Der Utilitarismus und die deutsche Philosophie: Aufsätze zur Ethik und Philosophiegeschichte 9783787329977, 9783787329960

Die angloamerikanische Philosophie ist voll des Lobes für das ethische Denken Henry Sidgwicks. John Rawls erblickte in S

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Der Utilitarismus und die deutsche Philosophie: Aufsätze zur Ethik und Philosophiegeschichte
 9783787329977, 9783787329960

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Philosophische Bibliothek

Henry Sidgwick Der Utilitarismus und die deutsche Philosophie Texte zur Ethik und Philosophiegeschichte

Meiner

HENRY SIDGWICK

Der Utilitarismus und die deutsche Philosophie Texte zur Ethik und Philosophiegeschichte

Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

Annette Dufner und Johannes Müller-Salo

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 669

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  9 78-3-7873-2996-0 ISBN eBook  9 78-3-7873-2997-7

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz:  post scriptum, Vogtsburg-Burkheim / Hüfingen. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­pa­ pier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

IN HA LT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung von Annette Dufner und Johannes Müller-Salo . . . . . . . . .

IX 1.  Sidgwicks Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV 2.  Sidgwicks Methoden der Ethik und die Rolle Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 3.  Zu den Texten in diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXII Editorische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLVII Zur Übersetzung einzelner Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIII Von Sidgwick zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LVI

HENRY SIDGWICK Der Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Utilitarismus (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Der Utilitarismus: Tucker und Paley (51902) . . . . . . . . . . . . 15 Bentham und seine Schule (51902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 J.  S. Mill und der Assoziationismus (51902) . . . . . . . . . . . . . 26

Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Der Hedonismus und das höchste Gut (1877) . . . . . . . . . . . 35 Freude und Wunsch (1871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

VI

Inhalt

Der Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹ (1892) . . . . . 83

Zur deutschen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik: Kant, post-kantische Ethik, Hegel, Deutscher Pessimismus, Schopenhauer und Hartmann (51902) . . . . . 91 Die kantische Konzeption des freien Willens (1888) . . . . . 106

Zur theoretischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . 121 Der sogenannte Idealismus von Kant (1879) . . . . . . . . . . . 121 Kants Widerlegung des Idealismus (1880) . . . . . . . . . . . . . 126

Sidgwick als Hochschulpolitiker . . . . . . . . . . . . . 133 Philosophie in Cambridge (1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Textnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Forschungsbibliographie zu Henry Sidgwick . . . . . . . . . 155 Anmerkungen der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Biographisches Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

V O RWORT

Der vorliegende Band mit ausgewählten Texten Henry Sidgwicks soll dazu beitragen, den Utilitarismus Sidgwicks für die deutschsprachige Ethik zu erschließen. Die zusammengestellten Texte thematisieren einige wichtige Schaltstellen in Sidgwicks Denken. Sie befassen sich mit seiner Theorie des Guten, mit seinem Utilitarismus, mit der deutschen Philosophie sowie mit seinem Wirken als hochschulpolitischer Reformator im Bereich der Moralphilosophie. Zusammen mit vielen Textstellen in den Methoden der Ethik sowie seinen Lectures on the Philosophy of Kant legen sie zudem seine nuancierte Haltung gegenüber seinen utilitaristischen Vorgängern sowie gegenüber der Philosophie Immanuel Kants dar. Die Texte können in eige­ nem Recht, aber auch als Vorarbeiten und Ergänzungen zu den Metho­den der Ethik gelesen werden. Die Übersetzungen entstanden größtenteils im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kol­leg-­ Forschergruppe 1209 »Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« an der Universität Münster. Innerhalb dieser Forschergruppe ist die kontroverse Auseinandersetzung zwischen deontologischen und konsequentialistischen Ansätzen immer wieder zum Gegenstand intensiver Diskussionen, wissenschaftlicher Tagungen und Workshops geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass im deutschsprachigen Raum noch immer Jeremy Bentham und vor allem John Stuart Mill als Hauptvertreter des klassischen Utilitarismus wahrgenommen werden. Henry Sidgwick, dessen herausragende Bedeutung für die Entwicklung der utilitaristischen Ethik in der angloamerikanischen Philosophie allgemein an­erkannt ist, wird dabei zumeist übergangen. Für hilfreiche Diskussionen der Philosophie Sidgwicks und der Bedeutung seiner Thesen für die Debatte zwischen Utilitaristen und Kantianern möchten wir uns bei allen Mitgliedern

VIII

Vorwort

und Gästen der Kollegforschergruppe und insbesondere bei Thomas Hurka, Reinold Schmücker und Bettina Schöne-­Seifert bedanken. Claudia Güstrau leistete uns wertvolle Hilfe bei der Erstellung der Forschungsbibliographie. Außerdem danken wir Kerstin Gregor, Isabelle Kessels und Julia Pelger für ihre Recherchen einiger kniffliger Details für die Bibliographie sowie Larissa Bolte, Jamila Nachid, Helena Niehaus, Elin Samson und Andrea Sindermann für die Hilfe bei der abschließenden Suche nach Tippfehlern. Manfred Meiner, Marcel Simon-Gadhof und David Fischer vom Meiner Verlag danken wir für ihre große Unterstützung bei der Realisierung dieses Projektes. Münster und Bonn, im Oktober 2018 Annette Dufner und Johannes Müller-Salo

EI N LEI T UN G

Die normative Ethik ist gekennzeichnet durch ein Spannungsverhältnis zwischen mindestens zwei zentralen Positionen. Auf der deontologischen Seite wird oft behauptet, dass die Richtigkeit von Handlungen ausschließlich im Charakter d ­ ieser Handlungen selbst zu suchen sei, während utilitaristische Denker davon ausgehen, eine Handlung sei dann richtig, wenn sie möglichst viel Gutes herbeiführt. Das geläufigste Beispiel zur Illustration dieser Dichotomie ist das Lügenverbot, wie es von Immanuel Kant vertreten wurde und dem zufolge das L ­ ügen grundsätzlich und unabhängig von möglicherweise als gut wahrgenommenen Konsequenzen verboten ist. Es ist oft beobachtet worden, dass dieses kategorische Verbot des Lügens dann natürlich auch im Falle eines Gestapo-Mitarbeiters gelten müsse, der an der Tür klopft, um zu fragen, ob man Anne Frank und ihre Familie im Haus versteckt halte. In diesem Fall des Gestapo-Mitarbeiters haben utilitaristische Autoren die besseren Karten, wenn es darum geht, vor-theoretische Intuitionen zu begründen. Schließlich drängt sich hier der Wunsch auf, der unschuldigen Anne und ihrer Familie mittels einer Lüge das Leben zu retten, falls das möglich ist. Doch auf die Frage, welche Seite in welchen Fällen die besseren Karten hat, soll hier natürlich nicht eingegangen werden. Es soll mit diesem einführenden Hinweis lediglich daran erinnert werden, wie bekannt das Spannungsverhältnis zwischen deontologischen (oder von Kant inspirierten) Positionen einerseits und utilitaristischen (oder in einem weiteren Sinne konsequentialistischen) Positionen andererseits längst geworden ist. Gegenstand der hier nun folgenden Überlegungen sind nicht nur der klassische Utilitarismus, wie er von Henry Sidgwick ausgearbeitet wurde, sondern auch einige bislang noch wenig beachtete Einflüsse Kants auf den klassischen Utilitarismus – Einflüsse, die nicht zuletzt aufgrund der

Einleitung

X

regelmäßig als einschlägig eingestuften Gegensätzlichkeit dieser Traditionen von besonderem Interesse sein dürften. Unter dem klassischen Utilitarismus versteht man gemeinhin die Arbeiten von Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick. Im deutschsprachigen Raum dürfte eindeutig Mill der bekannteste Autor dieses Dreigestirns sein. Mit seinen Schriften Utilitarianism und On Liberty beherrscht er nach wie vor die Szene. Doch die Arbeiten von Henry Sidgwick sind unstrittig die ausdifferenziertesten philosophischen Beiträge in dieser Tradition. Im Gegensatz zu Bentham und Mill, die auch in der britischen Politik aktive Größen waren, kann man Sidgwick als führenden Vertreter einer professionellen Wende in der britischen Ethik verstehen, im Rahmen derer das zuvor eher brachliegende moralphilosophische Arbeiten an den Universitäten wiederbelebt und professionalisiert wurde.1 Während sich problemlos eine lange Liste prominenter Denker aus der englischsprachigen Welt zusammenstellen lässt, die das Werk Sidgwicks in den höchsten Tönen loben, sind die Reaktionen im deutschsprachigen Raum bislang eher dürftig. Zwar gibt es einige deutschsprachige Monographien über Sidgwick,2 doch sind diese alle noch vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden, und seither sind über den angeblich umsichtigsten Denker des klassischen Utilitarismus lediglich drei deutschsprachige 1 

Vgl. den Beitrag zur »Philosophie in Cambridge« im vorliegenden Band. 2  Robert Magill (1899): Der rationale Utilitarismus Sidgwicks; Ernst Winter (1904): Henry Sidgwicks Moralphilosophie; Erich Becher (1907): Die Grundfrage der Ethik; A. G. Sinclair (1908): Der Utilitarismus bei Sidgwick und Spencer; Paul Bernays (1910): Das Moralprinzip bei Sidgwick und Kant. In den zwanziger Jahren sind dann zumindest noch zwei weitere Dissertationen über ihn entstanden: Alfonse Schöny (1920): Sidgwicks Stellung zum Utilitarismus und Intuitionismus sowie Hans Anton Bernhard (1923): Die Grundlagen der Sidgwick’schen Ethik. Vgl. hier und in den folgenden Anmerkungen zu exakten bibliographischen Angaben, sofern in den Fußnoten dieser Einleitung nicht vollständig aufgeführt, die Forschungsbibliographie am Ende dieses Bandes.

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Aufsätze erschienen.3 Umso nachdrücklicher sind hingegen die Reaktionen auf das Werk Sidgwicks im englischsprachigen Raum. Derek Parfit schreibt gleich zu Beginn seines Werks On What Matters, Sidgwicks Methoden der Ethik seien »das beste Buch über Ethik, das je geschrieben wurde«.4 Bei diesem Superlativ handelt es sich um ein fast wörtliches, verstecktes Zitat von John J. C. Smart.5 Und dieser wiederum hatte den Superlativ in nahezu identischen Worten von C. D. Broad übernommen.6 Die bislang dürftige deutsche Rezeption Sidgwicks ist aus mehreren Gründen bedauerlich: (i) Sidgwick war in größerem Umfang als seine ­Vorgänger auch durch die deutsche Philosophie beeinflusst. So liegt mit seinen Lectures on the Philosophy of Kant eine komplette Mono­graphie über Kants theoretische Philosophie von ihm vor. Er war darüber hinaus in einen publizistischen Streit zu Kants Transzendentalphilosophie verwickelt und diskutierte dabei die Frage, ob Kant ein erkenntnistheoretischer Idealist gewesen sei 3 

Wilhelm Vossenkuhl (1992): Sidgwicks Utilitarismus; Annette Dufner (2012): Überraschende Thesen des klassischen Utilitarismus sowie Annette Dufner (2014): Kontraste zwischen Mill und Sidgwick. Genauso wie man sich heute darüber beklagen kann, dass der differenzierteste Autor des klassischen Utilitarismus in Deutschland recht wenig wahrgenommen wird, beklagte sich Sidgwick seinerzeit darüber, dass selbst die wichtigsten deutschen Autoren in Großbritannien zu wenig wahrgenommen würden: Kant würde von seinen Landsleuten nicht sorgfältig genug gelesen, und Wolff sei sogar den informiertesten Denkern nahezu unbekannt (vgl. »Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik« in diesem Band). 4  Derek Parfit (2011): On What Matters, Vol. 1, S. xxxiii: »the best book on ethics ever written«. 5  J. J. C. Smart (1956): Extreme and Restricted Utilitarianism, S.  347: Smart bezeichnet die Methoden als »das beste Buch, das je über Ethik geschrieben wurde« (»the best book ever written on ethics«). 6  C. D. Broad (1985 [1930]): Five Types of Ethical Theory, S.  143: Broad hält die Methoden für »die beste Abhandlung über Moralphilosophie, die je geschrieben wurde« (»the best treatise on moral theory that has ever been written«).

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Einleitung

oder ob lediglich die durch Colderidge geprägte, britische Rezeption der theoretischen Philosophie Kants diesen Eindruck verursacht habe. Seine Aufsätze hierzu sowie die Gegenaufsätze seiner Kontrahenten sind in frühen Ausgaben der noch heute renommierten philosophischen Zeitschrift Mind erschienen. Sehr erwähnenswert ist darüber hinaus sein ursprünglich ebenfalls in Mind erschienener Aufsatz »Die Kantische Konzeption des freien Willens« (Übersetzung in diesem Band), der auch von der zeitgenössischen Kant-Forschung mitunter beachtet wird. Und auch an vielen Stellen in den Methoden der Ethik7 hat er explizit und ausführlich zu Kant Stellung bezogen. Darüber hin­aus schrieb er Beiträge über Hegel, Schopenhauer und ­Eduard von Hartmann, war mit Spinoza vertraut und zitierte Kant und Schiller gerne im deutschen Original. Inwiefern der klassische Utilitarismus daher insbesondere auch in Aus­ einandersetzung mit der deutschen Philosophie – und zwar sowohl der praktischen als auch der theoretischen Philosophie – entstand, wurde bislang noch wenig untersucht. (ii) Sidgwick widerlegt auf interessante Weise einige gängige Vorurteile, die nach wie vor über den Utilitarismus kursieren. So wird beispielsweise manchmal behauptet, der Utilitarismus basiere auf einer naturalistischen Werttheorie, der zufolge die normative Entscheidung darüber, welche Zustände herbeigeführt werden sollen, darauf basiert, was die Menschen de facto begrüßen. Doch dieser Position lässt sich Sidgwick nicht ohne Weiteres zuschreiben. Sidgwick hat entweder eine Wunsch­ erfüllungs­theorie des Guten vertreten, bei der mehrere konkrete, idealisierende Bereinigungen des aktual Gewünschten vorgenommen werden,8 oder – und dies ist wahrscheinlicher – er war sogar der Auffassung, dass das Gute ein nicht weiter charakterisierbares »ideales Element« beinhalte.9 beispielhaft Henry Sidgwick (1981 [1907]): The Methods of Ethics. 7. Aufl. Indianapolis, Buch I, Kap. 5. 8  Ebd., S. 109  ff. 9  Ebd., S. 112. 7  Vgl.

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Des Weiteren wird häufig behauptet, Utilitaristen würden das Richtige vollständig auf das Gute reduzieren. Doch schon auf den ersten Seiten von Sidgwicks Hauptwerk erfahren wir, dass das Richtige oder das Gesollte gerade nicht auf irgendwelche guten menschlichen Gefühle oder Weltzustände zurückzuführen sei.10 Das Richtige stellt für Sidgwick immer eine verpflichtende Vorschrift für unser Handeln dar,11 während aus dem Urteil, eine bestimmte Sache sei gut, für unser Handeln laut Sidgwick zunächst einmal noch gar nichts folgt.12 Für Sidgwick erweist sich das Sollen als nur schwerlich auf etwas anderes reduzierbar.13 Einige neuere Autoren argumentieren daher sogar, Sidgwicks Werk stelle den Beginn einer Phase des Operierens mit der Idee eines nicht ableitbaren Pflichtbegriffs in der britischen Ethik dar.14 Sollte diese Einschätzung richtig sein, so könnte man sie als eine Absage an allzu simplifizierende Abgrenzungen des Utilitarismus von den sogenannten deontologischen Positionen in der Tradition von Kant deuten. (iii) Sidgwick war der Auffassung, es gebe darüber hinaus sig­ nifikante Konvergenzen zwischen der kantischen und der utilitaristischen Position. Diese Überzeugung ist – wie noch genauer zu erläutern sein wird – bereits in der Grundstruktur der Methoden angelegt. Angesichts solcher Theorieelemente des klassischen Utilitarismus bei Sidgwick dürfte es auch nicht weiter überraschend sein, dass einige neuere britische A ­ utoren, 10 

Ebd., S. 25. 11  Ebd., S. 113. 12  Dies zeigt sich für Sidgwick zum einen darin, dass die Menschen konfligierende Dinge für gut halten, weshalb aus einem Für-gut-Halten noch nichts darüber folgen kann, welcher Zustand herbeigeführt werden soll. Und zum anderen halten die Menschen manchmal Dinge für gut, die schlicht nicht realisierbar sind, so dass hieraus natürlich ebenfalls nichts über herbeizuführende Zustände folgen kann. Diese beiden Punkte fasst Sidgwick in einem Kapitel über das Gute konzis zusammen, vgl. ebd., S. 113. 13  Vgl. »Der Unterschied zwischen Sein und Sollen« in diesem Band. 14  Thomas Hurka (Hg.) (2011): Underivative Duty.

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Einleitung

die als Utilitaristen oder Konsequentialisten wahrgenommen werden, sich selbst gar nicht in Opposition zu von Kant inspiriertem Gedankengut sehen – zumal aus ihrer Sicht bestimmte Elemente aus Kants Denken bereits von Anfang an in der utilitaristischen Tradition vorhanden waren. Zu denken wäre hier insbesondere an Richard M. Hare, seinen Kantianischen Utili­ tarismus15 und seine Idee der zwei Ebenen des moralischen Denkens (manchmal auch »Zwei-Ebenen-Utilitarismus« genannt), sowie an ­Derek Parfit mit seinem Kantianischen Konsequen­tia­ lismus.16 Die Selbstverständlichkeit, mit der sich diese Autoren einerseits in die utilitaristische Tradition einreihen, obgleich sie ihre Positionen andererseits auch als deontologisch-konsequentialistische Konvergenz-Theorien deuten, dürfte nicht zuletzt auf Sidgwick zurückzuführen sein, auf den diese Autoren sich als Ideengeber berufen.17 (iv) Schließlich ist es auch noch interessant, in welcher Weise sich einige erklärte Gegner des Utilitarismus auf Sidgwick beziehen. So charakterisiert Rawls in A Theory of Justice bekanntlich die Position von Sidgwick und keineswegs diejenige von Bentham oder Mill als die relevanteste Alternative zu seiner eigenen Position.18 An anderer Stelle schreibt er anerkennend, Sidgwicks Methoden der Ethik seien »die am besten ausgearbeitete und vollständigste philosophische Formulierung dieser Theorie«.19 Neben Rawls äußern sich auch noch weitere erklärte Gegner des Utilitarismus auffallend respektvoll über Sidgwick. Alisdair MacIntyre schreibt in seiner Abrechnung Vgl. u. a. Richard M. Hare (1981): Moral Thinking, Kap. 5–9 und Einleitung, S. vi; Hare (1993): Could Kant have been a Utilitarian? In: Utilitas 5/1, S. 1–16. 16  Derek Parfit (2011): On What Matters, insbes. Bd. I, S. 404–419. 17  Sehr ausführlich Parfit (2011): On What Matters, Bd. 1, Vorwort (Preface). Hare verschiedentlich, z. B. Hare (1981): Moral Thinking, S. vi. 18  John Rawls (2006): A Theory of Justice, S. 20  ff. 19  Rawls (2008): Lectures on the History of Political Philosophy. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Joachim Schulte in Rawls (2008): Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a. M., S. 539. 15 

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mit dem Utilitarismus in After Virtue beispielsweise: »Es war ein Merkmal der moralischen Ernsthaftigkeit und Anstrengung der großen Utilitaristen des neunzehnten Jahrhunderts, dass sie sich durchgängig verpflichtet fühlten, ihre eigenen Positionen wieder und wieder kritisch zu hinterfragen, so dass sie sich, falls irgendwie möglich, nicht täuschen würden. Die höchste Errungenschaft dieser Kritikfähigkeit war die Moralphilosophie von Sidgwick.«20 Und Elizabeth Anscombe, die in ihrem Aufsatz »Modern Moral Philosophy«21 im Rahmen einer scharfen Kritik den Ausdruck ›Konsequentialismus‹ geprägt haben soll, beruft sich dort ebenfalls primär auf Sidgwick als Hauptvertreter der von ihr abgelehnten Tradition. Im englischsprachigen Raum scheint also die Auffassung weit verbreitet zu sein, dass der­ jenige, der sich ernsthaft vom Utilitarismus abgrenzen möchte, sich von Sidgwick abgrenzen muss.

1. Sidgwicks Leben 22 Henry Sidgwick wurde am 31. Mai 1838 als viertes Kind von Mary Croft und William Sidgwick in der englischen Kleinstadt Skipton geboren. Er erlag am 28. August 1900 einem KrebsleiMacIntyre (2007): After Virtue, S. 78: »It was a mark of the moral seriousness and strenuousness of the great nine­teenth-­century utilitarians that they felt a continuing obligation to scrutinize and rescrutinize their own positions, so that they might, if at all possible, not be deceived. The culminating achievement of that scrutiny was the Moral philosophy of Sidgwick.« 21  Elizabeth Anscombe (1958): Modern Moral Philosophy, insbes. S.  9  ff. 22  Die relevanteste Quelle zu Sidgwicks Leben ist die posthum ver­ öffentlichte Biographie von Arthur und Eleanor M. Sidgwick, die auch biographische Texte und Briefe von Sidgwick selbst enthält. Arthur und Eleanor M. Sidgwick (1906): Henry Sidgwick. A Memoir. In jüngerer Zeit entstand zudem eine umfangreiche Biographie von Bart Schultz (2012): Henry Sidgwick: Eye of the Universe. Hilfreiche Kurzdarstellungen finden sich in Katarzyna de Lazari-Radek / Peter Singer (2014): 20  Alisdair

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Einleitung

den. Seine Lebenszeit ist nahezu deckungsgleich mit der Regentschaft von Königin Viktoria, die ein Jahr vor seiner Geburt den Thron bestieg und wenige Monate nach ihm verstarb – ein Umstand, der Jerome B. Schneewind dazu veranlasste, ihn als den Philosophen des Viktorianischen Zeitalters zu betrachten.23 Seinen Vater verlor Sidgwick bereits im Alter von drei Jahren. Eine ähnliche Rolle nahm bald darauf wohl Edward White Benson für ihn ein. Dieser entfernte Verwandte der Familie – der später auch Sidgwicks Schwester Mary heiraten sollte – amtierte ab 1883 als Bischof von Canterbury und Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Benson dürfte insbesondere die treibende Kraft hinter Sidgwicks Ausbildung an einer renommierten Privatschule, der Rugby School in Warwickshire, gewesen sein, wo Benson selbst einige Zeit als Lehrer tätig gewesen war. Sein Mentor Benson war nicht der einzige Kontakt Sidgwicks in Englands beste Kreise. Ein weiterer solcher Kontakt ergab sich später durch Sidgwicks Schüler Arthur Balfour – den späteren Premierminister Großbritanniens –, dessen Schwager er wurde, indem er dessen Schwester Eleanor heiratete. Als Premierminister wurde Arthur Balfour insbesondere durch die sogenannte Balfour-Deklaration bekannt, die die Existenz Israels mitbegründete. Aus philosophischer Sicht dürfte der Umstand interessant sein, dass Balfour sich darüber hinaus publizistisch zur Transzendentalphilosophie Immanuel Kants äußerte (vgl. »Der sogenannte Idealismus von Kant« in diesem Band). Die Balfours waren in der Hochphase der Industrialisierung zu Vermögen gelangt und verfügten über beträchtlichen Landbesitz sowie ein Familienheim mit rund 60 Zimmern. Eleanor hingegen schien die intellektuellen Möglichkeiten an der Universität, wo sie selbst Mathematik studierte und nach der Eheschließung mit Sidgwick den größten Teil ihrer Zeit verbrachte, dem The Point of View of the Universe, S. 1–13 sowie in Marcus Singer (Hg.) (2000): Essays on Ethics and Method, S. xiv–xviii. 23  Jerome B. Schneewind (1986): Sidgwick’s Ethics and Victorian Moral Philosophy.

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­ uxus in den Kreisen ihrer Herkunftsfamilie unumwunden L vor­zuziehen. Sidgwicks Zeit in Cambridge begann direkt nach seiner Schulzeit, und er verbrachte dort fast sein gesamtes restliches Leben. Nachdem er im Rahmen seines Studiums der Altphilologie einige renommierte Auszeichnungen wie das Bell- und das Craven-Stipendium errungen hatte, war ein weiterer bedeutender Schritt in seinem Leben die Aufnahme in die elitäre Diskussionsgemeinschaft der Cambridge Apostles, wo er begann, sich intensiver für philosophische Fragen und Herangehensweisen zu interessieren. Ab 1859 wurde er dann zunächst Fellow und Lecturer für Altphilologie am Trinity College, später Lecturer für Moralphilosophie und schließlich Knightbridge Professor of Moral Philosophy. Der Knightbridge-Lehrstuhl – einer der traditionsreichsten der Universität Cambridge – war zuvor unter anderen von dem für Sidgwicks eigenes Wirken bedeutsamen Intuitionisten William Whewell bekleidet worden; nach Sidgwick lehrten auf diesem Lehrstuhl unter anderen C. D. Broad, Bernard Williams und Edward Craig. Sidgwick haderte ein Leben lang mit der Religion. Der berühmte Ökonom John Maynard Keynes stellt wenige Jahre nach Sidgwicks Tod fest, dieser habe »ein Leben lang gerätselt, ob das Christentum wahr ist; bewiesen, dass es nicht wahr ist, und gehofft, dass es wahr ist«.24 Bekannt wurde in diesem Zusammenhang vor allem Sidgwicks Weigerung, 1869 im Rahmen seines Fellowships die Neununddreißig Artikel, das Glaubensbekenntnis der Church of England von 1563, zu unterschreiben  – eine Weigerung, die ihn normalerweise seine Stellung ­gekostet hätte. Viele seiner Kollegen betrachteten diese Unterschrift trotz eigener Bedenken als bloße Formalie, doch dieser Haltung konnte Sidgwick sich nicht anschließen. Erstaunlicherweise führte Sidgwicks Weigerung jedoch nicht zum Ende seiner Karriere, sondern vielmehr zum Ende der Notwendigkeit, die Artikel überhaupt unterschreiben zu müssen: Das College 24 

Zitiert nach Schulz, Henry Sidgwick, S. 4 (eigene Übersetzung).

XVIII

Einleitung

bot ihm anstatt des Fellowships eine Position als Lecturer an, für die die Unterschrift unerheblich war, und kurz darauf verbot das britische Parlament religiöse Zugangsvoraussetzungen für universitäre Positionen. Im sozialen Bereich liegt eine von Sidgwicks Errungenschaften, ähnlich wie bei seinen utilitaristischen Vorgängern Jeremy Bentham und John Stuart Mill, im Bereich der Frauenförderung.25 Zusammen mit Kollegen war er maßgeblich daran beteiligt, ein Studienprogramm für Frauen aufzulegen und schließlich durch eine Anmietung das erste College in Cambridge zu eröffnen, in dem Frauen wohnen durften: Newnham College. An diesem College lernte er schließlich auch seine Frau E ­ leanor kennen. Die Ehe blieb kinderlos, und so wohnte das Paar gemeinsam in Newnham College, in dessen weiteren Ausbau ­Eleanor Teile ihres Vermögens investierte und wo sie schließlich ab 1892 die Leitung übernahm. Wissenschaftlich war sie unter anderem in der Physik an der Erforschung des elektrischen Widerstands beteiligt. Und als Bildungsexpertin wurde sie schließlich eine der ersten drei Frauen, die in Großbritannien in eine Royal Commission berufen wurden. Obgleich Sidgwick in Fragen der akademischen Frauenförderung und auch bezüglich seiner Haltung gegenüber Homo­ sexua­lität seiner Zeit voraus gewesen sein dürfte, war er in anderen Hinsichten dem Zeitgeist verhaftet. Wie insbesondere sein Biograph Bart Schultz herausgearbeitet hat, dürfte er rassistischen Überlegungen nicht völlig fern gestanden haben. Er hat sich positiv zum Imperialismus und zur Verbreitung der euro­päischen Kultur geäußert und die Auffassung vertreten, es gebe höhere und niedrigere Rassen der Menschheit.26 Und auch noch in einer weiteren Hinsicht folgte er dem Zeitgeist: Zusammen mit Eleanor betrieb er parapsychologische Studien, die unter anderem zur Gründung der Society for Psychical Research führten. Genau wie die berühmte Bloomsbury Group, in deren 25  26 

Vgl. Schultz (2000): Sidgwick’s Feminism. Vgl. Schultz (2007): Mill and Sidgwick, Imperialism and Racism.

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Umfeld später auch sein Schüler G. E. Moore aktiv war, beteiligten sich die Mitglieder dieser Gesellschaft an Séancen – allerdings regelmäßig mit enttäuschendem Ergebnis. Doch das beginnende Interesse an der Psychologie als Wissenschaft dürfte auch zu einigen nachhaltigeren Entwicklungen geführt haben, an denen Sidgwick beteiligt war, etwa zur Gründung der renommierten Zeitschrift Mind, in deren ersten Ausgaben Sidgwick regelmäßig vertreten war. Einige dieser Beiträge sind in diesem Band versammelt. Zu den Inhalten von Sidgwicks ethischem Hauptwerk soll im Folgenden noch einiges gesagt werden. Es wäre jedoch ein Fehler, ihn auf dieses Buch zu reduzieren. Sein Werk ist umfangreich und teils sogar im englischsprachigen Raum noch nicht vollständig wiederentdeckt. So harren insbesondere seine Monographien zur politischen Philosophie und Ökonomie, The Elements of Politics (1891) und Principles of Political Economy (1883), nach wie vor einer weiterführenden Besprechung.

2. Sidgwicks Methoden der Ethik und die Rolle Kants Wie bereits hinreichend deutlich geworden sein dürfte, sind es die Methoden der Ethik, die Sidgwicks philosophischen Ruhm begründen und zweifelsohne als sein wichtigstes Werk angesehen werden müssen. Im Folgenden sollen daher die Grundstruktur dieses Hauptwerks und die Rolle der Philosophie Kants in diesem Werk diskutiert werden, so dass die Texte im vorliegenden Band in ihrem größeren Zusammenhang gelesen werden können.

2.1  Die Gesamtstruktur der Methoden Zunächst einmal ist es sinnvoll, sich die argumentative Gesamtanlage von Sidgwicks Methoden der Ethik vor Augen zu führen. Die Methoden sind in vier Bücher unterteilt, von denen

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Einleitung

das erste einführenden Charakter hat. Die anschließenden drei Bücher widmen sich jeweils einer wichtigen Methode der Ethik. Diese für Sidgwick wichtigsten Methoden der Ethik, die im Folgenden noch näher erläutert werden, sind der Egoismus, der Intuitionismus und der Utilitarismus. Unter einer Methode versteht er dabei nicht etwa eine Moraltheorie oder eine ethische Position. Insbesondere der Intuitionismus umfasst, wie später ebenfalls noch genauer zu erläutern sein wird, bei Sidgwick zugleich mehrere unterschiedliche ethische Positionen. Der Grund, warum laut Sidgwick jede dieser Methoden mehrere ethische Positionen umfassen kann, besteht darin, dass man alle diese Methoden wiederum mit verschiedenen Auffassungen des Guten kombinieren und dadurch jeweils zu einer anderen ethischen Einzelposition gelangen kann. (Er bespricht verschiedene Auffassungen des Guten: das Glück, Perfektion in Bezug auf Tugend und Moral, aber auch die Verwirklichung des Willens Gottes, die Selbstverwirklichung und das Handeln entsprechend der eigenen Natur. Alle diese Formen des Guten könnte man nun beispielsweise mit der Methode des Egoismus  – oder aber mit einer der anderen Methoden – kombinieren und man käme dann zu einer jeweils eigenen ethischen Position.)27 Weil sich damit eine unüberschaubare Menge an Positionen ergibt, entscheidet sich Sidgwick dafür, die Ethik in die genannten ­Methoden zu unterteilen. Eine Methode der Ethik ist für ihn dabei eine wissenschaftlichen Standards entsprechende Methode,28 mit der wir auf ratio­ nale Weise ermitteln können, wie wir handeln sollen.29 Nicht jede Moraltheorie oder ethische Position versteht sich so. Manche Theorien gehen bereits davon aus, bestimmte Dinge seien moralisch geboten und die Aufgabe der Moraltheorie oder der Ethik sei es nun, dieses Gebotensein zu begründen. Konkrete The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 78, S. 80–83. S. 1  f.; vgl. auch Schneewind (1977): Sidgwick’s Ethics and Victorian Moral Philosophy, S. 194. 29 Sidgwick, The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 83. 27 Sidgwick, 28  Ebd.,

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Handlungsanleitungen wollen solche Theorien unter Umständen gar nicht anbieten. Sidgwick interessiert sich für die Methoden der Ethik jedoch nicht als reine Begründungssysteme, sondern als Konstrukte, die konkrete Handlungsanleitungen anbieten. Ein entscheidender argumentativer Schritt in der Gesamt­ anlage der Methoden besteht nun in der Darlegung eines Tests, mit dem man durch vernünftiges Nachdenken ermitteln kann, ob bestimmten ethischen Prinzipien der Status von offenkundig wahren Axiomen (»self-evident axioms«) zukommt.30 Der Test sieht vor, dass das fragliche Axiom (1) zunächst klar und präzise formuliert wird, um danach zu prüfen, (2) ob es auch in dieser klar und präzise formulierten Fassung noch immer offenkundig als wahr erscheint. Zuletzt müssen wir uns fragen, (3) ob das fragliche Axiom mit anderen Axiomen, die wahr sind, in Konflikt steht und (4) ob es von einem angemessenen Experten­ konsens gestützt wird. Ein weiterer entscheidender Schritt ist die Anwendung dieses Tests auf den Intuitionismus. Unter dem Intuitionismus versteht Sidgwick – kurz gesagt – die Position, dass bestimmte Handlungen an sich, unabhängig von ihren Konsequenzen, richtig und vernünftig sind.31 Er subsumiert darunter sowohl die kantische Position als auch die Tugendethik.32 Dies kann natürlich als sehr ungewöhnlicher Gebrauch des Ausdrucks Intuitionismus gesehen werden. Dieser Punkt wird gleich noch genauer besprochen werden. Bei der Anwendung des Tests kommt er in den Methoden zu dem Schluss, dass der Intuitionismus zwar einige Bestandteile enthält, die offenkundig wahr sind, dass er jedoch keine Methode darstellt, die insgesamt den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit genügt. Dies liegt daran, dass die Prinzipien des Intuitionismus in der Form der Alltagsmoral häufig unpräzise formuliert sind, dass sie Ausnahmen 30 

Ebd., S. 337  ff. Ebd., S. 200. 32  Ebd., u. a. S. 83  f., S. 200. 31 

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zulassen und dass diese Prinzipien miteinander in Konflikt geraten können.33 Es gibt jedoch einige Teile des philosophischen Intuitionismus, die seines Erachtens den Test bestehen.34 Schließlich formuliert Sidgwick die Annahme, dass der Utilitarismus eine Methode sei, die rationaler Überprüfung standhält. Mehr noch, der Utilitarismus ist seines Erachtens mit den plausiblen Elementen des philosophischen Intuitionismus zu vereinbaren; er stellt sogar geradezu die Konsequenz eines zu Ende gedachten Intuitionismus dar.35 Während der Utilitarismus also mit dem Intuitionismus (oder zumindest den philosophischen und plausiblen Teilen desselben) vereinbar ist oder sogar direkt aus diesem folgt, steht er jedoch in Widerspruch zum Egoismus – ein Umstand, den Sidgwick als den fundamentalen »Dualismus der praktischen Vernunft«36 bezeichnet. Diesem Dualismus zufolge ist es immer rational, sich egoistisch zu verhalten, aber auch immer rational, sich moralisch, also laut Sidgwick utilitaristisch, zu verhalten.

2.2  Die Klassifizierung von Kants Philosophie in den Methoden der Ethik Nach diesen Erläuterungen dürfte sich nun sogleich die Frage aufdrängen, was Sidgwick genau unter der Methode des ›Intuitionismus‹ versteht, unter die er auch Kants System subsu33 

Ebd., Buch 3, Kap. 11, insbes. S. 360. philosophisch ausgearbeitete Intuitionismus, wie er von Clarke und Kant vertreten wird, scheint diesem Ziel bei Sidgwick noch am ehesten gerecht zu werden. Vgl. ebd., S. 384  ff. Eine Einschränkung hierzu formuliert Sidgwick in Form einer ausführlichen Fußnote, der zufolge Kant das offensichtlich wahre Axiom der Benevolenz nicht stichhaltig begründen kann. Siehe ebd., S. 389  f. 35  Ebd., S. 388  f. 36  Im Original: »Dualism of the Practical Reason«. Vgl. Sidgwick, The Methods of Ethics, Aufl. 1, S. 473; Aufl. 7, S. xii (Preface to the Second Edition), S. xxi (Preface to the Sixth Edition) sowie S. 404, Fn. 1. 34 Der

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miert. Sidgwick unterscheidet drei Formen des Intuitionismus: Zunächst gibt es die Gewissensethik, die kasuistisch einzelne Handlungen reflektiert. Dieser Position zufolge sind bestimmte Einzelhandlungen richtig oder falsch, ohne dass dabei auf allgemeine Regeln oder Prinzipien Bezug genommen wird. Das Problem hierbei besteht nun unter anderem darin, dass gleichermaßen kompetente Menschen zu unterschiedlichen Urteilen über Einzelhandlungen gelangen können. Dies führt Sidgwick zur zweiten Version des Intuitionismus, der zufolge bestimmte Regeln die Grundlage der Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen darstellen. Diese Version des Intuitionismus bezeichnet Sidgwick als die Moral des gesunden Menschenverstandes (»morality of common sense«). Diese Version soll im Folgenden auch als Alltags-Intuitionismus oder als Alltagsmoral bezeichnet werden. Sie bildet den Hauptgegenstand seiner Untersuchungen zum Intuitionismus. Schließlich jedoch gibt es auch noch den philosophischen Intuitionismus. Philosophen haben laut Sidgwick die Aufgabe, die Regeln der Alltagsmoral präzise und systematisch darzulegen und auf ein zugrundeliegendes Prinzip zurückzuführen, so dass Widersprüche zwischen den verschiedenen Regeln aufgelöst werden können.37 Die Posi­ tion von Kant dürfte für Sidgwick eine Form des philosophischen Intuitionismus darstellen, deren grundlegendes Prinzip lautet, es sei unsere Pflicht, stets so zu handeln, dass die Maxime unseres Handelns ein allgemeingültiges Gesetz werden könne.38 Sidgwick scheint den Begriff des Intuitionismus darüber hin­ aus sowohl in einem engeren als auch in einem weiteren Sinn zu gebrauchen. Im engeren Sinn versteht er darunter die normative Behauptung, dass bestimmte Handlungen unabhängig von ihren Konsequenzen an sich richtig oder falsch sind. In The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 100  ff. S. 209  f. Allerdings kann dafür argumentiert werden, dass Sidgwick mit dieser Erwartung die eigentlichen Zielsetzungen Kants »überfrachtet« hat. Vgl. Jens Timmermann (2013): Kantian Dilemmas? In: Archiv für Geschichte der Philosophie 95/1, S. 36–64. 37 Sidgwick, 38  Ebd.,

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e­ inem weiteren Sinn versteht er darunter die metaethische oder erkenntnistheoretische Behauptung, wonach es dem menschlichen Geist gegeben ist, moralische Urteile durch vernünftige Überlegung als klar und deutlich wahr zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass er Kant sowohl im engeren als auch im weiteren Sinn als Intuitionisten verstand. Diese Interpretation wird beispielsweise durch die folgende Textstelle aus den Methoden nahegelegt, wo er einen engen Zusammenhang zwischen beiden Verständnisweisen des Intuitionismus skizziert: »Und in solchen Maximen, wie dass die Pflicht getan werden sollte, ›advienne que pourra‹ (›was auch immer geschieht‹), dass die Wahrheit gesagt werden sollte, ohne die Konsequenzen zu beachten, dass Gerechtes getan werden sollte, ›auch wenn der Himmel niederfällt‹, ist impliziert, dass wir die Macht haben, klar zu erkennen, dass bestimmte Arten von Handlungen an sich, unabhängig von ihren Konsequenzen, richtig und vernünftig sind […]. Und solch eine Macht wird von den meisten Auto­ ren, die die Existenz moralischer Intuitionen vertreten haben, für den menschlichen Geist beansprucht; daher habe ich es für gerechtfertigt gehalten, diese Behauptung als Charakteristikum der Methode anzusehen, die ich als intuitionistisch bezeichne.«39

Hier werden die im engeren Sinne intuitionistische Behauptung, bestimmte Handlungen seien unabhängig von ihren Konsequenzen richtig, und die im weiteren Sinne intuitionistische Behauptung, solche Urteile seien dem menschlichen Geist durch vernünftiges Nachdenken unmittelbar einsichtig, unmittelbar miteinander verbunden.

39 Sidgwick,

setzung).

The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 200 (eigene Über-

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2.3  Offenkundig wahre Axiome und die (Teil-)Konvergenz zwischen Kantianismus und Utilitarismus Wie bereits angedeutet, hält Sidgwick den Alltags-Intuitionismus für unwissenschaftlich, da seine Vorgaben entweder nicht klar und präzise formuliert werden können oder miteinander in Konflikt geraten. Doch im Rahmen des philosophischen Intuitionismus findet Sidgwick mehrere Prinzipien, die seinen Test für offenkundig wahre Axiome bestehen.40 Um wie viele Axiome es sich dabei handelt oder handeln sollte, ist strittig. Jerome B. Schneewind macht vier aus, es könnte sich aber auch nur um drei handeln. Wenn man drei zählt, handelt es sich um das Axiom der Klugheit, das den Egoismus stützt, sowie um die Axiome der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit. Klar ist jedoch, dass Sidgwick die Axiome der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit explizit mit dem kantischen System in Zusammenhang bringt und dass er just auch diese Axiome als die Grundlage des Utilitarismus bezeichnet. Dabei handelt es sich zum einen um das Axiom der Gerechtigkeit, das er manchmal auch als Prinzip der Unparteilichkeit bezeichnet: »it cannot be right for A to treat B in a manner in which it would be wrong for B to treat A, merely on the ground that they are two different individuals, and without there being any difference

40  Laut

Schneewind gehören dazu: 1.) das Axiom der Gerechtigkeit, 2.) das Axiom der Klugheit, dem zufolge der bloße Unterschied zeitlicher Posteriorität kein vernünftiger Grund sei, dem Bewusstsein des einen Augenblicks mehr Bedeutung beizumessen als dem des anderen, 3.) die Axiome des Wohlwollens, denen zufolge das Gut eines jeden Individuums vom Gesichtspunkt des Universums aus betrachtet gleich wichtig ist und man als rationales Wesen gehalten ist, nach dem Guten insgesamt zu streben, nicht lediglich nach einem Teil davon. Vgl. Schneewind: Sidgwick’s Ethics and Victorian Moral Philosophy, Kap. 10.

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between the natures or circumstances of the two which can be stated as a reasonable ground for difference of treatment.«41

Kurz gesprochen besagt dieses Axiom, dass es nicht richtig sein kann, zwei Personen unterschiedlich zu behandeln, wenn es nicht einen Unterschied zwischen ihnen gibt, den man dafür als vernünftigen Grund anführen kann. Dieses Axiom, so schreibt Sidgwick explizit, sei nicht nur offenkundig wahr, sondern es stehe auch in einem direkten, logischen Folgerungszusammenhang mit Kants allgemeiner Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs,42 der zufolge man nur nach derjenigen Maxime handeln soll, durch die man zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.43 Diese Formel regelt laut Sidgwick zwar nicht alle Fragen der Ethik,44 sondern lediglich einen gewissen Teil davon, aber dennoch stellt sie seines Erachtens einen »unmittelbaren praktischen Folgesatz«45 des offenkundig wahren Axioms der Gerechtigkeit dar und muss daher selbst ebenfalls wahr sein. Sidgwick zeigt sich explizit beeindruckt von der allgemeinen Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs, aber er akzeptiert weder alle von Kant verwendeten praktischen Beispiele des Kategorischen Imperativs noch dessen letzte Begründung. So zeigen verschiedene Detaildiskussionen in den Methoden insbesondere, dass er nicht glaubte, aus der allgemeinen Gesetzesformel sei ein Lügenverbot herzuleiten.46 Wichtiger noch, in seinem Aufsatz über die Willensfreiheit bei Kant bezweifelt er, dass Kants ultimative Begründung der Moral in der menschlichen Freiheit Bestand haben kann. Und in einer Fußnote in der Einleitung zur sechsten Auflage der Methoden schreibt er zu The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 380. Ebd., S. 386. 43 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, S. 421. 44 Sidgwick, The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 209  f. 45  Ebd., S. 386 (eigene Übersetzung). 46  Ebd., S. 486  f., ausführlicher S. 317  ff. 41 Sidgwick, 42 

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Kants Ethik schließlich: »I […] was impressed with the truth and importance of its fundamental principle: – Act from a principle or maxim that you can will to be a universal law […] Kant’s resting of morality on Freedom did not indeed commend itself to me. […] What commended itself to me, in short, was Kant’s ethical principle rather than its metaphysical basis.«47 Aufgrund der Einschränkungen, die Sidgwick bezüglich der Gültigkeit der allgemeinen Gesetzesformel vorsieht, könnten Kantianer in seiner Behauptung, es existiere ein enger Zusammenhang zwischen dieser Formel und dem Axiom der Gerechtigkeit, durchaus Probleme sehen. Ein möglicher Einwand von Kantianern, die einen engen Zusammenhang zwischen Sidgwicks Axiom der Gerechtigkeit und der allgemeinen Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs bezweifeln, könnte folgendermaßen aussehen. Das Axiom der Gerechtigkeit, so könnte argumentiert werden, stelle lediglich eine Art allgemeines Gleichbehandlungsgebot dar, während die Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs eine Möglichkeit darstelle, mehr oder weniger beliebige, moralisch relevante Handlungsmaximen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Doch die Behauptung, das Axiom der Gerechtigkeit stelle ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot dar, wird der Formulierung nicht ganz gerecht. Es wird dort nicht behauptet, dass Personen, ­deren Eigenschaften und Umstände gleich sind, auch gleich behandelt werden sollten. Stattdessen wird behauptet, dass wenn Person A Person B auf eine bestimmte Weise behandelt und diese Handlungsweise als falsch eingestuft wird, dieses Urteil auch dann gelten muss, wenn die Positionen von A und B ausgetauscht werden. Der Unterschied wird sichtbar, wenn wir uns bestimmte Verteilungsfälle vorstellen: Wenn Person A es versäumt, Person B ein Weihnachtsgeschenk zu machen, folgt aus dem Axiom nicht, dass Person B nun auch Person A und allen anderen kein Geschenk machen sollte, damit allgemeine Gleichbehandlung hergestellt ist. Der Grund, warum dies nicht aus dem Axiom 47 Sidgwick,

The Methods of Ethics, S. xix.

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folgt, liegt darin, dass es schlicht nicht falsch ist, wenn eine Person A einer Person B kein Weihnachtsgeschenk macht, so dass das Axiom über die entgegengesetzte Schenkungsfrage schlicht nichts zu sagen hat. Was allerdings dennoch zu konstatieren bleibt, ist der Umstand, dass Kants allgemeine Gesetzesformel vermutlich einen breiteren Anwendungsbereich vorsieht als das Axiom der Gerechtigkeit. Und wenn dem so ist, dann dürfte es problematisch sein, dass Sidgwick dachte, die kantische Formel mit dem breiteren Anwendungsbereich folge logisch aus dem Axiom mit dem schmaleren Anwendungsbereich. Es müsste dann eher das Gegenteil der Fall sein. Das Axiom müsste aus der Gesetzesformel folgen. Kant dürfte in der Tat geglaubt haben, dass der Kategorische Imperativ und damit auch die allgemeine Gesetzesformel alle erdenklichen moralisch relevanten Maximen auf ihre Richtigkeit hin überprüfen kann. In Sidgwicks Axiom der Gerechtigkeit wird die Richtigkeit und Falschheit bestimmter Basishandlungen jedoch vorausgesetzt, und es wird auf dieser Grundlage eine weitere Art Meta-Regel konstatiert. Darüber hinaus behauptet Sidgwick explizit, dass eine Handlung, die der allgemeinen Gesetzesformel zufolge in Ordnung wäre, seines Erachtens durchaus aus anderen Gründen falsch sein könne. Die allgemeine Gesetzesformel kann also laut Sidgwick keine abschließende oder vollständige Richtigkeitsüberprüfung für alle moralisch relevanten Fälle leisten.48 In dieser Hinsicht ist also wohl eine abweichende Einschätzung der Funktion der allgemeinen Gesetzesformel zu konstatieren. Korrespondierend hierzu dürfte Sidgwick auch dem Axiom der Gerechtigkeit lediglich eine bescheidenere Funktion zugestanden haben. Auch das Axiom der Gerechtigkeit dürfte aus seiner Sicht nicht alleine in der Lage sein, alle moralisch relevanten Fragen zu regeln. Denn sonst müsste dieses Axiom ja als einziges offenkundig wahres Axiom der Ethik bestehen können – was es seines Erachtens nicht tut. 48 

Ebd., S. 209  f.

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Das zweite Axiom, das Sidgwick in expliziten Zusammenhang mit den Aussagen Kants bringt, ist das Axiom der Wohl­ tätig­keit. Dieses Axiom charakterisiert er folgendermaßen: »The good of any one individual is of no more importance, from the point of view (if I may say so) of the Universe, than the good of any other; unless, that is, there are special grounds for believing that more good is likely to be realised in the one case than in the other. And it is evident to me that as a rational being I am bound to aim at good generally, – so far as it is attainable by my efforts, – not merely at a particular part of it.«49

Das Wohl aller Individuen ist also gleich viel wert, und man soll auf das Wohl insgesamt und nicht lediglich auf einen Teil davon abzielen. Ein Grund für Bevorzugungen kann lediglich die Größe des herbeiführbaren Wohls sein. Dieses Axiom bringt Sidgwick in Zusammenhang mit der Menschheit-alsZweck-Formel des Kategorischen Imperativs, mit Kants Beispiel der Pflicht der Wohltätigkeit gegenüber anderen in der Grund­legung sowie mit seiner Tugend der Wohltätigkeit in der Tugend­lehre.50 Es ist natürlich zu bezweifeln, dass Kant seine Pflicht oder seine Tugend der Wohltätigkeit jemals entsprechend formuliert hätte. Es kann Sidgwick hier also nur darum gegangen sein, dass diese Pflicht bei Kant ebenfalls vorhanden ist, wenn auch in anderer Form. Insbesondere dürfte Kant niemals gesagt haben, dass man demjenigen zu helfen habe, für den man mehr ­Gutes herbeiführen kann. Gerade hierbei scheint es sich um eine genuin eigene These von Sidgwick zu handeln. Insbesondere scheint Sidgwick nicht anerkannt zu haben, dass die Pflicht zur Wohltätigkeit bei Kant lediglich innerhalb des Rahmens der Anforderungen des Kategorischen Imperativs und somit lediglich als pro tanto geltende Pflicht zu verstehen ist. 49  50 

Ebd., S. 382. Ebd., S. 386, 389  f.

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Es ist jedoch davon auszugehen, dass Sidgwick einen interessanten Grund für die Konvergenzbehauptung hinsichtlich von Wohltätigkeit hatte, der sein Verhältnis zum System von Kant noch etwas weiter erhellen kann. In einem kurzen Beitrag in Sidgwicks Outlines of the History of Ethics for English Readers  51 finden sich die folgenden Aus­sagen über die Menschheit-als-Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs, der zufolge man so handeln sollte, dass man die Menschheit, sowohl in der eigenen als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck und niemals bloß als Mittel gebraucht.52 Er diskutiert dort zunächst diese Formel sowie Kants zu dieser Formel hinführende Behauptung, die vernünftige Natur existiere als Zweck an sich selbst.53 Dann stellt er die Frage, was genau es bedeuten kann, einen anderen als Zweck an sich zu behandeln, und kommt mit Kant zu dem Schluss, es könne damit nicht gemeint sein, dass ich ihn so behandeln sollte, dass seine moralische Perfektionierung befördert wird, denn hierfür kann der andere laut Kant immer nur selbst sorgen. Stattdessen müsse es bedeuten, dass man das Glück54 des anderen befördern solle – und zwar in der Form, wie es sich aus dessen eigener Sicht darstellt. Dieses subjektive Glück des Mitmenschen muss ich mir zu meinem eigenen Zweck setzen, wenn ich ihn als Zweck an sich behandeln möchte. Diese Auffassungen untermauert er mit den einschlägigen Stellen aus der Grund­legung und aus der Tugend­lehre.55 51  Vgl.

»Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik«, in diesem Band. Ähnliche Aussagen finden sich in einer zweiseitigen Fußnote in The Methods of Ethics (Anm. 7), S. 389  f. Dort tritt die positive Argumentationslinie jedoch hinter vielen Detailkritiken an Kants Argumentationsgang etwas in den Hintergrund. Deutlicher wird der hier vorgestellte Zusammenhang in den Outlines of the History of Ethics. 52 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, S. 429. 53  Ebd., AA Bd. IV, S. 429. 54  Sidgwick spricht in seinem Text von »happiness«. Er bezieht sich damit auf Stellen, an denen Kant von »Glückseligkeit« spricht. 55  Vgl.: Kant, Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, Einleitung, AA

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Doch für Sidgwick dürfte es zu einem entscheidenden Pro­ blem führen zu behaupten, man behandle Menschen als Zweck an sich, wenn man sich ihnen gegenüber im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen von ihrem Glück wohltätig verhält: Da es viele verschiedene andere Menschen gibt, bedeutet dies nämlich, dass sich der gute Wille jeweils verschiedene gute Zwecke setzen muss. Und wenn dies der Fall ist, dann kann auch ein Konflikt innerhalb des ethisch Gebotenen auftreten. Während ­Konflikte zwischen vollkommenen Pflichten bei Kant nicht möglich sind, identifiziert Sidgwick den möglichen Raum für solche Konflikte im Bereich der unvollkommenen Pflichten der Wohltätigkeit gegenüber anderen.56 Wenn wir zwei konfligierende Handlungsempfehlungen haben, wie dies im begrenzten Bereich der Wohltätigkeit wohl auch bei Kant der Fall sein kann, dann brauchen wir laut Sidgwick ein übergeordnetes Prinzip, das diesen

Bd. VI, S. 385  ff.; Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zweiter Abschnitt, AA Bd. IV, S. 430. 56  Zur möglichen Kollision von Verpflichtungsgründen vgl. Kant, Einleitung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 224: »Ein Widerstreit der Pflichten (collisio officiorum. s. obligationum) würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur). Es können aber gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit (rationes obligandi), deren einer aber, oder der andere, zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes obligandi non obligantes), in einem Subjekt und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht Pflicht ist. – Wenn zwei solcher Gründe ein­ander widerstreiten, so sagt die praktische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Oberhand behalte (fortior obligatio vincit), sondern der stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz (fortior obligandi r­ atio vincit).«

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Konflikt auflösen kann. Dieses Prinzip ist für ihn das universal-hedonistische Prinzip des Utilitarismus. Zusammenfassend lässt sich zu der von Sidgwick angenommenen (Teil-)Konvergenz von Kantianismus und Utilitarismus das Folgende sagen. Es ist nicht nur die allgemeine Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs, sondern insbesondere auch die Pflicht und die Tugend der Wohltätigkeit, die Sidgwick am kantischen System für besonders überzeugend hält. Und es sind diese beiden Axiome, die aus seiner Sicht zugleich die Grundlage des Utilitarismus bilden. Die (Teil-)Konvergenz des kantischen und des Sidgwick’schen Systems liegt also in den Geboten der Gerechtigkeit oder Unparteilichkeit sowie der Wohltätigkeit begründet. Die utilitaristische Hinzufügung besteht in der Idee, die Größe des herbeiführbaren Wohls als übergeordnetes Prinzip für die Lösung von Wohltätigkeitskonflikten heran­ zuziehen.

3. Zu den Texten in diesem Band Die in diesem Band versammelten Texte Sidgwicks geben einen Einblick in die einflussreichsten Teile seines philosophischen Schaffens. Aufgenommen in diese Auswahl wurden zum ­einen Texte, die einige der zentralen, in den vorhergehenden Abschnitten erörterten Thesen Sidgwicks entfalten und die daher ergänzend zu den Methoden der Ethik, aber auch im eigenen Recht als Basistexte des Utilitarismus gelesen werden können. Darüber hinaus ermöglichen die Texte in diesem Band ­einen Einblick in Sidgwicks systematische Auseinandersetzungen mit verschiedenen philosophiegeschichtlich bedeutsamen Traditionen der deutschsprachigen und englischsprachigen Ethik. Zwei Aufsätze zur theoretischen Philosophie und ein Beitrag zur Geschichte der universitär institutionalisierten Philosophie in Cambridge runden den Band ab und deuten die ganze Breite des Denkens Sidgwicks an, dessen Interesse neben der Ethik ebenso Fragen der Metaphysik sowie der Hochschulpolitik galt.

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3.1  Der Utilitarismus »Utilitarismus« Der Text »Utilitarismus« stellt eine Kurzzusammenfassung der Methoden der Ethik von Sidgwick selbst dar. Es handelt sich dabei um einen Vortrag, den Sidgwick 1873 bei einem Treffen der britischen Metaphysical Society gehalten hat. Ein Jahr später erschien die erste Auflage der Methoden der Ethik. Seine Kurzcharakterisierung des Utilitarismus in diesem Text besagt, dass das richtige Verhalten dasjenige ist, das tendenziell die größte Menge an Glück für die größte Anzahl befördert. Es folgt eine explizite Abgrenzung dieser Position vom psychologischen Egoismus sowie vom Naturalismus, dem zufolge moralische Urteile auf außermoralische Freuden oder Leiden zurückführbar sind. In Bezug auf die Werttheorie des Utilitarismus ä­ ußert er sich kritisch zur utilitaristischen Prämisse der Kommensurabilität aller Güter. Hiermit nimmt er einen der bekanntesten Kritikpunkte gegen den Utilitarismus vorweg und gibt zu bedenken, dass sich die Kommensurabilitätsprämisse nicht auf empirische Weise überprüfen lasse. In Bezug auf das Beförderungsgebot des Utilitarismus stellt er einige wegweisende Überlegungen dazu an, wie verhindert werden kann, dass der Utilitarismus zwecks Beförderung des Glücks womöglich ein Anwachsen der Weltbevölkerung ins Unermessliche befürworten müsste. Dabei grenzt er seine eigene Lösung des Problems von derjenigen der führenden Ökonomen seiner Zeit ab. Diese Ökonomen vertraten die Ansicht, es sei nicht das Gesamtglück zu maximieren, sondern lediglich das durchschnittliche Glück. Dadurch müsste die Weltbevölkerung nur so lange anwachsen, bis durch die Geburt von weiteren Menschen das durchschnittliche Glücksniveau absinken würde. Doch Sidgwick vertritt eine Zwischenposition zwischen dieser Auffassung, die er den Ökonomen um Thomas Malthus zuschreibt, und einem klassischeren Utilitarismus, dem zufolge die Weltbevölkerung durchaus sehr stark ansteigen sollte, sofern dies den Gesamtnutzen maximiert. Seiner Zwischenposi-

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tion zufolge ist vielmehr das Produkt aus durchschnittlichem Glück und Bevölkerungsanzahl zu maximieren. Das bedeutet: Falls durch Hinzufügung weiterer Personen das durchschnittliche Glück konstant bleibt, sollte es laut Sidgwick mehr Personen geben – die Malthusianer hingegen müssten in dieser Situation bezüglich der Bevölkerungszahl indifferent bleiben. Dennoch weicht Sidgwick in Bezug auf zukünftige Generationen grundsätzlich vom Maximierungsgebot ab und hält vielmehr ­einen möglichst hohen Durchschnittsnutzen für relevant. Die Grundstruktur der Methoden wird in »Utilitarismus« durch eine Zusammenfassung des Beweises des Utilitarismus verdeutlicht, wie er Sidgwick gegenüber den Vertretern der beiden anderen Methoden der Ethik vorschwebt, die er neben dem Utilitarismus anerkennt – nämlich gegenüber Vertretern des Intui­tionismus und des Egoismus. Gegenüber Vertretern des Intuitionismus muss man laut Sidgwick beweisen, dass Prinzipien wie Wahrheit oder Gerechtigkeit lediglich einen abgeleiteten Charakter haben und dass sie miteinander in Konflikt geraten können, so dass ein übergeordnetes Prinzip benötigt wird, um den Konflikt aufzulösen: das utilitaristische Prinzip. Schwieriger ist der Beweis des Utilitarismus gegenüber dem Egoisten. Den Egoisten muss man laut Sidgwick dazu bringen anzuerkennen, dass sein eigenes Glück lediglich ein Teil des gesamten Glückes ist. Dann wäre ihm gegenüber ein Einfallstor für die Forderung vorhanden, dass nicht nur das Glück des Egoisten selbst, sondern das universale Glück zu befördern ist. Wenn der Egoist jedoch darauf beharrt, lediglich sein eigenes Glück sei sein höchstes Ziel, so ist kein Spielraum für diesen Beweis des Utilitarismus vorhanden. Wir befinden uns dann in einem fundamentalen Dualismus der praktischen Vernunft. »Der Utilitarismus: Tucker und Paley«, »Bentham und seine Schule« sowie »J. S. Mill und der Assoziationismus« Die Methoden der Ethik enden mit der Darstellung eines fundamentalen Dualismus der praktischen Vernunft. Diesem Dua­ lismus zufolge ist es immer rational, sich moralisch (also für

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Sidgwick utilitaristisch) zu verhalten, doch leider ist es immer auch rational, sich egoistisch zu verhalten. Über dieses Analyse­ ergebnis dürfte Sidgwick selbst nicht sonderlich glücklich gewesen sein. Endete doch die erste Auflage der Methoden angesichts dieses Dualismus mit der verzweifelten Feststellung, der Versuch, ein Ideal rationalen Verhaltens zu finden, sei unweigerlich zum Scheitern verdammt.57 Die frühen Utilitaristen wie auch Bentham und Mill liest Sidgwick daher insbesondere mit Blick auf die Frage, wie sie die Kluft zwischen dem Streben nach dem eigenen Glück und dem moralischen Streben nach dem Glück der größten Anzahl zu überwinden versuchen. Beim theologischen Utilitarismus Paleys diagnostiziert er hierbei noch die schlichte Behauptung, das Streben nach dem allgemeinen Glück sei den Menschen eine persönliche Freude. Um der Möglichkeit sadistischer F ­ reuden als Einwand gegen seine Ansicht zuvor zu kommen, diskutiert Paley die allgemeine Nützlichkeit von Gesetzen. Doch bei genauerer Lektüre sieht Sidgwick dahinter – ähnlich wie bei ­Tucker und Gay – die Überzeugung, dass Gott für die Über­ einkunft zwischen dem Egoismus und dem moralischen Streben nach dem allgemeinen Guten verantwortlich sei, indem er seine Geschöpfe nach dem irdischen Leben für ihr Verhalten belohnt oder bestraft. The Methods of Ethics, 1. Aufl., S. 473: »the Cosmos of Duty is thus really reduced to a Chaos, and the prolonged effort of the human intellect to frame a perfect ideal of rational conduct is seen to have been foredoomed to inevitable failure«. In der 7. Auflage finden wir an dieser Stelle (S. 509) interessanterweise die Andeutung eines transzendentalen Arguments, das den Dualismus vielleicht noch auflösen könnte: »If on the other hand we find that in our supposed knowledge of the world of nature propositions are commonly taken to be universally true, which yet seem to rest on no other grounds than that we have strong disposition to accept them, and that they are indispensable to the systematic coherence of our beliefs, – it will be more difficult to reject a similarly supported assumption in ethics, without opening the door to universal scepticism.« 57 Sidgwick,

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Bei Bentham diskutiert Sidgwick hierzu die verschiedenen Arten von Sanktionen, beispielsweise das Strafrecht, die dem frühen Bentham zufolge sicherstellen sollen, dass das individuelle Glück und das Glück der größten Anzahl Hand in Hand gehen. Beim späteren Bentham nimmt er dann die schlichte Stipulation wahr, der zufolge die beiden Formen des Glücks auf dasselbe hinausliefen – eine Ansicht, die die Anhänger Benthams später auf verschiedene Weisen modifiziert haben und die auch Sidgwick wenig erhellend findet. Bei Mill diskutiert er dazu schließlich insbesondere das Gesetz der Assoziation, das er in Kapitel drei in dessen Schrift Utilitarismus entwickelt findet. Das Gesetz der Assoziation verbindet gewohnte Gefühle mit moralischen Vorstellungen. Der Mensch bildet die Gewohnheit des Moralischseins demnach zunächst aus, weil sie im Allgemeinen der nicht-moralischen Freude zuträglich ist. Das Moralischsein wird unter dem Einfluss der Assoziation dann jedoch selbst zu einer Quelle von Freude und Leid. Mill kommt auf dieser Grundlage zu dem Schluss, es gebe eine internalisierte Sanktion in Form des schlechten Gewissens, die greife, wenn man gegen die Moral verstößt. Dieser Position scheint Sidgwick nicht ohne Sympathie gegenüber zu stehen, obgleich er – wie auch Mill selbst – betont, dass die psychologische Assoziation sicherlich nicht zu einer vollständigen Überein­stimmung von Eigeninteresse und Moral führen kann.

3.2  Das Gute In utilitaristischen Theorien spielt bekanntlich die jeweils zugrundeliegende Theorie des Guten eine bedeutende Rolle. Sidgwicks Theorie des Guten ist im Rahmen der Methoden daher ebenfalls von besonderer Bedeutung. Gleich zwei der besprochenen drei Methoden – nicht nur der Utilitarismus, sondern auch der Egoismus – empfehlen die Beförderung des Guten. Der Egoismus, der in den Methoden regelmäßig als individueller Hedonismus bezeichnet wird, empfiehlt die Beförderung

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des eigenen Guten, während der Utilitarismus, der regelmäßig als universaler Hedonismus bezeichnet wird, die Beförderung des allgemeinen Guten empfiehlt. »Der Hedonismus und das höchste Gut« In seinem Aufsatz »Der Hedonismus und das höchste Gut«, der 1877 in der Zeitschrift Mind erschien, versucht Sidgwick, einige historische Deutungslinien zu der in der Moderne häufig festgestellten Diskrepanz zwischen individuellem und universalem Glück zu entwickeln. Sidgwick vertritt in diesem Aufsatz die Auffassung, es sei ein durch Hobbes erkanntes und durch Butler weiter untersuchtes Phänomen der modernen Philosophie, ­einen fundamentalen Widerspruch zwischen dem Eigeninteresse des Handelnden und dem Wohl der anderen zu sehen. Zum Denken der alten Griechen, dem zufolge tugendhaftes Verhalten gegenüber anderen auch zum eigenen Glück beitrage, äußert er sich kritisch. Das Christentum, so Sidgwick, transferierte die Lösung des besagten Spannungsverhältnisses dann in das Jenseits, denn spätestens dort soll das moralische Verhalten mit Freude belohnt werden. Diese Lösung kann er angesichts seiner lebenslangen Schwierigkeiten, sich mit der Theologie zu arrangieren, nicht akzeptieren. Bei den Anhängern Darwins schließlich erblickt er den Versuch, das Zusammenfallen von individuellem und kollektivem Wohl evolutionär zu begründen. Diese Lösung wird von ihm als unklar ausformuliert verworfen. »Freude und Wunsch« Die Überlegungen aus diesem Text finden sich in teils identischem Wortlaut und unter dem gleichlautenden Titel »Freude und Wunsch« in Buch I, Kapitel IV der Methoden wieder. Sidgwick argumentiert hier, ein Grund für den unzulänglichen Umgang mit dem Dualismus der praktischen Vernunft bei seinen utilitaristischen Vorgängern läge in dem Umstand, dass diese sich entweder überhaupt nicht oder nicht in ausreichendem Maß von der Idee des psychologischen Egoismus gelöst hätten. Besonders entschieden kritisiert er den psychologischen

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Egoismus bei Bentham, der verhindert habe, dass dieser den Unter­schied zwischen individuellem und universalem Hedonismus erkennen konnte: Bentham nahm zum einen an, dass es unausweichlich sei, nach dem eigenen Wohl zu streben. Zum anderen musste er aber zugestehen, dass die Menschen manchmal auch dem Gemeinwohl dienten. Angesichts dieser beiden Umstände liegt bei Bentham dann die Auffassung nahe, dass es ­einen Unter­schied zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl gar nicht gibt. Denn ansonsten würden die bei ihm de facto eigen­interessiert agierenden Menschen ja nicht regelmäßig nach dem Gemeinwohl streben. Benthams Unvermögen, den Dualismus der praktischen Vernunft überhaupt zu erkennen, liegt damit schon in seiner Annahme des psychologischen Egoismus begründet, so Sidgwick. Auch bei Mill nimmt er noch eine entsprechende Vermischung zwischen psychologischem und ethischem Egoismus wahr. Er kritisiert, dass Mill in Kapitel zwei seiner Utilitarismus-Schrift einerseits behauptet, das Gewünschte und das für angenehm Gehaltene seien grundsätzlich gleichbedeutend.58 Andererseits schreibt er in Kapitel vier jedoch, dass die Menschen mitunter dasjenige wählten, wovon sie wüssten, dass es weniger angenehm sein wird.59 Aufgrund der letzten Beobachtung hätte Mill die geringe Plausibilität des psychologischen Egoismus laut Sidgwick klarer erkennen und sehr viel deutlicher von seiner eigenen Position unterscheiden müssen. Näher an der Wahrheit liegt seines Erachtens Butler, der darlegt, dass man zunächst einmal Interesse an einer Sache außerhalb der eige­nen Person haben muss, um das Eigeninteresse überhaupt befördern zu können. Direkt nach persönlicher Freude zu streben statt nach einer Sache, die einem diese Freude sozusagen als Nebenwirkung bereitet, ist demnach schwerlich möglich.

