Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung: Ein Beitrag zum zivilrechtlichen Ehren-, Persönlichkeits- und Datenschutz [1 ed.] 9783428471560, 9783428071562

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Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung: Ein Beitrag zum zivilrechtlichen Ehren-, Persönlichkeits- und Datenschutz [1 ed.]
 9783428471560, 9783428071562

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JOSEF BROSSETTE

Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf information elle Selbstbestimmung

Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik Herausgegeben von Prof. Dr. Horst Ehmann und Prof. Dr. Rainer Pitschas

Band 1

Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Ein Beitrag zum zivilrechtlichen Ehren-, Persönlichkeits- und Datenschutz

Von Dr. iur. Josef Brossette

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Drossette, Josef: Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung: ein Beitrag zum zivilrechtlichen Ehren-, Persönlichkeits- und Datenschutz / von Josef Brossette. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik; Bd. I) Zugl.: Trier, Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-428-07156-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0940-1172 ISBN 3-428-07156-5

Meinen Eltern und meiner Frau

Vorwort der Herausgeber Neue Technik bringt neues Recht hervor. Die elektronische Datenverarbeitungstechnik hat das Datenschutzrecht hervorgebracht und alle traditionellen Informationsschutztatbestände im privaten und öffentlichen Recht, auch im Strafrecht und den Prozeßordnungen mehr oder weniger verändert. Das beginnt beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, das nach Ansicht des Bundesgerichtshofs schon durch jede unzulässige Datenverarbeitung verletzt sein soll, gilt für die ehrwürdigen Geheimnisschutztatbestände (Arzt-, Post-, Steuer-, Sozialgeheimnis etc.), für die Amtshilfe, für das polizeiliche Ermittlungs- und das prozessuale Verwertungsrecht, für die Auskunftsansprüche gegen öffentliche und private Register etc. Die überkommenen Werte der Wahrheit und der Informationsfreiheit sind dabei im Interesse eines höheren Informationsschutzes stark zurückgedrängt worden. Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte sog. (Grund-)Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat im Sog des Zeitgeistes diesen erhöhten Informationsschutz über den Bereich der automatischen Datenverarbeitung hinausgetragen und es dem Gesetzgeber sehr schwer gemacht, bei den erforderlich gewordenen speziellen gesetzlichen Regelungen und vor allem auch bei der Neufassung des Bundesdatenschutzgesetzes vom 20. 12. 1990 einerseits den Leit- und Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden und andererseits die für ein funktionierendes Rechts- und Wirtschaftsleben notwendige Informationsfreiheit im öffentlichen und privaten Bereich zu erhalten. Vor Übertreibungen warnende Stimmen aus der Wissenschaft haben nicht viel Gehör gefunden. Beim Umgang mit den rechtswidrig erhobenen und gespeicherten Informationen der sog. Stasi-Akten ist jedoch auch der politischen Praxis deutlich geworden, daß die Aufdeckung und Sanktionierung begangenen Unrechts unter Umständen Vorrang haben muß. Die neue Technik hat jedoch nicht nur auf dem Gebiet des Informationsrechts, sondern auch auf vielen anderen Rechtsgebieten neue Fragen aufgeworfen; erinnert sei nur an die vielfältigen arbeitsrechtlichen Probleme sowie z. B. die Probleme der Gewährleistungsrechte beim Kauf von Software und deren Urheberschutz. Die hiermit eröffnete Schriftenreihe soll ein vorurteilsfreies wissenschaftliches Forum werden, in welchem alle rechtlichen Probleme des Informationsverkehrs und der Informationstechnik dargestellt werden können. Möge es insbesondere gelingen, theoretische Erkenntnisse zu entwickeln, mit deren Hilfe auf allen praktischen Feldern die Ideallinie zwischen dem notwendigen Persön-

Vorwort

8

lichkeitsschutz und der erforderlichen Infonnationsfreiheit gefunden werden kann. Trier und Speyer, im Juni 1991 Prof. Dr. Horst Ehmann

Prof. Dr. Rainer Pitschas

Vorwort Die Arbeit wurde im WS 1989/90 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation angenommen. Literatur- und Rechtsprechungsnachweise wurden für die Veröffentlichung in den wesentlichen Teilen auf den Stand August 1990 gebracht. Das Gesetz zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes vom 20.12. 1990, durch das das Bundesdatenschutzgesetz mit Wirkung zum 1. 6. 1991 geändert worden ist, wurde ebenfalls noch eingearbeitet (vgl. § 13). Zu danken habe ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Horst Ehmann, der mich mit der Strenge und Güte eines "Vaters" gefordert und gefördert und dessen wissenschaftliche Schulung mich geprägt hat. Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Peter Krause für das zügige Erstellen des Zweitgutachtens und fruchtbare Anregungen, die in die vorliegende Fassung noch eingearbeitet wurden. Dank gilt auch meinen Kollegen und Kolleginnen am Lehrstuhl für die freundschaftliche, vertrauensvolle und fruchtbare Zusammenarbeit, insbes. Herrn Ass. iur. Georg Rott für zahlreiche Anregungen in ausgiebigen Gesprächen und Frau Ingrid Greim für die gewährte Unterstützung bei den Schreibarbeiten. Besonderer Dank gilt meiner Frau und meinen Eltern. Ohne ihre Unterstützung wäre die Arbeit wohl nie geschrieben worden. Trier, Februar 1991

lose! Brassette

Inhaltsverzeichnis Einführung

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17

Erster Teil

Wahrheit und Diskretion, ein allgemeines Problem § 1 Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis

24

A. Die Natur des Menschen

24

Bo Entwicklungsstufen der Gesellschaft und Individualschutz

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26

Co Schwierigkeit der Abgrenzung zu schützender "Räume" - Relativität der Privatsphäre -

29

Do Grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten

31

§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie

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34

Ao "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie

10 Die Meinungen Kants, Schlettweins und Schopenhauers

34

38

Ho Die verschiedenen Meinungen in der Theologie IIIo Der Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit

0000000000000000000

Bo Wahrheit im Spiegel von Sprichwörtern und Zitaten

44

A. Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Verbot von Lüge und Täuschung im Strafrecht 0

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39 42

§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

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Bo Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht - Ein historischer Überblick -

1. Gründe gegen die Zulassung des Wahrheitsbeweises Ho Einschränkungsversuche des Wahrheitsbeweises

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44

45

47 48

10

Inhaltsverzeichnis III. Gründe für die Zulassung des Wahrheitsbeweises

51

1. Das absolute Recht, die Wahrheit frei und offen sagen zu dürfen

51

2. Wahrheit kann die Ehre nicht verletzten

53

3. Interessenabwägung spricht für die Wahrheit ................

54

C. Sonstige strafrechtliche Schutzinseln vor der Wahrheit - zugleich ein historischer Überblick -

59

I. Strafrechtlicher Schutz bestimmter Berufsgeheimnisse (Privatgeheimnisse) ....................................................

59

11. Schutzinseln vor "Wahrheitserhebung" ........................

62

1. Der herkömmliche Schutzbereich

62 62 64

a) Der Schutz des Hausfriedens b) Schutz des Briefgeheimnisses 2. Erweiterung des Schutzbereiches .......................... a) Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes ............... b) Ausspähen von Daten ................................ c) §17 Abs.2 UWG .......... . .........................

67 67 67 68

3. Zusammenfassung

68

Zweiter Teil

Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Informationsfreiheit im Zivilrecht § 4 Überblick über das Informationsordnungssystem des Zivilrechts § 5 Das Recht auf Wahrheit (Information) im Regelungssystem des BGB

70 .......

74

.................................

74

I. Kein allgemeiner Informationsanspruch .......................

74

A. Klagbare Informationsansprüche

II. Die gesetzlich ausdrücklich geregelten Informationsansprüche - Systematik und Gruppen -

III. Die Fortbildung klagbarer Informationsansprüche durch die Rechtsprechung .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsfortbildung

75

77

.......................................

77

2. Die Voraussetzungen im einzelnen ........................ - Grundelemente klagbarer Informationsansprüche a) Materiellrechtliche Sonderbeziehung

78 79

11

Inhaltsverzeichnis b) Informationsinteresse c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit .....................

81

IV. Einsichtsrecht in öffentliche Register B. Unentwickelte Informationsansprüche (Anzeige-, Mitteilungs-, Aufklärungs- und Offenbarungspflichten) ............................ . . . I. Eigen- und Selbstverantwortlichkeit als Prinzip des BGB

82 82

85

II. Der Weg der Rechtsprechung III. Kritik

79 80

....................................................

IV. Haftung aus organisiertem sozialen Kontakt?

87

89

§ 6 Wahrheit als Rechtsverletzung im Regelungssystem des BGB bis zur Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

A. Konzeption des BGB und die Rechtsprechung des Reichsgerichts .....

92

I. Überblick .................................................

92

II. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts

.......................

95

1. Kein Ehren- und Persönlichkeitsschutz .....................

95

2. Wahrheit und Sittenwidrigkeit - Fallbeispiele - .............. 96 a) Grundsatz: Die Wahrheit ist frei ....................... 96 b) Durch Interessenabwägung zur Sittenwidrigkeit .......... 97 - Beispiel Auskunftei c) Verbot der vergleichenden Werbung 100 - Herausbildung von Fallgruppen d) Informationserhebung ................................ 102 B. Lösungsansätze in der älteren Literatur ........................... 103 - Auf dem Weg zu neuen Rechtsgütem I. Der Gedanke der Selbstbestimmung bei Josef Kohler

II. Die Regelung der Informationsbeziehungen bei Hans Giesker - Erster Entwurf eines Informationsrechtssystems -

103 106

§ 7 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schranke von Wahrheit und Wahrhaftigkeit - Vom Ehrenschutz zum umfassenden Persönlichkeitsschutz - .. . . . . . .. 113 A. Von der Moral zum Recht

...................................... 113

I. Gründe Hir die Anerkennung eines Allgemeinen Persönlichkeitsrechts .................................................... 113

12

Inhaltsverzeichnis 1. Gesellschaftlicher Wandel und technische Entwicklung

114

2. Pluralistische Massengesellschaft

116

3. Allgemeinwohl

117

11. Wesen und Grenzen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts - Kein Schutz freier Willensbetätigung -

118

III. Prinzipien und Methode der Prüfung einer Rechtsverletzung

124

1. Interessenabwägung

..................................... 124

2. Grundsatz: Nicht die Wahrheit bedarf der Rechtfertigung, sondern ihr Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 3. Methode

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 126

a) Tatbestand

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127

b) Rechtswidrigkeit .......................... . .......... 127 IV. Inhalt und Fallgruppen des APR ............................. 129

1. Sphärenschutz .......................................... 129 a) Öffentlichkeitssphäre ................................. 129 b) Intimsphäre ......................................... 130 c) Privat-, Geheim-, Vertraulichkeitssphäre 130 2. Fallgruppen

............................................ 131

B. Selbstbestimmung und Autonomie als Wertmaßstab in der Rechtsprechung bis zum Volkszählungsurteil ............................... 133

c.

Grenzen der Wahrhaftigkeitspflicht bei Befragungen - Recht zur Lüge? -

136

I. § 123 BGB als Ausdruck der Pflicht zur Wahrhaftigkeit im Rechtsverkehr ..................................................... 136

11. Grenzen der Wahrhaftigkeitspflicht ........................... 137 - Zum sogen. Fragerecht des Arbeitgebers -

Dritter Teil

Vom Recht der Wahrheit zur entkörperten Selbstbestimmung angesichts neuer Informationstechniken ? § 8 Neue Technik - neues Recht

A. Die Angst vor der neuen Technik - Hintergründe -

149

I. Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft .................. 149

Inhaltsverzeichnis

l3 151

11. Horrorvisionen 111. Die Angst vor dem Computer - Zeitgeist -

152

B. Aufgabe von Rechtsprechung und Gesetzgebung

155

I. Orientierung am Normalfall ................................. 155 11. Keine gravierenden MißbrauchsfaIle .......................... 156 111. Beachtung der Rechte anderer ............................... 156 IV. Bewahrung bewährter Prinzipien ............................. 157 V. Konsequenzen

157

C. Die spezifischen Möglichkeiten und Gefahren der automatischen Datenverarbeitung ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 159 I. Die steigende Quantität der Daten

159

11. Multifunktionale Auswertungsmöglichkeiten

160

111. Zugriffsmöglichkeit auf Datenbanken Dritter

161

IV. Kontextverlust

162

V. Fehlende Transparenz der automatischen Datenverarbeitung ..... 163 VI. Manipulation und unbefugter Zugriff ......................... 163

164

VII. Computergläubigkeit § 9 Das Bundesdatenschutzgesetz

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165 - Von der Informationsfreiheit zum Informationsverbot A. Überblick über das Regelungssystem

165

B. Die grundlegenden Streitfragen .................................. 167 I. Grundsätzliches Informationsverbot

.......................... 169

11. Unklare Schutzzweckbestimmung ............................ 171 III. Erstreckung über die automatische Datenverarbeitung hinaus

173

IV. Vermischung von öffentlichem- und privatem Recht

175

§ 10 Prinzip Informationsverbot im Privatrecht .............................. 176 - Eine grundlegend falsche Wertentscheidung -

A. Der Unterschied: Öffentliches Recht und Privatrecht

. . . . . . . . . . . . . .. 177

14

Inhaltsverzeichnis

1. Die grundlegenden Unterschiede

177

II. Folgen (mittelbare Drittwirkung)

179

B. Datenschutz, Grundrechte des Datenverarbeiters und Übermaßverbot I. Informations- und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs.l, S.1 GG)

184

...... 185

1. Der klassische Schutzbereich

186

2. Art. 5 Abs. 1, S. 1 GG als umfassendes Kommunikationsgrundrecht in allen Lebensbereichen ................................. 187 a) Schutz der privatnützigen Kommunikation

.............. 188

b) Verbot der Tatsachenübermittlung als Grundrechtseingriff

190

c) Informationsfreiheit und allgemein zugängliche Quellen ... 192 aa) Funktion der Informationsfreiheit .................. 192 bb) Funktion des Merkmals "allgemein zugängliche Quellen" 193 d) Informationsfreiheit im Pathos des Volkszählungsurteils ... 196 e) Grenzen der Informationsfreiheit - Prinzipienwechsel als Übermaß -

198

II. Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie (Artt. 12, 14 GG) als Abwehrrechte gegen Informationsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200 1. Verhältnis von Artt. 12, 14 zu Art. 5 Abs. 1, S.1 GG

200

2. Informationsbeschränkungen als Eingriff in die unternehmerische Betätigungsfreiheit (Artt.12, 14GG) ........................ 201 a) Probleme bei der Eingriffsfeststellung

. . . . . . . . . . . . . . . . .. 201

b) Schutz bei Vertragsanbahnung und Beendigung von Arbeitsverhältnissen ........................................ 203 c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Berufsfreiheit ..... 205 d) Die Bedeutung der Information für die unternehmerische Betätigungsfreiheit ................................... 206 e) Mitbestimmung im Gehirn des Unternehmens ........... 208 - Persönlichkeitsschutz oder Klassenkampf -

o Kein Schutz für Großunternehmer? - Über die Information zur Enteignung des Kapitals -

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 209

g) Die Institutsgarantie des Eigentums

......... . . . . . . . . . .. 211

h) Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

................. 212

III. Art. 2 Abs. 1 GG .......................................... 213 C. Recht am eigenen Datum, Recht auf informationelle Selbstbestimmung 214 - Unklare Wortgebilde, falsche Denkweisen, keine zivilrechtlichen Rechtsgüter -

1. Zum Recht am eigenen Datum .............................. 214

15

Inhaltsverzeichnis 1. Recht zur Kommunikationsverhinderung

................... 214

2. Zur Funktion absoluter subjektiver Rechte .................. 216 3. Kein Persönlichkeitsrecht

............................... , 217

H. Zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung .............. 219 1. Schillerndes Wortgebilde mit unklarem Inhalt ............... 219 2. Ein Recht hergeleitet aus falschen Grundgedanken . . . . . . . . .. a) Falsche Auslegung Luhmanns ......................... b) Übertriebene Autonomie zu Lasten Dritter und der Allgemeinheit - Über Datenschutz zum Tatenschutz? - ............ c) Rechtsgüter, Rechtsgefährdung und Schutzgesetze ........ d) Nicht zu realisierendes Pathos .........................

