosophie noch mit einer Lektüre von Nietzsche beschäftigt, die insbesondere die kantische Perspektive als Standpunkt systematischer Vergleichung annahm. Robert Reininger, der 1922 in Wien zusammen mit Schlick als ordentlicher Professor berufen wurde, hatte genau zu dieser Zeit ein Buch veröffentlicht, das den Kampf Nietzsches um den Sinn des Lebens in den Vordergrund rückte. Der Titel spricht für sich selbst, denn es geht um Friedrich Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens, näherhin um die Frage nach der Bedeutung Nietzsches für die Ethik (vgl. Reininger 1925). Reiningers kritische Darstellung konzentrierte sich auf den „ethischen Rationalismus“, der sich für ihn nicht auf eine abstrakte Formulierung reduzieren lässt, sondern eine „Lebensform“ bedeutet, die fähig sein muss, dem Leben einen Sinn zu geben, und zwar aufgrund der freien Gestaltung der Freiheit. Für Reiniger erscheint es in diesem Sinne plausibel, die nietzscheanische Autonomie des Willens in Einklang mit derjenigen Kants zu bringen; zugleich wird dementsprechend der „Wille zur Macht“ zum „Willen zum Sinn“, nämlich zur Suche nach einem Sinn des Lebens, die sich als Streben nach der Verwirklichung des regulativen Ideals bzw. als eine Art kategorischer Imperativ deuten lässt. Der Übermensch drückt also einen „Willen zum Wert“ aus, der nicht als biologisch fundiert, sondern – und Reininger steht hier im völligen Gegensatz zu Rickert – im Sinne einer „Aufgabe“ à la Kant zu verstehen sei (Reininger 1925, 17, 64, 82, 164, 179, 181–189). Reininger pointiert deshalb, dass die Ethik Nietzsches wesentlich eine Ethik der Persönlichkeit bilde; anders gesagt, „die ethische Persönlichkeit ist [...] zugleich der höchste ethische Wert“ (Reininger 1925, 133). Diese ‚kantische‘ Deutung von Nietzsches Ideal des

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Lebens zusammenfassend, wagt Reiniger sogar einen Vergleich zwischen Nietzsche und Sokrates: „Sokrates und Nietzsche sind ethische Rationalisten auf irrationaler Grundlage und beide sind in ihrer Art moralische Genies.“ (Reininger 1925, 36) In demselben Jahr konnte man jedoch in Wien auch eine andere Stimme hören, die nicht auf die Sprache der Philosophie, sondern auf diejenige der literarischen Eleganz zurückgriff, um die „dämonische“ und „tragische“ Persönlichkeit Nietzsches zu schildern. Seine wesentliche Ambivalenz und die innere Spannung zwischen Kultur und Leben, zwischen Philosophie und Persönlichkeit stehen im Zentrum eines Essays von Stefan Zweig, der den Verfasser des Zarathustra als subtilen Seismographen der „Katastrophe“ unserer Zivilisation darstellte. Der Geist – so Zweig – braucht von Zeit zu Zeit einen dämonischen Menschen, dessen Übergewalt sich auflehnt gegen die Gemeinschaft des Denkens und die Monotonie der Moral. Einen Menschen, der zerstört und der sich selber zerstört; aber diese heroischen Empörer sind nicht minder Bildner und Bilder des Weltalls als die stillen Gestalter. (Zweig 2009, 326)

Die Faszination des „Genies“ Nietzsche war auch im Wien der 1920er Jahre, der Stadt der wissenschaftlichen Weltauffassung, nicht am Ende.

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Schopenhauer und Nietzsche in Wien

Wien, 21. Januar 1905: Bei der Philosophischen Gesellschaft hält Ludwig Boltzmann einen Vortrag zu Schopenhauer. Boltzmann zögert nicht, seine Verachtung für den „Philosophaster“ Schopenhauer zu erklären. Schopenhauers Erkenntnistheorie beruhe nur auf einer veralteten Auffassung von Raum und Zeit und seine Ethik wolle die Deutschen zu Hindus werden lassen. Nichtsdestoweniger stellt Schopenhauer für Boltzmann eine gute Gelegenheit dar, seine eigene philosophische Einstellung zu entwerfen. Nach Boltzmann habe die Philosophie die Aufgabe, die Grundbegriffe unserer Erkenntnis so zu formulieren, dass kein Widerspruch entsteht oder absurde Konsequenzen sich ableiten lassen. Die Worte unserer Sprache sollten nicht falsch benutzt werden und deshalb habe die Philosophie eine echte therapeutische Funktion. Sie könne beispielsweise die Menschen von der „geistigen Migräne“ der Metaphysik heilen, also auch von derjenigen, die Schopenhauer weitgehend genährt hat. In Boltzmanns Sicht geht es also um ein rudimentäres Kriterium der Sinnhaftigkeit, das später sowohl für den Wiener Kreis als auch für Wittgenstein ein zentraler Punkt sein wird.10 10

Boltzmann 1905, 385–402. Vgl. dazu auch Broda 1957, 99–106.

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Das Beispiel Boltzmann zeigt mit Fug und Recht, dass Schopenhauer noch ein bedeutender Gesprächspartner im Wien der Jahrhundertwende war – und nicht nur für die Philosophen (man denke beispielsweise an Otto Weiniger und Robert Musil). Dass man Die Welt als Wille und Vorstellung gelesen hatte, war keine Ausnahme, wie sich auch im Fall Otto Neuraths zeigt.11 Noch erhellender ist aber, dass Ludwig Wittgenstein in seiner Jugend die Faszination Schopenhauers erlebte und ihn als einen der bevorzugten Autoren unter wenigen anderen gepriesen hatte, wie Boltzmann, Hertz, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger, Spengler und Sraffa (Wittgenstein 1977, 43). Seit langem hat sich im Übrigen eine Interpretation etabliert, nach der Wittgensteins Hauptziel bis in seine letzten Jahre darin bestand, „das von Schopenhauer und Kant begonnene logisch-ethische Werk“ zu vollenden (Toulmin 1973, 224). Es wird einerseits betont, Wittgenstein positioniere sich innerhalb der kantischen Tradition; und insbesondere der Unterschied zwischen Zeichen und Symbol zeige, inwieweit Wittgensteins im Tractatus getroffene Unterscheidung zwischen Vorstellung der Wirklichkeit und Wille als nicht vorstellbarer Realität Schopenhauer verpflichtet sei. Andererseits sei Wittgenstein bis spät in seinem Werdegang der ethischen und ästhetischen Auffassungen Schopenhauers nah geblieben, während auch in der Problematik des „Unsagbaren“ noch einmal deutliche Spüren von Schopenhauer aufzufinden seien (vgl. Glock 2006, 422–458; Jacquette 2017, 59–71; Halais 2005, 213–228). Über diese möglichen, überzeugenden Interpretationen hinaus ist es eine Tatsache, dass Wittgenstein sich im Lauf seiner Gespräche mit Schlick nicht zufällig auf Schopenhauer bezieht. Für den 17. Dezember 1930 lässt sich eine sehr konzise Formulierung finden, die den Aphorismus 6.421 des Tractatus aufgreift: „Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem anderen erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische gar keinen Wert.“ (Wittgenstein 1967, 117) Im Gebiet der Ethik ist nach Wittgenstein jede Theorie überflüssig – von der Ethik darf man nur in der ersten Person sprechen und eine Begründung der Moral sei einfach unmöglich. Wie Schopenhauer gesagt hatte, „Moral predigen ist schwer, Moral begründen unmöglich“.12 Das Verhältnis Wittgensteins zu Schopenhauer ist in keiner Weise als marginal zu betrachten. Denn genau diese Äußerungen zeigen, inwieweit Wittgensteins Begriff der Ethik (und des Unsagbaren überhaupt) mit Schopenhauers Auffassung der Metaphysik zu vergleichen ist. Auffallend ist hier jedoch, dass Schlick im Gegensatz zu Wittgenstein die Ethik als Wissenschaft (oder besser: 11

Neurath war in der Tat seit der Zeit seines Studiums in Berlin bei Friedrich Paulsen mit dem Meisterwerk Schopenhauers gut vertraut, vgl. Sandner 2014, 45. 12 Wittgenstein 1967, 118. Das Schopenhauer-Zitat lautet aber: „Da ergibt sich, daß Moral-Predigen leicht, Moral-Begründen schwer ist.“ (Schopenhauer, Werke IV[1], 140)

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als Tatsachenwissenchaft) konzipiert und die These vertritt, Schopenhauer habe ganz richtig das zentrale Problem der Ethik erfasst, nämlich die „Kausalerklärung des moralischen Verhaltens“, die aber von jedem metaphysischen Rest zu befreien wäre.13 Parallel zu Schopenhauer, aber noch mehr als Schopenhauer, erweckte das Nietzsche-Ferment die Aufmerksamkeit auch einiger Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie im frühen 20. Jahrhundert.14 In Wien, wo Nietzsche schon eine erste Rezeption in den 1870er Jahren erfahren hatte (vgl. Venturelli 2003, 257–290), interessierte sich insbesondere der bedeutende Naturforscher Ernst Mach für einige Aspekte des Denkens Nietzsches und hatte die Fröhliche Wissenschaft zumindest durchgeblättert. Abgesehen von der Frage, wie genau er die Werke von Nietzsche kannte, scheint es möglich, anzunehmen, dass Mach eine unerwartete Konvergenz mit dem Phänomenalismus des Verfassers der Fröhlichen Wissenschaft entdeckt haben könnte (vgl. Gori 2009). Hans Kleinpeter, ein Anhänger Machs, setzte sich wiederholt ein, um zu zeigen, inwieweit der bei der machschen Erkenntnistheorie vertretene Phänomenalismus im Einklang mit den Thesen Nietzsches ausgelegt werden könnte. Die biologisch-evolutionistische Auffassung der Erkenntnis und der „Trieb zur Wahrheit“ als „lebenserhaltende Macht“, auf denen Nietzsches Gedanke einer Fröhlichen Wissenschaft beruht (vgl. Nietzsche, KGW V/2, 149), bildete für Kleinpeter ein wesentliches Merkmal der Ökonomie des Denkens im Sinne Machs. Das Gleiche gilt auch in Bezug sowohl auf die Kritik des Begriffs der Substanz als auch auf die Ablehnung der metaphysischen Entitäten, die ihren Ursprung in dem irrigen Gebrauch des Verstandes, abgetrennt von der Sinnlichkeit, haben. Kleinpeter sah in diesen Ansichten eine „ganz ähnliche“ Perspektive, die Mach und Nietzsche gewissermaßen vereinigte.15 Obwohl eine solche Meinung seltsam erscheinen mag, betrachtete Kleinpeter Nietzsche damit als eine Art Vorläufer der großen Familie der wissenschaftlichen Philosophie. Sich auf die Auslegung Kleinpeters stützend, hatte auch Philipp Frank keinen Zweifel daran, dass Nietzsche neben Mach „der andere große Aufklärungsphilosoph des ausgehenden 19. Jahrhundert“ gewesen war (Frank 2006, 110). Seine positivistische bzw. phänomenalistische Weltanschauung scheint – betonte Frank in einem 13

Schlick, MSGA I/3, 380. Und Schlick setzt ebd. fort: „Am deutlichsten ist das Moralproblem in dieser Form von Schopenhauer gestellt worden, dessen gesunder Wirklichkeitssinn ihn hier (wenn auch nicht bei der Lösung) auf den richtigen Weg führte und von der Kantschen Fragestellung und der nachkantischen Wertphilosophie bewahrte.“ 14 Vgl. Fischer 1982, 255–269. Ein Punkt, auf den wir hier nicht eingehen können, ist wiederum Wittgenstein, und zwar seine Lesart von Nietzsche im Kontext des Wiener Kreises. Vgl. dazu den ausgezeichneten Beitrag Brusotti 2009, 335–362. Die ausgezeichnete Studie von Vrahimis 2020 ist erst nach dem Abschluss meines Beitrags erschienen. 15 Vgl. Kleinpeter 1913, 143, 203–209. Vgl. auch Gori 2011, 290–298.

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Aufsatz zum Tode Machs von 1917 – in perfekter Harmonie mit der machschen Wissenschaftsphilosophie zu sein. Daher legt Frank Wert darauf, dass eine „auffallende Übereinstimmung“ der Ansichten Machs mit denjenigen Nietzsches bestehe, und zwar mit einem Denker, „für den er [Mach] kaum große Sympathie gehabt haben dürfte“ (Frank 2006, 111). Also: Frank will Mach und Nietzsche als Vertreter der Aufklärungsphilosophie, nicht als Gegenspieler oder Feinde bezeichnen. Diese bemerkenswerte Einschätzung von Frank bildet jedoch keine Ausnahme. Im Wiener Kreis war – laut Otto Neurath – die Überzeugung verbreitet, dass Nietzsches Kritik der Metaphysik zur Entstehung der Wiener Schule erheblich beigetragen hatte.16 Es fällt zudem auf, dass Nietzsche auch zum philosophischen Horizont Rudolf Carnaps gehörte, der Nietzsche mehrmals in seinem Logischen Aufbau der Welt erwähnt (vgl. Carnap 1999, §§ 65, 67, 163). Carnap weist insbesondere darauf hin, dass schon Nietzsche das Problem der Ich-Bezogenheit richtig gesehen habe, indem er das Ich nur für eine „grammatische Gewöhnung“ hielt.17 Dies hat mit dem spezifischen Problem der neutralen Basis im Psychischen zu tun, denn die Ich-Bezogenheit macht für Carnap keine „ursprüngliche Eigenschaft“ des Gegeben aus (Carnap 1999, 88). Anschließend bezieht sich Carnap auf Nietzsche auch in seinem berühmten Aufsatz zur Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (vgl. Carnap 1932), wo er das Denken Nietzsches deshalb preist, weil es auf einem reichen empirischen Inhalt beruhe, wie zum Beispiel aus seiner „historische[n] Analyse kritisch bestimmter Kunstphänomene“ oder aus seiner „historisch-psychologischen Analyse der Moral“ hervorgehe (Carnap 1932, 241). Andererseits erkannte Carnap das unleugbare Verdienst Nietzsches an, den nichtkognitiven Charakter der metaphysischen Sätze in so klarer Weise gesehen zu haben, dass für ihn nur Kunst und Dichtung die Gefühle bzw. die Lebenseinstellungen des Menschen ausdrücken können, während die traditionelle Philosophie den Anspruch erhebe, nicht-begriffliche Anschauungen mit dem Anzug der Metaphysik (oder der Ethik) zu verkleiden. Carnap betont: Unsere Vermutung, dass die Metaphysik ein Ersatz, allerdings ein unzulänglicher, für die Kunst ist, scheint auch durch die Tatsache bestätigt zu werden, dass derjenige Metaphysiker, der vielleicht die stärkste künstlerische Begabung besaß, nämlich Nietzsche, am wenigsten in den Fehler jener Vermengung geraten ist. Ein großer Teil seines Werkes hat vorwiegend empirischen Inhalt; es handelt sich da z. B. um die

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Vgl. Neurath 1935, 40. Dass Nietzsche mit einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ eng verbunden sei, ist auch die Meinung von einem scharfen Kritiker wie Tönnies (vgl. Tönnies 1897, 6). 17 Carnap 1999, 89. Mit explizitem Verweis auf Nietzsches Willen zur Macht.

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historische Analyse bestimmter Kunstphänomene, oder um die historisch-psychologische Analyse der Moral. In dem Werke aber, in dem er am stärksten das zum Ausdruck bringt, was andere durch Metaphysik oder Ethik ausdrücken, nämlich im „Zarathustra“, wählt er nicht die irreführende theoretische Form, sondern offen die Form der Kunst, der Dichtung. (Carnap 1932, 240f.)

Carnap fasst Nietzsches kritische Einstellung und seine Ablehnung der Metaphysik durch den berühmten Spruch zusammen: „Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeiten.“ (Carnap 1932, 241) Das adäquateste Ausdrucksmittel des Lebensgefühls ist dementsprechend keineswegs „die irreführende theoretische Form“ der Metaphysik, die sich darin täuscht, dieses erkennen zu können, sondern die Kunst und genauer gesagt die Musik. Neurath hatte daher Recht, als er in Nietzsche einen Gesprächspartner des Wiener Kreises sah.

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Schlick als Interpret von Schopenhauer und Nietzsche

Im diesem vielfältigen Zusammenhang, den wir hier nur skizzenhaft dargestellt haben, gewinnen die von Schlick in Rostock und letztlich in Wien gehaltenen Vorlesungen zu Schopenhauer und Nietzsche eine präzisere Kontur. Der 1911 in Rostock berufene Privatdozent Schlick hatte keinen Zweifel darüber, dass diese beiden genialen und miteinander eng verbundenen Denker eigentlich keine „neue Wahrheit“ herausgearbeitet hatten. Doch auch wenn ihre „Größe“ nicht in einer strengen philosophischen Systematik bestehe, böten Schopenhauer und Nietzsche jedoch eine ganz neue Perspektive, indem sie als starke „Anreger“ für das moderne Bewusstsein fungieren (Schlick, MSGA II/5.1, 366, 369f.). Daraus ergibt sich zunächst die breite Resonanz vom Schopenhauers Denken auch außerhalb von Deutschland, das Schlick in umfassender Weise darlegt, sich dabei weitgehend auf die Monographie Kuno Fischers stützend – ein Standardwerk für die Rezeption des Philosophen des Pessimismus im ausgehenden 19. Jahrhundert.18

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Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 399. Schlick bezieht sich hier auch auf den Aufsatz von Francesco De Sanctis zu „Schopenhauer e Leopardi“, eine schon 1858 veröffentlichte echte Pionierarbeit, in der man einen Dialog zwischen Schopenhauer und dem italienischen Dichter lesen kann, der zugleich eine erschöpfende Darstellung von Schopenhauers Philosophie bietet (vgl. De Sanctis 1979, 136– 186). Es ist aber fraglich, ob Schlick eine direkte Kenntnis von diesem Text hatte; die Quelle scheint indessen Fischer 1893, 108 zu sein. Diese Vermutung ist darum sehr wahrscheinlich, weil Fischer irrtümlicherweise De Santis erwähnt, ein Fehler, den auch Schlick nicht zufällig macht.

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Zunächst konzentriert sich Schlick auf das Verhältnis Schopenhauers zu Kant. Insbesondere geht er auf Schopenhauers Präferenz für die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ein, welche Schlick nicht teilt, obwohl er einräumt, dass Schopenhauer die Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage ganz richtig als „sachlich schwach, aber keineswegs aus dem System herausfallend“ eingeschätzt habe (Schlick, MSGA II/5.1, 390). Obwohl Schlick nicht in ihrem völligen Umfang die zentrale Bedeutung der Philosophie Kants für Schopenhauer thematisiert, legt er doch darauf Wert, dass er den Materialismus seiner Zeit aufgrund kantischer Argumente bestritten habe. Denn Schopenhauer habe „vollkommen richtig“ die These vertreten, „kein Objekt ohne Subjekt, kein Subjekt ohne Objekt“, und genau dies sei der Haupt- und zerstörende Einwand gegen die Reduktion der Welt auf die Materie (Schlick, MSGA II/5.1, 412). Nichtsdestoweniger hält Schlick es für nicht widerspruchsfrei, dass Schopenhauer das Gehirn als notwendige Voraussetzung der Vorstellungen konzipiert habe, d. h. als eine Natur- und leibliche Bedingung, die aber nur als Vorstellung gelten sollte, wenn das ontologische Primat der Materie in Abrede gestellt werden soll. Schlick kommentiert: „Derselbe Widerspruch wie beim Materialismus, nur von der anderen Seite“ (Schlick, MSGA II/5.1, 413). Der Widerspruch besteht darin, dass Schopenhauer den letzten Grund der Wirklichkeit gemäß einer spiritualistischen Metaphysik postuliert, während Kant indessen diesen falschen Schritt vermieden habe. „Schopenhauer“, fügt Schlick hinzu, „ist hier nicht über ihn [Kant] hinaus, sondern hinter ihn zurück gegangen. Nicht sein wahrer Thronerbe.“ Deshalb kann Schlick noch sagen: „Wir halten fest: idealistische Grundanschauung, ganze Welt Erscheinung, hinter welcher sich die Dinge in ihrem Wesen verbergen. Bei Kant unerkennbar, bei Schopenhauer erkennbar. Dies entscheidend und in metaphysischen Konsequenzen unabsehbar.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 413) Es wäre eine lohnende Aufgabe, auf diese „Konsequenzen“ für Schlick selbst noch näher einzugehen.19 In erster Linie ist es Schlick aber um Schopenhauers Auffassung der Moral zu tun, welche seiner Meinung nach am klarsten in den Aphoris-

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Man denke insbesondere an Schlicks Bekenntnis zum Monismus in der Allgemeinen Erkenntnislehre, in der er auf die Bedeutung des Materialismus für „seinen starken Drang nach Einheit und Geschlossenheit des Weltbildes“ hinweist. Schlick unterstreicht zwar seine „naive, unzureichende, philosophisch verfehlte Formulierung“, zugleich erkennt er aber seine „gesunde Tendenz“ an. Dieser Anerkennung folgt jedoch die wichtige Präzisierung: „Es war nur Sache der Kritik, das Krankhafte von ihr zu entfernen und sie auf die rechte Bahn zu bringen. Es ist ein hohes Verdienst der neukantianischen Richtungen, daß sie sich dieser Aufgabe besonders unterzogen, allen voran Friedrich Albert Lange in seiner trefflichen ‚Geschichte des Materialismus‘.“ (Schlick, MSGA I/1, 695) Im historischen und systematischen Zusammenhang wäre aber klarzumachen, dass Langes Polemik gegen den Materialismus stark von Schopenhauer geprägt war.

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men zur Lebensweisheit zum Ausdruck kommt – ein Buch, so Schlick, das jeder Leser aufgrund von Schopenhauers „geistreich überlegene[n] Betrachtungen alles Menschlichen“ würdigen sollte (Schlick, MSGA II/5.1, 395). Demzufolge liegt der Hauptpunkt für Schlick darin, dass Schopenhauer das Grundproblem der Ethik genau verstanden hat und sich zugleich von Kant deutlich abhebt: Das Problem der Ethik hat Schopenhauer ganz richtig erfasst: Erklärung des moralischen Handelns. […] Auch Schopenhauers Lösung des ethischen Problems durch Mitleid = Liebe, Sympathie enthält fraglos höchste Wahrheit, nur muss an die Stelle der metaphysischen Begründung eine empirische treten. (Schlick, MSGA II/5.1, 441)

Es wird daraus ersichtlich, dass Schopenhauer eine wichtige Quelle für Schlicks anhaltende kritische Stellungnahme gegenüber der kantischen Ethik darstellt.20 Die einzige Aufgabe des Philosophen – so lautet die These Schopenhauers – besteht in der Erklärung und Auslegung von dem, was gegeben ist, d. h. wirklich ist oder geschieht (vgl. Schopenhauer, Werke IV[2], 120). Da er die Ethik der Pflicht als eine verkleidete Form von theologischer Moral ablehnte, konnte Schopenhauer unerbittlich Kants „Akrobatik“ verurteilen. Darunter versteht Schopenhauer auch den Mangel an wirklichem Inhalt, der die kantische Ethik kennzeichne; und daraus folgt auch, dass diese die empirische Realität verkenne, die anders als für eine abstrakte oder apriorische Fassung der Moral der Bewegungsgrund allen menschlichen Tuns ist (vgl. Schopenhauer, Werke IV[2], 143). Es ist jedoch bekannt, dass Schopenhauer Kants Unterschied zwischen dem intelligiblen und dem empirischen Charakter als sein höchstes Verdienst lobt, da es damit möglich wird, Freiheit und Notwendigkeit zusammenzuhalten. Die Freiheit gehört nun zum Niveau der Notwendigkeit, wird nämlich als esse und nicht als operari umgedeutet, während das operari als notwendige Folge des Soseins des Menschen erscheint. Der Mensch ist damit verantwortlich für sein operari, aber dieses ist notwendig bestimmt (vgl. Schopenhauer, Werke IV[2], 177). Nichtsdestoweniger bleibt noch ein ungelöster Gegensatz zwischen der Negation des menschlichen Glücks, die Schopenhauer im Rahmen seines metaphysischen Pessimismus konzipiert, und den praktischen Maximen, die in den Aphorismen zur Lebensweisheit auffindbar sind. Wie Schlick bemerkt, geht es hier tatsächlich nicht um Ethik, sondern unabhängig von Ethik um eine „praktische Philosophie“ (Schlick, MSGA II/5.1, 414f.).

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Man könnte sogar behaupten, dass Schlicks Abhebung von der kantischen Philosophie insgesamt ihren echten Ursprung eben in dem ethischen Gebiet habe. Diese interessante Frage muss aber hier dahingestellt bleiben.

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Schopenhauer bleibt jedoch für Schlick der mächtige „Anreger“ der modernen Kultur, dessen stärker künstlerische als begriffliche Botschaft von so großer Bedeutung für den jungen Nietzsche sein sollte (vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 425, 445). Wenn aber Schopenhauer „leicht zu begreifen“ ist, so erscheint indessen Nietzsche als „leicht miszuverstehen [sic]“ (Schlick, MSGA II/5.1, 372); und doch kann man „die moderne Seele“ nicht begreifen, ohne diese beiden Denker zusammen in Betracht zu ziehen und damit die gegenwärtigen kulturellen Herausforderungen zu thematisieren (Schlick, MSGA II/5.1, 373). Und eben Nietzsche kommt in Schlicks Vorlesungen eine besondere Relevanz zu. Es geht dabei um eine wertvolle Darstellung von Nietzsches Persönlichkeit, Leben und Werk, die eine Einheit, eine „Ganzheit“ bilden, denn Nietzsches Motto, seine Bücher seien Erlebnisse, ist für Schlick ernst zu nehmen (vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 371). Diesem Ansatz gemäß konzipiert Schlick seine Vorlesung als eine (noch heute ausgezeichnete) intellektuelle Biographie Nietzsches. Schlick erweist sich übrigens als recht gut informiert über die neuere Nietzsche-Literatur und versucht glänzend, das Leben dieses großen „Anreger[s]“ (Schlick, MSGA II/5.1, 370) eingehend zu schildern und die Entstehungsgeschichte seiner Werke zu erläutern. In Nietzsche erblickt Schlick den Kulturphilosophen, der eine optimistische Auffassung des Lebens und „das Problem des modernen Geistes überhaupt“ herausgearbeitet habe (Schlick, MSGA II/5.1, 101). Wollen wir „die verborgene Seele der modernen Kultur“ begreifen, hebt Schlick hervor, so sind es die Werke Nietzsches, die darüber Aufschluss geben können. Dabei geht es also bei Nietzsche um eine echte Kulturphilosophie, der sowohl eine Interpretation des Problems Leben als auch eine schaffende und optimistische Weltanschauung zugrunde liegt. Nietzsche will damit „das Problem des modernen Geistes überhaupt“ in den Vordergrund zu rücken, indem er die Kulturfrage der Gegenwart thematisiert und „die verborgene Seele der modernen Kultur“ sichtbar macht (Schlick, MSGA II/5.1, 101). Einer üblichen Interpretation folgend, die im Übrigen schon Nietzsche selbst in seiner autobiographischen Schrift Ecce homo entworfen hatte, unterscheidet Schlick drei Perioden in Nietzsches „Kulturphilosophie“ (Schlick, MSGA II/5.1, 91), und zwar eine erste, durch die Kunst beherrschte Zeit, eine zweite, die sich mit dem Erkenntnisproblem identifizieren lässt, und schließlich eine dritte, ausschließlich auf das Leben konzentrierte Phase. Nietzsches Frühphilosophie, wie sie in dem „Weltanschauungsbuch“ zur Geburt der Tragödie ausgedrückt wird, erscheint Schlick als eine Art romantischer Kulturphilosophie, die „ganz auf künstlerische und metaphysische Ideen eingestellt“ ist. „Cultur ist ihrem Kerne nach Erlösung vom Weltleiden durch Kunst. Das ist aber gerade das Wesentliche dessen, was man als Romantik zu bezeichnen pflegt: Flucht aus dem Leid und der Hässlichkeit der Wirklichkeit in ein schöneres Dasein, auf den Flügeln der Kunst“ (Schlick, MSGA II/5.1, 205f.). Aber

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in Nietzsches Denken tritt in der zweiten Phase eine Wende auf, als Nietzsche die Romantik (und die Philosophie Schopenhauers) überwindet und seine eigentlich philosophische Reflexion von dem befreienden Geist der Erkenntnis, des „wissenschaftlichen Menschen“ getrieben wird (Schlick, MSGA II/5.1, 218). Hier spielt der Einfluss des Positivismus bzw. eines Denkers wie Friedrich Albert Lange eine wichtige Rolle, sodass Nietzsche in dieser Epoche als „Positivist“ zu betrachten sei.21 Schlick weist in diesem Sinne darauf hin, dass ein Werk wie Menschliches, allzu Menschliches „den Classikern der positivistischen Philosophie“ zuzurechnen sei und ein „Bild des wissenschaftlichen Geistes“ darstelle (Schlick, MSGA II/5.1, 239). Der „Positivismus“ Nietzsches wird somit zum Leitmotiv in Schlicks Vorlesung, zumal Nietzsche seine eigenartige positivistische Philosophie nicht mehr aufgegeben habe; und eine solche Einschätzung will Schlick auch in Bezug auf die dritte Periode von Nietzsches Denken geltend machen.22 Dass sich das Thema „Leben“ als das neue Zentrum der Philosophie Nietzsches durchsetzt, ist nach Schlick nur deshalb möglich, weil Nietzsche zwar das Leben an die Stelle der Erkenntnis setze, ohne jedoch auf das Prinzip des Phänomenalismus zu verzichten und zu einer wie auch immer gearteten Art Metaphysik zu gelangen: „So will Zarathustra überall der sinnlichen Welt, dem Leiblichen und Irdischen zum Rechte verhelfen gegenüber allem Metaphysischen.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 283f.) Schlick meint andererseits, Nietzsche habe in der Fröhlichen Wissenschaft ganz richtig gesehen, dass die Erkenntnis nicht als der höchste Wert des Lebens zu betrachten ist. Darin stimmt also Schlick mit Nietzsche überein, „dass Erkenntnis, so wertvoll sie ist, doch nicht der höchste Wert sein kann, sondern ihren Wert doch erst dadurch empfängt, dass sie dem Leben in irgend einer Weise dient, dass sie das Wesen des Erkennenden erhöht und ihm eine neue Art von Gesundheit und Kraft verleiht.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 261) In diesem Sinne versucht Schlick auch zu zeigen, dass der Gedanke selbst des Übermenschen zunächst als Projekt eines neuen Menschen bzw. eines neuen Lebens entstanden ist – der Übermensch ist nicht anders als der 21

Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 138f., 228. Schlick betont in diesem Zusammenhang Nietzsches Lektüre der Geschichte des Materialismus von Lange, „ein Werk von außerordentlicher philosophischer Besonnenheit, das schon vielen eine höchst nutzbringende Einführung und Erziehung zum philosoph[ischen] Denken geworden ist“ (Schlick, MSGA II/5.1, 138f., 228). Interessant ist auch, dass Schlick hervorhebt, inwieweit Nietzsches „Abkehr von der Metaphysik“ bzw. seine scharfe Trennung zwischen „philosophische[r] Wissenschaft“ und „philosophische[r] Dichtung“ durch Lange angeregt wurde (Schlick, MSGA II/5.1, 228, 139). Wie wir oben gesehen haben, geht es hier um eine Einschätzung von Nietzsches „Dichtung“, die später auch Carnap formulieren wird. 22 Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 240f., 277, 298. Vgl. auch Schlick, MSGA II/5.1, 339: „Der positivistische Standpunkt der 2ten Epoche wird in der 3ten nicht etwa aufgegeben, sondern es werden innerhalb der positivistischen Weltanschauung die neuen Ideale entwickelt.“

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Zukunftsmensch bzw. der durch eine neue Moral orientierte Mensch, obwohl Nietzsche dann den Übermenschen im Sinne eines schon existierenden Menschen uminterpretiert habe.23 Mit dieser Auslegung von Nietzsches Hauptgedanken schlägt Schlick zugleich vor, den Willen zur Macht von einer regressiven oder reaktionären Interpretation zu befreien, indem die Macht bei Nietzsche nur „geistige Macht, Willensstärke“ bedeute. „Nur in seinen allerletzten Schriften hat Nietzsche nicht mehr scharf zu trennen gewusst, den richtigen Maßstab verloren und das nicht Zusammengehörende zusammengeworfen“; jedenfalls gilt: „Nicht Rohheit, sondern das Gegenteil davon, Vornehmheit ist die Tugend des künftigen Übermenschen.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 290) Nichtsdestoweniger hält Schlick die Idee des Willens zur Macht für nicht plausibel, da sie vor allem aus psychologischen Gründen – im Sinne einer Psychologie der Triebe – fraglich sei: „Macht bedeutet nicht den höchsten Wert im Leben, der Wille zur Macht ist nicht der erste aller Triebe. Macht ist naturgemäss vielmehr nicht letzter Zweck, sondern Mittel; Macht wird nicht an sich gewollt, sondern nur weil sie Freunde bringt und nur sofern sie Freunde bringt.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 321) Damit ist allerdings die Bedeutung Nietzsches für die Kultur und die Philosophie der Gegenwart kaum in Frage gestellt. Schlick betont indessen, dass Nietzsches philosophische Leistung ihn in den Rang eines zweiten und besseren Rousseau erhebe.24 Diese Einschätzung passt sehr gut zu der Weltanschauung des jungen Schlick, der besonders in seinem Buch zur Lebensweisheit die Kritik der Zivilisation und die Notwendigkeit für den modernen Menschen, ein neues Verhältnis zur Natur zu schaffen, in den Mittelpunkt gestellt hatte. Nun, am Ende der Rostocker Vorlesung macht Schlick darauf aufmerksam, dass Nietzsche „der Sehnsucht der Zeit nach einer natürlichen Cultur einen eigentümlichen wirklich ergreifenden Ausdruck verliehen und damit die Sehnsucht selbst angestachelt hat.“ Dabei soll der Mensch nicht zu einem kulturlosen Naturzustand zurückkehren, sondern sich hinauf in eine neue Kultur orientieren: „Das Leben Zarathustras in seiner Höhle in den Bergen ist ein Symbol für die Befreiung des Menschen von der künstlichen Cultur.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 325) Aufgrund dieses Befreiungsimpetus sieht Schlick in Nietzsches Leben und Werk die Verkündung eines „neuen Optimismus.“ „Dafür“, so Schlick „wird man

23

Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 287. Vgl. dazu auch Simmel 1995, 392: „Niemand würde sich empörter als er selbst [Nietzsche] gegen den Mißbrauch des Übermenschenbegriffes gewandt haben, der die Befreiung von der altruistisch-demokratischen und Rücksichtsmoral nur zu dem Recht libertinistischen Genießens ausnutzt, statt zu der Pflicht, die objektiv höhere Stufe des Menschentums zu beschreiten.“ 24 Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 325. Vgl. dazu Riehl 1920, 78: „Nietzsche ist der Antipode und zugleich ein Geistesverwandter Rousseaus, – der Rousseau unserer Zeit.“

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ihm in alle Zukunft Dank wissen, und die glänzende Gestalt Nietzsches in der Culturwelt wird stets erscheinen – um es mit Zarathustras Worten zu sagen – ‚wie eine Sonne, die aus dunklen Bergen kommt‘.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 328) Nietzsche reagiert auf den Pessimismus und auf eine nichtssagende Kultur im Namen der Lebenskraft: Es geht also – laut Schlick – nicht nur um den glänzendsten „Ausdruck der modernen Seele“, sondern sogar um die Überwindung der „Modernität“ (Schlick, MSGA II/5.1, 325).

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Schluss. Nietzsche und der Krieg

Die „Sonne“ Nietzsches strahlte für Schlick auch noch in der schweren Zeit des Krieges. Als er im WS 1914/1915 abermals über Nietzsche las, fügte er seiner Vorlesung einige einleitende Reflexionen hinzu, in denen „die großen Ereignisse unserer Zeit“ kurz behandelt wurden.25 Schlick hatte die berühmte Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches unterschrieben, in der rund 3000 Professoren gegen „die Feinde Deutschlands, England an der Spitze“, Stellung nahmen, um den Vorwurf des unheiligen Verbundes zwischen deutscher Wissenschaft und preußischem Militarismus zurückzuweisen.26 Dadurch lässt sich erklären, warum auch Schlick sich zur Verteidigung des deutschen Geistes äußerte. Besonders in England wird man nicht müde zu behaupten, der deutsche Geist sei von einer ganz gefährlichen Krankheit befallen: als höchstes Ideal werde bei uns die Macht verkündet, die brutale Macht, unsere geistigen Führer stellten sich offen in Gegensatz zur Moral, eine neue Herrenmoral würde bei uns gepredigt [...]; wir strebten nach einer Umwertung aller Werte, wir wollten die neuen antimoralischen Werte Europa [und] der ganzen Welt aufzwingen, die sich deswegen gegen uns verbündet habe – kurz die Schuld am Kriege – oder wenigstens die Mitschuld – trage eigentlich die verderbliche Philosophie jenes Denkers, dessen Ideen auf das gesamte Geistesleben der Gegenwart einen ungeheuren Einfluß entfaltet haben, nämlich Friedrich Nietzsche. (Schlick, MSGA II/5.1, 79)

Aber Schlick kann dieser These keineswegs zustimmen. Der Kriegsenthusiasmus der Deutschen habe nichts mit Nietzsche zu tun und die Philosophie spiele überhaupt keine Rolle bei der politisch-militärischen Führung der deutschen Nation. Wer einen 25

Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 77. Eigentlich fiel aber diese Vorlesung wegen des Ausbruchs des Krieges aus. 26 Vgl. Iven 2013, 367–370. Zum historischen Kontext vgl. die noch nützliche Textsammlung Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg (Böhme 1975).

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solchen Gedanken hege, der habe nichts von Nietzsche verstanden – ungefähr wie es im Falle Kants geschehen ist, als man die kantische Philosophie und das Preußentum als eine einzige Sache zu betrachten versucht habe. Zwar haben in der Vergangenheit Denker wie Fichte Reden an die deutsche Nation verfasst – diese Reden seien aber kein philosophisches Werk. Und es wäre jedenfalls ein großer Irrtum, die idealistische Philosophie des romantischen Zeitalters mit der deutschen Philosophie überhaupt identifizieren zu wollen. In ähnlicher Weise hält Schlick es auch für ganz unberechtigt, etwas wie das „Wesen“ einer nationalen Philosophie zu bestimmen – beispielsweise die englische Philosophie von Berkeley und Hume mit dem „kühlen, rechnenden Krämergeist“ gleichzusetzen. Solche Spekulationen – hebt Schlick hervor – seien unbegründet und wir sollten von solchen vergeblichen Versuchen ganz absehen.27 Im Gegensatz zur Neigung, der Philosophie eine Mitschuld am Krieg zu geben, glaubt Schlick vielmehr, ein Mangel an Philosophie sei dafür verantwortlich, dass ein schreckliches Ereignis wie der Krieg stattfinden könne. Wäre die Philosophie imstande, einen wirklichen Einfluss auf Völker und Nationen auszuüben, so gäbe es keinen Krieg mehr, denn „echte Philosophie ist immer friedenbringend“ (Schlick 1962, 86). Und der echte Philosoph – gleichgültig ob es um Nietzsche oder um Spencer gehe – sei immer ein Idealist, ein Kulturmensch, kein Bewunderer des Krieges bzw. brutaler Triebe. „Die wahrhaft schöpferischen Kräfte, aus denen alle Kultur hervorgeht, liegen nicht in den Gewalten des Krieges, der doch eben eine Entfaltung rein physischer Mächte ist, sondern in den geistigen Ideen.“ (Schlick 1962, 86) So war auch Nietzsche für Schlick ein echter Vertreter „geistiger Ideen“, noch besser: „der stärkste Kulturphilosoph des 19. Jahrhunderts“, der mit der Katastrophe des Krieges nichts zu tun haben konnte. Auch später wird Schlick klarmachen, inwieweit es völlig falsch sei, Nietzsche als Begründer der heutigen Politik der Macht oder sogar der „Blut-und-Boden-Ideologie“ deuten zu wollen. „Das Wort ‚Krieg‘ hat heute [d. h. in den 1930er Jahren] und in der Politik eine ganz andere Bedeutung als im Munde Nietzsches“, sodass die ursprüngliche Einstellung Nietzsches „ganz unverträglich mit dem [ist], was Nietzsche unter Krieg versteht.“ (Schlick 1952, 77f.) Dass Schlick Nietzsche nicht für einen Vorläufer der Kriegsideologie hält, bedeutet aber keineswegs, dass er dem Verfasser des Zarathustra ohne jeden Vorbehalt gegenüberstand. Schlick bemerkt vielmehr:

27

Vgl. Schlick, MSGA II/5.1, 84f. Vgl. dazu auch Schlick 1962, 43: „Ich fürchte, ‚national‘ bedeutet immer etwas Negatives, immer Beschränkung. Soll man das Gute nicht überall fördern, das Böse nicht überall bekämpfen?“

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Ich halte ihn für den reichsten, glühendsten Geist des neunzehnten Jahrhunderts, aber über das Wesen der Macht suchte ich bei ihm keine Auskunft, ebensowenig wie etwa über eine mathematische Frage. Es ist das bitterste Schicksal für einen großen Mann, wenn er durch seine Irrtümer mehr wirkt als durch seine Wahrheiten. (Schlick 1952, 78f.)

Nietzsche blieb allerdings für Schlick, d. h. für einen der einflussreicheren Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie, immer noch der Philosoph des künftigen Menschen und des Optimismus, keineswegs der Vorläufer der „Zerstörung der Vernunft“ im 20. Jahrhundert. Dabei ist auch schließlich auf Schlicks in einigen Aphorismen entwickelten Vergleich von Nietzsche und Spengler zu verweisen. So lesen wir beispielsweise: Große Denker (wie Nietzsche) sind am kleinsten, wo sie in überschwengliche Übertreibungen geraten. Kleine Denker (wie Spengler) sind dort am größten und einzig originell, wo sie alles Maß überschreiten und sich in den wildesten Paradoxien ergehen. (Schlick 1962, 17)

Der „große“, aber übertreibende Nietzsche und der „kleine“ Spengler mit seinen „Paradoxien“: dieses Fazit kann erklären, inwieweit Schlick sein Leben lang Nietzsche verpflichtet geblieben ist. Es war aber nicht der Nietzsche, den später die willkürliche Deutung der Heidegger-Schule gezeichnet hat, im völligen Gegensatz zu dem Denker des Wiener Kreises.

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Schlicks Kulturbegriff im Kontext Matthias Wunsch

Wenn es in einem wissenschaftlichen Aufsatz um die philosophische Position Moritz Schlicks geht, dann ist es naheliegend, eine Auseinandersetzung im thematischen Spektrum der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, womöglich noch der Ethik zu erwarten. Und wenn verschiedene Konzeptionen von Kultur im 20. Jahrhundert diskutiert werden, dann ist dabei in der Regel von Schlick keine Rede.1 Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass Schlick dem Thema „Kultur“ keine besondere philosophische Aufmerksamkeit gewidmet hat, geschweige denn, dass sein Kulturbegriff von philosophischer Relevanz ist. Obwohl sich diese Erwartung als trügerisch herausstellt, ist es angesichts der Realität des skizzierten Hintergrunds sinnvoll, ihr durch die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Schlicks Kulturbegriff Rechnung zu tragen. Ich möchte das im Folgenden dadurch erreichen, dass ich Schlicks Kulturbegriff im Kontext behandele, und zwar in einem dreifachen Sinn: im Kontext (1) seiner Philosophie, (2) der zeitgenössischen Diskussion über Kultur und (3) einer konkreten Sachfrage.

1

Schlicks Kulturbegriff im Kontext seiner Philosophie

Schlick ist 1936 im Alter von 54 Jahren in Wien ermordet worden. In den letzten Jahren vor seinem Tod hat er begonnen, sich intensiver mit der Thematik der Kultur auseinanderzusetzen. Da die Texte, in denen sich das niedergeschlagen hat, in ihrer Mehrzahl noch unpubliziert sind, möchte ich damit beginnen, sie chronologisch aufzuführen. 

1

Ethik des modernen Lebens. Eine Kritik der gegenwärtigen Kultur ist eine Vorlesung, die Schlick im Sommersemester 1929 gehalten hat (Schlick, A.18ab).

Siehe etwa Konersmann 2003 und Steenblock 2018.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_3

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Matthias Wunsch

Fragen der Ethik ist eine 1930 in Band IV der Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung erschienene Monographie, die heute in der Moritz Schlick Gesamtausgabe (Schlick, MSGA), Band I/3, zugänglich ist. Moral und Kultur sind drei Vorträge, die Schlick im Wintersemester 1933/34 in der Wiener Urania, einer Volkshochschuleinrichtung, gehalten hat (vgl. Stadler 2015, 332) und die in dem Nachlassstück A.126 erhalten sind. Philosophie der Kultur und Geschichte ist eine von Schlick im Sommersemester 1934 gehaltene dreistündige Vorlesung (vgl. Stadler 2015, 331), die in Form einer von Käthe Steinhardt angefertigten Mitschrift vorliegt (Nachlassstück B.6; B.5 gehört auch dazu). Ethik und Kulturphilosophie ist eine vierstündige von Schlick im Wintersemester 1935/36 abgehaltene Vorlesung (vgl. Stadler 2015, 331), die teilweise in einem Vorbereitungstext Schlicks und hauptsächlich in Form einer Mitschrift von Käthe Steinhardt vorliegt (Nachlassstücke A.22 & B.24). In diese Mitschrift (B.24) ist das oben genannte Stück A.126 (Moral und Kultur) in umgearbeiteter Form komplett als erstes Kapitel eingegangen. Natur und Kultur ist eine Monographie, die 1952 aus Schlicks Nachlass publiziert worden ist. Der Herausgeber, Josef Rauscher, weist im Vorwort darauf hin, dass der Text im Zusammenhang mit einem unvollendeten Buch steht, an dem Schlick bis zu seinem Tod unter dem Titel „Natur, Kultur, Kunst“ gearbeitet hatte und das „sein Hauptwerk werden“ sollte.2

Aus dieser Übersicht geht bereits grundsätzlich hervor, in welcher Weise die Thematik der Kultur bei Schlick systematisch eingeordnet ist. Schlick sieht einen engen Zusammenhang zum einen (und sachlich kaum überraschend) zwischen Kultur und Geschichte, zum anderen (und womöglich weniger naheliegend) zwischen Kultur und Moral. Worin bestehen diese Zusammenhänge? Dem Zusammenhang zwischen Kultur und Moral entspricht bei Schlick derjenige zwischen Kulturphilosophie und Ethik. In Ethik und Kulturphilosophie3 weist Schlick darauf hin, dass selten „beides gemeinsam betrieben“ wird (Ts1r), meint selbst aber, dass es „ein und derselbe Gegenstand“ ist, den sie betreffen (Ts2r): „Fragen, die sich auf den Menschen beziehen, Fragen, bei denen es auf das Zusammenleben der Menschen ankommt“ (Ts3r). Von den Menschen ist dabei im Kontrast zu den Tieren die Rede, denn „bei den Tieren“, so Schlick, pflegen wir „nicht von Moral 2

Rauscher 1952, 5. Ethik des modernen Lebens, Moral und Kultur sowie Ethik und Kulturphilosophie werden in MSGA II/3.2 und Philosophie der Kultur und Geschichte voraussichtlich in MSGA II/4 erscheinen. 3 Wo ich mich im Folgenden auf konkrete Stellen aus Ethik und Kulturphilosophie beziehe, verweise ich in Klammern auf Seitenzahlen des Typoskripts („Ts“). Diese Seitenzahlen werden in dem demnächst veröffentlichten Band II/3.2 der MSGA am Rand des Textes zu finden sein.

Schlicks Kulturbegriff im Kontext

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und Kultur zu sprechen“ (Ts7v). Schlick führt das im Kern darauf zurück, dass Menschen Vernunft bzw. Verstand haben (er unterscheidet zwischen beiden nicht) (Ts8v), womit hauptsächlich eine „weitgehende[] Voraussicht“ und Erfindungsgabe verbunden sei, oder allgemein gesagt, das Vermögen, „Möglichkeiten zu erwägen“ (Ts9r, Ts10r). Dem entsprechen wiederum zwei Grundbestimmungen, die Schlick von „Kultur“ gibt. Die erste betrifft die „objektiven Manifestationen der Kultur“ (Ts16r): „Kultur umfasst die Gesamtheit der vom Verstand geschaffenen Mittel, um […] dem Menschen das Leben zu erleichtern“, „zu verbessern“ und zu verschönern (Ts15v, Ts16r). In dieser Bestimmung wird bereits deutlich, welche Funktion die Kultur für die Menschen und in diesem Sinne subjektiv hat: Sie „soll den Wünschen der Menschen dienen“ (Ts16r). Die zweite Grundbestimmung betrifft eher die objektive Funktion der Kultur: Die „Kulturen [sind] als Anpassungserscheinungen der Menschen an ihre Umgebung, und zwar mittels des Verstandes“, aufzufassen (Ts18r). Dass es verschiedene solcher Anpassungen gibt und diese Anpassungen dynamisch gedacht werden müssen, bringt den Zusammenhang zwischen Kultur und Geschichte ins Spiel. In der Vorlesungsmitschrift zur Philosophie der Kultur und Geschichte heißt es: „Die Kultur stellt eine besondere Art der Anpassung des Menschen an die Natur dar. Die Historie ist nur die Beschreibung dieses Anpassungsprozesses“ (Schlick, B.6, Bl. 8). Insofern dieser Prozess die Geschichte ist, ermöglicht Kultur Geschichte,4 und insofern die genannte Anpassung wesentlich Prozess ist, liegt es im „Wesen der Kultur […], dass sie Geschichte – Entwicklung – ist“ (Schlick, B.6, Bl. 1). Dies ist der Hintergrund, vor dem es zu Beginn der genannten Mitschrift heißt, dass Philosophie der Kultur und Philosophie der Geschichte „eigentlich dasselbe“ seien (Schlick, B.6, Bl. 1). In Ethik und Kulturphilosophie unterscheidet Schlick drei Hauptgebiete der Kultur:

1. 2. 3.

4

„Technik: die Gesamtheit der materiellen Mittel, die der Mensch zur Verbesserung seiner Lage geschaffen hat, zur Abhilfe gegen physische Nöte“; „Gesellschaftsleben: Einrichtungen, die der Mensch geschaffen hat, um das Leben der Individuen untereinander freudebringend zu gestalten“; „Geistesleben: freudebringende Betätigungen, Kunst, Wissenschaft, etz.“ (Ts87v; vgl. Ts15v).

Vgl. dazu Ethik und Kulturphilosophie: „Die Geschichte ist also dadurch möglich, dass die Kultur existiert“ (Ts15r).

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Mit Blick auf diese Einteilung könnte es naheliegen, die Moral zum zweiten Kulturgebiet, das heißt dem Gemeinschafts- oder Gesellschaftsleben, zu zählen. Schlick wendet sich jedoch gegen eine solche Auffassung. Denn erstens betreffe der „ethische[] Standpunkt“ nicht nur das Gesellschaftsleben, sondern auch die Technik und das Geistesleben (Ts15v). Grundsätzlicher ist die Moral Schlick zufolge zweitens aber insgesamt nicht als Teil der Kultur zu verstehen, weil sie anders als alles, was zur Kultur gehört, nicht „vom Verstande geschaffen“ wird. Sie gehöre zwar „mit dazu, um in der Welt, die der Verstand eingerichtet hat, leben zu können“ und „umfasst die Regeln der Verhaltensweisen innerhalb der Kulturgemeinschaft (das ist die durch den Verstand geschaffene Gemeinschaft)“, aber diese Regeln selbst sind Schlick zufolge (anders etwa als bei Kant und Bentham) keine Erfindungen oder Hervorbringungen des Verstandes (Ts16v). Auf diese Weise ist das Verhältnis zwischen Kultur und Moral aber noch nicht positiv bestimmt. Die Moral ist für Schlick, wie gesehen, kein Teil der Kultur, weil ihre Regeln anders als alle Kulturerzeugnisse keine Verstandesprodukte sind. Gleichwohl kann die Moral bei Schlick aber in einer Kultur gewissermaßen realisiert sein oder nicht. In Ethik und Kulturphilosophie heißt es: Wenn „in der Kultur Schwierigkeiten und Widersprüche auftreten“, liege das am „Fehlen der Moral“. Um diesen Zusammenhang begrifflich zu fassen, bringt Schlick den Naturbegriff ins Spiel. Seine Idee ist: Anders als das Leben der anderen Tiere könne das Leben der Menschen, weil es durch Kultur geprägt ist, unnatürlich werden; „die Kultur“, so Schlick, „kann unter Umständen etwas Unnatürliches sein, nämlich dann, wenn ihr die Moral fehlt“ (Ts19r). Damit deutet sich an, dass eine Untersuchung von Schlicks Kulturbegriff im systematischen Kontext seiner Philosophie nicht nur die Verhältnisse von Kultur und Geschichte sowie von Kultur und Moral, sondern auch das Verhältnis von Kultur und Natur einbeziehen muss. Am wichtigsten dafür ist derjenige Nachlasstext Schlicks, der unter dem Titel Natur und Kultur publiziert wurde und aus dem Josef Rauscher zufolge das Hauptwerk werden sollte.5 Wie der gewählte Titel nahelegt, geht Schlick dort von dem Verhältnis zwischen Kultur und Natur aus. Insbesondere vertritt er zwei Ausgangsthesen. Erstens: „Kultur ist nicht einfach ein Stück Natur, sondern steht im Gegensatz zu ihr.“ Zweitens: Die Aufgabe der Kulturphilosophie ist es, diesen „Gegensatz zu verstehen und durch die Erkenntnis seines Ursprungs seine Überwindung vorzubereiten“ (Schlick, NK, 9).

5

Um Zitate aus Natur und Kultur zu belegen, verwende ich im Folgenden das Kürzel „NK“.

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Ich möchte zu jeder der beiden Thesen eine Anmerkung machen. Erstens steht Schlick zufolge nicht jede Art von Kultur im Gegensatz zur Natur. Zunächst mag es sogar überraschend sein, dass es einen solchen Gegensatz überhaupt geben soll. Ist die Welt nicht selbst Natur, sodass es gar keinen innerweltlichen Gegensatz zur Natur geben kann? Man kann diese Frage, wenn man das, was im Gegensatz zur Natur steht, das „Unnatürliche“ nennt, auch so stellen: Wie kann es etwas Unnatürliches geben? – Schlicks Antwort ist: Das Unnatürliche kommt mit uns Menschen in die Welt. Während es im Leben der nicht-menschlichen Tiere nichts Unnatürliches gebe (Schlick, NK, 10), sei durch die Kultur zwischen uns und der Natur ein Abgrund aufgerissen worden (Schlick, NK, 11). Das bedeutet Schlick zufolge aber nicht, dass mit Kultur prinzipiell ein solcher Abgrund einhergeht. Es gibt eine Art von Kultur, für die dies nicht gilt. Schlick nennt sie „natürliche“ Kultur und sagt von ihr auch, dass sie „ein Stück“ der Natur sei (Schlick, NK, 13, 18). Zweitens ist „Kulturphilosophie“ bei Schlick nicht analog zu „Naturphilosophie“ zu verstehen. Während die Naturphilosophie für ihn eine wissenschaftsbezogene Disziplin ist und zur theoretischen Philosophie gehört, scheint die Kulturphilosophie eine kulturkritische Funktion zu haben und zur praktischen Philosophie zu gehören. Naturphilosophie ist bei Schlick im Wesentlichen Philosophie der Naturwissenschaften. Kulturphilosophie ist für ihn aber keineswegs Philosophie der Kulturwissenschaften. Sie nimmt vielmehr eine kritische Haltung gegenüber der Kultur selbst ein, und zwar gegenüber solcher Kultur, die im Gegensatz zur Natur steht. Und auch wenn die Kulturphilosophie, wie Schlick betont, „nicht dazu da [ist], in den Lauf der Dinge einzugreifen“,6 erhält sie doch die Aufgabe, die praktische Überwindung dieses Gegensatzes vorzubereiten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Schlicks Begriff der Kultur selbst näher zu verstehen ist. Seines Erachtens kommt das Unnatürliche, der Gegensatz zur Natur, mit und durch uns Menschen, nicht aber schon bei den anderen Tieren in die Welt. Die Frage, durch was an uns der Gegensatz zur Natur aufkommt, wird von Schlick so beantwortet: durch den menschlichen Intellekt, das Vermögen der Erkenntnis (Schlick, NK, 12). Der Intellekt sei einerseits selbst eine Naturgabe und ermögliche andererseits die Erzeugung von Kultur. So wie bei Schlick von „natürlicher“ Kultur die Rede ist, spricht er auch von „natürlichen“ Aufgaben des Intellekts. Sie bestehen darin, die „Lebenserhaltung“ zu gewährleisten und insbesondere das „Nahrungs- und Wärmebedürfnis []“ zu befriedigen (Schlick, NK, 13). Die in diesem

6

Hier das vollständige Zitat aus Moral und Kultur: „Ebenso ist die Kulturphilosophie nicht dazu da, in den Lauf der Dinge einzugreifen; ihr Zweck besteht darin, in Fragen der Kultur die Wahrheit zu finden.“ (Schlick, A.126, Bl. 5)

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Zuge erzeugte Kultur, das heißt die natürliche Kultur, bestand Schlick zufolge zunächst nur aus „Schutzvorrichtungen“ gegen Kälte, Hunger und andere lebenswidrige Umstände (Schlick, NK, 12). Aufschlussreich ist dann eine Stelle von Natur und Kultur, wo Schlick ausdrücklich von der „‚natürliche[n]‘ Kultur“ spricht und ergänzt: „d. h. jene gute, echte [Kultur], die nicht im Gegensatz zur Natur steht, sondern ein Stück von ihr selber ist“ (Schlick, NK, 18). Natürliche Kultur ist demnach gute Kultur; und gute Kultur ein Stück der Natur. Was sich in dieser Verbindung des Natürlichen mit dem Guten zeigt, ist, dass Schlick die Begriffe „natürlich“ und „Natur“ normativ auflädt. Zieht man Schlicks oben schon erwähnte Lehrveranstaltung Ethik und Kulturphilosophie mit heran, lässt sich diese normative Aufladung durch Verweis auf die dortige Erläuterung verdeutlichen, „dass in der natürlichen Kultur die Forderungen der Moral verwirklicht sind“ (Ts19v). Das „natürlich“ und „Natur“ normativ imprägniert werden, wird in Natur und Kultur auch dadurch ersichtlich, dass Schlick, was böse ist, durch das bestimmt, was die natürliche Kultur zu einer gewissermaßen unnatürlichen Kultur macht. Seine These ist: Alles und nur das ist böse, was den Gegensatz der Kultur zur Natur schafft.7 Damit gibt es eine zweite Antwort auf die Frage, was an uns Menschen es ist, durch das der Gegensatz zur Natur aufgerissen wird. Die erste lautete: durch das Erkenntnisvermögen; die zweite lautet: durch das Böse. Beide Antworten hängen darin zusammen, dass das Erkenntnisvermögen zum Vehikel des Bösen, also der Erzeugung des Gegensatzes der Kultur zur Natur wird, wenn es missbraucht wird. Entsprechend schreibt Schlick: „Das Unnatürliche entsteht offenbar ganz allein durch den Mißbrauch der Vernunft“ (Schlick, NK, 13). Ein Missbrauch unseres Erkenntnisvermögens liegt Schlick zufolge nicht da vor, wo unsere Erkenntnisbemühungen zu Irrtümern führen, sondern betrifft einen schlechten Gebrauch von richtigen Einsichten. Ein Beispiel, das Schlick in diesem Zusammenhang nennt, ist, dass die richtige Einsicht, wie man ein Feuer erzeugt, dazu dienen kann, die Hütte seines Nachbarn anzuzünden (Schlick, NK, 15). Richtige Einsichten dienen grundsätzlich zur Befriedigung von Wünschen. Der Fall eines Missbrauchs, so Schlicks Punkt, liegt da vor, wo diese „Wünsche besser unbefriedigt geblieben wären“, wobei „besser“ heißt: „im Hinblick auf die Glücksfolgen besser“ (Schlick, NK, 15).

7

Schlick, NK, 18: „Böse ist alles, was diesen Gegensatz schafft. Ja, nur das ist böse, was die Kluft aufreißt und das Menschliche vom Natürlichen abtrennt“. An einer späteren Stelle erklärt Schlick auch, dass mit dem Ausdruck „Gegensatz“ in der Rede von einem „Gegensatz gegen die Natur“ ein „Wertverhältnis“ gemeint ist (Schlick, NK, 44).

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Schlick ist kein Anwalt eines „Zurück zur Natur!“. Sein Slogan ist nicht „Weniger Kultur!“, sondern wäre eher „Vorwärts zur natürlichen Kultur!“. Natürliche Kultur steht bei ihm nicht in einem Gegensatz zur Natur. Der Grund dafür ist aber nicht, dass kulturelle bzw. institutionelle Praktiken hier auf ein Minimum reduziert wären, sondern dass solche Praktiken in ihr der Befriedigung von Wünschen mit einer positiven allgemeinen Glücksbilanz dienen würden. Doch wenn das philosophische Setting hier nicht rousseauistisch ist; ist es dann utilitaristisch? Ebenfalls nicht; Schlick ist kein Utilitarist.8 Er macht sich, wie er etwa in Fragen der Ethik erläutert, nicht die Forderung zu eigen, „jeder müsse sich das Glück der Allgemeinheit als schlechthin letztes Ziel des Handelns setzen“; vielmehr meint er nur eine Tatsache festzustellen, wenn er schreibt, dass das „gut“ genannt wird, wovon die menschliche Gesellschaft glaubt, dass es ihr möglichst viel Glück bringt (Schlick 1930, 432f.). Gleichwohl möchte ich, indem ich Schlick den Aufruf „Vorwärts zur natürlichen Kultur!“ zuschreibe, die Einschätzung zum Ausdruck bringen, dass seine Kulturphilosophie einen normativen Anspruch erhebt. In einer Notiz zu „Natur, Kultur, Kunst“, die Rauscher nicht in die von ihm herausgegebene Nachlasspublikation Natur und Kultur aufgenommen hat, schreibt Schlick: „[D]as einzige Ziel der Kultur ist, natürlich zu werden, die Vollkommenheit auf einer höheren Stufe zu erreichen, die das Tier auf einer niederen besitzt“.9 Das kulturphilosophische Projekt „Vorwärts zur natürlichen Kultur“ schlägt sich in Schlicks Arbeit in einem Programm nieder, das man umrisshaft in Natur und Kultur ausmachen kann. Insgesamt war dieses Programm nicht so sehr auf die Frage der Beförderung allgemeiner Glücksfolgen als vielmehr auf die Frage der Verminderung von Kulturleid fokussiert. Dazu sollte es erstens um eine Analyse der verschiedenen Formen des Leidens an der Kultur gehen. Schlick unterscheidet in diesem Zusammenhang drei mit dem Kulturleid zusammenhängende Nöte: die Daseinsnot, die Liebesnot, die Geistesnot (Schlick, NK, 38). Zweitens sollte es dann um Überlegungen zu einer Verfassung von Kultur und Gesellschaft gehen, die dazu geeignet wäre, die Kulturleiden zu mindern.

8

In Fragen der Ethik gibt es einen Abschnitt „Kritik des Utilitarismus“. Dort wendet sich Schlick gegen den Utilitarismus als normative Ethik. Er sympathisiert zwar mit der utilitaristischen Begriffsbestimmung von „gut“, meint aber, dass sich aus ihr kein individueller Forderungscharakter ergibt, sondern dass sie lediglich den faktischen Gebrach von „gut“ in der menschlichen Gesellschaft erfasst (vgl. Schlick 1930, 432–434). In Natur und Kultur vertritt Schlick die Auffassung, dass die Vernunft, anders als Bentham glaube, nicht die Quelle der Moralregeln ist (Schlick, NK, 17); die „im Leben von Generationen gebildete Meinung der Gesellschaft (die trotzdem nicht richtig zu sein braucht) [kann] nicht durch ein einfaches raisonnement à la Bentham ersetzt werden“ (Schlick, NK, 37). 9 Vgl. dazu auch Ethik und Kulturphilosophie, Ts95v ff.

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Das ist allerdings nur in Bezug auf die Daseinsnot in Ansätzen ausgeführt. Entsprechend geht es um „Institutionen der Daseinssorge“, die Schlick zufolge „in ihrer Gesamtheit die Organisation des Staates und der Wirtschaft bilden“, wobei dem Staat „die negative Aufgabe, das Leben zu schützen“, zukommt, und der Wirtschaft „die positive Aufgabe der Erzeugung und Verteilung der zum Dasein und zum Genuß des Daseins erforderlichen Dinge (Güter)“ (Schlick, NK, 51). In diesem Kontext wird von Schlick auch die Technik diskutiert. Seiner Auffassung nach ist sie nicht per se für die Daseinsnot verantwortlich; vielmehr gehe es um die Vermeidung ihres Missbrauchs und positiv darum, dass sie „natürlich“ wird, wir also unsere Umgebung so umschaffen, dass wir darin mit ihr so leben wie in unserem „natürlichen Element, also wie die Vögel im Himmel, wie die Lilien auf dem Feld“.10

2

Schlicks Kulturbegriff im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über Kultur

Nachdem einige Grundzüge von Schlicks Philosophie der Kultur identifiziert sind, lässt sich sein Kulturbegriff nun im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über Kultur diskutieren. In der Zeit, in der Schlick über Kultur nachdenkt, ist das Thema wissenschaftlich virulent, wie ich hier nur schlaglichtartig skizzieren kann: Erstens wird von verschiedenen Einzelwissenschaften her über Kultur nachgedacht, etwa in der Tierforschung, und zwar in der Erforschung des Verhaltens nicht-menschlicher Tiere, wo beispielsweise Wolfgang Köhler Schimpansen beeindruckende kognitive Leistungen attestiert, aber schon „die geringsten Anfänge der Kulturentwicklung“ abspricht (Köhler 1921, 192); oder in der Ethnologie, wo es in der von Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers begründeten Wiener kulturhistorischen Schule im Horizont einer Kulturkreislehre um die Suche nach einer menschlichen Urkultur ging,11 oder von Seiten der Psychologie, für die beispielsweise Sigmund Freuds 1930 erschienene Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ stehen kann (Freud 1930).

10

Schlick, NK, 122f. Das auf das Kapitel zur Technik folgende und den zweiten Teil von Natur und Kultur abschließende Kapitel ist der Kunst gewidmet (Schlick, NK, 124). Im Unterschied zu den anderen Kapiteln dieses Teils ist allerdings fraglich, ob es gut unter die Überschrift „Daseinsnot“ passt und nicht eher für den nicht vorliegenden Teil zur „Geistesnot“ gedacht war. Zu Schlicks Auffassung von Kunst siehe im vorliegenden Band den Beitrag von Christian Bonnet. 11 Die Kulturkreislehre Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers geht vom Diffusionismus aus, das heißt, sie bemüht sich um die Untersuchung „der geographischen Verbreitung einzelner Kulturkomplexe“ unter der „Annahme eines gemeinsamen Herkunftsorts“ (Kohl 1993, 132); in diesem Zuge

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Zweitens hat das Thema „Kultur“ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch philosophisch stark an Bedeutung gewonnen. Es hatte sich eine Kulturphilosophie etabliert, die sich mit Kultur etwa in (a) lebensphilosophischer, (b) erkenntnistheoretischer oder (c) ontologischer Perspektive beschäftigt bzw. (d) sich selbst als prima philosophia verstand. (a) Von Seiten der Lebensphilosophie wird Kultur als etwas zugleich Unhintergehbares und Verhängnisvolles thematisiert, so beispielsweise in Georg Simmels „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“, für den Kultur eine Vermittlungsfunktion zwischen dem subjektiv geistigen Leben der Individuen und den objektiv geistigen Gebilden (etwa Institutionen) hat, die unverzichtbar, aber (zumindest in der Moderne) nicht mehr erfüllbar ist (Simmel 1911). Für eine spekulative Variante der Lebensphilosophie, derzufolge Kulturen mit Notwendigkeit einen Bogen von Aufstieg, Blütezeit und Niedergang durchlaufen, kann Oswald Spenglers damaliger Bestseller Der Untergang des Abendlandes genannt werden (Spengler 1918 und 1922). (b) In erkenntnistheoretischer Hinsicht bedürfen nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften einer methodologischen Reflexion. In dieser Hinsicht ist also eine Grundlegung der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften erforderlich. Das war etwa das Projekt von Wilhelm Diltheys Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Dilthey 1910). (c) Einen Gegenpol dazu bildet Hans Freyers Monographie Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Freyer versteht seine Kulturphilosophie ontologisch, genauer gesagt, im Sinne einer „objektiven Strukturlehre“ (Freyer 1928, 11) der menschlichen Kultur. Er schreibt: „Wir zielen nicht mehr auf Theorie der Kulturwissenschaften, sondern wir zielen auf Theorie der kulturellen Welt.“ (Freyer 1928, 11) (d) Der Tendenz nach als erste Philosophie bzw. als Erbin der Metaphysik wird die Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer verstanden, und zwar in Gestalt einer „Philosophie der symbolischen Formen“.12 Diese, so Cassirer, kann „den Anspruch auf Einheit und Universalität festhalten, den die Metaphysik in ihrer dogmatischen Gestalt aufgeben mußte. Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der

wird die These entwickelt, dass die rezenten „Urkulturvölker“ einen Eingottglauben vertreten, der die göttliche Uroffenbarung beweise (Schmidt/Koppers 1924, 135). 12 Dies ist auch der Titel von Cassirers Hauptwerk, dessen drei Bände 1923, 1925 und 1929 publiziert wurden.

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Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus jedem Versuch des Weltverständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit begreifen“.13 Wie verhält sich Schlick zu dem skizzierten Umfeld des Nachdenkens über Kultur? Schlick selbst spielt in Natur und Kultur kurz auf Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ an (Schlick, NK, 10). Außerdem setzt er sich dort ausführlich und sehr kritisch mit Spengler auseinander (Schlick, NK, 30–33, 41f.), und zwar mit dessen Schrift „Der Mensch und die Technik“ (Spengler 1931). Dilthey und Simmel dagegen werden zwar nicht in Natur und Kultur,14 aber in Schlicks oben erwähnter Vorlesung Philosophie der Kultur und Geschichte aus dem Sommer 1934 genannt. Dabei wird Dilthey kurz mit Blick auf den Verstehensbegriff sowie die Problematik des Historismus erwähnt15 und Simmel für seinen Gedanken eines individuellen Gesetzes kritisiert.16 Hans Freyers Kulturphilosophie schließlich spielt für Schlick, wenn ich richtig sehe, aber ebenso wenig eine Rolle wie die ethnologischen Autoren der Wiener Schule. Von einiger Bedeutung für Schlick waren allerdings sowohl Wolfgang Köhler als auch Ernst Cassirer. Das gilt zumindest im Kontext von Schlicks Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie seiner Naturphilosophie – und ist dort auch relativ gut erforscht. Dazu kann mit Blick auf das Verhältnis Schlick-Cassirer etwa auf Arbeiten von Matthias Neuber sowie Massimo Ferrari (Neuber 2011, Neuber 2012, Ferrari 2016) und mit Blick auf das Verhältnis Schlick-Köhler auf das Buch von Steffen Kluck (2008) verwiesen werden. Fragen zum Kulturbegriff spielen in der Forschung zu diesen Verhältnissen bislang aber allenfalls eine untergeordnete Rolle. Daher sei 13

So Cassirer in der ersten Studie von Die Logik der Kulturwissenschaften (Cassirer 1942, 376). In Natur und Kultur findet sich aber noch eine pauschale Bemerkung zur damals zeitgenössischen „Kulturphilosophie“: Diese enthalte „klapperdürre Gedanken, deren Dürftigkeit sich durch erhaben wallende Gewänder zu verhüllen sucht“, und sei „heute ein Ausweg für schlechte Philosophen“ (Schlick, NK, 9). 15 Schlick meint, wir können uns nachträglich in „die mit wiss. Methoden erforschte Situationen einfühlen: wenn man will, kann man das dann ‚verstehen‘ nennen. [/] (Dilthey hat diesen Terminus eingeführt, aber ihn nicht so aufgeblasen, wie seine Schule.)“ (Schlick, B.6, Bl. 17) –„Schriften gegen den Historismus: Ernst Troeltsch (Theologe) ‚Überwindung des Historismus‘. In der 2. Hälfte des 19. Jhd. suchte man den ‚historischen Sinn‘ (Dilthey) zu erwerben.“ (Schlick, B.6, Bl. 19) 16 Schlick, B.6, Bl. 24: „Georg Simmel: [/] In der Gesch. handle es sich um eine individuelle Kausalität, die notwendig, aber unerkennbar sei, weil sie individuell und unwiederholbar sei. Simmel verwechselt hier zwang und Kausalität. ‚Notwendigkeit‘ heisst nur ‚allgemeine Geltung‘ und hat mit Zwang nichts zu tun. Kausalität heisst ‚Geschehen nach allgem. Regeln‘. Wenn etwas nicht durch allgemeine Gesetze beschreibbar ist, ist es durch Gesetze überhaupt nicht beschreibbar. [/] ‚Individuelle Gesetze‘ ist eine contradictio in adjecto“. 14

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in Hinblick auf ersteres Verhältnis im vorliegenden Band auf den Beitrag von Germinal Ladmiral zu Schlick und der kulturphilosophischen Kritik Cassirers verwiesen. In Hinblick auf das Schlick-Köhler-Verhältnis in puncto Kultur können die Überlegungen des folgenden Abschnitts einen Beitrag leisten. Zuvor möchte ich aber Schlicks kulturphilosophischen Ansatz systematisch in den Kontext der genannten Konzeptionen von Kulturphilosophie einordnen. Entgegen den kulturpessimistischen Tendenzen einiger lebensphilosophischer Zugänge zur Kultur (Simmel, Spengler) ist Kultur für Schlick nichts Verhängnisvolles. Ob Kultur in Gegensatz zur Natur gerät bzw. bleibt, liegt in unserer Macht; und die Kulturphilosophie hat diesbezüglich eine propädeutische Funktion: Die Aufgabe, die sie wahrnehmen soll und kann, ist Schlick zufolge, die Überwindung des Gegensatzes der Kultur zur Natur durch Erkenntnis von dessen Ursprung vorzubereiten (Schlick, NK, 9). Darin zeigt sich, dass die Kulturphilosophie, so wie Schlick sie konzipiert, nicht zur theoretischen, sondern zur praktischen Philosophie gehört. Sie ist daher weder eine Erkenntnistheorie oder Methodologie der Kulturwissenschaften in der DiltheyTradition noch eine Ontologie der kulturellen Welt im Stile Freyers. Vielmehr ist sie um eine kulturkritische Analyse der verschiedenen Formen des Kulturleidens bemüht und auf eine solche Einrichtung der verschiedenen kulturellen Felder und Institutionen (Staat, Wirtschaft, Technik, Recht, Sitte, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion)17 hin orientiert, die dieses Leiden zurückdrängt. „Freude und Glück der Menschen“ bilden dabei den Fluchtpunkt, da sie „den einzigen Wertmaßstab der Kultur“ bilden (Schlick, NK, 15). Insofern Schlicks Kulturphilosophie anhand dieses Maßstabs, wie Anne Siegetsleitner herausstellt, „moralische Urteile über damaliges Kulturgeschehen“ fällt, lässt sie sich als „politische, Rechts- Wirtschafts- und Technikethik“ oder allgemein als „Angewandte Ethik“ verstehen (Siegetsleitner 2014, 323, 322). Schlicks Kulturphilosophie steht damit auch in einem deutlichen Abstand zu dem grundlegenden Cassirer’schen Projekt einer kulturphilosophischen Aneignung bzw. Transformation des Einheits- und Universalitätsanspruchs der älteren Metaphysik. Gleichwohl scheint Schlick in Bezug auf den Kulturprozess eine Intuition zu haben, die auch für Cassirer zentral ist: dass „Kulturentwicklung […] Entwicklung zur Freiheit“ ist (Schlick, NK, 48). Cassirer hat den entsprechenden Gedanken, dass „the process of culture is the process of the consciousness of freedom“, in einem Vortrag von 1936 auf Kant und Hegel zurückbezogen und ihn dahingehend ausgestaltet, dass

17

Zu dieser Aufzählung vgl. neben dem Inhaltsversverzeichnis von Natur und Kultur (Schlick, NK, 128) auch Schlick, NK, 39f.

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der Kulturprozess auf Freiheit als regulative Idee ausgerichtet ist und genau dies der kulturellen Welt ihre Einheit gibt.18 Schlick ist sich im Klaren darüber, dass er, wenn er „die ganze Kulturgeschichte“ als „Entwicklung von unbewußter zu bewußter Freiheit“ begreift, ebenfalls an Hegel anknüpft (Schlick, NK, 48). Während es Cassirer aber um eine kulturphilosophische Aktualisierung von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ unter metaphysikkritischen Vorzeichen geht (Wunsch 2011), geht es Schlick um eine kulturphilosophische Ausgestaltung seines eigenen Eudämonismus.19 Als Vernunftwesen hat der Mensch die „Fähigkeit des Vorausschauens, des Erfassens von Möglichkeiten“; worum es ihm dabei vor allem geht, ist, „neue Glücksmöglichkeiten [zu] erproben; dazu muss er immer neue Mittel versuchen, und die Zahl der Mittel ist ein Maß seiner Freiheit“ (Schlick, NK, 49). Schlick sieht die Entwicklung der Kultur zur Freiheit also im Glücksstreben der Menschen begründet.

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Schlicks Kulturbegriff im Kontext der Sachfrage des TierMensch-Unterschiedes

In einem dritten Zugang wende ich mich Schlicks Kulturbegriff im Zusammenhang mit einer bestimmten Sachfrage zu, und zwar der Frage, welche Rolle der Kulturbegriff für die Problematik des Unterschiedes zwischen Menschen und anderen Tieren spielt. Zur Vorbereitung möchte ich einige Thesen sammeln, die Schlick in Natur und Kultur vertritt. Ein Ausgangspunkt ist für Schlick dort, dass zwischen Menschen und anderen Tieren ein wesentlicher Unterschied besteht. Dabei würde ein Merkmal von Menschen einen solchen Unterschied markieren, wenn es nicht einmal in graduell abgestufter Form bei anderen Tieren vorkommt und wenn es in dem Sinne grundlegend ist, dass es Voraussetzung für vieles andere an Menschen ist. Schlicks These ist, dass der Intellekt, das Vermögen der Erkenntnis einen wesentlichen Unterschied in dem genannten Sinne ausmacht. Denn während Menschen über dieses Vermögen verfügen, haben die anderen Lebewesen Schlick zufolge allenfalls Instinkte (Schlick, 18

Es handelt sich dabei um den Vortrag „Critical Idealism as a Philosophy of Culture“, den Cassirer im Mai 1936 im Warburg-Institut (London) gehalten hat (Cassirer 1936, hier: 117f.). Nach Schlicks Ermordung am 22. Juni des Jahres war Cassirer im Dezember 1936 übrigens zu einem Vortrag mit dem Thema „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie“ in Wien, wo er ähnliche Überlegungen vorgetragen hat. Vgl. den unter diesem Titel knapp drei Jahre später veröffentlichen Aufsatz Cassirer 1939. 19 Die Rede von „Schlicks Eudämonismus“ übernehme ich von Siegetsleitner 2014, 323.

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NK, 12). Außerdem wird der Intellekt in sehr vielen menschlichen Tätigkeiten in Anspruch genommen und ist insofern grundlegend. „Die erste Tat des Verstandes“ ist Schlick zufolge „die Erfindung des Werkzeugs“ (Schlick, NK, 12). Die kulturphilosophische Relevanz dieser These ergibt sich aus dem direkten Zusammenhang, den Schlick zwischen „Werkzeug“ und „Kultur“ herstellt. Er meint, dass „Kultur mit dem Werkzeug beginnt und mit dem Werkzeug fortschreitet“.20 Man kann seine Position daher so formulieren: (1) Kultur entsteht durch Werkzeuggebrauch.21 Vor dem gesamten skizzierten Hintergrund ergibt sich außerdem: (2) „Kultur“ ist ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und anderen Tieren. Denn wenn der Intellekt das ist, was Menschen haben, andere Tiere aber nicht, und „[n]ur durch“ ihn „die Kultur gemacht werden“ konnte (Schlick, NK, 12), dann markiert „Kultur“ einen Tier-Mensch-Unterschied. Schlick drückt das an einer Stelle von Natur und Kultur so aus, dass „Kultur“ und anderes, was als „Widerpart der Natur betrachtet wird – etwa „Geist“, „Freiheit“ und „Geschichte“ – „nur das Wesen ‚Mensch‘ auszeichnen“ (Schlick, NK, 20; vgl. 23). Die beiden genannten Thesen stehen allerdings in Spannung zu einer dritten, die sich aus der Arbeit von Wolfgang Köhler ergibt. Köhler gilt zusammen mit Kurt Koffka und Max Wertheimer als einer der Hauptvertreter der Gestalttheorie.22 Er spielt auch für Schlick eine Rolle, aber vorwiegend in der Erkenntnistheorie und Naturphilosophie. So wirft Schlick etwa am Ende seines Aufsatzes zur Naturphilosophie von 1925 die Frage auf, ob der gestalttheoretische Zugang, den Köhler in seinem Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1920), ein besseres Verständnis der Einheit von unbelebter und belebter Natur ermöglichen kann (Schlick 1925, 739). Köhler ist aber nicht nur als Autor von grundlegenden Texten zur Gestalttheorie, sondern auch als Pionier der Verhaltensforschung an nichtmenschlichen Primaten hervorgetreten (Hartung/ Wunsch 2016). Er leitete von 1913 20

Schlick, NK, 27, vgl. 29. Schlick sieht zwischen Werkzeugbegriff und Kulturbegriff noch einen anderen direkten Zusammenhang. Denn er versteht den menschlichen Intellekt selbst als eine Art Werkzeug, das uns „die Natur […] gab“ und durch das „die Kultur gemacht werden“ konnte (Schlick, NK, 12). 21 Anders gesagt: Werkzeuggebrauch führt zur Entstehung von Kultur. 22 Zur Gestalttheorie insgesamt siehe Ash 1998.

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bis 1920 die Anthropoiden-Station der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa und hat in diesem Rahmen zahlreiche Verhaltensexperimente vor allem mit Schimpansen durchgeführt. Seine Forschung ist in Intelligenzprüfungen an Anthropoiden (1917) bzw. an Menschenaffen (1921) dokumentiert. Schlick weiß von dem Werk und erwähnt es in einem Brief an Bertrand Russell von 1923. Ebenso spricht er in einer Vorlesung zur Geschichte der Philosophie, die er 1921 in Kiel gehalten hat, über die „Chimpansen von Teneriffa“ und meint, sie seien nicht „imstande, sich zu wirklicher Erkenntnis irgend eines mathematischen Satzes durchzuringen“ (Schlick, A.13a, Bl. 1). Es lässt sich aber nicht feststellen, dass Schlick irgendwo die positiven Ergebnisse berücksichtigt, zu denen Köhler in seinen Verhaltensexperimenten gekommen ist. Im Kern besagen diese Ergebnisse, dass Schimpansen über Intelligenz verfügen und fähig sind, Werkzeuge zu gebrauchen und zu erfinden (Köhler 1921). Mit Blick auf die Frage, welche Rolle der Kulturbegriff für die Frage nach dem Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren spielt, ist daran vor allem wichtig: (3) Nicht-menschliche Tiere sind zu Werkzeuggebrauch fähig. Es ist dieser empirische Befund, der in einer Spannung zu den beiden Thesen Schlicks steht, die ich zuvor festgehalten habe. Deutlicher gesagt: Die Sätze (1), (2) und (3) bilden ein Trilemma; zwei beliebige dieser Sätze stehen in jedem Fall im Widerspruch zum jeweils dritten: a) Wenn Kultur durch Werkzeuggebrauch entsteht (1), „Kultur“ aber auch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und anderen Tieren ist (2), dann dürften nicht-menschliche Tiere nicht zu Werkzeuggebrauch in der Lage sein, was im Widerspruch zu (3) steht. b) Wenn aber nicht-menschliche Tiere zu Werkzeuggebrauch fähig sind (3) und dadurch Kultur entsteht (1), dann kann „Kultur“ – contra (2) – kein Menschen und andere Tiere unterscheidendes Merkmal sein. c) Wenn „Kultur“ schließlich ein Menschen und andere Tiere unterscheidendes Merkmal sein soll (2) und nicht-menschliche Tiere zu Werkzeuggebrauch fähig sind (3), dann kann es, anders als in (1) behauptet, nicht Werkzeuggebrauch sein, wodurch Kultur entsteht. Schlick vertritt die Sätze (1) und (2), ist sich offenbar aber nicht im Klaren, dass (3) gilt. Angesichts des dargelegten Trilemmas scheint er also eine der beiden Thesen aufgeben zu müssen. Doch es gibt auch andere Optionen, mit dem Problem umzugehen. Ich möchte zwei nennen:

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Man könnte erstens verschiedene Begriffe von Kultur unterscheiden. Konkreter gesagt, ließe sich das, was Satz (1) zufolge durch Werkzeuggebrauch entsteht (Kultur), von dem unterscheiden, worauf sich das in (2) genannte Merkmal „Kultur“ bezieht. Das Unterscheidungsmerkmal aus (2), so könnte man sagen, bezieht sich auf die spezifisch menschliche Kultur, während „Kultur“ in (1) auch die heute sogenannten „animal cultures“ umfasst. Diese Lösungsmöglichkeit hat gegenwärtig weite Verbreitung (Laland/ Galef 2009). Seit in den 1950er Jahren auf der japanischen Insel Koshima beobachtet wurde, wie sich das Verhalten von bestimmten Affen, sandige Kartoffeln vor dem Verzehr im Meer zu waschen, entwickelt und in der betreffenden Population ausgebreitet hat, stellen die Kartoffeln waschenden Makaken ein Lehrbuchbeispiel für tierliche Kultur dar (De Waal 2002, 186 ff.). Die Option, einige nicht-menschliche Tiere als Kulturwesen zu verstehen, kam jedoch weder für Schlick noch für Köhler wirklich in Betracht.23 Insofern hat diese erste Lösungsmöglichkeit etwas Anachronistisches. Doch es lassen sich auch zweitens verschiedene Begriffe von Werkzeuggebrauch bzw. Werkzeug unterscheiden. So könnte „Werkzeuggebrauch“ in (1) etwas anderes bedeuten als in (3). Für diese Variante scheint es tatsächlich einige Anhaltspunkte in Natur und Kultur zu geben. Denn dort lassen sich ein weiter und ein enger Begriff von Werkzeug unterscheiden. Der weite Werkzeugbegriff ist dort im Spiel, wo Schlick erklärt, man könne „den Sandtrichter des Ameisenlöwen“, „die Waben der Bienen“, „den Nest- und Höhlenbau so vieler Tierarten“, „wenn auch einigermaßen gezwungen, als werkzeugmäßig bezeichnen“ (Schlick, NK, 28). Solche Überlegungen passen gut zu der Behauptung, dass nicht-menschliche Tiere zu Werkzeuggebrauch fähig sind (3). In einem ähnlichen Sinn ist in Bezug auf die „Herstellung von Werkzeugen“ auch in der Nachschrift von Schlicks Vorlesung Ethik und Kulturphilosophie zu lesen: „das tut das Tier nicht im selben Sinn; dazu gehört die menschliche Erfindungsgabe, das Voraussehen, das für den menschlichen Verstand eigentümlich ist“ (Ts10v–Ts11r). Wenn man, was Schlick hier von der Werkzeugherstellung sagt, auf den Werkzeuggebrauch übertragen kann, und zwar dass dieser bei Menschen und nichtmenschlichen Tieren in verschiedenem Sinn erfolgt, dann ließe sich das Trilemma lösen. Denn dass Kultur spe-

23

Für Köhler stand fest, dass den Schimpansen nicht einmal „die geringsten Anfänge der Kulturentwicklung“ gelingen (Köhler 1921, 192). Schlick meint, „dass wir bei den Tieren nicht von […] Kultur“ sprechen; „das tun wir tatsächlich nicht; es sind nur Ausnahmen, wenn man von einer Kultur der Ameisen oder der Bienen spricht und das Wort ‚Kultur‘ hat dann auch einen besonderen Sinn“ (Ethik und Kulturphilosophie, Ts7v).

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zifisch menschlich ist (2) und durch Werkzeuggebrauch entsteht (1), wäre damit verträglich, dass auch nichtmenschliche Tiere, wenn auch in einem verschiedenen Sinn, Werkzeuge gebrauchen (3). Die Frage, die sich dann stellt, ist allerdings, wie der enge Werkzeugbegriff zu fassen wäre, der in der Behauptung vorkommt, dass Kultur – verstanden als menschliches Monopol (1) – durch Werkzeuggebrauch entsteht (2). Von Schlicks Natur und Kultur her kann man auch Anhaltspunkte für einen solchen engen Werkzeugbegriff finden. Er hängt mit dem Begriff der Institutionen und einem engen Kulturbegriff zusammen. Schlick schreibt: „Das entscheidende Merkmal der Kultur ist das Zusammenfassen, Organisieren der Naturvorgänge nach einem Plan. Ich nannte es […] die ‚Institutionen‘“ (Schlick, NK, 26). Versteht man Kultur von den Institutionen her, also etwa als Inbegriff der institutionellen Tatsachen, dann sind die Werkzeuge, um die es in Satz (1) geht, also die Werkzeuge, durch deren Gebrauch Kultur entsteht, als institutionelle Werkzeuge (wie 10-Euro-Scheine oder ein Zepter) oder selbst als Institutionen (wie Schulen oder Gerichte) zu verstehen.24 Das passt auch gut zu Satz (2). Denn nicht-menschliche Tiere schaffen keine Institutionen, die Geld, Regierungen oder Gerichten vergleichbar wären. Daher kann festgehalten werden, dass „Kultur“ ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und anderen Tieren ist (2). Andere Tiere scheinen nicht in der Lage zu sein, einen kulturellen gemeinsamen Hintergrund – das heißt: kollektiv bekannte Konventionen, Normen und Institutionen – mit aufzubauen, sich ihn anzueignen, an ihm teilzuhaben und ihn weiterzugeben. So zumindest die empirisch gut abgesicherte These von Michael Tomasello, der diese Fähigkeit „kollektive Intentionalität“ nennt.25 Entsprechend sind andere Tiere auch nicht fähig, Institutionen oder institutionelle Werkzeuge zu gebrauchen und insofern trifft die Behauptung (3) für den engen Begriff von Werkzeug nicht zu. Da sie jedoch für Schlicks weiten Werkzeugbegriff und mit Blick auf die von Köhler erzielten Ergebnisse überzeugend ist, ist das unproblematisch. Insgesamt könnte Schlick daher Satz (3) zugestehen und trotzdem – und zwar vor dem Hintergrund seines engen Werkzeugbegriffs, unter den Institutionen und institutionelle Werkzeuge fallen – an den Sätzen (1) und (2) festhalten. Seine Kulturphilosophie stellt daher begriffliche Ressourcen bereit, um das genannte Trilemma zu überwinden.

24

Schlick scheint selbst in diese Richtung zu gehen, wenn er meint, dass Institutionen vom Menschen geschaffene „Komplexe von Vorrichtungen“ sind, „die nun greifbar als diejenigen geformten Gegenstände vorliegen, die man Werkzeuge“ nennt (Schlick, NK, 27). 25 Tomasello 2014, 5f. Seine Verwendung des Ausdrucks weicht von derjenigen John Searles ab, der den Terminus in die Debatte eingeführt hat. Was Tomasello „kollektive Intentionalität“ nennt, würde Searle als „kollektive Intentionalität plus Fähigkeit der Zuweisung von Statusfunktionen“ verstehen (siehe dazu ausführlich Searle 1995).

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Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers1 Germinal Ladmiral

Cassirer stand aus systematischen, erkenntnistheoretischen und kulturphilosophischen Gründen im Gegensatz zum logischen Empirismus. Er hat, grob gesagt, drei verschiedene Positionen vertreten: erstens eine wissenschaftstheoretische, die auf Anfang der 1920er Jahre zu datieren ist und sich völlig entfaltete, zweitens eine allgemeine erkenntnistheoretische Position, die sich aus verschiedenen Textstellen der 20er und 30er Jahre rekonstruieren lässt, und drittens eine kulturphilosophische, die philosophische Anthropologie betreffende Position – die sich aus Studien der 40er Jahre, systematischen Erforschungen und nachgelassenen Texten ermitteln lässt. Der erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung wurden bereits ausführliche Studien gewidmet. All diese Studien befassen sich hauptsächlich mit der Deutung der allgemeinen Relativitätstheorie und der Raumlehre. Sie behandeln die Frage, ob Schlicks Versuch, die Unverträglichkeit der kantischen Lehre mit der Relativitätstheorie nachzuweisen, geglückt ist oder nicht. Als überzeugte Verteidiger Schlicks bzw. eines realistischen Standpunktes wären Neuber (2012, 2013) und Seck (2008) zu erwähnen. Ryckman (2005) ist ein Verteidiger eines gewissermaßen revidierten idealistischen Standpunktes. Obwohl Friedman (1999) die Relevanz des synthetischen Apriori verteidigt, liegt er, wenn ich nicht irre, in der Mitte, weil sein Begriff des „relativierten Apriori“ mit einer realistischen Auffassung nicht unverträglich ist. Es wäre möglich, dass das für die Ansicht des späten Cassirers auch der Fall ist, je nachdem, welche Textstellen besonders aufmerksam untersucht werden. Ich möchte hier drei philosophiegeschichtliche und systematische Vermutungen diskutieren. 1.) Obwohl es wenige veröffentlichte Textstellen gibt, die der Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus gewidmet sind, war diese für die Wende Cassirers 1

Die deutsche Fassung des vorliegenden Aufsatzes wurde an vielen Stellen von Martin Lemke verbessert. Ihm und seinen Kolleg/innen der Moritz-Schlick-Forschungsstelle gilt mein herzlicher Dank. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_4

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vom Neukantianismus Marburger Prägung zur allgemeinen Kulturphilosophie bedeutsam. Vor dem Hintergrund dieser Wende zur Kultur erweisen sich die Einwände Cassirers als nur teilweise kantianisch geprägt. 2.) Einerseits sind die schwerwiegendsten Einwände Cassirers eher antireduktionistisch als idealistisch zu verstehen, mögen sie nun gegen den Physikalismus, den Naturalismus oder den sogenannten „dogmatischen Empirismus“ vorgebracht werden. Sollte sich Cassirers Kritik als berechtigt erweisen, könnte und sollte ein zwar liberalisierter, aber seiner Grundeinstellung treu bleibender Empirismus auf die physikalische (bzw. „psychologische“) Rückführbarkeit aller bedeutungsvollen Aussagen verzichten und den Unterschied zwischen Metaphysischem und Metaphysikalischem anerkennen. 3.) Andererseits betreffen die gegen den logischen Empirismus gerichteten Einwände in erster Linie gewisse Ecksteine der kantischen Lehre, nämlich die Gegenüberstellung der Erscheinungs- und der Verstandeswelt sowie den Anspruch, den Einzelwissenschaften eine Grundlegung zu verschaffen. Dementsprechend ist es nicht nur Rhetorik, wenn Cassirer im Nachlass seine eigene Stellung als „kritischen Empirismus“ (Cassirer, ECN 4, 179) bezeichnet – was auch nicht bedeuten soll, beide Grundeinrichtungen hätten zusammenfallen können.

1

Die Bedeutsamkeit der Auseinandersetzung mit Schlick für das Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen

Bekanntlich hat der Versuch, die neukantianische Erkenntnislehre zu widerlegen, und die Auseinandersetzung zwischen Schlick und Cassirer über die Relativitätstheorie viel zur Entstehung des logischen Empirismus beigetragen. Dieser Streit erweist sich auch für die Entwicklung von Cassirers Philosophie als wichtig. Deren erkenntnistheoretischer und auch kulturphilosophischer Hintergrund soll erforscht werden. Ich möchte hierzu die folgende exegetische Vermutung aufstellen: Die erwiesene Unhaltbarkeit der kantischen Lehre des Apriori und die dann offene Frage, wodurch diese zu ersetzen sei, haben nicht nur zu Schlicks Wende zur Sprache, sondern auch zu Cassirers Wende zur Kultur beigetragen. Der Zeichenbegriff war der Knotenpunkt der antimetaphysischen Haltung beider Philosophen: Wenn Erkenntnis als eine Art von Bezeichnung anerkannt wird, dann müsse auch anerkannt werden, dass es eine Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit einfach nicht gibt. Diese Frage beiseite zu lassen, ist aber kein skeptisches Entsagen. Was jedoch geändert werden sollte, ist die

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philosophische Fragestellung. Deren Schwerpunkt verschiebt sich von Wahrheitsund Begründungs- zu Sinn- und Bedeutungsfragen. Zunächst müssen die Hauptzüge unterstrichen werden, die den beiden Autoren gemeinsam sind. Diese verdanken sie dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Kontext, und zwar der sogenannten „Krise der Anschauung“. 1.) Um 1910 liegen die Ausgangspunkte von Cassirer und Schlick ziemlich nah beieinander, sie teilen die relationale bzw. funktionale Auffassung von Erkenntnis und des Gegenstandes der Erkenntnis. Für beide Autoren spielt der Begriff des Zeichens eine entscheidende erkenntnistheoretische Rolle; für beide ist er das wichtigste Hilfsmittel bei der Abschaffung der müßigen Fragen der sogenannten „Ontologie“. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutsamkeit der Relationslogik für die Erkenntnistheorie von Cassirer (1907) betont. In seinem der Widerlegung der kantischen Auffassung der Mathematik gewidmeten Aufsatz „Kant und die moderne Mathematik“ hatte er schon bemerkt, dass der Logizismus einer strengen rationalistischen Strömung zuzurechnen sei, deren Anspruch, auch die Grundsätze zu beweisen, anstatt sich auf die Anschauung zu stützen, schon von Leibniz erhoben wurde.2 Doch damit sei auch das Risiko eines Rückfalls verbunden. Denn die Ausschaltung der reinen Anschauung mag zugunsten eines einfachen Empirismus geschehen und sich vom rationalistischen Standpunkt aus als missglückt erweisen. In dieser Hinsicht hatte Cassirer schon 1907 eine Grundthese über den logischen Empirismus – nämlich, dass das Apriori mit dem Logischen überhaupt zusammenfalle – antizipiert und abgelehnt. Cassirer sah die theoretische Möglichkeit voraus, in Bezug auf die Mathematik „rationalistischer“ als Kant zu sein, indem er diese im Großen und Ganzen als Logik betrachtete, und in Bezug auf die Physik „empiristischer“ als Kant zu sein. Allerdings sah er in der zweiten Möglichkeit eine Sackgasse, die in den Humeschen Skeptizismus führt, weil sie die Möglichkeit rationalen Wissens innerhalb der Naturwissenschaften leugnet. Auf dieser Basis versuchte Cassirer, die Tätigkeit des reinen Verstandes mit der rein funktionalen Bestimmung des Gegenstandes der Erkenntnis zu identifizieren (vgl. Cassirer 1910, VI) und die Geschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt als eine Funktionalisierung der Begriffsbildung darzustellen. Dieser Vorgang bestimme auch eine Entwicklung der Philosophie, die von der Metaphysik zur Erkenntniskritik führen solle. Diese Ansicht vertrat auch Schlick, der in der Allgemeinen Erkenntnislehre (AEL) den alten Begriff der Substanz für unzweckmäßig erklärte (vgl. Schlick, MSGA I/1,

2

Vgl. Cassirer, 1907, 31.f.; 1929, IV, § 1 und 1957, 30f., 43, 59, 73.

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628). Zwei der wichtigsten Kapitel der AEL sind gegen jene substantialistische Auffassung des Gegenstandes der Erkenntnis gerichtet. Im siebten Kapitel ist der Mangel an Bestimmtheit nämlich nicht der einzige Grund, implizite Definitionen der jeweiligen Grundbegriffe gegenüber expliziten vorzuziehen und das Hilbertsche Verfahren in den empirischen Wissenschaften zu verwenden. Dieses Verfahren schaltet auch die Illusion aus, wir könnten und müssten irgendein Wesen der Dinge begreifen. Die wechselseitige, strukturale Kennzeichnung des intendierten Bereiches ist Schlick zufolge für dessen Erkenntnis hinreichend (vgl. Schlick, MSGA I/1, 207f.). Deswegen erklärt Schlick auch den Glauben an ganz bestimmte „Grundbegriffe“ oder „Grundsätze“ für falsch. Man könne gleichermaßen die Mechanik aus verschiedenen primitiven Begriffen darstellen, ohne ihren echten, empirischen Gehalt zu verändern (vgl. Schlick, MSGA I/1, 625ff.). 2.) In den 1920er Jahren war bekanntlich der Streit um die erkenntnistheoretischen Folgerungen der allgemeinen Relativitätstheorie der größte Anlass, sowohl die neukantianische Richtung Cassirers als auch die empiristische Schlicks zu erneuern und näher zu bestimmen. Im Kampf gegen jedes synthetische Apriori übernahm Schlick den Begriff der Konvention von Poincaré, der ironischerweise ein heterodoxer Kantianer war, und erweiterte ihn stark, so dass alle nicht empirisch prüfbaren Sätze der Naturwissenschaft zu Festsetzungen werden sollten. Cassirer hatte die reine Anschauung bereits dem mathematischen Fortschritt geopfert. Doch er versuchte, in seinem der Relativitätstheorie gewidmeten Text zu zeigen, dass die neuere Physik mit den Grundeinsichten des Kritizismus im Einklang stand: Die Fortpflanzung einer sich selbst identischen Substanz sei durch die Kovarianz in allen Bezugssystemen von gesetzmäßigen Zusammenhängen ersetzt worden. Diese Kovarianz sei allein Objektivität stiftend; die allgemeinen kovarianten Feldgleichungen Einsteins seien ein glänzendes Beispiel des Bestrebens, die reine Idee der Einheit der Natur „formaliter spectata“ zu vollziehen. Aus diesem Grund wollte Schlick (1921) den kritizistischen Charakter des Cassirerschen Ansatzes bestreiten, denn der reine Verstand sei kein „Urheber“ der Erfahrung in der Cassirerschen Deutung der neueren Physik und habe eine schlechthin regulative Funktion. Cassirer (1921) unterstrich, der reine Empirist könne aber solche der Forschung immanenten Forderungen, wie etwa die nach der schwer näher zu bestimmenden Einfachheit oder Voraussetzungen wie die der Gesetzmäßigkeit überhaupt, kaum erfüllen. Dieses Argument hätte Schlick jedoch als den typischen Fehlschluss bezeichnet, den man der Humeschen Auffassung der Kausalität gegenüberzustellen pflegt. Denn keinem Denker sei es gelungen, den Glauben an feste Gesetzmäßigkeiten sicher zu

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begründen; und es kann Schlick zufolge auch keinem je gelingen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 743–755). Auch Cassirer verzichtet auf ein solches Vorhaben, was zu einer gewissen Wende seiner Philosophie beigetragen haben dürfte. Nicht zufälligerweise wird in seiner Studie über Einstein eine Umwandlung der Philosophie zur Untersuchung der verschiedenen symbolischen Formen ganz deutlich angekündigt (Cassirer 1921, 119). Im Schlusskapitel „Die Relativitätstheorie und das Problem der Realität“ gibt es drei für unser Thema bedeutsame Stellungnahmen: i) Der Physikalismus sei sowohl erkenntnistheoretisch (Physik als Musterbeispiel jeder Wirklichkeitserkenntnis) als auch ontologisch (alle Ereignisse der Welt sind letzten Endes mit physikalischen Vorgängen identisch) unzulässig. ii) Die selbstständigen Bereiche der Kultur (z. B. Kunst, Ethik, Wissenschaft) bilden diverse symbolische Formen. iii) Deren Grundbeschaffenheit und Sinngebung zu erforschen sowie in ein System einzufügen, sei die Aufgabe einer allgemeinen systematischen Philosophie. Hier bestimmt Cassirer seinen Kritizismus ausdrücklich im Gegensatz zum Dogmatismus, zu dem der Physikalismus gehöre. Der Dogmatismus bestehe eben darin, diese gleichberechtigten Formen symbolischer Gestaltung der Idee einer einheitlichen Wirklichkeit zu opfern, anders gesagt: diese Idee nicht nur regulativ, sondern konstitutiv zu gebrauchen. Der Physikalismus ist ein Beispiel für den Dogmatismus, denn er erkennt nur eine Bestimmung der Wirklichkeit an, nämlich die der Physik, und will alle anderen entweder als ohne kognitiven Inhalt (wie etwa die der Ethik) betrachten oder auf die physische zurückführen (wie etwa die der Psychologie). 3.) Nach dem Streit um die philosophische Deutung der Relativitätstheorie wird Schlicks Empirismus durch Cassirer nur noch einmal besprochen, und zwar im Vortrag Erkenntnistheorie nebst der Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie. Gegen den empiristischen Realismus der AEL erhebt Cassirer (1927) dort drei Haupteinwände: a) Schlick habe Kants Begriff des Dinges an sich missverstanden und daher auch nicht überzeugend widerlegt. Grundsätzlich seien Kant und Schlick empirische Realisten, wie auch „die Widerlegung des Idealismus“ in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beweise. Zwischen AEL und KrV wird von Cassirer sogar eine begriffliche und systematische Übersetzung skizziert. Dem Schlickschen (physischen) Ding an sich entspräche das kantische Phaenomen, der Schlickschen Unterscheidung zwischen dem (physikalisch) zu erkennenden Gegenstand und den nur einfach vorhandenen und daseienden Erlebnissen entspräche die kantische Unterscheidung zwischen dem Gegenstand der Erfahrung überhaupt (dem Erfahrungsurteil entsprechend) und dem Man-

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nigfaltigen der Empfindung (dem Wahrnehmungsurteil entsprechend); dem Schlickschen Wirklichkeitsmerkmal der eindeutigen Zeitbestimmung entspräche die notwendige Einordnung in eine Zeitreihe in den Analogien der Erfahrung (vgl. Cassirer 1927, 70f., Anm. 18). Deswegen wäre auch Schlicks Realismus mit seiner Humeschen Auffassung der Gesetzmäßigkeit in der Natur schwer in Einklang zu bringen. Im Grunde seien Kant und Schlick nur im ethischen Bereich, in praktischer Philosophie, besonders der Freiheitsidee gegenüber, nicht zu versöhnen. (Das ist besonders einfallsreich, denn Cassirer konnte zu dieser Zeit natürlich noch nichts von Schlicks Fragen der Ethik (1930) wissen, in denen dieser sich auch gegen die kantische Pflichtethik richten und Humes „chance argument“ zustimmen sollte (Schlick, MSGA, I/3, 483f.). Ein Unterschied wird hier aber doch von Cassirer nicht beachtet. Schon in der AEL verteidigt Schlick ausdrücklich eine kausale Wahrnehmungstheorie: „Ein Objekt wahrnehmen heißt schließlich immer: Wirkungen erleben, die von ihm ausgehen.“ (MSGA I/1, 521) Zwischen physischem Ding an sich (oder gar: Vorgang an sich) und erkennendem Subjekt wird also ein natürlicher, kausaler Zusammenhang angenommen. Dieser ist naturwissenschaftlich und empirisch zu erforschen. Deswegen soll, so Schlick, die sogenannte transzendentale Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zum Teil durch biologische oder psychologische sowie empirische Untersuchungen ersetzt, zum Teil als eine rein logische Frage nach der Gültigkeit verschiedener Inferenzen gleichgesetzt werden.3 Diesbezüglich behauptet Schlick in seiner Antwort auf Cassirers Aufsatz, die Kantische Auffassung der Erscheinung, des empirischen Gegenstandes scheine „nicht völlig widerspruchsfrei konstituiert zu sein“. Vielmehr wäre es unklar, wie „sich die Wahrnehmung vom wahrgenommenen Gegenstand“ unterscheide.4 Was Schlick hier der Kantischen Lehre vorwirft, hat mit der Frage zu tun, ob ein kausaler, dann auch natürlicher Zusammenhang zwischen Subjekt und Ding an sich besteht. Wäre dies zu bejahen, dann wäre das Ding an sich von den physischen Vorgängen nicht zu unterscheiden, die als Ursache gewisse sinnliche Empfindungen hervorbringen. Wäre dies zu verneinen, dann würde ganz unklar, wie ein Phänomen mit dem entsprechenden Ding an sich verbunden sein soll. In der AEL wird also eine naturalistische Auffassung des erkennenden Subjekts wenigstens indirekt verteidigt. Konsequent kommt diese der Humeschen Haltung sehr nah und ist jener des Idealismus

3

Siehe die Einwände gegen die Möglichkeit einer „transzendentalen Deduktion“ sowie die Einteilung der Induktionsfrage in einen empirischen, ja psychologischen Teil und einen logischen (Schlick, MSGA I/1, 725f. sowie 784–787). 4 Moritz Schlick an Ernst Cassirer, 30. März 1927.