Stuart Mill (2006 [1861]): Utilitarianism / Utilitarismus. Übers. u. hg. v. Dieter Birnbacher, S. 32. 59  Ebd., S. 116. 58 John

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»Der Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens« Die in diesem Text beschriebenen Überlegungen sind teils im Wortlaut in eine zweiseitige Fußnote am Ende von Buch I, Kapitel 4 der Methoden eingegangen. Sidgwick unternimmt hier eine Differenzierung des Verhältnisses zwischen menschlichem Wünschen und der Entstehung von Freude oder Leid. Diese Differenzierung wirft ein interessantes Licht auf die interpretatorische Frage, ob er, insgesamt betrachtet, eine bestimmte Wunscherfüllungstheorie oder vielmehr eine ideale Theorie des Guten vertreten hat. Zudem weist er in diesem Text die These zurück, dass alles Streben leidvoll sei – eine Position, die er bei den Deutschen Pessimisten um Schopenhauer und bei einigen Psychologen seiner Zeit antraf. Das Wünschen an sich ist laut Sidgwick keineswegs leidvoll – auch wenn es einen Mangel zu signalisieren scheint, den der Wünschende ja offensichtlich beheben möchte. Unangenehm erscheint das Wünschen häufig (aber auch nicht immer) dann, wenn die betreffende Person im Wünschen verharren muss, weil es keine Möglichkeit gibt, das Gewünschte zu realisieren. Doch auch in diesen Fällen muss man das Wünschen an sich von den anderen Bestandteilen der Gefühlssituation einer solchen Person – nämlich ihren in diesem Fall negativen Erwartungen – unterscheiden. Auch die Auffassung, dass der Freude ein entsprechender Wunsch vorausgegangen sein muss, hält Sidgwick für falsch. Nach einer langen Phase des Fastens beginne man mit dem Essen oft zunächst einmal ohne Appetit, doch mit der Freude aufgrund der Befriedigung des Hungers entstehe dann auch der Appetit. Das Verhältnis zwischen Wunsch und Freude kann also in genauem Gegensatz zu dem stehen, was gemeinhin angenommen wird. »Der Unterschied zwischen Sein und Sollen« In diesem sehr kondensierten metaethischen Aufsatz befasst sich Sidgwick mit der Frage, ob das, was ›sein soll‹, in irgendeiner Form auf das, was de facto von den Menschen für gut oder für richtig gehalten wird, reduziert werden kann. Der Text

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Einleitung

stellt eine Kritik des metaethischen Naturalismus dar, dem zufolge sich normative Aussagen auf rein deskriptive Aussagen zurückführen lassen. Sidgwick knüpft damit an das berühmte Hume’sche Gesetz an, das den Übergang vom ›Sein‹ zum ›Sollen‹ verbietet, und nimmt in manchem G. E. Moores Kritik des Naturalismus in Principia Ethica (1903) vorweg. Dazu diskutiert er unter anderem die These, Sollens-Urteile seien als psychologische Urteile über den Sprecher dieser Urteile zu verstehen. Doch in diesem Fall, so Sidgwick hierzu im Vorgriff auf Moore, wären moralische Meinungsunterschiede nicht mehr erklärbar, da dann A, der eine Sache für falsch hält, über seinen psychischen Zustand der Missbilligung sprechen, und B, der die identische Sache für richtig hält, ebenfalls über seinen eigenen psychologischen Zustand sprechen würde. Wenn normative Urteile wirklich so zu verstehen wären, hätten aber weder A noch B Anlass, die Wahrheit des jeweils anderen Urteils zu bezweifeln, und es bestünde demnach kein diskussionswürdiger Meinungsunterschied zwischen ihnen. Auch der Gedanke, Begriffe wie ›Wohlfahrt‹ oder ›Gesundheit‹ seien inhaltsreiche moralische Begriffe (engl. mitunter: »thick moral concepts«), die sowohl über deskriptive als auch über normative Komponenten verfügen, sowie der Gedanke, dass der Begriff eines ›Zieles‹ oder eines telos deskriptive und normative Elemente verbinden und damit einen Übergang vom Sein zum Sollen ermöglichen könne, werden von Sidgwick angeführt. In zeitgenössischen metaethischen Diskussionen argumentieren Naturalisten in diesem Zusammenhang für eine Ununterscheidbarkeit von Beschreibung und Wertung, während Kritiker die Bedeutungskomponenten für unterscheidbar halten. Sidgwick schließt sich der naturalismuskritischen Posi­tion an und rundet seine Überlegungen mit Beobachtungen zum Begriff der Reduktion in der Wissenschaftstheorie sowie zur theologischen Rückführung des Gesollten auf göttliche Gebote ab.

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3.3  Zur deutschsprachigen Ethik »Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik: Kant, post-kantische Ethik, Hegel, Deutscher Pessimismus, Schopenhauer und Hartmann« Dieser Auszug aus Sidgwicks Monographie Outlines of the History of Ethics for English Readers bietet nicht nur einige knappe Darstellungen zu Hegel und zum deutschen Pessimismus von Schopenhauer und Eduard von Hartmann, sondern kann auch als verständliche Zusammenfassung seiner wichtigsten Ansichten zu Kant gelesen werden. Er erläutert hier einführend Kants Kategorischen Imperativ in der allgemeinen Gesetzesformel, der zufolge man stets nur nach derjenigen Maxime handeln soll, von der man wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, sowie den Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten bei Kant. Auch die Menschheit-als-Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs wird diskutiert, und Sidgwick stellt auf die weiter oben bereits skizzierte Weise dar, was es für Kant bedeuten kann, einen anderen als Zweck an sich zu behandeln. Dabei kommt er zu dem Schluss, man müsse dafür das Glück des anderen befördern – ein Umstand, der ihn zu der ebenfalls bereits erwähnten Feststellung führt, im Rahmen der unvollkommenen Pflicht der Wohltätigkeit könne es bei Kant zu Pflichtenkollisionen kommen, die nur durch ein übergeordnetes Prinzip wie den Utilitarismus aufgelöst werden können. Besonders wichtig ist ihm in dieser Darstellung auch der Zusammenhang zwischen Pflicht und freiem Willen bei Kant. Die Erkenntnis, dass ich das Richtige tun soll, weil es richtig ist – und nicht, weil es meiner Neigung entspricht –, impliziere bei Kant, dass dieser rein rationale Wille mit handlungsmotivierender Kraft auch tatsächlich möglich sei. Es deutet sich hier also eine Diskussion des transzendentalen Arguments an, dem zufolge eine rein praktische Notwendigkeit zu einer theoretischen Existenzaussage führt. Laut Kant müsse man zudem eine kosmische Ordnung annehmen, die dafür sorgt, dass das Glück

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Einleitung

irgend­wann einmal dem Verdienst gemäß verteilt sein wird, da man ansonsten nicht davon ausgehen könne, dass die Sittlichkeit ihre volle Triebkraft entfalten kann. Zwar könne man  – ähnlich wie bei der Existenz der äußeren Welt – die Existenz Gottes laut Kant nicht theoretisch beweisen, sie sei jedoch eine Notwendigkeit der praktischen Rationalität, da man ansonsten nicht rational das erfüllen könne, was die praktische Vernunft als »kategorisch« vorgeschrieben erkennt. Diese transzendentalen Argumentationen bilden für Sidgwick die Brücke zwischen Kants theoretischer und praktischer Philosophie. »Die Kantische Konzeption des freien Willens« Der Text »Die Kantische Konzeption des freien Willens«, der auch in der Zeitschrift Mind erschien, entspricht in großen Teilen einem ausführlichen Appendix aus den Methoden. Sidgwick argumentiert in diesem Text, Kant verwende den Begriff der Freiheit in doppeldeutiger Weise: (1) zum einen zur Bezeichnung eines Willens, der sich frei zwischen richtig und falsch entscheiden kann, (2) zum anderen im Sinne eines Willens, der nur frei ist, wenn er sich für das Richtige entscheidet, und der heteronom ist, wenn er sich für das Falsche entscheidet. Diese beiden Verständnisweisen, so versucht Sidgwick anhand zahlreicher Zitate nachzuweisen, würden von Kant nicht klar genug unterschieden. Die Konsequenz aus dieser Doppeldeutigkeit bei Kant ist für die praktische Philosophie laut Sidgwick beträchtlich, wie die folgende Passage illustriert: »Ich denke, dass die gesamte Thematik der »Heteronomie« des Willens aufgegeben oder grundlegend modifiziert werden muss, wenn sie mit Blick auf empirische oder sinnliche Impulse ertrag­ reich sein soll. Und ich befürchte, dass die meisten Leser Kants diesen Verlust für gravierend halten, da nichts in Kants ethischen Schriften faszinierender ist als die Idee – welche er wiederholt in verschiedenen Formen erläutert –, dass ein Mensch das Ziel seines wahren Selbst realisiert, wenn er das moralische Gesetz

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befolgt, wohingegen er zum Subjekt physikalischer Kausalität, zum Subjekt von Gesetzen einer animalischen äußeren Welt wird, wenn er fälschlicherweise zulässt, dass seine Handlungen von empirischen oder sinnlichen Impulsen bestimmt werden.«60

Ein Aufgeben der möglichen Heteronomie des freien Willens führt laut Sidgwick in ein Dilemma. Man müsse dann entweder die notwendige Verbindung von moralischer Rationalität und Freiheit aufgeben, so dass das letztbegründende Argument, warum man moralisch sein soll, nur noch wie der leere Apell wirken würde, seine Freiheit richtig zu nutzen. Oder aber man müsse anerkennen, dass ein Schurke, der das Falsche wählt, eine ebenso transzendental notwendige Entscheidung trifft, wie ein Heiliger, der das Richtige wählt. Damit, so Sidgwick, würde dann jedoch die gesamte kantische Methode der Moralbegründung einstürzen. Im Haupttext der Methoden wird diese fundamentale Kritik an der Moralbegründung Kants nur in Ansätzen deutlich. In Buch 1, Kap. 5, befasst Sidgwick sich zwar mit der Willensfreiheit, doch tut er dies dort hauptsächlich, um zu zeigen, dass diese Diskussion für seine Zwecke nicht relevant ist. Und im Vorwort zur sechsten Auflage der Methoden erfahren wir über Sidgwicks Haltung zu Kants Ethik, wie weiter oben bereits zitiert, lediglich kurz, er sei beeindruckt von der allgemeinen Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs, nicht jedoch von dessen metaphysischer Grundlegung.61

60 

Vgl. in diesem Band, S. 118. The Methods of Ethics. Vorwort zur 6. Auflage, Wiederabdruck in der 7. Aufl., S. xix. 61 Sidgwick,

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Einleitung

3.4  Zur theoretischen Philosophie bei Kant »Der sogenannte Idealismus von Kant« sowie »Kants Zurückweisung des Idealismus« Diese beiden kurzen Kommentare von Sidgwick, in denen er sich mit der Frage beschäftigt, ob Kants Erkenntnistheorie als idealistisch zu bezeichnen sei, sowie sein Aufsatz zur Willensfreiheit bei Kant stellen spiegelbildliche Kritiken an dessen transzendentalen Argumentationen dar. Den historischen Hintergrund der beiden Kommentare zum Idealismus bei Kant bildet die Tatsache, dass Kants theoretische Philosophie im englischen Raum insbesondere durch Colderidge bekannt gemacht wurde. Doch Colderidge, der bereits zu Kants Lebzeiten dessen theoretische Werke rezipiert hat, ist laut Sidgwick bereits stark von den Idealisten um Schelling beeinflusst gewesen. Daher, so Sidgwick, sei der in Großbritannien vorherrschende theoretische Kant ein bereits durch Hegel, Schelling und den subjektiven Idealismus Fichtes vermittelter Autor. Sidgwick ist sich mit anderen Kritikern darin einig, dass Kant sich mit zwei verschiedenen Strategien gegen die Behauptung verwahrt, er sei ein Idealist. Zum einen lanciert er, wie man in den Prolegomena sehen könne, das Argument des Realismus: ›Es gibt reale Dinge an sich, aber die Art ihrer Existenz ist uns gänzlich unbekannt.‹ In der Kritik der reinen Vernunft hin­ gegen formuliere er eine zweite, transzendentale Antwort: ›Die äußeren Dinge sind im letzten mental konstruiert, das Selbst braucht sie als anderes, um sich seines Daseins bewusst zu werden.‹ Sidgwick argumentiert, Kant müsse sich des Unterschieds zwischen den beiden Positionen gar nicht unbedingt bewusst gewesen sein, denn sonst hätte er die transzendentale Antwort nicht als eine Zurückweisung des Idealismus begreifen können, da sie schließlich eindeutig idealistisch sei.

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3.5  Sidgwick als Hochschulpolitiker »Philosophie in Cambridge« In diesem letzten Text der Sammlung beklagt Sidgwick die lange Zeit eher bedauerliche Situation der Philosophie im Allgemeinen und der Moralphilosophie im Besonderen, die er seinerzeit in Cambridge vorfand. Vor allen Dingen die einflussreichen Entwicklungen in den Naturwissenschaften und in der Mathematik macht er für die Verdrängung der Philosophie verantwortlich. Trotz der nunmehr geschaffenen Möglichkeit eines moralphilosophischen Studiengangs und trotz der personellen Verbesserungen im Bereich der Lehre sieht er die Philosophie in Cambridge weiterhin im Schatten der formaleren Disziplinen und klagt: »Im Cambridge {des Jahres} 1876 wäre es selbst für Aristoteles schwierig, eine ernsthafte Zuhörerschaft von nicht-graduierten Studenten für sich zu gewinnen, es sei denn, sie gingen davon aus, sein Unterricht würde sich für e­ inige Tripos-­Prüfungen ›auszahlen‹.«62 Der Text beinhaltet verschiedene Hinweise auf Verbesserungspotentiale und e­ ndet mit einer Prüfungsordnung für den Studiengang der Moralphilosophie, aus dem hervorgeht, wie sich die Philosophen in Cambridge den Kanon zentraler philosophischer Texte und Autoren damals vorgestellt haben dürften. Sidgwicks behutsames Philosophieren, seine klare, dabei stets sorgfältig abwägende Kritik und sein Bewusstsein für die Herausforderungen philosophischer Ethik haben ihm einen festen und bleibenden Platz in der englischsprachigen praktischen Philosophie gesichert. Dieser Band möchte einen Beitrag dazu leisten, dass Sidgwick auch innerhalb deutschsprachiger Diskussionen die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die sein Denken verdient – die sein Denken gerade deswegen verdient, weil es nicht zur Schaffung eines hermetisch abgeschlossenen Lehrgebäudes führt, sondern den Anschluss an unterschiedliche Tra62 

Vgl. in diesem Band, S. 145.

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Einleitung

ditionen der Ethik sucht und sich der Schwere der eigenen Begründungshypotheken stets bewusst bleibt. In einem Nachruf hat Leslie Stephens 1901 diese Bedachtsamkeit, die Sidgwick inter­essant macht, treffend charakterisiert: »Sidgwick konnte natürlich schwerlich eine Schule im gewöhnlichen Sinne gründen. Ein ›Sidgwickianer‹ im Sinne der Akzeptanz eines definitiven philosophischen Grundprogramms wäre beinahe ein begrifflicher Widerspruch. In jedem Fall würden, wo es zwei Sidgwickianer gibt, sie sich notwendigerweise in einen Debattierklub auflösen. Sidgwick hatte nicht die Anziehungskraft eines Lehrers, der zu definitiven Ergebnissen gelangt war und die Losung einer Gruppe von Enthusiasten weitergeben kann. Wenn er auch die charakteristischen Verdienste einer solchen Position nicht hatte, war sein Einfluss frei von diesen Fehlern. Dieser Einfluss führte nicht dazu, Schwierigkeiten zu ignorieren, sondern dazu, ihnen angemessen zu begegnen. Wenn er auch nicht beanspruchte, die großen Probleme gelöst zu haben, war er doch vollkommen davon überzeugt, dass sie lösbar sind und dass ein Mensch sehr wohl sein Leben darauf verwenden kann, eine Lösung zu beschleunigen.«63

63 

Übersetzt aus Leslie Stephen (1901): Henry Sidgwick, S. 8.

ED I T OR IS CHE H I NWE I SE

Die in diesem Band versammelten Texte werden hier zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt. Die Edition folgt zwei Leitgedanken: Zum einen soll die Sprache Sidgwicks mit ihren Stilvorlieben und Eigenheiten wie auch die formale Gestaltung seiner Texte in der deutschen Ausgabe so weit wie möglich sichtbar bleiben. Zum anderen sollen die Texte durch Anmerkungen, Erklärungen und die Hinzufügung notwendiger Verweise auf von Sidgwick herangezogene Literatur umfassend in einem handhabbaren Anmerkungsapparat erschlossen werden. Das hierfür gewählte Vorgehen und die Funktionsweise des Anmerkungsapparates sollen hier eingangs kurz erläutert werden. Sprache  Sidgwick schreibt ein akademisches, bisweilen technisches, dabei durchaus humorvolles und stilistisch ansprechendes Englisch, welches durch die wiederholte Verwendung langer und komplex gebauter Satzstrukturen gekennzeichnet ist. Die Übersetzungen versuchen durchweg, diesen Stil wiederzugeben. Immer wieder galt es jedoch, die Treue zum Original gegen die Lesbarkeit der deutschen Übersetzung abzuwägen. Aus diesem Grund wurde gelegentlich entschieden, aus einem englischen Satz mehrere deutsche Sätze zu machen. Dadurch notwendig gewordene Ergänzungen, Wiederholungen der Bezugswörter etc. sind entsprechend gekennzeichnet (s. u., { }). { }  Geschweifte Klammern kennzeichnen Hinzufügungen der Herausgeber. Diese finden sich an zwei Orten. Sie stehen zum einen im Haupttext, um Zusätze der Herausgeber, die aufgrund von Übersetzungsentscheidungen im Interesse von Authentizität und Lesbarkeit notwendig geworden sind, kenntlich zu machen. Im Regelfall handelt es sich dabei um Wiederholungen von Subjekten und anderen Bezugswörtern oder um die Ergänzung von Partikeln im weiteren Sinne. Zum anderen finden

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Editorische Hinweise

sich geschweifte Klammern in den von Sidgwick selbst gesetzten Fußnoten (s. u., Fußnoten). Sie markieren von den Herausgebern beigefügte Zusätze, die sich unmittelbar erläuternd auf das in den Fußnoten Gesagte beziehen, indem sie beispielsweise einen Literaturhinweis vervollständigen oder die Übersetzung eines von Sidgwick verwendeten fremdsprachlichen Ausdrucks liefern. Fußnoten  Anmerkungen Sidgwicks werden in dieser Ausgabe  – wie auch in den Originaltexten – als Fußnoten wiedergegeben. Auch auf die Wahrung der ursprünglichen Form der Fußnoten wurde Wert gelegt: Unvollständige bibliographische Angaben in Fußnoten etwa wurden nicht stillschweigend ergänzt, sondern als Herausgeberzusätze entsprechend ({ }) kenntlich gemacht. Herausgeberanmerkungen  Alle Anmerkungen der Herausgeber – mit Ausnahme der direkt in den von Sidgwick gesetzten Fußnoten gegebenen Hinweise (s. o.) – finden sich im Anhang ab Seite 179. In den Anmerkungen werden Sacherläuterungen, so sie das Verständnis der Texte erleichtern, gegeben und von Sidgwick verwendete fremdsprachliche Begriffe übersetzt. Zum anderen wird in den Herausgeberanmerkungen die von Sidgwick zitierte Literatur mit genauen bibliographischen Angaben belegt. Zitate  Sidgwick erweist sich in seinen Texten als Philosoph mit profunden Kenntnissen der Geschichte der Philosophie. Er zitiert regelmäßig klassische Autoren des Faches wie auch einschlägige Fachliteratur seiner Zeit. Sein Umgang mit den Zitaten ist sehr unterschiedlich. Teilweise werden sie belegt, teilweise ohne nähere Angabe angeführt. Manche Zitate werden wortgetreu wiedergegeben, andere werden gekürzt und teilweise wird in die Zitate eingegriffen. Der Umgang Sidgwicks mit seiner Literatur soll in dieser Edition durch drei Grundsätze nachvollziehbar dargestellt werden. Zum Ersten wird im

Editorische Hinweise

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Haupttext die Version des jeweiligen Zitates übersetzt wiedergegeben, die Sidgwick selbst anführt. Auch in dieser Hinsicht hält sich die Übersetzung somit an Sidgwicks Vorlage. Zum Zweiten wird in den Herausgeberanmerkungen das Original­ zitat vollständig angeführt, wobei nach Möglichkeit ganze Sätze wiedergegeben werden: Zitiert Sidgwick also nur einen Satzteil, wird hier zur Einsicht in den Zusammenhang des Originals in der Regel der ganze Satz wiedergegeben. Zum Dritten schließlich sollen in der Herausgeberanmerkung die (u. U. gegebenen) Differenzen zwischen dem Original und der von Sidgwick gebotenen Fassung sichtbar werden. Um dieses zu erreichen und unnötige Doppelanführungen eines jeden Zitates zu vermeiden, wird in den Herausgeber­anmer­ kungen mit einer serifenlosen Schrift gearbeitet. Die Teile der im ganzen Satzzusammenhang wiedergegebenen Belegstellen, die Sidgwick in seinem Text wörtlich anführt, sind in den Anmerkungen in dieser Schrift gesetzt. Von Sidgwick ausgelassene Bestandteile der ursprünglichen Texte erscheinen im normalen Satz, von Sidgwick verfasste Zusätze zu den ursprünglichen Texten erscheinen, in eckige Klammern ([ ]) gesetzt, ebenfalls in serifenloser Schrift. Ein Beispiel mag dieses verdeutlichen: An einer Stelle (vgl. S.  193  f., Anm. 9) zitiert Sidgwick Samuel Clarke. Der Referenz­ satz lautet bei Clarke vollständig: »Men never will generally, and indeed ’tis not very reasonable to be expected they should, part with all the comforts of life and even life itself without expectation of any further recompence.« Sidgwick verwendet ­einen Teil des Satzes als Zitat und schreibt »it is not very reasonable to be expected that they should«. Entsprechend der gewählten Darstellungsweise wird das Zitat in der Anmerkung wie folgt wiedergegeben: »Men never will generally, and indeed ’tis [it is] not very reasonable to be expected [that] they should, part with all the comforts of life and even life itself without expectation of any future recompence.« Um Clarkes genaue Formulierung zu erfahren, muss somit alles gelesen werden, was sich außerhalb der eckigen Klammern befindet; um Sidgwicks

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Editorische Hinweise

Verwendung und ggf. seine Veränderung des Zitates nachzuvollziehen, muss alles gelesen werden, was in serifenloser Schrift gesetzt ist, inner- wie außerhalb der eckigen Klammern. In den wenigen Fällen, in denen die Unterschiede zwischen der Originalfundstelle und Sidgwicks Zitierweise mittels dieser Darstellungsform nicht angemessen erfasst werden können – etwa im Falle der Zuordnung von Kursivierungen –, klären explizite Herausgeberkommentare in den Anmerkungen die noch offenen Fragen. Nachweise  In den Anmerkungen werden alle von Sidgwick nicht belegten Fundorte von Zitaten bzw. Belegstellen für Verweise in der Form »Autor Jahreszahl, Kurztitel, Seitenzahl« vermerkt. Das Verzeichnis »Von Sidgwick zitierte Literatur« (S. LVI  f.) enthält die vollständigen bibliographischen Angaben. In denjenigen Fällen, in denen von Sidgwick zitierte Texte in mehreren Ausgaben vorliegen, wurden für den Nachweis der exakten Fundstelle solche Ausgaben herangezogen, die für den Leser leicht greifbar sind. Bei älteren Werken handelt es sich dabei oftmals um im Internet frei zugängliche und benutzerfreundlich aufbereitete Digitalisate von Originaldrucken, bei neueren Werken wurde, wo möglich, auf kostengünstige und wissenschaftlichen Standards genügende aktuelle Ausgaben verwiesen. Kant  In vielen der in diesem Band versammelten Texte zitiert Sidgwick Werke Kants. Dabei verfährt er höchst unterschiedlich: Teilweise zitiert er Kant wörtlich nach deutschsprachigen Ausgaben, teilweise zitiert er englische Übersetzungen, teilweise schließlich übersetzt er die Zitate selbst ins Englische. Mit den Kant-Zitaten wird im Regelfall wie folgt verfahren (wobei Abweichungen vom Regelfall, wo sie geboten erschienen, in den Anmerkungen erläutert und begründet werden). Im Haupttext wird der jeweilige Kant-Text nach der aktuellen Ausgabe der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags wieder­ gegeben. In den Anmerkungen folgt auf die Angabe der Beleg-

Editorische Hinweise

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stelle in der jeweiligen Meiner-Ausgabe zunächst ein in Klammern gesetzter Verweis auf die entsprechende Belegstelle in der Akademie-Ausgabe der Werke Kants (AA). Anschließend informieren die Anmerkungen, wie bei den Zitaten aller anderen Autoren auch, über Sidgwicks Umgang mit dem Zitat: Wo Sidgwick Kant nach einer deutschen Ausgabe bzw. nach einer englischen Übersetzung zitiert, wird der entsprechende Text der Vorlage angeführt. Unter Rückgriff auf das geschilderte Editionsverfahren (s. o.) wird mit Hilfe der serifenlosen Schrift und eckigen Klammern dargestellt, wie Sidgwick mit dem Zitat umgeht, wo er von der Vorlage abweicht etc. Wo Sidgwick Kant selbst ins Englische übersetzt und auf keine Ausgabe verweist, wird in den Anmerkungen Sidgwicks Übersetzung original­ getreu wiedergegeben. Werktitel  Von Sidgwick angeführte Werktitel werden im Original, d. h. in der Sprache der Erstveröffentlichung, angegeben. Die Ausnahme bilden Werke der griechischen Antike, die mit den im Deutschen üblichen Namen angeführt werden. Beides entspricht Sidgwicks eigener Praxis, der Werktitel üblicherweise in der Originalsprache und griechische Werke mit den gängigen englischsprachigen Titeln nennt. In den wenigen Fällen, in denen Sidgwick hiervon abweicht, wird dies im Anmerkungsapparat vermerkt. Fremdwörter  Gelegentlich verwendet Sidgwick im englischen Text griechische, lateinische und französische Fremdwörter. Im Sinne einer möglichst getreuen Wiedergabe des originalen Textbildes sind diese Fremdwörter im Haupttext verblieben, im Anmerkungsapparat finden sich die Übersetzungen und, im Falle des Griechischen, zusätzlich gängige Transkriptionen. Biographisches Glossar  Um den Anmerkungsapparat der einzelnen Texte zu entlasten, findet sich ein biographisches Glossar am Schluss des Bandes. In dieses Glossar sind alle von Sidgwick in den Haupttexten bzw. in den Fußnoten genannten Autoren

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Editorische Hinweise

aufgenommen. Die Einträge informieren kurz über die Lebens­ daten, die akademisch-gesellschaftliche Position und ggf. zen­ trale Werke der Genannten. Ins Glossar wurden lediglich solche Autoren nicht aufgenommen, deren Bekanntheit vorausgesetzt werden kann (Platon, Aristoteles, Locke, Hume, Kant, Hegel, etc.), wobei im Zweifelsfall zugunsten der Aufnahme ins Glossar entschieden wurde.

Z UR ÜB ER SE TZ UN G E IN Z EL NE R BE GR I FFE

Jede wissenschaftliche Übersetzung wirft die Frage nach der Begründung einzelner Übersetzungsentscheidungen auf. Wo eine Entscheidung erklärungsbedürftig erscheint, wird daher in den Anmerkungen eine Erläuterung angeführt. Übersetzungsentscheidungen für einige wiederkehrende und zentrale Begriffe werden im Folgenden erläutert. Common sense  Sidgwick spricht häufig von der morality of common sense. Er meint damit vor-theoretische moralische Regeln, wie man sie im Alltag kennenlernt und gebraucht. Sie bilden für ihn die erste Stufe der ethischen Methode des sogenannten Intuitionismus. Der philosophischen Stufe des Intuitionismus kommt die Aufgabe zu, diese vor-theoretischen Regeln zu präzisieren, zu systematisieren und die gültigen von den letztlich ungültigen Alltagsregeln zu unterscheiden. Die morality of common sense stellt in der britischen Ethik einen feststehenden Ausdruck dar. Zwar böte sich die Übersetzung gemeiner Menschenverstand an, doch aufgrund der moderneren Negativ­ konnotation des Wortes ›gemein‹ haben wir uns durchgängig für den gesunden Menschenverstand entschieden. Moralist  Sidgwick bezeichnet Autoren, die sich mit Ethik und Moraltheorie wissenschaftlich beschäftigen, als moralists. Im Interesse der Nähe zum Original wie im Interesse der Darstellung der Eigentümlichkeiten von Sidgwicks Englisch wird der Begriff hier mit Moralist wiedergegeben. Dieser Ausdruck trifft ungeachtet seiner im Deutschen mitschwingenden nega­ tiven Konnotation Sidgwicks Verwendungsweise des englischen Ausdrucks moralist besser als denkbare Alternativen (Moralt­heoretiker, Moralphilosoph) und korrespondiert mit der Übersetzung der durchaus als eigenständige Denktradition

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Zur Übersetzung einzelner Begriffe

verstehbaren british moralists der frühen Neuzeit als britische Moralisten, wie sie in einigen anderen Übersetzungen in der Vergangenheit vorgenommen wurde. Pain  Ähnlich wie im Fall des Wortes pleasure gehen wir auch bei pain davon aus, dass Sidgwick nicht nur eine körperlich oder sensualistisch charakterisierte Empfindung im Sinn hatte, sondern eine Empfindung, die in einem weiter gefassten Sinne negativ ist. Beispielsweise schreibt Sidgwick in seinem Text über den Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens, dass ein hoffnungsloses Streben nach Gütern, auch nach immateriellen Gütern wie etwa Freiheit, painful sei. Einem hoffnungslos Unfreien würde man im Deutschen eher seelisches Leid als körperlichen Schmerz attestieren. Zudem schreibt Sidgwick, für Schopenhauer bestünde das Leben aus pain – ebenfalls ein Kontext, in dem im Deutschen eher das Wort Leid angemessener erschiene. Wir haben uns daher durchgehend für die Übersetzung von pain als Leid (bzw. Leiden) entschieden. Außer im Text über den Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens verwendet Sidgwick das Wort pain in diesem Band hauptsächlich in seinem Text über Bentham und in seinem Textteil über die deutsche Philosophie von Schopenhauer und Hartmann. Pleasure  Der ethische Wert, auf den sich die Überlegungen des Utilitarismus von Sidgwick, wie auch von anderen britischen Utilitaristen, in zentraler Weise beziehen, wird mit dem Begriff pleasure bezeichnet. In einigen gängigen deutschen Übersetzungen utilitaristischer Werke wurde hierfür die Übersetzung Lust gewählt. Da jedoch davon auszugehen ist, dass Utilitaristen wie Mill und Sidgwick besonderen Wert darauf gelegt haben, den Begriff pleasure nicht zu eng und zu sensualistisch zu verstehen, wird in dieser Ausgabe durchgängig die Übersetzung Freude verwendet. Sidgwick benutzt den Begriff darüber hinaus sowohl im Singular als auch im Plural, zum Beispiel wenn er von den verschiedenen Arten von pleasure oder, in Auseinandersetzung mit Mill, von verschiedenen Qualitäten

Zur Übersetzung einzelner Begriffe

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von pleasure spricht. Da der Ausdruck Lust spätestens in seiner Pluralform Lüste oder Gelüste irreführende Konnotationen nahelegt, wurde auch aus diesem Grund die etwas breitere und weniger sensualistisch voreingenommene Übersetzung von pleasure (bzw. pleasures) mit Freude (bzw. Freuden) gewählt. Universal Hedonism  Sidgwick verwendet wiederholt den Ausdruck universal hedonism. Damit meint er keineswegs die Position, dass im Allgemeinen jeder nach seinem eigenen hedo­ nistischen Wohl streben würde oder sollte – eine Auffassung, die er eher mit dem Egoismus gleichsetzen würde. Vielmehr ist damit die Position gemeint, dass jeder nach dem hedonistischen Wohl der Allgemeinheit, also gerade nicht nur nach dem eigenen hedonistischen Wohl streben sollte. Als Übersetzungen bieten sich universalisierter Hedonismus, universalistischer Hedonismus, universeller Hedonismus oder universaler Hedo­ nismus an. Das Wort universalisiert scheint fälschlicherweise die Assoziation mit einem Universalisierungsprozess wachzurufen, wie er von Immanuel Kant etwa in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in anderer Form aber auch von Richard Hare in Moral Thinking besprochen wird. Der Ausdruck universalistisch erscheint unangemessen, weil ihm wohl das gängige englische Wort universalistic zuzuordnen wäre, das Sidgwick in diesem Kontext nicht verwendet. Und das Wort universell wiederum scheint eine adverbiale Konnotation im Sinne von vielseitig mit sich zu bringen, wie etwa bei einem vielseitig einsetzbaren ­Gerät. Aus diesen Gründen enthalten die Texte in diesem Band durchgängig die Übersetzung universaler Hedo­ nismus.

V ON SI D GW I C K Z IT I ERTE L IT ER AT U R

Sidgwick bezieht sich in den nun folgenden, hier zusammengestellten Texten immer wieder auf andere Autoren seiner Zeit. Diese Zusammenstellung der von Sidgwick verwendeten Literatur soll einen schnellen Gesamtüberblick über die von ihm rezipierten Texte ermöglichen. In Fällen, in denen unklar ist, welche konkreten Ausgaben oder Übersetzungen Sidgwick selbst verwendet hat, ist eine in Frage kommende und leicht greifbare Ausgabe aufgeführt. Adamson, Robert (1879): On the Philosophy of Kant. Edinburgh. Bain, Alexander (1865): The Emotions and the Will. 2. Aufl. London. Bain, Alexander (1868): Mental and Moral Science. A Compendium of Psychology and Ethics. 2 Aufl. London. Balfour, James (1878): »Transcendentalism«. In: Mind 3 (12), S.  480–505. Barrow, Isaac (1854): »Oratio ad Academicos in Comitiis«. In: Alexander Napier (Hrsg.): The Theological Work of Isaac Barrow. IX Bde., Bd. IX. Cambridge, S. 35–47. Bentham, Jeremy (1834): Deontology or, The Science of Morality; in which the Harmony and Co-Incidence of Duty and Self-Interest, Virtue and Felicity, Prudence and Benevolence, are Explained and Exemplified. Aus Manuskripten Benthams zusammengestellt u. hrsg. v. Étienne Dumont. 2 Bde., Bd. 1. London / Edinburgh. Bentham, Jeremy (1843): The Constitutional Code (The Works of Jeremy Bentham, published under the Superintendence of his Executor John Bowring, Vol. IX). Edinburgh. Bentham, Jeremy (1843): »The Rationale of Reward.« In: The Works of Jeremy Bentham, published under the Superintendence of his Executor John Bowring, Bd. II. Edinburgh, S.  189– 266. Bentham, Jeremy (1907): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Oxford.

Von Sidgwick zitierte Literatur

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Bowring, John (1843): Memoirs of Jeremy Bentham, Including Autobiographical Conversations and Correspondence. In: Ders. (Hrsg.): The Works of Jeremy Bentham. Bd. X. Edinburgh. Butler, Joseph (1726): Fifteen Sermons preached at the Rolls Chapel. London. Butler, Joseph (1897): »Fifteen Sermons, Preached at the Rolls Chapel« [Auszüge]. In: Lewis Amherst Selby-Bigge (Hrsg.): British Moralists, Being Selections from Writers Principally of the Eighteenth Century. Oxford, S. 181–244. Caird, Edward (1879): »Mr. Balfour on Transcendentalism«. In: Mind 4 (13), S. 111–114. Caird, Edward (1879): »The So-Called Idealism of Kant«. In: Mind 4 (16), S. 557–561. Coleridge, Samuel Taylor (1863): The Friend. A Series of Essays to Aid in the Formation of Fixed Principles in Politics, Morals and Religion, with Literary Amusements Interspersed. 2 Bde., Bd. 1. Hrsg. v. Henry Nelson Coleridge. London. Coleridge, Samuel Taylor (1907): Biographia Literaria. 2 Bde, Bd. 1. Hrsg. v. John Shawcross. Oxford. Cooper, Charles Henry (Hrsg.) (1842): Annals of Cambridge. Bd. IV. Cambridge. Cumberland, Richard (1683): De legibus naturae disquisitio philosophica, in qua earum forma, summa capita, ordo, promulgatio, et obligatio e rerum natura investigantur; quin etiam elementa philosophiae Hobbianae, cum moralis tum civilis, considerantur et refutantur (2. Aufl., EA London 1672). Lübeck u. Frankfurt. Eliot, George (1872): Middlemarch. Study of a Provincial Life. 2 Bde., Bd. 1. Berlin. Gay, John (1731): Preliminary Dissertation Concerning the Fundamental Principle of Virtue or Morality. In: William King: An Essay on the Origin of Evil, aus dem Lat. übers. u. hrsg. v. Edmund Law. London, S. xi–xxxiii. Godwin, William (1793): An Enquiry concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness. 2 Bde., Bd. 1. London.

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Von Sidgwick zitierte Literatur

Green, Thomas Hill (1877): »Mr. Herbert Spencer and Mr. G. H. Lewes: Their Application of the Doctrine of Evolution of Thought«. In: The Contemporary Review 31, S. 25–53. Green, Thomas Hill (1882): »Introduction to the Moral Part of the Treatise«. In: Ders. & Thomas Hodge Grose (Hrsg.): The Philosophical Work of David Hume. 4 Bde., Bd. II. London, S. 1–71. Green, Thomas Hill (1883): Prolegomena to Ethics. Hrsg. v. A. C. Bradley. Oxford. Hare, John (1848): »Sketch of the Author’s Life«. In: Ders. (Hrsg.): John Sterling. Essays and Tales. 2 Bde., Bd. 1. London, S. i–ccxxxii. Hobbes, Thomas (1889): The Elements of Law, Natural and Poli­ tic. Hrsg. u. komm. v. Ferdinand Tönnies. London. Hobbes, Thomas (1909): Leviathan, or the Matter, Forme and ­Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. Mit einem Essay v. W. G. Pogson Smith. Oxford. Hume, David (1751): Enquiry Concerning the Principles of Morals. Printed for A. Millar. London. Jebbs, John (1774): Remarks Upon the Present Mode of Education in the University of Cambridge. Cambridge. Kant, Immanuel (1838): Critick of Pure Reason. Übers. v. Francis Haywood. London. Kant, Immanuel (1838): Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Karl Rosenkranz. Leipzig. Kant, Immanuel (1855): Critique of Pure Reason. Übers. v. John Miller Dow Meiklejohn. London. Kant, Immanuel (1867–69): Sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. 8 Bde. Hrsg. v. Gustav Hartenstein. Leipzig; darin: Kritik der reinen Vernunft (Bd. 3); Prolegomena zu einer jeden zukünftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Bd. 4, S. 1–131); Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Bd. 4, S. 233–311); Kritik der praktischen Vernunft (Bd. 5, S. 1–169). Kant, Immanuel (1899): The Prolegomena (Kant’s Critical Philosophy for English Readers, Bd. II). Übers. u. komm. v. John Pentland Mahaffy. London.

Von Sidgwick zitierte Literatur

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HEN RY SI DG WI CK

DE R UTI LI TAR I SMU S

Utilitarismus Beim Schreiben des gegenwärtigen Aufsatzes war es mein Ziel, alle nicht unanfechtbaren Aussagen zu vermeiden. Ich habe daher viele interessante Fragen beiseitegelassen und darauf achtgegeben, nicht über irgendeinen Punkt zu dogmatisieren, für den keine wissenschaftliche Sicherheit erreichbar zu sein schien. Falls es für seltsam erachtet wird, einer Gesellschaft, die zum Zweck der Debatte existiert,1 eine Reihe unanfechtbarer Aussagen zu präsentieren, würde ich erstens zu bedenken geben, dass ich in den meisten Diskussionen über den Utilitarismus an wichtigen Stellen des Arguments eine oder mehrere dieser Aussagen stillschweigend übergangen sehe; und zweitens { würde ich zu bedenken geben }, dass eine verbreitete Erfahrung zeigt, dass eine ethische oder metaphysische Aussage nicht weniger wahrscheinlich eine Kontroverse provoziert, wenn sie als un­ anfecht­bar präsentiert wird. Unter Utilitarismus verstehe ich die ethische Theorie, der zufolge das äußerlich oder objektiv richtige Verhalten unter allen Umständen ein Verhalten ist, das die Tendenz hat, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl all derjenigen, deren Interessen betroffen sind, zu produzieren. Die Aussage ist noch nicht ganz klar, aber die Vagheit, welche ihr möglicherweise anhaftet, wird (hoffe ich) im Verlauf meiner Beobachtungen beseitigt werden. Und lassen Sie uns diese Lehre zuerst von anderen { Lehren } einer ganz anderen Art unterscheiden, denen die Bezeichnung ›utilitaristisch‹ verliehen wurde, aber mit denen der Utilitarismus, wie oben definiert, in keiner notwendigen Verbindung

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Der Utilitarismus

steht, obgleich er zu einigen davon eine gewisse natürliche Affinität aufweist. 1. Der Utilitarismus entsprechend der Definition ist eine ethische und keine psychologische Lehre: eine Theorie nicht darüber, was ist, sondern darüber, was sein soll. Folglich schließt sie insbesondere die folgenden psychologischen Theorien nicht mit ein: (1) die Aussage, dass in menschlichen Handlungen im Allgemeinen oder im Normalfall jeder Akteur sein eigenes, individuelles Glück oder { seine eigene, individuelle } Freude sucht. Dies ist offenkundig kompatibel mit jeglicher Theorie der Ethik, d. h. des richtigen und falschen äußeren Verhaltens. Denn, wie Aristoteles sagt, umfasst unsere Vorstellung eines tugendhaften Menschen das Charakteristikum, dass er an dem, von dem er glaubt, dass er es tun solle, Freude empfindet; und die Frage, ob wir sagen sollen, dass er seine Pflicht tut, weil er sie als seine Pflicht anerkennt oder weil er eine moralische Freude dabei empfindet – welche Bedeutung dies auch immer von manchen Standpunkten aus haben mag –, steht zumindest in keiner notwendigen Verbindung mit der Frage, welches Verhalten er anstreben sollte. Es mag gesagt werden, dass es von der psychologischen Verallgemeinerung, wonach alle Menschen nach Freude streben, einen natürlichen Übergang zu dem ethischen Prinzip gibt, dass Freude dasjenige ist, was sie anstreben sollten. Aber erstens ist dieser Übergang bestenfalls nur natürlich und nicht logisch oder notwendig, und zweitens ist die ethische Konklusion, zu der wir dann übergehen, primär diejenige des Egoismus oder des Egoistischen Hedonismus (der das eigene Glück des Akteurs als letzten Zweck seiner Handlungen angibt) und nicht diejenige des Utilitarismus, wie ich ihn definiert habe. Offenkundig können wir aus der Tatsache, dass jeder tatsächlich sein eigenes Glück sucht, nicht im Sinne eines unmittelbaren und offensichtlichen Schlusses folgern, dass jeder das Glück anderer Menschen anstreben sollte. (2) Auch steht der Utilitarismus als eine Theorie der Ethik im eigentlichen Sinne nicht in Verbindung mit der Lehre (die zu dem gehört, was man Moralpsychologie nennen könnte),

Utilitarismus

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der zufolge die moralischen Empfindungen aus Erfahrungen nicht-moralischer Freuden und Leiden abgeleitet werden. Denn (a) diese moralischen Empfindungen nun sind (als Tatsachen unseres gegenwärtigen Bewusstseins betrachtet) unabhängige Impulse, die oftmals mit den ursprünglicheren Impulsen, von denen sie auszugehen scheinen, in Konflikt stehen, und die alle ihre eigenen jeweiligen Freuden und Leiden mit sich bringen, sobald man ihnen folgt oder widersteht. Und es erscheint recht willkürlich (und in der Tat entgegen unseren allgemeinen Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung) anzuneh­men, dass Impulse, die in der Entwicklung des Individuums oder der Rasse2 früher auftreten, im Konfliktfall immer diejenigen übertrumpfen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt haben; vor allem da erstere3 gemeinhin für niedriger und gröber gehalten werden. Auf ähnliche Weise scheinen die Freuden der schönen Künste eine Ableitung und eine Art komplexe Widerspiegelung primitiverer Sinneseindrücke und Gefühle zu sein; doch dies wird nicht als ein Grund angesehen, weshalb eine kultivierte Person nun letztere den ersteren vorziehen sollte. Und (b) muss andererseits beobachtet werden, dass, wie wahr auch immer diese Darstellung unserer moralischen Empfindungen sein mag, das Verhalten, zu dem sie uns bringen, nichts­ desto­weniger dazu neigt, in Konflikt mit den Vorgaben des Rationalen Utilitarismus zu stehen. Denn diese Empfindungen werden dieser Theorie zufolge von einer sehr einseitigen Erfahrung der Auswirkungen des Verhaltens abgeleitet und durch sehr unvollständiges Mitgefühl und sehr unvollständige Intelligenz wahrgenommen und interpretiert sein. In der Tat, (3) selbst wenn wir mit Hume behaupten, dass unsere gegenwärtigen moralischen Vorlieben immer mit Verhaltensweisen zusammenhängen, die uns selbst oder anderen direkt oder indirekt nicht-moralische Freude bereiten, 4 und unsere moralischen Abneigungen mit dem Gegenteil, bleibt immer noch die Frage offen, ob wir diesen Empfindungen einfach nachgeben sollten oder ob wir sie durch Benthams Kal-

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kül der Folgen ersetzen oder kontrollieren sollten. Nein, des Weiteren bekräftigt die bloße Anerkennung und Erklärung dieser Empfindungen als Tatsachen des Bewusstseins weder notwendigerweise die letzte und höchste Autorität dieser Empfindungen selbst noch die des Rationalen Utilitarismus (wie oben definiert). Denn es kann behauptet werden, dass diese, zusammen mit anderen Impulsen, eigentlich unter der Herrschaft der ratio­nalen Selbst-Liebe stehen und dass es wirklich nur insofern vernünftig ist, sie zu befriedigen, als wir damit rechnen können, unser eigenes privates Glück in dieser Befriedigung zu finden. II. Es mag überflüssig erscheinen, festzustellen, dass der Utilitarismus (in meinem Sinne) oder der Universale Hedonismus, wie er genannt werden könnte, nicht mit dem Egoistischen Hedonismus verwechselt werden sollte, auf den ich mich gerade bezogen habe. Die beiden Prinzipien sind tatsächlich primâ ­facie  5 inkompatibel, da die Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft insgesamt dem Individuum häufig (wenigstens dem Anschein nach) das Opfern seiner eigenen Interessen auferlegt. III. Ich verstehe den Utilitarismus so, dass er ein Prinzip und eine Methode zur Ermittlung der objektiven oder materialen Richtigkeit des Verhaltens darstellt. Der Unterschied und die gelegentliche Trennung dieser { materialen Richtigkeit } von subjektiver oder formaler Richtigkeit, { d. h.} der Richtigkeit der Intention, und die Frage, welches von beiden intrinsisch besser und wertvoller ist, muss nicht als vom Utilitarismus entschieden angesehen werden. Die beiden Formen der Richtigkeit können sich niemandem in Bezug auf sein eigenes zukünftiges Verhalten als miteinander konkurrierende Alternativen darstellen. Zweifellos mögen sie sich so in unserem Umgang mit anderen darstellen, denn dann kann die Frage auftauchen, ob und inwiefern wir andere durch nicht-moralische Motive, wie etwa durch die Furcht vor Strafe, dazu bringen sollten, das zu tun, was wir im Gegensatz zu ihrem { eigenen } Gewissen für richtig halten. Aber diese Frage scheint ähnliche Schwierigkeiten aufzuwerfen, welche ethische Theorie wir auch immer annehmen.

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Lassen Sie uns nun das Prinzip selbst etwas genauer untersuchen. Es schlägt als letzten Zweck und Maßstab richtigen Handelns ›das größte Glück aller Betroffenen‹ oder (da die Interessen einiger betroffener Personen manchmal den Interessen der übrigen geopfert werden müssen) ›das größtmögliche Glück‹ der ›größtmöglichen Anzahl‹ vor. Jeder dieser Begriffe erfordert nun etwas mehr Deutlichkeit und Erläuterung, um ihn ganz klar zu machen. Zunächst einmal muss ›Glück‹ als gleichbedeutend mit ›Freude‹ verstanden werden. Es wurde, glaube ich, in jüngster Zeit sowohl von Utilitaristen als auch von ihren Gegnern immer so verstanden, obwohl in den ethischen Kon­ troversen in Griechenland sehr unterschiedliche Ansichten über das Verhältnis der korrespondierenden Begriffe eudamonia und hēdonē vertreten wurden.6 Und selbst heutzutage erklären viele Personen, dass ›Glück‹ etwas ganz anderes sei als ›Freude‹. Doch solche Personen scheinen den Ausdruck ›Freude‹ in einem engeren Sinne als Utilitaristen zu verwenden, die in ihn alle Befriedigungen und Vergnügungen einbeziehen, von den höchsten bis hin zu den niedrigsten, alle Arten des Gefühls oder Bewusstseins, die den Willen dazu bringen, sie zu erhalten, wenn sie vorhanden sind, und sie herbeizuführen, wenn sie abwesend sind. So verstanden, kann ›Freude‹ nicht von ›Glück‹ unterschieden werden, außer dass ›Glück‹ eher benutzt wird, um eine Summe oder Serie dieser vorübergehenden Gefühle zu bezeichnen, die wir alle eine ›Freude‹ nennen.7 Der Utilitarist zielt entsprechend darauf ab, die Summe präferierbarer oder wünschbarer Gefühle8 in der Welt, sofern dies von seinen Handlungen abhängt, so groß wie möglich zu machen. Aber hier wird eine weitere Einschränkung benötigt. Denn viele unserer Verhaltensweisen bringen unweigerlich sowohl Leid als auch Freude für uns und für andere hervor und die Anerkennung der Nichtwünschbarkeit des Leidens scheint eine unabtrennbare Begleiterscheinung und ein unabtrennbares Gegenstück dieser Anerkennung der Wünschbarkeit der Freude zu sein, auf der der Utilitarismus basiert.9 Und tatsächlich haben Utilitaristen das Leid stets als die negative Quantität der Freude

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behandelt. So dass, streng genommen, das utilitaristisch richtige Verhalten dasjenige ist, das nicht die größte Menge an Freude insgesamt, sondern den größten Überschuss von Freude gegen­ über Leid hervorbringt, wobei das Leid so verstanden wird, dass es gegen eine gleich große Menge an Freude aufgewogen wird, so dass die beiden sich für den Zweck der ethischen Kalkulation gegenseitig aufheben. Schon der Begriff des maximalen Glücks schließt daher eine Annahme ein, deren Größe und Wichtigkeit der Aufmerksamkeit etwas entgangen sind. Es wird angenommen, dass alle Freuden quantitativ miteinander und mit allen Leiden verglichen werden können, – dass jede Art von Gefühl in Bezug auf Präferierbarkeit oder Wünschbarkeit eine bestimmte positive oder negative (oder vielleicht bei Null { liegende }), intensive Quantität hat und dass diese Quantität bekannt sein kann, so dass jede auf idealen Skalen gegen jede andere abgewogen werden kann. Wenn dies nicht angenommen wird, ist die Vorstellung des maximalen Glücks logisch unmöglich; der Versuch eine Summe von Elementen ›so groß wie möglich‹ zu machen, die nicht quantitativ kommensurabel sind, ist genauso eine mathematische Absurdität wie ein Versuch, drei Unzen Käse von vier Pfund Butter zu subtrahieren. Es ist nicht Teil meines Vorhabens zu diskutieren, ob diese Annahme zu rechtfertigen ist oder nicht, aber ich möchte darauf aufmerksam machen, dass sie in jedem Fall nicht durch Erfahrung verifizierbar ist und dass auf empirischer Grundlage sehr plausible Einwände gegen sie vorgebracht werden können. Denn obwohl wir zweifellos alle fortwährend Freuden vergleichen und erklären, die eine sei gegenüber der anderen vorzuziehen, ist uns allen bewusst, dass wir in unterschiedlichen Gemütsverfassungen denselben Vergleich mit anderen Resultaten durchführen. Manchmal sind wir empfänglicher für Vergnügungen des einen Ursprungs und manchmal { für die } eines anderen; und das gleiche gilt in Bezug auf unsere Empfindsamkeit für Leiden. Wie können wir dann sicher sein, dass wir je in einer vollständig neutralen Gemütsverfassung sind, in der sich { uns } alle Freuden entsprechend ihrem wahren

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hedonistischen Wert darstellen? Wie können wir glauben, dass eine solche Gemütsverfassung überhaupt möglich ist und nicht lediglich ein philosophisches Hirngespinst? Und die Schwierigkeit wird verstärkt, wenn wir die unterschiedlichen Präferenzen unterschiedlicher Personen mit in Betracht ziehen. Wie können wir z. B. die alte Kontroverse zwischen intellektuellen und sinnlichen Freuden auf wissenschaftliche Weise entscheiden? Wenn Platon und Mill uns sagen, dass wir der Entscheidung des intellektuellen Menschen vertrauen müssen, weil er beides ausprobiert hat, ist das Argument offenkundig inadäquat, denn wir können nie sagen, dass er dazu fähig ist, die sinnlichen Freuden in gleichem Maße zu erfahren wie der Sinnliche; und tatsächlich erscheint es oft aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich, dass er dessen nicht fähig ist. Deshalb müssen wir, genau wie für das Vergleichen der Freuden eines einzigen Individuums, eine neutrale oder standardmäßige Gemütsverfassung annehmen, in der man frei ist von all jenen Tendenzen, bestimmte Freuden oder Leiden zu unterschätzen oder zu überschätzen, denen man sich in anderen Gemütsverfassungen fortwährend ausgesetzt sieht. Für den utilitaristischen Vergleich sind wir genötigt, einen Standardmenschen anzunehmen, der sich die Freuden aller Menschen so vorstellen kann, wie sie tatsächlich sind, frei von jeglicher Voreingenommenheit zugunsten der einen oder gegen die andere bestimmte Art von Freude oder Leid. Ich wiederhole, dass ich nicht gegen diese Annahmen argumentiere, aber da der Hedonismus oft als auf die Moral angewandter ›Relativismus‹ verstanden wird, scheint es wichtig zu zeigen, dass der hedonistische Vergleich im Gegenteil notwendigerweise einen absoluten Standard der Präferierbarkeit eines Gefühls annimmt, der nicht empirisch ermittelt werden kann. Und das ›Prinzip der Relativität‹ würde, wenn es streng angewandt wird, den Utilitarismus zu einer logischen Unmöglichkeit werden lassen. So viel zum ›größten Glück‹. Lassen Sie uns nun den Begriff der ›größten Anzahl‹ betrachten. Die erste Frage ist, Anzahl wovon? Von fühlenden Wesen im Allgemeinen oder von einer bestimmten Art derselben? Jegliche Auswahl ist primâ ­facie

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willkürlich und unvernünftig; und tatsächlich haben Utilitaristen im Allgemeinen die erstgenannte Alternative angenommen. Ich merke dies hauptsächlich deshalb an, weil die wissenschaftlichen Schwierigkeiten des hedonistischen Vergleichs, die soeben diskutiert wurden, dadurch beträchtlich vergrößert zu werden scheinen. Utilitaristen haben sich, wie ich annehme, praktisch fast ausschließlich auf menschliche Freuden beschränkt; unter der Hinzufügung einer weiteren, besonderen (ebenfalls des empirischen Beweises nicht fähigen) Annahme zu den zuvor genannten bezüglich der vergleichsweisen Minderwertigkeit der Freuden der niedrigen Tiere. Aber selbst wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf menschliche Wesen beschränken, ist der Begriff der ›größten Anzahl‹ noch nicht ganz genau bestimmt. Denn wir können die Anzahl der zukünftigen menschlichen Wesen bis zu einem gewissen Grad beeinflussen und die Frage entsteht, wie diese Anzahl nach utilitaristischen Prinzipien bestimmt werden sollte. Natürlich gilt: je mehr desto besser, s­ olange das durchschnittliche Glück gleich bleibt. Aber angenommen, wir sehen voraus, dass eine Zunahme der Anzahl mit e­iner Abnahme des durchschnittlichen Glücks einhergehen wird oder vice versâ,10 wie sollen wir dann entscheiden? Es scheint klar, dass wir auf Grundlage der utilitaristischen Methode die Menge des erlebten Glücks, das die zusätzliche Anzahl genießt, gegen das Glück, das die Restlichen verlieren, ­abwägen müssen. Ich merke das an, weil die Malthusianischen Ökonomen11 oft anzunehmen scheinen, dass kein Zuwachs der Anzahl richtig sein kann, der irgendeine Abnahme des durchschnittlichen Glücks mit sich bringt. Aber dies ist klarerweise mit den utilitaristischen Prinzipien unvereinbar, die diese Ökonomen gemeinhin anerkennen; aufgrund dieser Prinzipien ist der Punkt, bis zu dem die Bevölkerung vergrößert werden sollte, nicht derjenige, an dem das durchschnittliche Glück das Maximum bildet, sondern derjenige, an dem das Produkt, das durch das Multiplizieren der Anzahl an Menschen mit der Menge des durchschnittlichen Glücks gebildet wird, am größtmöglichen ist.12

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Wenn das Prinzip des Utilitarismus nun als ausreichend bestimmt betrachtet werden kann, soweit es die Grenzen der vorliegenden Abhandlung zulassen, möchte ich { nun noch } ein paar Worte zu seinem Beweis sagen. Es kann gesagt werden, dass es unmöglich ist, ein erstes Prinzip zu ›beweisen‹, und das ist natürlich wahr, wenn wir unter einem Beweis einen Prozess verstehen, der das fragliche Prinzip als Schlussfolgerung aus Prämissen darlegt, von denen seine Sicherheit abhängt; denn diese Prämissen und nicht die aus ihnen abgeleitete Schlussfolgerung wären dann die wahren ersten Prinzipien. Nein, wenn der Utilitarismus einem Menschen bewiesen werden soll, der bereits manch andere moralische Prinzipien anerkennt – sagen wir, ein intuitionistischer Moralist oder ein Moralist des gesunden Menschenverstands, der die Prinzipien der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Gehorsams gegenüber Autoritäten, des Anstands13 etc. als letzte { Prinzipien } betrachtet, oder ein Egoist, der sein eigenes Interesse für den letztgültigen vernünftigen Zweck seines Handelns hält –, dann muss der Argumentationsgang einer sein, der einer Konklusion höhere Gültigkeit zukommen lässt als den Prämissen, von denen er ausgeht. Denn die utilitaristischen Vorschriften der Pflicht stehen zu bestimmten Zeitpunkten und unter bestimmten Umständen primâ facie sowohl in Konflikt mit intuitionistischen Regeln als auch mit den Geboten des Rationalen Egoismus, so dass der Utilitarismus, wenn er überhaupt akzeptiert wird, als den Intuitionismus und den Egoismus übertrumpfend akzeptiert werden muss. Zugleich scheint sich der sogenannte Beweis überhaupt nicht an den Intuitionisten oder Egoisten zu richten, wenn die{ se } anderen Prinzipien nicht durchweg für gültig gehalten werden. Wie sollen wir mit diesem Dilemma umgehen? Und wie ist ein solcher Prozess (der sicherlich { etwas } ganz anderes ist als ein normaler Beweis) möglich oder vorstellbar? Was gebraucht wird, scheint eine Argumentationslinie zu sein, die einerseits in einem bestimmten Maß die Gültigkeit der bereits akzeptierten Prinzipien zulässt und andererseits ihre Unvollständigkeit zeigt – als nicht absolut und unabhängig gültig, sondern der Bestimmung und Vervoll-

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ständigung bedürftig. Es mag sinnvoll sein, eine solche Argumentationslinie für die beiden Fälle des Intuitionismus und des Egoismus jeweils kurz zu untersuchen. Dem Intuitionisten versucht der Utilitarist zu zeigen, dass die Prinzipien der Wahrheit, der Gerechtigkeit, etc. nur abgeleitete und untergeordnete Gültigkeit besitzen; { und zwar } indem entweder argumentiert wird, dass das Prinzip vom gesunden Menschenverstand tatsächlich nur als eine allgemeine Regel anerkannt wird, die Ausnahmen zulässt, wie im Falle der Wahrheit; oder { indem argumentiert wird, } dass der zugrunde liegende Begriff vage ist und weiterer Bestimmung bedarf, wie im Falle der Gerechtigkeit; und des Weiteren { indem argumentiert wird }, dass die verschiedenen Regeln dazu neigen, miteinander in Konflikt zu geraten und dass wir ein höheres Prinzip benötigen, um das soeben aufgeworfene Problem zu lösen; und außerdem { indem argumentiert wird }, dass die Regeln von unterschiedlichen Personen unterschiedlich formuliert werden und dass diese Unterschiede keine intuitionistische Lösung erlauben, während sie die Vagheit und Ambiguität der üblichen moralischen Begriffe vorführen, an die der Intuitionist appelliert; und { indem argumentiert wird, } dass sich in all diesen Fällen der gesunde Menschenverstand auf natürliche Weise zwecks der notwendigen weiteren Bestimmungen und Entscheidungen dem utilitaristischen Prinzip zuwendet. Die Beziehung zwischen Utilitarismus und Intuitionismus scheint somit sowohl eine positive als auch eine negative Seite zu haben. Auf der positiven Seite stützt und erhält der Utilitarismus die allgemeine Gültigkeit der gegenwärtigen moralischen Regeln, indem er neben der intuitiven Anerkennung ihrer Stringenz eine weitere Rechtfertigung für sie aufzeigt, und auch ein Prinzip der Synthese und Methode dafür { aufzeigt }, sie in ein vollständiges und harmonisches System einzubinden. Auf der negativen Seite muss er, wie oben { erläutert }, deren Unvollkommenheit darlegen, um sie als von seinem eigenen Prinzip abhängig und diesem untergeordnet zu erweisen. Ich darf feststellen, dass jede dieser beiden Seiten zu verschiedenen Zeiten im englischen ethischen Denken zu einseitig hervorgetreten ist.

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Der Utilitarismus, wie er von Cumberland eingeführt wurde, ist zu sehr rein konservativ; er verweilt vollständig bei der generellen Zuträglichkeit moralischer Regeln für das allgemeine Gute und ignoriert die Unvollständigkeiten dieser gemeinhin angenommenen Regeln. Andererseits ist der Utilitarismus von Bentham zu sehr rein destruktiv und behandelt die Moral des gesunden Menschenverstandes mit unnötiger Schärfe und Verachtung. Die Beziehung zwischen dem Utilitarismus und dem Egoismus ist viel einfacher, doch es scheint schwer, sie mit vollkommener Genauigkeit darzulegen und sie wird von unterschiedlichen Autoren, die in der Sache im Wesentlichen übereinzustimmen scheinen – wie Clarke, Kant und Mill –, tatsächlich sehr unterschiedlich formuliert. Wenn der Egoist sich streng darauf beschränkt, seine Überzeugung zu vertreten, dass er sein eigenes Glück oder seine eigene Freude als sein höchstes Ziel annehmen sollte, dann scheint es keinen Spielraum für ein Argument zu geben, das ihn zum Utilitarismus (als einem ersten Prinzip) bringen würde. Aber wenn er entweder als einen Grund für seine Überzeugung oder als eine andere Form der Darstellung { dieser Überzeugung } die Aussage anführt, dass sein Glück oder seine Freude objektiv ›wünschenswert‹ oder ›ein Gut‹ ist, dann eröffnet er den notwendigen Spielraum. Denn der Utilitarist kann dann darauf hinweisen, dass sein Glück objektiv nicht wünschenswerter oder ein größeres Gut sein kann als das Glück irgendeines anderen. Der bloße Umstand (wenn ich so sagen darf), dass er er ist, kann nichts mit objektiver Wünschbarkeit oder Güte { seines Glücks } zu tun haben. Daher muss er, ausgehend von seinem eigenen Prinzip, die umfassendere Vorstellung universalen Glücks oder universaler Freude als Repräsentation des wahren Zwecks der Vernunft, { als } das absolut Gute oder Wünschenswerte, akzeptieren: als denjenigen Zweck also, auf den hin die Handlungen eines vernünftigen Akteurs ausgerichtet sein sollten. Es ist zu beachten, dass der Beweis des Utilitarismus, wenn er sich auf diese Weise an den Egoisten richtet, etwas ganz ande-

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res ist als die Darlegung der Sanktionen utilitaristischer Regeln, d. h. der Freuden und Leiden, die jeweils auf ihre Einhaltung und Verletzung folgen. Offensichtlich kann uns eine solche Darlegung nicht dazu führen, den Utilitarismus als erstes Prinzip zu akzeptieren, sondern lediglich als eine { aus dem Egoismus } hergeleitete Konklusion oder { als } eine spezielle Anwendung des Egoismus. Zugleich werden die beiden – Beweis und Sanktion, { also zum einen } die Gründe für das Akzeptieren des größten Glücks der größten Anzahl als (in Benthams Sprach­ gebrauch) ›richtigen und angemessenen‹ Zweck des Handelns und { zum anderen } das Motiv des Individuums, sich dies als Zweck zu eigen zu machen – in der Diskussion sehr häufig durcheinandergebracht. Es ist dieser letzte Punkt, den zu klären mir notwendig erschien, um eine konkrete Vorstellung derjenigen Theorie richtigen Handelns zu erhalten, von der ich glaube, dass sie im Allgemeinen mit dem Ausdruck Utilitarismus bezeichnet wird, sowie von ihrer Beziehung zu anderen Theorien des Richtigen oder Vernünftigen in menschlichen Handlungen. Unabhängig davon, ob meine Aussagen unanfechtbar sind oder nicht, denke ich, dass eine endgültige Klärung der Probleme, die sie aufwerfen, gegenwärtig vielleicht hilfreicher ist als die Diskussion der Frage, ob man ein Utilitarist ist oder nicht.