221 221 223 225 227

3. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ...................... 229 a) Volkszählungsurteil und Zivilrecht ........ . . . . . . . . . . . .. aa) "Nullum datum sine lege"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Bloße Schranken-Schranke ........................ cc) Überinterpretation der gewährten Selbstbestimmung .. b) Entmündigungsbeschluß .............................. - Zurück zur altbewährten Methode der Interessenabwägung c) Schuldnerverzeichnisbeschluß - Rückbesinnung auf den Wert wahrer Informationen d) Keine neuen Maßstäbe für das Zivilrecht ................

229 230 232 232 234 236 237

Vierter Teil

Fortbildung des Datenschutzrechts - Reform und Auslegung des geltenden BDSG § 11 Übermäßige Beschränkung der Informationsfreiheit durch die neuesten Reformentwürfe ...................................................... , 239

§ 12 Verfassungskonforme Auslegung der materiellrechtIichen ZuIässigkeitsregeln nach geltendem BnSG ............................................. 242 A. § 3 BDSG als vorverIagerter Rechtsschutz durch Prüfungsvorbehalt

242

B. Einwilligung und Datenverarbeitung .............................. 243 I. Ausfluß der Privatautonomie

................................ 243

H. Tatbestandsausschließende Funktion III. Zur Kritik an der Einwilligungsmöglichkeit

244 .................... 244

IV. Die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung

246

16

Inhaltsverzeichnis C. Vertragszweck und vertragsähnliches Vertrauensverhältnis I. Ausfluß der Privatautonomie

248

................................ 248

11. Bestimmung des Vertragszwecks

............................. 249

1. Der Wille der Betroffenen ................................ 249 2. Auslegungsprobleme bei typisierten Verträgen

249

3. Vertragszweck und Erforderlichkeit (Interessenabwägung) ..... 250 D.Berechtigtes Interesse - schutzwürdiger Belang

.................... 253

I. Überblick über das Regelungssystem

253

11. Summarische Prüfung oder Prüfung am Einzelfall? Zur Bedeutung der Formulierung kein Grund zur Annahme ...................... 256 III. Inhalt der Begriffe "berechtigtes Interesse" und "schutzwürdiger Belang" 257 1. Gefahren bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe 2. Methode der Bewertung und Abwägung im Datenschutzrecht

257 . 258

a) Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur Prüfung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung .............................. 258 b) Methode im Datenschutzrecht ......................... aa) Überblick ....................................... bb) 1. Stufe: Zusammenstellung des Abwägungsmaterials . cc) 2. Stufe: Bewertung der Interessen als berechtigt bzw. schutzwürdig ............................ dd) 3. Stufe: Konkrete Bewertung der Interessen . . . . . . .. ee) 4. Stufe: Abwägung heterogener Interessen .......... IV. Sinn der Methode

260 260 261 261 264 266 267

§ 13 Das neue Bundesdatenschutzgesetz ................................... 269

Zusammenfassung und Thesen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 272

Literaturverzeichnis ..................................................... 285

Alles Gescheite ist schon gedacht worden; man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken. (Goethe, Sprüche in Prosa, Maximen und Reflexionen)

Einführung Die Frage nach der Wahrheit, also danach, was die Wahrheit ist, wie man nach ihr streben kann und warum man nach ihr streben soll, ist ein vielfach erörtertes Thema in der Theologie und der Philosophie!. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nicht, den zahlreichen bereits entwickelten Wahrheitstheorien 2 eine neue hinzuzufügen, sondern vielmehr die Frage aufzuwerfen und zu beantworten, ob und inwieweit die Erhebung, Weitergabe und sonstige Nutzung von Tatsachen, die dem Wahrheitsbeweis im juristischen Sinne zugängig sind, Rechtsgüter und / oder rechtlich geschützte Interessen des von der Wahrheit in diesem Sinne Betroffenen verletzen können, oder ob die Wahrheit als Wert an sich niemals "ein Grund von einem Übel"3, also keine Rechtsverletzung, insbes. im Sinne des Zivilrechts, sein kann oder ob sie nicht zumindest ein Wert ist, der den Informationsverkehr als (mit)entscheidendes Merkmal prägen muß. Auch diese Frage ist keine grundlegend neue. Für den Bereich der Informationserhebung im Sinne der Kenntniserlangung von Tatsachen beim Betroffenen selbst oder bei Dritten sei erinnert an den Streit um die einst sehr strenge Inquisitionsmaxime im Strafprozeß4, die theologische und philosophische Diskussion zur Wahrhaftigkeit und der Problematik der Lüge S und an Schillers Wort "Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld". Für den Bereich der Informationsweitergabe sei erinnert an die beim strafrechtlichen Ehrschutzverfahren immer wieder heftig diskutierte Frage, ob die Verbreitung wahrer Tatsachen ein strafbares Ehrdelikt sein darf, oder ob 1 Einen Überblick bieten Schnackenburg und Engelhardt, in: HöferjRahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10 unter Wahrheit, Sp. 912-920; vgl. ferner Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit; ders., Platons Lehre von der Wahrheit; Jaspers, Von der Wahrheit; Barth, Wahrheit und Ideologie; Gadamer, Wahrheit und Methode; Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. 2 Vgl. dazu etwa Skribekk, Wahrheitstheorien. 3 So Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzig wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, Gießen 1784, S. 189. 4 Einen Überblick bietet Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn. 51 ff. m.w.Nachw. 5 Ausführlichst dazu Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und Die Problematik der Lüge; vgl. auch GeismannjOberer, Kant und das Recht zur Lüge.

2 Brossette

18

Einführung

nicht vielmehr der Beweis der Wahrheit der behaupteten Tatsache eine Stratbarkeit als Ehrverletzung grundsätzlich ausschließt 6 • In unserer abendländischen Kultur- und Rechtsordnung hat sich dabei über Jahrhunderte hinweg die Erkenntnis durchgesetzt, daß es weder einen Grundsatz des Prozeßrechts noch des materiellen Rechts geben kann, die Wahrheit um jeden Preis erfahren und verbreiten zu dürfen 7 • Gleichzeitig durchgesetzt und in unsere Rechtsordnung Eingang gefunden hat aber auch die Erkenntnis, daß die Wahrhaftigkeit im Gegensatz zur Lüge, Verstellung und Täuschung nicht nur eine sittliche Tugend, sondern im rechtlichen Verkehr mit anderen auch eine Rechtspflicht ist, weil nur auf Grund wahrer Informationen sich die öffentliche Meinung so bilden kann, wie es die Integration der Gesellschaft erfordert und weil nur die wahre Information das Vertrauen des einzelnen in die Verbindlichkeit von Verträgen und allgemein in den ehrlichen Umgang mit anderen gewährleisten kann s . Nur wahre Informationen vermögen korrekte öffentliche und private Meinungsbildung zu gewährleisten. Die rechtliche Wertschätzung der Tugend der Wahrhaftigkeit und die Anerkennung der Wahrheit als schützenswertes Gut und schützenswerter Wert als solcher, scheinen jedoch in der neueren Rechtsentwicklung immer mehr an Bedeutung zu verlieren und für den Bereich wahrer Informationen, die sich auf Menschen beziehen oder auf diese gar nur beziehbar sind, weitgehend in den Hintergrund zu treten. Ging der Gesetzgeber bei Schaffung des BGB, des StGB und der Prozeßordnung noch davon aus, daß die Erhebung, Verbreitung und sonstige Nutzung wahrer Informationen grundsätzlich weder die Ehre noch den wirtschaftlichen Ruf 9 des einzelnen zu verletzen vermögen, weil dieser sich an der Wahrheit messen lassen muß und als Ausnahme von der Regel nur dann rechtlich unzulässig sind, wenn sie mit dem besonderen Makel der Sittenwidrigkeit behaftet sind oder wenn dadurch in rechtlich eng begrenzte Schutzinseln eingegriffen wird, die dem Schutz ganz bestimmter Geheimnisbereiche, wie Hausfrieden, bestimmter Berufs- und Geschäftsgeheimnisse oder aber verwandtschaftlicher Beziehungen (Zeugnisverweigerungsrechte) oder im Strafprozeß dem Verbot der Selbstbezichtigung dienen, so ist neuerdings eine Tendenz deutlich erkennbar, die Freiheit, die Wahrheit sagen und wissen zu dürfen, als Ausnahmetatbestand zu begreifen. Anstelle des Wertes der Wahrheit und Wahrhaftigkeit tritt - zwar nicht ganz offen formuliert - das Recht der Lüge und Verstellung, das Recht ein anderer zu sein als der, der man wahrhaft ist, das Recht selbst bestimmen zu dürfen, wie man von anderen gesehen werden 6 Dazu etwa Kohler, Ehre und Beleidignug, in: GoltdA 47 (1900), 1 fT., 98 fT.; Lilientahl, Der Wahrheitsbeweis als Gesetzgebungsproblem, DJZ 1925, 704 ff; Schmidt, Zur Problematik des Indiskretionsdeliktes, ZStW Bd. 79 (1967), 741fT., 754fT., 795fT. 7 Vgl. etwa BGHSt 14, 358 (365) Tonbandaufnahme -; vgl. auch Strate, JZ 1989, 176 fT; speziell zu Beweisverwertungsverboten im Zivilrecht Peters, ZZP 76 (163), 145 fT; Werner, NJW 1988, 993fT. 8 Dazu eingehend unten § 2 A. 9 Vgl. § 824 BGB

Einführung

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will, mit der Forderung, daß diese das selbst definierte Persönlichkeitsbild akzeptieren müssen. Das Recht seine selbst definierte Rolle spielen, jeden Tag als unbeschriebenes Blatt erscheinen zu dürfen und die Forderung, daß derjenige, der die Wahrheit wissen, weitersagen oder sonstwie nutzen will, hierzu der besonderen Rechtfertigung bedarf, also Wahrheit und Wahrhaftigkeit über Mitmenschen grundsätzlich als Eingriff in Rechtsgüter und / oder rechtlich geschützte Interessen des Betroffenen anzusehen sind, und zwar unabhängig von Quantität und Qualität der Information 10, werden zu den leitenden Wertmaßstäben erhoben. Auf der anderen Seite weiten Rechtsprechung und Lehre die sogenannten unentwickelten Informationsansprüche, die zur Begründung von Schadensersatzansprüchen dienen, immer weiter aus l l . Das vom BGH nach zahlreichen literarischen Vorarbeiten übernommene und vom BVerfG akzeptierte und stetig fortentwickelte allgemeine Persönlichkeitsrecht 12 ist der greifbare Ausgangspunkt dieser Rechtsentwicklung. Diente dieses aus Artt. 1 und 2 GG abgeleitete und als sonstiges Recht iSd § 823 Abs. 1 BGB begriffene Recht zunächst der Abwehr von Informationen und Handlungen, die mit der Wahrheit nicht das geringste zu tun hatten (und damit der Sicherung der Richtigkeit des Informationsverkehrs), wie unrichtiger Presseberichte, die das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verfälschten, fahrlässiger Ehrverletzungen oder unbefugter kommerzieller Auswertung von Persönlichkeitswerten 13, so entwickelten sich nach und nach behutsam durch Interessenabwägung im Einzelfall herausgearbeitete Fallgruppen, die, als Ausnahme von der Regel, auch das Verbreiten und Erheben wahrer Informationen als rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung im Einzelfall einstuften. Im Vordergrund standen dabei wahrheitsgemäße Presseberichte über private Angelegenheiten (Intim-, Privatsphäre), für welche die allgemeine Öffentlichkeit kein anerkennenswertes Informationsinteresse hatte, sowie das technische Festhalten persönlicher Äußerungen über das Recht am eigenen Bilde hinaus, insbes. heimliche Tonbandaufnahmen. Verhindert werden sollte durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch, daß der einzelne ohne hinreichendes privates oder öffentliches Interesse in seiner ganzen privaten Lebensführung ausspioniert, ohne berechtigtes Interesse an den öffentlichen Pranger gestellt wird oder Verfehlungen aus längst vergangener Zeit immer wieder hervorgeholt werden, die es dem einzelnen unmöglich machen oder erheblich erschweren, sich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern (Resozialisierung). Dem einzelnen sollte ein Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in dem er das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden und in den das "Licht der Wahrheit" überhaupt nicht (Intimsphäre) oder nur unter erschwerten Bedingungen (Geheim-, Eigen-, Privatsphäre) soll eindringen dürfen. Innerhalb dieser eng umgrenzten Bereiche, in denen das 10

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2"

Dazu eingehend unten Dritter Teil §§ 8,9,10. Vgl. unten § 5 B. Grundlegend, Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht. Dazu eingehend unten § 7 A IV 2).

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Selbstbestimmungsrecht des einzelnen seine gegenständliche Verkörperung 14 und allgemeine Anerkennung erfahren hatte, sollte ausnahmsweise das Recht der Wahrheit, "aus dem in Recht gegossenen Gedanken der Nächstenliebe und Rücksichtnahme", hinter den persönlichen Interessen des einzelnen zurücktreten, und zwar im Interesse des einzelnen selbst, aber auch der Gesellschaft. Die mit dieser Konzeption der Rechtsprechung erzielten Ergebnisse sind allgemein akzeptiert worden. Durch die Interessenabwägung im Einzelfall und die sorgfältige Herausarbeitung der gegenständlichen Verkörperung des Selbstbestimmungsrechts wurde die notwendige Freiheit aller anderen gewährleistet, die Wahrheit erfahren und sagen zu dürfen und eine funktionierende Informationsordnung gewährleistet. Allerdings wurde diese Freiheit in der Regel nicht ausdrücklich erwähnt, der Wert der Wahrheit nicht ausdrücklich herausgestellt, sondern stets stillschweigend vorausgesetzt, indem nicht für die richtige Information, sondern für ihr Verbot eine besondere Rechtfertigung gefordert wurde 15. Dies dürfte ein Grund dafür sein, daß im Laufe weniger Jahrzehnte der Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die über Jahrhunderte unsere Rechtsund Kulturordnung geprägt haben, zugunsten von "Autonomie" und einer von der gegenständlichen Verkörperung "befreiten" Selbstbestimmung verdrängt wurden. Unter dem Eindruck tatsächlicher, vielfach aber von "nicht gerade staatstragender Seite" 16 herbeigeredeter Gefahren der automatischen Datenverarbeitung und unter dem Banner eines durch Ideologien und Ängste erzeugten Zeitgeistes 1" haben zunächst Teile der Literatur, der Gesetzgeber - eher ungewollt mit seiner Konzeption des BDSG als grundsätzliches Verbot dateimäßiger Informationsverarbeitung - und zuletzt auch die Rechtsprechung des BVerfG18 durch Anerkennung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung 19 als die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen zu können, die Werte, Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu einem "Ausnahmeplätzchen" gemacht und den Gedanken autonomer Selbstbestimmung zum maßgeblichen Leitprinzip erhoben. Wie häufig verlief die Rechtsfortbildung weder offen noch geradlinig. Zunächst wurde im Hinblick und unter Berufung auf die besonderen Gefahren der automatischen Datenverarbeitung, wie Kontextverlust, steigende Quantität der Daten, vielfältige Verknüpfungsmöglichkeiten etc., das Recht der informationellen Selbstbestimmung insbesondere für das Verhältnis Bürger und Staat geschaffen. Dann wurde es, unabhängig von den Herausforderungen, zum allgemeinen Prinzip erhoben. Es finde seine Grundlage im Persönlichkeits14 Vgl. dazu Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (250f.). 15 Dazu unten § 7 A III 2) 16 Ebenso Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, in: Handbuch des Verfassungs-

rechts, Bd. IV, § 129, Rn. 13. 17 Vgl. Würtenberger, Zeitgeist und Recht. 18 E 65, 1 ff. - Volkszählung -. 19 Vgl. dazu insbes. Vogelgesang, Grundrecht auf infonnationelle Selbstbestimmung?