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entgegengesetzt. Diese naturalistische Tendenz ist es, der Cassirer sich immer deutlicher entgegenstellen sollte. b) Der Begriff sei, anders als in der ersten Auflage der AEL behauptet, mehr als eine bloße Fiktion, die man irgendwelchen Tatsachen zuordne, um den Aufbau von Theorien zu ermöglichen. Brieflich schrieb Schlick an Cassirer, er habe sich schon in der zweiten Auflage der AEL von jenem Fiktionalismus getrennt.5 Es blieben aber schwierige, begriffliche Probleme – dabei handelt es sich meines Erachtens um die Schwierigkeiten des alten Streites um die Existenz von Universalien, welche die Erkenntnis erst ermöglichen. Diese Schwierigkeiten tauchten immer wieder auf und wurden anhand des Streites um die Grundlegung der Mathematik wiedererweckt. Diese letzte Schwierigkeit ist Schlick zufolge eine, die Wittgenstein „spielend zu überwinden“ gelungen sei.6 Genauso optimistisch sind die wenigen Sätze, die in beiden Auflagen der AEL diesen Fragen gewidmet sind (vgl. Schlick, MSGA I/1, 740f.), und nach denen der Gegensatz zwischen Hilberts formaler und Russells inhaltlicher Auffassung der Zahlen bald überwunden werden könne. In der zweiten Auflage der AEL wird behauptet, es solle nicht von Begriffen, sondern nur von einer begrifflichen Funktion gesprochen werden. Es lässt sich aber vermuten, dass zweckmäßig gewählte Konventionen (im Sinne Poincarés) diese Funktion leisten sollen, was auf ein allgemeineres Problem hinweist, das die Rolle der Vernunft, die allgemeinen Voraussetzungen der geistigen Tätigkeiten betrifft, die – so Cassirer – jeder Naturerkenntnis, ja jeder Weltgestaltung zugrunde liegen. c) Der dritte Einwand Cassirers ist mit diesem letzten Problem eng verbunden, weil er die Schwierigkeiten einer streng „nominalistischen“ oder „sprachlichen“ Lehre des Begriffes hervorhebt. Jedoch betrifft er allgemeinere, sprachphilosophische Betrachtungen. Genauso wie Russell (dessen Analysis of Mind der zweite Abschnitt von Cassirers Aufsatz von 1927 gewidmet ist) habe Schlick die Bedeutsamkeit der Zeichen für die Erkenntnis, ja für die objektivierende Funktion überhaupt verkannt. Dem Behaviorismus zustimmend habe Russell die konstitutive Es-Relation des Denkens auf einen reinen mnemischen kausalen Zusammenhang reduzieren wollen. In ähnlicher Weise habe Schlick nur das „negative Moment“ (Cassirer 1927, 78) des Zeichens anerkannt, das heißt die Trennung zwischen Zeichen und Bezeichnendem und die relativ willkürliche Natur des Zeichens. Doch müsse auch mit dem positiven Moment des Zeichens gerechnet werden, um dessen Funktion für die Erkenntnis und Gestaltung der 5 6

Vgl. Moritz Schlick an Ernst Cassirer, 30. März 1927. Moritz Schlick an Albert Einstein, 14. Juli 1927.

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Tatsachen überhaupt erst recht zu deuten. Es handle sich darum, die geistige Tätigkeit oder Funktion, welche die Zeichen stiften, zu erforschen und deren grundlegende Funktion explizit zu machen. Hier handelt es sich um eine neue Gestaltung des synthetischen Apriori, was Cassirer brieflich auch skizziert hatte: Seinen Überlegungen nach dürften grundlegende oder sinnstiftende Voraussetzungen, wie etwa (für die physikalische Erkenntnis) der Grundsatz der Eindeutigkeit der Zuordnung nicht als bloße „Konventionen“ betrachtet werden. Im Gegenteil, sie seien ein „Ausdruck der ‚Vernunft‘, des Logos selbst.“7 Bekanntlich liegt bei Kant die apriorische Synthesis der Möglichkeit der logischen Analyse zugrunde: Ohne reine, erst durch synthetische Apperzeption gewonnene Begriffe und Urteile hätte die Analyse gar keinen Inhalt. Es gäbe nichts oder nichts Begriffliches, das zerlegt werden könnte.8 Und durch die einfache empirische Synthesis würde nur „subjektive“, bloß zufällige Gültigkeit gewonnen (vgl. KrV, B 135, Anm.). Je nach der Grundansicht tauchen damit verbundene Probleme auf. Wodurch soll der Empirist das synthetische Apriori ersetzen? Inwieweit darf immer noch eine Lehre des Apriori als kritizistisch betrachtet werden, die auf die allgemeine und notwendige Gültigkeit der sogenannten Kategorien verzichtet hat? Hier ergeben sich also zwei miteinander verbundene Fragen: die der begriffsbildenden Tätigkeit und die der Rationalität – und eine gewisse Spannung zwischen wissenschaftsgeschichtlicher Bedingtheit und Wahrheits- oder wenigstens Objektivitätsanspruch. Schlicks „formalistische“ Auffassung der Begriffe ist natürlich mit der ersten verträglich. Dass Begriffe immer willkürlich erfundene Zeichen sind, ist für ihn ein Grund dafür, alle sogenannte Denknotwendigkeit abzulehnen. Deswegen sei, so Schlick, jede rationalistische Lehre in der Erkenntnistheorie nachweislich unhaltbar.9 Eine Schwierigkeit besteht aber: Wie soll der rationale Zwang zugerechnet werden, der die wissenschaftliche Begriffsbildung prägt, wenn keine Denknotwendigkeit anerkannt wird? Eine ähnliche, doch „umgekehrte“ Schwierigkeit besteht für jeden Rationalismus darin, dem Veränderungsvermögen der Grundbegriffe und Grundsätze gerecht zu werden, das auch den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht. Auch der Alltagsgebrauch zeigt ähnliche Probleme. Die Sprache besteht nämlich nicht nur aus hinfälligen, voneinander unabhängig erfundenen Signalen, sondern aus systematisch zusammenhängenden Zeichen. Cassirer wörtlich:

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Ernst Cassirer an Moritz Schlick, 23. Oktober 1920. KrV, B 130: „[…] wo nichts verbunden war, kann auch nichts durch den Verstand zerlegt werden [...]“. 9 Vgl. Schlick, MSGA I/5, 69; MSGA II/1.2, 257ff. 8

Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers

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Ein Nur-Sinnliches, wie es etwa der Laut der Sprache ist, wenn man ihn lediglich seinem physischen Dasein nach als Geräusch oder „Klang“ betrachtet, ist nie und nimmer „Zeichen“: es wird es erst dadurch, dass wir ihm einen „Sinn“ beilegen, auf den es sich richtet und durch den es „bedeutsam“ wird. Wie es möglich ist, eine solche Beilegung zu vollziehen, wie und auf Grund welcher Prinzipien und Voraussetzungen ein Sinnliches zum Repräsentanten und Träger eines Sinnes werden kann: dies bildet freilich eines der schwierigsten Probleme der Erkenntniskritik, wenn nicht das Problem der Erkenntniskritik überhaupt. (Cassirer 1927, 78f.)

So wird die erkenntnistheoretische Frage der Gültigkeit mit der kulturphilosophischen der Bedeutung verbunden. Wahrscheinlich war Schlick zu dieser Zeit der Meinung, solche Schwierigkeiten seien vermöge der neueren Logik und insbesondere der Einsichten Wittgensteins auch bald aufzulösen. Doch weisen seine Bemühungen der 1930er Jahre, das „Wesen des Logischen“ ans Licht zu bringen, darauf hin, dass es sich um echte Schwierigkeiten handelt.

2

Die allgemeine Kritik Cassirers am sogenannten „dogmatischen Empirismus“ und dessen kulturphilosophischer Hintergrund

Nach dem Aufsatz von 1927 werden logische Empiristen von Cassirer kaum noch erwähnt. Nur in der zweiten Studie Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung des 1942 entstandenen Buches Zur Logik der Kulturwissenschaften werden einige Äußerungen Carnaps, meistens aus dem Aufsatz Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft von 1931, besprochen. Doch es gibt eingehende Einwände gegen den logischen Empirismus und dessen Physikalismus in nachgelassenen Schriften – Ausdrucksproblem und „Wiener Kreis“ –, die 2011 im vierten Band des Cassirer-Nachlasses publiziert wurden. Einige Formulierungen mögen wohl wie idealistische Fehlschlüsse klingen, andere bieten meines Erachtens folgerichtige antireduktionistische Argumente. Zudem liegt diesen Argumenten eine gewisse beschreibende Umwandlung der Philosophie zugrunde, die nicht nur eine Verallgemeinerung der kritizistischen Lehre, sondern auch eine Art „Kulturalisierung“ von deren Auffassung des Transzendentalen bedeutet. Bekanntlich beabsichtigte der logische Empirismus, dasjenige aufzulösen, was Kant und Kantianer als „transzendental“ zu bezeichnen pflegten, und zu beweisen, dass echte Erkenntnisse nur aus synthetischen Sätzen a posteriori bestehen (vgl.

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Schlick, MSGA II/1.2, 257ff.). Grob vereinfacht, könnte die erkenntnistheoretische Bilanzgleichung etwa lauten: Sinnesdaten (bzw. physische Reize) + Logik (= Prädikatenkalkül + Mengenlehre) = Erkenntnis

Bei der „Katalyse“ sollten auch Konventionen helfen, zu dem kognitiven Inhalt aber nichts beitragen. Nach und nach würde aber dieser bescheidene Zusatz tiefer in der Empirie durchdringen und den logischen Bereich zu erobern drohen. Konventionen hätten eine größere Rolle zu spielen sowohl in der Logik (wo logische Gesetze die logischen Konstanten implizit definieren) als auch im empirischen Wissen (wo der Unterschied zwischen Theorien mit demselben empirischen Gehalt nur konventionell ist). Dennoch ist der Unterschied zwischen der Konvention und echter Kognition nicht einfach zu bestimmen. Neurath folgend gaben darum einige logische Empiristen den Begriff der „reinen Sinnesdaten“ auf, stellten folglich auch den Unterschied zwischen kognitivem Gehalt und Konvention als theoretisches Konstrukt zur Disposition und gefährdeten damit auch den Begriff der „faktischen Wahrheit“. In dieser Hinsicht erwiesen sich manche der von Cassirer erhobenen Einwände als zutreffend. Diese weisen darauf hin, dass sich allem Anschein nach keine befriedigende, einheitliche Auffassung des Sinnes und der sinngebenden Tätigkeiten mit einem reduktionistischen oder atomistischen Erkenntnisideal verträglich machen lässt. Zunächst werden diese Einwände zusammengefasst. Anschließend wird untersucht, inwieweit sie einem kantischen, idealistischen Standpunkt entsprechen. 1.) Laut Cassirer ist die Schwierigkeit, diesen Tätigkeiten und dem „Ausdrucksphänomen“ überhaupt gerecht werden zu können, ein Hinweis darauf, dass der logische Empirismus (sowohl Carnaps als auch Schlicks) dogmatisch verfahren und in eine Sackgasse geraten ist. Zwei Reihen von Einwänden lassen sich anführen. Die erste Reihe betrifft die unhaltbaren Folgerungen der physikalistischen Reduktionsthese, die zweite die allgemeinen Voraussetzungen des „dogmatischen Empirismus“, die auch dieser These zugrunde liegen. Beide weisen nach Cassirer darauf hin, dass eine sogenannte „Konstitution“ der jeweiligen symbolischen Weltgestaltung unentbehrlich ist. a) Bekanntlich besteht der Physikalismus aus der Behauptung, alle sinnvollen, intersubjektiv verständlichen Sätze seien in die Sprache der Physik übersetzbar. Diese These übernahm Carnap von Neurath (obwohl die Möglichkeit jener Übersetzung schon in Der logische Aufbau der Welt, § 62, erwogen wurde). Carnap verfasste dazu 1931 den Aufsatz Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft.

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Der physikalistischen These zufolge sollten alle psychologischen Sätze (mögen sie auch dem Alltag oder den Kulturwissenschaften entstammen) in eine physikalische Sprache übersetzt werden können, also rein physikalisch beobachtbare Wahrheitsbedingungen haben. Dies, später „logischer Behaviorismus“ genannt, erweist sich nach Cassirers Ansicht als eine selbstverschuldete Bedeutungsblindheit und als Symptom dessen, dass der Physikalismus eine Sackgasse sei. i. Dafür erhob Cassirer einen Einwand, der stark an das „Chinese-Room“-Argument erinnert. Im Bereich der Psychologie müsse letzten Endes ein strenger Anhänger des Physikalismus sich nur zum Behaviorismus bekennen. Durch dessen Begriff der Sprachgewohnheit aber werde nur Psittacismus in Anspruch genommen, denn „die echte Rede, der sinnerfüllte Logos“ (Cassirer 1942, 53) sei von anderer Art. Am Beispiel einer mündlichen Prüfung in der Schule wird deutlich, dass zwischen wahren und berechtigten Antworten einerseits und angepassten Reaktionen andererseits ein Unterschied besteht. Ein Lehrer würde selbstverständlich nicht diese Reaktionen mit jenen Antworten gleichsetzen. Hier taucht das Problem der Wirksamkeit des „Ideellen“ auf, und zwar des von einem Wahrheitsanspruch oder auch anderen Gründen bestimmten Verhaltens. Cassirer hätte wohl den Einwand erheben können, dass vom behavioristischen Standpunkt aus die Verschmelzung von Wahrheit und Anpassung, ja von Richtigkeit und Erfolg schwer zu vermeiden sei. Natürlich wurde eine solche Verschmelzung sowohl von Russell (z. B. 1906) als auch von Schlick (schon 1910) im Falle der Wahrheit grundsätzlich bestritten. Denn eine derartige Lehre würde entweder auf einen infiniten Regress oder einen Verzicht auf den Wahrheitsbegriff hinauslaufen. ii. Damit sei eine allgemeine symbolische Blindheit verbunden. Diese erscheine zunächst am Problem oder sogenannten „Scheinproblem“ des Fremdpsychischen. Cassirer wörtlich: Der strenge „Physikalismus“ erklärt nicht nur alle Beweise, die man für die Existenz des „Fremdpsychischen“ zu geben versucht hat, für unzulänglich oder ungültig, sondern er leugnet auch, dass man nach einem solchen Fremdpsychischen, nach einer Welt, nicht des „Es“ sondern des „Du“ mit Sinn fragen kann.

Dann werden an derselben Stelle zwei Voraussetzungen der betrachteten Ansicht ans Licht gebracht: Wenn die Philosophie nichts anderes als Erkenntniskritik wäre [erste Voraussetzung], und wenn sie den Begriff der Erkenntnis so einschränken dürfte, dass er lediglich die „exakte“ Wissenschaft umfasst [zweite Voraussetzung], so könnte man sich mit dieser Entscheidung begnügen.

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Zwei Gleichsetzungen werden also in Frage gestellt: die der Philosophie mit der Erkenntniskritik und die der Erkenntnis überhaupt mit der naturwissenschaftlichen. Gegen die zweite sprechen deren unhaltbare Folgerungen im Bereich der Kulturwissenschaften: Nimmt man diesen Standpunkt an, so würde es z. B. eine Sprach-Wissenschaft nur geben, sofern sich an dem Phänomen „Sprache“ gewisse physische Bestimmungen zeigen, wie sie in der Lautphysiologie oder der Phonetik beschrieben werden. (Cassirer 1942, 41)

Hier erweist sich also für Cassirer die physikalistische Auffassung der Erkenntnis als zu eng, um die Möglichkeit einer doch wirklich vorhandenen Wissenschaft zu erklären. Der Einwand ist anscheinend empirischer Art. In der Tat gelinge auch die Rückführung nicht und sei auch genetisch unhaltbar (vgl. Cassirer, ECN 4, 153). Dieses Scheitern entspräche aber einem eigenartigen Faktum – etwa einem Faktum des Sinnes. Dem Denken überhaupt lägen gewisse Funktionen (Ausdruck, Darstellung, Bedeutung) zugrunde, die verschiedene „konstitutive Momente“ des Gedankens bilden. Daher könnten diese Funktionen auch nicht lediglich als „Produkte“ begriffen werden. Hier bestehe ein Urphänomen im Sinne Goethes, das nicht weiter auf Ursachen anderer Art (wie etwa Gehirnprozesse oder atomistische Sinnesdaten) zurückzuführen sei. Von dieser Selbständigkeit der Sinn-Fragen den Ursachen-Fragen gegenüber zeugten die denkpsychologischen und sprachtheoretischen Untersuchungen Karl Bühlers. Cassirer schreibt: Gerade als Psychologe und auf Grund psychologischer Analyse tritt Bühler demgemäß für die Idealität des Gegenstandes der „Sprache“ ein: „Die Sprachgebilde“ – so erklärt er – „sind, platonisch gesprochen, ideenartige Gegenstände, sie sind, logistisch gesprochen, Klassen von Klassen wie die Zahlen oder Gegenstände einer höheren Formalisierung des wissenschaftlichen Denkens.“10

Das Zitat Bühlers bezieht sich ganz deutlich auf Freges Auffassung der Zahlen und dessen Kritik am Psychologismus. Nach Cassirer darf diese Kritik auf das Ganze der Kulturphänomene übertragen werden. iii. Nur im Nachlass wird der antireduktionistische Einwand ganz deutlich typentheoretisch ausgedrückt: Näher gesagt liegt hier eine Frage der Typentheorie vor – die Frage, was Philosophie ist (auch die Frage was Physik ist), gehört einem ganz andern Typus von Fragen an, als die Frage, was die „Natur“ (als Objekt der Naturwissenschaft) ist – […] Verwirrt man diese beiden Fragetypen, so ergeben sich unlösliche Probleme – genau so wie in 10

Cassirer 1942, 67; Bühler, 1934, I, § 4.

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der Mengenlehre aus der Verwirrung der Typen solche „Widersprüche“ erwachsen sind – […] Was den „Wiener-Kreis“ betrifft, so entstehen hier viele Schwierigkeiten daraus, dass viele Probleme als meta-physisch bezeichnet und als solche denunziert werden, die nur meta-physikalisch sind. (Cassirer, ECN 4, 210f.)

Dadurch gerate also der Anhänger des Physikalismus in einen Selbstwiderspruch: Wäre der Satz „Alle sinnvollen (erst recht: wahren) Sätze müssen in die physikalische Sprache übersetzbar sein“ auch nicht in die physikalische Sprache übersetzbar, dann wäre die Grundthese des Physikalismus nicht sinnvoll äußerbar und daher widerlegt. Ob dies der Fall ist, ist immer noch eine strittige Frage. Bemerkenswerterweise wurde diese Sachlage 1936 von Tarski (wahrscheinlich ohne Cassirers Gedanken zu kennen) so geschildert, dass sein semantischer Begriff der Wahrheit, „den Postulaten der Einheit der Wissenschaft und des Physikalismus zuwider“, nur in einer der zugehörigen Objektsprache gegenüber typentheoretisch reicheren Metasprache auszusprechen sei (vgl. Tarski 1936). b) Für diese Verwirrungen macht Cassirer das Sinnkriterium des Wiener Kreises verantwortlich.  Genauso wie der Grundsatz des Physikalismus führe der des Empirismus überhaupt – die Ablehnung des synthetischen Apriori – zu Schwierigkeiten innerhalb der Erkenntnistheorie und erweise sich als „zu eng, nicht fruchtbar genug“, was die Kulturphänomene betrifft: Carnaps Verbot beruht auf einer bestimmten Voraussetzung und ist nur von ihr aus zu verstehen –  Es steht und fällt mit der Grundthese des „Wiener Kreises“, mit der These, dass nur entscheidbare Probleme sinnvolle Probleme sind – Die Frage nach der „Realität des Fremdpsychischen“ ist nicht „entscheidbar“ – also ist sie „sinnlos“ – Nun enthält dieses Prinzip zweifellos eine synthetische Behauptung – Analytisch, rein begrifflich betrachtet fällt der Begriff der Entscheidbarkeit nicht mit dem des Sinnvollen zusammen. (Cassirer, ECN 4, 176)

Hier besteht eine ähnliche Kritik wie die der physikalistischen These: Würden wir dem Prinzip zustimmen, dann würden wir in einen Selbstwiderspruch geraten. Denn der Satz soll selbst notwendig und allgemein gelten und kann auch nicht durch irgendeine Erfahrung begründet werden. Oder gilt er etwa analytisch? Bevor man den Begriff des Sinnvollen dem des empirisch Entscheidbaren unterwerfe oder gleichsetze – worin Cassirer eine kühne und ziemlich willkürliche Feststellung sieht –, bleibt nur eine Möglichkeit übrig, nämlich, dass er selbst synthetisch und doch a priori gilt. Bemerkenswerterweise wurde Ähnliches auch von Russell in dem Vortrag Le Réalisme analytique gegen den Empirismus vorgebracht (vgl. Russell 1911, 8). Frei-

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lich stehen dem Empiristen noch zwei Auswege zur Verfügung: Die eine ist, die Unsagbarkeit seiner These (stillschweigend) zuzugeben. Die zweite Lösung bestünde darin, sie auf den Bereich der Erkenntnis (statt den des Sinnvollen) einzuschränken. Dies vertrat auch der späte Russell: „Wahrheiten können nur a posteriori erkannt werden“ (Russell 1948, 6). Falls diese kursiv gedruckte Aussage wahr wäre, würden wir also nie imstande sein, sie streng zu erkennen und mit gutem Recht zu behaupten. Denn sie ist selbst kein Satz, den wir a posteriori entdecken könnten. Diesbezüglich bemerkte Cassirer, „dass der Ausdruck des ‚Tuns‘ [bei den logischen Empiristen] immer wieder hervortritt“ und dass „Schlick die gesamte Philosophie als ein Tun“ (Cassirer, ECN 4, 209) betrachtet, um dem Selbstwiderspruch zu entgehen, ohne Philosophie und Naturwissenschaft gleichzusetzen. Ausdrücklich hat Schlick (1930) diese Kennzeichnung von Wittgenstein übernommen, der auch alle Metalogik für unmöglich erklärte. c) Im Grunde scheint Cassirer transzendental – von einem Faktum zu dessen Möglichkeitsbedingungen – vorgehen zu wollen. Alle besprochenen Widersprüche weisen immer wieder auf drei zusammenhängende Punkte hin: Eine sogenannte Metasprache ist nötig, um die Beziehung zwischen der jeweiligen Objektsprache und deren Objekten zu beschreiben (1), deren „Objektivität“ nicht von derselben Stufe ist wie die der Objektsprache (2). Dieses Vermögen der Objektivierung überhaupt als eine bloße Tatsache erklären zu wollen, könne nicht ohne Selbstwiderspruch gelingen (3). Dieses Faktum des Symbolischen fungiert hier als die synthetische Einheit der Apperzeption bei der transzendentalen Deduktion. In dieser Hinsicht erklärte Cassirer, sei eine Konstitution nötig. Hätte der Physikalist nach den „Konstitutionsmomenten des Physischen“ gesucht, dann hätte er zu zwei Kriterien der Objektivität gelangen müssen. Denn „die ‚physische Welt‘“ sei nichts Anderes als: der Inhalt der Erfahrung, sofern vorausgesetzt wird, dass er nicht nur „mir selbst“ angehört, nicht nur für mich in diesem meinen „Hier“ und „Jetzt“ gegeben ist, sondern dass er 1) für mich immer in der gleichen Weise vorhanden ist – d. h. dass er für mich als „identisch“ wiederfindbar, rekognoszierbar ist und dass er 2) für alle andern wahrnehmenden, denkenden Subjekte denselben Zug (der Gleichheit, der Uniformität, der Bestimmtheit nach „objektiven“ Gesetzen) zeigt […] – diese Hypothesis eines koinos kosmos für alle „Subjekte“: dies ist ein notwendiger, integrierender konstitutiver Bestandteil des Begriffs: „Erfahrungswelt“ oder, was auf dasselbe hinausläuft, des Begriffs „Physische Welt“. (Cassirer, ECN 4, 153f.)

Sowohl im Aufbau (vgl. Carnap 1928, § 16) als auch in dem Aufsatz von 1931 hatte Carnap eine Forderung der intersubjektiven Mitteilbarkeit angenommen. Deswegen

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schloss Cassirer, die Unentbehrlichkeit einer Konstitution des Erfahrungsgegenstandes sei dadurch auch als unstrittig anerkannt. Doch könnte eingewandt werden, dass zumindest in dem genannten Aufsatz die Möglichkeit der intersubjektiven Mitteilbarkeit als zufällig, als von „glücklichen Umständen“ abhängig dargestellt wird. Hier besteht, wenn ich nicht irre, ein entscheidender Unterschied zwischen einem empiristischen und einem transzendentalen Verfahren – und auch eine gewisse Schwierigkeit. Carnap schreibt: Es ist aber zu beachten, dass diese Umstände zwar empirisch sind, aber nicht den Charakter eines einzelnen empirischen Sachverhalts, auch nicht den eines bestimmten Naturgesetzes haben, sondern einen weit allgemeineren Charakter. (Carnap 1931, 447)

Woher die Allgemeinheit? Warum nicht Notwendigkeit? Selbstverständlich würde hier ein Kantianer nach den Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung überhaupt suchen und deren Notwendigkeit beweisen wollen. Auf die Widerlegung des Idealismus hinweisend, fügt Cassirer hinzu: diese Einheit der Zeit, diese Setzung eines Beharrlichen in der Zeit, setzt immer schon mehr als die blosse Zeit voraus – es verlangt zu seiner Konstitution anderer mitwirkender „Kategorien“ – […] um aus diesem Fluss etwas „Dauerndes“ zu gestalten, dazu gehört immer die Voraussetzung jenes koinos kosmos der „Ausdehnung“, der „Materie“, der „Körperwelt“. (Cassirer, ECN 4, 155)

Ob und inwiefern diese (auch von Cassirer in Anführungszeichen gesetzten) „Kategorien“ immer noch transzendental-idealistisch zu deuten sind, werden wir jetzt besprechen. 2.) Inwieweit darf Cassirers Kritik am logischen Empirismus auf die Kritik Kants am sogenannten „dogmatischen“ Empirismus zurückgeführt werden? Über das transzendentale Verfahren hinaus mag die kantische Lehre von zwei Hauptbegriffen bestimmt werden, nämlich dem des Dinges an sich und dem des synthetischen Apriori, und wenigstens durch zwei Grundthesen gekennzeichnet werden, nämlich, es gebe unerkennbare Dinge an sich und unserer Erkenntnis lägen gewisse synthetische Urteile a priori zugrunde. Eine dritte „metaphilosophische“ These lautet: Beim Gleichsetzen des Dinges an sich mit dem Phänomen seien alle früheren Philosophen dazu gezwungen worden, Systeme aufzubauen, die zugunsten bestimmter Vernunftinteressen jeweils andere opfern mussten – darin seien sie eben dogmatisch verfahren. Anscheinend wurden diese Grundthesen von Cassirer übernommen. Die systematische Bedeutung der beiden Grundbegriffe wurde aber dadurch verwandelt, dass

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Lebens- und Kulturwissenschaften im System der Erkenntnis ein Platz eingeräumt werden sollte, sodass die Auffassung der Verständlichkeit und die Gegenüberstellung von Kausalität und Freiheit oder Natur und „Geist“ gewissermaßen relativiert wurde. a) Die Sprechweise „dogmatischer Empirismus“ stammt bekanntlich aus den Antinomien der reinen Vernunft (Kant, KrV, B 499) und weist darauf hin, dass der sogenannte dogmatische Empirist die Welt an sich selbst als Natur nicht nur „als Phänomen“ zu erforschen, sondern auch „an sich“ zu bestimmen sucht. i. Bei der Kritik des „dogmatischen Empirismus“ wird in Cassirers Nachlass ausdrücklich auf die kritische Lösung der dritten Antinomie hingewiesen: Daher in der substantiell-dogmatischen Ansicht Antinomie zwischen „Kausalität“ und „Freiheit“, die nur dadurch gelöst werden kann, dass Kausalität und Freiheit je ein „Standpunkt“ sind, den die Vernunft einzunehmen genötigt ist (Kant) – diese „Standpunkte“ sind vereinbar – und sie ergeben den „Aufbau“, das Konstitutionsprinzip der natürlichen und der ethischen Welt, die je einen eigenen Objektivitätscharakter und Objektivitätsanspruch haben, aber beide nicht beanspruchen, „Abbilder“ einer substantial-existierenden Welt von Dingen an sich zu sein. […] Das bestimmt auch unsere Stellung zur Philosophie des „Wiener Kreises“ – dessen dogmatischen Empirismus wir verwerfen, nicht weil er Empirismus, sondern weil er dogmatisch ist – Der „kritische Empirismus“ muss die Totalität der Wahrheitsansprüche und der fundierenden „Erfahrungen“ prüfen und kennen. (Cassirer, ECN 4, 179)

In kantischer Weise identifiziert Cassirer hier ein Interesse der Vernunft, nämlich das theoretische, das mit der „Entseelung“ oder „Entgötterung der Welt“ zu tun hat und zuerst „im System der griechischen Atomistik“ sich offenbarte (Cassirer, ECN, 194). Auch geschichtlich betrachtet sei also ein Grundgedanke der Vernunft die darunter steckende Triebkraft gewesen, obwohl dieser Umstand von „materialistischen“ oder „naturalistischen“ Denkern nicht leicht anzuerkennen sein mag: Sie ist zuerst der erste entscheidende Schritt zur Wissenschaft: die Realität der Atome ist das Correlat zum Gedanken des allgemeinen Naturgesetzes. (Cassirer, ECN 4, 194)

Dieselbe Entwicklung des Gedankens zu den Naturgesetzen wurde von Cassirer in den Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften übernommen, und zwar als Erklärung der Kluft zwischen Natur und Kultur oder Materie und Geist, die sich seit der Galileisch-Cartesianischen Revolution ausgebreitet habe. In dieser seien die Ausdrucksqualitäten, denen das mythische (und auch alltägliche) Bewusstsein den Vorrang zuschrieb, und dann auch die sogenannten sekundären Qualitäten aus der Weltauffassung verbannt worden (vgl. Cassirer 1942, 40f.). Gegen diese Objektivierung

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sei vor dem Hintergrund des Interesses der Naturwissenschaften auch nichts zu einwenden (vgl. Cassirer 1942, 47). In kantianischer Hinsicht vertrete also der Anhänger der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ bzw. „dogmatische Empirist“ die verneinende (dem praktischen Interesse schadende oder „gottlose“) Seite der Antinomie. Die bejahende Seite verträten die Metaphysiker, die „überpersonale Kräfte“ und undurchdringliche Wesenheiten (wie etwa einen „Volksgeist“, „Entelechien“ oder eine „Kulturseele“) anzunehmen und den empirisch angebbaren, geschichtlichen Ereignissen gegenüberzustellen pflegen. Deswegen sei eine echte Kritik nötig. Diese müsse „ebensowohl die Scylla des Naturalismus wie die Charybdis der Metaphysik vermeiden“ (Cassirer 1942, 50). Im Nachlass wird noch deutlicher erklärt, dass Carnap (bzw. wissenschaftsfreundliche Philosophen monistischer Neigung wie Russell und James) die Scylla verkörpern, Max Scheler dagegen die Charybdis. Beide Denkrichtungen seien darin zu kritisieren, dass sie eine jeweilige Funktion der Objektivierung verdinglichen wollten: Wir können also „in Gedanken“ eine rein mythische Welt aufbauen, die nur aus Ausdruckswerten besteht […] oder streng behavioristisch die Ausdruckswerte ganz streichen – Aber beides sind methodologische Ansätze […] die nicht als metaphysische missverstanden werden dürfen. Dies Missverständnis setzt immer ein, wenn die Funktion substantialisiert, zu einem absoluten Sein hypostasiert wird. (Cassirer, ECN 4, 185)

Ein fragliches idealistisches Bekenntnis sei also allem Anschein nach der Preis, der bezahlt werden müsse, um den scylla-charybdischen Alternativen zu entgehen. Vielmehr wird behauptet, es gäbe so viele „Welten“ wie gesetz- oder gestaltgebende Intentionen, die sozusagen „spezifische Energien“ seien, durch deren Einsatz die „Welten“ der Kunst, der Sprache, der Kultur überhaupt erst aufgebaut würden. Und daher sei es sinnlos, zu fragen, was die Wirklichkeit an sich selbst betrachtet sei, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. ii. Den Begriff des unerkennbaren Dings an sich wollte Cassirer jedoch vorsichtiger als Kant lediglich als Grenzbegriff verwenden. Obwohl er auf die Lösung der Antinomien zustimmend hinwies, nahm er selbst keine „Verstandeswelt“ und keine „noumenale Kausalität“ an. Es wird kein Platz für den Glauben eingeräumt. Im Gegenteil werden die Reste des Dualismus der kantischen Lehre ausdrücklich verworfen. Dieser tritt dort in einer Reihe von entgegengesetzten Begriffspaaren (wie etwa „Natur und Freiheit“, „Verstand und Vernunft“, „Willkür und Wille“) immer wieder auf. Kant war sich über diesen Dualismus auch im Klaren; und er bemühte sich um dessen Überwindung vor allem in der Kritik der Urteilskraft. Diesbezüglich versuchte auch Cassirer, die „unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem

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Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“ zu überbrücken oder wenigstens den beiden Gebieten einen gemeinsamen „Grund der Einheit“ (Kant, KU, XX und XXI) zu verschaffen (Cassirer, 1942, 16). Doch gegen jenen Dualismus wird mit den Begriffen der Ganzheit und der Form eine neue „Kategorie“ oder zumindest ein neues Erkenntnisverfahren eingeführt und werden die Lebensund Kulturwissenschaften als eigene Wissenschaften anerkannt. Dies läuft gewissen Äußerungen Kants zuwider, wonach die Psychologie nie zur echten (d. i. mathematischen) „Seelenwissenschaft“ werden könne (Kant, MAN, 471) und „[k]ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde.“ (Kant, KU, § 75) Dem „Naturalismus“ (bzw. dogmatischen Empirismus) und dem klassischen Kritizismus liegt nämlich diese bedenkliche Voraussetzung zugrunde: Man könne ausschließlich Gesetzmäßigkeiten oder einzelne Tatsachen entdecken. Eine dritte Möglichkeit bestehe aber darin, Formen – mögen sie auch Lebensformen oder kulturelle Werke sein – zu erkennen und ganzheitlich zu erfassen. Am Beispiel des Begriffes der Ganzheit und der ganzheitlichen Betrachtungen innerhalb der Naturwissenschaften (bzw. Formbetrachtung im Bereich der Kulturwissenschaft) werden empirisch bedingte Umwandlungen der „Kategorien“ in Anspruch genommen. Im Gegensatz dazu glaubte Schlick, vermöge reiner logischer Analysen, also rein a priori, zu beweisen, dass diese Sprechweisen zwar als Abkürzungsmittel zweckmäßig, doch im Grunde in Aussagen über Bestandteile und deren Relationen übersetzbar seien (vgl. Schlick MSGA I/6, 681–700). Dagegen versucht Cassirer zwischen dem metaphysischen Gebrauch des Ganzheitbegriffes Drieschs (den auch Schlick kritisierte) und dem wissenschaftlich fruchtbaren Uexkülls einen Unterschied zu machen. Letzterer bilde ein Musterbeispiel der „Strukturforschung“, ja der „selbständige[n] Methode“, die die Lebensphänomene erst einer naturwissenschaftlichen (doch gegenüber der Physik selbstständigen) Erforschung zugänglich mache (vgl. Cassirer 1957, 206). Deswegen sei Kant darin nicht zuzustimmen, dass er das Erkenntnisideal der (zeitgenössischen) Naturwissenschaft, nämlich das „analytisch-kausale Erklärungsideal“ (Cassirer 1942, 90) als einziges Muster der theoretischen Objektivierung betrachte. Stattdessen solle die kritische Frage der Bedingungen eines Gegenstandes verallgemeinert werden und die Objektivierung des menschlichen Tuns einschließen. Cassirer wörtlich: Ein „Kosmos“, eine objektive Ordnung und Bestimmtheit, ist überall dort vorhanden, wo verschiedene Subjekte sich auf eine „gemeinsame Welt“ beziehen und denkend an ihr teilhaben. Dies ist nicht nur der Fall, wo wir uns durch das Medium der sinnlichen Wahrnehmung das physische Weltbild aufbauen. Was wir als „Sinn“ der Welt

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erfassen, das tritt uns überall entgegen, wo wir uns, statt uns in die eigene Vorstellungswelt zu verschließen, auf ein Über-Individuelles, Allgemeines, für alle Gültiges richten. Und nirgends tritt diese Möglichkeit und diese Notwendigkeit der Durchbrechung der individuellen Schranke so fraglos und so deutlich hervor wie im Phänomen der Sprache. (Cassirer 1942, 13)

Auch auf ethischem Boden versucht Cassirer nicht, metaphysische Postulate den Hypothesen der Naturerkenntnis gegenüberzustellen. Im Gegenteil gebiete die Wende zur Kultur eine Umwandlung des Freiheitsideals: Die Bewusstwerdung ist der Anfang und das Ende, ist das A und O der Freiheit, die dem Menschen vergönnt ist; das Erkennen und Anerkennen der Notwendigkeit ist der eigentliche Befreiungsprozess, den der „Geist“ gegenüber der „Natur“ zu vollbringen hat. (Cassirer 1942, 25)

b) Sollte aber nicht die Behauptung, dass die Erkenntnis (und vielleicht die jeweiligen Bereiche der Kultur) irgendeiner Konstitution bedürfe, transzendental-idealistisch erläutert werden? Anders gefragt: Kann jene Konstitution anders als ein Gefüge von synthetischen Sätzen a priori erfasst werden? Bekanntlich hatte Cassirer schon anlässlich des Streites um die neuere Physik erkennen müssen, dass manche von den sogenannten synthetischen Sätzen a priori nur der Newtonschen Theorie zugrunde liegen, also weder allgemeingültig noch notwendig sind. Es muss also gefragt werden, inwieweit und wodurch diese Sätze gegenüber bloßen Konventionen ausgezeichnet werden sollen. Anders gefragt: Worin besteht die Notwendigkeit des Apriori, wenn es nicht mehr aus ewigen „Vernunftwahrheiten“ bestehen soll? Zunächst darin: Unentbehrlichkeit. Sollen die Wörter einer Sprache nicht bloße Laute (oder Signale wie bei Tieren) sein und den Tatsachen systematisch zugeordnet werden, dann müssen sie a priori miteinander zusammenhängen. Erst durch symbolische Formgebung werden die mannigfaltigen Sinnesdaten zur einheitlichen Erfahrung. Die verschiedenen symbolischen Formen seien also unentbehrliche Zusätze a priori, die eine ähnliche Rolle wie das kantianische Apriori (sowohl Kategorien als auch reine Anschauungen) spielen sollen. In dieser Hinsicht hängt die These der Unentbehrlichkeit des Apriori mit der Kritik am (sowohl sensualistischen, Machschen, als auch logischen) Atomismus und dogmatischen Realismus (die Voraussetzung einer wesentlichen, endgültigen Gliederung der Wirklichkeit) zusammen. i. Hier bezieht sich Cassirer auf einige miteinander verbundene Thesen des sogenannten logischen Atomismus: Es gibt letzten Endes unzerlegbare, „wesentlich“ einfache Sätze, zwischen denen kein logischer Zusammenhang besteht; diese sollen die echten Erkenntnisgründe der Wirklichkeit bilden. Da es auch keine Notwendigkeit außer der

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logischen gibt, sollen diese Sätze voneinander völlig unabhängig sein. Sollten Sätze unbedingt als Elementarsätze gelten, dann sollten wir auch irgendwie schlechthin einfache, ja „atomare“ Sachverhalte erreichen können, die als deren Wahrheitsgründe gelten. Bekanntlich tauchen hier gewisse Schwierigkeiten auf, wie zum Beispiel das Farbausschlussproblem. Beim Hinweisen auf solche einfachen Sachverhalte setzen wir immer außer dem logischen Raum auch einen formalen Raum oder „Raum der Gegenstände“ voraus. So erklärt der frühe Wittgenstein: „Jedes Ding ist, gleichsam, in einem Raume möglicher Sachverhalte. Diesen Raum kann ich mir leer denken, nicht aber das Ding ohne den Raum“ (Wittgenstein, TLP, 2.0123). Bekanntlich wurden diese Schwierigkeiten von vielen Empiristen anerkannt und meistens konventionalistische Lösungen eingeführt. Ironischerweise bemerkt dann Cassirer in einer mit „Zur Relativität der Bezugssysteme“ betitelten Textstelle: Die gewöhnliche Ansicht – insbesondere auch die Ansicht der Logiker und Mathematiker –krankt zumeist daran, dass sie zwischen zwei Extremen sich bewegt, die beide den Tatbestand ungenügend ausdrücken, an ihm in irgend einer Weise „vorbeisehen“[.] Man ist entweder Empirist oder Formalist, man stützt die wissenschaftliche Erkenntnis entweder auf die „Tatsachen“ (Sinneswahrnehmungen) oder man baut sie auf „Konventionen“ auf. Aber beides reicht hier nicht zu. (Cassirer, ECN 4, 183)

Zu diesen sogenannten „Extremen“ haben sich auch Mitglieder des Wiener Kreises bekannt und anlässlich des Streites über Protokollsätze entgegengesetzte Deutungen des Empirismus gegeben: Realitätskriterium des Wiener Kreises: auf 2 Füssen – Neue Form des „Empirismus“: der Glaube an die „Logik“ und das Mißtrauen gegen die Logik (Tautologie) – „objektiv“ sind nur „Sätze“, nur das Formulierbare – Aber Anspruch auf Wirklichkeit haben nur „Wahrnehmungen“ und diese sind nicht-formulierbare „Erlebnisse“. Hieraus entsteht ein durchgehendes Dilemma: Schlick gegen Mach (objektivistisch, „realistisch“, „rationalistisch“) gegen Mach (sensualistisch, psychologistisch) Und so Carnap (formalistisch – objektivistisch – logizistisch) gegen Neurath (empiristisch – „anarchistisch“). Unsere Auffassung des synthetisch a priori[:] synthetisch – aber regulativ als Tat – Der Begriff des „Elementar-Satzes“ ist eine contradictio in adjecto. „Sätze“ gibt es nur in Systemen. (Cassirer, ECN 4, 186)

Die Unentbehrlichkeit des synthetischen Apriori soll also daraus folgen, dass ohne dieses die Rationalität, der Objektivitätsanpruch der Erkenntnis entweder skeptisch (bzw. „anarchistisch“) bezweifelt (bzw. verneint) oder dogmatisch auf je einer endgültigen Gliederung der Wirklichkeit begründet wird.

Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers

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Cassirers Kritik nach sind also synthetische Zusätze a priori unentbehrlich. Weder Sprache noch Erkenntnis können sich einfach nach den Tatsachen richten. Daher die Unentbehrlichkeit und innere, relative Notwendigkeit. ii. Dem Apriori schreibt aber Cassirer nur einen regulativen Gebrauch zu. Im Nachlass geht er weiter und erklärt, es gebe nur synthetische Fragen a priori (vgl. Cassirer, ECN 4, 194). Als „Taten der Vernunft“ seien sie der Erfahrung gegenüber „geistigrationale Entwürfe“ (Cassirer, ECN 4, 183). Dieser Tatbestand wird von Cassirer in Bezug auf die sogenannte Unterbestimmtheit der Hypothesen durch Erfahrungsdaten (1) und der theoretischen Beladenheit der Beobachtungen (2) eigenartig verbunden. Bekanntlich wurde diese Sachlage von Duhem (1906) hervorgehoben, den Cassirer zustimmend in seiner Philosophie der symbolischen Formen zitiert (Cassirer, PSF 3, 25f.). Gegen Duhem wird jedoch behauptet, der symbolische Charakter der physikalischen Erkenntnis sei keine Einschränkung von deren Objektivitätsanspruch. Im Gegenteil bestehe sein bester Beweisgrund darin, dass die Tatsachen nie als „membra disjecta“, sondern immer in einem funktionalen Zusammenhang vorkommen (Cassirer, PSF 3, 380). Im Nachlass wird es so ausgedrückt: Die Skepsis kann also jedes Element betreffen (jedes Element erhebt den Anspruch auf „Wahrheit“)[.] „Systemgültigkeit“ verwerfen oder beschränken – aber nicht das „Ganze der Erfahrung“ / das Bezugsystem als solches antasten[.] (Cassirer, ECN 4, 189)

Allem Anschein nach bezeichnet das Apriori den zusammenhängenden Charakter der verschiedenen Bezugssysteme. Ein gewisser Holismus soll also zur Widerlegung des Skeptizismus (bzw. Relativismus) dienen. Es lässt sich fragen, wie diese rationalistische Strategie mit der doppelten (von der Geschichte der Wissenschaften und den mannigfaltigen Weltgestaltungen her verstandenen) Relativierung des Begriffes des Apriori in Einklang gebracht werden soll. Anders gefragt: Wie kann je ein Objektivitätsanspruch gerechtfertigt werden, wenn Gründe für ihn weder a posteriori (wie Protokollsätze) noch a priori (wie beim konstitutiven Gebrauch synthetischer Grundsätze a priori) eingeführt werden dürfen? Cassirer vertritt hier eine Art Empirismus zweiter Stufe, der paradoxerweise die jeweilige Strukturierung „a priori“ der einzelwissenschaftlichen Bereiche nur „a posteriori“ abzusondern vermag. Denn den verschiedenen Wissenschaften wohne deren sogenannte Grundlegung inne: Dem Zustrom neuer Tatsachen muß die „Tieferlegung der Fundamente“ entsprechen, die nach Hilbert zum Wesen jeder Wissenschaft gehört. Ist dem so, so ist klar, daß

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und warum die Arbeit an der Auffindung und Sicherung der Prinzipien der Einzelwissenschaften nicht abgenommen und auf eine besondere „philosophische“ Disziplin, auf die „Erkenntnistheorie“ oder Methodenlehre, übertragen werden kann. (Cassirer 1942, 17)

Deswegen versucht Cassirer auch nicht, neue „metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften“ zu schaffen. Zeugnis dafür ist: Der vierte Band des Erkenntnisproblems bezieht sich nicht mehr auf philosophische Systeme. Vielmehr behauptet Cassirer, die Philosophie habe entsagen müssen, „die Führerrolle zu übernehmen[;] statt aus eigener Kraft und eigener Verantwortung ein bestimmtes Wahrheitsideal zu vertreten, läßt sie sich vielmehr durch die Sonderwissenschaften leiten und sich durch jede von ihnen in eine bestimmte Richtung drängen.“ (Cassirer 1957, 24) Sprache, Kunst usw., wie ideell oder formal man sie auch behandeln mag, sind empirisch ansprechbare, geschichtlich bedingte Phänomene. Wird ihren Grundzügen eine ähnliche Funktion wie den sogenannten „Kategorien“ des Verstandes und deren „Schematismus“ zugeschrieben, so wird auch ein empirischer Zugang zu dem menschlichen Geiste überhaupt und der empirischen Untersuchung geöffnet, welche allerdings nicht reduktionistischer Prägung zu sein dürfte. Hier taucht eine entscheidende Abweichung von der idealistischen Lehre auf. Wenn aber keine endgültige Einteilung der Wirklichkeit angenommen werden darf, wie ist die Überlegenheit der Wissenschaft überhaupt (den anderen „Weltgestaltungen“ gegenüber) zu rechtfertigen? Dieser Schwierigkeit will Cassirer allem Anschein nach dadurch entgehen, dass die verschiedenen Stufen der Erkenntnis einander untergeordnet werden. Schon im mythischen Denken gelingt eine gewisse Objektivierung, eine gewisse Gliederung der Erfahrung als „Ausdruckswelt“. Dann aber ermöglichen bestimmte sprachliche Strukturen die vorher besprochene Entgötterung der Welt. Dadurch beginnt das wissenschaftliche Streben. Diese chronologische Ordnung bedeutet also Unterordnung und beruht auch auf einer gewissen Teleologie: die begriffliche und dann die rein funktionale Auffassung ist den anderen eindeutig überlegen. Sie allein kann die Vorstufe der Objektivierung erklären. Diese Ordnung ist indessen „immanent“, so dass ihr Kriterium auch durch den Fortschritt der jeweiligen Wissenschaften näher bestimmt wird, und es ist indessen „offen“, dass keine metaphysische, ja dogmatische Bestimmung des Wesens der Wirklichkeit der der Einzelwissenschaften gegenüberstellt wird. Daher auch die letzte Bedeutung des Dinges an sich als Grenzbegriff. Ihr „terminus ad quem“ ist es, der die wissenschaftliche Erkenntnis auszeichnen soll.

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Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers

Funktion

Symbolische Formen

Ausdruck (Anfang)

Mythos

Wahrnehmung

Begriff

Philosophie

Ausdrucksqualitäten

-

-

Dinge + Qualitäten

Substanzbegriff

Darstellung

Sprache

Vorkritische Erkenntnis Bedeutung

Symbolische Konstruktionen

Funktionsbegriff

Kritische

Die beabsichtigte philosophische Anthropologie Cassirers bleibt darin der kritizististischen Idee treu, dass sie die verschiedenen Aspekte der Kultur auf die fortschreitende Selbstbesinnung des Menschen als freies Wesen, wie etwa als idealen „terminum ad quem“, zurückzuführen versucht (Cassirer 1944, 23). So solle die Geschichte der Kultur als Befreiungsprozess zwar nicht erkannt, doch gedacht werden. Und so bliebe das Unbedingte der Grund- und Grenzgedanke der Philosophie und sozusagen eine eigene regulative Idee zweiter Stufe. Dies ist ja die Idee der symbolischen Formen überhaupt. Die Aufgabe der Philosophie sei es also, alle Bereiche (Sprache, Kunst, Wissenschaft, Ethik) der Kultur nach dieser Idee systematisch einzuordnen und jeden Kulturbereich als ein selbstständiges, verschiedenen Interessen der Vernunft entsprechendes Bezugssystem zu beleuchten. Doch besteht, wenn ich nicht irre, zwischen der Selbstständigkeit der Bereiche einerseits und der Idee einer zweckmäßigen Totalität, das heißt einer Logik der Kulturwissenschaften und der Idee einer Kulturphilosophie, andererseits eine gewisse Spannung.

Schluss Zusammenfassend gesagt, bedeutet Cassirers Wende von der Vernunft zur Kultur eine gewisse Umwandlung oder Veränderung der kantischen Lehre. Was seine Rede von der Kultur statt von Vernunft oder Verstand impliziert, ist eine Transformation des kantischen Begriffssystems. Dieser Wende liegt eine holistische Auffassung der geistigen Tätigkeiten zugrunde. Auch „kritische Empiristen“ könnten dieser Auffassung, aus empirischen Gründen, zustimmen. Ob sie es auch müssten, hängt meines Erachtens davon ab, ob eine idealistische Philosophie damit verbunden ist.

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Der Logische Empirismus und die kulturphilosophische Kritik Cassirers

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II. Metaphysik

Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap Niko Strobach Antworte denen, die fragen: „Wo hast du denn die Götter gesehen, die du so sehr verehrst, oder woraus hast du den Schluß gezogen, daß sie existieren?“ Erstens: Sie sind auch den Augen sichtbar. Zweitens: Ich habe zwar auch meine Seele noch nicht gesehen und dennoch ehre ich sie. Das gilt auch für die Götter: Aus der Tatsache, daß ich ihre Macht immer wieder spüre, schließe ich, daß sie existieren, und deshalb verehre ich sie. (Marc Aurel XII 28)

1

Einleitung

In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass, inwiefern und wieso Rudolf Carnap die Möglichkeit sinnvoller Theologie anerkannt hat. Die These ist, kurz gesagt: Es gibt nach Carnap sinnvolle Theologie. Es lohnt sich, das zu zeigen, da oberflächliche Rezeption der Legende Vorschub leistet, nach Carnap sei alle Theologie Unsinn. Kant und Frege hielten sinnvolle Theologie klarerweise für möglich. Kant zweifelte nicht daran, mit dem Satz „Gott ist“ oder „Es ist ein Gott“ (KrV, B 627) sagen zu können, was er für nachweislich unwissbar (KrV, B 668f.) und für wahr (KpV, AA 5, 125) hielt. Carnaps Ansicht hingegen ist bemerkenswert, wenn man an die wissenschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises und den Versuch ihrer semantischen Fundierung denkt. Man kann diese Ansicht nachweisen durch aufmerksame Lektüre eines Ausschnitts aus Carnaps berühmtem Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1931). Das Wort „Theologie“ soll dabei in seinem ursprünglichen Sinn, nämlich „Gottesrede“, verstanden werden: religiöse Rede, die sich (im Deutschen) – sei es im Singular oder Plural – des Wortes „Gott“ bedient. Dass es sich dieser Definition zufolge auch bei dem Satz „Gott existiert nicht“ um Theologie handelt, kann man in Kauf nehmen oder die Definition in diesem Punkt einschränken. Es ist für die folgende Betrachtung nicht entscheidend. Unter Theologen seien Menschen verstanden, aus deren Mund Theologie zu vernehmen ist. Carnap hat zwar dabei sicher an studierte

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_5

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Leute gedacht, aber darauf kommt es bei den prinzipiellen Überlegungen im Folgenden an keiner Stelle an. Die These ist eine „Es gibt“-Aussage. Ein einziger Fall ist hinreichend, um sie zu verifizieren. Man muss diese Selbstverständlichkeit betonen. Denn die Textlage ist verwirrend: Ein anderer Text, an dem Carnap mitgewirkt hat, das „Manifest des Wiener Kreises“ (1929), verstellt den Blick für die sinnvolle Theologie bei Carnap. Die Religionskritik in Carnaps „Scheinprobleme der Philosophie“ (1928) ist weniger leicht durchschaubar als die in „Überwindung“ (1931). Carnaps Autobiographie (1963) hingegen lässt deutlich werden, dass die differenzierteste Ansicht, nämlich die aus „Überwindung“, derzufolge es sinnvolle Theologie gibt, über Jahrzehnte seine Ansicht geblieben ist. Wenigstens ebenso deutlich sieht man das auch an Carnaps aufschlussreichen Reaktionen auf Beiträge von Paul Henle und Karl Raimund Popper, die zusammen mit der Autobiographie in dem ihm gewidmeten Band der Library of Living Philosophers veröffentlicht wurden. Erst die Reaktion Carnaps auf Henle und Popper lässt einen wichtigen Einfluss auf Carnaps Verortung der theologischen Rede festmachen: die Kultur- und Geschichtsphilosophie von Otto Neurath in seinem Buch Empirische Soziologie (1931). Man sieht hier, wie ein scheinbar rein theoretisches Lehrstück des Logischen Empirismus im Kontext von kultur- und geschichtsphilosophischen Überlegungen steht, die noch längst nicht hinreichend untersucht sind.   Bei der Passage in „Überwindung“, die hier im Vordergrund stehen soll, handelt es sich nicht um einen versehentlichen Ausreißer. Carnap ist darin auch nicht etwa – bewusst oder versehentlich – vom empiristischen Sinnkriterium des Wiener Kreises abgewichen. Die Passage steht nämlich nicht nur im Einklang mit diesem Kriterium, sondern macht ausdrücklich Gebrauch von ihm. Die sinnvolle Theologie, die Carnap anerkennt, genügt diesem Kriterium. Dass es sich letztlich als unplausibel herausgestellt hat, ist im Folgenden zwar nicht irrelevant.1 Aber die Beobachtung, auf die es ankommt, ist: Carnap war der Meinung, dass, während dieses Kriterium ein adäquates Kriterium für sinnvolle Rede ist, es Theologie gibt, die diesem Kriterium zufolge sinnvoll ist.

2

Ein Blick ins Manifest (1929)

Das Manifest des Wiener Kreises hinterlässt fast zwangsläufig den Eindruck der folgenden These: Das empiristische Sinnkriterium des Wiener Kreises ist adäquat, und 1

Vgl. Abschnitt 6.

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alle Theologie ist ihm zufolge sinnlose Rede. Die Theologen werden im „Manifest“ ausführlich angefeindet, und zwar immer zugleich mit den Metaphysikern:2 Der Metaphysiker und der Theologe glauben, sich selbst mißverstehend, mit ihren Sätzen etwas auszusagen, einen Sachverhalt darzustellen. Die Analyse zeigt jedoch, dass diese Sätze nichts besagen, sondern nur Ausdruck etwa eines Lebensgefühls sind. (Carnap et al. 1979, 88) Der Wiener Kreis begnügt sich nicht damit, als geschlossener Zirkel Kollektivarbeit zu leisten. Er bemüht sich auch, mit den lebendigen Bewegungen der Gegenwart Fühlung zu nehmen, soweit sie wissenschaftlicher Weltauffassung freundlich gegenüberstehen und sich von Metaphysik und Theologie abkehren. (Carnap et al. 1979, 86) Die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung stehen entschlossen auf dem Boden der einfachen menschlichen Erfahrung. Sie machen sich mit Vertrauen an die Arbeit, den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Weg zu räumen. […] Die Zunahme metaphysischer und theologisierender Neigungen […] scheint zu beruhen auf den heftigen sozialen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gegenwart: die eine Gruppe der Kämpfenden, auf sozialem Gebiet das Vergangene festhaltend, pflegt auch die überkommenen […] Einstellungen der Metaphysik und Theologie; während die andere, der neuen Zeit zugewendet […] diese Einstellungen ablehnt und sich auf den Boden der Erfahrungswissenschaft stellt. Diese Entwicklung hängt […] auch zusammen mit der Enttäuschung breiter Massen über die Haltung derer, die die überkommenen metaphysischen und theologischen Lehren verkünden. (Carnap et al. 1979, 100)

Man lernt im „Manifest“, dass auch eine zentrale Existenzbehauptung der Theologie der charakteristischen Frage des analytischen Philosophen (Lewis 1934, 125) ausgesetzt ist, die da lautet: „What do you mean?“: Wenn jemand behauptet: „es gibt einen Gott“ […], so sagen wir ihm nicht: „was du sagst, ist falsch“; sondern wir fragen ihn: „was meinst du mit deine[r] Aussage[…]?“ (Carnap et al. 1979, 87). Immerhin: Es lohnt sich überhaupt, die Frage zu stellen. Denn „Es gibt einen Gott“ ist nicht dem Vorwurf ausgesetzt, als Kombination eines Eigennamens mit „…

2

Kursivierungen und Hinzufügungen in eckigen Klammern in den folgenden Zitaten: N.St.

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existiert“ syntaxwidrig zu sein, wie Frege es mit maßloser Strenge von „Cäsar existiert“ behauptet.3 Schließlich ist „… ist ein Gott“ ein einstelliges Prädikat und „Es gibt einen Gott“ hat die logische Form: Es gibt ein x, so dass gilt: x ist ein Gott.4 Es ist wahrscheinlich, dass ein theologischer Gesprächspartner auf die Frage „Was meinst du mit ‚Es gibt einen Gott‘?“ nicht einfach verstummt oder den Raum verlässt, sondern danach etwas sagt. Sein Verhalten wird darauf schließen lassen, dass er beabsichtigt, damit eine Antwort auf die Frage zu geben. Oft genug wird der Fragesteller es nicht verstehen. Er wird wohl darüber hinweggehen, aus Nachsicht gegenüber dem Fachmann, der versehentlich auf eine Fachfrage hin in die Fachsprache verfallen ist (ginge es Philosophen, Mathematikern, Medizinern etc. anders?), oder aus der für Religionsgespräche angeblich gebotenen Feinfühligkeit. Die Logischen Empiristen des Wiener Kreises sahen zu solcher Höflichkeit keinen Grund. Und sie mögen – wenn sie auch letztlich selbst keine überzeugende Definition von „Unsinn“ hatten – nicht selten Recht behalten: Nicht wenige Theologen reden Unsinn. Doch auch noch so viele Einzelfälle verifizieren nicht, dass eine Antwort auf die Frage „Was meinst du mit ‚Es gibt einen Gott‘?“ notwendigerweise und also immer Unsinn sein muss. Der Begriff eines Wesens mit den traditionellen Attributen in hinreichendem Ausmaß, deren konsistente Spezifizierung freilich keine leichte Aufgabe ist,5 scheint doch gar so inhaltslos nicht zu sein. Warum meinen also die Verfasser des „Manifests“, dass es jedem Theologen prinzipiell unmöglich sein soll, dem Anspruch auf verständliche Rede gerecht zu werden? Darauf gibt es zwei denkbare Antworten. Die erste ist: (1) (a) Die einzig akzeptable Antwort auf eine Frage der Form „Was meinst du mit ‚p‘?“ ist eine sofortige präzise Angabe von Wahrheitsbedingungen für „p“, die eine glasklare Reduktion auf das erlaubte Vokabular einer basalen Beobachtungssprache (inklusive moderner klassischer Logik) liefert. (b) Eine solche Angabe von Wahrheitsbedingungen für (u. a.) „Es gibt einen Gott“ ist jedem Theologen unmöglich. Das Problem von (1a) ist die Überforderung, die diese Ansicht mit sich bringt. Es stimmt: Kein Theologe und kein Metaphysiker kann diesen Anspruch für Äußerungen in der Fachsprache seiner Disziplin erfüllen; und kein Philosoph; und kein Biologe; und kein Physiker. Der Vorwurf läuft ins Leere, indem er jeden trifft. Die zweite denkbare Antwort ist: 3

„Der Satz ‚es gibt Julius Cäsar‘ ist weder wahr noch falsch, sondern sinnlos.“ (Frege 1994, 75). „[Instead of ‘God exists’...] I think it would be clearer to use a formulation like ‘there is at least one god’ or ‘there is exactly one god’, containing the predicate ‘god’ instead of the alleged proper name ‘God’.“ (Carnap 1963b, 875) 5 Vgl. hierzu informativ Rohs 2013. 4

Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap

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(2) (a) Eine akzeptable Antwort auf eine Frage der Form „Was meinst du mit ‚p‘?“ sollte wenigstens allen Teilausdrücken in „p“ soweit einen empirischen Gehalt geben, dass man weiß, wie man es anstellen sollte, „p“ zu verifizieren. (b) Kein Theologe und kein Metaphysiker kann aber je für eine Äußerung in seiner Fachsprache eine solche Antwort geben. Auch (2a) ist nicht unproblematisch. Es gibt nach wie vor ein Überforderungsproblem, nämlich im Hinblick auf Naturgesetze in Gestalt des Induktionsproblems; und der Ausdruck „empirischer Gehalt“ ist tückisch.6 Hier ist nur wichtig: Der Anspruch von (2a) ist bescheidener als der von (1a). Es ist dieser Anspruch, der im Hinblick auf Theologie in Carnaps „Überwindung“ einschlägig ist, wo Carnap ihn sich zu eigen macht. Um zu verstehen, inwiefern es nach Carnap sinnvolle Theologie gibt, sollte man die Überforderungsprobleme bewusst vernachlässigen und die Rede von empirischem Gehalt in (2a) mit common sense so interpretieren, dass beobachtungsnahe Aussagen der Alltagssprache und der Naturwissenschaften paradigmatische Fälle gehaltvoller Aussagen sind, ohne die Ausdrücke „empirischer Gehalt“ und „beobachtungsnah“ zu sehr auf die Goldwaage zu legen. Vom Standpunkt von „Überwindung“ und vom Standpunkt von Carnaps Autobiographie aus gesehen, ist das „Manifest“ grobschlächtig, indem es alle Theologen mit denjenigen Philosophen, die dort Metaphysiker genannt werden, in einen Topf wirft. Ob das geschieht, indem (1) im „Manifest“ manche Theologen schlicht nicht berücksichtigt werden oder aber, indem (2) allen Theologen zugeschrieben wird, was nur auf manche zutrifft, läuft letztlich auf dasselbe hinaus. Beschreibt man es im ersten Sinne, so kann man sagen: Die gesamte traditionelle Theologie wird im „Manifest“ nicht berücksichtigt, berücksichtigt wird nur die Theologie, welche der (dort so genannten) Metaphysik methodengleich ist. Carnap vertritt dagegen in „Überwindung“ nicht (2b), sondern vielmehr: (2b*) Kein Metaphysiker und kein solcher Theologe, der wie ein Metaphysiker vorgeht, kann je für eine Äußerung in seiner Fachsprache eine solche Antwort geben. Dass Carnap (2b*) vertritt und nicht (2b), liegt auch daran, dass der Übergang von (2a) zu (2b) oder auch zu (2b*) nicht geschenkt ist. Er ist begründungsbedürftig. Er verlangt nach einer Semantik als Hintergrundtheorie. Sieht man genau hin, so bemerkt man, dass (2a) und die Semantik des Wiener Kreises nicht zur Begründung von (2b) hinreicht, sondern nur zur Begründung von (2b*). Im „Manifest“ tritt das nicht zutage. Aber Carnap hat es gesehen, wie „Überwindung“ zeigt.

6

Auf beides hat nicht zuletzt Popper in Logik der Forschung eindrücklich hingewiesen.

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Niko Strobach

Ein, zwei Blicke in „Überwindung“ (1931) und „Scheinprobleme“ (1928)

Carnaps Aufsatz „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ von 1931 enthält eine Religionskritik, die man als Religionskritik im Sinne religiöser Sprache beschreiben kann. Sie fällt nicht vom Himmel, sondern ist eingebunden in allgemeine semantische Überlegungen. Carnap versucht in „Überwindung“ zu systematisieren, was für Sorten von Unsinn sich unterscheiden lassen (einige der Beispiele im Folgenden sind aus „Überwindung“, einige aus „Scheinprobleme in der Philosophie“). Es bietet sich an, Unsinn der Sorten 0, 1 und 2 voneinander zu trennen: (0) Ein komplexer Ausdruck ist schon im Sinne der „historisch-grammatischen“ Syntax syntaktischer Unsinn: „Cäsar ist und“ (Carnap 1931, 227), „Berlin Pferd blau“ (Carnap 1928, 28), „und oder dessen“ (Carnap 1928, 28), „bu ba bi“ (Carnap 1928, 28). Diese dadaistischen Gebilde sind noch nicht einmal Scheinsätze. Denn niemand würde darauf kommen, sie mit sinnvollen Sätzen zu verwechseln. Scheinsätze hingegen sind grammatisch wohlgeformt. Sonst würden sie keinen Schein erzeugen. Sie sind allesamt Sätze im Sinne der „historisch-grammatischen Syntax“. Carnap unterscheidet zwei Sorten von ihnen: [1] entweder kommt ein Wort vor, von dem man nur irrtümlich annimmt, daß es eine Bedeutung habe, [2] oder die vorkommenden Wörter haben zwar Bedeutungen, sind aber in syntaxwidriger Weise zusammengestellt, so daß sie keinen Sinn ergeben (Carnap 1931, 220). Ein klarer Fall für einen Scheinsatz der Sorte 1 ist: „Das grüne Ungeheuer ist babig.“7 Das liegt nicht an der Phrase „Das grüne Ungeheuer“. Jeder, der an der Universität Rostock arbeitet oder studiert, weiß, dass das grüne Ungeheuer das Gebäude Parkstraße 6 ist. Dass hier ein Scheinsatz vorliegt, das liegt an dem Wort „babig“. Natürlich könnte man dem Wort „babig“ eine Bedeutung geben. Dann könnte man damit Sätze bilden, nicht bloß Scheinsätze. Nicht jeder Satz einer Sprache muss für jeden ihrer Sprecher unmittelbar verständlich sein. Der Satz „Im grünen Ungeheuer tagen die Schlick-Forscher“ genügt dem empiristischen Sinnkriterium. Ob „Gott existiert“ mit „Gott“ als Eigenname nach Carnaps Ansicht ein Fall von Sorte 0 wäre, kann hier dahingestellt bleiben. Zweifellos ist es nicht der Fall, dass „Es gibt einen Gott“ Unsinn der Sorte 0 ist. 7

Zu „babig“: Carnap 1931, 223.

Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap

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Carnap würde in „Überwindung“ viele Sätze, in denen das Wort „Gott“ vorkommt, unter die Scheinsätze der Sorte 1 rechnen. Man meint nun leicht, dass er dies mit allen Sätzen tun wird, in denen das Wort „Gott“ vorkommt. Das wäre jedoch voreilig. Ein klarer Fall für Scheinsätze der Sorte 2 ist für Carnap der Satz „Cäsar ist eine Primzahl“ (Carnap 1931, 227) (bzw. „dieser Stein ist traurig“, „dieses Dreieck ist tugendhaft“ (Carnap 1928, 28)). Denn „Cäsar“ ist zwar sinnvoll und „…ist eine Primzahl“ auch, aber man weiß nicht, was den Satz „Cäsar ist eine Primzahl“ wahr machen sollte. Frege war anderer Meinung. „Cäsar ist eine Primzahl“ war für ihn ein sinnvoller Satz.8 Scheinsätze der Sorte 2 spielen für die Theologie keine Rolle. Ein wichtiges Element in Carnaps Religionskritik sieht man gut am folgenden Beispielsatz aus „Scheinprobleme“ von 1928: In dieser Wolke sitzt Jupiter (er drückt sich aber weder in der Gestalt der Wolke aus, noch ist seine Anwesenheit in irgend einer anderen Weise durch Wahrnehmungen erkennbar). (Carnap 1928, 28)

In der Klammer wird alles negiert, was dem Wort „Jupiter“ und damit dem ganzen Satz „In dieser Wolke sitzt Jupiter“ Sinn verleihen könnte. Die Klammerbemerkung zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Dem Wort „Jupiter“ wird die Bedeutung genommen. „In dieser Wolke sitzt Jupiter“ ist mithin nur ein Scheinsatz. Eine Menge M von Äußerungen (bzw. Sätzen im Sinne der historisch-grammatischen Syntax) erweitert um „In dieser Wolke sitzt Jupiter“ hat dieselben empirischen Konsequenzen wie M, ebenso M erweitert um „Jupiter sitzt nicht in dieser Wolke“. Aus entsprechendem Grund erklärt Carnap in „Scheinprobleme“ auch Fragen wie „Ist der Realismus wahr oder aber der Idealismus?“ zu Scheinfragen: Sieht in beiden Fällen alles gleich aus, gibt es keine Alternativen, zwischen denen zu entscheiden wäre, und deshalb ist die Frage sinnlos. Sich zum Realismus herabzulassen, ist unter der Würde eines reflektierten Logischen Empiristen (Carnap 1928, 34–36). Entsprechend dürfte es mit „Jupiter existiert“ und mit „Jupiter existiert nicht“ stehen – und wiederum entsprechend mit „Gott existiert“ und „Gott existiert nicht“, wenn das Wort „Gott“ durch eine der Klammerbemerkung zu Jupiter analoge Erklärung bedeutungsleer gemacht wird. Sieht nun aber alles genauso aus, egal, ob der Satz „Gott existiert“ (im Sinne von „Es gibt einen Gott“) wahr oder falsch ist, dann beschreibt „Gott existiert“ nichts, und „Gott existiert nicht“ beschreibt auch nichts. Ist es also unter der Würde eines reflektierten Logischen Empiristen, sich zum Athe-

8

„Für Begriffe haben wir [...] die Forderung, dass sie für jedes Argument einen Wahrheitswert als Wert haben“ (Frege 1994, 31).

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ismus herabzulassen, da dieser ebenso wie der Theismus Unsinn ist? „Scheinprobleme“ lässt das zunächst vermuten. Aber die Sache ist nicht so einfach. Denn die Überlegung steht unter der Voraussetzung, dass das Wort „Gott“ bedeutungsleer gemacht wurde, weil es einem als Metaphysiker arbeitenden Theologen in die Hände gefallen ist. Carnaps Äußerungen zur Theologie in „Überwindung“ verschaffen in diesem Punkt Klarheit. Carnap unterscheidet dort zwei Hauptfälle des Gebrauchs des Wortes „Gott“: 1. den mythologischen Sprachgebrauch 2. den metaphysischen Sprachgebrauch. Der erste Fall hat wiederum zwei Unterfälle, von denen man den einen materiell und den anderen spirituell nennen mag.9 Ein […] Beispiel [für Wörter der Metaphysik ohne Bedeutung] ist das Wort „Gott“. Bei diesem Wort müssen wir […] den Sprachgebrauch in drei verschiedenen Fällen […] unterscheiden. [1] Im mythologischen Sprachgebrauch hat das Wort eine klare Bedeutung. [1a] Es werden mit diesem Wort […] zuweilen körperliche Wesen bezeichnet, die etwa auf dem Olymp, im Himmel oder in der Unterwelt thronen, und die mit Macht, Weisheit, Güte und Glück in mehr oder minder vollkommenem Maße ausgestattet sind. [1b] Zuweilen bezeichnet das Wort auch seelisch-geistige Wesen, die zwar keinen menschenartigen Körper haben, aber doch irgendwie in den Dingen oder Vorgängen der sichtbaren Welt sich zeigen und daher empirisch feststellbar sind. [2] Im metaphysischen Sprachgebrauch dagegen bezeichnet „Gott“ etwas Überempirisches. Die Bedeutung eines körperlichen oder eines im Körperlichen steckenden seelischen Wesens wird dem Wort ausdrücklich genommen. Und da ihm keine neue Bedeutung gegeben wird, so wird es bedeutungslos (Carnap 1931, 225f.).

Der unmittelbare Kontext zeigt: „Gott“ soll als Beispiel für ein Wort der Metaphysik ohne Bedeutung sein. Carnap unterscheidet drei Fälle. „Gott“ als Wort der Metaphysik, das ist allein Fall 2. Fall 2 entspricht dem Jupiter-Beispiel in „Scheinprobleme“. Durch die Klammerbemerkung wird dem Wort die Bedeutung genommen, und es wird ihm keine neue gegeben. Entscheidend ist, dass Carnap den Fall 1b genau beschreibt und klarerweise der Ansicht ist, dass es ihn gibt. Er ist kein Fall von metaphysischem Sprachgebrauch. 9

Kursivierungen und Hinzufügungen in eckigen Klammern in den folgenden Zitaten: N.St.

Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap

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Bereits Fall 1a ist bemerkenswert: Mythologische Gottesrede mit Absicht auf körperliche Götter im Sinne von Fall 1a ist nach dem Sinnkriterium des Logischen Empirismus sinnvoll. Sie ist völlig unproblematisch. Das Wort „Gott“ (immer als Prädikat, nicht als Eigenname verstanden) hat eine klare Bedeutung. Angenommen, ein antiker griechischer Polytheist sagt: Auf dem Olymp sitzt wenigstens ein Gott, nämlich Zeus, und in der Unterwelt sitzt wenigstens ein Gott, nämlich Hades; es gibt also wenigstens zwei Götter. Das ist bestens verständliche, empirisch verifizierbare Rede. Man muss zum Beispiel bloß auf den Olymp klettern und nachschauen (es heißt, es sei Nikita Chruschtschow wichtig gewesen, zu bemerken, dass Juri Gagarin in der Erdumlaufbahn nicht auf Gott stieß). Der antike griechische Polytheist geht sogar davon aus, dass etwas, worauf das Prädikat „… ist ein Gott“ zutrifft, einen Körper hat und deshalb ohne weiteres sichtbar, wägbar etc. ist. Vielleicht ist das eine etwas vereinfachte Darstellung. Aber anstelle der Griechen können wir uns andere Menschen vorstellen, die das so sehen. Die jedenfalls bringen sinnvolle Mythologie und damit sinnvolle Theologie hervor. Man kann das bereits aus Carnaps Unterscheidung der drei Fälle schließen. Im Anschluss daran äußert sich Carnap selbst zum „theologischen Sprachgebrauch in Bezug auf das Wort ‚Gott‘“. Er sei nicht als ein weiterer Fall zu berücksichtigen, sondern lasse sich bereits mit Hilfe der vorgenommenen Fallunterscheidung beschreiben. Manche Theologen benutzten das Wort „Gott“ metaphysisch; andere mal metaphysisch, mal mythologisch oder „in nicht klar faßbaren, nach beiden Seiten schillernden Ausdrücken“ (Carnap 1931, 226f.). Aber Carnap stellt auch fest:10 Manche Theologen haben einen deutlich empirischen (also in unserer Bezeichnungsweise „mythologischen“) Gottesbegriff. In diesem Fall liegen keine Scheinsätze vor; aber der Nachteil für diese Theologen liegt darin, daß bei dieser Deutung Sätze der Theologie empirische Sätze sind und daher dem Urteil der empirischen Wissenschaft unterstehen. (Carnap 1931, 226)

Carnap erkennt an, dass es solche Theologen gibt. Damit erkennt er auch die Möglichkeit sinnvoller Theologie an. Er meint zwar: Man wird diese Theologie ebenso falsifizieren können, wie man durch Besteigen des Olymps die Theologie der alten Griechen falsifizieren konnte. Aber das ist kein semantischer Punkt. Oder falls doch, dann ist es einer gegen die Sinnlosigkeit der mythologischen Theologie: Unsinn lässt sich nicht falsifizieren. Unsinn ist noch nicht einmal falsch. Er kann sich deshalb auch nicht als falsch erweisen.

10

Kursivierungen im folgenden Zitat: N.St.

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Nun könnte man sagen, der mythologische Sprachgebrauch mit Absicht auf körperliche Götter, der Fall 1a, sei keine ernst zu nehmende Theologie, sondern sei dafür einfach zu primitiv. Zugegeben: Fall 1b wirkt, wenn man denn die Geschichte der europäischen Theologie als Entwicklungsgeschichte erzählen will, weniger kindlich als Fall 1a, wenngleich auch er nach Carnaps Einteilung ein Fall von mythologischem Sprachgebrauch ist. Zu Fall 1b meint Carnap nicht etwa: „Ein seelisch-geistiges Wesen ohne Körper existiert“ ist Unsinn. Vielmehr ist das nach dem empiristischen Sinnkriterium einwandfrei sinnvoll, wenn deutlich wird, wie es sich, falls es existiert, in den Dingen und Vorgängen der sichtbaren Welt zeigt und daher empirisch feststellbar ist. Carnap zeigte Interesse an parapsychologischen Experimenten, was auf die Empörung Wittgensteins stieß: Ein andermal kamen wir auf das Thema Parapsychologie zu sprechen; er erklärte sich strikt dagegen. Die angeblichen Botschaften, die auf spiritistischen Sitzungen herauskämen, seien, wie er sagte, gänzlich trivial und dumm. Das gab ich zu, bemerkte aber, dass gleichwohl das Vorhandensein und die Erklärung angeblicher parapsychologischer Phänomene ein wichtiges wissenschaftliches Problem darstellten. Er war schockiert, dass ein vernünftiger Mensch an solchem Mist interessiert war.11

Carnap ist selbst zweifellos der Meinung, dass sich ein Theologe mit theologischen Sätzen im Sinne der Option 1b keinen Gefallen tut. Zum einen enthält das „irgendwie“ in der Beschreibung der Option 1b eine Forderung nach Präzisierung. Zum anderen ist Carnap 1931 überzeugt, dass eine hinreichende Präzisierung eine Steilvorlage für die empirische Falsifikation ist. Deshalb sieht er die Gruppe der sinnvoll sprechenden Theologen in einem unvermeidlichen Dilemma.

4

Ein Blick in Carnaps Autobiographie (1963) und das Dilemma der Theologen

Carnaps Autobiographie von 1963 zeigt, dass er an dieser Einschätzung festgehalten hat und bietet sie noch einmal in sehr klarer Formulierung. Unter dem, was Carnap

11

Carnap 1993, 42. „Another time we touched the topic of parapsychology, and he expressed himself strongly against it. The alleged messages produced in spiritualistic séances, he said, were extremely trivial and silly. I agreed with this, but I remarked that nevertheless the question of the existence and explanation of the alleged parapsychological phenomena was an important scientific problem. He was shocked that any reasonable man could have any interest in such rubbish.“ (Carnap 1963a, 26) Vgl. zum Hintergrund Iven 2015, 103.

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in seiner intellektuellen Autobiographie zur Theologie zu berichten hat, findet sich die Position 1b aus „Überwindung“ wieder. Carnap berichtet zunächst: Meine Eltern waren tiefreligiös; ihr Glaube durchdrang ihr ganzes Leben. Meine Mutter pflegte uns einzuprägen, dass das Wesentliche an der Religion nicht so sehr das Bekenntnis zu einem Glauben sei, sondern gute Lebensführung.12 Schon in den Jahren vor meinem Studium begann ich die religiösen Lehren über die Welt, den Menschen und Gott anzuzweifeln. […] Durch Bücher und Gespräche mit Freunden wurde mir klar, dass diese Lehren, wörtlich genommen, mit den Forschungsergebnissen der modernen Wissenschaft – in der Biologie besonders mit der Evolutionstheorie und in der Physik mit dem Determinismus – unverträglich waren.13

Dann beschreibt Carnap die Option 1b aus „Überwindung“ als seine eigene jugendliche Position und führt aus:14 Später gab ich die Idee eines persönlichen Gottes auf, der, obwohl etwas immateriell Seiendes, ins Naturgeschehen und die Geschichte belohnend und strafend eingreift [Fall 1b in „Überwindung], und ersetzte sie durch eine Art Pantheismus. […] Die systematische Theologie beansprucht […] ein Wissen von einem angeblichen Seienden übernatürlicher Art. Ein solcher Anspruch ist nach denselben strengen Maßstäben zu prüfen wie jeder andere Wissensanspruch. […] Versteht man die Dogmen im unmittelbaren, wörtlichen Sinn […], dann sind die meisten durch Ergebnisse der Wissenschaften widerlegt. Wird aber die grobe wörtliche Auslegung verworfen und stattdessen eine verfeinerte Neuformulierung gewählt, die theologische Fragen außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Methodik stellt [= Fall 2 in „Überwindung“], dann sind die Dogmen von derselben Art wie Behauptungen der traditionellen Metaphysik. […Ich] gelangte […] zu der […] Überzeugung, dass [die Grundsätze der traditionellen Metaphysik] ohne jeden kognitiven Gehalt sind. [Ich bin] davon überzeugt, dass dasselbe für die meisten Behauptungen zeitgenössischer Theologie gilt.15 12

Carnap 1993, 5. „My parents were deeply religious; their faith permeated their whole lives. My mother used to impress upon us that the essential in religion was not so much the acceptance of a creed, but the living of the good life.“ (Carnap 1963a, 3) 13 Carnap 1993, 11. „During my pre-university years I had gradually begun to doubt the religious doctrines about the world, man, and God. […] Under the influence of books and conversations with friends, I recognized that these doctrines, if interpreted literally, were incompatible with the results of modern science, especially with the theory of evolution in biology and determinism in physics.“ (Carnap 1963a, 7) 14 Kursivierungen im folgenden Zitat: N.St. 15 Carnap 1993, 12f. „Later the idea of God as a personal, though immaterial being, interfering in the course of nature and history in order to reward and punish [Fall 1b in “Überwindung”], was abandoned and replaced by a kind of pantheism. […] Systematic theology claims to represent knowledge concerning alleged beings of a supernatural order. A claim of this kind must be examined according

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Hochkeppel überliest in seiner verdienstvollen und präzisen, sehr gut lesbaren Übersetzung das Wort „Christian“.16 Es mag aus dem Kontext mitverstanden werden, aber völlig redundant ist es bei genauem Hinsehen nicht. Carnaps englische Formulierung lässt offen, ob z. B. islamische oder hinduistische Theologen ebenso in metaphysische Rede verfallen sind, wie er es für die meisten (wenn auch nicht alle) christlichen Theologen seiner Zeit konstatiert. Carnap analysiert, wie schon in „Überwindung“, deutlich, mit welchem Dilemma er die Theologen unausweichlich konfrontiert sieht: Die Theologie kann nicht traditionell gehaltvoll und semantisch respektabel sein, ohne empirisch falsifiziert zu werden. Es bleibt ihr, wenn sie nicht durch Falsifikation untergehen soll, also nur die Möglichkeit, ihre traditionelle und semantisch respektable Sprache aufzugeben und in den Unsinn abzudriften. Man könnte zusammenfassen (obwohl dies sicher nicht die Diktion des Wiener Kreises ist): Die Theologie hat keine andere Wahl, als modern zu werden. Für Carnap heißt das: Theologie muss Unsinn werden, der streng genommen allenfalls als Ausdruck eines Lebensgefühls zu verstehen ist. Für den späten Wittgenstein heißt es: Gerade insofern sie Ausdruck eines Lebensgefühls ist, ist sie kein Unsinn. Aber das geht einher mit einem religionsphilosophischen Antirealismus, der religionsphilosophisch unbefriedigend bleibt (Weidemann 2004).

5

Carnaps Antworten auf Henle und Popper (1963) – und Carnaps Neurath-Rezeption

Dass Carnap auch 1963 an seiner Ansicht aus „Überwindung“ festgehalten hat (und sie nicht etwa später liberalisiert hat), bestätigt er in seinen Antworten auf zwei Beiträge im ihm gewidmeten Band der Library of Living Philosophers. Der eine stammt von Paul Henle, der andere von Karl Raimund Popper. Beide Beiträge präsentieren to the same rigorous standards as any other claim of knowledge. […] If they are taken in a direct and literal sense, […] then most of the dogmas are refuted by the results of science. If, on the other hand, this crude literal interpretation is rejected and instead a refined reformulation is accepted which puts theological questions outside the scope of the scientific method [Fall 2 in “Überwindung”], then the dogmas have the same character as statements of traditional metaphysics. […] I came […] to the insight that the main statements of traditional metaphysics […] are devoid of any cognitive content. Since that time I have been convinced that the same holds for most of the statements of contemporary Christian theology.“ (Carnap 1963a, 7–9) 16 Carnap 1993, S. 9: „[Ich bin] davon überzeugt, dass dasselbe für die meisten Behauptungen zeitgenössischer Theologie gilt.“

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komplexe Argumente zu zentralen Aspekten von Carnaps Philosophie,17 deren eingehende Diskussion (zusammen mit der von Carnaps Antworten) sich zwar lohnen würde, aber im vorliegenden Text nicht zielführend wäre. Henle betrachtet den Satz „God exists“ unter genau spezifizierten theologischen Randbedingungen, als „a metaphysician’s assertion, held to be meaningful, for which, even ideally, no empirical verification could be given“ (1963, 170). Popper unternimmt es, ein Fragment einer physikalistischen formalen Sprache zu definieren, in der eine „arch-metaphysical assertion“ formulierbar ist: There exists an omnipotent, omnipresent, and omniscient personal spirit. (Popper 1963, 207)

Er paraphrasiert die Formulierung als: [A] thinking person a exists, positioned everywhere; able to put anything anywhere; thinking all and only what is in fact true; and with nobody else knowing all about a’s thinking. (Popper 1963, 208f.)

Popper schätzt die von ihm erzmetaphysisch genannte Aussage als zwar sinnvoll, aber unwissenschaftlich, da nicht falsifizierbar ein. Da Falsifizierbarkeit bei Carnap noch keine fundamentale Rolle spiele, müsse dieser sie jedoch als nicht nur sinnvoll, und mithin als sinnvolle metaphysische Aussage, sondern auch noch als wissenschaftlich respektabel ansehen (Popper 1963, 209). In seiner Antwort auf Henle berichtet Carnap, was ihn 1931 auf die Unterscheidung von mythologischem und metaphysischem Sprachgebrauch gebracht hat, nämlich das erste Kapitel, „Von der Magie zur Einheitswissenschaft“18 des im gleichen Jahr erschienenen Buchs Empirische Soziologie von Otto Neurath. [I]t is important to distinguish between the mythical (or magical) and the metaphysical uses of the word „God“ or „god“. Neurath emphasized the difference between the magic of primeval periods and later metaphysics. Magic was this-wordly and empirical; metaphysics, on the other hand, was transcendent and non-empirical. Neurath regarded theology as a transition phenomenon; in its primitive form it is magical, but later it became more and more metaphysical, although it preserved some of its original formulations. I made the same distinction in [“Überwindung”], § 3. I pointed out that

17

Ich halte Henle (1963) für einen starken Text im Hinblick auf die heikle Frage, was prinzipielle Verifizierbarkeit sein soll (vgl. besonders 175f.), wünsche, er wäre mir früher aufgefallen und kann ihn für einen genauen Blick nur empfehlen. 18 Neurath 1931, 4–18. Vgl. im Hinblick auf Carnaps Rezeption besonders 4–11. Dieser Teil von Empirische Soziologie ist nicht in der von Rainer Hegselmann erstellten Kurzfassung in Neurath 1979, 145–234, enthalten.

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the word “God”, in its mythical use, has a clear, empirical meaning. In its metaphysical use however, its old empirical meaning vanishes; since no new meaning is supplied, the term “God” becomes meaningless. I added that in theology the use of the word “God” is sometimes mythical and thus empirical, sometimes metaphysical and sometimes ambiguous. (Carnap 1963b, 875f.)

Es ist an dieser Stelle leider nicht möglich, auf den Text Neuraths genauer einzugehen, der ein bemerkenswertes Stück Kultur- und Geschichtsphilosophie aus der Feder eines Logischen Empiristen ist. Er könnte in Seminaren die Lektüre des „Manifests“ flankieren und eine andere Seite des Logischen Empirismus zeigen. Neurath greift auf originelle Art Marxismus, Freud’sche Psychoanalyse und Ethnologie seiner Zeit auf. Er erzählt ungemein pointiert (und unbelastet von irgendwelchen konkreten empirischen Daten) auf wenigen Seiten eine große Sozialgeschichte der Wissenschaft und ihrer Vorläufer als eine Geschichte von theoretischem Erfolg und seinen Produktionsbedingungen. Schon hier findet sich die „esoterisch“/“exoterisch“-Unterscheidung, die 1935 bei Ludwik Fleck wichtig ist (Neurath 1931, 4; Fleck 1980, 138f.). Einen Eindruck von der Erzählstrategie Neuraths liefert das folgende Beispiel. Das Krokodil frißt angeblich keine Neger; wird tatsächlich ein Neger vom Krokodil gefressen, dann war er eben „verzaubert“. [...] Eisen wird von Eisen nicht angezogen, wird es dennoch angezogen, dann ist es eben „verzaubert“, in unserer Sprache „magnetisiert“. (Neurath 1931, 6)

Die verblüffenden Assoziationen, die kühne Parallelisierung der tabugesteuerten Menschen des magischen Zeitalters mit den von Warnschildern an ihren Maschinen disziplinierten Fabrikarbeitern (Neurath 1931, 5) – das alles lässt Carnaps Referat nicht ahnen. Die Worte „mythisch“ und „mythologisch“ spielen bei Neurath keine Rolle. Dort ist der entsprechende – und zentrale – Ausdruck „magisch“. Ungefähr lässt sich Carnaps Zuordnung nachvollziehen, lässt dabei aber auch Unterschiede zwischen Rezipiertem und Rezeption zutage treten: Der Stufe der „Magie“, die „endlich und irdisch“ (Neurath 1931, 7) ist, entspricht strukturell Carnaps Stufe 1a, die Stufe der Götter mit Körper. Allerdings ist es Neurath wichtig, dass auf der magischen Stufe zunächst noch gar keine Götter vorkommen und sie erst allmählich auftreten, wobei sie ein fürs magische Denken uncharakteristisches Randphänomen sind, gerade weil das magische Denken Neurath zufolge empirisch ist (vgl. Neurath 1931, 8). Im Kontrast dazu formuliert Neurath ganz allgemein: „Theologie ist transzendent“ (Neurath 1931, 9). Sie ist bereits „Überwindung der Magie“, auch wenn die Umwandlung des „diesseitige[n] Himmel[s] (= Gott)“ zum „jenseitigen Wesen“ erst

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„allmählich“ vor sich geht.19 Carnap ist eher auf saubere Trennung der Stufen bedacht, Neurath beschreibt dialektische Prozesse. Neurath nennt zwar die Magie „empirisch“, nicht aber die als transzendent charakterisierte Theologie – während Carnaps strukturell entsprechende Stufe 1b, die der immateriellen Geistwesen, weiterhin die Formulierung empirischer Hypothesen erlaubt. In der Tat bezeichnet Neurath die Theologie als „Durchgangsstadium“ zur Metaphysik (Neurath 1931, 10), was Carnap mit der Wendung „transition phenomenon“ aufnimmt. Zwar vertritt Neurath auch im von Carnap erwähnten Text, dass metaphysische Aussagen Unsinn sind, dies aber erst in dessen zweitem Teil (Neurath 1931, 11–18). Dort kontrastiert Neurath die Metaphysik bereits mit der gegen sie reagierenden nächsten Entwicklungsstufe, dem Physikalismus, der nach langer Abirrung zum empirischen Denken zurückkehrt, wenn auch im Vergleich zu dessen magischer Phase methodisch geläutert. Zunächst aber kommt es Neurath bei seinem Paradebeispiel für Metaphysik gar nicht auf das an, was Carnap betont: dass die Metaphysik den Worten ihre empirische Grundlage wegnimmt. Vielmehr ist ihm wichtig, dass die Metaphysik „den göttlichen Geboten den Gott weggenommen“ hat, so dass „‚das Gebot an sich‘, [der] ‚kategorische Imperativ‘“ übrigbleibt (Neurath 1931, 11). Davon kann sich die Soziologie, als Teil des physikalistischen Projekts verstanden, abwenden: Menschengruppen verhalten sich irgendwie und machen Aussagen über dies Verhalten. Da gibt es kein „Soll“ außerhalb dieser Gruppen, Befehle geben Menschen anderen Menschen. Die Befehle haben nicht ein Eigenleben „neben“ oder „über“ den Menschen, welche die Befehle geben. (Neurath 1931, 13)

Schüttet Neurath 1931 gutgelaunt und sorglos das metaethische Kind mit dem metaphysischen Bade aus? Dies ist nicht der Ort, das zu diskutieren. Man könnte lange darüber sprechen. Schon der kurze Blick zeigt zwar, dass Carnap Neurath nicht eins zu eins übernimmt. Dennoch präsentiert Carnap die systematische Unterscheidung zwischen mythischem (bzw. mythologischem) und metaphysischem Sprachgebrauch durch den Hinweis auf Neurath und die Unterscheidung von Phasen 1963 in seinem Selbstreferat von „Überwindung“ noch deutlicher historisch als 1931 im Text von „Überwindung“ selbst: als Narration von Stationen einer Entwicklungsgeschichte. Unmittelbar an das Selbstreferat schließt Carnap eine These an, die meiner Ansicht nach in „Überwindung“ noch nicht vorkommt.

19

Neurath 1931, 8. Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original.

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In order to classify a theological statement, we have to take its interpretation or its context into consideration. The psychological phenomenon of the subjective understanding of theological statements, even in the later metaphysical phase, can easily be explained by those associations connected with the word “God” which are remnants of the earlier mythical phase. (Carnap 1963b, 875)

Die These passt freilich gut zu den Beispielen mit den Wörtern „babig“ und „bebig“, wo, auch wenn die Sprecher noch so sehr „versichern“ mögen, sie meinten doch etwas mit ihren Worten, der Semantiker die letzte Instanz des Urteils über Sinn und Unsinn sein soll (Carnap 1931, 233f.): Wenn ein Metaphysiker-Theologe darauf besteht, dass er versteht, was er äußert, dann muss man es zwar als psychologisches Phänomen anerkennen, dass er meint, sich selbst zu verstehen. Aber tatsächlich versteht er nicht, was er äußert, denn Unsinn ist unverständlich auch für den, der ihn hervorbringt. Es gibt keine erstpersönliche Autorität im Hinblick auf Verständlichkeit. Damit stellt sich die Aufgabe, psychologisch zu erklären, warum der Metaphysiker-Theologe sich über den Status des von ihm Geäußerten täuscht. Carnap schlägt als psychologische – man mag durchaus sagen: psychoanalytische – Erklärung vor: Der Metaphysiker-Theologe assoziiert in dieser Lage mit dem Wort „Gott“, wenigstens teilweise dessen alten empirischen Gehalt. Er überträgt deshalb den Eindruck des Sinnvollen, den seine Äußerung, als mythologische Aussage verstanden, zu Recht machen würde, zu Unrecht auf seine metaphysisch gemeinte Äußerung.   Zur Vorbereitung seiner Antwort auf Popper unterscheidet Carnap drei Sorten von Aussagen („statements“). Zu Typ I gehören wissenschaftliche Aussagen, zu Typ II „pseudo-scientific statements“, zum Beispiel „astrology, magical beliefs, myths“ und zu Typ III Scheinsätze („declarative sentences devoid of cognitive meaning“) (Carnap 1963b, 878). Seine Antwort im Hinblick auf die von Popper so genannte erzmetaphysische Aussage besteht nun darin, zwar eine systematisch wichtige terminologische Abweichung festzuhalten, aber Popper seinen Punkt ansonsten zuzugeben. For the terms occurring in the [so-called ‚arch-metaphysical assertion‘, Popper] gives definitions in a physicalistic language. Thus, the sentence is clearly empirical; it is metaphysical only in Popper’s sense (kind II), not in our sense (kind III). It is true that we have sometimes called similar theological sentences metaphysical and meaningless. But we did this only if the context showed that the author of the statement did not intend to give an empirical interpretation to it. I have previously (in [the reply to Henle]) mentioned the distinction, first made by Neurath, between mythical (or magical) and metaphysical theology. Popper’s theological statement, on the basis of his empirical definitions, obviously belongs to the former. (Carnap 1963b, 881)

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Carnap erkennt an, dass die von Popper so genannte erzmetaphysische Aussage sinnvoll ist. Er erkennt nicht an, dass sie metaphysisch ist, geschweige denn erzmetaphysisch. Deshalb sieht sich Carnap von Popper aufgrund dieses Beispiels nicht genötigt, sinnvolle metaphysische Aussagen in seinem Sinn von „metaphysisch“ anzuerkennen. Das ist systematisch für ihn wichtig, aber für die Frage nach sinnvoller Theologie bei Carnap ist es unerheblich. Erheblich dafür ist: Carnap erkennt hier ausdrücklich an, dass eine Aussage, die er selbst als “theological statement” klassifiziert, sinnvoll ist: die von Popper so genannte erzmetaphysische Aussage. Charakterisiert man „... ist ein Gott“ über die traditionellen theologischen Attribute, so mag man die von Popper so genannte erzmetaphysische Aussage abkürzen mit „Es gibt (genau) einen Gott“.20 In Poppers Lesart erkennt Carnap also den Satz „Es gibt (genau) einen Gott“ als sinnvoll an. Im Sinne von Carnaps Klassifikation darf man feststellen: Poppers Lesart von „Gott existiert“ ist eine mythologische Deutung. Es fällt auf, wie wenig polemisch-historisierend das Wort „mythologisch“ im Kontext dieser Feststellung noch ist. Popper hat lediglich die traditionellen theologischen Attribute ausbuchstabiert – und das auch noch, wie Carnap ausdrücklich bestätigt, in physikalistischer Sprache.

6

Wirklich ein Dilemma für den Theologen?

Ist, was Carnap in „Überwindung“ als Dilemma für den Theologen beschreibt, wirklich eines – eine unausweichliche Wahl zwischen inakzeptablen Alternativen? Selbst wenn die Wahl unausweichlich ist, so kann ein Theologe doch sagen: „Ich verweigere mich der theologischen Moderne und bringe meine Theologie traditionell weiter im Sinne von Option 1b vor. Warum modern sein?“ Ist diese Alternative inakzeptabel? Carnap nennt den Preis, den man seiner Ansicht nach dafür zahlen muss: Falsifikation. Aber es ist nicht so klar, ob sich jede Theologie, die traditionell genug ist, um semantisch respektabel zu sein, empirisch falsifizieren lässt. Quine hat in „Two Dogmas of Empiricism“ (1951) verdeutlicht, dass die Grenze zwischen Anschaulichem und Unanschaulichem nicht leicht zu ziehen ist: Selbst mittelgroße, mit bloßem Auge sichtbare Objekte sind für ihn „posits“21 die ihre Berechtigung daraus beziehen, dass sie Theorien erfolgreich sein lassen – umso mehr haben Atome oder gar immaterielle zeitlose Objekte wie Mengen diesen Status. Er ver-

20 21

Zur Eindeutigkeit („genau“) vgl. Popper 1963, 209. Quine 1953, 44; in der Ausgabe von Bluhm und Nimtz: 122f.

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gleicht sie in ihrer epistemologischen Rolle mit gewissen Entitäten einer traditionellen mythologischen Theologie: den homerischen Göttern (Quine 1953, 44). Es fällt auf, dass dieses Beispiel als Fall 1a in der oben diskutierten Passage in „Überwindung“ eine Rolle spielt. Die Verbindungen sind eng. Quine widmet Word and Object seinem „teacher and friend“ Carnap. Man kann im dort ausgeführten Gavagai-Argument (Quine 1960, Kap. 2) eine Kritik der von Carnap in „Überwindung“ behaupteten Beobachtbarkeit der Bedeutung des Wortes „bebig“ (sic!) (Carnap 1931, 223f.) lesen. Manchmal werden Atome deshalb, mehr oder weniger glücklich, „theoretische Entitäten“ genannt. Man muss längst nicht alle Ansichten Quines unterschreiben, um es für plausibel zu halten, dass wir ein Atom nie beobachten, sondern nur das, was wir als die Wirkungen von Atomen interpretieren. Sollte ein religiöser Mensch nicht – wie Marc Aurel22 – Ähnliches tun können? Darüber ließe sich lange diskutieren. Qualitätskriterien für eine Weltsicht oder eine Theorie müssten dabei eine Rolle spielen. Es soll hier nicht behauptet werden, dass ein Apologet der Theologie hier am Ende der Diskussion besser dastehen wird. Hier ist nur zu bemerken: Es ist abzusehen, dass diese Diskussion keine Diskussion über Semantik wäre.

7

Fazit

Carnaps semantische Religionskritik ist gerade deshalb weniger umfassend, als es ihr Ruf nahelegt, weil Carnap das Sinnkriteriums des Logischen Empirismus sorgfältig anwendet. Insofern sie eine bestimmte Gruppe von Theologen nicht trifft, ist sie schwächer als ihr Ruf. Das ist kein Nachteil: Dass Carnap die Möglichkeit sinnvoller Theologie ernst nimmt und im Rahmen seines Ansatzes genau beschreibt, ist ein Zeugnis seiner intellektuellen Redlichkeit. Und seine Diagnose des Dilemmas der Theologen ist philosophische Analyse vom Feinsten. Theologen kann es nicht schaden, sie sich vor Augen zu führen und sich problembewusst dazu zu verhalten. Der Globalangriff auf alle Theologen im „Manifest des Wiener Kreises“ ist angesichts von Carnaps differenzierten Ausführungen in „Überwindung“ und in seiner Autobiographie vielleicht am besten als Ausdruck eines Lebensgefühls zu verstehen. Freilich ist die wohlwollende Interpretation denkbar, dass auch im „Manifest“ immer nur die modernen Theologen geprügelt werden sollen, da dort die Theologen immer mit den Metaphysikern in einem Atemzug genannt werden.

22

Vgl. das Motto am Beginn des vorliegenden Beitrags.

Sinnvolle Theologie bei Rudolf Carnap

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In jedem Fall lässt sich als Ergebnis festhalten: Es gibt – einer verbreiteten Legende zum Trotz – bei Carnap, wenn auch keine sinnvolle Metaphysik, so doch sinnvolle Theologie.

Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf: Scheinprobleme der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit. Berlin 1928. Carnap, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2/1 (1931), 219–241. Carnap, Rudolf: Intellectual Autobiography. In: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap (The Library of Living Philosophers, Bd. XI), La Salle/Illinois 1963a, 3– 84. Carnap, Rudolf: Replies and Systematic Expositions. In: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap (The Library of Living Philosophers, Bd. XI), La Salle/Illinois 1963b, 859–1013. Carnap, Rudolf/Hahn, Hans/Neurath, Otto: Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis. In: Neurath, Otto: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. v. Rainer Hegselmann. Frankfurt a.M. 1979, 81–101. Carnap, Rudolf: Mein Weg in die Philosophie, hrsg. v. Willy Hochkeppel. Stuttgart 1993. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Basel 1935. Zit. n.: Ders., hrsg v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt a.M. 1980. Frege, Gottlob: Funktion und Begriff. Vortrag gehalten in der Sitzung vom 9. Januar 1891 der Jenaischen Gesellschaft für Medicin und Naturwissenschaft. Jena 1891. Zit. n.: Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. v. Günther Patzig. Göttingen 71994, 17–39. Frege, Gottlob: Begriff und Gegenstand. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie XVI (1892), 192–205. Zit. n.: Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. v. Günther Patzig. Göttingen 71994, 66–80. Henle, Paul: Meaning and Verifiability. In: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap (The Library of Living Philosophers, Bd. XI). La Salle/Illinois 1963, 165– 182. Iven, Mathias: Er ‚ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität‘. Die Korrespondenz zwischen Ludwig Wittgenstein und Moritz Schlick sowie ausgewählte Briefe von und an Friedrich Waismann, Rudolf Carnap, Frank P. Ramsey, Ludwig Hänsel und Margaret Stonborough. In: Wittgenstein-Studien 6 (2015), 83–174. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (=KpV), hrsg. v. Horst D. Brandt/Heiner F. Klemme. Hamburg 2003. Zit. n.: Kant, Immanuel: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften (=AA). Berlin 1900ff.

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Niko Strobach

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (=KrV), hrsg. v. Ingeborg Heidemann. Stuttgart 2016. Zit. n: Kant, Immanuel: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften (=AA). Berlin 1900ff. Lewis, Clarence Irving: Experience and Meaning. In: The Philosophical Review 43, 2 (1934), 125–146. Marc Aurel: Wege zu sich selbst, griechisch – deutsch, hrsg. und übersetzt v. Rainer Nickel. Zürich 1998. Neurath, Otto: Empirische Soziologie. Wien 1931. Neurath, Otto: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. v. Rainer Hegselmann. Frankfurt a.M. 1979. Popper, Karl Raimund: Logik der Forschung. Wien 1934. Popper, Karl Raimund: The Demarcation between Science and Metaphysics. In: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap (The Library of Living Philosophers, Bd. XI). La Salle/Illinois 1963, 182–226. Quine, Willard Van Orman: Two Dogmas of Empiricism. In: Ders.: From a Logical Point of View. Cambridge/Mass. 1953, 20–46. (Zweisprachige Ausgabe: Quine, Willard Van Orman: From a Logical Point of View – Three Selected Essays/Von einem logischen Standpunkt aus – Drei ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Roland Bluhm/Christian Nimtz. Stuttgart 2011, 56–127.) Quine, Willard Van Orman: Word and Object. Cambridge/Mass. 1960. Rohs, Peter: Der Platz zum Glauben. Paderborn 2013. Weidemann, Christian: Theologischer Antirealismus – und warum er so uninteressant ist. In: Christoph Halbig/Christian Suhm (Hg.): Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie. Frankfurt a.M. 2004, 397–427.

Schlicks dualistischer Monismus zwischen Natur und Kultur Martin Lemke

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Einleitung

Die Beiträge in diesem Sammelband zeigen eindrucksvoll, dass der Wiener Kreis sehr viel mehr als eine Gruppe von an Logik, Natur- und Wissenschaftsphilosophie interessierten Philosophen war. Es ging darum, Natur und Kultur logisch widerspruchsfrei zusammen zu denken, und das auf Grundlage der Wissenschaft. Im „Manifest des Wiener Kreises“ heißt es: Der Verein Ernst Mach ist heute die Stelle, von der aus der Kreis zu einer weiteren Öffentlichkeit spricht. Dieser Verein will, wie es in seinem Programm heißt, „wissenschaftliche Weltauffassung fördern und verbreiten. Er wird Vorträge und Veröffentlichungen über den augenblicklichen Stand wissenschaftlicher Weltauffassung veranlassen, damit die Bedeutung exakter Forschung für Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften gezeigt wird. So sollen gedankliche Werkzeuge des modernen Empirismus geformt werden, deren auch die öffentliche und private Lebensgestaltung bedarf.“ (Carnap et al. 1929, 24)

Der Wiener Kreis forderte also, alle Wissenschaften, die von der Natur und die der von der Kultur auf ein und dieselbe Erkenntnisquelle zu gründen, nämlich der Empirie oder Erfahrung. Diese Position ist ein Monismus, weil er nur eine Quelle der Erkenntnis erlaubt. Zwar gestatteten die Mitglieder des Kreises sich auch logische Schlussfolgerungen, um etwas zu begründen, allerdings sind die logischen Gesetze analytisch und tautologisch. Sie fügen keiner Erkenntnis etwas hinzu und können allein keine Erkenntnis begründen. Eine logische Folgerung ist bestenfalls so gut begründet wie ihre Annahmen. Soll ein Regress oder Zirkel vermieden werden, dann müssen in einer Begründung stets irgendwo durch Erfahrung begründete Annahmen verwendet werden. Dieser Erkenntnismonismus dürfte heute noch Mainstream sein.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_6

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Auch wenn nur eine Quelle der Erkenntnis erlaubt ist, scheinen Natur- und Kulturwissenschaften doch verschieden zu sein. Schlick, dem das „Manifest“ des Kreises gewidmet war, schreibt in seinem unvollendetem letzten Buch Natur, Kultur, Kunst: Das Verwunderliche und Fragwürdige an dem Verhältnis zwischen Natur und Kultur ist, daß überhaupt ein Unterschied zwischen ihnen besteht. Kultur ist nicht einfach ein Stück Natur, sondern steht im Gegensatz zu ihr. Diesen Gegensatz zu verstehen und durch die Erkenntnis seines Ursprungs seine Überwindung vorzubereiten: das ist die einzige Aufgabe der „Kulturphilosophie“. (Schlick, NK, 9)

Auch wenn Schlick den Gegensatz von Natur und Kultur überwinden wollte, war er der Ansicht, dass die Gesetze beider Sphären völlig verschieden sind. In Bezug auf die Gesetze, die in der Natur und Kultur gelten, vertrat Schlick eine dualistische und keine monistische Position. Den Monismus für Gesetze kritisierte Moritz Schlick beispielsweise an Heraklit: Bei Heraklit wird der Begriff des Werdens in der Natur mit dem Begriff des Gesetzes im täglichen Leben zusammengebracht. Wer diese beiden Begriffe vereinigt, führt nach seiner Meinung ein weises Leben. Heraklit machte hier einen Fehler, der für die spätere Philosophie verhängnisvoll geworden ist: er glaubte, dass die Natur„gesetze“ in derselben Weise Gesetze seien, dass die Natur ihnen in derselben Weise gehorchen müsse, wie der Mensch den Gesetzen der Moral oder des Staates. (Schlick, B.23, Bl. 25)

Schlick glaubte also, es gäbe einen wesentlichen Unterschied zwischen den Gesetzen, die Naturwissenschaftler erforschen und den Gesetzen, die z. B. durch einen Staat oder eine andere Institution in einer Kultur durchgesetzt werden. Dabei war er nicht der Meinung, dass die Staatsgesetze wie die der Logik tautologisch sind. Es liegt also ein echter Dualismus vor. Auch dieser Gesetzesdualismus dürfte das sein, was die meisten Menschen noch heute über Gesetze glauben. Niemand wird die Straßenverkehrsordnung für ein Naturgesetz oder eine logische Tautologie halten und niemand wird glauben, das Gravitationsgesetz könnte durch einen Staat geändert werden. Schlick vertrat also beide Positionen, die auch heute noch Mainstream sind: In Bezug auf die Erkenntnis war er empiristischer Monist (plus Logik, sofern sie tautologisch ist), in Bezug auf die Gesetze Dualist. Das Problem besteht nun darin, dass der Dualismus zwischen Natur- und Kulturgesetzen nur mit den Mitteln des Erkenntnismonismus begründet werden muss. Erfahrung und Logik müssen also genügen, um zu zeigen, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen gibt. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe hat Schlick durchaus gesehen:

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Jeder selbständige Geist muss einmal mit Staunen oder Schrecken an den Rand des Abgrunds treten, den die Kultur zwischen ihm und der Natur aufgerissen hat, erschüttert in die Tiefe und sehnsüchtig hinüber schauen – sehnsüchtig, obgleich es durchaus nicht das Paradies ist, das auf der andern Seite liegt. […] Der Unterschied zwischen diesseits und jenseits der Kluft ist also nicht der zwischen Hölle und Paradies; beides ist auf beiden Seiten, der Boden der Mutter Erde ist überall; auch in den Gebilden der Kultur ist nichts, was nicht ihm entstammte. Was also macht den Unterschied zwischen hüben und drüben, worin besteht die sonderbare Fremdheit, mit der die Kultur in der Natur dasteht und über sie hinblickt? (Schlick, NK, 11)

Genau das ist die Frage, um die es in diesem Papier geht: Ist es möglich, den Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen allein aus der Erfahrung und vielleicht noch Logik zu begründen?

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Erster Versuch – Sein und Sollen

Um einen Unterschied zwischen Gesetzen zu begründen, muss wenigstens einigermaßen klar sein, was Gesetze sind. Das ist nicht unumstritten, aber wir können einige wesentliche Eigenschaften von Gesetzen angeben, die für unsere Untersuchung genügen: Es sind Sätze, die von mindestens einer ganzen Sorte von Gegenständen erfüllt werden können. Die physikalischen Fließgesetze gelten mindestens für alle Flüssigkeiten und die Gesetze der Straßenverkehrsordnung für alle Verkehrsteilnehmer usw. In den Fragen der Ethik, schlug Schlick nun vor, Gesetze danach zu unterscheiden, wie sie formuliert sind. Denn diesen Unterschied kann man sehen, er ist empirisch nachprüfbar: Alles beginnt mit einer irrtümlichen Deutung des Wortes „Gesetz“. In der Praxis versteht man darunter eine Regel, durch die der Staat seinen Bürgern ein bestimmtes Verhalten vorschreibt. [...] Das Naturgesetz ist nicht eine Vorschrift, wie sich irgend etwas verhalten soll, sondern eine Formel, die beschreibt, wie sich etwas tatsächlich verhält. (Schlick, MSGA I/3, 485f.)

Unsere erste Vermutung ist also: Naturgesetze sind Ist-, Kulturgesetze Sollens-Aussagen. Doch jedes Gesetz lässt sich sowohl mit „ist“ als auch mit „soll“ formulieren. Hier Newtons Fließgesetz in beiden Versionen: Ist: Die Viskosität ist unabhängig von der Fließgeschwindigkeit konstant. Soll: Die Viskosität soll unabhängig von der Fließgeschwindigkeit konstant sein.

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Umgekehrt können wir beliebige Normen, Regeln und Staatsgesetze aus der Soll- in die Ist-Form bringen. Durch das Umformulieren erzeugen wir aber keine neuen Gesetze und bekommen zu jedem Naturgesetz noch ein Kulturgesetz hinzu oder umgekehrt. Falls beide Typen von Gesetzen wirklich verschieden sind, bekommen wir nur irreführende Formulierungen. Man könnte erwidern, dass Naturgesetze in Form von mathematischen Gleichungen und Kulturgesetze in der Wortsprache formuliert sind. Doch erstens kann jede Gleichung auch in Wortsprache übertragen werden. Zweitens können beispielsweise Gesetze über Steuern auch in die Form von Gleichungen gebracht werden. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass Schlick Heraklits Gesetzesmonismus nur dafür kritisierte, dass er keine mathematischen Formeln für Gesetze verwendete. Niemand konnte das zu Heraklits Zeit tun, weil es gar keinen Formelapparat dafür gab. Die verschiedenen Varianten, Gesetze zu formulieren, sind also nicht der Grund dafür, dass wir es mit einem Naturgesetz oder einem Kulturgesetz zu tun haben, sondern die Formulierungen zeigen das nur an. Wir müssen zuerst den Unterschied zwischen den Gesetzestypen kennen und dann die jeweils richtige Formulierung wählen.

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Zweiter Versuch – Sorten

Wir haben schon am Anfang des letzten Abschnitts bemerkt, dass Gesetze etwas über ganze Sorten von Dingen besagen. Es könnte nun sein, dass Natur- und Kulturgesetze sich dadurch unterscheiden, auf welche Sorten von Dingen sie sich beziehen. Wir können vermuten: Kulturgesetze beziehen sich auf Menschen. Die Straßenverkehrsordnung gilt für Verkehrsteilnehmer und das scheinen Menschen zu sein, auch wenn sie oft in Fahrzeugen stecken bzw. auf diesen sitzen. Doch autonome Fahrzeuge ohne Passagiere sind gerade in Erprobung und Entwicklung. Die Straßenverkehrsordnung beansprucht auch, dass sie von diesen eingehalten wird. Das spricht gegen unsere Vermutung. Aber diese Fahrzeuge wurden immerhin von Menschen erbaut und ersonnen. Die bemühen sich beim Bau darum, die Einhaltung der Gesetze in die Fahrzeuge einzubauen. So gesehen, bezieht sich die Straßenverkehrsordnung dann auf die Erbauer autonomer Fahrzeuge, also wieder auf Menschen. Das muss nicht sein, die Fahrzeuge könnten die Straßenverkehrsordnung selbst lernen. Außerdem wäre es auch denkbar, dass in einigen Jahrzehnten Maschinen von Maschinen gebaut werden. Hieraus ergibt sich sogar, dass Maschinen nach ethischen Gesetzen entscheiden müssen. Dürfen sie etwa die Straßenverkehrsordnung brechen und einen Auffahrunfall verursachen, um auf die Straße laufende Kinder zu retten?

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Es ist sehr fraglich, ob die Straßenverkehrsordnung, die ein Musterbeispiel eines Kulturgesetzes zu sein scheint, nach unserer neuen Vermutung eines ist. Außerdem scheint es auch bei Tieren Kulturgesetze zu geben. Ich habe kürzlich beobachtet, wie ein Fuchs sich einem Waldsaum näherte, wo mehrere Raben brüteten. Nach kurzem Krächzen aus verschiedenen Nestern, flog ein Rabe empor und kreiste seinerseits krächzend über dem Fuchs und informierte seine Mitraben über den jeweils aktuellen Standort des Fuchses. Der gab es irgendwann auf, sich zu verstecken, und machte sich davon. Wir könnten uns vorstellen, dass der Rabe nach ethischen Gesetzen handelte oder es sogar ein Staatsgesetz unter Raben am Waldessaum gibt, das ein Frühwarnsystem gegen Füchse bildet. Schlick argumentiert ähnlich: Niemand kann den Gegensatz verneinen; niemand kann leugnen, dass es Unnatürliches gibt, und dies nur innerhalb der Kultur. Dass man den Tieren keine Kultur zugesteht, mag nur daran liegen, dass in ihrem Leben nichts Unnatürliches zu entdecken ist. Dass die Biene ihre Waben herstellt, die Ameise ihre Städte baut, gehört zur eigentlichen Natur dieser Tiere. Nur in menschlichen Städten gibt es hässliche Bauwerke und andere Geschmacklosigkeiten – sollen wir einfach sagen, auch dies gehöre zur „Natur“ des Menschen, oder sollen wir hier nicht lieber konstatieren, dass ein Problem vorliegt? Vielleicht gibt es Menschen, die sich in ihrer Kultur, so wie sie gerade ist, vollkommen zu Hause fühlen, so dass sie ihnen, um mit Freud zu reden, kein „Unbehagen“ bereitet. Es wären solche, die in der Gesellschaft und allen ihren Institutionen als in ihrem rechten Element sich tummeln und auch das, was sie daran etwa missbilligen, als natürlichen, unabwendbaren Lauf der Dinge hinnehmen. (Schlick, NK, 10)

Schlick scheint zu meinen, dass wir mit unserem Zusammenleben oft unzufrieden sind und es darum oft als unnatürlich empfinden, während das bei Tieren nie der Fall zu sein scheint. Doch es ist gar nicht sicher, dass ein Rabe nicht unzufrieden mit den Regeln seiner Rabenkolonie sein kann und dass es einem autonomen Fahrzeug wirklich egal ist, wie die Straßenverkehrsordnung ist. Wir könnten letzteres so programmieren, dass es Energie zu sparen versucht, wo immer das möglich ist, oder schnellstmöglich ans Ziel zu kommen. Beides ist allzu oft nicht mit der Straßenverkehrsordnung vereinbar, vielleicht empfindet ein hoch genug entwickeltes Fahrzeug dann Unzufriedenheit. Wir könnten diese Einwände vielleicht umgehen, wenn wir Kulturgesetze statt nur für Menschen für intelligente Gegenstände gelten lassen. Autonome Fahrzeuge und Raben gehören dann vermutlich dazu. Das würde dann wegen des Monismus ein Kriterium für Intelligenz erfordern, das allein mit Erfahrung auskommt. Selbst wenn wir das hätten, wäre es aber keine Lösung. Denn die Gesetze der Aerodynamik und

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Schwerkraft gelten für Menschen, autonome Fahrzeuge und Raben. Dennoch würden wir nicht sagen, dass es Kulturgesetze sind. Vielleicht könnten wir uns damit behelfen, dass intelligente Dinge den Naturgesetzen nicht völlig unterworfen sind, sondern einen Grad von Freiheit haben, in dem sie selbst über ihr Schicksal bestimmen. Diese Freiheit erlaubt es ihnen eine Kultur zu haben und sich selbst Gesetze zu geben. Mit dieser Vermutung werden wir im sechsten Versuch scheitern. Hier nur so viel, dass Schlick selbst nicht an diese Lösung glaubte, weil er Freiheit für eine Illusion hielt, die dadurch entsteht, dass wir klug genug sind, uns die Zukunft vorzustellen, aber nicht klug genug, um sie exakt vorherzubestimmen: Man muss Vernunft besitzen, damit das Gefühl der Freiheit entstehen kann, denn es setzt ja voraus, dass man bewusste Absichten haben und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung erwägen kann – man darf aber nicht so viel Verstand haben, dass man die Zukunft haarscharf vorauswüsste, denn wüsste man sie, so könnte ein Bewusstsein von „Freiheit“ niemals sich einstellen, weil dann der Begriff des Willens gar nicht gebildet werden könnte. So liegt in den Philosophenreden vom „Reich der Freiheit und der Vernunft“ ein Körnchen Wahrheit – aber in welchem Haufen metaphysischen Gerümpels versteckt! (Schlick, NK, 20)

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Dritter Versuch – Reihenfolge

Wir können empirisch beobachten, wann Gesetze erfüllt sind und wann nicht. Vielleicht sind Natur- und Kulturgesetze in diesem Punkt verschieden? Isaac Newton hat mehrere Naturgesetze formuliert, war aber als Wardain der englischen Münze und Mitglied des Parlaments auch mit Staatsgesetzen und ihrer Vollstreckung vertraut. Die Fälschung von Münzen war verboten und wurde mit Hängen und Vierteilen bestraft. Es wäre ziemlich zweckfrei die Münzfälschung zu verbieten, wenn es keiner täte. So gesehen scheint das Kulturgesetz gegen Falschmünzerei tatsächlich nicht immer eingehalten worden zu sein. Das Fließgesetz, das Gravitationsgesetz und die Gesetze der Optik hat Newton dagegen aufgestellt, während er beobachtete, dass sie eingehalten werden. Dass sie tatsächlich auch nicht eingehalten werden, können wir heute beobachten, er aber zu seiner Zeit mit seinen Instrumenten nicht. Dass das Verbot von Falschmünzerei nicht eingehalten wird, hat er selbst vielfach nachgewiesen. Wir können darum folgende Vermutung aufstellen: Kulturgesetze werden aufgestellt, während derjenige, der sie

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aufstellt, beobachtet, dass sie nicht erfüllt werden. Naturgesetze werden dagegen aufgestellt, wenn beobachtet wird, dass sie eingehalten werden. Falls es einen wesentlichen Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen gibt, trifft diese Vermutung ihn aus mehreren Gründen leider nicht. Robert Andrews Milikan hat die Elementarladung der Elektronen mit dem berühmten ÖltröpfchenExperiment bestimmt. Wir wissen aber heute, dass er die Beobachtungen, die dem Gesetz widersprachen, das er vermutete, unterschlagen hat. (vgl. Feynman 2010, 342) Er stellte also ein Gesetz auf, während er beobachtete, dass es nicht erfüllt wurde. Folglich wäre das Gesetz, nach dem alle Elektronen genau dieselbe Ladung haben, nach unserer neuen Vermutung ein Kulturgesetz. Dafür sind Teile des Grundgesetzes der Bundesrepublik Naturgesetze. 1949 wurde Artikel 69 Absatz (1) formuliert: „Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter.“ Dass hier kein „soll“ vorkommt, bestätigt noch einmal das Ergebnis aus dem ersten Versuch, aber darauf kommt es hier nicht an. Von damals bis heute hat jeder Bundeskanzler dieses Gesetz erfüllt. Das Gesetz wurde also aufgestellt, während beobachtet wurde, dass es eingehalten wird. Nach unserer neuen Vermutung wäre es also ein Naturgesetz. Beides ist nicht plausibel. Die konstanz der Elementarladung ist kein Kultur- und die Verfassung der BRD keines der Naturgesetz. Wir können darum festhalten, dass es nicht immer so ist, dass Naturgesetze aufgestellt werden, während sie mit der beobachteten Wirklichkeit übereinstimmen, und Kulturgesetze aufgestellt werden, während sie es nicht tun.

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Vierter Versuch – Hypothesen und Gesetze

Gesetze sind wie gesagt Aussagen, die etwas über eine ganze Sorte von Dingen sagen. Sie werden erfüllt, wenn jedes Exemplar der Sorte sich so verhält, wie das Gesetz sagt. Es ist aber auch denkbar, dass nur manche oder kein Exemplar sich so verhält, wie das Gesetz besagt. Vielleicht besteht hierin der Unterschied zwischen Naturund Kulturgesetzen. Folgende Bemerkung von Schlick über Kulturgesetze legt das jedenfalls nahe: Diese Vorschriften [Kulturgesetze] widersprechen oft den natürlichen Wünschen der Bürger (täten sie es nicht, so brauchten sie gar nicht aufgestellt zu werden) und werden daher von manchen Bürgern tatsächlich nicht befolgt, von andern zwar innegehalten, aber als Zwang empfunden. Wirklich zwingt der Staat den Bürger durch besondere

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Sanktionen (Strafen), welche dazu dienen, seine Wünsche mit den Gesetzesvorschriften in Einklang zu bringen. (Schlick, MSGA I/3, 484f.)

Selbst zutiefst gläubige Menschen befolgen die Gebote ihrer Religion nicht immer, bei Staatsgesetzen, Höflichkeitsnormen, Spielregeln usw. ist das nicht anders. Kulturgesetze werden also nicht ausnahmslos befolgt. Über Naturgesetze schreibt Schlick 1931 dagegen: Es liegt im Wesen des Naturgesetzes, allgemeingültig zu sein, denn erst wenn wir eine Regel gefunden haben, die das Geschehen ganz ausnahmslos beschreibt, nennen wir die Regel ein Naturgesetz. Sagen wir also: „Ein Naturgesetz gilt notwendig“, so ist der einzig legitime Sinn dieses Satzes: „Es gilt in allen Fällen, wo es Anwendung finden kann, ohne Ausnahme.“ (Schlick, MSGA I/3, 485)

Damit erhalten wir eine neue Vermutung: Naturgesetze werden immer eingehalten, Kulturgesetze nur manchmal. Newtons Fließgesetz gilt auch nicht immer. Es gilt nicht für Schlamm, Ketchup oder das Blutwunder des heiligen Januarius. Newtons Gravitationsgesetz ist ein anderes Beispiel. Bei der Periheldrehung des Merkur stimmt es deutlich messbar nicht. Beide Gesetze wären nach unserem Kriterium also Kulturgesetze. Schlick scheint das an einer Stelle tatsächlich so zu sehen. Mit Hinweis auf Ludwig Wittgenstein als Urheber des Gedankens (Wittgenstein, BNE, TS212 395) schreibt er: Wenn ich nebenbei ein paar Worte über die logische Situation sagen darf, so bedeutet der eben erwähnte Umstand, daß ein Naturgesetz im Grunde auch nicht den logischen Charakter einer „Aussage“ trägt, sondern vielmehr „eine Anweisung zur Bildung von Aussagen“ darstellt. […] Prüfbar sind bekanntlich immer nur die Einzelaussagen, die aus einem Naturgesetz abgeleitet werden, […]. (Schlick 1931, 256)

Eine Hypothese, wie etwa Newtons Fließgesetz, ist also eine Anweisung zum Bilden von Einzelaussagen, die dann geprüft werden. Anweisungen sagen aber, was getan werden soll und sind darum nach Schlicks eigener Bemerkung aus dem ersten Versuch Kulturgesetze. Dann wäre Schlick doch kein Dualist in Bezug auf die Gesetze, es gäbne für ihn nur Kulturgesetze. Doch wieso kritisiert er dann Heraklit genau für diese Ansicht? Ist das nicht inkonsistent?

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Fünfter Versuch – Viskosität und Ethik

Schlick könnte Folgendes gemeint haben: Auch von Naturgesetzen kann man auf zwei Arten reden. Einmal kann man die Hypothesen meinen, die Naturwissenschaftler aufstellen und prüfen. Das sind wie wir eben gesehen haben genau genommen Kulturgesetze, weil sie sagen, was Naturwissenschaftler tun sollen. Naturwissenschaft ist darum auch zu Recht Teil der Kultur. Echte Naturgesetze sind dagegen diejenigen Hypothesen, die sich als zutreffend erweisen. Nehmen wir an, es gäbe einen Planeten, auf dem sehr vernünftige Außerirdische leben, die nicht nur Anhänger der Ethik von Immanuel Kant sind, sondern diese Ethik sogar ohne jede Ausnahme befolgen. Was wir auf dem Planeten beobachten, beschreibt Kant so: Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur […] heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. (Kant, GMS, AA 04, 421)

Wäre unsere Vermutung richtig, dann wären die Verallgemeinerungen der Maximen der außerirdischen Kantianer echte Naturgesetze. Tatsächlich könnte es sein, dass sogar wir auf einem solchen Planeten leben. Allerdings sind es nicht wir Menschen, die so vernünftig sind, dass wir nur nach Maximen handeln, die allgemeine Naturgesetze sein können. Auch Wasser tut es, weil es immer und ohne Ausnahme nach denselben Maximen handelt, die sich zu einem Fließgesetz verallgemeinern lassen. Wir Menschen hingegen sind bei der Wahl unserer Maximen oft unbeständig und wechselhaft. Aber das können wir, wie wir in den vorigen Versuchen gesehen haben, nicht zum Maßstab dafür nehmen, dass diese Maximen Kulturgesetzen folgen. Ich will niemanden davon überzeugen, dass Wasser aus freiem Entschluss so fließt, wie es fließt, und womöglich gar eine Belobigung wegen seines ethischen Verhaltens verdient. Die Überlegung zeigt nur, dass auch Gesetze der Ethik immer befolgt werden können. Wir sollten das sogar schwer hoffen, wenn die Ethik nicht leeres Gerede sein soll. Dann können wir sie aber auf Grund unserer Vermutung – logische Gesetze werden immer, Kulturgesetze manchmal eingehalten – nicht zu unterscheiden. Aber selbst, wenn diese Probleme gelöst wären, ergibt sich noch ein weiteres Problem. Es gibt auch mathematische Gesetze wie etwa „2x=x+x“ und logische Gesetze wie „Widersprüche sind unmöglich“. Auch sie gelten ohne Ausnahme und sind dadurch zutreffende Hypothesen. Wären sie darum auch Naturgesetze, oder haben

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Naturgesetze noch eine zusätzliche Eigenart, die sie von logischen und mathematischen Gesetzen unterscheidet?

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Freiversuch – Grammatik

Mit Erfahrung allein scheinen wir keine Begründung dafür zu finden, dass es Naturund Kulturgesetze gibt und dass sie sich voneinander unterscheiden. Schlick hielt auch die Logik für ein wissenschaftlich akzeptables Begründungsmittel. Wenn die Gesetze der Logik Natur- oder Kulturgesetze wären, dann würden wir schon voraussetzen, dass es solche Gesetze gibt, um zu begründen, dass es solche Gesetze gibt. Das ist zirkulär. Schlick argumentiert darum dagegen, dass logische Gesetze Naturgesetze sind: Bei mathematischen und logischen Erkenntnissen aber hat dieses Wort [„Erkenntnis“] einen prinzipiell anderen Gebrauch, weil es sich in diesen Fällen nicht um Wirklichkeitserkenntnis handelt, sondern um den Gebrauch von Zeichen (in der Mathematik von Zahlenzeichen, in der Logik von Zeichen überhaupt). (Schlick, MSGA II/1.3, 400f.) Die Tautologie stimmt insofern mit der Wirklichkeit überein, dass sie gar nichts mehr über die Wirklichkeit aussagt, also setzt sie sich mit der Wirklichkeit auch nicht in Widerspruch. (Schlick, MSGA II/1.3, 524f.)

Der Unterschied zwischen logischen Gesetzen und Naturgesetzen ist demnach ihr Grad von Allgemeinheit. Erstere gelten unter allen Umständen, letztere nur unter manchen. Das ist exakt der Unterschied, den wir im vierten Versuch für die Gesetze der Natur- und Kultur vermuteten. Dort haben wir angenommen, dass die Naturgesetze unter allen und Kulturgesetze bestenfalls unter manchen der wirklichen Umstände erfüllt werden. Schlick meint aber, dass die logischen Gesetze nicht nur unter allen wirklichen Umständen erfüllt werden, sondern unter allen denkbaren, während die Naturgesetze unter den wirklichen Umständen erfüllt sind, die nur einige der denkbaren Umstände ausmachen. Die wirklichen Umstände sind aber die einzigen, die wir beobachten können. Wir können darum nicht beobachten, ob ein Gesetz auch noch unter irgendwelchen nicht wirklichen Umständen gilt oder nicht. Das können wir uns vorstellen, aber Vorstellen ist keines der beiden wissenschaftlich akzeptablen Begründungsmittel, die sich ein Monist wie Schlick gestattet. Das sind nur Logik und Erfahrung. Durch Beobachtung

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können wir logische Gesetze also nicht von Naturgesetzen unterscheiden. Durch Logik aber auch nicht, das wäre wieder zirkulär. Schlicks Kollege, Rudolf Carnap, kam in seiner Logischen Syntax der Sprache darum zu folgendem Ergebnis: In dieser Hinsicht gibt es nur graduelle Unterschiede; bei gewissen Bestimmungen [logische Gesetze] entschließt man sich schwerer dazu, sie aufzugeben als bei andern [Naturgesetze]. (Carnap 1968, 246)

Nach Carnap ist der Unterschied zwischen logischen und Naturgesetzen bestenfalls graduell. Dafür lässt er sich beobachten. Wir müssen nur beobachten, wie lange Forscher bei jeweiligen Gesetzen zaudern, wenn ihre Theorien nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Schlick könnte dem entgegenhalten, dass es doch erstaunlich ist, dass die meisten Forscher bei denselben Gesetzen zaudern und dass ihre Skrupel, gerade diese Gesetze aufzugeben, sich über die Jahrhunderte kaum änderten. Die Skrupel, so könnte Schlick einwenden, sind nicht der Grund für den Unterschied zwischen logischen und Naturgesetzen, sondern seine Folge. Schlick argumentiert jedoch in einem ein gegen Carnaps Überlegungen gerichteten Aufsatz etwas anders: Wird ein Naturgesetz in der Grammatik G1 durch den Satz S1 dargestellt, so wird es in der Grammatik G2 durch den Satz S2 ausgedrückt werden. Das Gesetz „lautet“ jetzt anders. Aber tatsächlich sind sozusagen die Laute das Einzige, was sich geändert hat, der Sinn ist derselbe geblieben. (Schlick 1936, 770)

Was Schlick meint ist, dass die Regeln einer logischen Grammatik zu unterschiedlich formulierten Gesetzen führen, die aber dasselbe sagen. Würden wir die Gesetze der Logik ändern, dann sähe das Fließgesetz zwar anders aus, aber es ließe sich dennoch formulieren und es würde genau dasselbe besagen. In der Mathematik gibt es ähnliche Beispiele. Die Gleichungen „3+4=7“, „III et IV est VII“ und „11+100=111“ sagen genau dasselbe, sind aber mit verschiedenen Zahlsystemen formuliert.1 Carnap könnte folgendes erwidern: Wenn sich herausstellt, dass nicht alle Flüssigkeiten dem Fließgesetz gehorchen, dann müssen wir nicht unbedingt das Fließgesetz ändern. Wir könnten auch die grammatischen Gesetze verändern, nach denen das Wort „Flüssigkeit“ verwendet wird, bis die ganze Theorie wieder zu unseren Beobachtungen passt. Darum ist es egal, welche Gesetze wir als grammatische Regeln und welche als Naturgesetze ansehen. Schlicks Argument ist außerdem zirkulär, denn in der Benennung „G“ und „S“ hat er schon vorausgesetzt, dass es den Unterschied zwischen beiden Arten von Gesetzen gibt, den er eigentlich erst begründen muss.

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Dezimal-, römisches und Binärsystem.

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Aber selbst wenn Schlick Recht hat und logische Gesetze grammatische Regeln sind, die nichts über die Welt sagen, ergibt sich noch ein anderes Problem. Verschiedene Grammatiken ergeben verschiedene Sprachen und es dürfte wohl nichts so eindeutig zu einer Kultur gehören, wie ihre Sprache. Zudem sagen grammatische Regeln, was getan werden soll. Zeichen sollen nämlich auf eine bestimmte Weise verwendet werden. Demnach wären die Gesetze der Logik nach Schlicks eigenem Kriterium aus dem ersten Versuch Kulturgesetze. Dagegen wehrt er sich aber ebenfalls: Wären also die Wertaussagen ihnen [logischen Gesetzen] ähnlich, so würde nur folgen, daß auch sie als bloße Tautologien im strikten Sinne nichtssagend wären: eine Konsequenz die uns sicherlich den Wunsch eingeben wird, Wertsätze möchten mit den logischen so wenig wie möglich Ähnlichkeit haben. [...] Urteile über Werte sollen uns doch gerade das allerwichtigste sagen, was es überhaupt gibt. (Schlick, MSGA I/3, 451f.)

Das Argument ist genau dasselbe wie bei den Naturgesetzen, logische Gesetze sagen nichts, aber Kulturgesetze sagen etwas. Natur- und Kulturgesetze sind keine Tautologien, sagen etwas über die Wirklichkeit und legen sie auf einen Zustand fest. Das Fließgesetz behauptet, dass sie so beschaffen ist, dass sich Flüssigkeiten auf bestimmte Weise bewegen. Die Straßenverkehrsordnung fordert, dass sich Verkehrsteilnehmer auf bestimmte Weise verhalten. Ob beide Gesetze in der Welt erfüllt werden, ist damit nicht entschieden. Wir sehen, dass das Verhältnis der logischen Gesetze zu den Natur- und Kulturgesetzen ebenfalls ungeklärt ist. Über mathematische Gesetze haben wir dabei noch nicht einmal nachgedacht. Wir wollen aber so tun, als wäre das alles ganz unproblematisch und dabei bleiben, dass die Logik ein akzeptables Mittel ist, um den Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen zu begründen. Sollten wir damit Erfolg haben, dann müssen wir uns die logischen und vermutlich auch die mathematischen Gesetze noch einmal genauer ansehen.

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Sechster Versuch – Zwei Reiche

Logische Gesetze widersprechen denen der Natur nicht, wenn Schlick recht hat. Genau so scheint er das Verhältnis der Naturgesetze zu denen der Ethik zu sehen: Was als die letzten Normen oder die höchsten Werte gilt, muss der menschlichen Natur und dem Leben als Tatsache entnommen werden. Daher kann ein Resultat der Ethik nie mit dem Leben im Widerspruch stehen. (Schlick, MSGA I/3, 373f.)

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Ethische Gesetze legen die Welt auf etwas fest und sind keine Tautologien. Darin gleichen sie Naturgesetzen und unterscheiden sich von den logischen Gesetzen. Wenn wir das auf alle Kulturgesetze übertragen, dann erhalten wir eine neue Vermutung: Kulturgesetze widersprechen Naturgesetzen zwar nicht, sind aber auch keine Tautologien. Das ist die sehr exakte Formulierung dafür, dass es zwei getrennte Reiche gibt, eines der Natur und eines der Kultur. Um das klarer zu sehen, stellen wir uns vor, die ganze Wirklichkeit bestünde nur aus einem Münzwurf, der ständig wiederholt wird und Schlick schaut zu. Zuerst fällt ihm auf: (M1) Es fällt entweder Kopf oder Zahl. Dieses Gesetz stimmt zwar, legt die Wirklichkeit aber auf kein mögliches Ergebnis fest. Kein Münzwurf unserer Miniwirklichkeit kann diesem Gesetz widersprechen. Aus Schlicks Sicht, ist es ein logisches Gesetz. Nun beobachtet er weiter sehr genau und findet ein Gesetz mit dem es möglich ist, zuverlässig vorherzusagen, welche Seite zu sehen ist. Aus diesem Gesetz ergibt sich die Sequenz: (M2) … sagt zutreffend vorher: Z, K, K, Z, K, K, K, Z, Z Egal wie (M2) genau lauten mag, es ist ein Naturgesetz. Denn es legt die Wirklichkeit bei jedem Wurf auf einen Zustand fest und sagt den Verlauf der Welt sogar zuverlässig vorher. Jetzt wollen wir ein Kulturgesetz finden und versuchen es damit: (M3) Wegen ausgleichender Gerechtigkeit soll keine Seite der Münze mehr als zweimal hintereinander fallen. Aus seinen Beobachtungen dürfte Schlick feststellen, dass (M3) von der Boachtung (M2) nicht erfüllt wird, weil drei Mal Kopf fiel. Also ist (M3) doch kein Kulturgesetz, denn die widersprechen Naturgesetzen nach unserer neuen Vermutung nicht. Probieren wir es erneut: (M4) Weil Kopf besser als Zahl ist, soll Kopf immer mindestens zweimal hintereinander fallen. Das Gesetz ist erfüllt und widerspricht dem Naturgesetze M2 nicht. Da aber (M2) jeden Münzwurf vorhersagt, sagt (M2) auch vorher, dass (M4) stets erfüllt ist und immer mindestens zweimal Kopf fällt. (M4) wiederholt darum nur, was das Natur-

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gesetz (M2) schon längst vorhergesagt hat. Doch wenn die Kulturgesetze nur wiederholen, was die Naturgesetze sagen, wäre es nicht nötig Natur und Kulturgesetze zu unterscheiden. Kulturgesetze wären dann nur umformulierte Naturgesetze. Nun sollen nach Schlick Kultur- und Naturgesetze aber verschieden sein. Außerdem sollen auch Kulturgesetze die Welt auf etwas fetslegen und keine Tautologien sein. Doch das Naturgesetz (M2) sagt den Verlauf unserer Miniwirklichgkeit aus Münzwürfen bereits korrekt vorher. Jedes weitere Gesetz kann entweder nur wiederholen, was (M2) schon vorhersagt, oder etwas sagen, was (M2) widerspricht und das dann auch nicht eintritt. Darum gibt es keine Kulturgesetze in unserer Miniwirklichkeit. Wir müssen diese Wirklichkeit also irgendwie vergrößern, damit von Naturgesetzen unterscheidbare Kulturgesetze, die keine Tautologien sind, darin vorkommen können. Nehmen wir dafür an, die Münze könnte nach jedem Wurf auch eine von zwei Farben haben, nämlich Gelb oder Blau. Dabei ist die Farbe nicht daran gebunden, ob Kopf oder Zahl fällt. Die Kombination Kopf-Blau ist also ebenso möglich wie KopfGelb, Zahl-Blau und Zahl-Gelb. Die Miniwirklichkeit kann jetzt also vier statt zwei Zustände annehmen. Allerdings wird der Farbzustand der Münze nicht durch (M2) vorhergesagt. Wir könnten ein neues logisches Gesetz aufstellen: (M5) Von je zwei dichotomen Zuständen nimmt die Münze immer nur genau einen an. Das oben bereits besprochene Gesetz (M1) ist ein Spezialfall von (M5), beide legen die Welt auf keinen der vier möglichen Zustände fest und sind nach Schlick logische Gesetze. Folgendes Gesetz tut das aber sehr wohl: (M6) Wegen ausgleichender Gerechtigkeit soll keine Farbe mehr als zwei Mal hintereinander erscheinen. Ob (M6) erfüllt wird oder nicht, ist uns egal, in jedem Fall widerspricht es weder (M5) noch dem Naturgesetz (M2). Es sagt nämlich gar nichts über Kopf oder Zahl aus und wiederholt darum auch nicht nur (M2). Trotzdem legt es die Wirklichkeit auf etwas fest, nämlich einen Farbzustand. (M6) erfüllt also alle Kriterien eines Kulturgesetzes nach unserer neuen Vermutung. Der Trick war hier, die Wirklichkeit aus zwei voneinander unabhängigen Reichen bestehen zu lassen, eines für die Prägung und eines für die Farbe der Münze. Unsere Vermutung – Kulturgesetze sind keine Tautologien und widersprechen Naturgesetzen – trifft also nur zu, wenn die Wirklichkeit aus zwei getrennten Reichen besteht. Ist die Wirklichkeit aber so beschaffen?

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Tatsächlich scheinen wir Menschen der Münze recht ähnlich zu sein. Einige der Zustände, in denen wir uns befinden, ergeben sich aus Naturgesetzen. Wir sind deswegen der Gravitation unterworfene, lichtundurchlässige Festkörper. Andere unserer Zustände ergeben sich aus der Kultur und unterliegen ihren Gesetzen. Wir können ihretwegen verurteilte Verbrecher mit guten Manieren sein. Aber es scheint kein Zusammenhang zwischen der Gravitation und guten Manieren zu bestehen. Beide Reiche sind getrennt. Diese Lösung ist sehr alt. Epikur nimmt an, dass es Seelenatome gibt, die ihr Verhalten selbst bestimmen können und nicht den Naturgesetzen unterworfen sind. Immanuel Kant nimmt an, dass es ein Reich der Natur gibt und eines der Freiheit, in dem wir Menschen selbst die Gesetze bestimmen können. Schlick schreibt jedoch: Die meisten von ihnen haben den billigen metaphysischen Ausweg eingeschlagen, daß sie außer der Natur die Existenz eines zweiten Reiches behaupteten und für den Menschen allein das Vorrecht in Anspruch nahmen, Bürger beider Welten zu sein. [...] der billigste, verbrauchteste philosophische Kunstgriff, dessen sich kleine Geister mit solcher Regelmäßigkeit und Skrupellosigkeit bedienen, daß wir seiner wirklich überdrüssig geworden sein sollten. (Schlick, NK, 20f.)

Schlick lehnt also die Lösung der zwei Reiche ab. Darin stimmten ihm seine Wiener Schüler und Kollegen zu. Im „Manifest“ geht es etwa um die Frage, ob die Seele eigenen Gesetzen gehorcht oder der Natur unterworfen ist: Genauere Analyse zeigt nun, daß diese These gleichbedeutend ist mit der Behauptung, gewisse Gebiete der Wirklichkeit unterständen nicht einer einheitlichen und durchgreifenden Gesetzmäßigkeit. […] Die sprachlichen Formen, in denen wir noch heute auf dem Gebiet des Psychischen sprechen, sind in alter Zeit gebildet auf Grund gewisser metaphysischer Vorstellungen von der Seele. (Carnap et al. 1929, 26)

Wir sind doch in unserem Abschnitt rein logisch zu den zwei Reichen gelangt – warum soll diese These metaphysisch sein? Das macht vielleicht folgende Stelle in einem von Schlicks Aufsätzen klarer: Der Determinismus behauptet, dass es für alles Geschehen in der Welt Naturgesetze gibt, m. a. W. dass alles Geschehen geordnet, oder dass das Kausalprinzip allgemeingültig ist. Das Kausalprinzip muss nicht ausnahmslos, es kann auch beschränkt gültig sein. Diesen Fall nehmen die meisten modernen Physiker als tatsächlich bestehend an; sie glauben, dass die Welt nur teilweise oder nur bis zu einem gewissen Grade geordnet ist. (Schlick, MSGA II/2.1, 434)

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Im Determinismus folgt jeder Zustand der Wirklichkeit aus Naturgesetzen. Das Kausalprinzip sagt also: Jeder Zustand der Wirklichkeit kann durch Naturgesetze vorhergesagt werden. In unserer Miniwirklichkeit noch ohne Farbzustände war genau das der Fall. Das Kausalprinzip verbietet also ein zweites Reich für die Kulturgesetze. Doch Schlick kennt die Entwicklung der Quantenphysik sehr gut und weiß, dass beispielsweise radioaktiver Zerfall nicht durch Naturgesetze vorherbestimmt ist. Es lässt sich beispielsweise zwar angeben, dass nach einer bestimmten Zeit ein bestimmter Teil der Atome einer radioaktiven Probe zerfallen ist, aber es gibt kein Gesetz, das sagt welche Atome genau zerfallen und welche nicht. Die Wirklichkeit besteht also sozusagen aus ein Reich, in dem das Kausalprinzip gilt und das Quantenreich, in dem es nicht gilt. Im „Manifest“ des Kreises liest sich das so: Weiterhin sind an Stelle mancher für streng gehaltener Naturgesetze statistische Gesetze getreten, ja es mehren sich im Anschluß an die Quantentheorie sogar die Zweifel an der Anwendbarkeit des Begriffes einer streng kausalen Gesetzmäßigkeit auf die Erscheinungen in kleinsten Raumzeitgebieten. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff wird auf den empirisch erfaßbaren Begriff der relativen Häufigkeit zurückgeführt. (Carnap et al. 1929, 23)

Deswegen ist das Kausalprinzip selbst ein Naturgesetz. Denn die Physik hat durch Erfahrung, nämlich Beobachtungen im Quantenreich, allein widerlegt, dass es allgemein gilt. Doch die Quantenobjekte, für die das Kausalprinzip nicht gilt, halten sich trotzdem nicht an Kulturgesetze. Das Quantenreich ist nicht das Reich der Kultur. Wir können radioaktiven Teilchen nicht einfach verbieten, zu zerfallen. Epikurs Seelenatome funktionieren aber genau so. Sie sind nicht den Naturgesetzen unterworfen, sondern gehorchen unserem Willen, der sich an Kulturgesetze halten kann. Bei Kant ist es ähnlich, wenn auch das Reich des Willens nicht an einer bestimmten Sorte von Materie hängt. Dennoch entscheiden beide, Epikur und Kant, für Schlick eine Frage durch Spekulation, die eigentlich nur naturwissenschaftlich aus der Erfahrung entschieden werden kann. Das ist Metaphysik und mit Schlicks erkenntnistheoretischem Monismus unvereinbar. Es gibt aber noch mehr Einwände gegen die Theorie der zwei Reiche. Erstens ist auch in unserer Miniwirklichkeit nicht entscheidbar, ob das Farb-Gesetz (M6) oder das Gesetz zur Prägeseite (M2) das Kultur- oder Naturgesetz ist. Alles, was wir feststellen können, ist, dass beide Gesetze einander nicht widersprechen und trotzdem erfüllt sind. Es könnte auch sein, dass es drei, sieben oder tausend solcher Gesetze gibt, die in unserer Wirklichkeit erfüllt sind, zwischen denen es keine logische Verbindung gibt und die darum einander nicht widersprechen. So viele Reiche hätte die Wirklichkeit dann und es ist erst recht unklar, welches davon das der Natur oder Kultur ist.

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Siebter Versuch – Kollisionsregel

Wenn wir wie Schlick eine Theorie der zwei Reiche vermeiden wollen, sollten wir also davon ausgehen, dass Natur- und Kulturgesetze einander durchaus widersprechen können. Bei Kulturgesetzen ist es sogar sehr häufig so, dass sie sich untereinander widersprechen. Beispielsweise gilt in Deutschland allgemein, dass an einer Kreuzung Vorfahrt hat, wer von rechts kommt. Wenn jedoch Vorfahrtsschilder an einer Kreuzung stehen und dem widersprechen, dann heben sie diese Regel auf. Wenn zusätzlich eine Ampel angebracht und im Betrieb ist, dann hebt sie die Beschilderung auf. Der Jurist sagt: Lex specialis derogat legi generali – Ein spezielles Gesetz hebt ein allgemeines auf. Es gibt noch zwei weitere solcher Kollisionsregeln für einander widersprechende Gesetze. Lex posterior derogat legi priori – Ein späteres Gesetz hebt das frühere auf. Dadurch war es möglich, 1953 in Deutschland die Todesstrafe abzuschaffen. Es genügte, einfach neue mildere Strafgesetze zu erlassen, die alten wurden automatisch ungültig. Lex superior derogat legi inferiori – Ein höheres Gesetz hebt das niedere auf. Diese Regel ist in einem Bundesstaat wie der BRD besonders wichtig. Das Land Hessen hat noch die Todesstrafe in seiner Verfassung. Das Gesetz ist aber seit 1953 vom abweichenden Bundesrecht aufgehoben. Im Falle widersprechender Gesetze muss es also Kollisionsregeln geben, die festlegen, welches Gesetz obsiegt. Vielleicht gibt es solche Regeln auch für den Fall, dass Natur- und Kulturgesetze einander widersprechen. Schlicks Bemerkung aus dem vierten Versuch, dass die ethischen Gesetze nie im Widerspruch mit dem natürlichen Leben stehen können, ließe sich nämlich auch als so Kollisionsregel auffassen. Wenn ein Gesetz der Ethik einem Naturgesetz widerspricht, dann tritt ein, was das Naturgesetz sagt. Wir können das verallgemeinern: Wenn ein Natur- einem Kulturgesetz widerspricht und beide nicht zusammen erfüllt sein können, dann tritt ein, was das Naturgesetz besagt. Wir wollen sehen, wie weit wir mit dieser Regel kommen. Angenommen, wir hätten einen Fall, in dem diese Regel angewendet werden kann. Wir haben also drei Gesetze (N), (K) und (F), die nicht zusammen erfüllt sein können. Durch empirische Untersuchungen finden wir heraus, dass (N) erfüllt ist. Hier ein Beispiel: (N) (F)

Die Viskosität von Wasser ist unabhängig von seiner Fließgeschwindigkeit konstant. Die Viskosität von Wasser sinkt mit dem Ansteigen seiner Fließgeschwindigkeit.

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(K)

Die Viskosität von Wasser steigt mit dem Anstieg der Fließgeschwindigkeit ansteigen.

Für jedes der drei Gesetze gibt es nun je drei Möglichkeiten, sie könnten ein Natur(n) oder ein Kulturgesetz (k) sein, oder aber zu einem ganz anderen Typ von Gesetz gehören. Mathematische und logische Gesetze sind beispielsweise solche Typen, die wir auch schon besprochen haben. Die Tabelle zeigt alle denkbaren Kombinationen:2

Wir hätten aus der Kollisionsregel begründet, dass es einen Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen gibt, wenn sie alle Fälle ausschließen würde, in denen nicht beide Typen von Gesetzen vorkommen. Untersuchen wir also die möglichen Fälle. Nach der Kollisionsregel ist es nicht möglich, dass (N) ein Kultur- und (F) oder (K) ein Naturgesetz ist. Denn dann würden (F) oder (K) erfüllt sein. Aber wir haben beobachtet, dass (N) erfüllt ist. Damit fallen die Spalten 10–13 sowie 16 weg. Auch die Fälle, in denen (F) ein Natur- und (K) ein Kulturgesetz ist, sind ausgeschlossen. Denn dann wäre wegen der Kollisionsregel (F) erfüllt. Aber nur (N) ist erfüllt. Aus demselben Grund sind alle Fälle ausgeschlossen, in denen es umgekehrt ist und (F) ein Kultur- und (K) ein Naturgesetz ist. Wir können darum auch die Spalten 2, 5, 20 und 22 streichen. Alle übrigen Möglichkeiten sind mit der Kollisionsregel vereinbar. Aber nicht alle sind plausibel. Wir haben (F) in der Form eines Natur- und (K) in der Form eines Kulturgesetzes formuliert, aber wir wissen aus dem ersten Versuch, dass der Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen nicht in der Formulierung besteht, sondern bestenfalls durch sie angezeigt wird. Wir könnten (K) also auch so wie (F) formulieren: (K‘)

2

Die Viskosität von Wasser steigt mit dem Ansteigen seiner Fließgeschwindigkeit.

Es steht „n“ für ein Naturgesetz, „k“ ein Kulturgesetz und die Zelle ist frei, wenn es irgendein anderes Gesetz ist.

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Der Unterschied zwischen (F) und (K) bzw. (K‘) ist in unserem Beispiel nur die Richtung des Effektes, den die Fließgeschwindigkeit auf die Viskosität hat. Bei (F) sinkt sie, bei (K) und (K‘) steigt sie. Es wäre merkwürdig, wenn das dazu führen sollte, dass (F) und (K) bzw. (K‘) unterschiedliche Typen von Gesetzen sind. Für die Kollisionsregel zählt zudem nur, ob die Gesetze erfüllt sind, nicht jedoch, was sie aussagen. Erfüllt sind aber beide nicht und sind darum für die Kollisionsregel vom selben Typ. Aus diesen beiden Gründen, können wir auch alle Fälle ausschließen, in denen (F) und (K) nicht vom selben Typ sind. Übrig bleiben also nur die Spalten 1, 5, 9 14, 23 und 27. Wenn es nun in jedem dieser sieben übrigen Fällen Natur- und Kulturgesetze gäbe, dann wäre der Unterschied zwischen beiden Gesetzestypen aus der Kollsionsregel begründet. Tatsächlich ist das aber nur in einem der Fall, nämlich in Spalte 5. Die Kollisionsregel begründet den Unterschied zwischen beiden Gesetzestypen also keineswegs, schließt aber auch wenigstens nicht aus, dass es beide Sorten von Gesetzen gibt. Wie plausibel ist nun, dass Spalte 5 zutrifft? Wenn wir uns von unserem Beispiel lösen, besagt sie: Gesetze, die nicht zusammen mit geltenden Naturgesetzen erfüllt sein können, sind Kulturgesetze. Wenn das stimmt, dann müssten wir nur zeigen, dass irgendein Gesetz ein zutreffendes Naturgesetz ist und dann ein mit diesem Gesetz unvereinbares Gesetz formulieren. Das neu gebildete Gesetz ist dann ein Kulturgesetz. Doch hiermit sind mehrere Probleme verbunden: Zunächst müssen wir ein zutreffendes Naturgesetz finden, um festzustellen, was ein Kulturgesetz ist. Damit, ob es so etwas wie zutreffende Naturgesetze gibt und wie sie gefunden werden können, befassen sich mehrere Bände aus der Reihe Zur Wissenschaftlichen Weltauffassung, deren Herausgeber Schlick zusammen mit Philipp Frank war. Auch Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre und einige Aufsätze und Vorlesungen behandeln das Problem. Es ist also keineswegs gelöst. Trotzdem wollen wir es ignorieren und zu einem weiteren Problem kommen: Selbst wenn wir durch Bildung eines Gesetzes, das mit zutreffenden Naturgesetzen nicht vereinbar ist, zu einem Kulturgesetz gelangen, lassen sich sicher nicht alle Kulturgesetze so bilden. Umgangsformen, Menschenrechte, religiöse Speisevorschriften, Spielregeln oder Strafgesetze sind sicherlich nicht sämtlich mit den geltenden Naturgesetzen unvereinbar. Aber selbst wenn doch alle Kulturgesetze genau so gebildet werden können, dann sind Kulturgesetze solche Gesetze, die mit geltenden Naturgesetzen unvereinbar sind und darum nicht immer erfüllt werden. Damit sind wir schon im vierten Versuch gescheitert. Bleibt nur, dass nicht alle Kulturgesetze mit den geltenden Naturgesetzen unvereinbar sind. Logisch unabhängig von ihnen können sie aber nicht sein. Denn das

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würde zur Theorie der zwei Reiche führen, mit der wir im vierten Versuch scheiterten. Es bliebe noch, dass die Kulturgesetze aus den Naturgesetzen folgen. Dann wiederholen sie aber nur, was die Naturgesetze schon sagen. Gesetze, die genau das sagen, was Naturgesetze sagen, unterscheiden sich aber nur äußerlich von ihnen. Damit sind wir schon im ersten Versuch gescheitert. Halten wir fest: Spalte 5 beschreibt sowohl ein wenig plausibles Szenario, als auch führt sie nur zu Versuchen, mit denen wir bereits gescheitert sind. Auch mit der Kollisionsregel können wir den Unterschied zwischen Natur- und Kulturgesetzen also nicht begründen.

10 Fazit Es lässt sich zwar empirisch feststellen, wie Gesetze formuliert sind. Allerdings lassen sich Natur- wie Kulturgesetze formulieren und umgekehrt. Darum scheiterten wir im ersten Versuch, den Unterschied auf diese Weise zu begründen. Die Formulierung und andere äußerliche Merkmale zeigen den entscheidenden Unterschied an, wenn es ihn denn gibt, sind aber nicht der Unterschied. Gesetze sagen nicht etwas über etwas Einzelnes, sondern über ganze Sorten von Dingen. Für welche Sorte von Dingen ein Gesetz gilt, lässt sich ebenfalls empirisch feststellen. Doch wir scheiterten im zweiten Versuch damit, dass es spezielle Sorten für die jeweiligen Gesetzestypen gibt. Nur durch Beobachtung können wir auch feststellen, ob ein Gesetz erfüllt ist. Wir haben im dritten Versuch vermutet, dass Naturgesetze formuliert werden, nachdem ihr zutreffen bemerkt wird und Kulturgesetze auch dann formuliert werden, wenn wir keine solche Regelmäßigkeiten bemerken. Das konnten wir mit wenigen Beispielen widerlegen. Im vierten Versuch scheiterten wir damit, dass Naturgesetze immer erfüllt werden, während das bei Kulturgesetzen bestenfalls manchmal der Fall ist. Zunächst führte es dazu, dass es keine unerfüllten also falschen Naturgesetze geben kann. Alle jemals widerlegten Naturgesetze sind eigentlich Kulturgesetze. Das ist schon merkwürdig, aber wenn immerhin die Gesetze der Ethik und des Staates auch Kulturgesetze sind, könnte das genügen. Dazu müssten wir zeigen, dass es auch echte Naturgesetze gibt. Dem widmeten wir den fünften Versuch. Dabei ergab sich das Problem, dass Kulturgesetze, die immer eingehalten werden, nicht von Naturgesetzen zu unterscheiden sind. Dabei hoffen wir doch, dass die Staatsgesetze, die Ethik und Benimmregeln immer eingehalten werden. Wenn wir das zugestehen, könnten vermeintliche Naturgesetze tatsächlich Kulturgesetze sein. Durch Beobachtung finden wir nämlich

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nicht heraus, ob Wasser mit seiner Art zu fließen einem Natur- oder Kulturgesetz folgt, sondern nur, dass es einem Gesetz folgt. Zudem werden auch logische und mathematische Gesetze immer eingehalten, scheinen aber keine Naturgesetze zu sein. Im Freiversuch machten wir uns daran, die logischen Gesetze von denen der Natur zu unterscheiden. Logik ist dabei nicht einsetzbar, das wäre zirkulär. Beobachtung hilft auch nicht weiter. Wir beobachten zwar, dass beide Typen von Gesetzen in der Wirklichkeit eingehalten werden, aber dass logische Gesetze auch unter allen anderen Umständen eingehalten werden, lässt sich nicht beobachten. Zudem scheinen logische Regeln eher Regeln der Grammatik zu ähneln. Das sind aber Kulturgesetze. Doch logische Gesetze sollen die Welt auf nichts festlegen, die der Kultur schon. Im sechsten Versuch gingen wir der Vermutung nach, dass Kulturgesetze Naturgesetzen nicht widersprechen, aber dennoch die Welt auf etwas festlegen. Das stellte sich als logisch exakte Formulierung der Theorie der zwei Reiche heraus, die Schlick selbst ablehnte. Ob sie stimmt, muss sich für einen Erkenntnismonisten außerdem erst aus der Beobachtung ergeben. Aus der ergibt sich aber bestenfalls, dass es voneinander logisch unabhängige Gesetze gibt, die in der Welt erfüllt sind oder auch nicht. Um welchen Typ es sich handelt folgt daraus nicht. Im siebten Versuch probierten wir, beide Typen von Gesetzen danach zu unterscheiden, was passiert, wenn sie miteinander kollidieren. Wir kamen dazu, dass es nur einen möglichen und plausiblen Fall gibt, in dem beide Typen von Gesetzen vorkommen. Demnach ist ein Kulturgesetz, was einem zutreffenden Naturgesetz widerspricht. Das ist nicht nur wenig plausibel, wir sind damit bereits im vierten und fünften Versuch gescheitert. Halten wir fest: Der Dualismus zwischen Natur- und Kulturgesetzen ist monistisch – mit Empirie und Logik – allein nicht zu begründen. Das scheint ein ausgesprochen negatives Ergebnis zu sein. Denn die beiden Mainstreampositionen, die auch Schlick teilte – Erkenntnismonismus und Gesetzesdualismus – sind offenbar nicht vereinbar. Denn letzterer muss durch Erfahrung und Logik begründet werden können, wenn der erstere wahr sein soll. Es stehen zwei Wege offen: Entweder wir geben den Monismus der Erkenntnis oder den Dualismus der Gesetze auf. Der Wiener Kreis hat sich in seinem „Manifest“ für den zweiten Weg entschieden und das heißt, keinen besonderen Unterschied zwischen den Gesetzen der Natur und der Kultur, den Fragen der Naturwissenschaft und denen unseres Zusammenlebens zu machen. So gesehen ist unser Ergebnis positiv und und ein starkes Argument für eine ganzheitliche Philosophie, die Natur und Kultur, Wissenschaft und Zusammenleben nicht trennt.

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III. Philosophiegeschichte

Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike Friederike Peters

Otto Neurath war eines der wenigen Mitglieder des Wiener Kreises, das kontinuierlich politische, ökonomische und sozialwissenschaftliche Werke verfasste. Insofern ist es offensichtlich, warum er bei einer Konferenz über politische Philosophie und Kulturphilosophie im Wiener Kreis behandelt werden sollte. Ich möchte mich vor allem mit Neuraths Rezeption der antiken Philosophie, im speziellen Epikur, befassen. Sehr lange herrschte in der Fachliteratur das Bild vom ahistorischen Wiener Kreis. Eine berühmte Formulierung aus dem „Manifest“ scheint dieses Bild zu bestätigen: Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. (Neurath et al. 1929, 305)

Die Probleme, mit denen sich Philosophen seit Jahrtausenden beschäftigt haben, sind entweder Metaphysik und damit irrelevant oder können eigentlich nur von den Naturwissenschaften beantwortet werden. Eine solche Einschätzung der Philosophiegeschichte spricht nicht gerade von Hochschätzung. Dass der Wiener Kreis nicht so ahistorisch ist, wie diese Stelle vermuten lässt, kann man aber sogar im „Manifest“ selbst belegen. Am Anfang wird eine Art Leseliste angegeben von Texten, mit denen sich der Wiener Kreis beschäftigt hat:

1. Positivismus und Empirismus: Hume, Aufklärung, Comte, Mill, Rich. Avenarius, Mach.

2. Grundlagen, Ziele und Methoden der empirischen Wissenschaft (Hypothesen in Physik, Geometrie usw.): Helmholtz, Riemann, Mach, Poincaré, Enriques, Duhem, Boltzmann, Einstein. 3. Logistik und ihre Anwendung auf die Wirklichkeit: Leibniz, Peano, Frege, Schröder, Russell, Whitehead, Wittgenstein. 4. Axiomatik: Pasch, Peano, Vailati, Pieri, Hilbert. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_7

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5. Eudämonismus und positivistische Soziologie: Epikur, Hume, Bentham, Mill, Comte, Feuerbach, Marx, Spencer, Müller-Lyer, Popper-Lynkeus, Carl Menger (Vater) (Neurath et al. 1929, 303).

Es widerspricht dem Bild des ahistorischen Zirkels, dass hier ein so intensives Literaturstudium betrieben wird. Auch werden nur Philosophen genannt, die wertvolle Vorarbeiten für den Wiener Kreis geleistet haben, es wird keine Abgrenzung zu Feindbildern vorgenommen. Auffällig ist außerdem, dass bis auf Epikur nur Philosophen der Neuzeit und später genannt werden. An einer späteren Stelle im „Manifest“ zeigt sich, wo die Autoren des „Manifests“ den logischen Empirismus in der Philosophiegeschichte einordnen: Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Platonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten. (Neurath et al. 1929, 305)

Wenn man nach der Lektüreliste geht, hätte man eher eine Selbsteinordnung in der Neuzeit erwartet, jedoch wird eine Ähnlichkeit zu antiken Philosophieschulen, den Sophisten und Epikureern, dargestellt. Erneut wird Epikur und seine „Schule“ genannt. Selbstverständlich fühlten sich nicht alle Mitglieder des Wiener Kreises durch das „Manifest“ korrekt repräsentiert,1 aber Neurath zählte als Mitautor sicherlich zu denen, deren Ansichten mit denen des „Manifests“ annäherungsweise übereinstimmten. Mindestens für ihn können wir das ahistorische Bild des logischen Empirismus also in Frage stellen. In der Fülle der Schriften Neuraths finden sich sogar viele Bezüge zur Philosophiegeschichte. Ich möchte mich hier vor allem auf die Bezüge zur antiken Philosophie und im speziellen zu Epikur, konzentrieren und herausarbeiten, inwiefern dieser antike Philosoph Neuraths Gesellschaftstechnik innerhalb der Einheitswissenschaft beeinflusst hat. Schon in seinem Studium der Philosophie, Nationalökonomie und alten Geschichte übte sich Neurath in der Arbeit mit antiken Texten,2 er promovierte dann

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Schlick etwa äußerte sich an verschiedenen Stellen negativ über das „Manifest“, so schrieb er beispielsweise an seinen amerikanischen Kollegen Robert Andrews Millikan: „The reader of this pamphlet, which was certainly written with the best of intentions, might easily be led to form an incorrect view about our Viennese philosophy.“ (Moritz Schlick an Andrews Millikan, 15. Februar 1930) 2 Neurath hatte zwar in der Schule Probleme mit dem Griechischen und Latein (vgl. Sandner 2014, 22), konnte dann aber im Studium seine Kenntnisse deutlich verbessern und übersetzte in seiner Abschlussarbeit Cicero (vgl. Sandner 2014, 48). Mit seinen altsprachlichen Kenntnissen war er beispielsweise Schlick weit voraus.

Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike

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1906 zu Cicero in Zur Anschauung der Antike über Handel, Gewerbe und Landwirtschaft (Sandner 2014, 48). Neurath verfasste mehrere Schriften explizit zu antiken Wirtschaftsformen, z. B. seine Antike Wirtschaftsgeschichte. Hier werden „immer wieder zwischen Antike und Gegenwart Vergleiche gezogen“ (Neurath 1918, III). Diese Herangehensweise sollte programmatisch werden für viele seiner Schriften und ihn früh in die Nähe des historischen Materialismus bringen. Aber auch in anderen Werken wird die Bedeutung der antiken Philosophie betont. So war es beispielsweise im Lesebuch der Volkwirtschaftslehre eigentlich Neuraths Zielsetzung, „vorwiegend die Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert“ (Neurath und Schapire-Neurath 1913, VII) darzustellen, jedoch werden interessanterweise direkt Platon und Aristoteles als erste der „großen Nationalökonomen“ (Neurath und Schapire-Neurath 1913, V) angeführt. Neurath hatte die Einleitungen zu diesen beiden Philosophen selbst geschrieben (Neurath und Schapire-Neurath 1913, V) und vor allem Aristoteles wird gepriesen als „vielseitiger Forscher, der […] das wissenschaftliche Arbeiten seiner Zeit entscheidend lenkte“ (Neurath und Schapire-Neurath 1913, 7). Platon und vor allem dessen Entwurf eines Staates sah Neurath (1945) zwar generell deutlich kritischer, jedoch wird auch sein überwältigender Einfluss betont. Neurath ist an anderer Stelle sogar überzeugt, dass die modernen Nationalökonomen heute noch „wissenschaftlich jene Frage zu lösen suchen, die jener in Platos Staat gestellten entspricht: welche Mängel trennen den heutigen Staat von jenem, welcher am meisten Lust aufweist“ (Neurath 1911, 517). Es wäre nun müßig, alle Schriften zu erwähnen, in denen Neurath antike Philosophie rezipiert, jedoch sind schon jetzt Neuraths Parallelenziehungen zwischen der Antike und der Moderne, sowie die Einordnung des logischen Empirismus in antike Traditionen im „Manifest“, auffällig. Inwiefern ist nun eines von Neuraths Spezialgebieten in der Einheitswissenschaft, die Gesellschaftstechnik, von der Antike beeinflusst und im speziellen von Epikur? Was ist nun Gesellschaftstechnik? Der Technikbegriff wird von Neurath verschiedentlich diskutiert (vgl. Hartle 2019), in Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft von 1919 wird Technik beschrieben als „eine bewußte Gestaltung […], deren Ziel und Weg klar beschrieben, womöglich berechnet werden kann.“ (Neurath 1919, 221) Neurath diagnostiziert, dass am Ende des ersten Weltkrieges nun ein neues Zeitalter anbricht, welches aus den Fehlern der industriellen Revolution gelernt hat und daher technisches und wirtschaftliches Denken vereint, um soziale Reformen hervorzubringen, die die Lebenslage der Menschen verbessert. Wenn der Technikbegriff nun erweitert wird, kann man „die bewußte Gestaltung der menschlichen Gesellschaft diesen Techniken zuordnen und so von einer Gesellschaftstechnik sprechen, zu der dann auch die Wirtschaft zählt.“ (Neurath 1919, 221) Für Neuraths Reformpläne muss die Gesellschaftstechnik zunächst durch statistische Erhebungen die Lebenslage der Menschen festhalten: „Was wir brauchen, ist eine klare Übersicht

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über die Bewegung der Rohstoffe und Energien.“ (Neurath 1919, 226) Aus diesen statistischen Erhebungen können planmäßige Verwaltungsschritte in einer zentralisierten Wirtschaft in die Wege geleitet werden. Neurath strebt mit der Gesellschaftstechnik einen „Plan der Pläne“ (Neurath 1919, 226) an. Dies mag utopisch klingen, aber Neurath hat sich wiederholt positiv über Utopien geäußert3 und sieht beispielsweise eine Vollsozialisierung als eine wissenschaftlich geleitete, mögliche Zukunftsvision (Neurath 1920). Am Ende des ersten Weltkriegs gab es natürlich einige verschiedene Sozialisierungstheorien, wie die Kriegswirtschaft umgestaltet werden könne. Neurath war aber beispielsweise real beteiligt an einem Gutachten zur Sozialisierung in Sachsen (Neurath und Schumann 1919). In den Texten zur Sozialisierungsdebatte werden oft die Worte „Sozialisierung“ und „Sozialismus“ verwendet, was auf den ersten Blick klingt wie eine Vermischung von Gesellschaftsreformen und einer politischen Einstellung, jedoch wäre diese Annahme bei einigen Autoren ein Fehlschluss. Gerade Neurath trennt in seinen gesellschaftstechnischen Betrachtungen politisches System und Wirtschaftssystem (vgl. Sandner 2014, 119). Bauer schrieb über Neurath, dass er nie eine politische, sondern immer nur eine gesellschaftstechnische Perspektive hatte: „Diese rein technische, also im Wesen unpolitische Denkweise Neuraths ist mir damals schon als eine der sonderbarsten Eigentümlichkeiten seiner Persönlichkeit erschienen“.4 Im folgenden werden wir aber sehen, dass Neurath gelegentlich sogar seine eigene Interpretation des Marxismus gleichbedeutend mit Sozialismus und anderen Begriffen verwendet. Die Gesellschaftstechnik kann in die Einheitswissenschaft eingegliedert werden und ist, wie die anderen Bereiche in dieser, eine Wissenschaft ohne Metaphysik. In Lebensgestaltung und Klassenkampf beschreibt Neurath, dass diese Gesellschaftstechnik in der vollsozialisierten Gesellschaft vom Proletariat betrieben wird: „Gerade das Proletariat wird zum Träger der Wissenschaft ohne Metaphysik.“ (Neurath 1928, 293). Wenn eine soziale Reform umgesetzt werden soll oder eben sogar eine neue Lebensweise gestiftet werden soll, hängt dies notwendigerweise mit ökonomischen Erwägungen zusammen: „das Gemeinschaftsleben ist an den Wirtschaftsplan gebunden.“ (Neurath 1928, 229). Für die Gestaltung des Wirtschaftsplans benötigen die Proletarier die Methode der Statistik, welche „für den Proletarier die Grundlage menschenfreundlichen Denkens wird“ (Neurath 1928, 230) und die als eine Art der Wissensvermittlung leicht zugänglich ist: „Es entwickelt sich eine wissenschaftliche Denkweise, die auch von weniger Gebildeten vertreten werden kann“ (Neurath 1928, 3

Neurath 1919, 228ff. Interessanterweise werden in diesem Werk auch Platon, Campanella und Morus als Verfasser von Utopien beschrieben und als Vorläufer von Gesellschaftstechnikern (vgl. Neurath 1919, 223). 4 Zitiert nach Sandner 2014, 134.

Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike

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230). Diese wissenschaftliche Denkweise, die auch für Arbeiter zugänglich ist, ersetzt übermäßig komplizierte Wissenschaften wie die „alte“ Philosophie, die nur von Spezialisten betrieben werden kann. Der Arbeiter, der Gesellschaftstechniker wird, wird in der Geschichte andere Vorbilder finden: „Der geschichtlich gerichtete Mensch wird Vorläufer solcher 'nüchterner' Denkweise suchen, die doch voll warmer Menschlichkeit sein kann. Von Epikur führt ein Weg zu Marx“ (Neurath 1928, 230). Neurath hat sich im Laufe seines Schaffens unterschiedlich zu Marx positioniert,5 in diesem Text (Lebensgestaltung und Klassenkampf) von 1928 stellt Neurath seine ganz eigene Interpretation des Marxismus dar, wie bereits erwähnt. Neuraths Text wurde erstmals in der Schriftenreihe Neue Menschen von Max Adler veröffentlicht, der sicherlich einer der prominenteren Vertreter des Austromarxismus war und mit dem Neurath über die Lehrtätigkeit an der Arbeiterhochschule Wien und dem Besuch des „Club von Otto Bauer“ bekannt war (vgl. Sandner 2014, 205, 209). Etwas später in Lebensgestaltung und Klassenkampf kommt Neurath wieder auf die Methoden der Gesellschaftstechniker zu sprechen. Er sieht Statistik als Mittel, wie die Lebenslage von Menschen begriffen werden kann. Statistiken sind für ihn keine „kalten“ Zahlen, sondern eine auch für den ungebildeten Arbeiter eingängliche Methode, um das Leid oder Glück von Bevölkerungsgruppen auszudrücken, so ist das Mitfühlen möglich: „Die statistische Denkweise entfernt nicht vom lebendigen Menschen, sie führt zum lebendigen Menschen hin.“ (Neurath 1928, 280). Vor allem die Bildpädagogik scheint für Neurath ein geeignetes Mittel darzustellen, um dem einfachen Proletarier statistische Zusammenhänge zu vermitteln. Diese Einfachheit und Zugänglichkeit ist von großer Wichtigkeit für Neuraths Gesellschaftstechnik innerhalb der Einheitswissenschaft. Neurath wendet sich nicht nur an dieser Stelle gegen „‚schwierige‘ Denker“ (Neurath 1928, 282) wie Kant, Fichte und Hegel. Stattdessen betont er die Wichtigkeit einer zweite[n] Reihe von Gelehrten und Vertretern der Lebenskunst, die fern von allzu spitzfindigen Betrachtungen auf einfache, ja grobe Art der Welt um des Lebens willen zu Leibe gingen; das sind die Vertreter des 'philosophischen Materialismus', die ihren Stammbaum bis auf die alten Griechen Demokrit und Epikur zurückführen können. Die Beschäftigung mit Epikur und Denkern verwandter Richtung berührt den suchenden Proletarier von vornherein angenehm, eine saubere, wirklichkeitsgeschwängerte Luft umgibt ihn, alles ist auf Mensch und Glück abgestellt. (Neurath 1928, 282)

5

Gegenüber Bauer erklärte Neurath, kein Marxist zu sein (vgl. Sandner 2014, 135), jedoch scheint er in diesem Text den Marxismus mit dem Sozialismus bzw. den Sozialisierungsbestrebungen in der Gesellschaftstechnik zu identifizieren.

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Epikur wird hier nun schon zum wiederholten Male als antikes Vorbild genannt. Auch die schon zuvor benannte Verbindung von Epikur und Marx wird hier noch einmal bekräftigt. Dass Marx seine Doktorarbeit zu Epikur und Demokrit geschrieben hat, bestätigt Neurath in seiner Vermutung über die Nähe der Schulen des Epikureismus und des Marxismus. Vor allem die Ablehnung der Metaphysik ist für ihn ein verbindendes Element. Neurath ist versucht, die moderne Wissenschaft vor allem auf die Epikureer und ihre Freunde zurückzuführen und ihnen die theologisierenden Denker wie Pythagoras, Plato, Plotin, Thomas von Aquin, Hegel als die weniger wissenschaftlichen gegenüberzustellen. In Wirklichkeit liegt aber die Sache weit verwickelter. (Neurath 1928, 282)

Zwar lehnen die Epikureer Metaphysik ab und „sind mehr dem Nahen zugewendet, ohne Glauben an eine weise geordnete Welt, keine Weltziele ins Auge fassend, zufrieden, wenn es gelingt, für eine nicht zu ferne Zukunft Schlüsse ziehen zu können“ (Neurath 1928, 282), jedoch meinte Neurath, dass eine so rein auf die „Wirklichkeit“ fixierte Anschauungsweise problematische Konsequenzen für die modernen Wissenschaften mit sich bringen könnte. Beispielsweise ist die Mathematik in ihrer Komplexität und Abstraktheit schwerer fassbar für die Epikureer als für die Pythagoreer.6 In seinem Vortrag Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus vertieft Neurath die Ausführungen zu den Quellen der guten Wissenschaft im logischen Empirismus (hier auch oft „Szientismus“ genannt). Die vier Fundamente des modernen Szientismus sind nach Neurath „Antimetaphysik, empiristische Auffassungen allgemeiner Art, die Neigung zur systematischen Einbeziehung der Logik, Mathematisierung aller Wissenschaften“ (Neurath 1936, 693). Neurath geht sogar so weit, eine Tabelle aufzustellen, welche dieser charakteristischen Merkmale des Szientismus bei vorausgegangenen Schulen oder einzelnen Philosophen bereits aufgetreten sind (Neurath 1936, 694):

6

Dennoch meint Neurath, dass die Mathematik auch von den Pythagoreern verkannt wird: „Von Pythagoras über Plato wird die Mathematik mit göttlichen Wesenszügen verknüpft, was freilich empirischen Wissenschaften nicht allzusehr nützt.“ (Neurath 1928, 283).

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Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike

AntiMetaphysik

Empirismus

Logik

Mathematik

Pythagoreer

-

-

-

+

Epikureer

+

-

-

-

Scholastik

-

-

+

-

Leibniz

-

+

+

+

Kant

-

+

-

+

Fichte

-

-

-

-

Szientismus

+

+

+

+

Die Auswertung in der Tabelle bezüglich der antiken Philosophieschulen deckt sich mit Neuraths Ausführungen aus Lebensgestaltung und Klassenkampf acht Jahre zuvor. So schreibt er über die Epikureer, dass diese „der Metaphysik im allgemeinen feindselig gegenüberstanden und versuchten, alles Mögliche, das im Alltag von jeglicher Mystik abgelöst war, der nüchternen Untersuchung auszusetzen“, jedoch ging es ihnen „mehr um Freundschaft und menschliches Glück als um den Fortschritt des Wissens; und wie wenig Gelehrte und Mathematiker gingen aus ihren Reihen hervor!“ (Neurath 1936, 693). Die Wichtigkeit einer „nüchternen“ Denkweise betonte Neurath schon zuvor und auch die Probleme der Vereinbarkeit des Epikureismus mit einer wissenschaftlichen Mathematik klangen bereits an. Insgesamt sieht Neurath Leibniz am nächsten zum modernen Szientismus, abgesehen von „seiner tiefgreifenden Metaphysik“ (Neurath 1936, 694). Diese zentrale Ablehnung der Metaphysik ist nach Neuraths Aufgliederung nur durch die Epikureer geleistet worden. Auch in Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung beginnt Neurath damit, nach den historischen Bedingungen einer Auffassung zu fragen und Umschau zu halten nach ihrer soziologischen Eingliederung, nach ihren Zusammenhängen mit anderen Lebens- und Wissenschaftsgebieten, im Interesse der erstrebten Einheitswissenschaft. (Neurath 1930/1, 371f.)

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Neurath kritisiert manche Denker, die in Anlehnung an Comte glauben, dass bei der Entwicklung des menschlichen Denkens „eine religiös-theologische Periode den Anfang bilde, der dann eine metaphysisch-philosophische folge, bis sie durch eine wissenschaftlich-positivistische abgelöst werde.“ (Neurath 1930/1, 371f.) Für ihn beginnt der Weg der wissenschaftlichen Weltanschauung schon bei der Magie und geht dann über Religion und Philosophie zum logischen Empirismus (vgl. Neurath 1930/1, 384). Die Magie ist den modernen Wissenschaften ähnlicher als die Theologie, da die Magier sinnlich wahrnehmbare Veränderungen bewirken, im Zauber werden nach Neurath fast schon wissenschafts-ähnliche Relationen benutzt: „ein bestimmter beobachtbarer Vorgang gilt als Bedingung für einen anderen.“ (Neurath 1930/1, 373) Wenn bei einem Ritual ein gewünschtes Ergebnis eintritt, ist es auf das Ritual zurückzuführen; wenn nicht, kann durch Zusatzannahmen erklärt werden, warum das gewünschte Ereignis nicht eingetreten ist. All diese Erklärungsmuster basieren auf empirisch Wahrnehmbarem. Für Neurath sind frühe Magie und frühe Technik nicht zu trennen (vgl. Neurath 1930/1, 374). Erst die Theologie verschiebt Erklärungen in einen nicht-wahrnehmbaren Bereich, indem sie Ereignisse auf einen nichtwahrnehmbaren Gott zurückführt. Die christlichen Theologen haben auf der einen Seite offenbar den aufs Irdische gerichteten Sinn antiker Wissenschaft und primitiver Zauberei verdrängt und die Entstehung idealistischer und spiritualistischer metaphysischer Vorstellungen gefördert. (Neurath 1930/1, 378)

Letztere bekämpft nun die physikalistische Einheitswissenschaft. Neurath benennt hier mindestens zwei Quellen der modernen Einheitswissenschaft: Magie und antike Wissenschaft, die beide einen „aufs Irdische gerichteten Sinn“ haben. Es liegt nun nahe, dass mit der antiken Wissenschaft die Schule der Epikureer gemeint ist (obwohl Neurath bereits betont hat, dass nicht viele Gelehrte aus der Schule der Epikureer hervorgegangen sind). Auch in Empirische Soziologie sah Neurath die Urform aller Wissenschaften in der Magie der Frühzeit. Magie wird hier beschrieben als „die armselige, mühsam erarbeitete Lebens- und Gesellschaftstechnik primitiver, vor allem Ackerbau treibender Völker“ (Neurath 1931, 5). Interessant ist, dass hier direkt die Gesellschaftstechnik angesprochen wird. Die Gesellschaftstechnik scheint genau wie die Wissenschaft allgemein ihre Wurzeln in der Magie zu haben. Magie wird als eine Praxis angesehen, in der Begründungen und sogar Regeln für beobachtbare Ereignisse angegeben werden. Diese Art von Regelaufstellung und Planmäßigkeit scheint für Neurath von zentraler Wichtigkeit zu sein, wenn sich auch die Inhalte zwischen Magie und Wissenschaft teils drastisch unterscheiden. Neurath stellt dar, wie die Theologie (und die

Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike

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Philosophie) die Magie verdrängt, diese sind aber selbst nur ein „Durchgangsstadium“ und sie werden „bei gleichzeitiger Änderung der Produktion unter Ausgestaltung aller Art von Wissenschaft und Technik […] in sämtlichen Lebensgebieten zurückgedrängt“ (Neurath 1931, 10). Den Theologen und Philosophen treten die Einheitswissenschaftler entgegen, die die Wissenschaften von den Resten der veralteten Metaphysik reinigen. In der Physik ist es ihnen schon gelungen, weniger jedoch beispielsweise in der Ethik. Diese soll nach Neurath nun eine empirische Soziologie werden: An die Stelle Gottes und des kategorischen Imperativs tritt nun der gemeinsame Beschluß großer Gruppen, an die Stelle der Hingabe an transzendente Wesenheiten tritt nun die Hingabe an irdische Gruppen und ihr Verhalten […]. (Neurath 1931, 15)

Die Entscheidungen zur Umgestaltung einer Gesellschaft werden nach der Glückswirkung auf große Gruppen von Menschen beurteilt. Neurath hatte zuvor bereits die Ausrichtung der Epikureer auf menschliches Glück betont. Worin aber unterscheidet sich nun die moderne wissenschaftliche Soziologie in der Einheitswissenschaft vom Epikureismus? Das Unterscheidungsmerkmal ist der Empirismus der Einheitswissenschaft, welcher nach Neurath den Epikureern fehlt (Neurath 1931, 12). In der Soziologie werden die Zielstellungen der Epikureer mit den methodologischen Kriterien der empirischen Wissenschaft vereint. In Empirische Soziologie wird also noch einmal angezeigt, aus welchen Quellen die moderne Einheitswissenschaft schöpfen könnte. Innerhalb der Einheitswissenschaft ist eben die Soziologie die theoretische Fundierung für die Gesellschaftstechnik: „Soziologie ist nun die Wissenschaft der Staatsmänner und Organisatoren, das ist der Gesellschaftstechniker“ (Neurath 1931, 17). Die Ausrichtung der Epikureer auf menschliches Glück ist von immenser Wichtigkeit für die modernen Gesellschaftstechniker. Neben dieser scheint aber auch die anti-theologische Haltung der Epikureer für Neurath zentral zu sein: „Epikur und die Epikureer begannen solche Furcht [vor dem Jenseits, Anm. F.P.] zu bekämpfen. In der modernen Zeit hat dieser Kampf stärksten Erfolg. Es ist die Revolution der Gesellschaftstechniker gegen die theologisch gestützten Gruppen der Vergangenheit“ (Neurath 1931, 91). Wiederholt werden Parallelen zwischen den Epikureer und den Gesellschaftstechniker gezogen, denn es „steht der Epikureismus der kommenden Denkweise des Sozialismus weit näher als der Platonismus, als der Pythagoreismus“ (Neurath 1928, 283f.). Es ist interessant und unerwartet, dass Neurath seine Gesellschaftstechnik immer wieder auf antike Schulen zurückführt. Vor allem Platon und Epikur als Gegensätze werden wiederholt benannt, um unterschiedliche Herangehensweisen in der Staatsphilosophie zu verdeutlichen. Neurath meint, man kann in Platon „einen Theologen

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und einen Gegner der Volksherrschaft [sehen], aus dessen Schriften Argumente für aristokratische Anschauungen geschöpft wurden. Wie anders, wenn ein Kämpfer der Arbeiterbewegung Epikur zur Hand nimmt“ (Neurath 1928, 285). Da die Proletarier die modernen Gesellschaftstechniker werden sollen, ist ihre Art, die Gesellschaft zu formen, zwangsweise eine Volksherrschaft. Platon wird wieder als Gegenpol hierzu dargestellt, als Aristokrat, vielleicht sogar als Despot und insofern Theologe, dass mit seinen „erhabenen“ Ideen „irdische[s] Glück für nichtig“ (Neurath 1928, 285) erklärt wird. Für Epikur und Neurath geht es in einer Staatsphilosophie um „das Glück, die Freundschaft, das Leben, wie es hier auf der Erde wirklich gelebt wird“ (Neurath 1928, 285). Neurath betont, dass Epikur im Gegensatz zu Platon niederer Herkunft war und sowohl Frauen als auch Sklaven philosophieren ließ (vgl. Neurath 1928, 285). Gerade dieser Anspruch, breite Massen zu einer Tätigkeit zuzulassen, die ihnen sonst vorenthalten wurde, scheint Epikur mit den Marxisten generell und Neuraths Gesellschaftstechnikern im speziellen zu verbinden. Neurath betont viele weitere Parallelen, die ich hier im Folgenden nicht alle ausführen kann und möchte, jedoch erscheint mir eine von zentraler Bedeutung: nach Neurath hat Epikur eine Pluralität der Denkweisen gefördert. Wenn er „sich nicht auf Grund sicheren Wissens für eine Theorie entscheiden kann, stellt er Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander“ (Neurath 1928, 286). Auch für Marx gibt es nicht ‚die einzig wahre Weltanschauung‘, die auch wieder ein Tyrann, ein Gottersatz werden kann. Marx rühmt an Epikur, daß er dies schon ahnte. Wie im Epikureismus ist im Marxismus die Anschauungsweise durch Denkfremdes bedingt: Die Philosophie einer Klasse durch die Klassenlage! Das Bürgertum hat seine Philosophie, weil es die kapitalistische Ordnung hat, und die klassenlose Gesellschaft wird eine andere Philosophie haben, weil das sozialistische Weltreich ganz anders organisiert sein wird. (Neurath 1928, 286)

Hier scheint wieder der Marxismus mit der Praxis der Gesellschaftstechniker annäherungsweise gleich gestellt zu sein. Neurath ist sich sicher, dass die Proletarier sich ihre Freiheit erkämpfen werden und die neuen Gesellschaftstechniker eine Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft vornehmen können und werden, sodass größere Gruppen von Menschen ihr Glück vergrößern können. Marxismus ist dann „eine Art Sozialepikureismus“ (Neurath 1928, 286). Der entscheidende Unterschied zwischen Epikureismus und Marxismus ist, dass der Marxismus das Glück größerer Gruppen von Menschen ins Auge fasst und nicht das individuelle Glück im Mittelpunkt steht: Während aber der Epikureismus der Antike das Glück der Menschen als Wirkungen des individuellen Handelns untersuchte, beschäftigt sich die Lebensordnungslehre des Sozialismus als eine Art Sozialepikureismus damit, das Glück der Menschen als Wirkung gesellschaftlichen Handelns zu betrachten. (Neurath 1925, 269)

Otto Neuraths Gesellschaftstechnik und die Antike

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Auch bei diesem Zitat kann man die Vermutung bestätigt sehen, dass bei Neurath „Marxismus“ und „Sozialismus“ austauschbar verwendet werden. In diesem Paper habe ich versucht zu zeigen, dass der Physikalist Neurath eine Fülle an philosophiehistorischen Bezügen in seinen Schriften getätigt hat. Ich habe mich dabei ausschnitthaft nur auf Bezüge zur Antike und konkret auf Bezüge zu Epikur konzentriert. Neurath sieht in Epikur und seiner Schule einen Vorreiter auf dem Gebiet der Praxis, die Neurath „Gesellschaftstechnik“ nennt, wenn auch nicht unbedingt auf dem Gebiet guter wissenschaftlicher Praxis allgemein. Er leugnet nicht, dass die moderne Wissenschaft in manchen Hinsichten anderen philosophischen Schulen nähersteht, sieht aber doch in der Einfachheit, in der Ablehnung der Metaphysik (und der Theologie), sowie der Glücksorientierung der Epikureer starke Ähnlichkeiten zur Gesellschaftstechnik, die in mindestens einem der Kerntexte dieses Papers mit Neuraths eigener Interpretation des Marxismus identifiziert wird. Diese Art von Marxismus in der Praxis der Gesellschaftstechnik wird schließlich als „Sozialepikurismus“ bezeichnet, da sie sich auf das Glück von Gruppen von Menschen bezieht, anstatt auf nur individuelles Glück. Neurath ist davon überzeugt, dass „die Weltgeschichte das Proletariat befreit, ihm Glück bringt, das Glück des Epikur“ (Neurath 1928, 287).

Literaturverzeichnis Hartle, Johan F.: Rätedemokratie und Ingenieurswesen. Otto Neuraths Techniken des Gemeinwohls. In: Ulrich Arnswald/ Friedrich Stadler/ Peter Weibel (Hg.): Der Wiener Kreis – Aktualität in Wissenschaft, Literatur, Architektur und Kunst. Wien 2019. Neurath, Otto: Nationalökonomie und Wertlehre. [1911] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften IV. Gesammelte ökonomische, soziologische und sozialpolitische Schriften. Teil 1. Wien 1998, 470–518. Neurath, Otto/Neurath-Schapire, Anna: Lesebuch der Volkswirtschaftslehre. I. Teil (Plato bis Ricardo). Leipzig 21913. Neurath, Otto: Antike Wirtschaftsgeschichte. Leipzig/ Berlin 21918. Neurath, Otto: Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft. München 1919. Neurath, Otto/Schumann, Wolfgang: Können wir heute sozialisieren? Eine Darstellung der sozialistischen Lebensordnung und ihres Werdens. Leipzig 1919. Neurath, Otto: Vollsozialisierung. Jena 1920. Neurath, Otto: Wirtschaftsplan und Naturalrechnung – von der sozialistischen Lebensordnung und vom kommenden Menschen. [1925] In: Rainer Hegselmann (Hg.): Otto Neurath. Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus. Frankfurt a.M. 1979.

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Friederike Peters

Neurath, Otto: Lebensgestaltung und Klassenkampf. [1928] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften I. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 1. Wien 1981, 227–293. Neurath, Otto/ Carnap, Rudolf/ Hahn, Hans: Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis. [1929] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften I. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 1. Wien 1981. Neurath, Otto: Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung. [1930/1] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften I. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 1. Wien 1981, 371–385. Neurath, Otto: Empirische Soziologie. Berlin/Heidelberg 1931. Neurath, Otto: Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus. [1936] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften II. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 2. Wien 1981, 673–702. Neurath, Otto: Platos 'Staat' und die deutsche Erziehung. I-III. [1945] In: Rudolf Haller (Hg.): Otto Neurath. Gesammelte Schriften II. Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Bd. 2. Wien 1981, 983–996. Sandner, Günther: Otto Neurath. Eine politische Biographie. Wien 2014.

Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen Konstantin Leschke

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Welche Quellen?

Der Titel dieses Beitrags ist von einem Aufsatz meiner Kollegen Steffen Kammler und Steffen Kluck namens Ad fontes. Zu den Quellen des Phänomenologen abgekupfert (Kammler/ Kluck 2008). Ich danke beiden, dass sie mir das Abkupfern erlaubt haben. Der „Phänomenologe“ in ihrem Titel ist Hermann Schmitz, der „konsequente Empirist“ in meinem ist Moritz Schlick. Auf letzteren Ismus werde ich später noch genauer eingehen. Um welche Quellen von Schlick es gehen soll, deutet der Titel ebenfalls an: Eine Bedeutung des Mottos „Ad fontes“ im Humanismus der Renaissance war die Besinnung auf, und die Rückkehr zu den antiken griechischen Texten, möglichst in Originalsprache. Erasmus von Rotterdam forderte: Vor allem muss man zu den Quellen selbst eilen, das heißt zu den Griechen und den Alten überhaupt.1

Getreu dem Motto im Titel wird es in diesem Beitrag um Schlicks Quellen insbesondere für seine Rezeption der antiken griechischen Philosophen gehen. Das ist in einem solchen Beitrag nicht vollständig möglich, ich werde hier nur einige Ergebnisse in Bezug auf die Eleaten, Sokrates, Platon und Aristoteles vorstellen. Der Titel hätte also auch z. B. lauten können: Woher hatte Schlick sein Wissen über einige antike griechische Philosophen? Das wäre aber nicht so schön griffig gewesen und ich hätte nicht so viele Anspielungen auf Wasser in den einzelnen Überschriften unterbringen können.

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Erasmus 1971, 120. Im Original: „Sed in primis ad fontes ipsos properandum, id est graecos et antiquos.“ Ich danke Friederike Peters für die Hilfe bei der Übersetzung. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_8

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Konstantin Leschke

Die Strömung in der Tiefe

Schlick beschäftigte sich ab einem gewissen Zeitpunkt mehr und intensiver mit der Philosophiegeschichte und auch der Philosophiehistorie2 als es bisher in der Forschung thematisiert wurde. Einige Thesen, die Schlick im Zuge dieser Beschäftigung entwickelte, werde ich im folgenden, ersten Teil des Textes vorstellen. Sie sind m. E. bemerkenswert genug, um sich auf die Suche nach den Quellen für sie zu machen. Im zweiten Teil des Textes werde ich das tun und außerdem zu erklären versuchen, warum ich Schlicks Umgang mit seinen Quellen für problematisch halte.

2.1 Wellen an der Oberfläche 1925 unterzeichneten Moritz Schlick und Philipp Frank Verträge, durch die sie zu Herausgebern der Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung wurden. Als erster Band war ein Buch von Friedrich Waismann über Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus geplant und Schlick verfasste 1928 zu diesem Band eine Vorrede. Sowohl das Buch von Waismann als auch die Vorrede von Schlick blieben zu beider Lebzeiten unveröffentlicht. Schlick hatte sich von dieser Reihe eine „umstürzende Reform der Philosophie“ (Schlick, MSGA II/1.2, 67f., Anm. 4) erhofft. Entsprechend programmatisch ist die Vorrede. Interessant ist nun, dass sich aus ihr verschiedene Probleme herausarbeiten lassen, die Schlick mit der Philosophiehistorie hatte. Diese Probleme werden ausschlaggebend für meine Strukturierung von Schlicks Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte und die Bewertung seiner Thesen sein. Schlick wollte in der Vorrede auf eine aus seiner Sicht falsche Darstellung des Zustandes der zeitgenössischen Philosophie aufmerksam machen: Die „meistgelesenen Bücher und die verbreitetsten Zeitschriften unseres europäischen Kulturkreises“ (Schlick, MSGA II/1.2, 76) diagnostizierten ihm zufolge eine Renaissance der Metaphysik. Diese Diagnose sei verbunden mit einer bestimmten Schilderung der Philosophiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, das laut Schlick etwa so geschildert wird: Zunächst wurde der Deutsche Idealismus von Naturwissenschaft und Materialismus verdrängt, diese dann wiederum von Neukantianismus und Positivismus. Neben dieser antimetaphysischen Philosophie erstarkte dann eine andere, „‚Geisteswissenschaftliche Philosophie‘, die den kürzesten Weg zur Metaphysik einschlägt“ 2

Um nicht ständig Ungetüme wie ‚Philosophiegeschichtsschreibung‘ o. Ä. benutzen zu müssen, verwende ich im Folgenden immer ‚Philosophiehistorie‘ für die Disziplin und deren Ergebnisse und ‚Philosophiegeschichte‘ für den Gegenstand der Philosophiehistorie.

Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen

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(Schlick, MSGA II/1.2, 77) und die in der Tradition von v. a. Hegel steht, zu dem Schlick ein denkbar schlechtes Verhältnis hatte (vgl. Schlick, MSGA II/2.1, 103ff.). Das Fazit dieser Entwicklung: Damit hat die Philosophie sich zu ihren eigenen großen Aufgaben zurückgefunden, sie ist aus einer erkenntniskritischen wieder in eine schöpferische Phase eingetreten und harrt des großen Systematikers, der die unserer Zeit gemäße Synthese schaffen wird. (Schlick, MSGA II/1.2, 78)

Womöglich hatte Schlick hier den Beitrag von Traugott Konstantin Oesterreich zum Band I/6 der von Paul Hinneberg herausgegebenen Enzyklopädie Die Kultur der Gegenwart vor Augen: Was sich so unter der Oberfläche schon lange vorbereitete, ist in jüngster Zeit nun mit großer Macht an den Tag getreten: eine neue Metaphysik ist da als eine relativ geschlossene philosophische Strömung. Es ist die wissenschaftliche Lage selbst, die sie aus sich geboren hat, und eben deshalb, weil es sich nicht um rein persönliche Überzeugungen handelt, sondern um Gedanken, die ein Ergebnis der positiven Forschung sind, haben sie eine unwiderstehlich vorwärtsdrängende Kraft. Im Zusammenhang mit erneuter metaphysischer Hypothesenbildung geben sich die auf Gewinnung einer zusammenhängenden, wissenschaftlich begründeten Weltanschauung gerichteten Tendenzen der Gegenwart in unmittelbarer Form kund durch Versuche zu Synthesen umfassenderer Art. […] Mit dem Wachwerden des Bewußtseins für die Gesamtaufgabe der Philosophie ist auch die Kultur wieder zu einem Gegenstande der philosophischen Reflexion geworden, zu der sie erst Hegel gemacht hat.3

Schlick argumentierte nun nicht historisch gegen diese Darstellung, sondern bezeichnete sie als „Oberflächenbild“ (Schlick, MSGA II/1.2, 78). Was das bedeutet, will ich anhand einer allgemeinen Kritik (K1) erklären, die Schlick an der Philosophiehistorie übte. Am Anfang der Vorrede heißt es: Wer die Philosophie eines Zeitalters allein nach ihrem Schrifttum beurteilen und dieses als ihren einzigen und vollständigen Ausdruck betrachten wollte, erhielte kein richtiges Bild von ihr. Die berühmten oder erfolgreichen Bücher der philosophischen Schriftsteller gleichen Fanfarenstößen und vorgetragenen Bannern, aber die großen

3

Oesterreich 1921, 382f., 387. Schlick notierte sich sowohl Oesterreichs Beitrag Das Weltbild der Gegenwart im Einzelnen als auch den Band I/6 der Kultur der Gegenwart in seinen Notizbüchern (Schlick, A.191, Bl. 157; Schlick, A.192, Bl. 30). An der zweiten Stelle begann Schlick scheinbar auch mit einer Rezension, die aber bei Inhaltszusammenfassungen stehen blieb. Sowohl der Herausgeber als auch die einzelnen Autoren der Kultur der Gegenwart waren einflussreich genug, damit die Reihe unter die von Schlick angemerkten „meistgelesenen Bücher“ fallen kann (Stöltzner 2008).

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Konstantin Leschke

Kräfte, von denen Sieg und Niederlage abhängen, sind zumeist nicht so auffällig sichtbar. [...] Die Geschichtsschreibung der Philosophie hält sich – und vielleicht kann sie nicht anders verfahren – zunächst an die weithin sichtbaren Anzeichen der Gedankenkämpfe, sie erzählt zunächst von den lauten Rufen im Streit, von den einflußreichsten Werken der Philosophen; aber der wahre Stand und Fortgang des Denkens spiegelt sich in ihnen nicht restlos und unverfälscht. Wer den menschlichen Geist in seiner wirklichen Entwicklung sehen will, muss tiefer schauen. Die hohen Wellen an der Oberfläche werden von vorüberziehenden Stürmen erzeugt, die große Strömung aber fließt davon unberührt still in der Tiefe. (Schlick, MSGA II/1.2, 73f.)

K1 problematisiert einerseits, worauf sich eine Philosophiehistorie konzentriert – Auseinandersetzungen und Überwindungen (K1.1) – und andererseits, welche Quellen sie auswählt – Schriften, v. a. erfolgreiche (K1.2). Auf solche Weise gelange sie immer zu einem Oberflächenbild, weil die philosophische Richtung, die gerade am lautesten streitet oder am meisten erfolgreiche Bücher veröffentlicht hat, als wahre Philosophie der Zeit angesehen wird. Man kann sich vorstellen, dass eine solche Historie unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten philosophischen Richtung verfasst wird. So könnte beispielsweise jemand, der selbst kein Platonist ist, eine Philosophiegeschichte schreiben, in der der Platonismus sich als die wichtigste, vorherrschende, dauerhafteste, grundlegendste, konstruktivste etc. Strömung erweist. Ich unterscheide deshalb anhand der Vorrede noch eine speziellere Kritik (K2), die Schlick an Leuten wie Oesterreich übte. Schlick drückte sie so aus, dass diese die Geschichte 19. und 20. Jahrhunderts so darstellen mussten, weil sie „sich selbst“ schilderten (Schlick, MSGA II/1.2, 78). Oesterreich war für Schlick Metaphysiker, der den Aufstieg der Metaphysik in die Philosophiegeschichte ‚hineinlas‘. Ich verallgemeinere K2 so, dass Philosophiehistorie, die von Anhängern einer philosophischen Schule betrieben wird und eben dieser Schule einen ausgezeichneten Platz in der Philosophiegeschichte einräumt, mit einer besonders starken Begründungshypothek belastet ist.4 Schlick hätte wohl nicht bestritten, dass die Metaphysik zu seiner Zeit viele Anhänger hatte, aber sie war für ihn eine „Moderichtung“ (Schlick, MSGA II/1.2, 75). Ein von Schlick auch im Text angesprochener „zukünftiger Betrachter“ (Schlick, MSGA II/1.2, 78), der die Metaphysik zur vorherrschende Richtung der Philosophie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts erklären würde, hätte für Schlick eben eine Oberflächenhistorie verfasst.

4

Im Fall von Oesterreichs Beitrag wird K2 dadurch bedenkenswert, dass dieser im Zusammenhang mit seiner Schilderung der Metaphysik-Renaissance gerne seine eigenen Arbeiten als wichtig hervorhob (Oesterreich 1921, 384–386).

Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen

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Schlick unterbreitete in der Vorrede einen methodischen Vorschlag für die Lösung des unter K1 beschriebenen Problems. Eine gute Philosophiehistorie, die in die „verborgenen Tiefe“ (Schlick, MSGA II/1.2, 78) vordringen wollte, müsse sich auf den Fortschritt in der Philosophiegeschichte konzentrieren. Sie würde dann zwangsläufig – und ganz zufällig – das beschreiben, was der von Schlick und Frank herausgegebenen Schriftenreihe ihren Namen geben sollte: die wissenschaftliche Weltauffassung, eine bestimmte „Denkweise“ (Schlick, MSGA II/1.2, 75). Diese, und nicht die Metaphysik-Renaissance sei charakteristisch für die wahre Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Vertreter dieser Denkweise, die sich „zu jeder Zeit und überall“ (Schlick, MSGA II/1.2, 75) finden lassen, sind Schlick zufolge trotz ihrer Bedeutsamkeit eher unauffällig. Sie fallen also durch das Netz der methodisch falsch ausgerichteten Philosophiehistorie. Dennoch zählte Schlick auch bekannte Namen dazu, etwa Wilhelm von Ockham und David Hume (Schlick, MSGA II/1.2, 82). Auf die Quellen, die Schlick für eine solche Philosophiehistorie empfahl, werde ich noch eingehen. Hier ist erst einmal nur das Ergebnis wichtig. Schlicks Vorschlag würde sich nicht nur auf das Bild der Philosophiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auswirken. Erkennt man die wissenschaftliche Weltauffassung, diese Strömung in der Tiefe, als die wahre Philosophie, wird die gesamte Philosophiegeschichte laut Schlick auf einmal deutlich übersichtlicher: Selbst die Philosophie Kants verliert da als ein vorübergehend versuchter Seitenweg ihre säkulare Bedeutung. In viel höherem Grade gilt das von seinen Fortsetzern; und die gegenwärtige Periode der Metaphysik-Renaissance wird zu einer völlig ephemeren Erscheinung, von der jene Schicht, die wir als Träger des wahren philosophischen Geistes der Zeit ansehen, überhaupt keine Notiz nimmt. Der Wissende erstaunt wohl darüber, dass Gelehrte heute wieder Bücher über „Das Sein“ und ähnliche Themata schreiben, aber bald nachdem er sie aufgeschlagen, weiß er, daß man sich bald wieder der Beachtung schämen wird, die sie eine Zeitlang finden […]. (Schlick, MSGA II/1.2, 78)

Ich fasse Schlicks Thesen kurz zusammen: (1) (2) (3)

Die richtige Auffassung der Philosophiegeschichte erkennt in ihr das ständige Vorhandensein einer bestimmten Denkweise, der wissenschaftlichen Weltauffassung. Neben dieser Denkweise sind alle anderen philosophischen Richtungen bedeutungslos. Das gilt besonders für die Metaphysik, deren angebliche Renaissance durch die zeitgenössische, oberflächliche, ebenfalls metaphysische Philosophiehistorie beschrieben wird (K2).

168 (4)

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Die Philosophiehistorie hat im Allgemeinen zwei Probleme: Sie konzentriert sich zu sehr auf die Streits zwischen den verschiedenen Schulen, anstatt auf Fortschritte in der Philosophiegeschichte (K1.1) und stützt sich auf die falschen Quellen, nämlich v. a. einflussreiche Texte (K1.2).

Ich hatte bereits gesagt, dass Schlick in der Vorrede nicht historisch argumentierte. Als nächstes werde ich auf eine spätere Vorlesung eingehen, in der er genau das tat und in der die antike Philosophie erheblich wichtiger wurde.

2.2 Keine Tiefen suchen, wo keine sind Im Band II/5.2 der Moritz Schlick Gesamtausgabe wird u. a. eine von Schlicks Vorlesungen erscheinen, die er unter dem Titel Historische Einleitung in die Philosophie für das Wintersemester 1935 in Wien ankündigte.5 Mein Kollege Martin Lemke machte mich bei dieser Vorlesung auf einige erstaunliche Dinge aufmerksam: In ihr nimmt die Darstellung und Besprechung der antiken Philosophie 208 von 247 Typoskriptseiten ein, wovon wiederum 185 Seiten nur den Zeitraum von Thales bis Aristoteles behandeln. Das ist erst einmal ein interessanter quantitativer Befund, wenn man den Unterschied zu Schlicks erster Vorlesung zur Geschichte der Philosophie in Kiel im WS 1920/21 berücksichtigt. Dort besprach er die Antike auf 6 ½ von 4 ½ Manuskriptseiten.6 Mehr zu Schlicks Zeit in Kiel und seiner Zusammenarbeit mit Heinrich Scholz kann man im Beitrag von Niko Strobach nachlesen. Schlick wollte in der Historischen Einleitung aber auch eine Großthese zur Entwicklung der Philosophiegeschichte vermitteln. Diese lässt sich besser verstehen, wenn man seine Einschätzung der Rolle der antiken Philosophen für die Gesamtgeschichte der Philosophie vorwegnimmt: Die Eleaten aber waren die ersten, bei denen bewusst und mit Absicht der Schritt getan wurde, der zur Metaphysik führt: die Aufteilung der Welt in zwei Reiche: in eine Welt der Erscheinung, des Scheins und in eine Welt der Wirklichkeit, des wahren Seins. (Schlick, B.23, Bl. 53)

Aus diesem Schritt entwickelte Schlick das Bild einer ganzen Irrtumsgeschichte der Philosophie:

5

Er hielt sie bereits im SS 1931 unter diesem Titel (Schlick, C.29-1). Von der 1935er-Vorlesung ist eine ausformulierte Maschinenschrift überliefert (Schlick, B.23). 6 Das sind ca. 16 % gegenüber ca. 84 %, wobei dieser Vergleich aufgrund des Unterschieds zwischen hand- und maschinenschriftlicher Fassung nicht zu genau genommen werden sollte. Mehr als diese Andeutung zu der Kieler Vorlesung ist im Rahmen dieses Textes leider nicht möglich.

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Diese Gedankengänge haben der späteren Philosophie die Richtung gegeben und wurden für diese verhängnisvoll; denn die wahre Bedeutung dessen, was die Eleaten getan hatten, wurde nicht erkannt; es wäre denkbar, dass spätere Denker diesen Schritt der Eleaten zur Metaphysik als problematisch erkannt hätten, das war aber nicht der Fall. Die Deutung des ersten Auftretens der Metaphysik ist in den historischen Darstellungen meist völlig verkannt. (Schlick, B.23, Bl. 69)

Diese Thesen trug Schlick hier nicht zum ersten Mal vor. Die Rolle der Eleaten und Platons und deren Irrtümer betonte er auch schon früher, erstmals in seinem Vortrag Erscheinung und Wesen, der 1917 gehalten und 1919 veröffentlicht wurde (Schlick, MSGA I/5, 35ff.). Neu – wobei auch das nicht ganz richtig ist, wie ich weiter unten zeigen werde – war 1935 die Rolle eines bestimmten Philosophen in dieser Irrtumsgeschichte, und zwar die von Sokrates: Erst mit Sokrates tritt eine vollständige Trennung der Philosophie von den Einzelwissenschaften ein. In Sokrates haben wir zum erstenmal den Typus des Philosophen vor uns. An ihm können wir uns klar machen, worin die Besonderheit der philosophischen Einstellung besteht. [...] Was Sokrates auszeichnete, war nicht der Inhalt seiner Lehre, sondern seine Methode. An der geistigen Persönlichkeit des Sokrates können wir uns das Wesen des philosophischen Denkens, die Methode der Philosophie klarmachen. Philosophie ist nicht eine unter den andern Wissenschaften, kein Bezirk, dem die Mathematik, die Geschichte, die andern Wissenschaften als andere Bezirke gegenüberstehen; sondern Philosophie ist die Methode und zwar die Methode der richtigen Fragestellung. […] Der eigentliche Kern des Philosophierens besteht eben darin, nach dem Sinn der Sätze und Worte zu fragen und das ist gerade die Methode des Sokrates. Alle seine Fragen richten sich auf die Erklärung von Begriffen (wie „gut“, „böse“ etz.), mit denen man im täglichen Leben noch nicht recht zu arbeiten versteht. Die grosse Entdeckung des Sokrates liegt darin, gesehen zu haben, dass wir, ehe wir überhaupt beginnen nach der Wahrheit zu suchen, erst die Mittel dazu klar stellen müssen, d. h., dass wir unseren Worten ganz bestimmte Bedeutungen verleihen müssen. (Schlick, B.23, Bl. 102f. und 108)

Damit wäre Sokrates der Vorläufer dessen gewesen, was Schlick selbst in den 30er Jahren unter Philosophie verstand: Sie ist keine Wissenschaft, die selbst wahrheitsfähige Sätze hervorbringt, sondern eine Tätigkeit der Sinnklärung von Fragen. Zu dieser Sinnklärung gehört, zu prüfen, ob ein Satz verifizierbar bzw. falsifizierbar ist, oder nicht. Eine solche Philosophie nannte Schlick in einer zu dieser Zeit verfassten Selbstdarstellung einen „konsequenten und völlig reinen Empirismus“.7

7

Die Selbstdarstellung erschien erst 1950 im von Werner Ziegenfuß und Gertrud Jung herausgegebenen Philosophen-Lexikon (462), sie ist aber auch im Nachlass überliefert (Schlick, A.274).

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Dieselbe Charakterisierung der Philosophie (allerdings nicht denselben Ismus) verwendete er bereits in der Vorrede (Schlick, MSGA II/1.2, 84f.), und dann auch in der Historischen Einleitung.8 In diesem Sinne habe Sokrates auch kein Interesse an naturwissenschaftlichen bzw. naturphilosophischen Untersuchungen gehabt;9 dazu hätten ihm Schlick zufolge sowieso die nötigen Grundlagen – moderne Logik und Naturwissenschaft – gefehlt: Er [Sokrates] war nicht immer imstande, bei den einzelnen Begr[iffen] die Erklärung durchzuführen; dazu gehören wieder andere Voraussetzungen, eine gewisse Erkenntniseinsicht, die damals noch nicht vorhanden war; deshalb erzielte die Methode des Sokrates noch nicht die Erfolge, die sie erzielen kann.10

Platon habe dann wieder alles ruiniert, indem er zwar die Methode von Sokrates übernahm und in seinen Dialogen auch dokumentierte, dabei aber wiederum den Fehler der Eleaten beging: Er [Platon] unterschied demnach zwei Reiche: ein Reich des Veränderlichen, des Fliessenden und ein Reich der Dinge. Beide Reiche aber sind wirklich; auch das erste Reich ist nicht unwirklich, aber es ist als das Reich der Erscheinungen vom Reich der wahren Wirklichkeit unterschieden. (Schlick, B.23, Bl. 130)

Neben der Fortführung der Metaphysik sei bei Platon auch die Trennung zwischen Philosophie und Wissenschaft wieder aufgehoben, was ihn für Schlick in die Nähe von Hegel rückt: Bei Platon aber tritt die Forschertätigkeit ganz hinter der gedanklich konstruierenden Tätigkeit zurück. Sein System ist ein Gedankengebäude, das völlig aus dem Geiste seines Schöpfers heraus konstruiert ist. Platons System ist kein wissenschaftliches System, sondern eine Metaphysik. In ihm haben wir zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie den Typus vor uns, der zwei Jahrtausende hindurch als Vorbild des systematischen Denkers gegolten hat. (Schlick, B.23, Bl. 156)

8

Schlick, B.23, Bl. 246f. Ähnlich äußerte Schlick sich auch z. B. in seinen 1932 gehaltenen Vorträgen Form and Content (Schlick, MSGA II/1.2, 279f.). 9 Vgl. Schlick B.23, Bl. 102f. und 129. 10 Schlick B.23, Bl. 111. Der Wechsel zwischen Anerkennung und Bagatellisierung der antiken Philosophen in dieser Vorlesung ist bemerkenswert. Einerseits meinte Schlick: „Die Fähigkeiten, die zum Philosophieren nötig sind, haben sich seit der Zeit der Griechen nicht nachweisbar geändert; wenn wir dennoch weiter gekommen sind, liegt das nicht daran, dass die Menschen jetzt klüger sind, sondern daran, dass wir schon sehr viel fertiges Wissen vorgefunden haben.“ An anderer Stelle sagte er dagegen: „Wir interpretieren die alten Philosophen am besten so, dass wir keine Tiefen suchen, wo keine sind; die Art des antiken Denkens war einfach und schlicht.“ (Schlick B.23, Bl. 12 und 43)

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Mit diesem Zusammenfassen von den Eleaten, Platon und Hegel war Schlick insofern konsequent als er bereits in seiner Rostocker Vorlesung Grundzüge der Erkenntnistheorie und Logik explizit die Eleaten, außerdem „die grosse Mehrzahl der antiken Philosophen“ (Schlick, MSGA II/1.1, 603) und dann (neben anderen) eben auch Hegel unter dem zusammenfasste, was er dort „Rationalismus“ nannte: „Diese Denkrichtung behauptet, wie ich schon sagte, dass der Ursprung der Erkenntnis, die Quelle und der Grund aller Wahrheiten, in der Vernunft zu suchen sei.“ (Schlick, MSGA II/1.1, 603) Diese Bedeutung von „Rationalismus“ kehrte bei Schlick dann immer wieder, etwa in der Allgemeinen Erkenntnislehre, wo er dem Rationalismus eine „Verwechslung von Erkennen, Denken und Sein“ (Schlick, MSGA I/1, 719) vorwarf und auch in dem oben schon erwähnten Vortrag Erscheinung und Wesen (Schlick, MSGA I/5, 60). Es gab also offenbar für Schlick einen Zusammenhang zwischen dem Grundirrtum der Philosophiegeschichte, der Metaphysik und dem Rationalismus. Letzteren stellte er in der Historischen Einleitung dann auf traditionelle Weise dem Empirismus – seiner eigenen Philosophie – gegenüber (Schlick, B.23, Bl. 241).

2.3 Abwegig und wenig interessant Dieser letzte Punkt wirft noch ein interessantes Licht auf die sogenannte Protokollsatzdebatte. Soweit es mir bekannt ist, äußerte Schlick seine Thesen zur Philosophiegeschichte nie in den Sitzungen des Wiener Kreises oder in Briefen aus diesem Zeitraum.11 Das mag damit zusammenhängen, dass Schlick nach seiner Rückkehr aus Amerika 1932 bereits mit den Ansichten einiger Mitglieder des Kreises nicht zufrieden war, und 1933 sogar die Gründung eines neuen Kreises gegenüber seinem Assistenten in Berkeley, David Rynin, andeutete (Schlick, MSGA I/6, 482). Die internen Unstimmigkeiten äußerten sich dann in mehreren Publikationen, etwa dem geplanten Aufsatz Metapyhsiker und Dogmatiker,12 dessen Fertigstellung und Publikation von Schlicks Ermordung 1936 verhindert wurden. Dort vertrat er, wie ich später zeigen werde, auch seine Vorstellung von Sokrates. Er nutzte sie gleichzeitig, um die von ihm kritisierten Mitglieder des Wiener Kreises – v. a. Otto

11

Ich beziehe mich hierbei auf die überlieferten Zirkelprotokolle (Stadler 2015, 79–150), einen Bericht zu den Sitzungen (Ayer 1985, 20f.) sowie die bis zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Arbeit an der Moritz Schlick Gesamtausgabe erschlossenen Briefe. Eine Korrektur ist demnach in Zukunft durchaus denkbar. 12 Der Titel des französischen Typoskripts, das als Fassung letzter Hand gilt, lautet dagegen L’école Vienne et la philosophie traditionelle (Schlick, MSGA II/1.2, 471f. und 489).

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Neurath und Rudolf Carnap – als Rationalisten einzuordnen, die den von ihm erkannten, alten Fehler der Metaphysiker wiederholten. Noch expliziter als in Metaphysiker und Dogmatiker tat er das in dem 1935 veröffentlichten Aufsatz Facts and Propositions: Science is a system of propositions; and – without being aware of it – these thinkers [damit ist neben Neurath und Carnap auch Carl Gustav Hempel gemeint] substitute science for reality; for them facts are not acknowledged before they are formulated in propositions and taken down in their notebooks. But Science is not the World. The universe of discourse is not the whole universe. It is a typical rationalistic attitude which shows itself here under the guise of the most subtle distinctions. It is as old as metaphysics itself, as we may learn from a saying of old Parmenides, which runs: ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἐστι νόημα […].13

Schlick ließ das Parmenides-Zitat unübersetzt,14 weswegen es einer genaueren Interpretation bedürfte, um festzustellen, wo genau er die Gemeinsamkeiten sah. Mir kommt es hier darauf an, dass Schlick von seiner Irrtumsgeschichte bereits so überzeugt war, dass er auch die Mitglieder des Wiener Kreises in sie einzuordnen begann. Dass Schlick in der Protokollsatzdebatte einen „höchst versteckten Rationalismus“,15 und dementsprechend wohl auch eine versteckte Metaphysik sah, könnte ein bisher nicht beachteter Grund gewesen sein, warum er diese Debatte in einem Brief an Carnap als „abwegig und wenig interessant“16 bezeichnete. Neuraths ausführliche Beschäftigung u. a. mit der Antike bespricht Friederike Peters in ihrem Beitrag zu diesem Sammelband. Wie verhält sich das, was bis hierher herausgearbeitet wurde, zu den auf S. 167 zusammengefassen Thesen aus der Vorrede von 1928? Ad (1) Die richtige Auffassung der Philosophiegeschichte erkennt in ihr das ständige Vorhandensein einer bestimmten Denkweise, der wissenschaftlichen Weltauffassung: In der von Schlick diagnostizierten Irrtumsgeschichte gab es außer Sokrates auch noch andere Lichtblicke, etwa die antiken Skeptiker, Augustinus oder Hume (Schlick, B.23, Bl. 199–201, 209f., 241f.). Diese gehören wohl zur Strömung in der Tiefe, die Schlick 1928 beschrieb. Er nannte sie aber in der Historischen Einleitung 13

Schlick, MSGA I/6, 573. An der Stelle im entsprechenden Band wurde fälschlicherweise „οὕνεκεν ἕστι“ abgedruckt, Schlick verwendete im Originalaufsatz die hier zitierten Akzente. 14 Die Übersetzung von Diels lautet: „Denken und des Gedankens Ziel ist ein und dasselbe“ (Diels 1912, 18 B 8, Z. 34). Eine Übersicht über weitere Übersetzungsmöglichkeiten gibt Sellmer 1998, 115ff. 15 Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 16. April 1935. 16 Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 5. Juni 1934.

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nicht mehr „wissenschaftliche Weltauffassung“. Möglicherweise vermied Schlick ein solches gemeinsames Banner, weil die Unterschiede gerade zu der von Schlick präferierten Philosophie doch zu groß waren. Denn erst diese war ja laut Schlick in der Position, den alten Fehler der Eleaten zu erkennen und auch zu korrigieren. Möglicherweise war er auch durch den Titel der 1929 veröffentlichten, von ihm wenig geschätzten Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (Stadler 2015, 157) von der Bezeichnung abgerückt. Allenfalls könnte man den manchmal auftauchenden Ausdruck „wissenschaftliches Weltbild“, den Schlick im Zusammenhang mit Demokrit verwendete, in dieser Richtung verstehen. Ad (2) Neben dieser Denkweise sind alle anderen philosophischen Richtungen bedeutungslos: Im Verlauf der Historischen Einleitung schilderte Schlick die nach Platon immer wiederkehrende Wiederholung der metaphysischen Trennung in zwei Reiche. Dieser Fehler zeige sich lediglich in verschiedenen Spielarten, und ihm sei auch z. B. Kant verfallen (Schlick, B.23, Bl. 242f.). Damit war Schlicks Diagnose von 1928, Kant sei bei einem ‚richtigen‘ Blick auf die Geschichte lediglich ein „vorübergehend versuchter Seitenweg“, auch in dieser Vorlesung wieder eingefangen. Das kann auch erklären, warum der Zeitraum von Thales bis Aristoteles so viel Platz einnimmt. Der Grundirrtum wird ausführlich beschrieben, die Wiederholungen des Irrtums sind aber nur noch eine kurze Erwähnung wert. Ad (3) Das gilt besonders für die Metaphysik, deren angebliche Renaissance durch die zeitgenössische, oberflächliche, ebenfalls metaphysische Philosophiehistorie beschrieben wird (K2): Schlick sprach in der Historischen Einleitung selbst davon, dass die Metaphysik wieder „auferstanden“ sei und sich „in voller Blüte“ befinde; sie sei aber „völlig von den Persönlichkeiten der betreffenden Denker abhängig.“ (Schlick, B.23, Bl. 245) Wie oben bereits angedeutet, war Schlick 1928 recht enthusiastisch, was den möglichen Erfolg einer neuen philosophischen Denkart anging. Angesichts der philosophischen, institutionellen und politischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich zwischen 1928 und 1935 wäre ein Abkühlen dieses Optimismus verständlich. Ad (4) Die Philosophiehistorie hat im Allgemeinen zwei Probleme: Sie konzentriert sich zu sehr auf die Streits zwischen den verschiedenen Schulen, anstatt auf Fortschritte in der Philosophiegeschichte (K1.1) und stützt sich auf die falschen Quellen, nämlich v. a. einflussreiche Texte (K1.2): War K1.1 1928 noch die zentrale methodische Kritik an der Philosophiehistorie gewesen, wurde sie 1935 nur noch kurz erwähnt (Schlick, B.23, Bl. 6f.). K1.2 behielt Schlick bei:

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Fragen wir aber, welches der beiden Weltbilder [Platons oder Demokrits] für die Kultur der Menschheit den Vorzug verdient, so müssen wir sagen, dass es das von Demokrit ist, denn seine Lehren waren ausschlaggebend für die Grundlagen des wissenschaftlichen Weltbildes. [...] Auch sind nur Bruchstücke seiner Werke überliefert. Daher hat sich an Plato leichter eine Überlieferung angeschlossen, (von ihm sind alle Werke überliefert) und man kommt leicht zu einer falschen Anschauung über die Wichtigkeit dieser beiden Denker in der Geschichte des menschlichen Geistes. (Schlick, B.23, Bl. 79f.)

Hatte 1928 noch Aristoteles das Weltbild von Demokrit „zugedeckt“ (Schlick, MSGA II/1.2, 74), war es 1935 Platon – und natürlich diejenigen, die ihm diesen Platz in der Philosophiegeschichte verschafft hatten. Neben diesem Fehler blieb Schlick zufolge ja auch seine Großthese, dass die Teilung der Welt in Schein/Erscheinung und Sein/Wirklichkeit der Ursprung der Metaphysik und aller philosophischen Probleme sei, „in den historischen Darstellungen meist völlig verkannt.“ Man kann den Thesen noch hinzufügen: Ad (5) Der dem Empirismus entgegenstehende Rationalismus ist mit dem Grundirrtum der Philosophie und der Metaphysik verknüpft. Er findet sich auch bei zeitgenössischen Philosophen, die der Metaphysik ablehnend gegenüberstehen. Schlick war also Mitte der 30er Jahre dabei, seinen in der Vorrede gemachten methodischen Vorschlag zur Lösung des unter K1 beschriebenen Problems zu verfolgen und die Philosophiegeschichte anhand bestimmter Kontinuitäten, anstatt ständiger Überwindungen und Auseinandersetzungen darzustellen. Dazu argumentierte er nun auch in großem Maßstab historisch. Hatte er 1928 noch das Bild seiner zeitgenössischen Philosophie zurechtrücken wollen, ging es nun darum, das Bild der gesamten Philosophiegeschichte zurechtzurücken. Allerdings könnte man das Ergebnis wohl genau so gut als Irrtums- wie als Fortschrittsgeschichte bezeichnen.

3

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Die Frage ist nun, wie Schlick zu seinen Ergebnissen gekommen war und wie er sich den Zusammenhang zwischen der Philosophiehistorie und dem konsequenten Empirismus vorstellte. Was hatte er anders gemacht, um zu seinem Bild der Philosophiegeschichte zu kommen? Musste man sich die Philosophiegeschichte nur unvoreingenommen, frei von den Verfälschungen der bisherigen Philosophiehistorie ansehen,

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um den Grundirrtum zu erkennen und ein konsequenter Empirist zu werden? In diesem Zusammenhang werden die Quellen für Schlicks Thesen bedeutsam. Am Anfang der Historischen Einleitung sagte er selbst etwas dazu: Wir setzen hier die Arbeit des Historikers als bereits getan voraus. Es ist also keineswegs unsere Aufgabe, etwa über strittige Punkte Entscheidungen zu treffen, die nur mit historischen Methoden getroffen werden können; wir halten uns an das bereits Feststehende, denn wir betrachten die Geschichte der Philosophie nur als Einleitung zu den philosophischen Problemen.17

Der weitere Kontext des Zitats legt nahe, dass Schlick nicht meinte, dass eine Philosophiehistorie sich an neutralen Fakten orientieren könnte. Denn einerseits gehöre zur Arbeit des Historikers auch „aus dem vorliegenden Material die Meinungen der Philosophen, die philosophische Entwicklung der Menschheit zu rekonstruieren“ andererseits müsse ein Philosophiehistoriker „bis zu einem gewissen Grade selbst Philosoph sein“ (Schlick, B.23, Bl. 4). Wie wollte Schlick dann aber mit dem Problem der Quellenauswahl, das er unter K1.2 angesprochen hatte, umgehen?

3.1 Seherische Offenbarungen Ich hatte bereits angekündigt, dass ich besprechen werde, welche Quellen Schlick in der Vorrede von 1928 für eine an den Fortschritten orientierte, wahre, tiefe Philosophiehistorie empfahl. Er nannte zwei: erstens die Naturwissenschaften und Mathematik, ihre Sprache und Methoden (Schlick, MSGA II/1.2, 78–80). In diesem Kontext versuchte Schlick, die Hinwendung der Philosophie zu den Geisteswissenschaften, und damit zur Metaphysik am Ende des 19. Jahrhunderts einzuordnen: Letztere sei bloß einfacher als die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend abstrakter werdenden Naturwissenschaften. In dieser Hinsicht war Schlick als studierter Physiker und von Max Born erkorener „Prophet“18 der Physikergemeinde natürlich in einer vorteilhaften Position. Man kann das Ganze aber auch in Hinblick auf die gesamte Philosophiegeschichte verstehen: Will man sich ein Bild der wahren Philosophie nicht nur zur Zeit von Schlick, sondern insgesamt machen, muss man diejenigen Philosophen studieren, die sich mit Naturwissenschaften und Mathematik beschäftigt haben. Das alleine kann aber nicht gemeint sein, denn bei Platon war ja gerade dieses Interesse ein Problem, während der von Schlick gelobte Sokrates sich

17 18

Schlick, B.23, Bl. 4. Eine ähnliche Äußerung findet sich auf Bl. 13. Max Born an Moritz Schlick, 11. Juni 1919.

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angeblich gar nicht für die Naturwissenschaften interessierte. Zumal Schlick ja darauf hinwies, dass es auch auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Wissenschaften ankomme. Es muss also noch etwas anderes geben. Damit komme ich zur zweiten Quelle, die Schlick anführte: den „seherischen Offenbarungen, die sich gelegentlich bei bestimmten Philosophen oder innerhalb gewisser philosophischer Schulen und Richtungen finden“ (Schlick, MSGA II/1.2, 81) und in denen sich die wahre Philosophie manchmal – unabhängig von der jeweiligen Schulzugehörigkeit – äußere. Denn hier führte Schlick als Beispiele nicht zeitgenössische Philosophen an, sondern das Wilhelm von Ockham zugeschriebene und nach ihm benannte Sparsamkeitsprinzip sowie den Ausspruch von Hume, dass man Bücher, die keine Mathematik und keine empirischen Tatsachen enthalten, verbrennen solle. Diese beiden Aussagen waren für Schlick offenbar Zeugnisse jener „seherischen Offenbarung“ und sie einen für ihn den „Nominalisten“ Ockham und den „Skeptiker“ Hume unter der Flagge der „empirischen Philosophie“ (Schlick, MSGA II/1.2, 82). Was also allen Denkern der wissenschaftlichen Weltauffassung zugrunde liegt, ist nicht die Orientierung an Mathematik und Naturwissenschaft, sondern der Empirismus. Die Geschichte der wahren Philosophie wäre die Geschichte dieser Richtung. Man kann sich vorstellen, dass eine solche Historie unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten philosophischen Richtung verfasst wird. Jemand, der selbst kein Empirist ist, könnte eine Philosophiegeschichte schreiben, in der der Empirismus sich als die wichtigste, vorherrschende, dauerhafteste, grundlegendste, konstruktivste etc. Strömung erweist. Aber denken wir an K2: Schlick hatte Metaphysikern wie Oesterreich vorgeworfen, die Metaphysik in die Philosophiegeschichte hineinzulesen. Will man nicht mit zweierlei Maß messen, steht auch Schlick als Anhänger des Empirismus nun unter besonderem Begründungsdruck, wenn er dieser Richtung einen ausgezeichneten Platz in der Philosophiegeschichte zuweisen will, was offenbar der Fall ist. Wie sieht diese Begründung aus? Konnte sich Schlick auf Zeugnisse von nicht-Empiristen stützen? Ich werde dieser Frage am Beispiel von Sokrates nachgehen.

3.2 Susanne K. Langer Schlick sagte z. B. in der Historischen Einleitung, woher er sein Bild von Sokrates hatte: Über die Methode des Sokrates wird uns von Plato berichtet; wir können sicher sein, dass er diese Methode getreu und durch den gewandten Dialog noch verschönt wiedergibt. [...] So sehr ist Plato ein Schüler des Sokrates, dass er alle seine Lehren in den

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Dialogen dem Sokrates in den Mund legt. Die Gedanken stammen natürlich von Plato selbst, nur die allgemeine Methode ist die des Sokrates. (Schlick, B.23, Bl. 111, 128)

Wie ich auf bereits angekündigt habe, äußerte sich Schlick auch in Metaphysiker und Dogmatiker zu diesem Thema: [E]r [Sokrates] trat in bewussten Gegensatz zu den Metaphysikern, d. h. zur Schule von Elea, gegen die er einwandte (wir dürfen es aus einer Stelle in Platons „Sophistes“ schließen), dass sie bei ihren wichtigsten Fragen versäumt hätten zu erklären, was sie mit ihren Worten eigentlich meinen. Platon sagt dort von seinen Vorgängern, sie hätten zu bestimmen versucht, wie eigentlich das Seiende sei (ob eines oder zweierlei oder vier Elemente etc.); er aber frage: was meinen sie denn, wenn sie diese Dinge als das Wirkliche erklären? Und ebenda lässt er den „Fremdling“ sagen „Da wir so ratlos sind, so müsst ihr uns ausreichend darüber aufklären, was ihr eigentlich meint, wenn ihr euch des Ausdrucks ‚seiend‘ bedient.“ (Schlick, MSGA II/1.2, 482)

An einer Stelle in der Historischen Einleitung erwähnte Schlick beiläufig auch Xenophon als Zeugnis für den historischen Sokrates (Schlick, B.23, Bl. 115). Ich habe diese Stellen so ausführlich zitiert, damit klar wird, dass Schlick (a) meinte, aus Platons Dialogen ein authentisches Zeugnis des historischen Sokrates gewinnen zu können und (b) angab, sein Bild des historischen Sokrates auch tatsächlich aus Platons Dialogen gewonnen zu haben. Das wäre schon aus seiner eigenen Perspektive in Hinblick auf K1.2 ein Problem, denn sicher gehören Platons Dialoge zum Schrifttum eines bestimmten Zeitalters, und berühmte Bücher sind es auch. Ein Blick in Schlicks Lektüre aus den 30er Jahren legt außerdem nahe, dass seine Informationen zu Sokrates von ganz anderer Stelle kamen. Wie bereits angedeutet, sprach er Sokrates die oben skizzierte Stellung in der Geschichte schon vor der Historischen Einleitung zu, m. W. zum ersten Mal in seinem Vortrag The Future of Philosophy. Diesen hielt er 1931 während seines Aufenthaltes in Berkeley, 1932 wurde der Vortrag veröffentlicht (Schlick, MSGA I/6, 369). Wie auch in der Historischen Einleitung beschrieb er die Methode des Sokrates als verschieden von der der Naturwissenschaften, die wahrheitsfähige Sätze aufstellen: In one of the Platonic Dialogues, for instance, Socrates asks „What is Justice?“; he receives various answers to his question, and in turn he asks what was meant by these answers, why a particular word was used in this way or that way, and it usually turns out that his disciple or opponent is not at all clear about his own opinion. In short, Socrates’ philosophy consists of what we may call „The Pursuit of Meaning.“ (Schlick, MSGA I/6, 380)

Sowohl den Ausdruck „Pursuit of meaning“ als auch das Bild von Sokrates, das er hier erstmals öffentlich vorstellte, entnahm Schlick einem 1930 erschienenen Buch

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von Susanne K. Langer, The practice of philosophy. Aus einem Brief an den Verleger des Buches vom 22. März 1933 wird deutlich, dass Schlick das Buch im Sommer 1930 erhielt und vom Inhalt der ersten Hälfte sehr angetan war: „the philosophy expounded in this book is the true kind of philosophy.“19 Langer schrieb zu Sokrates: The notion that the proper method of philosophy lies in the pursuit of meaning, was first conceived by Socrates. It was the avowed practice of that eminent philosopher to elicit from his disciples any general statement whatever, and then hold to them the literally correct meaning of their words. What is justice? What is knowledge? Wisdom is said to lead to happiness; but what is happiness? He does not profess to teach any new propositions, but only to show other men by his questions, what concepts, sound or absurd, are contained in their own assertions. (Langer 1930, 23)

Als Zeugnis dafür zitierte Langer anschließend aus Platons Theaitetos die Stelle, an der Sokrates dem jungen Theaitetos seine Maieutik erklärt.20 Darüber hinaus thematisierte Langer das Verhältnis von platonischem und historischem Sokrates, soweit ich sehen kann, nicht. Neben der gemeinsamen Auffassung von Sokrates’ Rolle als Vorläufer der modernen, richtigen Philosophie findet sich auch das von Schlick referierte Zusammenfallen von Philosophie und Wissenschaft in der Antike – von dem ja nur Sokrates abwich – bei Langer.21 Es gibt allerdings auch Abweichungen zwischen Langer und Schlick, z. B. bei der Einschätzung von Platons Philosophie, die an dieser Stelle aber nicht so wichtig sind. Schlick muss von diesen Passagen zu Sokrates und dem sich daraus ergebenden Konzept recht begeistert gewesen sein. Er nahm sie nicht nur in den oben zitierten Vortrag The Future of Philosophy auf, sondern thematisierte sie auch in seinen Seminaren in Berkeley. Von diesen Seminaren berichtet das 1961 erschienene Buch A Study in Wittgenstein‘s Tractatus von Alexander Maslow, und in diesem wird Sokrates so beschrieben, wie hier geschildert, auch wenn die Quellenfrage erneut keine

19

Moritz Schlick an Henry Holt & Co, 22. März 1931. Langer 1930, 23f. Die entsprechende Passage ist Platon, Theaitetos, 150b 9–d 9. Später beruft Langer sich auch auf die Atlantisepisode aus dem Timaios, allerdings ohne diesen zu nennen (Langer 1930, 39). 21 Langer 1930, 38. Schlick übernahm auch noch andere Ausrücke von Langer, etwa „synoptic view“ für eine Auffassung von Philosophie, die die Erkenntnisse der anderen Wissenschaften unter einer generellen Weltanschauung zusammenfasst (Langer 1930, 14; Schlick, MSGA I/6, 377f.). Diese Auffassung hatte Schlick zumindest in Bezug auf Naturphilosophie in den 1910er Jahren in seiner Vorlesung Einleitung in die Naturphilosophie noch selbst vertreten (Schlick, MSGA II/2.1, 111f.). Langer wiederum entlehnte den Ausdruck nach eigener Aussage von Reinhold Friedrich Alfred Hoernlé, der u. a. in den 1920er Jahren Bücher über Metaphysik und Idealismus veröffentlichte (Langer 1930, 15). 20

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Rolle spielt. Auch den Ausdruck „pursuit of meaning“ gebrauchte Maslow.22 Denselben benutzte Schlick dann als Titel eines unveröffentlichten Textes, aus dem er – unzufrieden mit der 2. Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre – sein neues Hauptwerk machen wollte.23 Aus dieser Idee entstanden drei Vorträge mit dem Titel Form and Content, die Schlick im November 1932 in London hielt, und in denen sowohl Sokrates in Schlick’scher Auffassung als auch der Ausdruck „pursuit of meaning“ vorkommen (Schlick, MSGA II/1.2, 298, 300f.). Die Arbeit an Form and Content brach Schlick 1935 zugunsten seiner späten Vorlesungen ab (vgl. Friedl 2013, 110ff.), zu denen neben der oben behandelten Historischen Einleitung auch die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang – und darüber hinaus vermutlich noch weitere – gehörten. Auch in den Problemen der Philosophie in ihrem Zusammenhang behandelte Schlick Sokrates und die antike Philosophie so, wie es bisher skizziert wurde und sprach von dem „Streben nach Sinn“ als der genuinen Aufgabe der Philosophie (Schlick, B. 16, Bl. 26, 87, 89; 1986, 32f., 74f., 76). Das Eingehen in seine Publikationen im Zuge der Protokollsatzdebatte wurde schon oben besprochen. Es ist also vielleicht nicht übertrieben, zu sagen, dass diese von Langer entlehnte Auffassung von Sokrates ab 1930 ein stabiles und wichtiges Element in Schlicks Auffassung von Philosophie und ihrer Geschichte wurde. Das ist in Anbetracht der Thesen von 1928 verständlich, schließlich konnte Schlick seine Strömung in der Tiefe nun bereits recht früh und in vorher ungeahnter Stärke fließen sehen. Allerdings teilte Langer Schlicks Auffassung von Philosophie, auf sie konnte er sich also nicht berufen, wollte er sich nicht selbst K2 schuldig machen. Eventuell konnte Schlick sich aber auf unstrittige Darstellung von dezidierten Historikern, auf „bereits Feststehendes“, wie er es in der Historischen Einleitung ausdrückte, stützen?

3.3 Nicht Heinrich Gomperz Dies war ebenfalls nicht der Fall. Heinrich Gomperz, der gelegentlich an Treffen des Wiener Kreises teilnahm (vgl. Stadler 2015, 242–244), war neben Schlick auch mit anderen Personen im und um den Wiener Kreis bekannt. Sein Verhältnis zu Kurt Gödel wird im Beitrag von Eva-Maria Engelen thematisiert. Auf den Gomperz-Kreis geht Martin Lemke in einem seiner Beiträge genauer ein. Gomperz und Schlick waren gemeinsam Teilnehmer des 7. internationalen Kongress für Philosophie in 22

Maslow 1961, 138–140, 143. Vom Kontakt mit Schlick im Seminar berichtet Maslow (1961, Xf.) in der Einleitung. 23 Schlick, MSGA II/1.2, 119f. Sokrates erwähnt Schlick dort nicht, was an der Unvollständigkeit des Textes liegen mag. In den Notizen zu den Vorlesungen, aus denen der Text entstand, wird Sokrates allerdings erwähnt (vgl. Schlick, A.159, Bl. 4).

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Oxford.24 Gomperz veröffentlichte bereits 1924 den Aufsatz Die sokratische Frage als geschichtliches Problem. Dort untersuchte er genau die Frage, die für Schlick scheinbar völlig unproblematisch war, nämlich die Glaubwürdigkeit von verschiedenen Darstellung des Sokrates. Neben Platon und Xenophon berücksichtigte er auch die Schilderungen in den zeitgenössischen Komödien von Aristophanes, Ameipsias und Eupolis und kam zu einem Bild von Sokrates als Vorläufer der Kynischen Schule. Platons Darstellung verwarf er dagegen als unglaubwürdig.25 Das macht Schlicks Aussage, dass man die Methode des Sokrates aus Platons Dialogen ablesen kann, höchst problematisch. Schlick hatte in Bezug auf die Quelle für seine Informationen über Sokrates also sehr wohl über einen „strittigen Punkt“ eine Entscheidung getroffen. Diese basierte im Fall von Sokrates nicht auf der Lektüre von Primärquellen – was bei Sokrates aber auch nicht möglich war – und auch nicht auf differenzierter und kritischer Recherche von verschiedenen Positionen, die ihm leicht möglich gewesen wäre. Stattdessen verließ er sich auf Zusammenfassungen und Interpretationen einer anderen Autorin, wobei The Practice of Philosophy sicherlich nicht als philosophiehistorische Arbeit angesehen werden kann. Dass Schlick dieses Buch als Quelle wählte, lag wohl daran, dass (a) darin die von ihm bevorzugte Auffassung von Philosophie vertreten wurde und (b) es ein Bild von Philosophiegeschichte stützte, das ihm gefiel. Die von Schlick geäußerten Kritikpunkte K2 und K1.2 treffen ihn im Fall von Sokrates selber. Als zweites bespreche ich noch ein weiteres Beispiel, das meine hier angestellten Untersuchungen erst ins Rollen brachte.

3.4 Arthur Schopenhauer Schlicks erste philosophische Veröffentlichung war die Lebensweisheit von 1908. Im Kapitel über die Lust zog Schlick ein griechisches Zitat aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik heran: „ὁ φρόνιμος τὸ ἄλυπον διώκει οὐ τὸ ἡδύ“,26 was man übersetzten 24

Gomperz trug dort über Platons philosophisches System vor, Schlick zu The future of philosophy. Allerdings handelt es sich dabei um einen anderen Vortrag als den ab Abschnitt 4 besprochenen. Beide Vorträge sind im Kongressbericht abgedruckt (Ryle (Hg.) 1930/1968). 25 Gomperz 1924, 419–421. Ob Platons Dialoge selbst Schlicks Bild von Sokrates stützen, ist überhaupt fragwürdig, denkt man z. B. an Sokrates’ Bericht über sein Interesse an den Naturforschung in jungen Jahren im Phaidon (96a ff.). Mit „Naturforschung“ meine ich den in 96a 7 benutzten Ausdruck „ἱστορία φυσέως“. 26 Schlick 1908, 45. Ich benutze für dieses Zitat absichtlich die Originalveröffentlichung von 1908. Die Stelle lautet bei Aristoteles: „ἔτι ὁ φρόνιμος τὸ ἄλυπον διώκει οὐ τὸ ἡδύ.“ (Aristoteles, NE, 1152 b 17f.) Entgegen der Aussage des für den entsprechenden Band der Moritz Schlick Gesamtausgabe verantwortlichen Herausgebers (Schlick, MSGA I/3, 89, Anm. 60) lässt sich die Stelle bei Aristoteles

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kann mit „Der Kluge erstrebt die Abwesenheit von Leid, nicht die angenehmen Empfindungen.“ Schlick ließ das Zitat – wie 28 Jahre später das von Parmenides in Facts and Propositions – unübersetzt. Er führte es an einer Stelle an, an der er Folgendes diskutierte: Ein Problem, das vielen Weisen beim Nachdenken über die Lust zu schaffen gemacht hat, drückt sich in der Frage aus: Wie verhält sich die Lust zu ihrem Gegenteil, der Unlust oder dem Schmerz? Die einen sagen, Lust sei weiter nichts als Freiheit von Schmerz, andre, Schmerz sei bloß ein Mangel an Lust und so suchen sie einem der beiden Begriffe auf Kosten des anderen die Realität abzusprechen; wieder andere setzen Schmerz, Schmerzlosigkeit und Lust als drei wesensverschiedene Zustände nebeneinander. (Schlick, MSGA I/3, 88)

Schlick kam dagegen zu dem Ergebnis, dass eine absolute Einteilung von Lust und Unlust nicht möglich ist. Wie überzeugend seine Ausführungen selbst sind, ist an dieser Stelle nicht so wichtig, sondern, wie er sie zu Aristoteles in Beziehung setzte. Das griechische Zitat soll nämlich eine Richtschnur sein, der man „vielleicht“ (Schlick, MSGA I/3, 89) zustimmen kann, wenn man sich fragt, ob man im praktischen Leben besser daran tut, stets an die Aufhebung des gegenwärtigen Schmerzes oder die Erlangung künftiger Lust zu denken [...]. Der gegenwärtige Schmerz ist nämlich reell; die Lust aber, nach der man strebt, ist in der Zukunft und hat daher etwas Ungewisses. (Schlick, MSGA I/3, 89)

Der Satz von Aristoteles, dass der Kluge τὸ ἄλυπον (Schlick: die Aufhebung des gegenwärtigen Schmerzes) erstrebt, nicht aber τὸ ἡδύ (Schlick: die zukünftige Lust) soll also wohl Schlicks eigene Überlegungen stützen. Aber: Der Satz, den Schlick zitierte, spiegelt nicht Aristoteles’ eigene Position wider.27 Vielmehr referiert dieser ab 1152b des Buches VII der Nikomachischen Ethik – ironischerweise ähnlich wie auch Schlick es in der Lebensweisheit tat – die Ansichten verschiedener Philosophen zu Lust und Schmerz, wovon auch der Ausspruch, den Schlick Aristoteles zuschrieb, einer ist. Direkt danach kritisiert Aristoteles diese Ansichten, auch die, die Schlick zufolge von ihm stammen soll: Daß endlich der Besonnene die Lust flieht und der Kluge nur das schmerzlose Leben sucht und daß Kinder und Tiere die Lust suchen, das läßt sich alles auf demselben Wege widerlegen. Da wir erklärt haben, wie die Lust schlechthin gut und wie nicht offensichtlich sehr wohl nachweisen. Schlick hätte dann lediglich das einleitende „ἔτι“ weggelassen. Dass der Herausgeber an dieser Stelle trotz des von ihm korrekt angegebenen Umfeldes des Satzes in der Nikomachischen Ethik eine „Schlicksche Interpretation eines Aristotelischen Gedankens“ daraus machen will, ist falsch. 27 Was an dem „ἔτι“, das in Schlicks Zitat nicht vorkommt, leichter erkennbar gewesen wäre.

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jede einzelne gut sein kann, so suchen eben Tiere und Kinder jene, die nicht gut sind, und der Kluge will die Schmerzlosigkeit in eben dieser Hinsicht, nämlich im Hinblick auf die Lustempfindungen, die mit Begehren und Schmerz verbunden sind, und die körperlichen Lustempfindungen (das sind eben jene) und deren Übermaß, das den Zügellosen zum Zügellosen macht. Der Besonnene flieht dies; aber es gibt Lust auch für ihn. (Aristoteles, NE, VII, 1153a)

Will man Schlick nicht unterstellen – und ich wollte es nicht, als ich auf dieses Kuriosum stieß – eine Textpassage derart arg missverstanden zu haben, stellt sich die Frage: Woher nimmt er die Verwendung des Zitats in diesem Kontext? Der m. W. einzige Autor, der für Schlick als Quelle in Frage kommt, und der Aristoteles dieses Zitat selbst zuschreibt, ist Arthur Schopenhauer. Dieser schreibt am Anfang des 5. Kapitels seiner Aphorismen zur Lebensweisheit: Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an, den Aristoteles beiläufig ausgesprochen hat, in der Nikomächischen Ethik [sic!] (VII, 12): ὁ φρονιμος το αλυπον διωκει ου το ἡδυ (quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens. Besser noch deutsch ließe sich dieser Satz etwa so wiedergeben: „Nicht dem Vergnügen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach“; oder: „Der Vernünftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht auf Genuß aus.“) (Schopenhauer 1892, 453f.)

Die Aphorismen zitierte Schlick im Verlauf der Lebensweisheit selbst (Schlick, MSGA I/3, 234). Hier könnte man Schlick nun aber leicht verteidigen: Die Lebensweisheit veröffentlichte er 1908, also ganz am Anfang seiner philosophischen, und noch vor dem Beginn seiner akademischen Laufbahn. Ist die Verwendung eines falsch zugeschriebenen, vielleicht unkritisch von Schopenhauer übernommenen Zitats an dieser Stelle denn so schlimm? Schlick selbst bezeichnete die Lebensweisheit in einem Brief an Franz Erhardt, mit dem er im Zuge seines ersten Habilitationsversuchs in Zürich in Kontakt getreten war, als „Jugendarbeit, die auf wissenschaftliche Bedeutung keinen Anspruch macht“.28 Auch in zwei von ihm selbst verfassten Lebensläufen dokumentierte er seine bereits früh nach der Veröffentlichung einsetzende Unzufriedenheit mit dem Buch (Schlick, C.4, Bl. 3; C.2b, Bl. 10). Außerdem soll Aristoteles durch das Zitat hier zwar vielleicht als Gewährsmann dienen, aber für Schlicks Argument, dass man Lust und Unlust nicht absolut einteilen kann, spielt es doch keine so große Rolle. Ich gebe das alles zu. Ich habe aber bisher die Besonderheiten und Tragweite von Schlicks Thesen zur Philosophiegeschichte und Philosophiehistorie, die er Mitte der 30er Jahre vertrat, klarzumachen versucht. In einem Notizbucheintrag aus dem Jahr 1935 findet sich folgender Eintrag: 28

Moritz Schlick an Franz Erhardt, 20. Juli 1910.

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Hitler: Vernichtung der als Minderwertig Betrachteten Schweitzer[:] Heil[un]g und Tröstung der Neger. Dies ist Heroismus[.] Das letztere fühlen wir als das Bessere, weil es die Leiden der Gegenwart vermindert. Aristoteles[:] ὁ φρόνιμος τὸ ἄλυπον διώκει οὖ τὸ ἡδὺ.29

Zunächst das Offensichtliche: Schlick schrieb das Zitat 1935 immer noch Aristoteles zu. Dabei hatte er in der Zwischenzeit durch eine Übung im Sommersemester 1916 und eine eigene Vorlesung im Sommersemester 1919 Gelegenheit gehabt, sich eingehender mit Schopenhauer zu beschäftigen. Im Zuge der Vorbereitung der Vorlesung studierte er u. a. Kuno Fischers Schopenhauers Leben, Werke und Lehre. Fischer äußert sich in einem Abschnitt durchaus kritisch zur Verlässlichkeit von Schopenhauers Angaben zur antiken Philosophie (Fischer 1908, 467–472). Was das Zitat an dieser Stelle soll, ist mir durch den Beitrag von Matthias Wunsch klargeworden. Ihm zufolge vertrat Schlick in seinem Spätwerk Natur und Kultur ein Programm, das für die Verminderung von Kulturleid argumentiert. In der Lebensweisheit hatte Schlick das Aristoteleszitat für seine eigene Position, dass man eher die Abwesenheit von Leid erstreben soll, herangezogen. Er weitete diese Position nun also auf seine Kulturphilosophie aus, immer noch unter der vermeintlichen Schirmherrschaft von Aristoteles. Damit sind sowohl Sokrates als auch Aristoteles Beispiele dafür, dass bei Schlick auch eine positive Rezeption von Autoren nicht unbedingt mit einer gründlichen Beschäftigung einherging.

4

Mündungsdelta

Bevor man mit der wahren Philosophiehistorie beginnen kann, braucht man laut Schlick erst die wahre Philosophie, den Empirismus. Schlick fiel selbst K2 zum Opfer und hatte keine befriedigende Antwort auf K1.2. Das ist das Ergebnis dieses Beitrags. Schlick war mit der erstgenannten Einstellung sicherlich nicht alleine, wie ja auch die Vorrede bezeugt. Seine dort vorgetragenen Kritiken halte ich für berechtigt. Das

29

Schlick, A.192, Bl. 4. Hervorhebungen im Original durch Unterstreichungen. Die Akzente wurden so übernommen, wie Schlick sie schrieb. Sie weichen von den 1908 von Schlick verwendeten, die mit dem Original von Aristoteles übereinstimmen, ab. Die Datierung ergibt sich daraus, dass sich einige Seiten weiter das Datum „10. III. 35“ vermerkt ist (Schlick, A.192, Bl. 12). Die unter dieser Inventarnummer archivierten Notizen sind allerdings nicht chronologisch geordnet. Trotzdem sind alle darin auffindbaren Datierungen aus den 30er Jahren, es handelt sich also mit großer Wahrscheinlichkeit um eine späte Notiz von Schlick.

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Hineinlesen der eigenen Position in die Philosophiegeschichte und der selektive Umgang mit Quellen, um die eigene Position zu stärken ist weder ein spezifisches Problem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einer bestimmten philosophischen Richtung. Dass Schlick so vorgeht, schmälert dennoch der Glaubwürdigkeit seiner nicht gerade kleinen Thesen zur Philosophiehistorie und Philosophiegeschichte, worin ich das größte Problem für ihn selbst sehe. Dass dieses Problem hier so eindrücklich auftritt, kann an den besprochenen Beispielen liegen. In Anbetracht von Schlicks sonstiger, durchaus differenzierter und gründlicher Auseinandersetzung mit philosophischer Literatur wäre es überraschend, wenn sich seine gesamte Rezeption der antiken Philosophie als derart problembelastet erwiese. Um die Frage nach den Quellen eines konsequenten Empiristen genauer zu beantworten, muss man auch genauer auf Schlicks spätere Philosophie eingehen, als es in diesem Rahmen möglich war. In der Vorrede sprach Schlick davon, dass die Träger der wissenschaftlichen Weltauffassung ihre Verwandtschaft über die Zeit hinweg „fühlen“ (Schlick, MSGA II/1.2, 75). Julia Franke-Reddig weist in ihrem Beitrag für diesen Band auf die Rolle von Intuition und Erraten insbesondere für Schlicks späte Philosophie hin. Es ist möglich, dass dies auch für Schlicks Umgang mit der Philosophiehistorie und Philosophiegeschichte berücksichtigt werden muss. Im Kontext dieser späteren Philosophie kann man auch besser der Frage nachgehen, ob es einen Zusammenhang zwischen Schlicks Hinwendung zur Geschichte der Philosophie und der Entwicklung seines Denkens gibt. Sollte sich ein solcher Zusammenhang ergeben – und ich denke, dass dies der Fall ist – würde es bedeuten, dass eine Berücksichtigung von Schlicks Rezeption der Geschichte der Philosophie auch hilfreich für das Verstehen seiner späten systematischen Entwicklung sein kann. Darüber hinaus kann sie vielleicht eine neue Perspektive auf den Wiener Kreis – welchen Zeitabschnitt und Personenkreis man auch immer mit diesem Namen bezeichnen will – und seine Einstellung zu historischen und kulturellen Fragen bieten. Dass diese bisher wenig beachtet wurden, ist von verschiedener Seite bemerkt worden (Haller 1986, 90 und Anm. 3; Uebel 2019). Dieser Umstand ist z. T. wohl dem Veröffentlichungsstand einiger Schriften,30 aber auch den Darstellungen von Personen im und um den Wiener Kreis geschuldet. In einem Interview, das Henk Mulder

30

So sind Schlicks Vorlesungen zum Begriff und zur Geschichte der Philosophie noch wenig bekannt, weil mit ihrer Erschließung erst in den letzten Jahren begonnen wurde. Das gilt allerdings nicht für die Vorlesung Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang aus dem WS 1933/34, die Henk Mulder bereits 1986 veröffentlichte (Schlick 1986), und auch nicht für einige Aufsätze, die im Laufe des Beitrags zitiert wurden, und die bereits in der Moritz Schlick Gesamtausgabe erschienen sind.

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– ein Pionier der Forschung zum Wiener Kreis – mit Victor Kraft – einem Universitätskollegen von Schlick in Wien – 1963 führte, sagte zweiterer ganz rigoros: „Im Wiener Kreis wurden aber historische Themen niemals besprochen.“31 Diese Aussage muss nicht unzutreffend sein. Aber das Interesse von Mitgliedern des Wiener Kreises an der Philosophiegeschichte außerhalb der Gesprächsrunden in der Boltzmanngasse 5, das in den Beiträgen dieses Bandes dokumentiert wird, und der Einfluss auf deren philosophische Tätigkeit ist hier am Beispiel von Moritz Schlick hoffentlich deutlich geworden – und ebenso, dass noch viele Fragen offen sind.

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Schlick, Z.1, Bl. 62. Man müsste in Bezug auf das Interview genauer sagen, dass Mulder sich mit dem schon betagten Victor Kraft und dem jüngeren Bela Juhos traf und deren Aussagen selbst zusammenfasste. Diese Zusammenfassung schickte er sowohl Kraft als auch Juhos. Die hier zitierte Aussage wurde von beiden nicht dementiert. Mulder (1985) hat selbst eine überblicksartige Darstellung seiner Arbeit verfasst, die zur Entstehung des Wiener Kreis Archivs führten.

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Ad fontes. Zu den Quellen des konsequenten Empiristen

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Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 085/C.29-1 (=C.29-1). In: Nord-Hollands-Archiv Haarlem. Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 168/A.159 (=A.159). In: Nord-Hollands-Archiv Haarlem. Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 179/A.191 (=A.191). In: Nord-Hollands-Archiv Haarlem. Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 179/A.192 (=A.192). In: Nord-Hollands-Archiv Haarlem. Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 430/A.274 (=A.274). In: Nord-Hollands-Archiv Haarlem. Schlick, Moritz: Inv.-Nr. 590/Z.1 (=Z.1). Bisher nicht im Nachlassverzeichnis des Nord-Hollands-Archiv erfasst. Sellmer, Sven: Argumentationsstrukturen bei Parmenides. Zur Methode des Lehrgedichts und ihren Grundlagen. Frankfurt a.M. 1998. Stadler, Friedrich: Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Positivismus im Kontext. Wien 22015. Stöltzner, Michael: Eine Enzyklopädie für das Kaiserreich. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (2008), 11–28. Uebel, Thomas: Vienna Circle (2019), (https://plato.stanford.edu/archives/spr2019/entries/vienna-circle) (Abgerufen 23.07.2021). Ziegenfuß, Werner/Jung, Gertrud (Hg.): Philosophen-Lexikon: Handwörterbuch der Philosophie nach Personen. Bd. 2. Berlin 1950.

Antihistorismus im Wiener Kreis Martin Lemke

Ich ediere derzeit die Schriften von Moritz Schlick zur Geschichte der Philosophie für die historisch-kritische Gesamtausgabe (Schlick, MSGA). Zuerst dachte ich, es handele sich dabei um ein Nebenthema, mit dem sich Schlick durch seine Lehrverpflichtungen auseinandersetzen musste. Es zeigte sich bald, dass das falsch war. In den 1930er Jahren plante er eine große Monografie dazu.1 Wer sich mit Philosophiegeschichte befasst, steht vor einigen Fragen: Gibt es überhaupt die Philosophie – mit bestimmtem Artikel –, oder ist Philosophie heute etwas ganz anderes, als sie für Anselm von Canterbury oder Platon war? Müssen wir nicht eher von Philosophien sprechen? Ist die Philosophiegeschichte womöglich nur ein Chaos von zufällig aufeinanderfolgenden Theorien oder gibt es eine gewisse Ordnung? Wenn es Ordnung gibt, können wir dann ungefähr vorhersagen, was die Philosophie der Zukunft bringt? Gibt es eigentlich auch so etwas wie Fortschritt in der Philosophie oder verfällt sie immer mehr? Und wo stehen wir selbst in der Philosophie? Diese Fragen wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts und werden noch heute diskutiert. Die Debatte wird gelegentlich „Historismusstreit“ genannt und die Beiträge dazu füllen viele Regalmeter in deutschen Universitätsbibliotheken. Mittlerweile wird sogar der Historismusstreit historisch aufgearbeitet. Die aktive Phase des Wiener Kreises fällt mitten in diesen Streit. Dennoch lässt sich der Forschungsstand in Bezug auf den Wiener Kreis immer noch mit zwei Sätzen zusammenfassen: Much confusion exists concerning the Vienna Circle and history, that is, both concerning the Vienna Circle’s attitude towards the history of philosophy and science and concerning its own place in that history. As more has been learnt about the history of the Vienna Circle itself – the development and variety of its doctrines as well as its own prehistory as a philosophical forum – this confusion can be addressed more adequately. (Uebel 2020)

1

Siehe dazu die Einleitung in MSGA II/5.2a und den Aufsatz von Konstantin Leschke in diesem Band. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_9

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Martin Lemke

Ich kann diese Forschungslücke in diesem Aufsatz nicht vollständig füllen. Deswegen werde ich mich mehrfach beschränken müssen. Erstens will ich mich nur an Texte des Kreises zu methodologischen Fragen zur Philosophiegeschichte halten. Die philosophiehistorischen Arbeiten von Mitgliedern des Kreises spare ich aus.2 Zweitens werde ich mich vor allem an drei Personen halten: Heinrich Gomperz, Heinrich Neider und Moritz Schlick. Drittens stelle ich auch den Historismusstreit außerhalb des Kreises gerade eben so weit dar, dass verständlich wird, worauf die drei reagiert haben.

1

Die Frage des Verstehens

Die Historiografen der Antike haben sich zwar mit der Geschichte befasst, aber sie haben sie nicht in Epochen eingeteilt und Kulturen zugeordnet. Auch die Philosophen des Mittelalters zogen keine Epochengrenze zwischen sich und der Antike. Das ist bemerkenswert, weil die Geburt Jesu – immerhin der Sohn Gottes – eine naheliegende Wasserscheide zwischen Ihnen und Aristoteles, Platon, Epikur usw. war. Die Scholastiker des Mittelalters haben von Platon oder Aristoteles trotzdem stets im Präsenz geredet und in mittelalterlichen Buchmalereien sind antike Philosophen nach der aktuellsten mittelalterlichen Mode gekleidet. In der Renaissance begann sich das zu ändern. In Raphaels Gemälde „Die Schule von Athen“ sind wenigstens die Gewänder historisierend. Die Geschichte in Epochen aufzuteilen wird aber erst in der Aufklärung üblich. Johann Jacob Brucker trennte beispielsweise in den sieben Bänden seiner Kurtzen Fragen aus der Philosophischen Historie (1731–1736) die „Kindheit der Philosophie bei den Griechen“ von ihrem „christlichen Mannesalter“. Brucker begründete seine Einteilung nicht und vielleicht hat er sie auch mit einem Augenzwinkern gemeint. Trotzdem macht sie einige Fragen deutlich: Ein Mensch bleibt derselbe Mensch, auch wenn er sich von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter oft so sehr verändert, dass man ihn nicht wiedererkennt. Ist es möglich festzustellen, ob Philosophie im Lauf ihrer Geschichte eine und dieselbe bleibt? Menschen werden klüger und stärker, wenn sie erwachsen werden. Dann werden sie Greise und verfallen wieder. Ist es möglich festzustellen, ob die Philosophie eines Zeitalters ein Vor- oder Rückschritt gegenüber der eines anderen ist?

2

Siehe dazu jedoch die Aufsätze von Eva-Maria Engelen, Friederike Peters und Konstantin Leschke in diesem Band.

Antihistorismus im Wiener Kreis

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Auf die Kindheit folgt immer das Erwachsenenalter. Es kann nicht umgekehrt sein. Ist es möglich, gesetzmäßige Abfolgen in der Geschichte der Philosophie erkennen? Ein Erwachsener kann wissen, dass er ein Greis und dereinst auch sterben wird, auch wenn er noch etwas Zeit bis dahin hat. Ist es möglich, aus der Philosophiegeschichte vorherzusagen, welche Philosophie uns bevorsteht? Ein Erwachsener hat oft Probleme, das Verhalten von Kindern zu verstehen, das gilt erst recht für die Adoleszenz. Ist es den Philosophen einer Epoche überhaupt möglich, die Philosophie einer früheren Epoche zu verstehen? Es scheint, als ob wir alle anderen Fragen verneinen müssen, wenn wir die fünfte verneinen. Denn wenn wir die Philosophie Platons gar nicht verstehen, können wir nicht entscheiden, ob er am selben Projekt arbeitete wie Anselm von Canterbury später und wir heute. Wenn wir die Philosophie Immanuel Kants und Anselm von Canterburys nicht verstehen können, können wir auch nicht entscheiden, ob Kant einen Fortschritt gegenüber Anselm machte, zumal dann auch Kant Anselm gar nicht richtig verstanden hat. Es scheint auch, als ob wir Gesetzmäßigkeiten im Verlauf der Philosophiegeschichte nicht finden können, wenn wir die Philosophien der Vergangenheit nicht verstehen. Wenn wir allerdings keine Gesetze finden, dann können wir auch keine Vorhersagen über die Philosophie der Zukunft machen.

2

Absolute Vernunft

Schlick hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegels Naturphilosophie oft, scharf und heftig diskutiert (Schlick, MSGA II/2.1, 103–115). Dennoch verwendete Schlick dessen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gelegentlich und ganz unkritisch, um seine eigene Vorlesung zu dem Thema auszuarbeiten.3 Wir werden noch sehen, dass beide bei der Philosophiegeschichte gar nicht weit auseinander lagen. Die Geschichte der Naturwissenschaften war für Hegel kein Problem, weil diese Wissen anhäufen: Diese Wissenschaften schreiten durch eine Juxtaposition fort. Es berichtigt sich wohl manches im Fortschritte der Mineralogie, Botanik usf. an dem Vorhergehenden; aber der allergrößte Teil bleibt bestehen und bereichert sich ohne Veränderung durch das Neuhinzukommende. Bei einer Wissenschaft wie der Mathematik hat die Geschichte,

3

Schlick, A.13, Bl. 25.

192

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was den Inhalt betrifft, vornehmlich nur das erfreuliche Geschäft, Erweiterungen zu erzählen, und die Elementargeometrie z. B. kann in dem Umfang, welchen Euklid dargestellt hat, von da an als für geschichtslos geworden angesehen werden. (Hegel, TWA 18, 27)

Die Religion hat wie die Geometrie keine Geschichte, weil sie auf ewigen Wahrheiten beruht: Der Inhalt des Christentums aber, der die Wahrheit ist, ist als solcher unverändert geblieben und hat darum keine oder so gut als keine Geschichte weiter. Bei der Religion fällt daher der berührte Widerstreit nach der Grundbestimmung, wodurch sie Christentum ist, hinweg. Die Verirrungen aber und Zusätze machen keine Schwierigkeit; sie sind ein Veränderliches und ihrer Natur nach ganz ein Geschichtliches. (Hegel, TWA 18, 27)

Die Geschichte der Philosophie ist dagegen eine scheinbar paradoxe Kreuzung aus Religions- und Wissenschaftsgeschichte: Was die Geschichte der Philosophie uns darstellt, ist die Reihe der edlen Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis erarbeitet haben. Die Begebenheiten und Handlungen dieser Geschichte sind deswegen zugleich von der Art, daß in deren Inhalt und Gehalt nicht sowohl die Persönlichkeit und der individuelle Charakter eingeht – [...] –, als hier vielmehr die Hervorbringungen um so vortrefflicher sind, je weniger auf das besondere Individuum die Zurechnung und das Verdienst fällt, je mehr sie dagegen dem freien Denken, dem allgemeinen Charakter des Menschen als Menschen angehören, je mehr dies eigentümlichkeitslose Denken selbst das produzierende Subjekt ist. (Hegel, TWA 18, 20)

Ein Philosoph ist für Hegel desto mehr Philosoph, je mehr er sich zum Sprachrohr der Vernunft macht und je weniger für seine Zeit Eigentümliches in seiner Philosophie vorkommt. Die Vernunft hängt für Hegel also gar nicht von der Geschichte ab und verändert sich mit ihr, sondern ist absolut, die Geschichte erfolgt nach den Gesetzen dieser Vernunft. Diese Vernunft bleibt sich immer gleich und hat darum keine Geschichte. Andererseits wird Philosophie aber von Menschen hervorgebracht, die unter wechselnden Umständen lebten. Geschichte der Philosophie ist also für Hegel genau genommen die Geschichte der Entdeckung der Wahrheiten der absoluten Vernunft, aber nicht die Geschichte der Vernunft selbst. Dennoch gehorcht auch die Geschichte den Gesetzen der Vernunft: Den Glauben und Gedanken muss man zur Geschichte bringen, dass die Welt des Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ist. Daß in den Begebenheiten der Völker

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ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die göttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft. (Hegel, VG, 29)

Diese Voraussetzung ist aber keine Voraussetzung der Philosophie, sondern im Sinne eines Dogmas, sondern „in ihr wird [sie] durch spekulative Erkenntnis erwiesen“ (Hegel, VG, 28). Hegel konnte so die fünf Fragen aus dem vorigen Abschnitt bejahen. Die Philosophie bleibt immer dieselbe, denn ihr Projekt ist die Erforschung der absoluten Vernunft. Fortschrittliche Philosophen lösen sich von den Umständen, unter denen sie leben, und nähern sich dieser Vernunft an, indem sie ihre Gesetze nachweisen. Die Philosophiegeschichte findet wie die ganze Geschichte nach den Gesetzen dieser Vernunft statt. Und wenn wir diese Vernunft kennen, können wir auch die Geschichte vorhersagen und verstehen. Dass es so eine absolute Vernunft gibt, ist aber eine These, die man bestreiten kann und sie wurde schon zu Hegels Zeiten bestritten. Die Geschichte der Philosophie wird also selbst zum philosophischen Problem.

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Historismus

Carl Friedrich Bachmann, der 1835 auch den Anti-Hegel verfasste, sah dieses Problem. Am Anfang seiner Vorlesung Ueber Geschichte der Philosophie von 1820 wunderte er sich darüber, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft keine einzige klare Definition von „Vernunft“ gab und fragte sich woran das liegt: Der historische Standpunkt, und ohne ihn kann eine Beurtheilung eines Systems nicht gelingen, gibt darüber Aufschluss. Jedes System ist das Product der Freiheit und des Gedrängtseins durch die äußern Verhältnisse, welche dessen Erscheinung fordern. So muß man bei Kant immer nur zunächst an die Leibnitz-Wolfische Schule, so wie an an David Hume und Locke denken. In dem nun, was Vernunft sei, war Kant wunderbar befangen in der Philosophie seiner Zeit. (Bachmann 1820, 18)

Vernunft hat nach Bachmann und im Gegensatz zu Hegel sehr wohl eine Geschichte und zwar obwohl selbst Kant ihre Gesetze für a priori, notwendig und unveränderlich hielt. Sie ist nicht absolut, sondern der Ausdruck der Zeit, zu der Kant lebte. Es gibt keine klare Definition von „Historismus“. Wir wollen darunter Positionen verstehen, die eine absolute Vernunft oder einen anderen absoluten Aussichtspunkt, von dem aus die Geschichte überblickt werden kann, ablehnen. Bachmann sah das Problem, das sich aus solchen Positionen ergibt:

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Martin Lemke

Eine neue Schwierigkeit drängt sich unserer Untersuchung entgegen, daß die Klärung der Philosophie und ihrer Geschichte selbst befangen sind im Gebiete ihrer Geschichte. […] Versteht doch oft ein Zeitalter sich selbst nicht, viel weniger die Vergangenheit. Und jemehr ein Einzelner die Vergangenheit noch seinem individuellen Gesichtspunkte vorstellt, je treuer sich in ihm die Tendenzen, die Schwächen wie die Löblichkeiten seines Zeitalters abspiegeln, desto mehr ist zu fürchten, daß er die Vorwelt entstellt wieder gibt, und ganze Reihen von Geschlechtern, wenn nicht nach einem ungültigen, doch wenigstens noch einem streitigem Maßstabe abschätzt. (Bachmann 1820, 5)

Da die Tendenzen, Schwächen und Löblichkeiten von Kants Zeitalter anders waren, als sie heute sind, können wir Kant zumindest nicht so verstehen, wie er von seinen Zeitgenossen verstanden wurde. Die Frage des Verstehens wurde 1808 auch von Friedrich Ast in seinen Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (179–185) aufgeworfen. Er sah darin aber ein logisches Problem: Angenommen, zu einer Epoche gibt eine Reihe von Quellen. Alles, was wir von der Epoche wissen, wissen wir aus diesen Quellen. Das Problem ist nun, dass wir die Epoche mit ihren Lebensumständen, der Sprache, dem damals bekannten Wissen von der Welt usw. verstanden haben müssen, um die Quellen verstehen zu können. Aber die Epoche verstehen wir nur, indem wir die Quellen verstehen. Das ist die früheste Beschreibung des später so genannten Hermeneutischen Zirkels: Auch hier tritt der oben bemerkte Zirkel ein, dass nämlich das Einzelne nur durch das Ganze und umgekehrt das Ganze nur durch das Einzelne verstanden werden kann, […]. Auch hier erzeugt sich der Geist nicht durch die Verbindung des Einzelnen, sondern er lebt ursprünglich schon im Einzelnen, und darum ist eben das Einzelne Offenbarung des Gesamtgeistes. (Ast 1808, 185f.)

Der Hermeneutische Zirkel wird zumindest von Gomperz, Neider und Schlick nicht aufgegriffen. Ob er im Wiener Kreis gar kein Thema war, muss weitere Forschung ergeben. Dennoch befassten die drei sich mit dem Verstehen und wie es möglich sein soll.

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Der Berliner Historismus

Wie sehr die Debatte um den Historismus am Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der Öffentlichkeit geführt wurde, illustriert der Babel-Bibel-Streit (Lehmann 1994,

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438).. Im Winter 1902 hielt der Berliner Assyriologe Friedrich Delitzsch vor der Orientgesellschaft der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. einen Vortrag und fasste die damals aktuellen philologischen und archäologischen Forschungsergebnisse über das Verhältnis der Bibel zu älteren mesopotamischen Tontafeln zusammen (Delitzsch 1902). Darin zeigte er, dass Teile des Alten Testaments aus noch älteren polytheistischen Texten des Zweistromlandes stammen. Die preußischen Konservativen waren entrüstet. Noch im Vortragssaal wurde Delitzsch sogar physisch bedrängt. Der Kommentar aus dem Evangelischen Anzeiger von Berlin vom 30. Mai 1902 ist eines von vielen Beispielen für die Tonlage der öffentlichen Debatte: Was wäre das für ein Glaube, der durch eine neu aufgefundene Inschrift, einen Denkstein, ein Brieffragment bekräftigt oder entkräftet werden könnte! (Lehmann 1994, 60)

Die Archäologie und Philologie stellte damals genau das in Frage, was Hegel noch angenommen hatte, nämlich dass es ewige religiöse Wahrheiten gibt. Die empirischen Befunde der Altertumswissenschaften stützten also die historistische Position. Schlick studierte genau zu dieser Zeit Philosophie in Berlin, daher konnte ihm der Streit kaum entgangen sein. Eine Bemerkung dazu ist aber leider nicht überliefert. Mit dem Berliner Historismus ist Schlick aber spätestens in Kontakt gekommen als er Wilhelm Diltheys Vorlesung über Allgemeine Geschichte der Philosophie hörte (Schlick, C.16). Ganz am Anfang erklärte Dilthey dort: Ihr [der Vorlesung] Standpunkt ist der einer Erfahrungsphilosophie, welche auch die Tatsachen der inneren Erfahrung unbefangen zu gewahren und den Ergebnissen des Studiums der Aussenwelt gegenüber zu schützen strebt. Sie erklären daher im Gegensatz gegen Hegel die Entwicklung der Philosophie nicht aus den Beziehungen der Begriffe aufeinander im abstrakten Denken, sondern aus den Veränderungen in dem ganzen Menschen nach seiner vollen Lebendigkeit und Wirklichkeit. Sonach suchen sie den Kausalzusammenhang zu erkennen, in welchem die philosophischen Systeme aus dem Ganzen der Kultur entstanden sind und auf dasselbe zurückgewirkt haben. (Dilthey 1908, 2)

In die Vorrede seiner Einleitung in die Geisteswissenschaft sprach Dilthey ebenfalls von einer „rein empirischen Betrachtungsweise“ in der historistischen Schule.4 Für uns ist nur entscheidend, dass der Empirismus den Historismus nahe zu legen scheint. Denn für einen Empiristen muss sich auch ein Philosophiehistoriker an das halten, was er mit Erfahrung untersuchen kann. Das sind die Quellen und sonst nichts. Wenn 4

Dilthey 1883, XVI. Zu den Details siehe Damböck 2017, 73–114.

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eine Epoche überhaupt verstanden werden kann, dann muss das für einen Empiristen mit diesen Quellen und ohne absolute Vernunft wie bei Hegel gelingen. Dazu passt auch, dass Dilthey in den letzten zwei Dritteln seiner Einleitung in die Geisteswissenschaft zu zeigen versuchte, dass auch die Metaphysik keine Grundlage der Geisteswissenschaft und damit der Philosophiegeschichte sein kann: Eine Metaphysik, welche zu verzichten weiß und nur die letzten Begriffe, zu welchen die Erfahrungswissenschaften gelangen, zu einem vorstellbaren Ganzen verknüpfen will, kann weder die Relativität des Erfahrungskreises, den diese Begriffe darstellen, noch die des Standorts und der Verfassung der Intelligenz, welche die Erfahrungen zu einem Ganzen vereinigt, jemals überwinden. Indem wir dies erweisen, zeigt sich von zwei neuen Seiten: Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich. (Dilthey 1883, 403)

Damit ergab sich die Frage, wie die Philosophen der Vergangenheit allein mit Hilfe der Erfahrung ohne zeitlose Vernunft oder Metaphysik verstanden werden können. Dilthey sah das Problem sehr klar: Aus diesen Prämissen ergibt sich die Aufgabe, eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu entwickeln, alsdann das in einer solchen geschaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich ist, sowie das Verhältnis ihrer Wahrheiten zueinander zu bestimmen. Die Lösung dieser Aufgabe könnte als Kritik der historischen Vernunft, d. h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen, bezeichnet werden. (Dilthey 1883, 116)

Leider beschrieb Dilthey die historische Vernunft nicht genau. Er scheint sie aber als eine Art empirischer Methodenkanon gedacht zu haben. Beispielsweise empfahl Dilthey die großen Textmengen, die nach der Erfindung des Buchdruckes entstanden waren, mit statistischen Mitteln zu untersuchen (Dilthey 1883, 115), auch in der Psychologie sah er geeignete Methoden, die Menschen der Vergangenheit zu verstehen (Dilthey 1883, 79). Der Methodenkanon der historischen Vernunft dient dem Verstehen, der Methodenkanon der Naturwissenschaft dem Erklären. Beides beruht auf Erfahrung, allerdings unterschied Dilthey zwei Arten davon, eine innere und eine äußere. Erstere ist Gegenstand der Geistes-, letztere der Naturwissenschaften: Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, [...]. Nun aber zeigte sich mir weiter, daß die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften eben von diesem Standpunkte aus eine Begründung findet, wie die historische Schule sie bedarf. Denn auf ihm erweist sich unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, [...], dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins. Die Analysis dieser Tatsachen ist das Zentrum der Geisteswissenschaften,

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und so verbleibt, dem Geiste der historischen Schule entsprechend, die Erkenntnis der Prinzipien der geistigen Welt in dem Bereich dieser selber, und die Geisteswissenschaften bilden ein in sich selbständiges System. (Dilthey 1883, XVIIf.)

Auf Viktor Kraft werden wir zwar nicht mehr zu sprechen kommen. Aber auch er ist ein Mitglied des Wiener Kreises, das durch diese Berliner Schule ging, nachdem er 1903 in Wien promoviert wurde. Er hatte vor allem bei Simmel studiert (Stadler 2015, 454). Der behauptete genau wie Dilthey eine scharfe Trennung von Geistesund Naturwissenschaften, weil die einen es mit inneren und die anderen es mit äußeren Tatsachen also verschiedenen Gegenstandsbereichen zu tun haben. Simmel betonte aber noch mehr als Dilthey die Rolle der Psychologie für das Verstehen: Aller Verkehr der Menschen ruht in jedem Augenblick auf der Voraussetzung, daß gewissen physischen Bewegungen jedes Individuums – Gesten, Mienen, Lauten – seelische Vorgänge intellektueller, gefühls- oder willensmäßiger Art zu Grunde liegen. Wie wir das Innere nur nach Analogie des Äußeren verstehen, was die Sprache schon andeutet wenn sie alle seelischen Vorgänge durch Worte zu bezeichnen pflegt, die aus der Welt der äußeren Anschauung genommen sind, so verstehen wir andrerseits das äußere der Menschen nur nach untergelegten Innerlichkeiten. (Simmel 1905, 6)

Heinrich Gomperz studierte in Berlin Kirchengeschichte bei Adolf von Harnack (Simmel 1905, 531). In seiner Dogmengeschichte sah Harnack genau dasselbe Problem, das Hegel für die Philosophie sah: Dazu stellt der universale und überweltliche Charakter der christlichen Religion ihren Bekennern die Aufgabe, einen Ausdruck für sie zu gewinnen, der von den Schwankungen der Natur- und Geschichtserkenntniss nicht betroffen wird, resp. sich gegen jede mögliche Erkenntniss zu behaupten vermag. (Harnack 1893, 1)

Einerseits sollen die göttlichen Wahrheiten ewig geltende Dogmen sein, andererseits sind sie historisch entstanden. Harnack wollte aber dennoch an einem Kern festhalten, der das Christentum ausmacht: Indem die Dogmengeschichte den Prozess der Entstehung und Entwickelung des Dogmas darlegt, bietet sie das geeignetste Mittel, um die Kirche von dem dogmatischen Christentum zu befreien und den unaufhaltsamen Prozess der Emanzipation, der mit Augustin begonnen hat, zu beschleunigen. Aber sie zeugt auch von der Einheit des christlichen Glaubens im Laufe seiner Geschichte, sofern sie nachweist, dass die centrale Bedeutung der Person Jesu Christi und die Grundgedanken des Evangeliums niemals verloren gegangen sind und allen Anläufen getrotzt haben. (Harnack 1893, 5)

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Doch was sind die „Grundgedanken“ der Evangelien, wie sind sie ausgezeichnet? Was ist, wenn einige davon vielleicht aus dem heidnischen Neoplatonismus stammen und älter sind? Dann läge die Sache für das Neue Testament genau wie beim BabelBibel-Streit. Halten wir fest: Der Berliner Historismus lehnte wegen einer empiristischen Grundhaltung Hegels absolute Vernunft ebenso wie die Metaphysik als Standpunkt über der Philosophiegeschichte ab. An ihre Stelle sollte eine historische Vernunft treten, die das Verstehen der Geschichte aus der zu erklärenden Zeit heraus ermöglicht. Dieses Verstehen beruht auf innerer Erfahrung und führt darum zu einer anderen Art von Erkenntnis als in die Methoden der Naturwissenschaften, die es mit der äußeren Erfahrung zu tun haben.

5

Wiener Antihistoristen

Nicht nur Schlick, Kraft und Gomperz haben in Berlin studiert. Auch Otto Neurath wurde in Berlin vom Althistoriker Eduard Meyer und dem Nationalökonomen Gustav von Schmoller mit einer Arbeit über Römische Wirtschafts- und Sozialgeschichte promoviert.5 Schmoller gehörte zum historistischen Flügel der Nationalökonomie, der sich mit dem theoretischen Flügel einen sehr scharfen Methodenstreit lieferte. Der wichtigste Vertreter des theoretischen Flügels war der Wiener Nationalökonom Carl Menger, der Vater des Mathematikers und Philosophen Karl Menger, der ebenfalls ein Mitglied des Wiener Kreises war. C. Menger veröffentlichte 1883 Die Methodologie der Staats- und Socialwissenschaften. Darin machte er folgende Dreiteilung: Wir werden somit auf dem Gebiete der Volkswirthschaft für unsere speciellen Zwecke drei Gruppen von Wissenschaften zu unterscheiden haben: erstens die historischen Wissenschaften (die Geschichte und die Statistik) der Volkswirthschaft, welche das individuelle Wesen und den individuellen Zusammenhang, zweitens die theoretische Nationalökonomie, welche das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang (die Gesetze) der volkswirthschaftlichen Erscheinungen, endlich drittens die praktischen Wissenschaften von der Volkswirthschaft, welche die Grundsätze zum zweckmässigen (der Verschiedenheit der Verhältnisse angemessenen) Handeln auf dem Gebiete der Volkswirthschaft zu erforschen und darzustellen haben (die Volkswirthschaftspolitik und die Finanzwissenschaft). (Menger 1883, 9)

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Sandner 2014, 181; Stadler 2015, 482.

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Die theoretische Nationalökonomie soll also Gesetze in der Volkswirtschaft bestimmen und die praktische Volkswirtschaft das volkswirtschaftliche Handeln bewerten. Die Frage von Gesetzen und Bewertungen ergab sich auch in der Philosophiegeschichte, sie ergibt sich auch in der Kunstgeschichte und allen anderen historischen Disziplinen. Deswegen ist der Historismus auch kein rein philosophisches Phänomen. Alle Geisteswissenschaften hatten ihren Historismusstreit. Aber zurück zu C. Mengers Methodenbuch. Aus Berlin kam heftige Kritik. Gustav von Schmoller schrieb einen Aufsatz über Die Schriften von K. Menger und W. Dilthey zur Methodologie der Staats-und Sozialwissenschaften. Mit Dilthey ging Schmoller gnädig um, mit Menger nicht: In dem Mittelpunkt der Erörterungen steht auch für Dilthey das Verhältnis der geschichtlichen Betrachtung zur Theorie. […] Erst die historische Schule vollbrachte die Emanzipation, bewies die Unwahrheit jenes ganzen Systems von Ideen, das wir im Naturrecht, der natürlichen Religion, der abstrakten Staatslehre und abstrakten politischen Ökonomie vor uns haben. Von ihr ist ein Strom neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwissenschaften zugeflossen. (Schmoller 1883, 251) Die wesentliche Ursache und Notwendigkeit der historischen Schule freilich kann Menger gar nicht verstehen, weil ihm dazu das Organ fehlt: sie repräsentiert die Rückkehr zur wissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit anstelle einer Anzahl abstrakter Nebelbilder, denen jede Realität mangelt. Menger sieht auch nicht, daß alle wichtigeren wirtschaftlichen Erscheinungen räumlich und zeitlich so umfassend sind, daß sie nur einer kollektivistischen Betrachtung, wie sie die Geschichte und die Statistik anstellen, zugänglich sind. (Schmoller 1883, 247)

Menger antwortete 1884 mit einer Streitschrift über Die Irrthümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie. Er lehnte das historische Sammeln von Daten nicht ab, sah darin aber nur eine Hilfswissenschaft: Indem unsere historischen, zumal unsere neu- historischen Volkswirthe sich nahezu ausschliesslich historischen Studien hingeben, verfallen sie demnach nicht nur in die Einseitigkeit, an Stelle jener Wissenschaft, deren Bearbeitung ihnen zunächst obliegt, eine Hilfswissenschaft derselben zu setzen, [...]; ihre Einseitigkeit ist vielmehr eine ungleich grössere. Sie beschäftigen sich nur mit Einer von den zahlreichen Hilfswissenschaften der politischen Oekonomie und zwar noch überdies mit einer solchen, welche uns nur einen Theil des zur Feststellung der Wahrheiten dieser letzteren nöthigen empirischen Materials darzubieten vermag, während sie doch die politische Oekonomie selbst zu bearbeiten wähnen. (Menger 1884, 46)

Die Debatte wurde scharf weitergeführt und führte zur Emanzipation der Österreichischen Grenznutzenschule der Nationalökonomie, die mit Gottfried von Haberle,

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Oskar Morgenstern, Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek auch während der Zeit des Wiener Kreises bis in die 1930er Jahre hinein aktiv war (Stadler 2015, 5). In den 1930er Jahren verließen nicht nur die Mitglieder des Wiener Kreises, sondern auch die Anhänger der Grenznutzenschule Österreich und fassten oft im angelsächsischen Ausland Fuß. Es gab auch Kontakte zwischen beiden, etwa durch Ludwig von Mises Bruder, Richard von Mises, oder durch Hayek, der Karl Popper förderte usw. (Stadler 2015, 472, 263) Es gibt einen weiteren erwähnenswerten Wiener Vater eines Mitgliedes des Wiener Kreises. Theodor Gomperz war der Vater eben jenes Heinrich Gomperz, der in Berlin bei Harnack studiert hatte. Er hatte in Wien den Lehrstuhl für klassische Philologie inne und veröffentlichte ein dreibändiges Werk über Griechische Denker. Schlick kannte es spätestens ab 1914.6 Am Anfang des ersten Bandes schrieb Th. Gomperz, dass man bei der Darstellung von Philosophiegeschichte zwar rückwärts in der Zeit von den Wirkungen zurück zur Ursache gehen könne, er aber umgekehrt vorgehen wollte und das waren für ihn die Lebensumstände der alten Griechen: Der Vortritt gebührt in unserem Fall, wo es sich um die Anfänge des höheren geistigen Lebens eines Volkes handelt, den Verhältnissen seiner räumlichen Ausbreitung und der Beschaffenheit der Wohnsitze. (Gomperz 1896, 3)

Er begann also bei der Lebenswelt der Griechen und beschrieb Landschaft, Wirtschaft und viele andere Lebensumstände, um von da aus deren Philosophie zu verstehen. Er ging von da aber weiter und bewertete die Philosophie der Griechen auch. Es gibt etliche Belege dafür in den Griechischen Denkern. Ein kleiner Aufsatz von Gomperz über Realismus und klassisches Altertum illustriert das aber für unsere Zwecke noch besser. Es geht dabei nicht um den Realismus in der Philosophie, sondern um die Realschulen. Diese Schulen waren um die Zeit eine neu gegründete Konkurrenz zu den humanistischen Gymnasien und betonten Naturwissenschaft und Technik gegenüber den Geisteswissenschaften. Schlick hatte eine solche Schule in Berlin besucht. Th. Gomperz war kein Gegner dieser Schulen, fragte sich aber, ob dort nicht auch alte Sprachen unterrichtet werden sollten und argumentierte: Die Textkritik und die in ihrem Gefolge einherschreitende Wissenschafts-, Philosophie-, und Kulturgeschichte hat sich den durch Jahrhunderte vernachlässigten Stoffen zugewandt. Und das Fazit ist die neu belebte Einsicht, daß die moderne Wissenschaft ganz und gar auf der antiken beruht, daß auch dasjenige was unserm Zeitalter sein eigentliches Gepräge gibt, was den unbestrittenen Vorzug der europäisch-amerikanischen Welt vor allen anderen Kulturkreisen ausmacht, daß auch die moderne Technik

6

Zu Schlicks Auseinandersetzung mit Vaihinger siehe die Einleitung von MSGA II/5.2.

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im weitesten Sinne des Wortes ein Sprößling der griechischen Wissenschaft ist. (Gomperz 1905, 210)

Th. Gomperz behauptete also, dass die europäisch-amerikanische Kultur über dieselbe Wissenschaft und damit Philosophie verfügte wie die Griechen und diese Kultur deswegen einen Vorzug genießt. Er sah also eine Identität in der Philosophie und bewertete sie auch. Das ist nur möglich, wenn die griechische Wissenschaft mit Hilfe der Textkritik überhaupt verstanden werden kann. Dennoch mischte sich Th. Gomperz nicht offen in die Debatte um das Verstehen und den Historismus ein. Halten wir fest: Mehrere Mitglieder des Wiener Kreises hatten sowohl Berührungen mit der Berliner historistischen Schule als auch mit bereits in Wien vorhandenen antihistoristischen Tendenzen. Empirismus und Metaphysikkritik waren zentrale Positionen der Berliner, die auch im Wiener Kreis später vertreten wurden. Auf den ersten Blick liegt es also nahe, dass der Wiener Kreis sich eher an Berlin orientiert haben könnte. Tatsächlich war das nicht einmal bei Schlick der Fall, der immerhin aus Berlin stammte.

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Moritz Schlick

Wie bereits erwähnt, hatte Schlick bei Dilthey studiert. Er erinnerte sich daran: Wie aber stand es mit den Vorlesungen über Philosophie? Ich habe oft versucht, solche zu hören, aber stets gab ich das Bemühen schon nach wenigen Stunden auf, weil ich immer nur willkürliche unbeweisbare Meinung zu hören glaubte, die mir meist noch ganz unzureichend verschwommen formuliert zu sein schienen. Vergebens suchte ich die absolute Zuverlässigkeit der Erkenntnis, nach der ich lechzte. Nur Diltheys Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie besuchte ich zwar auch unregelmäßig, aber doch mit Genuss [und] Gewinn, denn hier fesselte mich das lichtvolle Gemälde in der Abfolge menschlicher Gedankensystem[e] [und] Weltbilder, welche Dilthey im Zusammenhang mit der Kultur ihrer Zeiten farbig zu schildern wusste. Hier lernte ich viel Tatsächliches [und] erlebte das phil[osophische] Ringen der Menschheit ergriffen mit. Aber eine eigentliche Anleitung zum Philosophieren oder gar eine Einführung in ein bestimmtes System waren diese Vorlesungen nicht, so habe ich im Grunde keinen Lehrer der Philosophie gehabt außer den zufällig gelesenen Klassikern und – der exakten Naturwissenschaft, die eine strenge Lehrmeisterin des Denkens gewesen ist. (Schlick, C.2a, Bl. 7)

1907 hat sich Schlick an der Universität Zürich darum beworben, Geschichte der Philosophie zu lehren, wurde jedoch abgelehnt. 1910 kehrte er zunächst nach Berlin

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zurück und hörte im Sommersemester noch einmal Vorlesungen bei den Diltheys Schülern Frischeisen-Köhler und Spranger. Erster hat 1902 zwei Jahre vor Schlick promoviert. Beide arbeiteten zur selben Zeit an einem Sammelband über Weltanschauung – Philosophie und Religion in Darstellungen, den Frischeisen Köhler herausgab und zu dem Dilthey und Spranger je einen Aufsatz und Frischeisen-Köhler die Vorrede beitrug. Darin behauptete Frischeisen-Köhler genau wie Dilthey einen „unaufhebbaren Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften“ (FrischeisenKöhler 1910, XI) und stellte dann die Leitfrage des Sammelbandes: Heißt das, daß das Ergebnis der Geschichte die Einsicht in die ewige Relativität aller Weltanschauungen sei? Dürfen wir, gerade weil wir historisch zu denken gelernt haben, mit Hinblick auf die Tatsachen der Geschichte noch eine einheitliche, für alle Zeiten und alle Personen verbindliche Weltauffassung fordern? (Frischeisen-Köhler 1910, XIII)

Zum Wintersemester wechselte Schlick nach Rostock und gab seinem ehemaligen Kommilitonen Frischeisen-Köhler in seiner Antrittsvorlesung über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart eine Antwort: Wir wollen und kurz klar machen, worin diese Aufgabe besteht. Es handelt sich bei ihr darum, die Resultate der Einzelwissenschaften so zu bearbeiten und zusammenzufassen, dasz eine geschlossene, harmonisch vollendete Weltanschauung daraus gebildet wird. Metaphysik ist Weltanschauungslehre. […] Ueber die unmittelbare Erfahrung hinausgehende Extrapolationen sind nicht mehr nur zulässig, sondern werden durch die Methoden der Wissenschaft sogar direkt gefordert, und die Metaphysik hat nur nötig, auf den bereits eingeschlagenen Wegen vorsichtig noch ein Stück weiter zu gehen und so die Lücken auszufüllen, fehlende Zusammenhänge herzustellen und dem Weltbilde die Abrundung und Einheitlichkeit zu geben, deren es zu seiner Vollendung bedarf. (Schlick, A.2, Bl. 5)

Schlick betonte also die Einheit der Wissenschaften und nicht ihre Trennung in Geistes- und Naturwissenschaften, verteidigte die Metaphysik und gestand ihr zu über die Erfahrung hinauszugehen. Die Berliner Historisten behauptetet dagegen die Trennung und lehnten Metaphysik ab. Mit der Philosophiegeschichte setzte sich Schlick in Rostock abgesehen von Lehrveranstaltungen zu Spinoza und Kant aber nicht auseinander.7 1921 ergab sich für ihn aber die Aussicht, einen Lehrstuhl in Kiel zu übernehmen. Bei der Berufung dorthin unterstützte ihn vor allem Heinrich Scholz. Er schrieb Schlick Mitte Februar:

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Eine Übersicht von Schlicks philosophiehistorischen Lehrveranstaltungen findet sich im Anhang der Einleitung von MSGA II/5.2.

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Ich glaube, wir passen sehr gut zusammen, und Sie würden gewiß bereit sein, neben Logik und Naturphilosophie auch Geschichte der Philosophie zu lesen, damit ich dieses aufreibende und für einen Selbstdenker schließlich doch sekundäre Kolleg nicht allein zu lesen brauche. [...] Ich selbst lese außer der Geschichte der Philosophie (auf zwei Semester verteilt) Einleitung, Logik, Ethik u. Geschichtsphilosophie, vielleicht auch bald einmal Metaphysik. Bitte lassen Sie mich auch wissen, welche Hauptvorlesungen Sie halten würden.8

Schlicks Antwort auf diese Bitte ist weder in seinem, noch in Scholzens Nachlass, noch im Kieler Universitätsarchiv erhalten.9 Scholzens Antwort vier Tage später legt aber nahe, dass Schlick zwischenzeitlich zugesagt hatte: Ihre Antwort trifft völlig mit meinen Erwartungen zusammen. Ich habe sofort an die Herren Planck, Haupt und Golther geschrieben und werde mich mit allen Kräften für Ihre Nennung an erster Stelle einsetzen.10

Schlick erreichte im Verfahren zunächst nur den zweiten Platz, erfuhr aber im August 1921, dass er berufen werden würde.11 Damit gehörte die von Scholz erbetene Vorlesung über Geschichte der Philosophie zu seinen Dienstpflichten. Das HistorismusProblem gehörte nun zu Schlicks Arbeitsalltag und er hätte ihm nicht einmal ausweichen können, wenn er gewollt hätte. Er musste entscheiden, ob er die Philosophie wie Dilthey in historistischer Manier Epoche für Epoche aus sich selbst heraus erläutern, oder ob er von einem absoluten Standpunkt aus bewerten, vergleichen und eine Entwicklung darstellen wollte. Diltheys Herangehensweise hatte ihn schon im Studium gestört, entsprechend kündigte er seinen Studenten zu Beginn an: Es ist eine verführerische Geisteshaltung, alle philosophischen Systeme, sofern sie nur in sich harmonisch gerundet sind, als gleich wahr zu betrachten – nämlich als verschiedene gleich unzulängliche Symbole einer im Grunde unerreichbaren Wahrheit – eine solche Geisteshaltung erscheint geistreich und reif, aber sie ist nur müde und skeptisch. Da die aufeinanderfolgenden Systeme für sie im Grunde gleich gut sind, wird ihr die Geschichte der Philosophie zu einer Reihe bunter Bilder, die hübsch anzuschaun ist, der aber das wesentlichste für die Geschichte fehlt: die eigentliche Entwicklung, das Höhersteigen nach einer Richtung, der Fortschritt. (Schlick, A.13, Bl. 4)

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Bislang unveröffentlichter Brief von Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16. Februar 1921. Trotzdem herzlichen Dank an Niko Strobach und Jörg Rathjen für die hier leider fruchtlosen aber in anderen Fällen höchst wertvollen Recherchen. 10 Bislang unveröffentlichter Brief von Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 20. Februar 1921. 11 Zu Details des Verfahrens siehe die Einleitung von MSGA II/5.2. 9

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Zur selben Zeit arbeitete Schlick sich zusammen mit Heinrich Scholz in die Logik ein. In seinen Rostocker Vorlesungen sah er in der Logik Russells und Freges noch keinen Fortschritt.12 In der Allgemeinen Erkenntnislehre meinte er sogar, dass der Modus Barbara völlig ausreichend für die Wissenschaft sei (Schlick, MSGA I/1, 326). Schlick und Scholz begannen bei Aristoteles’ Syllogistik und gelangten von dort zum Problem der Subalternation. Diese Regel erlaubt es, vom universellen zum partikulären Urteil überzugehen, also von „Alle A sind B“ zu „Einige A sind B“. von „Kein A ist B“ zu „Einige A sind nicht B“.

Diese Regel ist aber nur dann gültig, wenn der Umfang der Begriffe nicht leer ist. Nehmen wir nämlich an, es gäbe keine As. Dann gibt es – aus Mangel an As – auch keine As, die nicht B sind. Alle As sind also ausnahmslos auch B. Mit der Subalternation würde nun folgen, dass einige As auch B sind. Daraus würde nun folgen, dass es As gibt. Das widerspricht unserer Annahme. Widersprüche folgen nur aus Falschem. Entweder die Subalternation oder, dass A leer ist, ist also falsch. In der Logik Freges und Russells sind Prädikate mit leerem Umfang zugelassen und die Subalternation damit ausgeschlossen. In der von Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert verwendeten Logik waren dagegen leere Begriffe ausgeschlossen und die Subalternation eine zulässige Regel. Schlicks Aufzeichnungen von 1921 brechen mit Fragezeichen gerade an der Stelle ab, an der er diesen Unterschied bemerkte (Schlick, MSGA II/1.3, 242f.). Kant meinte noch, dass die Logik seit Aristoteles keinen Schritt vor oder zurück hat tun müssen (Kant, KrV, B VIII). Schlick und Scholz hätten auch folgern können, was Bachmann für die Vernunft Kants folgerte: Nicht einmal die Logik gilt absolut. Auch sie hat eine Geschichte, obwohl ihre Gesetze den Anspruch erheben, notwendig und unter allen denkbaren Umständen zu gelten. Auch die Logik bietet also keinen absoluten Standpunkt, von dem aus sich Philosophiegeschichte verstehen und beurteilen lässt. Scholz schrieb jedoch: Als Prantl seine Geschichte der Logik schrieb [1855–1870], gab es die moderne formale Logik noch nicht, über die wir heute, unter der Form der Logistik, verfügen [Freges Begriffsschrift erschien 1879]. Es gab also noch keinen zuverlässigen Standort, auf welchen diese Geschichte bezogen und von dem aus sie überblickt werden konnte; denn was die formale Logik eigentlich ist, wissen wir erst, seit die Logistik 12

Schlicks Entwicklung in Bezug auf die Logik Russels und Freges findet sich in der Einleitung von MSGA II/1.3. Die entsprechenden Schriften finden sich im selben Band.

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uns das begriffliche Rüstzeug für die Beantwortung der Frage geliefert hat. (Scholz 1931, V)

Die Stelle stammt aus Scholzens Abriss der Geschichte der Logik von 1931. Aber schon im Sommersemester 1923 hatte er eine Vorlesung über die Geschichte der Logik im Zusammenhang der allgemeinen Geistesgeschichte gehalten.13 Das Manuskript – wenn denn eines erhalten ist – dürfte in Münster liegen, und seine Auswertung ist eines der vielen Forschungsdesiderate, die dieser Aufsatz offen lassen muss.14 Die Rolle von Scholz für den Wiener Kreis dürfte ohnehin unterschätzt sein, denn er unterhielt nicht nur mit Schlick bis weit in die 1930er Jahre einen Briefwechsel, sondern auch andere Mitglieder des Kreises wie Carnap oder Gödel knüpften Kontakte nach Münster, wo Scholz nach Kiel weiter wirkte.15 Als Schlick 1922 nach Wien wechselte, musste er also nicht mehr von der modernen Logik überzeugt werden. Ab 1924 lud er an den Donnerstagabenden zu seinem Zirkel in die Boltzmanngasse ein. 1925 in seinem Urlaub an der Ostsee arbeitete er an einem kleinen Büchlein mit dem Titel Die Welt als Spiel.16 Das Buch wurde zwar nie fertig, aber er wandte sich deutlich gegen den Historismus: Geschichte der gr[oßen] Systeme zugleich Gesch[ichte] eines Fortschritts der Philosophie. [...] Aber man tut unrecht, den Meinungsaustausch der gr[oßen] Denker als wüstes Geschrei darzustellen: wir betrachten ihn als ruhige, von Liebe z[ur] Wahrheit durchleuchtete Unterhaltung, voller Gegensätze und Widersprüche, aber große Harmonie klingt durch, wenn man genau hinhört. [...] entweder ist Philosophie Inbegriff zeitloser, ewiger Wahrheit, oder sie ist nicht. [...] Die radikale Ansicht, es gebe überhaupt keine endgültige Wahrheit ist (1) aus inneren Gründen unhaltbar (widerspruchsvoll), (2) wäre Beschäftigung mit vergangenen Systemen für den Philosophierenden wertlos. [...] -- es bleibt die Einsicht: es existiert dauernde, unveränderliche Wahrheit, der Mensch kann sich ihr nähern. (Schlick, A.43, Bl. 2)

Schlick glaubte also an eine absolute Wahrheit in der Philosophie und befand sich damit gar nicht weit von Hegel entfernt. Was er an die Stelle der absoluten Vernunft setzen wollte, wird in dem Manuskript nicht klar. In der Metaphysik sah er nun nur noch ein Provisorium auf dem Weg zur Logik:

13

Vgl. Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 27. Mai 1923. Ich danke Niko Strobach sehr für einen Blick ins Findbuch. Es gibt keinen einschlägigen Eintrag aber einige vielversprechende Kandidaten. 15 Siehe dazu Niko Strobachs Aufsatz über Heinrich Scholz in diesem Band. 16 Schlick, A.43. Zu Details siehe auch die Einleitung von MSGA II/5.2. Schlick erwähnte das Vorhaben auch in seinem Brief an Hans Reichenbach vom 5. August 1925. 14

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Martin Lemke

Phil[osophie] = verbindendes Cement, 1) es gilt: Philosophie formal, löst sich in Logik auf. sehr zukunftsreiche Aussicht. 2) es gilt: Philosophie material, mag in weiterem Sinne als Metaphysik bezeichnet werden. 1) nur möglich und befriedigend, wenn System der Wiss[enschaft] abgeschlossen. So lange dies nicht der Fall, muss Philosophie die Lücken erstmal schliessen, also materiale Erk[enntnis] vermitteln, metaphysischen Einschlag haben. – aber nicht mehr als alle anderen Wissenschaften auch. (Schlick, A.43, Bl. 2)

1927 schrieb Schlick eine Vorrede zu einem Buch, dass sein Mitarbeiter Friedrich Waismann über Wittgenstein plante. Darin polemisierte er gegen den Berliner Historismus: Ein anderer Grund für die Bevorzugung der Geisteswissenschaften in der modernen Philosophie wird von ihren Begründern selbst angegeben; immer wieder finden wir bei ihnen den Hinweis, daß sich in dem System Kants eine große Lücke befinde: seine Erkenntnistheorie gebe nur Rechenschaft von den Naturwissenschaften, es gelte nun, das geisteswissenschaftliche Pendant dazu zu liefern. So etwa [...] H. Cohen, [...] und so W. Dilthey, der durch seine Arbeiten eine „Kritik der historischen Vernunft“ zu geben strebte; so G. Simmel, der mit seiner Fragestellung „Wie ist Geschichte möglich?“ und seiner Antwort darauf einfach Kants Grundgedanken im einzelnen auf die Historie übertragen wollte; […] Die Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ist etwas praktisch Provisorisches, die Unterschiede zwischen den einzelnen Disziplinen reichen nicht bis zum innersten Kern, der uns allein interessiert. (Schlick, MSGA II/1.2, 80)

Die Metaphysik ist hier nun ganz verschwunden. Nicht sie, sondern die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft ist nun ein Provisorium und damit auch auch die Methoden des geisteswissenschaftlichen Verstehens. Zwei Jahre später, 1929, hielt Schlick einen Vortrag über „Philosophie und Naturwissenschaft“. Darin kritisierte er nicht Dilthey, Cohen und Simmel, sondern Windelband und Rickert für ihren Historismus. Aus Gründen der Kürze übergehen wir das, bemerken aber, dass Schlick tief in den Historismusstreit eingelesen war. Zum Verstehen sagte er nun: Das Weltbild wird zur Weltanschauung nicht durch Hinzufügung neuer Gedanken, sondern dadurch, daß man es versteht. [...] Das Verstehen in diesem Sinne ist die eigentliche Leistung derjenigen Tätigkeit, welche Philosophie heißt. Und sie ist natürlich nicht eine besondere Tätigkeit neben der wissenschaftlichen Forschung, sondern sie gehört zu ihr, ja sie ist gleichsam ihre Seele. (Schlick 1934, 528)

Antihistorismus im Wiener Kreis

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Ein Jahr später in seinem Aufsatz über „Die Wende der Philosophie“ wurde Schlick dann ganz deutlich und erklärte, worin dieses Verstehen besteht: Ich bin nämlich überzeugt, daß wir in einer durchaus endgültigen Wendung der Philosophie mitten darin stehen und daß wir sachlich berechtigt sind, den unfruchtbaren Streit der Systeme als beendigt anzusehen. Die Gegenwart ist, so behaupte ich, bereits im Besitz der Mittel, die jeden derartigen Streit im Prinzip unnötig machen; es kommt nur darauf an, sie entschlossen anzuwenden. [...] Diese Mittel sind in aller Stille, unbemerkt von der Mehrzahl der philosophischen Lehrer und Schriftsteller, geschaffen worden, und so hat sich eine Lage gebildet, die mit allen früheren unvergleichbar ist. Daß die Lage wirklich einzigartig und die eingetretene Wendung wirklich endgültig ist, kann nur eingesehen werden, indem man sich mit den neuen Wegen bekannt macht und von dem Standpunkte, zu dem sie führen, auf alle die Bestrebungen zurückschaut, die je als „philosophische“ gegolten haben. Die Wege gehen von der Logik aus. (Schlick 1930, 214f.)