Der Utilitarismus: Tucker und Paley 1 Die Originalität von Paleys (wie auch Benthams) System, so wie es ist, besteht eher in dessen Methode der Ausarbeitung von Details als in seinen Konstruktionsprinzipien. Paley räumt ausdrücklich ein, dem originellen und anregenden, wenn auch diffusen und wunderlichen Werk Abraham Tuckers (Light of Nature Pursued, 1768–74), verpflichtet zu sein.2 In dieser Abhandlung lesen wir, dass »die eigene Befriedigung jedes Menschen« – oder genauer gesagt, »die Aussicht oder Erwartung der Befriedigung« – »die Quelle ist, welche alle seine Motive antreibt«, verbunden mit »dem allgemeinen Guten, der Wurzel, aus welcher alle unsere Regeln des Verhaltens und Gefühle der Ehre erwachsen«; wobei mit den Mitteln der natürlichen Theologie »die nicht geizende Güte des Autors der Natur« demonstriert wird.3 Tucker erkennt, dass neue Neigungen durch »Umwandlung« entstehen, d. h. dass wir ein Gefallen an Dingen dadurch ausbilden, dass sie regelmäßig andere Wünsche begünstigt haben. Insbesondere { erkennt er }, dass die »moralischen Gefühle« so geformt werden, und auch die Wohltätigkeit, die er als die »Freude der Unterstützung« begreift, welche uns dazu veranlasst, gute Dienste zu leisten, weil wir dies mögen. Dennoch bleibt es wahr, so denkt er, dass das eigene Glück eines Menschen – im Sinne eines Aggregats von Freuden und Befriedigungen – das höchste Ziel seiner Handlungen ist. Er ist so umsichtig zu erklären, dass Befriedigung oder Freude »immer von ein und derselben Art ist, wie sehr sie auch graduell variieren möge … ob ein Mensch erfreut ist, Musik zu hören, Aussichten zu betrachten, Leckereien zu kosten, lobenswerte Taten auszuführen oder annehmliche Reflexionen zu betreiben«.4 Und abermals { erklärt er }, dass er unter dem »allgemeinen Guten« eine »Quantität des Glücks« versteht, zu welcher »jede Freude, die wir unserem Nachbarn bereiten, eine Hinzu-

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fügung ist«.5 Hier finden wir alle wesentlichen Charakteristika von Paleys Utilitarismus: (1) eine rein quantitative Bewertung von Freude; (2) Zuträglichkeit zur allgemeinen Freude als Kriterium für moralische Regeln; (3) private Freude als universelles Motiv; (4) der Wille eines allmächtigen und gütigen Wesens als Verbindung zwischen dem Motiv und den Regeln. Dennoch gibt es in Tuckers theologischer Verbindung zwischen dem privaten und dem allgemeinen Glück einen eigenartigen Einfallsreichtum, welchen Paleys gesunder Menschenverstand vermieden hat. ­Tucker argumentiert, dass Menschen, da sie keinen freien Willen haben, keine wirklichen Verdienste besitzen. Deswegen muss die göttliche Gerechtigkeit das Glück letztlich zu gleichen Anteilen an alle verteilen. Deswegen werde ich mein eigenes Glück letztlich dadurch am meisten steigern, dass mein Verhalten am meisten zu dem allgemeinen Vorrat beiträgt, der von der Vor­sehung verwaltet wird. Tatsächlich kann ein einfacher Entwurf der ethischen Auffassung Paleys aber schon mehr als eine Generation zuvor in der folgenden Passage aus der Dissertation Gays gefunden werden, welche der Übersetzung Laws von Kings Origin of Evil (1731) vorangestellt wurde:6 »Die Idee der Tugend ist die der Übereinstimmung mit einer Regel der Lebensführung, welche die Handlungen aller rationalen Geschöpfe hinsichtlich des gegenseitigen Glücks anleitet, zu deren Einhaltung ein jeder allezeit verpflichtet ist. … Verpflichtung ist die Notwendigkeit, etwas zu tun oder zu unterlassen, um glücklich zu sein. …. Eine komplette und vollständige Verpflichtung, welche in a­ llen Fällen gilt, kann nur aus der Autorität Gottes hervorgehen. …. Der Wille Gottes [insofern er das Verhalten anderen gegenüber anleitet] ist die direkte Regel oder das direkte Kriterium der Tugend … Ausgehend von der Natur Gottes jedoch ist es offensichtlich, dass Er bei der Erschaffung der Menschheit keinen anderen Plan als ihr Glück im Sinn gehabt haben konnte; und dass Er deswegen ihr Glück will; dass aber mein Verhalten, insofern es das sein kann, ein Mittel zum Glück der Menschheit sein sollte; so dass das Glück der Menschheit als das Kri-

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terium der Tugend, welches zuvor in weiter Ferne lag, gelten kann.«7 Die erste Konstruktion eines einigermaßen vollständigen Systems auf dieser Grundlage ist jedoch in Paleys Principles of Moral and Political Philosophy (1785) zu finden.8 Er beginnt damit, »Verpflichtung« zu definieren als »Gedrängtsein durch ein starkes Motiv, welches sich aus der Anordnung eines anderen ergibt«.9 Im Falle der moralischen Verpflichtung stammt die Anordnung von Gott und das Motiv besteht in der Erwartung, nach diesem Leben belohnt und bestraft zu werden. Die Gebote Gottes sind zu erforschen, »vereint aus der Schrift und durch das Licht der Natur«.10 Paley ist jedoch der Ansicht, dass die Schrift weniger gegeben wurde, um Moral zu lehren, als vielmehr um sie durch Beispiele zu illustrieren und durch neue Sanktionen und größere Gewissheit verstärkt zur Geltung zu bringen, und dass das Licht der Natur es deutlich werden lässt, dass Gott das Glück Seiner Geschöpfe will. Von daher ist seine Methode der Entscheidung moralischer Fragen hauptsächlich diejenige, die Tendenz von Handlungen, das allgemeine Glück zu fördern oder zu verringern, einzuschätzen. Um den offensichtlichen Einwänden gegen diese Methode zu begegnen, welche auf dem unmittelbaren Glück basieren, das durch eindeutige Verbrechen erlangt wird (wie das »Einschlagen des Kopfes eines reichen Gauners«), misst er der Notwendigkeit allgemeiner Regeln in jeder Form der Gesetzgebung Gewicht bei. *11 Durch sein mahnendes Verweisen darauf, wie wichtig es ist, gute Angewohnheiten auszubilden und beizubehalten, entgeht er teilweise der Schwierigkeit, die Folgen einzelner Handlungen zu kalkulieren. Auf diese Weise ist die utilitaristische Methode von subversiven Tendenzen befreit, welche Butler und *

  Es muss zugegeben werden, dass Paleys Verwendung dieses Argu­ mentes etwas lose durchdacht ist und die Konsequenzen eines einzelnen Aktes des gesellschaftlich nützlichen Mordes nicht hinreichend unter­ scheidet von den Konsequenzen einer allgemeinen Erlaubnis, solche Handlungen auszuführen.

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andere an ihr wahrgenommen hatten. So wie Paley sie verwendet, erklärt sie lediglich die derzeitigen moralischen und rechtlichen Unterscheidungen, zeigt die offensichtlich zweckmäßige Grundlage auf, welche die meisten der empfangenen Regeln des Rechtes und der Moralität besitzen, und liefert eine einfache, sich in Harmonie mit dem gesunden Menschenverstand befindliche Lösung einiger verwirrender Einzelfallfragen. So werden z. B. »natürliche Rechte« zu Rechten, deren generelle Befolgung auch jenseits der Institution der bürgerlichen Regierung nützlich wäre. Zu unterscheiden sind diese von den nicht weniger bindenden »hinzukommenden Rechten«, deren Nützlichkeit von eben dieser Institution abhängt.12 Privateigentum ist in diesem Sinne aufgrund seiner offensichtlichen Vorzüge bei der Ermunterung zu Arbeit, Kunstfertigkeit und bewahrender Sorgfalt »natürlich« – wenngleich effektive Eigentumsrechte von der allgemeinen Nützlichkeit der Einhaltung des geltenden Rechts abhängen,13 durch das diese Eigentumsrechte bestimmt werden. Dadurch werden erneut viele Verwirrungen, was die Pflichten der Aufrichtigkeit und des guten Glaubens betrifft, so gelöst, dass jesuitische Nachlässigkeit ebenso sehr wie abergläubischer Skrupel vermieden werden, indem der Grund dieser Pflichten in der – allgemeinen und partikularen – Nützlichkeit der Erfüllung absichtlich produzierter Erwartung gesehen wird. In gleicher Weise wird die allgemeine utilitaristische Basis der etablierten Sexualmoral erfolgreich dargelegt. Dennoch beobachten wir, dass Paleys Methode oftmals mit Beweisführungen vermischt wird, die zu einer fremden und älteren Art des Denkens gehören; etwa, wenn er die Forderung der Armen nach Mildtätigkeit unterstützt, indem er auf die Intention der Menschheit Bezug nimmt, »als diese beschloss, den gemeinsamen Besitz aufzuteilen«,14 oder wenn er aus der gleichen Anzahl an geborenen Männern und Frauen folgert, dass Monogamie ein Teil des göttlichen Schöpfungsplans ist. An anderen Stellen ist seine Formulierung utilitaristischer Überlegungen fragmentarisch und unsystematisch und tendiert dazu, zu lockerer Ermahnung mit Blick auf eher abgedroschene Themen zu verkommen.

Bentham und seine Schule 1 Was Einheit, Konsistenz und Gründlichkeit der Methode betrifft, ist Benthams Utilitarismus dem Paleys entschieden überlegen. Durchweg betrachtet er Handlungen einzig mit Blick auf ihre freud- und leidvollen Folgen, seien sie erwartet oder wirklich. Auch erkennt er völlig die Notwendigkeit, ein vollständiges und systematisches Register dieser Folgen zu erstellen, welches frei von den Einflüssen der allgemeinen moralischen Anschauungen ist, wie sie in »lobenden« und »missbilligenden« Begriffen im alltäglichen Gebrauch ausgedrückt werden. Und die Effekte, anhand derer allein er Verhalten bewertet, sind alle empirisch zugänglich – solche sind Freuden und Leiden, wie sie die meisten Menschen empfinden und alle bei anderen beobachten können –, sodass alle politischen oder moralischen Ableitungen, die aus Benthams Methode gefolgert werden, zu jedem Zeitpunkt für die Überprüfung durch praktische Erfahrung offenliegen. Jeder, so denkt Bentham, kann sagen, welchen Wert er den Freuden von Ernährung, Sex, den Sinnen im Allgemeinen, Reichtum, Macht, Neugier, Mitgefühl, Antipathie (Missgunst), dem Wohlwollen Einzelner oder der Gesellschaft im Allgemeinen und den entsprechenden Leiden wie auch den Leiden der Arbeit und der organischen Störungen beimisst.* Und er kann ziemlich gut das Maß erahnen, in welchem diese von den anderen geschätzt werden. Wenn daher einmal zugestanden wird, dass alle Handlungen durch Freuden und Leiden bestimmt und durch denselben Standard zu beurteilen sind, dann kann die *

  Diese Liste nennt zwölf der vierzehn Klassen, in welche Bentham die Triebfedern der Handlung unterteilt; sie lässt die religiöse Sanktionierung (welche später erwähnt wird), und die Freuden und Leiden des Eigeninteresses, welches alle anderen Klassen – ausgenommen die der Sympathie und der Antipathie – umfasst, aus.

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Kunst sowohl der Gesetzgebung als auch des privaten Verhaltens offenbar auf einer breiten, einfachen und klaren empirischen Basis bestimmt werden. Wenn wir die gute oder schlechte Tendenz einer Handlung untersuchen, müssen wir »mit irgendeiner der Personen, deren Interessen durch die Handlung unmittelbar berührt zu sein scheinen, beginnen und zunächst den Wert einer jeden unterscheidbaren Freude oder eines { jeden unterscheidbaren } Leids, welcher durch { die Handlung } produziert zu werden scheint, berücksichtigen«.2 Wir müssen sowohl die Intensität als auch die Dauer dieser Gefühle berücksichtigen und auch ihre Gewissheit oder Ungewissheit,* nicht jedoch irgendeinen vermuteten Unterschied in der Qualität im Unterschied zur Intensität, denn »ist die Quantität der Freude gleich, so ist Pushpin ebenso gut wie Poesie«.3 Wir müssen dann die »Fruchtbarkeit« und »Reinheit« dieser primären Folgen erwägen;4 das heißt ihre Tendenz, Gefühle derselben Art nach sich zu ziehen, und ihre Tendenz, keine Gefühle einer entgegengesetzten Art nach sich zu ziehen. Wenn wir daraufhin die Werte aller auf diese Weise sorgfältig geprüften Freuden und Leiden zusammenrechnen, wird das Übergewicht auf der Seite der Freuden oder der Leiden uns die allgemein positive oder negative Tendenz der Handlung für das in den Blick genommene einzelne Individuum aufzeigen. Dann müssen wir den Prozess mit Blick auf jedes andere Individuum, »dessen Interessen betroffen zu sein scheinen«,5 wiederholen; und so sollen wir schließlich bei der allgemein guten oder schlechten Tendenz der Handlung anlangen. Freilich erwartet Bentham nicht, dass »dieses Verfahren vor jedem einzelnen moralischen Urteil strikt befolgt werden sollte«; aber er meint, dass es »immer im Blick bleiben sollte« und dass unser ethisches Denken umso exakter werden wird, je mehr wir uns { diesem Verfahren } annähern.6 *

  Bentham ergänzt ihre »Nähe oder Ferne«, aber ich kann schwerlich annehmen, dass er meinte, dass der Zeitpunkt einer Freude ihren rational geschätzten Wert beeinflusst; außer insofern als eine Zunahme an Dis­tanz notwendigerweise eine Zunahme an Unsicherheit mit sich bringt.

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Nehmen wir nun an, dass auf diese Weise bestimmt wurde, welche Handlung unter irgendwelchen gegebenen Bedingungen in ihrer Tendenz die beste wäre. Wir müssen als nächstes untersuchen, welche Motive ein Mensch dafür haben könnte, diese Handlung auszuführen. Um eine aufschlussreiche Antwort auf diese Frage zu erhalten, müssen wir Freuden und Leiden aus einem anderen Blickwinkel klassifizieren: »in der Art wirksamer Ursachen oder Mittel«,7 oder, um Benthams hauptsächlichen Namen für Freuden und Leiden in dieser Beziehung zu verwenden, als »Sanktionen«* derjenigen Verhaltensregeln, welche die Menschen dazu veranlassen, sie einzuhalten. Menschen werden tatsächlich dazu gebracht, nützliche Regeln aufgrund der Erwartung eigener Freuden und Leiden einzuhalten; entweder (1) durch den normalen Lauf der Natur, der »nicht absichtlich durch das Eingreifen irgendeines Willens verändert wurde«,8 ob menschlich oder göttlich; oder (2) durch die Handlungen von Richtern oder Beamten, welche dazu ernannt wurden, den Willen des Souveräns auszuführen; oder (3) durch die Handlungen beliebiger Personen in der Gemeinschaft, »gemäß der spontanen Dispositionen eines jeden Menschen«;9 das heißt in Benthams Terminologie durch die »physische«, »politische« und »moralische** oder populäre« Sanktion.10 Diesen fügt er *

  Bentham verwendet diesen Begriff so, dass er Freuden und Leiden einschließt; aber es ist zu beobachten, dass Austin und (wie ich glaube) die ganze Juristenschule, die ihm gefolgt ist, die Anwendung des Begriffs auf Leiden beschränkt, da diese die Art von Motiven sind, mit denen der Gesetzgeber und der Richter beinahe ausschließlich befasst sind. **   In Benthams frühester Klassifizierung der Sanktionen – in der Introduction to the Principles of Morals and Legislation – würdigt er die Freuden und Leiden der moralischen Gefühle nicht ausdrücklich. Gemäß seiner Definition könnten sie in den Begriff der »physischen« Sanktionen einbezogen werden. Aber wir dürfen wahrscheinlich schließen, dass er diese Gefühle – wenn sie auf der einen Seite von der Sorge um das Ansehen und seine Konsequenzen und auf der anderen Seite von der Hoffnung auf Belohnung und der Angst vor Strafe im Jenseits losgelöst werden – für ein vergleichsweise unbedeutendes Gewicht innerhalb des Ausgleichs gewöhnlicher Motive hielt. Dennoch scheint er in einem späteren

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noch die »religiöse Sanktion« hinzu, d. h. jene Leiden und Freuden, welche von der »direkt eingreifenden Hand eines höheren, unsichtbaren Wesens« zu erwarten sind.11 Auf den ersten Blick scheint die Anerkennung dieser überweltlichen Folgen Benthams System von der einfachen und konkreten Basis weltlicher Erfahrung zu lösen, die den speziellen Anspruch des Systems auf unsere Aufmerksamkeit begründet. Die Wahrheit ist jedoch, dass er religiöse Hoffnungen und Ängste nicht ernsthaft berücksichtigt, außer als Motive, die tatsächlich auf den menschlichen Geist einwirken und es somit zulassen, genauso wie beliebige andere Motive auch beobachtet und gemessen zu werden. Er selbst nutzt den Willen eines allmächtigen und allgütigen Wesens nicht als Mittel zur logischen Verbindung zwischen individuellem und allgemeinem Glück. Er vereinfacht auf diese Weise zweifelsohne sein System und vermeidet jene fragwürdigen Folgerungen aus Natur und Offenbarung, in welche Paleys Position verstrickt ist. Dieser Vorteil ist jedoch teuer erkauft. Denn es stellt sich unmittelbar die Frage, wie dann gezeigt werden kann, dass die Sanktionen der moralischen Regeln, deren Einhaltung am meisten zum allgemeinen Glück der Menschen beitragen wird, im Falle eines jeden Individuums, dessen Regelbefolgung erforderlich ist, angemessen sind? Auf diese Frage versucht Bentham nirgends in einer von ihm selbst veröffentlichten Abhandlung eine vollständige Antwort zu geben. In seinem frühesten Buch gibt er ausdrücklich zu, dass »das einzige Brief an Dumont von 1821 gesondert auf das, was normalerweise als moralische Gefühle bezeichnet wird, als »sympathetische oder antipathetische Sanktionen« zu referieren. Vgl. An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (Works, Bd. I), S. 14, Anmerkung. { Sidgwick verweist an dieser Stelle auf den ersten Band (Edinburgh 1843) der von John Bowring herausgegebenen Werkausgabe. An der genannten Stelle findet sich in einer Herausgeberanmerkung die folgende teilweise Wiedergabe des Briefes von Bentham an Dumont vom 28. Oktober 1821: »Sanctions. Since the Traites, others have been discovered. There are now, I. Human: six, viz. 1. Physical; 2. Retributive; 3. Sympathetic; 4. Antipathetic; 5. Popular, or Moral; 6. Political, including Legal and Administrative.« }

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Interesse, von dem ein Mensch zu jeder Zeit sicher sein kann, ein angemessenes Motiv für dessen Befolgung zu finden, sein eigenes ist«,12 und fährt nicht fort zu bekräftigen, dass ein vollständigeres Wissen um die Folgen { dem Einzelnen } immer angemessene Motive für das Streben nach dem allgemeinen Glück aufzeigen würde. Und in vielen Teilen seines gewaltigen Werkes, im Bereich der Gesetzgebungs- und Verfassungstheorie, scheint er eher anzunehmen, dass die Interessen einiger Menschen solange kontinuierlich mit denen ihrer Mitmenschen in Konflikt geraten werden, wie wir das Gleichgewicht der prudentiellen Abwägung nicht durch eine sorgfältige Neuregelung von Strafmaßen ändern. Aber offensichtlich kann auf Grundlage dieser Annahme nicht daran festgehalten werden, dass ein Mensch immer sein eigenes größtes Glück dadurch gewinnen wird, dass er das allgemeine Glück »maximiert«, solange die legislativen und konstitutionellen Reformen nicht perfektioniert worden sind. Vielleicht können wir annehmen, dass Bentham in seiner früheren Schaffensphase der Ansicht war, dass es als praxisorientierter Philanthrop nicht seine Aufgabe sei, auf den gelegentlichen und teilweisen Konflikt näher einzugehen, der zwischen dem privaten und dem allgemeinen Glück im gegenwärtigen, unvollkommenen Zustand irdischer Einrichtungen entsteht. Stattdessen { sah er es vielleicht als seine Aufgabe an, } den Menschen gewaltsam einzuprägen, in welch großem Umfang ihr Glück tatsächlich durch das, was zum allgemeinen Glück beiträgt, gefördert wird; zu zeigen, warum Aufrichtigkeit normalerweise die beste Strategie ist; wie freiwillige Dienste zugunsten anderer eine profitable Anlage bei einer Art Bank des allgemeinen guten Willens sind; wie fehlerhaft die Einschätzungen der Leiden und Freuden in jeder Hinsicht sind, durch welche die Handlungen praktisch selbstsüchtiger und bösartiger Menschen bestimmt werden.* Dennoch wird in der Deontology, welche Bowring aus den Manuskripten Benthams nach dessen Tode veröffentlicht *

  Diese Themen sind in der Deontology von Bedeutung. { Sidgwick verweist an dieser Stelle auf die 1834 posthum von John Bowring aus

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hat, eindeutig angenommen, dass im wirklichen menschlichen Leben, wie empirisch festgestellt werden kann, das Verhalten, das dem allgemeinen Glück am zuträglichsten ist, immer mit dem Verhalten koinzidiert, welches am meisten zum Glück des Handelnden beiträgt. { Dort wird auch angenommen, } dass, ausgehend von einem rein irdischen Standpunkt, »Laster definiert werden kann als eine Fehlberechnung der Chancen«.13 Und es scheint wahrscheinlich, dass diese Auffassung als eigentliche Lehre Benthams in seinen späteren Tagen anzusehen ist, da er sicherlich der Auffassung war, dass das »dauerhaft angemessene Ziel des Handelns auf Seiten eines jeden Individuums im Moment der Handlung dessen eigenes, wirklich größtes Glück ist, von diesem Augenblick an bis zum Ende seines Lebens«, ohne seine vorbehaltlose Akzeptanz des »größten Glücks der größten Zahl« als eines »einfachen, aber wahren Standards für alles, was im Bereich der Moral richtig und falsch ist«, zurückzunehmen.*14 Und die soeben erwähnte Annahme wird benötigt,15 um diese beiden Überzeugungen zu versöhnen, wenn die empirische Basis, auf welcher sich sein gesamtes Denken vollzieht, erhalten bleiben soll. Da es jedoch zumindest sehr schwierig ist, unter den gegebenen Bedingungen der menschlichen Gesellschaft, einen angemessenen empirischen Beweis für diese universelle Interessenharmonie anzugeben, ist es nicht überraschend, dass einige der Schüler Benthams sich bemüht haben, diese Art der Überbrückung der Lücke in seinem System zu vermeiden. Ein Teil dieser Schule, vertreten durch John Austin, kehrte offensichtlich zu Paleys Position zurück und behandelte die utilitaristische Moral** als ein Regelwerk göttlicher Gesetzden Manuskripten Benthams zusammengestellte Schrift Deontology or the Science of Morality.} *   Vgl. Benthams Works, Bd. X (Life), S. 560, 561 und S. 79. **   Es sollte beachtet werden, dass Austin im Anschluss an Bentham den Begriff »Moral« normalerweise zur Kennzeichnung dessen verwendet, was er eindeutiger als »positive Moralität« bezeichnet, als den Kodex von Regeln, der von der öffentlichen Meinung in einer jeden Gesellschaft befürwortet wird.

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gebung; andere begnügten sich mit Grote damit, die Strenge der an das Individuum gerichteten Forderungen des »allgemeinen Glücks« abzumildern und die utilitaristische Pflicht als praktisch durch Reziprozität begrenzt zu betrachten; während auf der anderen Seite eine uneingeschränkte Unterordnung des privaten Glücks unter das allgemeine Glück von John Stuart Mill verteidigt wurde, der wahrscheinlich mehr als jedes andere Mitglied dieser Schule dafür getan hat, den Utilitarismus sowohl in der Ethik als auch in der Politik zu verbreiten und zu popularisieren.

J. S. Mill und der Assoziationismus 1 Die Art und Weise, in der sich Mill in seiner kurzen Abhandlung Utilitarianism (1861) darum bemüht, das Individuum zur Annahme des allgemeinen Glücks als seinem höchsten Zweck zu veranlassen, ist etwas kompliziert und verblüffend. Um zu beginnen: Er hält – mit Hume und Bentham – daran fest, dass »Fragen nach letzten Zwecken einen Beweis im üblichen Sinne des Wortes nicht zulassen«.2 Er denkt jedoch, dass »Erwägungen angestellt werden können, die geeignet sind, den Geist dazu zu bewegen, der Lehre seine Zustimmung zu geben«. 3 Die Überlegungen, die er tatsächlich präsentiert (in Kap. IV), sind, kurz gesagt, diese: (1) Was sich jeder Mensch wünscht, ist Freude (oder die Abwesenheit von Leid*) für sich selbst und er wünscht sich diese immer im Verhältnis zum Ausmaß der Freude. (2) Der einzig mögliche Beweis dafür, dass irgendetwas wünschenswert ist, ist der, dass Menschen es sich tatsächlich wünschen. (3) Das Glück einer jeden Person ist daher wünschenswert oder ein Gut für sie selbst. (4) Das allgemeine Glück ist daher ein Gut für das Aggregat aller Personen. Wenn das Aggregat einen wirklich kollektiven Willensakt vollziehen könnte, mögen diese Überlegungen es vielleicht dazu veranlassen, mit diesem Willensakt auf das allgemeine Glück zu zielen. Sie scheinen jedoch wenig dazu geeignet zu sein, einen Einzelnen davon zu überzeugen, dass er die »größte Menge an Glück insgesamt«  – anstelle der größten Menge seines eigenen Glücks – zum Maßstab und zur höchsten »leitenden Regel« seines privaten Verhaltens nehmen sollte.4 Auch scheint sich Mill – um ihm ge*

  Um der Kürze willen ist es oftmals zweckmäßig, den Utilitarismus so zu diskutieren, als bezöge er sich ausdrücklich nur auf Freude – das Leid ist dann als negative Quantität der Freude als miteinbegriffen zu verstehen.

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recht zu werden – zu diesem Zwecke nicht auf solche Argumente zu stützen. Denn wenn er (in Kap. III) explizit die Frage aufwirft: »Was ist die Quelle der Verpflichtung« der utilitaristischen Moral?, dann besteht seine Antwort gänzlich aus der Beschreibung von »Sanktionen« im Sinne Benthams, d. h. aus eigenen Freuden und Leiden, welche der Handelnde, der nach dem allgemeinen Glück strebt, zu gewinnen bzw. zu vermeiden versucht.5 In seiner Analyse dieser Motive legt er jedoch besonderes Gewicht auf eine Sanktion, die Bentham zu bemerken versäumt hatte: das »Gefühl der Einheit mit seinen Mitgeschöpfen«, welches es für ein Individuum mit »voll ausgebildetem moralischem Charakter« zu einem »natürlichen Bedürfnis« macht, dass seine Ziele sich im Einklang mit denen { der Mitgeschöpfe } befinden sollten.6 Dieses Gefühl, sagt er, ist »bei den meisten Individuen weit weniger stark als die egoistischen Gefühle und fehlt oftmals ganz.«7 Dennoch präsentiert es sich den Gemütern derjenigen, die es haben, als »etwas, das sie auf keinen Fall entbehren möchten«, und »diese Überzeugung ist die grundlegende Sanktion der Moral des größten Glücks«.8 Mit der Behauptung, Individuen, die dieses Gefühl besäßen, seien überzeugt, dass es »für sie nicht gut wäre, ohne dieses Gefühl zu sein«,9 meint Mill nicht etwa, dass sie davon überzeugt sind, ihr eigenes Glück immer in genau dem Maße zu erlangen, in welchem sie das allgemeine Glück befördern. Im Gegenteil, er behauptet, dass angesichts der gegenwärtigen »unvollkommenen Verhältnisse in der Welt« ein Mensch oftmals »durch die absolute Aufopferung seines eigenen { Glücks } dem Glück der anderen am besten« dienen kann und dient.10 Jedoch zieht er in Erwägung, dass die »bewusste Fähigkeit, ohne Glück auszukommen, die beste Aussicht darauf eröffnet, so viel Glück, wie erreichbar ist, zu verwirklichen«, da { diese Haltung } die Person über die Zufälle des Lebens erhebt und von zu großer Angst vor den Übeln des Lebens befreit.11 Diese sonderbare Vermischung stoischer und epikureischer Elemente – der Epikureismus stellt die Definition des Guten für das Individuum bereit und vom stoischen Gemütszustand

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wird festgestellt, dass er die besten Aussichten eröffnet, dieses Gut zu erreichen – könnte mit einer anderen Position in Verbindung gebracht werden, welche Mill im Gegensatz zu Bentham vertritt: die Anerkennung von qualitativen Differenzen von Freuden, die von quantitativen Differenzen abgegrenzt und letzteren übergeordnet sind. Diese Anerkennung der Qualität entfaltet einige Wirksamkeit, indem sie den gesunden Menschenverstand mit der Annahme der Freude als Kriterium der Pflicht versöhnt. Dieser Vorteil wird jedoch auf Kosten der Konsistenz gewonnen: Schließlich ist es schwierig einzusehen, in welchem Sinne von einem Menschen, der aus zwei alternativen Freuden die weniger freudvolle aufgrund ihrer qualitativen Überlegenheit auswählt, behauptet werden kann, dass er das »größte« Glück oder die »größte« Freude als Maßstab seiner Präferenzen akzeptiert hat. Und selbst nach der Einführung dieses fremdartigen Elementes kann nicht gesagt werden, dass Mills Utilitarismus einen adäquaten Beweis dafür enthält, dass Personen mit den verschiedensten Gemütern und Temperamenten durch ihre Entscheidung, immer nach dem allgemeinen Glück zu streben, überhaupt die größte Chance auf ihr eigenes Glück in diesem Leben gewinnen werden. Tatsächlich versucht oder bekundet er kaum, einen solchen Beweis zu liefern. Alles in allem kann jetzt vielleicht eingestanden werden, dass, während die Forderung nach adäquaten Sanktionen eine ist, die der Utilitarismus von Bentham oder Mill nicht berechtigterweise als irrelevant zurückweisen kann, sie dennoch eine ist, der, ohne die rein empirische Basis zu verlassen, nicht Genüge getan werden kann. Dennoch könnte darauf hingewiesen werden, dass es verschiedene Wege gibt, ein utilitaristisches System der Moral zu verwenden, ohne zu entscheiden, ob die damit verbundenen Sanktionen immer adäquat sind. (1) { Ein solches System } könnte als praktische Orientierung für all jene dargelegt werden, welche das »allgemeine Gute« als ihr letztes Ziel wählen – ob sie dieses aus religiösen Gründen oder aufgrund der Vorherrschaft des unparteiischen Mitgefühls in ihrem Geiste tun oder weil ihr Gewissen in Einklang mit utilitaristi-

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schen Prinzipien handelt oder aufgrund irgendeiner Kombination dieser oder irgendwelcher anderer Gründe. Oder (2) { dieses System } könnte als ein Kodex angeboten werden, dem nicht uneingeschränkt gehorcht werden muss, sondern nur in den Fällen, in denen nach eigenem Urteil private und allgemeine Interessen zusammenfallen. Ferner (3) könnte { das System } als ein Maßstab vorgeschlagen werden, demgemäß Menschen vernünftigerweise zustimmen mögen, das Verhalten anderer zu loben und zu tadeln, auch wenn sie es nicht immer für passend halten sollten, selbst demgemäß zu handeln. Wir könnten Moralität als eine Art ergänzender Gesetzgebung betrachten, welche von der öffentlichen Meinung getragen wird. Wir dürfen von der Öffentlichkeit, sofern sie gebührend aufgeklärt ist, erwarten, dass sie diese in Übereinstimmung mit dem öffentlichen Interesse ausgestaltet. Aus der zuletzt genannten Perspektive ergibt sich eine neue Frage bezüglich des Verhältnisses des eigenen Glücks zum allgemeinen Glück, welche sorgfältig von der zu unterscheiden ist, welche wir betrachteten. Angenommen, dass die Förderung des allgemeinen Glücks das letzte Ziel der Moral ist: In welchem Maße sollten der Moralist und der Erzieher danach streben, die Wohltätigkeit zum bewusst vorherrschenden Handlungsmotiv des Einzelnen zu machen? In welchem Maße sollte er versuchen, die sozialen Impulse zu fördern, deren direktes Ziel das Glück der anderen ist – auch auf Kosten derjenigen Impulse, die in weitem Sinne »egoistisch« genannt werden dürfen, d. h. der Impulse, die auf die persönliche Befriedigung zielen, die anders als durch das Glück der anderen entsteht. Benthams Ansicht zu dieser Frage findet ihren bezeichnenden Ausdruck in der Rede­ wendung, dass »für eine Diät nichts außer Selbstliebe nützen wird«, doch »für einen Nachtisch Wohltätigkeit eine sehr wertvolle Zutat ist«.12 Die Lehre Mills – unter dem Einfluss Comtes, wie wir gleich feststellen werden,13 mit dem er allerdings in wesentlichen Aspekten nicht übereinstimmt – führt die Balance zwischen praktischem »Egoismus« und »Altruismus« auf andere und feinere { Art und Weise } herbei. Auf der einen Seite

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hält Mill* daran fest, dass ein uneigennütziger öffentlicher Geist das Hauptmotiv bei der Ausführung aller sozial nützlichen Arbeit sein sollte und dass man sich sogar Vorschriften der Hygiene nicht hauptsächlich aus Gründen der Klugheit einprägen sollte, sondern weil »wir uns durch die Vergeudung unserer Gesundheit selbst dazu unbrauchbar machen, unseren Mitgeschöpfen Dienste zu leisten«.14 Auf der anderen Seite erwägt er, dass »das Leben nicht so reich an Genüssen ist, als dass man es sich leisten könnte, auf die Kultivierung all jener Vergnügen zu verzichten, welche sich auf die [sogenannten] egoistischen Neigungen beziehen«.15 Und die Aufgabe des moralischen Tadels – im Unterschied zum moralischen Lob – sollte auf die Verhinderung von Verhalten beschränkt werden, welches anderen aktiv schadet oder andere in ihrem Streben nach ihrem eigenen Glück behindert oder Verpflichtungen verletzt, welche der Handelnde ausdrücklich oder stillschweigend eingegangen ist. Gleichzeitig erweitert er die Vorstellung der »stillschweigenden Verpflichtung« so, dass sie »alle die eindeutig guten Dienste und uneigennützigen Leistungen« mit einschließt, »welche die moralische Verbesserung der Menschheit zur Gewohnheit gemacht hat«.16 Hiermit legt er einen Standard fest, der in einer sich entwickelnden Gesellschaft dazu neigt, beständig anspruchsvoller zu werden. Aus dieser Lehre folgt für die Grenzen legitimen Tadels, dass er nicht zur Förderung des Glücks der getadelten Person verwendet werden sollte. Der »moralische Zwang der öffentlichen Meinung«17 ist Mill zufolge eine Form der sozialen Einflussnahme, welchen zu gebrauchen die Gesellschaft nur zu ihrem eigenen Schutz berechtigt ist. Mill gesteht zu, dass der Schaden, den eine Person sich selbst zufügt, ernsthafte Auswirkungen auf die mit ihm durch Sympathie und Interesse Verbundenen und, in geringerem Maße, auf die Gesellschaft insgesamt haben kann. Er hält aber fest, dass dies »eine Unannehmlichkeit *

  Die in diesem Paragraphen zusammengefassten Ansichten finden sich teilweise in Mills Essay Auguste Comte and Positivism (Teil II), teilweise in seiner Abhandlung On Liberty.

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ist, welche zu tragen sich eine Gesellschaft zugunsten des größeren Gutes der menschlichen Freiheit leisten kann«, mit Ausnahme von Fällen, in denen ein »eindeutiger Schaden oder das eindeutige Risiko eines Schadens, sei es für ein Individuum oder für die Öffentlichkeit«, besteht.18 Zum Beispiel sollten wir einen gewöhnlichen Bürger nicht allein dafür tadeln, dass er betrunken ist; wenn ihn jedoch Zügellosigkeit daran hindert, seine Schulden zu bezahlen oder seine Familie zu unterstützen, dann ist er tadelnswert; und ein Polizist ist tadelnswert, wenn er im Dienst betrunken ist.19 Aber wenngleich Mill der Ansicht ist, dass die moralischen Gefühle ganz bewusst und sorgfältig auf die gerade beschriebene Weise reguliert werden sollten, so dass ihre Tätigkeit für das allgemeine Glück so förderlich wie möglich sein möge, so identifiziert er doch die moralischen Gefühle nicht einfach mit Mitleid oder rationaler Wohltätigkeit. Im Gegenteil, er ist der Ansicht, dass »sich der Geist so lange nicht in einem der Nützlichkeit angemessenen Zustand befindet, wie er die Tugend nicht als etwas um ihrer selbst Erstrebenswertes liebt«, d. h. ohne Bezug auf ihre Nützlichkeit.20 Eine solche Liebe zur Tugend hält Mill in gewissem Sinne für natürlich, wenngleich sie kein letztgültiges und unerklärliches Faktum der menschlichen Natur ist: Er erklärt sie durch das »Gesetz der Assoziation« von Gefühlen und Ideen, welches, wie wir gesehen haben, Hartley als erster umfassend in einer psychophysischen Theorie der Entwicklung mentaler Phänomene angewendet hatte.*21 Mill zufolge wirkt dieses Gesetz auf zwei Weisen, die auf jeden Fall zu unterscheiden sind. Erstens wird die Tugend, die ursprünglich bloß als der nicht-moralischen Freude zuträglich oder als Schutz gegen nicht-moralische Leiden geschätzt *

  Die Bedeutung dieses Prinzips hatte J. S. Mill durch seinen Vater James Mill erlernt, der in seiner Analysis of the Human Mind mit viel Elan und Anschaulichkeit eine Ansicht entwickelt hatte, die der von Hartley im Wesentlichen ähnelte, jedoch durch die Geschmacklosigkeiten der Physiologie Hartleys nicht belastet war. { James Mill 1869, Analysis of the Phenomena of the Human Mind.}

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wurde, durch den Einfluss der Assoziation zu einer unmittelbaren Quelle der Freude und { einer Quelle } des Leids durch Reue, wenn ihre Regeln verletzt werden. { Tugend } ist daher für den moralisch entwickelten Geist ein Objekt, welches um seiner selbst willen gewünscht wird. Bis hierher ist der Vollzug tugendhafter Handlungen nur eine spezielle Form des Strebens nach der eigenen größten Freude. Doch Mill ist ferner der Ansicht, dass die erworbene Neigung zu tugendhaftem Verhalten so stark werden könnte, dass die Gewohnheit, dies zu wollen, fortdauern kann, »auch wenn die Belohnung, die der tugendhafte Mensch durch das Bewusstsein des guten Handelns empfängt alles andere als gleichwertig ist mit dem Leiden, welches er erträgt, oder zu den Wünschen, denen er deswegen entsagen muss«.22 Auf diesem Wege gelangt der Held oder Märtyrer dahin, freiwillig »ein absolutes Opfer seines eigenen Glücks« darzubringen, um das Glück der anderen zu fördern. Er kann alles nur in dem Maße wünschen, in dem es voraussichtlich erfreulich sein wird, aber aufgrund der Gewohnheit kann er wollen, was im Ganzen unangenehm ist – es ist dasselbe Gesetz, durch dessen Wirkung der Geizkragen zunächst Geld als ein Mittel für Behaglichkeit begehrte, dann aber damit endet, die Behaglichkeit dem Geld zu opfern. Die moralischen Gefühle, welche letztlich diese Kraft erlangen, sind für Mill – wie auch für Hartley – abgeleitet aus »sehr zahlreichen und komplexen Elementen«, die so vermengt sind, dass das daraus resultierende Gefühl in den meisten Fällen »sehr verschieden von der Summe seiner Elemente« ist.23 Ihr Ursprung ist in jedem gewöhnlichen Individuum zweifelsohne teilweise künstlich, da sie teilweise dem geschuldet sind, was Hr. Bain die »Erziehung des Gewissens u ­ nter Regierung oder Autorität« nennt,24 welche anfällig dafür ist, fehlgeleitet zu werden, so dass die durch sie hervorgerufenen moralischen Impulse bisweilen absurd und bösartig sind. Gefühle eines bloß künstlichen Ursprungs neigen jedoch dazu, dem »auflösenden Einfluss der Analyse«25 nachzugeben, wenn die intellektuelle Bildung fortschreitet: aber insofern sich die moralischen Gefühle in Harmonie mit den utilitaristischen

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Regeln befinden, werden sie gegen diese zersetzende Analyse durch den dauerhaften Einfluss der natürlichen Quelle – die »sozialen Gefühle der Menschheit« – erhalten, welcher sie teilweise entsprungen sind.26 { Diese sozialen Gefühle } sind ihrerseits zusammengesetzt aus (1) dem Mitgefühl mit den Freuden und Leiden anderer und (2) der Gewohnheit, aus einem Bewusstsein wechselseitiger Bedürfnisse und der Verwicklung von Interessen heraus das Wohlergehen anderer zu berücksichtigen. Das besondere Gefühl, welches mit unseren Begriffen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verbunden ist, erklärt Mill (nach Adam Smith) wesentlich als Abneigung, welche durch erweitertes Mitgefühl und intelligentes Eigeninteresse moralisiert wird. Was wir mit Ungerechtigkeit meinen ist ein Leid, welches einem bestimmten Individuum durch das Brechen irgendeiner Regel zugefügt wurde und wofür wir den Regelbrecher bestraft sehen möchten – im Interesse beider, der geschädigten Person wie der Gesellschaft als ganzer, uns selbst einbegriffen. Eine Posi­tion bezüglich des Ursprungs der moralischen Gefühle, die derjenigen Mills weitgehend gleicht, wird von Hrn. Bain vertreten, dem führenden lebenden Vertreter der Assoziationistischen Psychologie, wie auch von anderen Autoren derselben Schule. Die Kombination der Voraussetzungen wird von verschiedenen Autoren etwas verschieden bestimmt – Hr. Bain im Besonderen misst der Tätigkeit des rein uneigennützigen Mitgefühls besonderes Gewicht bei.* Im Allgemeinen jedoch sind *

  Hr. Bain hält diese Tätigkeit des Mitgefühls für einen besonderen Fall der »Tendenz einer jeden Idee, sich selbst auszuleben, eine Wirklichkeit zu werden – nicht mit dem Ziel, Freude zu bereiten oder Leid abzuwehren, sondern aufgrund eines unabhängigen Antriebs des Geistes.« { Bain in Mill 1869, Analysis of the Phenomena of the Human Mind, Bd. 2, Kap. XXIII, S. 305, Anm. 57: »It may be brought under a still higher law, of which some motive will be taken afterwards (see note on the Will, chap. XXIV.), namely the tendency of every idea to act itself out, to become an actuality, not with a view to bring pleasure or to ward off pain – which is the proper description of the will – [,] but from an independent prompting of the mind that often makes us throw away pleasure and embrace pain.«}

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sie sich darin einig, den Prozess der Kombination so aufzufassen, dass er die moralischen Antriebe eines jeden normalen Individuums im Großen und Ganzen mit dem allgemeinen Interesse der Gemeinschaft, deren Mitglied er ist, harmonisiert, so dass das Gewis­sen des einfachen Menschen aus Sicht utilitaristischer Prinzipien als nützliche, wenn auch nicht unfehlbare Richtschnur des Verhaltens angesehen werden kann, besonders dann, wenn utilitaristische Kalkulationen schwierig und un­ sicher sind.*27 *

  Eine interessante Form der Assoziationistischen Theorie des Ursprungs moralische Gefühle kann in Hrn. Herbert Spencers Data of Ethics (§§  44–47) gefunden werden. Nach Spencers Ansicht ist »der wesentliche Zug des moralischen Bewusstseins« die Kontrolle »der einfacheren und weniger idealen Gefühle durch die komplexeren und idealeren { Gefühle }«. Dies ist jedoch auch ein Grundzug anderer Einschränkungen, die nicht eigentlich moralisch genannt werden können; und nur graduell »grenzen« sich eigentlich moralische Einschränkungen im Laufe der Evolution von diesen anderen Einschränkungen ab. Die Impulse wilder Menschen werden zuerst durch eine unbestimmte Furcht vor dem Zorn anderer Wilder, Lebender wie Toter – die Toten werden mit in Betracht gezogen, wenn sich der Glaube an Geister entwickelt –, eingeschränkt. Aus dieser { Einschränkung } entwickelt sich allmählich die Verschiedenheit der Furcht vor rechtlichen Strafen, der Furcht vor göttlicher Vergeltung und der Furcht vor sozialer Missbilligung. Der Begriff der moralischen »Verpflichtung« wurde ursprünglich aus den Einschränkungen, die durch diese Ängste erzeugt wurden, hergeleitet. Denn in jenen Fällen sind die gefürchteten Folgen, wenn sie auch »eher zufällig als notwendig sind«, leichter lebhaft vorstellbar als der von schlechten Handlungen verursachte »notwendige, natürliche« Schaden, dessen Vorstellung die eigentliche Quelle rein moralischen Fühlens und { rein moralischer } Einschränkung ist. Letzteres entwickelt sich dementsprechend langsamer als die Einschränkungen, welche politischen, religiösen und sozialen Autoritäten entspringen; und { es entwickelt sich } unter Bedingungen der sozialen Einheit, die nur diese anderen Einschränkungen aufrechterhalten können. Wenn dieses sich auch auf diese Art entwickelt hat, so wird es doch in der bewussten Erfahrung von diesen anderen Einschränkungen ganz unabhängig sein. Hr. Spencer fügt hinzu, dass von dem »Element der Zwangsläufigkeit«, welches in den Bereich der strikt moralischen Einschränkungen durch die Verbindung mit poli-

DAS GU TE

Der Hedonismus und das höchste Gut Es wurde schon oft festgestellt, dass die systematische Untersuchung der Natur des höchsten Zwecks menschlichen Handelns, das Bonum oder Summum Bonum, fast ausschließlich der antiken ethischen Spekulation angehört und dass deren Platz in der modernen Ethik die Erforschung der fundamentalen moralischen Gesetze oder Imperative der praktischen Vernunft einnimmt. Während die antiken Denker hauptsächlich zu versuchen scheinen, den richtigen, höchsten Gegenstand rationaler Bemühungen zu ermitteln, sind die modernen Denker hauptsächlich damit beschäftigt, die Grundlage und Gültigkeit eines übernommenen Regelwerks zu diskutieren, das zum größten Teil eher restriktiv als direktiv für das menschliche Handeln ist. Doch obwohl dieser Unterschied häufig festgestellt wurde, ist mir nicht bekannt, dass dafür schon einmal eine klare Erklärung angeboten worden wäre. Zugleich gibt es wiederum viele Hinweise darauf, dass die ethische Spekulation in England mittlerweile einen Punkt erreicht hat, an dem sich diese alte Frage bezüglich der Natur des höchsten Gutes wieder als grundlegend erweist. Wenn diese Hinweise nicht irreführend sind, müsste es interessant sein, mittels eines Vergleichs zwischen antikem und modernem Gedankengut herauszufinden, inwieweit der spekutischen, religiösen und sozialen Einschränkungen importiert wurde, erwartet werden kann, dass es schwindet, sobald das eigentlich »moralische Motiv deutlich sichtbar und vorherrschend wird«. Somit »ist der Sinn von Pflicht oder moralischer Verpflichtung vorübergehend und wird so schnell schwinden wie die Moralisierung zunimmt«. { Vgl. Anm. 27.}

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lative Ausflug, der damit endete, uns zurück zum alten Problem zu bringen, uns dazu brachte, dieses aus einem neuen Blickwinkel und unter neuen Bedingungen zu betrachten. Wenn wir die griechische Untersuchung des höchsten G ­ utes mit unserer eigenen vergleichen, dann stellen wir schon in der Form der grundsätzlichen Fragestellung einen wichtigen Unter­ schied fest. Was wir als Moralisten natürlicherweise zu suchen geneigt sind, ist die wahre Bestimmung des allgemeinen Guten, denn die meisten von uns nehmen nahezu ohne zu zögern an, dass moralisches Handeln als solches in Bezug zu universellen Zwecken stehen muss. Aber für den griechischen Moralisten hatte die primäre Fragestellung auf ebenso natürliche und unvermeidliche Weise eine egoistische Ausrichtung.* Das Gute, das er untersuchte, war ›gut für ihn selbst‹ oder für jegliche andere individuelle philosophische Seele auf der Suche nach dem wahren Lebensweg. Dieser Unterschied ist hinreichend offensichtlich und wurde längst von mehr als einem A ­ utor bemerkt, aber er wurde für moderne Leser vielleicht etwas verschleiert durch die viel häufiger betonte, antithetische Tatsache, dass die politische Spekulation Griechenlands sich von unserer gerade durch ihren nicht-individuellen Charakter unterscheidet. In Wirklichkeit gibt es keinen Widerspruch zwischen der ethischen Annahme des privaten Guten des Handelnden als letztem Bestimmungsgrund rationalen Handelns und der politischen Annahme des Guten des Staates – auch ohne Berücksichtigung ›natürlicher Rechte‹ irgendwelcher seiner Teile als letztem Zweck und Maß richtiger politischer Organisation. Es wäre in der Tat nicht schwierig zu zeigen, dass die beiden Annahmen natürlich zum gleichen Entwicklungsstadium der praktischen *

  Diese Aussage erfordert einige Einschränkungen, insofern sie Platons eigentümliche Ontologie betrifft. Dennoch betrifft dies nicht so sehr die Frage, die Platon stellte, als die Antwort, die er darauf gab, und selbst das nur in begrenztem Umfang, so zum Beispiel nicht im Philebos, wo das untersuchte ἀγαθόν schlicht das ἀγαθόν ἀνθρώπινον von Aristoteles ist. { ἀγαθόν (agathon): »das Gute«; ἀνθρώπινον ἀγαθόν (anthrōpinon agathon): »das für den Menschen Gute«.}

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Philosophie gehören. Dennoch haben sie aufgrund der Vermischung von Politik und Ethik in der philosophischen Diskussion, welche die Periode von Sokrates bis Aristoteles charakterisiert, ein wenig dazu geneigt, sich miteinander zu vermengen. Und diese Vermengung ist durch die Analogie zwischen dem Individuum und dem Staat, die die Grundlage von Platons berühmtester Abhandlung bildet, weiter begünstigt worden.1 Diese Analogie selbst bringt jedoch, wenn sie sorgfältig untersucht wird, auf die eindrucksvollste Weise das Charakteristikum hervor, das sie zunächst zu verschleiern scheint: Für den individuellen Menschen, der als Reich der Impulse verstanden wird,2 besteht sein Gutes auf grundlegende Weise in der notwendigen Ordnung der inneren Beziehungen in diesem Reich und nur in zweiter Linie und auf indirekt realisierte Weise in den Beziehungen dieses komplexen Individuums zu anderen Menschen. Und in Aristoteles’ detaillierter Analyse der moralischen Ideale seiner Zeit steht der grundsätzliche Egoismus im genannten Sinne in auffälligem Kontrast zur modernen Tendenz, »den Anwendungsbereich und den Gegenstand der Ethik als gänzlich sozial« zu betrachten.* Die Grenzen der Liberalität von Aristoteles sind nicht durch ihre Auswirkungen auf das Wohlergehen ihrer Empfänger bestimmt, sondern von einem intuitiven Verständnis der edlen und anmutigen Art der Anstrengung, die frei ist, ohne allzu überschwänglich zu sein. Und sein mutiger Krieger wird nicht als jemand empfohlen, der sich seinem Land hingibt, sondern als jemand, der für sich selbst, sogar unter Schmerzen und Tod, das besondere καλόν einer mutigen Handlung erreicht.3 Ohne Zweifel müssen wir im Kopf behalten, dass dieser Egoismus hauptsächlich formal ist. Der orthodoxe Moralist von Prodikos bis Chrysippos empfiehlt im Wesentlichen das Opfern individueller Neigungen zugunsten sozialer Ansprüche, wenn er den Vorzug der Tugend vor der Freude empfiehlt. Und *

 Vgl. Mind III, S. 341. { Sidgwick zitiert Pollock 1876, Evolution and Ethics.}

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das explizite »communis utilitas nostrae anteponenda« des späteren Stoizismus (der in dieser Hinsicht einen Übergang von der antiken Sichtweise zur modernen bildet) ist ohne Zweifel in den praktischen Lehren früherer Schulen impliziert.4 Dennoch sind die Auswirkungen der egoistischen Form sehr klar im tatsächlichen Verlauf der ethischen Diskussion erkennbar. Sie machte es für den orthodoxen Moralisten absolut notwendig, die Beziehung der Tugend des Individuums zu seiner Freude und zu seinem Leid zu klären. Ein moderner Moralist kann dies unbestimmt lassen. Er kann natürlich nicht den überragenden Einfluss von Freude und Leid auf die tatsächliche Bestimmung menschlicher Handlungen unberücksichtigt lassen; und er muss sich darüber im Klaren sein, dass das Erzielen zukünftiger Freude und das Vermeiden zukünftiger Leiden zumindest zentral ist für die gewöhnliche Auffassung des ›Glücks‹, ›Interesses‹, des ›im Ganzen Guten‹ oder wie auch immer wir den Zweck nennen, den ein kluger Mensch als solcher im Blick hat. Aber er darf die Diskussion dieser Sache als zu den Sanktionen der Moral und nicht zur Moral selbst gehörig betrachten; also nicht zur Theorie dessen, was Pflicht ist, sondern zu der praktischen Frage, wie ein Mensch beschaffen sein muss, um seine Pflicht zu tun. Der Grieche jedoch, der die Bestimmung des individuellen Guten als die Bereitstellung des grundlegenden Prinzips betrachtete, von dem das ganze Regelwerk für vernünftiges Verhalten letztlich abhängt, war zunächst verpflichtet, die gängige Ansicht zu erwägen, dass dieses Gute die Freude sei. Entweder er akzeptierte diese Ansicht, mit den Kyrenaikern5 und den Epikureern,6 vorbehaltslos und hielt die Tugend lediglich als Mittel zum Vergnügen des tugendhaft Handelnden für wertvoll oder er wies sie, mit Zenon, komplett zurück und bestand auf der intrinsischen Wertlosigkeit der Freude. Oder er argumentierte, mit Sokrates, Aristoteles und Platon in dessen nüchterneren Momenten, zugunsten der untrennbaren Verbindung zwischen der besten und wirklich freudvollsten Freude und dem Praktizieren der Tugend. Die erste Position war anstößig für das moralische Bewusstsein; die dritte bedeutete die

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Notwendigkeit zu beweisen, was niemals wirklich bewiesen werden kann, ohne entweder dialektische Tricks anzuwenden oder Annahmen einzuführen, die die Erfahrung übersteigen. Und so ist es nicht überraschend, dass der Hauptteil der moralischen Ernsthaftigkeit der antiken Gesellschaft schließlich aufseiten der zweiten Alternative zu finden war. Dennoch ließ die unmenschliche Härte des Paradoxons, dass ›Freude und Leid dem Weisen gleichgültig sind‹, niemals einen abstoßenden Effekt vermissen und die imaginäre Folterbank, auf welcher der Weise den Zustand vollkommenen Glücks aufrechterhalten musste, war in jedem Fall ein gefährliches Instrument dialektischer Qual für den wahren Philosophen. Das Christentum befreite das moralische Bewusstsein von diesem Dilemma zwischen gemeiner Unterwerfung und unmenschlicher Gleichgültigkeit bezüglich der Gefühle des moralisch Handelnden. Es schlichtete den langandauernden Konflikt zwischen Tugend und Freude, indem es deren vollste Realisierung in eine andere Welt transferierte. Hierdurch wurde es für die orthodoxe Moral möglich, sich als vernünftig und natürlich zu behaupten, ohne die gleichzeitige Vernünftigkeit und Natürlichkeit des individuellen Wunsches nach uneingeschränkter Glückseligkeit zu leugnen. Als dann die unabhängige ethische Spekulation nach dem Mittelalter in England erneut beginnt, stellen wir daher fest, dass der Dualismus – wenn ich so sagen darf – der praktischen Vernunft, den Butler später formulierte, tatsächlich in all den orthodoxen Antworten auf Hobbes impliziert ist. Es wird in diesen Antworten nicht bestritten, dass das ›natürliche Gute‹ des Menschen die Freude ist oder dass die Selbstliebe, die nach dem größten Glück des Handelnden strebt, ein rationales Handlungsprinzip ist. Diese Antworten sind lediglich daran interessiert, zu behaupten, dass die unabhängige Vernünftigkeit des Gewissens und die objektive Gültigkeit moralischer Regeln sich aus einer sehr anderen Quelle als den Berechnungen des Eigeninteresses speist. Obwohl nach Cumberlands Ansicht daher zum Beispiel der höchste Zweck und die rationale Grundlage des moralischen Kodexes das »commune

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bonum omnium rationalium« ist, ist die Verpflichtung des Kodex jedem »rationalen« Individuum auferlegt »sub poena felicitatis amittendae aut propter spem ejusdem acquirendae«.7 Und selbst Clarke, von dem oft gedacht wird, er habe sein Argument zugunsten der Unabhängigkeit der Moral bis ins Paradoxe getrieben, stellt dennoch am Ende nur die sehr moderate Behauptung auf, »dass die Tugend es verdient, um ihrer selbst willen gewählt zu werden, und dass die Untugend zu vermeiden sei, auch wenn ein Mensch sich in seinem eigenen Fall sicher sei, durch das Praktizieren beider weder etwas zu gewinnen noch etwas zu verlieren«.8 Aber weil in der realen Welt »das Praktizieren der Untugend mit großen Versuchungen und mit Verlockungen der Freude und des Profits einhergeht und das Praktizieren der Tugend oft mit großem Unglück, Verlusten und manchmal selbst mit dem Tode, ändert sich die Frage«, – und Clarke ist in der Tat der Meinung, dass nicht nur die Menschen unter diesen Bedingungen nicht immer die Tugend der Un­tugend vorziehen, sondern auch, dass »es nicht auf sehr vernünftige Weise erwartet werden kann, dass sie dies sollten«.9 Butler war jedoch der erste, der mit vollkommener Exakt­heit die differentia10 dessen, was wir im weitesten Sinne die moderne Sicht der Ethik nennen dürfen, erkannte, als er »vernünftige Selbstliebe und Gewissen« zu den »beiden hauptsächlichen oder überlegenen Prinzipien in der Natur des Menschen« erklärte; während es eine grundsätzliche Annahme aller philosophischen Schulen, die von Sokrates ausgingen, war, dass es ein natürlicherweise »hauptsächliches oder überlegenes Prinzip« in jedem rationalen Wesen gibt, welches es dazu antreibt, sein ­eigenes wahres Gutes zu suchen.11 Es ist wahr, dass, wenn Versuche unternommen werden, die Ethik aus ihrer Abhängigkeit von der Religion zu befreien, die alte Schwierigkeit des Verhältnisses von der Tugend zum Glück wieder auftaucht, allerdings nicht mehr in der Form eines Streites über die wahre Natur des Gegenstandes rationalen Wünschens, sondern eher als das Problem der Versöhnung des Wunsches nach dem eigenen Guten – mehr oder weniger explizit als

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Freude, Vergnügen, Befriedigung, positiv bewertetes Gefühl einer bestimmten Art verstanden – mit der Ausführung dessen, was die Vernunft als Pflicht diktiert. Dieses Problem erscheint den meisten Denkern als eines von größter Wichtigkeit, und ich kann nicht erkennen, wie ein Moralist sich davon abwenden oder es mit Gleichgültigkeit behandeln könnte. Aber ich gebe durchaus zu, dass seine Lösung keine unerlässliche Voraussetzung für die Konstruktion eines moralischen Kodexes ist. Auf Grundlage welcher anderen Prinzipien sollte diese Konstruktion also versucht werden? Es scheint mir der Fall zu sein, dass in Bezug auf diese Frage mehr substantielle Einigkeit zwischen englischen Moralisten besteht als gemeinhin angenommen wird und dass die fundamentalen Intuitionen des Gewissens oder der praktischen Vernunft, die eine der Schulen immer betont hat, lediglich ein Ausdruck unterschiedlicher Aspekte oder Beziehungen der idealen Unterordnung individueller Impulse unter universelle Zwecke sind, auf welcher allein der Utilitarismus, als ein System der Ethik, rationalerweise beruhen kann. Daher besteht das Wesen der Gerechtigkeit oder Gleichheit, insofern es absolut verpflichtend ist, darin, dass unterschiedliche Individuen nicht unterschiedlich behandelt werden sollen, es sei denn auf Grundlage universell anzuwendender Gründe: Gründe, die wiederum durch das Prinzip der rationalen Wohltätigkeit gegeben sind, das jedem Menschen das Gute aller anderen als einen Gegenstand des Strebens vorgibt, welches nicht weniger wert ist als sein eigenes. Zugleich scheinen andere altehrwürdige Tugenden wiederum passend als spezielle Erscheinungsformen der unparteilichen Wohltätigkeit unter verschiedenen normalen Bedingungen des menschlichen Lebens erklärt werden zu können oder stattdessen als Gewohnheiten und Veranlagungen, die unabdingbar sind für die Aufrecht­erhal­tung rationalen Verhaltens im Lichte der verführerischen Kräfte diverser nicht-rationaler Impulse. Ich gebe zu, dass es weitere Regeln gibt, die unser gesunder moralischer Menschenverstand bei erster Befragung als absolut bindend formuliert, aber ich behaupte, dass eine sorgfältige und systemati-

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sche Betrachtung genau dieses gesunden Menschenverstandes, so wie er in den gewohnheitsmäßigen moralischen Urteilen normaler Menschen Ausdruck findet, als Resultat die tatsächliche Unter­ordnung dieser Regeln unter die oben genannten grundlegenden Prinzipien zum Vorschein bringt. Diese Methode der Systematisierung bestimmter Tugenden und Pflichten wird des Weiteren stark gestützt durch eine vergleichende Studie der Geschichte der Moralität. Denn die Unterschiede im moralischen Kodex unterschiedlicher Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten korrespondieren, zumindest im Allgemeinen, mit den Unterschieden in den tatsächlichen oder angenommenen Tendenzen bestimmter Verhaltensweisen zur Beförderung des Guten der Gesellschaft. Diese Ansicht steht zugleich völlig in Einklang mit dem Bericht unserer Evolutionisten vom vorhistorischen Zustand der moralischen Fähigkeiten, der diese als von den sozialen Instinkten abstammend darstellt. Diese Konvergenz mehrerer verschiedener Argumente hatte, denke ich, einen beachtlichen Einfluss auf das zeitgenössische Denken und wahrscheinlich ist mittlerweile der Großteil der reflektierten Personen bereit, das ›allgemeine Gute‹ als den höchsten Zweck anzuerkennen, für den moralische Regeln existieren, und als das Maß, nach dem sie zu koordinieren und ihre Bedingungen und gegenseitigen Einschränkungen festzulegen sind. Zwischen den konvergierenden Strängen der Spekulation gibt es jedoch ohne Zweifel eine unterschiedliche Sichtweise auf die Frage des Ganzen beziehungsweise der Gemeinschaft, deren Gutes gesucht werden soll. Denn in einer Hinsicht sollten wir den Zweck, in Cumberlands Worten, als das »allgemeine Gute rationaler oder bewusster Wesen«12 erklären, während es in anderer Hinsicht eher das Gute der speziellen Gattung von Tieren ist, zu der wir selbst gehören. Aber dieser Unterschied kann mit der Idee des Guten der Menschheit leicht zur Latenz reduziert werden und ich möchte hier nicht weiter bei diesem Thema verweilen. Aber wenn wir diesen Punkt vernachlässigen und unsere Aufmerksamkeit auf die Vorstellung des Guten lenken, dann

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müssen wir fragen, ob dies im Fall der Menschheit generell weniger problematisch ist als es für Sokrates im Fall des individuellen Menschen zu sein schien. Sind wir nun nach all dem nicht einfach zu demselben Punkt zurückgebracht worden, an dem die ethische Spekulation in Europa begann? Wenn wir versuchen, das Gute zu definieren, wie sollen wir es vermeiden, wieder um die alten Kontroversen zu kreisen? Ein wenig Reflexion wird zeigen, dass wir zumindest eine der konkurrierenden Antworten auf die alte Frage losgeworden sind. Wir können das allgemeine Gute jetzt nicht mehr als in der allgemeinen Tugend bestehend erklären, das heißt, in der allgemeinen Erfüllung der Verbote und Vorschriften der Alltagsmoral. Dies würde uns offenkundig in einen logischen Zirkel bringen, denn wir haben soeben festgehalten, dass das höchste Maß für die Bestimmung dieser Verbote und Vorschriften genau dieses allgemeine Gute ist. Die Freude, der andere »Mitstreiter um Aristeia«, wie Platon sagte,13 bleibt damit ohne einen Rivalen von ähnlich antikem Prestige und somit in einer weitaus besseren Position in Bezug auf die gewöhnliche Moral. Denn (1) die Tugend lediglich als Mittel der privaten Freude des Handelnden zu betrachten, war zweifellos anstößig für das gewöhnliche moralische Bewusstsein der Menschheit. Keine ähnliche Beleidigung ist jedoch durch die Erklärung der Tugenden als verschiedene Formen und Anwendungen rationaler Wohltätigkeit oder als hilfreiche Gewohnheiten (wie Mut, Mäßigung etc.) gegeben, wie sie für die weitere und wirkungsvolle Ausübung rationaler Wohltätig­ keit inmitten der verschiedenen Versuchungen und Gefahren des menschlichen Lebens notwendig sind. Und die Wohltätigkeit wurde schon immer hauptsächlich als Mittel verstanden, anderen Freude zu verschaffen und Leid von ihnen abzuwenden. Und (2) wir sahen, dass die Selbstliebe, wenn sie nur einmal klar genug vom Gewissen unterschieden wurde, natürlich als Wunsch nach eigener Freude verstanden wurde. Dem­entspre­ chend wurde die Interpretation des »eigenen Guten«, das im antiken Gedankengut eine Besonderheit der kyre­na­ischen und

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epikureischen Häresien war, von den modernen Denkern aufgegriffen, und zwar nicht nur von den Gegnern der unabhängigen und intuitiven Moral von Hobbes bis Bentham, sondern auch von den bedeutendsten und anerkanntesten Auto­ren der intuitionistischen Schule.14 In der Tat scheint es vielen dieser letzteren nie in den Sinn gekommen zu sein, dass diese Auffassung irgendeine andere Interpretation erfahren könnte.* Wenn das Gute also auf natürliche und nahezu zwangsläufige Weise von jedem, der sich hypothetisch auf sich selbst konzentriert, als Freude begriffen wird, dann ist unklar, wie das Gute irgendeiner Anzahl menschlicher Wesen, wie auch immer diese in einer Gemeinschaft organisiert sein mögen, grundlegend anders sein könnte. Dies also scheint mir in groben Zügen das Argument für den modernen Utilitarismus oder den universalen Hedonismus zu sein, wie es das Studium der Geschichte des ethischen Denkens uns präsentiert. Ich muss jetzt noch kurz auf die zwei konkurrierenden Lehren über die Natur des Guten eingehen, die gegenwärtig am häufigsten vertreten zu werden scheinen. Es scheint, dass der Hedonismus aus zwei verschiedenen Richtungen angegriffen wird, die wir vielleicht, ohne provozieren zu wollen, als materialistisch und idealistisch unterscheiden können und die jeweils behaupten, das subjektive Kriterium einer bestimmten ›Menge angenehmer Gefühle‹ durch ein objektives Maß zu ersetzen. Ich benutze ›materialistisch‹, um diejenige Ansicht zu bezeichnen, die individuelle Menschen und menschliche Gesellschaften als Organismen auffasst, deren Zustand und Funktionieren durch externe Beobachtung festgestellt und als gut oder schlecht bestimmt werden kann, ohne sich dabei auf die Abfolge freudvoller oder leidvoller Gefühle zu beziehen, mit denen ein solches Funktionieren einhergeht. Wir scheinen damit eine Auffassung des Wohlseins oder Wohlergehens zu erhalten, die das Glück als letzten Zweck und Maßstab richtiger Hand*

  Vgl. Stewart, Philosophy of the Active and Moral Powers, Buch II, Kap. 1. { Vgl. im Literaturverzeichnis Stewart 1851.}

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lungen ersetzen kann. Vielleicht kann diese Auffassung besser verdeutlicht werden, indem man sagt, dass man sie erzielt, indem man die Vorstellung der Gesundheit, wie sie gewöhnlich einem individuellen Menschen zugeschrieben wird, auf eine ganze Gattung oder Gemeinschaft von Tieren ausweitet. In einem Aufsatz in Mind, Nr. 1,15 erwähnte ich, dass diese Ansicht beiläufig von Hrn. Darwin in seinem Kapitel über das moralische Gefühl in seinem Descent of Man angenommen wurde, und sie scheint von einigen der Anhänger von Hrn. Darwin, zu denen ich Hrn. Pollock zählen darf, der auf meinen Aufsatz in Nr. III dieser Zeitschrift geantwortet hat, enthusiastisch akzeptiert und umfangreich ausgearbeitet worden zu sein.16 Ich habe Hrn. Pollocks höfliche und sehr umsichtig geschriebene Antwort studiert und bin noch immer nicht in der Lage, genau zu sehen, wie er mit dem folgenden Dilemma umgeht. Entweder ist diese Auffassung von Wohlergehen gänzlich auflösbar in ›Bedingungen, die den Arterhalt befördern‹ oder sie schließt noch etwas mehr ein. Wenn letzteres zugestanden würde, hätten wir zu fragen, was dieses Etwas ist, das Wohlsein von bloßem Sein unterscheidet. An einer Stelle scheint Hr. Pollock zu sagen, dass es etwas ist, das gegenwärtig undefinierbar ist, worauf ich in den Worten des Aristoteles nur antworten kann, dass wir, wenn wir nicht einmal eine annähernde Definition erhalten können, wie »Bogenschützen ohne Ziel wahrscheinlich eher nicht das Richtige treffen«.17 Wenn er jedoch auf die erstere Alternative zurückfällt, wie andere Autoren seiner Schule auf jeden Fall geneigt zu sein scheinen, und wenn er dabei sagt, dass Wohlergehen lediglich »ein Sein mit dem Versprechen zukünftigen Seins« darstellt,18 dann begibt er sich gewiss in einen unauflöslichen Konflikt mit dem gesunden Menschenverstand. Ich möchte diesen Konflikt nicht übertreiben. Ich gebe zu, dass der wichtigste Teil der Funktion der Moral darin besteht, Gewohnheiten und Empfindungen aufrecht zu erhalten, die gegenwärtig notwendig für die weitere Existenz einer Gesellschaft menschlicher Wesen in voller Anzahl zu sein scheinen. { Und ich gebe zu: } Dieser Teil kann leicht als das Ganze betrachtet werden,