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recht 20 (?) und müsse daher auch außerhalb der automatischen Datenverarbeitung Geltung haben. Schließlich wurde es im Wege der Drittwirkung 21 ins Zivilrecht übertragen und behauptet, es sei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht immanent, obwohl dies herkömmlich die Zulässigkeit wahrer Informationen im Grundsatz nicht einschränkte. Die Übernahme eines "Rechts auf informationelle Selbstbestimmung" in das Zivilrecht geht damit zu Lasten der für die Würde des Menschen konstitutiven Grundwerte von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, und sie bedroht zugleich die Funktionsfahigkeit einer freien und offenen Informationsordnung. Dies zeigt sich insbesondere im Arbeitsrecht, im Datenschutzrecht, aber auch auf Gebieten des sonstigen Zivilrechts 22 • Maßgeblich dafür ist nicht allein eine einseitige Betonung eines Elements der grundrechtlichen Freiheit und des Persönlichkeitsschutzes, die die Aufgabe eines Systems, in dem die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Übereinstimmung gebracht wird, nicht ordentlich auflöst; maßgeblich ist vielmehr, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Hebel zur Verfolgung anderer Ziele benutzt werden soll. Das ist unabhängig davon, ob diese Ziele "ehrenhaft", "freiheitlich", "sozial" oder "emanzipatorisch" sind, da sie zu Verstrickungen führen, die weder dem zum Mittel herabgestuften Individualrecht, noch dem eigentlich verfolgtem Ziel, noch der politischen und rechtlichen Gesamtordnung bekömmlich sind. (Was geschieht, wenn Mittel und "Scheinziel" in Widerstreit geraten? Was geschieht, wenn durchschaut wird, daß der Ruf nach der Freiheit politisch nicht ernst gemeint war?). Im Bereich des Arbeitsrechts und des Datenschutzrechts läßt sich bereits heute deutlich erkennen, daß hinter der Forderung nach allgemeiner Anerkennung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als Leitprinzip zur Gestaltung der Informationsordnung, als Grundrecht gar, gar nicht die Freiheit des einzelnen Arbeitnehmers steht, sondern allein das politische Anliegen, die Mitbestimmungs- und Kontrollrechte der Betriebsräte zu erweitern, in dem sie auf jede Art der Arbeitnehmerdatenverarbeitung ausgedehnt werden oder einem gewerkschaftlich abhängigen Datenschutzbeauftragten bei jeder sonstigen Datenverarbeitung Einflußmöglichkeiten zu verschaffen, und dabei Bedenken, ob die Verstärkung hoheitlicher Einflüsse mit den Grundideen unserer Verfassung und unserer Wirtschaftsordnung übereinstimmen, von vornherein zum Verstummen zu bringen. Nicht umsonst wird von dieser Seite das gesamte Datenschutzrecht als Instrument zur Herstellung von Informations- und Machtgleichgewicht verstanden 23 , werden die Mitbestimmungs- und Kontrollrechte nach §§ 87 Abs. 1 Nr. 6, 80 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG als Instrumentarien des Kündigungs- und Rationalisierungsschutzes begriffen. Den einzelnen Arbeitnehmern wird im BVerfG, NJW 1988, 2031 - Entmündigung - unter 1. der Gründe. Vgl. dazu Zöllner, RDV 1985, 3fT. 22 Dazu Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (328fT.). 23 Vgl. dazu etwa Woertge, Die Prinzipien des Datenschutzrechts, S. 105fT.; vgl. auch schon Francis Bacon von Verulam (1561 -1626) "Scientia potesta est" "Wissen ist Macht"; dazu Schünemann, ZStW Bd. 90, 11 (15). 20

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Namen der Selbstbestimmung die dazu unablösbar gehörende Fähigkeit zur Einwilligung in die Verarbeitung ihrer Daten mit dem generellen Hinweis auf die bestehenden Machtdivergenzen schlechterdings abgesprochen 24 , und die Betriebsräte berufen sich auf diesem Gebiet im Namen der Emanzipation der Arbeitnehmer zu den Vormündern, die über jedes Datum zu wachen, alle Datenverarbeitungsvorgänge zu kontrollieren und bei jedem Datenverarbeitungsvorgang mitzubestimmen haben 25. Also soll nicht der einzelne über Preisgabe und Verwendung seiner Daten autonom bestimmen können, sondern heteronom die zumeist von den Gewerkschaften beherrschten Betriebsräte. Unter dem Vorwand, es gehe um die Sicherung individueller Freiheit, soll ein Mitbestimmungsrecht an weitestgehend allen unternehmerischen Entscheidungen erreicht werden, also eine paritätische Mitbestimmung im Betrieb. Sie wird zum eigentliche Ziel der Ausweitung des informationellen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen, das in der Kombination mit den geforderten und bereits von der Rechtsprechung gewährten Mitbestimmungsrechten zum umfassenden "informationellen Mitbestimmungsrecht"26 des Kollektives ausgebaut werden soll. War es ursprünglich die Einschränkung des umfassenden Herrschaftsrechts, die das Eigentum dem Eigentümer verlieh, was den Auslöser und Gegenstand des Klassenkampfes bildete, so geht es heute um die Informationsherrschaft, die im Unterschied zum Eigentum nicht gegenständlich begrenzt ist, deshalb jedem gleicherweise offensteht wie auch verschlossen ist, die aber durch die positive Rechtsordnung jedem einzelnen ein Informationsrecht in jedem Bereich einräumen konnte. Die Konzeption eines entsprechenden Persönlichkeitsschutzes wäre allerdings das Ende einer offenen Informationsordnung. Sie verkennt, teils unter ideologischer Verblendung, teils aus grundlegenden Mißverständnissen unserer Rechts- und Werteordnung, daß die Freiheit, die Wahrheit wissen und sagen zu dürfen (auch wahre Informationen automatisch verarbeiten zu dürfen), ebenso wie der Persönlichkeitsschutz, Teil unserer abendländischen Kultur- und Rechtsordnung und ebenso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Kernbereich verfassungsrechtlich verankert ist 27 und beide Grundwerte gleichen Rang haben. Diesem grundlegenden Mißverständnis entgegenzuwirken, den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, losgelöst von ideologischer Verblendung, wieder stärker in das Bewußtsein zu setzen und die große Bedeutung der Information nicht nur für das Wirtschaftsleben, die 24 Vgl. etwa Däubler, ZRP 1986,42 (47): "Auch darf die Einwilligung des Arbeitnehmers keinerlei Bedeutung haben. "; vgl. auch § 33 BISG, Gesetzesentwurf der Fraktion der SPD vom 13. 12.1988, BT.-Drucks. 11/3730. 25 Vgl. § 33 BISG-Entwurf, aaO. i.V.m. § 94 des Gesetzesentwurfes der SPD Fraktion zum Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung vom 28.09.1988, BT.-Drucks. 11/2995; sh. auch §§ 94 Abs.1, Nr. 2 u. 3, 97 Abs. 1,99 Abs. 1 Nr.2 des Gesetzesentwurfs der Fraktion Die Grünen, Entwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes 1989, BT.-Drucks. 11 /4525. 26 Vgl. etwa Linnenkohl / Rauschenberg / Schütz, Informationelle Mitbestimmung, RDV 1986, 230ff. 27 Vgl. dazu unten § 10 B.

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Teilhabe an der politischen und gesellschaftlichen Willensbildung, sondern auch für die Entwicklung des einzelnen deutlich zu machen, ist das grundlegende Ziel dieser Arbeit. Hierfür ist es erforderlich, die vorstehend skizzenhaft vorgetragene Rechtsentwicklung eingehend zu durchleuchten, das dem Zivilrecht zugrunde liegende Informationsordnungssystem eingehender darzustellen, Wesen und Ziel des Persönlichkeitsrechts herauszuarbeiten, die begriffiichen Mängel in der neuen Rechtsentwicklung, insbes. die des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, deutlich zu machen, die verfassungsrechtliche Verankerung der Freiheit, die Wahrheit wissen und sagen zu dürfen, zu begründen und die notwendigen Folgerungen für das immer wichtiger werdende Datenschutzrecht zu ziehen. Im Rahmen des Datenschutzrechtes ist es dabei ein besonderes Anliegen aufzuzeigen, daß weder durch das Bundesdatenschutzgesetz ein neues Rechtsgut geschaffen worden ist, noch die besonderen Gefahren der automatischen Datenverarbeitung die Schaffung eines solchen erfordern, vielmehr das Bundesdatenschutzgesetz im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Informationsfreiheit, verstanden als das Recht, wahre Informationen grunsätzlich erheben, weitersagen und sonstwie nutzen zu dürfen, entgegen weit verbreiteter Auffassung nicht extensiv, sondern restriktiv auszulegen ist und nur unter dieser Voraussetzung die vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen noch gerecht wird. Es wird auch deutlich gemacht werden, daß auch das vom Bundesverfassungsgericht zur Beschränkung der zwangsweisen Datenerhebung durch den Staat geschaffene Recht auf informationelle Selbstbestimmung kein neues Bundesdatenschutzgesetz im Sinne einer weiteren Einschränkung der Informationsverarbeitungsfreiheit für den privatrechtlichen Bereich und erst recht keine Änderung des Prinzips der Informationsfreiheit außerhalb des Bereichs automatischer Datenverarbeitung erfordert, vielmehr die vorgelegten Reformentwürfe in weiten Teilen verfassungswidrig sind, weil sie einseitig nur auf die Rechte des von der Datenverarbeitung Betroffenen abstellen und die Rechte des Datenverarbeiters weitgehend ausblenden und die grundlegenden Unterschiede zwischen Öffentlichem- und Privatrecht verkennen.

Erster Teil

Wahrheit und Diskretion, ein allgemeines Problem § 1 Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis A. Die Natur des Menschen Jede Informationsordnung bewegt sich zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien: Dem absoluter Wahrheit (Informationsfreiheit) und dem absoluter Diskretion (Informationsverbot) als jeweils extreme PoleI. Absolute Informationsfreiheit ist dabei zu begreifen als die Freiheit Informationen über andere sich ungehindert bei diesem oder Dritten beschaffen, verwerten und weitergeben, seitens des Empfängers sie empfangen, auch sich auf dieser Grundlage seine Meinung frei bilden und verbreiten zu dürfen 2 , mithin Anerkennung der Freiheit, die Wahrheit immer erfahren, nach Belieben, also zweckfrei nutzen und weitersagen zu dürfen. Absolutes Informationsverbot ist dabei zu begreifen als Zuerkennung eines absoluten subjektiven Rechts, selbst bestimmen zu dürfen, wer welche Information erhält, ob und zu welchem Zweck er diese verwenden, nutzen und verbreiten darf, mithin Anerkennung der Freiheit selbst zu bestimmen, wer die Wahrheit erfahren und zu welchem Zwecke verwenden und verbreiten darf. Dieses Spannungsverhältnis ist bereits in der Natur des Menschen angelegt. Der Mensch ist sowohl Individual- (Intim)Person, als auch Sozialperson 3 • Kein Mensch kann auf Dauer allein leben und dennoch braucht jeder einen "Raum", in den er sich von Zeit zu Zeit zurückziehen kann, abgeschirmt von den neugierigen Blicken und Ohren anderer. 4 Bereits die Natur des Menschen spricht dafür, daß er in erster Linie auf "Informationsfreiheit" ausgelegt ist. Er ist von Natur aus neugierig. 5 In ihm Lese auch Druey, Geheimsphäre des Unternehmens, S. 16-18. Ehmann, AcP 188 (1988), 230fT. in Fn. 1. 3 Zum Sannungsverhältnis Persönlichkeit und Gesellschaft vgl. Ortega y Gasset, "Der Mensch und die Leute"; Helle, Schutz der Persönlichkeit, S. 4fT.; zu den BegrifTen Intimund Sozialperson vgl. Seheler, Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, S. 506 fT. (563 f.). 4 Zu einem solchen Bedürfnis bereits im Frühstadium der Menschheitsentwicklung vgl. die Nachw. bei eh. Mal/mann, Datenschutz, S. 50. S Vgl. Krause, DB Beilage Nr. 23(83, S. 2. "Der Erwerb von Wissen ist dem Menschen natürlich, er lebt aus Neugier, seine schöpferische Kraft beruht darauf, daß er sich Kenntnisse ohne Rücksicht auf Sinn und Zweck verschafft. Daher ist auch die taktvolle Zurückhaltung im Wissenwollen "unnatürlich" und allein durch Kultur gewonnen."; zur Bedeutung der BegrifTe Interesse und Neugierde, vgl. Lersch, Aufbau der Person, S. 3 f. 1