Was für Hegel die absolute sich stets gleich bleibende Vernunft war, war für Schlick nun die moderne Logik. Mit ihrer Hilfe lassen sich alle Probleme der Philosophie verstehen, und zwar so, dass sie sich entweder als Probleme der Naturwissenschaft herausstellen oder auflösen. Das ist erstaunlich, denn diese Logik wurde ja erst um die Jahrhundertwende entwickelt. Scholz wollte nicht so radikal sein und kritisierte in seiner Geschichte der Logik diese Position: Für die Glieder des Wiener Kreises ist es schon heute ausgemacht, daß eine sogenannte Behauptung nur dann eine sinnvolle Aussage ist, wenn sie sich mit dem Ausgangsmaterial der Russellschen Logik symbolisieren lässt. Hierzu ist Folgendes zu sagen: a) Als Maxime ist dieses Diktat sehr schön, denn es zwingt uns in dieser Gestalt, aus der Logistik zunächst einmal alles herauszuholen, was aus ihr herausgeholt werden kann. [...] b) Sobald man aus diesen Schranken heraustritt, wird das Diktat zur Diktatur; und gegen die Diktatur in der Philosophie darf auch der überzeugteste Logistiker protestieren, und bis zum letzten Atemzuge. (Scholz 1931, 65)

Halten wir fest: Schlick kannte die Debatte um den Historismus und das Versehen gut und hat seine Position dazu in vier Stufen entwickelt: 1910 in Rostock vertrat er gegen Dilthey, dass die Metaphysik die Einheit der Wissenschaften herzustellen habe. Ab 1921 in Kiel las er erstmals Philosophiegeschichte und studierte die moderne Logik. Von da an machte er schnell drei weitere Schritte. 1925 meinte er, dass es unter den oberflächlichen Systemstreits einen Fortschritt in der Philosophie gibt und die Philosophie sich in Logik auflöst. Metaphysik hielt er nur noch für Provisorium. 1927 hielt er die Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft für ein

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Martin Lemke

Provisorium. Ab 1929 ist diese Trennung nur eine der Sprache und das Verstehen ist logische Analyse und die Philosophiegeschichte zu Ende. Es könnte gut sein, dass er ab diesem Zeitpunkt die Logik für endgültig abgeschlossen und geschichtslos hielt, Scholz kritisierte jedenfalls eine solche Position am Wiener Kreis. Hier ist weitere Forschung nötig die Scholz und seine Beziehung zu Gödel und Carnap mit einschließt.17

7

Heinrich Gomperz

Heinrich Gomperz hatte neben Schlicks Donnerstagszirkel in der Boltzmanngasse einen Samstagszirkel in seiner Villa in der Grünbergstraße eingerichtet (Stadler 2015, 244). Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Rudolf Carnap, Olga Hahn-Neurath, Otto Neurath, Hans Hahn, Viktor Kraft, Arne Naess, Heinrich Neider, Robert Reininger, Edgar Zilsel und Karl Popper. Ein Schüler von H. Gomperz war auch Kurt Gödel. Schlick war wohl nur einmal 1932 für eine Diskussion mit Popper dort (Stadler 2015, 244.). Neider erinnerte sich in den 1970er Jahren an das Verhältnis beider Kreise: Der Zusammenhang der beiden Kreise war ganz lose. Personell nämlich: Carnap, Hahn, Neurath, Frau Neurath, Kraft und ich gehörten beiden Zirkeln an. Dann schätzte Gomperz Carnap besonders. Carnap zuliebe wurde auch einmal ein „Turnier“ aufgeführt, um respektlos zu sprechen; es wurde Reininger gebeten und dann wurde lange debattiert zwischen Reininger und Carnap. (Neider 1977, 28)

Leider gibt es keine Protokolle aus H. Gomperzens Diskussionskreis. Wohl auch wegen dieses Mangels an Quellen erhielt er bisher nicht dieselbe Aufmerksamkeit in der Forschung wie die Gruppe um Schlick. Dabei dürften – man sieht es auch an den in beiden Kreisen Beteiligten – seine Bedeutung für die Entwicklung der Wiener Philosophie in jener Zeit kaum kleiner gewesen sein. Neider berichtet auch, dass es dort im Gegensatz zu Schlicks Zirkel immer wieder um Sinn und Verstehen sowie um methodologische Fragen der Geisteswissenschaften ging (Neider 1977, 30). Stadler konnte durch Auswertung von Carnaps Tagebuch wenigstens einige Sitzungen rekonstruieren (Stadler 2015, 249). Demnach wurde neben Martin Heidegger auch

17

Niko Strobachs Aufsatz in diesem Band beleuchtet das Verhältnis von Scholz, Schlick, Carnap und Gödel.

Antihistorismus im Wiener Kreis

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Joachim Wachs Das Verstehen nach dem Erscheinen des zweiten Bandes 1931 diskutiert. Der dritte Band erschien 1933 und alle zusammen sind eine noch heute sehr lesenswerte Aufarbeitung der Debatte über den Historismus bis Dilthey. Das erklärt, warum aus dem Gomperz-Kreis heraus gleich zwei größere Arbeiten entstanden, die sich mit dem Historismus und dem Verstehen befassten. Die eine Über Sinn und Sinngebilde, Verstehen und Erklären ist von H. Gomperz selbst, die andere ist Neiders Dissertation über Die Bedeutung des Verstehens für die Methode der sogenannten Geisteswissenschaften. Beide Arbeiten wurden 1929 fertig. H. Gomperz begann mit folgender Definition: Naturwissenschaft erklärt die einzelne Erscheinung, indem sie sie auf eine schon bekannte Art von Erscheinungen zurückführt, indem sie also im Einzelnen ein Allgemeines ([...]) aufzeigt.18

Davon ausgehend stellte er sich nun die Frage: Ein vom Einzelnen, vom eigentlich Seelischen und Geistigen und zugleich ein verstehendes Wissen schien nun in den letzten zwanzig Jahren gar manchen der Begriff des Sinnes zu verheißen. […] Halten wir also in dem Begriff des Sinnes nicht einen Schlüssel in der Hand, der uns ein Reich des von allem Erklären wesentlich verschiedenen Verstehens aufschließt – ein Reich, das nun ganz eigentlich das Gebiet jener Erkenntnis wäre, die sich auf das Lebendige und Bewußte als solches, auf Wert und Recht, ja auf Geschichte, zuletzt auf alles Geistige überhaupt richtet? (Gomperz 1929, § 3)

Von da an ging H. Gomperz kleinschrittig bei Dilthey beginnend die Versuche der Berliner Historisten durch, den Begriff „Sinn“ zu bestimmen. Er versuchte dann zu zeigen, dass sie unzulänglich sind, lehnte sie aber nicht ganz und gar ab. Jede Definition erfasste nämlich nur einen Aspekt von Sinn und je nachdem, welchen man erwählt, bekommt auch die Frage „Hat das Leben einen Sinn?“ immer wieder einen anderen Sinn:19 Sind Welt und Leben ein einheitliches Ganzes? Läßt sich der Zusammenhang ihrer Teile überblicken […]? (Gomperz 1929, § 16)

Diese Frage haben wir uns ganz ähnlich ausgehend von Bruckners Vergleich zwischen der Philosophiegeschichte und den Lebensabschnitten eines Menschen gestellt. Auch die weiteren Fragen kennen wir sehr ähnlich schon:

18

Gomperz 1929, § 2. Diese Erklärung findet sich fast genauso mehrfach in Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre (1918a in MSGA I/1, 166 u. 263). 19 Ein besseres Wort gibt es nicht dafür.

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Martin Lemke

Hängen die einzelnen Abschnitte des Welt- und des Lebensgeschehens in der selben Weise zusammen wie Hunger und Sättigung, Ermüdung und Ruhe, Angriff und Abwehr, Blüte und Frucht? Läßt sich insbesondere an diesem Geschehen eine bestimmte Richtung aufweisen, ein Wachsen und Reifen, oder doch ein Altern und Welken, oder aber gar ein Fortgang wie von der Frage zu Antwort, von der Spannung zur Lösung? […] Hat die Welt, hat das Leben einen Wert? […] Sprechen sich in ihnen [Leben und Welt] ewige Wahrheiten aus? Sinn Welt und Leben nur Sinnbilder zeitlos gültiger Werte? Gehorchen sie unwandelbaren Gesetzen? (Gomperz 1929, § 16)

Zuletzt stellte H. Gomperz die Frage nach dem Verstehen: Lässt sich bei ihnen [Leben und Welt] überhaupt etwas denken? Lassen sie überhaupt eine einheitliche Auffassung zu? Lassen sie sich überhaupt nur irgendwie verstehen? (Gomperz 1929, § 16)

Was sich verstehen lässt, ist der Sinn, das übernahm H. Gomperz von Dilthey und Spranger. Sinn haben aber nicht nur Sätze, sondern beispielsweise auch Lieder, Gesetze, Rituale, Revolutionen und Kriege. Das im Schlick-Zirkel diskutierte empiristische Sinnkriterium ist dagegen nur auf Aussagesätze anwendbar. Der Sinn eines Aussagesatzes ist demnach die Methode seiner empirischen Verifikation.20 Dieses Kriterium passt für Lieder usw. nicht. H. Gomperz unterschied zudem zwischen Sinnvollem, Sinnfreiem, Unsinn und Widersinnigem (Gomperz 1929, ab § 22). Es gibt bei ihm darum Sinnkriterien im Plural, während man in der Boltzmanngasse nur sinnvolle und sinnlose Sätze mit dem empiristischen Kriterium unterschied. Schlicks ausführlichste Überlegungen zum empiristischen Sinnkriterium finden sich in der Vorlesung über Logik und Erkenntnistheorie von 1934/35. Dort ging er auf Wittgenstein und Carnap ein, die sonst ebenfalls im Zusammenhang mit dem Sinnkriterium genannt werden. Aber schon Damböck vermutete, dass Carnap in seiner Jenaer Zeit durch Dilthey-Schüler und den Berliner Historismus beeinflusst war (Damböck 2017, 182–184). Egal wie der Einfluss zustande kam, die Vermutung können wir hier stützen. Das zeigt auch die Chronologie: Die Diskussionen in Schlicks Zirkel über das Sinnkriterium begannen am 22. Dezember 1929 ausgehend von Ludwig Wittgenstein (McGuinness 1984, 47). H. Gomperzens Buch war aber spätestens im August 1929 fertig (Gomperz 1929, IV). Zudem schrieb er in der Vorrede, dass der Anlass für sein Buch eine Diskussion mit seinen Hörern im Wintersemester 1927/28 über das „Wesen des Sinnes“ war (Gomperz 1929, III). Ob diese Hörer die Mitglieder des Gomperz-Zirkels oder Studenten waren,

20

McGuinness 1984, 47. Schlicks ausführlichste Überlegungen zum empirischen Sinnkriterium finden sich in MSGA II/1.3, 429–485.

Antihistorismus im Wiener Kreis

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ist unklar.21 Es könnte also sein, dass wir bisher nur die halbe Diskussion über den Sinn und das Sinnkriterium kennen, nämlich die Hälfte aus dem Schlick-Zirkel, die von Wittgenstein angestoßen wurde, während die Auseinandersetzung des GomperzKreises mit der Definition von „Sinn“ der Berliner Historisten weitgehend unbekannt ist. Auch das muss hier ein Forschungsdesiderat bleiben. Die für die Berliner Historisten typische scharfe Trennung von verstehenden Geistes- und erklärenden Naturwissenschaften sah H. Gomperz als Hauptproblem. Denn sie kann nicht aus einer korrespondierenden Trennung in der Wirklichkeit begründet werden (Gomperz 1929, § 68). Allerdings räumte er ein: Dies Verstehen aber fällt nun mit jenem Erklären keineswegs zusammen. Es lässt sich ein Erklären denken, dem kein Verstehen entspricht, und alle Tage erfahren wir ein verstehen, dem kein Erklären zur Seite steht. (Gomperz 1929, § 69)

Eines von H. Gomperzens Beispielen für ein historisches Gesetz, dessen Sinn wir zunächst nicht verstehen, ist die erste germanische Lautverschiebung (Gomperz 1929, § 69). In allen germanischen Sprachen werden stimmlose Verschlusslaute zu stimmlosen Frikativen – d/b/g wird zu th/w/j – und stimmhafte Verschlusslaut werden zu stimmlos Verschlusslauten – t/p/k wird zu d/b/g. Er ergänzte jedoch: [D]ie bedeutsamsten Erweiterungen unseres Wissens vermittelt uns auch in der Wissenschaft vom Menschen nicht das „Verstehen“, das Erfassen des „Sinns“, vielmehr das „Erklären“, das Zurückführen des Einzelnen auf allgemeine, wenn auch zunächst unverständliche, zunächst sinnfreie Gesetzmäßigkeiten. (Gomperz 1929, § 90)

Nach Gomperz ist es gar nicht erforderlich, zu verstehen, um Gesetze angeben zu können. Damit verneinte er die Frage nach dem Verstehen die wir schon bei Brucker am Anfang dieses Aufsatzes fanden. Bejahte aber dennoch die Frage der Gesetze und damit auch der Vorhersage. Die Gesetze zu finden ist nämlich das Zurückführen von Einzelheiten auf das Allgemeine. Gesetze, falls es sie in der Philosophiegeschichte gibt, erfordern kein Verstehen. Mit Bezug auf die Lautverschiebung schrieb er: Wär’ je irgendein Forscher durch „verstehendes“ nacherlebendes Einfühlen in den „Geist“, in die „Seele“ dieser [germanischen] Sprachgruppen darauf verfallen? Und doch, wer möcht‘ es bezweifeln, daß dies Gesetz eine Grundtatsache ihres Wechselverhältnisses zum Ausdruck bringt, daß es am Gebäude des vergleichenden Wissens

21

Stadler konnte aus Carnaps Tagebüchern nur einige Sitzungen des Zirkels ab 1929 rekonstruieren. Die einzige dem Titel nach annähernd passende von H. Gomperz 1927/28 angekündigte reguläre Vorlesung war über Übersicht über Geschichte der Philosophie im Altertum und im Mittelalter (Stadler 2015, 249 u. 345f.).

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Martin Lemke

von den europäischen Sprachen einen Haupt- und Eckpfeiler darstellt, für dieses Wissen ungleich viel wertvoller ist als irgendwelche fein- und tiefsinnigen Ahnungen über das Verhältnis ihrer Verwandtschaften, ihrer Gegensätze? (Gomperz 1929, § 90)

Weiter argumentierte H. Gomperz, dass die Menschen auch versucht haben, die Natur zu verstehen, bevor sie sie erklären konnten. Aber im Laufe der Geschichte der Wissenschaft, so H. Gomperz, nimmt das Erklären zu: Und das Bestreben, die geschichtlichen Vorgänge auf ihrer seelischen Seite sinnvoll zu verknüpfen, sie „verständlich“ zu machen, stellt eben – solang’s uns an streng gültigen Gesetzen mangelt – dein einzigen aussichtsreichen Versuch dar, für die Messung der geschichtlichen Überlieferungen an solchen seelischen Gesetzen wenigstens einen Ersatz zu schaffen. (Gomperz 1929, § 94)

Verstehen ist für H. Gomperz also ein Ersatz an Stellen, wo die Wissenschaft noch nicht erklären kann, wo sie noch keine Gesetze findet. Sein Fazit zu der Frage, ob es ein eigenes Verstehen neben dem Erklären gibt, ist darum: Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Wohl steht dem Erklären das Verstehen zur Seite, ja es übertrifft's bei weitem, was das Vermögen der Erkenntnis, uns unmittelbar einzuleuchten, und die Befriedigung angeht, die sie uns bietet. Allein in Beziehung auf die große und ernste Hauptleistung des Erklärens, in Beziehung auf die Ermittlung unbekannter Tatsachen, ist ihm das bloße Verstehen nicht gewachsen. Da ist's für das Erklären nur unzulängliche Vorstufe, vorläufiger Ersatz. (Gomperz 1929, § 104)

Halten wir fest: H. Gomperzens Position ähnelt derjenigen Schlicks um 1927. Geisteswissenschaftliches Verstehen ist provisorischer Ersatz für das naturwissenschaftliche Erklären. Das ist nicht nur eine Behauptung über das Verhältnis beider Methoden und eine Kritik am Berliner Historismus, sondern auch eine Vorhersage des weiteren Verlaufs der Geschichte der Philosophie. Denn wenn dereinst alles naturwissenschaftlich erklärt ist, wird das Verstehen und mit ihm die Geisteswissenschaften und mit ihr wiederum die Philosophie überflüssig sein und verschwinden.

8

Heinrich Neider

Heinrich Neider studierte ab 1926 Philosophie in Wien (Stadler 2015, 611) und wurde sowohl von Schlick in die Boltzmanngasse als auch von H. Gomperz in die Grünbergstraße eingeladen. Schlick hat seine Dissertation betreut. Robert Reininger, ebenfalls Teil des Gomperz-Kreises, war der Zweitgutachter. In den 1970er Jahren erinnerte sich Neider:

Antihistorismus im Wiener Kreis

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Ich habe bei Schlick dissertiert, mit einer Arbeit, die ihn sicher wenig begeisterte, nämlich über den Begriff des Verstehens in den Geisteswissenschaften. Mir wurde während der Arbeit bewusst, daß ich Physikalist bin und die ganze Diskussion mit Dilthey, Spranger usw. nicht mehr stimmt. Und da habe ich ein Schlusskapitel geschrieben, in dem ich versuchte das Ganze physikalistisch umzuformulieren. Und in sehr unvollkommenem Zustand wurde die Dissertation dann abgegeben, die dann trotzdem von Schlick und Reininger gut beurteilt wurde, und so das Studium abgeschlossen. (Neider Interview, 30)

Auf die Frage, ob die Methodologie der Geisteswissenschaften in Schlicks Zirkel besprochen wurden, antwortete er: Nein, das war das Erstaunliche, das ist ein ein blinder Fleck gewesen. Man interessierte sich nicht dafür. Und ich bin nachträglich bei meiner Dissertation der Meinung, Schlick hat sie nicht gelesen. Er hatte wirklich kein Interesse dafür. Das war ja der erfreuliche Unterschied für mich zum Gomperz-Zirkel. (Neider Interview, 30)

Mit dem ersten Teil hatte Neider Recht, in den Protokollen aus dem Schlick-Zirkel sind keine Diskussionen über methodologische Fragen der Geisteswissenschaften geschweige denn der Philosophiegeschichte überliefert. Aber der zweite Teil stimmt, wie wir bereits sahen, ganz sicher nicht. Schlick hat bis zu seinem Tod an diesen Fragen gearbeitet. Neiders Dissertation ist nicht leicht zu lesen. Sie hat die typischen Fehler, die studentische Abschlussarbeiten auch heute noch haben.22 Durch die fehlende Übung beim wissenschaftlichen Schreiben und den Zeitdruck ist die Gliederung unübersichtlich und der Argumentationsgang sprunghaft. Sie zerfällt zudem in zwei Teile, deren Zusammenhang am Ende nicht mehr hergestellt wurde. Dennoch enthält sie Überlegungen, die sich bei H. Gomperz nicht finden. Im ersten Teil setzte sich Neider mit den Berliner Historisten, Dilthey und Spranger auseinander. Auch wenn ein genauer Vergleich noch aussteht, sind seine Argumente denjenigen von H. Gomperz hier zumindest noch ähnlich. Wir übergehen das, halten aber fest, dass die Ähnlichkeit neuerlich dafür spricht, dass über Dilthey und Spranger im Kreis um Gomperz gesprochen wurde. Im Gegensatz zu Gomperz setzte sich Neider im ersten Teil auch mit Werner Sombart auseinander. Der war wie Neurath ein Schüler Schmollers und lehrte ab 1918 selbst in Berlin. Auf dem 5. Soziologentag 1926 in Wien saß er der Sektion für

22

Schlick und Neider haben sie mit Zwei bewertet.

214

Martin Lemke

Methodologie vor und hielt einen knappen Vortrag. Schlick war auf dem Soziologentag anwesend.23 Zwei Jahre später, beim 6. deutschen Soziologentag, setzte Sombart seinen Vortrag nahtlos fort: In Wien haben wir vor zwei Jahren zum ersten Mal in diesem Kreise getagt. Die Rede, die ich damals hielt, hat den größten Erfolg gehabt, den ich jemals mit einer Rede hatte. Die vorige Diskussion, die Diskussion in Wien, hat mit der Einsicht geschlossen, daß Soziologie eine Kulturwissenschaft, d. h. aber verstehende Wissenschaft sei. Nun ist die Erkenntnisart des Verstehens als die der Geisteswissenschaft adäquate Art hier des näheren zu erörtern. (Sombart 1929, 209)

Sombart hielt Geistes- und Naturwissenschaft nicht nur für getrennt, sondern erstere auch für überlegen: Woher stammt nun diese Überlegenheit der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, diese Überlegenheit des Verstehens? Ich antworte darauf: Sie stammt aus der Immanenz dieser Erkenntnisart. Ich spreche von immanenter Erkenntnis, weil Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt identisch sind, sie sind beide Geist. Kultur ist objektiver Geist, Verwirklichung ewiger Ideen in Seele und Körper, gesetzmäßige Objektivationen menschlichen Geistes, subjektiver oder menschlicher Geist ist die spezifische Fähigkeit des Menschen zur Ideenschau, zum Zielstecken, zur Normengebung, ist die spezifische Fähigkeit der geistigen Erkenntnisart. (Sombart 1929, 212)

Über diese spezifische Fähigkeit, sich in den Geist eines anderen gegenwärtigen Menschen oder alten Philosophen zu vertiefen und ihn zu verstehen, verfügt nicht jeder. Neider kritisiert das in seiner Dissertation: Hier schlägt die Lehre vom Verstehen, die doch Theorie, d. h. Wissenschaft, Erkenntnis sein will, in offene Mystik um. Da der Mystiker, sofern er seine Zeichenverdingung als Aussagen betrachten will, erfahrungsgemäß zur Rechtfertigung dieser auf Strukturen rekurriert, die den meisten Menschen, wie er offen eingesteht, nicht zugänglich sind, so ist natürlich jede Diskussion mit ihm unmöglich. (Neider 1930, 70f.)

Sich in andere Menschen zu versenken und nachzufühlen und ihre geistigen Prozesse nachzuerleben, war für Neider keine Methode der Wissenschaft. Dennoch ging er im zweiten Teil der Dissertation der Frage nach, ob die Psychologie die Methode des Verstehens liefern könnte. Dabei verfolgte er zugleich eine weitere Überlegung. Wenn Natur und Geisteswissenschaften getrennt sind, dann müssten die Aussagen der Geisteswissenschaft eine andere logische Form als die der Naturwissenschaften haben. Eine Umformung der einen in die anderen wäre unmöglich.

23

Bislang unveröffentlichter Brief von Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 22. September 1926.

Antihistorismus im Wiener Kreis

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Als Beispiel wählte Neider die historische Aussage: „Der Staatsmann X hat in dem Jahr u-v einen Präventivkrieg gegen Y angestrebt.“ Neider stellte fest, dass solche Aussagen mit Quellen belegbar sind. Diese lassen eventuell darauf schließen, dass psychische Vorgänge in X auftraten, die geeignet waren ein physisches Ereignis in Y hervorzurufen, das die Kriterien eines Krieges erfüllt (Neider 1930, 78f.). Das ist das psychophysische Problem, und kann auf die Frage gebracht werden, wie psychische Vorgänge auf die physische Welt einwirken und umgekehrt. Wenn die Geisteswissenschaften ihr Ziel erreichen wollen, müssten sie nach Neider das psychophysische Problem lösen, denn sonst können sie keine Verbindung zwischen dem Seelenleben des Staatsmannes und dem Krieg herstellen (Neider 1930, 83). Wenn sie das aber erreichen, dann werden Aussagen über Absichten, Pläne, Haltungen und Einstellungen – geisteswissenschaftliche Aussagen – auf Aussagen über die physische Welt – naturwissenschaftliche Aussagen – zurückgeführt. Für Historisten wie Dilthey oder Sombart scheint sich für Neider also ein Dilemma zu ergeben: Beruht das Verstehen auf den besonderen Fähigkeiten des Nacherlebens, dann ist es keine wissenschaftliche Methode. Beruht es auf der wissenschaftlichen Psychologie, dann verschwindet es, weil Aussagen über Geistiges auf Aussagen der Naturwissenschaften zurückgeführt werden: So können wir abschließend feststellen, dass eine eingehende Untersuchung des prima facie erscheinenden Unterschieds in der logischen Struktur der Sätze in den sogenannten geisteswissenschaftlichen Disziplinen von denen der Naturwissenschaften ebenso wie im Verfahren dieser beiden Gruppen von Disziplinen zugeben muss. Sie zeigt aber weiterhin, dass diese Unterschiede keineswegs durch verschiedenartige Wesen der Erkenntnisgegenstände, noch durch besondere „Aktivitäten“ unserer die Gegenstände „konstituierenden“ Psyche bedingt sind, sondern dass es sich einzig und allein um graduelle Unterschiede handelt, die bedingt sind durch die verschiedenen, als letzte Fakten hinzunehmenden Ziele der die betreffenden Disziplinen betreibenden Menschen, einmal durch Zerlegung der komplexen Phänomene zu einer durchgehenden Gesetzlichkeit vorzudringen und das andere mal sich mit der Beschreibung der komplexen, nur geringe Gesetzlichkeit aufweisenden Erscheinungen zu begnügen. (Neider 1930, 97)

Neider sagte das nicht deutlich, aber auch für ihn kann Verstehen genau wie für H. Gomperz und Schlick um 1927 nur ein Provisorium sein, das so lange benötigt wird, bis es der Psychologie gelingt, geistige Prozesse auf physische zurück zu führen. Die modernen Debatten der philosophy of mind gehen dann ab dem zweiten Weltkrieg in genau diese Richtung weiter. Es wäre durchaus eine eigene Untersuchung wert, was im Wiener Kreis und besonders im Gomperz-Zirkel davon schon vorweggenommen wurde.

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Martin Lemke

Fazit

Es gab im Wiener Kreis eine Auseinandersetzung mit den methodologischen Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte ergeben. Mehrere Mitglieder des Wiener Kreises sind durch ihre Biografien direkt oder indirekt vom Berliner Historismus beeinflusst. Bei H. Gomperz, Neider und Schlick haben wir auch einen deutlichen Einfluss auf das Werk nachweisen können. In einigen Punkten gab es zwischen den Berliner Historisten und dem Wiener Kreis Gemeinsamkeiten, nämlich Empirismus und Metaphysikkritik. Besonders für Neider trifft das ganz zu. Schlick verteidigte jedoch die Metaphysik am Anfang seiner Karriere und gab sie erst nach 1925 ganz auf. Bei H. Gomperz ließ sich bisher gar keine Metaphysikkritik nachweisen zumal er 1905 eine sehr ähnliche Position vertrat, wie Schlick in der Antrittsvorlesung. Die Hauptkritik der drei Philosophen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre an der Berliner Historismus-Schule richtete sich aber gar nicht gegen die Metaphysikkritik, sondern gegen die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften, Innenwelt und Außenwelt bzw. Verstehen und Erklären. Damit setzte der Wiener Kreis zumindest Wiener antihistoristische Tendenzen fort, die schon Ende des 19. Jahrhunderts bestanden. Wie stark die Kontinuität hier ist, muss noch untersucht werden. Schlicks Position von 1927 sowie die Positionen von H. Gomperz und Neider ähnelten sich darin, dass sie im Verstehen nur ein Provisorium sahen. Nach H. Gomperz und Schlick wird der Fortschritt der Naturwissenschaft sie überflüssig machen. Neider präzisierte das, indem er darauf hinwies, dass dafür eine naturwissenschaftliche und damit gesetzmäßige Erklärung der Kausalbeziehung zwischen psychischen Vorgängen und physischen Vorgängen nötig ist. Nur Schlick revidierte diese Position 1929. Er definierte Verstehen als logische Analyse. Naturwissenschaft besteht dann aus dem Aufstellen von Gesetztem – dem Erklären – und der logischen Analyse – dem Verstehen – der Begriffe, die in den Gesetzen vorkommen. Zugleich kann mit logischer Analyse auch die Philosophiegeschichte verstanden werden. Damit war für Schlick die Logik absolut und von der Geschichte losgelöst. Seine späte Position ähnelte also derjenigen Hegels. In den Vorlesungen der 1930er Jahre stellte er dann auch genau wie Hegel eine Art Entwicklungstheorie der Philosophie auf und sagte das Ende der Philosophiegeschichte vorher. Das trifft aber auch auf Gomperz und Neider zu, bei denen mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften das Verstehen und damit die Philosophie obsolet wird. Merkwürdig ist, dass der hermeneutische Zirkel in der Diskussion keine Rolle spielt, zumal er schon von Ast im 19. Jahrhundert als logisches Problem formuliert

Antihistorismus im Wiener Kreis

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wurde. Man sollte erwarten, das logische Empiristen genau hier einhaken dürften. Tatsächlich erwähnt ihn Schlick weder in den veröffentlichten noch in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen und Vorlesungen. Von Gomperz kann das beim derzeitigen Forschungsstand nicht gesagt werden. Die systematische Bewertung der Wiener Argumente gegen den Historismus nach ihrer Schlagkraft steht noch aus. Ebenfalls unklar ist, ob die Berliner auf diese Kritik reagiert haben. All diese Untersuchungen sind nicht nur deswegen wünschenswert, um den Historismusstreit und die Debatte um die Hermeneutik und das Verstehen besser beschreiben zu können, sondern vor allem auch im Hinblick auf den Wiener Kreis selbst. Die Rolle des Berliner Historismus für die Entstehung des Sinnkriteriums besonders im Gomperz-Zirkel ist noch nicht erforscht. Die Überlegungen von H. Gomperz sind zumindest deutlich komplexer als die Variante im SchlickZirkel.

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IV. Praktische Philosophie

Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung Eva-Maria Engelen

Kurt Gödel ist als genialer Mathematiker und Logiker bekannt, seltener als Autor einiger weniger philosophischer Aufsätze. Daher wird man erstaunt sein, wenn er mit der Rezeption antiker Philosophietraditionen in Verbindung gebracht wird. Diejenigen allerdings, welche wissen, dass Gödel im Grandjean Fragebogen 1975, drei Jahre vor seinem Tod, lediglich den Mathematiker Philipp Furtwängler sowie den Philosophiehistoriker Heinrich Gomperz als für ihn wichtige Lehrer benannt hat, und denen zudem bekannt ist, dass Heinrich Gomperz in Wien unter anderem antike Philosophiegeschichte gelehrt hat, mögen eine Ahnung haben, wo die Quelle dieser Rezeption und der Anstoß für sie zu finden ist. Was sie beinhaltet, wird zu erläutern sein. In Kurt Gödels Nachlass befinden sich 15 Hefte1 mit philosophischen Bemerkungen, die Gödel als ein Konvolut über einen Zeitraum von 22 Jahren (1934–1955) zusammengestellt hat. Es enthält seine philosophischen Bemerkungen, die so genannten Maximen/Philosophie (Max Phil),2 die er, wie das meiste seiner Notizen, in der Stenographie Schrift Gabelsberger niedergeschrieben hat.3 Zwei dieser 15 Notizbücher sind mit dem Zusatz ‚Zeiteinteilung‘ versehen. Es handelt sich um die Notizhefte Zeiteinteilung (Maximen) I und Zeiteinteilung (Maximen) II. Auf der Innenseite 1

Der erste Band ist 2019 unter dem Titel Kurt Gödel: Philosophische Notizbücher. Bd. 1: Philosophie I Maximen 0 / Philosophical Notebooks. Vol. 1: Philosophy I Maxims 0, hrsg. v. Eva-Maria Engelen, erschienen (PN 1). Der zweite Band, der für die Ausführungen dieses Beitrages der relevante ist, ist 2020 unter dem Titel Philosophische Notizbücher. Bd. 2: Zeiteinteilung (Maximen) I und II / Philosophical Notebooks. Vol. 2: Time Management (Maxims) I and II, hrsg. v. Eva-Maria Engelen, erschienen (PN 2). 2 Die genaue Beschreibung des Konvolutes ist nachzulesen in Gödel, PN 1, 25–36, bzw. auf Englisch 138–148. 3 Die für diesen Aufsatz erforderlichen Transkriptionen stammen jeweils von der Autorin. Das Material wird mit Erlaubnis des Institute for Advanced Study Princeton abgedruckt. Das Copyright an dem unveröffentlichten Material und alle Rechte daran verbleiben beim Institute for Advanced Study Princeton. (All works of Kurt Gödel used with permission. Unpublished material Copyright Institute for Advanced Study. All rights reserved by Institute for Advanced Study.) © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_10

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des Heftumschlages von Zeiteinteilung (Maximen) I hat Gödel Folgendes notiert: „Theologie, Sociologie, eigene Stellung, Hygiene, Budget, …“.

1

Theodor und Heinrich Gomperz zur Hygiene (Diätetik)

Wir Heutigen werden bei ‚Hygiene‘ lediglich an Maßnahmen zur Sauberhaltung und Sauberkeit denken und vielleicht noch an Begriffe wie Gesundheitslehre oder Gesundheitspflege. In Gödels jungen Jahren war das noch anders. Damals war die Gleichsetzung von ‚Hygiene‘ und ‚Diätetik‘ als antikes Konzept für angewandte Individualethik noch geläufiger. Auch Theodor Gomperz, der Vater von Heinrich Gomperz sowie letzterer verwenden den Ausdruck ‚Hygiene‘ ihm Sinne von ‚Diätetik‘ und ‚Individualmoral‘. So schreibt Theodor Gomperz in seinem Werk Griechische Denker in Band 2: Wenn wir unter Individualmoral die seelische Hygiene verstehen und diese mit Aristoteles, ..., in der Meidung aller Extreme, ..., in harmonischer Ausbildung der Anlagen, ..., erblicken, so hat die griechische Naturreligion Forderungen einer solchen Individualmoral wie kaum eine andere entsprochen. Ihre Unzulänglichkeit offenbart sich auf dem Boden der Sozialmoral. (Gomperz 1903, 322)

Und Heinrich Gomperz äußert sich in Grundlegung der neusokratischen Philosophie wie folgt: Es gibt nämlich Denker genug, welche auf unsere bisherigen Darlegungen antworten würden: ‚All das ist immer erst die eine Hälfte der Moral; sie bezieht sich lediglich auf das Individuum selbst, es ist die sogenannte Individualethik, eine Art geistiger Gesundheitslehre (Hygiene)4 oder, wie ein Sokratiker sich auszudrücken pflegt, es ist die Forderung der Gerechtigkeit gegen sich selbst; allein daneben muss auch die Gerechtigkeit gegen Andere, die sogenannte Socialethik treten‘. (Gomperz 1897, 86)

Theodor und Heinrich Gomperz zählen hier jeweils auf, was für sie zur geistigen Hygiene gehört, wohingegen Gödel bei seiner Beschäftigung mit Diätetik hygienische Lebensweise sowie geistige Hygiene aufgreift und zudem den Aspekt der Zeiteinteilung im Sinne einer Lebensplanung miteinschließt. Zu einer hygienischen Lebensweise gehören für Gödel Schlaf, Verdauung, Bewegung, Sommerfrische, Zerstreuung und Ruhe.5 Diese Liste entspricht im Wesentlichen dem, was man unter den 4 5

Hervorhebungen von der Autorin (E.-M. E). Gödel, PN 2, 120.

Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung

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sogenannten sex res non naturales versteht, die dem Menschen dabei helfen sollen, sein Verhalten sowie die beeinflussbaren Umweltbedingungen zu regulieren. Von Galen stammt zwar nicht der Ausdruck sex res non naturales, wohl aber die Liste der Umweltbedingungen sowie des Verhaltens, die es für eine gesunde Lebensführung zu beeinflussen gilt, und für die er gelegentlich selbst den Begriff der Hygiene gebraucht: (1) Licht und Luft, (2) Essen und Trinken, (3) Bewegung und Ruhe, (4) Schlafen und Wachen, (5) Ausscheidungen, (6) Affekte und Emotionen. Diese sex res naturales gehören zur Diätetik als einer Anweisung zur Lebensführung, die eine hygienische Lebensweise im Sinne einer angewandten Ethik umfasst und damit eine Lebensform darstellt, deren Ziel ein gutes Leben ist. Was Gödel etwa unter geistiger Hygiene versteht, schreibt er auch: „Zerstreuung und Abwechslung der Tätigkeiten“.6 In den dazu festgehaltenen Maximen und Bemerkungen gibt sich Gödel ein Gerüst, wie er seinen Alltag sowie sein Berufsleben zu gestalten hat, worauf er beim Benutzen der Bibliothek zu achten hat, wie Bücher zu lesen und zu exzerpieren sind, was er lesen sollte, wie er seine Vorlesungen anlegen sollte, wie seine berufliche Korrespondenz und wie die Beziehung zu Adele Nimbursky, geborene Porkert, spätere Adele Gödel. Nun könnte man unter Umständen meinen, es handele sich bei diesen Aufzeichnungen um eine frühe Form dessen, was wir heute unter Selbstoptimierung verstehen und sei letztlich der Vorbote einer verinnerlichten Selbstausbeutung. Die Zitate aus Werken von Theodor und Heinrich Gomperz mögen ein erstes Indiz dafür sein, dass dem nicht so ist. Weitere Anhaltspunkte lassen sich unter anderem in Gödels Bibliothek, aber vor allem auch in der Anlage der Maximen Philosophie als von Gödel bewusst zusammengestelltem Konvolut finden.

6

Gödel, PN 2, 90. Zusammengefasst sind einige Aspekte der körperlichen und geistigen Hygiene im Artikel „Gesundheitspflege (Hygiene)“ in Band 7 von Meyers Konversations-Lexikon (1895) auf Seite 485, das sich in Gödels Privatbibliothek befunden hat. In diesem Artikel heißt es auf S. 485: „Die private G. (individuelle, persönliche G., [...]) behandelt die Wohnung, die Reinlichkeitsgrundsätze zur Erhaltung des sauberen Zustandes der Wohnräume, Sorge für beständige Lufterneuerung, gute natürliche und künstliche Beleuchtung, geeignete Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Ruhe und Behagen in der Wohnung, [...], die Kleidung nächst Wäsche, Fußbekleidung und Kopfbedeckung, Wahl der Kleiderstoffe nach Jahreszeit und Verrichtung, Wäschewechsel [...], Reinhaltung und Pflege der Haut, Abwechslung zwischen Körperbewegung und Körperruhe, Körperübungen [...], Zahn- und Mundpflege, [...], Ernährung, eine mäßige Ingebrauchnahme der sogen. Genußmittel, [...], Regelung des Geschlechtsverkehrs, Abwechslung zwischen geistiger Arbeit, geistiger Anstrengung, Erholung des Geistes, Sammlung und Zerstreuung [...]“.

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Heinrich Gomperz und das Konzept der Selbstvervollkommnung

In Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit. Zwölf gemeinverständliche Vorlesungen setzt sich Heinrich Gomperz ausführlich mit der stoischen und epikureischen Philosophie auseinander. In diesem Zusammenhang geht er auf ethische Pflichten ein, die für ihn in erster Linie Vervollkommnungspflichten sind (Gomperz 1927, 222). Beim einzelnen unvollkommenen Menschen sei die Pflicht zur Vervollkommnung sogar das wichtigste ethische Ideal und diene auch der Charakterbildung.7 Gomperz nennt Beispiele, die in vorliegendem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb von Interesse sind, weil sie vergleichbar mit einigen Maximen sind, wie wir sie in Gödels Notizbüchern Zeiteinteilung (Maximen) I und II finden. Erstaunlich ist das aber nicht nur nicht auf Grund des Lehrer-Schüler-Verhältnisses zwischen Gomperz und Gödel, sondern auch weil es sich um Regeln zur Lebens- und Alltagsbewältigung handelt wie sie dem gebildeten Mitteleuropäer der damaligen Zeit aus seiner SenecaLektüre vertraut waren. Es handelt sich etwa um Maximen zum Spazierengehen und zu Essensgewohnheiten, die in der Diätetik ihren Platz haben. Wichtig ist, dass Gomperz diese Ausprägung der Ethik als Lebensform versteht, die nicht mit allgemeingültigen moralischen Normen zu verwechseln sei, sondern der Lebensführung diene. Moralische Normen müssen allgemeingültig abgeleitet werden, was nach übereinstimmender Auffassung der Mitglieder des Wiener Kreises, und auch Gomperz, nicht möglich ist, weil sich oberste Normen, aus denen diese ableitbar wären, nicht begründen lassen. Hingegen gibt sich der Einzelne die Regeln zur Lebensführung um sich zu vervollkommnen, weil er sie für sich als richtig erkannt hat, sie besitzen keine Allgemeingültigkeit und müssen insofern auch nicht als für alle gültig gerechtfertigt werden (Gomperz 1927, 224, 227f.). Wie bei einem Philosophiehistoriker nicht anders zu erwarten, geht Heinrich Gomperz bei seinen Ausführungen zum ethischen Ideal der Selbstvervollkommnung auf die historischen Quellen ein und nennt insbesondere die Schriften Senecas, Epiktets und Marc Aurels (Gomperz 1927, 195). Die Lektüre dieser Primärliteratur lässt sich bei Gödel bisher nur unvollständig nachweisen, er hat sie jedoch in einer seiner zahlreichen, nach akademischen Disziplinen geordneten Bibliographien angeführt.

7

Gomperz 1927, 221. „Vom unvollkommenen Menschen verlangt das ethische Ideal Selbstvervollkommnung.“ (Gomperz 1927, 243) Das Ideal der „sittlichen Vervollkommnung“ taucht bereits bei Heinrich Gomperz’ Vater Theodor Gomperz in dessen Geschichte der antiken Philosophie auf. Vgl. Gomperz 1903, 19.

Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung

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So im Falle von Marc Aurel, von dem er sich dessen Selbstbetrachtungen als maßgebliches Werk notiert hat8 sowie indirekt auch im Falle von Epiktet, für den er sich zumindest die Rezeption durch Leibniz ansehen wollte und es, allein auf Grund seiner großen Leibniz Begeisterung, mutmaßlich auch getan hat.9 Die Hinweise auf Senecas Epistulae morales in Gödels Niederschriften beziehen sich hingegen unter anderem auf seine Mitschrift der philosophiehistorischen Vorlesung von Heinrich Gomperz.10 Heinrich Gomperz’ Lebensauffassung der griechischen Philosophen lässt sich zudem entnehmen, dass er die ethischen Schriften der römischen Philosophen entweder als „Ableger griechischer Spekulation“ oder als bloße „Übersetzungen, Bearbeitungen und Kompilationen griechischer Vorlagen“ ansah. Zu letzteren zählt er Senecas Schriften zu ersteren Ciceros (Gomperz 1927, 26f.). Bei Gomperz konnte Gödel außerdem nachlesen, dass die Schriften Ciceros Kompilationen der stoischen Lehre seien (Gomperz 1927, 39). Etwas freundlicher formuliert hat diese Auffassung The-

8

„Literatur, Philosophie (Geschichte)“, in: Gödel-Nachlass, Behältnis 9b, Reihe V, Mappe 5, ursprüngliche Dokumentennummer 050024; dort Punkt 1 in eckigen Klammern. Außerdem finden sich Hinweise auf Marc Aurel in „Notizbuch Geschichte 4“ von 1942 oder früher auf Manuskriptseite 51 (Gödel-Nachlass, Behältnis 5d, Reihe III, Mappe 36, ursprüngliche Dokumentennummer 030054); in „Notizbuch Geschichte 6“ auf Manuskriptseite 30 (Behältnis 5d, Reihe III, Mappe 38, ursprüngliche Dokumentennummer 030056); sowie in Behältnis 10b, Reihe V, Mappe 44, ursprüngliche Dokumentennummer 050146, dort u. a. ein undatierter Zettel, auf dem zu lesen ist: „gelesen: IV Marcus Aurelius“. 9 In „Literatur Philosophie 1936–1940“, in: Gödel-Nachlass, Behältnis 9b, Reihe V, Mappe 5, ursprüngliche Dokumentennummer 050024; dort Punkt 37. Siehe zu Epiktet auch „Notizbuch Geschichte 4“ von 1942 oder früher auf Manuskriptseite 30 (Gödel-Nachlass, Behältnis 5d, Reihe III, Mappe 38). 10 Heinrich Gomperz’ Vorlesung zur Geschichte der europäischen Philosophie aus dem Wintersemester 1925/26, Manuskriptseite 6: „Römische Philosophen gibt es nur drei: Lukretz, Cicero Dialoge, Seneca Briefe“ (Gödel-Nachlass, Behältnis 6, Reihe III, Mappe 72,5, ursprüngliche Dokumentennummer 030100.4). Der Name ‚Seneca‘ in „Klassische lateinische Autoren“ in Behältnis 9c, Reihe V, Mappe 14, ursprüngliche Dokumentennummer 050068 des Gödel-Nachlasses verweist auf Seneca den Älteren, nicht den Jüngeren. Ein Hinweis auf Senecas Epistulae morales ad Lucilium und andere seiner Schriften findet sich in „Notizbuch Geschichte 4“ von 1942 oder früher auf Manuskriptseite 42 (Gödel-Nachlass, Behältnis 5d, Reihe III, Mappe 36, ursprüngliche Dokumentennummer 030054); weitere Hinweise auf Seneca sind in „Notizbuch Geschichte 6“ auf Manuskriptseite 30 (Behältnis 5d, Reihe III, Mappe 38, ursprüngliche Dokumentennummer 030056); sowie in Behältnis 10b, Reihe V, Mappe 44, ursprüngliche Dokumentennummer 050146.

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odor Schiche in seiner Einleitung zu dem Buch Aus Ciceros philosophischen Schriften, das sich in Gödels Privatbibliothek befindet und das Gödel nachweislich gelesen hat.11 Nicht zuletzt auch durch die einleitenden Ausführungen Schiches wusste Gödel, dass Cicero in De finibus bonorum et malorum die ethischen Positionen Epikurs und der Stoa darlegt. Dieses Werk Ciceros hat Gödel neben anderen gründlich gelesen.12 Mit der heutigen Forschung lässt sich dieses Vorgehen zum Studium der ethischen Positionen der Stoa und Epikurs insofern rechtfertigen als sie feststellt, dass wir mit diesem Werk Ciceros über die beste durchgehende Quelle für die ethischen Positionen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts verfügen (vgl. Annas 2016, 2). Darüberhinaus hat sich Gödel nachweislich noch mittels weiterer Sekundärliteratur mit der Stoa befasst. So befindet sich Albert Schweglers Geschichte der Philosophie im Umriss in Gödels Privatbibliothek. In diesem Exemplar beziehen sich Gödels Unterstreichungen lediglich auf die Kapitel zu Aristoteles und zum Stoizismus13 und letztere sind sehr aufschlussreich, aber dazu später.

3

Leibniz und das Konzept der Vervollkommnung

Da Gödels Maximen Philosophie noch nicht vollständig ediert sind, sind die diesbezüglichen Ausführungen mit dem erforderlichen Vorbehalt zu lesen, der sich aus diesem Umstand ergibt. Es ist allerdings schon lange bekannt, dass Gödel ein großer 11

Vgl. dort insbesondere die Seiten 5, 8f. sowie 13. Bei Schiche heißt es auf Seite 12f.: „[...] so sind es ‚Akademische Untersuchungen‘ (Academica), die die Frage behandeln, inwieweit für den Menschen Erkenntnis möglich ist und wie sie zustand kommt. [...] So schloß sich denn auch bei Cicero an die Academica sogleich diejenige Schrift an, die die Grundfragen der Sittenlehre untersucht. [...] Hiervon handelt die Schrift Vom höchsten Gut und Übel (De finibus bonorum et malorum libri quinque).“ Die beiden hier von Schiche genannten Schriften Ciceros sind die von Gödel gelesenen. 12 Gödel hat die von Winifred Margaret Lambart Hutchinson herausgegebene Ausgabe von 1909 gelesen und dazu in Gabelsberger Kurzschrift vermerkt: „Deutlicher Druck, Anmerkungen nicht viel Wert“. Inhaltlich äußert er sich zu dem Werk lediglich dahingehend: „Das 5te Buch scheint das interessanteste zu sein“. In diesem Werk Ciceros wird vor allem die Lehre des Antiochos von Askalon geschildert und dabei unter anderem der Frage nach der Seele und ihrem Verhältnis zum Körper nachgegangen, aber auch der nach der Liebe zur Erkenntnis, der Frage nach dem Verhältnis von Tugend und Selbstliebe, nach dem Verhältnis von Tugend und Gemeinschaft sowie der nach der Erkenntnis als höchstem Gut. Gödels Aufzeichnungen zu seiner Cicero-Lektüre befinden sich in: Behältnis 9c, Reihe V, Mappe 14, ursprüngliche Dokumentennummer 050069. 13 Schwegler 1905. Die Unterstreichungen von Gödel finden sich insbesondere auf den Seiten 121– 123.

Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung

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Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen ist und seine eigenen philosophischen Überlegungen nicht zuletzt vor dem Hintergrund von dessen philosophischen Auffassungen zu verstehen sind. Dabei hat man in der Forschung bisher stets an Leibniz’ Monadologie gedacht. Gödel hat jedoch, wie es seiner gründlichen Arbeitsweise entspricht, so gut wie alle philosophischen Werke von Leibniz gelesen, denen er habhaft werden konnte, und umfangreiche Exzerpte dazu angefertigt. Von Themenzusammenstellung, Anlage und Inhalt entsprechen Gödels Maximen Philosophie viel mehr Leibniz’ Idee einer Scientia generalis als dessen Monadologie. Erstere soll der Erneuerung der Wissenschaften dienen, ihrer Erweiterung und Vertiefung, sowie der Vervollkommnung des Geistes und der allgemeinen Glückseligkeit.14 Die Selbstvervollkommnung ist auch bei Leibniz bereits als Teil dieses Projektes gedacht und zwar gewissermaßen als eine Art Prolegomena. So war etwa Fragment N 140, das sich mit der Vervollkommnung des Menschen befasst, wohl als eine Einleitung zur Scientia generalis von Leibniz gedacht.15 Gödel hat dieses Fragment in Form des Abdruckes in Gerhardts Edition von Leibniz’ philosophischen Schriften gekannt.16 Er lässt sein Maximen Philosophie mit drei Notizbüchern beginnen, die er den übrigen voranstellt. Im ersten finden sich Bemerkungen zur Philosophie, aber keine Maximen, weshalb die Überschrift Philosophie I Maximen 0 lautet. Maximen finden sich vor allem in den Heften Zeiteinteilung (Maximen) I und II und dann noch einige, aber zahlenmäßig weitaus weniger, in dem folgenden Heft Maximen III. Die Selbstvervollkommnung ist bei Gödel also, wie wohl bei Leibniz, der Vervollkommnung

14

So in einem Titel zu einem der Fragmente zur Scientia generalis (Leibniz, AA VI, 4A, 527). Leibniz, AA VI, 4A, 583f. Das Fragment ist von den Herausgebern mit dem Hinweis versehen, dass es sich um eine Einleitung zur Scientia generalis von Leibniz handeln könnte. Siehe zur Scientia generalis u. a. Couturat 1901; Schepers 1992; Poser 2016; Thiel 2018; Pelletier 2018. 16 Leibniz, GW 7, 46-48. Dort ist das Fragment eingeordnet in Kapitel I, das die Überschrift „Praecognita ad enyclopaediam sive scientiam universalem“ trägt. Gödel hat Abschnitt I der Gerhardt-Ausgabe der Philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, zu der das Fragment gehört, nachweislich gelesen. Vgl. dazu seine Notizen im Gödel-Nachlass, Behältnis 10a, Reihe V, Mappe 35, ursprüngliche Dokumentennummer 050130. Auf die Verbindung der Begriffe von Lust, Glück und dem Ziel der persönlichen Vollkommenheit bei Leibniz verweist im Übrigen auch das Wiener Kreis Mitglied Victor Kraft noch 1968 in seiner Monographie Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral, wo es heißt: „Losgelöst von Lust und Leid wie auch von einer transzendenten Voraussetzung ist das Ziel der persönlichen Vervollkommnung (wie es Leibniz aufgestellt hat). Aber dieses Ziel kommt erst zur Klarheit, wenn angegeben wird, worin die Vervollkommnung besteht. Naturalistisch aufgefaßt, ist es die Ausbildung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, der allgemein menschlichen und individuellen Anlagen. Es ist die Entwicklung von Kraft und Geschicklichkeit, von Intelligenz und Energie, von besonderer Begabung, die Vertiefung und Bereicherung des Gefühls. [...] Es wird [...] sittliche Vervollkommnung der eigenen Person damit gemeint.“ (Kraft 1968, 137) 15

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der Wissenschaften vorausgeschickt. Systematisch gesehen ist es nicht nur verständlich, sondern geradezu geboten, dass man sich selbst auf die Höhe seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten schraubt, ehe man sich der Vervollkommnung des Systems der Wissenschaften zuwendet. Tatsächlich hat Gödel gleichzeitig an den philosophischen Notizbüchern Zeiteinteilung (Maximen) I und II und an weiteren, diesen folgenden geschrieben. Das Verhältnis verschiedener Disziplinen zueinander zu untersuchen ist eines der wesentlichen Vorhaben einer Scientia generalis. Welche Grundbegriffe sind für welche Disziplinen gemeinsam von Bedeutung, welche Fragen und Methoden? In diesen Kontext passt durchaus, dass sich in Gödels Privatbibliothek ein Sonderbändchen zu Immanuel Kant „Der Streit der Philosophischen Fakultät mit der Medizinischen. Grundsatz der Diätetik“ findet, in dem es darum geht, die Frage zu klären, zu welcher Disziplin die Hygiene beziehungsweise Diätetik gehört: zur Philosophie oder zur Medizin?

4

Kants Ausführungen zur Diätetik

Kant, ein weiterer Philosoph, den Gödel, wie man weiß, intensiv studiert hat,17 sieht Diätetik als ein Fachgebiet der Medizin an, wenn es um Heilkunde geht, und als eines der Philosophie, wenn es um Fragen der praktischen Philosophie als Tugendlehre beziehungsweise Ethik geht: „Diese ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnliche Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt.“18 Bedient sie sich dagegen der Pharmazie oder der Chirurgie, geht sie nach Kant bloß empirisch und mechanisch vor. Laut Kant handelt es sich bei Diätetik also dann um ein praktisch philosophisches Unterfangen, wenn man für sich selbst als sein eigener Meister Grundsätze, also mit anderen Worten Maximen, aufstellt und seine Lebensweise danach richtet. Man übernimmt sie nicht von anderen und schreibt sie auch nicht anderen als allgemeingültig vor, sondern gibt sie sich selbst und befolgt sie im Folgenden. Das ist es, was Gödel in Zeiteinteilung (Maximen) I und II tut. Kant stellt die Diätetik in die philosophische

17

Kant 1798 oder Kant 1824. Eine undatierte Reclamausgabe dieses Werkes, erschienen in Leipzig, befindet sich in Gödels Privatbibliothek. 18 Kant, SF, A 173. In der undatierten Reclamausgabe aus Gödels Privatbibliothek findet sich das Zitat auf S. 17f.

Kurt Gödel und die philosophische Tradition der (Selbst-) Vervollkommnung

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Tradition der Stoa. Sie ist, wie wir mit Verweis auf Galen gesehen haben, allerdings älter.

5

Friedrich Jodl über Vervollkommnung

Außer bei Leibniz und Kant dürfte Gödel auch über verschiedene Mitglieder des Wiener Kreises mit dem Konzept der Diätetik als reflektierter Lebensform und Anleitung zur Selbstvervollkommnung in Berührung gekommen sein, denn aus diesem Kreis hat sich eine nicht unerhebliche Anzahl der Mitglieder dazu geäußert. Vielleicht ist dieser Umstand weniger erstaunlich, wenn man vor Augen hat, dass sich moralische Grundsätze für den Wiener Kreis nicht begründen lassen und ethische Leitlinien lediglich selbst gewählte sein können, die man niemandem vorschreiben kann. Und genau das soll eine Diätetik, so Kant, ausmachen, dass man sich qua seiner Vernunft selbst seine Lebensweise bestimmt. Ob der Einfluss, sich zu dieser Form der Ethik zustimmend oder ablehnend zu äußern, bei denjenigen Mitgliedern des Wiener Kreises, die das getan haben, auf Kant zurückzuführen ist oder, via Friedrichs Jodls Geschichte der Ethik nicht doch auf Leibniz, oder gar auf beide, muss dahingestellt sein. Jodl hatte, obgleich bereits 1914 verstorben, einige Bedeutung für die philosophische Orientierung des Wiener Kreises.19 Seine Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft ist dem Anliegen gewidmet, eine rein naturalistische Ethik zu begründen, die ohne Verweis auf metaphysische oder theologische Grundlagen auskommt und war für die Mitglieder des Kreises ein Referenzwerk. In Friedrich Jodls Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft findet sich auch ein Hinweis auf das Konzept der Vervollkommnung bei Leibniz:20 [...] Leibniz [ist] kein einseitiger Intellektualist [...]. Weniger als Spinoza hat er den praktischen Charakter des Sittlichen verkannt. Wohl teilt er mit ihm die Ansicht, daß die Ausbildung der Erkenntnis ein unentbehrliches, ja das vorzüglichste Hilfsmittel zur sittlichen Vervollkommnung sei [...]. Das sind Bestimmungen, welche der antiken Ethik entnommen scheinen. Verständige Auswahl unter unseren Vergnügungen [...]. Aber diese ganz epikurische klingende Auffassung wird an anderen Stellen durch Zusätze ergänzt, welche sowohl an Aristoteles als an Spinoza erinnern. In ihnen wird als 19

Die prägende Rolle Jodls für den Wiener Kreis arbeitet Anne Siegetsleitner in „Engagement in überparteilichen Organisationen“ heraus (Siegetsleitner 2014, 70–84). Vgl. auch Stadler 2015a, 41. 20 Jodl legt dort auch dar, dass Leibniz’ Ethik von dessen Metaphysik und von dessen theologischen Überlegungen, unabhängig ist (Jodl 1906, 517–521).

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das zugleich höchste und dauerndste Lustgefühl das Gefühl der Vollkommenheit bezeichnet und diese als Erhöhung des Wesens. [...] Was in den natürlichen Neigungen und Trieben des Menschen angelegt ist, muß vom Verstande geprüft und in Rücksicht auf seine Fähigkeit, zur Vervollkommnung des menschlichen Wesens beizutragen, untersucht werden. [...] Nicht minder deutlich die Tatsache, daß eine ethische Prinzipienlehre möglich ist, unabhängig von allen metaphysischen und theologischen Konstruktionen. Denn es zeigt sich gerade bei Leibniz schlagend, daß seine Ethik keine Konsequenz seiner Metaphysik ist [...].

Da Jodls Arbeiten für einige Mitglieder des Wiener Kreises eine wichtige Bezugsgröße waren, waren seine Werke Gödel sehr wahrscheinlich bekannt. Jodl verweist in dem zitierten Passus darauf, dass „diese ganz epikurische klingende Auffassung [von Leibniz] an anderen Stellen durch Zusätze ergänzt [wird], welche sowohl an Aristoteles als an Spinoza erinnern.“ Diese Bemerkung ist in vorliegendem Zusammenhang von Interesse und etwas auszuführen, weil sie sich noch weiter als bereits dargelegt mit dem Begriff der Vollkommenheit und der Selbstvervollkommnung in Verbindung bringen lässt. Leibniz’ Konzeption der Monade, und an dieser Stelle muss nun doch von seiner Monadologie die Rede sein, zeigt Einflüsse der aristotelischen Lehre der Entelechie und Vollkommenheit. Sowohl bei Entelechie als auch bei Vollkommenheit geht es darum, ein immanentes Ziel, eine immanente und anzustrebende Vollkommenheit zu erreichen. Dieser Vorgang ist einer der Selbstverwirklichung und die Entelechie oder Vervollkommnung ist auf einen inneren Zustand der Monade zu beziehen. Möglich, dass Jodl die maßgeblichen Impulse für die Mitglieder des Wiener Kreises gesetzt hat, sich mit dem Konzept der Selbstvervollkommnung auseinanderzusetzen, möglich ist aber auch, dass es der dem Wiener Kreis sehr nahestehende Heinrich Gomperz war,21 oder beide. Jedenfalls haben sich, wie bereits angesprochen, einige mit dem Kreis in Verbindung stehende Philosophen mit diesem ethischen Konzept befasst. Zu nennen sind hier Karl Menger, Victor Kraft, Herbert Feigl und mit Einschränkung auch Rudolf Carnap sowie Ludwig Wittgenstein. Man muss in diesem Zusammenhang erwähnen, dass die Äußerungen der Wiener Kreis Mitglieder, die sich explizit zu Selbstvervollkommnung als Instrument der Individualethik äußern, mit nur einer Ausnahme erst niedergeschrieben worden sind, als Gödels Maximen dazu längst handschriftlich niedergelegt worden waren. Die Häufung der Beschäftigung mit diesem Thema durch Kreismitglieder lässt allerdings darauf schließen, dass es bei den regelmäßigen Treffen des Kreises dort 21

Vgl. zum Verhältnis des Gomperz Kreises mit dem Wiener Kreis: Stadler 2015a, 241–250, und Siegetsleitner 2014, 23 Anm. 13; 112 und 333. Siehe ferner zu Gomperz’ Beziehung und Stellung zum Wiener Kreis: Stadler 2015b, 235–276. Außerdem: Stadler 2015a, 4f. u. 6.

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diskutiert wurde und erst in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in verschiedenen Veröffentlichungen wieder von einzelnen aufgenommen wurde. Daher werden die jeweiligen Positionen dazu hier in der nicht unberechtigten Annahme geschildert, dass es sich bei den späten Äußerungen um retrospektive Darlegungen handelt, die ein genaueres Bild auf die Debatten im Wiener Kreis zu einem Zeitpunkt erlauben, als Gödel zwar nicht mehr regelmäßig an dessen Sitzungen teilgenommen hat, sich aber mit dessen Mitgliedern weiterhin in Cafés getroffen hat, wie man nicht zuletzt den Tagebuchaufzeichnungen Carnaps entnehmen kann.

6

Karl Menger

Der Mathematiker Karl Menger, ein Freund und Mentor Gödels, mit dem dieser in Wien eng zusammengearbeitet hat, hat sich bereits 1934 in seinem Werk Moral, Wille und Weltgestaltung mit dem Konzept der Vervollkommnung als ethischer oder moralischer Grundlage des Urteilens und Handelns kritisch befasst und es abgelehnt, hält es jedoch für erforderlich, Folgendes auszuführen: „Sie stützen die moralischen Vorschriften auf den Willen der Natur oder auf Gerechtigkeit oder auf das Streben nach Vervollkommnung oder auf den Weg der Vollendung [...] Ich, mein Freund, werde in meinen erkenntnistheoretischen Ausführungen lediglich Tatsachen festzustellen, zu beschreiben und zu ordnen suchen – von Begründungen und Rechtfertigungen wird dabei naturgemäß gar nicht die Rede sein [...]“ (Menger 1934, 3) „[...], welche Entscheidung gebietet uns das Streben nach Vervollkommnung in irgendeinem ganz konkreten Fall zu treffen?“ (Menger 1934, 13) „Wir sehen also: Natur, Gerechtigkeit, Vervollkommnung, Vollendung [...] sind zur Begründung des Guten und des Bösen oder zur Beantwortung der Frage ‚Was sollen wir tun?‘ ungeeignet [...]“ (Menger 1934, 18).

7

Victor Kraft

Victor Kraft ist dasjenige Wiener Kreis-Mitglied, welches sich in seinen Veröffentlichungen am ausführlichsten zum Themenkomplex Individualmoral (beziehungsweise Individualethik) und Selbstvervollkommnung geäußert hat. In seinem Werk Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral von 1968 geht er in dem Kapitel „Individualmoral“ darauf ein, inwiefern es sich beim Streben nach Lust und Glück in der antiken Ethik, speziell in der Stoa, um selbstverständliche Ziele handelt, um ein

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glückliches Leben zu führen und stellt fest, dass es dafür erforderlich sei, Forderungen einer Individualmoral als Forderungen an die individuelle Lebensführung zu stellen.22 Letztlich lehnt er jedoch die diesbezüglichen Ratschläge der Stoa und der Epikureer ab, weil persönliche Vervollkommnung nicht eingefordert werden könne.23

8

Herbert Feigl

Herbert Feigl gibt sein diesbezügliches Bekenntnis, seine confessio fidei, wie es bei ihm heißt, 1974 ab: „A life that is conducted in accordance with the ideals of justice, kindness, brotherhood, freedom, love and self-perfection24 is the only one [...] that promises genuine satisfaction, perhaps even a measure of joy and happiness“ (Feigl 1974a, 19). Für Feigl lassen sich daraus Maximen ableiten, die einem wissenschaftlichen Humanismus zuzurechnen sind und sich durchaus pragmatisch begründen lassen, aber nicht darüber hinaus.25 Wie gerade gesehen, lehnt der Autor Kraft selbst eine solch pragmatische Rechtfertigung ab.

9

Rudolf Carnap

In ähnlicher Weise, wie sich Feigl in den Schilderungen seines intellektuellen Werdeganges für einen wissenschaftlichen Humanismus ausspricht, tut das auch Rudolf Carnap in seiner intellektuellen Autobiographie, die eine Rekonstruktions- und Erinnerungsarbeit darstellt und erst 1963 in dem ihm und seiner Philosophie gewidmeten Schilpp-Band erschienen ist.26 In dieser Retrospektive lässt sich Carnap darauf ein, 22

Lust und Glück werden von selbst erstrebt; sie müssen nicht erst vorgeschrieben werden. Deshalb sind sie von der antiken Ethik als selbstverständliche Ziele betrachtet worden und auch in der neuzeitlichen war es teilweise der Fall, in der Verknüpfung der Tugend mit dem Glück, in dem Ziel eines allgemeinen Glücks. Die Ethik hat den Weg gesucht, auf dem glückliches Leben am besten gewonnen wird, das heißt, sie hat die Bedingungen für die Erreichung dieses Zieles zu erkennen getrachtet und sie als Forderungen an die individuelle Lebensführung aufgestellt, als Forderungen einer Individualmoral.“ (Kraft 1968, 135) 23 Siegetsleitner 2014, 382. Gödel kann sie daher nicht gekannt haben, als er seiner eigenen Individualethik nachging. Krafts Äußerungen geben, wie bereits angemerkt, dennoch einen retrospektiven Eindruck wieder, was im Wiener Kreis dazu diskutiert worden ist. 24 Hervorhebung von der Autorin (E.-M. E). 25 Vgl. auch Siegetsleitner 2014, 389, 393, 401, 411. 26 Carnap 1963. Vgl. Siegetsleitner 2019.

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seine Überlegungen zur Selbstentfaltung zu äußern und macht deutlich, inwiefern die wichtigste Aufgabe für den Einzelnen die Entwicklung seiner Persönlichkeit sei und daneben fruchtbare Beziehungen zu anderen Menschen.27

10 Ludwig Wittgenstein Einen anderen Fall stellen die Äußerungen Ludwig Wittgensteins dar, der zahlreiche Wiener Kreis Mitglieder mit seiner frühen Philosophie nachhaltig beeinflusst hat. Wir finden bei Wittgenstein keine von ihm veröffentlichten expliziten Äußerungen zu Selbstvervollkommnung, wohl aber in seinen Tagebüchern ethische Forderungen an sich selbst zur Lebensführung, die sich als Weg der Selbstvervollkommnung und Suche nach Klarheit in persönlicher und philosophischer Hinsicht verstehen lassen (vgl. Somavilla 2019).

11 Ethik als Lebensform und Pflicht zur Selbstvervollkommnung Gödel, der seine philosophischen Ansichten als geradezu gegensätzlich zu denen des Wiener Kreises verstanden hat, scheint, was sein Vorgehen in der Ethik anbelangt, also nachgerade im Einklang mit Positionen einiger wichtiger Mitglieder des Wiener Kreises zu sein. Ethik lässt sich nicht weiter begründen, man kann lediglich Regeln für sein eigenes Leben aufstellen, um an dem, was man unter Selbstvervollkommnung versteht, zu arbeiten. Konsequent, wie Gödel in allen Bereichen seines Tuns ist, stellt er denn auch zahlreiche Maximen für sein tägliches Leben und sein akademisches Arbeiten auf, die er für vernünftig hält, und es ist anzunehmen, dass er sie sehr gewissenhaft beachtet hat. Er folgt damit der Tradition, Ethik als Anleitung zur Lebensführung zu verstehen und zieht sein eigenes Leben als Material dafür heran (Gomperz 1927, 234). Ethik ist hier eine Lebensform, die alle Bereiche des Lebens durchdringt und nicht nur eine intellektuelle, theoretische, philosophische Beschäftigung. Wenn man sich in dieser Tradition Regeln dafür gibt, wie man leben soll, umfasst das Ess- und Schlafverhalten, die Einrichtung der Wohnung, aber auch Regeln,

27

Vgl. Siegetsleitner 2014, 93; in der deutschen Übersetzung von Carnaps Text: Carnap 1993, 14f.

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die dem in jeder Hinsicht gewinnbringenden wissenschaftlichen Arbeiten dienen sollen – gewinnbringend für die Zufriedenheit des Forschenden und erfolgversprechend, so dass man zu einem gültigen Resultat kommt. Gödels individualethisches Anliegen war aber, wie seine Unterstreichungen in Albert Schweglers Geschichte der Philosophie im Umriss zeigen, ein sehr viel weiter reichendes als es die erwähnten Mitglieder des Wiener Kreises ansatzweise erkennen lassen. Die ethische Pflicht zur Selbstvervollkommnung soll für ihn dazu führen, ein besserer Mensch und Mathematiker zu werden, aber auch dazu, ein Philosoph, womöglich gar ein Weiser.28 Die folgenden, von Gödel auf den Seiten 121 bis 123 unterstrichenen Passagen in Schweglers Werk (im Abdruck kursiviert) erlauben diese weitreichende Deutung: Den Abschluß der stoischen Lehre bildet die Darstellung des Weisen; sie soll das Ideal der Tugend, wie es dem strengen Begriff nach realisiert werden sollte, und die mit ihr gegebene absolute Glückseligkeit des Subjekts darstellen als Vorbild und als Muster für das Handeln. Der Weise ist der, welcher die wahre Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und die aus ihr fließende absolute sittliche Einsicht und Kraft wirklich besitzt und eben hierdurch alle denkbare menschliche Vollkommenheit in sich vereinigt. […] Der Weise, sagen [die Stoiker], weiß alles, was zu wissen ist, und versteht alles besser als jeder andere, weil er die Kenntnis der wahren Natur der Dinge und die wahre Bildung des Geistes hat; er allein ist der wahre Staatsmann, Gesetzgeber, Redner, Erzieher, Kritiker, Dichter, Arzt, während der Unweise stets roh und ungebildet bleibt, mag er auch noch so viele Kenntnisse besitzen. Der Weise ist ohne Irrtum und Fehler, da er stets reine Vernunft gebraucht. [...] Die Unweisen aber haben in Wahrheit alle inneren und äußeren Güter, die sie zu haben meinen, nicht, weil sie die Grundbedingungen wahrer Glückseligkeit, die Vollkommenheit des Geistes nicht besitzen.

28

Zum Stichwort ‚Weiser/Weisheit‘ passt auch folgendes Zitat aus Gödels Mitschrift von Heinrich Gomperz’ „Vorlesung zur Geschichte der europäischen Philosophie“, wo es auf Manuskriptseite 37f. heißt: „Die Liebe oder Begeisterung über Schönheit ist nur ein Dokument für diese Sehnsucht. Auf diese Pathologie gründet sich folgende Ethik. Die richtige Seelenverfassung ist, dass das Denken herrscht und die Leidenschaft im Dienst dieser Leidenschaft steht und dass diese beiden zusammen die Begierde unterdrücken oder wenigstens einschränken. 1.) Das Denken herrscht (Weisheit). 2.) Die Leidenschaft gehorcht der Vernunft (Tapferkeit) [38] 3.) Dass die Begierde nur soweit ihr Ziel erreichen wird, als es das Denken zulässt, ist die Mäßigkeit. 4.) Dass jede Seelenkraft nur die ihr zukommende Aufgabe erfüllt, ist ihre Rechtschaffenheit. Rechtschaffenheit = Glück. Gesundheit = Rechtschaffenheit der Seele. Man fühlt sich am besten, wenn man eine richtige Seelenverfassung hat, aber nicht das Wohlgefühl, sondern diese Verfassung selbst ist das Wesentliche. Daher ist das Glück unabhängig von allen äußeren Verhältnissen.“ Gödel-Nachlass, Behältnis 6, Reihe III, Mappe 72,5, ursprüngliche Dokumentennummer 030100.4. Transkription von der Autorin (E.-M. E).

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Wie Tugend idealerweise ausgestaltet sein soll, sehen wir also am Handeln des Weisen, an dem sich andere ausrichten können. Damit ist nicht nur eine Anweisung für Handeln gegeben, sondern zugleich auch ein Weg für das Subjekt aufgezeigt, glücklich zu werden. Bereits in Philosophie I Maximen 0 werden Glück und Vervollkommnung (perfectio) von Gödel in Verbindung gesetzt, wenn er schreibt: Unter welche Art von Zielen fällt die eigene Glückseligkeit? | „Wir wollen das eigene Glück“ bedeutet: Wir wollen, dass das realisiert wird, was wir wollen [oder zumindest: Wir wollen es wahrnehmen]. „Jedes Wesen will die eigene Glückseligkeit“ bedeutet also: Jedes Wesen will das, was es will. Oder bedeutet es?: Will das wahrnehmen, was es will. [Also: „Jedes Wesen will eigenes Glück“ ist tautologisch für aesthetische Ziele, aber nicht für moralische]. Wenn gesagt wird: „Jedes Wesen will die eigene perfectio“, so bedeutet das etwas mehr Objektives, es schließt ein, dass es wahrnimmt, was ist und nicht wahrnimmt, was nicht ist. Aber nur objektiv hinsichtlich der eigenen Person. (Gödel, PN 1, 98, Z. 4–15)

Ein vollkommenes Wesen ist der Weise laut Schwegler aber nicht nur als Vorbild an Tugendhaftigkeit, sondern auch, weil er über die richtige Erkenntnis verfügt. Für Gödel sind diese verschiedenen Aspekte von unterschiedlicher Bedeutung. Zunächst einmal ist seine angewandte Individualethik eine selbst auferlegte Anleitung um das simple Alltagsgeschehen besser zu strukturieren, aber auch um sein berufliches Fortkommen strategisch zu planen, und die akademische Arbeitsweise zu optimieren. An einigen Bemerkungen sowie am Aufbau von Gödels Philosophischen Notizbüchern sieht man allerdings, dass er auch die „Kenntnis der wahren Natur der Dinge und die wahre Bildung des Geistes“ vor Augen hat, wenn er angewandte Individualethik betreibt. So schreibt er in Zeiteinteilung (Maximen) I, das oberste Ziel seines Lebens sei die Erkenntnisfreude – ein Ziel, das er schon in der Pubertät für sich gesetzt habe (Gödel, PN 2, 133, Z. 25f.). Das Wesen der Dinge, ihre Natur zu erkennen ist in einigen der auf Zeiteinteilung (Maximen) I und II folgenden Notizbüchern ein wiederkehrendes Thema und kommt auch bereits in dem ersten Notizbuch, nämlich in Philosophie I Maximen 0 zur Sprache. Geht man davon aus, dass es sich bei dem Corpus der Philosophischen Notizbücher Gödels um den Versuch handelt, eine Scientia generalis zu entwerfen, deren Ziel die Vervollkommnung der Wissenschaft ist, der die Vervollkommnung des einzelnen Forschers und Denkers vorangehen muss, ist es von Gödel nur folgerichtig, seine Maximen für die persönliche Vervollkommnung und seine eigene Bildung des Geistes diesem Unterfangen vorangestellt zu haben. Nicht dem Irrtum zu unterliegen, keine Fehler zu begehen, ist denn auch eines der häufig vorkommenden Themen in Gödels Notizbüchern. Den Teufel identifiziert

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er geradezu mit einer Instanz, die zum Irrtum (ver)führt und, so müssten wir im Sinne Schweglers fortfahren, damit die wahre Glückseligkeit, die in der Erkenntnis der Dinge und der Vollkommenheit des Geistes liegt, verhindert. Ein weiteres Stichwort, das in Schweglers Aufzählung dessen, was der Weise besser als alle andere versteht, auftaucht und für Gödel von erheblicher Bedeutung ist, fällt unter den Begriff ‚Arzt‘. Wir hatten schon im Zusammenhang mit Kants Beschäftigung mit Diätetik gesehen, dass deren Bedeutung für ethische und für medizinische Fragen, wie sie der antiken Tradition zu Grunde liegt, über die sie rezipiert wurde, noch weit in die Neuzeit hinein präsent war.29 Gödel hat sich von Diätetik oder Hygiene als angewandter Individualethik, wie der Inhalt einiger seiner Maximen zeigt, auch therapeutische Effekte versprochen. So fragt er in Zeiteinteilung (Maximen) I nach Tätigkeiten, die geeignet sind, den Körper gesund zu halten (Gödel, PN 2, 77, Z. 8). Für ihn sind physische und psychische Gesundheit nicht zuletzt Voraussetzungen dafür, gut arbeiten zu können (Gödel, PN 2, 101f.). Er unterscheidet daher verschiedene Formen körperlicher und psychischer Leiden und ihre Ursachen (Gödel, PN 2, 206f.) und hofft, dass das Befolgen der nach dem Muster der Diätetik selbst auferlegten Regeln ihm dabei hilft, diese zu vermeiden oder zu überwinden.

12 Ethische und theologische Grundsätze für die Mathematik Neben all diesen für Gödels Ethik zentralen Gesichtspunkten (Glückseligkeit; Vollkommenheit des Geistes; Verbindung von Wissen, Wahrheit und Glück; Erkenntnis; Therapie; Irrtums- und Fehlerfreiheit) enthält das Streben nach Vollkommenheit bei Gödel auch das danach, ein besserer Mathematiker zu sein und die Methoden beziehungsweise die Heuristik der Mathematik und damit letztlich die Disziplin zu vervollkommnen. Er beginnt auf Zetteln, die er in Zeiteinteilung (Maximen) II einlegt, damit, nützliche und häufig erfolgreich verwendete Methoden der Mathematik zusammenzustellen30 und fährt damit in Maximen III fort, wo er beispielsweise, über dieses Notizbuch verstreut, 19 wichtige Tätigkeiten des Mathematikers notiert. Zu denjenigen, die auch an anderen Stellen der Philosophischen Notizbücher vorkommen, gehören beispielsweise das Approximieren durch schwächere Theoreme oder die Analogiebildung. 29

Noch im 19. Jahrhundert gibt es eine umfangreiche Literatur dazu. Siehe Gödel, PN 2, 160 (Z. 12–17), 161 (Z. 8–10), 169 (Z. 5–6), 169 (Z. 12–14), 209 (Z. 35–39), 212 (Z. 13–18), 245f. 30

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Die damit hergestellte Verbindung zwischen Ethik und Mathematik wird von Gödel in Maximen III auch ausdrücklich als solche benannt. Dort formuliert er eine Maxime für die Forschung, wonach es zunächst gelte, die allgemeinen ethischen und theologischen Grundsätze für die Mathematik zu präzisieren (Gödel, PN 3, 75, Z. 7– 11). Was unter ethischen Grundsätzen der Mathematik zu verstehen ist, lässt sich am Ende dieser Ausführungen nun rasch erläutern. Was wir uns hingegen unter theologischen Grundätzen der Mathematik vorzustellen haben, lässt sich hier nur noch andeuten. Unter „ethische Grundsätze für Mathematik“ lassen sich Vervollkommnungspflichten des Mathematikers in Bezug auf sein mathematisches Denken fassen, aber auch ganz allgemein „Regelwerke“ für mathematisches Arbeiten. Die Liste der Methoden für die Mathematik und die der wichtigsten Tätigkeiten des Mathematikers sind denn auch nicht mehr in Ich-Form gehalten, sprengen also den Rahmen einer Individualethik.31 So, wie sie formuliert sind, sind sie als eine allgemeine Heuristik zu verstehen, die geeignet ist, das mathematische Denken dessen, der sie beachtet, und die Mathematik als Disziplin zu verbessern. Eine allgemeine Begründung für ihre Geltung wird nicht gegeben, vielmehr ergibt sich aus dem Kontext, dass sie sich in der mathematischen Praxis bewährt haben und dort ständig verwendet werden. So wie sich für Feigl ethische Maximen, die einem wissenschaftlichen Humanismus zuzurechnen sind, pragmatisch begründen lassen, lassen sich dementsprechend Gödels Maximen für eine „Ethik der Mathematik“ auf eben diese Weise, nämlich durch die erfolgreiche Praxis, rechtfertigen. Bei den „theologischen Grundsätzen der Mathematik“32 geht Gödel von einem System von Sätzen aus, die nie geändert werden, sich aber auch nicht weiter begründen lassen. Das sind die „unwiderlegbaren Sätze“, die wichtigen, welche geglaubt werden. Werden hingegen Teile des Systems widerlegt, werden unwichtige Sätze geändert. 31

In einem streng formalen Sinne ist die überwiegende Zahl dieser Maximen auch nicht Teil von Gödels angewandter Individualethik, die er in den Notizbüchern Zeiteinteilung (Maximen) I und II niedergelegt hat, denn die Liste zu den Methoden der Mathematik findet sich als von Gödel eingelegtes loses Blatt (Addendum IIIb, 2vˈ) am Ende von Zeiteinteilung (Maximen) II (siehe Gödel, PN 2, 245f.) und ist mithin kein fester Bestandteil eines der beiden Notizbücher, die der Individualethik gewidmet sind. Die Liste der wichtigen Tätigkeiten des Mathematikers ist hingegen in Maximen III an verschiedenen Stellen aufgeschrieben, wobei Maximen III, anders als Zeiteinteilung (Maximen) I und II, die durchgehend paginiert sind, mit neuer Seitenzählung beginnt. Diese Paginierung wird bis einschließlich Notizbuch Maximen VIII fortgesetzt, was anzeigt, dass wir es hier mit einem zusammenhängenden Teil innerhalb des Konvoluts von Gödels Philosophischen Notizbüchern zu tun haben, der Zeiteinteilung (Maximen) I und II nicht einschließt. 32 Gödel, PN 3, 75 (Z. 7–11) in Verbindung mit 69 (Z. 1–14).

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Gödel hat zahlreiche Aspekte, die zur philosophischen Tradition der Vervollkommnung gehören, aufgegriffen und in seinen Philosophischen Notizbüchern genutzt. Es sind insbesondere der der Glückseligkeit, der der Vollkommenheit des Geistes, sowie der der Verbindung von Wissen, Wahrheit und Glück. Dazu kommt der therapeutische Gewinn, den die stoische Lehre und die Diätetik, die sex res non naturales inbegriffen, versprechen. Die philosophischen Beweggründe, diese Lehren auf sein Leben anzuwenden, sind darin zu sehen, auf diese Weise zu wahrer Erkenntnis und Vollkommenheit zu gelangen.

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Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik und der Geist des Kapitalismus oder der dritte Weg zwischen Marx und Weber als der Weg des „Marxismus eines Jesuiten“ Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik

Ulrich Arnswald

Otto Neurath habilitierte sich 1917 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, nachdem ein erster Anlauf an der Grazer Karl-Franzens-Universität unter dem Dekan Joseph Schumpeter im November 1916 unter bis heute ungeklärten Umständen – hierzu liegen keine Dokumente vor – zu keinem erfolgreichen Abschluss führte. Dabei könnte für Neurath den Ausschlag für Heidelberg gegeben haben, dass er bereits wiederholt in der seit 1904 von den Heidelberger Professoren Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber herausgegebenen Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik publiziert hatte und Max Webers jüngeren Bruder, den Nationalökonomen Alfred Weber, bereits von seinem Studium in Berlin sowie aus dem „Verein für Socialpolitik“ kannte. Zugleich aber dürfte für Neurath vermutlich auch das Entgegenkommen der Heidelberger Universität maßgeblich gewesen sein, da er dort die Habilitation mit seinen veröffentlichten Aufsätzen zur Kriegswirtschaft im Kumulativverfahren vornehmen durfte. Mit erfolgreichem Abschluss des Verfahrens wurde ihm die Venia Legendi für das Fach Politische Ökonomie in Heidelberg zuteil, wobei Neurath aufgrund vielfältiger Verpflichtungen in Wien und Leipzig, später dann in München, bis zum weithin bekannten Entzug der Lehrbefugnis im Jahr 1919 in Heidelberg nie gelesen hat, was als Grund für den Akt der Aberkennung geltend gemacht wurde (vgl. Sandner 2014, 104f.). Aufgrund Neuraths Vita kann man davon ausgehen, dass dieser mit dem Werk Max Webers zumindest ein wenig vertraut gewesen sein muss. Ohne Zweifel ist eine Auseinandersetzung zwischen Weber und Neurath in Fragen der Neurathschen The-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_11

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orie der Vollsozialisierung bekannt, die Weber kritisch sah, auch weil er die Übernahme eines Modells aus der Kriegswirtschaft für Friedenszeiten ebenso wie den von Neurath propagierten Sozialismus als zu organisierenden Wirtschaftsplan für nicht praktikabel erachtete. Weiterhin ist gesichert, dass Otto Neurath im Februar 1920 noch kurz vor seiner Abschiebung nach Österreich in Folge seiner Teilnahme an der Münchener Räterepublik an einer von Studenten organisierten Debatte im Münchener Rathaus zwischen Oswald Spengler und Max Weber teilnahm (vgl. Sandner 2014, 143f., 153f.), deren Gegenstand offenkundig Spenglers 1918 erstmals erschienener erste Band Gestalt und Wirklichkeit des Werkes Der Untergang des Abendlandes gewesen sein muss, da der zweite Band Welthistorische Perspektiven bekanntlich erst 1922 publiziert wurde. Diese Auseinandersetzung, in der Neurath auf Seiten Webers als Kritiker Spenglers verortet werden kann, mündete in Neuraths polemischen Traktat mit dem Titel der Anti-Spengler, der 1921 veröffentlicht wurde (vgl. Klemperer 2003, 297).

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Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem neben Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 1980/1922) und Wissenschaft als Beruf (Weber 2011/1919) sowie Politik als Beruf (Weber 1993/1919) vielleicht wirkungsmächtigsten Werk Max Webers, welches in Amerika als ein geradezu kanonisches Buch begriffen wird, nämlich Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Weber 2010/1904/1905), ist hingegen nicht überliefert, auch wenn Neurath das Werk Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus (1930) von Johann Baptist Kraus rezipierte und 1931 in seinem Aufsatz „Marxismus eines Jesuiten“1 in der sozialdemokratischen Monatsschrift Der Kampf2 rezensierte, welches wiederum eine Kritik des besagten Beitrags Webers zur Wirtschaft- und Kulturgeschichte des modernen Kapitalismus darstellt.

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Erstaunlicherweise schreibt Neurath den Namen des Autors falsch. Anstatt J. B. Kraus heißt es bei ihm I. B. Kraus, was auf eine gewisse Schlampigkeit verweist und mit dessen durchgängig „lässigen“ Umgang mit dem Text korrespondiert. Vgl. Neurath 1931b, 402. Auch ist auffallend, dass er im gesamten Text nicht einmal direkt auf Max Webers’ Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus rekurriert, sondern seine eigene Einschätzung ausschließlich auf Basis der Lektüre der Schrift Kraus’ wiedergibt. 2 Die Originalausgabe erschien in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, 24 Jhrg., Heft 6, Juni 1931, 271–274.

Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik

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Es ist vielmehr zu befürchten, dass Neurath nur durch Kraus – sozusagen aus zweiter Hand – mit Webers Protestantischer Ethik in Berührung kam, gerade auch da er im gleichen Jahr in seiner Empirischen Soziologie (1931) erneut nur sporadisch an sehr wenigen Stellen auf Webers Schrift Bezug nimmt, wobei die dort vorgetragenen Punkte offenkundig mit der Rezension Marxismus eines Jesuiten abgestimmt sind. Dafür spricht weiterhin, dass Otto Neurath Kraus’ Argumente übernimmt, ohne diese gegenüber dem Primärtext Webers zu prüfen, welcher ihm eigentlich aus noch zu erörternden Gründen wissenschaftlich hätte näherstehen müssen, so dass er deren Fehlerhaftigkeit bzw. Tendenziösität nicht erkannte. Letzteres zeigt sich vor allem in folgender Bemerkung Neuraths: Dadurch, daß Weber dem „Geist“ als einer unräumlichen Größe eine Stellung im System einräumt, gibt er den Worten und theoretischen Schriften, die gewissermaßen dem „Geiste“ näherstehen, eine Sonderstellung, gibt ihnen ein größeres Gewicht als ein Empiriker, der Worte und Bücher wie andere Dinge in Rechnung stellt. (Neurath 1931b, 402)

Hieraus lässt sich folgern, dass Neurath nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung zog, dass man das Werk Webers auch als ein empirisches Werk lesen kann, welches mit einer historischen Datenbasis korrespondiert – und dies, obwohl er selbst in seiner Empirischen Soziologie einräumt, dass Max Weber sich „um empirische Behandlung der Soziologie bemüht“ (Neurath 1931a, 58) hat. Sein Blickwinkel auf Weber unter der Marx’schen Perspektive scheint seinen Blick auf dessen Protestantismusstudie dermaßen eingeschränkt zu haben, dass er nur die ökonomische Betrachtung der Geschichte im Sinne Marx’ in den Vordergrund stellt, nicht aber den Hintergrund von Webers idealtypischer Geschichtskonstruktion unter dem Stichwort „Geist des Kapitalismus“ erkennen konnte bzw. wollte, die dieser ausschließlich aus empirischen Besonderheiten der puritanischen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts sowie anhand von Merkmalen der religiösen Tradition des asketischen Protestantismus abgeleitet hatte. In seinem Aufsatz „Marxismus eines Jesuiten“ wartet Otto Neurath eingangs mit folgender recht kruden Behauptung auf: „Die Ideen formen die Wirtschaft, das ist die These Max Webers und einer großen Zahl bürgerlicher Soziologen, die ihm nahestehen.“ (Neurath 1931b, 401). Bereits diese erste Äußerung zum vermeintlichen Ansatz Webers ist sachlich falsch und verfestigte unnötigerweise die vorgefertigte Gedankenschablone unter der Neurath Weber betrachtete, was ihn Max Weber ebenso fälschlicherweise als „einen vulgären Idealisten“ (Derman 2012, 95) zeichnen ließ.3 3

Wolfgang Schluchter hält hierzu pointiert fest: „Of course, Weber wanted to overcome historical materialism, but without siding with idealism.“ Und ebenso: „As we can see, Weber pursued from

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Mit „Idealist“ war dabei abwertend gemeint, dass dieser die Bedeutung der Ideen und Glaubensinhalte des Protestantismus für das Entstehen des modernen Kapitalismus übertrieb und zugleich davon ausging, dass diese unmittelbar die moderne kapitalistische Wirtschaft formen und beherrschen würden. Demnach würden die Ideen und Glaubensinhalte unmittelbar das Handeln bestimmen, was aber nicht den Tatsachen entsprach, da diese nur mittelbar auf das Weltbild und die Lebensführung eines jeden einzelnen Religiösen abstellten. Diese falsche Auffassung Neuraths ist insofern tragisch, da Weber nie die Idee vertrat, dass Ideen geradewegs die Wirtschaft formen könnten (Kaesler 2010, 16). Vielmehr ging es ihm um einen sehr viel bescheideneren Anspruch, nämlich herauszuarbeiten, dass der asketische Protestantismus bzw. Puritanismus4 ein konstitutiver Bestandteil des modernen kapitalistischen Geistes sei und als dessen Verstärker fungiere. Weber selbst hält über die Intention der Protestantischen Ethik präzise fest: „[E]s soll nur festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes „Geistes“ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen.“ (Weber 2010, 106) Max Weber erläutert in seiner Studie daher detailliert, weshalb es für das Verständnis des modernen Kapitalismus nicht etwa darauf ankomme, nachzuvollziehen, „was etwa in ethischen Kompendien der Zeit theoretisch und offiziell gelehrt wurde“, „sondern auf etwas ganz anderes: auf die Ermittelung derjenigen durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten. Diese Antriebe aber entsprangen nun einmal in hohem Maße auch der Eigenart der religiösen Glaubensvorstellungen.“ (Weber 2010, 141) Wer diese Stellen der Protestantischen Ethik gelesen hat, kann kaum auf die sachlich falsche und äußerst profane Aussage Neuraths, dass Ideen die Wirtschaft formen, schließen, zumal der Antrieb zu etwas auch kaum mit einer Idee gleichzusetzen ist. Auch an anderer Stelle in der Empirischen Soziologie dokumentiert Neurath, dass er die Bedeutung des „Geistes“ auf die Lebensführung der Individuen nicht übersetzten konnte, denn er schreibt: „Am stärksten um empiristische Behandlung der Soziologie bemüht, hat Max Weber dennoch dauernd eine grundsätzlich anti-behavioristische the very beginning and till the very end a program beyond materialism and idealism, and he did not waver on this issue over the course of time.“ (Schluchter 2014, 11–31, hier 15, 17.) 4 Puritanismus wird hier in dem Sinn verwendet, „den er in der populären Sprache des 17. Jahrhunderts angenommen hatte: die asketisch gerichteten religiösen Bewegungen in Holland und England, ohne Unterschied der Kirchenverfassungsprogramme und Dogmen, also mit Einschluß der ‚Independenten‘, Kongregationalisten, Baptisten, Mennoniten und Quäker.“ (Kaesler 2010, 202–276, hier: 203, Anm. 2.)

Otto Neuraths Auseinandersetzung mit Max Webers protestantischer Ethik

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Einstellung angestrebt, er, der immer wieder dem ‚Geist‘ der Zeitalter eine bewegende Kraft im Sozialen zuschrieb“ (Neurath 1931a, 54). Die Wortwahl ist frappierend, denn der „Geist“ kann wohl kaum „eine bewegende Kraft im Sozialen“ darstellen, sondern, wenn schon, dann verändert der „Geist“ das Weltbild der Menschen und deren Lebensführung, was dann indirekt eine Auswirkung auf die gesamte Stoßrichtung in Form einer gesellschaftlichen Kraft nach sich ziehen mag. Diese gravierenden Fehlauslegungen Neuraths korrigierten sich auch im weiteren Verlauf dessen Auseinandersetzung mit Kraus’ Buch Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus bedauerlicherweise nicht mehr, was somit ein uneinholbar falsches Urteil über Webers Werk durch Neurath nach sich zog. Es kann nur vermutet werden, dass Neuraths Gefallen daran, dass er einen Jesuiten, nämlich Johann Baptist Kraus, aufgrund dessen Weber-Interpretation als Kronzeugen für den Marxismus einführen konnte, sein Interesse überwog und seinem Naturell zur Polemik soweit entgegenkam, dass eine gründliche Würdigung der Weberschen These sowie dessen Protestantismusstudie en detail geradezu fahrlässig unterblieben. Damit sitzt Neurath ebenso wie Kraus zugleich dem weit verbreiteten Irrtum auf, dass Webers Schrift als Anti-These zu Marx zu verstehen sei.5 Diese falsche Verortung in Form der Bezugnahme der Schrift Webers als Gegenthese zu Marx kommt in Otto Neuraths Aufsatz Marxismus eines Jesuiten aus dem Jahr 1931 dadurch zum Ausdruck, dass der Autor einerseits manifestiert, dass dieser methodologisch „die mittlere Linie zwischen Max Weber und Karl Marx“ (Neurath 1931b, 404) suche, also den besagten dritten Weg als Weg des „Marxismus eines Jesuiten“, andererseits – wie der Titel andeutet – den Jesuiten J. B. Kraus gegen Weber dahin gehend ins Feld führt, indem er behauptet, dass dieser „besonders viel beweiskräftiges Material gegen Max Weber“ (Neurath 1931b, 402) liefere, die in Webers „historisch widerlegbaren Aussage, die kalvinische Lehre habe ihre dem kapitalistischen Getriebe förderliche Form erhalten, bevor die kapitalistischen Verwaltungsweisen da waren“ (Neurath 1931b, 402), kulminiere. Webers vermeintlich historische Falschaussage lautet dabei laut Neurath auf den Punkt wie folgt: „[D]ie Menschen seien erst Kalvinisten bestimmter Färbung geworden und dann Kapitalisten.“ (Neurath 1931b, 402). 5

Kaesler 2010, 8–12. Ebenso warnen in ihrer Einleitung der Herausgeber Klaus Lichtblau und Johannes Weiß vor genau diesem Mißverständnis, welches bis heute virulent ist: „Obgleich Weber selbst wiederholt davor gewarnt hatte, daß es genauso einseitig und problematisch sei, die Beschränkungen einer rein ‚ökonomischen Geschichtsbetrachtung’ durch eine dezidiert ‚idealistische‘ bzw. ‚spiritualistische‘ Geschichtskonstruktion zu ersetzen, ist seine Protestantismusstudie gleichwohl immer wieder vor allem sowohl als eine inhaltliche als auch methodologische Gegenposition gegenüber zentralen Grundannahmen der Marxschen Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie verstanden worden.“ (Lichtblau/ Weiß 2010, VII–XXIV, VII).

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Eigentlich hätte Otto Neurath aber bei genauem Lesen zwingend erkennen müssen, dass dies nicht J. B. Kraus’ These ist, da dieser das Entstehen des Kapitalismus gerade nicht mit dem Beginn des Kalvinismus bzw. Puritanismus gleichsetzt. Vielleicht hat Neurath dies sogar erkannt, was dann vielmehr für eine billige Polemik gegen Weber sprechen würde, denn merkwürdigerweise fasst Neurath Kraus’ gänzlich anders lautende Kernaussage hierzu vollkommen richtig und präzise zusammen: Nicht die kalvinische Religion hat den englischen Kaufmann geschaffen, sondern der englische Kaufmann adoptierte und adaptierte die kalvinische Religion im Gegensatz zur anglikanischen Kirche, weil sie ihm, abgesehen von der durch äußere Faktoren bestimmten Opposition zum traditionellen anglikanischen Staats- und Kirchensystem kongenial war. (Neurath 1931b, 402)

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Kraus’ Auseinandersetzung mit Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Für Johann Baptist Kraus steht somit die Frage im Mittelpunkt „inwieweit der Puritanismus den kapitalistischen Geist gezeugt hat und damit als Ahne des modernen Kapitalismus anzusprechen ist“ (Kraus 1930, 292), nicht aber „ob“ der Puritanismus bzw. Kalvinismus den kapitalistischen Geist ausschließlich gezeugt hätte, wie Neurath wider jeglicher Tatsachen in Marxismus eines Jesuiten zu suggerieren versucht. Demnach müsste man nämlich erst Kalvinist sein, um Kapitalist werden zu können. Bereits hier findet eine schwerwiegende Verdrehung und Veränderung des Sachverhaltes statt, die so weder dem Werk Kraus’ noch Webers zu entnehmen ist. Ob Neurath Kraus diese Verdrehung unabsichtlich unterstellt, weil nicht hinreichend durchdrungen, oder dieser aber absichtlich mit Vorsatz vorgenommen hat, weil politisch von ihm so zielgerichtet gegen Weber verwendbar, kann abschließend nicht gesagt werden. Fest steht, dass der von Neurath in „Marxismus eines Jesuiten“ Kraus zugeschriebene Sachverhalt nicht dessen Aussage in Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus wiedergibt, der durchaus von einem Bestehen des Kapitalismus vor dem modernen Geist des Kapitalismus der Neuen Welt ausgeht. Die falsche Wiedergabe Webers durch Neurath lässt sich jedenfalls gut festmachen, denn: Der Kapitalismus und sein „Geist“ hatten natürlich auch an anderen Orten existiert, doch in der Neuen Welt schien er sich vergleichsweise ungehindert und auf konzentrierte, ja geradezu unbändige Weise entfalten zu können. Weber hatte die prägen-

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den Merkmale der modernen kapitalistischen Wirtschaft sorgfältig analysiert und Abgrenzungen vorgenommen zwischen den Unternehmungen in der Antike und im europäischen Mittelalter und den neuen Formen des rationalen Kapitalumschlags und der Geldanlage in den modernen Industriestaaten mit einem „freien“ oder „sich selbst regulierenden“ Handel und ebensolchen Arbeitsverhältnissen und Kapitalmärkten. In Amerika war er offensichtlich beeindruckt von der Dynamik und den Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten – des rapiden Wachstums, des Arbeitsaufwands insgesamt, der massiven demographischen Verschiebungen, der sozialen Konflikte und der beunruhigenden Verwandlung der Natur in materiellen Wohlstand. (Scaff 2013, 229)

Für Kraus’ Kritik an der Weberschen These gilt daher vielmehr nur: „Abzulehnen sind alle Versuche, ‚einen kapitalistischen Geist‘ aufzuzeigen, der die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus sich heraus konstruiert, gewissermaßen als seine Verobjektivierung aus sich heraus setzt.“ (Kraus 1930, 299) Während Kraus eine Verabsolutierung des Kalvinismus bzw. Puritanismus als einzige Triebfeder des Kapitalismus ablehnt, um für den Katholizismus gleichermaßen einen gehörigen Anteil an der Entwicklung des Kapitalismus einzufordern,6 bestreitet er aber zugleich nicht deren Bedeutung für die Entstehung des modernen Kapitalismus, wie sich hier anhand von zwei Passagen aus Kraus’ Schrift exemplarisch festmachen lässt: Daß der Puritanismus auch durch seine straffe Disziplin, durch Förderung und Methodisierung einer rationellen Lebensweise innerhalb der von ihm erfaßten Kreise, hauptsächlich der gut situierten, aber nicht übermäßig reichen Mittelklasse, ein bedeutender Faktor als Charakter- und Willensbildner war und sein gut Teil zur Schaffung einer Mentalität beitrug, die ein guter Nährboden für kapitalistisch eingestellte Menschen war, kann nicht genug betont werden. (Kraus 1930, 303)

und

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Joshua Derman verweist nicht von ungefähr auf den damals noch in der Erinnerung existenten Kulturkampf zwischen Protestanten und Katholiken. Insbesondere die Beanspruchung des den modernen Kapitalismus im Sinne der Protestantischen Ethik vorlaufenden Kapitalismus als ein stark durch den Katholizismus geprägtes Gebilde widerspricht Max Weber nicht nur nicht, sondern es ist vielmehr Teil seines eigenen Narrativs. Somit argumentiert Kraus mit Weber gegen Weber, was bereits deutlich macht, dass es Kritik um der Kritik Willen ist. Er reiht sich folglich nur in eine Schlange der Polemiker des Kulturkampfes, denen es um den Streit der konkurrierenden Religionen ging und nicht um die Ergründung des Geistes des Kapitalismus. Derman schreibt hierzu: „Many of the major polemics in early-twentieth-century German culture and society – concerning the Kulturkampf between Lutherans and Catholics, the validity of historical materialism, and the meaning of life in an age of specialization and professionalization – could draw ammunition from The Protestant Ethic, and Weber’s contemporaries eagerly seized on his analysis to articulate their own idiosyncratic views.“ (Derman 2012, 81)

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Der Puritanismus diente als Sammelbecken der unzufriedenen Elemente und wurde als Vorkämpfer gegen religiösen, wirtschaftlichen und politischen Absolutismus zum Organisator der Gegenkräfte. Durch seine Apotheose von Arbeit und Wirtschaftstugenden und seine Bekämpfung kollektiver Kontrolle des Wirtschaftslebens bereitete er den Weg für den neuen liberalen Wirtschaftsgeist, für den Verabsolutierung des Eigentumsbegriffs, Emanzipation von sozialen Bindungen und Diensten, Verherrlichung des Wirtschaftserfolges, Primat der Eigeninteressen des Unternehmers charakteristisch sind. (Kraus 1930, 308)

Max Weber führt nämlich in seiner protestantischen Ethik als maßgebliche These, die auch als „Protestantismus-Kapitalismus-These“ oder als „Weber-These“ bezeichnet wird (vgl. Kaesler 2010, 8), nur aus, dass der Puritanismus und der Kalvinismus konstitutiver Bestandteil des Geistes des Kapitalismus seien und dessen Entwicklung historisch betrachtet maßgeblich verstärkt hätten. Dabei ist der später von seinen Kritikern vor allem als problematisch herausgearbeitete Geist des Kapitalismus nichts anderes als ein historischer Begriff einer spezifischen Erscheinungsform des Kapitalismus im Sinne des oben zitierten „neuen liberalen Wirtschaftsgeistes“, der als ein Idealtypus, also als zielgerichteter konstruierter Begriff, helfen soll, Ausschnitte der historischen sozialen Wirklichkeit zu erkennen, zu gruppieren und zu erfassen. Mittels dieser Abstraktion sollen wesentliche Aspekte herausgehoben und kenntlich gemacht werden. Diese werden dabei oftmals überzeichnet. Es ist somit gerade kein wirklicher, real existierender Geist, wie ihn seine Kritiker begriffen und bekanntlich Max Weber immer wieder widersprechend vorwarfen, sondern vielmehr steht der Begriff für eine Art Gedanken- bzw. Idealbild, welches aber das Weltbild und die Lebensführung der Protestanten beeinflusste. Diesen Vorgang der historischen Fokussierung – heutzutage wohl „Cluster-Bildung“ genannt – auf den zur Interpretation der empirischen Befunde zielgerichtet konstruierten Idealtypus des Geistes des Kapitalismus fasst Dirk Kaesler wie folgt zusammen: „Einige jener Ideen, die radikale Protestanten des 16. und 17. Jahrhunderts auf der Suche nach einigermaßen verläßlichen Zeichen Gottes für ihre Erlösung von der ewigen Verdammnis entwickelten, wirkten entscheidend mit am Bau einer Welt von Glaubensinhalten und Verhaltensweisen.“ (Kaesler 2010, 7) Letztere dienten als konstitutive Elemente des modernen Kapitalismus und verstärkten dessen Entwicklung wie Wirkung. Problematisch ist weiterhin, dass man diesen Vorwurf kaum Max Webers Protestantischer Ethik entnehmen kann. Für Webers Schrift gilt vielmehr: Die Menschen waren zuerst Kapitalisten und wurden dann Kalvinisten, wodurch sie ihren Kapitalismus noch steigerten und bedingt durch den Kalvinismus zu einer Art protestantischen – somit gottgefälligen – modernen Kapitalismus umwandelten und ausbauten.