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wenn wir die Moral lediglich als Kodex einschränkender Regulierungen verstehen – derjenige Aspekt, der in modernen Zeiten am bedeutendsten ist. Aber dieses Pflegen erhaltender Gewohnheiten und Empfindungen erschöpft sicherlich nicht unser Ideal eines guten oder wünschenswerten menschlichen Lebens. Wir sind nicht zufrieden mit bloßem Sein für uns oder für diejenigen, die wir lieben, oder, sofern wir Philanthropen sind, für die Menschheit im Allgemeinen – wie dauerhaft gesichert es auch immer sein mag. Was wir zusätzlich verlangen, kann mit der allgemeinen Vorstellung von Kultur wiedergegeben werden. Und obwohl ein Teil dessen, was in dieser Vorstellung enthalten ist, fairerweise als Tendenz zum Erhalt interpretiert werden kann, gibt es darin sicherlich auch viel, das so nicht interpretiert werden kann. Wenn die hedonistische Auffassung von Kultur als in der Entwicklung von Empfänglichkeiten für kultivierte Freuden verschiedener Art bestehend zurückgewiesen wird, so muss es zugunsten dessen sein, was ich als die idealistische Ansicht bezeichnet habe: In dieser betrachten wir die idealen Gegenstände, von deren Realisierung unsere kultiviertesten Freuden abhängen – Wissen oder Schönheit in ihren verschiedenen Formen oder ein bestimmtes Ideal von menschlichen Beziehungen (ob verstanden als Freiheit oder in anderer Weise) – als an sich konstitutiv für das höchste Gute, und zwar unabhängig von den Freuden, die von ihrer Suche und Erlangung abhängen. Ich schlage für den Augenblick nicht vor, diese Ansicht zu kritisieren – hauptsächlich deswegen, weil ich mit einer etwaigen philosophischen Darstellung, die ausreichend kohärent und systematisch ist, um Kritik herauszufordern, nicht vertraut bin. Dennoch scheint sie unter kultivierten Personen ziemlich weit verbreitet und in den anti-hedonistischen Argumenten bestimmter philosophischer Autoren mehr oder weniger genau angedeutet zu sein. Aber es wäre gut, klar zu definieren, auf welche Weise der Hedonismus, so wie ich ihn verstehe, mit dieser Ansicht umgeht. Das hedonistische Argument gegen die Annahme ›objektiver‹ letzter Zwecke scheint mir, genau wie auch dasjenige gegen be-

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stimmte moralische Regeln von absoluter Gültigkeit, notwendigerweise aus zwei Teilen zu bestehen. Es appelliert an die unmittelbare Intuition reflektierter Personen; und zweitens an die Ergebnisse eines umfassenden Vergleichs der gewöhnlichen Urteile der Menschheit. Das zweite Argument kommt eher als eine Bekräftigung des ersten hinzu und kann offenkundig nicht völlig stichhaltig formuliert werden. Denn, wie oben bereits festgestellt, kommen etliche kultivierte Personen gewöhnlich zu dem Urteil, dass bestimmte ideale Güter Zwecke sind, unabhängig von der Freude, die sie bereiten. Aber wir dürfen nicht nur darauf drängen, dass alle diese idealen Güter in irgend­einer Weise Freude bereiten, sondern auch darauf, dass der gesunde Menschenverstand sie, grob gesprochen, im Verhältnis zum Grade dieser Produktionskraft zu befürworten scheint. Im Fall der Schönheit scheint dies offenkundig wahr zu sein und wird hinsichtlich jeglicher Art sozialer Ideale kaum geleugnet werden. Es wäre schließlich paradox zu behaupten, dass Freiheit in jedem Umfang, oder jegliche andere Art der sozialen Ordnung, sogar dann wünschenswert wäre, wenn sie die Tendenz hätte, das allgemeine Glück zu beeinträchtigen, statt es zu befördern. Der Fall des Wissens ist eher komplexer, aber der gesunde Menschenverstand ist vom Wert des Wissens sicherlich am meisten beeindruckt, wenn dessen ›Fruchtbarkeit‹ dargelegt wurde. Er ist sich jedoch darüber im Klaren, dass die Erfahrung regelmäßig gezeigt hat, wie Wissen, das lange unfruchtbar war, unerwartet fruchtbar werden kann und wie ein scheinbar abseitiges Wissensgebiet Licht auf ein anderes werfen kann. Und selbst wenn ein bestimmter Zweig wissenschaftlichen Strebens sich sogar in Bezug auf diesen indirekten Nutzen als wertlos erweisen sollte, so würde er dennoch aus utilitaristischen Gründen etwas Respekt verdienen – sowohl aufgrund der Befriedigung der differenzierten und unschuldigen Freuden der Neugier des Untersuchenden als auch aufgrund der intellektuellen Haltung, die dabei gezeigt und aufrechterhalten wird und die wiederum alles in allem wahrscheinlich fruchtbares Wissen produziert. Dennoch ist der gesunde Menschenverstand in die-

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sen letzteren Fällen etwas geneigt, den Fehleinsatz wertvoller Mühe zu beklagen, sodass der Lohn der Ehre, der der Wissenschaft gewöhnlich zuteilwird, – obgleich vielleicht unbewusst – durch eine einigermaßen genaue utilitaristische Skala abgestuft zu werden scheint. Sicherlich wird die Kontroverse, die entsteht, sobald die Legitimität eines Zweiges wissenschaftlicher Untersuchung ernsthaft angefochten wird – wie etwa im jüngsten Fall der Vivisektion19 – auf beiden Seiten auf einer erklärtermaßen utilitaristischen Grundlage geführt. Es spricht auch nicht wirklich gegen den Hedonismus, dass Wissen und andere ideale Zwecke zumeist von solchen Personen am energischsten verfolgt werden, die nicht an das daraus resultierende Glück denken – zumal, wie die Erfahrung zu zeigen scheint, sowohl die Konzentration der Anstrengung, die für den Erfolg nötig ist, als auch die Grundhaltung, die dem Vergnügen am meisten zuträglich ist, durch diese begrenzte Zielsetzung befördert werden. Der Hedonist muss schließlich auch nicht überrascht sein, wenn der Enthusiasmus bei diesen Bemühungen gelegentlich zu der Beteuerung führt, diese Zwecke seien es wert, per se gewählt zu werden, selbst wenn diese Bemühungen unter dem Strich mehr Leid als Freude bereiten sollten. Der Hedonist ist lediglich daran interessiert festzuhalten, dass wir, wenn wir diese idealen Gegenstände in einem Moment ruhiger Reflexion von den Gefühlen, mit denen sie untrennbar verbunden sind, unterscheiden, die Qualität der letzteren als letzten Zweck rationalen Wünschens erkennen. Dieser letzte Vorschlag wird zwar in der Form, in der ich ihn formuliert habe, nicht gerade abgestritten, aber einige Auto­ ren geben eine Antwort darauf, die, falls überhaupt gültig, sicherlich beweiskräftig ist, wenn auch indirekt. Hr. Green* sagt * 

Ich zitiere diesen Satz aus Greens Einleitung zu Bd. II von Humes Treatise on Human Nature, S. 9. Aber ich habe das gleiche Argument in fast den gleichen Worten bei anderen Autoren der gleichen Schule gefunden. Vgl. (z. B.) Prof. Caird in Academy, 12. Juni 1874. { Vgl. zu diesen Literaturangaben Anm. 20.}

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beispielsweise, »Freude als Gefühl kann unabhängig von ihren Bedingungen, die keine Gefühle sind, gar nicht vorgestellt werden«, und daher kann sie natürlich nicht als Zweck rationalen Handelns betrachtet werden.20 Welche Plausibilität dieses Argument auch immer besitzt, scheint abzuhängen von jener Mehrdeutigkeit im Begriff des ›Vorstellens‹, der in der jüngsten philosophischen Diskussion so viel Verwirrung gestiftet hat. Die Behauptung von Hrn. Green ist, um einen alten Vergleich zu bemühen, nicht mehr und nicht weniger wahr als die Aussage, dass ein Winkel nicht unabhängig von seinen Seiten ›vorgestellt‹ werden kann. Das heißt, wir können die Vorstellung eines Winkels nicht ohne die Vorstellung der Seiten, die ihn umgeben, bilden. Aber das hindert uns nicht daran, mit vollkommener Bestimmtheit das Maß eines Winkels als größer, gleich groß oder kleiner als dasjenige eines anderen zu begreifen, ohne die Paare der sie umgebenden Seiten miteinander zu vergleichen. Genauso wenig können wir die Vorstellung einer Freude bilden, die unabhängig von einigen »Bedingungen, die keine Gefühle sind«, existiert. Aber wir können sehr wohl eine Freude, die unter bestimmten Bedingungen gefühlt wird, mit einer anderen vergleichen, wie anders auch immer diese bedingt sein mag, und sie für gleich oder ungleich erklären. Und mehr als das ist sicherlich nicht nötig, um die ›Menge an Freude‹ als unser Maß des Entscheidens zwischen verschiedenen Handlungsweisen benutzen zu können. Hr. Green hat jedoch noch ein anderes Argument gegen die Lehre vom ›größten Glück‹, das kurz zu erwähnen wünschenswert sein wird; insbesondere, da es auch die von Hrn. Bradley in einem ausführlichen Angriff auf den Hedonismus in Ethical Studies gebrauchte schwere Artillerie bereitstellt (siehe die letzte Ausgabe dieser Zeitschrift).21 Ich werde es in den Worten von Hrn. Green aus der oben zitierten Passage wiedergeben: »Das Glück ›in seinem vollen Ausmaß‹ wie auch ›die größte Freude, derer wir fähig sind‹, ist eine irreale Abstraktion, wie es nur jemals eine solche gab. Es ist merkwürdig, dass diejenigen,

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die sich am meisten dabei hervortun, die Realität von Universalien in dem Sinn, in dem sie die Bedingung aller Realität sind, nämlich als Relationen, zu leugnen, dann dennoch, nachdem sie diese zu bloßen Namen erklärt haben, einer Universalie Realität zuschreiben, die nicht ohne Widerspruch für mehr als ein Name gehalten werden kann. Sollte dieses ›Glück in seinem vollen Ausmaß‹ die ›Gesamtsumme möglichen Vergnügens‹ bedeuten, von der uns moderne Utilitaristen berichten? Ein solcher Satz stellt lediglich den vergeblichen Versuch dar, durch das Aufaddieren von Unklarem etwas Klares zu gewinnen. Er hat nicht mehr Bedeutung als ›die größtmögliche Menge an Zeit‹ es haben würde. Angenehme Gefühle sind keine Quantitäten, die aufaddiert werden können. Jedes ist vorüber, sobald das nächste beginnt und derjenige, der eine Million Mal erfreut war, steht nicht wirklich besser da – hat nicht mehr von dem angeblich übergeordneten Gut in seinem Besitz – als derjenige, der lediglich tausend Mal erfreut war. Wenn wir von Freuden als einem möglichen Ganzen sprechen, dann können wir Freuden nicht im Sinne von Gefühlen verstehen.«22

Falls jemand annehmen sollte, dieses ›größte Glück‹ sei etwas, das man auf einmal gänzlich besitzen könne, dürfen wir zugestehen, dass es wichtig wäre, ihm zu erklären, dass es aus Teilen bestehe, die nur nacheinander besessen werden können. Aber ich muss zugestehen, dass ich mich außerstande sehe zu begreifen, wie es dadurch für ihn unmöglich werden sollte, danach zu streben. Der paradoxe Charakter des Arguments von Hrn. Green kann nicht besser dargestellt werden als mit genau der Analogie, die er selbst auswählt, um es zu stärken. In welchem Sinn ist es wahr, dass ›die größtmögliche Menge an Zeit‹ keine Bedeutung hat? Seit wann ist es nicht nur falsch, sondern logisch unmöglich, die Verlängerung des Lebens zu einem Ziel willentlicher Anstrengung zu machen? Und was ist in Bezug auf das Individuum, das nach vorne blickt, die ›Länge seiner Tage‹ anderes als ›die größtmögliche Menge an Zeit‹? Wenn nur gemeint ist, dass wir die Zeit als solche nicht haben können, ohne

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sie irgendwie auszufüllen, dann ist das natürlich wahr – genauso wie es wahr ist, dass wir Freude nicht ohne die Bedingungen haben können, von denen sie abhängt. Aber weil die Zeit eine Abstraktion ist, ist sie deswegen weder irreal noch als Handlungsziel ungeeignet. Wir können danach streben, ungeachtet der Qualität unseres Lebens so lange wie möglich zu leben. Und wenn wir Hundertjährige werden, sollte gemeinhin von uns angenommen werden, dass wir dieses Ziel erreicht haben. A forteriori können wir darauf abzielen, so freudvoll wie möglich zu leben – ungeachtet der untrennbaren Begleitumstände unseres ›größtmöglichen Glücks‹. Weil die Teile der Zeit von allem, was Zeit als seine grundlegende Gestalt hat, nacheinander existieren müssen, scheint Hr. Green anzunehmen, es sei daher illegitim, sie überhaupt als Teile zu begreifen – dass eine ›glückliche Woche‹ oder ein ›miserabler Monat‹ etwas ist, das »nicht ohne Widerspruch für mehr als ein Name gehalten werden kann«, bloß weil wir eine glückliche Woche nicht gänzlich in einem Moment erleben können. Das ist sicherlich die einmaligste metaphysische Laune, die einem scholastischen Philosophen jemals eingefallen ist. Ich habe diese beiden Argumente für die Diskussion ausgewählt, weil sie von einer Art sind, die eine zusammenfassende Behandlung erlaubt. Sie sind entweder komplett stichhaltig oder völlig wertlos, und es benötigt nicht vieler Worte, dem Leser die Entscheidung zu ermöglichen, welche Ansicht er vertreten sollte. Andere anti-hedonistische Themen sind ein anderer Fall, wie etwa die Schwierigkeiten, die Menge an Freude oder Leid zu schätzen, verschiedene Freuden miteinander zu vergleichen etc. Einerseits ist es unmöglich, solchen Einwänden nicht ein gewisses Gewicht zu geben, andererseits vertreten diejenigen, die sie vorbringen, sogar selbst selten den Anspruch, sie seien entscheidend, und richten sich eher gegen die Praktikabilität der Konstruktion eines hedonistischen Kalküls als gegen die Wahrheit der hedonistischen Lehre in Bezug auf die Natur des höchsten Guten.

Freude und Wunsch Würde irgendjemand, der an der Beobachtung der gegenwärtigen Meinungslage interessiert ist, gefragt, welches in heutiger Zeit das vorherrschende System der Moral in England sei, würde er wahrscheinlich antworten: der Utilitarismus. Und wenn irgendjemand, der an der Beförderung praktischer Moralität interessiert ist, die radikalsten und moralisch bedeutendsten Unterschiede zwischen menschlichen Gesinnungen darlegen müsste, würde er wahrscheinlich die Gelegenheit nutzen, dem egoistischen Menschen den mitfühlenden Menschen gegenüberzustellen. Es ist daher einigermaßen eigentümlich, dass die erstere Antwort gerade hinsichtlich desjenigen Kontrastes, auf den die letztere hinweist, mehrdeutig sein sollte: Dass ein »Utilitarist« im gewöhnlichen Sprachgebrauch beinahe genauso oft einen Menschen bezeichnet, der aus Eigennutz handelt, wie einen, der nach dem allgemeinen Guten strebt; und dass in den Schriften erklärter Gegner ebenso wie in denen erklärter Verteidiger des Utilitarismus die egoistischen und altruistischen Prinzipien beständig unentwirrbar vermischt oder zumindest ­unauflösbar verbunden erscheinen. Gleichzeitig ist es nicht schwierig, Gründe für diese feste Verbindung zwischen Prinzipien und Systemen zu finden, die aus einem gewissen Blickwinkel so antagonistisch erscheinen. Erstens sind beide { Prinzipien } der »intuitiven« oder »Alltags-« Moral gleichermaßen entgegengesetzt; und die Allianzen von Lehren wie von Nationen beruhen genauso oft auf gemeinsamer Feindschaft wie auf natürlicher Affinität. Des Weiteren sind sich die Systeme von Epikur und Bentham jedoch hauptsächlich darin ähnlich, dass sie beide abhängige Systeme sind; das heißt, dass sie Handlungen als Mittel zu einem von diesen Handlungen verschiedenen und außerhalb dieser liegenden Zweck vorschreiben; und daher bestehen beide aus Regeln, die nicht abso-

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lut, sondern relativ sind und nur dann Gültigkeit besitzen, wenn sie diesem Zweck dienen. Noch einmal, der letzte Zweck oder die Entität, die als intrinsisch gut und wünschenswert betrachtet wird, ist in beiden Systemen qualitativ dasselbe, es ist die Freude, oder, genauer, das Maximum erreichbarer Freude unter Abzug von Leiden. Außerdem ist es natürlich in hohem Maße wahr, dass das vom egoistischen Hedonismus empfohlene Verhalten mit dem zusammenfällt, was der universale Hedonismus einem einschärft (den wir um des Vergleiches willen Benthams Utilitarismus nennen können). Obgleich es nur ein ideales Gemeinwesen ist, in dem das »wohlverstandene Eigeninteresse« zur vollkommenen Erfüllung aller sozialen Pflichten führt, veranlasst es in einer einigermaßen wohlgeordneten Gemeinschaft dennoch – sehr außergewöhnliche Umstände ausgenommen – die Erfüllung der meisten dieser Pflichten. Und auf der anderen Seite mag ein aufrechter Bentham-Anhänger zugestandenermaßen der Meinung sein, dass sein eigenes Glück derjenige Anteil des allgemeinen Guten ist, den zu fördern am meisten in seiner Macht steht und der daher zuallererst seiner Verantwortung anvertraut ist. Und die praktische Mischung der beiden Systeme reicht sicher weiter als ihre theoretische Übereinstimmung. Es ist sehr viel leichter für einen Menschen, sich auf einer Art Diagonale zwischen egoistischem und universalem Hedonismus zu bewegen, als praktisch ein konsequenter Anhänger einer der beiden Positionen zu sein. Wenige Menschen sind so vollständig egoistisch – was auch immer ihre Theorie der Moral sein mag – dass sie nicht gelegentlich aus einem natürlichen Impuls des Mitgefühls heraus, der durch das epikureische Kalkül nicht gestützt wird, das allgemeine Gute irgendeiner kleineren oder größeren Gemeinschaft erstreben. Und vermutlich noch weniger Menschen sind so entschlossen selbstlos, dass sie niemals mit allzu bereitwilliger Überzeugung das Gute aller Menschen in ihrem eigenen finden. Trotz alledem, der Unterschied zwischen dem eigenen Glück und dem der Menschen im allgemeinen ist so natürlich und offensichtlich und unserer Aufmerksamkeit durch die Umstände

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des Lebens so beständig aufgezwungen, dass irgendein anderer Grund erforderlich ist, um die anhaltende Verwechslung zwischen den Systemen zu erklären, die jeweils von einem der Zwecke annehmen, er stelle den richtigen und vernünftigen Standard des Verhaltens eines jeden Individuums dar. Und so ein Grund kann in der von Bentham vorgeschlagenen Theorie des menschlichen Handelns gefunden werden, die im Großen und Ganzen von seinen Schülern beibehalten wurde. Obwohl Epikureismus und Benthamismus ethisch als in polarer Opposition stehend angesehen werden können, befindet sich Bentham psychologisch in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Epikureern. Er meint, dass ein Mensch nach dem Maximum an Glückseligkeit der Menschen im Allgemeinen streben soll; aber er meint auch, dass { der Mensch } immer nach dem strebt, was ihm als eigene maximale Glückseligkeit erscheint – er ist nicht in der Lage, anders zu handeln –, dass dieses die Art und Weise ist, auf die sein Wille zwangsläufig handelt. ­Bentham nutzt jede Gelegenheit, diese zwei Behauptungen mit bezeichnender Schärfe und Klarheit zu formulieren. »Das größte Glück all derjenigen, deren Interesse betroffen ist, ist der einzig richtige und angemessene und allgemein wünschenswerte Zweck menschlichen Handelns in jeder Situation.«1 Doch »im allgemeinen Gang des Lebens ist die Rücksicht auf sich selbst in jeder menschlichen Brust vorherrschend«;2 oder deutlicher, »anlässlich einer jeden Handlung, die er ausführt, wird jeder Mensch dazu geführt, den Verhaltensregeln zu folgen, welche nach seiner Ansicht der Angelegenheit, die er im jeweiligen Moment gebildet hat, im höchsten Maße zu seinem eigenen größten Glück beitragen, was auch immer ihre Wirkung in Bezug auf das Glück anderer gleichartiger Wesen sein mag, { seien es } einige wenige oder alle von ihnen zusammengenommen.«3 Er fährt damit fort, diejenigen, die daran zweifeln, auf die »Existenz der menschlichen Spezies, die selbst ein Beweis, und zwar ein endgültiger, ist«,4 zu verweisen.

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Wenn Eigeninteresse also nicht der »richtige und angemessene Zweck der Handlung«* ist, ist es wenigstens nicht falsch oder unangemessen, da es unausweichlich ist. Wenn Bentham gefragt wird: »Warum schimpfen Sie dann (wie Sie es sicherlich mit großer Bitterkeit und Nachdruck tun) gegen Anwälte und Staatsmänner, die ihr eigenes Interesse verfolgen, wenn dieses unglücklicherweise vom öffentlichen Interesse abweicht?«, ist seine Antwort klipp und klar: »Ich tue dies mit der Absicht der Beseitigung dieser Abweichung. Durch meine eigene Missbilligung und die Missbilligung aller, die ich davon überzeugen kann, mit mir zu sympathisieren, kann ich den Druck aufbauen, der fehlt, um den Willen dieser öffentlichen Bediensteten in Richtung der öffentlichen Pflicht zu lenken.«5 Wenn er erneut gefragt wird: »Aber wenn Sie sich selbst um das öffentliche Wohl sorgen und dieses als richtigen und angemessenen Zweck des Handelns bezeichnen, erkennen Sie dann nicht ein Prinzip der Pflicht an, dessen Befolgung Sie Ihrer eigenen Freude vorziehen?«, antwortet er ohne zu zögern: »Nein, ich sorge mich um das öffentliche Wohl, weil in mir die Eigennützigkeit die Form öffentlichen Geistes angenommen hat, und wenn ich dies das angemessene Ziel nenne, meine ich, dass ich wünsche, alle anderen Menschen übernähmen es als solches mit der Absicht, es zu erreichen, womit die Erreichung meines eigenen größten Glücks zusammenhängt.« Es gibt daher in Benthams Denken keine Verwechslung und keine logische Verbindung zwischen seiner psychologischen *

  Soweit ich weiß, wird dieser Begriff in den von Bentham selbst verfassten Werken nirgends darauf angewandt. In der Deontology und anderswo, wo die Zusammenstellung Dumont zu verdanken ist, finden wir eine unklare und vage Verschmelzung von egoistischem und universalem Hedonismus, die unmöglich einem so exakten und kohärenten Denker zugeschrieben werden kann. { Sidgwick erwähnt hier Benthams posthum von Étienne Dumont aus dem Nachlass zusammengestellte, 1834 publizierte Schrift Deontology, or the Science of Morality, in which the Harmony and Co-Incidence of Duty and Self-Interest, Virtue and Felicity, Prudence and Benevolence, are explained and exemplified.}

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Verallgemeinerung und seiner ethischen Annahme. Aber es ist unter Moralisten aller Schulen so verbreitet gewesen, das Natürliche mit dem Idealen zu identifizieren und ausgehend von dem, was Menschen allgemein oder normalerweise tun, für das zu argumentieren, was sie tun sollen, dass es nicht überrascht, dass von einem Utilitaristen aus Benthams Schule gedacht wird, er würde den Egoismus, den er als unvermeidlich hinnimmt, gutheißen und auf irgendeine Art hierauf seinen universalen Hedonismus gründen. Und wir finden, dass der jüngste Exeget des Utilitarismus, Hr. Mill, eine logische Verbindung zwischen den psychologischen und ethischen Prinzipien, welche er mit Bentham teilt, zu etablieren und seine Leser davon zu überzeugen versucht, dass, da ein jeder Mensch natürlicherweise nach seinem eigenen Glück strebt, er deswegen nach dem Glück ­anderer Menschen streben sollte. Es ist nun mein Ziel zu zeigen, dass diese psychologische Verallgemeinerung in keinem bedeutenden Sinne wahr ist. Indem ich das tue, möchte ich nicht den Utilitarismus von Ben­ ham und Hrn. Mill attackieren, mit dem ich im Wesentlichen übereinstimme, sondern diesen vom egoistischen Hedonismus lösen, mit welchem er aufgrund ihrer Theorie des menschlichen Handelns kontinuierlich vermischt wird. Es genügt genauso gut, die Worte zu zitieren, mit denen Hr.  Mill diese Theorie darlegt: »Es dürfte«, so nimmt er an, »kaum bestritten werden, dass ein Ding zu wünschen und es freudvoll zu finden, ihm abgeneigt zu sein und es für leidvoll zu halten, vollkommen untrennbare Phänomene sind, oder vielmehr zwei Teile desselben Phänomens.«6 Oder noch präziser: »Wir begehren ein Ding in dem Maße, in dem die Idee von ihm freudvoll ist.«7 Es ist wichtig, die kursiv gedruckten Worte zu beachten. Denn es muss zugegeben werden, dass, wenn wir diese außen vor lassen, die Erfahrung der Menschheit prima facie Hrn. Mills Behauptung bestätigen würde. Die meisten Menschen würden sagen, dass was auch immer sie begehrten, immer etwas in der Vorausschau Angenehmes war. Ich werde gleich erörtern, dass selbst dies bei näherer Untersuchung als eine nicht

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exakte Darstellung des Bewusstseins erscheint. Wenige würden jedoch behaupten, dass das, was sie am meisten begehrten, immer dasjenige war, von dem sie dachten, es würde ihnen die größte Freude bereiten. Es würde allgemein zugestanden werden, dass Menschen sich nicht nur dasjenige wünschen, sondern tatsächlich dazu getrieben sind, dasjenige zu tun, von dem sie (sogar in dem Moment, in dem sie dem Impuls nachgeben) wissen, dass es ihnen im Ganzen mehr Leid als Freude bringen wird. »Video meliora proboque, deteriora sequor«,8 { dieser Satz } ist für den Epikureer so zutreffend wie für jeden anderen. Wenn hierfür noch Belege benötigt werden, kann ich nichts Besseres tun als Hrn. Mill selbst zu zitieren.* »Menschen wählen oftmals, aufgrund der Schwäche ihres Charakters, das nähergelegene Gut, obgleich sie wissen, dass es das weniger wertvolle ist; und dieses gilt nicht weniger, wenn die Wahl zwischen zwei körperlichen Freuden besteht … Sie verfolgen sinnliche Genüsse bis zur Beeinträchtigung der Gesundheit, obwohl sie sich vollkommen bewusst sind, dass Gesundheit das größere Gut ist.«9 Ich gebe zu, dass ich diesen Satz nicht mit dem zuvor vom selben Autor zitierten Satz in Übereinstimmung bringen kann. Wenn wir immer das stärker begehren, was in der Idee am freudvollsten ist, wie können wir dann das wählen, von dem wir wissen, dass es die weniger wertvolle Freude bringt? Man könnte jedoch denken, dass dieses ein Ausnahmefall ist, der ein interessantes psychologisches Rätsel ergibt; dass es jedoch nach wie vor richtig ist, dass das gewöhnliche, normale Phänomen im Handeln der Menschen darin besteht, dass jedes Individuum die anscheinend größte eigene Freude anstrebt. Um zu beweisen, dass die größte Freude intrinsisch wünschenswert ist, sind wir nur auf die Behauptung angewiesen, dass die größte Freude normalerweise gewünscht wird, nicht, dass es immer so ist. *

  Utilitarianism, Kap. 2, S. 14 (der dritten Auflage). { Sidgwick verweist hier auf die dritte Auflage von Utilitarianism, erschienen 1867 in London im Verlag Longmans, Green, Reader and Dyer.}

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Bevor wir diese qualifiziertere Behauptung untersuchen, wäre es gut, unsere Begriffe so klar wie möglich zu definieren. In der Passage, die ich zuerst zitierte, fährt Hr. Mill damit fort zu sagen: »ein Ding zu erstreben und es freudvoll zu finden, sind sprachlich genau genommen nichts anderes als zwei Formen der Bezeichnung derselben psychologischen Tatsache«.10 Wenn dies der Fall ist, ist schwer zu verstehen, warum die von uns diskutierte Behauptung verlangt, durch »geübtes Selbstbewusstsein und geübte Selbstbeobachtung« bestimmt zu sein, da deren Ablehnung einen begrifflichen Widerspruch mit sich bringen würde. Die Wahrheit ist, dass in dem Wort Freude eine Mehrdeutigkeit liegt, welche immer dazu verleitet hat, die Diskussion dieser Frage erheblich durcheinanderzubringen.* Unter Freude verstehen wir gewöhnlich eine angenehme Empfindung, die nicht notwendigerweise mit dem Wünschen oder dem Willen verbunden ist, da sie durch äußere Ursachen entstehen kann, ohne dass diese überhaupt vorhergesehen oder begehrt worden wären. Wenn wir jedoch davon sprechen, dass ein Mensch etwas zu seiner eigenen »Freude« oder wie es ihm »Freude bereitet« tut, bezeichnen wir die reine Tatsache der Wahl oder Präferenz, die reine Bestimmung des Willens auf eine bestimmte Richtung hin. Wenn wir nun als »freudvoll« das bezeichnen, was die Auswahl beeinflusst, eine gewisse anziehende Kraft auf den Willen ausübt, so ist es keine psychologische Wahrheit, sondern eine tautologische Behauptung zu sagen, dass wir ein Ding in dem Maße wünschen, in dem es »freudvoll« erscheint. Wenn wir jedoch »freudvoll« in der Bedeutung von »angenehmer Empfindung« nehmen, dann entsteht die wirklich diskutable Frage, ob unsere aktiven Impulse immer bewusst auf die Erlangung ange*

  Diese Verwirrung tritt in sehr außerordentlicher Form bei H ­ obbes auf, welcher sogar Freude und Appetit identifiziert: »diese Bewegung, aus welcher Freude besteht, ist ein Drängen, dem Ding, welches Freude bereitet, näher zu kommen.« { Hobbes 1889, The Elements of Law, Kap. VII, Abs. 2, S. 28: »This motion, in which consisteth pleasure or pain, is also a solicitation or provocation either to draw near to the thing that pleaseth, or to retire from the thing that displeaseth.« }

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nehmer (oder die Vermeidung unangenehmer) Empfindungen als ihr Ziel ausgerichtet sind. Und es ist dies, von dem wir annehmen müssen, dass Hr. Mill es für »so offensichtlich, dass es schwerlich bestritten werden wird«, hält.11 Es ist ziemlich eigenartig festzustellen, dass der bekannteste der englischen Moralisten das genaue Gegenteil von dem, was Hr. Mill für so offensichtlich hält, nicht nur für eine allgemeine Tatsache unseres bewussten Erlebens, sondern sogar für eine notwendige Wahrheit hält. Butler unterscheidet, wie weithin bekannt ist, »Selbstliebe« oder den Impuls in Richtung unserer eigenen Freude von »bestimmten Bewegungen in Richtung besonderer äußerer Gegenstände – Ehre, Macht, das Leid oder Gut eines anderen«.12 Die aus letzterem hervorgehenden Handlungen sind »nicht anders ausgerichtet als es jede Handlung einer jeden Kreatur aufgrund der Natur der Sache sein muss; denn niemand kann handeln, wenn er nicht ein Begehren, eine Entscheidung oder eine Präferenz für sich herausgebildet hat«. Solche besonderen Leidenschaften oder Begierden sind, so sagt er weiter, »notwendigerweise vorausgesetzt durch eben jene Idee eines interessierten Strebens; denn eben jene Idee des Inter­ esses oder Glücks besteht darin, dass eine Begierde oder Zuneigung ihren Gegenstand genießt«.13 Wir könnten überhaupt nicht nach Freude streben, wenn wir nicht Wünsche nach etwas anderem als Freude hätten; denn Freude besteht in der Befriedigung eben dieser auf Äußeres gerichteten Impulse. Butler hat seinen Punkt offensichtlich überbewertet,* denn viele Freuden (wie gerade angemerkt wurde) entstehen bei uns ohne jede Beziehung zu vorherigen Wünschen, und es ist durchaus vorstellbar, dass unser begehrendes Bewusstsein gänzlich aus Impulsen bestehen könnte, welche auf solche Freuden gerichtet sind. Als reine Feststellung einer realen Tatsache genommen, bildet seine Lehre jedoch einen großen, vielleicht den größeren Teil unserer Erfahrungen getreu ab. Während unseres *

  Das gleiche Argument ist in einer vorsichtigeren und, wie ich denke, untadeligen Form von Hutcheson formuliert worden.

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gesam­ten begehrenden Lebens können wir (primäre) auf Äußeres gerichtete Impulse – also auf ein anderes Ziel als das unserer eigenen sinnlichen Erfahrungen gerichtete Wünsche – von sekundären, reflexiven, selbstbezogenen Impulsen unterscheiden, die auf die Freude gerichtet sind, welche die Erfüllung der ersteren begleitet. Ich werde mit den Begierden von Hunger und Durst beginnen, denn es ist wichtig zu zeigen, dass es, den in Frage stehenden Punkt betreffend, keinen Unterschied zwischen »sinnlichen« und »intellektuellen« Impulsen gibt. Hunger und Durst sind Impulse, die aufgrund des körperlichen Bedürfnisses nach Essen und Trinken im Bewusstsein repräsentiert werden. Ihre Gegenstände sind Nahrung beziehungsweise Getränke, nicht die Freude, die wir fühlen werden, während die Nahrung gegessen und das Wasser getrunken wird. Es ist zweifelsohne wahr, dass der Appetit uns das Essen als angenehm betrachten lässt, und dieser ist häufig und natürlicherweise von der Erwartung der Freude des Essens begleitet; ferner { stimmt es }, dass in dem Maße, in dem der Wunsch stark ist, die erwartete Freude als groß erscheint. Diese unbestreitbaren Tatsachen stärken die Behauptung, gegen deren Plausibilität ich kämpfe, so dass es eine umsichtige introspektive Beobachtung benötigt, um uns von ihrer Unzulässigkeit zu überzeugen. Aber ich denke, dass eine solche Beobachtung zeigen wird, dass die bewusste Erwartung der Freude keineswegs untrennbar mit dem Begehren verbunden ist; und dass sie, selbst wenn sie existiert, nicht der Gegenstand { des Begehrens } ist. Es kann sein, dass wir neben dem primären Begehren einen sekundären Wunsch nach dieser Freude haben, aber die beiden dürfen nicht miteinander identifiziert werden. Auch diese Aussage muss ich durch das Zugeständnis absichern, dass die Analyse, welche beides voneinander unterscheidet, nicht überall anwendbar ist. Sehr häufig sind sie untrennbar vermischt; und da die Entwicklung des Bewusstseins immer vom Vagen zum Bestimmten geht, ist es vielleicht am exaktesten zu sagen, dass der strikt auf Äußeres gerichtete Impuls in der frühesten Phase eines jeden Wun-

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sches noch nicht vom strikt selbstbezogenen Impuls »differenziert« ist (wie Hr. Spencer sagen würde). Dennoch findet diese Differenzierung bald statt, und es gibt viele Gelegenheiten, bei denen wir die beiden Bestandteile aufgrund der verschiedenen Handlungen, die sie jeweils veranlassen, ziemlich klar unterscheiden können. Denn da die Freude zu einem Großteil, wie Butler sagt (wenn auch nicht gänzlich), von der Stärke der Begierde abhängt, veranlasst der Wunsch nach Freude die Menschen nicht nur zur Befriedigung, sondern auch zur Anregung ihrer Begierde. Der Gourmet, der spazieren geht, um sein Abendessen zu genießen, wird durch einen sinnlichen Impuls dazu angetrieben, das Produzieren eines anderen anzustreben: Zumindest hier laufen wir nicht Gefahr, beide zu verwechseln. Untersuchen wir nun wiederum eine Klasse der Freuden, die in unserer erregbaren Existenz einen sehr bedeutenden – nach Meinung mancher Urteilender den wichtigsten – Platz einnimmt: die Freuden des Jagens.14 Diese veranschaulichen besonders gut den Unterschied zwischen den auf Äußeres gerichteten und den selbstbezogenen Impulsen, und ebenso die Abhängigkeit der Freude vom Wunsch – und nicht vice ­versa.15 Nehmen wir zum Beispiel den liebsten Zeitvertreib reicher Engländer. Welches Motiv treibt einen Menschen dazu an, auf Fuchsjagd zu gehen? Es ist nicht die Freude am Erlegen des Fuchses. Niemand stellt sich vor dem Beginn der Jagd das Töten des Fuchses als eine Quelle der Befriedigung vor, die von dem durch die Jagd produzierten Eifer unabhängig ist. Es ist dieser Eifer, von dem die Freude abhängt; der Wunsch, durch entschiedenes Handeln zu eigenartiger Intensität gesteigert, ist die vorausgehende Gegebenheit; und die durch die Befriedigung des Wunsches entstehende Freude ist proportional zum Wunsch, der zuvor bestand. Man könnte jedoch sagen, dass der Wunsch des Fuchsjägers nicht im Töten des Fuchses sondern im Genuss des Jagens besteht. Und zweifelsohne ist dieses sein rationales Motiv, welches in einem ruhigen Zustand des Geistes die ganze Kette von Handlungen einleitet. Die Besonderheit dieses Falls besteht jedoch darin, dass der irrationale Wunsch,

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den Fuchs zu erlegen, eine notwendige Bedingung der Freuden ist, nach denen er rational strebt. Bevor wir die Jagd genießen können, müssen wir vorübergehend das Erlegen wünschen, es sehr vehement und packend wünschen. Daher rührt das oftmals bemerkte Paradox, welches solche Tätigkeiten dem prudentiellen Denken präsentieren: Wir können das prudentiell rationale Ziel maximaler Freude nicht erreichen ohne Impulse zu erregen, die heutzutage* als hochgradig irrational gelten. Eine andere sehr wichtige Beobachtung liegt in Verbindung mit diesen letzteren Freuden nahe. Obwohl wir in dem zuvor diskutierten Fall die Begierde von dem Wunsch nach den Freuden, die in der Erfüllung dieser Begierde bestehen, unterscheiden konnten, schien zwischen beiden keine Unvereinbarkeit zu bestehen. Die Tatsache, dass der Gourmet vom Wunsch nach den Freuden des Essens beherrscht wird, verhindert in keiner Weise, dass sich in ihm die Begierde entwickelt, die eine notwendige Bedingung dieser Freuden ist. Wenn wir uns aber den Freuden der Jagd zuwenden, scheinen wir diese Unvereinbarkeit bis zu einem gewissen Grade wahrzunehmen. Bei allen Formen des Strebens ist ein gewisser Enthusiasmus nötig, um den vollen Genuss zu erreichen. Ein Mensch, der an ihr in zu epikureischer Gemütshaltung teilnimmt, der zu viel über die Freude nachdenkt, kann den vollen Geist der Jagd nicht erfassen; sein Eifer erreicht niemals die Schärfe, welche der Freude ihren höchsten Reiz und ihre Würze verleiht. Hier gerät das in den Blick, was wir als grundlegendes Paradox des Hedonismus bezeichnen können: dass der selbstbezogene Impuls, wenn er zu beherrschend wird, seinen eigenen Zweck verfehlt. Dieser *

  Ich gehe hier der Geschichte dieser Impulse nicht nach. Bei der Beschäftigung mit Fragen, bei denen die Entscheidung, wie Hr. Mill sagt, von »geübtem Selbstbewusstsein und Selbstbeobachtung, gestützt durch die Beobachtung von anderen«, abhängt, scheint es mir wichtig zu sein, die notwendigerweise hypothetische Methode der historischen Psychologie sorgfältig beiseite zu legen. { Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 4, S. 116: »It can only be determined by practised self-consciousness and self-observation, assisted by observation of others.« }

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Effekt ist im Fall von rein sinnlichen Freuden nicht, oder zumindest nur selten sichtbar; und auch dort, wo es eine starke, natürliche Aufnahmefähigkeit gibt, die beliebig ausgerichtet ist, wird dem Gang des allgemeinen Gesetzes entgegengewirkt. So sehen wir erstens, warum der Epikureismus bei durchschnittlichen Gemütern praktisch immer eine Tendenz zum Sensualismus hatte, den er theoretisch sicher nicht besitzt, da sinnliche Freuden am allerwenigsten durch ihre direkte Verfolgung vermindert werden. Zweitens { sehen wir }, warum { der Epikureismus } diese Tendenz bei philosophischen Gemütern nicht besaß; denn in diesen ist der intellektuelle Impuls ursprünglich so stark, dass er dem zersetzenden Effekt des epikureischen Prinzips widersteht. Für einen Großteil unserer kultivierteren Freuden, intellektuell wie emotional, scheint es wahr zu sagen, dass unsere Impulse, zumindest wenn wir die Freuden in ihrer bestmöglichen Form anstreben, objektiv und auf Äußeres gerichtet sein müssen und nicht auf unsere eigenen Empfindungen als ihr Ziel fixiert sein dürfen. Die Tätigkeiten, durch die Freuden entstehen, scheinen ein gewisses Maß an Selbsthingabe zu verlangen, was mit der bewussten Vorherrschaft der Selbstliebe inkompatibel ist. Zum Beispiel können die Freuden des Denkens und Studierens (von denen der Materialist Hobbes erklärte, dass sie »alle fleischlichen Gelüste weit überragen«16) nur von denen genossen werden, die einen Überschwang an Neugierde aufbringen, welcher ihren Geist zeitweise von ihnen selbst und ihren Empfindungen ablenkt. Auch in allen Formen der Kunst ist die Ausübung des kreativen Vermögens von starken und außer­ordentlichen Freuden begleitet, aber um diese zu erlangen, muss man sie vergessen; der Blick des Künstlers, so sagt man immer, ist von seinem Ideal der Schönheit begeistert und auf dieses fixiert. Noch deutlicher erscheint dieses Gesetz, wenn wir die mitfühlenden Tätigkeiten und Empfindsamkeiten betrachten. Sogar Professor Bain gibt zu, dass der Wunsch, anderen Freude zu bereiten und Leid von ihnen zu nehmen, eine Ausnahme zu seiner allgemeinen Theorie darstellt, der zufolge der Wille eines jeden Individuums von dessen eigenen Freuden

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und Leiden bestimmt ist, seien sie real oder ideell; und es ist die Existenz dieses strikt selbstlosen Impulses, von dem die häufig empfohlenen Freuden der Mildtätigkeit abhängen. Bis hierher habe ich auf der vermeintlichen Unvereinbarkeit von auf sich selbst bezogenen und auf Äußeres gerichteten Impulsen lediglich mit der Absicht beharrt, die wesentliche Verschiedenheit dieser Impulse zu beweisen. Ich möchte dieses nicht überbewerten – so wie es nicht selten von den anti-hedo­ nistischen Moralisten überbewertet worden ist, die vollkommen zu Recht die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt haben. Ich glaube, dass die Unvereinbarkeit im allergewöhnlichsten Zustand unseres Tätigseins nur vorübergehend ist und das Erreichen einer wirklichen Harmonie mittels einer Art abwechselndem Rhythmus der beiden Impulse im Bewusstsein nicht verhindert. Ein Wunsch ist, so denke ich, gewöhnlich kein bewusst auf Freude abzielender Impuls; aber wo es einen beliebig ausgerichteten starken Wunsch gibt, besteht gewöhnlich eine große Aufnahmefähigkeit für die dazugehörigen Freuden; und der ergebenste Enthusiast wird durch das immer wiederkehrende Bewusstsein dieser Freuden dauerhaft bei seiner Arbeit gehalten. Es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die vertrauten und augenfälligen Beispiele eines wirklichen Konfliktes zwischen der Selbstliebe und einigen auf Äußeres gerichteten Impulsen keine Paradoxa oder Rätsel sind, die es hinweg zu erklären gilt, sondern gelegentlich auftretende Phänomene, welche die Analyse unseres begehrenden Bewusstseins im normalen, nicht von solchen Konflikten gezeichneten Zustand, erwarten lässt. Aus psychologischer Perspektive betrachtet, ist solch ein Konflikt im Allgemeinen derselbe, was auch immer die Eigenschaft des Impulses ist, der mit der Selbstliebe in Konflikt gerät. Die sehr wichtige Unterscheidung jedoch, die eingeführt wird, wenn wir die ethischen Begriffe von »Höherem« und »Niedrigerem« verwenden und im Vergleich zur Selbstliebe manche Impulse für höherwertig, andere für minderwertig halten, hat dazu geführt, dass diese Ähnlichkeit übersehen wird. Im Fall der Begierden nehmen wir an (wie Butler sagt),

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dass die Selbstliebe einen natürlichen Herrschaftsanspruch besitzt; und wir verurteilen uns selbst im Nachhinein, wenn wir einem sinnlichen Impuls nachgeben, der im Ganzen* betrachtet zu einer von weniger Freude begleiteten Handlungsweise führt. Ein gleichartiges Ergebnis kann aber auch im Falle eines höheren Impulses entstehen, dessen Unterordnung unter die Selbstliebe vom gesunden Menschenverstand nicht in gleichem Maße anerkannt wird. Dies lässt in uns eine gewisse Ratlosigkeit entstehen, welche allerdings keiner psychologischen Anomalie geschuldet, sondern rein ethisch ist, da uns dieses Verhalten in gewisser Hinsicht als irrational erscheint, und wir es dennoch nicht missbilligen. Führen wir uns dies anhand eines Beispielfalls im Detail vor Augen. Angenommen, ein Mensch ist für einige Zeit von einer vorherrschenden Leidenschaft edler Art beeinflusst gewesen: Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Schönheit oder persönliche Zuneigung oder Hingabe an eine Sache oder der Wunsch, irgendein bestimmtes lobenswertes Ziel zu erreichen. Für einige Zeit ist er vielleicht von einem Gefühl getragen worden, in dem die eigennützigen und uneigennützigen Elemente noch nicht unterschieden waren: Wenn er gefragt wurde, konnte er nicht sagen, ob er das, was er tat, aufgrund eines selbstlosen Impulses tat oder weil er seine Freude daran hatte. Aber plötzlich gerät diese Leidenschaft oder dieser Enthusiasmus durch die Umstände bedingt in Kollision mit anderen Impulsen und Bedürfnissen: Der Mensch wird so dazu gebracht, den Standpunkt prudentieller Reflexion einzunehmen, und entdeckt durch die Abschätzung der wahrscheinlich resultierenden Freuden und Leiden, dass die Handlungsweise, zu der sein gewöhnlicher Impuls ihn neigen lässt, dem durch Selbst*

  Der sich durchsetzende sinnliche Impuls ist in diesem Fall im Allgemeinen bewusst auf die Freude gerichtet und ist ein Beispiel dafür, eine geringere Freude einer größeren Freude vorzuziehen, nicht dafür, irgendeinen äußeren Gegenstand der Freude vorzuziehen. Dennoch stellt auch dieser Fall eine Ausnahme zu dem von Hrn. Mill vermuteten universellen Gesetz dar, dass der Wunsch immer proportional zur erwarteten Freude ist.

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liebe bestimmten Urteil klar entgegengesetzt ist. Sein Enthusiasmus verlangt in Wirklichkeit ein Opfer; und auf einmal ist er fähig, den eigentlichen äußeren Gegenstand des Impulses klar von der Freude, die dessen Erstreben und Erzielen normalerweise begleitet, zu unterscheiden. Er kann die zwei verschiedenen Fragen stellen: »Ist es intrinsisch wertvoll, dieses Opfer zu bringen?«, und: »Wird es mir vergütet werden?«. Er ist sich bewusst, dass er die zweite Frage verneinen und dennoch die erste bejahen kann. Er kann sagen: »Es wird nicht vergütet werden, aber dies ist es wert und es soll geschehen.« Ich habe ein Phänomen beschrieben, welches selbst außerhalb der Sphäre genuin moralischer Impulse nicht selten geschieht. Innerhalb dieser ist es jedoch zweifelsohne sehr weit verbreitet; Opfer werden allgemein verlangt im Namen dessen, was richtig, vernünftig, tugendhaft ist. Und hier möchte ich abermals Hrn. Mill als einen Zeugen, der auf meiner Seite steht, anrufen; in diesem Fall beziehe ich mich auf seine Unter­ suchung der Philosophie Sir W. Hamiltons.17 Der Leser mag sich die Passage ins Gedächtnis rufen, in welcher er von der vermeintlichen religiösen Pflicht spricht, eine Gottheit als »gut« zu verehren, auf die dieser Begriff in keiner vernünftigen Weise anwendbar ist. Anstatt dieser { Pflicht zu folgen }, sagt er: »Wenn ein solches Wesen mich, weil ich es nicht so genannt habe, zur Hölle verurteilt, werde ich in die Hölle gehen.«18 Dieser Fall ist natürlich rein hypothetisch und als reductio ad absurdum des Glaubens an einen unerkennbaren Gott gedacht.19 Aber ein hypo­thetisches Beispiel eignet sich genauso gut wie ein reales dazu, ein Prinzip zu testen, und dieses Beispiel liefert mir genau die Hypothese, die perfekt geeignet ist, meine Sichtweise zu veranschaulichen. Herr Mill, so können wir sagen, bekennt sich zu einer hypothetischen Präferenz für die Hölle.* Nun kann er nur schwerlich behaupten, dass eine solche Präferenz beinhal*

 Zweifelsohne macht Hr. Mill einen Unterschied zwischen Wünschen und Wollen. Ich denke jedoch, dass er will, dass der angenommene Fall sowohl eine Präferenz als auch einen Entschluss impliziert.

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tet, »die Hölle als äußerst angenehm zu empfinden«, nicht einmal der Idee nach, da es im bloßen Begriff der Hölle enthalten ist, dass es dort leidvoller ist als irgendwo anders. Er erkennt daher die Vorstellbarkeit eines praktischen Impulses an, der in die Richtung maximalen Unglücks neigt; und er beteuert sogar, dass ein solcher Impuls seinen Willen bestimmen könnte und bestimmen würde. Zur Zusammenfassung: Unter Verstoß gegen die Lehre, dass unsere bewussten, aktiven Impulse immer auf die Produktion angenehmer Empfindungen in uns selbst gerichtet sind, möchte ich daran festhalten, dass wir im Bewusstsein überall auf Äußeres gerichtete Impulse finden, die auf etwas anderes abzielen, das keine Freude ist. In vielen Fällen ist dieser Impuls so wenig mit dem selbstbezogenen Impuls vereinbar, dass die beiden nicht leicht im selben Moment des Bewusstseins nebeneinander bestehen; und bisweilen (aber keineswegs selten) geraten beide in einen unversöhnlichen Konflikt und treiben zu entgegengesetzten Handlungsweisen an. Und diese Unvereinbarkeit ist (auch wenn es wichtig ist, sie in anderen Fällen zu bemerken) zweifelsohne besonders bedeutend im Falle des Impulses, der auf dasjenige Ziel gerichtet ist, welches mit der Freude in der ethischen Kontroverse konkurriert: die Liebe der Tugend um ihrer selbst willen, oder der Wunsch, das zu tun, was an sich richtig ist – also das, was nach Meinung des Stoizismus essentiell für das richtige Handeln ist. Man könnte sagen, dass unsere ursprünglichen Impulse alle auf Freude gerichtet waren, was auch immer sonst für unser derzeitiges, erwachsenes Bewusstsein gelten mag, und dass alle anders gerichteten Impulse von diesen durch »Assoziation von Ideen« abgeleitet werden.20 Ich denke nicht, dass dies bewiesen werden kann, und die Ergebnisse von Beobachtungen, soweit wir diese durchführen können, scheinen in die entgegengesetzte Richtung zu tendieren: Für die früheren Stadien unseres Bewusstseins scheint überwiegend Objektivität charakteristisch zu sein und die subjektive Einstellung wird erst später im Leben zur Gewohnheit. Aber angenommen, die Behauptung würde

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bewiesen: Sie würde wenig Bedeutung für die gegenwärtige Frage haben. Der Hedonist sagt: »Dass Freude intrinsisch wünschenswert ist, beweise ich dadurch, dass sich alle Menschen tatsächlich Freude wünschen.« Darauf wird geantwortet, dass nicht alle Menschen sich jetzt gerade Freude wünschen, sondern vielmehr andere Dinge. Insbesondere haben manche auf Tugend gerichtete Impulse, die mit dem Wunsch nach eigener Freude in Konflikt geraten können und dieses auch tun. Dieses kann man nicht durch die Behauptung zurückweisen, dass alle einst Freude wünschten, es sei denn man behauptet, dass unsere früheren Impulse gegenüber unseren späteren bezüglich ihrer Gültigkeit ein Vorrecht besitzen. Aber niemand beruft sich gegen den Sinn des Künstlers für Schönheit auf den des Kindes; auch hält man die Wahrheiten der höheren Mathematik in ihrer Wahrheit nicht für weniger gesichert, da sie nur von einem hoch entwickelten Intellekt begriffen werden können. Tatsächlich gehört diese Bereitschaft, demjenigen, was zuerst gefühlt oder gedacht wurde, eine eigenartige Bedeutung oder besondere Autori­tät zuzuschreiben, zu einer überholten Anschauungsweise. In der Politik haben wir die Idee völlig aufgegeben, dass die ursprüngliche Verfassung der menschlichen Familie, selbst wenn wir diese unwiderlegbar ermitteln könnten, überhaupt dabei helfen würde, die in unseren existierenden Gesellschaften bestehenden rechtlichen Verpflichtungen zu bestimmen. Die entsprechende Überzeugung hält sich noch in der Psychologie und der Ethik, aber man kann erwarten, dass sie sich nicht mehr sehr lange halten wird; denn die Annahme, dass unser frühestes Bewusstsein höchstes Vertrauen verdient, ist nicht nur unbegründet, sondern steht auch im Gegensatz zu gegenwärtigen Theorien der Evolution und des Fortschritts.

Der Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens 1 In einem Aufsatz über »Die physische Grundlage von Freude und Leid«,2 der in der letzten Ausgabe von Mind erschien,3 hat Hr. H. R. Marshall kurz aber entschieden eine Ansicht über die Qualität oder den »Gefühlston« des Wünschens, des Widerwillens und des Gespanntseins formuliert.4 Diese Ansicht unterscheidet sich sehr markant von derjenigen, zu der ich selbst – durch den Vergleich meiner eigenen Erfahrungen mit dem, was ich über die Erfahrungen anderer ermitteln konnte – gelangt bin. Hr. Marshall hat den Unterschied zur Kenntnis genommen und der kurzen Darstellung seiner eigenen Ansicht eine polemische Bezugnahme auf die meinige hinzugefügt – geschrieben mit einem rhetorischen Nachdruck, welcher die starke Überzeugung erkennen lässt, dass seine Ansicht sich mit den allgemeinen Erfahrungen der Menschheit im Einklang befindet. Es ist möglich, dass sich seine Überzeugung als wohlbegründet erweisen kann, doch ich denke, dass eine weitere Diskussion des strittigen Punktes vielleicht das Ausmaß der Meinungsverschiedenheit zwischen uns wenigstens verringern kann. Ich werde daher im vorliegenden Aufsatz die Gründe, auf denen meine gegenteilige Ansicht basierte, in größerer Vollständigkeit darlegen als ich es in der Abhandlung, auf die Hr. Marshall sich bezieht, für nötig gehalten hatte. Da ich Anlass haben werde, die genaue Aufmerksamkeit auf einen oder zwei von Hrn. Marshalls Sätzen zu lenken, werde ich damit beginnen, die Passagen in seinem Aufsatz, die für mein gegenwärtiges Vorhaben wichtig sind, vollständig zu zitieren. »Der wichtige mentale Zustand, den wir Wünschen nennen,  … beinhaltet klarerweise das sehr wichtige Zurückdrängen des Impulses, loszuziehen und sich einem Gegenstand anzunä-

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hern, den man sich mehr oder weniger lebhaft vorstellt. Unter solchen Umständen werden wir das Wünschen leidvoll finden und es kann keinen Zweifel daran geben, dass dem immer so ist. Es ist jedoch ein komplexer Zustand, der noch weitere Bestandteile umfasst als nur diejenigen, die das zurückdrängende Leid hervorbringen; und diese anderen Bestandteile, die Freude beinhalten, verdecken oft das Leid. … Widerwille ist ein dem Wünschen ähnlicher Zustand. Er beinhaltet zurückgedrängte Impulse bezüglich unserer Trennung von einem Gegenstand und bringt uns Leid im weitesten Sinne. Dieses Leid ist immer Teil des Widerwillens, obgleich es manchmal schwierig ist, ihn von anderen immer vorhandenen, leidvollen Bestandteilen zu isolieren, wie etwa der leidvollen Vorstellung von einem Gegenstand, der leidvoll sein wird, wenn er realisiert wird.«5 Wenn ich nun diese Passage in ihrem Kontext zu interpretieren gehabt hätte, dann hätte ich – mit Ausnahme der polemischen Bezugnahme auf meine Person in einer Anmerkung – keinen starken Beweggrund gesehen, ihr zu widersprechen. Das liegt daran, dass ich, wie ich sogleich erklären werde, davon ausgegangen sein würde, dass Hr. Marshall die Begriffe des Wünschens und des Widerwillens bewusst in einem engeren Sinne als dem normalerweise verwendeten benutzte. Doch diese Inter­pretation scheint durch die folgende polemische Anmerkung ausgeschlossen zu werden: »Prof. Sidgwick sagt in seinen Methods of Ethics (4. Aufl., S.  182  ff.), er gestehe zu, es gebe ›Verlangen, welche Handlungsimpulse bewirken können, ohne jedoch in irgendeinem beachtlichen Grade leidvoll zu sein‹. Er spricht dabei (S. 185) von der ›neutralen Erregung des Wünschens, des Widerwillens, des Gespanntseins, der Überraschung‹. Bezüglich der Überraschung habe ich später noch ein paar Worte zu verlieren. Es muss an dieser Stelle gestattet sein zu sagen, dass ich nicht erkennen kann, wie ein ›Verlangen‹ sich als Handlungsimpuls auswirken kann, ohne spürbar leidvoll zu sein. Wenn ich solche Geisteszustände analysiere, dann befindet sich die sogenannte neutrale Erregung,

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die solche Zustände ausmacht, in anderen mentalen Regionen als das ›Verlangen‹. Bei einigen unserer wirkmächtigsten Formen des Verlangens gibt es beispielsweise allgemeine Zustände hoher Aktivität, die Genuss implizieren – es gibt bestimmte emotionale Bestandteile uneingeschränkter Liebe – und diese und verwandte Zustände müssen wir genau unterscheiden von der Betrachtung des Verlangens an sich. Derjenige, der hungert, entwickelt aufgrund dieses leidvollen Verlangens einen Impuls zum Tätigwerden, der die Aufmerksamkeit so stark absorbieren kann, dass das Verlangen an sich dadurch vollständig überdeckt wird. Um zu verstehen, wie Wünschen, Widerwille und Gespanntsein jemandem als neutrale Erregungen erscheinen können, muss man ein Ausmaß an ›philosophischer Ruhe‹ postulieren, bei der das Wünschen in jener ›Apathie‹ verloren geht, nach der die Griechen strebten; bei dem alle Angst durch ein nahezu fatalistisches Vertrauen ersetzt wird und bei dem man gelernt hat, davon auszugehen, dass, was auch immer das Ergebnis zweifelhafter Umstände sein wird, dieses Ergebnis gut sein wird.«6

In dieser Passage wird deutlich, dass laut Hrn. Marshall die Arten von Gefühlen, die der allgemeine Sprachgebrauch mit den Worten Wunsch und Widerwille bezeichnet, in keinem Fall »neutrale Erregungen« sind, sondern immer leidvoll. Es ist diese pauschale Behauptung, gegen die ich nun argumentieren möchte. Bevor ich meine Argumente darlege, sollte ich den Bereich der Kontroverse nach zwei Seiten hin eingrenzen. Zum einen bin ich hier nicht daran interessiert zu behaupten, dass es irgendwelche »neutrale Erregungen« im strengen Sinne gibt. Ich bin mir darüber im Klaren, dass viele mit Hrn. Sully* der Mei*

 Vgl. Mind, Nr. 50, S. 248–255. Ich darf sagen, dass ich dazu neige, Hrn. Sullys Ansicht in größerem Ausmaß für den Fall von Gespanntsein und Überraschung anzunehmen als für den Fall von Wunsch und Widerwille. Dieses geschieht teilweise aus dem Grund, aus dem ich meine Aufmerksamkeit im vorliegenden Aufsatz auf die beiden letzteren be-

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nung sind, dass alles Fühlen in einem gewissen Maße freudoder leidvoll ist. Und obwohl meine eigene Erfahrung mich zu einer gegenteiligen Folgerung bringt, möchte ich die gegenwärtige Diskussion nicht durch eine Kontroverse über diesen Punkt verkomplizieren. Ich leugne hier nicht die Aussage, dass das Wünschen und der Widerwille zumindest geringfügig freudvoll sein müssen, wenn sie nicht zumindest geringfügig leidvoll sind. Was ich sagen möchte ist, dass diese Gefühle oft entweder neutral oder freudvoll und mit Sicherheit nicht beträchtlich leidvoll sind. Zweitens, im Bemühen, mir nochmals die persönlichen Erfahrungen vor Augen zu führen, auf denen diese Streitigkeit hauptsächlich basiert, um, falls möglich, zu ermitteln, wo genau die Meinungsverschiedenheit zwischen Hrn. Marshall und mir liegt, fand ich die Charakterisierung der Lehre meines Gegners etwas peinlich, welche einräumt, dass das Wünschen »ein komplexer Zustand« sei, der freudvolle Bestandteile enthält, die das Leid »verdecken«. Ich weiß nicht genau, wie weit dieses »Verdecken« angeblich gehen soll und ob er es für möglich hält, dass Leid existiert, das diejenige Person, die es fühlt, gar nicht als solches erkennt. In jedem Fall werde ich in der vorliegenden Diskussion annehmen, dass Leid, das derartig erfolgreich »verdeckt« ist, gar nicht existiert. Und aufgrund dieser Annahme muss ich bekräftigen, dass ich das Wünschen in meinem eigenen Fall häufig als einen an sich nicht leidvollen Bestandteil – und oft als markanten Bestandteil – eines Gefühls empfinde, das insgesamt freudvoll ist. Ich bin geneigt, die gegenteilige Ansicht mit einer Kombination aus vier verschiedenen Methoden zu erklären. Erstens denke ich, dass es einen Unterschied in der Definition gibt: dass wir den Begriff »Wünschen« nicht ganz auf die gleiche Weise benutzen.

schränke. { Sully / Mason 1888, On »Feeling as Indifference«. Der Diskussionsaufsatz besteht aus zwei separaten Abschnitten, der Text von Sully umfasst die Seiten 248–252.}

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Zweitens denke ich, dass es eine gewisse Tendenz gibt, die Ideen des Wünschens und des Leidens zu vermischen oder einander zu sehr anzugleichen – was an einer wirklichen Ähnlichkeit zwischen den beiden liegt, die ich mich gleich bemühen werde näher darzustellen. Drittens denke ich, dass meine Gegner dazu neigen, sich zu ausschließlich mit dem besonders deutlichen Fall des Wünschens zu befassen; denn ich gebe zu, dass, wenn das Wünschen im Bewusstsein am deutlichsten hervortritt, dies sehr regelmäßig auch leidvoll ist. Viertens denke ich, dass es wahrscheinlich einen tatsächlichen Unterschied in der Empfindlichkeit verschiedener Individuen gibt und dass die Aussage, dass Wünschen leidvoll ist, auf einige Personen eben in jedem Fall mehr zutrifft als auf andere. I. Zunächst also zum Unterschied in der Definition. Es kann festgestellt werden, dass Hr. Marshall sagt, das Wünschen beinhalte ein »Zurückdrängen des Impulses, loszuziehen und sich einem Gegenstand anzunähern«. Wenn dies lediglich bedeutet, dass das Wünschen die Anwesenheit einer nicht realisierten Idee beinhaltet, deren Realisierung die Auslöschung des Wunsches beinhalten würde, dann würde ich zustimmen, dass dies für alle Wünsche charakteristisch ist. Doch der Satz kann genauso gut bedeuten, dass ein Handeln zur Erlangung des erwünschten Ziels verhindert wird – in welchem Falle die Eigenschaft nur einigen Wünschen zukäme und anderen nicht. Ich erwähne diese Ambiguität, weil ich sie auch in Dr. Bains Buch The Emotions and the Will finde, wo sie mir zu einer recht verwirrenden Meinungsäußerung über die gegenwärtige Frage zu führen scheint (S. 423). Der Beginn von Kapitel viii dieses Buchs lautet »Das Wünschen ist diejenige Phase der Willensbildung, in der es ein Motiv und keine Fähigkeit, entsprechend zu handeln, gibt.«7 Dies scheint sicherlich zu implizieren, dass das Wünschen nur da zu finden ist, wo ein Handeln, das auf die Realisierung des Gewünschten ausgerichtet ist, verhindert wird. Und Dr. Bains Veranschaulichung legt den gleichen Gedanken nahe. Er sagt:

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»Der Insasse eines kleinen, düsteren Zimmers stellt sich die Freude am Licht und an einer größeren Aussicht vor. Das nicht zufriedenstellende Ideal drängt zu einer geeigneten Handlung, um die Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen. Er steht auf und geht hinaus. Nehmen wir nun an, dieselbe ideale Wonne fällt einem Gefängnisinsassen ein. Unfähig dem Impuls zu folgen, bleibt er unter dem Einfluss des Motivs, und sein Zustand wird als Verlangen, sehnliche Begierde, als Wunsch bezeichnet. Wenn allen Motivimpulsen sofort gefolgt werden könnte, dann hätte das Wünschen keinen Platz … es gibt Schranken auf dem Weg zur Handlung, die zu einem Zustand des Konfliktes führen und den Wunsch zu einem mehr oder weniger leidvollen Gemütszustand machen.«8

Dies dürfte sicherlich bedeuten: »Alles Wünschen ist leidvoll, weil das Wünschen eine Schranke auf dem Weg zur Handlung impliziert«.9 Wenn Hr. Bain des Weiteren sagt, dass »wir eine Form von Wünschen in all unseren zeitlich ausgedehnten Betätigungen oder Arbeiten für entfernte Ziele haben«,10 dann ist nicht klar, ob er diese Art des Wünschens als leidvoll anerkennt, oder, falls dem so ist, warum er sie anerkennt. Dennoch spricht er im Folgenden vom Wünschen generell als von einer »Form von Leid«.11 Ich stimme nun zu, dass das Wünschen am häufigsten in ­einem gewissen Grade leidvoll ist, wenn die wünschende Person an Handlungen zum Erreichen des gewünschten Gegenstandes gehindert ist. Ich denke aber wirklich nicht, dass es selbst unter diesen Umständen immer leidvoll ist; insbesondere dann nicht, wenn es von Hoffnung begleitet wird und wenn, obwohl Handlungen zum Erreichen des erwünschten Gegenstandes nicht möglich sind, dennoch geeignete Aktivitäten zur Erleichterung der nervlichen Anspannung möglich sind. Dennoch gebe ich zu, dass das Wünschen sehr dazu neigt, leidvoll zu sein, wenn Handlungen zu seiner Erfüllung ausgeschlossen sind.