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A. Die Natur des Menschen

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steckt der angeborene Trieb von allen möglichen Tatsachen Kenntnis zu erlangen, um sie irgendwann einmal für eigene oder fremde Zwecke verwenden zu können. Er kann fühlen, riechen, schmecken, hören und sehen, ist also schon von der Natur kraft seiner fünf Sinne darauf angelegt, alle möglichen Informationen aus der Umwelt aufzunehmen. 6 Er bedarf der Information im Gegensatz zum Tier nicht nur zur Befriedigung seiner Triebe und zur Abwendung von Gefahren, die durch Dritte drohen, sondern gerade auch zur Herausbildung des eigenen Ichs. Ohne Kommunikation mit anderen 7 bliebe der Mensch wie Kaspar Hauser auf tierischem Niveau, unfähig eine eigene Persönlichkeit herauszubilden und die eigene Würde zu erfahren. Auch in der Bibel steht schon geschrieben: " Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei. "8 Wer nichts über oder von anderen weiß, kann auch nicht selbst bestimmen, wer oder was er ist. Wer keine Alternativen kennt, kann auch keine Entscheidungen treffen. Wer das Schlechte nicht erfahrt, vermag das Gute auch nicht als solches zu erkennen. Wer nicht weiß, was andere tun oder lassen, von wem auf welcher Grundlage welche Entscheidungen getroffen worden sind, vermag weder am gesellschaftlichen noch am politischen Leben teilzuhaben 9 • Nicht umsonst haben die Menschen gelernt, sich nicht nur mittels Mimik und Gestik, sondern auch mittels Wort und Schrift zu verständigen, um so besser und schneller Wissen und Erfahrungen untereinander austauschen zu können. Nicht umsonst war es stets das Bemühen der Menschen, die Sprache anderer Völker zu erlernen, um deren Denkweise, Kultur etc. erfahren und an deren Wissen teilhaben zu können und mit ihnen Informationen auszutauschen. Aber nicht nur zur Herausbildung des eigenen Ichs, zur Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Geschehen bedarf der Mensch der Information 10. Er bedarf ihrer auch, um vernünftig planen und wirtschaften 6 Zur Bedeutung der Sinne für die menschliche Entwicklung vgl. Lersch, Aufbau der Person, S. 347ff.; vgl. auch Bergmann, Klatsch. 7 Dazu etwa Lersch, Aufbau der Person, S 22f.: "Beim Vollzug der Selbstentfaltung, Selbstgestaltung und Selbsterhaltung ist nun das organische Gebilde in eigentümlicher Weise auf die Umwelt angewiesen. Es bedarf zur Entfaltung seiner Möglichkeiten, zur Verwirklichung seiner Gestaltidee und zur Erhaltung seines Daseins der Umwelt, es bedient sich ihrer und wäre ohne sie nicht lebensfähig. Es besteht also zwischen Lebewesen und Umwelt ein Verhältnis der Kommunikation, das auf gewissen Bedürfnissen beruht, mit denen das Lebewesen an seine Umwelt gebunden ist." ... "Das Lebensgesetz der Kommunikation erweist sich auch darin, daß die Anlagen des Lebewesens auslösender Umweltreize bedürfen, damit der Prozeß der Entwicklung in Gang kommt. So sehr Selbstgestaltung und Selbsterhaltung von den inneren Bildekräften getragen und gesteuert werden, so vermag dennoch das einzelne Lebewesen seine Anlagen nie völlig aus sich, unabhängig von außen zu entwickeln, sondern bedarf in einer entscheidenden Weise der Beihilfe der Umwelt."; ders., S 42 "Gerade der Mensch lebt immer im Dialog mit seiner Mitwelt, und es ist eine theoretische Fiktion, wenn man glaubt, ihn psychologisch als isoliertes Einzelwesen betrachten zu können."; sh. ferner S. 175 ff. zum Bedürfnis des Menschen nicht allein zu sein. s Gen 2,18; dazu Reiter, Academia 4/88, 167. 9 Zu den daraus resultierenden rechtlichen Aspekten vgl. unten § 10 B.

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§ I Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis

zu können. "Infonnation" ist der Stoff, aus dem auch rationale Entscheidungen gemacht, mit dessen Hilfe Probleme gelöst werden können. l l Der Mensch bedarf ihrer etwa, um diejenigen, die in seinem Pflichtenkreis tätig werden, kontrollieren und überwachen zu können, um so Schäden von sich und Dritten abwenden zu können. Er bedarf im eigenen und im Interesse der Allgemeinheit der Infonnation über neue technische Entwicklungen, um prüfen zu können, wie er sie für sich oder andere nutzbringend einsetzen kann, oder ob sie für den einzelnen oder das Gemeinwesen von Nachteil sind. Zum Schutz gegen Gefahren entwickelte der Mensch schon auf primitiver Stufe Waffen, er lernte Fanggruben anzulegen, entwickelte Werkzeuge und Geräte, wie Faustkeil, Pflug und Rad, er lernte mit dem Feuer umzugehen etc. Dieses Wissen der eigenbrötlerischen Geheimhaltung zu entziehen 12, lag im Interesse jedes einzelnen und auch der Gemeinschaft und entsprach und entspricht dem göttlichen Auftrag: "Macht Euch die Erde untertan." 13

B. Entwicklungsstufen der Gesellschaft und Individualschutz Im gleichen Maße, in dem die Möglichkeiten der Kommunikation gestiegen sind, hat sich zugleich ein Bedürfnis nach Begrenzung der Freiheit des einzelnen, Infonnationen nach Belieben erheben und verbreiten zu dürfen, herausgebildet. In einfachen Gesellschaften, in denen die Räume groß, die Zahl der Menschen gering, und diese in kleinen und festen Verbänden zusammenlebten, war das Bedürfnis nach Geheimnisschutz und Diskretion gering 14. Man lebte und arbeitete in kleinen Gruppen auf engem Raum zusammen, war aufeinander angewiesen und wußte schon deshalb zwangsläufig alles über den anderen. Infonnationen über andere verbreiteten sich nur in eng begrenzten Räumen und das Infonnationsbedürfnis war auf diese eng begrenzten Räume beschränkt. Soziales Fehlverhalten wurde unmittelbar in der Gemeinschaft sanktioniert. Das Zusammenleben war durch ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Wertvorstellungen bestimmt. Die auf die Kooperation aller angewiesene "Gruppengemeinschaft" konnte die Beanspruchung persönlicher Interessen, die ihr zuwider liefen, nicht dulden, sie brauchte dies auch nicht zu tun, da jeder von jedem abhängig war. Es gab keine individualistischen Träger von Rechten, sondern nur die persönliche Zuordnung zur Gruppe, die allein Geborgenheit vor den Gefahren der Außenwelt bot. Aber auch als die Gemeinschaften größer und komplexer wurden, bildeten sich spezielle Geheimhaltungsbedürfnisse betreffend den privaten LebensbeVgl. etwa Steinbuch, Über den Wert von Informationen, GRUR 1987, 579ff. Steinbuch, RDV 1988, 1 (2). 12 Auf diesem Gedanken beruht auch die Patentgesetzgebung, vgl. M aass, Information und Geheimnis im Zivilrecht, S. 103 m.w.N. 13 2. Buch Moses 2,18. 14 Vgl. dazu etwa Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bd. 10

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B. Entwicklungsstufen der Gesellschaft und Individualschutz

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reich nur vereinzelt heraus. Als klassisches Beispiel gelten der Schutz des Beichtgeheimnisses nach kanonischem und der Schutz der Berufs- und des Briefgeheimnisses, sowie des Hausfriedens durch staatliches Recht 15 . Als Beispiel mag eine Vorschrift dienen, die sich in manchen altdeutschen Rechten findet. Danach sollte, wer am Fenster horchte, um Unterredungen der im fremden Hause befindlichen Personen zu erlauschen und daraus verleumderische oder boshafte Erzählungen zu bilden, zur Strafe mit dem Ohrlappen am Fenster festgenagelt werden (sog. spiegelnde Strafe!).16 Darüber hinausgehend bedurften diese Gemeinschaften keines weitergehenden rechtlichen Schutzes gegen das Erheben und Verbreiten der Wahrheit. Sonstige "Informationsübergriffe" wurden offensichtlich durch die in der jeweiligen Gemeinschaft geltenden Regeln des Taktes, der Sitte und Moral hinreichend sanktioniert, ein System, dem das japanische Recht heute noch weitgehend folgt 17 . Im übrigen empfand man es als ein Zeichen der Lebensklugheit, sich über die Menschen, mit denen man zu verkehren pflegte, zu informieren und als ein Zeichen der Freiheit, über andere möglichst viel wissen und sagen zu dürfen. 18 Das Bedürfnis nach Schutz vor Informationshandlungen stieg dann aber rapide im Laufe der Entwicklung von der Agrargesellschaft zur industriellbürokratischen Massen- und Wohlstandsgesellschaft, sowie im Übergang zur Informationsgesellschaft. Zu Recht bezeichnet Wiener l9 die durch die Informationstechnik, durch die "Computer", verursachte Veränderung unserer Informationswelt als zweite industrielle Revolution, seit der ersten, die das Maschinenzeitalter einleitete. Die Mikroprozessorentechnik hat uns nun ins Zeitalter der dritten industriellen Revolution 20 geführt, die den Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft 21 , manche meinen zum Überwachungsstaat 22 , einleitet. Im Laufe dieser Entwicklung wurden die Räume, auf denen die 15 Dazu unten § 3 C. 16 Vgl. Nachw. bei Sauter, Das Berufsgeheimnis, S. 53 in Fn. 1; zur Bestrafung des Lauschers an der Wand in manchen Rechtsordnungen des Mittelalters, vgl. Osenbrüggen, Der Hausfrieden, S. 59ff. 17 Vgl. Rahn, Recht und Rechtsempfinden in Japan, in: Pohl (Hrsg.), Japan, S. 250ff. 18 Vgl. Krause, DB Beilage 23/83, S. 3. 19 Vgl. Norbert Wiener, The Human Use ofHuman Beings (Cybemetics and Society), S. 10ff. 20 Bleicher / Däubler-Gmelin / Kubicek u. a., Chip, Chip, Hurra? Die Bedrohung durch die "Dritte technische Revolution". 21 Ehmann, in: Wirklichkeit als Tabu, Schriften der Carl Friedrich von SiemensStiftung, hrsg. von Armin Mohler, 1986, S. 83 ff.; Ladeur, in : lahreszeitschrift für Rechtssoziologie 1987, 248 ff.; vgl. auch Schröder / Eckert / Harmsen, Die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg in die Informationsgesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament, B 15/89, S. 17 ff. 22 Vgl. etwa das Protokoll des Symposiums der Hess. Landesregierung vom 03.-05.09. 1984 "Informationsgesellschaft oder Überwachungsstaat" , hrsg. vom Hessendienst der

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§ 1 Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis

Menschen zusammenlebten, immer dichter, die Gemeinschaften, in denen sie lebten und leben immer größer, die Ziele und Interessen, die verschiedene Gruppen verfolgten, immer vielschichtiger und vielfältiger, die Möglichkeit der Informationsaufnahme und des Bereichs, in dem diese verbreitet werden konnten, wurden und werden immer größer. Die Wertvorstellungen 23 innerhalb der Gesellschaft divergieren immer weiter. Politische, persönliche, wirtschaftliche Interessen und Vorstellungen fließen in einer kaum noch überschaubaren Vielfalt ineinander über und bedingen einander. Für nicht wenige ist die Autonomie des einzelnen zum wichtigsten Wertmaßstab geworden. 24 Das hat seinen Grund auch darin, daß in der mobilen, annonymen Gesellschaft der Gegenwart, in der man sich die Mittel zu seiner alltäglichen Bedürfnisbefriedigung kaufen kann, sich auch die Chance, sich von der Gesellschaft abzukoppeln, unendlich vergrößert hat. Im Nomalfall braucht man sich mit niemandem mehr persönlich einzulassen. Der Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit scheint demgegenüber völlig in den Hintergrund zu treten, gar in Vergessenheit zu geraten. Hinzu tritt ein weiterer Aspekt. Die durch die Informationstechnik bedingten Veränderungen der Informationsordnung vollziehen sich immer schneller. Früher gingen die Entwicklungen langsam: Bis sich aus dem Buchdruck schließlich Verlage, Buchhandel, Bibliothek und das Zeitungswesen entwickelt hatten, dauerte es Jahrhunderte. In diesen langen Zeiträumen konnten durch öffentliche und akademische Diskussionen Folgen bewußt gemacht und notwendige Rahmenbedingungen geschaffen werden. 25 Heute geht alles viel schneller. Von der Erfindung des Computers bis zu seiner Verbreitung dauerte es nur wenige Jahre und mittlerweile verändern sich die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung fast wöchentlich. Dieses Tempo läßt kaum Zeit zu einer abgewogenen Diskussion der Folgen, die losgelöst von einem schnellebigen Zeitgeist sich entwickeln und festigen kann. Durch diese hier nur kurz angedeutete Entwicklung haben sich im Laufe der Zeit die Informationsinteressen des einzelnen und der verschiedenen GemeinStaatskanzlei mit Beiträgen von Weizenbaum, Simitis ua.; Steinmüller, in: Kursbuch 56 (1979), 169ff.; Kutscha/ Paech, Totalerfassug; Myrell (Hrsg.), Datenschatten. Wie Computer Dein Leben kontrollieren; Krauch (Hrsg.), Erfassungsschutz; Meyer-Larsen (Hrsg.), Der Orwell-Staat 1984; Hohmann (Hrsg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz. 23 Vgl. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 104ff.; Hellmann, Wertewandel; Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat. 24 Vgl. dazu Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 114ff., 126ff., 130ff. m.w.N.; ders., Artikel Autonomie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/40; Krause, JuS 1984,286; HojJmann-Nowotny, Der Prozess der Individualisierung. Ursachen und Konsequenzen, in: Habscheid u.a. (Hrsg.), Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Hans Giger, S. 269 ff.. Beispiele für übertriebene Autonomievorstellungen auch in der Rspr. finden sich in BVerfGE39, 1 ff. -Abtreibung-; 49, 268ff. - Transsexuellen-; 54, 148ff. -Eppler -; ferner unten 4. Kapitel § 3 B 11 und 5. Kapitel § 3 C; sh. auch Utz, Selbstinteresse und Gemeinwohl, ASRP 72 (1986), 361 ff.; sh. aber auch Höfling, Offene Grundrechtsimterpretation, S. 116ff., der diese Tendenz begrüßt; ebenso Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit; dazu Smid, ARSP 72 (1986) 148 ff. 2S Vgl. Steinbuch, RDV 1988, 1 (2).

C. Schwierigkeit der Abgrenzung zu schützender Räume

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schaften, sowie die von "Infonnationshandlungen" ausgehenden Gefahren stark gewandelt. Einhergehend mit dieser Entwicklung hat sich ein immer stärkeres Bedürfnis des einzelnen und der Allgemeinheit herausgebildet, "Schutzräume" anzuerkennen und gegen Eingriffe Unbefugter rechtlich abzusichern, in denen der einzelne als "Intimperson" allein sein kann, geschützt vor neugierigen Ohren und Blicken anderer.

c. Schwierigkeit der Abgrenzung zu schützender "Räume" - Relativität der Privatsphäre 26

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Die banale Erkenntnis, daß der einzelne eines Raumes bedarf, in dem er vor Infonnationshandlungen geschützt ist, besagt noch nichts darüber, wie dieser Raum aussehen soll, welche "Wahrheiten" von Rechts wegen also nicht mehr in Erfahrung gebracht, nicht mehr frei und offen ausgeplaudert oder sonstwie genutzt werden sollen. Ein solcher Raum, der die Freiheit des anderen, die Wahrheit wissen, sagen und verwenden zu dürfen, allgemeingültig beschränkt, ließ und läßt sich auch niemals eindeutig bestimmen 27 . Die plastischen Bezeichnungen durch den Reimportartikel 28 des right to privacy29, auch right to be let alone 30 genannt, oder durch Begriffe wie "Geheim-, Eigen-, Privatsphäre"31 oder Persönlichkeitsrecht 32 geben zwar gewisse Hilfsvorstellungen, vennögen aber den zu schützenden Bereich ebenfalls nicht allgemeingültig zu umgrenzen und zu beschreiben. Zu vielfältig sind die widerstreitenden Wertvorstellungen, Interessen, Motive etc., die sich hinter diesen Begriffen verbergen. Zu vielfältig sind die Rechtsbeziehungen, aus denen sich einerseits Infonnationsinteressen, andererseits zugleich Verschwiegenheitspflichten ergeben können. Was der eine offen zu Markte trägt, betrachtet der anderer als Teil seines intimsten Innenlebens, das er unter keinem Umständen anderen offenbaren will. Was der eine unbedingt wissen zu müssen glaubt, hält der andere für etwas, was ihn nichts angeht. Zu diesem individuell sehr unterschiedlichen Wertungsmaßstab treten weitere Eigenheiten, die eine klare Abgrenzung des zu schützenden Raumes, des zu schützenden Rechtsgutes, unmöglich machen. Etwa der sich ständig innerhalb einer Gesellschaft vollziehende WertewandeP3, der stetig das 26 Vgl. schon Bussmann, in: Gutachten für den 42 DJt., 1957, Bd. 1, 1 (39); ferner statt vieler Roh/I, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre. 27 Vgl. nur Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, S. 67 ff. 28 Vgl. Maass, aaO., S. 15. 29 Warren and Brandeis, The Right to Privacy, in: Harvard Law Reveu 4 (1890), S. 193ff.; Kamlah, Right of Privacy. 30 Nach der berühmten Formulierung von Judge Cooley, A treastise on the Law of Torts, 2. Aufl. 1888, S.28. 31 Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Sphärentheorien bietet Rogall, Grundfragen eines strafrechtlichen Schutzes der Privatheit, §§ 10-17. 32 Grundlegend Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht. 33 Hellmann, Wertewandel.