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Insofern stimmen selbst die von Neurath benannten chronologischen Abläufe der Kapitalismusentwicklung nicht mit denen in Webers Geist des Kapitalismus überein. Otto Neurath überbietet die Polemik Kraus’, offensichtlich ohne selbst die Webersche Originalquelle konsultiert und sich durch eigenes Quellenstudium hinreichend abgesichert zu haben. Wissenschaftlich ist diese Vorgehensweise unseriös, sie lässt sogar Ressentiments Neuraths gegen Max Weber vermuten, die eventuell aus politisch unterschiedlichen Weltauffassungen und/oder aus Webers großbürgerlichen Habitus resultierten. Diese Vorgehensweise kann auch weder durch die vorgeschobene, hier folgende Erläuterung Neuraths zu seiner Auseinandersetzung mit Kraus’ Buch begründet noch gerechtfertigt werden: „Jeder Marxist, der sich für Webers Religionssoziologie interessiert, soll dieses Buch lesen. Unsere Berichterstattung diene nur dazu, über den Inhalt des Buches, soweit er marxistisch wichtig ist, zu orientieren.“ (1981, 402) Die zitierte Einschränkung ist offenbarend, kann aber dennoch den Autor Otto Neurath nicht von einem gründlichen Quellenstudium salvieren. Der Rezensent eines Buches hat die Thesen gründlich zu prüfen und kann sich nicht damit herauszureden versuchen, dass man nur das geprüft und zur Kenntnis genommen habe, was „marxistisch wichtig“ sei. Denn wenn das vermeintlich „marxistisch Wichtige“ auf einer falschen Quelle oder Auslegung aufruht, kann sich herausstellen, dass es nach gründlicher Prüfung keinen Bestand mehr für sich in Anspruch nehmen kann. Daher ist die zitierte Aussage Neuraths eigentlich bereits ein Eingeständnis, den Autor Kraus nur tendenziös und ganz nach Gusto rezipiert zu haben, was somit wissenschaftlichen Ansprüchen – damals wie heute – kaum genügt.

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Webers protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Nach all den ideologischen Verdrehungen und Polemiken Neuraths sowie Kraus’ erscheint es notwendig, den Blick noch einmal direkt auf Webers Werk zu werfen, welches oftmals „als das ‚berühmteste’ Buch der Soziologie bezeichnet“ (Derman 2012, 256) wird, auch wenn der komplexe und ideengeschichtlich umfangreiche Argumentationsstrang der Protestantischen Ethik an dieser Stelle nicht vollständig rekapituliert werden kann: Kerngedanke der in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus vertretenen These ist unstrittig die Feststellung, dass der asketische

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Protestantismus mit seinen vier Hauptströmungen in Form des Calvinismus, des Pietismus, des Methodismus sowie des Baptismus die Entstehung des modernen Kapitalismus sowohl gefördert als auch verstärkt hat.7 Max Weber verbindet diese Strömungen mit einer Veränderung des Berufsethos, der wiederum zur alles treibenden Kraft des modernen Kapitalismus wurde: „Die Grundthese aller Spielarten des ‚asketischen‘ Protestantismus: – radikaler Baptismus, Mennonitentum, Quäkertum, Methodismus und die asketischen Zweige des kontinentalen Pietismus: – daß nur die Bewährung im Leben, spezifisch aber in der Berufsarbeit, die Versicherung der Wiedergeburt und Rechtfertigung enthalte, drängte immer wieder in die Bahn: Der ‚bewährte‘ Christ ist der bewährte ‚Berufsmensch‘, spezifisch der vom kapitalistischen Standpunkt aus tüchtige Geschäftsmann.“ (Weber 2010, 314) Das Buch ist – wie Joshua Derman zu Recht betont – „kein Manifest im Namen des historischen Idealismus“ (Derman 2012, 95) und somit auch kein Gegenentwurf zu Karl Marx’ Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, wie Neurath fälschlich annimmt. Vielmehr geht es in der protestantischen Ethik um das Verständnis der reformierten Christen, dass sie durch einen extremen Arbeitsethos und Sparsamkeit zu Reichtum und Vermögen kommen können, die wiederum ihre Gottgefälligkeit zum Ausdruck bringen, denn der weltliche Erfolg wurde als Berufung zur Seligkeit im Jenseits und somit als gottgewollter Gnadenstand verstanden. Im irdischen Erfolg drückt sich daher die Erwählung des Einzelnen durch Gott aus, der die Tüchtigkeit des Gläubigen belohnt. Laut Max Weber ist es das „summum bonum“, das „Leitmotiv“ wenn man so will der Protestantischen Ethik, dass der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem „Glück“ oder dem „Nutzen“ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen. (Weber 2010, 78)

Und die Quintessenz dieses gesamten Unterfangen ist so banal wie bescheiden: „Er ‚hat nichts‘ von seinem Reichtum für seine Person, – außer: der irrationalen Empfindung guter ‚Berufserfüllung‘.“ (Weber 2010, 92) 7

Vgl. hierzu das Kapitel „Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese“ in Weber 2010, 139–181.

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Damit manifestiert sich auch der Unterschied zu früheren Epochen des Kapitalismus, denen es gegenüber dem modernen Kapitalismus nicht an „Erwerbstrieb“ oder „Geldgier“ mangelte, sondern deren Triebfeder noch die Befriedung materieller Lebensbedürfnisse war und nicht einzig die „Berufserfüllung“ als Beweis, Gott wohlgefällig zu leben.8 Dementsprechend bescheiden waren die denkbaren wenigen Genugtuungen, die der moderne Kapitalist für sich in Anspruch nehmen durfte, wenn er seinen innerweltlichen Pflichten nachkommen wollte. Es gab nur wenig Anlass zur Freude, da Genugtuungen sich nur aus der möglichen Wertschätzung der Resultate der eigenen Pflichterfüllung ergeben konnten wie z. B. „Freude und Stolz Menschen Arbeit zu geben“, „Mitwirkung am Aufblühen der Heimatstadt“ oder an „Handelsund Wertschöpfungsstatistiken“ etc. (Weber 2010, 95). Der mit dem modernen Kapitalismus einhergehende Berufsethos war somit erst ein Produkt der Reformation, für den galt: „Unbedingt neu war jedenfalls zunächst eins: die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb des weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne“ (Weber 2010, 97). Und genau aus dieser innerweltlichen Pflichterfüllung als sittliche Betätigung im Sinne der religiösen Praxis ergab sich der neu herausgebildete Glaubensinhalt, der die Idee und den Geist des Kapitalismus ausmachte und der durchaus darwinistische Züge aufzeigte: Das bedeutet nun aber praktisch, im Grunde: daß Gott dem hilft, der sich selber hilft, daß also der Calvinist, wie es auch gelegentlich ausgedrückt wird, seine Seligkeit – korrekt müßte es heißen: die Gewißheit von derselben – selbst „schafft“, daß aber dieses Schaffen nicht wie im Katholizismus in einem allmählichen Aufspeichern verdienstlicher Einzelleistungen bestehen kann, sondern in einer zu jeder Zeit vor der Alternative: erwählt oder verworfen? stehenden systematischen Selbstkontrolle. (Weber 2010, 153)

Hieraus wird deutlich, dass es sich um eine Ethik der Kompromisslosigkeit und der Härte handelt, in der sich jeder permanent der Selbstkontrolle unterziehen muss, um

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Weber 2010, 80. Max Weber führt diesen Aspekt an anderer Stelle noch plakativer aus, wenn er schreibt: „In der verschieden starken Entwicklung irgendeines ‚Triebes‘ nach dem Gelde also liegt der Unterschied nicht. Die auri sacra fames ist so alt wie die uns bekannte Geschichte der Menschheit; wir werden aber sehen, daß diejenigen, die ihr als Trieb sich vorbehaltlos hingaben – wie etwa jener holländische Kapitän, der ‚Gewinnes halber durch die Hölle fahren wollte, und wenn er sich die Segel ansengte‘ – keineswegs die Vertreter derjenigen Gesinnung waren, aus welcher der spezifisch moderne kapitalistische ‚Geist‘ als Massenerscheinung – und darauf kommt es an – hervorbrach. Den rücksichtslosen, an keine Norm innerlich sich bindenden Erwerb hat es zu allen Zeiten der Geschichte gegeben, wo und wie immer er tatsächlich überhaupt möglich war.“ (Weber 2010, 81)

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seine eigene Heilsgewissheit zu schaffen und sich seines Gnadenstandes zu versichern, um somit letztlich zu den Erwählten zu gehören, die die Seligkeit nach dem Leben erlangen: Denn diesem Gottesgnadentum der Erwählten und deshalb Heiligen war angesichts der Sünde des Nächsten nicht nachsichtige Hilfsbereitschaft im Bewußtsein der eigenen Schwäche, sondern der Haß und die Verachtung gegen ihn als einen Feind Gottes, der das Zeichen ewiger Verwerfung an sich trägt, adäquat. (Weber 2010, 158)

Dieses gottgewollte Auserwähltsein der Erfolgreichen bedingte auch, dass es keiner weiteren Reflexion der prekären Lage der weniger Erfolgreichen oder Kranken und Schwachen benötigte, da diese selbst Herr ihres Schicksals waren, so dass ihre Schwäche sie als Feind Gottes und nicht des Gottesgnadentums würdig erscheinen ließ: Schematisch ausgedrückt: anstelle des Unternehmers, der sich in seinem „Chrematismus“ von Gott höchstens „toleriert“ fühlen konnte, der, wie etwa noch heute der einheimische indische Händler, seine „usuraria pravitas“ abzubüßen oder wett zu machen hatte, trat der Unternehmer mit dem ungebrochenen guten Gewissen, von dem Bewußtsein erfüllt, daß die Vorsehung ihm nicht ohne bestimmte Absicht den Weg zum Gewinn zeige, damit er ihn zu Gottes Ruhm beschreite, daß Gott in der Vermehrung seines Gewinns und Besitzes ihn sichtbar segne, daß er vor allem am Erfolge in seinem Beruf, wenn dieser mit legalen Mitteln erreicht sei, seinen Wert nicht nur vor den Menschen, sondern vor Gott messen könne, daß Gott seine Absichten habe, indem er gerade ihn zum ökonomischen Aufstiege auserlesen und mit den Mitteln dazu ausgerüstet habe, – im Gegensatz zu andern, die er aus guten, freilich unerforschlichen, Gründen zur Armut und zur harten Arbeit bestimmt habe, – der in „pharisäischer“ Sicherheit seinen Weg geht in strenger formaler Legalität, die ihm die höchste und, da es eine „Zulänglichkeit“ vor Gott überhaupt nicht gibt, auch die einzige in ihrer Bedeutung sicher greifbare Tugend ist. (Weber 2010, 405f.)

Lawrence A. Scaff fasst die geradezu unmenschliche Härte dieser Ethik, die auf Selbstkontrolle durch Selbstzwang setzte, in ihrer ganzen Totalität unmissverständlich zusammen: Es war eine Ethik, die weder Kompromisse noch die kleinste Abwendung von sich zuließ; sie bezog alles ein und gab eine konkrete Art der Lebensführung vor, eine ganze Daseinsform. Die Ethik war gesellschaftlich verankert: Die protestantischen Sekten waren ihre sozialen Repräsentanten und Träger. Sie hatte jedoch auch eine seelische Dimension, weil das Handeln in der Welt mit einer psychologischen (Leistungs-)Prämie verknüpft war. (Scaff 2013, 180)

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Das Bewähren im irdischen Berufsleben und das Erfüllen der innerweltlichen Pflichten gemäß der religiösen Praxis auf Basis von Selbstzwang anstatt Fremdzwang stellten folglich die harte Triebfeder „der Expansion des modernen Kapitalismus“ (Weber 2010, 89) dar, die die Entwicklung zum modernen Geist des Kapitalismus erst ermöglichte und „damit den breiteren Schichten der religiös orientierten Naturen den positiven Antrieb zur Askese“ (Weber 2010, 158) gab. Aber selbst dieser Aspekt war kein ausschließlicher der Protestantischen Ethik, denn auch dies fand sich bereits andernorts, allerdings gerade nicht „in dieser Kontinuität und Konsequenz“ und folglich nicht in dieser unmenschlichen Härte: „Daß die Götter den, der ihnen wohlgefällig ist, sei es durch Opfer, sei es durch die Art seiner Lebensführung, mit Reichtum segnen, war nun freilich eine über die ganze Welt verbreitete Vorstellung. Daß dies jedoch mit dieser Art der religiösen Lebensführung, gemäß dem frühkapitalistischen Prinzip: „honesty is the best policy“, bewußt in Verbindung gebracht wird, findet sich zwar nicht absolut ausschließlich, allerdings aber in dieser Kontinuität und Konsequenz nur bei diesen protestantischen Sekten.“ (Weber 2010, 285) Diese weiterführende Härte der Kontinuität und Konsequenz der religiösen und zugleich praktisch-rationalen Lebensführung ist letztlich der entscheidende „Schlussstein“, der den Erfolg der Protestantischen Ethik und seines neuen Geist des Kapitalismus in Form eines neuen Ethos hervorbrachte: „Denn […] nicht die ethische Lehre einer Religion, sondern dasjenige ethische Verhalten, auf welches durch die Art und Bedingtheit ihrer Heilsgüter Prämien gesetzt sind, ist im soziologischen Sinn des Wortes ‚ihr‘ spezifisches ‚Ethos‘“ (Weber 2010, 292). Genau aus diesem spezifischen Ethos heraus ergab sich die vollständige Durchdringung des neuen Geistes des Kapitalismus in alle Bereiche des privaten wie öffentlichen Lebens. Diese den Protestanten anerzogene Eigenart beherrschte folglich deren gesamte Lebensführung, die Weber mit dem Begriff der „innerweltlichen Askese“ bezeichnete. Demgemäß war es folgerichtig, dass, wenn der spezifische Ethos den maßgeblichen Unterschied ausmachte, Max Weber zu Recht festhalten konnte, dass er nie behauptet habe, „Wirtschaftsformen aus religiösen Motiven“ abgeleitet zu haben, sondern es vielmehr „der Geist ‚methodischer‘ Lebensführung ist, welcher aus der ‚Askese‘ in ihrer protestantischen Umbildung ‚abgeleitet‘ werden sollte, und welcher zu den Wirtschaftsformen nur in einem allerdings kulturgeschichtlich m.E. sehr wichtigen ‚Adäquanz‘-Verhältnis steht.“ (Weber 2010, 327) Damit bedingte sich Protestantische Ethik und Kapitalismus insoweit gegenseitig, dass der moderne Kapitalismus ohne die herausgebildete Ethik nicht möglich war, zugleich aber konnte diese Ethik sich nur verfestigen, in dem sie auf den bereits historisch vorhandenen Kapitalismus rekurrierte und diesen in einen neuen modernen Kapitalismus umwandelte und weiterentwickelte. Die Entwicklung des modernen

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Kapitalismus und dessen Geist resultierten folglich aus den „sittlich-religiösen Wurzeln“ (Weber 2010, 401) der protestantischen Askese und der von ihr hervorgebrachten Lebensführung, die aus ihrer religiösen Praxis einen „Geist“ hervorrief, der in den Menschen eine Geisteshaltung entstehen ließ, die „sie in ganz spezifischer Weise geeignet machte, den spezifischen Anforderungen des modernen Frühkapitalismus zu entsprechen.“ (Weber 2010, 405) Oftmals wird der Fehler gemacht Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus als die persönliche Ethik Max Webers darzustellen, was natürlich sinnfrei ist, da Weber nur eine vorhandene und anhand empirischer Daten bereits umreißbare Ethik zu erschließen versuchte. Diese Ethik, die er zuerst in Form von Ausschnitten der historischen sozialen Wirklichkeit zu gruppieren und zu erfassen versuchte, entsprang einer bestimmten Religiosität, die in der Epoche des aufkommenden modernen Industriekapitalismus Resultat des Protestantismus und seines Geistes des Kapitalismus war.9 In nuce fasst Dirk Kaesler den Operationsmodus der Protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus wie folgt zusammen: Webers Analyse ist im wesentlichen auf drei Ebenen angesiedelt: 1) der Ebene der sozio-ökonomischen Strukturen („Kapitalismus“), 2) der Ebene der handelnden Individuen, bzw. von sozialen Gruppen („Kapitalistische Unternehmer“), 3) der Ebene der religiösen Ordnung („Protestantismus“). Zwischen diesen Ebenen finden Vermittlungen statt, die durch die beiden idealtypischen Konstrukte „Geist des Kapitalismus“ und „Innerweltliche Askese“ chiffriert werden. (Kaesler 2010, 30)

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Jürgen Kaube hinterfragt dies in seiner Max Weber-Biographie grundlegend: „Hätte er nicht genauso gut sagen können, dass das Ideal keinen Einfluss hatte und die pietistischen Kaufleute mehr Kaufleute als Pietisten waren?“ (Kaube 2014, 185) Diese Frage lässt sich durchaus berechtigt stellen, wenn damit einhergeht, dass der besagte Geist bereits dem Ethos der allgemeinen Kaufmannschaft entstammte und nicht durch eine religiöse Praxis zum Ethos der pietistischen Kaufleute wurde. Dann wäre die Frage nach dem Geist zugleich sinnlos, denn ein jeder Kaufmann würde dem besagten Charakteristikum entsprechen, so dass dies nur ein wesentliches Merkmal des Berufsethos aller Kaufleute wäre. Es gebe folglich kein weiterführendes Distinktionsmerkmal. Interessanterweise stellt Kaube sich dann aber nur eine Seite später folgende Frage: „Wie viel ‚Geist‘ brauchte der Kapitalismus?“ (Kaube 2014, 186), was nun einmal gerade die ursächliche Frage Max Webers ist, dem es bekanntlich um den besagten spezifischen Geist des modernen Kapitalismus ging. Und die Antwort weist laut der Weber-These bzw. Protestantismus-Kapitalismus-These daraufhin, dass dieser Geist erst als Resultat der empirischen Besonderheiten der puritanischen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts entstanden ist. Insofern beantwortet sich Kaube unwissentlich seine Frage selbst: Nein, Weber hätte gerade somit „nicht genauso gut sagen können, dass das Ideal keinen Einfluss hatte und die pietistischen Kaufleute mehr Kaufleute als Pietisten waren.“ (Kaube 2014, 185)

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Neuraths großer Irrtum oder Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus als empirische Studie

Nach Max Webers eigenem Dafürhalten war Die Protestantische Ethik sein erstes empirisches Werk, bei dem er gezielt Idealtypen für eine historische Untersuchung verwendete (vgl. Derman 2012, 145), indem er die „wesentlichen, weil ursächlich wirkenden Eigenschaften dieser Gebilde herausarbeitete“ (Kaube 2014, 201): „Sowohl der Begriff: ‚Kapitalismus‘ wie, erst recht, der andere: ‚Geist des Kapitalismus‘ sind nur als ‚idealtypische‘ Denkgebilde konstruierbar“ (Weber 2010, 360). Die Tatsache, dass Max Weber sich trotz der Hinzuziehung von Idealtypen als begrifflich-analytische Konstruktion zur Aufdeckung von ursächlichen Zusammenhängen, durch und durch als empirischer Soziologe verstand, der auf historischer Datenbasis zu Erkenntnissen gelangte, ist auch seinem Freund Karl Jaspers nicht entgangen, der 1932 posthum über Max Weber als Forscher folgendes schrieb: Darum ist Max Weber als empirischer Soziologe gegen metaphysische Begriffe, wie Volksgeist, Idee als daseiende Kraft, gegen den Begriff einer notwendigen Entwicklung, gegen materialistische Geschichtsauffassung als eindeutige Bestimmung des weltgeschichtlichen Verlaufs. Keine Vision des Ganzen der menschlichen Geschichte, keine Konstruktion der Weltgeschichte ist ihm erlaubt. Er bleibt in einem unabsehbaren methodischen Eindringen durch empirische Forschung. (Jaspers 1988, 89)

Dieses methodische Eindringen durch empirische Forschung ergibt sich bereits aus dem ersten Abschnitt seines bahnbrechenden Werkes zum Geist des Kapitalismus, welches die Problemstellung umreißt und folgendermaßen beginnt: Ein Blick in die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes pflegt mit auffallender Häufigkeit eine Erscheinung zu zeigen, welche mehrfach in der katholischen Presse und Literatur und auf den Katholikentagen Deutschlands lebhaft erörtert worden ist: den ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kaufmännisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen […]. (Weber 2010, 65)

Der direkte Verweis Webers auf die Statistik nimmt auf eine empirische Studie seines Freiburger Schülers und Doktoranden Martin Offenbacher mit dem Titel Konfession und soziale Schichtung (1901) Bezug, die die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden zum Gegenstand hatte. Als Resultat der „Berufszählung für Baden vom Jahre 1895 unter Berücksichtigung der Konfession“ (Offenbacher

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1901, 3) ergab sich, dass die Protestanten überproportional Kapitalbesitzer, Unternehmer, aber auch höheres qualifiziertes Personal im technischen wie kaufmännischen Bereich der Wirtschaftsunternehmen stellten (vgl. Kaesler 2014, 524). Auf dieser Basis nahm Offenbacher einen Versuch vor, „eine soziale Inferiorität der Katholiken, wie sie in der Besitz- und Berufsschichtung sich zeigen sollte, auf anthropologischen Wege“ (Offenbacher 1901, 1) für das Großherzogtum Baden zu erklären. Wenn Klaus Lichtblau und Johannes Weiß neuerdings empirische Relativierungen bzw. Falsifizierungsversuche von Teilen des theoretischen Konstrukts Webers feststellen, bestätigen sie zugleich indirekt, dass es sich bei der Protestantischen Ethik um eine empirisch basierte Studie handelt.10 Otto Neurath ist somit offenkundig einem großen Irrtum aufgesessen, als er annahm, dass das Werk Webers nicht empirischer Natur sei. Ausgerechnet Neurath, der selbst Verfasser eines Werkes mit dem Titel Empirische Soziologie ist, erkannte nicht, dass Webers Studie auf historischer Datenbasis fundierte und weiterhin eine konkretempirische Analyse der in den USA von ihm vorgefundenen Faktizitäten umfasste. Dementsprechend besuchte Weber in den Vereinigten Staaten vielerorts Gottesdienste und führte Gespräche mit Gemeinden und Sekten, erfasste deren religiöse Praktiken und studierte darüber hinaus deren Schriften (Scaff 2013, 31). Scaff konstatiert: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit besuchte er Lehreinrichtungen, suchte in den Bibliotheksbeständen, ob sich darin etwas Brauchbares für seine Arbeit finden ließe, und wohnte zu Beobachtungszwecken Gottesdiensten bei – auf der langen Liste der Einrichtungen finden sich die Columbia University, die Northwestern University, die neue University of Chicago, das Tuskegee Institute, eventuell die University of Tennessee, das Haverford College, die Johns Hopkins University, Harvard University und die Brown University […]. Die Gottesdienste umfassten zahlreiche protestantische Sekten: in erster Linie die Methodisten, Baptisten, afro-amerikanischen Baptisten, Quäker, Presbyterianer und die Anhänger der Christian Science. (Scaff 2013, 21)

Max Webers Augenmerk galt dabei den sozialen Auswirkungen des religiösen Glaubens und der religiösen Organisation sowie insbesondere wie diese sich auf den Ar-

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Kaesler 2014, 524. Vgl. auch Lichtblau/Weiß 2010, IX. Auch Jürgen Kaube bestätigt dies unabsichtlich, wenn er schreibt, dass Weber nach seinem Amerika-Aufenthalt einen dritten Teil seiner Protestantismus-Studie hinzufügte, „die seine Erfahrungen in Amerika verarbeitet“ (Kaube 2014, 195; vgl. ebenso 208). Aus wissenschaftlicher Erfahrung – hier aus dem Studium von religiösen Praktiken und Schriften der Kongregationen und Sekten sowie der Organisationsstrukturen der Sekten und Gemeinden – gewonnenes Wissen konstituiert „Empirie“, so dass Webers „Erfahrungen“ aus Amerika folglich empirische Belege darstellen.

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beits- und Berufsethos niederschlugen, die wiederum den asketischen Ethos der rationalen Lebensführung des Einzelnen ausmachten. Dementsprechend spielte für ihn die Funktion der Glaubensgemeinschaft für das Leben des einzelnen Gläubigen zuvorderst die wichtigste Rolle, denn es ging ihm „weniger um die religiös-theologischen Gehalte der diversen Veranstaltungen, sondern fast ausschließlich um die Frage nach den Funktionen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, die von der jeweiligen religiösen Praxis ausgingen“ (Kaesler 2014, 628). Für eine solche Untersuchung stach Amerika aus zwei Gründen hervor: Hier konnte er Beispiele dieses asketischen Ethos studieren und er traf auf Menschen, die dem in der Protestantischen Ethik herausgearbeiteten „Idealtypus“ entsprachen (Scaff 2013, 228). Insoweit interessierten ihn die soziale Wirklichkeit der Sektenund Gemeindemitglieder und es galt, „die rationalen Muster der Vergesellschaftung und Gruppenlegitimation des Einzelnen“ (Scaff 2013, 206) innerhalb der Sekte oder Gemeinde nachzuvollziehen. Neben dem schwerwiegenden Irrtum Otto Neuraths bezüglich des empirischen Ansatzes Webers unterlag dieser noch einer weiteren, wenn auch weniger gewichtigen Falschauffassung: Er hielt Webers umschreibenden Begriff des Geistes des Kapitalismus für wenig begrifflich-analytisch aussagefähig und für die Erfassung der zugrunde liegenden Triebfedern des Kapitalismus ungeeignet, was ihn das Konstrukt Webers der idealtypischen Theoriebildung auf empirischer Grundlage zur Aufdeckung ursächlicher Zusammenhänge mittels der besagten Begrifflichkeit „Geistes des Kapitalismus“ zur Gänze kritisieren ließ. Dabei erkannte Neurath den empirischen Ansatz des Unterfangens nicht und ging davon aus, dass Weber die prägenden Merkmale der modernen kapitalistischen Wirtschaft nicht sorgfältig analysiert und keine hinreichenden Abgrenzungen vorgenommen hätte, was er in einem „Rekurs auf objektive, nicht-physikalische Werte als kausale Faktoren“ (Uebel 2000, 342) belegt sah. De facto ist dies aber überhaupt nicht mit Webers empirischen Ansatz in Einklang zu bringen ist. Dementsprechend kritisch ist Neurath mit Thomas Uebel zu hinterfragen: Aber an Neuraths Wirtschaftslehre müssen wir auch kritische Fragen bezüglich seiner Zurückweisung „idealtypischer“ Theoriebildung Weber’scher Provenienz stellen. Worauf beruhte diese? Neurath wandte sich primär gegen die von Weber selbst unterstrichenen Fundamente dieser Methode [1981, 463]. Da seine eigenen gesellschaftstechnischen Überlegungen aber auch rein konstruierte Begrifflichkeiten verwenden, kann seine Kritik an Webers Idealtypen nicht darauf beruhen, dass das somit Bezeichnete (schon in Webers Worten) eine „Utopie“ darstellt, eine Abstraktion, die in dieser Reinheit nicht in der empirischen Wirklichkeit auffindbar ist. Seine Kritik kann aber auch nicht darauf beruhen, dass sich auf solchen Idealtypisierungen beruhende Theorien prinzipiell der Nachprüfung entziehen, da ja, wie bekannt, Weber zum

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Zweck ihrer Akzeptanz auf der kausalen Adäquatheit solcher Hypothesen bestand. (Uebel 2000, 342)

Der vermeintliche Rekurs Webers auf nicht-physikalische Werte ließ Neurath protestieren, denn das bedeutete für ihn, dass es aus seiner Sicht keine wissenschaftliche Soziologie geben konnte, wenn diese sich auf Handlungen zu konzentrieren hätte, denen man eine „Sinnhaftigkeit“ zuschreiben müsste, was seiner Empirischen Soziologie grundlegend zuwiderlief (vgl. Uebel 2000, 342). Für Thomas Uebel ist dies auch der Grund, warum Neurath schrieb: „Es gibt Protestanten, aber keinen Protestantismus“ (Neurath 1931a, 58), was aussagen sollte, dass Protestanten sich als empirische Kategorie fassen lassen, aber der Protestantismus auf eine „metaphysische Wertsphäre rekurriert“ (Uebel 2000, 342), die sich empirisch nicht erfassen lässt. Aber genau hierin spiegelt sich erneut das durch Kraus’ Polemik fehlgeleitete Nichterkennen der Studie zur Protestantischen Ethik bei Otto Neurath wider,11 denn dieser hatte selbst Jahre zuvor in seinen eigenen Schriften unabhängig von Max Weber bereits 1911 erkannt gehabt, dass das Verwenden von Idealtypen durchaus mit einer empirischen Soziologie einhergehen kann: „Solange sich Idealtypen also aus grundsätzlich empirischen Elementen zusammensetzen und keinen Bezug auf nichtphysikalistische Wertsphären implizieren, können sie durchaus im Physikalismus eine theoretische Rolle spielen […]“.12 Insoweit gilt für Neurath im Gegensatz zu anderen Kritikern Webers gerade nicht, dass er nicht mit dem Konzept des „Idealtypus“ in der empirischen Soziologie vertraut war, wie es bei Weber gleichfalls in der Protestantischen Ethik zum Einsatz kam und seine Vorgehensweise dort charakteristisch bestimmte – zumal Max Weber immer wieder hervorhob, dass solche Typologien auch in unreinen Mischformen auftreten können und sich zwar die konstruierte Begrifflichkeit eines „Idealtypus“ als nicht eindeutig bestimmbar darstellen kann, was aber keinen Abbruch tut, dass dieser in empirischer Hinsicht dennoch aussagefähig ist. Im Falle Webers betraf dies sowohl 11

Fairerweise muss man hier darauf verweisen, dass J. B. Kraus sich trotz seiner Polemik wider des Geistes des Kapitalismus methodologisch eine Hintertür offen lässt: „So bedenklich es wäre, den Idealtypus ohne weiteres als heuristisches Prinzip zur Aufdeckung von ursächlichen Zusammenhängen anzuwenden, wie das der Weberschen Beweisführung, die vom typischen puritanischen Berufsethos die Bildung des kapitalistischen Geistes ursächlich herleitet, zugrunde liegt, so wertvolle Dienste kann er als hermeneutisches Prinzip leisten, um ein durchsichtiges und einheitliches Verstehen des mit fertigen Ideenschemen konstruierend an Tatsachen heranzutreten – es heißt wirklich den Wagen vor das Pferd spannen.“ (Kraus 1930, 13f.) 12 Uebel 2000, 343. Thomas Uebel verweist hier auf einen Aufsatz Neuraths mit dem Titel „Nationalökonomie und Wertlehre, eine systematische Untersuchung“, der zuerst in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, dem Organ der Gesellschaft österreichischer Volkswirte, 1911 in Wien und Leipzig erschien.

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Aussagen zu einem verwandelten entfesselten modernen Kapitalismus als auch genau konkretempirisch korrespondierende benennbaren Ideen der Sekten und Gemeindekongregationen, die sich wiederum in einer konkretempirischen veränderten und empirisch erfassbaren Lebensführung ihrer Mitglieder niederschlug. Seltsamerweise korrespondiert dieses bereits früh erkannte und erörterte Verständnis Neuraths von „idealtypischen Verfahren“ ausgerechnet mit dessen eigener Abweichung von der orthodoxen Auffassung der Einheitswissenschaft, da dieser sich nicht nur „mit statistischen Korrelationen wie Sterblichkeitsraten, sondern auch bedeutend weitreichenderen Fragen wie z. B. über ‚das Verhalten der verschiedenen Nationen nach diesem Krieg‘ oder ‚über die Judenverfolgung in Deutschland‘ befassen“ und „die Fragestellungen der kritischen Sozialwissenschaften nicht verkürzen“ wollte (Uebel 2000, 343). Der „Idealtypus“ stellt somit eine Gewähr dar, dass es nicht zu einer monokausalen, idealistischen Geschichtsinterpretation kommen kann, wie sie aber Neurath ausgerechnet Weber als Idealisten und Ideologen des Kapitalismus bezüglich der Protestantischen Ethik unterstellte. Damit liegt die eigentlich Tragik darin, dass, obwohl Max Webers wissenschaftlicher Ansatz Neuraths eigenem sehr nahe steht, dieser dies verkannte und dementsprechend abschließend zum bekannten, hier bereits erörterten und den Sachverhalt diametral widersprechenden Fehlurteil kam: „Dadurch, daß Weber dem ‚Geist‘ als einer unräumlichen Größe eine Stellung im System einräumt, gibt er den Worten und theoretischen Schriften, die gewissermaßen dem ‚Geiste‘ näherstehen, eine Sonderstellung, gibt ihnen eine größeres Gewicht als ein Empiriker, der Worte und Bücher wie andere Dinge in Rechnung stellt“ (Neurath 1931b, 402).

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Konklusion

Otto Neurath hat vermutlich Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus selbst nie gelesen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Neurath diese nur durch Kraus aus zweiter Hand wahr- und aufnahm, da er Kraus’ Argumente nicht einmal gegenüber dem Primärtext Webers prüfte. Aufgrund mangelnder Lektüre der Primärquelle hing damit sein Urteil über Webers Werk in hohem Maße vom Urteil J. B. Kraus’ ab, welches aber sich als parteiisch, tendenziös und gewissermaßen auch rechthaberisch herausstellte. Für Kraus war es als Jesuit nämlich primär wichtig, im Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken eindeutig Position zu beziehen. Dies geschah auch dadurch, dass Kraus Urheberansprüche am Kapitalismus sowohl für die katholische Kirche als auch an anderen Orten und für andere Epochen geltend machte, die allerdings von

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Max Weber nie negiert oder verschwiegen worden waren. Ziel der Kraus’schen Argumentation in Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus ist es, die Bedeutung des Protestantismus für den modernen Kapitalismus deutlich herunterzuspielen und zu begrenzen. Kraus geht daher auf die besondere Argumentation Webers kaum ein, der die Entfaltung des modernen Kapitalismus in seiner unbändigen Weise und dessen historischen Siegeszug als Sonderfall der Neuen Welt beschreibt. In diesem Sinne und nur in diesem Sinne ist der asketische Protestantismus bzw. Puritanismus nämlich ein konstitutiver Bestandteil des modernen kapitalistischen Geistes, der sich gerade in den Vereinigten Staaten mit viel elementarer Kraft vollzog als andernorts. Neurath wiederum verließ sich vermutlich gänzlich auf das Werk Scholastik, Puritanismus und Kapitalismus, da ihm zusagte, einen Jesuiten, nämlich den Autor Johann Baptist Kraus, als Kronzeugen für den Marxismus aufbieten zu können. Dieses unmittelbare Interesse sowie Neuraths bekannte Neigung zur Polemik ließ ihn offensichtlich Kraus blind folgen, der mit seiner Kritik an Weber mittels Marx einen dritten Weg – den Weg des „Marxismus eines Jesuiten“ zwischen Marx und Weber – begründen wollte. Daher kritisiert Kraus Weber mit Marx, was Neurath den Irrtum aufsitzen ließ, dass Webers Schrift als eine Anti-These zu Marx zu verstehen sei. Dieses letztlich insgesamt leider „unproduktive Missverständnis“ mag u. a. durch zwei Faktoren verursacht worden sein: Erstens, die metapherngeladene Rhetorik vom Geist des Kapitalismus als Idealtypus hat Otto Neurath offenkundig an Webers Studie erheblich abgeschreckt. Er störte sich am Weberschen Begriffsapparat, den er nicht nur für zu „idealistisch“, sondern wohl auch zugleich als zu nebulös empfand. Und zweitens, der von Weber beschriebene Kapitalismus in den Vereinigten Staaten als eine Art „Sport“, der aus Neuraths Sicht nur um seiner selbst Willen betrieben wurde, da dieser die von Max Weber erfasste religiöse Dimension ignorierte und folglich die Richtung von Webers Interesse in der Studie nicht verstand, stieß bei diesem auf erhebliche Abneigung, die sich im Vorwurf Neuraths an Weber widerspiegelt, dass dieser ein Idealist und somit ein Ideologe des Kapitalismus sei. Es ist die Ironie der Geschichte, dass Max Weber mit solcher Ignoranz offenkundig gerechnet zu haben scheint, denn er nahm bereits in der Diskussion um die Protestantische Ethik vorweg, dass man ihn nicht dafür verantwortlich machen könne, wenn „liederliche Leser“ – wie beispielsweise Otto Neurath – seinen Ansatz zum Geist des Kapitalismus verkannten, da sie diesen nicht nachzuvollziehen bereit waren und vor allem dessen Herausbildung nicht auf der Grundlage der Entwicklung des „Berufsethos“ herleiteten. Wörtlich schreibt Weber hierzu auf den Punkt:

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Die Entwicklung des „Berufsmenschentums“ in seiner Bedeutung als Komponente des kapitalistischen „Geistes“, – auf dies Thema haben sich meine Auseinandersetzungen zunächst ausdrücklich und absichtsvoll beschränkt. Ich kann absolut nichts dafür, wenn liederliche Leser dies zu ignorieren für gut befinden. (Weber 2010, 363)

Erstaunlicherweise erkannte Otto Neurath letztlich nie, wie sehr der Ansatz Webers in der empirisch basierten Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus mit seinem methodologischen Ansatz einer empirischen Soziologie korrespondierte. Daher bekämpfte er Webers Protestantische Ethik im Namen des Marxismus ohne zu bemerken, wie nah dieser ihm eigentlich wissenschaftlich bzw. methodologisch stand. Seine Kritik an der Protestantischen Ethik basiert somit auf erheblichen Missverständnissen und Fehleinschätzungen, die einerseits der unreflektierten Übernahme der Meinung J. B. Kraus’ geschuldet sind und andererseits der nachhaltigen Verweigerung Otto Neuraths, die unmittelbare Konfrontation mit der Protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus auf Basis des Originaltextes zu suchen.

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Staat als Moralproblem – Das Politische in Moritz Schlicks Kulturphilosophie Raphael Borchers & Robert Reimer

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Einleitung: Schlick und die Kulturphilosophie

Die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts war die Hochzeit der Kulturphilosophie. Ihre zentrale Forderung nach einer Trennung der Realwissenschaften in Naturund „Kulturwissenschaften“1 stand der Unternehmung zu einer Einheitswissenschaft des Wiener Kreises diametral entgegen. Auch Moritz Schlick sprach sich Zeit seines Lebens entschieden gegen die „mächtig emporgeblüht[e]“ Mode der „Kulturwissenschaften oder Geisteswissenschaften“ (Schlick, MSGA I/6, 535) aus. Dies geht beispielhaft aus seinem Vortrag über das Verhältnis von „Philosophie und Naturwissenschaft“ (Schlick, MSGA I/6, 521–545) hervor, in dem er ausführt, dass jene „Wissenschaften vom Menschlichen“ schlechthin nicht über eigene Grundbegriffe verfügten und deswegen stets auf die „ausgezeichnete Stellung des naturwissenschaftlichen Denkens“ angewiesen (Schlick, MSGA I/6, 536–538) blieben, namentlich auf die Psychologie als die „Brücke zur Geschichte und zu den Geisteswissenschaften überhaupt“ (Schlick, MSGA I/6, 525f.). Insofern könnten sie für sich nicht den Anspruch erheben, eine vom naturwissenschaftlichen „Weltbild“ verschiedene „Weltanschauung“ spekulativ zu entwerfen (Schlick, MSGA I/6, 541f.). Die Gegenstände der Kulturwissenschaften, so zeigt sich Schlick auch später noch überzeugt, seien letztlich psychologisch zu ergründende Handlungen von Menschen und stünden daher „nicht im absolutem Gegensatze […] zu den Gegenständen der Naturwissenschaften“;

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In Ermangelung eines bestimmten Begriffs sollen hiermit nach Heinrich Rickert (1926, 1) all jene wissenschaftlichen Tätigkeiten bezeichnet sein, die nicht einer naturwissenschaftlichen Einzeldisziplin zugeordnet werden können. Ihr gemeinsamer Gegenstand sei das sogenannte „Weltproblem“, das das „Verhältnis des Ich zur Welt“ betreffe (Rickert 1910/1911, 3) und von den Naturwissenschaften mit ihrem Fokus auf die Objektwirklichkeit nicht vollumfänglich erfasst werden könne, um zu einer das All aus Subjekt und Objekt umfassenden „Weltanschauung“ zu gelangen. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_12

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wenngleich er einräumt, dass sich ebenso wie die Biologie auch die Psychologie bisher noch nicht vollständig auf die Physik reduzieren ließe (Schlick 1986, 57f.). Allerdings war Schlicks Gegnerschaft zur Kulturphilosophie doch sehr viel vorsichtiger als die zumindest öffentlich wahrgenommene des Wiener Kreises. Während Neuraths rigoroser Physikalismus bei manchen Mitgliedern des Kreises mitunter Grund zur Klage über ein zu gering ausgeprägtes „Interesse für Geschichte und Gesellschaft“ (Zilsel 1929, 186) Anlass gab, erkannte Schlick die Relevanz und Eigenart geisteswissenschaftlicher Disziplinen ausdrücklich an und klagte in den 1930er Jahren gleichfalls über den „geistfeindlichen Charakter“ mancher Publikationen der Wiener Schule.2 Im Unterschied zu Neurath (1981, 382, 416, 424) verteidigte Schlick die „Erkenntnis der Einen Welt“ nicht eliminativ, sondern stets unter Anerkennung der „Verschiedenheit des Forschungsbetriebes“ (Schlick, MSGA I/6, 526). Deswegen hinderte ihn seine kritische Haltung gegenüber der Kulturphilosophie auch keineswegs daran, sich selbst kulturphilosophischen Fragestellungen zu widmen. Ihr Gegenstand, so betonte er es häufig, sei sogar „das Wichtigste, wovon man überhaupt sprechen kann.“3 Mit der Aufarbeitung seines Nachlasses in der Moritz Schlick Gesamtausgabe zeichnet sich ein immer besser zu greifendes Bild des philosophischen Kopfes im Wiener Kreis ab, das viele weitere Aspekte seines Schaffens über seine bedeutsamsten Arbeiten zur Erkenntnistheorie hinaus umfasst. Bereits in seinem philosophischen Debüt Lebensweisheit von 1908 griff er Themen auf, die ohne weiteres als kulturphilosophisch bezeichnet werden dürfen und inhaltlich eine erstaunliche Kontinuität zu seinen späteren Versuchen aufweisen. Schlick war eine Schwellen- und Integrationsfigur in vielerlei Hinsicht, so auch hinsichtlich seiner Stellung zwischen Physikalismus und traditioneller Philosophie, die sich seiner Auffassung nach unberechtigterweise in eine spekulative Kulturphilosophie als ihren vermeintlich eigenen Bezirk flüchte. Gerade in der missbräuchlichen Trennung der Kultur von der Natur, der mit der Disziplinentrennung gerecht zu werden versucht werde, macht er schon früh das „Kulturproblem“ (Schlick, MSGA II/5.1, 184) schlechthin aus. Dessen Ursprung zu erkennen als auch mit eigenen praktischen Vorschlägen zu überwinden, sei deswegen vielmehr gerade die vorrangige Aufgabe, der sich die Kulturphilosophie widmen müsse.4 Schon Ende der 1920er Jahre hielt er darüber Vorträge in der Kulturwissen-

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Moritz Schlick an Gustav Störring vom 12. Februar 1935. Schlick, B.24, Ts2v in MSGA II/3.2. Prominentestes Zeugnis dieses Primats nicht seiner philosophischen Arbeit, wohl aber seiner philosophischen Haltung ist sein postum veröffentlichter Vortrag L’école de Vienne et la Philosophie traditionelle (1938). 4 Vgl. Schlick, NK, 9, und MSGA I/3, 117–129. 3

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schaftlichen Gesellschaft und der Ethischen Gemeinde (Schlick, MSGA I/3, 5–7) sowie im Wintersemester 1935/36 eine Vorlesung über „Ethik und Kulturphilosophie“.5 Dass Schlicks kulturphilosophische Versuche bisher wenig Beachtung fanden, ist wohl ganz wesentlich auch darauf zurück zu führen, dass sein gewaltsamer Tod die Fertigstellung eines entsprechenden Werks verhinderte. 1952 hat sein später Schüler Josef Rauscher, engagiertes Mitglied der Ethischen Gemeinde und Teilnehmer an jener Vorlesung, die lange Zeit einzige, nennenswerte Publikation zu Schlicks Kulturphilosophie besorgt. Die Zusammenstellung von Manuskriptfragmenten mit Teilen einer eigenen Vorlesungsnachschrift unter dem Titel Natur und Kultur sei der Versuch der Annäherung an Schlicks geplantes „Hauptwerk“, wie Rauscher (1952, 5) im Vorwort behauptet. Tatsächlich erkundigte sich Herbert Feigl noch kurz vor Schlicks Ermordung nach dem Stand der Erarbeitung eines kulturphilosophischen Werks, dessen Abschluss er sich alsbald erhoffte.6 Dem Briefwechsel mit Rudolf Carnap zufolge widmete sich Schlick vornehmlich in seinen Auszeiten vom akademischen Betrieb über mehrere Jahre immer wieder kulturphilosophischen Fragen. Am 24. September 1932 berichtet er Carnap aus Südtirol von einem „längeren Aufsatz“ mit dem Arbeitstitel „Natur, Kultur, Kunst“, der alsbald zu einem umfangreicheren Buchprojekt anwuchs und für ihn immer mehr an Bedeutung gewann. So heißt es etwa in einem weiteren Schreiben aus Dubrovnik vom 16. April 1935: „Hier […] schreibe ich nur Kulturphilosophie, die mir augenblicklich ziemlich wichtig vorkommt.“7 Worin für Schlick die „augenblickliche Wichtigkeit“ der Kulturfrage bestand, geht sehr augenscheinlich aus dem einzigen, halbwegs abgearbeiteten Themenkomplex der Daseinsnot hervor. Der traditionellen Unterscheidung in eine negative und positive Daseinsvorsorge folgend,8 sei es Aufgabe des Staates und der Wirtschaft „Vorkehrungen zur Erhaltung und Förderung des Daseins“ (Schlick, NK, 52) zu treffen. Zu einem Kulturproblem aber würden diese Vorkehrungen dann, wenn sie selbst zur Ursache des Leids würden (Schlick, MSGA I/3, 481). Dies betreffe im Besonderen die Institution des Staats sowie aller mit ihm einhergehenden kulturellen Erscheinungen wie das Militärwesen und seine Folge, den Krieg. Es gäbe nichts Anderes, so stellt es Schlick in immer wiederkehrender, unmissverständlicher Anspielung auf die

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Schlick, B.24 in MSGA II/3.2. Vgl. Herbert Feigl an Moritz Schlick vom 20. Mai 1936; so auch schon im Brief Herbert Feigl an Moritz Schlick vom 14. September 1933. 7 Vgl. außerdem Moritz Schlick an Ludovico Geymonat vom 26. Mai 1935 sowie Moritz Schlick an Paul A. Schilpp vom 7. Juni 1935. 8 Vgl. die klassische Unterteilung bei Wilhelm von Humboldt (1851, 16–18, dazu Schlick, NK, 63). 6

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gegenwärtige Situation in Deutschland heraus, „was dem Menschen größere Daseinsnot bereite, als der Staat.“ (Schlick, NK, 67) Seine diesbezüglichen Bemerkungen zeigen sehr deutlich, dass sich Schlick in den 1930er Jahren sehr kritisch mit den politischen Entwicklungen auseinandergesetzt hat und sie ihm in entscheidendem Maße zur Motivation für seine kulturphilosophische Arbeit wurden. Seine „tiefen Befürchtungen“ um die „deutsche Kultur“ bringt er etwa einige Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler des deutschen Reichs in einem Schreiben an Arnold Berliner vom 24. März 1933 zum Ausdruck. Obgleich sich Schlick selbst dem Zeugnis Feigls nach, „in bezug auf spezielle ökonomisch-politische Fragen nicht genügend kompetent fühlte“ (Feigl 1937, 393), kommen in seiner Kulturphilosophie doch fraglos auch Themen der politischen Philosophie zur Sprache. Aus deren Diskussion geht nicht nur seine liberale Grundhaltung, sondern auch seine entschiedene Gegnerschaft zum „polemisch-existenziellen Begriff des Politischen“ (Liebsch 2015, 179–200) hervor, die ihm zur Motivation eines erstaunlich konkreten und in gewisser Weise die Idee einer Europäischen Union vorausdenkenden Vorschlags zu einem non-territorialen Staat wurde. Die ihm zugrundeliegenden Überlegungen sind zwar von einer schon häufig konstatierten politischen Naivität, argumentativen Irritationen sowie manchen, philosophiehistorisch doch recht gewagten Lesarten geprägt, die den Leser bisweilen etwas ratlos zurücklassen. Sie erlauben gleichwohl einen seltenen Einblick in das Politische seiner vielfältigen philosophischen Arbeit, der wir unter ausgewählter und vergleichender Berücksichtigung von drei politischen Dimensionen im Wiener Kreis hier mit einem Versuch der Einordnung nachgehen wollen.

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Die parteipolitische Dimension

Die Frage nach dem Begriff und Ort des Politischen im Wiener Kreis ist eine vergleichsweise späte Frage seiner Rezeptionsgeschichte. Die vorrangige Beschäftigung mit den Arbeiten zur Logik und Wissenschaftstheorie ging weitgehend mit einer Ignorierung der ethischen, ästhetischen und politischen Dimension einher. So blieben beispielsweise die zahlreichen und politisch doch sehr engagierten Publikationen Otto Neuraths, Edgar Zilsels und Otto Hahns (Dvořák 1985) zunächst unberücksichtigt. Thomas Mormann (2000, 201) bezeichnete diese „neutrale“ Herangehensweise treffend auch als „amputierte“ Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg. Längst ist unbestritten, dass mit ihr wichtige Aspekte vernachlässigt wurden, ohne die nicht nur ein vollständiges Bild des Wiener Kreises verfehlt, sondern auch der Impetus, mit

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dem er mit Blick auf seine vermeintlich formalen und wissenschaftstheoretischen Schwerpunktsetzungen auftrat, verkannt worden ist. Nicht unschuldig an der neutralen Rezeption war zum einen eine gewisse Selbstverklärung, wie sie in Carnaps (1993, 63) Autobiographie deutlich wird, wenn er die Enthaltung politischer Motivationen im Wiener Kreis allzu idealisiert herausstellte. Zum anderen hat sie ihren Grund darin, dass der Wiener Kreis, trotz seiner personell starken Anbindung an die sozialdemokratische Volksbildungsbewegung, in der Öffentlichkeit doch weitgehend apolitisch auftrat und sich selbst bekanntlich sehr bewusst zu einer reinen Wissenschaftlichkeit verpflichtete. Das implizierte neben seiner vermeintlichen Metaphysikfreiheit auch den Anspruch einer Wertfreiheit, wie er sich explizit etwa in Karl Mengers (1934, 1) Selbstverpflichtung, sich seinen „persönlichen Gefühlen entsprechenden Wertungen“ zu enthalten, sowie in Schlicks Betonung des „rein theoretischen Charakter[s] der Ethik“ (Schlick, MSGA I/3, 358) niedergeschlagen hat. Mit diesem Anspruch einher ging sodann im Besonderen die Forderung nach der Enthaltung politischer Positionierungen, wobei dies richtigerweise primär als Enthaltung von parteipolitischen Einflüssen in die wissenschaftliche Arbeit verstanden werden muss.9 Es ist zurecht bemerkt worden, dass diese parteipolitische Unabhängigkeit des Wiener Kreises, zumal in seiner öffentlichen Phase, maßgeblich auf die Schlickschen Interventionen zur Wahrung der Wissenschaftlichkeit und damit einhergehend zur Neutralisierung einer parteipolitischen Ausrichtung zurückzuführen ist. Das gilt nicht nur für die Erkenntnis (Dahms 1994, 38), sondern auch für die Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung. Beispielhaft dafür steht etwa Schlicks äußerst kritische Begutachtung von Neuraths Abhandlung Empirische Soziologie, die bereits früh nach dem Beginn der öffentlichen Wirksamkeit des „Vereins Ernst Mach“ zum Beinahebruch der Zusammenarbeit der beiden Opponenten führte. So berichtet Schlick etwa in einem Schreiben an seinen Mitherausgeber Philipp Frank vom 16. Juli 1930 davon, dass er Neurath damit konfrontiert habe, eine „Propagandaschrift“ mit einem „ganz unwissenschaftlichen und unernsten Charakter“ verfasst zu haben, die dem Anspruch der Reihe nicht Genüge tue. Auch an dem ihm gewidmeten „Manifest“ der Wissenschaftlichen Weltauffassung störte Schlick bekanntlich der „reklamenhafte Stil“ und die „dogmatisch anmutenden Formulierungen“.10 Wohl nicht zuletzt aufgrund des

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Eine ähnliche Haltung lässt sich für die Berliner Gesellschaft für Empirische Philosophie konstatieren, die sich gleichfalls einer „wertfreien Erforschung der Sachverhalte“ verpflichtete und die Verantwortung zur „Wertbildung unseres Zeitalters“ vornehmlich bei Lehrern, Ärzten und Arbeitern verortete (Reichenbach 2011, 91). 10 Moritz Schlick an Siegfried Weinberg vom 15. Juni 1930; vgl. dazu Mulder 1968, 368–390.

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überschwänglichen, auch politisch sich positionierenden Aufklärungspathos, der explizit einen Zusammenhang der „sozialistischen Einstellung“ mit einer „empiristischen Auffassung“ benennt (Neurath 1981, 315), kündigte Carnap in seinem Brief vom 30. Sept. 1929 Schlick das „Manifest“ vorausschauend bereits als sein „blaues Wunder“ an. Das vielleicht markanteste Beispiel für Schlicks strikte Ablehnung parteipolitischer Aktivitäten ist jedoch sein entrüstetes Schreiben an die Wiener Polizeidirektion, mit dem er die drohende Auflösung des „Vereins Ernst Mach“ infolge der Februarkämpfe 1934 noch abzuwenden versuchte. Aufgrund des Vorwurfs sozialdemokratischer Betätigungen des Vereins endet das Schreiben mit einer ausdrücklich „persönliche[n] Bemerkung“, deren bezeichnendster Satz lautet: „Ich bin Philosoph, und jede parteipolitische Betätigung ist mir aufs äußerste zuwider.“11 Diese Gegenüberstellung von Philosophie und Parteipolitik ist, wie das gesamte Schreiben, selbstverständlich unter Vorbehalt und im Kontext der misslichen Gegebenheiten zu lesen. Allerdings gelingt es Schlick dort unseres Erachtens in der Sache durchaus stichhaltig, den Vorwurf der „staats- oder regierungsfeindliche[n] Tätigkeit“ den Umständen entsprechend einigermaßen nachvollziehbar zu entkräften. Abgesehen eventuell von der unangenehmen Bekundung „wirklich innerlicher herzlichster Sympathie“ für den austrofaschistischen Ständestaat12 entsprachen seine Aussagen im Kern durchaus seiner tatsächlichen und stets vertretenen Überzeugungen, die sich letztlich als sehr weitsichtig, wenngleich auch als erfolglos erwiesen. Streng unterschieden wissen will Schlick dort die „statutengemäss [...] rein wissenschaftliche Tätigkeit“ des Vereins von der „rein zufällige[n] Tatsache“, dass objektiv durchaus Verbindungen von Mitgliedern zur sozialdemokratischen Partei bestünden. Diese Trennung des Vereins von den sonstigen Aktivitäten seiner Mitglieder ist sein Hauptargument dafür, „dass die Vereinigung absolut unpolitisch“ sei. Als Beleg verweist er etwa auf das Ausscheiden des ursprünglichen Proponenten Carl Kundermann, dessen Grund in der rein wissenschaftlichen Tätigkeit des Vereins liege, die mit seinen freidenkerischen Absichten zur sozialdemokratischen Volksbildung unvereinbar gewesen sei. Schlicks unberechtigte, aber offenbar tatsächlich gehegte Hoffnung, den Verein mit diesem Einspruch bewahren zu können, spricht für seine

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Moritz Schlick an die Polizeidirektion Wien vom 3. März 1934; wiederverwendet im Schreiben an den Sicherheitskommissär des Bundes vom 23. März 1934; vgl. dazu Geier 1992, 89f. 12 Schlick wurde als Beamter erwartungsgemäß auch Mitglied in der Väterländischen Front Engelbert Dollfuß und dafür von Neurath aus dem niederländischen Exil mit den Worten: „mit Dollfuß gegen Einheitswissenschaft“ verspottet; vgl. dazu Sigmund 2018, 267–278.

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tatsächliche Überzeugung und seine Auffassung über dessen rein wissenschaftlichen Zweck.13 Neben seiner stärkeren Affinität zu Ludwig Wittgenstein und zu ethischen Fragen im Sinne einer klassischen Weisheitslehre kommt Schlicks „Exzentrizität“ (Mormann 2010, 284) im Wiener Kreis in politischer Hinsicht mithin insofern zum Tragen, als dass er sich zumindest vordergründig einer parteipolitischen Positionierung sehr bewusst verwahrte. Schlick war stets darauf bedacht, nach außen die politische Unabhängigkeit des Vereins zu wahren und herauszustellen, während Neurath sich im Gegensatz zu ihm aufmachte, „sozusagen politisch die Welt zu stürmen“.14 Allerdings griffe die Sichtweise zu kurz, die Schlick aufgrund seiner Bemühungen um wissenschaftliche Neutralität im „Verein Ernst Mach“ nach Außen auch eine apolitische Haltung überhaupt und mit Blick auf seine Kulturphilosophie im Besonderen unterstellen würde. Denn wenngleich diese Beurteilung Schlicks im Hinblick auf ein parteipolitisches Engagement in Wien zutreffend ist, so brachte er sich doch noch in seiner Rostocker Zeit selbst durchaus dort ein, wo es ihm angemessen schien. Hierzu zählen zum Beispiel seine Unterzeichnungen verschiedener, unschwer auch politisch zu nennender Aufrufe und Erklärungen sowie manche tagespolitische Einlassung (Iven 2013). Für die hier aufgeworfene Frage nach den politischen Implikationen in Schlicks philosophischer Arbeit der Wiener Zeit hingegen ist zunächst ein wichtiger Aspekt des Politischen im Wiener Kreis aufzugreifen, der nicht die politische Nähe zu einer bestimmten Partei oder politischen Ideologie, sondern die Forderung nach einer reinen Wissenschaftlichkeit selbst betrifft.

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Die effektivpolitische Dimension

Die Aufarbeitung des Politischen im Wiener Kreis seit den 1980er Jahren konzentrierte sich zu Recht auf die historische und programmatische Einbindung seiner Mitglieder in die politischen Strömungen und Bewegungen des Roten Wiens.15 Der 13

Vgl. Moritz Schlick an Josef N. Jodlbauer vom 10. März 1934 und Moritz Schlick an Carnap vom 12. März 1934. Mormann (2010, 271) spricht von einer „Leugnung“ des Kontakts zur österreichischen Sozialdemokratie, was unserer Meinung nach deutlich zu weit greift. 14 So formulierte es Karl Popper im Gespräch mit Friedrich Stadler und Hans-Joachim Dahms im Rückblick auf Neuraths ‚politische‘ Aktivitäten, die dem logischen Empirismus einen möglichst großen Einfluss an den Universitäten sichern sollten (zit. n. Stadler 2015, 276). 15 Der Vorarbeit zu diesem Aufsatz zugrunde liegen ausgewählt die Studien und Darstellungen in Dahms 1985, Stadler 2015, Geier 1992, Heidelberger/Stadler (Hg.) 2003, Siegetsleitner 2014, Sigmund 2018.

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offensichtliche Grund dafür ist, dass es eine politische Philosophie des Wiener Kreises im Sinne der Bearbeitung klassischer Fragestellungen, wie der Bestimmung des Politischen, der Herrschaftslegitimation oder der Staatenlehre, schlicht nicht gab. Vor dem Hintergrund der tatsächlich vorhandenen Vielfältigkeit politischer Implikationen im Wiener Kreis aber ist gerade deswegen die Frage nach einer Einordnung des Politischen in die Programmatik und Aktivitäten des Wiener Kreises angebracht. Zielführend scheint uns dafür die dreifache Bedeutungsunterscheidung der Selbstbezeichnung ‚Wissenschaftliche Weltauffassung‘ von Anne Siegetsleitner (2014, 221–223) in ihrer Untersuchung zur Ethik und Moral im Wiener Kreises zu sein: Im engeren Sinne umfasse sie „Grundannahmen in Hinsicht auf Philosophie, Logik, Erkenntnistheorie, Wert- und Moralphilosophie“ (Bedeutung 1), in einem weiteren Sinne träten „Positionen in Hinsicht auf die Moral als Lebenspraxis“ hinzu (Bedeutung 2) und erst in einem umfassenden Sinne beinhalte sie „über die Moral hinaus eine Positionierung hinsichtlich der Politik im Sinne einer institutionellen, ‚öffentlichen‘ Gesellschaftsgestaltung“ (Bedeutung 3). Politik als Gegenstand der philosophischen Reflexion ist in keiner der drei Bedeutungen enthalten. Mit Bedeutung (1) sind die politisch neutralen, wissenschaftlichen Grundsätze umrissen und Bedeutung (3) nimmt lediglich die parteipolitische Positionierung in den Blick. Als Zwischenglied fungiert Bedeutung (2), mit der Siegetsleiter die allgemein geteilte, säkular-humanistische Überzeugung der Mitglieder zusammenfasst. Diese stehe zwar im Einklang mit der logisch-empiristischen Programmatik, sei jedoch hauptsächlich im privaten Engagement einzelner Mitglieder zum Ausdruck gekommen und gehe nicht unbedingt, wie beispielsweise bei Schlick, mit politischen Implikationen einher. Niedergeschlagen hat sie sich etwa in jener berühmten und weitreichenden Formel mit der das „Manifest“ schließt. Nach der für Carnap (1998, XVI) und Neurath (1981, 416) typischen Ausdrucksweise entfalte der ‚wissenschaftliche Geist‘ durchaus eine für das Leben relevante Wirkung, indem er „die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Gesichtspunkten leiten hilft.“ (Neurath 1981, 315) Hiernach wird Wissenschaftlichkeit per se mit Aufklärung und Fortschritt in Verbindung gebracht, die als solche zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beiträgt. Sofern diese Haltung jedoch allein als ‚moralische‘ verstanden wird, scheint uns die politische Dimension unterschätzt zu sein; denn in ihr drückt sich doch auch ein Gestaltungswille aus, der das Politische zwar vordergründig nicht direkt intendiert, aber als eine auf den gesellschaftspolitischen Effekt abstellende Wissenschaftlichkeit bewusst integriert. Diese Politisierung vordergründig apolitischer Wissenschaft steht nicht nur in der Tradition des Sozialreformismus Ernst Machs und Josef Popper-Lynkeus’, sondern

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geht zurück auf die Idee einer „universellen revolutionairen Bedeutung der Naturwissenschaft“ ungeachtet ihrer vermeintlichen und bloß vorübergehenden politischen Indifferenz bei Ludwig Feuerbach (1850, 1074). Während sich Feuerbach einen revolutionären Effekt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse von der Medizin und insbesondere von der Ernährungslehre erhoffte,16 kommt diese oder zumindest eine vergleichbare Bedeutung im Wiener Kreis vornehmlich der Logik und Erkenntnistheorie zu. Mit ihnen sollen die vermeintlich apolitischen, „positiven Bestimmungen“ (Carnap 1998, XIV) des logischen Empirismus aufgestellt und ausformuliert werden, um sodann als „Denkwerkzeuge für den Alltag“ im Sinne einer „rationalen Umgestaltung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung“ ihre im weitesten Sinne politische Wirkung zu entfalten (Neurath 1981, 304). Diese Dimension des Politischen, die wir zur Unterscheidung von der parteipolitischen die ‚effektivpolitische‘ nennen wollen, steht als Motiv letztlich auch hinter dem „negativen Merkmal“ (Carnap 1998, XIV) des logischen Empirismus. Obgleich die Metaphysikkritik, insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige Kulturphilosophie im Namen einer reinen Wissenschaftlichkeit auftrat, so ist bei Neurath und Carnap doch immer auch ein deutlich antireaktionärer Anklang vernehmbar, der die Konvergenz von obskuren Spekulationen und politischem Konservatismus implizit oder sogar explizit herausstellt. Als prominentes Beispiel der implizit antireaktionären Positionierung darf nach Michael Friedman (2004, 25–36) Carnaps Kritik an der heideggerschen ‚Nichts- und Alles-Philosophie‘ gelten (Carnap 1931). Explizit kommt sie beispielsweise in Neuraths Anti-Spengler (1981, 139–196) oder in seinem Bericht über den zweiten anthroposophischen Kongress in Wien zum Tragen.17 Auch im „Manifest“ hat sich diese Haltung ausgedrückt, wenn einerseits die geistige Nähe von Metaphysik und Theologie zur „Gruppe der Kämpfenden“ betont wird, die „auf sozialem Gebiet das Vergangene festhalten“ wollten, und andererseits die Affinität zur Erfahrungswissenschaft und Metaphysikkritik von jenen, die „der neuen Zeit zugewendet“ seien (Neurath 1981, 315; Mormann 2006, 185f.). Während dies für Neurath und Carnap weitgehend anerkannt ist, meinen wir diese effektivpolitische Dimension des Wiener Kreises auch schon in Beiträgen Schlicks aus seiner Rostocker Zeit ausmachen zu können. In ihnen kündigt sich bereits ein Begriff des Politischen an, der sich dann in seinen späteren kulturphilosophischen 16

„Wir sehen [...] von welcher wichtigen ethischen sowohl als politischen Bedeutung die Lehre von den Nahrungsmitteln für das Volk ist.“ (Feuerbach 1850, 1082). Im „Manifest“ wird Feuerbach als einer jener „hauptsächlich gelesen[en] und erörtert[en]“ Autoren des Wiener Kreises angeführt. (Neurath 1981, 303) 17 Neurath 1981, 209–217. Vgl. hierzu außerdem Heinrich Neider, der sich wie folgt an Neurath erinnert: „For him the rejection of metaphysics was a fight like that against a political opponent.“ (Neider 1973, 46)

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Auseinandersetzungen konturiert abzeichnet. So hat etwa sein vielsagender Status als „Prophet“18 der modernen Physik seinen Grund unter anderem darin, dass man sich von ihm eine philosophische Gegenstimme erhoffte, die jene Angriffe von ‚geisteswissenschaftlicher‘ Seite kompetent abzuwehren vermochte, die auch als politisch motiviert wahrgenommen wurden. In einem Schreiben an Schlick vom 19. August 1919 begründet Max Born seine Bitte um einen Beitrag, in dem Schlick gegen einen Artikel in der Frankfurter Zeitung Stellung beziehen möge, mit der Sorge darum, dass in ihm die vermeintlich geistfeindlichen Naturwissenschaften insgesamt „für die politischen und sozialen Ungewitter“ in jüngster Zeit verantwortlich gemacht würden. Schlick kam dieser Bitte mit dem kurzen Aufsatz Zeitgeist und Naturwissenschaft nach (Schlick, MSGA I/5, 75–79), in dem er „als Vertreter der Philosophie“ (Schlick, MSGA I/5, 77) die Stimme erhob, um die Naturwissenschaften gleichsam ‚politisch‘ zu verteidigen, indem er gerade das Politische dieses Angriffs dadurch zurückwies, dass er es auf das Parteipolitische reduzierte. Während die polemische Auseinandersetzung der politischen Überzeugungen um die beste und je erst auszuhandelnde Wertsetzung im „Wesen der Politik“ begründet als auch am Platze sei, so wendet Schlick gegen den Verfasser ein, dürfe sie nicht auf das „Feld des rein Geistigen“ übertragen und damit zur Werbung „für die eigene Weltauffassung“ missbraucht werden.19 Bemerkenswerterweise beendet Schlick seine kleine Apologie der Naturwissenschaften allerdings mit dem Hinweis darauf, dass Wissenschaft und Philosophie gleichwohl eine Verantwortung dafür trügen, „das ihre dazu [zu] tun“, an der „Gesundung der Wertungen zu arbeiten“ (Schlick, MSGA I/5, 79). Das heißt, gerade in ihrer Enthaltung aller polemischen Wertauseinandersetzung trüge Wissenschaft und Philosophie zu einer gesunden Gestaltung kultureller Einrichtungen bei, so dass sich – so darf hier wohl weitergedacht werden – letztlich jede polemisch-politische Auseinandersetzung ohnehin erübrigen würde. Gerade mit der Einforderung reiner Wissenschaftlichkeit also, mit der Schlick die Sphäre des Politischen auf die parteipolitische Auseinandersetzung reduziert und damit der Wissenschaft entgegenstellt,

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Diesen für Schlick zwar gewiss schmeichelhaften, aber letztlich dann doch wohl eher problematischen Titel verwendet Max Born in seinem Brief an Schlick vom 11. Juni 1919. Letztlich drückt sich hierin sehr schön die Ironie in Bezug auf Schlicks angedachte Rolle aus, nämlich auf dem Gebiet der „Prophetie“ eine antiprophetische Position zu verteidigen. 19 Schlick, MSGA I/5, 75. Die Zurückweisung jeder Polemik ist ein vielfach bemerkter Charakterzug Schlicks, für den sein Meinungsbeitrag Lieb Vaterland! Vom 5. September 1914 im Rostocker Anzeiger (Nr. 207) ein sehr bemerkenswertes Beispiel abgibt. In ihm sprach er sich gegen einen allzu polemischen Tonfall aus, mit dem der Feind unwürdig geschmäht würde, während es allein darauf ankomme, ihn „durch die Tat zu besiegen.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 29f.)

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drückt sich die Hoffnung und der Wille zur politischen Gestaltung durch die Wissenschaft selbst aus. Politisch ist dieser Wille unserer Auffassung nach insofern, als dass sich aus der geforderten, rein wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen in Betreff des menschlichen Zusammenlebens eine Ausgestaltung des Staates ergeben soll, die ein Maximum an Zufriedenheit zu garantieren in der Lage ist. Womit im Übrigen Schlicks Interventionen zur Neutralisierung parteipolitischer Implikationen des Wiener Kreises, wie wir sie im ersten Abschnitt skizziert hatten, in vollkommener Übereinstimmung stehen. Gegen genau diese, bloß vorgeblich apolitische Haltung hatte sich Carl Schmitt in seiner Abhandlung zum Begriff des Politischen 1932 ausgesprochen, wenn er den Bestrebungen zur Vergesellschaftung sämtlicher Lebensbereiche vorwirft, bloß „taktisches Mittel im innerpolitischen Kampf“ (Schmitt 1963, 22) mit dem Ziel einer allgemeinen „Neutralisierung und Entpolitisierung“ (Schmitt 1963, 24) zu sein. Gerade in der „Gleichung: politisch = parteipolitisch“, wie sie Schlick zur Abgrenzung von Wissenschaft und Politik zugrunde legt, sah Schmitt (1963, 30–32) den „intensivste[n] und äußerste[n] Gegensatz“ von Freund und Feind relativiert und verschleiert, der seiner Bestimmung nach jedoch gerade das maßgebliche Kriterium des Politischen sei. Den polemischen Begriff Schmitts vorausgesetzt, trifft dieser, interessanterweise ja auch durch Friedrich Nietzsche vorbereitete Vorwurf eines szientistischen „Willens zur Macht“, der sich bloß hinter einem „Willen zur Wahrheit“ maskiere, Schlicks Kulturphilosophie und ihren Anspruch auf reine Wissenschaftlichkeit sehr genau.20 Denn gerade in seiner strikten Zurückweisung „philosophische[r] Modeströmungen, die in journalistischer Form im großen Publikum sich verbreiten“ (Schlick, MSGA II/1.2, 473), wird deutlich, dass er selbst nicht sonderlich mit Polemiken spart, die er doch allein in der parteipolitischen Auseinandersetzung als legitim erachtet. Markantes Beispiel dafür gibt etwa seine Vorrede zu Friedrich Waismanns geplanter Besprechung von Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung ab, wenn von „geistigen Snobs und Unmündigen“ im Unterschied zur „Schicht reifer Geister“ die Rede ist (Schlick, MSGA II/1.2, 75f.). Auch sein wichtigster kulturphilosophischer Versuch beginnt zuallererst mit einer heftigen Polemik und Abgrenzung. „Kulturphilosophie“ so stellt Schlick gleich zu Beginn von Natur und Kultur heraus, sei „heute 20

Man führe sich hierzu Nietzsches (KSA 4, 156) Gleichnis vom Theoretiker als schleichende Katze in Zarathustras Rede „Von der unbefleckten Erkenntnis“ vor Augen, in der es wörtlich heißt: „Jedes Redlichen Schritt redet; die Katze aber stiehlt sich über den Boden weg. [...] / Dieses Gleichnis gebe ich euch empfindsamen Heuchlern, euch, den ‚Rein-Erkennenden!‘“ Interessanterweise sieht Schlick Nietzsche trotz seiner glühenden Verehrung gerade in der Frage seines Machtkonzepts kritisch (Schlick, NK, 79).

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ein Ausweg für schlechte Philosophie“; und zuvor heißt es in einer Weise, die sich in Duktus und Metaphorik deutlich an Nietzsche anlehnt: „Es sind klapperdürre Gedanken, deren Dürftigkeit sich durch erhaben wallende Gewände zu verhüllen sucht, gelehrte, gequälte Untersuchungen über die Methode der ‚Kulturwissenschaften‘, [...].“ (Schlick, NK, 9) Typisch für diese eventuell sogar unbewusste Ambivalenz zwischen der Ablehnung jeder Polemik einerseits und einem nietzscheanischen Elitarismus andererseits sind Schlicks unspezifischen Anspielungen auf die spekulative Kulturphilosophie, die mitunter auch als appellative Ansprache formuliert sind, wenn es beispielsweise heißt: „Wenn ihr doch nur sehen wolltet, dass […]“ (Schlick, NK, 70). Selten aber geht aus diesen Anspielungen hervor, wer eigentlich gemeint ist. Unmissverständlich jedoch stellt Schlick einen Zusammenhang der Kulturphilosophie mit den antidemokratischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit her, womit die Autoren der sogenannten Konservativen Revolution (Horňáček 2009) quasi als Kollektiv adressiert werden. Wie bereits angesprochen wäre dabei etwa an Carl Schmitt zu denken, aber freilich auch an Martin Heidegger (Schlick, MSGA II/1.2, 78), Ludwig Klages, Ernst Jünger oder an Schlicks Nachfolger in Kiel Hans Freyer. Erklärter und ausnahmsweise namentlich genannter Gegner allerdings ist ihm Oswald Spengler, auf dessen Abhandlung Der Mensch und die Technik er in Natur und Kultur häufig rekurriert. Ihn hat er auch vor Augen, wenn er einleitend zu seiner kulturphilosophischen Vorlesung auf die bekannte Gegenüberstellung von „Wertungen vollziehen“ und „Werte erkennen“ (Schlick, A.22, Ms2r in MSGA II/3.2; MSGA I/3, 357f.) zu sprechen kommt. Den grundlegenden Fehler, der zur Missachtung dieser Unterscheidung führe, formulierte er nach Rauscher sodann eindrücklich wie folgt: Es gibt viele, die den Unterschied zwischen Anwendung einer Wahrheit und der Auffindung, der Feststellung der Wahrheit nicht sehen, [...]; das ist der grosse Irrtum, durch den soviele Ethiker zu Moralisten und soviele Kulturphilosophen zu Propheten werden. (Schlick, B.24, Ts5v in MSGA II/3.2)

Der predigende Moralist bzw. Prophet suche nicht nach einer das menschliche Zusammenleben betreffenden Wahrheit, sondern wünsche sich eine seinen Werten entsprechende. Sein Erkenntnisinteresse sei daher lediglich auf eine praktisch-moralische Rechtfertigung gerichtet, die den gewünschten Wert tatsächlich zu schaffen in der Lage sei. Ihm mangele es im Unterschied zum theoretischen Wissenschaftler an der Einsicht, dass die „Philosophie der Moral etwas Theoretisches“ ist und es ihr allein darum gehen dürfe, „die Wahrheit über die Moral festzustellen“, wie es der Kulturphilosophie allein darum gehen dürfe, „in Fragen über Kultur die Wahrheit zu finden.“ (Schlick, B.24, Ts5v in MSGA II/3.2) Etwas Anderes sei die Absicht, zur

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Bereicherung des Lebens indirekt „Erlebnisse anzuregen“ (Schlick, MSGA I/6, 39– 41), die dann eventuell eine bestimmte Werthaltung oder historische Entwicklung begünstigten: „Mit anderen Worten: dem letzten Sinne nach sind die Geisteswissenschaften gar nicht rein theoretisch, d. h. auf reine Erkenntnis eingestellt, sondern sie dienen in letzter Linie dem Erleben.“ (Schlick, MSGA I/6, 541) Sofern sich diese Absicht aber als wissenschaftliche ausgebe, sei für sie die Erkenntnis nicht mehr Selbstzweck, wie für den ‚rein Erkennenden‘, sondern bloß Mittel zum Zweck der Durchsetzung eigener moralischer oder politischer Wertsetzungen. Dass sich Schlick eben einer solchen Unternehmung selbst nicht enthalten hat, rechtfertigt die Annahme einer weiteren politischen Dimension, die wir aus nachfolgenden Gründen die „moralpolitische“ nennen wollen.

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Die moralpolitische Dimension

Schlicks Auffassung zum Ort der Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des Zusammenlebens der Menschen ist ohne Zweifel ambivalent. Einerseits insistiert er auf der Unwissenschaftlichkeit gegenwärtiger Kulturphilosophie und unterstellt ihr einen parteipolitischen Gestaltungswillen, den er allein in der polemischen Sphäre der Politik verortet. Andererseits aber nimmt er für sich als Wissenschaftler und Philosoph durchaus selbst in Anspruch, zu einer politischen Ausgestaltung der Wertsetzungen beizutragen und spart dabei selbst nicht mit Polemiken. Diese ambivalente Haltung zwischen dem Anspruch reiner Theorie und einer seit der Lebensweisheit immer schon vorhandenen Neigung zum Übergang in das praktische „Gebiet der Lebensform“ (Schlick, B.24, Ts98r in MSGA II/3.2) spiegelt sich noch in der äußeren Form seiner Argumentation wider. So bedient er sich selbst vielerlei klassischer Ausdrucksformen und Metaphern, die er der Kulturphilosophie als Irreführungen vorwirft. Hierzu zählt etwa sein Bekenntnis zur Neurathschen „Oberfläche“ (Neurath 1981, 305) in Natur und Kultur, während sein gesamtes Werk durch einen ständigen Rekurs auf eine „Tiefe“ in mannigfaltigem Sinne gekennzeichnet ist.21 Ähnlich gelagert ist seine Rede von einer „Welt des Geistes“, zu der sich der wahrhaftige Kulturmensch als einer „zweiten Welt und Heimat [erhebe]“ (Schlick, NK, 40; MSGA I/3, 21

Vgl. hierzu auch Schlicks (1913) vehemente Ablehnung einer „eignen (intuitiven) Erkenntnismethode“ (Schlick, MSGA II/1.2, 78, 227) der Geisteswissenschaften, während er selbst ein ‚spielerisches geniales Raten‘ zur Voraussetzung für erfolgreiche Theoriebildungen macht, das für ein konsistentes Verständnis seiner Erkenntnistheorie einen erheblichen Interpretationsaufwand abverlangt. Vgl. dazu den Beitrag von Julia Franke-Reddig.

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162, 182), während er die „Statuierung einer zweiten Welt“ als „verbrauchtesten philosophischen Kunstgriff“ (Schlick, NK, 20f.) zur Lösung des psychophysischen Problems scharf verurteilt. Mit Blick auf seine Ethik und Kulturphilosophie geht Schlicks Ambivalenz bereits aus seiner inkonsistenten Erklärung über den Charakter der Schrift Fragen der Ethik hervor, wenn er sich offenkundig selbst unsicher darüber ist, ob sie nun theoretischer oder philosophischer Natur sei (Schlick, MSGA I/3, 349–351), während sie dann letztlich sogar klar normative Aspekte aufweist. Diese sind auch Feigl (1937, 394) in seinem Nachruf nicht entgangen, wenn er in Schlick den „Fackelträger einer Werthelehre“ würdigt (Siegetsleitner 2014, 307–326), die er „– in vielem an Nietzsche erinnernd – kraftvoll und doch nicht hochtrabend oder überschwänglichschwärmerisch“ zum Ausdruck gebracht habe. Was hiermit deutlich wird ist, dass Schlicks Philosophieverständnis über die bloße Tätigkeit einer „immer tiefer dringenden Klärung“ des naturwissenschaftlichen Weltbildes (Schlick, MSGA I/6, 544) letztlich doch deutlich hinausgeht. In seiner kulturphilosophischen Vorlesung bekennt er sich denn auch aller Forderungen nach reiner Theorie zum Trotz explizit dazu, dass „das moralische Prinzip, das wir durch unsere Betrachtung sehen gelernt haben, […] verwirklicht werden [sollte]“ (Schlick, B.24, Ts98r in MSGA II/3.2), wofür die „ethischen Erkenntnisse für uns nur Mittel zum Zweck“ (Schlick, A.18a, Bl. 5 in MSGA II/3.2) werden. Im Manuskript zu einer weiteren kulturphilosophischen Vorlesung mit dem Titel Ethik des modernen Lebens. Eine Kritik der gegenwärtigen Kultur von 1927 heißt es außerdem: Wenn ich also sage, dass wir es in diesen Vorlesungen mit angewandter Philosophie zu tun haben werden, mit angewandter Ethik, so heisst dies, […] dass wir uns beschäftigen werden mit ihrer Anwendung auf besondere, konkrete Fälle des menschlichen Daseins[…], auf wirkliche Verhältnisse des wirklichen Lebens. (Schlick, A.18a, Bl. 2f. in MSGA II/3.2)

Gleichwohl hiermit gezeigt ist, dass Schlick seiner eigene Forderung nach einer sauberen Unterscheidung zwischen reiner Theorie und Anwendung theoretischer Erkenntnis offenbar nicht gerecht wird, so hebt sich damit seine Kritik an der spekulativen Kulturphilosophie doch keineswegs auf. Denn was Schlick für sich freilich nach wie vor in Anspruch nimmt, ist eine naturwissenschaftliche Basis seiner Überlegungen. Damit bleibt er in der Sache durchaus konsistent, was Feigl (1937, 395) entsprechend zu dem Urteil kommen lässt, dass seine Wertelehre ohne ‚Moralpredigt und politischer Demagogie‘ ausgekommen ist. Schlicks Forderung nach reiner Theorie tritt zwar dort sehr absolut auf, wo er die spekulative Kulturphilosophie zurückweist

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– worin wir das effektivpolitische Moment ausgemacht hatten; unter Berücksichtigung empirisch gesicherter Erkenntnisse jedoch hält er ihre Anwendung durchaus für zulässig. Eine solche empirische Fundierung sieht Schlick insbesondere in Spenglers bloß erwünschter, aber nicht wahrheitsgemäß festgestellter Anthropologie (Schlick, NK, 53) verletzt. Zwar folgt er seiner Analyse des Natur-Kultur-Gegensatzes als Ergebnis der Entwicklung eines „Individualwillens“ (Schlick, NK, 30). Dieser habe dem Menschen die Möglichkeit einer über die bloße „Gattungstechnik“ hinausgehenden „Menschentechnik“ eröffnet (Schlick, NK, 30), mit der er in der Lage sei, „Kultur zu schaffen und umzuschaffen“ (Schlick, NK, 10). Daraus allein aber ergebe sich das eigentliche Kulturproblem noch nicht. Zunächst sei damit lediglich das Vernunftvermögen der Möglichkeitsabwägung gefasst, die es dem Menschen erlaube, Naturvorgänge selbst nach einem Plan zu organisieren. So sei auch der Staat als technisches Werkzeug der Menschen zunächst nichts Anderes als ein zweckmäßig eingerichteter „Organismus höherer Ordnung, der selbst schon aus [letztlich natürlichen] Organismen besteht.“ (Schlick, NK, 26) Auf Schlicks vehementen Widerspruch hingegen trifft Spenglers Annahme eines Schicksals der Menschen zum Kampf (Spengler 1932, 13) und seiner Bestimmung der Technik als mächtigste Waffe in der Hand des Menschen, die ihn zum mächtigsten aller Raubtiere gemacht habe. Bei Spengler (1932, 7) heißt es dazu wörtlich: „Die Technik ist die Taktik des ganzen Lebens. Sie ist die innere Form des Verfahrens im Kampf, der mit dem Leben selbst gleichbedeutend ist.“ Diese Anthropologie vom „politischen Raubtier“, nach der der Krieg als „die Urpolitik alles Lebendigen“ begriffen wird (Spengler 1988, 1109, 977), ist es denn auch, die bekanntlich dem im 20. Jh. gewiss wirkmächtigsten Versuch der Bestimmung des Politischen als einer „Besinnung auf das Phänomen der Feindschaft“ (Schmitt 1963, 18) zugrunde liegt: Die Feindschaft, so Schmitt, sei eben das spezifisch politische Kriterium, „[...] weil nun einmal das ganze menschliche Leben ein ‚Kampf‘ und jeder Mensch ein ‚Kämpfer‘ ist.“ (Schmitt 1963, 33) Von hier aus ergibt sich Schmitts, wiederum von Nietzsche (MA, 295f.) entlehnter Primat der Außenpolitik und seine Forderung zur Unterscheidung von „Feind und Verbrecher“, „hoher Politik“ und „Polizei“, „staatlich und politisch“ (Nietzsche, MA, 12, 11 u. 9) sowie seine Bestimmung des Staats als je auf den existenziellen Ernstfall hin konstituierte Kampfeinheit (Nietzsche, MA, 29f.). Diesem an der „Erschütterlichkeitssphäre der politischen Gebilde, nicht ihrer Zusammenhaltssphäre“ (Buber 2019, 186) ausgerichteten Begriff setzt Schlick bereits in Natur und Kultur jene Bestimmung entgegen, wie sie dann drei Jahrzehnte später von Dolf Sternberger (1961, 18) explizit gegen Schmitt ausformuliert worden ist: nämlich den Frieden „als die politische Kategorie schlechthin.“ Angesichts seiner

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noch während des Ersten Weltkriegs öffentlichen Unterstützung des preußischen Militärs22 ist Schlicks Betonung in den 1930er Jahren bemerkenswert, dass angesichts der Schrecken des maschinellen Krieges, jedes Bekenntnis eines Politikers zum Frieden ins Lächerliche gerate, da dieses per definitionem eine Selbstverständlichkeit sein sollte (Schlick, NK, 111). Schlick definiert das Politische zwar nicht explizit, aber doch klar in der Sache gegen Schmitt zunächst als das Staatliche und schließt dann aus der Aufgabe des Staates, „Schutz und Sicherheit, also Frieden“ zu gewährleisten (Schlick, NK, 59), seinen politischen Grundgedanken: „Dann folgt – und an diesem Satze halte ich unter allen Umständen fest: der höchste Zweck der Politik ist der Friede“ (Schlick, NK, 99). Zwar erkennt auch Schlick den Kampf der Menschen gegeneinander durchaus als zu seiner Natur gehörend an, woraus sich der „Zweck des Staates“ überhaupt erst ergebe; ein „Fehlschluß“ daraus jedoch sei die Unmöglichkeit, „sich die Menschheit ohne Krieg vorzustellen“ (Schlick, NK, 53f.) und diesen damit zum unabänderlichen Kulturschicksal und die Feindschaft als seiner Voraussetzung zur maßgeblichen Kategorie des Politischen zu erklären. Fehl gehe dieser Schluss dort, wo das „Natürliche mit dem Unabänderlichen identifiziert“ werde (Schlick, NK, 53f.). Wie schon Heinrich Mann versteht Schlick (NK, 42f.) den Spenglerschen Geschichtsbiologismus fatalistisch und wirft ihm vor, das eigentliche Kulturproblem mit seinem Schicksalsgedanken verfehlt zu haben.23 Denn zum Problem werde die Kultur erst dadurch, dass der Mensch seine Geschichte selbst gestalte und darin eben auch scheitern bzw. dieses Vermögen, etwa durch Moralisierung und Prophetie, auch missbrauchen könne. Gescheiterte Kultur – mit Spengler: bloße Zivilisation – sei tatsächlich widernatürlich. An ihr empfinde der „tiefere Mensch“ jedoch nicht ein unabwendbares „Unbehagen“, wie Schlick (NK, 11) auch gegen Freuds (1930) pessimistische Kulturanalyse einwendet, sondern ein tiefes Leid, das darin seinen Grund habe, dass er die kulturellen Institutionen auch hätte besser gestalten können. Das Problem des Staats 22

Schlick gehörte zu den Unterzeichnern der von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff initiierten, bellizistischen Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (Iven 2013, 367–370). 23 Gegen den Vorwurf des Fatalismus hatte sich Spengler (1988, 152–158) vorausgreifend allerdings bereits dadurch verwahrt, dass er mit Leibniz die absolute Notwendigkeit als eine bloße „Logik des Anorganischen“ zurückweist und sich für seine Geschichtsmorphologie auf eine „organische Logik“ der kulturzeitlichen Gerichtetheit stützt. Aus ihr allein sei nicht die Erkenntnis, sondern allein das Erlebnis der „Gewißheit eines Schicksals“ als Voraussetzung wahrhaftig schöpferischer ‚Täterschaft‘ denkbar. Im Unterschied zu Schlick, der darauf mit keinem Wort eingeht, erkannte Neurath (1981, 182) den Witz dieser Unterscheidung sehr genau, wenn er den ‚jugendgefährdenden‘ Charakter des Untergangs des Abendlandes eben darin ausmacht, dass sie „alle Mittel der Kritik von vornherein zu zersetzen trachtet.“ Ob Schlick sich mit Spenglers Hauptwerk jedoch überhaupt eingehender befasste, hat sich uns nicht erschlossen. Vgl. dazu allerdings die diesbezügliche Anfrage Paul Hertz’ in einem Postskriptum an Schlick vom 30. August 1920.

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ist für Schlick (NK, 67) daher kein Problem der Idee des Staats, sondern allein ein Problem der „Durchführung der Idee“. Hiermit ist der einleitend bereits angesprochene Grundgedanke der Schlickschen Kulturphilosophie wieder aufgegriffen, dass es allein „durch den Mißbrauch der Vernunft“ (Schlick, NK, 13) zu einer künstlichen Trennung der Kultur von der Natur komme, worin gerade das ganze Kulturproblem bestehe. Da aber nur dort von einem Missbrauch die Rede sein kann, wo ein Wertmaßstab für gutes und schlechtes Handeln vorliegt, kommt er zu dem Schluss: Wir verwünschen die Kultur, wo sie uns durch eigene Schuld leiden macht; sie macht uns leiden, wo der Verstand mißbraucht wird; der Verstand wird mißbraucht, wo er in den Dienst des Bösen tritt. Was aber ist das Böse? So scheint es, daß die Lösung des Kulturproblems die Lösung des Moralproblems voraussetzt.24

Da der Staat für Schlick ein ganz wesentlicher Gegenstand seiner kulturphilosophischen Reflexion darstellt, bestätigt sich hierin unser Befund eines durchaus auch politisch zu nennenden Gestaltungswillens auf der Grundlage einer empirischen Ethik. Gerade diese „Beziehung, die zwischen Kultur- und Moralfragen“ bestehe (Schlick, B.24, Ts1r in MSGA II/3.2), so Schlick, sei in den üblichen Betrachtungen zur Kultur übersehen worden. Mit Kant beklagt er die missachtete Einsicht, dass zur Kultur immer schon „die Idee der Moralität“ gehört und dass alles Gute, „das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, nichts [ist] als lauter Schein und schimmerndes Elend.“ (Kant 1784, 49) So stellt er denn auch gleich zu Beginn seiner Vorlesung mit dem in diesem Sinne auch programmatisch zu verstehenden Titel „Ethik und Kulturphilosophie“ heraus, dass beide Fragestellungen sich nicht auf zwei verschiedene, sondern auf ein und denselben Gegenstand richteten, und dass weder der einen noch der anderen der Primat zukomme. Ihr gemeinsamer Gegenstand seien die Grundsätze menschlicher Handlungen, die ihren Ausdruck in den gemeinsamen Werten einer Gemeinschaft fänden. Als allgemeinen Titel für „Moral- und Kulturphilosophie“ empfiehlt Schlick daher von „‚Wertlehre‘“ zu sprechen. (Schlick, B.24, Ts3r in MSGA II/3.2) Unklar bleibt dabei allerdings, welchen Unterschied Schlick dann noch zwischen Ethik und Kulturphilosophie sieht bzw. warum er sich nicht im Sinne einer unzweideutigen Ausdrucksweise für einen der beiden Begriffe entscheidet, wenn es doch im Grunde „unwesentlich [ist], unter welchen Termini man diese Fragen einreiht.“ (Schlick, B.24, Ts2v in MSGA II/3.2) Es scheint uns aufgrund der doch deutlichen 24

Schlick, NK, 34. Vgl. hierzu bereits Schlicks Nietzsche-Vorlesung, in der er die „Beleuchtung des Kulturproblems“ (Schlick, MSGA II/5.1, 184) als Nietzsches Hauptinteresse seiner Reflexionen über die Moral herausstellt. (Schlick, MSGA II/5.1, 100, 250, 277)

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Tendenz seiner nachgelassenen Schriften die Vermutung erlaubt, dass Schlick insbesondere dort von ‚Ethik‘ spricht, wenn es ihm vornehmlich um die empirisch-psychologische Theorie geht, während er von ‚Kulturphilosophie‘ spricht, wenn es ihm um die Anwendung der theoretisch gewonnen Erkenntnisse geht. Dem entspricht auch die Artikulation seines Vorhabens im Staatskapitel von Natur und Kultur: „Die Aufgabe der Ethik haben wir hier nicht noch einmal zu lösen; wir setzen sie voraus und wenden sie an.“ (Schlick, NK, 79) Ziel einer angewandten Ethik bzw. der Kulturphilosophie ist Schlick dabei auf der Grundlage eines in mehrfacher Hinsicht originellen Nietzsche-Verständnisses als „besserer Rousseau“ (Schlick, MSGA II/5.1, 325), die ‚Unnatürlichkeit‘ des Staates, insbesondere die seinem eigentlichen Zweck diametral entgegenstehende Unnatürlichkeit des Krieges dadurch zu überwinden, zunächst seine Idee begrifflich wieder zu „vernatürlichen“ (Nietzsche FW, 122). Um wieder „echte Cultur“ (Schlick, MSGA II/5.1, 200; MSGA I/6, 107; NK, 18) zu sein, müsse der Staat „selbst etwas Natürliches“ (Schlick, NK, 40–46) werden. Unter einer solchen Vernatürlichung der Kultur und des Staats versteht Schlick nichts anderes als die naturwissenschaftliche, theoretische Fundierung politischer Überlegungen. Künstliche Überformungen der Kultur müssten durch naturwissenschaftliche Erkenntnis aufgeklärt und damit aufgehoben werden.25 Ohne Schmitt beim Namen zu nennen, in der Sache aber doch eindeutig gegen dessen Freund-Feind-Unterscheidung gerichtet, erklärt Schlick in diesem Sinne den „Gedanken an Feinde“ zu einer für das Staatsproblem zentralen Unnatürlichkeit. Er sei nichts weiter als ein Mythos zur Konstituierung der „politischen Einheit“ (Schmitt 1963, 10), der den Staat zum „kältesten aller kalten Ungeheuer“ mache.26 Die Feindschaft als Grund des Zusammenschlusses der Menschen ist Schlick mithin eine widernatürliche Überformung der Kultur, die künstlich am Leben gehalten werde: „[D]ieser in wesentlichen Zügen falsche Gedanke muß unablässig genährt, der Nationalismus muß gezüchtet werden“ (Schlick, NK, 62). Es sind dies vielleicht die selbst in parteipolitischer Hinsicht klarsten und stärksten Worte, die Schlick im Staatskapitel von Natur und Kultur gegen die Ideologie des Faschismus und Nationalsozialismus je gefunden hat, wenn er auf die fehlende empirische Grundlage der Freund-Feind-Unterscheidung verweist und ihre Begründung als eine bloße Mystik zu entlarven sucht, die sich zur Bestimmung der politischen Einheit auf 25

Vgl. hierzu schon in der Lebensweisheit die Charakterisierung der Zivilisation als einen „Schnürleib am schlanken Körper der Menschheit“, den sich der „undankbare Kulturmensch“ qua selbst verschuldeter und ‚kulturverzerrender‘ Emanzipation von der Natur selbst angelegt habe (Schlick, MSGA I/3, 124–129). Ziel müsse hingegen eine „letzte, wahre, ideale Zivilisation“ sein, in der wieder „das Künstliche zu einem Natürlichen geworden [ist]“ (Schlick, MSGA I/3, 121). 26 Schlick (MSGA II/5.1, 292) zitiert hier in seiner Nietzsche-Vorlesung aus Zarathustras Rede „Vom neuen Götzen“ (Nietzsche, KSA 4, 61).

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abergläubische Vorstellungen der militärischen Ehre, des Nationalstolzes, der „Vergötterung des Blutes“ und des Bodens sowie vor allem auf die Künstlichkeit geographischer Grenzen stützen müsste (Schlick, NK, 79–86): „Das Unnatürliche an unseren Staaten sind ihre Grenzen.“ (Schlick, NK, 104) Einerseits wiederum mit Nietzsche fordert Schlick eine von dieser Mystik „entgöttlicht[e]“ Natur (Nietzsche, FW, 122); andererseits beruft er sich auf eine – unzweifelhaft Rousseaus „‚guter Natur‘“ (Nietzsche, FW, 21) doch sehr viel näherstehende – „Moral der Güte […] als Ausdruck der tiefsten Menschennatur“ (Schlick, NK, 78). Dass der Mensch eine solche natürliche Anlage besitze – Schlick spricht hier von „sozialen Trieben“ (Schlick, MSGA I/3, 500), „sittlichen Gefühlen“ (Schlick, A.98, 143 in MSGA II/3.2) und „sozialen Instinkten“ (Schlick, NK, 53) – hält er wohl nicht zuletzt auch mit seinen Fragen der Ethik (Schlick, MSGA I/3, 517–521) bereits für ausgemacht: „Diesen Beweis vermag die Ethik zu erbringen, ja sie hat ihn längst erbracht.“ (Schlick, NK, 78) Es ist wohl im Besonderen dieser, bereits in der Lebensweisheit (Schlick, MSGA I/3, 290) vertretene Ausgangspunkt von der Natürlichkeit sozialer, altruistischer Triebanlagen des Menschen, die seinen politischen Überlegungen den Vorwurf der Naivität und utopischen Schwärmerei eingebracht hat.27 Indem Schlick (NK, 17) zunächst das Kulturproblem als Moralproblem versteht, weil die Unnatürlichkeit der Kultur im Missbrauch der Vernunft ihren Grund habe, der allein qua theoretischer Erkenntnis psychologisch-empirischer Fakten aufzuheben sei, schließt Schlick also, dass auch der Staat als kulturelle Institution allein moralisch zu konstituieren sei: „Es gibt nur ein Fundament des wahren, dauernden Staates, das ist die Moral.“ (Schlick, NK, 108) Die Überwindung des natürlichen „Lebenskampf[s]“ sei daher allein auf dem Grund „besonderer Triebe“ denkbar, „deren Befriedigung ein ganz besonderes Glück gewährt.“ (Schlick, MSGA II/5.1, 151) In Natur und Kultur heißt es dazu wörtlich: Sie sind natürlich die wahrhaft wesentlichen, die für das Moralische allein in Betracht kommen und die zugleich die Basis aller tieferen Sympathie und Antipathie bilden.

27

Vgl. hierzu bereits die Rezension und Kritik von Natur und Kultur aus marxistischer Perspektive von Helmut Kaiser (1955, 657f.) oder das, durchaus wohlwollende Attest einer „kindliche[n] Persönlichkeit“ von Emil Utitz (1930, 450). Vgl. dazu außerdem Mormann (2010, 272) und Siegestleitner (2014, 329f.), die sich diesem Urteil anschließen. Es wäre allerdings ein durchaus lohnendes Unternehmen, zumindest ansatzweise die schlicksche Rezeption der Theorie sozialer Instinkte zu rekonstruieren, die am Ende des 19. Jh. weit verbreitet war und prominent etwa auch von Ernst Haeckel (1878, 70–77) vertreten wurde. Außerdem käme Schlick damit als früher Vertreter einer biologistischen bzw. evolutionären Ethik in Betracht, die unlängst erneut an Popularität gewonnen hat (Wilson 2013, 192–201; Bauer 2006).

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Und diese Triebe [...] entspringen der wirklichsten aller Wirklichkeiten, der Berührung zwischen Einzelwesen und Einzelwesen, [...]. (Schlick, NK, 85)

Das Politische, so meinen wir Schlick richtig zu verstehen, ist damit als eine über die je einzelne Beziehung zwischen Individuen hinausgehende moralische Verbindlichkeit eines Kollektivs von Menschen untereinander zu begreifen. Wenn damit aber das Politische als moralisch verstanden und das Moralische allein als Individualmoral denkbar ist, so sieht sich Schlick vor die Frage gestellt, wie auf der Grundlage individueller Beziehungen das Problem der großen Politik, der Krieg überwunden werden kann. Zwar sei seiner Auffassung nach eine „Staatenmoral nach dem Muster der Individualmoral aufs innigste zu wünschen“ (Schlick, NK, 77), aber bedauerlicherweise nicht durchführbar, weil die bisherigen Staaten sich erstens geographisch als sehr beharrlich erwiesen haben und damit keine soziale Bewegung gegeben sei, in der sich soziale Triebe überhaupt erst entfalten könnten. Zweitens aber besitze der Staat als kulturelle Institution überhaupt keine, geschweige denn soziale Triebe, die als Ermöglichungsbedingung jeder gelingenden Moralität zugrunde lägen: „Kurz, es gibt zwischen Staaten und Völkern keine Moral.“ (Schlick, NK, 73) Auch der Idee des Völkerrechts steht Schlick offenbar skeptisch gegenüber, da es „durch bloße Utilität zu friedlichem Zusammenleben“ zwinge und damit kein „Nährboden für das Wachsen einer Moral der Völker“ sein könne (Schlick, NK, 71). Seine radikal kosmopolitische Antwort auf diese Aporie ist der Vorschlag zur Aufhebung jeder Grenze und damit zur Aufgabe klassischer Vorstellungen der Nation überhaupt qua non-territorialer, vereinsähnlicher ‚Staatengebilde‘ als Zusammenschluss je in ihren moralischen Eigenschaften, nicht ihren parteipolitischen Überzeugungen Übereinstimmender (Schlick, NK, 99, 102). Dieser moralpolitische Vorschlag zu einem „natürlichen Staat“ (Schlick, NK, 99) ist Schlicks in mehrfacher Hinsicht visionär zu nennende Vorstellung zur Realisierung einer wahrhaft „völkerverbindenden Humanität“ (Schlick, NK, 106). Durch den realen Austausch aller Individuen und der sich damit weltweit verknüpfenden Beziehungen soll ihr Zusammenleben auf moralischer Grundlage gesichert werden (Schlick, NK, 96f.), was schließlich auf die „Konstituierung eines einzigen Weltstaates“ hinauslaufe.28 Inwieweit dieses Konzept auf der Grundlage rein wissenschaftlich gewonnener Einsichten mit unseren heutigen Grundsätzen partizipativ deliberativer Demokratien vereinbar wäre, wozu sich Schlick so gut wie überhaupt nicht äußert, wollen wir dahingestellt sein lassen.

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Schlick, NK, 102. Für eine ausführliche und vergleichende Analyse verweisen wir auf die Besprechung von Hubert Schleichert (2006).