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Aber es ist sicherlich gegenläufig zur allgemeinen Verwendungsweise, den Begriff des Wünschens auf diesen Fall zu beschränken. Nehmen wir an, Dr. Bains Gefängnisinsasse kommt in den Besitz einer Feile und erblickt in einem langen Prozess, der neben anderen Tätigkeiten das Feilen gewisser Gitterstäbe erfordert, seine Chance, aus dem Gefängnis heraus zu kommen. Es wäre sicherlich absurd zu behaupten, dass sein Wunsch endgültig aufhört, wenn der Vorgang des Feilens beginnt. Zweifellos wird die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die komplexen Aktivitäten, die für das Erringen der Freiheit notwendig sind, dazu führen, dass der Gefangene derartig von anderen Ideen und Gefühlen absorbiert sein wird, dass der Wunsch nach Freiheit zeitweilig aufhören wird, in seinem Bewusstsein präsent zu sein. Doch weil der Anreiz, von dem seine ganze Tätigkeit im Letzten abhängt, mit Sicherheit von der unrealisierten Idee der Freiheit herstammt, wird diese Idee normalerweise zusammen mit dem Gefühl des Wünschens im Laufe des Prozesses in kurzen Intervallen wieder auftauchen. Ähnlich wird es in anderen Fällen sein. Obgleich es sicherlich wahr ist, dass Menschen oft für ein erwünschtes Ziel arbeiten, ohne das Wünschen nach dem Ziel bewusst zu fühlen, wäre es absurd zu behaupten, dass sie das Wünschen niemals fühlen, während sie am erwünschten Ziel arbeiten. Kurzum, es muss zugestanden werden, dass das Gefühl des Wünschens zumindest manchmal ein Bestandteil des Bewusstseins ist, das mit einem auf die Erlangung des erwünschten Gegenstandes gerichteten Tätigkeitsprozess einher geht oder in den kurzen Pausen eines solchen Prozesses eintritt. Und ich wage zu behaupten, dass es, wenn das Gefühl unter diesen Umständen beobachtet wird, nicht im Einklang mit der allgemeinen Erfahrung der Menschheit steht, es als essentiell leidvoll zu beschreiben. Ich behaupte nicht, dass das Gefühl unter solchen Bedingungen an sich freudvoll ist. Ich kann meine introspektive Analyse nicht zu einem solchen Ausmaß der Vollkommenheit bringen, dass ich dies mit Sicherheit bestätigen könnte. Ich bestätige in Bezug auf meine eigene Erfahrung jedoch durchaus, dass das Gefühl des Wünschens ­unter

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diesen Umständen, während es an sich nicht leidvoll ist, oft ein unabdingbarer Bestandteil eines komplexen Zustandes ist, der insgesamt höchst freudvoll ist. Und all das, was ich über die Gefühle anderer erfahren kann, bringt mich dazu anzunehmen, dass ich mit dieser Erfahrung nicht alleine bin. Nehmen wir den Fall eines passionierten Bergsteigers, der auf einen Gipfel gelangen möchte: Das Wünschen ist nicht weniger offensichtlich ein Bestandteil seines Bewusstseins, wenn er den Berg hinauf steigt, als wenn er von schlechtem Wetter zu Hause festgehalten wird. Aber im ersten Fall ist es schlimmstenfalls ein neutrales Gefühl und scheint oft eine freudvolle Qualität anzunehmen; in jedem Fall hängt die Freudigkeit des ganzen Zustandes, von dem es ein Teil ist, von der Anwesenheit des Wünschens ab. Im letzten Fall ist es hingegen mit Sicherheit höchstwahrscheinlich leidvoll. Nehmen wir noch einmal den Fall des Hungerns: Das bewusste Wünschen, dem wir diesen Namen geben, ändert nicht seinen grundlegenden Charakter, hört nicht auf Hunger zu sein, wenn der hungrige Mensch sich zu Tische setzt. Aber es wäre sicherlich absurd zu sagen, dass es dann normalerweise ein leidvoller Bestandteil des Fühlens ist; das wäre es lediglich nach einem abnormal langen Fasten. Vielleicht würde Hr. Marshall sagen, dass es »verdeckt« ist von der freudvollen Erwartung nahender Befriedigung. Falls dem so ist, kann ich nur sagen, dass die Verdeckung so vollständig ist, dass meine introspektive Analyse sie nicht durchdringen kann. II. Ich gebe jedoch zu, dass der Hunger und das Wünschen im Allgemeinen in einem gewissen Grade dem Leid ähnlich sind, da sie beide rastlose Zustände sind; Zustände, in denen wir uns eines Impulses bewusst sind, aus dem gegenwärtigen Zustand in einen zukünftigen zu gelangen. Um einen Begriff von Locke zu verwenden, können wir billigerweise sagen, dass sowohl das Wünschen als auch das Leid »ruhelose« Zustände12 sind, und unter dieser gemeinsamen Vorstellung der Ruhe­losig­ keit oder Rastlosigkeit können wir dazu verleitet werden, die beiden zu verwechseln. Aber ich denke, dass Reflexion den

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Unterschied klar aufzeigen kann.* Sowohl im Fühlen des Wünschens als auch im Fühlen von Leid empfinden wir einen Anreiz, von einem gegenwärtigen Zustand in einen anderen überzugehen; aber im Fall des Leids besteht der Impuls darin, aus dem gegenwärtigen Zustand in irgendeinen anderen zu gelangen, der lediglich unbestimmt und negativ als »nicht der gegenwärtige« vorgestellt wird, während im Fall des Wünschens der primäre Impuls sich auf die Realisierung eines bestimmten zukünftigen Resultats richtet. Eine Schwierigkeit dabei, dies klar zu sehen, besteht in der Tatsache, dass, wenn das Wünschen leidvoll ist, ein sekundärer Widerwille gegen den Zustand des Wünschens hervorgerufen wird, der sich mit dem Wünschen vermischt und leicht mit ihm verwechselt werden kann. Aber wir können die beiden Impulse unterscheiden, indem wir beobachten, dass sie nicht notwendigerweise das gleiche Verhalten veranlassen, zumal der Widerwille gegen das Leid unbefriedigten Wünschens – obgleich er als zusätzlicher Anreiz zur Arbeit an der Befriedigung des Wunsches wirken kann – uns auch dazu veranlassen kann, das Leid loszuwerden, indem wir das Wünschen unterdrücken. Und auf der anderen Seite, wenn das Wünschen mit der Freude an der Realisierung des Gewünschten einhergeht – wie dies oft in hohem Maße der Fall ist –, dann erscheint es mir besonders einfach, es vom Leiden zu unterscheiden. Ich sollte als gutes Beispiel hierfür die Erfahrung des Essens nach einem ungewöhnlich langen Fasten angeben. Ich beobachte häufig, dass in einem solchen Fall der Appetit sehr schwach ist, kaum ein wahrnehmbares Gefühl, bevor mit dem Essen begonnen wird. Dann – zusammen mit der aus der Befriedigung des Hungers gewonnenen Freude – wird das Gefühl des Appetits deutlich und voll, und ist, wie ich gesagt habe, besonders einfach vom Leiden zu unterscheiden.

*

  Ich habe diesen Punkt – teilweise in den gleichen Worten – in meinen Methods of Ethics diskutiert, Buch I, Kap. iv, § 2. { Sidgwick 1981, The Methods of Ethics, S. 42–51.}

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III. Zugleich gebe ich durchaus zu, dass da, wo das Wünschen ein besonders markanter Bestandteil des geistigen Zustandes ist, sodass es gebieterisch Aufmerksamkeit beansprucht, es in den meisten Fällen in einem gewissen Grade ärgerlich oder störend ist. Es wird zu einem Gefühl, das wir loswerden möchten – ob durch die Realisierung des Gewünschten oder auf irgendeine andere Art. Und dies bringt mich zu meiner dritten Erklärung der Tendenz, das Wünschen als immer leidvoll zu verstehen, nämlich dass die deutlichsten und bemerkenswertesten Fälle des Gefühls – diejenigen, die den größten Eindruck hinterlassen haben und an die man sich natürlich erinnert, wenn man an Fälle des Wünschens denkt – normalerweise in einem gewissen Grade leidvoll waren. Von einem sehr intensiven Wünschen sollte ich zugeben, dass es meiner Erfahrung nach gewöhnlich wahr ist, dass, selbst wenn der Zustand, von dem es ein Bestandteil ist, insgesamt freudvoll ist, der Wunsch selbst in gewissem Maße leidvoll ist. In den Fällen, in denen das Wünschen, kombiniert mit anderen markanten Bestandteilen des Fühlens, nicht diese absorbierende und überwältigende Intensität erreicht, finde ich es in meiner Erfahrung bestenfalls neutral. Es kann vielleicht gesagt werden, dass in diesen letzteren Fällen das Wünschen selbst, als Gefühl betrachtet, so schwach ist, dass es nicht mehr in unserer Macht steht, seine freudvolle oder leidvolle Qualität durch direkte Introspektion festzustellen. Da es nicht legitim ist, eine Schlussfolgerung bezüglich des »Gefühlstons« dieses obskuren Bestandteils der freudvollen Qualität des Gesamtzustandes zu ziehen, dessen Bestandteil das Wünschen ist, darf daher darauf gedrängt werden, dass solche Fälle in der gegenwärtigen Diskussion außer Acht gelassen werden sollten. Ich gebe nun durchaus zu, dass das Wünschen eines Ziels während langer Prozesse des Arbeitens an entfernten Zielen nicht selten aufhört, einen wahrnehmbaren Charakter als Gefühl zu haben, während es dennoch stark genug bleibt, um den notwendigen Impuls zur Handlung zu geben. Wir folgern seine Anwesenheit nur aus den Handlungen, die es anregt, und aus der Befriedigung, die auf das Erlangen irgendwelcher

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Zwischenziele folgt, die keine andere Bedeutung für uns haben, ­außer als Schritt in Richtung des ultimativen Ziels. Aber ich denke, es ist leicht, Beispiele für freudvolle Tätigkeitsprozesse zu geben, die von Wünschen begleitet werden, die, obgleich nicht leidvoll intensiv, stark und eindeutig gefühlt werden und gleichzeitig unabdingbare Bestandteile des Freudvollseins des ganzen komplexen Gefühls sind, welches die Tätigkeiten begleitet, die sie anregen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines Spiels, das körperliche Betätigung und einen Wettkampf der Geschicklichkeit umfasst. Ich selbst bin nicht sehr geschickt in solchen Übungen und wenn ich aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen an ihnen teilnehme, beginne ich gewöhnlich damit ohne einen Wunsch das Spiel zu gewinnen. Solange ich derartig gleichgültig bleibe, ist die Übung eher mühselig. Normalerweise stelle ich jedoch nach einiger Zeit fest, dass der Wunsch, das Spiel zu gewinnen, als Konsequenz der auf diesen Zweck abzielenden Handlungen wach gerufen wird und dass der gesamte Prozess umso freudvoller wird, je stärker dieses Gefühl wird. Falls zugestanden wird, dass dies eine normale Erfahrung ist, sollte ich überrascht sein, wenn nicht ebenso zugestanden wird, dass das Wünschen in diesem Fall normalerweise entweder ein neutrales oder ein freudvolles Gefühl ist. Ich bin jedenfalls außerstande, auch nur die geringste leidvolle Qualität darin zu entdecken. Und es wäre ein Leichtes, eine unendliche Zahl ähnlicher Fälle von tatkräftiger, auf ein Ziel gerichteter Aktivität zu nennen – sei es im Sport oder in den ernsthaften Angelegenheiten des Lebens –, bei denen ein starker Wunsch nach dem Erreichen des anvisierten Ziels für ein wirkliches Vergnügen an der dafür notwendigen Arbeit unabdinglich ist und bei denen wir zugleich, so sehr wir uns auch bemühen, das Wünschen in der introspektiven Analyse von seinen begleitenden Bestandteilen zu trennen, kein Leidvollsein im Wünschen wahrnehmen können. In solchen Fällen scheint es mir eine besonders unhaltbare Hypo­these zu sein, zu behaupten, dass das Wünschen selbst nichtsdestotrotz ein außergewöhnlich gut verdecktes Leiden ist.

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Ein vertrauter Fall ist das Durchlesen eines Romans – zumindest eines Romans, in dem der Handlungsverlauf wichtig ist. Es wird nicht bestritten werden, dass, solange der Autor nicht die Neugier des Lesers wecken kann – seinen Wunsch, das Schicksal der fiktiven Charaktere zu erfahren –, der Prozess des Lesens normalerweise eintönig sein wird, während er umso freudvoller wird, je eindringlicher dieser Wunsch wird. Gleichzeitig ist die Stärke und Deutlichkeit des Wunsches im Bewusstsein eines normalen Lesers untrüglich, er zeigt sich (z. B.) in der Stärke des verführerischen Impulses, »voraus zu blättern«, um die Neugier zu befriedigen – ein Impuls, welchen, wie ich denke, die meisten Personen, die diese Art von Literatur mögen, oft mit mühevoller Selbstkontrolle unterdrücken müssen. IV. Dieser letzte Fall bringt mich jedoch zu meiner vierten Erklärung der Meinungsverschiedenheit unter den Psychologen über diesen Punkt. Denn ich finde, dass es bei unterschiedlichen Personen ein bemerkenswertes Ausmaß an Abweichungen in Bezug auf das Freudvollsein intensiver Neugier gibt. Mehrere Freunde haben mir erzählt, dass sie sich nicht im Geringsten für den Handlungsverlauf eines Romans interessieren, dass sie einen Roman genauso gut rückwärts lesen würden { und } dass ihnen ein guter Roman beim zweiten Lesen mehr Vergnügen bereitet als beim ersten Mal. Ich folgere aus all dem, dass in solchen Personen entweder überhaupt kein eindringlicher Wunsch hervorgerufen wird zu wissen, wie die fiktive Geschichte sich entwickeln wird, oder, falls der Wunsch doch hervorgerufen wird, er eher zusagend als nicht zusagend ist. Ich glaube, es ist möglich, dass es ähnliche Abweichungen im Fall der körperlichen Begierden gibt. Viele Personen betrachten ein Leidvollsein von Hunger beispielsweise als Selbstverständlichkeit. Hr. Marshall sagt z. B.: »Hunger und Durst sind typische Fälle von Leidvollsein«.13 Nun, meiner eigenen Erfahrung zufolge ist der Wunsch nach Nahrung, wenn man sich bei guter Gesundheit befindet, in seinen anfänglichen Stadien und sofern die Abstinenz nicht zu weit getrieben wird, normalerweise überhaupt nicht leidvoll. Ich nehme ihn { den

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Wunsch nach Nah­rung } lediglich als einen Antrieb der Natur wahr, e­ inen gefühlten Impuls, meinen gegenwärtigen Zustand zu ändern, indem ich Nahrung zu mir nehme, was in Bezug auf seinen »Gefühlston« streng neutral ist – obgleich er aufgrund seiner Voraus­setzungen und Begleitumstände leicht unliebsam werden kann oder, wie ich bereits gesagt habe, zumindest ein markanter Bestandteil eines Zustandes, der insgesamt begrüßenswert ist. Zugleich fällt es mir leicht zu glauben, dass er sich in der Erfahrung anderer hauptsächlich als leidvoll zeigt, denn ich stelle fest, dass dies normalerweise auch bei mir der Fall ist, wenn ich mich nicht bei guter Gesundheit befinde. Bislang habe ich eher vom Wünschen als vom Widerwillen gesprochen – obwohl in einigen der Fälle, die ich angegeben habe, diese beiden Gefühle in der Tat eng verwoben sind. Ich wurde dazu gebracht, dies zu tun, weil die Leidlosigkeit des Wünschens einfacher zu veranschaulichen ist; weil Widerwille öfter ein Bestandteil eines Zustandes ist, der insgesamt leidvoll ist, da er normalerweise, wie wir die Gelegenheit hatten zu beobachten, mit wirklichen Leiden aller Arten verbunden ist. Und wo sie auf diese Weise verbunden sind, können wir die intro­ spektive Analyse selten so weit treiben, dass wir den Widerwillen als an sich leidlosen Bestandteil des Fühlens klar erkennen können. Zugleich denke ich, dass, wenn das Wünschen erst einmal als nicht immer leidvoll verstanden wird, dies ein ähnliches Zugeständnis in Bezug auf den Widerwillen mit sich bringen wird. Denn in Prozessen tatkräftigen Handelns zur Vermeidung möglicher Übel scheint mir der Widerwille oft ein markanter Bestandteil eines Gefühlszustands zu sein, der insgesamt freudvoll ist – ebenso wie es ein Wünschen im Prozess des Handelns zur Erlangung eines möglichen Gutes ist. Und in solchen Fällen scheint mir die Leidlosigkeit des Widerwillens selbst oft genauso offensichtlich wie die Leidlosigkeit des Wünschens zu sein. Ich muss nur kurz auf die verbreitete Erfahrung der freudigen Erregung angesichts von Gefahr hinweisen, da dieses komplexe Gefühl den Widerwillen sicherlich als herausragenden Bestandteil enthält.

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Doch auch hier sollte ich wieder ein großes Maß an Abweichungen in den Erfahrungen unterschiedlicher Personen anerkennen. Ich selbst bin beispielsweise niemals freudvoll erregt über körperliche Gefahr, sondern immer schlicht deprimiert. Aber ich hatte die Erfahrung freudvoller Erregung im Fall der Gefahr für die soziale Position oder Reputation, bei der der Widerwille ein herausragender, aber nicht erkennbar leidvoller Bestandteil eines Zustandes war, der insgesamt ausgesprochen freudvoll war. Eine Erwägung dieser Unterschiede zwischen den Menschen legt einen Hinweis auf die blumige Rhetorik nahe, mit der die polemische Anmerkung von Hrn. Marshall endet. Er sagt: »Um zu verstehen, wie Wünschen und Widerwille irgendjemandem als neutrale Erregungen erscheinen können, muss man ein Ausmaß an ›philosophischer Ruhe‹ postulieren, bei dem das Wünschen in jener ›Apathie‹ verloren geht, nach der die Griechen strebten.«14 Dies scheint mir eine einmalige Ansicht zu sein. Ich hätte ganz im Gegenteil gedacht, dass es derjenige ist, der das Wünschen und den Widerwillen als gleichförmig leidvoll betrachtet, der wahrscheinlich nach jener ›Apathie‹ oder ›philosophischen Ruhe‹ streben wird, in der jedes Wünschen ausgeschlossen ist – und diese falls erreichbar auch erreichen wird. Auf der anderen Seite ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand, dessen Erfahrungen den meinen ähneln, diese Apathie oder Ungestörtheit suchen oder finden wird, da er wahrscheinlich mit Hobbes davon ausgeht, dass »die Glückseligkeit seines Lebens nicht in der Ruhe eines zufriedenen Geistes besteht«15 und dass, selbst wenn wir uns einen Menschen vorstellen können, dessen Wünschen an ein Ende gelangt ist, wir ihn uns nicht als jemanden vorstellen können, der ein gutes Leben führt.

Der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹ 1 1. Zu Beginn dieser notwendigerweise kurzen Abhandlung treffe ich die Annahme, dass allgemeine Einigkeit darüber herrscht, für welche gedanklichen Gegenstände die Prädikate ›sein‹ und ›sein sollen‹ jeweils angemessen sind; obgleich ich im Verlauf der Abhandlung Gelegenheit haben werde, bestimmte abweichende Ansichten zu beiden Punkten zu nennen. Ich nehme weiterhin an, dass das, ›was sein soll‹ sowohl { dasjenige } einschließt, was im Allgemeinen als ›gut‹ beurteilt wird, sofern es durch menschliche Handlungen erreicht werden kann, als auch { dasjenige }, was im Allgemeinen als ›richtig‹ oder als ›die Pflicht‹ eines jeden Menschen beurteilt wird. Natürlich werden ›gut‹ und ›schlecht‹ im Allgemeinen in einem weiteren und weniger strengen Sinne verwendet als ›richtig‹ und ›falsch‹, denn (1) sind die erstgenannten { Ausdrücke } auf Zustände anwendbar, die außerhalb { des Bereiches } dessen liegen, was Menschen erreichen können – { etwa } eine reichhaltige Ernte im nächsten Herbst oder die Grippe im Winter – und (2) können ›Güter‹ miteinander inkompatibel sein; um ein größeres { Gut } zu erreichen, müssen wir möglicherweise ein kleineres opfern. Aber selbst wenn { es } unerreichbar oder unter den gegebenen Umständen nicht zu bevorzugen { ist }, schiene das, was als ›gut‹ beurteilt wird, doch die gleiche Qualität zu haben, die der Ausdruck innerhalb des Bereiches seiner praktischen Anwendbarkeit bezeichnet; ›gut‹ ist dasjenige, was wir pro tanto2 und soweit es in unserer Macht steht, herzustellen oder zu erhalten versuchen ›sollen‹. Zwecks Einfachheit werde ich unter ›gut‹ in dieser Erörterung ›das insgesamt betrachtet höchste Gut‹ verstehen. Und um Komplikationen zu vermeiden, werde ich annehmen, dass das, was insgesamt betrachtet für einen einzelnen Handelnden gut

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ist, auch für die menschliche Gesellschaft insgesamt gut ist – für die Welt lebender Wesen oder für den Kosmos, was auch immer wir als größere Einheit auffassen, deren Teil das Individuum ist, und wovon angenommen wird, dass es ein höchstes Gut hat, das durch menschliche Handlungen vergrößert, verkleinert, befördert oder behindert werden kann. Das heißt, ich werde annehmen, dass das, ›was sein soll‹, vom Standpunkt des Eigeninteresses und von demjenigen der Pflicht aus betrachtet dasselbe ist. Der Begriff ›richtig‹ oder ›Pflicht‹ allerdings ist in ethischen Diskussionen dem allgemeinen moralischen Bewusstsein moderner Menschen – auf das ich mich als den gesunden Menschenverstand beziehen werde – vertrauter als der Begriff des ›höchsten Gutes‹. Aber ich werde es als vom gesunden Menschenverstand zugestanden annehmen, dass vom Standpunkt vollständigen Wissens aus betrachtet die Ausführung einer Pflicht oder einer richtigen Handlung entweder als ein Teil des höchsten Gutes oder als ein Mittel hierzu verstanden werden muss. Was den Begriff der Pflicht oder der richtigen Handlung angeht,3 darf ich annehmen, dass er ein beständig wiederkehrendes Element im Denken einer normalen wohlerzogenen Person über das eigene Leben und das Leben anderer ist. Im Denken solcher Menschen über Pflichten gibt es – wenn sie zusammengenommen und verglichen werden – zweifellos mehr Widersprüche und Uneinigkeiten als in ihren Gedanken über Tatsachen, dennoch überwiegt die Übereinstimmung bei weitem. Abgesehen von solchen Widersprüchen gibt es anerkannte Unterschiede in den Pflichten von Mensch zu Mensch, aber es wird allgemein angenommen, dass diese Unterschiede eine rationale Grundlage haben, so dass die Pflichten von A, recht verstanden, ein auf rationale Weise kohärentes System mit den Pflichten von B bilden. Ein solches System können wir eine ›Welt menschlicher Pflicht‹ nennen, in der jeder Mensch diejenigen Pflichten, die er sich und seinen unmittelbar Nächsten zuschreibt, als einen Teil begreift, den er unendlich viel besser kennt als den Rest; aber er begreift die ganze Welt der Pflicht, nicht weniger als die

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Welt der Tatsachen, als einen Gegenstand menschlichen Wissens – obgleich sich die erstere { Welt der Pflicht } im Hinblick auf das allgemeine, mehr oder weniger stark ausgeprägte Unvermögen der Menschen, ihre Pflicht zu tun, bedauernswerterweise von der letzteren { Welt der Tatsachen } unterscheidet. Der Unterschied ist ähnlich greifbar, wenn wir die ›guten‹ Ergebnisse, die durch das Erfüllen der Pflicht hervorgebracht werden können, mit dem vergleichen, was tatsächlich stattfindet. Von beiden Standpunkten aus beurteilen wir das, ›was sein soll‹, in großem Umfang als ›nicht seiend‹, und wir nehmen seinen Charakter als { das, } ›was sein soll‹ gemeinhin als vollkommen unabhängig davon wahr, ob es tatsächlich so sein wird oder nicht. 2. Dies wirft die Frage auf, ob der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, letztgültig und irreduzibel ist.4 Es erscheint mir vorschnell, Irreduzibilität zu bekräftigen, aber ich bin sicher nicht zufrieden mit irgendeiner vorgeschlagenen Reduktion, die dem wissenschaftlichen Gedankengang folgt, nach welchem eine solche Reduktion gemeinhin versucht wird; d. h. ich glaube nicht, dass das gewünschte Resultat dadurch erreicht werden kann, moralische Urteile von einem psychologischen oder soziologischen Standpunkt aus als Bestandteile des bewussten Lebens von Individuen oder Gemeinschaften oder Rassen zu betrachten. Ohne Zweifel sind moralische Urteile und die sie begleitenden Empfindungen ein Teilbereich psychischer Tatsachen, und wir können sie als solche analysieren und klassifizieren und ihre Ursachen untersuchen, genau wie wir es im Falle jeglicher anderer psychischer Tatsachen tun sollten. Aber solange sie von diesem Standpunkt aus betrachtet werden, scheint es unmöglich, die grundlegende Annahme, nach der sie alle verfahren, zu erklären oder zu rechtfertigen, der zufolge manche dieser Urteile wahr und andere falsch sind und, wenn zwei solche Urteile miteinander konfligieren, eines oder beide falsch sein müssen. Eine Tatsache kann nicht inkonsistent mit einer anderen Tatsache sein; dementsprechend kann von einem psychologischen oder soziologischen Standpunkt aus betrachtetet As Urteil, z. B. dass jegliches Glücksspiel falsch ist, nicht

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mit Bs Urteil, dass manche Glücksspiele richtig sind, konfligieren. Die Frage, welches wahr ist, stellt sich nicht und hätte keine Bedeutung. Die Reduktion von Pflicht auf Tatsache beraubt daher den ethischen Gedanken, wenn sie diesem Gedankengang entsprechend strikt durchgeführt wird, seiner grundlegenden Wichtigkeit und seines Interesses. Es kann vielleicht entgegnet werden, dass ich bei diesem Argument die Begriffe des Lebens und der Entwicklung und ihren Platz in Psychologie und Soziologie nicht berücksichtigt habe; und dass die Wissenschaften in diesem Bereich, weil sie über diese Begriffe verfügen, nicht nur bestimmte Ähnlichkeiten und allgemeine Gesetze der Koexistenz und des Wandels bestimmen, sondern hierbei auch die Vorstellung eines Zieles hervorbringen, auf das hin psychische und soziale Veränderungen als Mittel bezogen und in Bezug auf welches alleine sie wirklich verständlich sind; und dass dieses Ziel die erforderliche Reduktion von { dem, } ›was sein soll‹, auf { das, } was ist, zur Verfügung stellt. Denn in diesem Ziel – verschiedentlich verstanden als lebenswichtige oder soziale ›Gesundheit‹ oder ›Equilibrium‹ oder ›Leben bemessen in seiner Breite sowie Länge‹ – haben wir (so wird gedacht) ein Kriterium für die Wahrheit und Falschheit moralischer Urteile: Wenn die Handlungen, die sie befürworten, diesem Ziel dienen, können { die Urteile } als wahr oder normal zählen, wenn nicht, als falsch oder abnormal. Hierauf antworte ich, dass ›Ziel‹ als ein biologischer oder sozialer Begriff zweifellos für praktische Zwecke als durch {›}ethisches Ziel{‹} ersetzbar angesehen werden kann, aber dass dies nur durch ein ethisches Urteil geschehen kann, welches das Zusammenfallen der beiden bekräftigt: Die beiden Begriffe bleiben grundlegend verschieden, doch wenn beteuert wird, dass sie miteinander übereinstimmen, laufen sie zweifelsohne Gefahr, verwechselt zu werden. Aus dem bloßen Wissen, dass ein bestimmtes Ergebnis sein wird oder die überwiegende Tendenz hat zu sein, kann unmöglich gefolgert werden, dass es sein soll. Insofern es unvermeidlich ist, kann ich offenkundig keine diesbezügliche Pflicht haben; insofern sein Eintreten befördert oder

Der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹

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behindert werden kann, ist es meine Pflicht, es zu befördern, wenn ich es im Vergleich zu dem, was an seiner Stelle eintreten würde, für gut halte, und es zu behindern, wenn ich es für vergleichsweise schlecht halte. Vielleicht darf ich als Grund dafür, warum dies oft nicht klar erkannt wird, anführen, dass in Begriffen wie ›soziale Wohlfahrt‹ oder ›soziale Gesundheit‹, wenn sie das gesellschaftliche Ziel bezeichnen, die ethische Vorstellung insgeheim mitschwingt; sie sind Zustände, die implizit als gut beurteilt worden sind. 3. Wenn ich mich, bevor ich die Frage beantworte, ob der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ir­ reduzibel ist, vom Standpunkt der Wissenschaft demjenigen der Philosophie oder Erkenntnistheorie zuwende, muss ich wissen, was genau mit ›Reduktion‹ gemeint ist. Wird der Unterschied zwischen zwei Dingen lediglich durch das Entdecken zuvor unbekannter Ähnlichkeiten zwischen ihnen reduziert? Wir können z. B. den Kreis und die Parabel vergleichen ohne zu wissen, dass beide Querschnitte des Kegels sind. Sollten wir sagen, dass der Unterschied zwischen ihnen, der durch diesen Vergleich bekräftigt wird, durch die Entdeckung ihrer gemeinsamen Beziehung zum Kegel reduziert wird? Falls ja, { so } denke ich, muss zugegeben werden, dass diese Art von ›Reduktion‹ stattfindet, wenn wir den Unterschied zwischen { dem, } ›was ist‹, und { dem, } ›was sein soll‹, von einem philosophischen oder erkenntnistheoretischen Standpunkt aus betrachten. Denn von diesem Standpunkt aus betrachten wir die Welt der Pflicht und die Welt der Tatsachen gleichermaßen als Gegenstände des Denkens und des wahren oder angenommenen Wissens und entdecken ähnliche gedankliche Beziehungen in beiden { Welten } – Beziehungen vom Allgemeinen hin zum Besonderen und hin zu individuellen Vorstellungen und Urteilen, von der induktiven hin zur deduktiven Methode, etc. Welche Unterschiede auch immer zwischen den beiden { Welten } von diesem Standpunkt aus erscheinen, sie sind von untergeordneter Art und nicht größer als die Unterschiede zwischen verschiedenen Bereichen der Tatsachen, wenn man sie als Gegenstände des Denkens und der

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Das Gute

wissenschaftlichen Methode betrachtet. Es stimmt, dass, wenn wir dem gesunden Menschenverstand folgen, der grundlegende Gegensatz bestehen bleibt, wonach der Unterschied zwischen ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ in unseren Gedanken über das Seiende im Wesentlichen für abhängig von der Übereinstimmung oder der fehlenden Übereinstimmung zwischen Gedanke und Tatsache gehalten wird, während im Fall dessen, ›was sein soll‹, Wahrheit und Falschheit nicht als von irgendeiner ähnlichen Beziehung abhängig aufgefasst werden können, außer gemäß einer bestimmten theologischen Auffassung der Pflicht, die ich in Kürze betrachten werde. Dennoch, selbst dieser Unterschied wird schließlich reduziert, wenn wir den philosophischen Standpunkt einnehmen; weil von diesem Standpunkt aus die angenommene Übereinstimmung zwischen dem Gedachten und dem, was nicht gedacht wird, nicht mehr länger so einfach und verständlich ist, wie es dem gesunden Menschenverstand erscheint. Es muss als schwieriges Problem anerkannt werden, welche Lösung auch immer man schließlich { dafür } akzeptiert. Es muss anerkannt werden, dass selbst im Fall unseres Denkens über das Seiende – obgleich der Irrtum im Fehlen einer Übereinstimmung zwischen Gedanke und Tatsache liegen mag – { das Vorliegen des Irrtums } nur gezeigt und bekräftigt werden kann, indem man die Inkonsistenz zwischen Gedanke und Gedanke aufzeigt, d. h. genau wie ein Irrtum im Fall unseres Denkens über das Sollen gezeigt wird. Vielleicht kann der Unterschied zwischen { dem, } ›was ist‹, und { dem, } ›was sein soll‹, auch vernünftigerweise für relativ gering gehalten werden, wenn wir, zusammen mit diesen beiden, über verschiedene Formen dessen, ›was sein kann‹, oder { dessen, } ›was hätte sein können‹, als Gegenstände mehr oder weniger kohärenten Denkens für wissenschaftliche oder künstlerische Zwecke nachdenken. 4. Letztlich muss ich noch eine weitere Methode der ›Reduktion‹ zur Kenntnis nehmen, die auf den ersten Blick plausibel ist und die dem gesunden Menschenverstand nähersteht als die philosophische. Sie geht von der theologischen Annahme aus,

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dass die wahren Regeln der Pflicht göttliche Gebote sind – ob sie nun durch externe Offenbarung oder durch das Gewissen des Individuums gewusst werden. Solche Gebote können, wie behauptet wird, einem bestimmten moralischen Akteur unvollständig bekannt sein, entweder ohne seine Schuld – in welchem Fall ihre Nicht-Erfüllung entschuldigt sein wird – oder durch willentliche Missachtung einer bekannten Pflicht in der Vergangenheit, was das Eintrüben seiner moralischen Einsicht zur Folge hatte; aber in jedem Fall sind solche Gebote geäußert worden und müssen als Teil der allgemeinen Tatsachen betrachtet werden. Ich denke jedoch, dass diese Reduktion versagt, wenn wir sie ausarbeiten. Erstens können wir ein göttliches Gebot nicht definieren wie ein menschliches Gebot – als einen Wunsch in Verbindung mit einer Drohung –, da wir Gott keinen unerfüllten Wunsch zuschreiben können. Sollen wir es dann einfach als Drohung auffassen? Dies würde klarerweise dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen, welcher Gott nicht nur als einen ›allmächtigen Herrscher‹, sondern auch als rechtschaffenen Herrscher versteht, der in Übereinstimmung mit einer Norm des Rechts gebietet. Aber dann taucht der Unter­schied, den wir betrachten, in der Form eines Gegensatzes zwischen der Norm des Rechts im göttlichen Geist und der göttlichen Macht als in der Welt der Tatsachen manifestiert wieder auf; und indem er auftaucht, bringt er das gefürchtete Pro­blem der Existenz des Bösen mit sich, da wir unweigerlich fragen, warum Gottes Macht nicht die vollständige Verwirklichung des idealen Richtigen und Guten verursacht. Diese Frage hat verschiedene Antworten erhalten, aber es ist schwierig, eine Antwort zu finden, die den Unterschied zwischen { dem, }, ›was ist‹, und { dem, } ›was sein soll‹, nicht unreduziert bestehen lässt.

Z U R DEUT SCH EN E TH I K

Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik: Kant, post-kantische Ethik, Hegel, Deutscher Pessimismus, Schopenhauer und Hartmann 1

Der Einfluss der deutschen – wie der französischen – Philosophie auf das englische ethische Denken ist bis vor kurzer Zeit verhältnismäßig unbedeutend gewesen. Zwar scheint im 17. Jahrhundert in Oxford und anderswo die Abhandlung von Pufendorf über das Naturrecht, in welcher die allgemeinen Ansichten von Grotius – teilweise mit der Absicht, einen Kompromiss mit der neuen Lehre von Hobbes herbeizuführen – mit Modifikationen erneut formuliert wurden, sehr viel gelesen worden zu sein.2 Locke zählt sie zu den Büchern, die für die umfassende Erziehung eines Ehrenmanns notwendig sind. Die anschließende Entwicklung der Theorie des Verhaltens3 in Deutschland wurde jedoch von den Engländern beinahe vollständig ignoriert. Selbst das lange Zeit dominierende System Wolffs († 1754), welches durch seine sorgfältig ausgeführte und geschlossene Konstruktion beeindruckt, war unseren am besten informierten Autoren kaum bekannt. Auch scheint es nicht der Fall gewesen zu sein, dass der größere Ruhm und der stärker dominierende Genius von Kant zu sorgfältigem Studium seines ethischen Systems durch englische Moralisten führte. Das änderte sich erst rund fünfzig Jahre nach dessen Erscheinen.* Den*

 Kants wertvollste ethische Abhandlungen, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft, wurden 1785 bzw. 1788 publiziert. Im Jahre 1830 veröffentlichte Sir James

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noch wurde seine grundlegende ethische Lehre von einem der außergewöhnlichsten und interessantesten Vorreiter des englischen Denkens in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, dem Poeten und Philosophen Coleridge, früh und begeistert aufgenommen. Später finden wir deutliche Spuren kantischen Einflusses bei Whewell und anderen Autoren der Schule des Intuitionismus; und das beständig anwachsende Interesse an den Produkten des deutschen Geistes, welches Engländer in den letzten vierzig Jahren gezeigt haben, hat dazu geführt, dass die Werke von Kant so allgemein bekannt sind, dass das vorliegende Werk ohne eine Darstellung seiner ethischen Lehren offenkundig unvollständig wäre. Der englische Moralist, zu dem Kant die größte Affinität aufweist, ist Price. Tatsächlich nimmt der Kantianismus im ethischen Denken des modernen Europas eine Stellung ein, welche derjenigen, die die Lehre von Price und Reid für uns einnimmt, ungefähr entspricht. Kant geht wie diese Denker davon aus, dass der Mensch als ein rationales Wesen bedingungslos daran gebunden ist, im Einklang mit einer bestimmten Regel des Richtigen, einem »kategorischen Imperativ« der Vernunft, zu handeln. Wie Price behauptet er, dass eine Handlung nicht gut ist, solange sie nicht aufgrund eines guten Motives ausgeführt wird, und dass dieses Motiv grundverschieden sein muss von einer natürlichen Neigung welcher Art auch immer; Pflicht muss, um Pflicht zu sein, um der Pflicht willen getan werden. Und er argumentiert mit größerer Feinsinnigkeit als Price oder Reid dafür, dass die moralische Freude (oder das moraliMackintosh in der Encyclopedia Britannica seine Dissertation über den Fortschritt der ethischen Philosophie; und die Sprache, in welcher dieser versierte Autor über Kants ethische Lehre spricht, zeigt an, dass diese ihren Weg nicht einmal in das Denken kultivierter Engländer wirklich gefunden hatte. Im Jahre 1836 leitete Hrn. Semples Übersetzung der ethischen Hauptwerke Kants die neue Periode größerer Vertrautheit ein. { Sidgwick nennt im Original die Titel der Werke Kants in deutscher Sprache. John William Semple veröffentlichte 1836 eine Übersetzung der Meta­physik der Sitten.}

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sche Leid), wenngleich eine tugendhafte Handlung ohne Zweifel für den tugendhaft Handelnden angenehm und jede Verletzung der Pflicht leidvoll ist, grundsätzlich nicht das Motiv der Handlung sein kann, da sie der Anerkennung unserer Pflicht, die Handlung auszuführen, folgt, anstatt dieser vorauszugehen.* Mit Price wiederum ist er der Ansicht, dass die Richtigkeit der Intention und des Motivs nicht nur eine unverzichtbare Bedingung oder ein unverzichtbares Element der Richtigkeit einer Handlung ist, sondern überhaupt der einzige bestimmende Faktor ihres moralischen Wertes. Aber mit größerer philosophischer Konsistenz zieht er den Schluss – von welchem der englische Moralist nicht geträumt zu haben scheint –, dass es keine gesonderten rationalen Prinzipien zur Bestimmung der »materialen« Richtigkeit des Verhaltens geben kann, die von dessen »formaler« Richtigkeit getrennt sind; und dass deswegen von ­allen Regeln der Pflicht, insofern sie allgemein bindend sind, zugegeben werden muss, dass sie sich als Anwendungen *

  Es ist bemerkenswert genug, dass der englische Autor, der sich Kant in diesem Punkt am stärksten nähert, der Utilitarist Godwin in seinem Buch Political Justice ist. Nach Godwins Ansicht ist die Vernunft das angemessene Motiv für Handlungen, die dem allgemeinen Glück zuträglich sind: Die Vernunft zeigt mir, dass das Glück einer Anzahl anderer Menschen einen größeren Wert als mein eigenes hat, und das Erkennen dieser Wahrheit verschafft mir zumindest einen Anreiz, ersteres letzterem vorzuziehen. Und angenommen, man antwortet darauf, dass das Motiv in Wahrheit das moralische Unbehagen ist, welches mit der Wahl der egoistischen Alternative einhergeht, so antwortet Godwin, dass dieses Unbehagen, wenn auch eine »andauernde Stufe« im Prozess des Willens, so doch lediglich eine »zufällige Stufe« ist. – »Ich empfinde Leid beim Verwerfen einer mildtätigen Handlung, weil Mildtätigkeit von mir selbst beurteilt wird als ein Verhalten, das zu übernehmen mir gut ansteht.« { Godwin 1793, An Enquiry concerning Political Justice, Buch IV, Kap. VIII, S. 352: »Granting that pain in a certain modified degree is a constant step in the process, it may nevertheless be denied that it is in the strictest sense of the word indispensible. […] Why do I feel pain in the neglect of an act of benevolence, but because benevolence is judged by me to be a conduct which it becomes me to adopt[.]?«}

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des ­einen allgemeinen Prinzips, dass Pflicht um der Pflicht willen getan werden muss, darstellen lassen. Der dafür notwendige Beweis wird wie folgt gewonnen. Die Gebote der Vernunft, so betont Kant, müssen notwendigerweise an alle rationalen Wesen als solche gerichtet sein. Aus diesem Grund kann meine Absicht nicht richtig sein, wenn ich nicht bereit bin zu wollen, dass das Prinzip, nach welchem ich handle, ein universelles Gesetz ist: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz ­werde.«4 Dies, so behauptet Kant, liefert ein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung aller konkreten Pflichten; denn: »Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden […], das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vorteil unserer Neigung, davon eine Ausnahme zu machen.«5 Diese Regel schließt falsches Verhalten mit zwei Graden an Strenge aus. Manche Arten der Immoralität – wie zum Beispiel das Geben von Versprechen mit der Absicht, diese zu brechen – können wir uns universalisiert nicht einmal vorstellen. So bald ein jeder sich selbst als frei ansehen würde, seine Versprechen zu brechen, würde sich niemand mehr dafür interessieren, von anderen Versprechen entgegenzunehmen. Andere Maximen, wie die, Personen in Notlagen sich selbst zu überlassen, können wir uns leicht als universelle Gesetze vorstellen, aber wir können nicht ohne Widerspruch wünschen, dass sie solche sind; denn wenn wir selbst in Not sind, können wir nicht anders als wünschen, dass andere uns helfen. Eine andere wichtige Besonderheit der Lehre Kants ist seine Entfaltung des Zusammenhangs zwischen Pflicht und freiem Willen. Er ist der Ansicht, dass es unser moralisches Bewusstsein ist, durch welches wir die rationale Überzeugung gewinnen, dass wir frei sind. In der Erkenntnis, dass ich das tun soll, was richtig ist, weil es richtig ist und nicht, weil es mir gefällt, ist inbegriffen, dass dieser rein rationale Wille möglich ist; dass

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mein Handeln nicht »mechanisch« durch die unumgängliche Tätigkeit der natürlichen Anreize angenehmer und schmerzhafter Empfindungen, sondern in Übereinstimmung mit den Gesetzen meines wahren, vernünftigen Selbst bestimmt werden kann. Die Realisierung der Vernunft oder des menschlichen Willens, insofern er rational ist, erweist sich selbst als absolutes Ziel der Pflicht; und so gewinnen wir als eine neue Formulierung der fundamentalen praktischen Regel: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«6 Wir können auch beobachten, dass diese Vorstellung der Freiheit die Ethik auf einfache und eindrucksvolle Weise mit der Jurisprudenz verbindet. Das grundlegende Ziel der Jurisprudenz besteht darin, äußere Freiheit durch die Beseitigung der Hindernisse zu realisieren, die der freien Handlung eines jeden durch die Eingriffe anderer Willen auferlegt sind. Ethik auf der anderen Seite beschäftigt sich mit der Realisierung innerer Freiheit* durch die entschlossene Verfolgung rationaler Zwecke im Gegensatz zu denen natürlicher Neigung. *

  Ich habe mich im Text darum bemüht, die Schwierigkeit zu umgehen, die ich bei dem Versuch, diesen Teil der Lehre Kants klar und konsistent darzustellen, bemerke. Aber vielleicht sollte ich offen erklären, dass seine Konzeption des freien Willens meiner Ansicht nach eine Verwirrung zwischen zwei Vorstellungen von der Freiheit, die ich in § 18 unterscheide, zu enthalten scheint: (1) Die Freiheit, die nur durch richtige Handlungsweisen realisiert wird, wenn die Vernunft erfolgreich den Verlockungen der Begierde oder Leidenschaft widersteht; und (2) die Freiheit zwischen richtig und falsch zu wählen, welche bei beiden Wahlmöglichkeiten gleichermaßen realisiert wird. Es ist Freiheit im letztgenannten, nicht im erstgenannten Sinne, welche Libertäre gewöhnlich für mit moralischer Verantwortung untrennbar verbunden angesehen haben. { Mit »§ 18« verweist Sidgwick hier auf den § 18 des IV. Buches seiner Outlines of the History of Ethics (51902), S. 260  ff. Sidgwick erläutert diese Kritik an Kant näher in seinem Text »Die kantische Konzeption des freien Willens«, der in diesem Band enthalten ist. »Libertäre« (libertarian) ist hier im Sinne der Philosophie des Geistes und nicht im Sinne der gleichnamigen Theorietradition in der politischen Philosophie zu lesen.}

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Wenn wir fragen, was genau die Zwecke der Vernunft sind – wobei mit »Zweck« ein Resultat gemeint ist, welches man versucht, durch Handeln herzustellen – vermag Kants Behauptung, dass »alle rationalen Wesen als solche für jedes rationale Wesen Zwecke an sich sind« schwerlich eine klare Antwort zu geben.7 Man könnte dies in dem Sinne interpretieren, dass der Zweck, welcher praktisch verfolgt werden soll, schlichtweg in der Entwicklung der Rationalität aller rationalen Wesen – wie etwa Menschen – besteht, die bisher nur in unvollkommener Weise rational sind. Aber das ist nicht die Ansicht Kants. Zwar behauptet er, dass jeder Mensch danach streben sollte, sich selbst zum bestmöglichen Instrument der Vernunft zu machen, indem er seine natürlichen Fähigkeiten und seine moralische Gesinnung kultiviert. Er bestreitet aber ausdrücklich, dass die Vervollkommnung anderer einem jeden ebenso als Zweck vorgeschrieben werden kann. Es ist, sagt er, »ein Widerspruch, eines anderen Vo l l k o m m e n h e i t mir zum Zweck zu machen und mich zu deren Beförderung für verpflichtet zu halten. Denn darin besteht eben die Vo l l k o m m e n h e i t eines anderen Menschen, als einer Person, daß er s e l b s t vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas tun soll, was kein anderer als er selbst tun kann.«8 In welchem praktischen Sinn soll ich andere rationale Wesen dann zu meinem Zweck machen? Kants Antwort lautet, dass das, wonach jeder in Bezug auf die anderen streben sollte, nicht Vollkommenheit ist, sondern Glück. Jeder soll anderen beim Erreichen jener rein subjektiven Zwecke helfen, welche für jeden nicht durch die Vernunft, sondern durch natürliche Neigung festgelegt werden. So mahnt Kant: »Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll, auch soviel möglich meine Zwecke sein.«9 An anderer Stelle erklärt er,10 dass das Streben nach dem eigenen Glück nicht als eine Pflicht vorgeschrieben werden kann, da dies ein Zweck ist, zu dem jeder Mensch unweigerlich durch natürliche Neigung getrieben

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wird. Aber gerade weil jeder unausweichlich nach seinem eigenen Glück strebt und deswegen wünscht, dass andere ihm in Zeiten der Entbehrung helfen, ist er verpflichtet, das Glück anderer zu seinem eigenen ethischen Zweck zu machen, da er ­moralisch gesehen nicht von anderen Hilfe einfordern kann, ohne die Verpflichtung zu akzeptieren, ihnen in ähnlichen Fällen zu helfen. Der Ausschluss des eigenen Glücks aus den Zwecken, nach denen zu streben man verpflichtet ist, steht auf den ersten Blick in auffallendem Gegensatz zur Ansicht von Butler und Reid, der zufolge der Mensch als ein rationales Wesen unter der »offenkundigen Pflicht« steht, seine eigenen Interessen zu verfolgen. Jedoch ist die Differenz nicht wirklich so groß wie sie zu sein scheint; da Kant in seiner Darstellung des summum ­bonum oder des höchsten Gutes implizit die Vernünftigkeit der Sorge des Individuums um sein eigenes Glück anerkennt. Lediglich ist es nach Kants Ansicht nicht einfach das Glück, welches eine wirklich rationale Selbstliebe erstrebt, sondern das Glück unter der Bedingung, seiner moralisch auch wert zu sein. Denn obwohl Pflicht um der Pflicht willen getan werden muss und nicht als Mittel zum Glück des Handelnden dient, ist Kant der Ansicht, dass wir dies { Pflicht um der Pflicht willen} ratio­ naler­weise nicht tun könnten, wenn wir nicht hoffen würden, dadurch Glück zu gewinnen: Denn das höchste Gut für den Menschen* ist weder Tugend noch Glück allein, sondern eine moralische Welt, in der das Glück dem Verdienst entsprechend verteilt ist. Und Kant behauptet, dass wir durch Vernunft daran gebunden sind, uns selbst als notwendigerweise e­ iner solchen Welt angehörig wahrzunehmen, die von einem weisen Schöpfer und Herrscher regiert wird, da ohne eine solche Welt »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung [sind].«11 Wir müssen daher eine kosmische *

  Das absolut höchste Gut ist die Einheit des vollständig guten oder vernünftigen Willens mit vollkommener Glückseligkeit, so wie sie nach weitverbreiteter Vorstellung in der göttlichen Existenz gegeben ist.

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Ordnung annehmen, in der die Forderung nach einem durch Pflicht verdienten Glück Erfüllung findet; und das bedeutet den Glauben an Gott und an ein Jenseits. Die Gewissheit dieser Überzeugung beruht jedoch allein auf { einer } ethischen Grundlage. Denn die Welt der Natur, wie sie jedem von uns bekannt ist, ist nach Kants metaphysischer Lehre nur ein Komplex von Eindrücken der menschlichen Sinnlichkeit, die von der selbstbewussten Intelligenz, die sie erfasst, zu einer Welt von Gegenständen möglicher Erfahrung zusammengesetzt wird. Von daher können wir kein Wissen sowie keine Erfahrung von den Dingen haben, wie sie an sich sind. Wenngleich jeder von uns durch sein moralisches Bewusstsein weiß, dass er selbst einer übersinnlichen Welt angehört, weiß er doch nichts über die Natur dieser Welt. Er weiß, dass er mehr als eine bloße Erscheinung ist, aber nicht, was er ist. Dementsprechend ist Kant zufolge meine Gewissheit für das spekulative Wissen nicht verfügbar, obwohl ich rational die Gewissheit haben kann, dass es einen Gott und ein Nachleben gibt: Theoretisch kann ich diese Überzeugungen nicht als wahr erweisen, aber ich muss sie für die Praxis postulieren, um das rational erfüllen zu können, was ich durch die praktische Vernunft als »kategorisch« geboten ­erkenne. Noch vor Kants Tod (1804) hatte derjenige englische Denker Kant zu lesen begonnen, der für mehr als eine Generation der Hauptvertreter deutscher Tendenzen im philosophischen Denken auf unserer Insel war.* Dennoch hatte, als Coleridges Studium Kants begann, die schnelle und bemerkenswerte Entwicklung der metaphysischen Auffassung und Methode, deren drei Hauptstufen jeweils durch Fichte, Schelling und ­Hegel re*

  Dieser Blick auf Coleridge ist deutlich erkennbar in einem E ­ ssay von J. S. Mill (1840) über Coleridge, in welchem Wendungen wie »Cole­ ridge und die Deutschen«, die »Deutsch-Coleridgeanische Lehre« wiederholt verwendet werden. { Mill 1969, Essay on Coleridge, S. 129: »Cole­ ridge and the Germans«; S. 125: »Germano-Coleridgian doctrine«; S. 138, 141: »Germano-Coleridgian school«.}

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präsentiert werden, bereits ihre zweite Stufe erreicht. Der subjektive Idealismus Fichtes war in einer Reihe von Abhandlungen entwickelt und von Kant ausdrücklich zurückgewiesen worden; und die Philosophie Schellings beanspruchte die eifrige Aufmerksamkeit aller deutschen Studenten der Metaphysik. Eine Konsequenz dessen war, dass der von Coleridge teilweise angeeignete Kant der durch die Vermittlung Schellings gesehene Kant war – ein Kant, von dem nicht angenommen werden konnte, »dass er mit seinem Noumenon oder Ding an sich nicht mehr gemeint hat als seine bloßen Worte ausdrücken«;* ein Kant, von dem in Wirklichkeit geglaubt werden musste, dass er durch seine praktischen Überzeugungen von Pflicht und Freiheit jenes spekulative Verständnis der wesentlichen Geistigkeit der menschlichen Natur erlangt hatte, welches seine Sprache zurückzuweisen schien. Wenngleich also der dem englischen Geist durch Coleridge verworren vermittelte deutsche Einfluss von seiner metaphysischen Seite her betrachtet eher nach-kantisch als kantisch war, kann dasselbe nicht von seiner strikt ethischen Seite gesagt werden. Das einzig erkennbare deutsche Element in den lückenhaften ethischen Äußerungen Coleridges ist rein kantisch.** Auch ist mir nicht bekannt, dass an anderer Stelle im englischen ethischen Denken irgend*

  Vgl. Coleridge, Biographia Literaria (1817), Bd. I, S. 145  f. { Vgl. Coleridge 1907, Biographia Literaria, Essay IX, S. 100: »In spite therefore, of his own declarations, I could never believe, that it was possible for him to have meant no more by his Noumenon, or Thing in Itself, then his mere words express.« Die bibliographische Angabe Sidgwicks scheint falsch zu sein.} **   So bekundet er in Friend, Bd. I, S. 340 (ursprünglich 1809 erschienen) eine uneingeschränkte Anlehnung an Kants grundlegende Lehre: »Handle also so, dass du, ohne dass es irgendeinen Widerspruch zur Folge hat, in der Lage bist zu wollen, dass die Maxime deines Handelns das Gesetz aller intelligenten Wesen ist – dies ist das eine universelle und hinreichende Prinzip und die eine Richtschnur der Moralität.« { Vgl. Coleridge 1863, The Friend, 1. Abt., Essay IV, S. 215: »So act that thou mayest be able, without involving any contradiction, to will that the maxim of thy conduct should be the law of all intelligent b[B]eings – is the one uni-

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eine Spur der besonderen Lehren Fichtes oder Schellings oder irgendeines anderen nach-kantischen deutschen Autors gefunden werden kann, bevor der Einfluss Hegels im dritten Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts augenfällig wurde.* Hegels ethische Lehre (hauptsächlich dargelegt in seiner Philosophie des Rechts, 1821)12 lässt eine große Affinität und auch einen auffälligen Kontrast zur Lehre Kants erkennen. Er ist mit Kant der Meinung, dass Pflicht oder gutes Handeln in der bewussten Realisierung des freien, vernünftigen Willens besteht, der im Wesentlichen bei allen rationalen Wesen derselbe ist. Aber nach Kants Ansicht ist der allgemeine Gehalt dieses Willens allein in der formalen Bedingung »nur so zu handeln, wie man sich wünschen kann, dass alle handeln«13 gegeben, welche subjektiv durch jeden rational Handelnden auf seinen eigenen Willen anzuwenden ist; während bei Hegel der allgemeine Wille als jedem Menschen in den Gesetzen, Institutionen und der gebräuchlichen Moral der Gemeinschaft, deren Mitglied er ist, objektiv dargestellt begriffen wird. So ist es seiner Ansicht nach erforderlich, nicht nur den natürlichen Neigungen zur Freude oder dem Wunsch nach eigennützigem Glück, sondern sogar der Aufforderung des eigenen Gewissens – dem Impuls, das zu tun, was einem richtig erscheint – moralisch zu widerstehen, wenn letzteres mit dem gesunden Menschenverstand der eigenen Gemeinschaft in Konflikt gerät. Es stimmt, dass Hegel das bewusste Bemühen um die Realisierung der eigenen Konzeption des Guten für eine höhere Stufe der moralischen Entwicklung hält als die bloße Konformität zu jenen juridischen Regeln, welche das Eigentum begründen, die Einhaltung von Verträgen sichern und Strafen für Verbrechen zumessen, und in welchen sich der allgemeine Wille zuerst ausdrückt. Denn in einer versal and sufficient principle and guide of morality.« Die bibliographische Angabe Sidgwicks scheint falsch zu sein.} *   Als Beginn der Sichtbarwerdung des Einflusses Hegels kann, so glaube ich, die Veröffentlichung von Hrn. J. H. Stirlings bemerkenswertem Buch Secret of Hegel (1865) gelten. { Vgl. das Literaturverz.}

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solchen Konformität ist dieser Wille lediglich durch die äußere Übereinstimmung der individuellen Willen zufällig erreicht und in keinem dieser Willen in Wirklichkeit realisiert. Dennoch ist er der Meinung, dass diese gewissenhafte Anstrengung selbsttäuschend und vergeblich, ja sogar die eigentliche Wurzel des moralischen Übels ist, solange ihre Realisierung nicht in Einklang mit den objektiven sozialen Beziehungen, in welche sich das Individuum eingebunden sieht, erreicht wird. { Die Anstrengung ist vergeblich}, solange das Individuum die ethische Substanz, welche sich ihm in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich im Staat darbietet, dessen Organisation die höchste Erscheinungsform der allgemeinen Vernunft in der Sphäre des Praktischen ist, nicht als sein eigenes Wesen anerkennt. Heutzutage erscheint der Hegelianismus als ein ausgeprägtes Element im englischen ethischen Denken – der englische Transzendentalismus, wie er in § 17 beschrieben wurde,14 könnte als kantisch-hegelianisch charakterisiert werden. Jedoch ist der direkte Einfluss des Systems von Hegel vielleicht von geringerer allgemeiner Bedeutung als der indirekte Einfluss, der durch die wirkmächtige Anregung ausgeübt wurde, die von ihm für die Erforschung der historischen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Gesellschaft ausging. Hegel zufolge ist das Wesen des Universums ein Prozess des Denkens, der vom Abstrakten zum Konkreten fortschreitet; und ein richtiges Verständnis dieses Prozesses verschafft uns den Schlüssel zur Interpretation der in der Zeit sich vollziehenden Evolution der europäischen Philosophie. Die Geschichte der Menschheit ist somit seiner Ansicht nach eine ­Geschichte der notwendigen Entwicklung des freien Geistes durch die verschiedenen Formen politischer Organisation hindurch: Die erste Form ist die der orientalischen Monarchie, in welcher dem Monarchen ­allein Freiheit zukommt; die zweite die der griechisch-römischen Republiken, in welchen eine erlesene Gruppe freier Bürger auf der Grundlage der Sklaverei erhalten wird; während schließlich in den modernen Gesellschaf-

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ten, die von der teutonischen Invasion des im Verfall begriffenen römischen Reiches her ihren Ausgang nehmen, Freiheit als natürliches Recht aller Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt ist. Die Wirkung der posthum edierten Vorlesungen, in welchen Hegels Philosophie der Geschichte und die Geschichte der Philosophie dargelegt wurden,15 hat sich weit über die Grenzen seiner eigenen Schule hinaus erstreckt; in der Tat ist die gegenwärtige Vorherrschaft der historischen Methode in allen Disziplinen der Theorie des Praktischen in nicht geringem Maße dem Einfluss dieser Ideen geschuldet. Es wurde bereits angemerkt,* dass sich im Gegensatz zum Evolutionistischen Optimismus solcher Autoren wie ­Spencer im englischen Denken der jüngsten Zeit zaghaft eine pessimistische Sicht auf das animalische Leben insgesamt und auf das menschliche Leben als dessen höchster Stufe gezeigt hat. In einem einigermaßen vergleichbaren Gegensatz zu den verschiedenen Arten des Evolutionistischen Optimismus, welcher dem nach-kantischen Idealismus im Allgemeinen und insbesondere dem System Hegels innewohnt, steht der Pessimismus Schopenhauers. Während Schopenhauer von Kant die Lehre übernimmt, dass die uns in der Erfahrung zugängliche objektive Welt ganz und gar aus den durch die menschliche Sinnlichkeit gelieferten Elementen konstruiert ist, welche nach den Gesetzen des erfahrenden Geistes zusammengesetzt werden, weicht er vom Kantianismus in seiner Konzeption des Dinges an sich, welches auf unsere Sinnlichkeit einwirkt, ab. Seiner Ansicht nach ist es der eine Wille, der das innerste Wesen eines jeden Dinges und die Totalität von Dingen ausmacht. Dieser Wille strebt eben aufgrund seiner Natur blind nach seiner Manifestation und Objektivierung; die mechanischen und chemischen Kräfte der anorganischen Welt, die Handlungen lebender Organismen, von den untersten an aufwärts, stellen verschie*

  Siehe S. 258. { Sidgwick verweist an dieser Stelle auf die S. 258 seiner Outlines of the History of Ethics (51902), d. h. auf das Kapitel über zeitgenössische evolutionäre Ethik (u. a. Spencer).}

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dene Stufen dieser Objektivierung dar, welche in Organismen, die mit einem Gehirn ausgestattet sind und daher Bewusstsein besitzen, ihren höchsten Grad erreicht. Da er sich in lebendigen Wesen manifestiert, kann dieser Wille eindeutiger als der Wille oder das Streben nach Leben verstanden werden: Dieser instinktive Impuls zum Leben ist das tiefste Wesen aller animalischen Natur. Da jedoch dieses Streben notwendigerweise Mangel und Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Bedingungen beinhaltet, ist das Leben, welches dadurch konstituiert und erhalten wird, im Wesentlichen ein leidendes Leben. Selbst die kurzfristigen Befriedigungen, mit welchen es eingefärbt ist, sind in Wirklichkeit Befreiungen vom Leid und kein positives Gut. Das dem Leben wesentliche Elend erreicht seinen Höhepunkt im Menschen, der am weitesten fortgeschrittenen Manifestation des Willens. Dieses Elend wird notwendigerweise durch den intellektuellen Fortschritt vermehrt, auch wenn dies zu dem führt, was Schopenhauer als reinste Form menschlicher Befriedigung ansieht: die geruhsame Betrachtung der Schönheit. Angesichts dieses unglücklichen Zustandes der Dinge ist die Pflicht, auf welche die Philosophie den Menschen aufmerksam macht, lediglich die Verneinung oder Ablehnung des Willens; hierin ist alle wahre Moralität zusammengefasst. Es gibt zwei Stufen einer solchen Ablehnung: Die unterste ist diejenige, welche mit der gewöhnlichen Tugend erlangt wird. Diese ist im Wesentlichen Liebe und Mitleid, welche auf der Anerkennung der wirklichen Identität eines jeden Ichs mit allen anderen beruht. Der tugendhafte Mensch unterdrückt und verneint den Egoismus, aus welchem alle Ungerechtigkeit entspringt, und welcher die Bejahung des Willens in einem Individuum ist, die aggressiv auf die Manifestation desselben Willens in einem anderen Individuum übergreift. Doch das gewöhnliche tugendhafte oder mitfühlende Handeln hat sich noch nicht vom fundamentalen Fehler der Bejahung des Willens zum Leben befreit. Die vollständige Ablehnung dieses Willens wird nur durch die asketische Selbstmortifikation erreicht,16 die zur vollständigen Abwendung von den trügerischen Freuden des Lebens führt

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und sogar den Impuls, der zur Ausbreitung der Art antreibt, unterdrückt. Schopenhauers grundlegendes Argument für den Pessimismus, welches, wie wir gesehen haben, auf Überlegungen hinsichtlich der wesentlichen Natur des Willens beruht, wird, wie er uns sagt, durch eine sorgfältige und unparteiische Betrachtung der menschlichen Erfahrung bestätigt. Doch der aposteriorische Beweis des Elends des Lebens wurde von einem anderen Autor kürzlich umfassender entwickelt – Eduard von Hartmann –, der im Großen und Ganzen und trotz seiner beachtlichen Originalität als ein Schüler Schopenhauers betrachtet werden kann und der mit Schopenhauers Ansicht dahingehend übereinstimmt, dass die Existenz der wirklichen Welt auf einen irrationalen Akt des unbewussten Willens zurückzuführen ist.* Hartmann weist Schopenhauers Lehre zurück, dass alle Freude lediglich in der Befreiung von Leid besteht; aber er behauptet, dass die Freuden, welche durch die Beseitigung von Leiden entstehen, alle nicht entsprechend bedingten Freuden weit überwiegen und in ihrer Intensität den Leiden, in deren Beendigung sie bestehen, weit unterlegen sind. { Hartmann ist der Ansicht }, dass die Ermüdung der Nerven, welche durch die Verlängerung jeder Art von Empfindung verursacht wird, dazu tendiert, das Leidvollsein des Leids zu erhöhen und die Erfreulichkeit der Freude zu verringern. { Und er behauptet }, dass Befriedigung immer nur kurz andauert, während Unzufriedenheit genauso beständig ist wie das Begehren selbst. Dann drängt er, im Rahmen einer Untersuchung der wichtigsten Richtungen des menschlichen Strebens, mit Nachdruck darauf, dass viele Gefühle – wie Neid, Verdruss, Bedauern des Vergangenen, Hass – ausschließlich oder beinahe ausschließlich leidvoll sind; dass viele Zustände im Leben – wie Gesundheit, Jugend, Freiheit – nur wertgeschätzt werden, weil ihr Vorliegen die Ab*

  Jedoch begreift Hartmann, anders als Schopenhauer, das »Unbewusste«, welches der ultimative Grund der Existenz ist, nicht als reinen unbewussten Willen, sondern auch als unbewusste Intelligenz.

Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik

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wesenheit bestimmter Leiden impliziert, während andere – wie Arbeit und Ehe – als Übel begriffen werden, die nur zur Vermeidung größerer Übel gewählt worden sind; dass das allgemeine Streben nach Reichtum, Macht, Ehre etc. insofern trügerisch ist, als die begehrten Gegenstände als letzte Ziele vorgestellt werden; dass viele zu Handlungen führende Impulse  – Hunger, Kinderliebe, Mitleid, Ehrgeiz – dem Handelnden offenkundig weitaus mehr Leid als Freude eintragen, während viele weitere { Impulse } im Ganzen ein klares Übergewicht des Leids verursachen, wenn man die Empfindungen derer, die die Handlung erleiden, genauso berücksichtigt wie die der Handelnden. { Schließlich drängt er darauf }, dass die einzigen Aktivitäten, welche ein Übermaß an Freude mit sich bringen – die Kultivierung der Künste und Wissenschaften – nur von verhältnismäßig Wenigen wirklich genossen werden können und dass diese wenigen Personen aufgrund ihres überlegenen Intellekts in besonderem Maße anders verursachtem Leid ausgesetzt sind. Diese Überlegungen führen Hartmann zu der »unbezweifelbaren Schlussfolgerung«, dass gegenwärtig das Leid in der Welt die Freude weit übersteigt, nicht nur im Ganzen betrachtet, sondern selbst noch im Fall der unter den günstigsten Umständen lebenden Individuen. Er fährt dann mit der Annahme fort, dass für die Zukunft keine Aussicht auf eine wesentliche Verbesserung, sondern eher auf eine Steigerung des Elends besteht: Der Fortschritt der Wissenschaft verschafft nur kleine oder gar keine positive Freude und die teilweise Zunahme des Schutzes gegen Leiden, welche die Menschheit durch ihn erreichen wird, wird aufgrund der Entwicklung der menschlichen Intelligenz und des Mitleids durch das gesteigerte Bewusstsein der Vorherrschaft des Leids mehr als aufgewogen. Hartmanns praktische Schlussfolgerung lautet, dass wir nach der Verneinung des Willens zum Leben streben sollten – nicht jeder für sich allein, wie Schopenhauer es empfahl, sondern universell, indem wir auf das Ende des Weltprozesses und die Vernichtung aller sogenannten Existenz hinarbeiten.