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§ 1 Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis

Wertfühlen ändert, mit dem widerstreitende Interessen bewertet und gewichtet werden können. So wurde z. B. noch im Jahre 1929 ein Apotheker der" Werbung mit Mitteln des unzüchtigen Gebrauchs" angeklagt, weil er Kondome ins Schaufenster gelegt hatte 34 , während dies heute zur offiziellen Politik unserer christlichen Regierungspartei gehört. Die Beichte wurde einst öffentlich abgelegt 35 und die Sexualmoral unterlag im Laufe der Jahrhunderte - auch bedingt durch die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten 36 - einem ständigen Wandel. Die Ehe wurde einst erst wirksam dadurch geschlossen, daß man öffentlich vor den Verwandten das Ehebett bestieg 37. In Japan wird "Privatheit" ganz anders verstanden als in Europa 38. Ein weiteres plastisches Beispiel für den Zusammenhang zwischen Recht und der eine Volksgruppe beherrschende Philosophie liefert Josej Kohler: 39 "Der überwiegende Zug des germanischen Wesens spricht für die völlige Zulassung der Wahrheitseinrede und des Wahrheitsbeweises. Anders die romanischen Rechte: Diese haben eine Vorliebe dafür, schlimme Dinge eher zurückzuhalten, als sie an das Publikum gelangen zu lassen, selbst wenn sie wahr sein sollten." Und er fährt fort: "So triftig nun auch die Gründe unseres Rechts sind, so bleibt doch auch ersichtlich, daß auch das romanische System nicht ohne Rechtfertigung bleibt, und dass es hier nicht um etwas absolut Gutes oder Schlechtes, legislativ Richtiges oder Unrichtiges handelt, sondern um Gründe dafür und dawider, zwischen denen schließlich der Volkscharakter zu entscheiden hat: auf der einen Seite der Trieb, der unbedingten Wahrheit, auf der anderen Seite das Wohlbehagen an der Ruhe, die Scheu vor öffentlicher Belästigung, die Freude am friedlichen, höflichen Verkehr, das Missfallen am Gezänk, die krampfhafte Furcht vor Enthüllungen, die auch dem öffentlichen Interesse schaden könnten; zwischen diesen Lebensgütern hat das Volk und seine Lebensauffassung zu wählen: geht der Germane mehr nach unbedingter Wahrheit, so liebt der Romane mehr die Schönheit des Daseins, die Ruhe des Lebens, er scheut die Einwirkung dunkler Mächte; er glaubt, mit der Wahrheit transigieren zu können; und so erklärt sich die Verschiedenheit der Gesetzgebung, und es zeigt sich auch hier wieder die Relativität des Rechts und seine Abhängigkeit von den Idealen und Zweckbestrebungen der Völker." Vgl. Sylvia Zacharias, Die Pest und das Böse, in : FAZ vom 23. 07. 1988, Nr. 169. Vgl Auer/ Ratzinger, Kleine kathl. Dogmatik, Bd. 7, 1972, S. 125ff.; Höfer/ Rahner (Hrsg.),Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 2. Aufl. unter Beichtgeheimniss, Sp. 128ff. 36 Vgl. Sylvia Zacharias, aaO. 37 Vgl. Mikat, Ehe, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Spl. 809 (814); auch das erste Beilager der Fürsten wurde einst öffentlich vollzogen, vgl. Bühler, Fürsten und Ritter, S. 159; Hackett, Heinrich VIII, S. 113; Hemmer, ZRG (Germ.Abtl.) 76 (1959), 292ff. 38 Vgl. Pohl, J~pan, passim; Berühmt ist auch die Stelle aus Herodot, wo er sich darüber wundert, daß die Agypter seiner Zeit sich zum Essen gern verstecken, aber ihre Notdurft in aller Öffentlichkeit verrichten, gerade umgekehrt als bei ihm daheim in Griechenland (Historia II 35), zitiert nach Druey, Geheimsphäre des Unternehmens S. 26 Fn 21. 39 Ehre und Beleidigung, GoltdA. 47 (1900), 1ff., 98ff. (132, 135f.). 34

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D. Grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten

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D. Grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten Aufgabe der Rechtsordnung ist es, das beschriebene, in der Natur des Menschen begründete Spannungsverhältnis zwischen den extremen Polen einer jeden Informationsordnung, also zwischen dem Prinzip absoluter Wahrheit (Informationsfreiheit) und dem der absoluten Diskretion (Informationsverbot) auszugleichen 40 • Vom Ansatzpunkt her hat die Rechtsordnung dabei zwei Möglichkeiten: (1) Sie geht vom Prinzip des Informationsverbots aus. Informationserhebung, -weitergabe und -verwendung sind dann grundsätzlich nur noch gestattet, wenn eine Rechtsnorm, der Betroffene oder ein "Interessenvertreter"41 sie ausnahmsweise zulassen. Die Wahrheit darf also nur noch gewußt, gesagt und genutzt werden, wenn eine entsprechende Erlaubnisnorm besteht. Zuwiderhandlungen können strafrechtlich und / oder zivilrechtlich sanktioniert werden.

(2) Sie geht vom Prinzip der Informationsfreiheit aus. Informationserhebung -weitergabe und -verwendung sind dann grundsätzlich immer erlaubt, es sei denn, eine Rechtsnorm verbiete die konkrete Informationshandlung. Es gilt mithin der Grundsatz, daß man "die Wahrheit muß doch wissen dürfen" , "daß man die Wahrheit muß doch sagen dürfen" und "daß man die Wahrheit doch in seine Entscheidungsprozesse muß einstellen dürfen". Die diesen Grundsatz einschränkende Verbotsnorm kann dabei je nach der Wertigkeit des zu schützenden Rechtsgutes eine strafrechtliche und / oder eine zivilrechtliche sein.

Zwischen und innerhalb dieser Grundprinzipien sind zahlreiche Variationen und Mischformen denkbar. Die zivilrechtlichen Erlaubnis- bzw. Verbotsnormen können jeweils spezifische Einzelfälle regeln, was eine unüberschaubare Fülle an Normen bedingen würde, die ständig neuen Lebenssachverhalten angepaßt werden müßten 42 , oder sie können in Form von Generalklauseln geregelt werden, die wegen der Offenheit ihrer Tatbestände eine Vielzahl von Fällen zu erfassen vermögen, damit aber zugleich zahlreiche Abgrenzungsschwierigkeiten mit sich bringen, da sie dem Richter weite Beurteilungsspielräume eröffnen 43 • Daneben können die Prinzipien miteinander kombiniert werden. So könnte man daran denken, nach der Art der Information zu differenzieren: Etwa für rein sachbezogene Informationen gilt das Prinzip der Freiheit, für Informationen, die einen Bezug zum Privat-, Familienleben, zur Eigen-, 40 Mittermaier (Archiv des Criminalrechts, 1839, 1 f.) beschreibt diese Aufgabe des Gesetzgebers bereits 1839 für den strafrechtlichen Ehrschutz wie folgt: "Die Weisheit des Gesetzgebers bewährt sich darin, daß er bei der Erlassung von Strafgesetzen die verschiedenen oft collidierenden Interessen abwäge und prüfe welches Interesse das vorwaltende ist, das ihn zunächst bestimmen muß." 41 Zu solchen Tendenzen im Arbeitsrecht vgl. unten § 9, § 10 B II 2) e) f); § 12 B III. 42 Zu den daraus resultierenden Problemen, vgl. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, S. 201-208. 43 Dazu schon von Tuhr, Bd. 1, Vorwort; sowie unten §7 A III 1).

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§ 1 Wahrheit und Diskretion als natürliches Spannungsverhältnis

Geheim- oder Privatsphäre44 haben, also sich auf die Person als solche beziehen, gilt das Prinzip des Verbots. Denkbar wäre auch, danach zu unterscheiden, ob es um die Informationserhebung, um die Informationsweitergabe oder die bloße sonstige Nutzung geht und hierbei könnte wiederum danach unterschieden werden, an wen die Information weitergegeben wird; etwa: bei Weitergabe an bestimmte Dritte gilt das Prinzip der Freiheit; bei Weitergabe an die Allgemeinheit das Prinzip des Verbots. Denkbar wäre aber auch, nach gewissen Bereichen zu differenzieren, in denen der "Informationsverkehr" stattfindet; etwa: für Informationshandlungen der Arbeitgeber, Gewerkschaften, Parteien, Banken, Versicherungen und nicht zuletzt der Presse gilt wegen ihrer Mächtigkeit und der Fülle der Informationen, die sich dort ansammeln können, das Prinzip des Verbots, in anderen Bereichen hingegen das Prinzip der Freiheit. Denkbar ist auch, danach zu unterscheiden, mit welchen Mitteln Informationen erhoben, weitergegeben oder sonstwie verarbeitet werden, etwa: bei "Informationshandlungen", die mittels technischer Hilfsmittel vorgenommen werden, gilt das Prinzip des Verbots 4S , sonst das der Freiheit. Zahlreiche weitere Differenzierungen, Varianten und Kombinationen sind denkbar. Hinzugefügt werden könnten Kontrollen des privaten Informationsverkehrs durch staatliche Aufsicht oder private Beauftragte. Man könnte auch daran denken, das Benutzen automatischer Datenverarbeitungsanlagen, nur nach dem Bestehen einer staatlichen "Informationsverkehrsprüfung" zu erlauben oder sogar solche Geräte völlig zu verbieten oder ihre "Zulassung" von einer Technologiefolgenabschätzung abhängig zu machen 46 , oder eine staatliche Datenabgabe als Instrument zur Dateneinsparung zu erheben 47 • Erforderlich sind solch schwerwiegende Eingriffe aber nur dann, wenn nicht ein oder die Kombination weniger Prinzipien, in der Lage ist, die möglichen Lebenssachverhalte hinreichend zu regeln. Ein Rechtssystem muß sich an klaren Grundsätzen orientieren und darf nur dort eine Vielzahl unterschiedlicher Regelungen festschreiben, wo unterschiedliche und komplizierte Lebenssachverhalte und der Schutz hochwertiger Rechtsgüter sie erfordern. Im folgenden wird untersucht, welches Prinzip unserer Rechtsordnung ursprünglich zu Grunde lag, auf welchen Rechtsgütern und Werten dieses aufbaut, welche Prinzipien ihr heute zu Grunde liegen, ob diese durch die geltende Rechtsordnung gedeckt sind, und ob in Zukunft weitere Differenzierungen notwendig erscheinen. Dabei kann nicht die ganze Entwicklung der Informationsordnung analysiert werden. Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, technischem know how 4S etc., also Zu den Begriffen vgl. Rogall, aaO., §§ 10-17; und unten § 7 A IV. Vgl. Krause, DB, Beilage Nr. 23/83,1 (8). 46 Zu solchen und ähnlichen Vorstellungen vgl. die Nachw. bei Ladeur, Jahreszeitschrift für Rechtssoziologie 1987, 248ff. 47 So Rossnagel, eR 1989, 228ff. 48 Vgl. dazu Maass, aaO., S.94ff.; Kraßer, GRUR 1977, 177ff.; Stürner, JZ 1985, 453 ff.; Wenninger, Die aktienrechtliche Schweigepflicht; Lukes / Vieweg / Hauck, Schutz 44 45

D. Grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten

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rein sachbezogener Daten, hinter denen sich im wesentlichen wirtschaftliche Interessen verbergen, hat andere Gründe, Voraussetzungen und Folgen als der Schutz von Informationen, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Person selbst, ihre persönlichen und sachlichen Verhältnisse beziehen. Die vorliegende Darstellung behandelt daher den ersten Bereich nur am Rande.

von Betriebs- u. Geschäftsgeheimnissen in ausgewählten EG-Staaten; Baumbachj He/ermehl, UWG, § 17 Rn. 1 ff., sowie vor §§ 17 -20a m. umfangr. Nachw. 3 Brossette

§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie A. "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie I. Die Meinungen Kants, Schlettweins und Schopenhauers In der Philosophie ist das Problem zulässiger Informationserhebung und -weitergabe unter dem Stichwort des Rechts der Wahrheit oder besser der Wahrhaftigkeit und des Rechts der Lüge abgehandelt worden. Die Bandbreite der dort vertretenen Meinungen ist außerordentlich groß und kann hier nur beispielhaft angedeutet werden. So sagt Ovid, "aber die Schuld ist groß, schwatzt das Geheime man aus". Schlettwein hingegen schreibt in seinem 1784 erschienen Werk:! "Wahrheit, als solches, kann nie ein Grund von einem Übel seyn"2

und fährt dann fort: "Die Wahrheit aber darf jeder meiner Mitmenschen nicht nur von mir denken, sondern auch von mir sagen. Ist es wahr, daß ich lasterhaft bin, daß ich dumm bin, daß ich ein Pedant bin, daß ich diesen, oder jenen Leibesfehler, diese, oder jene Krankheiten an mir habe, oder in diesem oder jenem bedauernwürdigen Zustande lebe, so habe ich kein Recht, von anderen Menschen zu fordern, daß sie dieses alles nicht von mir denken, oder sagen sollen, weil ich kein Recht haben kann, von meinen Mitmenschen nur in irgendeinem Falle zu fordern, daß sie in einem Irrthume bleiben, oder demselbigen weiter ausbreiten sollen. Das uneingeschränkte Recht, die Wahrheit zu sagen, daß jeder Mensch hat, erstreckt sich ohne Unterschied auf alle Wahrheiten, sie mögen einen Gegenstand haben, welchen sie wollen. Es ist schlechterdings nichts gesagt, wenn man die Eröffnung, oder Mitteilung der Wahrheit nur in dem Falle erlaubt nennet, da sie ein Mittel ist, etwas offenbar Gutes zu bewirken. Die Wahrheit ist an sich schon ein wahres Gut, und muß von den Menschen als solches gesucht und ausgebreitet werden. "3 1 Die Rechte der Menschheit oder der einzig wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen. 2 S. 189. 3 S. 199 f.; an anderer Stelle heißt es (S. 183 f.) "Daher ist es auch natürliche Pflicht des Menschen, keinem seiner Mitmenschen Durch Zeichen, und Sprache Irthümer oder Unwahrheiten mitzutheilen, oder welches eines ist: Es ist Pflicht, einem jeden anderen immer nur die Wahrheit zu bezeichnen, oder nur die Wahrheit zu sagen, keinen Menschen zu täuschen, keinen zu betrügen, keinen zu belügen, auch sich nicht gegen andere zu verstellen.", und S. 187f. heißt es: "Das Recht, die Wahrheit allenthalben zu sagen, ist ein uneingeschränktes allgemeines MenschenRecht, welches keinem Menschen zwangsweise entzogen, und dessen Gebrauch keinem' willkührlich und zwangsweise verwehrt werden kann. Die Wahrheit ist der einzige Grund alles Guten, aller Vollkommenheit, aller Übereinstimmung. Jeder Mensch als solcher hat das Recht, die Wahrheit zu suchen, und sie, wenn er sie

A. "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie

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Auch Kant hat sich für ein sehr weitgehendes Recht der Wahrheit im Sinne einer absoluten Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit eingesetzt 4 • Im Gegensatz zu Sehlettwein sowie auch Fiehte S und u. a. 6 vertrat er jedoch nicht die Auffassung, daß die Wahrheit als solches nie ein Grund von einem Übel sein könne. Vielmehr differenzierte er. In seiner Abhandlung "Zum ewigen Frieden" (Anh. np schreibt er: "Alle auf das Recht anderer bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht".