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Schluss

Der Staat ist für Schlick als maßgebliche Ursache der Daseinsnot ein Kulturproblem und als solches ein Moralproblem. Hieraus ergibt sich bereits allein, dass Schlick das Politische dezidiert in moralischen Kategorien denkt.29 Wir plädieren daher dafür, Schlicks kulturphilosophische Überlegungen zum Staat als ‚politische‘ ernst zu nehmen. Die Beurteilung Schlicks im Vergleich mit den übrigen Mitgliedern des Wiener Kreises, als „liberal bis apolitisch eingestellte[r] Denker“ (Damböck 2018, 45) griffe damit zu kurz. Die zitierte semantische Dreiteilung der Selbstbezeichnung ‚Wissenschaftliche Weltauffassung‘ wäre daher unserer Auffassung nach mindesten um eine Differenzierung von Bedeutung (2) zu ergänzen, worauf Siegetsleitner (2014, 224f., 404) selbst bereits hinweist. Denn ihre Einschätzung, dass Bedeutung (2) für Schlick zwar „eine moralische, aber keine politische Ausrichtung“ umfasse, ist eben davon abhängig, „was unter ‚politisch‘ verstanden wird.“ Zutreffend ist diese Beurteilung mutatis mutandis unfraglich unter dem skizzierten Gesichtspunkt einer parteipolitischen Positionierung, die wir in Bedeutung (3) verortet hatten. Ins Windschiefe gerät sie bereits im Hinblick auf eine auch bei Schlick zu konstatierende effektivpolitische Dimension, die sich aus dem Postulat einer reinen Theorie ergibt und insofern viel stärker mit Bedeutung (1) nach Siegetsleitner verbunden ist als es zunächst scheint. In dieser Dimension weist Schlick den polemischen Begriff des Politischen Spenglers und in der Sache auch Schmitts als unwissenschaftlich zurück bzw. reduziert ihn auf das Parteipolitische. Unzutreffend allerdings wird die Beurteilung Schlicks als apolitischen Denker spätestens unter Berücksichtigung des Schlickschen Versuchs zu einer eignen moralischen Bestimmung des Politischen. Ziel seiner angewandten Ethik bzw. Kulturphilosophie ist erstens die Widerlegung einer bloß spekulativen bzw. gewünschten Anthropologie konservativer Provenienz, die zur Grundlage einer polemischen Bestimmung des Politischen und damit dem Zweck des Staates gerade widerstrebenden Absicht wird. Zweitens geht es ihm um die Ableitung einer wissenschaftlich fundierten, psychologisch-empirisch gesicherten Basis für eine moralpolitische Philosophie. Deren Absicht besteht darin, das Polemische des Politischen durch die Überwindung großer Politik praktisch über-

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Wir haben uns in dieser Diskussion auf die Kulturphilosophie Schlicks konzentriert. Es wäre aber freilich eine weiterführend sehr berechtigte Frage, inwieweit unsere These von einer moralpolitischen Dimension unter Berücksichtigung gewisser Nuancen generell einen wichtigen Aspekt des Politischen im Wiener Kreis ausmacht. Vgl. zu Neurath diesbezüglich Siegetsleitners (2014, 219) und zu Carnap unlängst Damböck (2018, 8f.).

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haupt aufzuheben, also im Sinne Schmitts (1963, 35) eine „Welt ohne Politik“ denkbar zu machen. Getragen ist diese Unternehmung von der durchaus utopisch zu nennenden Absicht zur Verwirklichung einer „unsichtbaren Civitas dei, die Gemeinschaft, welche überstaatlich, übernational, überkonfessionell und überparteilich ist.“ (Schlick, NK, 100) Sofern sich eine apolitische Haltung durch eine solche Absicht auszeichnet, darf Schlick gewiss als apolitischer Denker par excellence gelten; damit aber hätte man sich immer schon auf einen Begriff des Politischen eingelassen, der zumindest Schlicks moralpolitischer Absicht gerade entgegensteht.

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V. Ästhetik

Schlicks unvollendete Kunsttheorie Christian Bonnet

Wenn Schlick auch nicht hauptsächlich dafür bekannt ist, hat er sich doch ständig für die Fragen des Schönen und der Kunst interessiert: von seinen ersten Schriften – der 1908 erschienenen Lebensweisheit und dem Aufsatz „Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Beleuchtung“ (Schlick 1909) – bis zu den allerletzten, nämlich dem Büchlein Natur und Kultur, das Josef Rauscher 1952 aus dem Nachlass von Schlick herausgab. Ursprünglich trug dieses Buch bekanntlich den Titel Natur, Kultur, Kunst. Dieser ursprüngliche Titel lässt vermuten, dass die Kunst für Schlick keine unwesentliche Frage bedeutete und vielleicht sogar für ihn eine der wesentlichen philosophischen Fragen war, eine Frage, die als solche sozusagen der Orgelpunkt des Buches sein sollte. Leider handeln in dem veröffentlichten Buch nur die beiden letzten Seiten von der Kunst. Die handschriftliche Fassung ist nicht umfangreicher, zumindest was die Kunst betrifft. Außer den schon erwähnten Texten, die aus den ersten Jahren stammen, haben wir doch glücklicherweise einige weitere Unterlagen: unter anderem „Vom Sinn des Lebens“, ein paar Seiten der Allgemeinen Erkenntnislehre, die Vorlesungen über Schopenhauer und Nietzsche und weitere hie und da verstreute Bemerkungen. Worin besteht die Kunst für Schlick? Wonach zielt sie? Welche ist ihre Funktion? Was ist ihr Sinn? Eines ist schon klar, nämlich: worin sie nicht besteht. Die Kunst hat für Schlick mit der Erkenntnis überhaupt nichts zu tun. Diese Behauptung des nicht-kognitiven Wesens der Kunst ist einer sehr verbreiteten Auffassung der Kunst entgegengesetzt, nämlich der Auffassung, dass die Kunst eine weitere und reichere Art von Erkenntnis sei, die jenseits der Grenzen des begrifflichen, vernünftigen Wissens, dank eigener Mittel, erreicht werden kann. Die Kunst vermag sozusagen das Unsagbare zu sagen. Diese verbreitete Auffassung ist bei manchen Philosophen, Schriftstellern oder Künstlern zu finden. Bergson zum Beispiel ist einer ihrer Vertreter. Als er in seinem Buch Das Lachen die Frage „Was ist der Gegenstand der Kunst?“ stellt, lautet die Antwort: Wenn die Wirklichkeit unsere Sinne und unser Bewusstsein unmittelbar träfe, wenn wir mit den Dingen und mit uns selber in ungebrochene Verbindung treten könnten, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_13

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ich glaube, dann wäre die Kunst überflüssig, oder vielmehr, wir wären dann alle Künstler, denn unsere Seele würde dann in beständigem Einklang mit der Natur stehen (Bergson 1983, 115).

So ist Bergson der Ansicht, dass der Künstler „uns Dinge sagt […], die die Sprache an sich nicht ausdrücken konnte“; und der Schluss dieser Betrachtungen ist, dass „die Kunst nur eine reinere Anschauung von der Wirklichkeit ist.“ (Bergson 1983, 120). Diese Vorstellung hat selbstverständlich mit Bergsons Glauben zu tun, es gebe intuitive Erkenntnis, und diese Erkenntnis sei sogar die beste oder die reichste aller Erkenntnisarten. Nach ihm „besteht Philosophieren darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen.“ (Bergson 1970, 141) Bekanntlich wurde diese Auffassung schon 1913 in „Gibt es intuitive Erkenntnis?“, danach 1918 in der Allgemeinen Erkenntnislehre von Schlick widerlegt. Die Grundthese der Erkenntnislehre von Schlick besteht darin, dass die Anschauung keine Erkenntnis ist. Die Anschauung ist ein Erlebnis und keine Erkenntnis. Die so verbreitete Verwechselung des Erlebnisses mit der Erkenntnis ist Schlick zufolge „zahlreichen Metaphysikern verhängnisvoll geworden.“ (Schlick, MSGA I/1, 294). Diese Verwechselung ist sogar gewissermaßen eine der Wurzeln der Metaphysik und ihrer Ansprüche auf eine Erkenntnis des inneren Wesens der Natur oder des Transzendenten. Tatsächlich aber tut der Metaphysiker dabei etwas ganz Anderes, als er glaubt. Nach Schlick „vermögen [die metaphysischen Systeme] gewisse Befriedigungen zu gewähren, weil sie wirklich etwas von dem geben können, was der Metaphysiker sucht, nämlich Erleben.“ (Schlick, MSGA I/6, 54) Das ist aber kein Erlebnis des Transzendenten. Das hat vielmehr mit der Kunst zu tun. Wir sehen, in welchem präzisen Sinne die oft geäußerte Meinung richtig ist, daß metaphysische Philosopheme Begriffs-Dichtungen seien: sie spielen im Kulturganzen in der Tat eine ähnliche Rolle wie die Dichtung, sie dienen der Bereicherung des Lebens, nicht der Erkenntnis. Sie sind als Kunstwerke, nicht als Wahrheiten zu werten. Die Systeme der Metaphysiker enthalten manchmal Wissenschaft, manchmal Poesie, aber sie enthalten niemals Metaphysik. (Schlick, MSGA I/6, 54)

Der berühmte antimetaphysische Angriff von Carnap in der „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (Carnap 1931) wird nichts Weiteres sagen, wenn auch in einem polemischeren Ton. Hier ist das berühmte „Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeit“ gemeint. Carnap zufolge ist „die Kunst das adäquate, die Metaphysik aber ein inadäquates Ausdrucksmittel für das Lebensgefühl […] die Metaphysik [ist] ein Ersatz, allerdings ein unzulänglicher, für die Kunst.“ (Carnap 1931, 240f.)

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Die von Schlick vertretene These des nicht-kognitiven Wesens der Kunst bedeutet aber überhaupt keine Entwertung der Kunst. Ganz im Gegenteil wird die Kunst wiederholt von Schlick als etwas Wesentliches im menschlichen Leben dargestellt: Sie erfüllt oder bereichert das menschliche Leben. „Das Leben an sich ist ja überhaupt nicht wertvoll, sondern wird es nur durch seinen Inhalt, seine Lustfülle. Die Erkenntnis ist neben der Kunst und tausend anderen Dingen ein solcher Inhalt, ein Füllhorn der Lust.“ (Schlick, MSGA I/1, 315) In diesem Text der Allgemeinen Erkenntnislehre sind Kunst und Erkenntnis miteinander verbunden und werden beide als „Erfüllung“ oder „Bereicherung“ des Lebens bezeichnet. Der hier in der Allgemeinen Erkenntnislehre erwähnte reine „Wille zur Wahrheit“ und was Schlick in der Lebensweisheit den „Willen zur Schönheit“1 nannte, haben tatsächlich einen ähnlichen Ursprung.2 Schlick versucht zu erklären, wie sich Menschen in den beiden Fällen allmählich von den lebenswichtigen Zwecken und der Suche nach dem Nützlichen befreit haben, um sich Tätigkeiten wie reinem Wissen oder Kunst zu widmen, die keinen anderen Zweck als sich selbst haben, und so etwas wie ein „selbstloses Interesse“ entwickelt haben. Schlick ist der Ansicht, dass dies nur durch einen Prozess erklärt werden kann, der selbst natürlich ist, nämlich der „Prozess der Umwandlung der Mittel in Zwecke“, oder was Wundt die „Heterogonie der Zwecke“ nannte.3 Dieser Prozess besteht darin, daß Tätigkeiten, die ursprünglich bloße Mittel mit einem nützlichen oder lebenswichtigen Zweck waren, allmählich für sich selbst und zum Vergnügen durchgeführt werden. Schlick glaubt zudem, daß es kaum eine Tätigkeit gibt, die nicht eine solche 1

„Wille zur Wahrheit" ist bekanntlich ein nietzscheanischer Ausdruck, aber ,,Wille zur Schönheit"“ auch, zwar viel seltener. Es gibt zwei Fälle: 1) Nietzsche, KSA 2, 499: „Entsagung im Willen zur Schönheit. – Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen: das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben, zu gefallen, um Ein Mal das Entzücken Dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen.“ 2) Vgl. auch Nietzsche, KSA 12, 113: „Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das Ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge, unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das sinnlos Gewordene zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißrathen, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen?“ 2 Und vielleicht mehr als nur einen ähnlichen Ursprung. Hier ist z. B. das ästhetische Erlebnis der Konstatierungen, „diese Augenblicke der Erfüllung und des Verbrennens“ von denen „alles Licht der Erkenntnis aus[geht]“ gemeint: vgl. Schlick, MSGA I/6, 514. 3 Wundt (1912, 266) meint, dass „in dem gesamten Umfang freier menschlicher Willenshandlungen die Betätigungen des Willens immer in der Weise erfolgen, daß die Effekte der Handlungen mehr oder weniger weit über die ursprünglichen Willensmotive hinausreichen, und daß hierdurch für künftige Handlungen neue Motive entstehen, die abermals neue Effekte hervorbringen.“

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Umwandlung durchlaufen könnte: das Gehen, das zum Tanz wird, das Sprechen, das zum Lied wird, oder die Arbeit, die zum Spiel wird. Laut Schlick ist diese „Umwandlung von Mitteln in Zwecke“ der Ursprung der Kunst: Dieser Prozeß der Umbildung von Mitteln zu Zwecken macht das Leben immer reicher, er läßt neue Triebe in uns entstehen und damit neue Möglichkeiten der Lust – Befriedigung von Trieben ist ja nur ein anderer Name der Lust. Er ist der Schöpfer des Schönheitstriebes, aus dem dann die Kunst entspringt, die bildende für das Schauen, die Musik für das Lauschen. (Schlick, MSGA I/1, 316)

Aber diese Gedanken – nämlich: 1) die Kunst bereichert oder erfüllt das Leben; 2) sie geht aus der Umwandlung von Mitteln in Zwecke hervor – waren schon früher in der Lebensweisheit zu finden. Oft wurde die Frage diskutiert, ob Schlick im erkenntnistheoretischen Gebiet seine Meinung geändert hat oder nicht. Was auch immer die Antwort auf diese Frage sein mag, Schlicks Kunsttheorie scheint jedenfalls eine gewisse Stetigkeit aufzuweisen. In der Lebensweisheit erklärt Schlick, dass die Sinne ursprünglich nur eine Anpassungsfunktion haben. Sie sind Werkzeuge im struggle for life, im Lebenskampf: die Farben, die Formen oder die Klänge sind unter diesen Bedingungen Zeichen für das Nützliche, das Unnützliche oder das Gefährliche. Mit anderen Worten, späht das Auge in der Natur nach Nahrung oder Feinden. Aber als die Entwicklung einen Punkt erreicht hat, an dem sich die Menschen gut an ihre Umwelt angepasst haben, wird es ihnen möglich, die Natur in uneigennütziger Weise zu betrachten. Und wenn die Menschen die Natur so betrachten, erleben sie das Gefühl des Schönen oder des Hässlichen,4 statt des Gefühls des Nützlichen oder des Gefährlichen. Je vollkommener der Mensch sich an die Außenwelt angepaßt hat, umso weniger werden die Funktionen der Sinne und des Gehirns für Leben und Wohlleben mühsam zu arbeiten brauchen; sie bekommen mehr freie Zeit und überschüssige Energie, die zum Spiel verwendet wird. Dies aber ist es gerade, was der Wille zur Schönheit will. (Schlick, MSGA I/3, 159)

Von nun an wird die Kunst als „Spiel der Seele“ – oder „lustvolles Spiel der Gefühle“ – bezeichnet. „Lust“ und „Spiel“ sind in diesem Kontext die beiden Hauptbegriffe. Diese Spieltheorie der Kunst erinnert selbstverständlich an die Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von Schiller. „[D]er Mensch   spielt nur“, um es 4

Das Erlebnis des Schönen und insbesondere des Hässlichen „hat seinen Grund in gewissen Assoziationen, die der Anblick vieler Objekte hervorruft, so daß ihre Betrachtung schon von vornherein mit bestimmten Lust – oder Unlustgefühlen verknüpft ist.“ (Schlick, MSGA I/3, 156)

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in Schillers Worten zu sagen, „wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“5 Aber diese klassische Spieltheorie der Kunst wird hier bei Schlick zu einer entwicklungsgeschichtlichen Auffassung. In seinem ein Jahr nach der Lebensweisheit erschienenen Aufsatz „Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Beleuchtung“ führt Schlick das Schönheitsgefühl des Menschen systematisch auf evolutionäre Vorgänge zurück. In seiner Autobiographie äußert sich Schlick darüber in folgender Weise: Die erste Wirkung der Vertiefung in die Psychologie aber war die Verfolgung eines Hauptgedankens der Lebensweisheit in einen Seitenzweig: des Gedankens nämlich, dass das menschliche Handeln nicht dort am sinnvollsten ist, wo es sich auf ferne Zwecke richtet, sondern vielmehr dort, wo es Selbstzweck ist, d. h. zwecklos, d. h. Spiel geworden ist. Die Anwendung dieses Satzes auf die Aesthetik führt zu der bereits von Schiller verfochtenen Spieltheorie der Kunst. Der Satz kann für eine Unterscheidung des Nützlichen und Angenehmen vom Schönen nutzbar gemacht werden und öffnet, da er den kunstschaffenden und -geniessenden Menschen als handelndes Wesen betrachtet, auch einen Weg zur psychologisch-biologischen Behandlung der Frage nach dem Wesen des Schönen. (Schlick, C.2a, Bl. 4)

So versucht Schlick, im „Grundproblem der Ästhetik“, die psychogenetische Entwicklung des „Schönheitstriebes“ aus dem Selbsterhaltungstrieb und dem Geschlechtstrieb zu erklären. Er versucht den Ursprung des Schönen aus einem ursprünglich Nüzlichen zu erklären. „Die Entwicklungslehre muss also versuchen, die mit der Vorstellung von nützlichen Objekten assoziierte Lust als das Urbild und das erste Stadium des ästhetischen Genusses in Anspruch zu nehmen“ (Schlick 1909, 115). Schlick denkt, „die ästhetischen Phänomene sind danach Entwicklungsprodukte aus einfacheren, jedenfalls ursprünglicheren psychischen Funktionen, und von ihrer Erklärung kann nur insofern die Rede sein, als sie auf diese letzteren zurückgeführt, in gewissem Sinne als deren Spezialfälle erkannt werden“ (Schlick 1909, 106). Um das evolutionäre Wesen des Vorgangs zu betonen, erklärt Schlick, dass ein solcher Prozess auch bei den Tieren stattfindet. Der Gesang der Vögel wird hier, unter anderem, als Beispiel gegeben. Eine solche Erklärung des Schönheitsgefühls ist sehr nahe an der, die z. B. bei Spencer zu finden ist. Nachdem das menschliche Auge aufgehört hat, sich nur der Suche nach dem Nützlichen oder Notwendigen im struggle for life zu widmen und die Gefahren zu belauern, nachdem es empfindlich für die Schönheit der Natur geworden ist, bemüht sich zunächst der Mensch, seine Werkzeuge zu verschönern, und dann mit der Natur

5

Schiller 1795; Schlick zitiert dies in Schlick, MSGA I/6, 103.

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zu wetteifern, indem er selbst schöne Werke herstellt. Daher die Entstehung der bildenden Künste. Dieser Prozess nimmt natürlich unterschiedliche Formen an und führt für jeden Sinn zu verschiedenen Produktionen. Schlick erwähnt, unter anderem, den besonderen Fall des Ohres, das allmählich, wie das Auge, zu einem Organ des reinen Vergnügens wird und das reine Freude an rhythmischen Geräuschen empfindet. Aber „von einer Nachbildung von etwas irgendwie in der Natur Vorgefundenem kann bei dieser Kunst selbstverständlich nicht die Rede sein“ (Schlick, MSGA I/3, 157f.). Aus diesem Grund hat die Musik eine Sonderstellung, die „Anlaß zu Schopenhauers berühmten Betrachtungen über die Musik war“, die nach Schlicks Meinung „außer ihrem poetischen gar keinen anderen Wert haben.“ (Schlick, MSGA I/3, 158) Schlick kann zwar Schopenhauers Metaphysik der Musik als „unmittelbare Objektivation des Willens“6 nicht beistimmen; daher die Schlussbemerkung. Allerdings hat man den Eindruck, dass Schlick immerfort die Musik als eine Kunst angesehen hat, die über allen anderen steht, und sogar eine Kunst anderer Natur. Was gerade bei Schopenhauer zu finden ist. Auf der vorletzten Seite von Natur und Kultur schreibt Schlick: Hier kommt der Musik eine besondere Rolle zu – was Schopenhauer auf metaphysische Weise [immer der gleiche Vorbehalt! (C.B.)] zum Ausdruck brachte. Durch die Musik wird nichts Unvollkommenes geläutert, sondern ein ganz neues Reich geschaffen, also wirklich die Flucht in eine bessere Welt vollzogen, mehr als bei allen andern Künsten. (Schlick, NK, 124)

Der Fall liegt anders mit der Poesie. Schlick beobachtet, dass die Poesie nicht direkt mit den Sinnen, sondern mit den Gefühlen zu tun hat. Der Prozess ist aber ganz und gar analog. Die verschiedenen Gefühle (Zuneigung, Zorn, Trauer usw.), die ursprünglich „ausschließlich Triebfedern zur Ausführung gewisser Aktionen, die im Kampfe ums Dasein nützlich oder notwendig waren“ (Schlick, MSGA I/3, 158), werden bald als bloße Lust empfunden. Hier ist hervorzuheben, dass die Aufgabe des Dichters überhaupt nicht darin besteht, das Unsagbare zu sagen. Der Dichter teilt überhaupt keine Erkenntnis mit. Er gebraucht nur die Wörter, die Töne und andere sprachliche Mittel, um Gefühle bei den anderen zu erwecken.

6

„Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektivität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen.“ (Schopenhauer, WI, § 52)

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Das Gedicht, welcher Art es auch immer sein möge, soll im Hörer Gefühle hervorrufen, denen er sich hinzugeben liebt, eben weil es eine Lust für ihn ist, sich das Gemüt von starken Regungen bewegen zu lassen, von heiteren sowohl wie von tragischen. Es sind dieselben Gefühle – nur in abgeschwächter, oder, wenn man will, in abgeklärter Form –, welche die Dinge, Zustände, oder Ereignisse der Wirklichkeit im Menschen hervorrufen. (Schlick, MSGA I/3, 158)

So verstanden, hat die Kunst nur eine rein emotionale Funktion. Eines ist doch zu bemerken. Was die Literatur betrifft, ist die Rede bei Schlick immer von der Poesie, nie z. B. vom Roman. Was Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften versucht hat – d. h. den Roman zu einem „Gedankenexperiment“ à la Mach zu machen –, ist Schlick völlig fremd. Die Möglichkeit einer kognitiven Funktion der Literatur7 scheint bei ihm ausgeschlossen zu sein. Jedenfalls kann der Wille zur Schönheit durch die Natur und durch die Kunst befriedigt werden. Hier stellt sich also die klassische Frage, welches dieser beiden Mittel das beste oder das höchste ist? Schlicks Antwort ist eindeutig. Er vertritt die These: „Die Kunst ist ihrer Natur nach ein unvollkommener Weg zur Befriedigung des Willens zur Schönheit, zu seiner höchsten Glückseligkeit führt nur das ästhetische Genießen der Wirklichkeit.“ (Schlick, MSGA I/3, 160) Ein Einwand dagegen könnte lauten: Die Kunst verbessert oder verklärt in der Tat die Wirklichkeit. Sie sieht von den Unvollkommenheiten des Wirklichen ab. Sie beseitigt alles, was uns in der Wirklichkeit stört oder peinigt. Das räumt Schlick ein. Dieses Absehen ist es, was der Künstler objektiv ausführt und ins Materielle übersetzt, indem er sein Kunstwerk schafft; und wir, die wir es anschauen, sind damit der Mühe überhoben, die Abstraktion selber vorzunehmen; wir sehen eine gereinigte, eine gehobene, eine märchenhafte, verklärte Wirklichkeit vor uns, die nun unsere Gefühle zu ganz ungestörtem Spiel anregt. (Schlick, MSGA I/3, 164).

Das bestärkt Schlick aber in seiner Ansicht der unvollkommenen Natur des künstlichen Schönen. Der Grund dafür ist, dass die Kunst nichts bedeutet als eine Art Trost über einen Mangel, der uns quält. Mit anderen Worten: „Die Kunst hilft uns aus einer Not“, sie „ist ein Notbehelf.“ (Schlick, MSGA I/3, 164) Aber diese tröstliche Funktion der Kunst bedeutet keine Überlegenheit der künstlichen Schönheit über das natürliche Schöne. Ganz im Gegenteil zeugt die Kunst von unserer Not, von unserer Sehnsucht nach einem Leben in völliger Eintracht mit der Natur. Ihre Schönheit, um 7

Eine solche Auffassung vertritt z. B. Martha Nussbaum. Sie ist der Ansicht, dass die Literatur Gefühle oder Emotionen erfassen kann, die dem abstrakten Verfahren des Philosophen entgehen und dass sie uns dadurch eine ethische Erkenntnis vermittelt, die allein sie in der Lage ist, uns zu verschaffen (vgl. Nussbaum 1990).

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es in den Worten von Stendhal zu sagen, „ist nur eine Versprechung von Glück.“8 Die Kunst zeugt von einer schlechten, unvollkommenen Anpassung an die Wirklichkeit. Sie ist eine Illusion. „Wir lieben sie“, heißt es bei Schlick (MSGA I/3, 165), „wie ein nach Ruhe Lechzender das Morphium liebt.“ „Die Kunst hilft uns aus einer Not.“ Das stimmt. „Besser aber“, fügt Schlick sogleich hinzu, „als aus seiner Not gerettet zu werden, ist es, nicht in Not zu geraten.“ (Schlick, MSGA I/3, 164) Unser Bedürfnis nach Kunst, um unseren Willen zur Schönheit zu befriedigen, zeugt in der Tat von unserer Unvollkommenheit, von unseren Mängeln und Schwächen. Es beweist, dass wir noch nicht reif sind, die Schönheit der Natur direkt zu genießen. Und der Grund unserer Unreife besteht darin, dass „wir erst reif für ein Leben der Arbeit, nicht für ein Leben des Spiels“ sind (Schlick, MSGA I/3, 166). Anders ausgedrückt, ist die Kunst ein unvollendetes Spiel, ein trügerisches Spiel. Sie ist nichts als ein „Ersatz“.9 Worin bestände aber ein echtes Leben des Spiels, das den Menschen befriedigen könnte? Und unter welchen Bedingungen könnten wir fähig sein, ein solches Leben zu führen? In der Lebensweisheit stellt sich Schlick einen langen Entwicklungsprozess vor, in dem Kunst und Leben immer mehr vereint sind und an dessen Ende das Leben selbst zur Kunst wird; mit der Folge, unter anderem, dass der gute Geschmack, den heute nur ein paar Menschen besitzen, „zum Gemeingut aller wird.“ (Schlick, MSGA I/3, 167) Es ist ja klar, dass der Abschluss dieses Prozesses nichts anderes ist als der Tod der Kunst. Denn „die Kunst ist ein Notbehelf, den wir wegwerfen müssen, wenn das Leben selber kommt.“ (Schlick, MSGA I/3, 166) Und „[w]enn die Künste einst untergehen, so wird es“, nach Ansicht von Schlick, „deshalb geschehen, weil unser künstlerisches Empfinden, dann so stark und fein geworden ist, daß es nur noch an der Schönheit der Wirklichkeit Genüge findet.“ (Schlick, MSGA I/3, 167) Das setzt aber voraus, dass Leben und Arbeit so eng verbunden sind, dass jede Tätigkeit zum Spiel geworden ist. Jetzt ist das Leben als Arbeit von der Kunst als Spiel getrennt … wenn aber einst alle Tätigkeiten sich zur höchsten Vollkommenheit entwickelt haben, in welcher sie selbst Spiel sind, dann wird das Leben des Menschen an sich ein künstlerisches sein, und die Kunst kann nicht neben ihm ein Sonderdasein führen. (Schlick, MSGA I/3, 167)

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„La beauté n’est que la promesse du bonheur“. (Stendhal 1965, 64, Anm.) In der Lebensweisheit von Schlick ungenau übersetzt: „Wie sagt Stendhal? Das Schöne ist eine ‚Versprechung von Glück‘.“ (Schlick, MSGA I/3, 165) 9 Schlick (MSGA I/3, 158) selbst gebraucht dieses Wort.

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Viele dieser Gedanken – einschließlich die Idee des Todes der Kunst – sind auch in „Vom Sinn des Lebens“ zu finden.10 In den beiden Texten spielt der Bezug zu Nietzsche eine zentrale Rolle. Die vorgestellte Deutung von Nietzsche ist diejenige, die Schlick zu dieser Zeit in seinen Vorlesungen über Nietzsche entwickelt.11 Er unterscheidet drei Phasen in der Entwicklung des Denkens von Nietzsche. Nietzsche hat zuerst versucht, so Schlick, dem Pessimismus von Schopenhauer durch „die Flucht zur Kunst“ zu entrinnen (Schlick, MSGA I/6, 100). So hat er die Welt „als eine ästhetische Erscheinung“, und als solche „ewig gerechtfertigt“, betrachtet. Dann hat er nach der Lösung in der Wissenschaft gesucht. „Aber Nietzsche hat sich von diesen Standpunkten wieder abgewendet, schließlich war nicht mehr Kunst sein Zauberwort, und nicht Wissenschaft, nicht Schönheit und nicht Wahrheit“ (Schlick, MSGA I/6, 100). Der Nietzsche des Zarathustra hat schließlich im Leben selbst den letzten Wert des Lebens erblickt. „Er erkannte nämlich, daß das Leben solange keinen Sinn hat, als es ganz unter der Herrschaft der Zwecke steht“ (Schlick, MSGA I/6, 100). Und Nietzsche hat auch daraus geschlossen (gewissermaßen wie Schiller,12 die andere Hauptbezugnahme vom „Sinn des Lebens“), dass der Sinn des Lebens sich „nur im Spiel erschließt.“13 Die Kunst wird von Schlick unter diesem Gesichtspunkt begriffen. Das „Kunstschaffen [muss] vom Spielbegriff her verstanden werden.“ (Schlick, MSGA I/6, 117) „Aber höchste Schönheit kann nie im Kunstwerk liegen, so lange es als ein künstliches der Natur und dem Leben gegenübersteht. Denn der Genuß des Kunstschönen ist ein Spiel aus zweiter Hand, durch Vermittlung eines Werkes als eines künstlichen Spielzeuges.“ (Schlick, MSGA I/6, 118) Und die echte oder höchste Schönheit ist die, die keine Vermittlung braucht. Hier zitiert Schlick Jean-Marie Guyau (1854– 1888), den Verfasser von Les Problèmes de l'esthétique contemporaine. Guyau, der sich auch auf Darwin und Spencer beruft, sieht eine letzte Phase der Evolution vor, in der die Kunst nur eins mit dem Leben wird.14 Schlick erwähnt auch eine solche 10

Dies ist nicht zu verwundern, da die ersten Vorarbeiten zu diesem erst 1927 erschienenen Text aus dem gleichen Zeitraum wie die Lebensweisheit stammen. 11 Vgl. Schlick, MSGA II/5.1. Im Allgemeinen unterscheidet Schlick drei Perioden bei Nietzsche: 1) die Flucht zur Kunst; 2) die Flucht zur Wissenschaft; 3) das Leben als Zweck. 12 Hier beruft sich Schlick auch auf Schiller, um zwischen der Freude, d. h. der echten Lust (die dem Leben seinen Sinn verleiht), und dem bloßen Vergnügen streng zu unterscheiden. 13 Schlick, MSGA I/6, 104. So verstanden ist bekanntlich der Sinn des Lebens nichts anderes für Schlick als die Jugend. Und „man braucht das Wort ‚Jugend‘ nur auszusprechen, und der Gedanke ‚Schönheit‘ steigt ganz von selbst auf.“ (Schlick, MSGA I/6, 117) 14 Guyau 1884, 85f.: „Mais nous pouvons, en nous inspirant de la doctrine même de l’évolution, prévoir une troisième et dernière période du progrès où tout plaisir contiendrait, outre les éléments sensibles, des éléments intellectuels et moraux. Il serait donc non seulement la satisfaction d’un organe déterminé, mais celle de l’individu moral tout entier; bien plus, il serait plaisir même de l’espèce

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vollkommene Welt, in der es keine Kunst mehr gäbe. Und diese Idee ist genau diejenige, die das letzte unvollendete Kapitel über „Die Kunst“ von Natur und Kultur beschließt, nämlich mit einem Zitat aus dem Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte von Kant, der die Aussicht auf eine Zukunft erwähnt, in der „[…] vollkommene Kunst wieder Natur wird: […] welches das letzte Ziel des sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist.“15 Der Zusammenhang ermöglicht die Bedeutung dieser bei Schlick wiederholt auftretende Idee vom Ende der Kunst zu präzisieren. Das Hauptthema von Natur und Kultur ist der Gegensatz zwischen Natur und Kultur. Und Schlick ist der Ansicht, dass es die Aufgabe der Kulturphilosophie ist, diesen Gegensatz zu verstehen und zu überwinden. Wenn dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt auch kein ursprünglicher ist, denn „Kultur [war] zu Beginn natürlich und [trat] erst später in Widerstreit mit der Natur“ (Schlick, NK, 45), ist dieser Gegensatz heute Ursache des Leidens der Menschen. „Der tiefere Mensch“ – versichert Schlick (NK, 11) – „kann nicht leben, ohne entweder ständig oder doch in entscheidenden Augenblicken an der Kultur zu leiden.“ Und dieses Leiden ist Schlick zufolge der Ursprung der Kunst und der Religion: „Kunst und Religion entspringen in gewissem Sinn einer gemeinsamen Wurzel“ – heißt es in Natur und Kultur –, „nämlich dem Bewußtsein des Leidens, das die Entfernung der Kultur von der Natur mit sich bringt“ (Schlick, NK, 124). Die beiden – nämlich Kunst und Religion – sind Auswirkungen unserer Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie. „Und wirklich ist unsere Kunst“ – heißt es in „Vom Sinn des Lebens“ – „recht betrachtet nur Sehnsucht nach Natur, nach einer besseren Natur, und sie könnte durch ein schönheitserfülltes Leben gestillt werden.“ (Schlick, MSGA I/6, 118) Und in Natur und Kultur wird Kunst ausdrücklich als eine Erlösung, oder ein Versuch der Erlösung bezeichnet (Schlick, NK, 124). Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass Schlicks ästhetische Theorie nicht ohne eine gewisse Zweideutigkeit ist. Denn viele Fragen bleiben unbeantwortet. Eines ist klar: Schlicks Meinung nach ist die höchste Schönheit die natürliche Schönheit. Wie schon bemerkt, ist es eine ganz klassische Idee, die bekanntlich bei Kant zu finden ist. Bei Schlick kann man sogar sagen, dass die Natur nichts als Schönheit ist. „Nur in menschlichen Städten gibt es hässliche Bauwerke und andere Geschmacklosigkeiten“, heißt es in Natur und Kultur (Schlick, NK 10). Doch gibt es auch ein künstliches Schönes. „Die Kunst besitzt […] Mittel, um jeden Gegenstand représentée en cet individu. Alors se réalisera de nouveau l’identité primitive du beau et de l’agréable qui rentrera et disparaîtra pour ainsi dire dans le beau. L’art ne fera plus qu’un avec l’existence; nous en viendrons par l’agrandissement de la conscience à saisir continuellement l’harmonie de la vie et chacune de nos joies aura le caractère sacré de la beauté.“ 15 Kant, AA 13, 117f., zitiert in Schlick, NK, 125.

Schlicks unvollendete Kunsttheorie

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[…] zu befreien, deshalb gibt es nichts, was sie nicht durch ihre Darstellung schön machen könnte.“ (Schlick, MSGA I/6, 117) Worin besteht aber diese Befreiung? Welche sind diese Mittel? Außerdem gibt es sehr verschiedene Künste. Aber auch in der Lebensweisheit gibt Schlick sehr wenige Beispiele für Kunstwerke oder Künstler. In „Vom Sinn des Lebens“ betont er: Denn das Schöne, die Harmonie der Linien und Farben, der Klänge, der Seelenregungen ist reinste Erscheinungsform des Spieles, des Kennzeichens der Jugend. Je jugendlicher die Kunst und das Kunstwerk, um so größer ihre Vollkommenheit; je ältlicher, pedantischer, desto hässlicher und sinnloser wird sie. (Schlick, MSGA I/6, 117f.)

Das reicht sicherlich nicht aus, um eine Ästhetik oder eine Kunsttheorie zu errichten. Wenn ein solcher Satz mit dem ästhetischen Streit der Zeit in Wien in Beziehung gesetzt wird, scheint er vielleicht doch mehr zu Loos und seiner Ablehnung des Ornaments als zum Jugendstil zu neigen. Was die schon erwähnte Frage der Sonderstellung der Musik betrifft, klingen – trotz Schlicks Verneinungen – einige seiner Aussagen ab und zu vielleicht nicht so weit entfernt von Schopenhauers Vorstellungen. Andererseits wurde Schlicks Kunsttheorie hier zunächst als das Gegenteil von Bergson dargestellt. Aber die Auffassung, die Schlick insbesondere im Falle der Musik vertritt, nämlich dass die Kunst Tore einer anderen, reicheren Welt öffnet, ist vielleicht gewissermaßen verwandter mit solchen metaphysischen Auffassungen der Kunst, als wir meinen könnten.

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Moritz Schlick über „Geniales Raten“ Julia Franke-Reddig Das Reich des großen Künstlers und Gelehrten ist nicht von dieser Welt. Sie leben – während sie Schaffende sind – in einem Lande, das aus ihren Träumen, aus dem Spiel ihres Gehirnes geboren ist […]. Dieses Reich der Träume selbst zu schaffen – das ist es, was das Genie ausmacht; hierin muß also auch das Glück des Genies liegen, falls es ein Glück ist, genial zu sein. (Schlick, MSGA I/3, 182)

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Das „Raten“ in wissenschaftlichen Kontexten

Die Frage, nach welchem Ziel die Wissenschaft eigentlich strebt, ist wohl eine der grundlegendsten Fragen, die sich im Rahmen von wissenschaftsphilosophischen Debatten stellt, und zugleich auch eine derjenigen, zu der von den unterschiedlichsten Philosoph*innen bereits die vielfältigsten Antwortmöglichkeiten gefunden wurden. Ein besonders origineller Ansatz findet sich bei Moritz Schlick. In einer seiner letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften heißt es bspw.: Mit dem Eintreffen der Voraussagen ist der wissenschaftliche Zweck erreicht; die Erkenntnisfreude ist die Freude an der Verifikation, das Hochgefühl, richtig geraten zu haben. Und dieses ist es nun, das die Beobachtungssätze uns vermitteln, in ihnen erreicht die Wissenschaft gleichsam ihr Ziel, um ihretwillen ist sie da. (Schlick, MSGA I/6, 508).

Demnach verfolgt die Wissenschaft einzig den Zweck, die sog. „Erkenntnisfreude“ durch Verifikation zu erlangen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, was darunter zu verstehen ist: das Hochgefühl, richtig geraten zu haben. Richtig zu raten – darin liegt nach Schlick also das Ziel der Wissenschaft, denn hierdurch wird eben jene Freude vermittelt. Weitere Ausführungen zum „Raten“ in den Wissenschaften finden sich in der postum erschienenen Schrift Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang: © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_14

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Wir nehmen versuchsweise (hypothetisch) an, dass sich z. B. diese Bahnen auch für andere Planeten gleich bleiben, ebenso, daß alle Fälle, die diese allgemeinen Sätze einschließen beobachtet sind und auch die späteren Fälle mit umfaßt werden; dies wird eigentlich geraten. Und dieses Raten, daß man bei genialen Menschen Intuition nennt, ist die Quelle aller Wissenschaft. Es gibt kein allgemeines Prinzip, wonach dieses „Raten“ sich richten könnte, also ist richtig zu raten, die richtige Wahl zu treffen, die eigentliche Fähigkeit, die der geniale Forscher besitzt. (Schlick 1986, 114f.)

Schlick fährt kurz darauf damit fort, dass die Gültigkeit der allgemeinen Sätze vom Naturverhalten allein darauf basiert, dass sie „richtig geraten“ werden (Schlick 1986, 115). Dabei sind die Beobachtungssätze zwar nicht als „Fundamentalsätze“ zu verstehen, aber als „Ausgangspunkte, nämlich für das Erraten der allgemeinen Sätze“ (Schlick 1986, 125). Was bedeutet das nun? Durch das „richtige Raten“ wird folglich laut Schlick nicht bloß die Erkenntnisfreude ausgelöst, um derentwillen die Wissenschaft überhaupt existiert, es ist überdies als Methode zu verstehen, durch die Hypothesen aufgestellt und allgemeine Sätze zur Beschreibung des Naturverhaltens aufgefunden werden. In diesem Sinne ist also auch der Ausdruck „Quelle der Wissenschaft“ zu interpretieren: In seinen späten erkenntnisphilosophischen Schriften beschreibt Schlick die Wissenschaften als „Systeme von Sätzen“ (Schlick, MSGA I/6, 217f., 513f., 527). Dabei spielen die „allgemeinen Sätze“ eine ganz besondere Rolle. Sind sie aufgestellt, so lassen sich aus ihnen alle anderen Sätze des Systems ableiten. Und insofern Sätze dieser Art „erraten“ werden, ist auch klar, warum Schlick sie hier als „Quelle der Wissenschaft“ umschreibt. Es geht dabei darum, dass sich ein derartiges Satzsystem als Ganzes durch das „Erraten“ der allgemeinen Sätze überhaupt erst konstituieren lässt. Überdies ergibt sich aus dem oben angeführten Zitat, dass ein Zusammenhang zwischen „Genialität“ und dem „richtigen Raten“ besteht: Es sind laut Schlick eben „geniale Menschen“ und „geniale Forscher“, die die Fähigkeit – die „Intuition“ – dazu besitzen, allgemeine Sätze zur Beschreibung des Naturverhaltens „richtig zu raten“. Natürlich stellt sich hierbei die Frage, was es heißt, dass ein solcher Satz richtig geraten wird. Sie wird sich weiter unten im Zusammenhang mit Schlicks Erkenntnisbegriff beantworten lassen. Dessen ungeachtet sei hier vorläufig der Begriff des „genialen Ratens“ eingeführt, obgleich Schlick diesen Ausdruck an den hier bislang angeführten Stellen noch nicht explizit verwendet. Gemeint ist damit das „richtige Erraten“ allgemeiner Sätze zur Beschreibung des Naturverhaltens durch „geniale Forscher“.

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Das Aufstellen allgemeiner Sätze wird gemeinhin mit dem Begriff der „Induktion“ bezeichnet. Dass Schlick bei der Konzeption des „Ratens“ in wissenschaftlichen Kontexten tatsächlich das sogenannte Induktionsproblem im Sinn hat, lässt sich durch weitere Textstellen verifizieren: In „Das Fundament der Erkenntnis“ hält er fest, dass „Induktion“ nichts anderes sei als „methodisch geleitetes Raten“ (Schlick, MSGA I/6, 505). Und an anderer Stelle führt er aus, dass die Aufgabe der Wissenschaft darin bestehe, Formalismen zu finden. Hierzu führt er beispielhaft die Biologie an: Ein Formalismus dieser Art muss so gestaltet sein, dass er die Möglichkeit dazu verschafft, auf der Grundlage des beobachteten Verhaltens eines Organismus auf sein zukünftiges Verhalten zu schließen. Insofern ein solcher Formalismus existiert, ist er laut Schlick „auf dem Wege aller empirischer Forschung, nämlich durch induktives Erraten, auffindbar“ (Schlick, MSGA I/6, 819). Andernfalls existiert er schlicht nicht. Insofern kann das „geniale Raten“ hier als Antwort auf jenes altbekannte Problem verstanden werden. Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt des „genialen Ratens“. Dabei geht es um den Begriff der „Intuition“, der auch in dem soeben besprochenen Zitat bereits auftauchte. In „Erleben, Erkennen, Metaphysik“ geht Schlick ausführlicher auf den Begriff der „Intuition“ im Zusammenhang mit dem „genialen Raten“ ein. Hier ist die Rede vom „Erraten verborgener Zusammenhänge, das nur dem genialen Forscher gelingt“. Dieses darf, so Schlick, „mit Recht ‚intuitive Erkenntnis‘ im empirischen Sinne heißen […].“ (Schlick, MSGA I/6, 50) Und genau an dieser Stelle tritt ein Problem zutage. Denn die Behauptung, es gäbe eine Art der „intuitiven Erkenntnis“, scheint vordergründig im Widerspruch zu Schlicks sonstigen Ausführungen in erkenntnisphilosophischen Kontexten zu stehen: Schon in einem seiner frühesten Aufsätze widmet er sich ausführlich der Frage „Gibt es intuitive Erkenntnis?“ (Schlick 1913). Darin widerspricht er vehement der Idee, es könne irgendeine Art der „intuitiven Erkenntnis“ geben. Dies basiert auf der Annahme, Erkenntnis sei nichts anderes als das „Wiederfinden“ des „Alten“ (etwas bereits Bekanntem) im „Neuen“ (einem bislang Unbekannten). D. h. genauer, dass in der Erkenntnis das zu Erkennende auf etwas zurückgeführt wird, als das es erkannt wird. Daraus ergibt sich, dass im Erkenntnisakt stets zwei Glieder vorliegen, die miteinander verknüpft werden, indem das eine im anderen wiedergefunden wird (vgl. Schlick 1913, 477f.). Somit basiert der Erkenntnisfortschritt darauf, dass bestehende Beziehungen zwischen zwei Gliedern aufgezeigt werden und in der Folge auch Beziehungen zwischen vielen unterschiedlichen Gliedern, die durch den Zusammenhang einzelner Glieder miteinander vermittelt werden, „da jedes mit anderen in Zusammenhang steht“ (Schlick 1913, 478). Bei der Intuition verhält es sich Schlick zufolge gänzlich anders. An dieser Stelle verwendet er den Ausdruck „Intuition“ im Sinne von „Schauen“. Hierbei wer-

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den nicht zwei Glieder miteinander verbunden. Man sieht sich stattdessen einem einzigen Gegenstand gegenüber, „ohne ihn zu irgendetwas anderem in Beziehung zu setzen“ (Schlick 1913, 479). Bei der Intuition handelt es sich daher – so Schlick – um einen gänzlich anderen Prozess. Was aber ist dann die Intuition im Gegensatz zur Erkenntnis? Während bei der Erkenntnis Gegenstände durch Begriffe – „Symbole“ – bezeichnet, miteinander verglichen und in Begriffssysteme eingefügt werden, so fährt Schlick etwas später fort, wird ein Gegenstand durch die Intuition bloß gegeben. Er bezeichnet dies als „bloßes Erleben“ (Schlick 1913, 480f.). Darin besteht für Schlick der Unterschied zwischen „Kennen“ und „Erkennen“: Kenntnis, das ist Intuition, Erlebnis, Anschauung, die gänzlich ohne Symbole auskommt. Erkenntnis dagegen ist eine wesentlich „vergleichende“, „beziehende“, „ordnende“ Tätigkeit (Schlick 1913, 481). Bei einer „intuitiven Erkenntnis“ würde es sich folglich um eine Erkenntnis ohne die Zuhilfenahme von Symbolen handeln, für Schlick wäre dies eine „contradictio in adiecto“ (Schlick 1913, 481). Aus diesem Grund hält er fest, „daß man durch Intuition, durch Schauung, überhaupt keine Erkenntnisse gewinnen kann, daß sie nicht nur keine Methode einer strengen Wissenschaft ist, sondern gar keine wissenschaftliche Methode.“ (Schlick 1913, 476) Diese Sichtweise sowie auch seine diesbezügliche Argumentation ändert Schlick zeitlebens nicht. Alle Kritik, die er auch in späteren Texten am Begriff der „intuitiven Erkenntnis“ übt, geht auf diesen Aufsatz zurück.1 Das zuvor angesprochene Problem offenbart sich nun in der Frage, wie es zusammenpasst, dass Schlick einerseits derart nachdrücklich die Position verteidigt, dass es keine „intuitive Erkenntnis“ geben kann, während er andererseits die Existenz einer solchen Erkenntnisart im Zusammenhang mit dem „Erraten“ im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess dennoch einräumt. Natürlich muss an dieser Stelle die genaue Formulierung Schlicks berücksichtigt werden. Wie oben zitiert, setzt er den Ausdruck „intuitive Erkenntnis“ explizit in Anführungszeichen. Überdies betont er, dass es sich beim Erraten um „intuitive Erkenntnis im empirischen Sinne“ handelt. Genauer beschreibt er diese Art der Erkenntnis als „ahnende Vorwegnahme eines Erkenntnisresultates, die bei allen großen Entdeckungen der gedanklichen Ableitung vorherzugehen pflegt“ (Schlick, MSGA I/6, 50). Was genau ist damit gemeint? Um dies zu erläutern, müssen weitere Ausführungen Schlicks herangezogen werden. In der kürzlich erstmals veröffentlichten Vorlesung Logik und Erkenntnistheorie aus dem Wintersemester 1934/35 geht Schlick um einiges detaillierter auf das „Raten“ in wissenschaftlichen Kontexten ein als in allen anderen derzeit verfügbaren Schriften.

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Vgl. bspw. MSGA I/1, 289ff., 291–293, 302, 306; MSGA I/5, 62; MSGA I/6, 34, 354, 719; MSGA II/1.2, 78, 217 sowie MSGA II/1.3, 401.

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Darüber hinaus findet sich darin auch mehrfach explizit der Ausdruck „geniales Raten“. Daran, dass in diesem Zusammenhang von „intuitiver Erkenntnis“ die Rede ist und davon, dass bei jenem Raten ein „Erkenntnisresultat“ vorweggenommen wird, zeigt sich jedoch der enge Zusammenhang zwischen der Konzeption des „genialen Ratens“ mit Schlicks Erkenntnisphilosophie. Aus diesem Grund muss hier zunächst Schlicks Erkenntnisbegriff näher erläutert werden. Darauf, was nach Schlick unter einer „Erkenntnis“ eigentlich zu verstehen ist, wurde hier unter Bezug auf den Aufsatz „Gibt es intuitive Erkenntnis?“ zwar bereits eingegangen. Doch handelt es sich hierbei lediglich um eine sehr kurze Schrift. Unter Bezug auf weitere Ausführungen Schlicks ist vor allem zu klären, in welcher Weise die genannten „Begriffssysteme“ mithilfe von Erkenntnissen konstituiert werden. Damit wird sich der nächste Abschnitt eingehender befassen. Daran anschließend können Schlicks weitere Ausführungen zum Konzept des „genialen Ratens“ untersucht und im Kontext seiner Erkenntnisphilosophie diskutiert werden.

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Schlicks Erkenntnisbegriff in Früh- und Spätwerk

In der Sekundärliteratur wird zumeist strikt zwischen dem sogenannten „frühen“ und „späten“ Schlick unterschieden. Doch angesichts der Tatsache, dass Schlicks Argumentation bezüglich der Ablehnung der „intuitiven Erkenntnis“ sich sowohl in seinem Früh- als auch in seinem Spätwerk findet, lohnt es sich in diesem Kontext, seine erkenntnisphilosophischen Ausführungen sowohl in frühen als auch in späten Schriften in Betracht zu ziehen. Das „geniale Raten“ kann, wie weiter unten gezeigt wird, als Ergänzung der Schlick’schen Erkenntnisphilosophie verstanden werden. Angelehnt an seine Erörterungen aus oben zitiertem Aufsatz bestimmt Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre die Erkenntnis zunächst als „ein Wiederfinden des einen im andern“ (Schlick, MSGA I/1, 158) oder auch als das „Wiederfinden von etwas Bekannten in einem Unbekannten“ (Schlick, MSGA I/1, 159f.). Das bedeutet eben, dass das „Alte“ im „Neuen“ wiedergefunden wird. Berücksichtigt man den weiteren Verlauf seiner Argumentation, so lässt sich etwas konkreter festhalten, dass Erkenntnis beim frühen Schlick in der Zurückführung des zu Erklärenden auf etwas Erklärendes besteht. Das erklärende Moment ist dabei entweder bereits bekannt oder zuvor noch unbekannt gewesen, während das zu Erklärende stets bereits bekannt sein muss, um erklärt werden zu können (vgl. Schlick, MSGA I/1, 157–162). Mit einer Erkenntnis ist folglich immer auch eine Erklärung für etwas gewonnen. In der Allgemeinen Erkenntnislehre wird nun spezifiziert, dass es stets Spezielles ist, das im Erkenntnisprozess auf Allgemeines zurückgeführt wird (vgl. Schlick, MSGA I/1, 166,

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173). Dabei werden im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess Begriffe zur Hilfe genommen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 178ff.), sie spielen dabei die Rolle eines Zeichens für Gegenstände (vgl. Schlick, MSGA I/1, 220). Die Erkenntnis besteht folglich in der Zurückführung von speziellen Begriffen auf allgemeinere Begriffe. Auf der einen Seite hängen nun die Gegenstände durch Tatsachen miteinander zusammen, während auf der anderen Seite Begriffe, die Gegenstände bezeichnen, durch Urteile verbunden sind. Diese Urteile sind nun laut Schlick Zeichen für eben jene Tatsachen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 220–222). So werden komplexe Begriffssysteme konstituiert, die ihrerseits als Ganzes Zeichen für den Tatsachenzusammenhang darstellen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 273). Aufgabe der Wissenschaft ist es nun, Begriffssysteme zu konstruieren, die dem Tatsachenzusammenhang der Wirklichkeit entsprechen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 285f.). Diese Begriffssysteme, die auch als Zusammenhänge von Erkenntnissen bezeichnet werden können (vgl. Schlick, MSGA I/1, 323), weisen nun eine bestimmte Struktur auf: Die Erkenntnis schreitet laut Schlick durch die Zurückführung des Speziellen auf das Allgemeine von Stufe zu Stufe fort (vgl. Schlick, MSGA I/1, 162). Die Begriffe höherer Stufe sind dabei allgemeinerer Natur als die jeweils unter ihnen stehenden spezielleren Begriffe und subsumieren diese unter sich. So wird die Zahl der Stufen nach oben hin stets kleiner und die Begriffe oberster Stufe weisen den höchsten Grad an Allgemeinheit auf. Aber bis wohin geht das so weiter, und was ist der Erfolg des ganzen Prozesses? Soviel ist klar: auf die geschilderte Weise wird die Zahl der Erscheinungen, die durch ein und dasselbe Prinzip erklärt werden, immer größer, und demnach die Zahl der zur Erklärung der Gesamtheit der Erscheinungen nötigen Prinzipien immer kleiner. Denn da eins immer auf das andere reduziert wird, so nimmt die Menge des noch nicht Reduzierten, d. h. des erklärenden noch nicht Erklärten, ständig ab. Es kann daher die Anzahl der verwendeten Erklärungsprinzipien geradezu als ein Maß der erreichten Höhe der Erkenntnis dienen, die höchste Erkenntnis wird nämlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklärender nicht weiter erklärungsfähiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum möglichst klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens.2

Will man nun den Erkenntnisbegriff des späten Schlick mit einbeziehen, so stellt sich zunächst die Frage, welches seiner Werke dafür berücksichtigt werden sollte. In die-

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Schlick, MSGA I/1, 162f. An der zitierten Stelle spricht Schlick von „Prinzipien“ statt von „Begriffen“, da er das „Erkennen durch Begriffe“ erst in den darauffolgenden Kapiteln einführt und erläutert. Dadurch ändert sich jedoch am Zusammenhang verschiedenen Erkenntnisse untereinander sowie an der Stufenfolge der Erkenntnis nichts.

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sem Kontext bietet es sich an, erneut Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang zu Rate zu ziehen. Denn einerseits handelt es sich hierbei um eines der spätesten Werke Schlicks. Es kann deshalb als unstrittig gelten, dass die darin enthaltenen Ausführungen zu seiner Spätphilosophie gerechnet werden müssen. Andererseits wurde eben diese Schrift hier im Zusammenhang mit dem Konzept des „genialen Ratens“ bereits mehrfach angeführt. So erscheint es sinnvoll, gerade diese Schrift auch bei der Betrachtung von Schlicks Erkenntnisphilosophie zu untersuchen. Wie bereits zuvor erwähnt wurde, bezeichnet Schlick in seinem Spätwerk die Wissenschaft als ein „System von Sätzen“. Doch eigentlich muss viel grundlegender festgehalten werden, dass Schlick sie als ein System von Erkenntnissen deklariert. Erkenntnisse sind nun aber laut Schlick in Sätze gefasst und durch diese vermittelt. So erst kommt er überhaupt dazu, sie als Systeme von Sätzen zu beschreiben (vgl. Schlick 1986, 15). Was ist nun in der genannten Schrift unter einem „System von Erkenntnissen“ zu verstehen? Ein System d. i. laut Schlick ein „in sich geschlossenes Ganzes“, das am besten mit einem Organismus zu vergleichen sei: Seine einzelnen Teile hängen und wirken laut Schlick zusammen, wobei jeder einzelne Teil nur aus dem „Zusammenhang des Ganzen“ heraus verstanden werden kann.3 In dieser Weise bilden die Wissenschaften ein System von Tatsachen bzw. von Erkenntnissen (vgl. Schlick 1986, 53). Schlick führt hier nun erneut aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis darin besteht, „[…] dass man das Besondere auf das Allgemeine zurückführt.“ (Schlick 1986, 54) An dieser Stelle bezeichnet er „das Besondere“ auch als „Spezialfall einer allgemeinen Aussage“. Dabei werden im Erkenntnisprozess Einzelfälle zu allgemeinen zusammengefasst, aus denen sich jeder einzelne von ihnen (sowie auch neue Einzelfälle) gedanklich ableiten lassen (vgl. Schlick 1986, 55). So arbeiten die Wissenschaften im Erkenntnisprozess, wie Schlick dies formuliert, von unten nach oben, d. h. vom Speziellen zum Allgemeinen (vgl. Schlick 1986, 61). Der Gedanke aus dem Frühwerk, dass spezielle Begriffe durch die Erkenntnis auf Begriffe allgemeinerer Natur zurückgeführt werden, spiegelt sich hier in aller Deutlichkeit wider. Auch etwas weiter unten heißt es, dass das System der Wissenschaften dadurch konstruiert wird, dass eine spezielle Aussage („z. B. ein Erfahrungssatz“) durch Erkenntnis auf

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Schlick 1986, 16. Ein ähnlicher Gedanke zeichnet sich bereits im Frühwerk ab, wenn Schlick davon spricht, dass die Begriffe innerhalb von Begriffssystemen (unabhängig davon, ob die einzelnen Begriffe jeweils einen ‚wirklichen Gegenstand‘ bezeichnen oder nicht) untereinander durch ‚implizite Definitionen‘ miteinander zusammenhängen. Da Schlick jedoch das Konzept der ‚impliziten Definition‘ in seinen Publikationen nach 1926 nicht mehr erwähnt (vgl. Schlick, MSGA I/6, 40, Anm. 8), soll in diesem Rahmen nicht näher darauf eingegangen werden.

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eine allgemeine Aussage zurückgeführt wird (Schlick 1986, 54). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass der späte Schlick von „Sätzen“ und „Aussagen“ spricht, und nicht von „Begriffen“, wie es im Frühwerk ausschließlich der Fall ist. Worauf basiert dieser Unterschied? In seinem Frühwerk war Schlick mit der modernen Logik noch nicht vertraut. Im Rahmen der Allgemeinen Erkenntnislehre bezieht er sich noch ausschließlich auf die aristotelische Syllogistik. Er vertritt hier gar die These, dass sich alle Aussagen der Wissenschaft auf den Modus Barbara zurückführen ließen (vgl. Schlick, MSGA I/1, 323–332). So gesehen hat der frühe Schlick seine Überlegungen vor dem Hintergrund einer traditionellen, reinen Begriffslogik ausgearbeitet. Der späte Schlick orientiert sich dagegen an der modernen Logik und weiß bei der Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten wie „Begriff“, „Aussage“, „Satz“ etc. besser zu differenzieren. Aber macht das einen bedeutenden Unterschied in Hinblick auf sein Erkenntniskonzept aus? M. E. ändert sich der Schlick’sche Erkenntnisbegriff dadurch nicht. Es verhält sich vielmehr so, dass der späte Schlick den Ausdruck „System von Begriffen“ aus seinen frühen erkenntnisphilosophischen Erörterungen in späteren Schriften durch den Ausdruck „System von Sätzen“ ersetzt. Das zeigt sich auch besonders in der Unterscheidung zwischen dem „Kennen“ und dem „Erkennen“, die er zeitlebens vertritt (vgl. Friedl 2013). Dabei ist Erkenntnis stets auf Begriffe, Aussagen, Sätze etc. bezogen. Damit ist der entscheidende Punkt für ihn sowohl im Früh- als auch im Spätwerk der, dass Erkenntnis stets sprachlich verfasst ist. Damit einher geht auch im Spätwerk die Ablehnung der „intuitiven Erkenntnis“ im Sinne einer allein auf Anschauung basierenden Erkenntnisart (vgl. Schlick 1986, 98ff.). Darin zeigt sich m. E. ein wesentliches Merkmal seiner Erkenntnisphilosophie, das zwar durch seine verschiedenen Schaffensphasen hindurch der Überarbeitung unterlag, dabei jedoch im Kern stets gleich geblieben ist. Es kommt noch ein weiterer Aspekt zum Erkenntniskonzept hinzu, der bereits aus Schlicks Frühwerk bekannt sein dürfte: Er postuliert, dass durch die Zurückführung des Speziellen auf das Allgemeine – sprich: durch den Erkenntnisprozess – eine Ordnung in die Welt eingeführt wird. So wird eine Ordnung der Tatsachen und Gegenstände hergestellt (vgl. Schlick 1986, 96). Vor diesem Hintergrund führt er etwas aus, das stark an oben angeführtes Zitat aus der Allgemeinen Erkenntnislehre erinnert. Dort hieß es in etwa, dass im Erkenntniszusammenhang die Zahl der Erklärungsprinzipien von Stufe zu Stufe geringer wird. So wird das noch nicht Erklärte bzw. die Zahl des noch nicht Reduzierten stets geringer, während die Zahl des Erklärten immer weiter anwächst. Die letzte Aufgabe der Erkenntnis sei es dabei, mit einem Minimum von Erklärendem auf oberster Stufe auszukommen. In Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang heißt es nun:

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Die Aufgabe der Erkenntnis besteht darin, die Zahl der Zeichen oder besser die Zahl der Konventionen (Zuordnungen von Worten, Zeichen etc. zum Gegenstand) möglichst klein zu machen. Der Zweck der Erkenntnis ist dann erfüllt, wenn man die Tatsachen mit Hilfe einer möglichst geringen Zahl von Bedeutungskonventionen (erlernten Bedeutungen) sich klar machen kann. (Schlick 1986, 97)

Wie lässt sich nun aber das Konzept des „genialen Ratens“ im Kontext von Schlicks Erkenntnisphilosophie verorten? Zuvor wurde festgestellt, dass es sich beim „Raten“ laut Schlick um die Methode handelt, durch die Naturgesetze (d. h. allgemeine Sätze) aufgefunden werden. Nun lässt sich feststellen, dass das „geniale Erraten“ in jenem Moment stattfindet, in dem das Allgemeine ersonnen wird, aus dem das Spezielle abgeleitet werden kann, d. i. eben die Erkenntnis. Dafür spricht auch, dass es nach Schlick das „Unbekannte“ ist, das durch Erkenntnis aufgefunden wird. Dass es etwas Unbekanntes ist, das da (genial) erraten wird, erscheint sinnvoll. Darüber hinaus lässt sich nun auch klären, was Schlick meint, wenn er sagt, dass das „Raten“ der gedanklichen Ableitung vorhergeht: Aus dem Speziellen wird Allgemeines „erraten“, aus dem dann wiederum neues Spezielles abgeleitet werden kann. Demnach lassen sich Erkenntnissysteme durch das „Erraten“ überhaupt erst konstituieren. In diesem Zusammenhang wird nun verständlich, was es heißt, etwas „richtig“ zu erraten: In Früh- und Spätwerk geht es Schlick, wie oben dargelegt, darum, dass Erkenntnisse auf Begriffen bzw. Aussagen basieren, d. h. sprachlicher Natur sind. Die Begriffe, Sätze sowie die Relationen zwischen ihnen müssen in irgendeiner Weise den Tatsachen entsprechen, die sie bezeichnen. Ist das der Fall, kann wohl die Rede davon sein, dass ein allgemeiner Satz richtig geraten wurde. Wie aber lässt sich das feststellen? Eine Methode, um dies zu tun, besteht in der Verifikation des Erkenntniszusammenhangs. Diese Thematik kann hier nicht weiter vertieft werden, doch es sollte hiermit zumindest skizzenhaft klar sein, was genau „richtiges Raten“ in diesem Kontext zu bedeuten hat. Allerdings bleibt auch an dieser Stelle das Problem bestehen, dass die „intuitive Erkenntnis“, deren Existenz laut Schlicks sonstigen Ausführungen schlicht absurd wäre, durch die Konzeption des „genialen Ratens“ mit seinem Erkenntniskonzept vermengt wird. Nun äußert es sich sogar in äußerst brisanter Weise: Die „intuitive Erkenntnis“ geht direkt in den Akt der Erkenntnis selbst mit ein. Denn es ist der Moment der Erkenntnis selbst, in dem genial geraten wird. Und eben dies bezeichnet Schlick als „intuitive Erkenntnis“ im empirischen Sinne. Damit zeigt sich die Problematik in ihrer ganzen Schärfe: Es ist nicht mehr nur so, dass plötzlich von einer „intuitiven Erkenntnis“ die Rede ist, sie ist sogar mit der Erkenntnis zu identifizieren. Der einzige Weg, dies zu umgehen, scheint darin zu bestehen, die „intuitive Erkenntnis“ im Sinne des „genialen Ratens“ strikt zu unterscheiden von einer anderen Art

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„intuitiver Erkenntnis“, die Schlick üblicherweise ablehnt. Gerade dies ist der Weg, den Schlick einschlägt. Ob er zielführend ist, wird sich im Folgenden zeigen.

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Schlicks Ausführungen in „Logik und Erkenntnistheorie“

Bei Logik und Erkenntnistheorie handelt es sich um ein Vorlesungsskript aus dem Wintersemester 1934/35 (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 353–635). Wie bereits erwähnt, geht Schlick in diesen kürzlich erstmals veröffentlichten Ausführungen näher auf die Idee ein, dass Naturgesetze in der Wissenschaft „genial erraten“ werden. Doch zunächst sei angemerkt, dass er auch hier erneut sehr ausführlich darlegt, dass „Intuition“ seiner Ansicht nach mit Erkenntnis nichts gemein hat (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 401–416). Daran anschließend räumt er jedoch ein, dass es einen „guten Sinn“ gibt, in dem der Ausdruck „intuitive Erkenntnis“ gebraucht werden kann; und zwar unter Bezug auf das „psychologische Zustandekommen“ der Erkenntnis (Schlick, MSGA II/1.3, 418). Damit sind, wie Schlick erläutert, die einzelnen Schritte gemeint, durch die das Bezeichnen mit Symbolen zustande kommt. Oder anders formuliert: „Wenn also die Erkenntnis durch einen mehr oder minder bewussten Einfall zustande kommt […] so nennt man das auch ‚Intuition‘ […].“ (Schlick, MSGA II/1.3, 418). Beispielhaft führt er hierzu an, dass jemandem plötzlich aus unbekannten psychologischen Gründen einfällt, dass Wärme als Bewegung kleinster Teilchen aufgefasst werden kann. Jener „plötzliche Einfall“ kann nun laut Schlick als „Intuition“ aufgefasst werden und zwar in folgendem Sinne: „[…] ‚er ist sich intuitiv dessen bewusst geworden ...‘, das ist eine durchaus erlaubte Sprechweise, eine erlaubte Verbindung des Wortes ‚Intuition‘ mit dem Worte ‚Erkenntnis‘.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 418) Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass unter „intuitiver Erkenntnis“ etwas ganz anderes zu verstehen ist als die „intuitive Erkenntnis“, deren Existenz Schlick sonst bestreitet. Was er (wie unten noch erläutert wird) ablehnt, ist die Annahme, dass es eine Art der Erkenntnis gäbe, die allein auf Anschauung basiert. Der im Kontext des „genialen Ratens“ eingeführte Begriff der „intuitiven Erkenntnis“ ist jedoch ein anderer: Es ist damit ein „plötzliches“ Zustandekommen von Erkenntnis gemeint. Und dies führt zum zweiten entscheidenden Punkt, der hier festgehalten werden muss: Schlick fährt damit fort, dass unter der „intuitiven Erkenntnis“ im soeben neu eingeführten Sinne nicht eine Art von Erkenntnis verstanden werden darf. Stattdessen ist damit die Art gemeint, wie „discursive Erkenntnis“ entsteht (Schlick, MSGA II/1.3, 418). Der Ausdruck „discursive Erkenntnis“ muss in diesem Kontext nicht weiter stören. Schlick führt den Begriff im zitierten Kapitel ein. M. E. ist damit nichts anderes gemeint als gerade das, was hier bislang unter „Erkenntnis“ verstanden wurde.

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Von Bedeutung ist aber, dass hiernach lediglich das Zustandekommen der Erkenntnis mit diesem Begriff der „intuitiven Erkenntnis“ bezeichnet werden kann, nicht aber die Erkenntnis selbst. D. h., dass es einerseits einen Prozess gibt, durch den Erkenntnis entsteht und der mit dem Begriff der „Intuition“ in Verbindung steht, andererseits die Erkenntnis, die vorliegt, sobald dieser intuitive Prozess abgeschlossen ist. Diese Unterscheidung ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, für Schlicks Konzeption des „genialen Ratens“ von fundamentaler Bedeutung. Denn sofern man akzeptiert, dass die Erkenntnis selbst streng von dieser „intuitiven Erkenntnis“ – dem Prozess ihres Zustandekommens – zu unterscheiden ist, lässt sich der zuvor angeführte Widerspruch zwischen Schlicks Erkenntnisphilosophie und dem Konzept des „genialen Ratens“ auflösen: Die „intuitive Erkenntnis“, deren Existenz Schlick stets leugnet, geht demnach nicht in die Erkenntnis selbst mit ein. Abgesehen davon, dass Schlick wie beschrieben darunter ohnehin etwas ganz anderes versteht als „intuitive Erkenntnis“ im Sinne von Erkenntnis durch Anschauung, ist sie auch nicht mit der Erkenntnis selbst gleichzusetzen, sondern lediglich mit dem Prozess, durch den diese entsteht und der bereits abgeschlossen sein muss, sobald eine Erkenntnis als solche vorliegt. Darüber hinaus lassen sich in der genannten Schrift weitere Formulierungen finden, die nochmals explizit zum Ausdruck bringen, was hier zuvor bereits dargelegt wurde: Richtig zu raten ist laut Schlick ein „Kennzeichen des Genies“ (Schlick, MSGA II/1.3, 491). Überdies postuliert er, dass das „Erraten“ die einzige Methode ist, durch die Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden können (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 497). Und im Zusammenhang mit dem Begriff der „intuitiven Erkenntnis“ heißt es weiterhin: Die Naturgesetze entstehen nur durch geniales Erraten. In diesem – nur in diesem Sinne kann man von einer intuitiven Erkenntnis sprechen; in der Tat aber stellen auch die Naturgesetze discursive Erkenntnis dar, die nur durch einen intuitiven Prozess entsteht. (Schlick, MSGA II/1.3, 491)

Es zeigt sich also nochmals explizit, dass mit „intuitiver Erkenntnis“ hier eben nicht die Erkenntnis selbst gemeint ist, sondern der Prozess, durch den Erkenntnisse ersonnen werden. Ferner zeigt sich auch, dass Schlick das „geniale Erraten“ mit der „intuitiven Erkenntnis“ im soeben beschriebenen Sinne identifiziert. Diese Konzeption ist, wie oben bereits besprochen wurde, als Antwort auf das Induktionsproblem zu verstehen, wie Schlick hier erneut bestätigt. Fälschlicherweise – so Schlick – habe man zur Lösung dieses Problems stets ein logisches Prinzip gesucht. Dieses könne es jedoch schlicht nicht geben (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 492). Stattdessen laute die Lösung: „Jedes allgemeine Gesetz ist eine Hypothese; es wird nicht logisch aufgestellt, sondern erraten.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 491)

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Dies geschieht laut Schlick auf Basis gewisser Einzelbeobachtungen und Aussagen. Sie geben demnach Anregungen dazu, Aussagen allgemeiner Art zu versuchen. Anschließend kann geprüft werden, ob jene Allgemeinaussagen die betreffenden Einzelaussagen umfassen (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 497). Insofern sind die Naturgesetze nicht als Beschreibungen von Beobachtungstatsachen zu verstehen, sondern lediglich als Vermutungen darüber, wie solche Beschreibungen lauten könnten (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 492). Eben dies entspricht der oben beschriebenen Art, auf die nach Schlicks Erörterungen Erkenntnissysteme konstituiert werden. Das lässt sich nun zusammenfassend erörtern: Erkenntnis liegt nach Schlick in den allgemeinen Sätzen bzw. Begriffen, die der Beschreibung des Naturverhaltens dienen, indem sie speziellere Sätze und Begriffe unter sich subsumieren. Erst wenn feststeht, dass ein allgemeiner Satz gefunden wurde, der eine große Zahl von spezielleren Sätzen bzw. Begriffen umfasst und als Erklärung für diese Einzelsätze dienen kann, liegt eine Erkenntnis vor. Zuvor findet ein Prozess statt, der mit dem Begriff der „intuitiven Erkenntnis“ beschrieben werden kann, die wiederum mit dem „genialen Raten“ zu identifizieren ist. Kommt hierdurch eine Erkenntnis zustande, wurde ein Naturgesetz richtig bzw. „genial“ erraten. Bislang wurde hier hauptsächlich darauf eingegangen, wie sich die Konzeption des „genialen Ratens“ in die von Schlick beschriebenen Erkenntniszusammenhänge einordnen lässt. Doch es ist an dieser Stelle lohnenswert, sich nochmals zu vergegenwärtigen, von welcher Erkenntnisdefinition Schlick bei der Konstitution solcher Zusammenhänge ursprünglich ausgeht. D. i. die These, dass Erkenntnis stets ein „Wiederfinden“ ist. Überdenkt man die genaue Bedeutung des Wortes „Wiederfinden“, so zeigt sich, dass in dem Moment, in dem etwas wiedergefunden wird, bereits ein vorhergehender Prozess abgeschlossen sein muss. In den meisten denkbaren Fällen ist das vermutlich der des Suchens. So gesehen ist es unproblematisch zu sagen, dass Erkenntnis im Wiederfinden besteht, während das „geniale Raten“ den vorhergehenden Suchvorgang bezeichnet. Dieser Suchvorgang ist in dem Moment abgeschlossen, in dem etwas wiedergefunden wird. Erst nach Abschluss dieses Prozesses liegt eine Erkenntnis vor. Damit könnte die Konzeption des „genialen Ratens“ sogar als eine Erweiterung von Schlicks Erkenntnisphilosophie betrachtet werden: Beschränkt er sich sonst darauf, zu beschreiben, was eine Erkenntnis ist, sofern sie vorliegt und wie unterschiedliche Erkenntnisse im Zusammenhang miteinander stehen, so liefern seine Ausführungen zum „genialen Raten“ nun eine Antwort auf die Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass etwas in einem anderen wiedergefunden wird. Allerdings scheint sich etwas später in der Vorlesung ein neuer Widerspruch aufzutun. Hier heißt es: „[…] nur der Prozess des Ratens, im Augenblicke, wo man dazu übergeht, neue Vorgänge durch alte Zeichen darzustellen, ist Erkenntnis.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 506) Demnach wäre das „geniale Raten“ also doch mit der Erkenntnis

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gleichzusetzen. Allerdings ist hier zu beachten, dass Schlick, wie zitiert, den Ausdruck „Prozess des Ratens“ in einem Nebensatz direkt den „Augenblick“ hinterhersetzt, in dem dazu übergegangen wird, Neues durch Altes darzustellen. Was den „Augenblick des Übergangs“ betrifft, so lässt sich hier argumentieren, dass Schlick vermutlich sagen will, dass Erkenntnis in jenem Moment vorliegt, in dem dieser Übergang stattfindet. Es ist der Abschluss des Prozesses gemeint, der mit der Erkenntnis gleichzusetzen ist, nicht der gesamte vorhergehende Prozess des Ratens. Es stellt sich jedoch weiterhin die Frage, worin genau der Prozess des Ratens besteht bzw. wie sich dieser Prozess näher beschreiben lässt. Schlick selbst gibt hierauf zwei Antworten. Die erste bezieht sich darauf, was jener Prozess nicht ist, und zwar ein deduktives bzw. logisches Verfahren. Die anhand von Einzeltatsachen bzw. -beobachtungen aufgestellten Vermutungen bzw. Hypothesen können, wie Schlick sehr deutlich formuliert, in keiner Weise logisch abgeleitet oder erschlossen werden (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 492). Unter dem Ausdruck „Logik“ fasst Schlick hier die Begriffe „Deduktion“, „analytisches Verfahren“ sowie auch das „Denken“ zusammen. Er hält fest, „[…] dass, ‚Denkverfahren‘, ‚analytisches Verfahren‘ und ‚Deduktion‘ nur verschiedene Ausdrücke für ein- und dasselbe sind.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 510) Wenn aber Erkenntnisse durch den Prozess der Induktion zustande kommen, der mit dem „Erraten“ im Sinne einer „intuitiven Erkenntnis“ zu identifizieren ist, und wenn dieser Prozess nichts mit Logik und in der Folge auch nichts mit dem „Denken“ zu tun hat, dann ist klar, dass Erkenntnisse laut Schlick nicht aus dem Denken stammen können („im streng logischen Sinne“) (Schlick, MSGA II/1.3, 499). Oder anders formuliert: „Das Denken ist kein Vorgang, durch den wir zu Erkenntnissen kommen […].“ (Schlick, MSGA II/1.3, 499). Und das ist, gelinde gesagt, sehr überraschend. Zieht man Schlicks sonstige Ausführungen in anderen Schriften in Betracht, zeichnet sich ein ganz anderes Bild vom Verhältnis zwischen dem Denken und der Erkenntnis ab. So z. B. in Form and Content. Hier hält er in einer Art Tabelle fest, durch welche sehr gegensätzlichen Eigenschaften „Knowledge“ und „Intuition“ voneinander zu unterscheiden seien (in der deutschen Übersetzung wurden an der entsprechenden Stelle die Ausdrücke „Erkenntnis“ und „Intuition“ gewählt). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass er das „Denken“ auf die Seite der Erkenntnis stellt. Auch in Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang lassen sich ähnliche Äußerungen finden. So heißt es hier bspw. an einer Stelle (die insgesamt sehr stark an die Auflistung aus Form and Content erinnert): „Der Intuition entspricht das Leben, das ‚Kennen‘ und dem steht beim Erkennen das Denken gegenüber, das in Funktion treten muß.“ (Schlick 1986, 106) Wie kann vor diesem Hintergrund in Logik und Erkenntnistheorie die Rede davon sein, dass das „Denken“ mit Erkenntnis nichts zu tun hat? Man könnte natürlich darauf verweisen, dass Schlick hier vom „Denken“ „im streng logischen Sinne“ spricht.

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In der Folge könnte man argumentieren, dass damit ein „Denken“ im engeren Sinne gemeint ist. Dieses Denken hätte nichts mit der Erkenntnis zu tun, während das „Denken“ im weiteren Sinne trotzdem mit dem Begriff der Erkenntnis in Verbindung steht. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit, um dieser Schwierigkeit zu begegnen: Wie oben bereits ausgeführt wurde, kann die Zurückführung des Speziellen auf Allgemeines als induktiver Prozess im Sinne des „genialen Ratens“ gedeutet werden. Hierdurch werden die Erkenntniszusammenhänge von Stufe zu Stufe fortlaufend konstituiert. Die Deduktion ist ein gänzlich anderes, eben ein rein analytisches Verfahren, bei dem nicht neue Erkenntnisse durch „geniales Raten“ ersonnen werden, sondern bei dem aus dem Allgemeinen das Spezielle abgeleitet wird. Hierfür müssen die durch „geniales Erraten“ ersonnenen Erkenntnisse und Erkenntniszusammenhänge bereits vorliegen. D. h. durch die Erkenntnis, durch „geniales Raten“ wird der logische Rahmen für die Ableitung bereitgestellt. Insofern Schlick das „Denken“ mit dem so verstandenen Deduktionsverfahren gleichsetzt, ist es unproblematisch zu behaupten, dass Erkenntnisse nicht aus eben diesem Denken stammen. Denn sie kommen durch den Prozess der Induktion zustande, die bereits abgeschlossen sein muss, bevor im Denken die Ableitung des Speziellen aus dem Allgemeinen stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund ist es auch verständlich, dass Schlick hier betont, dass er ein Denken „im streng logischen Sinne“ meint: Streng logisch heißt hier eben im Sinne dieses deduktiven Verfahrens. Mit anderen Worten: Will man dieses Erraten als Denkprozess bezeichnen, so kann das ja geschehen; jedesfalls ist das Denken in diesem Sinne nicht Gegenstand der Logik. Die Logik hat es gerade mit dem umgekehrten Prozess zu tun; wenn die allgemeinen Gesetze schon gefunden sind, versucht man nun, ob die aus diesen allgemeinen Grundsätzen zu erschliessenden Lehrsätze und Einzelsätze mit der Erfahrung übereinstimmen. […] Man nennt diese Ableitung von Sätzen aus allgemeinen Sätzen Deduktion. Die Regeln, die wir in der Logik betrachten, sind die Regeln, nach denen die Deduktion vor sich geht; wenn wir sagen, dass es die Logik mit den Regeln des Denkens zu tun hat, so meinen wir damit besonders Schliessen. Denken in dem Sinne der Ableitung von Sätzen aus anderen Sätzen, der Deduktion. (Schlick, MSGA II/1.3, 497f.)

Selbstverständlich wird der Ausdruck „Denken“ üblicherweise in einem viel weiteren Sinne gebraucht, in dem auch das anschauliche Vorstellen als „Denkvorgang“ bezeichnet wird. Dieses Vorstellen aber, die Anschauung, hat, wie erwähnt, nach Schlick mit der Erkenntnis nichts zu tun. Ganz im Gegensatz zum „Denken“ im eben beschriebenen engeren Sinne: Zwar kommen die Erkenntnisse hierdurch nicht zustande, doch bei der Erkenntnis handelt es sich um eine notwendige Voraussetzung für jenes Denkverfahren, das eben erst einsetzen kann, sofern das „geniale Raten“ – der Erkenntnisprozess – abgeschlossen ist. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so

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lässt sich feststellen, dass auch die Ableitung des Speziellen aus dem Allgemeinen im Kontext von Erkenntniszusammenhängen von zentraler Bedeutung ist: Allein darauf basiert die Möglichkeit ihrer Verifikation, wie Schlick auch an der soeben zitierten Stelle andeutet. Dies kann in diesem Rahmen jedoch nicht ausführlicher besprochen werden. Wenn nun also die Induktion bzw. der Prozess des Ratens mit dem Denken (im streng logischen Sinne) nichts zu tun hat, worin besteht er dann? An dieser Stelle kommt Schlicks zweite Antwort auf die oben gestellte Frage ins Spiel: Es handelt sich um einen komplizierten psychologischen Prozess, der sich nicht näher beschreiben lässt. „[W]ir können uns nur darüber freuen [...].“ (Schlick, MSGA II/1.3, 493) Um jenen Prozess genauer zu beschreiben, bräuchte es – so Schlick – eine „Psychologie des Genies“. Doch diese gebe es nicht – nicht mal das Genie selbst wisse, aus welchem Grund ihm etwas eingefallen sei (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 493). Etwas weiter unten führt Schlick aus, dass es nicht möglich sei, für den „psychologische[n] Prozess des Erratens“ Regeln anzugeben (an dieser Stelle sind mit „Regeln“ Schlussregeln im Sinne der Logik bzw. der Deduktion gemeint). Weiter heißt es, dass es von großer Wichtigkeit für die Erkenntnistheorie sei, einzusehen, dass die allgemeinen Sätze durch das „Erraten“ – durch einen psychischen Prozess – entstehen. Dies untermauert die oben aufgestellte These, dass es sich bei der Konzeption des „genialen Ratens“ um eine Erweiterung von Schlicks Erkenntnisphilosophie handelt. Allerdings gehört der Prozess des Erratens selbst sowie auch seine Entstehung, wie Schlick nun fortfährt, allein in das Gebiet der Psychologie (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 497f.). Auch hierin findet sich erneut eine gewisse Unstimmigkeit: Schlick sagt einerseits, dass der Prozess des Ratens sich überhaupt nicht beschreiben lässt und dass es auch keine Psychologie des Genies geben kann, nur um ihn dann etwas später in das Gebiet der Psychologie zu verfrachten und als „psychologisch und nicht logisch beschreibbar“ zu bezeichnen (Schlick, MSGA II/1.3, 509). Doch fest steht zumindest, dass es laut Schlick weder eine Frage der Logik, noch der Erkenntnisphilosophie sein kann, wie dieser Prozess zu beschreiben ist. Doch es gibt noch eine Möglichkeit, das Konzept des „genialen Ratens“ von einer anderen Seite her zu betrachten, und zwar mit Blick auf den Begriff der „Genialität“. Dieser wurde von Schlick im Zusammenhang mit dem „Raten“ zwar eingeführt, aber nicht eingehender betrachtet. Allerdings finden sich im Kontext von Schlicks Kunstphilosophie einige Bemerkungen zum Begriff des „Genies“. Bezieht man diese Erörterungen in die Betrachtung mit ein, eröffnet sich die Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst zu konstatieren und den Prozess des „genialen Ratens“ womöglich doch noch näher zu bestimmen. Damit wird sich der abschließende Abschnitt befassen.

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Wissenschaft und Kunst

Bei Lebensweisheit – Versuch einer Glückseligkeitslehre handelt es sich um eine der frühesten Schriften Schlicks. Hierin findet sich ein kurzer Abschnitt unter dem Titel „Das Genie“. Dort heißt es: „Großes schafft nur das Genie. Genial sein aber heißt: außer diesem leiblichen Leben noch ein andres, selbstgeschaffenes Leben führen.“ (Schlick, MSGA I/3, 181) Doch was genau ist unter diesem anderen, selbst geschaffenen Leben zu verstehen? Es sind Künstler bzw. Gelehrte – so fährt Schlick weiter fort – die ein Reich erschaffen, das nicht „von dieser Welt“ ist. Stattdessen sei es „aus dem Spiel ihres Gehirns geboren“ (Schlick, MSGA I/3, 182). Hierbei handelt es sich um „die sonnigen Länder der Wissenschaft und Kunst, welche die Schaffenden erschlossen haben“ (Schlick, MSGA I/3, 182). Darin besteht die Aufgabe des Genies: eine Welt der Wissenschaft und der Kunst zu schaffen, damit andere Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, etwas derartiges selbst zu tun, daran teilhaben können. Die Fähigkeit dazu ist es, die nach Schlicks Auffassung das „Genie“ als solches auszeichnet. Diese Darstellung der „Genialität“ stimmt hervorragend mit der Konzeption des „genialen Ratens“ überein. Legt man sie zugrunde, könnte man nun formulieren, dass die Begriffs- bzw. Satzsysteme der Wissenschaften durch „geniales Raten“ erschaffen werden. Wie Schlick 1908 schreibt, ist das Genie eben schöpferisch tätig, indem es die Länder der Wissenschaft erschafft. Gleiches gilt für den „genialen“ Forscher, der die Naturgesetze „errät“ und somit einerseits selbst Erkenntnisse ersinnt und andererseits die Möglichkeit dazu bereitstellt, Erkenntniszusammenhänge als Ganze überhaupt zu konstruieren. Das „geniale Raten“ ist damit ebenso konstitutiv für die Wissenschaften wie der schöpferische Akt des „Genies“ in jener frühen Schrift. Und hierin liegt ein weiterer Aspekt der Konzeption des „genialen Ratens“: Schlicks Bemerkungen zum Begriff des Genies betreffen gleichermaßen die Kunst wie auch die Wissenschaft, ohne dass er dabei zwischen den zumeist als sehr unterschiedlich wahrgenommenen Tätigkeitsfeldern von Künstler*innen und Forscher*innen unterscheiden würde. Es scheint ihm vor allem darum zu gehen, festzuhalten, dass das „Genie“ als solches eben schöpferisch tätig ist. Dies verrät dann auch etwas mehr über den Prozess des Ratens selbst: Akzeptiert man die hier vorgelegte Umschreibung des „Genies“, so ist das „geniale Raten“, wenn nicht als Akt des Denkens, so doch als schöpferischer Akt zu verstehen. In dieser Hinsicht, so könnte man nun argumentieren, besteht eine nahe Verwandtschaft zwischen den wesentlichen Tätigkeiten in Wissenschaft und Kunst. Dass der Moment des schöpferischen Aktes für die Kunst von tragender Bedeutung ist, lässt sich wohl kaum abstreiten. Und wie Schlick argumentiert, ist eben dieser schöpferische Akt – wenn er denn mit dem „genialen

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Raten“ zu identifizieren ist – ebenso konstitutiv für die Wissenschaft. Denn nur hierdurch lässt sich das „Reich“ der Wissenschaft bzw. der Zusammenhang der Erkenntnisse überhaupt erst konstruieren. Der Prozess des Ratens könnte auf dieser Grundlage als schöpferischer Moment bestimmt werden, den die Wissenschaft mit der Kunst gemein hat. Somit handelt es sich beim „genialen Raten“ um die wissenschaftliche Form des schöpferischen Aktes, wie er auch in der Kunst vorliegt. Doch diese Interpretation sieht sich einem Problem gegenüber: Die hier zitierten Stellen zum Begriff des Genies stammen aus einer Schrift von 1908. Die frühesten Äußerung Schlicks zum „Erraten“ von Naturgesetzen finden sich erst 1920 (vgl. Schlick, MSGA I/5, 124). Aus diesem Grund kann die Konzeption des „genialen Ratens“ nicht so einfach mit den hier angeführten Bemerkungen zum Begriff des „Genies“ in Verbindung gebracht werden. Allerdings könnte man hier auch die These aufstellen, dass es sich bei Schlicks Ausführungen zum Begriff des „Genies“ um die ursprüngliche Idee handelt, aus der sich in seinen späten Schriften ab 1920 die Konzeption des genialen Ratens entwickelt hat. Dies wäre aus zwei Gründen naheliegend: Erstens aufgrund des Begriffs des „Genies“ selbst. Wie soeben dargelegt wurde, greifen die Genialitätskonzeption von 1908 und die des „genialen Ratens“ aus den späten Schriften wunderbar ineinander. Überdies lässt sich feststellen, dass das Konzept des „genialen Ratens“ eben jene Konzeption mit Schlicks Erkenntnisphilosophie zusammenbringt: In der frühen Schrift heißt es noch, dass in den Wissenschaften in irgendeiner Weise ein anderes „Reich“, eine Parallelwelt, erschaffen wird. Durch das Konzept des genialen Ratens wird nun klar, dass es die Naturgesetze, die allgemeinen Sätze bzw. Begriffe sind, die da ersonnen werden. Und durch diese Brücke erhalten wir Auskunft darüber, wie diese zweite Welt, die da erschaffen wird, konstituiert ist. Für diese Auslegung spricht zweitens, dass sich auch in einigen weitaus später verfassten Ausführungen Schlicks Textstellen finden lassen, die Wissenschaft und Kunst miteinander in Verbindung setzen. Somit lässt sich auch der zweite hier genannte Aspekt von Schlicks Genialitätskonzeption aus dem Frühwerk im Spätwerk wiederfinden. So schreibt Schlick in der 1927 veröffentlichten Schrift „Vom Sinn des Lebens“ bspw. Folgendes: Auch das Erkennen ist ein reines Spiel des Geistes, das Ringen um wissenschaftliche Wahrheit ist ihm Selbstzweck, ihn freut es, seine Kräfte zu messen an den Rätseln, die die Wirklichkeit ihm aufgibt, ganz unbekümmert um den Nutzen, der irgendwie daraus fließen mag […]. (Schlick, MSGA I/6, 106)

Und etwas weiter unten:

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Jeder echte Qualitätsarbeiter kann an sich selbst diese Umbildung des Mittels zum Selbstzweck erfahren, die fast mit jeder Beschäftigung vor sich gehen kann, und die das Erzeugnis zum Kunstwerk macht. (Schlick, MSGA I/6, 107)

Augenfällig ist in diesem Kontext vor allem, dass Schlick hier davon spricht, dass Erkennen „reines Spiel des Geistes“ sei. Diese Formulierung ähnelt sehr der oben bereits zitierten Stelle aus Lebensweisheit nach der das „Reich“ des Künstlers und des Gelehrten aus dem „Spiel ihres Gehirns“ entstammt. Das daraus resultierende Erzeugnis wird nun, wie Schlick weiter schreibt, zum Selbstzweck und gerade dadurch ist es selbst ein Kunstwerk. So lässt sich hier eine Verbindung zwischen der Erkenntnis in den Wissenschaften und der schöpferischen Tätigkeit in der Kunst herstellen: Was durch sie erzeugt wird – in der Wissenschaft wären das nach Schlick eben die Erkenntniszusammenhänge – ist jeweils als Kunstwerk zu betrachten. Doch diese Stelle allein ist viel zu vage, jene Bemerkung Schlicks viel zu beiläufig, als dass sie hier dazu dienen könnte, die vorgelegte Interpretation des „genialen Ratens“ zu untermauern. Doch in zwei weiteren späten Schriften, die hier bereits häufig angeführt wurden, finden sich ebenfalls Stellen, die darauf hinweisen, dass nach Schlick eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Tätigkeit besteht. In Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang führt Schlick aus, dass die Funktion des „Bildes“ im täglichen Leben darin besteht, den abzubildenden Gegenstand in irgendeiner Weise zu ersetzen. In der Kunst hingegen komme dem Bild ein eigener Wert zu. Dabei komme es auf die Darstellung und nicht auf das Dargestellte an. Erkenntnis ist nun – so Schlick – ebenso eine Art von Abbildung. Ihre Aufgabe besteht darin, die Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise darzustellen. In diesem Sinne ist laut Schlick die Abbildung durch die Erkenntnis mit einem Kunstwerk vergleichbar: Im allgemeinsten Sinne werden Bilder erzeugt (vgl. Schlick 1986, 98). Wie steht dies im Zusammenhang mit Schlicks Erkenntniskonzeption, wie sie hier dargelegt wurde? In Erkenntniszusammenhängen, wie sie in der Wissenschaft durch „geniales Raten“ erzeugt werden, sind die einzelnen Begriffe, Sätze und Aussagen sprachliche Gebilde, die den Tatsachenzusammenhang der Wirklichkeit darstellen, abbilden, ihn ausdrücken. Und eben diese Art der Abbildung beschreibt Schlick hier als etwas, das in bestimmter Hinsicht direkt mit einem Kunstwerk vergleichbar ist. Ähnliche Ausführungen finden sich auch erneut in Logik und Erkenntnistheorie. Zunächst gibt Schlick hier einige Erläuterungen, die der soeben angeführten Stelle aus Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang sehr stark ähneln: Er hält fest, dass der „tiefe Sinn der Kunst“ darin bestehe, fortzukommen von der Wirklichkeit: „[…] die Darstellung ist ihr das einzige adäquate.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 410) Zwar unterscheide sich die Abbildung in der Kunst von der des täglichen Lebens,

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doch sie entspricht, so Schlick, der „Art der Abbildung bei der reinen Erkenntnis“ (Schlick, MSGA II/1.3, 410). Worin besteht diese Entsprechung? Hierzu erläutert Schlick weiter, dass die Erkenntnis nicht die Wirklichkeit selbst ersetzen, sondern sie darstellen soll – und zwar mit meinem Minimum von Symbolen, sowie auch die Kunst mit einem Minimum von Symbolen auskommen muss. Das allein ist das Ziel des Forschers, darin besteht seine Eigenart, wie Schlick hier sehr deutlich betont (vgl. Schlick, MSGA II/1.3, 410). Hierin zeigt sich eine weitere Parallele, die Schlick zwischen der wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit ausmacht. Wie oben genauer beschrieben wurde, ist es laut Schlick das Ziel der fortschreitenden Erkenntnis, die Zahl der Zeichen, Begriffe, Aussagen etc. auf den oberen, d. h. auf den allgemeinsten Stufen des Erkenntniszusammenhangs, möglichst zu reduzieren. Die „Art der Abbildung“ in Wissenschaft und Kunst stimmt laut Schlick folglich darin überein, dass sie symbolischer Natur ist und darüber hinaus die Reduktion der verwendeten Symbole anstrebt. Ferner zeigt sich, dass Schlick auch in seinem Spätwerk eine nahe Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Kunst annimmt. Zum einen besteht sie darin, dass in ihnen jeweils etwas Vergleichbares erzeugt wird. Zum anderen in der Tätigkeit, durch die das Erzeugnis selbst zum Kunstwerk wird. Doch auf welche Weise wird nach Schlicks Konzeption die Wirklichkeit in den Wissenschaften dargestellt? Betrachtet man sein Erkenntniskonzept, so lässt sich an dieser Stelle antworten, dass die Darstellung durch die Erkenntniszusammenhänge darauf abzielt, die Beziehungen zwischen den einzelnen durch die Begriffe bzw. Aussagen bezeichneten Gegenständen und Tatsachen abzubilden. Es geht demnach um eine relationale Abbildung realer Verhältnisse in der Wirklichkeit. Relationen stellen insofern einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit dar. Eben dieser ist es, den die Erkenntniszusammenhänge hervorzuheben suchen. Die Art und Weise, wie diese Art der Abbildung erzeugt wird, kann m. E. durch den Begriff der „Genialität“ oder auch durch das Konzept des „genialen Ratens“ im Sinne einer schöpferischen Tätigkeit beschrieben werden, den man auch in der Kunst finden kann. Die These, dass Schlicks seine „Genialitätskonzeption“ aus dem Frühwerk im Spätwerk zum „genialen Raten“ weiterentwickelt, wird hier zwar nicht abschließend belegt, aber doch zumindest nahegelegt. Durch Schlicks Konzeption des „genialen Ratens“ wird – sofern man sie denn ernst nimmt – einerseits seine Erkenntnisphilosophie ergänzt und andererseits auch eine Verbindung zwischen seiner Erkenntnisund seiner Kunstphilosophie konstatiert.

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Literaturverzeichnis Friedl, Johannes: Konsequenter Empirismus. Die Entwicklung von Moritz Schlicks Erkenntnistheorie im Wiener Kreis. Wien 2013. Schlick, Moritz: Moritz Schlick Gesamtausgabe (= MSGA), hrsg. v. Friedrich Stadler u. Hans Jürgen Wendel. Wien/New York/Wiesbaden 2006 ff. Schlick, Moritz: Gibt es intuitive Erkenntnis? In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 37 (1913), 472–488. Schlick, Moritz: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang – Vorlesung aus dem Wintersemester 1933/34. Frankfurt a. M. 1986. Schlick, Moritz: Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre [1908]. In: Ders.: Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre/Fragen der Ethik (= MSGA I/3), hrsg. v. Mathias Iven. Wien 2006, 19–332. Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre [1918/1925]. In: Ders.: Allgemeine Erkenntnislehre (= MSGA I/1), hrsg. v. Hans Jürgen Wendel u. Fynn Ole Engler. Wien 2009. Schlick, Moritz: Erscheinung und Wesen [1919]. In: Ders.: Rostock, Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925 (= MSGA I/5), hrsg. v. Edwin Glassner u. Heidi KönigPorstner. Wien 2012, 35–68. Schlick, Moritz: Naturphilosophische Betrachtungen über das Kausalprinzip [1920]. In: Ders.: MSGA I/5, 101–149. Schlick, Moritz: Erleben, Erkennen, Metaphysik [1926]. In: Ders.: Die Wiener Zeit. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1926–1936 (= MSGA I/6), hrsg. v. Johannes Friedl u. Heiner Rutte. Wien 2008, 25–54. Schlick, Moritz: Vom Sinn des Lebens [1927]. In: Ders.: MSGA I/6, 89–125. Schlick, Moritz: Die Wende der Philosophie [1930]. In: Ders.: MSGA I/6, 203–222. Schlick, Moritz: Vom Sinn des Lebens [1932]. In: Ders.: MSGA I/6, 313–362. Schlick, Moritz: Über das Fundament der Erkenntnis [1934]. In: Ders.: MSGA I/6, 477–514. Schlick, Moritz: Philosophie und Naturwissenschaft [1934]. In: Ders.: MSGA I/6, 515–545. Schlick, Moritz: Vom Sinn des Lebens [1936]. In: Ders.: MSGA I/6, 719–749. Schlick, Moritz: Quantentheorie und Erkennbarkeit der Natur [1937]. In: Ders.: MSGA I/6, 801–820. Schlick, Moritz: Vorrede [zu Waismann]. In: Ders.: Erkenntnistheoretische Schriften 1926– 1936 (= MSGA II/1.2), hrsg. v. Johannes Friedl u. Heiner Rutte. Wien 2013, 65–86. Schlick, Moritz: Form and Content. An Introduction to Philosophical Thinking. In: Ders.: MSGA II/1.2, 147–358. Schlick, Moritz: Logik und Erkenntnistheorie. In: Ders.: Vorlesungen und Aufzeichnungen zur Logik und Philosophie der Mathematik (= MSGA II/1.3), hrsg. v. Martin Lemke u. AnneSophie Naujoks. Wien 2019, 339–635.

VI. Ausblick

Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma? Heinrich Scholz für und gegen den Wiener Kreis1 Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma?

Niko Strobach

1

Einleitung

Der vorliegende Beitrag kann nicht mehr sein als ein vorläufiger Arbeitsbericht. Es ist möglich, dass sich die Quellenlage verändert oder dass eine eingehendere Sichtung der bereits bekannten Quellen in manchen Punkten das Bild verändert. Ich meine zwar, es ist gerechtfertigt, zu sagen, dass dieser Beitrag von einem Zusammenprall von Kulturen berichtet – von einem culture clash. Aber auch das habe ich im Titel lieber mit einem Fragezeichen versehen. Zum einen sehen das andere vielleicht einfach anders. Dagegen kann ich nicht argumentieren, indem ich von Anfang an eine explizite Definition von „culture clash“ angebe und dann die Quellen darunter subsumiere – so spielt man nicht mit solchen Worten. Vor allem aber möchte ich selbst eine Spannung nicht auflösen, die mir gerade einen wichtigen Teil dessen auszumachen scheint, worüber zu berichten ist. (1) Man mag das, worüber zu berichten ist, beschreiben als das Aufeinandertreffen verschiedener Paradigmen, wenn man den Begriff der Kultur an den des Paradigmas annähert. (2) Man mag aber auch sagen: Hier zeigt sich, wieviel interne Vielfalt ein Paradigma erlaubt, das letztlich doch alle Beteiligten teilen.2 Verschiedene Teilnehmer am Paradigma bringen  unterschiedliche kulturelle Hintergründe mit (wobei auch für „kultureller Hintergrund“ bitte keine explizite Definition erwartet werden 1

In Zusammenhang mit diesem Beitrag danke ich besonders Martin Lemke und Christian Damböck für den Zugang zu den herangezogenen Quellen. Birgit Heitfeld-Rydzik, Eva-Maria Engelen, Monja Reinhart, Ferdinand Fellmann und Heinrich Schepers bin ich für wertvolle Hinweise dankbar. 2 Ich meine, dass mein Gebrauch des Wortes „Paradigma“ hier dem paradigmatischen Gebrauch in Kuhn (1962) hinreichend nahe ist, so dass sich wieder einmal der Nutzen von Kuhns Terminologie zeigt, kann dafür aber an dieser Stelle nicht argumentieren. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_15

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möge). Was innerhalb des Paradigmas an gegensätzlichen Meinungen ausgesprochen wird, korreliert zum Teil sogar mit dem kulturellen Hintergrund und ist von ihm motiviert. Ist es so, dann ermöglicht gerade das geteilte Paradigma den Zusammenprall. Ich neige zur Beschreibungsvariante (2). Mithin neige ich zur begrifflichen Trennung von Kultur und Paradigma: Verschiedenen Kulturen Angehörende mögen an demselben wissenschaftlichen Paradigma partizipieren. Ich plädiere deshalb dafür, das „oder“ im Titel entgegen dem ersten Eindruck als inklusives „oder“ zu verstehen und die Titelfrage mit „beides“ zu beantworten. In jedem Fall denke ich, dass die Quellen Berichtenswertes bieten, wie auch immer man sich entscheidet, es zu beschreiben.    Wer sich – nach einer beachtenswerten Vorgeschichte – gegenübersteht, das steht im Untertitel: auf der einen Seite der Wiener Kreis, auf der anderen Heinrich Scholz. Wer über den Logischen Empirismus forscht, hat den Namen „Heinrich Scholz“ wahrscheinlich gehört, aber wohl eher nebenbei. In diesem Beitrag soll Scholz im Rampenlicht stehen. Er hat es verdient, dass man sich mit ihm beschäftigt, gründlicher, als das hier geschehen kann. Scholz hat viel geschrieben, und vielfältig. Am Philosophischen Seminar der WWU Münster erinnert man sich an ihn als Logiker (Strobach 2020). An Scholz lag es, dass der Nachlass von Gottlob Frege 1935 offiziell der Universitätsbibliothek der WWU übergeben wurde; und dass viel davon abgetippt war, bevor er wohl zum großen Teil im Zweiten Weltkrieg in Münster bei einem Bombenangriff verbrannte (Schmidt-am-Busch/Wehmeier 2000; HeitfeldRydzik 2020). Aber Scholz war weit mehr als nur Nachlassverwalter. Weit mehr noch als bei einer personenzentrierten Recherche wird das deutlich, wenn man Dokumente aus verschiedenen Archiven miteinander verbinden kann. Das soll hier geschehen, auch um anzudeuten, wieviel mehr ein koordiniertes Vorgehen von Forschenden an verschiedenen Orten hier noch erwarten lässt. 

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Die Quellen

Auf was für Quellen kann ich mich (Ende 2022) stützen, und wie? Unproblematisch sind die veröffentlichten Werke von Heinrich Scholz. Man sollte sich jedoch bewusst sein, dass diese weit über das hinausgehen, was in der nach seinem Tod herausgegebenen Aufsatzsammlung Mathesis Universalis enthalten ist. Auch die dort zu findende nützliche Bibliographie kann nicht als vollständig gelten. Etwas komplizierter ist es mit dem Nachlass von Scholz in Münster. Ich unterscheide im Folgenden zwischen den Dokumenten im Heinrich-Scholz-Nachlass (HSN) und dem digitalen Heinrich-Scholz-Archiv (HSA). Der HSN wurde lange im

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Institut für mathematische Grundlagenforschung in Münster (IMLG) aufbewahrt, das Scholz gegründet hat. Im Sommer 2019 ist er in die Universitätsbibliothek der WWU Münster umgezogen und wird dort völlig neu aufgearbeitet. Die Erschließung in einer Findliste ist abgeschlossen. Ungefähr 1300 Dokumente – größtenteils aus dem HSN – wurden noch im IMLG eingescannt und waren zeitweise im Internet öffentlich zugänglich. Das ist das HSA. Es umfasst, in Dokumenten gezählt, nur ungefähr ein Fünftel des HSN. Ich gebe möglichst dreierlei an: Datum und Korrespondenten, die Signatur in der HSN-Findliste und den HSA-Dateinamen. Eine weitere wichtige Quelle ist der Briefwechsel von Moritz Schlick (i. F. SBW), dessen Transkription in der Moritz-Schlick-Forschungsstelle an der Universität Rostock weit gediehen ist. Bei Briefwechseln ist es oft besonders ertragreich, auf der Empfängerseite zu suchen. So auch hier: Es finden sich im Schlick-Briefwechsel viele Briefe von Scholz. Ich danke Martin Lemke für die Möglichkeit zur Einsichtnahme und die Erlaubnis, schon einige Stellen daraus zu zitieren. Ich gebe zu Datum und Korrespondenten die Dokumentnummer der im Entstehen begriffenen Ausgabe des Briefwechsels und manchmal einige Stichworte aus dem Text an. Schließlich sind die Tagebücher von Rudolf Carnap (i. F. CTB) und sein Briefwechsel (i. F. CBW) wertvolle Quellen. Wissenschaftliche Editionen, an denen Christian Damböck am Institut Wiener Kreis der Universität Wien federführend beteiligt ist, sind weit fortgeschritten. Ich danke ihm, dass ich bereits in ein fertiggestelltes Transkript der umfangreichen stenografischen Notizen des CTB sowie auch in den CBW Einsicht nehmen durfte und beides hier heranziehen darf. Digitale Versionen der Original-Dokumente aus dem CBW sind sehr weitgehend schon in die Datenbank VALEP an der Universität Wien eingepflegt worden und werden so im Internet zur Verfügung gestellt. Ich beziehe mich auf Tagebucheinträge Carnaps so genau wie möglich mit dem Datum. Zu Briefstellen gebe ich Korrespondenten und Datum an, ferner die Dokumentennummer der fast fertiggestellten Edition und ggf. den VALEP-Dateinamen. Briefe zwischen Carnap und Schlick sind sowohl im CBW wie im SBW vorhanden und sind deshalb mit Dokumentennummern beider Editionen angegeben.