Die kantische Konzeption des freien Willens In den Outlines of the History of Ethics, einem kleinen, vor zwei Jahren veröffentlichten Buch, musste ich eine kurze Darstellung der ethischen Lehre Kants geben.1 Was den Begriff des freien Willens betrifft – der für Kants System grundlegend ist – hielt ich es für richtig, auf eine Verwechslung zweier Begriffe von Freiheit hinzuweisen, die ich in seiner Darstellung beobachtete: (1) die Freiheit, die nur im richtigen Verhalten realisiert wird, wenn die Vernunft erfolgreich den Verführungen der Begierde und der Leidenschaft widersteht, und (2) die Freiheit, zwischen richtig und falsch zu wählen, welche natürlich bei jeder der beiden Wahlmöglichkeiten gleichermaßen realisiert wird. Als ich dies schrieb, konnte ich nicht voraussehen, inwiefern meine Position bezweifelt werden würde; aus Rezensionen und anderem entnehme ich jedoch, dass meine Ansicht sich verschiedenen Personen nicht anempfiehlt, die sich selbst als kompetente Interpreten Kants betrachten und deren Ansprüche, entsprechend angesehen zu werden, ich nicht bezweifeln möchte. Daher habe ich gedacht, dass es angebracht sein könnte, meine Gründe dafür, Kant diese gedankliche Verwirrung zuzuschreiben, ausführlicher darzulegen als ich sie in dem kleinen historischen Leitfaden, auf den ich Bezug genommen habe, in angemessener Weise darlegen konnte. Und es schien mir der Fall zu sein, dass eine solche Schilderung vielleicht nicht nur von rein historischem Interesse sein würde. Denn aus der Bedeutung, die der Frage nach der Freiheit des Willens in verschiedenen jüngeren Abhandlungen über Ethik beigemessen wurde – ich darf besonders zwei erwähnen, die sehr warm aufgenommen wurden, Greens Prolegomena to Ethics und Dr. Martineaus ­Types of Ethical Theory2 – lässt sich schließen, dass die Frage nach dem freien Willen nach Ansicht auf-

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merksamer Personen noch nicht überholt ist. In der Tat können wir sagen, dass diese auf die Grenzen des Subjekts { gerichtete Frage } eine beständige und schwierige Stellung einnimmt, so dass an ihr kaum ohne eine Art von Kampf vorbeizukommen ist – nicht einmal für diejenigen, die, wie ich selbst, versuchen, der Sphinx zu entgehen, anstatt ihr Rätsel zu lösen. Und wenn die Frage überhaupt diskutiert werden soll, dann scheinen mir die Unterscheidungen von dauerhafter Bedeutung zu sein, die zu verdeutlichen mein Ziel sein wird, wenn ich die Verwechslung diskutiere, von der ich behaupte, dass sie in Kants ethischer Lehre existiert. Im vorliegenden Text möchte ich jedoch weder direkt die Frage diskutieren, ob der Wille frei ist, noch – um die »vorherige Frage zu verschieben« –, ob der Begriff Freiheit angemessen – und sei es nur fragend – auf den menschlichen Willen angewandt werden kann. Mein direktes Ziel ist lediglich zu zeigen, dass in verschiedenen Abschnitten von Kants Darstellung seiner Lehre zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen mit demselben Wort Freiheit bezeichnet werden, wobei sich Kant einer Variation in der Bedeutung des Ausdrucks nicht bewusst zu sein scheint. Ich werde damit beginnen, den Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen, die Kant meiner Ansicht nach zu vermischen scheint, eingehender zu erklären. Vielleicht darf ich dies in der bequemsten Weise tun, indem ich mich auf das Buch beziehe, durch welches meine Aufmerksamkeit zum ersten Mal auf die Bedeutung dieser Frage für den gegenwärtigen Stand des philosophischen Denkens gelenkt wurde. Ich spreche von den Essays in Philosophical Criticism, welche, wenn sie auch nicht direkt das Werk bekennender Schüler Kants sind, doch in jedem Fall das erklärte Ziel verfolgen, die Ergebnisse der kantischen Kritik des Wissens und der Moral weiterzuentwickeln. In einem von Hrn. D. G. Ritchie verfassten Essay über die »Rationalität der Geschichte«, in welchem die Geschichte als »Kampf in Richtung rationaler Freiheit« dargestellt wird, wird die folgende Darstellung dessen, was der Autor für die wahre Bedeu-

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tung von Freiheit hält, gegeben: »Es gilt, dass der Mensch frei ist, weil und insofern er rational ist; und insofern jeder Mensch mehr unter der Leitung der Vernunft und weniger unter der des blinden, d. h. rein natürlichen, Impulses oder der Leidenschaft handelt, ist er in höherem Maße ein freier Akteur.«3 Nun kritisiere ich diesen Gebrauch des Freiheitsbegriffes auf keinen Fall aufgrund seiner Abweichung vom gewöhnlichen Sprachgebrauch. Im Gegenteil, ich denke, dass er stark gestützt wird durch die natürliche Ausdrucksweise, mit der Menschen gewöhnliche moralische Erfahrungen diskutieren. In dem in uns allen fortwährend andauernden Konflikt zwischen den nicht-rationalen Impulsen und dem, was wir als Gebote der praktischen Vernunft anerkennen, identifizieren wir uns gewöhnlich eher mit den Letzteren als den Ersteren. Wie Whewell sagt: »Wir sagen von Begierde, Liebe, Zorn, dass sie uns beherrschen, und von uns, dass wir sie kontrollieren.«4 Beständig bezeichnen wir Menschen als »Sklaven« der Begierde oder Leidenschaft, wohingegen noch niemand je als ein Sklave der Vernunft bezeichnet wurde. Wäre daher dem Begriff der Freiheit nicht bereits von Moralisten eine andere Bedeutung beigelegt worden, und wäre es lediglich eine Frage der Übernahme des Begriffs aus dem gewöhnlichen Gebrauch und seiner präziseren Ausprägung zum Zwecke ethischer Diskussion, hätte ich keinen Einwand gegen die Aussage vorzubringen, dass »ein Mensch in dem Maße, in dem er rational handelt, ein freier Handelnder ist«. Ich denke jedoch, dass eingestanden wird, dass das, mit dessen Beibehaltung englische Verteidiger der menschlichen Handlungsfreiheit im Allgemeinen befasst waren, die These ist, dass »der Mensch eine Freiheit der Wahl zwischen gut und böse hat«, welche, wenn er aus freien Stücken das Böse wählt, genauso realisiert oder manifestiert wird, wie wenn er freiwillig das Gute wählt. Und es ist klar, dass dann, wenn wir sagen, dass ein Mensch in dem Maße ein freier Akteur ist, in dem er rational handelt, wir nicht auch im selben Sinne des Begriffes sagen können, dass er aufgrund seiner freien Wahl irrational handelt, wenn er so handelt. Es muss zugestanden werden, dass die

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Begriffe der Freiheit in den beiden Aussagen fundamental verschieden sind. Und wenngleich der Sprachgebrauch es billigerweise zulässt, dass das Wort Freiheit beide Begriffe repräsentiert, ist es, wenn nur die eine oder die andere der oben genannten Thesen beteuert wird, offensichtlich unpraktisch, das Wort zur Beteuerung beider Aussagen zu gebrauchen. Es impliziert eine Verwirrung des Denkens, das Wort so zu gebrauchen, ohne auf den Unterschied in der Bedeutung hinzuweisen. Wenn dies zugestanden wird, ist als Nächstes nachzuweisen, dass Kant den Begriff auf diese doppelte Art und Weise verwendet. Um dieses darzulegen, ist es zweckdienlich, Namen für das zu haben, von dem wir zugestehen, dass es zwei verschiedene Ideen sind. Dementsprechend soll von der Art von Freiheit, die ich zuerst erwähnt habe – von welcher gesagt wird, dass ein Mensch sie in dem Maße stärker manifestiert, in dem er mehr unter der Leitung der Vernunft handelt – als ›gute‹ oder ›rationale‹ Freiheit gesprochen werden; und die Freiheit, die sich im Wählen zwischen dem Guten und dem Bösen manifestiert, soll ›neutrale‹ oder ›moralische‹ Freiheit genannt werden.* Bevor ich jedoch zu den verschiedenen Abschnitten der Darlegung Kants, in welchen jeweils die ›gute Freiheit‹ und die ›neutrale Freiheit‹ vorkommen, übergehe, scheint es wünschenswert zu sein, letztere von einem breiteren Begriff zu unterscheiden, mit welchem sie möglicherweise durcheinandergebracht werden könnte und den Kant zuzuschreiben mit Sicherheit falsch wäre. Ich meine die »Macht, ohne Motive handeln zu können«, welche zu beanspruchen Reid und andere Autoren auf der gewöhnlich als libertär5 bezeichneten Seite für notwendig befunden haben. »Wenn ein Mensch nicht ohne ein Motiv handeln könnte«, sagt Reid, »dann könnte er überhaupt keine *

  Die Ausdrücke ›rational‹ und ›moralisch‹ erscheinen mir am angemessensten zu sein, wenn ich auf die Ähnlichkeit zwischen den beiden Begriffen hinweisen möchte. Die Ausdrücke ›gut‹ und ›neutral‹ scheinen den Vorzug zu verdienen, wenn ich auf die Unterschiede Gewicht legen möchte.

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Macht« – das heißt, in Reids Wortbedeutung, keine Handlungsfreiheit  – »haben«.6 Dies ist die Art von Freiheit, welche der oben zitierte Essayist als »geistlose Launenhaftigkeit« mit guter Freiheit kontrastiert,7 und auf die Green in seinem Kapitel über die Freiheit des Willens im selben Tonfall Bezug nimmt als »irgendeine unerklärliche Macht des motivlosen Willens«, deren Manifestationen »willkürliche Launen« seien.8 Diese Konzeption der Freiheit – welche ich angemessener Weise als »launenhafte Freiheit« charakterisieren darf – ist, wie ich sagte, sicherlich nicht kantisch. Kant weist sie nicht nur ausdrücklich zurück, sondern führt sie auch – soweit ich weiß – an keiner Stelle unbewusst ein. Gewiss ist sie unvereinbar mit jedem Teil seiner Erklärung des menschlichen Willens. Die Originalität und das Interesse seiner Verteidigung der neutralen Freiheit – die Macht der Wahl zwischen Gutem und Bösem – liegt in ihrer vollständigen Vermeidung von launenhafter Freiheit oder der Macht, ohne ein Motiv in irgendeinem bestimmten Willensakt handeln zu können. Und es mag lohnenswert sein zu beobachten, dass die Unterscheidung zwischen neutraler Freiheit und launenhafter Freiheit in rudimentärer und unvollständiger Art und Weise sogar in Reids Lehre präsent ist. Obgleich er, wie wir gesehen haben, an der Existenz der launenhaften Freiheit festhält, ist dennoch der einzige Teil seiner Argumentation, den ich überhaupt interessant finde, derjenige, in dem er es kunstvoll vermeidet zu leugnen, dass, wo lediglich nicht-rationale Motive wie animalische Begierden miteinander konkurrieren, »das stärkste Motiv sich immer durchsetzt« – wenngleich solch ein Leugnen in seiner Konzeption einer Macht, ohne Motiv zu handeln, impliziert zu sein scheint.9 Sein Argument gegen die Behauptung, dass »das stärkste Motiv sich immer durchsetzt« ist, dass wir – solange wir Stärke nicht nur als aktuelles Übergewicht messen und die Behauptung zu einer Tautologie reduzieren – anerkennen müssen, dass wir in unserer Natur zwei verschiedene unvereinbare Maße für die Stärke von Motiven haben: Es ist möglich, dass Motive, die an unsere animalische Natur gerichtet sind, die stärksten sind, wenn sie durch den

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Test des Gefühls erprobt werden, dass diese jedoch im Auge der Vernunft die schwächsten sind; und, dass auf die gleiche Weise Motive, die gemäß des Testes der Vernunft die stärksten sind, gemäß des Testes des Gefühls die schwächsten sind. So kann es sein, dass »der große und wichtige Wettstreit zwischen entgegengesetzten Motiven ein Wettstreit zwischen dem Animalischen auf der einen und dem Rationalen auf der anderen Seite ist«.10 Wenngleich Reid als Psychologe daran festhält, dass die »Macht, ohne ein Motiv zu handeln« zum menschlichen Wesen als solches gehört, gibt er doch zu, dass die »große und wichtige« Frage für den Moralisten nicht mit dieser Macht verbunden ist, sondern mit der Macht, den Konflikt zwischen rationalen und nicht-rationalen Motiven, »zwischen dem Fleisch und dem Geist«,11 zu entscheiden – kurz, mit dem, was ich im Unter­schied zur ›launenhaften‹ Freiheit ›neutrale‹ oder ›moralische‹ Freiheit ­genannt habe. Ich messe dieser Unterscheidung Gewicht bei, weil sie mir verstehen hilft, warum viele intelligente Leser daran gescheitert sind, in der kantischen Darstellung die beiden Freiheiten – gute oder rationale Freiheit und neutrale oder moralische Freiheit – zu erblicken, die ich bei Kant vorfinde. Sie haben ihren Blick fest auf den Unterschied zwischen der rationalen oder moralischen Freiheit, welche Kant verteidigt, und der Freiheit der Launenhaftigkeit, die er zweifelsohne zurückweist, gerichtet. Und so werden sie dazu gebracht, mit ihm die Unterscheidung zwischen der Freiheit, die wir in dem Maße realisieren oder manifestieren, wie wir richtig handeln, und der Freiheit, welche in gleichem Maße bei der Wahl entweder des Richtigen oder des Falschen realisiert oder manifestiert wird, zu übersehen. Wenn wir erst einmal die Freiheit der Launenhaftigkeit – die Macht, ohne ein Motiv zu handeln, oder gegen das stärkste Motiv zu handeln, wenn der Wettstreit zwischen rein natürlichen oder nicht-rationalen Begierden und Abneigungen stattfindet – vollständig beiseitegeschoben haben; wenn wir darin übereingekommen sind, diese auszuschließen und die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen guter Freiheit und

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neutraler Freiheit zu konzentrieren: Dann wage ich zu denken, dass niemand es vermeiden kann, jeden Teil dieses letztgenannten Gegensatzes bei Kant zu erblicken. Es ist leicht zu verstehen, dass es natürlich für den sorgfältigsten Leser unmöglich ist zu sagen, welche Konzeption verwendet wird, da Kant selbst die beiden Konzeptionen nicht unterscheidet. Es gibt jedoch viele Passagen, in denen seine Argumentation unverkennbar die eine, und viele andere Passagen, in denen sie unverkennbar die andere in Anspruch nimmt. Allgemein gesprochen kann ich sagen, dass überall dort, wo Kant den Begriff der Freiheit mit dem der moralischen Verantwortung oder der moralischen Zuschreibung zu verknüpfen hat, er wie alle anderen Moralisten, die am freien Willen in diesem Zusammenhang festhalten, (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich) neutrale Freiheit im Sinne hat – Freiheit, die sich in der Wahl des Falschen genauso zeigt wie in der Wahl des Guten. In der Tat, in solchen Passagen ist es die Freiheit desjenigen, der falsch auswählt, mit welcher er sich hauptsächlich beschäftigt. Schließlich ist es insbesondere der das Falsche Wählende, den er daran hindern möchte, seine Verantwortung auf Ursachen jenseits seiner Kontrolle abzuschieben. Auf der anderen Seite, wenn er die Möglichkeit eines uneigennützigen Gehorsams gegenüber dem Gesetz als solchem und ohne das Dazwischentreten sinnlicher Impulse beweisen muss, wenn er sich darum bemüht, die Unabhängigkeit der Vernunft bei der Beeinflussung der Auswahl aufzuzeigen, dann identifiziert er in vielen, wenn auch nicht allen seinen Aussagen Freiheit explizit mit dieser Unabhängigkeit der Vernunft, und setzt damit klarerweise die Behauptung voraus, die ich eingangs von einem Weiterentwickler der kantischen Lehre zitiert habe, der zufolge ein Mensch in dem Maße frei ist, in dem er rational handelt. Als ein Beispiel für die erste Art werde ich die Passage am Ende des dritten Kapitels der »Analytik der praktischen Vernunft« heranziehen, in der er seine spezielle metaphysische Lehre der doppelten Art von Verursachung menschlicher Handlungen hinsichtlich ihrer Konsequenzen für moralische

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Verantwortung behandelt.* Kant zufolge muss eine jede solche Handlung, betrachtet als eine bestimmte Erscheinung in der Zeit, gedacht werden als ein notwendiges Ergebnis determinierender Ursachen früherer Zeit – andernfalls wäre ihre Existenz unvorstellbar; aber die Handlung kann ebenso in Beziehung zum Handelnden, als Ding an sich, als das »Noumenon«, von welchem die Handlung eine Erscheinung ist, betrachtet und die Idee der Freiheit kann auf den so betrachteten Akteur mit Blick auf seine Erscheinungen angewandt werden. Da seine Existenz als ein Noumenon nicht den Bedingungen der Zeitlichkeit unterliegt, fällt nichts in seiner noumenalen Existenz unter das Prinzip der Determinierung durch frühere Ursachen. Von daher ist, wie Kant sagt, »in diesem seinem Dasein {…} ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung … selbst die ganze Reihenfolge seiner Existenz, als Sinnenwesen, ist im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts als Folge, niemals aber als Bestimmungsgrund seiner Kausalität, als N o u m e n s , anzusehen«.12 Dieses ist die wohlbekannte metaphysische Lösung der Schwierigkeit, den freien Willen mit der Universalität physikalischer Verursachung in Einklang zu bringen. Ich bin hier nicht damit beschäftigt, dieses zu kritisieren; mein Punkt ist der, dass wenn wir dieses Freiheitsverständnis überhaupt akzeptieren, es sich offensichtlich um neutrale Freiheit handeln muss. Dies{ es Freiheitsverständnis } muss die Verbindung eines Noumenons, welches sich selbst als Schurke manifestiert, zu einer Reihe von schlechten Willensakten, in welchen das moralische Gesetz verletzt wird, genauso zum Ausdruck bringen wie die Verbindung eines Noumenons, das sich selbst als Heiliger manifestiert, zu guten oder rationa*

  Werke, V, S. 100–104 (Hartenstein). { Sidgwick verweist hier und in folgenden Fußnoten auf die von Gustav Hartenstein besorgte Ausgabe Immanuel Kants sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. 8 Bde. Leipzig 1867–69. An dieser Stelle bezieht sich Sidgwick auf die Kritik der praktischen Vernunft, vgl. Kant 2003, S. 129, Z. 27 – S. 135, Z. 34 (AA V, S.  95, Z. 29 – S. 100, Z.  14).}

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len Willensakten, in welchen das moralische Gesetz oder der kategorische Imperativ befolgt wird. Und, wie ich bereits sagte, verwendet Kant besonders in diesem Abschnitt, in dem er besonders darum bemüht ist, die Möglichkeit moralischer Zuschreibung zu erklären und die kritischen Urteile des Gewissens zu rechtfertigen, zur Illustrierung Noumena, die schlechte Erscheinungen an den Tag legen. Die Frage, die er sich ausdrücklich stellt, lautet, wie von »einem Menschen, der einen Diebstahl verübt«, in dem Moment, in dem er die Tat verübt, gesagt werden kann, dass er »ganz frei« { sei }?13 Kant antwortet damit, dass es dank seiner »t r a n s s c e n d e n t a l e { n } F r e i h e i t «14 möglich ist, dass »das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich, als Erscheinung, in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen { kann }, daß er sie hätte unterlassen können; denn sie, mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich {…} die Kausalität jener Erscheinungen selbst zurechnet«, { d. h.} die schlechten Handlungen, welche notwendigerweise aus seinem schlechten Charakter in Verbindung mit anderen Ursachen resultieren.15 Von daher, wie auch immer er seine aus schlechten Gewohnheiten entstehenden Fehler erklärt, deren Heranwachsen in ihm er zugelassen hat, welche Kunst auch immer er nutzen mag, um sich selbst eine rechtswidrige Handlung auszumalen, die er als etwas erinnert, bei dem er vom Strom der physischen Notwendigkeit davongetragen wurde: Dies kann ihn vor dem Selbstvorwurf nicht schützen. Nicht einmal, wenn er Verdorbenheit so früh an den Tag gelegt hat, dass er vernünftigerweise denken kann, dass er in einer moralisch hoffnungslosen Verfassung geboren wurde: Auch dann wird er noch immer mit Recht verurteilt, und wird sich selbst als »genauso verantwortlich wie irgendein anderer Mensch« beurteilen. Denn in Bezug auf sein noumenales Selbst muss sein Leben als Ganzes, vom Beginn bis zum Ende, als eine einzige Erscheinung, die aus einer absolut freien Wahl resultiert, betrachtet werden.

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Ich muss diesen Punkt nicht weiter ausarbeiten: Es liegt auf der Hand, dass es die Notwendigkeiten seiner metaphysischen Erklärung der moralischen Verantwortung sind, die Kant dazu bringen, mit besonderem Nachdruck und besonderer Ausführlichkeit den Begriff zu formulieren, den ich als neutrale Freiheit bezeichnet habe, d. h. eine Art der Kausalität, die sich in schlechten und irrationalen Willensäußerungen ebenso manifestiert wie in guten und rationalen. Auf der anderen Seite ist es genauso einfach, Passagen zu finden, in denen mir der Ausdruck Freiheit sehr eindeutig für gute oder rationale Freiheit zu stehen scheint. In der Tat denke ich, dass solche Passagen häufiger vorkommen als solche, in denen die andere Bedeutung offensichtlich vorausgesetzt wird. So sagt er uns, dass »ein freier Wille {…} einen Bestimmungsgrund in dem [moralischen] Gesetze antreffen { muß }«;*16 und dass »Freiheit, deren Kausalität bloß durchs Gesetz bestimmbar ist, {…} aber eben darin { besteht }, daß sie alle Neigungen {…} auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt«.**17 Während im zuvor untersuchten Argument seine ganze Anstrengung dem Beweise galt, dass das Noumenon oder übersinnliche Wesen, von welchem jede Willensäußerung eine Erscheinung ist, bei gesetzeswidrigen Handlungen »freie Kausalität« ausübt, sagt er uns an anderer Stelle, in derselben Abhandlung, dass die »übersinnliche Natur« rationaler Wesen, die auch eine »sinnliche Natur« besitzen, in »ihre{ r } Existenz nach Gesetzen { besteht }, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur A u t o n o m i e der reinen [praktischen] Vernunft gehören«.***18 In gleicher Weise erklärt er in einem früheren Werk, dass, »da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt …, so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität   *  Werke, V, S. 30.  **  Ebd., S. 83. ***   Ebd., S. 46.

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nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding«.*19 Und dieses unwandelbare Gesetz des »freien« oder »autonomen« Willens ist, wie er weiter ausführt, das grundlegende Prinzip der Moralität, »also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei«.20 Ich habe diesen letzten Satz nicht zitiert, weil er eindeutig den Begriff der rationalen Freiheit vorweist – im Gegenteil, der Satz zeigt eher, wie leicht dieser Begriff mit dem anderen durcheinandergeworfen werden kann. Ein Wille unter seinen eigenen moralischen Gesetzen kann einen Willen bezeichnen, der, soweit er frei ist, sich nach diesen Gesetzen richtet – aber er kann auch als dazu fähig verstanden werden, diese Gesetze  – neutrale Freiheit ausübend – aus freien Stücken zu missachten. Aber wenn Freiheit als eine »Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen« begriffen wird, ist die Doppeldeutigkeit beseitigt. Denn offensichtlich kann dies nicht bloß die Fähigkeit bezeichnen, Gesetze aufzustellen, die dann befolgt werden können oder auch nicht; dies muss bedeuten, dass der Wille, insofern er frei ist, in Übereinstimmung mit diesen Gesetzen handelt. Der Mensch handelt zweifelsohne oftmals entgegen dieser Gesetze, aber dann wird gemäß dieser Ansicht bei solchen Handlungen seine Handlungswahl nicht »frei«, sondern »mechanisch« bestimmt, durch »physische« und »empirische« Handlungs­quellen. Sollte noch irgendein weiteres Argument benötigt werden um zu zeigen, dass »Freiheit« bei Kant manchmal als rationale oder gute Freiheit zu verstehen ist, dann kann ich eine oder zwei der zahlreichen Passagen zitieren, in denen Kant, entweder ausdrücklich oder implizit, den Willen mit der Vernunft identifiziert. Denn diese Identifizierung schließt offensichtlich die Möglichkeit aus, dass der Wille zwischen der Vernunft und den nicht-rationalen Impulsen auswählt. So sagt er

*

  Werke, IV, S. 294.

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uns in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,* dass, »da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, {…} der Wille nichts anderes als praktische Vernunft { ist }«.21 Und auf die gleiche Weise spricht er in der Kritik der praktischen Vernunft von der »objektive{ n } Realität eines reinen Willens, oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft«.**22 Dementsprechend wird uns, wo in manchen Passagen*** von der »Autonomie«, die er mit »Freiheit« identifiziert, als »Autonomie des Willens« gesprochen wird,23 an anderen Stellen gesagt, dass »das moralische Gesetz nichts anders aus{ drückt } als die A u t o n o m i e der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit«.****24 Ich denke, dass ich nun die verbale Doppeldeutigkeit in Kants Beschreibung des freien Willens, deren Offenlegung ich mir vorgenommen hatte, bewiesen habe. Ich habe gezeigt, dass in seiner Darstellung dieser grundlegende Begriff zwischen verschiedenen unvereinbaren Bedeutungen oszilliert. Es könnte jedoch vielleicht angenommen werden, dass dieser so dargestellte Mangel durch eine rein verbale Korrektur behoben werden könnte; dass die Substanz der ethischen Lehre Kants weiterhin beibehalten und weiterhin mit seiner metaphysischen Lehre verbunden werden könnte. Es könnte noch immer angenommen werden, dass die Vernunft uns diktiert, dass wir zu jeder Zeit nach einer Maxime handeln sollten, von der wir wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz ist; und dass wir dieses aus reiner Achtung der Vernunft und des Vernunftgesetzes tun sollten – wenn auch zugegeben wird, dass dies ein Gesetz ist, welches zu missachten uns freisteht. Und es könnte noch immer angenommen werden, dass die Realität dieser moralischen    *  Werke, IV, S. 260 (Hartenstein).  **  Werke, V, S. 58. Vgl. die scharfsinnige Diskussion des verwirrenden Gebrauches, den Kant von dem Begriff des »Willens« macht, in Kantian Ethics von Prof. Schurman, der mich in den oben gegebenen Zitaten vorweggenommen hat. { Schurman 1881, Kantian Ethics.} ***   Z. B. Werke, IV, S. 296. ****   Z. B. Werke, V, S. 35.

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Freiheit mit der Universalität physikalischer Verursachung dadurch versöhnt werden kann, dass diese als eine Relation zwischen dem noumenalen Selbst des Handelnden, unabhängig von den Bedingungen der Zeit, und seinem Charakter, wie er sich in der Zeit manifestiert, gedacht wird. Die einzige dann benötigte Korrektur ist die, dass vermieden wird, Freiheit und Güte oder Rationalität als Attribute von Akteuren oder Handlungen miteinander zu identifizieren. Ich sollte durchaus zugestehen, dass die wichtigsten Teile sowohl der kantischen Morallehre als auch seiner Freiheitslehre bewahrt werden können. Oder ich sollte vielleicht eher sagen, dass es Letzterer überlassen bleibt, einen ungleichen Kampf mit den modernen Vorstellungen der Vererbung und der Evolution zu führen. In jedem Fall gestehe ich zu, dass sie durch meine vorliegende Argumentation nicht grundsätzlich beeinträchtigt ist. Ich glaube jedoch, dass in einer korrigierten Version des Kantianismus, wenn die durch die Doppeldeutigkeit dieses Wortes entstandene Verwirrung auf die von mir angedeutete Art und Weise beseitigt werden soll, noch viel mehr entfernt werden muss als bloß das »Wort« Freiheit in einigen Passagen. Ich denke, dass die gesamte Thematik der »Heteronomie« des Willens aufgegeben oder grundlegend modifiziert werden muss, wenn sie mit Blick auf empirische oder sinnliche Impulse ertrag­reich sein soll. Und ich befürchte, dass die meisten Leser Kants diesen Verlust für gravierend halten, da nichts in Kants ethischen Schriften faszinierender ist als die Idee – welche er wiederholt in verschiedenen Formen erläutert –, dass ein Mensch das Ziel seines wahren Selbst realisiert, wenn er das moralische Gesetz befolgt, wohingegen er zum Subjekt physikalischer Kausalität, zum Subjekt von Gesetzen einer animalischen äußeren Welt wird, wenn er fälschlicherweise zulässt, dass seine Handlungen von empirischen oder sinnlichen Impulsen bestimmt werden. Aber wenn wir die Identifizierung von Freiheit und Rationalität verwerfen und definitiv und a­ llein Kants anderen Begriff der Freiheit als Ausdruck der Verbindung zwischen dem menschlichen Ding an sich und seiner Erscheinung

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akzeptieren, dann fürchte ich, dass dieser den Geist mitreißende Appell an das Gefühl der Freiheit als leere Rhetorik abgelehnt werden muss. Denn das Leben des Heiligen muss genauso – in jedem beliebigen Abschnitt – den notwendigen Gesetzen der physikalischen Verursachung unterliegen wie das Leben des Schurken. Und der Schurke muss seine charakteristische Individualität in seiner transzendentalen Wahl ­eines schlechten Lebens genauso zeigen und ausdrücken wie der Heilige es in seiner transzendentalen Wahl eines guten Lebens tut. Wenn auf der anderen Seite dieser Schluss vermieden werden soll, dann geraten wir auf die andere Seite des Dilemmas. Wenn wir die Entwicklung des kantischen Kritizismus, wie ihn Hr.  Ritchie und seine Freunde uns anbieten, akzeptieren und innere Freiheit mit Rationalität identifizieren, dann wird ein ernsterer Ausschluss erforderlich. Denn zusammen mit der neutralen oder moralischen Freiheit muss die gesamte kantische Ansicht über die Beziehung des Noumenon zum empirischen Charakter fallen gelassen werden, und damit muss auch die gesamte kantische Methode der Bei­behaltung moralischer Verantwortung und moralischer Zuschreibung einstürzen: in der Tat alles, was Kants Lehre für englische Verteidiger des freien Willens (im gewöhnlichen Sinne) auch dann noch interessant und beeindruckend gemacht hat, wenn sie von ihrer Stichhaltigkeit nicht überzeugt waren.

ZU R T HE O RETI SCH EN PH I LO SO PHI E

Der sogenannte Idealismus von Kant In einer Notiz von Professor Caird, in Mind 13,1 finden sich einige Bemerkungen zu Kants Ansicht über die äußere Welt, die mir ungenau und irreführend zu sein scheinen. Und da Hr. Caird das Recht erworben hat, mit einiger Autorität zu diesem Thema zu sprechen, scheint es wünschenswert, dass seine Fehlinterpretationen – sofern ich damit richtig liege, sie als solche anzusehen – sorgfältig vermerkt und dargelegt werden. Der Abschnitt, auf den ich mich beziehe, ist der Folgende:2 »Die Wahrheit ist, dass Hr. Balfour3 zu keinem Zeitpunkt den Unterschied zwischen dem sogenannten Idealismus Berkeleys und dem Idealismus Kants erkannt hat. Dieses wird im gesamten Fortgang seines Aufsatzes und besonders in einigen seiner Kritiken an Kants ›Widerlegung des Idealismus‹ offenkundig. So sagt Hr. Balfour (S. 498): ›Die eigentliche Frage lautet: Impliziert das Sein im Raum und außerhalb des Körpers, dass das ausgedehnte und äußere Objekt sich außerhalb des Geistes befindet und etwas anderes ist als eine der Abfolgen von Bewusstseinszuständen?‹4 Und dann fährt er damit fort, Kant eine Verwechslung der Idee der Äußerlichkeit für das Bewusstsein, und der Idee der Äußerlichkeit im Sinne der Existenz im Raum vorzuwerfen (welche, wie nebenbei angemerkt werden darf, Kant ausdrücklich und klar unterschieden hat, Kritik, hrsg. v. Rosenkranz, S. 299).5 Denn er { Kant, so Balfour, } versucht nur zu zeigen, dass das klare Bewusstsein des äußerlichen Objektes im letztgenannten Sinne dem klaren Bewusstsein des Selbst als eines Objektes vorausgeht; und er versucht nicht zu zeigen, dass Dinge an sich

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Zur theoretischen Philosophie

unabhängig vom Bewusstsein existieren. Aber wenn Hr. Balfour verstanden hätte, was der Transzendentalismus impliziert, dann hätte er gesehen, dass dessen Wirkung ist, dieses letztere Pro­ blem bedeutungslos werden zu lassen und durch das erstere zu ersetzen (Vgl. dazu auch Hrn. Greens Artikel in Contemporary Review, Dez. 1877, S. 30).6 Zweifelsohne findet sich gelegentlich eine Unsicherheit in Kants Sprache, besonders in der ersten Auflage der Kritik.«7

Bevor ich diese Passage kritisiere, muss ich jegliche Absicht, die Kontroverse zwischen Hrn. Balfour und Prof. Caird fortzusetzen, bestreiten. Der Artikel, auf den Prof. Caird antwortet, befasste sich mit einer Lehre namens Transzendentalismus, von der angenommen wird, dass sie Kant und einer gewissen Zahl gegenwärtiger englischer Autoren, unter ihnen Prof. Caird, gemeinsam ist. Nun bezweifle ich nicht, dass es eine solche gemein­same Lehre gibt, aber ich war nicht in der Lage, aus den Arbeiten von Hrn. Caird zu Kant genügend Wissen hinsichtlich ihrer Prinzipien oder Methode zu sammeln, als dass ich darin gerechtfertigt wäre, sie genauer zu kritisieren. Von daher befasse ich mich jetzt mit Hrn. Caird nur als einem Kommentator Kants. In dieser Eigenschaft behauptet er – so wie ich ihn verstehe – (1) dass Kant eine Lehre vertrat, die angemessen Idealismus genannt werden könne, da er die Frage, ob es eine Existenz der Dinge an sich unabhängig von ihrer Wahrnehmung durch uns gibt oder nicht, für »bedeutunglos« hielt und (2) dass er in seiner »Widerlegung des Idealismus« diese durch die Frage ersetzte, ob wir ein klares Bewusstsein von Objekten im Raum außerhalb unserer Körper haben, welches dem klaren Bewusstsein des Selbst als eines Objektes vorausgeht, oder nicht. Keine dieser Positionen scheint mir vertretbar zu sein. Was den ersten Punkt betrifft, gestehe ich durchaus zu, dass einem Philosophen ein großer Spielraum dabei zugebilligt werden sollte, die genaue Bedeutung zu wählen, die er einem solchen Begriff wie Idealismus beilegen möchte. Dennoch denke ich, dass das Wort zwangsläufig von englischen Lesern so ver-

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standen werden wird, dass es eine Lehre »bezüglich der Existenz von Dingen« bezeichnet; und in diesem Sinne wies Kant diese Bezeichnung ausdrücklich und wiederholt zurück. Die folgenden Passagen aus den Prolegomena, § 13, Anmerkung 2 und 3, sind sicherlich hinreichend eindeutig (Ich zitiere aus Hrn. Mahaffys Übersetzung):8 »Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine anderen als denkende Wesen gebe; die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondiere. Ich dagegen sage: Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsere Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja ­gerade das Gegentheil davon.«9

Er fügt hinzu: »Ich möchte gerne wissen, wie denn meine Behauptungen beschaffen sein müßten, damit sie nicht einen Idealismus enthielten. […] Meine Protestation wider alle Zumutung eines Idealismus ist so bündig und einleuchtend, daß sie sogar überflüssig scheinen würde {…}.«10 Und um dem Einwand zu begegnen, dass er selbst seine Theorie »transzendentalen Idealismus« genannt habe, erklärt er, dass »dieser von mir sogenannte Idealismus […] nicht die Existenz der Sachen (die Bezweifelung derselben aber macht eigentlich den Idealismus in rezipierter Bedeutung aus), denn die zu bezweifeln, ist mir nie-

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mals in den Sinn gekommen, sondern bloß die sinnliche Vorstellung der Sachen [betraf].«11 Ich kann nicht erkennen, wie Hr. Caird behaupten kann, dass Kant, als er diese Passagen schrieb, die Frage, ob »es eine Existenz der Dinge an sich unabhängig vom Bewusstsein« gibt, für »bedeutungslos« hielt; noch, wie er sagen kann, dass es diesbezüglich irgendeine »Unsicherheit in Kants Sprache« gibt. Und ich verstehe ihn nicht, wenn er mit einigen deutschen Autoren behauptet, dass Kant seine Posi­tion bezüglich dieses grundlegenden Punktes zwischen 1781 und 1783 änderte, oder seine wahre Überzeugung aufgrund einer unehrenhaften Rücksichtnahme auf sein Ansehen falsch darstellte. Zum zweiten jedoch, wenn irgendjemand mit den zuvor aus den Prolegomena zitierten Passagen vor sich sorgfältig die ›Widerlegung des Idealismus‹ in der zweiten Auflage der Kritik 12 prüft, kann ich schwerlich erkennen, wie er die Konklusion vermeiden kann, dass Kant in der letztgenannten Passage die »Idee des für das Bewusstsein Äußerlichen« und die »Idee der Äußerlichkeit im Sinne der Existenz im Raum« durcheinanderbringt. Er formuliert als ›Theorem‹, das es zu beweisen gilt: »Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir«;13 und fährt dann, wie folgt, mit dem Beweis fort: »Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas B e h a r r l i c h e s in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein; weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein D i n g außer mir und nicht durch die bloße Vo r s t e l l u n g eines Dinges außer mir möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.«14

Der sogenannte Idealismus von Kant

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Es ist offenkundig, dass das »Ding außer mir« im dritten Satz dieses ›Beweises‹, wenn es mit der »bloßen Vorstellung eines Dinges außer mir« kontrastiert wird, identisch ist mit dem »unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstand« aus der Passage aus den Prolegomena; d. h. es ist ein Ding außer­halb des Bewusstseins, obwohl, noch einmal, es identisch mit dem »Gegenstand im Raum außer mir« aus dem ›Theorem‹ sein muss.15 Die beiden Konzepte der ›Äußerlichkeit im Raum‹ und des ›dem Bewusstsein Äußerlichen‹ sind an dieser Stelle in Kants Geist zusammengestoßen – wie wahr es auch sein mag, dass er sie an anderer Stelle »ausdrücklich und klar unterschieden« hat.

Kants Widerlegung des Idealismus Professor Cairds Antwort in der letzten Ausgabe von Mind auf meine Anmerkung in der vorherigen Ausgabe wird in jedem Fall dafür nützlich sein, jene Verwirrung zwischen seiner eigenen Lehre und der von Kant, welche seine vorherige Anmerkung nach meiner Ansicht nahelegte, zu vermeiden.1 Was jedoch das philosophiegeschichtliche Argument betrifft, mit dessen Begründung ich des Weiteren befasst war, so habe ich es unglücklicherweise verfehlt, Hrn. Caird mein Argument zu verdeutlichen. Zumindest kann ich nicht erkennen, dass er ernsthaft versucht hat, diesem etwas zu entgegnen. Zum Glück ist das Ausmaß an Übereinstimmung zwischen uns – wie ich aus seiner Sprache und seinem Schweigen zusammen genommen schließe – so beträchtlich, dass ich in der Lage sein sollte, den exakten Charakter unserer Meinungsverschiedenheit ziemlich klar zu erklären, welche ich dann dem Urteil des L ­ esers überlassen darf. Um jeder Notwendigkeit des Verweises auf frühere Ausgaben von Mind vorzubeugen, werde ich damit beginnen, die Punkte darzulegen, bezüglich derer wir (so wie ich es verstehe) übereinstimmen. (1) Wir stimmen darin überein, dass Kant, sobald er sich dessen bewusst geworden war, dass ihm aufgrund der in der ersten Auflage der Kritik2 dargelegten Lehre eine idealistische Posi­ tion zugeschrieben wurde, ernsthaft damit befasst war, diese Zuschreibung zurückzuweisen – nicht als Folge irgendeines Meinungswandels oder irgendeines Wunsches, seine eigentliche Ansicht zu verschleiern, sondern weil er sich selbst aufrichtig nicht als Idealisten betrachtete, und deswegen wünschte, nicht für einen solchen gehalten zu werden. (2) Wir stimmen darin überein, anzuerkennen, dass sich ihm in dieser Geisteshaltung zwei verschiedene Antwortmöglich-

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keiten auf den Vorwurf des Idealismus natürlicherweise darbieten würden. An erster Stelle könnte er sagen: »Ich bin kein Idealist, da ich die reale Existenz von Dingen an sich, unabhängig von unserem Bewusstsein, anerkenne. Ich bleibe zweifelsohne dabei, dass die Art und Weise dieser Existenz uns gänzlich unbekannt ist; aber dies hat mit der Frage nach deren Realität nichts zu tun. Und obwohl ich meine Lehre transzendentalen Idealismus genannt habe, ist dieses kein Grund, ihn mit einem Idealismus in der gewöhnlichen Verwendung dieses Begriffes zu verwechseln. Denn letzterer wurde immer als auf die Existenz materieller Dinge bezogen verstanden, während mein sogenannter Idea­ lismus sich nur auf die Vorstellungen dieser Dinge bezieht,3 die wir aus deren Einwirkungen auf unsere Sinne herleiten.« Dies werde ich die realistische Antwort nennen. Die zweite, welche ich die transzendentale Antwort nennen darf, werde ich, um Streit zu vermeiden, in Professor Cairds eige­nen Worten wiedergeben. Kant könnte sagen:4 »Ich bin kein Idealist, denn ich bestehe darauf, dass wir Dinge außerhalb unserer selbst kennen, d. h. Dinge, die verschieden sind von der Reihe innerer Zustände, welche das empirische Selbst konstituieren. Die wesentliche Zielsetzung meiner transzendentalen Deduktion ist es zu zeigen, dass wir uns der Objekte und einer Welt von Objekten bewusst sind, nicht durch die bloßen Sinne, sondern nur insofern, als sich das eine Selbst als ein synthetisches Prinzip selbst manifestiert, welches die Mannigfaltigkeit der Sinne mittels der Kategorien zusammenbindet. Die komplementäre Wahrheit jedoch lautet, dass wir uns der andauernden Einheit des Selbst in der Abfolge seiner Gefühle oder bewussten Zustände nur in Unterscheidung von und in Bezug auf eine Welt so bestimmter Objekte bewusst sind.« (3) Wir stimmen darin überein, diese beiden Antworten für grundverschieden zu halten. Hr. Caird, so wie ich ihn verstehe, akzeptiert die transzendentale Antwort als korrekt; während er zugleich der Ansicht ist, dass es der »Unvollständigkeit« des

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Systems Kants geschuldet ist, dass dieser die realistische Antwort überhaupt formuliert. (4) Wir sind beide der Ansicht, dass in einer der beiden wesentlichen Passagen, in denen Kant auf den Vorwurf des Idealismus antwortet, die realistische Antwort zweifelsohne gegeben wird; nämlich in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (§ 13, Anm. II und III); während auf der anderen Seite die transzendentale Antwort zweifelsohne in der ›Widerlegung des Idealismus‹ – eingefügt in die zweite Auflage der Kritik5 – gegeben wird. Hr. Caird diskutiert die erste dieser beiden Behauptungen nicht; und ich hatte sicher nicht die Absicht, die letztere zu diskutieren. Die Frage, bezüglich derer wir nicht übereinstimmen, ist, ob Kant die beiden Antworten, wie Hr. Caird und ich sie übereinstimmend unterscheiden, selbst auch unterschieden hat. Ich meine, dass er das nicht tat, und der Grund dafür, dass ich dies glaube, war nicht – wie Hr. Caird scheinbar verstanden hat – die in der ›Widerlegung‹ verwendete Sprache bloß für sich selbst betrachtet, sondern ein Vergleich dieser mit der in der korrespondierenden Passage der Prolegomena verwendeten Sprache. Zum Nutzen des Lesers werde ich die wichtigsten Abschnitte beider Passagen nebeneinanderstellen – ich füge lediglich hinzu, dass ich denke, dass das Argument all jenen, die die beiden Kontexte vergleichen, sogar stärker erscheinen wird: Ich bin mir meines Daseyns als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein; weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Also ist die Wahr-

Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich

Kants Widerlegung des Idealismus

nehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding ausser mir {…} möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseyns in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich ausser mir wahrnehme, möglich. Nun ist das Bewusstsein in der Zeit mit dem Bewusstsein der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung nothwendig verbunden; also ist es auch mit der Existenz der Dinge ausser mir, als Bedingung der Zeitbestimmung, nothwendig verbunden; d.  i. das Bewusstsein meines eigenen Daseyns ist zugleich ein unmittelbares Bewusstsein des Daseyns anderer Dinge außer mir. (Kritik der reinen Vernunft, ›Elementarlehre‹, II. Th., 1. Abth. II. Buch, 2. Hauptst., 3. Abschn.)6

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allerdings, daß es außer uns Kör­per gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben; welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 13, Anm. II.)7

Ich habe in den jeweiligen Passagen bestimmte Worte kursiv gesetzt, um die vollkommene Identität der verwendeten Hauptbegriffe zu zeigen (»wirkliche Dinge außer mir« oder »außer uns«).8 Kant muss diese, folgt man Hrn. Cairds Ansicht, in den beiden Passagen bewusst mit völlig unterschiedlichen Bedeutungen verwendet haben. Nun scheint es mir an sich äußerst eigenartig zu sein, dass Kant bewusst zwei grundsätzlich verschiedene Weisen, sich selbst von der Anschuldigung des Idealismus zu läutern, anwenden sollte; dass er jede dieser Weisen getrennt und für sich in einer der beiden zentralen Passagen, in denen er ausdrücklich diese Frage behandelt, vorstellen und dennoch den Leser an keiner Stelle auf die fundamentalen Unterschiede zwischen sei-

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nen beiden Antwortmöglichkeiten hinweisen sollte. Zugestanden jedoch, dass er dieses eigenartige Verfahren angewendet haben könnte, bleibe ich dabei, dass es mehr als verwunderlich ist  – dass es einfach unglaubhaft ist –, dass er in den beiden Antworten dieselben Hauptbegriffe mit verschiedenen Bedeutungen, in vollem Bewusstsein ihrer Mehrdeutigkeit, genutzt haben sollte, ohne dem Leser einen Hinweis auf diese Mehrdeutigkeit zu geben. Das ist der Punkt, auf welchen ich in meiner vor­heri­ gen Anmerkung9 die Aufmerksamkeit lenken wollte, und auf den – soweit ich sehen kann – Hrn. Cairds Ausführungen eine Antwort nicht einmal andeuten. Des Weiteren jedoch kann ich nicht verstehen, wie Kant, ohne irgendeine solche Konfusion des Denkens, wie ich sie ihm zuschreibe, seine transzendentale Antwort jemals als eine ›Widerlegung‹ des problematischen Idealismus von Descartes hätte betrachten können. Denn wenn wir seine Antwort in ihrer Verschiedenheit, hinsichtlich derer Hr. Caird und ich übereinstimmen, begreifen, müsste offensichtlich sein, dass sie, wenn sie an die kartesische Position adressiert ist, eine schlichte ignoratio elenchi10 mit sich bringt. Descartes sagt:11 »Ich verfechte, was du einen ›problematischen‹ Idealismus nennst; d. h., ich denke an die Vorstellung einer von meinem Geist substantiell verschiedenen materiellen Welt, aber ich habe keine klare und sichere Intuition, dass eine solche nicht-mentale Welt tatsächlich existiert; während ich eine klare und sichere Intuition habe,12 dass ich, als Geist, tatsächlich existiere. Ich weiß, dass Materie unabhängig vom Geist existieren kann; aber dass sie existiert, verlangt einen Beweis.« Kant antwortet: »Ich werde den Beweis liefern. Was du Materie nennst, ist in ihren Elementen zweifelsohne mental. In der Tat, ich werde dir präzise zeigen, wie sie durch die synthetische Handlung deines Denkens selbst aus deinen passiven Gefühlen erzeugt wird; aber ich zeige auch, dass du dazu gezwungen bist, sie als etwas von deinem individuellen Geist Unterschiedenes zu denken.« Wird Descartes nicht erwidern: »Es wird eine ganze Menge an Argumenten brauchen, um mich dazu zu bringen, diese verblüffende und selbstwidersprüchliche

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Position zu akzeptieren. Aber angenommen, ich würde sie akzeptieren: Ich sollte mich selbst für einen ›dogmatischen‹ und nicht länger für einen ›problematischen‹ Idealisten halten; denn trotz dieser unüberwindlichen Notwendigkeit, Materie als von meinem Geist unterschieden vorzustellen, sollte ich, wie du sagst, philosophisch wissen, dass die Materie etwas ist, was vom Geist aus mentalen Elementen geschaffen wird. Nennst du das Widerlegung des Idealismus? Ich nenne das Bestätigung des Idealismus.« Und sicherlich muss Professor Caird dies so bezeichnen; denn warum sollte er sonst den Kantianismus, wie er ihn interpretiert, so eng an diese von seinem Autor vehement zurückgewiesene Benennung binden wollen? Ich schließe daher, dass Kant, als er seine transzendentale Antwort auf den Vorwurf des Idealismus in der zweiten Auflage der Kritik formulierte, diese nicht eindeutig von der realistischen Antwort auf denselben Vorwurf, wie er sie bereits in den Prolegomena gegeben hatte, unterschied: so dass in der vorherigen Passage die phänomenale Materie, deren Beharrlichkeit er für ein notwendiges Postulat des empirischen Denkens hält, so zu verstehen ist, dass sie eine ungetrennte Verbindung mit der »Materie an sich« mit sich bringt, deren unabhängige Existenz »zu bezweifeln ihm niemals in den Sinn kam«. Auch denke ich nicht, dass irgendjemand, der die Kritik kennt, die Tatsache, dass Kant an anderer Stelle sein noumenales Objekt klar von seinem phänomenalen Objekt unterscheidet, für geeignet hält, irgendeinen ernsthaften Einwand gegen die Aneignung meiner Ansicht bereitzuhalten. Noch ein weiteres Wort bezüglich der Frage der Nomenklatur. Ich stimme durchaus mit Hrn. Caird überein, dass es Einwände gegen die Anwendung des Begriffs ›Idealismus‹ auf das System von Berkeley gibt; aber ich denke, dass es die Verwirrung nur verstärken würde, wenn man dies (wie er vorschlägt) ›Sensualismus‹ nennen würde,13 stellt man die mit letzterem inzwischen fest verbundenen materialistischen Assoziationen in Rechnung. Ich selbst würde bevorzugen, es ›Mentalismus‹ zu

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nennen; und ich habe tatsächlich einen sanften Versuch unternommen, diesen Begriff in Umlauf zu bringen – jedoch, soweit ich weiß, ohne Erfolg.

P. S.: Seit das Vorherige geschrieben wurde, habe ich entdeckt, dass Professor Adamson meine vorherige Anmerkung zum Anlass genommen hat, einen Anhang für sein kürzlich veröffentlichtes Buch Über die Philosophie Kants zu verfassen.14 Hr.  Adamson jedoch steuert am Punkt meines Argumentes noch vollständiger vorbei als Hr. Caird, da er auf die Passage in den Prolegomena nicht einmal hinweist. Von daher ist die einzige Antwort, die ich ihm im Augenblick zu geben habe, die, seine Aufmerksamkeit nochmals auf diese Passage zu lenken. Ich sehe nicht wie er, mit diesen Anmerkungen II und III zu § 13 vor sich, daran festhalten kann, dass »der Unterschied zwischen einem Ding und der Repräsentation oder Vorstellung des Dings« in Kants Schriften »niemals irgendeinen Bezug zur Frage nach den Noumena« hat.15

SI D GW IC K ALS H OCH SC HU LPO LI T IKE R

Philosophie in Cambridge 1 Wäre irgendjemand vor fünfzig Jahren aufgefordert worden, einen Aufsatz über die Philosophie in Cambridge zu schreiben, hätte er verständlicherweise das Gefühl bekommen können, vor die alte tyrannische Aufgabe gestellt worden zu sein, Ziegel ohne Stroh herzustellen. Zweifelsohne gab es zu jener wie zu jeder anderen Zeit in der Geschichte der Universität Personen, die moralische und meta­physische Themen studierten und reflektierten – vor fünfzig Jahren wahrscheinlich sogar mehr als zu den meisten anderen Zeiten, hielten doch damals allein am Trinity College2 Whewell, Thirlwall und Hare3 Vorlesungen und studierten dort Maurice und Sterling. Doch die offizielle Anerkennung solcher Studien im akademischen System war zu einem schieren Schatten eines Schattens dahingeschwunden. Auch gab es bis damals keinen Resident Writer4 in Philosophie, der inoffiziell diejenige Führung und Anregung hätte geben können, die in irgend­einer Weise der noch immer innerhalb der Grenzen der Universität weiter betriebenen philosophischen Spekulation den genuinen Stempel Cambridges aufgedrückt hätte. Die Philosophie hatte in allen praktischen Hinsichten ihren alten Platz im Studienprogramm Cambridges verloren und ein neuer Platz war für sie noch nicht gefunden worden. Das alte System, welches Disputationen zur Erreichung akademischer Grade vorsah und welches ein wenig Wissen über logische Formen und ein wenig Interesse für philosophische Stoffe aufrecht erhielt, war schließlich zu einer reinen Zeremonie verkommen und im Begriff, formal abgeschafft zu werden. Zur gleichen Zeit war der Anteil

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der Moralphilosophie und der Metaphysik am modernen System der schriftlichen Prüfungen, der immer vergleichsweise unbedeutend gewesen war, ganz am Dahinschwinden. Es gab ein wenig Unterricht über Locke in einem oder zwei der Colleges, aber aus diesem war das Leben ziemlich entwichen. Paleys Moralsystem war noch immer offiziell vorgeschrieben. Noch immer galt es als orthodox, in den leeren geisteswissenschaftlichen Fakultäten5 formal daran festzuhalten: »Recte statuit Paleius de utilitate«.6 Seine Methode hatte jedoch jeden realen Einfluss verloren, auch wenn die Kritik an ihr noch nicht die definitive und durchdachte Form angenommen hatte, die Sedgwick und Whewell ihr bald geben würden. Es gab einen Professor für Kasuistik, aber er war noch immer eine κωφὸν πρόσωπον im akademischen Drama.7 Herschels Discourse on Natural Philosophy8 war noch nicht erschienen, um das Eis der Gleichgültigkeit zu brechen, mit welcher der Methodologie an Bacons Universität9 begegnet wurde und um eine philosophische Debatte zu beginnen, die noch immer lebhaft fortgesetzt wird und in der Cambridge eine wichtige, wenn nicht die herausragendste Rolle übernommen hat. Die Wirkung Coleridges auf die gebildete Jugend Englands war groß und wuchs stetig, aber die Jahre, die dieser in Cambridge verbracht hatte, hatten kein geistiges Band zwischen ihm und seiner Alma Mater10 entstehen lassen – sein Einfluss dort war so grundlegend fremdartig wie derjenige von Bentham in Oxford. In Wirklichkeit war die Bildungsbewegung in Cambridge ganz in Anspruch genommen durch die Entwicklung und Bestimmung der wechselseitigen Beziehungen von Altphilologie, Mathematik und Physik; man war zufrieden damit, Ethik und Metaphysik der Pflege Schottlands und Deutschlands zu überlassen. In dem halben Jahrhundert, welches seither vergangen ist, hat sich ein erheblicher Wandel vollzogen, wenngleich auch heute noch die Position der Philosophie in Cambridge einen begeisterten Anhänger des Faches kaum zufriedenstellen wird. Bevor mit einer genaueren Charakterisierung dieser Position fort-

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gefahren wird, mag es von Interesse sein zu erklären, wie die Universität von More und Cudworth und Clarke in den zuvor aufgezeigten Zustand eintreten und wie sie diesen wieder verlassen konnte; insbesondere weil eine solche historische Skizzierung uns dazu führen wird, die wichtigsten Eigenarten der gegenwärtigen Beziehung Cambridges zur Philosophie zu anti­ zipieren.* Zunächst muss jedoch beachtet werden, dass es für diese Unter­suchung besonders unerlässlich ist, methodisch vorzugehen und Mehrdeutigkeiten in unserem Hauptbegriff zu vermeiden. Die meisten Menschen aus Cambridge im achtzehnten Jahrhundert wären sehr erschrocken, hätte man ihnen erzählt, dass sich die Philosophie in ihrer Universität auf dem Rückzug befand. Sie hätten geantwortet, dass ganz im Gegenteil gründliches und exaktes philosophisches Wissen genau dasjenige war, was ihre Alma Mater zu erhalten und zu verbreiten sich bemühte. Denn die Verwendung des allgemeinen Begriffes Philosophie als Bezeichnung für die Physik, welche kontinentale Autoren als englische Besonderheit aufgefasst haben, ist in Cambridge seit der Zeit Newtons besonders heimisch gewesen. Zweifelsohne wäre der spezifizierte Begriff »Naturphilosophie« immer als angemessener und präziser aufgefasst worden; dennoch wurde »Philosophie« ohne Spezifizierung allgemein als Bezeichnung für Naturphilosophie verstanden. Wir stellen zum Beispiel fest, dass der Aufklärer Dr. Jebb in der Beschreibung der Prüfungen der Universität, wie sie 1772 bestanden, vom »Übergang von den Elementen der Mathematik zu den vier Gebieten der Philosophie, d. h. Mechanik, Hydrostatik, Scheinbare Astronomie und Optik«, spricht.11 »Der Prüfungs*

  Mein Dank gebührt mehreren Cambridge Residents mit älteren und besser sortierten Erinnerungen als meinen eigenen, welche mich gütig mit einigen der in dieser Abhandlung erwähnten Tatsachen versorgt haben. { Als Residents werden die Mitglieder der Universität Cambridge bzw. der Colleges bezeichnet, welche – verbunden mit besonderen Rechten und Ansprüchen – dauerhaft vor Ort, etwa als Fellows der Colleges, forschen und lehren.}

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leiter«, so fährt er fort, »stellt nach Abschluss der philosophischen Prüfung manchmal ein paar Fragen über Lockes Essay on the Human Understanding, Butlers Analogy oder Clarkes Attributes.«12 Viele ähnliche Passagen könnten zitiert werden, sogar von so späten Auto­ren wie dem ehemaligen Dekan Peacock. Ich habe auf diese Begriffsverwendung nicht nur aufmerksam gemacht, um jeder Verwirrung des Denkens vorzubeugen, sondern weil dieses uns zur richtigen Perspektive zurückführt, von der aus der Prozess verstanden werden kann, durch den Mathematik und mathematische Physik zum bevorzugten Studiengebiet in Cambridge wurden. Die Antithese zwischen Mathematik und Philosophie als Mittel der Bildung, wie sie vor ungefähr vierzig Jahren durch die Kontroverse zwischen Whewell und Hamilton bestimmt und geschärft wurde, war so weit wie nur denkbar von den Vorstellungen Barrows oder Sandersons13 oder der anderen aktiven und aufgeklärten Lehrer entfernt, die die wichtigsten Akteure in der Herbeiführung dieses Wandels waren. Es war keine Abwendung vom Studium der allgemeinen Natur der Dinge zugunsten des enger { gefassten }, wenn auch exakteren Studiums der beständigen Einzelgrößen,14 welches sie im Blick hatten. Vielmehr ging es darum, jener neuen Art von Philosophie, die Galileo und Descartes und später Newton mit solch eindrucksvollen Ergebnissen entwickelt hatten, zu angemessener Berühmtheit zu verhelfen; dazu erlaubte man sich, sie mit den alten metaphysischen Studien auf { für letztere } einigermaßen unvorteilhafte Weise zu kontrastieren. Für diese neue Philosophie war die Mathematik eindeutig das unverzichtbare Organon.15 Der versierte Barrow, dessen akademische Tätigkeit mit der ersten Etappe dieses Prozesses zusammenfiel und diese teilweise konstituierte, erklärte den Studenten seiner Zeit, dass sie ihre Liebe zur wahren Philosophie zeigen, wenn sie ihre Zeit nicht auf Disputationen bezüglich »entia rationis, materia prima und ähnlich scholastischen Schimären« verschwenden, sondern sich stattdessen leidenschaftlich der Mathematik zuwenden.16 »Jam tandem vos serio Philosophiae operam daturos bona spes est, Veritatis inquisitionem non tantum a

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dialecticis argutiis sed, quod antiquis philosophiis solemne erat, ab iis nobilissimis scientiis auspicantes.«(Oratio ad Academicos in Comitiis, 1659).17 Diese Begeisterung sollte verständlicherweise durch die Entdeckungen Newtons sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern deutlich verstärkt werden. In einer Hinsicht können diese billigermaßen als Triumph akademischer Studien angesehen werden. Ein Universitätsprofessor erlangte durch die anerkannte akademische Methode der syllogistischen Demonstration aus abstrakten Prinzipien heraus ein Verständnis der Realität, welches kein reiner Beobachter oder Experimentator hätte erreichen können. Es war nicht überraschend, dass in der unmittelbar auf Newton folgenden Zeit der aktive und progressive Teil der Universität besonders mit der Weiterentwicklung dieser Studiengebiete befasst sein sollte. { Ebenso wenig überraschte }, dass die anhaltende Anstrengung, die neuen Wahrheiten zu verbreiten und die Methode zu vermitteln, durch welche sie gewonnen worden waren, die Ausbildungsfunktionen der Universität neu beleben sollte und den Übungen, welche als Bedingung zur Erlangung des ersten akademischen Grades vorgeschrieben waren, Leben und Wirklichkeit zurückgab. In der Abschlussprüfung, die in dieser Zeit reformiert wurde und an Bedeutung gewann, standen sie natürlich an erster Stelle; und sogar in den vorausgehenden Arbeiten oder Disputationen in den Schulen (welche nach der Entwicklung des modernen Systems schriftlicher Prüfungen für eine lange Zeit weiterhin beträchtlichen Einfluss auf die Zuerkennung akademischer Ehren besaßen), wurden physikalische Fragen von Descartes oder Newton mit größerer Leidenschaft diskutiert, als die alten scholastischen Themen sie erregen konnten. Zugleich darf nicht angenommen werden, dass die von mir beschriebene Entwicklung in irgendeiner Weise bewusst gegen moralische und metaphysische Spekulation im Allgemeinen gerichtet war. Sie stand zweifelsohne in bewusstem Gegensatz zum »dumpfen, eingebrannten System der aristotelischen Logik«,18 aber eine solche Entgegensetzung fand einen willkommenen Verbündeten in der modernen Psychologie. Tatsächlich

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scheint es so zu sein, dass Locke in Cambridge ungefähr zur selben Zeit wie Newton Einzug hielt; genauso wie im vorherigen Jahrhundert das Studium von Descartes durch die Platoniker19 angeregt worden war. Dieselbe Reformwelle, der es gelang, die Principia20 zu inthronisieren, etablierte auch den Essay on the Human Understanding als anerkanntes Lagerhaus der »quae­stio­nes metaphysicae«.21 Während Clarke wiederum – vielleicht das größte genuin metaphysische Genie, das England seit dem Mittelalter hervorgebracht hat – ein glühender Schüler Newtons war und eine wichtige Rolle bei der Einführung der Newtonschen Physik in das Lehrprogramm von Cambridge übernahm, bemühte er sich zur gleichen Zeit, die Ansichten seines Meisters hinsichtlich ihrer theologisch-metaphysischen Aspekte zu einem vollständigen, vernünftigen System des Universums zu entwickeln und die Wissenschaft der Ethik auf einem der Mathematik so analog wie irgend möglichen Fundament zu gründen. Eine Zeit lang scheinen Clarkes moralische und metaphysische Spekulationen eine große Verbreitung an seiner Universität gefunden zu haben und seine Attributes behaupteten bis zum Ende des Jahrhunderts an der Seite von Lockes Essay einen festen Platz in philosophischen Vorlesungen und Disputationen. Aber als die Aura der Stichhaltigkeit, die Clarkes Beweise umgab, klar als Illusion entlarvt und es offenkundig wurde, dass sein System in Argumentationen endete, die so steril waren wie die irgendeines scholastischen Metaphysikers, tendierte wahrscheinlich ebenjener Vergleich, mit dem diese { Philosophie } mathematische und physikalische Studien umwarb, dazu, die größere Anziehungskraft des durch letztere erreichbaren klaren, sicheren, progressiven Wissens zu befördern.* In jedem Fall können wir feststellen, dass es teilweise *

  Ein gewisser Effekt solcher Art wird von Law – einem alten Angehörigen Cambridges – in seinen Anmerkungen zu Kings Origin of Evil behauptet; aber ich bin mir nicht sicher, ob er ein unparteiischer Zeuge ist. { Sidgwick verweist hier auf das Buch De Originale Mali des anglikanischen Erzbischofs von Dublin, William King (1650–1729), welches,

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dem größeren intrinsischen Interesse für diese letztgenannten Disziplinen geschuldet war, teilweise deren besserer Eignung für die schriftlichen Examina – deren Einfluss seit der Zeit ihrer ersten Einführung stetig gewachsen zu sein scheint –, und teilweise der ausdauernderen und konzentrierteren Arbeit – die nach und nach von Studenten erwartet wurde, wenn sie das immer weiter ansteigende Niveau mathematischer Einsichten erreichen wollten –, dass solche ethischen und metaphysischen Studien, wie sie noch immer betrieben wurden, einen allmählich sinkenden Teil der Aufmerksamkeit einnahmen. So sehen wir im Jahre 1772 den Stand der Dinge erreicht, den Dr. Jebb in der bereits zitierten Passage beschreibt, wonach »eine sehr oberflächliche Kenntnis von Moral und Metaphysik« als ausreichend angesehen wurde, so wie auch die höchsten akademischen Ehren ausnahmslos an die »am besten in Mathematik und Naturphilosophie Bewanderten« vergeben wurden.22 Allerdings scheint ein gewisser Umschwung zu eben der Zeit, zu der Dr. Jebb schrieb, stattgefunden zu haben. Wenige Jahre später wurde von den universitären Autoritäten zumindest der Versuch unternommen, den Niedergang der alten Disziplinen aufzuhalten. 1779 wurde eine Verordnung erlassen, die zu den Examina einen vierten Tag mit dem Ziel hinzufügte, dass einer dieser vier Tage Fragen der »natürlichen Religion, der Moralphilosophie und Locke«23 gewidmet würde. Diese Bewegung war wahrscheinlich auf seinen Einfluss, wenn nicht auf den energischen Agitator selbst, aus dessen Streitschrift ich zitiert habe, zurückzuführen, zumindest auf den Kreis kirchlicher und akademischer Liberaler, deren prominentes Mitglied er war. Zu diesem Kreis gehörte, wie wir beachten müssen, auch der eine wirklich einflussreiche moralphilosophische Autor, den Cambridge seit Beginn des Jahrhunderts hervorgebracht hatte, William Paley. Mit dem ganzen Prestige, das bereits damals mit der Position des Senior Wranglers24 verbundenen war, wandte sich von Edmund Law ins Englische übersetzt und umfassend kommentiert, 1731 erschien und rasch mehrere Auflagen erlebte.}

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Paley von den mathematisch-physikalischen Studien ab, die ihm diese ehrenhafte Position eingetragen hatten, und widmete sich während der Jahre, in denen er am Christ College lehrte (von 1767 bis 1776), ganz dem metaphysischen und moralphilosophischen Bereich des Unterrichts. Es dauerte bis 1785, dass das Wesentliche seiner Vorlesungen über moralische und politische Philosophie in der seither so bekannten Abhandlung25 erschien, aber wir können beobachten, dass dieses Buch nahezu unmittelbar nach seinem Erscheinen in das akademische Curriculum eingeführt wurde und seinen Platz dort bis vor kurzem behielt – zusammen mit seiner anderen Abhandlung über die Evidences of Christianity, welche sogar noch immer nicht ersetzt worden ist. Für ein halbes Jahrhundert fungierten »Locke und Paley« als das untrennbare Paar von Denkern, welches – gleich »Aristoteles und Butler« in Oxford – von der Universität Cambridge zu ihren philosophischen Repräsentanten ernannt worden war, und zumindest für einige Zeit bildete das Studium ihrer Systeme, zusammen mit einigen wenigen anderen Werken, einen beträchtlichen Teil der Lektüre eines Studenten. Es scheint, dass es ungefähr zu dieser Zeit üblich wurde, zwecks Abhaltung einer »mündlichen Disputation«26 für den ersten akademischen Grad eine moralische oder metaphysische These für eine konkrete Disputation auszuwählen; und noch 1804 existiert die Tradition, dass man akademische Ehren für die Stärke seines »Lockes« erlangte.* Ein wirklich tiefes und umfassendes Interesse an den Schriften Lockes und Paleys konnte jedoch nicht ohne neue Gedanken zu ihren Themen aufrechterhalten werden; und da kein einheimischer Denker auftrat, um dies anzu*

  Erzdiakon Hollingworth, Norris Professor der Theologie, hatte angeblich seinen Erfolg im Tripos diesem Teil seiner Arbeit zu verdanken. Es sollte jedoch beachtet werden, dass dieses ein Ausnahmefall und er lediglich ein »Junior Optime« war. {  Junior Optime bezeichnet die Gruppe von Studenten der Universität Cambridge, die weder zu den besten ihres Jahrgangs (Wrangler) noch zur zweitbesten Gruppe (Senior Optimes), sondern zur darauffolgenden Gruppe gehören.}

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regen, wurden beide schrittweise aus den Kursen »verdrängt«; zum Teil durch die unaufhaltsame Entwicklung der Mathematik, zum Teil durch die Bewegung zugunsten der Altphilologie, welche zur Einrichtung des altsprachlichen Tripos27 1822 führte. Das altertümliche System der Disputationen  – denen »quaestiones ethicae« und »metaphysicae« naturgemäß nahestanden – und das ethische und metaphysische Element in den schriftlichen Prüfungen waren dazu bestimmt gewesen, nahezu gleichzeitig auszusterben.28 1839 wurde die letzte »Disputa­tion«29 abgehalten und ungefähr zehn Jahre zuvor wurden die traditionellen Arbeiten zu »Locke und Paley« zum ersten Mal erklärtermaßen nur noch für die πολλοί erstellt:30 Man nahm an, dass diejenigen, deren Gehirne nicht mit Mathematik belastet seien, die Zeit für ein Minimum an moralischer Reflexion hätten. Es gab, wie ich gesagt habe, zu dieser Zeit nicht wenige Resi­dents31 in Cambridge, die ein ernsthaftes Interesse an der Philosophie besaßen; aber niemand trat an, diesen mageren Rest des alten Systems zu verteidigen. Wahrscheinlich spürte man, dass Cambridge mit der Etablierung des altphilologischen Tripos einen schließlich entscheidenden Schritt in Richtung eines spezialisierten Studiums unternommen hatte. Der alte, einheitliche universitäre Bildungsweg in all den Dingen, die jeder gut ausgebildete Mensch wissen sollte, war nach und nach – eher durch den Druck der Umstände als durch eine bewusste Entscheidung von irgendjemandem – komprimiert worden zu einem ein wenig engen Pfad, zu dem, was nun als rein »mathematischer« Tripos angesehen werden musste. An dessen Seite war ein anderer, ebenso gerade verlaufender Pfad zu akademischen Ehren eröffnet worden: der der Studien des Griechischen und Lateinischen. Und da es nun dazu gekommen war, dass die Verteilung der Mitgliedschaften in der großen Mehrzahl der Colleges beinahe ganz von den universitären Prüfungen abhing, schien es so, dass alle anderen Disziplinen, sollten sie neben der Altphilologie und der Mathematik die Aufmerksamkeit der Alumni von Cambridge gewinnen wollen, die Forderung nach einem eigenen Tripos erheben mussten.