Und in seinen "Vorlesungen über Moralphilosophie"8 heißt es: "Die Neigung sich zurückzuhalten und zu verbergen, beruht darauf, daß die Vorsicht gewollt hat, der Mensch soll nicht ganz offen sein, weil er voll Gebrechen ist." ... "So wäre es falsch gewesen, wenn jemand von Jupiter verlangt hätte, ein Fenster ins Herz der Menschen zu setzen, damit man eines jeden Gesinnung wissen möchte; dies wäre nur sinnvoll, wenn die Menschen besser beschaffen wären und gute Grundsätze hätten, denn wenn alle Menschen gut wären 9 , so dürfte keiner zurückhaltend sein; da das aber nicht so ist, so müssen wir unsere Fensterladen zu machen." hat, als den Grund aller Vollkommenheit für die Menschheit, allenthalben, wo Menschheit ist, mitzutheilen." ... "Die Bekanntmachung der Wahrheit kann allerdings einem anderen Menschen unangenehm seyn, weil sie seine bösen Absichten, oder seine unvollkommenen Stimmung zuwider ist. Aber deswegen hat er nie ein Recht, die Wahrheit, und ihre Bekanntmachung zu verhindern. Seine bösen Absichten, oder seine unvollkommene Stimmung geben ihn kein Recht dazu. Hat aber keiner von den Mitmenschen böse Absichten, oder eine unvollkommene Stimmung seiner Krafft, so ist ihm die Wahrheit nie zuwider." 4 Vgl. dazu Geismann/Oberer (Hrsg.), Kant und das Recht zur Lüge. 5 "Bei uns heißt es: Der Sittliche legt notwendig, so gewiss er dies ist, immer sein ganzes inneres Wesen offen dar: schlechthin offen und durchsichtig, so wie es seinem Wesen nach ist: der Sittliche lügt niemals, in einen sittlichen Lebenslauf fällt keine Unwahrheit.", J. G. Fichte, Werke, hrsg. Medicus 6, 98, zitiert nach Bien in: Historisches Wörterbuch der Philosopie, Bd. 5, unter Lüge, Sp. 542. 6 "Unter den besonderen Pflichten gegen die anderen ist die Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln die erste ... Die Unwahrhaftigkeit ist die Ungleichheit und der Widerspruch des Bewußtseins und dessen, wie man für andere da ist, somit seines Inneren und seiner Wirklichkeit, und damit die Nichtigkeit an sich selbst.", G.W.F. Hegel, Werke, hrsg. Glockner 3,91: § 61, zitiert nach Bien aaO. m.w.Nachw., vgl. aber auch Hegels Philosophie des Rechts. Die Vorlesung 1819/20 ... hrsg. v. Dieter Henrich, Frankfurt 1983, S. 118 ff; dazu Geismann/Oberer (Hrsg.), Kant und das Recht zur Lüge, S. 16. 7 Zitiert nach Maass, vor dessen Vorwort. S Kant, Akad.-A. 27/1, 444f., zitiert nach Bien, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, unter Lüge, Sp. 533 (542). 9 Die Meinungen dazu, ob der Mensch ein an sich gutes oder böses Wesen ist, gehen weit auseinander, vgl. etwa Schopenhauer (Über die Universitätsphilosophie, hrsg. von O.A. Böhmer unter dem Titel: Kopfverderber, 1982, S. 22f.): " ... Menschen zu regieren, das heißt, unter Millionen eine der großen Mehrheit nach grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechts, Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrecht zu erhalten ... "; vgl. andererseits J. J. Rousseau ( Brief an die Malherbes, zit. nach J. J. Rousseau in 3*

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§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie

Damit anerkennt Kant, daß der Mensch eines Raumes für sich allein bedarf und von sich aus nicht jede Wahrheit Dritten offenbaren muß und soll. Allerdings meint Kant, der Mensch sei immer dann zur Offenbarung der Wahrheit verpflichtet, wenn er danach gefragt werde, er dürfe nie lügen. Während etwa Pufendorfund Grotius die Ansicht vertraten, daß man von einer Lüge nur dann sprechen könne, wenn der Angesprochene ein Recht habe, die Wahrheit zu erfahren 10, schreibt Kant 1797 in seinem kleinen Aufsatz "Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen"ll: "Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus noch so großer Nachteil erwachsen: und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinne der Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichen Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht ... denn sie schadet jederzeit einem anderen, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, in dem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht."

Auf dieser Grundlage hält er den Gefragten sogar für verpflichtet, dem mutmaßlichen Mörder zu offenbaren, wo sich sein Opfer befindet. Diese Auffassung hat Kant den Vorwurf eingebracht, er sei von einem Wahrheitswahn beseelt 12 • So meint etwa Benjamin Constant 13 der moralische Grundsatz, "daß es Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, würde absolut und für sich verstanden, jedes menschliche Zusammenleben unmöglich machen" '" "Es würde die Gesellschaft zerstören" und Kar! Jaspers 14 meint: "Ein Mensch, der weder in sein Wesen Unwahrhaftigkeit aufgenommen hat, noch anderen je gegenüber eine Lüge ausspricht, ist undenkbar. "15

Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Georg Hohnstein, 1972, S.64): "daß der Mensch von Natur aus gut ist und daß die Menschen allein durch unsere Einrichtungen böse werden."; vgl. weitere Nachw. zu den verschiedenen Meinungen bei Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 36f. 10 Nachw. bei Bien,in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, unter Lüge, Sp. 533 (540); ebenso Constant, Über politische Reaktionen: "Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht nur denjenigen gegenüber, die ein Recht auf Wahrheit haben. Nun hat aber niemand ein Recht auf die Wahrheit, die einem anderen schadet", abgedruckt bei GeismannlOberer (Hrsg.), Kant und das Recht zur Lüge, S. 23 (24). 11 S. 637 (638); weitere Nachw. bei Eisler, Kant-Lexikon unter "Wahrhaftigkeit". 12 Vgl. etwa Paulsen, System der Ethik, S. 211 ff.; zu der durch die Meinung Kants, die zuvor bereits von Johann David Michaelis ("Von der Pflicht die Wahrheit zu reden", 1750) vertreten worden war, ausgelösten Diskussion vgl. Geismann I Oberer (Hrsg.), Kant und das Recht zur Lüge. 13 Über politische Reaktionen, abgedruckt, in: Geismann I Oberer, aaO., S. 23 ff. 14 Von der Wahrheit, S. 490, zur Erlaubtheit der Lüge S. 483ff., 555ff. 1S Zur Häufigkeit des Lügens vgl. Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge, S. 242f.; zum Verhältnis der Griechen zur Lüge vgl. Bergson, Die Griechen und die Lüge, in: Trierer Beiträge, 1981 IX, S. 7 -11.

A. "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie

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Auch Schopenhauer 16 war zwar der Ansicht, daß jede Lüge, eben wie jede Gewalttätigkeit, als solche unrecht sei, weil sie schon als solche zum Zweck habe, die Herrschaft meines Willens auffremde Individuen auszudehnen, also meinen Willen durch Verneinung des ihren zu bejahen, so gut wie die Gewalt. Allerdings sah er die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nicht absolut. Gestattet sei ein wirkliches Recht zur Lüge, gerade soweit, wie ich es zum Zwange habe. Und noch weitergehend schreibt er: 17 "Aber das Recht zur Lüge geht in der That noch weiter: es tritt ein bei jeder völlig unbefugten Frage, welche meine persönlichen, oder meine Geschäftsangelegenheiten betrifft, mithin vorwitzig ist, und deren Beantwortung nicht nur, sondern schon deren bloße Zurückweisung durch "ich will's nicht sagen", als Verdacht erweckend, mich in Gefahr bringen würde. Hier ist die Lüge die Nothwehr gegen unbefugte Neugier, deren Motiv meistens kein wohlwollendes ist."

Schopenhauer sieht jedoch sofort die Gefahr, die die Lockerung des Prinzips der Wahrhaftigkeit mit sich bringt und betont deshalb: "Jedoch muß dabei die angegebene Einschränkung auf den Fall der Nothwehr streng festgehalten werden; da außerdem diese Lehre abscheulichem Mißbrauche offen stände: denn an sich ist die Lüge ein sehr gefährliches Werkzeug. Aber wie, trotz dem Landfrieden, das Gesetz Jedem erlaubt, Waffen zu tragen und zu gebrauchen, nämlich im Fall der Notwehr; so gestattet für den selben Fall, aber eben so auch nur für diesen, die Moral den Gebrauch der Lüge. Diesen Fall der Notwehr gegen Gewalt oder List ausgenommen, ist jede Lüge ein Unrecht; daher die Gerechtigkeit Wahrhaftigkeit gegen jederman fordert." 18

16 Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch, Der Welt als Wille, Zweite Betrachtung: Bei erreichter Selbsterkenntnis Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, § 62, S. 83ff.; ders., Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 17, S. 412 f,jeweils in: Fest/Siedler (Hrsg.), Klassiker des modernen Denkens, Arthur Schopenhauers Schriften zur Moral und zum richtigen Leben. 17 Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 17, S. 412ff., in: Fest / Siedler (Hrsg.), aaO., S.413 heißt es. " Ich darf also, ohne Unrecht, selbst der bloß präsumirten Beeinträchtigung durch List, zum voraus List entgegenstellen, und brauche daher nicht Dem, der unbefugt in meine Privatverhältnisse späht, Rede zu stehen, noch durch die Antwort: "Dies will ich geheimhalten", die Stelle anzuzeigen, wo ein mir gefahrliches, ihm vielleicht vortheilhaftes, jedenfalls ihm Macht über mich verleihendes Geheimniß liegt: Seire volunt secreta domus, atque inde timeri. (Des Hauses Geheimnisse wollen sie wissen um dadurch furchtbar zu werden. (Juvenal, Saturae,3,113». Sondern ich bin alsdann befugt, ihn mit einer Lüge abzufertigen, auf seine Gefahr, falls sie ihn in schädlichen Irrthum versetzt. Denn hier ist die Lüge das einzige Mittel, der vorwitzigen und verdächtigen Neugier zu begegnen: ich stehe daher im Falle der Notwehr. Ask me no questions, and /'11 tell you no lies, ist hier die richtige Maxime. Nämlich bei den Engländern, denen der Vorwurf der Lüge als die schwerste Beleidigung gilt, und die eben daher weniger lügen, als die anderen Nationen, werden dementsprechend alle unbefugten, die Verhältnisse des Anderen betreffenden Fragen, als eine Ungezogenheit angesehen, welche der Ausdruck to ask questions bezeichnet." 18 aaO., S.414.

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§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie

Johann Adam Bergk 19 , ein Kantianer, beschreibt die Gefahr der Lockerung der Rechtspflicht der Wahrhaftigkeit noch eindringlicher: "Jede Maxime, welche irgend einer meiner Handlungen zum Grunde liegt, muß allgemein seyn können; es dürfte daher nunmehro jeder Unwahrheit sagen, sobald er sich von der Noth dazu aufgefordert hielt? Wer kann aber den Augenblick bestimmen, wo das Lügen erlaubt ist, und wer giebt ein allgemeines Gesetz für den Glauben, wenn jemand sich in Noth zu seyn betrachten dürfe? Muß man dies nicht jedermanns eigenem Urtheile überlassen und stimmt denn die Ueberzeugung Aller von der Nähe oder Feme der Gefahr miteinander überein? Hängt sie nicht vielmehr von der Erfahrung, von den früheren Eindrücken, von dem furchtsamen oder kühnen Charakter eines jeden ab? Da nun kein allgemeines Gesetz über den Eintritt der Gefahr für das Leben möglich ist, so würde das Lügen alle Wahrheit verdrängen, jeder würde Unwahrheit sagen, sobald er etwas dadurch gewinnen könnte, oder sobald er irgend einer Gefahr, die doch der Prüfstein der Tugend ist, entgehen könnte. Wo sollte man dann auch Wahrheit suchen? Würde sie nicht zum Mährchen werden, wenn jeder in dem Falle, daß er sich in Noth wähnte, Unwahrheit sagen dürfte?"

11. Die verschiedenen Meinungen in der Theologie 20

Auch in der Theologie ist die Problematik der Wahrheit 21 und der Wahrhaftigkeit eingehend diskutiert worden. Ausgehend von dem achten Gebot "Du sollst nicht lügen", wurde die Lüge zwar generell als verboten angesehen, aber nicht wenige vertraten die Auffassung, nicht jede vorsätzliche Unwahrheit sei bereits eine Lüge. Als Beispiel für die Erlaubtheit der Unwahrheit wird immer wieder das Alte Testament, Buch Josua, Kap. 2 angeführt: Rabäs Lüge zum Zwecke der Rettung von Menschenleben vor den Häschern gilt als erlaubt. Übereinstimmend war man zwar der Ansicht, daß es zur allgemeinen Handlungsfreiheit des Menschen gehöre, grundsätzlich die Wahrheit sagen zu dürfen, man meinte aber, daß aus dem Gebot der Geradheit und Wahrhaftigkeit des Wesens nicht folge, daß jedermann alles mitgeteilt werden solle. Stets müsse die Wahrhaftigkeit zu anderen Tugenden wie Klugheit, Diskretion, Nächstenliebe und Gerechtigkeit gesehen werden. Eine "Tyrannei der Worte" könne nur vermieden werden, wenn eine Tugend zurücktrete. Daß dem anderen nicht die volle Wahrheit gesagt werden dürfe, habe seinen Grund in dessen Unreife. Durch das Schweigen sei keine Täuschung beabsichtigt, sondern der Schutz des Geheimnisses 22 • Aber auch hier war und ist die Bandbreite der vertretenen 19 Reflexionen über I. Kants metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Gera und Leipzig 1798, S. 142f. 20 Einen Überblick liefern, Müller, in: Höfer j Rahner, Lexikon der Theologie und Kirche, Bd. 6 unter Lüge, Sp.1198f.; ders. sowie Engelhardt u. Schnackenburg, aaO. Bd.10 unter Wahrheit u. Wahrheitsethos, Sp. 912 ff.; ausführlichst Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge; Hörmann, Wahrheit und Lüge. 21 Zur Wahrheit als Ordnungsprinzip in der Theologie vgl. auch Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten, in: BöckenfördejSpaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, S. 138 (152ff.).