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Heinrich Scholz (1884–1956): Biographischer Rahmen

Wer war Heinrich Scholz? Ich möchte zunächst bewusst lückenhaft einen biographischen Rahmen abstecken.3 Die Lücken werden später deutlich werden, aber auch der 3

Der Sache gemäß muss es hier zu einigen Überschneidungen mit Strobach 2020 kommen.

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Rahmen enthält schon einige nicht so bekannte Details, die sich zum Teil erst aus den gerade beschriebenen Quellen erschließen lassen.4 Heinrich Scholz wurde 1884 in Berlin geboren. Sein Vater war ein hochrangiger protestantischer Geistlicher. Er schreibt im Rückblick einmal von seiner „Herkunft aus dem Herrenhutertum“ (sic).5 Theologie ist der Hauptinhalt seines Studiums, freilich immer mit breitem Horizont der traditionellen Philosophie dabei. So schreibt er eine philosophische Doktorarbeit zu Schleiermacher und Goethe. Scholz war im 1. Weltkrieg aus gesundheitlichen Gründen nicht Soldat. Ein Magenleiden war so schwerwiegend, dass man ihm 1919 einen großen Teil des Magens entfernen musste (Molendijk 1991, 35). Dennoch gelang es ihm, ein erstaunliches Arbeitspensum zu bewältigen. Scholz ist auch heute als Theologe nicht vergessen in seiner Rolle als Herausgeber und Experte für bedeutende theologische Texte des 18. und 19. Jh.6 Als Grenzgänger zwischen Philosophie und Theologie kam er sowohl für eine Stelle für Religionsphilosophie in der evangelischen Theologie wie auch für Theoretische Philosophie an einem Philosophischen Seminar in Betracht. 1917 erhält er endlich den ersten Ruf, Religionsphilosophie in Breslau.7 Sein umfangreiches Buch Religionsphilosophie, 1. Auflage 1921, verkauft sich gut.8 Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass Scholz den religionsphilosophischen Antirealismus attackiert. Zugleich ist das Buch ein Bekenntnis zur begrifflichen Klarheit. Das Ziel: eine „ponderable“, also erwägbare Religion. 1919 wechselt er als Professor nach Kiel, und zwar in die Philosophie.9 1921, mit Ende 30, hat er ein einschneidendes Erlebnis, das eine akademische Neuorientierung und eine große Erweiterung seines intellektuellen Repertoires bewirkt. 27 Jahre später schreibt er darüber: Nachdem ich meine Religionsphilosophie publiziert hatte, entdeckte ich 1921 durch einen Glücksfall auf der Kieler Bibliothek die „Principia Mathematica“. Ich sah sofort, dass ich hier das gefunden hatte, was ich so lange vergeblich gesucht hatte. Das Studium dieses Werkes ist für den weiteren Verlauf meines persönlichen Lebensganges von einer entscheidenden Bedeutung geworden.10 4

Zu Heinrich Scholz: Busch/Wehmeier 2005, Molendijk 1991, Peckhaus 2018, Strobach 2020. Eine Biographie bietet auch Molendijk 2005 sowie Elstrodt/Schmitz (o.J.), 111–118, einen Überblick Schmidt am Busch/Wehmeier 2005a. Wichtige Schriften von Scholz sind gesammelt in Scholz 1961. Dort und in Molendijk 1991 findet sich jeweils eine umfangreiche Bibliographie der Schriften von und über Scholz. 5 Gutachten zu Rudolf Müller, 19.3.1948: HSA KO-02-0279; HSN 121,067. 6 Zu Scholz als Theologe: Molendijk 1991, Wimmer 2005. 7 An der theologischen Fakultät (Molendijk 1991, 35). 8 Scholz 1921a. Zur Kritik des Antirealismus besonders Scholz 1921b. 9 Zu Scholz’ Kieler Zeit und seiner Religionsphilosophie: Rohs 1969, 82–86. 10 Scholz ca. 1948. Zitiert in Peckhaus 2005, 73.

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Es wäre interessant zu wissen, in welchem Monat das war. Im Wintersemester 1921/22 sind Scholz und Moritz Schlick kurzzeitig Kollegen in Kiel. Im Sommer 1922 ist Schlick schon wieder auf dem Sprung. Wien ist zweifellos der attraktivere Platz. Das Erweckungserlebnis von Scholz ist verblüffend. Für einen Unvorbereiteten sind die Principia Mathematica von Russell und Whitehead so verständlich wie ein aztekischer Mondkalender. Auch das relativ informale Vorwort verlangt formale Vorbildung. Die moderne mathematisierte Logik hat Scholz jedenfalls gepackt. Er nennt sie, zeittypisch, „Logistik“. Er hat Zeit, ein Zweitstudium, Mathematik und Physik, zu absolvieren. Scholz’ erste Frau stirbt schon 1924, mit nur 31 Jahren (Molendijk 1991, 45). Einige Jahre später heiratet er noch einmal, Erna Scholz, die ihn um 36 Jahre überlebt.11 Sie kümmert sich ums Praktische, er lässt in persönlichen Briefen von ihr grundsätzlich als von „[s]einer kleinen Herrin“ grüßen.12 1928 erhält er einen Ruf als Philosoph nach Münster, was ihn, wie er gegenüber Schlick behauptet, selbst überrascht. Die Entscheidung fällt ihm schwer: Mitte Februar traf mich ganz plötzlich ein Ruf nach Münster. 8 Wochen habe ich gebraucht, um zu entscheiden, ob ich bleiben oder gehen sollte.13

Scholz kalkuliert: In Münster gibt es so viel mehr Mathematiker und Naturwissenschaftler als in Kiel, dass sich wohl schon einer davon für so etwas Abseitiges wie Logistik interessieren wird, so dass er damit nicht weiter allein ist. Er nimmt den Ruf an. Die Hoffnung erfüllt sich nicht im erhofften Maße,14 trotz Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Behnke.15 Und so muss Scholz sich selbst darum kümmern, kompetente Gesprächspartner heranzuziehen. Wie er das erreicht hat, ist gut erforscht.16 Scholz ist ein guter Netzwerker, ist auf den Konferenzen dabei, korrespondiert bald mit der ganzen Welt der Logik: mit seinem guten Freund Jan Łukasiewicz, mit Tarski, Curry, Kleene, Rosser, Alonzo Church, Zermelo. Er kennt Carnap persönlich

11

Molendijk 2005, 16, Anm. 18. Vgl. auch CTB, 16.4.1935. 13 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 20.4.1928: „traf mich ganz plötzlich ein Ruf nach Münster“; SBW 559. Auch Carnap ist gut über Scholz’ Beweggründe informiert und schreibt darüber an Schlick am 18.4.1928: SBW 558; CBW 290. 14 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.5.1928: SBW 561. 15 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.9.1929: SBW 623, „Münster ist schön u[nd] der Mühe wert“. 16 Schmidt am Busch/Wehmeier 2005, Schmidt am Busch/Wehmeier 2005b, vgl. auch die Vorworte zu Scholz 1961. 12

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seit 1923.17 Paul Bernays weist ihn schon 1932 auf Gerhard Gentzen hin.18 1939 weiß er längst, wer Alan Turing ist.19 Und er hat den jungen Konrad Zuse gefördert, als der den ersten Computer gebaut hat (vgl. Menzler-Trott 2001, 236). Dass mit Scholz ein Logik-affiner Philosoph in Deutschland einen Philosophie-Lehrstuhl besetzt, ist institutionell nicht unwichtig. Die Kollegen wissen das. Er hat eine glückliche Hand bei der Auswahl seiner Mitarbeiter.20 Scholz nennt seine Forschergruppe selbstbewusst die Schule von Münster, wirbt mit dem Markennamen. 1935 erwirbt Scholz den Frege-Nachlass von Freges Adoptivsohn (Einleitung zu Frege 1969, XXXIVf.) und wirbt, auch mit seiner Schule trommelnd, einige Drittmittel für die Vorbereitung einer Edition ein. Frege ist fast unbekannt, in Münster wird er gelesen. Beharrlich verfolgt Scholz sein Ziel, der Logistik eine Heimat zu geben. Das ist nicht leicht. Seine Kollegen in der Philosophie finden ihn exzentrisch. Wie der bodenständige katholische Philosoph Josef Pieper sich später über ihn geäußert hat,21 schwankt zwischen Unverständnis und Antipathie – da prallen, geteilter theologischer Hintergrund hin oder her, zweifellos Kulturen aufeinander. Dazu kommt, dass die international orientierte Logik institutionell nicht leicht zu verankern war in einem Deutschland, in dem seit 1933 von besonders anschaulicher deutscher Mathematik gefaselt wird.22 Scholz hat keine Illusionen über die Nazis, aber die Frage nach Emigration stellt sich für ihn nicht. Er akzeptiert die politischen Rahmenbedingungen als gegeben und verfolgt seine Agenda. Wenn er bei seinen Lobpreisungen Freges besonders betont, dass der Deutscher war,23 so ist das strategisch gut nachvollziehbar. 1938 hat Scholz eine Ehrenpromotion seines polnischen Freundes Łukasiewicz durchgesetzt, was ein diplomatisches Meisterstück gewesen sein muss (vgl. Schmidt am Busch/Wehmeier 2005c, 119). Wie sich Scholz im Zweiten Weltkrieg verhalten

17

Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 11.10.1922, CBW 37, mit ausführlicher Schilderung seiner (komfortablen) Lebensumstände. Ein dort erwähnter Brief vom 7.10.1922 von Scholz an Carnap ist offenbar nicht erhalten. Im April 1923 besuchte Carnap Scholz in Kiel, um mit ihm über seine Habilitation zu sprechen (CTB 14.4.1923). 18 Paul Bernays an Heinrich Scholz, 12.9.1933: HSA KO-03-0289, p. 22; HSN 110,027. 19 Paul Bernays an Heinrich Scholz, 24.3.1939: HSA KO-03-0291; HSN 110,028; 5.4.1939: HSA KO-03-0299; HSN 110,029. 20 Der kürzlich verstorbene Heinrich Schepers, der als Student Scholz noch erlebt hat, hat mir gegenüber im Gespräch betont, wie wichtig ihre zuverlässige Zuarbeit war. 21 Pieper 1979, 16–18. Einordnung: Strobach 2020, 144–148. 22 Zum Kontext: Menzler-Trott 2001. 23 Scholz 1940a, 48. In: Scholz 1961, 382f. Aufschlussreich dazu: Tarski an Scholz, 21.10.1946: HSA KO-04-0431 (abweichend KO-04-0427 bei Schmidt am Busch/Wehmeier 2005c, 119); HSN 113,059). Dazu Strobach 2020, 130, 148f.

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hat, ist gut dokumentiert und ziemlich gut erforscht.24 Es ist riskant, mutig, ja bewundernswert, nicht nur mit Worten (richtig entschlüsselt manchmal geradezu waghalsige)25 auch mit Taten (Feferman 2004, Strobach 2020, 148–153). Tarski ist ihm dafür dankbar26 und widmet ihm ein Buch (Tarski et al. 1953). Aber die Wahrheit ist nie ganz einfach. Tarski freut sich ausdrücklich nicht darüber, dass sein Lehrer Łukasiewicz durch die tatkräftige Hilfe von Scholz den Krieg überlebt hat.27 In der von Paul Edwards herausgegebenen Encyclopedia of Philosophy von 1967 (Köhler 1967, 324f.) findet sich in einem bemerkenswert langen Artikel von Eckehart Köhler über Scholz der Satz, dieser habe Łukasiewicz aus einem „Nazi concentration camp“ gerettet. Scholz hat mutig daran mitgewirkt, jemanden aus dem KZ zu retten: nicht Łukasiewicz, sondern Jan Salamucha (vgl. Strobach 2020, 151). Das bringt ihm eine offizielle Rüge ein, aber er kann weiterarbeiten. Scholz fühlt sich am Ziel, als er, als erster Leiter des Instituts für mathematische Grundlagenforschung, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die fachliche Anbindung wechselt (vgl. Schmidt am Busch/Wehmeier 2005b). Auch nach seiner Emeritierung arbeitet Scholz weiter an der Frege-Edition, unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit. Er initiiert die Gründung einer deutschen Gesellschaft für mathematische Logik und Grundlagenforschung, die er an die Unesco anbinden möchte.28 Er verstärkt aber auch seine Publikationstätigkeit außerhalb der Logik, die er nie eingestellt hat. Sie umfasst, grob gesagt, metaphysische Überlegungen bis hin zur Verquickung von Religionsphilosophie und Logik, die sich oft der Namen „Platon“ und „Leibniz“ als Chiffren bedienen. Für ihn schließt das an die Logik an, denn: Er sieht die moderne Logik als Werkzeug für eine bessere Metaphysik.29 Diese Publikationstätigkeit umfasst aber auch essayistische Betrachtungen z. B. über den Sinn des Osterfests, das Erbe der Reformation u.v.m.30 Der Nachruf in der ZEIT nach seinem Tode 1956 würdigt ihn besonders als Mitarbeiter 24

Schmidt am Busch/Wehmeier 2005, v. a. Schmidt am Busch/Wehmeier 2005c. Zu Veröffentlichungen im 2. Weltkrieg und Korrespondenz vgl. auch Strobach 2020, 148–153. 25 Scholz 1940b, 33, 70, 76. Noch offener Scholz (o.J.), Blatt 14. 26 Alfred Tarski an Heinrich Scholz, 21.10.1946: HSA KO-04-0431; HSN 113,059. 27 Alfred Tarski an Heinrich Scholz, 21.10.1946: HSA KO-04-0431; HSN 113,059. Vgl. dazu Strobach 2020, 152, 155. 28 Heinrich Scholz an Kollegen, 3.8.1950: HSA KO-06-0927; HSN 115,005. Scholz an Schmidt, 29.8.1950: HSA KO-06-0936; HSN 119,079. Scholz an Gonseth, 29.8.50: HSA KO-06-0937; HSN 117,074. Gonseth an Scholz, 5.10.1950: HSA KO-06-0942; HSN 111,091. Scholz an Schmidt, 14.10.1952: HSA KO-05-0597; HSN 119,081. Scholz an Schmidt, 7.11.1952: HSA KO-05-0599; HSN 119,082. Schmidt an Scholz, 21.11.1952: HSA KO-05-0602; HSN 113,004. 29 Vgl. die Kontroverse Peckhaus 2005/Stock 1987, die Bibliographie in Scholz 1961 und Scholz 1941. 30 Vgl. die Bibliographie in Scholz 1961 und Molendijk 1991, 362.

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für solche Beiträge.31 Eine seiner politischen Betrachtungen wird 1946 von den französischen Behörden im Südwesten Deutschlands als für Zwecke der reeducation so wertvoll eingeschätzt, dass sie als Broschüre in der phantastischen Auflage von 250.000 Exemplaren erscheint.32 Wäre Scholz selbst ein Vertreter des Logischen Empirismus, so hätten wir – bis hin zu Aphorismensammlungen33 und Gedanken zur bildenden Kunst (Schmidt 1958) – eine Menge beachtlicher und vergessener Veröffentlichungen aus dem Logischen Empirismus, die man in die Kategorie „Kulturphilosophie“ einordnen könnte. Allein die Nietzsche-Rezeption von Scholz (und ein Vergleich mit der von Schlick) wäre einen eigenen Beitrag wert.34 Aber Scholz ist kein Vertreter des Logischen Empirismus. Er steht in teils enger persönlicher Beziehung zu dessen Protagonisten, aber er ist fachlich sogar ein Antagonist zu ihnen – dies jedoch innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, welche die philosophische Bedeutung der modernen Logik zu schätzen weiß. 

4

Scholz’ Kritik am logischen Empirismus

Bewusst habe ich bis zu diesem Punkt ein Schlüsselwerk von Scholz ausgeklammert. Scholz hat begriffen, dass, bei aller Aufbruchsstimmung, jemand eine Geschichte der Logik schreiben muss, in der deutlich wird, warum die moderne Logik der traditionellen überlegen ist und warum deshalb ihre Entwicklung philosophisch epochemachend ist. Und so schreibt er 1931 einen Abriß der Geschichte der Logik, ein Büchlein von 78 Seiten, eine temperamentvolle, materialreiche und in ihrem historischen Urteil meinungsstarke und treffsichere Werbeschrift. Gegen Ende des Buchs findet sich die folgende Passage: Von der Anwendung der Logistik auf einen nicht-mathematischen Bereich liegt bisher nur eine einzige [...] Probe vor in dem Werk von Rudolf Carnap über den logischen Aufbau der Welt 1928. Dieses Werk steht [...] in Ansehung seiner Durchdachtheit turmhoch über der philosophischen Durchschnittsliteratur. Aber es führt, wenigstens im Vorwort [...] im Namen der wissenschaftlichen Philosophie einen Kampf gegen 31

Nachruf am 10.1.1957: http://www.zeit.de/1957/02/heinrich-scholz. Scholz 1946. Vgl. hierzu HSA, Verl_006, Verl_007; HSN 111,063. HSA Verl_019; HSN 117,091. HSA Verl_035; HSN 121,038. HSA Verl_040; HSN 111,067. 33 Z. B. Scholz 1940b, o.J. Vgl. auch die Titel in der Bibliographie in Scholz 1961. 34 Scholz 1917, 132f. Zu dieser Schrift Strobach 2020, 133f., und Peckhaus 2005, 74f.1.; Scholz 1940b: 32, 70, 76; Scholz (o.J.), Blatt 14; Scholz 1948. 32

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die Metaphysik, von dem ich hier weit abrücken möchte. Natürlich nicht so, dass ich dadurch zugleich den Leser vom Studium dieses Werks befreie. Im Gegenteil! [...E]s ist bis heute durchaus nicht entschieden, dass eine wissenschaftliche Real-Philosophie nur aus der Verbindung der Logistik mit einem solchen Positivismus gewonnen werden kann. Und erst recht darf der Satz bezweifelt werden, dass ein Problem, für das diese Verbindung nicht existiert, schon dadurch als philosophisches Scheinproblem enthüllt ist. Ich möchte vielmehr sagen dürfen, dass es sehr zu bedauern ist, dass der von Carnap so eindrucksvoll repräsentierte „Wiener Kreis“ sich mit einem so fragwürdigen Satze belastet hat [...] In keinem Falle steht es so, dass ein überzeugter Logistiker nicht zugleich Metaphysiker sein kann [...] Man hüte sich also, die von uns mit Leibniz behauptete zentralphilosophische Leistungsfähigkeit der Logistik dadurch zu paralysieren, dass man auf die Verkopplung hinweist, in welcher die neue Logik allerdings in einigen ihrer stärksten Vertreter mit einem extremen Positivismus gegenwärtig existiert! [...] Für die Glieder des Wiener Kreises ist es schon heute ausgemacht, dass eine so genannte Behauptung nur dann eine sinnvolle Aussage ist, wenn sie sich mit dem Ausgangsmaterial der Russell’schen Logik symbolisieren lässt. [...] Als Maxime ist dieses Diktat sehr schön [...Aber] sobald man aus diesen Schranken heraustritt, wird das Diktat zur Diktatur; und gegen die Diktatur in der Philosophie darf auch der überzeugteste Logistiker protestieren bis zum letzten Atemzuge. [...] Es wird also nicht behauptet, dass die Logik [...] mit der Logistik von heute vollendet ist. Im geringsten nicht! Behauptet wird nur [...], dass durch diese Logistik ein Grund gelegt ist, auf welchem weitergebaut werden kann.35

Die Wucht des Angriffs auf Freunde überrascht. Inhaltlich könnte er klarer nicht sein. Und es ist nicht der einzige Text von Scholz von 1931, der, ob nun so gemeint oder nicht, als Attacke empfunden werden konnte. Scholz veröffentlicht viele Rezensionen in der Deutschen Literaturzeitung, die von der Bibliographie in Mathesis Universalis nicht erfasst sind und noch auf Auswertung warten. Dazu gehört eine Rezension der ersten vier Hefte, also des Jahrgangs 1930, der Zeitschrift Erkenntnis (Scholz 1931b). Man liest dort staunend, wie Scholz mit leichter Hand über heute berühmte Texte Bericht erstattet: Für das nach meinem Urteil weniger bedeutungsvolle 1. Heft darf ich mich hier mit der Angabe seines Inhalts begnügen. Auf ein paar Worte „Zur Einführung“ folgt von Moritz Schlick eine kurze programmatische Betrachtung über die Wende der Philosophie, von Rudolf Carnap ein Aufsatz über die alte und die neue Logik [...]. (Scholz 1931b, 1835)

Scholz referiert dann zur Programmatik des Wiener Kreises ziemlich ausführlich den Aufsatz „Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung insbesondere für 35

Scholz 1931a, 64f. Zitiert nach 1959.

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Mathematik und Physik“ von Hans Hahn, eine Art Kurzfassung der Ideen im „Manifest“, aber ohne Politik (Hahn 1931). Er bemerkt, dass er in einer Rezension keine eingehende Kritik üben kann und legt los: (1) Der vorausgesetzte Erfahrungsbegriff ist naiv (man bedenke: Poppers Logik der Forschung und Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache erscheinen vier Jahre später). (2) Dass Schlick ein Buch über Ethik geschrieben habe, widerspricht dem Programm des Logischen Empirismus. (3) Die Logischen Empiristen bekämpfen das Apriori, fassen aber Mathematik und Logik als a priori auf und halten strukturierende Hintergrundprinzipien für unverzichtbar. Ist das nicht ein Widerspruch? (4) Und wie steht es eigentlich um das Induktionsproblem? (Das wird einer der wichtigsten Angriffspunkte Poppers sein.) Scholz schließt: Es ist sehr zu wünschen, daß die Erkenntnis die Leser findet, die sie verdient. Aber die laute Kriegserklärung gegen die Metaphysik und den Apriorismus! Ich habe diese Erklärung nicht mit unterschrieben. Ich stehe ihr so fern, daß ich sie ernstlich bedaure. Umso eher werde ich nun erst recht diesen Blättern die Leser wünschen dürfen, auf die sie trotz dieser Kriegserklärung im ernstesten Sinne ein Anrecht haben: die Leser, die nicht auf Schlagworte starren, sondern so ungeblendet sind, daß sie das Positive sehen, was dieser herbe Positivismus ihnen vor Augen zu stellen hat. (Scholz 1931b, 1840f.)

Man fragt sich: Was ist da geschehen? Und was hatte es für Folgen?36 Carnaps Tagebücher und der Briefwechsel zwischen Scholz und Schlick zusammen liefern zur Antwort auf diese Frage manches Material, auch wenn es nicht immer leicht einzuschätzen ist.

5

Rückblende 1: Scholz und Schlick ab 1919

Vielen Briefen von Scholz stehen wenige von Schlick gegenüber. Das ist einerseits im Schlick-Nachlass, beim Empfänger, zu erwarten. Vielleicht finden sich im Scholz36

Die Tirade gegen den Positivismus in Scholz 1943 kann an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden.

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Nachlass noch Schlick-Briefe. Vielleicht sind Briefe von Schlick an Scholz im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Wahrscheinlich hat aber der in allen Richtungen sehr aktive Korrespondent Scholz einfach mehr Briefe an Schlick geschrieben als umgekehrt. Der Kontakt zwischen Scholz und Schlick entsteht 1919 aus etwas Fanpost von Scholz zur Allgemeinen Erkenntnislehre, dem großen Werk des frühen Schlick.37 Das ist noch kein Logischer Empirismus. Ob vor oder nach dem Erweckungserlebnis mit den Principia, jedenfalls wird 1921 in Kiel eine Professur frei. Scholz will einen klaren und naturwissenschaftsaffinen Kollegen. Und er holt Schlick gegen größte Widerstände, aber u. a. mit Empfehlung Albert Einsteins, auf dessen erste Professur nach Kiel – in einem wahren Berufungskrimi38 mit Showdown: Heute endlich ist es geschehen. Sie stehen als einziger nach u. neben Jaspers auf unserer Liste. Ich habe noch einmal im Kugelregen gestanden, aber schließlich doch nicht umsonst. Es versteht sich, daß ich im Stillen weiterwirke, so gut ich kann, u. vor allem die Herren Planck u. Einstein noch einmal in Bewegung setze.39

Man stellt sich, enttäuscht, darauf ein, dass Karl Jaspers das Angebot annimmt.40 Aber er sagt ab, und Scholz kann Schlick schreiben. Sie werden berufen! Ich habe gestern mit dem Minister [...] gesprochen [...] Hoffentlich geht es nun auch wirklich mit Lichtgeschwindigkeit, nachdem wir so lange gewartet haben.41

Scholz ist auf Wolke 7: So schön ist seit langem kein Sonntagmorgen gewesen, wie dieser, der mir – nein, ich muß mich verbessern: der uns beiden nach so viel Zweifel u[nd] Hoffnung den Erntegruß der Erfüllung gebracht hat. Seien Sie uns nochmals herzlich willkommen.42

Und er ist tieftraurig, als er Schlick gleich wieder nach Wien ziehen lassen muss.43 Wenigstens können sie noch zusammen ein Seminar über Relativitätstheorie halten 37

Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 14.4.1919: SBW 104. Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.2.1921: SBW 203; 25.3.: SBW 209 („sechs harte Kommissionssitzungen“); 28.4.1921: SBW 212; Juni (undatiert): SBW 220; 3.9.1921: 238; 10.9.: SBW 243 („Sie werden berufen!“); 21.9.1921: SBW 247. 39 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 28.4.1921: SBW 212. 40 Moritz Schlick an Heinrich Scholz, Juni 1921 (keine Tagesangabe möglich): SBW 220; Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.6.1921: SBW 221. 41 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 10.9.1921: SBW 243. 42 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.10.1921: SBW 250 („Erntegruß“) 43 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 8.4.1922: SBW 271; 29.6.1922: SBW 286 (Abschiedsgruß und Bemerkungen zum Sinn des Lebens); vgl. auch Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 27.5.1923: SBW 329; und undatiertes Fragment 1923/24: SBW 357. 38

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(vgl. Iven 2013, 429) und offenbar haben sie zusammen in dieser kurzen Zeit moderne Logik gelernt (vgl. Lemke 2019, 36). Zu Scholz’ Stil in persönlichen Briefen gehört es, mit Anspielungen auf klassische Musik und die mit ihr vertonten Texte, oder auch auf Shakespeare, authentisch und individuell zu kommunizieren: Von dem Crescendo Ihrer persönlichen Existenz nehme ich mit herzlichem Anteil Kenntnis. Daß es von häuslichen u[nd] hausväterlichen Sorgen durchkreuzt wurde, ist uns recht herzlich leid u[nd] philosophisch nur so zu rechtfertigen, daß selbst Faust die Dämonen nicht los geworden ist. An Wien werden wir Sie nun ja wohl hingeben müssen. Ich denke an die Arie aus der Matthäuspassion, die wir am Sonnabend hören werden: Blute nur, du liebes Herz.44 Meine Symmetrie-Achse ist seit vier Wochen Berlin, wo ich mich nach diesem anstrengenden „Sommer unseres Mißvergnügens“ in den großen Museen [...] Bibliotheken [...] u. im Umgang mit inspirierten u. inspirierenden Menschen intensiv erfrischt habe [...] Wie sehr Sie mir fehlen, klingt mir fast täglich in dem alten Lied entgegen: Ich hatt' einen Kameraden.45

Wie nahe Scholz sich Schlick fühlt, wird deutlich aus einem langen und erschütternden Brief über den Tod seiner ersten Frau, den Scholz 1924 ausgerechnet an Schlick schreibt.46 Ob die Wiener Universität wohl einem Extraordinarius einen Ruf erteilt hätte? Falls nicht, so ist Scholz nach dem kontrafaktischen Kausalitätskriterium beteiligt an der Entstehung des Wiener Kreises.

6

Rückblende 2: Scholz und Carnap 1922–1929

Treiben wir das Gedankenspiel noch etwas weiter: Wäre Schlick in Kiel geblieben, so hätte es eher einen Kieler denn einen Wiener Kreis gegeben (wenn auch wohl ausgerechnet ohne dessen politische Dimension). Denn 1923 wird Rudolf Carnap in halb Deutschland vorstellig mit Habilitationsplänen,47 auch bei Scholz in Kiel,48 mit

44

Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 8.4.1922: SBW 271. Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 12.10.1922: SBW 301. Zum „Sommer unseres Mißvergnügens“ vgl. den Beginn von Shakespeare, Richard III., „Now is the winter of our discontent made glorious summer by the sun of York“. 46 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 5.9.1924: SBW 377; vgl. auch Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 19.3.1925: SBW 399. 47 Zum Kontext: Damböck 2021. 48 Vgl. Damböck 2021, 14. Aber noch nicht in Münster. 45

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dem er seit 1922 in Briefkontakt steht.49 Es geht auch darum, dass Carnap längerfristig in Kiel sein könnte. Scholz rät ihm jedoch davon ab, von seiner Familie getrennt zu sein.50 Carnap wird 1925 in Wien habilitiert, unter Schlicks Regie. Ein anderer Grund, weshalb Scholz gezögert haben mag, lässt sich aus einer Anfrage von Scholz bei Schlick 1925 erschließen:51 Carnap konnte nach Scholz’ Kenntnisstand nicht genug Griechisch und wäre deshalb seiner Ansicht nach schwer durchsetzbar gewesen. Das verwundert, denn Carnap berichtet, er habe ab 1898 das Gymnasium in Barmen besucht, „dessen Lehrplan auf den klassischen Sprachen aufbaute“.52 1923 will Hans Reichenbach eine „Zeitschrift für philosophische Forschung“ gründen, und zwar community-übergreifend, Hauptsache systematisch.53 Er setzt sich mit Schlick darüber auseinander, wer mitmachen darf. Heidegger und Jaspers? Schlick ist dagegen: Scholz bitte!54 Reichenbach meint, Scholz neige zur fachlichen Selbstüberschätzung, könne aber vor allem nicht glaubwürdig und als Gutachter die Heidegger oder Jaspers zugedachte Rolle des Geisteswissenschaftlers übernehmen.55 Scholz sitzt zwischen den Stühlen. Als wirklich als einen der Ihren vermag Reichenbach Scholz auch nicht anzuerkennen, wenn er 1925 über seine erste Begegnung mit ihm an Carnap schreibt: Ich war kürzlich in Hamburg und Kiel. Dort habe ich nun auch Scholz kennengelernt. Ich habe einen sehr starken Eindruck von ihm erhalten. Ich glaube, wir können froh sein, daß ein solcher Mensch existiert, der ganz vom andern Lager kommt und doch so viel Verständnis für unsere Arbeiten aufbringt.56

Im August 1928 erscheint Carnaps Der logische Aufbau der Welt.57 Einige Wochen zuvor hat Scholz sofort nach seiner Entscheidung für Münster massiv versucht, Einfluss auf seine eigene Nachfolge in Kiel zu nehmen. Er hat sich vehement für Carnap

49

Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 11.10.1922, CBW 37. CTB 25.10.1923, 2.10.1923. 51 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 28.5.1925: SBW 407. 52 Carnap 1993, 6. Carnap berichtet, Mathematik und Latein seien seine Lieblingsfächer gewesen. 53 Hans Reichenbach an Moritz Schlick, SBW 24.10.1923 (Bericht über Verlagsbesprechung vom 19.10.1923). Das Projekt scheitert an mangelndem geschäftlichen Interesse der kontaktierten Verlage: Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 30.12.1924, CBW 87. 54 Moritz Schlick an Hans Reichenbach, 1.11.1923: SBW 349; auch noch 20.1.1924: SBW 360. 55 Hans Reichenbach an Moritz Schlick, 3.11.1923: SBW 350. 56 Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 2.2.1925, CBW 91. 57 Carnap 1928a. Zum Datum: Damböck 2021. 50

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eingesetzt.58 So etwas gelingt nie.59 Noch einmal kontrafaktisch gesprochen: Wäre es gelungen, so hätte Scholz die Hochblüte des Wiener Kreises verhindert.    Im April 1928 war der technisch höchst anspruchsvolle Text des Aufbau fertig (vgl. Damböck 2021). Zur selben Zeit drängen Waismann und Neurath Carnap, nicht mehr über den Gottesbegriff zu schreiben, das sei Schnee von gestern und kein Thema.60 Auch so, durch bullying, funktionieren wissenschaftliche Gemeinschaften. Carnap hat sich seinen eigenen Kopf bewahrt und in „Überwindung der Metaphysik“ 1931 weiter die Religionskritik zum Thema gemacht.61 Ein Vorwort zum Aufbau will geschrieben sein, eine Erklärung, was für ein Programm damit verfolgt wird. Es ähnelt schon verblüffend dem „Manifest des Wiener Kreises“ von 1929 (Carnap et al. 1929). Selbst die Schlusspassagen beider Texte gleichen sich in ihrem Gedankengang zur Verbindung zwischen Logischem Empirismus und Architektur. Nur politisch ist das „Manifest“ noch deutlicher links, wohl durch Neurath und zum Missfallen des nicht an der Abfassung beteiligten Schlick. Neurath wertet das gerade fertiggestellte Vorwort zum Aufbau im Mai 1928 als Bekenntnis, was Carnap zufrieden vermerkt.62 Freunde geben Heimat. Scholz liest den Aufbau und verfasst darüber – und nebenbei über Carnaps Broschüre Scheinprobleme (Carnap 1928b). 1929 eine ausführliche Rezension für die Deutsche Literaturzeitung, die im März 1930 erscheint (Scholz 1930). Mitte September 1929 schreibt er darüber an Schlick.63 Großes Lob; eine ungewöhnliche Assoziation: Scholz hofft, bei genauerer Lektüre im Aufbau eine Aktualisierung der Dialektik Platons zu finden.64 Von Schlick hält Scholz den anderen Scholz ausdrücklich fern: Keine Sorge, sein neues Bändchen über Eros und Caritas (Scholz 1929) lege er nicht bei.65 Möglicherweise unterschätzt er dabei den Interessenshorizont und die Toleranz der Wiener Freunde. Die Herausgeber des Carnap-Briefwechsels vermuten,

58

Heinrich Scholz an Moritz Schlick, April 1928: SBW 560; Carnap ist darüber informiert: CTB 28.4.1928. 59 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.5.1928: SBW 561; CTB 23.5.1928), auch Griechisch ist wieder ein Faktor: Heinrich Scholz an Moritz Schlick, April (keine Tagesangabe möglich) 1928: SBW 560. 60 CTB 30.4.1928. 61 Carnap 1931. Allerdings ist, soweit ich weiß, der in Carnap et al. 1929, 63, bereits als in Vorbereitung beworbener „gemeinverständlicher Vortrag“ Carnaps mit dem Titel „Von Gott und Seele. Scheinfragen der Metaphysik und Theologie“ nicht im Druck erschienen. 62 CTB 26.5.1928. 63 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.9.1929: SBW 623. 64 Scholz 1930, 591 § 2. Vgl. auch Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 8.4.1922: SBW 271. 65 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.9.1929: SBW 623.

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dass es sich bei einem ausgeliehenen Buch, das Otto Neurath im Februar 1935 zusammen mit einem Brief an Carnap zurücksendet, um Scholz’ 1934 erschienenes Büchlein Goethes Stellung zur Unsterblichkeitsfrage handelt.66 Scholz’ 1929 erschienene Rezension von Carnaps Aufbau ist ein seltsamer Text: viel logisches Fachchinesisch, so dass Uneingeweihte nicht verstehen können, worum es in dem Buch geht. Der Rezensent räumt ein, dass er das rezensierte Buch selbst eigentlich noch nicht gründlich genug gelesen hat – solche Ehrlichkeit ist selten! – und findet damit zum gesperrt gedruckten Lob: [D]ieses Buch muß erst einmal durchbuchstabiert werden, ehe es kritisiert werden kann; und nichts Höheres kann zu seinem Lobe gesagt werden, als daß es in jedem Fall dieser erheblichen Mühe wert ist. (Scholz 1930, 591)

Scholz’ Einschätzung von Scheinfragen ist in einem Punkt kritisch: Realismus oder Idealismus, das sei doch eine echte Frage. Das zeige die Besonderheit des Cogito (vgl. Scholz 1930, 591f.), die Scholz zur selben Zeit stark beschäftigt (1931c). Das Vorwort zum Aufbau bleibt unerwähnt. Dabei hat Scholz nicht über das Vorwort hinweggelesen. Ende Oktober 1929 treffen sich Scholz und Carnap in Berlin – inzwischen67 ist in Davos einiges passiert, das Michael Friedman als „parting of the ways“ zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie aufgearbeitet hat (Friedman 2000). Scholz lobt Carnap für den Aufbau, kündigt die Rezension an.68 Im Gespräch äußert er sich zum Vorwort. Aber nicht so, dass Carnap es als inhaltliche Kritik notiert. Er hält fest, dass Scholz es für einen strategischen Fehler hält, einen potentiellen Karrierekiller.69 Aber da ist es schon gedruckt. Und das „Manifest“ ist im Erscheinen begriffen.

7

Schlick schreibt 1931 an Scholz – aber schickt er es ihm?

Wie anders dann, wie überraschend 1931 die auf das Vorwort des Aufbaus fokussierte scharfe inhaltliche Kritik in der Logikgeschichte. Wirkt Scholz’ Angriff schärfer als beabsichtigt? Im Februar 1931 lobt Scholz in einem Brief Schlick für seine Ethik (Schlick 2006 [1930]) und noch mehr für seinen Aufsatz zur Kausalität.70 Er schickt ihm die Logikgeschichte und die Erkenntnis-Rezension.

66

Anmerkung zum Brief von Neurath an Carnap vom 11.2.1935: CBW 1090. 17.3. bis 6.4.1929. 68 CTB 22.10.1929. 69 CTB 23.10.1929. 70 Heinrich Scholz an Moritz Schlick, 16.2.1931: SBW 695. 67

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Am 30. November 1931 schreibt Schlick an Scholz.71 Das Dokument ist in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich: Schlick schreibt offenbar aus eigenem Antrieb, nicht antwortend. Es ist lang: kein Durchschlag, sondern vier eng mit Schreibmaschine beschriebene Blätter, ca. 22 x 26 cm, links gelocht, nur einmal in der Mitte gefaltet; auf der dritten Seite ist ein Wort unlesbar gemacht und durch handschriftliches „sondern“ am Rand korrigiert; keine Unterschrift. Schlick nimmt sich während eines Aufenthalts in Berkeley die Zeit, diesen Text zu schreiben. Wir haben ihn als völlig ausgearbeiteten Text, aber eben doch nur als Briefkonzept. Es befindet sich im Schlick-Briefwechsel. Einen entsprechenden Brief habe ich im Nachlass von Heinrich Scholz nicht auffinden können. Auch er könnte verbrannt sein. Aber es kann auch sein, dass Schlick das Konzept nie nochmals abgetippt und an Scholz abgeschickt hat. Es muss daher offenbleiben, wer zuerst brieflich verstummt ist – ja angesichts der unsicheren Überlieferung sogar, ob es zu einem völligen Ende des direkten Briefwechsels kam. Liest man Schlicks Dokument, so liegt dies aber doch recht nahe. Der Ton ist freundschaftlich, ja so freundschaftlich, dass man schon ahnt, dass Schlick etwas zu verpacken hat, wenn er zur Sache kommt; sinngemäß: in aller Freundschaft, Scholz möge doch nicht wegdriften. In der Anrede „Mein lieber Herr Scholz“ ist das Wort „lieber“ unterstrichen. Schlick übt dann Punkt für Punkt Kritik an der zitierten Passage in Scholz’ Logikgeschichte und an der Rezension der ersten Hefte von Erkenntnis. An dieser Stelle lässt sich nichts dazu sagen, ob sie im Detail überzeugend ist. In Stichworten zusammengefasst lautet Schlicks Kritik: (1) Schlick lässt es nicht als Argument für die Vereinbarkeit von Logik und Metaphysik gelten, dass Leibniz zugleich Logiker und Metaphysiker war, und argumentiert dagegen mit einem bemerkenswerten Vergleich: Dass Kepler zugleich Astronom und Astrologe war, sei auch kein Argument für die Vereinbarkeit von Astronomie und Astrologie. (2) Tatsächlich, so Schlick, folge der Empirismus, als unvereinbar mit der Metaphysik aufgefasst, aus der philosophisch recht verstandenen und angewandten modernen Logik. Schlick argumentiert dafür mit semantischen Grundsatzüberlegungen in engem Anschluss an Wittgensteins Tractatus (wie sie Wittgenstein selbst 1931 schon nicht mehr unterschrieben hätte). (3) Damit, wann eine Aussage verifiziert sei, habe es doch noch nie ein Problem gegeben. (4) Wieso er, Schlick, über Ethik schreiben dürfe, erkläre er im Vorwort zur Ethik. Schlick unterscheidet dort: Was darin keine Aussagen sind, sind Anregungen zum

71

Moritz Schlick an Heinrich Scholz (gerichtet), 30.11.1931: SBW 733.

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Nachvollzug von geistigen Akten, was Aussagen sind, ist Psychologie (vgl. Schlick MSGA I/3, 350f.). (5) Die Mathematik ist nun einmal a priori und tautologisch. Scholz hätte, wenn er einen entsprechenden Brief denn bekommen hat, den freundlichen Ton aufgreifen können, in dem Schlick von seinen Fahrstunden unter der Sonne Kaliforniens72 berichtet. Weitere Briefe zwischen beiden sind nicht bekannt. Als ein Prüfungskandidat Schlick 1933 mit der Frage nervt, aus welchem Lehrbuch man denn Logik lernen könne, empfiehlt Schlick trotz allem die Logikgeschichte von Scholz.73 Darauf, dass Scholz einen persönlichen Hass auf Schlick entwickelt hat, habe ich in den hier berücksichtigten Quellen keinen Hinweis gefunden. Das ist erstaunlicherweise erwähnenswert. Denn kein geringerer als der 88-jährige Karl Popper hat sich einmal im Hinblick auf Schlick irritierend über Heinrich Scholz geäußert,74 den er, sich kulturell weit von ihm distanzierend, in die Schublade „professioneller Christ“ einordnet. Schriftstücke aus dem Nachlass von Scholz legen meiner Ansicht nach Zweifel an Poppers Darstellung nahe. Aber das ist eine andere Geschichte, die den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

8

Reichenbachs Rezension von Scholz’ Logikgeschichte (1931)

Hans Reichenbach, in Berlin tätig, aber dem Wiener Kreis nahe stehend, zusammen mit Carnap Begründer von Erkenntnis, hat Scholz’ Logikgeschichte sogleich 1931 im zweiten Jahrgang der Zeitschrift rezensiert. Man wüsste gerne mehr über die redaktionellen Vorgänge. Jedenfalls ist Reichenbachs Rezension außerordentlich positiv. Reichenbach stellt zunächst ausführlich Kriterien für gute, nämlich systematisch motivierte, Philosophiegeschichtsschreibung auf, die meiner Ansicht nach auch heute noch bedenkenswert sind. Es sind im Hinblick auf die Fragestellung, wie es die Logischen Empiristen mit der Philosophiegeschichte gehalten haben, beachtliche, weil programmatische Worte.    Man hat den Vertretern einer auf die exakten Wissenschaften gestützten Philosophie häufig den Vorwurf gemacht, daß bei ihnen die Geschichte der Philosophie zu kurz 72

Moritz Schlick an Heinrich Scholz, 30.11.1931: SBW 733. Moritz Schlick an Franz Sigloch 21.3.1933: SBW 815. Ist der Rat an den zu Schlicks Missfallen in der Themenwahl konservativen Prüfling ernst gemeint? Im selben Satz empfiehlt er das veraltete Logikbuch von Jevons. 74 Stadler 1997, 540. Vgl. auch Stadler 1997, 416. 73

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käme. Ein solcher Vorwurf heißt, die Grundlagen exakten philosophischen Denkens entscheidend mißverstehen. Es wird ja nur behauptet, daß die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Philosophie nicht durch Reflexion über ihre historischen Vorgänger, sondern allein aus jener Versenkung in die Sache geschaffen werden kann, die den exakten Denker kennzeichnet. Daß aber darüber hinaus auch Geschichte der Philosophie ein wertvolles Objekt wissenschaftlicher Forschung sein kann, das ist niemals bestritten worden; im Gegenteil möchten wir behaupten, daß gerade erst vom Standpunkt eines philosophischen Sachwissens eine Geschichte der Philosophie möglich wird, die nicht nur philosophische Märchen zu bunter Folge aneinander reiht, sondern überall da, wo sich ein wirklicher Gedanke aus dem bunten Bild der Meinungen heraushebt, ihn zu erkennen vermag und so erst eine wirkliche Geschichte des Gedankens zu schaffen in der Lage sein wird. (Reichenbach 1931, 471)

Reichenbach führt dann aus, inwiefern Scholz mit seiner Logikgeschichte den von ihm aufgestellten Kriterien gerecht wird:    Den Beweis, daß eine solche neue Auffassung des Problems der Geschichte der Philosophie möglich ist, hat Heinrich Scholz in dieser kleinen „Geschichte der Logik“ geliefert. Denn hier wird nicht nur mit gewaltigem Fleiß ein außerordentliches Material an historischem Wissen zusammengetragen, sondern über diese notwendige Bedingung hinaus wird zum erstenmal das scharfe Sachwissen der modernen Logistik wie ein Scheinwerfer auf die Geschichte der Logik eingestellt; aus dem Moderduft alter Folianten heben sich dadurch die wenigen Stellen echter Forschung und echter logischer Erkenntnis in kristallenem Glanze heraus, und wir bekommen zum erstenmal eine Vorahnung dessen, wie eine Geschichte der Philosophie einmal aussehen wird, wenn wir erst einmal eine Philosophie besitzen werden. (Reichenbach 1931, 471)

Reichenbach lässt anklingen, dass Scholz auch der Logistik nicht kritiklos gegenübersteht. Aber er geht nicht etwa auf Scholz oben zitierten scharfen Angriff ein, sondern zitiert eine sehr viel mildere Passage, in der Scholz den Punkt macht, dass Kenntnisse der modernen Logik für gutes Philosophieren eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung sind. Dazu kann Reichenbach leicht feststellen, dass das eigentlich keine Kritik ist, weil man sich darüber ohnehin einig ist. Etwas indirekt nimmt Reichenbach Scholz’ Kritikpunkt auf, die Logischen Empiristen würden die Logik schon als abgeschlossen ansehen und die Formalisierbarkeit mit Russells Logik als Prüfstein für sinnvolle Rede ansehen. Einerseits ist es ihm wichtig, festzuhalten, dass sie das nicht tun; andererseits stimmt er aber auch mit Scholz darin überein, dass man das nicht tun sollte.            Wichtig[..] erscheint mir [...] der [...] Hinweis, daß die Logistik auch auf dem Gebiet des logisch Formulierbaren noch keine letzte Stufe darstellt. Denn es scheint mir ein

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wesentliches Ergebnis aller strengeren Untersuchungen zur Philosophie der Physik zu sein, daß die Logik nicht ausreicht, um das physikalische Denken in seiner vollen Struktur zu erfassen; und ich glaube, daß die Wahrscheinlichkeitslogik, welche Scholz [...] mit leider noch etwas verhaltenen Worten andeutet, bereits einen solchen Schritt über die klassische Logik hinaus bedeutet. (Reichenbach 1931, 472)

Reichenbachs Überleitung zum abschließenden Kompliment lässt staunen. Ob man solche Logik allgemeinerer Art als Metaphysik bezeichnen soll, erscheint mir eine Geschmacksfrage, in der ich mich persönlich für das Gegenteil entscheiden würde; sicher aber ist das eine, daß ein Schritt über die Logistik hinaus nur demjenigen gelingen wird, der die Logistik genau beherrscht und ihre Leistungen begriffen hat – gerade so wie auch diese Geschichte der Logik nur von einem solchen echten Logistiker geschrieben werden konnte. (Reichenbach 1931, 472)

Den Konflikt lösen kann Reichenbachs Text kaum. Es ist kaum anzunehmen, dass Carnap und Neurath seine Appropriation des von ihnen im „Manifest“ sorgfältig als Kampfbegriff gepflegten Wortes „Metaphysik“ für eine gute Idee hielten. Und konnte Scholz zufrieden damit sein, dass Reichenbach beansprucht, darüber zu entscheiden, wer ein echter Logistiker ist und was man allenfalls in Zukunft Metaphysik nennen darf? Jedenfalls handelt es sich bei letzterem nicht um das, was der auf Leibniz’ Spuren wandelnde Scholz unter Metaphysik verstand.

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Carnap und Scholz, 1931–1955

Wie reagiert Carnap auf Scholz’ gedruckte Äußerungen? Zweifellos entspannter als Schlick. Er lässt neutral Anfang Dezember 1931 in einem Brief an Schlick fallen, Scholz habe ihm doch sicher auch seine Logikgeschichte geschickt.75 In einem anderen Brief nimmt er allerdings kein Blatt vor den Mund: Von Scholz erschien eine „Geschichte der Logik“, die teilweise ganz nett ist; er streicht mit mehr Begeisterung als Sachverständnis die Logistik sehr heraus.76

75

Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 7.12.1931: SBW 734, CBW 523, VALEP: ASP Carnap Collection, box 29, folder 29, Schlick, Moritz 1931-32, File 28. 76 23.12.1931: CBW 526; VALEP: ASP Carnap Collection, box 29, folder 20, Neurath, Olga 193135, DSC 9895. Der Brief ist von Carnap und seiner Frau Ina zusammen an Otto Neuraths Frau Olga gerichtet, die selbst fachlich in Mathematik und Wissenschaftstheorie versiert war (vgl. Sandner 2014, 186).

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Es kommen schlimme Zeiten. Man hält Kontakt, Schüler von Scholz tauchen bei Carnap in Prag auf, unter anderen Elli Heesch.77 Im April 1935 besucht Carnap Scholz in Münster. Schlick bittet um einen Gruß.78 Neurath, schon in den Niederlanden, ist neugierig, was Carnap von der anderen Seite der Grenze zu berichten haben wird: Ich bin auch sehr gespannt, was Du über die Scholzleute erzählen wirst. Eigenartiges Gemisch von Logistik und Metaphysik. Du weißt ja, ich erwarte: METAPHYSICA MODO LOGISTICO DEMONSTRATA.79

Neurath formuliert sein Vorurteil in Anlehnung an den originalen Titel von Spinozas Ethik, „Ethica more geometrico demonstrata“. Ganz verkehrt ist es nicht, wie er da von seinem Standpunkt aus gesehen Befremdliches beschreibt. Aber ganz richtig erst recht nicht: (1) Dies ist nicht, wie die „Scholzleute“ forschen. Ihr Schwerpunkt liegt stärker auf der mathematischen Logik als derjenige der Logischen Empiristen. (2) Es mag in einem bonmot Scholz’ individuelle wissenschaftliche Agenda beschreiben. Aber Scholz selbst hat zwar immer Verbindungen zwischen moderner Logik und Metaphysik gesehen, aber niemals eine Ableitungsbeziehung. Sonst wäre ja die Logik doch hinreichend fürs gehaltvolle Philosophieren. Carnap übernachtet privat bei Scholz, genießt die Gastfreundschaft.80 Man fachsimpelt über Konventionalismus, Carnap mag die Bibliothek des Philosophischen Seminars.81 Da stehen ja alle Werke Freges und der polnischen Logiker! Wie sehr Scholz Carnaps Arbeit schätzt und in welchen Zwängen er inzwischen ist, zeigt seine Reaktion auf eine Voranfrage aus dem Jahr 1935 zu möglichen Kandidaten für die Besetzung einer Professur: Der philosophische Laden für exaktes Denken in Ihrem und in unserm Sinne ist nach meiner Kenntnis der Dinge völlig ausverkauft und z.Zt. geschlossen. [...] Carnap steht turmhoch über allen andern [...] Aber nennen können Sie ihn nicht, wenn ich Sie beraten darf. Denn den politischen Bedingungen des 3. Reiches genügt er nicht. Sie würden sich nur Verdruss zuziehen oder zu einem Rückzug genötigt sein, wenn Sie sich

77

CTB 30.4., 12.5., 21.6., 20.11.1934. Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 16.4.1935: SBW 940, CBW 1143. 79 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 30.4.1935: CBW 1148; VALEP: ASP Carnap Collection, box 29, folder 09, Neurath, Otto, 1935, DSC 9331. 80 CTB 16.4.1935. 81 CTB 17.4.1935. 78

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für ihn entscheiden. Jedenfalls ist dies meine Meinung; und Sie werden nicht daran zweifeln, dass ich mir meinen Rat in diesem für mich so wichtigen Falle eher noch etwas genauer überlegt habe, als ich ihn mir sonst überlegt haben würde.82

Carnap denkt zu dieser Zeit natürlich nicht daran, wie es ihm gelingen kann, nach Deutschland zu gehen, sondern daran, wie es ihm gelingen kann, Deutschland zu entgehen.    Die Logischen Empiristen organisieren mit großer Anstrengung einen Kongress in Paris im September 1935. Reichenbach, längst nicht mehr in Berlin, schreibt im Vorfeld an Carnap:          Ich glaube doch, daß man Scholz einladen sollte zu einem Vortrag in einer Fachsitzung. Seine Bemühungen um die Logistik halte ich für sehr ehrlich, und schließlich ist er der einzige deutsche Ordinarius, den wir einladen können. Übrigens glaube ich kaum, daß er kommen wird.83

Er kam – nach schier endlosen Bemühungen um offizielle Einladungen für die „Scholzleute“ und um Abstracts von ihnen84 –, stritt sich, wie Carnap in seinem Tagebuch notiert, mit Reichenbach über das Konferenzprogramm und vertrug sich wieder mit ihm.85 Gibt es eine Erklärung für die unterschiedlichen Reaktionen von Schlick und Carnap auf die Kritik am Logischen Empirismus, die Scholz 1931 mit so überraschender Vehemenz vorgebracht hat? Ohne mehr Material höchstens eine fallible Teilhypothese, die dennoch ausgesprochen sei. Carnap hat die Begegnung mit der praktischen Religiosität seiner Mutter immer als wertvolle Erfahrung angesehen (1993). In einem anderen Text (ebenfalls im vorliegenden Band) habe ich dafür plädiert, dass Carnap sich in der Religionsphilosophie nur gegen eine moderne Theologie richtet, die es der Metaphysik (in seinem Sinne) gleichtut und sinnlos wird, indem sie zentralen Wörtern den empirischen Gehalt nimmt – während er durchaus manche sinnvollen theologischen Sätze anerkennt, von deren empirischer Falsifikation er überzeugt war. Liest man theologische Texte von Scholz, die er ja immer weiter verfasst hat, so passen sie nicht ins Feindbild des „Manifests“ und ähnlicher Texte. Sie 82

Heinrich Scholz an Kurt Reidemeister, 14.12.1935, HSN 119,043. Ich danke Birgit HeitfeldRydzik für den Hinweis auf dieses Dokument. 83 Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 8.6.1935: CBW 1171; VALEP: ASP Reichenbach Collection, box 13, folder 41, Carnap 1930-1938, DSC 7709. 84 Otto Neurath an Carnap, 6.7.1935: CBW 1190; VALEP: ASP Carnap Collection, box 29, folder 09, Neurath, Otto, 1935, DSC 9296; Otto Neurath an Rudolf Carnap, 8.7.1935: CBW 1194; VALEP: ebd., DSC 9288; Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10.6.1935: CBW 1197; VALEP: ebd. DSC 9286; Otto Neurath an Rudolf Carnap, 15.7.1935: CBW 1200; VALEP: ebd., DSC 9281. 85 CTB 17.9.1935, 19.9.1935.

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gehören nicht zur nebulösen modernen Theologie im Sinne der Logischen Empiristen, und Scholz ist das wichtig. Man kann verstehen, dass das Feindbild ihn getroffen hat. Er hat öffentlich zurückgeboxt. Vielleicht hatte Carnap ein dickeres Fell, Schlick eine dünneres, weil Scholz ihm einmal noch näherstand. Aber vielleicht konnte Carnap auch bei einem Zusammenprall von Kulturen – sofern es sich denn darum handelt – aufgrund seiner Erfahrungen mit kultureller Differenz in der eigenen Familie besser umgehen. Aus den Nachkriegsjahren sind im Scholz-Nachlass einige nicht bloß freundliche, sondern freundschaftliche Briefe Carnaps an Scholz überliefert.86 Einer von ihnen enthält bemerkenswerte Vorkommnisse von nicht zur Erwähnung, sondern zur Distanzierung gebrauchten Anführungsstrichen, die in Fällen schlechter Verwendung zu Recht als shudder quotes oder scare quotes gescholten werden: Ich bin immer wieder erstaunt darüber, aus Ihren Briefen zu sehen, mit welcher unermüdlichen Zähigkeit Sie trotz aller körperlicher Beschwerden weiter arbeiten. Ich glaube allerdings auch, dass das Interesse an Ihrer Arbeit wiederum Ihnen hilft, Ihre Erkrankungen zu überstehen. Wie es der „Seele“ geht, hat ja doch enorm viel zu tun mit dem Verlauf der physiologischen Prozesse! Das habe ich sehr an mir selbst gesehen. Mit herzlichen Grüßen und Wünschen von uns beiden für Sie beide, Ihr Rudolf Carnap […].87

Dass ein Mensch eine Seele hat, dürfte zu Scholz’ Überzeugungen gehört haben, nicht aber zu denen von Carnap. Mit den Anführungsstrichen gelingt es Carnap, einen Dissens von persönlicher Bedeutung für Scholz anzuerkennen und ihn durch sie zugleich in Freundschaft zu überbrücken. 

Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt [1928a]. Berlin 1928. Carnap, Rudolf: Scheinprobleme der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit [1928b]. Berlin 1928. Carnap, Rudolf: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2/1 (1931), 219–241. Carnap, Rudolf: Intellectual Autobiography. In: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap (The Library of Living Philosophers, Bd. XI). La Salle/Illinois 1963, 3–84. 86

24.5.1947: HSA KO-04-0463; HSN 111,002; 10.7.1955: HSA KO-05-0757; HSN 111,004; 29.1.1955: HSA HB-02-1079; HSN 111,003. 87 Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 29.1.1955: HSA HB-02-1079; HSN 111,003.

Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma?

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Niko Strobach

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Zusammenprall von Kulturen oder geteiltes Paradigma?

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Programmatisches zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein Ingolf Max

Schlick und Wittgenstein strebten danach, die scheinbar unterschiedlichsten Themen letztlich zu einem jeweils eigenständigen philosophischen Gesamtwerk zu führen. Die Schriften beider Denker weisen für sich genommen bereits eine enorme Vielfalt auf, wobei die Texte des Nachlasses dominieren (Wittgenstein) bzw. sich noch in der Erschließung befinden (Schlick). Die Herausforderungen an eine adäquate Gesamtdarstellung der Komplexität des Verhältnisses beider Denker sind enorm. Es ist zu erwarten, dass eine solche umfassende Studie auch zu Neubewertungen bzw. Korrekturen bereits vorliegender Interpretationen führt. Insbesondere gilt es kritisch zu hinterfragen, ob Wittgensteins Einfluss auf Schlick nicht zuweilen überschätzt wird und ob die Frage nach der Eigenständigkeit im Philosophieren Schlicks gerade unter der Einbeziehung des Gesamtwerkes von Wittgenstein aus einer neuen Perspektive betrachtet werden kann. Zunächst werden einige Dimensionen der Komplexität des Verhältnisses skizziert. Wir betrachten dann die aktuelle Datenlage bzw. deren Perspektiven, vor allem mit Blick auf die Moritz Schlick Gesamtausgabe. Es ist zu hoffen, dass deren zunehmende Präsenz analog zur Situation der Wittgenstein-Forschung in den letzten Jahrzehnten dazu beiträgt, in Schlick nicht nur einen Erkenntnistheoretiker bzw. einen Wissenschaftstheoretiker zu sehen, sondern seine gesamte Philosophiepersönlichkeit in den Blick zu nehmen. Abschließend geben wir einige Beispiele möglicher Einflüsse von Schlick auf Wittgenstein.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9_16

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Ingolf Max

Einige Dimensionen der Komplexität des Verhältnisses

Carnap schreibt in seiner Autobiografie: „His [Schlicks] very first book (Erkenntnislehre, 1918) contains many ideas that anticipate the core of later, often more elaborate and formalized developments by other authors.“ (Carnap 1997, 20) Er provoziert damit eine Frage, die immer noch ihrer Antwort harrt: Worin besteht die Eigenständigkeit in Schlicks Philosophieren? Mit den „often more elaborate and formalized developments by other authors“ verweist er wohl u. a. auf sich selbst. Die Eigenständigkeit erscheint hier allerdings vor allem in einem Licht der theoretischen Kreativität bzw. Genialität und nicht so sehr bezogen auf die genuin philosophischen Leistungen Schlicks. Es gibt Belege, die scheinbar zu diesem primär auf Theoriebildung bezogenen Verständnis passen: „[…] so ist Hilbert auf den genialen Gedanken gekommen, die logischen und die arithmet[ischen] Grundbegriffe gleichzeitig, auf einmal und gemeinsam zu begründen“ (Schlick, MSGA II/1.3, 218). Allerdings finden wir bereits in seinem Frühwerk Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre von 1908 nach den Abschnitten „Die Kunst“ (Schlick, MSGA I/3, 155–170) und „Wissenschaft“ (Schlick, MSGA I/3, 170–181) auch den kurzen Abschnitt „Genie“ (Schlick, MSGA I/3, 181–184). Dort heißt es: Das Reich des großen Künstlers und Gelehrten ist nicht von dieser Welt. Sie leben – während sie Schaffende sind – in einem Lande, das aus ihren Träumen, aus dem Spiel ihres Gehirnes geboren ist […]. Dieses Reich der Träume selbst zu schaffen – das ist es, was das Genie ausmacht; hierin muß also auch das Glück des Genies liegen, falls es ein Glück ist, genial zu sein. (Schlick, MSGA I/3, 182)

Nach der Ermordung Schlicks 1936 schreibt Wittgenstein etwa 1939: „Das Genie hat nicht mehr Licht als ein andrer, rechtschaffener Mensch, – aber es sammelt dies Licht durch eine bestimmte Art von Linse in einem Brennpunkt.“ (MS 162b: 24r). Als Carnap Wittgenstein kennenlernt, findet er in seinem Tagebuch ganz andere Worte: „Sehr interessanter, origineller, sympathischer Mensch. Heftig gegen Esperanto, weil ‚nicht gewachsen‘. Künstlernatur.“ (Carnap 2022b, 339, Eintrag Montag, 20. Juni 1927). Schlick selbst schreibt an Einstein am 14.7.1927 über Wittgenstein als Autor des Tractatus: „Der Verfasser, der nicht die Absicht hat, je wieder etwas zu schreiben, ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität […].“ (Iven 2015, 97) Bei einer Gegenüberstellung von Schlick als eigenständigem Denker, der allein „[k]onsequentes Philosophieren im Lichte empirischer Wissenschaften und Logik“ (vgl. Max et al. 2022) im Auge hat und Wittgenstein als „Künstlernatur“ erscheint es

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erstaunlich, dass beide Denker über Jahre hinweg und zuweilen in höchster Intensität miteinander gearbeitet haben (vgl McGuinness, WWK und 2010; Keicher 1998; Iven 2009). Carnap stellt seiner eingangs zitierten Bemerkung den Satz voran: „Schlick’s important philosophical work has unfortunately not found the attention it deserves.“ (Carnap 1997, 20) M. E. hat sich diese Situation in Bezug auf die „attention it deserves“ in den letzten Jahren unter Verweis auf die Moritz Schlick Gesamtausgabe (MSGA)1 und eine Vielzahl äußerst aufschlussreicher Einzelstudien enorm verbessert. Strittig ist allerdings immer noch die Frage, worin die Eigenständigkeit von „Schlick’s important philosophical work“ besteht. Nicht hilfreich ist in dieser Hinsicht sicher die Annahme, dass in Schlicks Philosophieren ein „Umbruch“ (Neuber 2012, 45) bzw. eine „programmatische Neuorientierung“ (Neuber 2012, 219) stattgefunden habe, die primär auf den Einfluss von Wittgenstein (und Carnap) zurückgehen soll. Carnap selbst bietet eine ganze Liste der „later, often more elaborate and formalized developments by other authors“ an: his conception of the task of philosophy as an analysis of the foundations of knowledge and, in particular, of science, in other words, a clarification of meaning; the conception of meaning as given by the rules of the language for the use of a sign; the view that knowledge is characterized by symbolization and is thus fundamentally different from mere experience; the emphasis on the procedure, suggested by Hilbert's formalistic method, of introducing concepts by so-called implicit definitions, i.e., by postulates; the conception of truth as consisting in the unique co-ordination of a statement to a fact; the view that the distinction between the physical and the mental is not a distinction between two kinds of entities, but merely a difference of two languages; the rejection of the alleged incompatibility of freedom of the will and determinism as based on a confusion of regularity with compulsion. (Carnap 1997, 20)

Es fällt sofort auf, dass Carnap Schlicks Gegenentwurf zu den Protokollsätzen, über die Carnap und Neurath im Kontext des Physikalismus diskutiert haben, nicht erwähnt. Für Schlick geht es hier um die philosophische Frage nach dem Fundament der Erkenntnis. Er setzt den Protokollsätzen sein Konzept der Konstatierungen entgegen. Dieser Ansatz kann als ein erneuter Anlauf Schlicks zu einer eigenständigen philosophischen Kreation angesehen werden. Er folgt methodisch Kant und Frege (vgl. Max 2020b), greift den relationslogischen Standpunkt Carnaps auf und bezieht Wittgensteins vielfältige Überlegungen zur Bestimmung von Wortbedeutungen innerhalb von Handlungskontexten ein. 1

https://www.iph.uni-rostock.de/forschung/moritz-schlick-forschungsstelle 14.04.2022].

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Einer Betrachtung des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein kann die Annahme zugrunde gelegt werden, dass beide Denker trotz aller scheinbaren thematischen Vielfalt mit aller Kraft letztlich an ihren eigenständigen ganzheitlichen Projekten gearbeitet haben. Ungeachtet der Vielfalt der dabei ins Auge stechenden Unterschiede waren beide Denker vom Wunsch nach einer allumfassenden Philosophie beseelt, die sich weder auf „formalized developments“ noch auf reine Kunst reduzieren lässt. Beide Philosophen strebten nach einer finalen Kreation, die einerseits in sich geschlossen ist, andererseits allerdings nicht im Verdacht steht, selbst die Form eines formalen Kalküls (Logik) oder einer empirischen Theorie (Physik, Psychologie) anzunehmen. Das Resultat müsste eine systematische Symphonie sein, die genügend Bezüge zur Mathematik, Logik und den empirischen Wissenschaften aufweist, selbst nicht im Verdacht steht mit einer Theorie im strengen Sinne identifiziert zu werden und zudem ethisch und kulturell von hoher Attraktivität ist. Eine weitere Dimension bildet die wechselseitige Bewunderung. Bei Schlick springt diese derart ins Auge, dass sie leider häufig als geistige Abhängigkeit von Wittgenstein interpretiert wurde. Schlick schreibt nach seinem ersten Treffen mit Wittgenstein am 14.7.1927 an Einstein: „[…] die Diskussion mit ihm gehört zu den gewaltigsten geistigen Erfahrungen meines Lebens“ (Iven 2015, 97). Zugleich liefert dieses Dokument aber auch eine treffsichere Abgrenzung der Philosophie von der Physik: „Vielleicht werden Sie sich in Mussestunden gern einmal auf dies Gebiet begeben, wo (im Gegensatz zur Physik) keine eigentliche Erkenntniserweiterung, aber doch intellektuelle Beruhigung zu finden ist.“ (Iven 2015, 98) Wir verfügen von Wittgenstein umgekehrt zwar über keine direkten Belege, lesen aber z. B. bei Engelmann: „Wittgenstein fand in Schlick einen hochstehenden und verständnisvollen Diskussionspartner, wozu auch der Eindruck von dessen hochkultivierter Persönlichkeit beitrug.“ (Zitiert nach McGuinness 1967, 15)

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Schwierige Datenlage & Perspektiven

Um das Verhältnis zwischen Schlick und Wittgenstein fair beurteilen zu können, bräuchten wir mit Blick auf die obigen Bemerkungen zunächst begründete Annahmen zu den Denkstilen beider Philosophen, ohne dabei bestimmte Themenstellungen auszugrenzen. Beispielsweise kommt der Begriff „Erkenntnis“ bei Schlick natürlich nicht nur im Kontext seiner Erkenntnisphilosophie im engeren Sinne, sondern auch in seinen Werken zur Ethik, Natur- und Kulturphilosophie etc. vor. Vom späteren Wittgenstein ist bekannt, dass er innerhalb weniger Sätze die verschiedensten Tätigkeiten in Beziehung setzt, z. B. Schachspielen und Kochen unter dem Aspekt der

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jeweiligen Regeln (vgl. MS 113: 35r–35v, MS 114: 157f., TS 211: 583f., TS 212: 698f. TS 213: 237r, TS 228: 108f., TS 233a: 66f., Max 2020a, 200f., und Max 2017). Besonders problematisch ist die Lage aber dahingehend, dass wir zwar über eine Menge von sehr nachdrücklichen und ins Detail gehende Äußerungen Schlicks verfügen, in denen er sich sowohl zur Philosophie Wittgensteins als auch zu deren nachhaltigen Einfluss auf sich selbst äußert; umgekehrt aber gibt es letztlich mit Blick auf Wittgenstein nur sekundäre Belege, da sich im Korpus seines Gesamtwerkes außer der Nennung der Diktate auch unter Einsatz der hervorragenden Suchmaschine WiTTFind2 keine weiteren expliziten Verweise auf Schlick finden lassen. In dieser Situation ist es höchst erfreulich, dass durch die Realisierung mehrere Editionsprojekte viele Dokumente, insbesondere aus den Nachlässen von Schlick, Carnap und anderen, einer breiteren Forschungsöffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Herausgabe von Carnaps Tagebüchern durch Christian Damböck (Carnap 2022a, Carnap 2022b) erlaubt, die vielschichtigen Beziehungen innerhalb und außerhalb des Wiener Kreises für eine Gesamtbetrachtung des komplexen Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein zu nutzen. Hierher gehört natürlich unbedingt auch das noch längst nicht abgeschlossene Projekt der Moritz Schlick Gesamtausgabe. Schon ein Blick auf die Übersicht3 zeigt die Breite von Schlicks Philosophieren. Zu den bereits erschienenen Bänden aus dem Nachlass, MSGA II/1.2 Erkenntnistheoretische Schriften 1926–1936 (2013), II/5.1 Nietzsche und Schopenhauer (Vorlesungen) (2014) sind 2019 gleich drei Bände (II/1.1, II/1.3 und II/2.1) hinzugekommen (vgl. Max et al. 2022). Zu erkennen ist jedoch auch, dass zu den Themengebieten Schriften zur Naturphilosophie (II/2.2), Schriften zur Ethik und Pädagogik (II/3.2) und Schriften zum Begriff und zur Geschichte der Philosophie (II/5.2a, b) die angegebenen Bände kurz vor der Veröffentlichung stehen bzw. zu den Themengebieten Schriften zur Ethik und Pädagogik (II/3.1, 3.3) und Schriften zur Kulturphilosophie (II/4.1, 4.2) sowie in der Abteilung III Briefe weitere Bände zu erwarten sind. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in der aktuellen Schlickforschung eine Situation vor uns haben, die derjenigen mit Blick auf Wittgenstein vor einigen Jahren ähnelt, als der gesamte Nachlass noch nicht (elektronisch) frei zugänglich war. Die Erforschung der Philosophie des späten Wittgenstein konzentrierte sich zunächst auf die Themen, die in den selektiv aus dem Nachlass veröffentlichten Zusammenstellungen sichtbar wurden und die bis heute eine bestimmte Dominanz besitzen. Durch die Bereitstellung des Gesamtwerkes ist es allerdings möglich geworden, gewisse 2

http://wittfind.cis.uni-muenchen.de [letzter Abruf: 08.02.2022]. https://www.iph.uni-rostock.de/forschung/moritz-schlick-forschungsstelle/edition/ [letzter Abruf: 14.04.2022]. 3

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Einseitigkeiten in der Betrachtung zu überwinden und vernachlässigten Gebieten ein angemessenes Gewicht zu verleihen. Es gibt sehr viele Arbeiten rund um die Ausdrücke „Schmerz“ und „Farbe“. WiTTFInd liefert 2.957 Fundstellen für „Schmerz*“ und 3.608 für „Farb*“. Man beachte jedoch, dass wir unter der Eingabe „Gesicht*“ (erfasst u. a. „Gesichtsbild“, „Gesichtsfeld“, „Gesichtszüge“, „Gesichtspunkt“ etc.) 3.107 Einträge finden. Selbst die Eingabe „Schach*“ ergibt 1.254 Treffer. Dabei sind andere Termini wie „Figur“, „Rochade“ etc. noch gar nicht erfasst (vgl. Max 2017, 2020a). Es ist zu hoffen, dass die Präsenz der vollständigen MSGA dazu beiträgt, Schlick nicht z. B. auf einen Erkenntnistheoretiker bzw. Wissenschaftstheoretiker zu reduzieren, sondern die gesamte Philosophiepersönlichkeit in den Blick zu nehmen. Im Band II/1.3 (Schlick, MSGA II/1.3) finden wir einige Auskünfte, die eine überzogene Sicht auf den Einfluss Wittgensteins auf Schlick in Frage stellen. Lemke schreibt in seiner Einleitung: „Man könnte meinen, Schlicks Philosophie hätte sich unter dem Einfluss des Tractatus gewandelt. Doch das trifft fast nur auf die Argumente zu. Die meisten seiner seit langem vertretenen Positionen zur Mathematik konnte er im Tractatus wiedererkennen.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 60) Lemke vertritt auch die Einschätzung, dass „Wittgenstein zu einem wichtigen Diskussionspartner [wurde]. In dieser Rolle begleitete Schlick dessen Übergang vom Tractatus logico-philosophicus zu dessen Spätphilosophie.“ (Schlick, MSGA II/1.3, 1) Diese anregenden Thesen gilt es im Detail zu prüfen.

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Beispiele möglicher Einflüsse von Schlick auf Wittgenstein

Bezogen auf Ausdrücke der Form „Gesicht*“ konstatieren wir, dass sie sowohl für den jungen Wittgenstein als auch den jungen Schlick Felder philosophischer Betrachtungen markieren. Bei Schlick finden wir z. B.: „Der Satz enthält aber Wahrheit, wie sich leicht ergiebt, wenn man alle in ihm vorkommenden Begriff[e] so interpretiert, dass sie nur auf die Gesichtswahrnehmung Bezug haben.“ (Schlick, MSGA II/1.1, 120) An anderer Stelle heißt es: Dass der Gesichtssinn allein fähig sei, die Raumanschauung der Euklidischen Geometrie hervorzubringen, ist auch nicht wahrscheinlich, denn wenn wir selbst annehmen (was von einigen bezweifelt wird), dass die Bedeutung der dritten Dimension, der Tiefe durch das Auge allein in ihrer vollen Bedeutung erkannt würde, so hat doch bekanntlich der Gesichtsraum, d. h. der Raum, wie er sich dem Auge unmittelbar darstellt, keineswegs die Eigenschaften des Euklidischen. (Schlick, MSGA II/1.1, 229)

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Bei Wittgenstein lesen wir: „Nehmen wir eine ganz ähnliche Frage die aber einfacher & grundlegender ist; nämlich diese: ist ein Punkt in unserem Gesichtsbild ein ‚einfacher Gegenstand‘, ein Ding?“ (MS 101: 16r, 3.9.1914) Etwas später: „Der Fleck im Gesichtsfeld muß zwar nicht rot sein aber eine Farbe muß er haben; er hat sozusagen den Farbenraum um sich.“ (MS 104: 80[2]) Hierzu finden sich zudem einige wenige direkte Hinweise. Wittgenstein schreibt am 18.2.1929 an Schlick: „Ich habe mich nämlich entschlossen ein paar Terms hier in Cambridge zu bleiben & den Gesichtsraum & andere Dinge zu bearbeiten.“ (Iven 2015, 103) Schlick antwortet am 22.2.1929: „[…] der erfreuliche Teil Ihres Briefes, nämlich die Nachricht, dass Sie über den Gesichtsraum und andre Fragen nachgedacht haben und damit in der Cambridger Stille fortfahren wollen […]“ (Iven 2015, 106). Dies ist nur ein Beispiel, welches andeutet, wie unter ganz konkretem Bezug auf die aktuelle und die künftige Quellenlage die philosophischen Auffassungen von Schlick und Wittgenstein unvoreingenommen zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Es lassen sich weitere Beispiele angeben: McGuinness (2010) stellt die These auf, dass Schlick wesentlichen Anteil an Wittgensteins Hinwendung von der Mathematik zur Psychologie hatte (vgl. z. B. McGuinness, WWK, 65, 67). Wir beobachten bei Wittgenstein eine verblüffende Verflechtung von Betrachtungen, die sich auf Termini aus Logik und Mathematik beziehen, und zwar unter Einbeziehung von psychologischen Ausdrücken und umgekehrt. Für Schlick hätte das bereits vor seiner Bekanntschaft mit Wittgenstein kein Problem dargestellt, da er Logik und Psychologie denselben Stellenwert einräumt. Er schreibt 1920 an Reichenbach: „Das Logische ist ein Letztes, aber das Psychologische auch, eins läßt sich nicht auf das andere gründen.“4 Es bleibt dann natürlich die Frage, wie die Vermittlung zwischen diesen beiden Bereichen philosophisch verstanden werden kann. Um die Klärung dieser Frage haben sich beide Denker intensiv bemüht.

Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf: Intellectual Biography, in: The Philosophy of Rudolf Carnap, hrsg. v. Paul Arthur Schilpp. Illinois 31997, 1–85. Carnap, Rudolf: Tagebücher, Band 1, 1908-1919, hrsg. v. Christian Damböck. Hamburg 2022a.

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Moritz Schlick an Hans Reichenbach, 26.11.1920.

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Ingolf Max

Carnap, Rudolf: Tagebücher, Band 2, 1920-1935, hrsg. v. Christian Damböck. Hamburg 2022b. Engler, Fynn Ole: „Allerdings ist die Lektüre äusserst schwierig.“ Zum Verhältnis von Moritz Schlick und Ludwig Wittgenstein. In: Wittgenstein-Studien 6 (2015), 175–210. Frege, Gottlob: Briefe an Ludwig Wittgenstein aus den Jahren 1914–1920. In: Wittgenstein in Focus – Im Brennpunkt: Wittgenstein, hrsg. v. Brian McGuinness u. Rudolf Haller. (Special issue of) Grazer Philosophische Studien 33/34 (1989), 5–33. Iven, Mathias: Wittgenstein und Schlick. Zur Geschichte eines Diktats. In: Stationen. Dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag, hrsg. v. Friedrich Stadler u. Hans Jürgen Wendel. Wien 2009. Iven, Mathias: Er „ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität“. Die Korrespondenz zwischen Ludwig Wittgenstein und Moritz Schlick sowie ausgewählte Briefe von und an Friedrich Waismann, Rudolf Carnap, Frank P. Ramsey, Ludwig Hänsel und Margaret Stonborough. In: Wittgenstein-Studien 6 (2015), 83–174. Keicher, Peter: Untersuchungen zu Wittgensteins „Diktat für Schlick“. In: Arbeiten zu Wittgenstein, hrsg. von Heinz Wilhelm Krüger und Alois Pichler. Bergen 1998 (from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen 15). Max, Ingolf: Zur Vielfalt der Schachanalogien in Wittgensteins Philosophieren. In: The Philosophy of Perception and Observation. Beiträge des 40. Internationalen Wittgenstein Symposiums, 6.–12. August 2017, hrsg. v. Christoph Limbeck-Lilienau u. Friedrich Stadler. Kirchberg am Wechsel 2017, 146–149. Max, Ingolf: „Denken wir wieder an die Intention, Schach zu spielen.“ Zur Rolle von Schachanalogien in Wittgensteins Philosophie ab 1929 [2020a]. In: Richard Raatzsch (Hg): Spezialsektion: Wittgenstein über das Psychische. Wittgenstein-Studien 11 (2020), 183–206. Max, Ingolf: Similar Ways of Creating Thirdness: Kant’s “Synthetic Judgments a priori” and Frege’s “Thoughts” as Intermediate Cases [2020b]. In: Revista de Filosofia Moderna e Contemporânea 8/2 (2020), 79–118. Max, Ingolf/Borchers, Raphael /Franke-Reddig, Julia/Bauer, Philipp Leon: Konsequentes Philosophieren im Lichte empirischer Wissenschaften und Logik. Drei neue Bände der Abteilung II Nachgelassene Schriften der Moritz Schlick Gesamtausgabe. Literaturbericht zu den Bänden II/1.1: Frühe erkenntnistheoretische Schriften, II/1.3: Vorlesungen und Aufzeichnungen zur Logik und Philosophie der Mathematik und II/2.1: Naturphilosophische Schriften. Manuskripte 1910–1936. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 76/1 (2022), 137–153. McGuinness, Brian: Vorwort zu Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann (= WWK). Frankfurt a. M. 1967, 11–31. McGuinness, Brian: Wittgenstein und Schlick. Mit einer Erwiderung vom Mathias Iven. Berlin 2010. Neuber, Matthias: Die Grenzen des Revisionismus. Schlick, Cassirer und das „Raumproblem“. Wien/New York 2012. Schlick, Moritz: Moritz Schlick Gesamtausgabe (= MSGA), hrsg. v. Friedrich Stadler u. Hans Jürgen Wendel. Wien/New York/Wiesbaden 2006ff.

Programmatisches zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Schlick und Wittgenstein

361

Schlick, Moritz: Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre / Fragen der Ethik (= MSGA I/3), hrsg. v. Mathias Iven. Wien/New York 2006. Schlick, Moritz: Frühe erkenntnistheoretische Schriften (= MSGA II/1.1), hrsg. v. Jendrik Stelling. Wiesbaden 2019. Schlick, Moritz: Vorlesungen und Aufzeichnungen zur Logik und Philosophie der Mathematik (= MSGA II/1.3), hrsg. v. Martin Lemke u. Anne-Sophie Naujoks. Wiesbaden 2019.

Personenregister Personenregister

Adler, Max 155 Annas, Julia 240 Anselm, von Canterbury 189, 191 Aristoteles 153, 163, 168, 173f., 180ff., 185, 190, 204, 224, 228, 231f. Arnswald, Ulrich 21ff., 27, 29, 32, 161, 243 Aschheim, Steven E. 41, 56 Ash, Mitchell G. 73, 77 Ast, Friedrich 15, 27, 194, 216f. Avenarius, Richard 151 Ayer, Alfred Jules 12, 20, 27, 171, 185 Bachmann, Carl-Friedrich 31, 193f., 204, 217 Basile, Pierfrancesco 13, 27 Bauer, Otto 360 Bauer, Philipp Leon 154f., 360 Bayertz, Kurt 41, 56, 286 Beck, Max 28, 286 Beiser, Frederik 40, 56 Bergson, Henri 43, 293f., 303 Berliner, Arnold 195, 201, 268 Bernays, Paul 332 Bessai, Lukas 23, 27 Betegh, Gábor 240 Blaukopf, Kurt 23, 27, 31 Bluhm, Roland 123, 126 Blumberg, Albert E. 12, 28

Böhme, Klaus 54, 56 Böhnert, Martin 77 Bohr, Jörn 77 Boltzmann, Ludwig 44f., 56, 151 Bonnet, Christian 24, 28, 57, 68, 293 Borchers, Raphael 21f., 265, 360 Born, Max 175, 218, 274 Brachliotis, Georg 23, 27 Brand, Karl 24, 27 Brandt, Horst D. 125 Broda, Engelbert 44, 56 Bruch, Rüdiger vom 57 Brucker, Johann Jacob 190, 211, 217 Brusotti, Marco 46, 56 Buber, Martin 279, 286 Bühler, Axel 15f., 27 Bühler, Karl 90, 102 Carnap, Rudolf 8, 12ff., 16, 19f., 23, 26ff., 31, 47f., 56f., 87f., 91ff., 95, 98, 102, 107ff., 111ff., 137, 141f., 148, 162, 172, 205, 208, 210, 232f., 240f., 267, 269f., 272f., 286f., 294, 303, 329, 331f., 334ff., 338ff., 343, 345ff., 354f., 357, 359f. Cartwright, Nancy 21, 28 Cassirer, Ernst 8f., 11f., 17, 30, 69ff., 77ff., 286, 360

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 M. Lemke et al. (Hrsg.), Der Wiener Kreis und sein philosophisches Spektrum, Studien zur Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67689-9

363

364 Cat, Jordi 30, 32 Church, Alonzo 331 Cicero, Marcus Tullius 152f., 227f., 240 Cohen, Hermann 16f., 29, 206 Cohen, Robert S. 240, 287 Colli, Giorgio 287, 303f. Comte, Auguste 151f., 158 Coomann, Nicholas 28, 286 Couturat, Louis 240 Creath, Richard 13, 28 Czaniera, Uwe 20, 28 Dahms, Hans-Joachim 23, 28, 269, 271, 286, 289 Damböck, Christian 28, 210, 217, 286, 349 Dathe, Uwe 38, 57, 350 Dawson jr., John W. 241 De Sanctis, Francesco 48, 57 Delitzsch, , Friedrich 195, 217f. Demokrit 155f., 173f. Derman, Joshua 245, 249, 251f., 257, 263 Descartes, René 38 Detel, Wolfgang 16, 28 Deter, Christian Johann 217 Diels, Hermann 172, 185 Dilthey, Wilhelm 8f., 15f., 18, 28, 69ff., 77, 195ff., 199, 201ff., 206f., 209f., 213, 215, 217 Dopp, Joseph 11, 28 Driesch, Hans 96 Duhem, Pierre 99, 151 Dvořák, J. 268, 286 Edwards, Paul 333, 349 Eigler, Gunther 186 Einstein, Albert 41, 57, 82f., 85, 102, 151, 337, 354, 356 Elstrodt, Jürgen 330, 349

Personenregister

Engelen, Eva-Maria 17, 20f., 28, 179, 190, 223, 240, 327 Engler, Fynn Ole 32f., 57f., 103, 186, 218, 287, 304, 324, 349, 360 Epiktet 227 Epikur 17, 141f., 151ff., 155f., 159ff., 190, 226, 228, 231f. Eraman, John 57 Erasmus, Desiderius 163, 185 Eucken, Rudolf 38, 57 Faraday, Michael 41 Feferman, Anita 241, 333, 349 Fefermann, Solomon 333, 349 Feigl, Herbert 12, 20, 23, 28, 37, 57, 232, 234, 239f., 267f., 278, 286 Ferrari, Massimo 9, 11, 20, 28, 37, 40, 57, 70, 77 Feuerbach, Ludwig 152, 273, 286 Feynman, Richard Phillips 133, 148 Fichte, Johann Gottlieb 55, 155, 157 Fischer, Kuno 15, 48, 57, 183, 185 Fischer, Kurt R. 46 Fleck, Ludwik 25, 120, 125, 336 Foulkes, P. 287 Frank, Philipp 20, 29, 57, 125, 145, 164, 167, 269, 349, 360 Frank, Viktor 46 Franke-Reddig, Julia 24, 184, 277, 305, 360 Frege, Gottlob 16, 18, 45, 90, 107, 110, 113, 125, 151, 204, 328, 332f., 346, 349ff., 355, 360 Freud, Sigmund 68, 70, 77, 120, 131, 280, 286 Freyer, Hans 28, 69ff., 77, 276 Friedl, Johannes 31, 58, 103, 148, 179, 185f., 218, 288, 304, 312, 324, 350

Personenregister

Friedman, Michael 79, 102, 273, 286, 341, 349 Frischeisen-Köhler, Max 202, 217 Furtwängler, Philipp 223 Gabriel, G. 350 Gadamer, Hans-Georg 15 Gadenne, Volker 13, 28 Galavotti, Maria Carla 28 Galef, Bennett G. 77 Galison, Peter 28 Ganthaler, Heinrich 218 Geier, Manfred 270f., 286 Gentzen, Gerhard 332, 349 Gerhard, Myriam 56, 286, 332 Gerhardt, Carl Immanuel 229, 241 Glassner, Edwin 33, 78, 103, 186, 288, 324 Glock, Hans-Johann 45, 57 Gödel, Kurt 8, 17, 20f., 28, 179, 205, 208, 223ff. Goldfarb, Warren 241 Gomperz, Heinrich 8, 10, 15f., 18, 26, 28, 179f., 185, 190, 194, 197f., 200f., 208ff., 215ff., 223ff., 232, 235f., 240f. Gori, Pietro 46, 57 Graf, Friedrich-Wilhelm 38, 57 Grandjean, Burke D. 223, 241 Granger, Gilles Gaston 103 Grisebach, Eduard 186 Groß, Angélique 21, 28 Großheim, Michael 185 Grötschel, Martin 241 Gründer, Karlfried 241 Guyau, Jean-Marie 301, 303 Haberle, Gottfried von 199 Haeckel, Ernst 38 Hahn, Hans 12, 19, 27, 29, 57, 125, 162, 208, 336, 349

365 Hahn, Otto 268 Halais, Emmanuel 45, 57 Halbig, Christoph 126 Haller, Rudolf 12f., 25, 29f., 57, 161f., 184f., 264, 287, 360 Harnack, Adolf von 15, 197, 200, 218 Hartle, Johan F. 153, 161 Hartmann, Frank 19, 29 Hartung, Gerald 73, 77 Heesch, Elli Johanna Anna 346 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 71f., 78, 102, 155f., 165, 170f., 191ff., 195ff., 205, 207, 216ff. Hegselmann, Rainer 20, 29, 119, 125f., 161, 288, 349 Heidegger, Martin 8, 15, 56, 208, 273, 276, 286, 339 Heidelberger, Michael 271, 287 Heidemann, Ingeborg 126 Heitfeld-Rydzik, Birgit 327f., 347, 349 Helmholtz, Hermann von 151 Hempel, Carl Gustav 172 Henle, Paul 108, 118f., 122, 125 Henrich, Dieter 25, 29 Hering, Rainer 264 Hermes, Hans 351 Hertz, Heinrich 45, 280 Hilbert, David 99, 151, 354f. Hilgendorf, Eric 21, 29 Hinneberg, Paul 165, 186 Hintikka, Jaakko 13, 29 Hitler, Adolf 183 Hoffmeister, Johannes 218 Hörisch, Jochen 23, 29 Horkheimer, Max 29 Horňáček, Milan 276, 287 Hösle, Vittorio 16f., 29

366 Howard, Don 41, 57 Hübinger, Gangolf 57 Hübscher, Arthur 304 Hufeland, Christoph Wilhelm 241 Humboldt, Wilhelm von 267, 287 Hume, David 55, 81f., 84, 151f., 167, 172, 176, 193 Hutchings, Edward 148 Hyman, John 57 Iven, Mathias 32f., 38, 54, 57f., 78, 103, 116, 125, 148, 186, 271, 280, 287f., 304, 324, 338, 349f., 354ff., 359ff. Jabloner, Clemens 21, 29 Jacquette, Dale 45, 57 Jaeger, Friedrich 29 Jaeschke, Walther 56, 286 James, William 95 Janik, Allan 58 Jaspers, Karl 257, 263, 337, 339 Jodl, Friedrich 231f., 241 Jordan, Karl 350 Jordan, Roman 349 Juhos, Bela 185 Jung, Gertrud 169, 187 Jünger, Ernst 276 Kaesler, Dirk 246f., 250, 256, 258f., 263 Kaiser, Helmut 11, 29, 195, 283, 287 Kammler, Steffen 163, 185 Kant, Immanuel 11, 38f., 41, 43, 45, 49f., 55, 64, 71, 77, 81, 83f., 86f., 93ff., 102, 107, 125f., 135, 141f., 148, 155, 157, 167, 173, 191, 193f., 202, 204, 206, 218, 230f., 238, 241, 281, 287, 289, 302f., 350f., 355, 360 Kaube, Jürgen 256ff., 263

Personenregister

Keicher, Peter 355, 360 Kenny, Anthony 13, 29 Klages, Ludwig 276 Kleene, Stephen Cole 331 Kleinpeter, Hans 46, 57f. Klemme, Heiner F. 125 Kluck, Steffen 70, 77, 163, 185 Knobloch, Eberhard 241 Knorr Cetina, Karin 25 Köchy, Kristian 77 Koffka, Kurt 73 Kohl, Karl-Heinz 68, 77 Köhler, Eckehart 13, 29, 333, 349 Köhler, Wolfgang 8, 68, 70f., 73ff., 202 Kókai, Károly 29 Konersmann, Ralf 61, 77 König-Porstner, Heidi 78, 103, 186, 288, 324 Koppers, Wilhelm 68f., 78 Kox, A. J. 288 Kraft, Victor 10, 15, 20, 23, 29, 185, 197f., 208, 229, 232ff., 241 Kraus, Johann Baptist 22, 244, 247ff., 251, 260ff. Kraus, Karl 45 Krüger, Heinz Wilhelm 360 Kuhn, Thomas 25, 327 Kundermann, Carl 270 Kutzner, Nicole 148, 186, 218 Ladmiral, Germinal 11f., 71, 79 Lakatos, Imre 25 Laland, Kevin N. 75, 77 Lange, Friedrich Albert 17, 49, 52 Langer, Susanne K. 176, 178f., 185 Lehmann, Reinhard G. 194f., 218 Leibniz, Gottfried Wilhelm 81, 151, 157, 227ff., 231f., 240f., 280, 333, 335, 342, 345

Personenregister

Leighton, Ralph 148 Lembeck, Karl-Heinz 16, 29 Lemke, Martin 7, 11, 14, 18, 78, 127, 148, 168, 179, 186, 189, 218, 324, 327, 329, 338, 349f., 358, 361 Leschke, Konstantin 7, 17f., 163, 189f. Lewis, Clarence Irving 109, 126 Lichtblau, Klaus 247, 258, 263 Liebsch, Burkhard 268, 287 Limbeck-Lilienau, Christoph 360 Loos, Adolf 45, 303 Losch, A. 286 Łukasiewicz, Jan 331ff., 350 Mach, Ernst 19, 27, 32, 46f., 57, 97f., 127, 148, 151, 269ff., 299, 349 Mann, Heinrich 280 Marc Aurel 107, 124, 227 Marek, Johann Christian 218 Marx, Karl 17, 22, 152, 155f., 160, 243, 245, 247, 252, 262 Maslow, Alexander 178f., 185 Max, Ingolf 27f., 243, 245, 264, 353ff., 357f., 360 Maxwell, James Clerk 41 McGuinness, Brian F. 185, 210, 218, 355f., 359f. Meinecke, Friedrich 15, 29 Mendes-Flohr, P. 286 Menger, Carl 152, 198f., 218 Menger, Karl 10, 20, 28f., 57, 198, 232f., 241, 287 Menzler-Trott, Eckart 332, 349 Michel, Karl Markus 218 Mill, John Stuart 151f. Mises, Ludwig von 32, 200 Möckel, Christian 102

367 Moldenhauer, Eva 218 Molendijk, Arie L. 330f., 333, 349 Montinari, Mazzino 287, 303f. Moreira, Felipe G. A. 13, 29 Morgenstern, Oskar 200 Mormann, Thomas 8f., 19, 30, 39, 58, 268, 271, 273, 283, 287 Mulder, Henk 184f., 269, 287f. Müller-Salo, Johannes 351 Mulsow, Martin 25f., 30, 32 Musil, Robert 31, 45, 299 Naess, Arne 208 Natorp, Paul 16f., 29 Naujoks, Anne-Sophie 148, 218, 324, 350, 361 Neider, Heinrich 10, 16, 18, 190, 194, 208, 212ff., 218, 273, 287 Nemeth, Elisabeth 19, 21, 23, 28, 30, 32f. Neuber, Matthias 70, 77, 79, 102, 355, 360 Neurath, Otto 8ff., 15, 17ff., 26ff., 32, 45, 47f., 57f., 88, 98, 108, 118ff., 125f., 151ff., 172, 185, 198, 208, 213, 218, 243ff., 251f., 257ff., 266, 268ff., 277, 280, 285ff., 340f., 345ff., 349, 355 Neurath-Schapire, Anna 161 Newton, Isaac 96f., 129, 132, 134 Nicolaysen, Rainer 264 Nietzsche, Friedrich 11, 29, 37ff., 46ff., 51ff., 275f., 278f., 281ff., 287f., 293, 295, 301, 303f., 334, 351, 357 Nimbursky, Adele 225 Nimtz, Christian 123, 126 Norton, John D. 57 Nussbaum, Martha 299, 304

368 Oesterreich, Traugott Konstantin 165f., 176, 186 Offenbacher, Martin 257f., 264 Parakenings, Brigitte 349 Parsons, Charles 241 Patzig, Günther 125 Peano, Giuseppe 151 Peckhaus, Volker 330, 333f., 349, 351 Peerpet, Wilhelm 30 Pelletier, Arnauld 229, 241 Peters, Friederike 7, 10, 17, 31, 58, 78, 151, 163, 172, 190, 288 Petzoldt, Joseph 17 Pichler, Alois 360 Pieper, Josef 332, 350 Planck, Max 203, 337 Platon 16, 29, 38, 153f., 159, 163, 169ff., 173ff., 177f., 180, 186, 189ff., 333, 340 Pohl, Michael 148, 186, 218 Poincaré, Henri 82, 102, 151 Popper, Karl Raimund 32, 108, 111, 118f., 122f., 126, 200, 208, 271, 336, 343 Popper-Lynkeus, Josef 152, 272 Poser, Hans 229, 241 Prantl, Carl von 204, 218 Quine, Willard Van Orman 13, 16, 30, 123f., 126 Raatzsch, Richard 360 Rammstedt, Ottheim 59 Rauscher, Josef 9, 58, 62, 64, 67, 78, 267, 276, 287, 293 Recki, Birgit 77 Reichenbach, Hans 28, 205, 269, 288, 339, 343ff., 347, 350, 359 Reininger, Robert 43f., 58, 208, 212f.

Personenregister

Rendl, Lois 349 Richardson, Alan 30, 32 Rickert, Heinrich 9, 42f., 58, 206, 265, 288 Riehl, Alois 42f., 53, 58 Riemann, Bernhard 151 Ritter, Joachim 241, 351 Röd, Wolfgang 13, 27 Roeck, Bernd 38, 58 Rohs, Peter 110, 126, 330, 350 Rousseau, Jean-Jacques 53, 282f. Ruffing, Reiner 13, 30 Rüsen, Jörn 29 Russell, Bertrand 18, 26, 45, 74, 85, 89, 91f., 95, 102, 151, 204, 207, 331, 335, 344 Rutte, Heiner 31, 58, 103, 148, 186, 218, 264, 287f., 304, 324, 350 Ryckman, Thomas 79, 103 Ryle, Gilbert 180, 186 Rynin, David 171 Salem, Jean 57 Sandner, Günther 9, 19, 21, 28, 30, 45, 58, 152ff., 162, 198, 218, 243f., 264, 345 Sauter, Johann (Prof. Austriacus) 12, 30 Scaff, Lawrence A. 249, 254, 258f., 264 Schäfer, Lothar 125 Scheibe, Erhard 41, 58 Scheier, C.-A. 287 Scheler, Max 95 Schepers, Heinrich 229, 241, 327, 332 Scherer, Stefan 23, 31 Schiffers, Juliane 241 Schiller, Friedrich 296f., 301, 304

Personenregister

Schilpp, Paul Arthur 20, 31, 125f., 234, 240, 267, 348, 359 Schleichert, Hubert 284, 288 Schlick, Blanche Hardy 58 Schlick, Moritz 7ff., 13ff., 26ff., 37ff., 45f., 48ff., 61ff., 70ff., 92, 96, 98, 102f., 112, 125, 127ff., 145, 147f., 152, 163ff., 180ff., 189ff., 194f., 198, 200ff., 210ff., 265ff., 274ff., 293ff., 329, 331, 334ff., 345ff., 353ff. Schluchter, Wolfgang 245f., 264 Schmidt, Heinrich 23, 68f., 330f., 349ff. Schmidt, Wilhelm 68, 78 Schmidt am Busch, Hans-Christoph 330ff., 349ff. Schmidt-Dengler, Wendelin 23, 31 Schmitt, Carl 8, 275f., 279f., 282, 288 Schmitz, Hermann 163, 185 Schmitz, Jürgen 349 Schmitz, Norbert 30 Schmoller, Gustav von 15, 198f., 219 Schmücker, Reinhold 351 Schnelle, Thomas 125 Scholz, Heinrich 8, 13, 26, 168, 202ff., 207f., 219, 327ff. Scholz, Oliver R. 16, 31 Schopenhauer, Arthur 11, 24, 37ff., 48ff., 57ff., 180, 182f., 185f., 288, 293, 298, 301, 303f., 357 Schrödinger, Erwin 41 Schumann, Wolfgang 154, 161 Schwegler, Albert 228, 237, 241 Searle, John R. 76, 78 Seck, Carstens 79, 103 Seiler, Martin 23, 31

369 Sellmer, Sven 172, 187 Seneca 226f. Sieg, Wilfried 241 Siegetsleitner, Anne 8, 11, 18, 20, 31, 71f., 78, 231f., 234f., 241, 271f., 278, 285, 288 Sigmund, Karl 13, 25, 31, 270f., 288 Simmel, Georg 9, 15, 42f., 53, 59, 69ff., 78, 197, 206, 219 Smith, Barry 21, 32 Sokrates 44, 163, 169ff., 175ff., 183 Somavilla, Ilse 235, 241 Sombart, Werner 8, 213ff., 219, 243 Spencer, Herbert 39, 55, 152, 297, 301 Spengler, Oswald 8ff., 30, 45, 56, 69ff., 78, 244, 263f., 273, 276, 279f., 285, 289 Spinoza, Baruch de 202, 231f., 346 Spranger, Eduard 202, 210, 213 Sraffa, Piero 45 Stadler, Friedrich 8, 12f., 16, 18f., 21, 23, 25ff., 57f., 62, 78, 103, 148, 161, 171, 173, 179, 186f., 197f., 200, 208, 211f., 218f., 231f., 241f., 271, 287ff., 304, 324, 343, 350f., 360 Stamm, Marcelo 25f., 30, 32 Steenblock, Volker 61, 78 Steinhardt, Käthe 62 Stelling, Jendrik 186, 361 Stendhal, Beyle, Marie-Henri 300, 304 Stern, Alfred 40 Stern, David 26, 32 Sternberger, Dolf 279, 289 Stock, Eberhard 333, 351 Stöltzner, Michael 57, 165, 187

370 Strobach, Niko 8, 13f., 26, 32, 168, 203, 205, 327ff., 332ff., 351 Suhm, Christian 126 Tarski, Alfred 16, 91, 103, 331ff., 349, 351 Thiel, Christian 229, 242 Tomasello, Michael 76, 78 Tönnies, Ferdinand 9, 42, 47, 59 Toulmin, Stephen 45, 58 Troeltsch, Ernst 43, 59, 70 Tuboly, Adam Tamas 30, 32 Turing, Alan 332 Uebel, Thomas 8, 12f., 15, 19, 21, 27, 29f., 32, 57, 148, 184, 187, 189, 219, 259ff., 264 Uexküll, Jakob von 96 Utitz, Emil 283, 289 Vaihinger, Hans 17 Venturelli, Aldo 46, 59 Von Klemperer, Klemens 264 Waal, Frans de 75, 77 Wach, Joachim 219 Waismann, Friedrich 16, 26, 31, 37, 59, 125, 164, 186, 206, 218, 288, 324, 340, 360 Warburg, Aby 38, 58, 72 Weber, Max 8, 21f., 32, 243ff. Wehmeier, Kai F. 328, 330ff., 349ff. Weibel, Peter 23, 27, 29, 31f., 161 Weidemann, Christian 118, 126 Weininger, Otto 45 Weischedel, Wilhelm 218, 241 Weiß, Johannes 247, 258, 263 Wendel, Hans Jürgen 13, 31ff., 57f., 78, 103, 148, 186, 218, 288, 304, 324, 350, 360 Werner, Meike 28, 219 Wertheimer, Max 73

Personenregister

Whitehead, Alfred North 26, 151, 331 Wimmer, Reiner 330, 351 Windelband, Wilhelm 9, 206 Wittgenstein, Ludwig 13, 16, 26f., 32, 44ff., 56ff., 85, 87, 92, 98, 103, 116, 118, 125, 134, 148, 151, 164, 178, 185, 206, 210f., 218, 232, 235, 241, 271, 275, 342, 353ff. Woisnitza, Mimmi 241 Wolters, Gereon 349 Wundt, Wilhelm 39, 295, 304 Wunsch, Matthias 7, 11, 61, 72f., 77f., 183 Wyrwich, Thomas 78 Zalta, Edward N. 32, 349 Zegler, Josef 218 Zermelo, Ernst 331 Ziche, Paul 57 Ziegenfuß, Werner 169, 187 Ziegler, Günther M. 241 Zilsel, Edgar 37, 57, 59, 208, 266, 286, 289 Zuse, Konrad 332 Zweig, Stefan 44, 59