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Dass im Fall der Moralwissenschaften dieses Ziel letztlich erreicht wurde, kann auf eine Kombination von Gründen zurückgeführt werden. In erster Linie jedoch ist dies als Teil des allgemeinen Widerstandes gegen die Begrenztheit des traditionellen Curriculums in Cambridge zu verstehen, welche in mancherlei Hinsicht durch die Einführung des altphilologischen Tripos nur noch offenkundiger geworden war. In der Entwicklung dieses neuen Tripos begann man sehr früh zu spüren, dass die griechische Philosophie eine deutlichere Anerkennung im altphilologischen Studium verdiente.* Im Trinity College arbeitete eine Reihe bemerkenswerter Dozenten – Julius Hare, Thirlwall und Thompson – daran, ein etwas intelligenteres Studium der Werke Platons und Aristoteles in ihrem eigenen College sicherzustellen. Währenddessen erweckte auf der anderen, mathematisch-physikalischen Seite der Forschungen in Cambridge die Erscheinung von Herschels Discourse on Natural Philosophy 1831 allgemeines philosophisches Interesse. Wenige Jahre später verstärkten Sedgwicks Discourse on the Studies of Cambridge32 und die darauf folgende Kontroverse die Unruhe noch weiter. Das Wiederaufleben der Philosophie in Cambridge ist jedoch mehr Whewell zuzuschreiben als jedem anderen einzelnen Menschen. Obwohl er (wie ich angemerkt habe) in seiner Auseinandersetzung mit Hamilton und an anderen Stellen an der Überlegenheit der Mathematik und der Altphilologie über alle anderen Disziplinen als den hauptsächlichen Instrumenten universitärer Bildung festhielt, hielt ihn diese Überzeugung nicht davon ab, sich ernsthaft und nachdrücklich darum zu bemühen, den anderen Wissenschaften den Platz im akademischen System zu sichern, den er als ihr Anrecht begriff. An diesem Ziel *

  Whewells Buch über Liberal Education zeigt, dass die Änderungen, die bei der letzten Neuordnung des altphilologischen Tripos in dieser Hinsicht vorgenommen wurden, eine Generation zuvor lautstark gefordert worden waren; vgl. dazu auch Julius Hares Anmerkungen in seinem Buch Life of Sterling, S. xii, xiii. { Sidgwick verweist hier auf folgende Texte: Whewell 1845, Of a Liberal Education; Hare 1848, Sketch of the Author’s Life, S. xii, xiii.}

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arbeitete er nicht nur im modernen äußerlichen Stil durch die Gestaltung von Prüfungsaufgaben, sondern auch mit Hilfe der älteren, intellektuelleren Methode der Lehre und der ernsthaften und wirksamen Spekulation über philosophische Themen. 1839 begann er, vom lange nicht vernehmbaren Lehrstuhl für Kasuistik aus, Vorlesungen über Moralphilosophie zu halten, von welchen zumindest die früheren, historischen Kurse für sehr ansprechend gehalten wurden. Wenige Jahre zuvor hatte er den traditionellen Aufsatz über Philosophie in der Mitgliedschaftsprüfung seines eigenen Colleges verändert; er machte aus ihm ein effektives Instrument, die geeigneteren Kandidaten für eine Mitgliedschaft in Trinity dazu zu veranlassen, nach ihrem ersten akademischen Grad systematisch philosophische Lektüre zu betreiben. Währenddessen wurde seine eigene sorgfältige Untersuchung der Methoden der modernen Wissenschaft zu fruchtbaren und anregenden Resultaten gebracht. 1840 erschien seine Philosophy of the Inductive Sciences. Zehn Jahre später übernahm er eine zentrale Rolle bei der Einrichtung des ersten moralwissenschaftlichen Tripos. Die Struktur dieser Prüfung war allerdings ziemlich unangemessen, da sie in der Tat nicht aus der Kombination der verschiedenen Bereiche und Aspekte, in der die Philosophie im Allgemeinen studiert wird, sondern aus der Kombination gewisser Fächer, in denen die Universität zufälligerweise Professoren besaß, gebildet wurde. So umfasste sie weder Logik noch Metaphysik und nicht einmal Psychologie, abgesehen von der Behandlung innerhalb der Moralphilosophie. Aus Sicht der Studenten jedoch, auf deren Teilnahme dieser Tripos abzielte, hatte er den schwerwiegenderen Defekt, dass er nicht zur Übertragung eines akademischen Grades führte. Der Makel der Minderwertigkeit, der daher den Moralwissenschaften im Vergleich mit der Mathematik und der Altphilologie anhaftete, machte es für sie sogar schwer, nach den bedeutenden Auszeichnungen, welche die Colleges verliehen, zu streben. 1860 wurde dieser Makel beseitigt und zur selben Zeit ein vollständiger Prüfungsplan eingeführt, dessen wesentliche Merkmale, obwohl er seither zweimal verändert

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wurde, noch immer gelten. Diese letzte Stufe der Entwicklung war mit Whewells Zustimmung und Mitarbeit erreicht worden, aber der aktivste Part in der Durchführung war von Reverend J. B. Mayor von St. Johns33 übernommen worden – dem College, welches zu dieser Zeit die Führung in der Förderung philosophischer Studien übernahm, nicht nur durch die Einführung von Vorlesungen, sondern durch den noch wichtigeren Schritt der Öffnung dieser Studienrichtung für die krönende Ehre einer Mitgliedschaft. Das erste Mitglied, das in Cambridge allein aufgrund seiner Leistungen in den Moralwissenschaften gewählt wurde, war der Beste im moralwissenschaftlichen Tripos des Jahres 1863, ein Mitglied von St. Johns. Seitdem sind drei andere Mitgliedschaften auf die gleiche Weise verliehen worden und in ein oder zwei weiteren Fällen wird angenommen, dass den Leistungen in diesem Fach erhebliches Gewicht beigemessen wurde, auch wenn sie nicht der einzige Grund für die Auswahl waren. Für die Kenntnisse in dieser Disziplin werden auch in St. Johns, in Trinity und gelegentlich in Downing34 Stipendien gewährt. Wenn das Studium der Philosophie bisher auch noch weit davon entfernt ist, in der allgemeinen Wertschätzung Cambridges auf einem Level mit Mathematik oder Altphilologie zu sein, ist es doch von dieser Position nicht länger durch einen definitiven und unüberwindbaren Abstand getrennt. Solange diesem Level jedoch nicht bedeutend näher gekommen wird, ist es schwer, genau zu sagen, ob der Mangel an Studenten, die dieses Ziel verfolgen – zwölf bis fünfzehn pro Jahr –, der Seltenheit der bisher erzielten Auszeichnungen desselben geschuldet ist oder dem Fehlen an Prestige oder an direktem beruflichen Nutzen des erworbenen Wissens oder der intrinsischen Reizlosigkeit dieses Studiums für die meisten englischen Gemüter oder ihrem Wunsch nach Nähe zu den traditionellen Neigungen und Tendenzen in Cambridge. Wahrscheinlich wirken alle diese Gründe in einem gewissen Maße zusammen. Für einige Zeit nach der Einführung der zweiten, vollständigeren Prüfungsstruktur gab es einen Mangel an der offiziell zu diesen Themen angebotenen Lehre; aber in dieser Hinsicht gibt es heutzutage keine De-

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fizite mehr – zumindest insofern es die Quantität betrifft, da es, die verschiedenen Colleges zusammengenommen, etwa fünf Dozenten gibt, die ganz oder hauptsächlich mit dieser Arbeit beschäftigt sind. Zumeist sind diese Dozenten nicht zur Lehre einiger spezieller Themen ernannt, sondern generell zur Vorbereitung der Studenten für den moralwissenschaftlichen Tripos. Dennoch ist seit einigen Jahren durch gegenseitige Vereinbarung eine ziemlich vollständige Verteilung der Themen der moralischen und politischen Philosophie, der mentalen Philosophie, der Logik und der politischen Ökonomie unter den Lehrenden erreicht worden; und es erscheint wahrscheinlich, dass diese Verteilung in nicht allzu langer Zeit auf eine anerkanntere und dauerhaftere Grundlage gestellt wird. In dieser historischen Skizze habe ich mich hauptsächlich auf die Stellung der Philosophie im Rahmen der Universitäts- oder Collegeprüfungen und anderer vorgeschriebener Aufgaben konzentriert. Innerhalb des gegenwärtigen Systems hochentwickelter und sorgfältiger Prüfungen, bei deren erfolgreichem Bestehen große monetäre Preise erzielt werden, sind diese Überlegungen natürlich bedeutsam. Im Cambridge { des Jahres } 1876 wäre es selbst für Aristoteles schwierig, eine ernsthafte Zuhörerschaft von nicht-graduierten Studenten für sich zu gewinnen, es sei denn, sie gingen davon aus, sein Unterricht würde sich für einige Tripos-Prüfungen »auszahlen«. In der früheren Phase der Geschichte, die ich knapp nachverfolgt habe, war dieses jedoch nicht wirklich der Fall – und auch jetzt noch, seit die Philosophie ein bedeutender Gegenstand vollentwickelter Studien geworden ist, scheint es keinen Grund zu geben, warum in Cambridge nicht eine Schule philosophischen Denkens durch den wechselseitigen Austausch unvoreingenommener Studenten und den allgemeinen Einfluss einiger hervorragender Lehrer, ob offiziell eingeführt oder nicht, geformt werden sollte. Tatsächlich jedoch ist seit dem 17. Jahrhundert ein solches Phänomen nicht aufgetreten; und das Element persönlichen Einflusses ist in der Entwicklung des Denkens in Cambridge unübersehbar abwesend gewesen. Seit Whewell die Professur für Kasuis-

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tik in einen Lehrstuhl für Moralphilosophie umgewandelt hat, wurde dieser immer von Denkern entschiedener intellektueller Kraft und Produktivität besetzt; aber es kann nicht gesagt werden, dass die Lehre von irgendeinem aus dieser Reihe die Tendenz zur Bildung einer Schule aufwies. Whewells Vorlesungen waren anfangs stark besucht, aber als sich sein eigenes System der Moral zu entwickeln begann, scheint das Interesse nachgelassen zu haben. Vielleicht waren es die besonderen intellektuellen Vorzüge John Grotes – feinsinnige und ausgewogene Kritik, facettenreiche und wandlungsfähige Sympathien – die ihn, so originell er war, schwerlich dazu qualifizierten, Begründer einer Schule zu sein. Der Fall Maurice bietet eine eindrucksvolle Veranschaulichung meiner Bemerkung, da sein Einfluss in Cambridge, wo seine History of Moral and Metaphysical Philosophy35 viele Leser fand, zeitweilig beachtlich war. Das Werk hatte jedoch, zumindest in der Sphäre philosophischen Denkens, aufgehört, wirklich Einfluss zu haben, bevor er Professor wurde, und alle Eindrücklichkeit und aller intellektuelle Charme seiner persönlichen Präsenz und Konversation konnten das Werk nicht wiederbeleben. Ich sollte geneigt sein zu denken, dass in 150 Jahren kein in Cambridge heimischer Denker dort einen Einfluss hatte, der mit demjenigen vergleichbar ist, den John Stuart Mill in letzter Zeit aus der Ferne ausübte. Was auch immer für die Philosophie in Cambridge charakteristisch ist, muss deswegen eher den allgemeinen intellektuellen Tendenzen zugeschrieben werden, welche Cambridges bevorzugte Disziplinen und die besondere Organisation des akademischen Systems hervorbrachten, als irgendeiner Tradition der Lehre oder irgendeiner Übereinkunft der Meinungen, die sich dem wechselseitigen Einfluss der Personen, die am selben Ort leben und dieselben Forschungen verfolgen, verdankt. Seit der Zeit der Platoniker36 lässt die Geschichte Cambridges keine philosophische Schule oder Bewegung37 erkennen und kaum einen philosophischen Zirkel – zumindest beobachtet man keine Ideen oder Denkweisen, die die Welt betreffen und die sicher auf solch einen Zirkel zurückgeführt werden können. Dennoch

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kann man erkennen, dass die anderswo produzierten Gedanken mit unterschiedlichen Graden an Aufmerksamkeit im Cambridger Geiste rezipiert werden: Manche Teilgebiete oder Aspekte der Philosophie scheinen für Menschen aus Cambridge größere Anziehungskraft zu haben als andere. Zum Beispiel ist eine Ausbildung in Mathematik und Physik eine natürliche Vorbereitung für die Teilnahme an methodologischen Kontroversen. Ich habe bereits von den Werken Herschels und Whewells in diesem Bereich gesprochen und es ist nicht fehl am Platz, das großartige literarische Monument zu bedenken, welches drei Männer aus Cambridge vor kurzem Bacon errichtet haben, da nichts, was zuvor über das Novum Organum geschrieben worden ist, in seiner erklärenden Wirkungskraft mit der Introduction von Hrn. Ellis verglichen werden kann.38 Nochmals, das Studium der Naturphilosophie veranlasst den Geist, an hypothetischen Erweiterungen der physikalischen Erklärungen von psychischen Phänomenen interessiert zu sein; daher finden wir, dass Hartley zu Zeiten Coleridges und Herbert Spencer heutzutage in Cambridge beträchtlichen Einfluss ausüben. Auf der anderen Seite war die Universität Newtons immer abgeneigt, Behauptungen »Hegels und Schellings« zuzustimmen, »welche nicht verstehen konnten, dass Newton in der physikalischen Astronomie weiter gegangen war als Kepler, und welche Newtons optische Lehren im Vergleich zu den vagen aristotelischen Dogmen Goethes bezüglich der Farben geringschätzten« (Whewell in University Education39). Und abgesehen von den durch diese wissenschaftlichen Launen entstandenen Angriffen steht die traditionelle Ausbildung in Cambridge, die Präferenzen für Exaktheit der Methode und Gewissheit der Ergebnisse im Vergleich zur Breite und Vollständigkeit einer Ansicht natürlicherweise hervorruft, den ambitionierten Konstruktionen nachkantischer Metaphysik ablehnend gegenüber. Noch einmal, ein mathematisch geschulter Geist empfindet im Allgemeinen eine große Affinität zur politischen Ökonomie, vor allem wenn sie in der abstrakten, deduktiven Art behandelt wird, welche in England seit Ricardo überwiegt. Entsprechend hat

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dieser Bereich der Moralwissenschaften bei den Menschen in Cambridge besonderen Gefallen gefunden. Diese Charakteristika zeigen sich bis zu einem gewissen Grad auch in der Struktur des moralwissenschaftlichen Tripos, wo der Logik (inklusive Methodologie) und politischen Ökonomie herausragende Bedeutung beigemessen wird – so dass diesen mehr oder weniger derselbe Status zukommt wie den größeren, aber unbestimmteren Gebieten der mentalen Philosophie (Psychologie und Metaphysik) – sowie der moralischen und politischen Philosophie. Ferner wird { in diesem Tripos } das historische Studium der Metaphysik beschränkt, so dass die nachkantischen Entwicklungen in Deutschland ausgeschlossen sind. Inwiefern es aber wahrscheinlich ist, dass diese Besonderheiten in einer philosophischen Schule zum Vorschein kommen, die in Zukunft in Cambridge gebildet werden könnte, ist schwer zu sagen, da die generellen Tendenzen des Denkens in England und der Einfluss irgendeiner viel gelesenen Abhandlung sich leicht gegenüber der Voreingenommenheit durchsetzen können, die irgendein bestimmtes Bildungssystem vermittelt. Wie auch immer, es liegt jenseits des Rahmens dieses Aufsatzes, die Zukunft der Philosophie in Cambridge zu diskutieren. Von allen Fehlern, die Menschen machen, so beobachtete ein herausragender Humorist, »ist Prophetie die überflüssigste«.40 Das Folgende ist der aktuelle Prüfungsplan des moralwissenschaftlichen Tripos – unter Auslassung des vierten Bereichs, der politischen Ökonomie.41 I. Moralische und politische Philosophie. – 1. Die verschiedenen Quellen, Gelegenheiten oder bestimmenden Ursachen menschlicher Handlungen und ihre wechselseitigen Beziehungen; Freude, Leid, Wunsch, Abneigung und ihre Spiel­arten; Wille, Willensfreiheit, praktische Vernunft; Gewissen, moralische Gefühle, moralische Wahrnehmung oder Beurteilung, moralische Argumentation; Theorien über den Ursprung des moralischen Vermögens. 2. Das Gute oder das letzte Ziel rationalen Handelns; Glück, richtig und falsch, moralische Ver-

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pflichtungen, moralische Vortrefflichkeit; Regeln und Sanktionen. 3. Darstellung und Klassifikation einzelner Pflichten und Tugenden. 4. Das Verhältnis der Ethik zu Psychologie, Recht, Politik, Theologie. 5. Die allgemeinen Prinzipien der Jurisprudenz im Zivil- und Strafrecht; Recht an Eigentum und Diensten sowie Verfahren des Erwerbs derselben; Verträge; mit verschiedenen privaten Verhältnissen verbundene Rechte und Pflichten; Theorie der Strafe. 6. Die allgemeinen Prinzipien der Politik; die verschiedenen Aufgaben der Regierung und die Arten ihrer Verteilung; wechselseitige Rechte und Pflichten der Regierenden und der Regierten; allgemeine Grenzen des Eingreifens der Regierung. 7. Die Geschichte ethischer und politischer Meinungen. – Empfohlene Bücher: Platon (Protagoras, Gorgias, Philebos, Politeia); Aristoteles (Ethik);42 Cicero (De finibus bonorum et malorum); Hobbes (Leviathan, Kap. 6–11, 13–15); Clarke (Evidences of Natural and Revealed Religion, Thesen 1–4); Shaftesbury (An Inquiry Concerning Virtue or Merit); Butler (Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel, Predigten 1–3, 5, 8, 11); Smith (The Theory of Moral Sentiments); Hume (An Enquiry Concerning the Principles of Morals); Kant (Die Meta­ physik der Sitten);43 Paley (The Principles of Moral and Political Philosophy, Buch 6); Bentham (Introduction to the Principles of Morals and Legislation,44 außer Kap. 18, und Principles of the Civil Code); Whewell (Lectures on Systematic Morality und Lectures on the History of Moral Philosophy); Mill (Utilitarianism und Considerations on Representative Government); J. Grote (An Examination of the Utilitarian Philosophy). II. Mentale Philosophie. – 1. Analyse und Klassifikation der mentalen Kräfte und mentalen Phänomene sowie Bestimmung ihrer wechselseitigen Beziehungen; Bewusstsein, Sinnesempfindung, Emotion, Willensäußerung, Wahrnehmung, Erinnerung, Vorstellungskraft, Begriffsbildung, Urteilsvermögen, Argumentation. 2. Gesetze der mentalen Entwicklung und der Assoziation mentaler Phänomene. 3. Subjekt, Objekt und ihr Verhältnis in der Kognition; der Ursprung und die Reichweite des Wissens; die Kriterien von Wahrheit und Gewissheit. 4. Die

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Kategorien oder grundlegenden Formen des Gegenstands des Wissens, ihre Herkunft und ihre wechselseitigen Beziehungen; Raum, Zeit, Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ursache und Wirkung. 5. Die hauptsächlichen Arten des Seins und ihre Beziehungen; Geist, Materie und ihre verschiedenen Arten oder Eigenschaften. 6. Physiologische Begleitumstände mentaler Phänomene; Sinnesorgane und das Nervensystem. 7. Die Geschichte der metaphysischen Positionen. – Empfohlene Bücher: Descartes (Discours de la Méthode und Meditationes de Prima Philosophia); Locke (An Essay Concerning Human Understanding); Berkeley (Three Dialogues between Hylas and Philonous); Hume (A Treatise of Human Nature, Buch 1); Reid (Essays on the Intellectual Powers of Man); Kant (Kritik der reinen Vernunft); Hamilton (Lectures on Metaphysics and Logic); Ferrier (Institutes of Metaphysic); Bain (Handbook of Mental Science); J. Grote (Exploratio Philosophica); Spencer (Principles of Psychology); Calderwood (The Philosophy of the Infinite). III. Logik. – 1. Gebiet der Logik, formal und material. 2. Funktionen der Sprache; Namen und ihre Arten; Definition, Unterteilung und Klassifikation; Prädikabilien und Kategorien; wissenschaftliche Nomenklatur und Terminologie; Abstraktion, Begriffsbildung und Generalisierung. 3. Propositionen und ihre Wichtigkeit; Gegensätze und Umwandlungen von Propositionen. 4. Analyse und Gesetze des Syllogismus. 5. Die grundlegenden Gesetze des Denkens und ihre Anwendung auf logische Prozesse. 6. Die Natur des induktiven Prozesses; Grundlage der Induktion; Verbindung zwischen Induktion und Deduktion; Analogie. 7. Regelhaftigkeiten der Natur und ihre Kombinationen; ihre Analyse und die Methode ihrer Auffindung und ihres Beweises; Beobachtung und Experiment; wissenschaftliche Erklärung; die Natur und der Gebrauch von Hypothesen. 8. Lehre vom Zufall. 9. Fehler, ihre Natur und ihre Gründe sowie die Vorsichtsmaßnahmen gegen sie; Klassifikation logischer Fehlschlüsse. 10. Das Verhältnis der Logik zur Psychologie, Metaphysik, Grammatik; Methoden der verschiedenen Wissenschaften. – Empfohlene Bücher: Aldrich (Artis ­Logicae Com-

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pendium, Edition von Mansel); Kant (Logik); Whately; Hamilton; Mansel (Prolegomena logica. An Inquiry into the Psychological Character of Logical Processes); De Morgan; Boole; Bacon (Novum Organum); Whewell (Novum Organum Renovatum); Mill; Venn (Logic of Chance).

T EX TN ACHW EI SE

Utilitarismus. Übersetzung von: Utilitarianism. Privatdruck für die Metaphysical Society (16. 12. 1873), Wiederabdruck in: ­Essays on Ethics and Method (2000). Hrsg. v. Marcus G. ­Singer. Oxford, S. 3–9. Der Utilitarismus: Tucker und Paley. Übersetzung von: Utilitarianism. In: Outlines of the History of Ethics (51902). London. Kap. IV, § 14, S. 236–239. Bentham und seine Schule. Übersetzung von: Bentham and his School. In: Outlines of the History of Ethics (51902). London. Kap. IV, § 15, S. 240–245. J. S. Mill und der Assoziationismus. Übersetzung von: J. S. Mill. In: Outlines of the History of Ethics (51902). London. Kap. IV, § 16, S. 245–253. Der Hedonismus und das höchste Gut. Übersetzung von: Hedo­ nism and Ultimate Good (1877). In: Mind 2/5, S. 27–38. Freude und Wunsch. Übersetzung von: Pleasure and Desire (1871). In: The Contemporary Review 19, S. 662–672. Der Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens. Übersetzung von: The Feeling-Tone of Desire and Aversion (1892). In: Mind. New Series 1/1, S. 94–101. Der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹. Übersetzung von: Is the Distinction between ›Is‹ and ›Ought‹ Ultimate and Irreducible? (1892) In: Proceedings of the Aristotelian Society. New Series 2/1, S. 88–92. Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik. Übersetzung von: German Influence on English Ethics. In: Outlines of the History of Ethics (51902). London. Kap. IV, § 20, S. 270–283. Die kantische Konzeption des freien Willens. Übersetzung von: The Kantian Conception of Free Will (1888). In: Mind 13/51, S. 405–412. Der sogenannte Idealismus von Kant (1879). Übersetzung von: The So-Called Idealism of Kant (1879). In: Mind 4/15, S. 408–410.

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Textnachweise

Kants Widerlegung des Idealismus. Übersetzung von: Kant’s Refutation of Idealism (1880). In: Mind 5/17, S. 111–114. Philosophie in Cambridge. Übersetzung von: Philosophy at Cambridge (1876). In: Mind 1/2, S. 235–246.

F O RS C H UN GS BI BL I OG RA PHI E Z U H EN RY SI DG WI CK

Die ausführlichsten Bibliographien zu Sidgwick gehen auf Bart Schultz (CD-ROM) und Marcus Singer (in Essays on Ethics and Method. Henry Sidgwick, Oxford 2000) zurück. Die hier vorgelegte Forschungsbibliographie knüpft an diese Arbeiten an, geht jedoch in zwei Hinsichten über sie hinaus. Zum einen wurde in diese Bibliographie neueste Literatur zu Sidgwick aufgenommen. Zum anderen wurde, im Bemühen um Vollständigkeit, an dieser Stelle auch zusätzliche Literatur zu Sidgwick erfasst, die in deutscher oder in einer der großen romanischen Sprachen verfasst wurde.

1. Texte von Henry Sidgwick 1.1  Zu Lebzeiten publizierte Monographien Sidgwick, Henry (1870): The Ethics of Conformity and Subscription. London. – (1874): The Methods of Ethics. 2. Aufl. 1877. 3. Aufl. 1884. 4. Aufl. 1890. 5. Aufl. 1893 [letzte von Sidgwick selbst durchgesehene Auflage]. 6. Aufl. 1901. 7. Aufl. 1907. London. → ND der 7. Aufl. mit einem Vorwort von John Rawls: Indianapolis 1981. → Deutsche Übersetzung: Die Methoden der Ethik (Philosophisch-soziologische Bücherei. Bd. 17). Nach der 7. engl. Aufl. übertragen v. Constantin Bauer. Leipzig 1909. – (1883): Principles of Political Economy. 2. Aufl. 1887. 3. Aufl. 1901. London. → ND der 2. Aufl.: Cambridge 2011. – (1886): Outlines of the History of Ethics for English Readers. 2. Aufl. 1888. 3. Aufl. 1892. 4. Aufl. 1896. 5. Aufl. 1902. London. → ND der 5. Aufl.: Indianapolis 1988.

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Forschungsbibliographie

– (1891): The Elements of Politics. London. → ND: Cambridge 2012. – (1898): Practical Ethics: A Collection of Essays and Addresses. London. → ND mit einem Vorwort von Sissela Bok: Oxford 1997.

1.2  Posthum erschienene Bücher und Ausgaben Sidgwick, Henry (1902): Lectures on the Ethics of T. H. Green, H. Spencer, and J. Martineau. Hrsg. v. Emily Elisabeth Con­ stance Jones. London. – (1902): Philosophy, its Scope and Relations. An Introductory Course of Lectures. Hrsg. v. James Ward. London. → ND: Bristol 1998. – (1903): The Development of European Polity. Hrsg. v. Eleanor M. Sidgwick. London. – (1904): Miscellaneous Essays and Addressees. Hrsg. v. Eleanor M. Sidgwick u. Arthur Sidgwick. London. – (1905): Lectures on the Philosophy of Kant and Other Philosophical Lectures and Essays. Hrsg. v. James Ward. London. – (1999): The Complete Works and Select Correspondence of Henry Sidgwick. Hrsg. v. Bart Schultz. 2. Aufl. Charlottesville, VA. [CD-ROM]. – (2000): Essays on Ethics and Method. Hrsg. v. Marcus G. Singer. Oxford.

1.3  Aufsätze in Fachzeitschriften Sidgwick, Henry (1871): Pleasure and Desire. In: The Contemporary Review 19, S. 662–672. – (1872): The Sophists I. In: Journal of Philology 4/7, S. 288–307. – (1873): The Sophists II. In: Journal of Philology 5/10, S. 66–80. ­– (1874): On a Passage in Plato’s Republic. In: Journal of Philology 5/10, S. 274–276.

Forschungsbibliographie

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1.4  Beiträge zu den ›Proceedings of the Society for Psychical Research‹ (PSPR) Sidgwick, Henry (1882): Inaugural Address. In: PSPR 1/1, S. 7–12. – (1882): Address to the Society for Psychical Research. In: PSPR 1/2, S. 65–69. – (1883): Address to the Society for Psychical Research. In: PSPR 1/4, S. 245–250. – (1884): Address to the Society for Psychical Research. In: PSPR 2, S. 152–156. – (1888): Address to the Society for Psychical Research. In: PSPR 5, S. 271–278. – (1889): Address to the Society for Psychical Research. In: PSPR 5, S. 399–402. – (1889): Canons of Evidence in Psychical Research. In: PSPR 6 (Suppl.), S. 1–6. – (1889): Ad interim Report on the Census of Hallucinations. In: PSPR 6 (Suppl.), S. 183–185. – (1889): The Census of Hallucinations. In: PSPR 6, S. 7–12.

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1.5  Weitere Texte (ohne Rezensionen und kleinere Magazinbeiträge) Sidgwick, Henry (1867): The Theory of Classical Education. In: Frederic W. Farrar (Hrsg.): Essays on a Liberal Education. London, S. 81–143. – (1873): Utilitarianism. Privatdruck für die Metaphysical Society (16. 12. 1873), Wiederabdruck in: Essays on Ethics and Method (2000). Hrsg. v. Marcus G. Singer. Oxford, S. 3–9. – (1873): Obituary Note: John Stuart Mill. In: The Academy. A Record of Literature, Learning, Science and Art, 15. 05. 1873, S. 193. – (1878): Art. Ethics. In: Thomas S. Baynes (Hrsg.): The Encyclopedia Britannica. 9. Aufl. Edinburgh, S. 574–611. – (1878): The Relation of Psychogony to Metaphysics and Ethics. Privatdruck für die Metaphysical Society (15. 01. 1878). – (1880): The Scope of Metaphysics. Privatdruck für die Metaphysical Society (10. 02. 1880). – (1888): Introduction. In: Paul F. Aschrott: The English Poor Law System, Past and Present. Übers. v. Herbert Preston-Thomas. London, S. VII–XIII. – (1895): Memorandum in Answer to Questions from the Royal Commission on Secondary Education. In: Royal Commission

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2. Sekundärliteratur 2.1 Biographien Schultz, Bart (2012): Henry Sidgwick: Eye of the Universe. An Intellectual Biography. Cambridge. Sidgwick, Arthur / Eleanor Mildred Sidgwick (1906): Henry Sidg­ wick. A Memoir. London.

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A NM E RK U NGEN D ER H ER AU SG EB E R

DER UTILITARISMUS

Utilitarismus 1

  Dieser Aufsatz basiert auf einem Privatdruck für ein Treffen der britischen Gesellschaft für Metaphysik (Metaphysical Society) im Dezember 1873. Ein Jahr später erschien die erste Auflage der Methoden der Ethik, so dass wir es bei diesem Aufsatz mit Sidgwicks einführender Kurzvorstellung der Inhalte des Buchprojekts zu tun haben. 2   Im engl. Original: »race«. Verschiedene Kommentatoren wie etwa sein Biograf Bart Schulz gehen davon aus, dass Sidgwick ras­ sis­tische Überzeugungen hegte. In The Elements of Politics äußert Sidgwick sich größtenteils affirmativ über den Kolonialismus und spricht wiederholt von der »überlegenen Rasse« (»superior race«) sowie von der »niedrigeren Rasse« (»inferior race«) oder von unzivilisierten Stämmen (»uncivilized tribes«). Sidgwick 2012, The Elements of ­Politics, z. B. S. 2, S. 311–328, S. 550. 3   Im ursprünglichen Privatdruck dieses Aufsatzes steht ›letztere‹ (»the latter«), was klarerweise ein Fehler ist; mit Sicherheit ist ›erstere‹ (»the former«) gemeint. 4   Sidgwick bezieht sich hier auf Äußerungen von Hume, wie beispielsweise in Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751), Abschnitte 5 und 6. 5   primâ facie: lat. für »auf den ersten Blick«. 6   eudaimonia: altgriechischer, insbesondere von Aristoteles gebrauchter Ausdruck für das höchste Glück oder eine gelungene menschliche Lebensführung; hēdonē: altgriechischer Ausdruck für Freude; für Epikur eine Form der Freude, die unabhängig von der Frage, ob die zugrundeliegenden Handlungen tugendhaft sind, auftreten kann. 7   Die Wörter, die in diesem Satz in einfachen Anführungszeichen stehen, schreibt Sidgwick im englischen Original groß. Im Satz zuvor stehen hier ebenfalls einige Wörter in einfachen Anführungszeichen;

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Anmerkungen

diese jedoch hat Sidgwick auch im englischen Original in einfache Anführungszeichen gesetzt. Generell lässt sich feststellen, dass Sidgwick in diesem Text oft weder Anführungszeichen noch Großschreibung verwendet, wenn er die Bedeutung eines Wortes diskutiert, ein Umstand, der in der deutschen Übersetzung erhalten worden ist. 8   Im engl. Original: »preferable or desirable feelings«. Die Doppeldeutigkeit der Adjektive im Sinne des deskriptiven »kann gewünscht werden« und des normativen »sollte gewünscht werden« soll hier mit der deutschen Endung ›-bar‹ erfasst und erhalten werden. 9   Für die Ausdrücke ›Nichtwünschbarkeit‹ und ›Wünschbarkeit‹ verwendet Sidgwick im englischen Original »undesirability« und »desirability«. Vgl. hierzu Anm. 8. 10   vice versâ: lat. für »umgekehrt«. 11   Unter Malthusianischen Ökonomen werden Autoren verstanden, die sich an den Theorien des weltweit ersten Lehrstuhlinhabers für politische Ökonomie, Thomas Robert Malthus (1766–1834), orientieren. Bekannt wurde Malthus vor allem durch seine Arbeiten zur Bevölkerungsentwicklung und seine Diskussion der Probleme der Überbevölkerung. 12   Sidgwick ist bekannt dafür, in der Ethik erstmalig die Idee eines Durchschnittsutilitarismus (engl. gemeinhin »average utilitarianism«) vertreten zu haben, den er hier genauer vom durchschnittsmaximierenden Utilitarismus von Ökonomen wie Malthus (vgl. Anm. 11) abgrenzt. Die von den Malthusianern propagierte Durchschnittsmaximierung kann sich mit einer vergleichsweise kleinen Zahl an zukünftigen Menschen zufriedengeben, solange deren durchschnittliches Glück nach Möglichkeit maximal ist. Die von Sidgwick hier vorgeschlagene Variante möchte jedoch das Produkt aus durchschnittlichem Glück und Bevölkerungsanzahl maximieren. Das bedeutet: Unter der Prämisse, dass der Durchschnitt gleich bliebe, würde Sidgwick die Bevölkerungsanzahl weiter erhöhen wollen – den Malthusianern hingegen müsste die Anzahl der existierenden Personen unter dieser Prämisse egal sein. Sidgwicks Variante stellt gewissermaßen ­einen Kompromiss zwischen Malthusianischer Durchschnittsmaximierung und herkömmlicher Gesamtsummenmaximierung dar. Seine hier knapp vorgestellten Überlegungen entsprechen seinen Äußerungen in Buch IV, Kap I, Teil 2 der Methoden der Ethik. Sidgwick wurde aufgrund dieser Äußerungen zum Ideengeber für neuere Diskussionen der Zukunftsethik, in denen darüber nachge-

Anmerkungen

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dacht wird, wie man dem Problem entgehen könnte, dass utilitaris­ tische Gesamtnutzenmaximierer sich unter Umständen für eine extreme Vergrößerung der Weltbevölkerung aussprechen müssen. Dieses Problem entsteht, wenn sie die Prämissen annehmen, dass (1) die Anzahl zukünftiger Menschen beeinflusst werden kann und dass (2) auch unter Bedingungen extremster Überbevölkerung jeder zusätzliche Mensch ein zwar erbärmliches, aber dennoch positives Maß an zusätzlichem Glück in die Welt bringen wird. Diese Überlegung ist u. a. von Derek Parfit 1984 in seiner Monographie Reasons and Persons als das Paradox bloßer Hinzufügung (»mere addition paradox«) oder als »die abstoßende Konklusion« (»repugnant conclusion«) diskutiert worden. 13   Im englischen Original: »purity«. Es ist denkbar, dass Sidgwick diesen Begriff hier in sexueller Konnotation verwendet, wie er es auch in den Methoden der Ethik, Buch III, Kap. XI, Teil 8 tut.

Der Utilitarismus: Tucker und Paley 1

  Der vorliegende Text erschien in Sidgwicks Outline of the His­ tory of Ethics (vgl. das Verzeichnis der Textnachweise) als § 14 unter dem Titel »Utilitarianism« und versehen mit den Zwischenüberschriften »Tucker« und »Paley (1743–1805)«. 2   Abraham Tuckers unter dem Namen Edward Search veröffentlichte Abhandlung The Light of Nature Pursued erschien in sieben Bänden zwischen 1768 und 1774. 3   Sidgwick zitiert hier kurze Satzabschnitte aus verschiedenen Teilen des Werkes Tuckers. Tucker 1805, The Light of Nature Pursued, II. Teil: Theology, Kap. XXVIII: »I have examined human nature and found that Satisfaction, every man’s own satisfaction, is the spring that actuates all his motives« (S. 351). »Thus the general good becomes the root whereout all our schemes and contrivances, all our rules of conduct and sentiments of honour are to branch: and the centre whereto all our particular lines of direction are to point« (S. 355). »I have then proceeded to the contemplation of external nature; and from thence attempted to rise to the Author of nature, together with so much as can be discovered from his works concerning his attributes and character: wherein there appears no weakness nor humour, no spark of arbitrary or inequitable disposition, but unreserved and unniggardly

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Anmerkungen

goodness [of the author of nature]« (S. 351). Tucker 1831, The Light of Nature Pursued, I. Teil: Human Nature, Kap. VI, S. 81: »Therefore it is not the substance, but the prospect or expectance of satisfaction, which makes that part of the compound rendering it a motive.« 4   Tucker 1831, The Light of Nature Pursued, I. Teil: Human Nature, Kap. XXVII, S. 297: »But to consider satisfaction physically; it is a perception of the mind, residing in her alone, constantly one and the same in kind, how[ever] much soever it may vary in degree: for whether a man is pleased with hearing music, seeing prospects, tasting dainties, performing laudable actions, or making agreeable reflections, his complacence and condition of mind will be the same if equal in degree, though coming from different quarters.« 5   Tucker 1805, The Light of Nature Pursued, II. Teil: Theology, Kap. XXVIII, S. 355  f.: »Nevertheless, let it be remembered that the whole is made up of individuals; so that every pleasure [that] we do [to] our neighbour, is an addition to the quantity of happiness in nature.« 6   1731 erschien in London eine Übersetzung der Schrift An Essay on the Origin of Evil, welche der anglikanische, irische Bischof William King (1650–1729) 1702 in lateinischer Sprache verfasst hatte. Die Übersetzung besorgte der englische Bischof und Gelehrte Edmund Law (1703–1787), der 1764–1769 an der Universität Cambridge Knightbridge Professor of Philosophy war und somit den Lehrstuhl innehatte, den Sidgwick ab 1883 bekleidete. Der Übersetzung des Werkes von King wurde in der Ausgabe von 1731 die Dissertation concerning the Fundamental Principle and Immediate Criterion of Virtue des Philosophen und anglikanischen Klerikers John Gay (1699– 1745) vorangestellt. 7   Sidgwick zitiert an dieser Stelle ausführlich und mit zahlreichen Abweichungen und Umstellungen der Satzteile aus Gay 1731, Preliminary Dissertation, S. XIII f. Die relevante Passage lautet im Original bei Gay: „The Idea of Virtue being thus fix’d to enquire after the Criterion of it, is to enquire what that Rule of Life is to which we are obliged to conform or how that Rule is to be found out which is to direct me in my Behaviour towards others, which ought always to be pursued, and which, if pursued, will or ought to procure me Approbation, Esteem, and Love. […] Obligation is the necessity of doing or omitting any Action in order to be happy. […] Now from the Consideration of these four sorts of Obligation (which are the only ones) it is evident that a full and complete Obligation which will extend to

Anmerkungen

183

all Cases, can only be that arising from the Authority of God; because God only can in all Cases make a Man happy or miserable: and therefore, since we are always obliged to that conformity call’d Virtue, it is evident that the immediate Rule or Criterion of it is the Will of God. […] Now it is evident from the Nature of God, viz. his being infinitely happy in himself from all Eternity, and from his Goodness manifested in his Works, that he could have no other Design in creating Mankind than their Happiness; and therefore he wills their Happiness; therefore the means of their Happiness: therefore that my Behaviour, as far as it may be a means of the Happiness of Mankind, should be such. […] Thus the Will of God is the immediate Criterion of Virtue, and the Happiness of Mankind the Criterion of the Will of God; and therefore the Happiness of Mankind may be said to be the Criterion of Virtue, but once removed.“ Die Übersichtlichkeit gebietet es an dieser Stelle, Sidgwicks Wiedergabe Gays gesondert anzuführen: „The idea of virtue is the conformity to a rule of life, directing the actions of all rational creatures with respect to each other’s happiness; to which every one is always obliged. … Obligation is the necessity of doing or omitting something in order to be happy. … Full and complete obligation, which will extend to all cases, can only be that arising from the authority of God. … The will of God [so far as it directs the behaviour of others] is the immediate rule or criterion of virtue … but it is evident from the nature of God that He could have no other design in creating mankind than their happiness; and therefore that He wills their happiness; therefore that my behaviour so far as it may be a means to the happiness of mankind should be such; so that happiness of mankind may be said to be the criterion of virtue once removed.“ 8   1785 erschien Paleys Schrift Principles of Moral and Political Philosophy. 9   Paley 2002, Principles of Moral and Political Philosophy, Buch II, Kap. 3, S. 35: »A man is said to be obliged, when he is urged by a violent motive resulting from the command of another.« Die Kursivierung stammt aus dem Original und wurde von Sidgwick nicht übernommen. 10   Mit »Licht der Natur« (»light of nature«) ist die natürliche Vernunft als zweite Quelle der (moralischen) Erkenntnis neben der bib­ lischen Offenbarung gemeint. Sidgwick zitiert hier nicht wörtlich. Vgl. aber z. B. Paley 2002, Principles of Moral and Political Philoso-

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Anmerkungen

phy, Buch II, Kap. 4, S. 38: »Now there are two methods of coming at the will of God on any point: I. By his express declarations, when they are to be had, and which must be sought for in Scripture. II. By what we can discover of his designs and disposition from his works; or, as we usually call it, the light of nature.« 11   Paley 2002, Principles of Moral and Political Philosophy, Buch II, Kap. 7 (The Necessity of General Rules), S. 44: »The assassin ­knocked the [knocking a] rich villain on the head, because he thought him better out of the way than in it.« 12  Mit dem Begriff »hinzukommende Rechte« (»adventitious rights«) bezeichnet Paley die vom Staat erlassenen Gesetze im Gegensatz zum überpositiven Naturrecht. Paley 2002, Principles of Moral and Political Philosophy, Buch II, Kap. 10, S. 51: »Rights are natural or adventitious. Natural rights are such as would belong to a man, although there subsisted in the world no civil government whatever. Adventitious rights are such as would not.« 13   Law of the land: Dieser von Sidgwick verwendete Ausdruck bezeichnet das in einem Land jeweils gegenwärtig gültige Recht. 14   Paley 2002, Principles of Moral and Political Philosophy, Buch III, Teil III, Kap. 4, S. 141: »There were reasons for mankind’s agree­ ing upon [when they agreed to] a separation of this [the] common fund; and God for these reasons is presumed to have ratified it.« Sidgwick kritisiert an dieser Stelle, dass Paley hier ganz im Sinne der ­älteren naturrechtlichen Tradition argumentiert, welche von einem ur­sprüng­ lichen, gottgegebenen Gemeinbesitz der Menschheit an irdi­schen Ressourcen ausging.

Bentham und seine Schule 1

  Der vorliegende Text erschien in Sidgwicks Outline of the His­ tory of Ethics (vgl. das Verzeichnis der Textnachweise) als § 15 unter der Überschrift »Bentham and his School (1748–1842)«. Bei den in der vollständigen Überschrift angegebenen Jahreszahlen bezieht Sidgwick die in den zehn Jahren nach Benthams Tod entstandenen Entwicklungen mit ein. Bentham verstarb 1832. 2   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. IV, Abschnitt V, S. 30: »Begin with any one person of those whose interests seem most immediately to be affected by it: [,]

Anmerkungen

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and take an account, 1. of the value of each distinguishable pleasure [or pain] which appears to be produced by it in the first instance. 2. Of the value of each pain which appears to be produced by it in the first instance.« Die Kursivierungen des Originals hat Sidgwick ebenso entfallen lassen wie die Zählung »1.«, »2.«. 3   Pushpin, ein einfaches Spiel, zu welchem man einen Hut und mehrere Nadeln benötigt, ist seit dem 16. Jahrhundert in England bekannt. Sidgwick zitiert hier nicht direkt Bentham, sondern Mill 1969, Bentham, S. 113: »He says somewhere in his works, that, ›quantity of pleasure being equal, push-pin is as good as poetry:‹ but this is only a paradoxical way of stating what he would equally have said of the things which he most valued and admired.« Vgl. dazu den Originalkontext bei Bentham 1843, The Rationale of Reward, Buch III, Kap. I, S. 253: »The utility of all these arts and sciences, – I speak both of those of amusement and curiosity –, the value which they possess, is exactly in proportion to the pleasure they yield. Every other species of preeminence which may be attempted to be established among them is altogether fanciful. Prejudice apart, the game of push-pin is of equal value with the arts and sciences of music and poetry. If the game of push-pin furnish more pleasure, it is more valuable than either. Every­ body can play at push-pin: poetry and music are relished only by a few. The game of push-pin is always innocent: it were well could the same be always asserted of poetry.« 4   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. IV, Abschnitt V, S. 30  f.: »Of the value of each plea­ sure which appears to be produced by it { d. h. durch die Handlung, deren moralische Beurteilung zur Diskussion steht, die Hrsg.} after the first. This constitutes the fecundity of the first pleasure and the impurity of the first pain.« Sidgwick zitiert die beiden Begriffe ohne sie kursiv zu setzen. 5   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. IV, Abschnitt V, S. 31: »Take an account of the number of persons whose interests appear to be concerned; and repeat the above process with respect to each.« 6   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. IV. Abschnitt VI, S. 31: »It is not to be expected that this process should be strictly pursued previously to every moral judgment, or to every legislative or judicial operation. It may, however, be always [be] kept in view: and as near as the process actually pursued on

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these occasions approaches to it, so near will such process approach to the character of an exact one.« 7   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. III, Abschnitt I, S. 24: »Having taken a general view of these two grand objects (viz. pleasure, and what comes to the same thing, immunity from pain) in the character of final causes; it will be necessary to take a view of pleasure and pain itself, in the character of efficient causes or means.« 8   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. III, Abschnitt III, S. 25: »If it be in the present life, and from the ordinary course of nature, not purposely modified by the interposition of the [any] will of any human being, nor by any extra­ ordinary interposition of any superior invisible being, that the pleas­ ure or the pain takes place or is expected, it may be said to issue from or to belong to the physical sanction.« 9   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. III, Abschnitt V, S. 25: »If at the hands of such chance persons in the community, as the party in question may happen in the course of his life to have concerns with, according to each man’s spontaneous disposition, and not according to any settled or concerted rule, it may be said to issue from the moral or popular sanction.« 10   Sidgwick verweist durch die Zitate der Adjektive auf die drei ersten von Bentham unterschiedenen Gruppen von Sanktionen. Für die »physische« und die »moralische oder populäre« Sanktion vgl. die beiden vorherigen Anmerkungen. Für die »politische« Sanktion vgl. Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. III, Abschnitt IV, S. 25: »If at the hands of a particular person or set of persons in the community, who under names correspondent to that of judge, are chosen for the particular purpose of dispensing it, according to the will of the sovereign or supreme ruling power in the state it may be said to issue from the political sanction.« 11   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. III, Abschnitt VI, S. 25: »If from the immediate hand of a superior invisible being, either in the present life, or in a future, it may be said to issue from the religious sanction.« 12   Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. XVII, § 2, Abschnitt VII, S. 313: »In answer to this, it cannot but be admitted, that the only interests which a man [is] at all times and upon all occasions is sure to find adequate motives for

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consulting, are his own.« Die im Original gesetzte Kursivierung übernimmt Sidgwick nicht. 13   Bentham 1834, Deontology, Bd. 1, Kap. VIII, S. 131: »Vice may be defined to be [as] a miscalculation of chances: a mistake in estimating the value of pleasures and pains.« 14   Sidgwick zitiert hier aus zwei Texten, die von Bowring in dessen Darstellung des Lebens Benthams eingearbeitet worden sind. Bowring 1843, Memoirs of Jeremy Bentham, S. 560: »Constantly proper end of action on the part of every individual at the moment of action, [is] his real greatest happiness from that moment to the end of life.« Ebd., S.  79: »In the phrase { by Joseph Priestley, die Hrsg.}, ›the greatest happiness of the greatest number,‹ I then saw delineated, for the first time, a plain as well as a [but] true standard for whatever is right or [and] wrong, useful, useless, or mischievous in human conduct, whether in the field of morals or of politics.« 15   Sidgwick bezieht sich hier auf die einige Sätze zuvor dargelegte empirische Annahme Benthams, dass die Handlungen, welche dem eigenen Glück eines jeden am zuträglichsten sind, zugleich diejenigen sind, welche das allgemeine Glück befördern.

J. S. Mill und der Assoziationismus 1

  Der vorliegende Text erschien in Sidgwicks Outline of the His­ tory of Ethics (vgl. das Verzeichnis der Textnachweise) als § 16 unter dem Titel »J. S. Mill (1806–1873)« und versehen mit der Zwischenüberschrift »Associationism«. 2   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 4, S. 104: It has already been remarked that questions of ultimate ends do not admit of proof, in the ordinary acceptation [sense] of the term.« Die Übersetzung der MillZitate ins Deutsche orientiert sich an der hier verwendeten zweisprachigen Ausgabe von Dieter Birnbacher. 3   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 1, S. 16: »Considerations may be presented capable of determining the intellect either to give or withhold its assent to the doctrine; and this is equivalent to proof.« 4   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 2, S. 36: »I have dwelt on this point, as being a necessary part of a perfectly just conception of Utility or Happiness, considered as the directive rule of human conduct. But it is by no means an indispensable condition to the acceptance of the utili-

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tarian standard; for that standard is not the agent’s own happiness, but the greatest amount of happiness altogether; and if it may possibly be doubted whether a noble character is always the happier for its nobleness, there can be no doubt that it makes other people happier, and that the world in general is immensely a gainer by it.« 5   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 3, S. 80: »The question is often asked, and properly so, in regard to any supposed moral standard – What is its sanction[s]? what are the motives to obey it? or more specifically, what is the source of its [the] obligation?« 6   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 3, S. 82: »If the view adopted by the utilitarian philosophy of the nature of the moral sense be correct, this difficulty will always present itself, until the influences which form moral character have taken the same hold of the principle which they have taken of some of the consequences – until, by the improvement of education, the feeling of unity with our [his] fellow creatures shall be (what it cannot be doubted that Christ intended it to be) as deeply rooted in our character, and to our own consciousness as completely a part of our nature, as the horror of crime is in an ordinarily well-brought up young person.« Ebd., S. 100  f.: »The deeply rooted conception which every individual even now has of himself as a social being, tends to make him feel it one of his natural wants that there should be harmony between his feelings and aims and those of his fellow creatures.« Ebd., S. 84: »The internal sanction of duty, what­ever our standard of duty may be, is one and the same – a feeling in our own mind; a pain, more or less intense, attendant on violation of duty, which in properly cultivated moral natures rises, in the more serious cases, into shrinking from it as an impossibility.« 7   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 3, S. 102: »This feeling in most individuals is much inferior in strength to their selfish feelings, and is often wanting altogether.« 8   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 3, S. 102: »It does not present itself to their minds as a superstition of education, or a law despotically imposed by the power of society, but as an attribute which it would not be well for them to be without. This conviction is the ultimate sanction of the greatest-happiness morality.« 9  Sidgwick nimmt hier die soeben zitierte Mill-Passage (vgl. Anm. 8) mit leichter Veränderung wieder auf. 10   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 2, S. 50: »Though it is only in a very imperfect state of the world’s arrangements that any one can best

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serve the happiness of others by the absolute sacrifice of his own, yet so long as the world is in that imperfect state, I fully acknowledge that the readiness to make such a sacrifice is the highest virtue which can be found in man.« 11   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 2, S. 50: »I will add, that in this condition of the world, paradoxical as the assertion may be, the con­ scious ability to do without happiness gives the best prospect of realiz[s] ing such happiness as is attainable.« 12  Bentham nach Bowring 1843, Memoirs of Jeremy Bentham, S.  511: »For diet, nothing but self-regarding affection will serve: but for a dessert, benevolence, – even universal benevolence is, make the least of it, a very valuable addition.« 13   In seinem Buch Outlines of the History of Ethics, dem dieser Text entnommen ist, kommt Sidgwick an späterer Stelle noch ausführlich auf Comte zu sprechen, vgl. ebd. Chapter 4, § 19 (in der Ausgabe 5 1902: S. 268–270.). 14   Mill 1891, Auguste Comte and Positivism, S. 147: »For example; without admitting that to make ›calculs personnels‹ is contrary to morality, we agree with him { Comte, die Hrsg.} in the opinion, that the principal hygienic precepts should be inculcated, not solely or principally as maxims of prudence, but as a matter of duty to others, since by squandering our health we disable ourselves from rendering [services] to our fellow-creatures the services to which they are entitled.« 15   Mill 1891, Auguste Comte and Positivism, S. 145: »We do not conceive life [is not] to be so rich in enjoyments, that it can afford to forego the cultivation of all those [that] which address themselves to what M. Comte terms the [so-called] egoistic propensities.« Die zweite eckige Klammer ist von Sidgwick selbst gesetzt worden. 16   Mill 1891, Auguste Comte and Positivism, S. 144: »To this must of course be added, that when we either expressly or tacitly undertake [tacit undertaking] to do more, we are bound to keep our promise. And inasmuch as every one, who avails himself of the advantages of society, leads others to expect from him all such positive good offices and disinterested services as the moral improvement attained by [of] mankind has rendered customary, he deserves moral blame if, without just cause, he disappoints that expectation.« 17   Mill 2009, Über die Freiheit, Kap. 1, S. 32: »The object of this Essay is to assert one very simple principle, as entitled to govern absolutely the dealings of society with the individual in the way of

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compulsion and control, whether the means used by physical force in the form of legal penalties, or the moral coercion of public opinion.« 18   Mill 2009, Über die Freiheit, Kap. 4, S. 232: »Whenever, in short, there is a definite damage, or a definite risk of damage, either to an individual or to the public, the case is taken out of the province of liberty, and placed in that of morality or law. But with regard to the merely contingent, or, as it may be called, constructive injury which a person causes to society, by conduct which neither violates any specific duty to the public, nor occasions perceptible hurt to any assignable individual except himself; the inconvenience is one which society can afford to bear, for the sake of the greater good of human freedom.« 19   Nach diesem Satz folgt bei Sidgwick, am Seitenrand des Originals gedruckt, die Zwischenüberschrift »Associationism«. 20   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 4, S. 108: »{ Utilitarian moralists hold, die Hrsg.} that the mind is not in a right state, not in a state conformable to U[u]tility, not in the state most conducive to the general happiness, unless it does love[s] virtue in this manner – as a thing desirable in itself, even although, in the individual instance, it should not produce those other desirable consequences which it tends to produce, and on account of which it is held to be virtue.« 21   Sidgwick verweist hier zurück auf seine Diskussion der Theorie David Hartleys in dem Buch, dem dieser Textauszug entnommen ist, in den Outlines of the History of Ethics, Kap. 4, § 10 (in der Ausgabe 51902: S. 218–222). Hartleys Hauptwerk Observations on Man erschien 1749. 22   Mill 1974, A System of Logic, Buch 6, Kap. 2, § 4, S. 842: »In this manner it is that habits of hurtful excess continue to be practiced although they have ceased to be pleasurable; and in this manner also it is that the habit of willing to persevere in the course which he has chosen, does not desert the moral hero, even when the reward, however real, which he doubtless [the virtuous man] receives from the consciousness of well-doing, is anything but an equivalent for the sufferings he undergoes or the wishes which he may have to renounce.« 23   John Stuart Mill in James Mill 1869, Analysis of the Phenomena of the Human Mind, Bd. II, Kap. XXIII, S. 321: »When a complex feeling is generated out of elements very numerous and [complex elements] various, and in a corresponding degree indeterminate and vague, but so blended together by a close association, the effect of a long series of experiences, as to have become inseparable, the resul-

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ting feeling always seems not only very unlike any one of the elements composing it, but very unlike the sum of those [its] elements.« 24   Bain 1868, Mental and Moral Science, Ethics, Teil I, Kap. III, Abschnitt 11, S. 456: »It may be proved, by such evidence as the case admits of, that the peculiarity of the Moral Sentiment, or Conscience, is identified with our education [of conscience] under government, or Authority.« Sidgwick schreibt »authority« entgegen des Originals klein. 25   Mit diesem Zitat spielt Sidgwick vermutlich an auf Mill 1981, Autobiography, S. 143: »All those to whom I looked up, were of opinion that the pleasure of sympathy with human beings, and the feelings which made the good of others, and especially of mankind on a large scale, the object of existence, were the greatest and surest sources of happiness. Of the truth of this I was convinced, but to know that a feeling would make me happy if I had it, did not give me the feeling. My education, I thought, had failed to create these feelings in sufficient strength to resist the dissolving [force] influence of analysis, while the whole course of my intellectual cultivation had made precocious and premature analysis the inveterate habit of my mind.« 26   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 3, S. 94: »But there is this basis of powerful natural sentiment; and this it is which, when once the general happiness is recognised as the ethical standard, will constitute the strength of the utilitarian morality. This firm foundation is that of the social feelings of mankind; the desire to be in unity with our fellow creatures, which is already a powerful principle in human nature, and happily one of those which tend to become stronger, even without express inculcation, from the influences of advancing civilization.« 27   In der Fußnote zitiert Sidgwick ausführlich Spencer 1879, The Data of Ethics, Kap. VII, § 44, S. 113: »For unquestionably the essential trait in the moral consciousness, is the control of some feeling or feelings by some other feeling or feelings.« Ebd., S. 115: »But though all these four kinds of internal control have the common character that the simpler and less ideal feelings are consciously over-ruled by the more complex and [more] ideal feelings; and though, at first, they are practically co-extensive and undistinguished; yet, in the course of social evolution they differentiate[d]; and, eventually, the moral control with its accompanying conceptions and sentiments, emerges as independent.« Ebd., S. 119: »The essential truths to be carried with us respecting

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these three forms of external control to which the social unit is subject, are these: {…} Second, that the correlative internal restraints generated in the social unit, are representations of remote results which are incidental rather than necessary – a legal penalty, a supernatural punishment, a social reprobation.« Ebd., § 45, S. 120: »The truly moral deterrent from murder, is not constituted by a representation of hanging as a consequence, or by a representation of tortures in hell as a consequence, or by a representation of the horror and hatred excited in fellow men; but by a representation of the necessary natural results – the infliction of death-agony on the victim, the destruction of all his possibilities of happiness, the entailed sufferings to his belongings.« Ebd., § 46, S. 126: »But there is another element – the element of coerciveness.« Ebd., S. 127: »Emerging as the moral motive does but slowly from amidst the political, religious, and social motives, it long participates in that consciousness of subordination to some external agency which is joined with them; and only as it becomes distinct and predominant does it lose this associated consciousness – only then does the feeling of obligation fade. This remark implies the tacit conclusion, which will be to most very startling, that the sense of duty or moral obligation is transitory, and will diminish as fast as moraliz[s]ation increases.«

DAS GUTE

Der Hedonismus und das höchste Gut 1

  Sidgwick verweist an dieser Stelle auf die von Platon vertretene These der strukturellen Ähnlichkeit des Aufbaus von Seele und Staat bzw. Polis. Vgl. Platons Politeia 435 a–436 a, 580 d–582 a. 2   »Reich der Impulse«: Sidgwick verwendet den Ausdruck »polity of impulses«, der im Sinne der geschilderten platonischen Analogie auch mit »Polis der Impulse« übersetzt werden könnte. 3   Καλόν (kalon): »Schönheit«. 4   communis utilitas nostrae anteponenda: »das unserem eigenen Guten vorzuziehende allgemeine Gute«. Sidgwick zitiert hier das Argumentum, d. h. die Zusammenfassung des dritten Buches von Ciceros Schrift De finibus bonorum et malorum von Nicolaus Madvigius

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1882, Ciceronis De Finibus Bonorum, S. 81: »Mundus quasi communis urbs et civitas deorum et hominum est, cuius cum unusquisque nostrum pars sit, communis utilitas nostrae anteponenda est.« Madvigius versteht diesen Satz als Inhaltswiedergabe des 19. Kapitels des dritten Buches. Die Edition von Madvigius hat neben den USA in mehreren Ländern Europas verschiedene Auflagen erlebt. 5   Zu den Kyrenaikern zählen insbesondere Aristippos von Kyrene, Arete von Kyrene, Aristippos der Jüngere, Hegesias, Annikeris und Theodoros von Kyrene. Im Allgemeinen glaubten die Kyrenaiker, dass das höchste Gut und Ziel allen Handelns die Freude sei, das größte Übel das Leid. 6   Epikureer, die Anhänger der hedonistischen Lehre Epikurs (um 341 v. Chr. – 270 v. Chr.). 7   Commune bonum omnium rationalium: »das allgemeine Gute alles Vernünftigen«. Sidgwick zitiert an dieser Stelle eine von Richard Cumberland in dieser und in leicht abgewandelter Form mehrfach verwendete Begrifflichkeit, weswegen an dieser Stelle auf die Wiedergabe einer einzelnen Belegstelle im vollständigen Satzzusammenhang verzichtet wird. Vgl. als Beispiele Cumberland 1683, De Legibus Naturae, S. 295, 320, 351, 376. Sub poena felicitatis amittendae aut propter spem ejusdem acquirendae: »durch die Strafe, das Glück zu verlieren, oder gar durch die Hoffnung, es zu erwerben«. Cumberland, a. a. O. (Kap. 1 »De Natura Rerum«, §  XXVI), S. 44: »Evidenter colligitur, eadem primae Causae voluntate homines obligari ad virtutem exercendam, vitiumque fugiendum sub poena felicitatis amittendae, aut propter spem ejusdem acquirendae.« 8   Samuel Clarke, Discourse Concerning the Unchangeable Obligations of Natural Religion (1706). Original hier zitiert nach Schneewind (Hrsg.) 2003, Moral Philosophy, S. 295–310, hier S. 307: »’Tis certain indeed that virtue and vice are eternally and necessarily different; and that the one [Virtue] truly deserves to be chosen for its own sake, and the other ought by all means [Vice] to be avoided, though a Man was sure, of [for] his own particular, neither to gain nor lose anything by the practice of either.« Die Kursivierung im Text stammt von Sidgwick. 9  Clarke (wie Anm. 8), hier zitiert nach Schneewind a. a. O. (Anm. 8), S. 307  f.: »But the practice of vice is accompanied with great temptations [,] and allurements of pleasure and profit, [;] and the practice of virtue is often threatened [attended] with great calamit[y]ies, los-

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ses, and sometimes even with dead itself. [,] And this alters the question and destroys the practice of that which appears so reasonable in the whole speculation, and introduces a necessity of rewards and punishments. […] Men never will generally, and indeed ’tis [it is] not very reasonable to be expected [that] they should, part with all the comforts of life and even life itself without expectation of any future recompence.« Die Kursivierung im Text stammt von Sidgwick. 10   Differentia: »Unterschied, Differenz«. 11   Joseph Butler 1726, Fifteen Sermons preached at the Rolls Chapel, Sermon III, S. 55: »Reasonable Self-Love and Conscience are the [two] chief or superior Principles in the Nature of Man: Because an Action may be suitable to this Nature, though all other Principles be violated; but becomes unsuitable, if either of those are.« Die Kursivierung des »two« stammt von Sidgwick, er schreibt alle von Butler groß geschriebenen (und hier so wiedergegebenen) Substantive in diesem Satz klein. 12   Vgl. Anm. 7. 13   »Mitstreiter um Aristeia«, bei Sidgwick: »competitor for the Aristeia«. Aristeia (αριστεία) bezeichnet im Griechischen »Auszeichnung« oder »Ruhm«. Sidgwick spielt an dieser Stelle auf die von Platon mehrfach – so etwa in der Politeia oder im Philebos – behandelte Frage an, ob das Glück bzw. das höchste Gut in der Tugend oder aber in der Lust besteht. 14   Mit der »intuitionistischen Schule« verweist Sidgwick auf eine Gruppe von Philosophen in Cambridge, zu der u. a. Adam Sedgwick (1785–1873) und v. a. William Whewell (1794–1866) gehörten. 15   Sidgwick verweist hier auf seinen Aufsatz: »The Theory of Evolution in its Application to Practice«. In: Mind 1/1 (1876), S. 52–67. 16   Sidgwick verweist hier auf Pollocks bereits in der Fußnote auf S. 37 genannten Aufsatz, vgl. Literaturverzeichnis Pollock 1876. Darwins Studie The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex erschien 1871. 17   Hier zitiert Sidgwick aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, Buch 1, 1094  a  18. Seine englische Übersetzung des griechischen Textes lautet: »as archers without a mark, rather unlikely to attain the needful«. 18   An dieser Stelle zitiert Sidgwick aus seinen Methods of Ethics, Buch III, Kap. 14 (Sidgwick 1981, S. 396  f.): »I cannot therefore accept a view of the wellbeing or welfare of human beings – as of other

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living things – which is suggested by current zoological conceptions and apparently maintained with more or less definiteness by influential writers; according to which, when we attribute goodness or badness to the manner of existence of a living organism, we should be understood to attribute to it a tendency either (1) to self-preservation, or (2) to the preservation of the community or race to which it belongs – so that what ›Wellbeing‹ adds to mere ›being‹ is just [with] the promise of future being.« Eben diese Formulierung griff der schon im Text erwähnte Frederick Pollock in einer scharfen Kritik an Sidgwick auf: Pollock 1877, Happiness or Welfare, S. 269. 19   Vermutlich bezieht sich Sidgwick hier auf die Kontroverse um die Tätigkeiten des Physiologen David Ferrier, die 1876 zur Verabschiedung des britischen Gesetzes gegen Grausamkeit im Umgang mit Tieren führten. Das Gesetz verlangte für Vivisektionen zu Forschungszwecken fortan eine staatliche Genehmigung. 20   Wie in der Fußnote von ihm selbst angegeben, zitiert Sidgwick hier Green 1882, Introduction. Allerdings nennt Sidgwick eine falsche Seitenzahl, das Zitat findet sich auf S. 7: »It is not a conceived reality, as a relation, or a thing determined by relations, is, since pleasure as feeling, in distinction from its conditions which are not feelings, for the same reason that it cannot be defined, cannot be conceived.« Eine entsprechende Formulierung von Caird ist an der von Sidgwick angegebenen sowie an anderen in Frage kommenden Stellen nicht zu finden, hier liegt vermutlich ein Zitationsfehler vor. 21   Sidgwick verweist auf seine Rezension zu Bradleys Buch Ethical Studies, vgl. Sidgwick 1876, Review, insbes. S. 547. 22   Green, a. a. O. (Anm. 20), S. 7: »Happiness ›in its full extent,‹ as ›the utmost pleasure we are capable of,‹ is an unreal abstraction [,] if ever there was one. It is curious that those who are most forward to deny the reality of universals, in that sense in which they are the condition of all reality, viz., as relations, should yet, having pronounced these to be mere names, be found ascribing reality to a universal, which cannot [,] without contradiction [,] be supposed more than a name. Does this ›happiness in its full extent‹ mean the ›aggregate of possible enjoyments,‹ of which modern utilitarians tell us? Such a phrase simply represents the vain attempt to get a definite by addition of indefinites. It has no more meaning than ›the greatest possible quantity of time‹ would have. Plea­sant feelings are not quantities that can be added. Each is over before the next begins, and the man who has been pleased a million times is not really

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better off – has no more of the supposed chief good in possession – than the man who has only been pleased a thousand times. When we speak of pleasures, then, as forming a possible whole, we cannot mean pleasures as feelings, and what else do we mean?« Die Kursivierung stammt von Sidgwick.

Freude und Wunsch 1

  Bentham 1907, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Kap. 1., Abs. 1, Fn. vom Juli 1822, S. 1: »To this denomination has of late been added, or substituted, the greatest happiness or greatest felicity principle: this for shortness, instead of saying at length that principle which states the greatest happiness of all those whose interest is in question, as being the right and proper, and [is the] only right and proper and universally desirable, end of human action: of human action in every situation, and in particular in that of a functionary or set of functionaries exercising the powers of Government.« 2   Bentham 1843, Constitutional Code, Introduction, Sekt. II, S. 5: »In the general tenor of life, in every human breast, self-regarding interest is predominant over all other interests put together.« 3   Bentham 1843, Constitutional Code, Introduction, Sekt. II, S. 5: »By the principle of self-preference, understand that propensity in human nature, by which, on the occasion of every act he exercises, every human being is led to pursue that line of conduct which, according to his view of the case, taken by him at the moment, will be in the highest degree contributory to his own greatest happiness, whatsoever be the effect of it, in relation to the happiness of other similar beings, any or all of them taken together.« 4   Bentham 1843, Constitutional Code, Introduction, Sekt. II, S. 5  f.: »For the satisfaction of those who may doubt, reference may be made to the existence of the [human] species as being of itself a proof, and that a conclusive one«. Die Kursivierung findet sich nur im Original und nicht in Sidgwicks Anführung des Zitates. 5   Wenngleich im Original in Anführungszeichen gesetzt, zitiert Sidgwick an dieser Stelle und im Folgenden Bentham nicht, sondern schreibt Bentham die Antwort zu, die dieser seiner Ansicht nach auf die aufgeworfene Frage geben würde.