A. "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie

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Meinungen sehr groß. Sie reichen von einer vollkommenen Pflicht zur Wahrhaftigkeit, bis zu einer mehr oder weniger weitgehenden Zulassung der Unwahrheit, etwa aus dem Gedanken der Notwehr, der Nächstenliebe, des gesunden Menschenverstandes, des Rechts auf Wahrheit oder unter Berufung auf die nützlichen Folgen etc. Einigkeit bestand aber auch hier, daß Wahrheit und Wahrhaftigkeit grundsätzlich schützenswerte Güter sind, von denen abweichen zu dürfen, es stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf23. 111. Der Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit In der lang andauernden Diskussion um die Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob die Wahrheit uns nicht ruiniert? ob das Leben nicht nur gedeiht unter Illusionen? ob das Mögliche nicht nur erreicht wird, wenn der Tätige das Unmögliche als möglich glaubt? ob Täuschung über Tatbestände und Möglichkeiten nicht Bedingung des Fortlebens ist? ob Gemeinschaft, wegen der Lasterhaftigkeit und Unvollkommenheit des einzelnen, nicht geradezu ein gewisses Maß an Unwahrhaftigkeit, Täuschung und Lüge erfordere, weil wegen der Natur des Menschen bedingungslose Wahrhaftigkeit gleichbedeutend mit Selbstmord sei? ob Unwahrhaftigkeit unter den Bedingungen der realen Welt nicht Lebensbedingung ist?24

Daß die Wahrheit Qualen bewirkt, ist nie bestritten und verkannt worden. 25 "Welch ein Abgrund ist zwischen den Menschen und allen anderen Wesen allein dadurch, daß er weiß, daß er sterben muß", schreibt Karl Jaspers. 26 Aber berechtigt dies dazu den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Frage zu stellen? Worin besteht überhaupt der Wert der Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Kant 27 sieht in der Pflicht zur Wahrhaftigkeit, im Sinne eines absoluten Lügeverbotes, eine auf der Würde des Menschen beruhende Pflicht des Menschen gegen sich selbst: "Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde", weil die Lüge "ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mittheilung seiner Gedanken gerade entgegengesetzter Zweck" ist, "mithin Verzichtung auf seine Persönlichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst". 22 Vgl. etwa die Darstellung bei Müller, in Lexikon für Theologie aaO. unter Wahrheitsethos. 23 Vgl. Einzelnachw. bei Müller, Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge. 24 Vgl. Jaspers, Von der Wahrheit, S. 597, 550. 2S Auch von Kant nicht, vgl. Vorlesungen über Moralphilosophie (Collins). Von den ethischen Pflichten gegen andere und zwar von der Wahrhaftigkeit, abgedruckt bei Geismannj Oberer, aaO., S. 41 (43 f.). 26 Von der Wahrheit, S.453. 27 Methaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, abgedruckt in Geismann j Oberer, aaO., S. 32 (33); vgl. ferner die Nachw. bei Müller, aaO., S. 24Of.

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§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie

Unwahrhaftigkeit des Menschen ist also Betrug gegen andere und an sich selbst, Verneinung des eigen Ichs, Verlust der Realität. Der Mensch soll also dem Sein dienen und nicht dem Schein. Nicht nur aus Liebe zur Gemeinschaft soll der Mensch also vor jeder Unwahrhaftigkeit fliehen, auch aus der Achtung vor sich selbst, soll er an der Wahrheit haften, zumal die Wahrhaftigkeit eine Grundtugend der sittlichen Persönlichkeit ist 28 • Der zentrale Punkt der Argumentation Kants und anderer Philosophen 29 ist aber die Ableitung des Lügeverbots aus der Idee der Menschheit als Rechtsgemeinschaft 30 • Ebenso wie bereits Johann David Michaelis vertritt Kant die Auffassung, durch jede Art von vorsätzlicher Unwahrheit werde die menschliche Gesellschaft der Fähigkeit beraubt, "andere durch ihr Zeugnis von der Wahrheit zu überzeugen. Die Verbindlichkeit der Verträge falle weg, wenn es erlaubt wäre, die Unwahrheit zu reden" 31 , die Gesellschaft werde letztlich unmöglich gemacht 32 , weil es kein Vertrauen mehr gebe, und der Mensch sein Wissen ohne ständige Gefahr der Täuschung und des Irrtums, die zu Fehlentscheidungen führen, nicht mehr mehren könne: "Wenn nun ein Mensch falsche Nachricht ergreift, so thut er dadurch keinem Menschen insbesondre Tort, aber der Menschheit, denn wenn das allgemein wäre, so würde die Wißbegierde des Menschen vereitelt, denn ich kann nur außer der Speculation durch zwei Wege meine Erkenntniße erweitern, durch Erfahrung und Erzählung; weil ich aber nun nicht alles selbst erfahren kann, und die Erzählungen anderer falsche Nachrichten seyn sollten, so kann die Wißbegierde nicht befriediget werden. "33

Karl Jaspers 34 umschreibt die bereits von Kant angesprochene Funktion der Wahrheit wie folgt: "Durch die Jahrhunderte gehen die Versuche Wahrheit in den objektiven Ordnungen und Wahrhaftigkeit des öffentlichen Tuns und Sagens zu erreichen. Da der Mensch, wenn er nicht in Gefahr steht, und wenn ihm infolgedessen Kontrolle und Korrektur fehlt, aus egoistischer Befangenheit und Bequemlichkeit unwahr wird, hat man die Öffentlichkeit als ein Medium freier Kritik, als Diskussionsfeld der Anklage und Verteidigung, der Enthüllung und der Rechtfertigung entwickelt, um dadurch soviel als möglich der Wahrheit und dem Recht Geltung zu verschaffen".

28 In diesem Sinne etwa Kant, Fichte, V. Vallaston, vgl. Nachw. bei Müller, aaO., S. 241 in Fn 37. 29 Etwa Plato und Aristotoles; vgl. P. Wilpert, Die Wahrhaftigkeit in der aristotelischen Ethik, in: Phil. Jahrbuch 53 (1950), S. 324ff. 30 GeismannjOberer (Hrsg.), aaO., S. 18. 31 aaO., S. 10, 26 ff (insbes. 26, 36). 32 Zur Gegenposition von Constant vgl. Wagner, Kant gegen ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen, abgedruckt aaO., S. 95ff. 33 Kant, Vorlesungen über Moralphilosophie, Moralphilosopie Collins, Von der ethischen Pflicht gegen andere und zwar von der Wahrhaftigkeit, abgedruckt in Geismannj Oberer, aaO., S. 41 (42f.). 34 Von der Wahrheit, S. 486.

A. "Wahrhaftigkeit" als Tugend in Philosophie und Theologie

41

Im Gegensatz etwa zu Schlettwein 35 , der in der Wahrheit einen naturrechtlichen Wert an sich sieht, nach dem Wahrheit der einzig wahre Grund alles Guten, aller Vollkommenheit, aller Übereinstimmung ist, beruht das grundsätzliche Verbot der Lüge für Jaspers 36 nicht auf einem Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit an sich, sondern auf dem gemeinschaftsschädlichen Charakter der Unwahrheit. Lüge, als verwerfliche Unwahrheit kann es für ihn nur dort geben, wo Menschen in wirklicher Kommunikation miteinander stehen 37 • Die Forderung nach der Wahrhaftigkeit wird also bestimmt durch die Gemeinschaft, in der sie gilt. 38 Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind also die Garanten zum Erkennen der tatsächlichen Gegebenheiten, die Eröffnung der Möglichkeit zur richtigen Erkenntniss zu gelangen, die Mittel zur Vermeidung von Irrtum, Täuschung und Betrug, die Garanten echter Kommunikation, die Selbst- und Fremdbetrug, sowie verführerische Scheinwelten verhindern und dadurch Gesellschaft und Selbsterkenntniss erst ermöglichen. Wahrheit ist zudem Voraussetzung der Gerechtigkeit.

Vgl. oben Fn. 1. Von der Wahrheit, S. 556ff. 37 aaO., S. 483f. 38 aaO., S. 557 heißt es: "Im wirtschaftlichen Verkehr ist Treu und Glauben Bedingung einer verläßlichen Ordnung. Wer hier wahrhaftig ist, hat auf die Dauer zugleich die besten Chancen (honesty is the best policy). Es gibt eine Verläßlichkeit des Wortes an der Börse auch im Munde selbst der sonst etwa betrügerischen Menschen. Im Rechtsverkehr ist Betrug die Zerstörung des Sinns der Rechtsordnung; das Beiseiteschieben der Gesetze durch Gewalt ist die Anarchie, die durch Betrug vorbereitet wird. Verweigerung der Wahrheit vor Gericht oder Lüge gegen das Gericht ist Verneinung der Rechts- und Staatsordnung. In der Gemeinschaft zwischen Menschen als Menschen aber gilt keine Begrenzung der Wahrhaftigkeit auf einen Zweck und eine bestimmte Ordnung, sondern die grenzenlose Wahrhaftigkeit ist Bedingung für die Verwirklichung echter Gemeinschaft. Nur das eine gilt, daß die Gemeinschaft möglich sein muß: in die Wahrhaftigkeit selbst ist aufgenommen das Sehen des Anderen. Es ist unwahrhaftig, sich gemeinschaftsgemäß zu verhalten wo gar keine Gemeinschaft ist. Der Satz: "Die Wahrheit brauche ich nur zu sagen, wenn ich weiß, daß von ihr rechter Gebrauch gemacht wird", ist richtig, sofern nur in der Voraussetzung einer Gemeinschaft und einer Gemeinschaftswahrheit die Wahrhaftigkeit Sinn hat und gefordert werden kann. Spreche ich daher den Satz aus zur Begründung meines nicht wahren Verhaltens, so ist er der in seiner kühlen Sachlichkeit heftigste Ausdruck der Gemeinschaftslosigkeit. Wer etwa vor Gericht solchen Satz verwendet zur Begründung seiner Aussageverweigerung, der macht damit eine Kampfansage auf Leben und Tod an den Staat, dem dieses Gericht dient. Zwischen Menschen im persönlichen Verkehr ist er der Ausdruck für den radikalen Abbruch der Kommunikation. Vor sich selbst ist er die Erleichterungjeden unterschiedlichen Weges bei Uneinigkeit mit sich selber, bei Aufhebung der Gemeinschaft mit sich selbst." 35

36

42

§ 2 "Das Recht der Wahrheit" in der Philosophie und Theologie

B. Wahrheit im Spiegel von Sprichwörtern und Zitaten 39 Zur Ergänzung sollen im folgenden noch einige Zitate bekannter Persönlichkeiten sowie Sprichwörter wiedergegeben werden, die sich mit der Wahrheit und Lüge befassen. Auch sie zeigen, welch unterschiedlicher Auffassung man sein kann. "Es steht uns frei den fanatischen Freimut unserer Väter zu bewundern, die uns gelehrt haben, uns wegen einer Lüge zu erdrosseln: eine solche Verehrung der Wahrheit unter Barbaren, die nur die Naturgesetze kannten, ist ein Ruhm für die Menschheit." (Luc de Clapiers de Vauvenargues) "Die Wahrheit ist immer das Rechte" (Sophokles) "Es ist die Pflicht die Wahrheit zu sagen" (Demokrit) "Wahrhaft ist nur der Mensch, der nicht lügt, nicht wer die Wahrheit sagt" (Fürst de Ligne) "Lügen wird er nicht reden, denn er ist zu verständig" (Homer) "Man soll die Wahrheit sagen, doch nicht jede Wahrheit soll ausgesprochen werden" (Christian von Schweden) "Nur Kinder und Narren reden die Wahrheit, und Gott hätte schon längst wieder eine Sintflut über uns verhängt, hätte die erste etwas geholfen." (Karl Julius Weber) "Manche Wahrheiten sollen nicht, manche brauchen nicht, manche müssen gesagt werden." (Wilhelm Busch) "Die Wahrheit kann auch eine Keule sein, mit der man andere erschlägt" ( Anatol France) "Es sollte für ehrlos gelten, wider besseres Wissen die Wahrheit zu sagen." (Karl Kraus) "Wenn alle Menschen immer die Wahrheit sagten, wäre das die Hölle auf Erden." (Jean Gabin) "Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheit" ( Alfred Camus)

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Vgl. etwa die Zusammenstellung bei Hönes, Das Mädchen Justitia, S. 14fT.

B. Die Wahrheit im Spiegel von Sprichwörtern und Zitaten

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"Die Wahrheit wird euch frei machen - und schutzlos" (Winfried H önes) "Die Wahrheit ist ein offenes Messer in der Hand eines Kindes." (Mika Waltari) "Wer die Wahrheit sagt, muß ein schnelles Pferd haben." (Lettisches Sprichwort) "Mit der Wahrheit ist es wie mit einer stadtbekannten Hure. Jeder kennt sie, aber es ist peinlich, wenn man ihr auf der Straße begegnet. Damit muß man es heimlich halten, nachts. Am Tag ist sie grau, roh und häßlich, die Hure wie die Wahrheit. " (Wolfgang Borchert) "Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld" (Schiller)

§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht A. Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Verbot von Lüge und Täuschung im Strafrecht Die beschriebenen Werte der Wahrheit und Wahrhaftigkeit als Grundwerte haben auch in das Strafrecht seit eh und je Eingang gefunden. Ziel des Strafverfahrens! etwa ist die Fällung einer richtigen und gerechten Entscheidung 2 • Voraussetzung einer gerechten Entscheidung ist als Mindestbedingung, daß diese auf der Grundlage wahrer Tatsachen getroffen wird 3 , zur Kontrolle in einem öffentlichen Verfahren 4 • Die Wahrheitsfindung ist mithin eines der obersten Ziele des Strafverfahrens 5 , ohne Wahrheit gibt es grundsätzlich keine gerechte Entscheidung. Damit korespondiert im Ermittlungs- und Strafverfahren die Verflichtung grundsätzlich eines jeden, der zur Aufklärung des Sachverhaltes etwas beitragen kann, wahrhaftig auszusagen; nicht nur die Lüge, sondern auch das bloße Schweigen ist vor Gericht im Interesse der Wahrheitsfindung, also wegen des Prjnzips der Gerechtigkeit, grundsätzlich untersagt 6 . Die Pflicht zur Aussage kann mit Zwangsmitteln erzwungen werden7, die unwahre Aussage wird strafrechtlich sanktioniert 8 • Nur so kann der Staat seiner Justizgewährungspflicht, dem Prinzip der Strafverwirklichung, dem Schutz der Sozialordnung und der Rechtssphäre des Opfers oder des möglichen Opfers wirksam nachkommen 9 • Im Gegensatz zum Inquisitionsprozeß!O, insbes. der Hexenprozesse 11 ,in denen die "Wahrheit" um jeden Preis erforscht wurde, ist es kein Grundsatz des "modernen" Strafverfahrens, daß die Wahrheit um jeden Zum Zivilprozeß vgl. unten § 4. Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn 35ff.; Peters, Strafprozeß, S. 82f., 281, jeweils m.w.Nachw. 3 Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn 35; Peters, Strafprozeß, S. 82f.; § 244 Abs.2 StPO. 4 Allgemein zum Öffentlichkeitsprinzip, Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis; Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn 61; §§ 169ff. GVG. S Peters, Strafverfahren, S. 82. 6 Kleinknecht, StPO, Vor § 48 Rn 5 m.w.Nachw.; Peters, Strafverfahren, S. 347ff. 7 §§ 51, 70, 77, 161a Abs. 2, 81 c Abs. 6,95 Abs. 2 StPO. 8 §§ 153ff.stGB; je nach Sachverhalt auch §§ 257,258, 164,239,263 StGB. 9 Vgl. etwa BVerJGE 19,342 (347); 20, 45 (49); 34,238 (248f.); 28,105 (115f.), BGHSt 29, 244 (250); Peters, StraJprozeß, S. 295. 10 Überblick bei Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn. 51 ff. 11 Vgl. Dazu Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung; Peters, Strafprozeß, § 11 11, 111. 1

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B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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Preis erforscht werden mußl2. Im Hinblick auf die Würde des Menschen, aus seinem Anspruch aufBewahrung bestimmter Geheimnisse und aus der Notwendigkeit der Hinnahme menschlicher Bindungen und Schwächen, aber auch aus Interessen der Allgemeinheit, soll die Wahrheit nur in "sittlich einwandfreier Fonn" erforscht werden 13. Beschuldigte, Angeklagte und auch Zeugen sind von dem moralischen Grundsatz wahrhaftig auch dann zu sein, wenn die Wahrheit sie belastet, befreit l4, sie sind nicht verpflichtet sich selbst zu bezichtigen 15. Daneben existieren zur Sicherung eines justizfönnigen Verfahrens 16 zahlreiche weitere Beweisverbote 17 • Wer trotz der Möglichkeit zur Aussageverweigerung aussagt, muß wahrhaftig sein; nur die Aussageverweigerung, das Schweigen, nicht aber die Lüge ist als Ausnahme vom Prinzip der Wahrheitsfindung erlaubt 18. Auch das materielle Strafrecht schützt das Prinzip der Wahrheit und Wahrhaftigkeit durch strafrechtliche Sanktion der Unwahrhaftigkeit, der Täuschung und Irrtumserregung in zahlreichen Vorschriften l9 , ja nonniert für einen eng begrenzten Bereich sogar die Verpflichtung zur Aufdeckung und Anzeige der Wahrheit und bestraft das Unterlassen solchen Handelns 20 .