Anmerkungen 6

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  Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 4, S. 116: »I believe that these sources of evidence, impartially consulted, will declare [It will hardly be disputed] that desiring a thing and finding it pleasant, aversion to it and thinking of it as painful, are phenomena entirely inseparable, or rather two parts of the same phenomenon; in strictness of language, two different modes of naming the same psychological fact: that to think of an object as desirable (unless for the sake of its consequences), and to think of it as pleasant, are one and the same thing; and that to desire anything, except in proportion as the idea of it is pleasant, is a physical and metaphysical impossibility.« 7   Sidgwick zitiert hier erneut einen Teil des in der Anmerkung zuvor wiedergegebenen Satzes von Mill in abgewandelter Form. Sidgwicks Version des Zitats lautet: »we desire a thing in proportion as the idea of it is pleasant«. 8   »Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich.« Sidgwick zitiert hier Ovids Metamorphosen, Buch VII, Vers 20  f. 9   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 2, S. 32: »Men often, from infirmity of character, make their election for the nearer good, though they know it to be the less valuable; and this no less when the choice is between two bodily pleasures, than when it is between bodily and mental. They pursue sensual indulgences to the injury of health, though perfectly aware that health is the greater good.« 10   Sidgwick zitiert hier zum dritten Mal aus demselben Satz von Mill, der in Anm. 6 wiedergegeben wurde. Bei Sidgwick heißt es hier: »desiring a thing, and finding it pleasant, are, in strictness of language, two modes of naming the same psychological fact«. 11   Mill 2006, Utilitarismus, Kap. 4, S. 116: »So obvious does this appear to me, that I expect it will hardly be disputed.« 12   Hier und im folgenden Satz zitiert Sidgwick Butler 1897, Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel, Preface, S. 191  f.: »Now all this confusion might easily be avoided, by stating to ourselves wherein the idea of self-love in general consists, as distinguished from all particular movements, towards particular external objects; the appetites of sense, resentment, compassion, curiosity, ambition, and the rest. {…} But the most natural way of speaking plainly is, to call the first only, self-love, and the actions proceeding from it, interested: and to say of the latter, that they are not love to ourselves, but movements towards some­what external: hono[u]r, power, the harm, or good, of another : and that the pursuit of these external objects, so far as it proceeds from

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Anmerkungen

these movements, (for it may proceed from self-love,) is no otherwise interested, than as every action of every creature must, from the nature of the [case] thing, be; for no one can act but from a desire, or choice, or preference of his own.« 13   Butler 1897, Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel, Preface, S. 192: »Besides, the very idea of an interested pursuit necessarily presupposes particular passions or appetites; since the very idea of interest, or happiness, consists in this, that an appetite or affection enjoys its object.« Sidgwick zitiert verändert wie folgt: »necessarily presupposed by the very idea of an interested pursuit; since the very idea of interest or happiness consists in this, that an appetite or affection enjoys its object«. 14   Im englischen Original »pursuit«. Sidgwick macht sich an dieser Stelle die Mehrdeutigkeit des englischen Ausdrucks spielerisch zunutze, um auf diesem Wege zum folgenden Beispiel, dem Erlegen ­eines Fuchses, überzuleiten: »pursuit« kann sowohl mit »Jagd« als auch mit »Verlangen« oder »Erstreben« übersetzt werden. 15   Vice versa: »umgekehrt«. 16   Hobbes 1909, Leviathan, Teil I, Kap. 6, S. 44: »Desire, to know why, and how, CURIOSITY; such as is in no living creature but Man: so that Man is distinguished, not onely by his Reason; but also by this singular Passion from other Animals; in whom the appetite of food, and other pleasures of Sense, by praedominance, take away the care of knowing causes; which is a Lust of the mind, that by a perseverance of delight in the continuall and indefatigable generation of Knowledge, exceedeth the short vehemence of any carnall Pleasure.« Sidgwick ­zitiert: »far exceeding all carnal delights«. 17   Sidgwick bezieht sich hier auf Mills Schrift von 1865, An Exa­ mination of Sir William Hamilton’s Philosophy. 18   Mill 1979, An Examination of Sir William Hamilton’s Philosophy, Kap. 6, S. 103: »I will call no being good, who is not what I mean when I apply that epithet to my fellow-creatures; and i[I]f such a Being can sentence me to hell for not so calling him, to hell I will go.« 19   Reductio ad absurdum: »Rückführung auf das Sinnlose«. 20   Auf den sogenannten Assoziationismus geht Sidgwick in seinem Text »J. S. Mill (1806–1873) und der Assoziationismus« näher ein, vgl. in diesem Band, S. 31  ff.

Anmerkungen

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Der Gefühlston des Wünschens und des Widerwillens 1

  Auch in diesem Text wird »desire« durchgängig mit »Wunsch« bzw. »Wünschen« übersetzt. Dabei ist zu beachten, dass »desire« im Englischen neben »Wunsch« auch »Verlangen« bedeuten kann. Neben Gründen der Einheitlichkeit – »desire« ist etwa prominent auch in »Freude und Wunsch« mit »Wunsch« übersetzt worden – spricht vor allem Sidgwicks implizite Bezugnahme auf sogenannte desire fulfillment theories für die Übersetzung »Wunsch«, da diese Theorien in deutscher Sprache als Wunscherfüllungstheorien bezeichnet werden. Solchen Theorien zufolge besteht das Gute eines Subjektes in der Erfüllung seiner Wünsche; ein etwaiges utilitaristisches Maximierungsgebot wird von diesen Theorien entsprechend als Gebot zur Maximierung von Wunscherfüllung gelesen. 2   Sidgwick verwendet in diesem Text häufig den Ausdruck »pain« bzw. mit diesem Ausdruck gebildete Wörter wie »painful«. Diese Ausdrücke wurden in diesem Text konsequent mit »Leid« »leidvoll« usw. übersetzt. Denn so, wie sich der utilitaristische Wertbegriff »pleasure« nicht ausschließlich auf körperliche Freuden bezieht, findet der Ausdruck »pain« auch zur Bezeichnung nicht unmittelbar physisch negativer Widerfahrnisse Verwendung. Beispiele wie Liebeskummer, der Wunsch nach dem Wiedersehen der Heimat, der unerfüllbare Wunsch, einen glücklichen Moment noch einmal zu erleben, der Wunsch, eine mehrfach nicht bestandene Prüfung endlich zu meistern: An mentale Zustände wie diese soll vermutlich gedacht werden, wenn im Text von der Möglichkeit »leidvoller Wünsche« gesprochen wird. 3   Sidgwick nimmt hier Bezug auf Marshall 1891, The Physical ­Basis of Pleasure and Pain II. 4   Im Original: »the quality or ›feeling-tone‹ of Desire, Aversion and Suspense«. 5   Marshall 1891, The Physical Basis of Pleasure and Pain II, S. 477: »The important mental state which we call Desire is closely bound to our more bodily cravings. Whatever else there may be in its make-up, it […] clearly involves a very important thwarting of the impulse to go out towards an object more or less vividly presented. Under such conditions we should find Desire painful, and there can be no doubt that it is invariably so. It is a complex state, however, which involves other elements than those which bring about the thwarting pain, and these other

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Anmerkungen

elements which involve pleasure often mask the pain. In Despair where the permanency of the thwarting of desire is emphasised, the pain appears in an extreme form. […] Aversion is a state kindred to Desire. It involves thwarted impulses relative to our separation from an object, and should bring with it pain of a broad kind. This pain is always found as part of an aversion, although at times difficult to isolate from other ever-present painful elements; e. g., the painful representation of an object which will be painful if realised.« 6   Marshall 1891, The Physical Basis of Pleasure and Pain II, S. 478, Fn.  2: »Prof. Sidgwick in his Methods of Ethics (4th ed., pp. 182  ff.) says that he recognises ›cravings which may be powerful as impulses to action without being painful in any appreciable degree‹. He actually speaks (p. 185) of ›the neutral excitements of Desire, Aversion, Suspense, Surprise‹. Concerning surprise I have a word below. Here I must be allowed to say that I cannot see how a ›craving‹ can be held to be powerful as an impulse to action without being appreciably painful. As I analyse such states of mind, the so-called neutral excitement which makes the fulness of such states is in mental regions apart from the ›craving‹. With certain of our most powerful cravings, for instance, there are the general conditions of high activity which joy implies – there are certain emotional elements of unrestricted love – and these and kindred states we must carefully eliminate in the consideration of the craving proper. The man who hungers gets an impulse to activities from his painful craving, which activities may so far absorb attention as to cover the craving itself entirely. To understand how Desire, Aversion, and Suspense can appear as neutral excitements to any man, requires the postulation of a degree of ›philosophic calm‹ which has lost Desire in that ›apathy‹ towards which the Greeks aimed, which has displaced all fear by an almost fatalistic trust, and which has learned to feel that, whatever the outcome of doubtful conditions, that outcome must be good.« Sidgwick zitiert Marshall hier exakt. 7   Bain 1865, The Emotions and the Will, Kap. 8, S. 438: »Desire is that phase of volition[,] where there is a motive, but no [and not] ability to act on it.« Die Kursivierung stammt von Sidgwick. 8   Bain, a. a. O., S. 438: »The inmate of a small [,] gloomy chamber conceives to himself the pleasure of light and of an expanded prospect [:] the unsatisfying ideal urges the appropriate action for gaining the reality; he gets up and walks out. Suppose now that the same ideal delight comes into the mind of a prisoner. Unable to fulfill the prompting, he

Anmerkungen

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remains under the solicitation of the motive; and his state is denominated craving, longing appetite, D[d]esire. If all motive impulses could be at once followed up, desire would have no place [;] […] And, thirdly, there is a bar in the way of acting which leads to the state of conflict, and renders desire a more or less painful frame of mind.« Die Kursivierung hat Bain im Original gesetzt. Sidgwick weicht in der Interpunktion deutlich von Bains Original ab; diese wird hier in der Fassung Sidgwicks wiedergegeben. 9   Sidgwick gibt an dieser Stelle kein Zitat, sondern verdeutlicht mittels der Verwendung der Anführungszeichen, welche Schlussfolgerung Bain s. E. aus dem zuvor Angeführten zu ziehen hat. 10   Bain, a. a. O., S. 438: »W[w]e have a form of desire in all our more protracted operations or when [we are] working for distant ends.« 11   »Form of pain«: kein wörtliches Zitat, vgl. aber Bain, a. a. O., S. 438  f. 12   Locke verwendet den Ausdruck »uneasiness« oder »Ruhelosigkeit« zur Beschreibung eines leidvollen Zustandes, in dem man sich ein Gut herbei wünscht. Dieser Zustand ist laut Locke handlungsmotivierend. Vgl. Locke 1975, An Essay Concerning Human Understanding, Buch II, Kap. XX, § 6, S. 230: »The uneasiness a Man finds in himself upon the absence of any thing, whose present enjoyment carries the Idea of Delight with it, is that we call Desire, which is greater or less, as that uneasiness is more or less vehement.« 13   Marshall, 1891, The Physical Basis of Pleasure and Pain II, S. 477: »We have seen that restriction of normal activities involves widespread systemic pain. Typical cases of such restriction are given when consciousness is occupied with our bodily cravings; – demand for exercise of muscle which has been unusually quiescent; hunger and thirst which arise when there is lack of normal food-supply; the artificial thirst which comes to the drunkard; those all-pervasive demands for tobacco and for opium which the habitual user feels when he tries to break up his habit.« Sidgwick schreibt in Anlehnung an diesen Satz Marshall folgende Position zu: »Mr. Marshall says that ›hunger and thirst are typical cases of painfulness‹.« 14   Sidgwick zitiert hier noch einmal aus dem letzten Teil des Abschnittes aus Marshalls Text, der zuvor (für den originalen Wortlaut vgl. o., Anm. 6) vollständig zitiert wurde. Sidgwick schreibt hier: »He says that ›to understand how desire and aversion can appear as neutral excitements to any man requires the postulation of a degree of

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Anmerkungen

›philosophical calm‹ which has lost desire in that ›apathy‹ at which the Greeks aimed.« 15   Hobbes 1909, Leviathan, Kap. 11, S. 75: »To which end we are to consider, that the Felicity of this life, consisteth not in the repose of a mind satisfied.«

Der Unterschied zwischen ›Sein‹ und ›Sollen‹ 1

  Der Text geht (vgl. das Verzeichnis der Textnachweise) ursprünglich auf ein vor der Aristotelian Society gehaltenes Referat zurück, welches unter dem Titel Is the Distinction between ›Is‹ and ›Ought‹ Ultimate and Irreducible? in den Proceedings der Gesellschaft erschienen ist. Dieser Ursprung ist dem Text deutlich anzumerken. Er weicht im Stil stark von den anderen in diesem Band versammelten Texten Sidgwicks ab. Die Gedanken werden äußerst knapp präsentiert; die Sätze sind lang, dabei zugleich sehr technisch gehalten. Auf einen sprachlich glatteren Stil wird in weiten Teilen zugunsten der Kürze verzichtet. Mit der gekürzten Überschrift schließen wir uns der Ausgabe von M. Singer (2000) an. Einige inhaltliche Erläuterungen zu diesem kondensierten Text finden sich in der Einleitung zu diesem Band, S. XXXIX   f . 2   Pro tanto: soweit etwas unter den Umständen gilt. 3   Sidgwick geht in diesem Text uneinheitlich vor, was die Kennzeichnung von begrifflichen Klärungen und Analysen von Wortbedeutungen durch Anführungszeichen oder durch englische Großschreibung betrifft. Dieser Umstand ist in der deutschen Ü ­ bersetzung ­größtenteils erhalten worden. 4  Im Folgenden kritisiert Sidgwick den metaethischen Naturalismus, dem zufolge sich normative Aussagen auf rein deskriptive Aussagen zurückführen lassen. Er knüpft damit an das berühmte Hume’sche Gesetz an, das den Übergang von Sein zu Sollen verbietet, und nimmt die von seinem Schüler G. E. Moore geäußerte Kritik des Naturalismus in Principia Ethica (1903) sowie einige Überlegungen aus Moores Ethics (1912) vorweg.

Anmerkungen

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ZUR DEUTSCHEN ETHIK

Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik 1

  Der vorliegende Text erschien in Sidgwicks Outline of the His­ tory of Ethics (51902, vgl. das Verzeichnis der Textnachweise) als § 20 unter dem Titel »German influence on English Ethics« und versehen mit den am Rand des Textes abgedruckten Zwischenüberschriften »Kant (1724–1804)«, »Post-Kantian Ethics«, »Hegel (1770–1831)«, »German Pessimism«, »Schopenhauer (1788–1860)« und »Hartmann«. 2   Sidgwick verweist hier auf die 1672 erschienene Schrift Pufendorfs, De iure naturae et gentium libre octo (Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht). Zugleich spielt er auf Hugo Grotius’ Werk De iure belli ac pacis (Über das Recht des Krieges und des Friedens) von 1625 an. 3   In Sidgwicks englischem Original: »theory of conduct«. 4   Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 45, Z. 7–8 (AA Bd. IV, S. 421, Z. 7–8). Sidgwick nennt hier und im Folgenden keine deutsche oder englische Ausgabe, nach der er die Werke Kants zitiert. Da Sidgwick andernorts entweder Kant auf Deutsch nach der Ausgabe Hartenstein, Leipzig 1867–69, zitiert oder aber eigene Übersetzungen vorlegt, die offenbar auf Grundlage dieser deutschen Ausgabe angefertigt wurden, steht zu vermuten, dass Sidgwick auch hier eigene Übersetzungen präsentiert, ggf. unter Zuhilfenahme existierender englischsprachiger Editionen. Hier und im Folgenden werden daher lediglich die von Sidgwick präsentierten Übersetzungen in den Anmerkungen wiedergegeben. Bei Sidgwick: »Act on a maxim which thou canst will to be law universal.« 5  Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 49, Z.  8–14 (AA Bd. IV, S. 424, Z. 15–20). Bei Sidgwick: »If we observe our state of mind at the time of any transgression of duty, we shall find that we really do not will that our maxim should be a universal law … our wish is that the opposite should remain a universal law, only we assume the liberty of making an exception in our own favour, or just for once only in favour of a passing inclination.«. 6  Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 54, Z. 32 – S. 55, Z. 3 (AA Bd. IV, S. 429, Z. 10–12). Bei Sidgwick: »Act so as to treat humanity, in thyself or any other, as an end always, and never as a means only.«

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Anmerkungen

  Hierbei handelt es sich trotz der von Sidgwick verwendeten Anführungszeichen nicht um ein direktes Zitat von Kant. 8  Kant 32017, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 19, Z. 5–12 (AA Bd. VI, S. 386, Z. 8–14). Bei Sidgwick: »{ It is } a contradiction to regard myself as in duty bound to promote the perfection of another; for it is just in this that the perfection of another man as a person consists, viz. that he is able of himself to set before him his own end according to his own notions of duty; and it is a contradiction to make it a duty for me to do something which no other but himself can do.« 9   Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 56, Z. 19– 22 (AA Bd. IV, S. 430, Z. 24–27). Bei Sidgwick: »the ends of any subject which is an end in himself, ought as far as possible to be my ends also, if the conception of him as an end in himself is to have its full effect with me«. 10   Vgl. dazu etwa Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 17, Z. 27–34 (AA Bd. IV, S. 399, Z. 3–9). 11   Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft, S. 845, Z. 4–6 (AA Bd. III, S. 527, Z. 28–30). Bei Sidgwick: »the glorious ideas of morality would be indeed objects of applause and admiration, but not springs of purpose and action«. 12   Sidgwick nennt als deutschen Kurztitel Philosophie des Rechts. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts erschien im Herbst 1820; die Originalausgabe trug die Jahreszahl 1821. 13   Trotz der Anführungszeichen handelt es sich bei dieser Textstelle wohl nicht um ein übersetztes, direktes Zitat von Kant. Bei Sidgwick: »only acting as one can desire all to act«. 14   Sidgwick verweist an dieser Stelle auf den § 17 des vierten Kapitels seiner Outlines of the History of Ethics (51902), bes. S. 259  f. Auf diesen Seiten diskutiert er vor allem die Philosophie T. H. Greens. 15   Sidgwick schreibt: »Hegel’s Philosophy of History and History of Philosophy«. 16   Vgl. zum Begriff der asketischen Selbstmortifikation Schopenhauer 1911, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 463: »Unter dem schon öfter von mir gebrauchten Ausdruck Askesis verstehe ich, im engern Sinne, diese vorsätzliche Brechung des Willens, durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung, zur anhaltenden Mortifikation des Willens.«

Anmerkungen

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Die Kantische Konzeption des freien Willens 1

  Sidgwick verweist an dieser Stelle auf das in diesem Band enthaltene Kapitel »Der deutsche Einfluss auf die englische Ethik« seines Buches Outlines of the History of Ethics (1886, 51902). 2   Green 1883, Prolegomena to Ethics; Martineau 1885, Types of Ethical Theory. 3   Ritchie 1883, The Rationality of History, S. 134: »It is because and in so far as man is rational that he is free: and in so far as each man acts more under the guidance of reason, and less under that of blind, i. e., merely natural, impulse, or passion, he is more of a free agent.« 4   Whewell 1845, The Elements of Morality, including Polity, Bd. 1, Kap. 2, Art. 63, S. 31: »We speak of Desire, Love, Anger, as mastering us, or [and] of ourselves as controlling them.« Die Kursivierungen stammen von Whewell und wurden von Sidgwick nicht übernommen. 5   Im Original verwendet Sidgwick hier den Begriff »Libertarian«. Der Ausdruck »libertär« sollte an dieser Stelle nicht verwechselt werden mit dem Begriff libertär bzw. Libertarismus, wie dieser zur Bezeichnung der entsprechenden philosophischen Richtung innerhalb der politischen Philosophie (z. B. R. Nozick) verwendet wird. 6   Reid 1843, Essays on the Active Powers of the Human Mind, Essay IV, Kap. IV, Abs. IV, S. 263: »If a man could not act with­out a motive, he w[c]ould have no power at all; for motives are not in our power; and he that has not power over a necessary mean, has not power over the end.« Die Kursivierung Reids wird von Sidgwick nicht übernommen. 7   Ritchie 1883, The Rationality of History, S. 134: »But freedom in this sense is the very reverse of unintelligible caprice.« 8   Green 1883, Prolegomena to Ethics, Buch II, Kap. I, Abs. 110, S. 113: »If a man’s action did not represent his character but an arbitrary freak[s] of some unaccountable power of unmotivated willing, why should he be ashamed of it or reproach himself with it?« 9   Reid 1843, Essays on the Active Powers of the Human Mind, Essay IV, Kap. IV, Abs. VI, S. 264: »When it is said, that of contrary motives the strongest [motive] always prevails, this can neither be affirmed nor denied with understanding, until we know distinctly what is meant by the strongest motive.« Die Kursivierung Reids hat Sidgwick nicht übernommen. Die von Sidgwick in den folgenden Sätzen referierte Argumentation Reids findet sich ebd., S. 263  ff. 10   Reid 1843, Essays on the Active Powers of the Human Mind, Es-

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Anmerkungen

say IV, Kap. IV, Abs. XI, S. 266  f.: »The grand and the important competition of contrary motives is between the animal, on the one hand, and the rational on the other.« 11   Reid 1843, Essays on the Active Powers of the Human Mind, Essay IV, Kap. IV, Abs. XI, S. 267: »This is the conflict between the flesh and the spirit, upon the event of which the character of men depend.« Reids Kursivierung übernimmt Sidgwick nicht. 12   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 132, Z. 24–31 (AA V, S. 97, Z. 36 – S. 98, Z. 4). Da Sidgwick in den von ihm gesetzten Fußnoten auf die deutschsprachige Kant-Ausgabe von Hartenstein verweist und keine englischsprachige Edition Kants benennt, ist davon auszugehen, dass Sidgwick die von ihm zitierten Sätze Kants selbst übersetzt hat. In den Anmerkungen wird daher hier und im Folgenden nur die von Sidgwick angeführte Übersetzung genannt: »in this his existence nothing is antecedent to the determination of his will, but every action … even the whole series of his existence as a sensible being, is in the consciousness of his supersensible existence nothing but the result of his causality as a noümenon«. 13   Vgl. Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 129, Z. 27– 130, Z. 1 (AA V, S. 95, Z. 29–36): »Wenn ich von einem Menschen, der einen Diebstahl verübt, sage: diese Tat sei nach dem Naturgesetze der Kausalität aus den Bestimmungsgründen der vorhergehenden Zeit ein notwendiger Erfolg, so war es unmöglich, daß sie hat unterbleiben können; wie kann denn die Beurteilung nach dem moralischen Gesetze hierin eine Änderung machen, und voraussetzen, daß sie doch habe unterlassen werden können, weil das Gesetz sagt, sie hätte unterlassen werden sollen, d. i. wie kann derjenige, in demselben Zeitpunkte, in Absicht auf dieselbe Handlung, ganz frei heißen, in welchem, und in derselben Absicht, er doch unter einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit steht?« Sidgwicks Übersetzung: »how a man who commits a theft«; »be called quite free«. 14   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 131, Z. 12 (AA V, S. 96, Z. 37 – S. 97, Z. 1). Sidgwicks Übersetzung: »transcendental freedom«. 15   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 132, Z. 31–133, Z. 7 (AA V, S. 98, Z. 5–12). Sidgwicks Übersetzung und eigenwillige Interpunktion lautet im vollständigen Satzzusammenhang: »{ Kant } answers that it is in the virtue of his ›transcendental freedom‹ that ›the rational being can justly say of every unlawful action that he per-

Anmerkungen

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forms that he could very well left it undone,‹ although as phenomenon it is determined by antecedents, and so necessary; ›for it, with all the past which determines it, belongs to the one single phenomenon of his character which he makes for himself, in consequence of which he imputes to himself‹ the bad actions that result necessarily from his bad character taken in conjunction with other causes.« 16   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 38, Z. 19–21 (AA V, S. 29, Z. 17–19). Die Ergänzung in eckigen Klammern stammt von Sidgwick. Seine Übersetzung: »a free will must find its principle of determination in the [moral] ›Law‹«. 17   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 106, Z. 23–27 (AA V, S. 78, Z. 24–26). Sidgwicks Übersetzung: »freedom, whose causality can be determined only by the law, consists just in this, that it restricts all inclinations by the condition of obedience to pure law«. 18   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 59, Z. 3–6, 12–14 (AA V, S. 43, Z. 10–12, 17–19). Sidgwicks Übersetzung: »supersensible nature«; »sensible nature«; »existence according to laws which are independent of every empirical condition, and therefore belong to the autonomy of pure [practical] reason«. 19   Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75, Z. 16– 23 (AA IV, S. 446, Z. 15–21). Sidgwicks Übersetzung: »since the conception of causality involves that of laws … though freedom is not a property of the will depending on physical laws, yet it is not for that reason lawless; on the contrary, it must be a causality according to immutable laws, but of a peculiar kind; otherwise, a free will would be a chimaera (Unding)«. 20  Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75, Z.  33–34 (AA IV, S. 447, Z. 6–7). Sidgwicks Übersetzung: »so that a free will and a will subject to moral laws are one and the same«. 21   Kant 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 35, Z.  1–3 (AA IV, S. 412, Z. 28–30). Sidgwicks Übersetzung: »as Reason is required to deduce actions from laws, Will is nothing but pure practical reason«. Hier und im folgenden Satz führt Sidgwick selbst die Schriften Kants mit den deutschen Originaltiteln an. 22   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 75, Z. 18–20 (AA V, S. 55, Z. 15–16). Sidgwicks Übersetzung: »objective reality of a pure Will or, which is the same thing, a pure practical reason«. 23   Sidgwick verweist hier auf Kant 1999, Grundlegung zur Meta­ physik der Sitten, S. 78, Z. 32 – S.  79, Z. 1 (AA IV, S. 449, Z. 24–25):

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Anmerkungen

»Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Prinzip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus und könnten seine Realität und objektive Notwendigkeit nicht für sich beweisen.« 24   Kant 2003, Kritik der praktischen Vernunft, S. 45, Z. 6–8 (AA V, S. 33, Z. 18–19). Sidgwicks Übersetzung: »moral law expresses nothing else than autonomy of the pure practical reason: that is, Freedom«.

ZUR THEORETISCHEN PHILOSOPHIE

Der sogenannte Idealismus von Kant 1

  Caird 1879, Mr. Balfour on Transcendentalism.   Sidgwick zitiert nun Caird, a. a. O., S. 112: »The truth is that Mr. Balfour has never realised the difference between the so-called Idealism of Berkeley and the Idealism of Kant. This is manifest from the whole course of his paper, and particularly from some of his criticisms on Kant’s ›Refutation of Idealism‹. Thus (p. 498) Mr. Balfour says: ›The real question is this – Does being in space and outside the body imply that the extended and external object is outside of mind, and other than one of the series of conscious states?‹ And then he proceeds to accuse Kant of a confusion between the idea of externality to consciousness, and the idea of externality in the sense of existence in space (which, it may be remarked in passing, Kant has expressly and clearly distinguished, Kritik, ed. Rosenkranz, p. 299), because he only attempts to show that the explicit consciousness of the external object in the latter sense is prior to the explicit consciousness of the self as an object, and does not attempt to show that there is an existence of things in themselves independent of consciousness. But if Mr. Balfour had understood what Transcendentalism implies, he would have seen that its effect is to make the latter problem meaningless, and to substitute the former for it. (Cf. Mr. Green’s article in Contemporary Review, Dec., 1877, p. 30.) No doubt there is an occasional uncertainty in Kant’s language, especially in the first edition of the Kritik, for which I have elsewhere tried to account (Phil. of Kant, pp. 545, 621, &c.).« Sidgwick zitiert Caird hier exakt, er lässt lediglich den letzten Halbsatz entfallen und schließt mit »Kritik«. 2

Anmerkungen 3

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  Caird bezieht sich hier kritisch auf Balfour 1878, Transcendentalism. 4   Balfour, a. a. O., S. 498. 5   Caird verweist hier auf die Ausgabe Kant 1838, Kritik der reinen Vernunft, S. 299. Der Verweis – korrekt wäre S. 298  f. – bezieht sich auf Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft, S. 488, Z. 4–14 (AA IV, S.  234, Z. 21–29). 6   Green 1877, Mr. Herbert Spencer and Mr. G. H. Lewes, S. 30. 7   Gemeint ist die Kritik der reinen Vernunft. 8   Sidgwick verweist hier auf John Pentland Mahaffys Übersetzung der Prolegomena, die erstmals 1872 in London publiziert wurde. Aus Gründen der besseren Zugänglichkeit wird die Mahaffy-Edition im Folgenden nach der zweiten Auflage, London 1889, zitiert. 9   Kant 1889, Prolegomena, Mahaffy (Übers.), 2. Aufl., S. 42  f.: »Idealism consists in the assertion, that there are none but thinking beings, all other things, which we think are perceived in intuition, being nothing but representations in the thinking beings, to which no object external to them [really] corresponds in fact. Whereas I say, that things as objects of our senses existing outside us are given, but we know nothing of what they may be in themselves, knowing only their phenomena, that is, the representations which they cause in us by affecting our senses. Consequently I grant by all means that there are bodies without us, that is things which, though quite unknown to us as to what they are in themselves, we yet know by the representations which their influence on our sensibility procures us, and which we call bodies, a term signifying merely the appearance of the thing which is unknown to us, but not therefore less actual [real]. Can this be termed idealism? It is the very contrary.« Kant 2001, Prolegomena, S. 48, Z. 26 – S. 49, Z. 14 (AA IV, S.  288, Z.  34 – S. 289, Z. 14). 10   Kant 1889, Prolegomena, Mahaffy (Übers.), 2. Aufl., S. 43: »I should be glad to know what my assertions must be in order to avoid all idealism.« Die Kursivierung stammt von Sidgwick. Ebd., S. 47  f.: »My protestation too against all charges of idealism is so valid and clear as even to seem superfluous, were there not incompetent judges, who, while they would have an old name for every deviation from their perverse though common opinion, and never judge of the spirit of philosophic nomenclature, but cling to the letter only, are ready to put their own conceits in the place of well-determined notions, and thereby deform and distort them.« Die Kursivierung stammt auch hier

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Anmerkungen

von Sidgwick. Kant 2001, Prolegomena, S. 50, Z. 4–6; S. 54, Z. 20–22 (AA IV, S. 289, Z. 35–36; S. 293, Z. 5–6). 11   Kant 1889, Prolegomena, Mahaffy (Übers.), 2. Aufl., S. 48: »For my idealism concerns not the existence of things (the doubting of which however constitutes idealism in the ordinary sense), since it never came into my head to doubt them, but it concerns the sensuous representation of things, to which space and time especially belong.« Die Kursivierung stammt von Sidgwick. Kant 2001, Prolegomena, S. 55, Z. 7–12 (AA IV, S. 293, Z. 20–24). 12   Gemeint ist erneut die Kritik der reinen Vernunft. 13   Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft, S. 321, Z. 9–11 (AA III, S. 191, Z. 18–20). Sidgwick nennt hier und im Folgenden keine englische Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. Seine englische Wiedergabe des Kantischen Textes weicht in relevanten Hinsichten von den in den 1870er Jahren verfügbaren Übersetzungen ab (Vgl. Kant 1838, Critick of Pure Reason, Hrsg. Haywood, S. 207  f.; Kant 1855, Critique of Pure Reason, Hrsg. Meiklejohn, S. 167). Da Sidgwick Deutsch problemlos lesen konnte und in anderen Texten (vgl. etwa Kants Widerlegung des Idealismus) die Kritik nach deutschen Ausgaben zitiert, ist davon auszugehen, dass er hier und i. F. (vgl. die nächste Anmerkung) Kant selbst, evtl. unter Rückgriff auf die genannten englischen Ausgaben, übersetzt hat. Sidgwick schreibt: »The simple but empirically determined consciousness of my own existence proves the existence of external objects in space.« 14   Die verschiedenen Kant-Ausgaben weichen an dieser Stelle voneinander ab. Im Haupttext wird ausnahmsweise der Text der Akademie-Ausgabe wiedergegeben (AA III, S. 191, Z. 22–29), da eine dem Text der AA vergleichbare Textgestalt Sidgwicks Übersetzung zugrunde gelegen haben muss. Sidgwick übersetzt (vgl. die vorherige Anm.) wie folgt: »I am conscious of my own existence as determined in time. All determination in regard to time presupposes the existence of something permanent in perception. But this permanent something cannot be something in me, because my very existence in time can only be determined through this permanent something. Therefore the perception of this permanent is only possible through a thing without me, and not through the mere representation of a thing without me. It follows that the determination of my existence in time is possible only through the existence of real things which I perceive without me.« In der Ausgabe Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft,

Anmerkungen

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S. 321, Z. 13 – S. 322, Z. 1, wird der Text unter Verweis auf eine Anweisung Kants wie folgt korrigiert: »Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas B e h a r r l i c h e s in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen, als solche, selbst ein von ihnen unterschiedliches Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden könne. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein D i n g außer mir und nicht durch die bloße Vo r s t e l l u n g eines Dinges außer mir möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.« 15   Einen Teil der in den letzten beiden Sätzen in Anführungszeichen gesetzten Begriffe, nämlich »Ding ausser mir«, »blosse Vorstellung eines Dinges ausser mir«, »unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstand«, »Gegenstand im Raum ausser mir« zitiert Sidgwick auch im englischen Original in der in dieser Anmerkung gezeigten Weise und in doppelten Anführungszeichen auf Deutsch.

Kants Widerlegung des Idealismus 1

  Caird 1879, The So-Called Idealism of Kant. Der Text »Der sogenannte Idealismus von Kant«, auf den Sidgwick hier verweist, ist in diesem Band enthalten. 2   Gemeint ist die Kritik der reinen Vernunft. 3   Sidgwick führt hier den Terminus Vorstellungen in Klammern in seinem Original an: »whereas my so-called Idealism only relates to the notions (Vorstellungen) of them«. 4   Die folgende, in Anführungszeichen gesetzte Passage hat Sidgwick aus Sätzen in Caird 1879, The So-Called Idealism of Kant, S. 558, zusammengefügt. 5   Erneut ist hier die Kritik der reinen Vernunft gemeint. 6   Sidgwick nennt hier und im Folgenden keine Kant-Ausgabe, aus welcher die Zitate entnommen wurden. Da aus anderen Kant-Texten (vgl. den Text »Die kantische Konzeption des freien Willens«, in diesem Band) bekannt ist, dass Sidgwick mit der Kant-Edition von Har-

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Anmerkungen

tenstein, 1867  ff., vertraut war und da der von Sidgwick wiedergegebene Text nur in Details (Kursivierungen, Sperrungen) abweicht, ist von dieser Ausgabe als Grundlage auszugehen, vgl. Kant 1867, Kritik der reinen Vernunft, G. Hartenstein (Hrsg.), S. 198 (AA III, S. 181, Z. 22–27,28 – S.  182, Z. 2). Die sonst gemäß der allgemeinen Editionskriterien im Haupttext wiederzugebende Ausgabe Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft, korrigiert unter Verweis auf eine Bemerkung Kants den Text an dieser Stelle entscheidend. Aus diesem Grunde wird hier ausnahmsweise im Haupttext das Kant-Zitat in der von Sidgwick wiedergegebenen Version (inklusive der Kursivierungen Sidgwicks) angeführt. Vgl. Kant 1998, Kritik der reinen Vernunft, S.  321, Z.  13 – S.  322, Z.  7: »Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas B e h a r r l i c h e s in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, und bedürfen, als solche, selbst ein von ihnen unterschiedenes Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein ­Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden könne. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein D i n g außer mir und nicht durch die bloße Vo r s t e l l u n g eines Dinges außer mir möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich. Nun ist das Bewußtsein in der Zeit mit dem Bewußtsein der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung notwendig verbunden: Also ist es auch mit der Existenz der Dinge außer mir, als Bedingung der Zeitbestimmung, notwendig verbunden; d. i. das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtseins des D ­ aseins anderer Dinge außer mir.« 7   Kant 2001, Prolegomena, S. 48, Z. 31 – S.  49, Z. 12 (AA IV, S. 289, Z. 3–12). Sidgwick zitiert den Text vermutlich (vgl. die vorher. Anm.) nach Kant 1867, Prolegomena, G. Hartenstein (Hrsg.), S. 37. Die Kursivierungen im Text stammen ausschließlich von Sidgwick. Sidgwick verwendet in seiner Wiedergabe des Zitates »ss« statt »ß« und schreibt »befindlichen« statt »befindliche«. 8  Die in Anführungszeichen gesetzten Ausdrücke »wirkliche Dinge außer mir« und »außer uns« führt Sidgwick auch im Original auf Deutsch an. 9   »Der sogenannte Idealismus von Kant«, in diesem Band enthalten.

Anmerkungen

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10

  Ignoratio elenchi: Argumentationstheoretischer Fachbegriff, der eine ungültige Argumentation bezeichnet, bei der zwar ein formal korrektes Argument für eine Behauptung gegeben wird, bei der diese Behauptung aber nicht mit der eigentlich zu beweisenden Behauptung übereinstimmt. 11   Im Folgenden lässt Sidgwick Descartes und Kant einen fiktiven Dialog führen, d. h. es handelt sich bei den folgenden Sätzen nicht um Zitate. 12   Im englischen Original: »intuition«. Es sollte an dieser Stelle bedacht werden, dass »intuition« auch »Anschauung« im Sinne Kants bedeuten kann, da dieser kantische Ausdruck im Englischen regelmäßig mit »intuition« übersetzt wird. Es liegt hier also eine potentielle Doppeldeutigkeit zwischen der kantischen Anschauung und dem umgangssprachlichen Verständnis von Intuition vor. 13   Eben diesen Vorschlag hatte Caird in seiner bereits erwähnten Kritik an Sidgwick mit Bezug auf Berkeley formuliert, vgl. Caird 1879, The So-Called Idealism of Kant, S. 557. 14   Adamson 1879, On the Philosophy of Kant, S. 249–252. 15   Sidgwick zitiert hier Teile eines Satzes aus dem genannten Werk von Adamson, ebd., S. 251, der vollständige Satz lautet bei Adamson im englischen Original: »The distinction between [a] thing and representation or notion of a thing, is not uncommon in Kant, and never, so far as I am aware, has any reference to the question of Noumena, but always to the relation of actual and possible in experience.« Die Kursivierungen von Adamson hat Sidgwick nicht übernommen; Sidgwick kursiviert »never«.

SIDGWICK ALS HOCHSCHULPOLITIKER

Philosophie in Cambridge 1

  Der vorliegende Aufsatz erschien in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift Mind im April 1876. Die frisch begründete Zeitschrift bemühte sich in ihren ersten Ausgaben darum, der interessierten Leserschaft einen Überblick über den Stand der philosophischen Forschung an wichtigen Universitäten wie in zentralen europäischen Ländern zu verschaffen. Sidgwicks Text muss daher im Zusammenhang dieser insgesamt neunteiligen Serie gelesen werden. Die anderen acht Aufsätze

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Anmerkungen

aus Mind seien an dieser Stelle kurz genannt (auf eine Nennung im Literaturverzeichnis wurde verzichtet): Mark Pattison: Philosophy at Oxford, Mind 1/1 (Jan. 1876), 82–97; W. H. S. Monck: Philosophy at Dublin, Mind 1/3 (Juli 1876), 382–397; George Croom Robertson: Philosophy in London, Mind 1/4 (Okt. 1876), 531–544; John Veitch: Philosophy in the Scottish Universities, Teil I: Mind 2/5 (Jan. 1877), 74–91; Teil II: Mind 2/6 (April 1877), 207–234; Thomas Ribot: Philosophy in France, Mind 2/7 (Jul 1877), 366–386; Wilhelm Wundt: Philosophy in Germany, Mind 2/8 (Okt. 1877), 493–518; J. P. N. Land: Philosophy in the Dutch Universities, Mind 3/9 (Jan. 1878), 87–104. 2   Das Trinity College, 1546 von Heinrich VIII. gegründet, gehört zu den ältesten Colleges der Universität Cambridge. Unter anderem waren Francis Bacon und Isaac Newton Mitglieder des Trinity ­College. 3   Weitere Informationen zu den zahlreichen in diesem Text genannten Personen: siehe das biographische Glossar in diesem Band. 4   Amtsbezeichnung / Titel für einen nicht der Universität angehörigen Wissenschaftler, der als auswärtiger Gast für einige Zeit in einem der Colleges lebte, forschte und lehrte. 5   Im englischen Original: »arts schools«. Unter den »arts« sind in diesem Zusammenhang die Geisteswissenschaften zu verstehen. 6   Recte statuit Paleius de utilitate: »Richtig urteilte Paley über das Nützliche.« Dieser Satz gehörte zur Sammlung von Thesen, über die bei mündlichen Disputationen an der Universität Cambridge im 18.  und 19. Jahrhundert regelmäßig und im Rahmen formal festgeschriebener Regeln diskutiert wurde. Vgl. dazu Wordsworth 1968, Scholae Academicae, S. 32–43, vgl. S. 35 u. 39 zur These über Paley. 7   κωφὸν πρόσωπον (kōphòn prósōpon): Klassische Bezeichnung für eine stumme Rolle auf der Theaterbühne. 8   1831 erschien Herschels Buch A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy. 9   Francis Bacon (1561–1626), der in Cambridge lebte und lehrte, prägte mit seinem 1620 erschienenen Werk Novum Organum Scientiarum die Methode der neuzeitlichen Philosophie und der entstehenden modernen Naturwissenschaften nachhaltig. 10   Alma Mater: Lateinisch für »nährende Mutter«, hier ein allegorischer Ausdruck für die Universität oder Hochschule, die eine Person besucht hat. 11   Scheinbare Astronomie (im englischen Original: »apparent astro­

Anmerkungen

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nomy«): Die sogenannte Scheinbare Astronomie befasst sich mit den beobachtbaren – nicht mit den errechenbaren – Merkmalen von Himmelskörpern. Das Wort ›scheinbar‹ ist hier ein technischer Ausdruck und signalisiert keine Zweifel an der Realität des Beobachteten. 12  Joseph Butler: Analogy of Religion, Natural and Revealed (1736); Samuel Clarke: A Demonstration of the Being and Attributes of God (1704). John Jebb 1774, Remarks Upon the Present Mode of Education, S. 26  f.: »The Examination is varied according to the abilities of the Students. The Moderator generally begins with proposing some questions from the six books of Euclid, plain Trigonometry, and the first rules of Algebra. If any person fails in an answer, the question goes to the next. [Transition] From the Elements of Mathematics, a transition is made to the four branches of Philosophy, viz. Mechanics, Hydrostatics, apparent Astronomy, and Optics, as explained in the works of Maclaurin, Cotes, Helsham, Hamilton, Rutherforth, Keill, Long, Ferguson, and Smith. […] [The Moderator,] Having closed the Philosophical Examination, he sometimes asks a few Questions in Locke’s Essay on the Human Understanding, Butler’s Analogy or Clarke’s Attributes.« Die Kursivierungen der Werktitel stammen von Sidgwick. 13   Gemeint ist mit der Angabe Sanderson vermutlich der Naturwissenschaftler und Mathematiker Nicholas Saunderson (1682–1739). 14   Im Original: »Things in General« und »Quantity Discrete and Continuous«. Sidgwick spielt hier pars pro toto auf die Umorientierung des Interesses weg von der allgemeinen Ontologie hin zur theoretischen wie experimentellen Physik an. 15   Organon: die logischen Schriften des Aristoteles. Hier wird der Ausdruck im weiten Sinne als Bezeichnung für besonders grund­ legende Schriften verwendet. 16   Entia rationis, materia prima: »Gedankending, erste Materie«. William Whewell 1854, Barrow and his Academical Times, S. iii: »Our predecessors bestowed a stupid ingenuity upon trifles; they disputed de entibus rationis [entia rationis], de materiâ primâ [materia prima], and the [such] like scholastic chimeras: which are baseless and worthless speculations.« 17   »Nun endlich ist es eure gute Hoffnung, euch der Tätigkeit der Philosophie ernsthaft hinzugeben: dem Aufspüren der Wahrheit – nicht so sehr in den dialektischen Spitzfindigkeiten, für die die alten Philosophen gefeiert wurden, sondern in diesen vorzüglichen entstehenden Wissenschaften.« Im Haupttext ist der lateinische Text in der

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Anmerkungen

von Sidgwick angeführten Fassung wiedergegeben, im Original lautet der Text von Barrow leicht verändert: »Jam tandem vos serio Philosophiae operam daturos bona spes est, Veritatis inquisitionem non tantum a dialecticis argutiis, sed quod antiquis Philosophis solenne erat, ab iis nobilissimis Scientiis auspicantes.« Vgl. Isaac Barrow 1854, Oratio ad Academicos in Comitiis, S. 41  f. 18   Edmund Law 1781, Preface, S. xviii: »Having therefore about the time abovementioned (1723) remarked some abuses in the training up of our youth, by beginning it with inculcating the dull, crabbed system of Aristotle’s Logic, and at a time when they were least capable of applying that to any valuable purpose […] – reflecting on these absurdities which still prevailed in our public forms of education – some of my friends were induced to seek a remedy by freeing their pupils from all that pedantic jargon, and introducing some better means to engage their attention, and accostum them to a close, regular way of thinking, and thereby prosecuting their future studies with greater accuracy and precision.« Die Kursivierung des Autorennamen hat Sidgwick bei seiner Wiedergabe des Zitates fallen gelassen. 19   Gemeint ist die Schule der Cambridger Platoniker (Cambridge Platonists), eine Gruppe von Philosophen im 17. Jahrhundert. Zu ihnen gehörten beispielsweise Henry More, Ralph Cudworth und John Smith. 20   Newtons Schrift Philosophiae Naturalis Principia Mathematica erschien 1687. 21   Quaestiones metaphysicae: »metaphysische Fragen / Überlegungen«. 22   John Jebb 1774, Remarks Upon the Present Mode of Education, S. 27: »But as the highest Academical Distinctions are invariably given to the best proficients in Mathematics and Natural Philosophy, a very superficial knowledge in Morality and Metaphysics will suffice.« In seiner Wiedergabe des Zitats schreibt Sidgwick die Namen der Prüfungsdisziplinen entgegen des Originals klein. 23   Vgl. Charles Henry Cooper 1842, Annals of Cambridge, S. 389  f.: »By these graces the number of examiners was increased from two to four, the examination was extended from three to four days, and one day was to be devoted to viva voce questions in n[N]atural r[R]eligion, m[M]oral p[P]hilosophy, and Locke on the Understanding.« 24  Der Senior Wrangler ist ein von der Universität Cambridge verliehener, prestigereicher Titel, der jedes Jahr an den besten Absolventen des Studienganges Mathematik verliehen wird.

Anmerkungen 25

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  Die moralphilosophische Abhandlung Paleys, auf die Sidgwick hier verweist, ist das 1785 veröffentlichte Werk The Principles of Moral and Political Philosophy. 26   Im Original: »Keeping an act«. Der Ausdruck war eine an der Universität Cambridge geläufige Bezeichnung für die auf mittelalterliche Jahrhunderte zurückgehende Praxis der mündlichen Disputation, die im 19. Jahrhundert zunehmend rein rituellen Charakter annahm und von den von Sidgwick beschriebenen moderneren Prüfungsformen verdrängt wurde. 27   Tripos ist die traditionelle Bezeichnung der einzelnen an der Universität Cambridge wählbaren Studiengänge. Ursprünglich konnte nur derjenige einen akademischen Grad der Universität erwerben, der sich am Ende – unabhängig von seinen konkreten Studieninhalten – der mathematischen Tripos-Prüfung unterzog. Um diese einseitige Ausrichtung zu verändern, erfolgte 1822 zunächst die Einführung eines altsprachlichen Tripos (von der Sidgwick hier berichtet), später wurden in zahlreichen anderen Fächern eigene Tripos-Prüfungen eingeführt, so in den 1860er Jahren auch in »Moralwissenschaften«. 28   quaestiones ethicae  /  metaphysicae: »ethische und metaphysische Fragen / Überlegungen«. 29   »Disputation« (im Original: »Act«): Dieser Ausdruck referiert auf die von Sidgwick zuvor erwähnte Praxis des »keeping an act«, im Haupttext übersetzt als »mündliche Disputation«, vgl. o. Anm. 26. 30   Der griechische Begriff πολλοί (polloí) kann wörtlich mit »(die) Vielen« wiedergegeben werden und wird zumeist abwertend i. S. v. »die breite Masse« verwendet. Sidgwick gibt den Begriff im Original mit falsch gesetztem Akzent an und schreibt πολλοì. 31   Zu dem Begriff s. o. Anm. 4. 32   Sedgwicks Buch A Discourse on the Studies of the University of Cambridge erschien 1850. 33   St. Johns ist ein 1511 gegründetes College der Universität Cambridge. 34   Downing College ist ein 1800 gegründetes College der Universität Cambridge. 35  Das philosophiegeschichtliche Hauptwerk von Maurice erschien ab 1848 in vier Bänden: Ancient Philosophy, The Christian Fathers, Medieval Philosophy und Modern Philosophy. 36   S. o. Anm. 19.

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Anmerkungen

  Im Original: »sect«. Von Sidgwick hier aber vermutlich in der wertneutralen Bedeutung einer Denkschule verwendet, wie sie im britischen Englisch gelegentlich zu finden ist. 38   Sidgwick spielt in diesem Satz auf die große Edition der Werke Bacons an, die in den Jahren 1857–1859 von Mitgliedern des Trinity College, darunter u. a. Robert Leslie Ellis (1817–1859), erstellt und in sieben Bänden veröffentlicht wurde. 39   Whewell 1838, On the Principles of English University Education, S. 24: »Those who are universally allowed to be the greatest philosophers of our day in the German universities, Hegel and Schelling, [who could not] cannot understand that Newton went fu[a]rther than Kepler had gone in physical astronomy, and despise[d] Newton’s optical doctrines in comparison with the vague Aristotelian dogmas of Göthe respecting colours.« 40   Eliot 1872, Middlemarch, Buch I, Kap. 10, S. 143: »Among all forms of mistake, prophecy is the most gratuitous.« 41   Im Original des Textes in der Zeitschrift Mind gab Sidgwick selbst seinen Ausführungen diese Übersicht über die in der philosophischen Lehre in Cambridge behandelten Themen und Autoren als Anhang bei. Auf Anmerkungen zu den einzelnen im Anhang genannten Autoren und Abhandlungen wird hier verzichtet. Im englischen Original werden alle angeführten Werke mit Kurztiteln zitiert, hier werden alle Titel vollständig und in der jeweiligen Originalsprache des Werkes, griechische Werke mit deutschem Titel, wiedergegeben. 42   Im Original: »Ethics«. Es ist davon auszugehen, dass hiermit die Nikomachische Ethik des Aristoteles gemeint ist. 43   Im Original: »Metaph. of Ethics«. In frühen englischen Ausgaben der Metaphysik der Sitten wurde der Titel des Buches anstelle von The Metaphysics of Morals mit The Metaphysic of Ethics übersetzt. Dies gilt etwa für die Übersetzung von John William Semple, die, herausgegeben von Henry Calderwood, 1871 in Edinburgh bereits in dritter Auflage erschien (EA 1836). 44   Im Original: »Prin. of Mor. and Legislation«. Die fehlende Kursivierung des »and« legt nahe, dass es sich hierbei um zwei verschiedene Werke handelt; tatsächlich ist nur ein Werk gemeint: Benthams Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung.

B IO G RAP H IS CHE S GL OS SAR

Adamson, Robert (1852–1902), schottischer Philosoph, der 1879 das Buch On the Philosophy of Kant veröffentlicht hat. Austin, John (1790–1859), einflussreicher britischer Rechtsgelehrter und Vertreter einer rechtspositivistischen Position, der in freundschaftlichem Kontakt mit Bentham und Mill stand. Wichtigstes Werk: The Province of Jurisprudence Determined (1832). Balfour, Arthur James (1848–1930), Philosoph, Politiker und von 1902–1905 britischer Premierminister. Politisch ist er unter anderem durch die sog. Balfour-Deklaration bekannt, die die britische Unterstützung des Zionismus begründete. Balfour äußerte sich auch zu Kants Transzendentalismus. Er war der Bruder von Sidgwicks Ehefrau E ­ leanor. Bain, Alexander (1818–1903), schottischer Philosoph und Psychologe, Professor an der Universität Aberdeen. 1859 erschien in London Bains Buch The Emotions and the Will, 2. Aufl. 1865. Barrow, Isaac (1630–1677), englischer Theologe und Mathematiker, der in Cambridge lehrte. Bowring, John (1792–1872), britischer Politiker, Ökonom und Philosoph, der 1843 eine elfbändige Ausgabe der Werke Benthams herausgab. Bradley, Francis Herbert (1846–1924), englischer Philosoph und bedeutender Vertreter des britischen Idealismus. 1876 erschien in Oxford sein Buch Ethical Studies. Butler, Joseph (1692–1752), anglikanischer Bischof. Er wurde v. a. durch die Werke Analogy of Religion, Natural and Revealed (1736) sowie Fifteen Sermones Preached at the Rolls Chapel (1726) bekannt. Letztere prägten die englischen moralphilosophischen Debatten nachhaltig. Caird, Edward (1835–1908), schottischer Philosoph, der dem Idealismus zuzuordnen ist und sich u. a. mit Kant und Hegel beschäftigte. Er stand mit Sidgwick in einem publizistischen Streit über den Idealismus in der theoretischen Philosophie Kants.

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Biographisches Glossar

Chrysippos von Soloi (um 280 v. Chr. – 207 v. Chr.), hellenistischer Philosoph und Stoiker. Clarke, Samuel (1675–1729), englischer Philosoph und anglikanischer Kleriker. Er gilt als der bedeutendste britische Philosoph in der Zeit zwischen John Locke und George Berkeley und stand im Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz. Coleridge, Samuel Taylor (1772–1834), englischer Dichter und Philosoph, in den frühen 1790er Jahren Student in Cambridge, gilt als einer der Mitbegründer der englischen Romantik. Er befasste sich seit ca. 1800 intensiv mit der deutschen kantischen und nach-kantischen Philosophie. Comte, Auguste (1798–1857), französischer Philosoph und Soziologe, Begründer der Philosophie des Positivismus. Cudworth, Ralph (1617–1688), Philosoph aus Cambridge, der zur Gruppe der Cambridger Platoniker (Cambridge Platonists) gezählt wird. Cumberland, Richard (1631–1718), englischer Philosoph und Bischof von Peterborough. Dumont, Pierre Étienne Louis (1759–1829), machte sich als früher Herausgeber einiger Werke Benthams einen Namen und überarbeitete diese für seine Editionen teilweise. Ellis, Robert Leslie (1817–1859), Mathematiker aus Cambridge und Mitherausgeber der Werke Francis Bacons, die in den Jahren 1857–1859 von Mitgliedern des Trinity College erstellt und in sieben Bänden veröffentlicht wurden. Gay, John (1699–1745), englischer anglikanischer Kleriker, Theologe und Moraltheoretiker, dessen Dissertation Concerning the Fundamental Principle of Virtue or Morality, veröffentlicht 1731, als wichtiger früher Beitrag zur utilitaristischen Theorietradition gilt. Godwin, William (1756–1836), englischer Journalist, Philosoph und Schriftsteller. Godwin wird als früher Vertreter des Utilitarismus gehandelt. Zu seinen Hauptwerken zählt An Enquiry Concerning Political Justice.

Biographisches Glossar

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Green, Thomas Hill (1836–1882), englischer Politiker und Philosoph, der zum Kreis der britischen Idealisten gerechnet wird. Sein Hauptwerk Prolegomena to Ethics erschien kurz nach seinem Tod 1883. Grote, John (1813–1866), Moralphilosoph und anglikanischer Kleriker, von 1855–1866 direkter Nachfolger Whewells auf der Knight­bridge-­ Professur für Moralphilosophie in Cambridge, die später Sidg­wick innehatte. Kritischer Kommentator des Utilitarismus. Grotius, Hugo (1583–1645), niederländischer Philosoph und Rechtsgelehrter, dessen Werk De jure belli ac pacis die rechtsphilosophischen und insbesondere völkerrechtlichen Diskussionen über lange Zeit hinweg prägte. Hamilton, William (1788–1856), schottischer Philosoph, Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Edinburgh. Zu seinen bekanntesten Schriften zählt Philosophy of the Unconditioned. Hare, Julius Charles (1795–1855), anglikanischer Theologe, Mitglied des Trinity College in Cambridge, später Kaplan am Hofe Königin Victorias. Hartley, David (1705–1757), Philosoph aus Cambridge, der als Mediziner praktizierte und psychologische wie physiologische Studien vorlegte. Hartmann, Robert Eduard von (1842–1906), von Schopenhauer beeinflusster deutscher Philosoph, der umfangreiche Publikationen zur Metaphysik, Ethik und Ästhetik vorgelegt hat. Herschel, John Frederick William (1792–1871), englischer Naturwissenschaftler und Mathematiker. 1831 erschien sein Buch A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy. Hollingworth, John Banks (1780–1856), anglikanischer Kleriker und Norris Professor der Theologie an der Universität Cambridge. Jebb, John (1736–1786), anglikanischer Kleriker und Mediziner, Mitglied des Peterhouse College der Universität Cambridge. King, William (1650–1729), irischer anglikanischer Theologe und Erzbischof von Dublin, Verteidiger der Glorious Revolution, der im Jahre 1702 die Abhandlung De Origine Mali veröffentlichte.

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Biographisches Glossar

Law, Edmund (1703–1787), anglikanischer Bischof und einer der Vorgänger Sidgwicks als Knightbridge-Professor für Moralphilosophie in Cambridge, der u. a. das Werk De Originale Mali des anglikanischen Erzbischofs von Dublin, William King, übersetzte, umfassend kommentierte und als Essay on the Origin of Evil 1731 veröffentlichte. Mahaffy, John Pentland (1839–1919), irischer Altphilologe und Philosoph, der sich u. a. als Übersetzer von Kant betätigt hat. Malthus, Thomas Robert (1766–1834), britischer Ökonom und weltweit erster Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie. Bekannt wurde Malthus vor allem durch seine Arbeiten zur Bevölkerungsentwicklung und seine Diskussion der Probleme der Überbevölkerung. Er dürfte Sidgwick zu seinen Überlegungen zugunsten eines durchschnittsmaximierenden Utilitarismus für zukünftige Generationen inspiriert ­haben. Marshall, Henry Rutgers (1852–1927), amerikanischer Architekt und Psychologe. Zu seinen Hauptwerken gehören Pain, Pleasure and Desire (1894) sowie Consciousness (1909). Martineau, James (1805–1900), englischer Philosoph und Theologe. Er publizierte 1885 das Werk Types of Ethical Theory. Maurice, John Frederick Denison (1805–1872), englischer Theologe und früher Vertreter und Anhänger des christlichen Sozialismus, als Sozialreformer aktiv und ab 1866 bis zu seinem Tode einer von Sidg­ wicks Vorgängern auf der Knightbridge-Professur für Moralphilosophie in Cambridge. Mayor, John Eyton Bickersteth (1825–1910), Altphilologe an der Universität Cambridge, u. a. Universitätsbibliothekar und Professor für Latein. More, Henry (1614–1687), Philosoph aus Cambridge, der zur Gruppe der Cambridger Platoniker (Cambridge Platonists) gezählt wird. Paley, William (1743–1805), anglikanischer Kleriker, Theologe und Philosoph. Paley ist in der gegenwärtigen Religionsphilosophie aufgrund seiner Schrift Natural Theology or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity (1802) bedeutsam.

Biographisches Glossar

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Peacock, George (1791–1858), schottischer Mathematiker, Mitglied des Trinity College in Cambridge und anglikanischer Kleriker. Pollock, Frederick (1845–1937), englischer Jurist, bekannt für seine History of English Law before the Time of Edward I. (1895). Price, Richard (1723–1791), englischer Moralphilosoph, Theologe und politischer Autor. Er gilt als Vertreter des ethischen Intuitionismus sowie des Rationalismus. Politisch bekannt wurde er v. a. durch seine Unterstützung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Priestley, Joseph (1733–1804), englischer Theologe und Philosoph, dessen theoretische Schriften zur Ethik, politischen Philosophie und Pädagogik starken Einfluss auf die liberale wie utilitaristische Theoriebildung in England um 1800 nahmen. Prodikos von Keos (um 470/460 v. Chr. – 399 v. Chr.), griechischer Sophist. Pufendorf, Samuel von (1632–1694), Philosoph und Jurist, der mit seinem an Grotius anknüpfendem Hauptwerk De jure naturae et gentium libri octo von 1672 einen wichtigen Beitrag zur politischen Philosophie und zum Völkerrechtsdiskurs der Frühen Neuzeit leistete. Reid, Thomas (1710–1796), schottischer Moralphilosoph und Theologe, der als Begründer der Philosophie des Common Sense gilt. In seinem Werk An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764) entwickelt er v. a. in Abgrenzung von Hume eine eigene Ideenlehre. Ricardo, David (1772–1823), britischer Ökonom, der als einer der Hauptvertreter der klassischen Nationalökonomie gilt. Ritchie, David George (1853–1903), schottischer Philosoph mit Inter­essen in den Bereichen Moralphilosophie und Platon. Sedgwick, Adam (1785–1873), Geologe und Philosoph, von 1818 bis 1873 Inhaber des Lehrstuhls für Geologie an der Universität Cambridge. Smith, John (1618–1652), Philosoph aus Cambridge, der zur Gruppe der Cambridge Platonists gezählt wird. Spencer, Herbert (1820–1903), englischer Philosoph, Soziologe und politischer Theoretiker, der in der Tradition des politischen Libe­

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Biographisches Glossar

ralismus verwurzelt war und heute oftmals als einer der Begründer des Sozialdarwinismus angesehen wird. Sterling, John (1806–1844), schottischer Schriftsteller, der im Briefwechsel mit John Stuart Mill stand. Stirling, James Hutchinson (1820–1909), britischer Philosoph, der das für die angloamerikanische Hegelrezeption bedeutende Buch The Secret of Hegel (1865) veröffentlichte. Sully, James (1842–1923), der Schule des Assoziationismus zuzurechnender englischer Psychologe, der in London lehrte. Thirlwall, Connop (1797–1875), englischer Historiker und anglikanischer Bischof, Mitglied des Trinity College in Cambridge. Thompson, William Hepworth (1810–1886), Altphilologe, der v. a. zu Platon arbeitete. Aktiver Betreiber von Reformen des Lehrplans in Cambridge. Tucker, Abraham (1705–1774), englischer Adliger und Philosoph, der unter dem Namen Edward Search die Abhandlung The Light of Nature Pursued verfasste, welche in sieben Bänden zwischen 1768 und 1774 erschien. Whewell, William (1794–1866), Wissenschaftler, anglikanischer Theologe. Als Knightbridge-Professor für Moralphilosophie einer der Vorgänger von Sidgwick, der sich besonders als Reformer des Prüfungssystems der Universität Cambridge hervortat. Von 1841 bis zu seinem Tode zudem Leiter des Trinity College (Master of Trinity College). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wissenschafts- und Philosophiegeschichte sowie zur praktischen Philosophie. Wolff, Christian (1679–1754), deutscher Mathematiker, Physiker und Philosoph. Mit seinem umfassenden, dem Rationalismus zuzuordnenden und von Leibniz beeinflussten philosophischen Werk prägte er nachhaltig die deutschen philosophischen Debatten des 18.  Jahrhunderts. Zenon von Kition (333/332 v. Chr. – 262/261 v. Chr.), griechischer Philosoph und Begründer der Stoa.

P E R S O N EN RE GI S TE R

Adamson, Robert  132, 213, 219 Aristoteles  XLV , LII , 4, 36  ff., 45, 140, 142, 145, 149, 179, 194, 215, 218 Austin, John  21, 24, 219 Balfour, Arthur James  XVI , 121  f., 208  f., 219 Bain, Alexander  32  f., 63, 73  ff., 150, 191, 200  f., 219 Barrow, Isaac  136, 215  f., 219 Bentham, Jeremy  VII , X , XIV , XVIII , XXXIV   ff., XXXVIII , LIV , 5, 13  ff., 19  ff., 26  ff., 44, 52  ff., 134, 149, 184  ff., 189, 196, 218, 219  f. Bowring, John  22  f., 187, 189, 219 Bradley, Francis Herbert  49, 195, 219 Butler, Joseph  XXXVII f., 17, 39  f., 59, 61, 64, 97, 136, 140, 149, 194, 197  f., 215, 219 Caird, Edward  48, 121  f., 124, 126  ff., 195, 208  f., 211, 213, 219  f. Chrysippos von Soloi  37, 220 Clarke, Samuel  XXII , LXIX , 13, 40, 135  ff., 149, 193, 215, 220 Coleridge, Samuel Taylor  92, 98  f., 134, 147, 220 Comte, Auguste  29  f., 189, 220 Cudworth, Ralph  135, 216, 220 Cumberland, Richard  13, 39, 42, 193, 220

Dumont, Pierre Étienne Louis  22, 55, 220 Ellis, Robert Leslie  147, 218, 220 Fichte, Johann Gottlieb  XLIV , 98  ff. Gay, John  XXXV , 16, 182  f., 220 Godwin, William  93, 220  f. Green, Thomas Hill  48  ff., 57, 106, 110, 122, 195, 204  f., 208  f., 221 Grote, John  25, 146, 149  f., 221 Grotius, Hugo  91, 203, 221 Hamilton, William  66, 136, 142, 150  f., 198, 215, 221 Hare, Julius Charles  133, 142, 221 Hare, Richard Mervyn  XIV , LV Hartley, David  31  f., 147, 190, 221 Hartmann, Robert Eduard von  VI , XII , XLI , LIV , 91, 104  f., 203, 221 Herschel, John Frederick William 134, 142, 147, 214, 221 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XII , XLI , XLIV , LII , 91, 98, 100  f., 147, 203  f., 219, 224 Hollingworth, John Banks  140, 221 Jebb, John  135, 139, 215  f., 221 Kant, Immanuel  VII , VIV   ff., XVI , XIX , XXI   ff., XLI   ff., L   ff., LV , 13, 91  ff., 106  ff., 109  ff., 121  ff., 126  ff., 147  ff., 203  ff., 208  ff., 219  ff., 222

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Personenregister

King, William  16, 138, 182, 222 Law, Edmund  138  f., 182, 216, 222 Mahaffy, John Pentland  123, 209  f., 222 Malthus, Thomas Robert XXXIII   f., 10, 180, 222 Marshall, Henry Rutgers  69  ff., 76, 80, 82, 199  ff., 222 Martineau, James  106, 205, 222 Maurice, John Frederick Denison 133, 146, 217, 222 Mayor, John Eyton Bickersteth 144, 222 Mill, John Stuart  VII , X f., XIV ; XVIII , XXXIV   ff., XXXVIII , LIV , 9, 13, 25, 26  ff., 56  ff., 62, 65  f., 98, 146, 149, 151, 185, 187  ff., 197  f., 219, 224 More, Henry  135, 216, 222 Paley, William  V, XXXIV f., 15  ff., 22, 24, 134, 139  ff., 149, 181, 183  f., 214, 217, 223 Parfit, Derek  XI , XIV , 181 Peacock, George  136, 223 Platon  LII , 9, 36  ff., 43, 138, 142, 146, 149, 192, 194, 223  f. Pollock, Frederick  37, 45, 194  f., 223 Price, Richard  92  f., 223 Priestley, Joseph  187, 223 Prodikos von Keos  37, 223

Pufendorf, Samuel von  91, 203, 223 Reid, Thomas  92, 97, 109  ff., 150, 205  f., 223 Ricardo, David  147, 223 Ritchie, David George  107, 119, 205, 223 Schelling, Friedrich Wilhelm ­Joseph  XLIV , 98  ff., 147, 218 Schopenhauer, Arthur  XII , XXXIX , XLI , LIV , 91, 102  ff., 203  f., 221 Sedgwick, Adam  134, 142, 194, 217, 224 Smith, Adam  33, 149 Smith, John  215  f., 224 Spencer, Herbert  X, 34, 6, 102, 147, 150, 191, 209, 224 Sterling, John  132, 142, 224 Stirling, James Hutchinson  100, 224 Sully, James  71  f., 224 Thirlwall, Connop  133, 142, 224 Thompson, William Hepworth 142, 224 Tucker, Abraham  VI , XXXVI   f., 15  f., 181  f., 224 Whewell, William  XVII , 92, 108, 133  f., 136, 142, 144  ff., 149, 151, 194, 205, 215, 218, 224 Wolff, Christian  XI , 91, 225 Zenon von Kition  38, 225