B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht - Ein historischer Überblick Daß es dem Staat nicht gestattet ist, auch nicht zur Durchsetzung seines Strafanspruchs, die Wahrheit um jeden Preis und mit allen Mitteln zu erforschen, haben die vorstehenden Ausführungen gezeigt. Muß es aber nicht dem Bürger gestattet sein, immer und überall wahrhaftig zu sein und die Wahrheit sagen zu dürfen? Korrespondiert nicht mit der Pflicht niemals zu lügen zugleich ein Recht stets und immer die Wahrheit, auch wenn sie anderen schadet, sagen zu dürfen, ohne der Gefahr strafrechtlicher Sanktionen ausgesetzt zu sein? Wird der Gedanke von Wahrheit und Wahrhaftigkeit als homiletischen Tugenden 21 nicht zerstört, wenn der Staat den Wahrhaftigen bestraft? 12 BGBSt 14, 358 (365); vg!. auch Strate, Rechtshistorische Fragen der Beweisverbote, JZ 1989,176 ff; zur Problematik der Beweisverbote vg!. zuletzt etwa BGB, NJW 1989, 843 = Geppert, JK 89, StPO § 136a/6 m.w.Machw.; BGB, NJW 1989, 2760ff.; dazu Kramer, NJW 1990, 1760 ff; ferner Küpper, JZ 1990, 416 ff,; zum Zivilrecht Werner, NJW 1988, 993ff. 13 Peters, Strafprozeß, S. 82f. 14 Vg!. §§ 136 Abs. 1, 163 a Abs.4, 243 Abs.4, 55 StPO. 1S Vg!. Kleinknecht / Meyer, StPO, § 55 m. w. Nachw. 16 Vg!. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rn 32. 17 Vg!. Kleinknecht/Meyer, StPO, Ein!. Rn. 50ff. 18 Vg!. Kleinknecht / Meyer, StPO, § 52 Rn. 21. 19 Etwa §§ 263ff., 142, 145 d, 164 auch 266, 267 StGB. 20 § 138 StGB. 21 Dazu Bien, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, unter Lüge, Sp!. 533.

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

Interessante Anhaltspunkte zu diesen Fragen liefert die Geschichte des Kampfes um die Zulässigkeit der Wahrheitseinrede und des Wahrheitsbeweises 22 im strafrechtlichen Ehrschutzverfahren. Bei der dort bis heute 23 sehr kontrovers geführten Diskussion über die Frage, ob der Beweis der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung eine Bestrafung wegen Ehrverletzung grundsätzlich ausschließt, sind bereits sehr früh Argumente vorgebracht worden, die auch heute noch Bestandteil der modernen Persönlichkeitsrechtsdiskussion sind. Die Frage, ob die Wahrheit eine Injurie sein kann, beschäftigt Gesetzgebung und Lehre, seit dem man sich mit dem Delikt der Injurie befaßt 24 . Die Geschichte zeigt zunächst deutlich, daß die Frage im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedlich beurteilt worden ist und abhängig war von den jeweiligen sittlichen Volksanschauungen und Kulturstufen 2s . So hat bereits Jhering bei seiner Abhandlung über die actio injuriarum von einem Stück innerer Kulturgeschichte des römischen Volkes gesprochen 26 . Die Geschichte zeigt aber zugleich, daß jede der hier interessierenden Rechtsordnungen grundsätzlich die Wahrheitseinrede anerkannte, wenn auch die Ausnahmen zum Teil sehr weit waren 27 . Die gegenläufigen Positionen lassen sich an zwei Zitaten besonders deutlich machen: "Man sollte denken, die Wahrheit zu sagen sey immer gut und nützlich, und eben deshalb müßte es auch uneingeschränkt erlaubt seyn. Gleichwohl ist ein merkwürdiger Fall vorhanden, wo sogar - sollte man es denken - die Gesetze ausdrücklich verbieten, die Wahrheit zu sagen. "28 "Niemand hat das Recht, über den physischen oder moralischen Werth eines Anderen nach Willkür zu urtheilen, wenn dies Urtheil den guten Namen, die Ehre des Anderen schmälert. Nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen, wobei der Nutzen für die menschliche Gesellschaft das Motiv ist, kann ein solche Urtheil erlaubt sein: außerdem (sonst) ist es eine Verletzung der äußeren Rechte des Beurtheilten, ein moralicher Diebstahl"29 22 Einen Überblick liefert Rogall, Grundfragen eines strafrechtlichen Schutzes der Privatheit, § 6 11. 23 Vgl. Schünemann, ZStW, Bd. 90,11 (33ff.). 24 Vgl. KohlerGoltdA Bd. 47 (1900),1 ff., 98ff.; Hertel, Der Wahrheitsbeweis, S. 12; zur Bedeutung der injurie im Zivilrecht, vgl. Holzschuher, Theorie und Casuistik des Gemeinen Zivilrechts (1881), §§46,47. 25 Vgl. bereits obiges Zitat von Kohler, 1. Kapitel nach Fn. 39. 26 In: JherJb. 23 (1885), 155 (157). 27 Vgl. Kohler, GoltdA 47 (1900), 1ff., 98ff.; Köstlin, GoltdA 3 (1855), 306ff.; Weber, Ueber Injurien und Schmähschriften, 1793, 1. Abthl. S. 169 ff.; Friedmann, Das Recht der Wahrheit; Mittermaier, in: Archiv des Criminalrechts (1839),1 ff.; Hertel, Der Wahrheitsbeweis; Gerhard, Der Beweis der Wahrheit; Henning, Die Zulässigkeit des Wahrheitsbeweises; Beling, Wesen Strafbarkeit und Beweis der üblen Nachrede; Delaquis, in: Festgabe für OUo Gierke zum Doktor-Jubiläum 21. August 1910, S. 155 ff.; Bähr, in: JherJb. 26, 212 ff; Liebmann, in: OZfStrafR 1 (1910), 205ff.; Lilienthai, DJZ 1925, 704ff.; ders., DJZ 1926, 1317 ff.; Schmiering, Über die Entwicklung der Lehre von der Zulassung des Wahrheitsbeweises. 28 Nicolai, Einige Zweifel über die Gesetze, wodurch die Befugniß über die moralische Beschaffenheit anderer zu urtheilen, eingeschränkt wird, 1801.

B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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In dieser Kontroverse zwischen Nicolai und Goßler findet sich bereits vor mehr als 180 Jahren das Problem formuliert, das bis heute Rechtsprechung und Lehre beschäftigt. Im folgenden soll den teils in Vergessenheit geratenen Argumenten nachgegangen werden, die gegen und für die Zulassung des Wahrheitsbeweises oder für eine mehr oder weniger weite Beschränkung desselben vorgebracht wurden. I. Gründe gegen die Zulassung des Wabrbeitsbeweises 30 Hintergrund der Ausschluß- und Beschränkungsargumente und Vorschläge im deutschen Rechtskreis war die Rezeption des römischen Rechtes, das dem Wahrheitsbeweis weniger günstig gegenüber gestanden haben soll als das germanische 31 , Einflüsse aus dem kanonischen Recht 32 , sowie sittliche und moralische Vorstellungen. Man befürchtete, daß eine weitgehend unbeschränkte Freiheit die Wahrheit sagen zu dürfen, den Frieden in der bürgerlichen Gesellschaft zerstöre, das Vertrauen in die ehelichen Verhältnisse vernichte, Freunde und Gesellschafter entzweie und leicht das Lebensglück eines Mannes vernichten könne, wenn jede Handlung, die dieser in einer schwachen Stunde beging, unbarmherzig der Öffentlichkeit preisgegeben werden dürfe 33 . Man sah die Gefahr, daß die Wahrheit oft unmoralisch eingesetzt werden könne oder nur an die Öffentlichkeit gebracht werde, um sich Vorteile zu verschaffen und dem Dritten Schaden zuzufügen oder aus bloßer Klatschsucht etc 34 • Man meinte, daß ein ungeeignetes Tribunal zum Richter über die Handlungen des Bürgers bestellt werde, da die Öffentlichkeit ohne die nötigen Fähigkeiten einer gründlichen Prüfung der Wahrheit unbarmherzig mitrichte, was zu großen Nachteilen für den Geschmähten führe, auch wenn der Schmäher letztlich die Wahrheit seiner Behauptungen nicht beweisen könne 35 • Zudem könne durch die Zulassung des Wahrheitsbeweises auch jedes bloß unmoralische Verhalten vor Gericht gezogen werden, obwohl nicht jede Sünde, jedes unmoralische Verhalten, ein Verbrechen sei und somit auch nicht vor Gericht erörtert werden sollte: Goßler, Ueber Injurien, 1808. Vgl.etwa den Überblick bei Mittermaier, Archiv des Criminalrechts (1839), 1 (20); Köstlin, GotdA. 3 (1855), 306 (320tT.); Gerhard, aaO., S. 18ff.; Weber, Ueber Injurien und Schmähschriften, 1. Abthl. S. 171 ff. Hertel, aaO., S. 57 tT. 31 Vgl. Kohler, GoltdA 47 (1900),1 (132). 32 Vgl. Kohler, GoltdA. 47 (1900), 1 (123): "Die Einschränkung der Wahrheitseinreden geht vornehmlich auf das kanonische Recht zurück; es war kirchliche AutTassung, dass ein nicht an die ÖtTentlichkeit gelangtes Vergehen womöglich ausserhalb der ÖtTentlichkeit gesühnt und ausgeglichen werden solle." 33 Zu solchen u. ähnlichen Argumenten vgl. etwa die Nachw. bei Köstlin, GoitdA 3 (1855), 306 (317f.); Mittermaier, Archiv des Criminalrechts (1839), 1 (20,23). 34 Vgl. Nachw. bei Hertel, aaO., S. 58; 35 Vgl. Nachw. bei Mittermaier, Archiv des Criminalrechts (1839),1 (21 f.); Gerhard, aaO., S. 23. 29

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

"Wenn in schwacher Stunde ein Ehemann die dem anderen Ehegatten schuldige Treue brach, wenn ein Mädchen dem Geliebten Freiheiten gestattete, so kann jeder Boshafte oder Mutwillige, der durch einen Zufall von solchen Szenen Zeuge wird, schonungslos den Schleier des Geheimnisses von der Tat reißen und durch seine Beweisführung vor Gericht den ehelichen Frieden jedes Ehemannes, das Lebensglück und den Ruf dieses Mädchens zerstören."36

Man meinte ferner, Verbrechen müßten vor Gericht angezeigt werden, da es nur Aufgabe der Richter sei, über solche zu urteilen, bloß unsittliches, unmoralisches Verhalten eines Dritten oder gar bloße Schwächen oder Gebrechen desselben gehörten nicht in das Forum der Öffentlichkeit, da weder der Staat noch ein Dritter daran Interesse haben könne und der Staat nicht befugt sei, solche Tatsachen "als der innersten Individualität eines Menschen gehörig vor die Öffentlichkeit zu ziehen"37. Durch die Zulassung der exceptio veritas würden auch "die Vorstellungen aller Völker zerstört, welche das Privatleben der Bürger, das Innere der Familien als ein Heiligtum ansehen, in das der Staat selbst nicht eindringt, wenn nicht die wichtigsten Gründe dies erfordern, und daß er daher auch vor der Ausspäherei und der Klatscherei Dritter, unbefugter Personen schützen muß."38

Auch widerspreche die Befugnis, jede Handlung eines Dritten in die Öffentlichkeit zu tragen, dem Gebot des Christentums. Ein nicht an die Öffentlichkeit gelangtes Vergehen müsse auch außerhalb der Öffentlichkeit gesühnt und ausgeglichen werden 39 ; es widerspreche den Geboten der christlichen Liebe und Moral, die Sünden und Schwächen anderer zu offenbaren 40 und darüber vor Gericht den Beweis zuzulassen, insbesondere sei es verwerflich, jemandem, der eine begangene Straftat verbüßt habe, diese noch nach Jahren redlicher Führung vorzuhalten 41 • 11. Einschränkungsversuche des Wahrheitsbeweises

Aus den dargelegten unbestreitbaren Gefahren der Zulassung eines unbeschränkten Rechts, die Wahrheit wissen und sagen zu dürfen, sind im Laufe der Jahrhunderte in den verschiedenen Rechtsordnungen zahlreiche Ausnahmen von der grundsätzlichen Zulässigkeit der Wahrheitseinrede normiert oder von der Literatur gefordert worden. So versuchte man die Zulässigkeit des Wahrheitbeweises aus objektiven und subjektiven Gesichtspunkten 42 , nach dem 36 Mittermaier, aaO. S. 23, mit Nachw. zu dieser Auffassung. 37 Vgl. dazu Köstlin, aaO. S, 317. 38 Nachw. bei Mittermaier aaO. S.23. 39 Vgl. Nachw. bei Kohler, GoltdA 47 (1900), 1 (123,132); Mittermaier aaO, S. 5f.; Hertel, aaO., S. 14. 40 Vgl. Nachw. bei Hertel, aaO., S. 14. 41 Vgl. dazu Weber, Ueber Injurien und Schmähschriften, S 179f. 42 Vgl. Nachw. bei Köstlin, GoltdA 3 (1855), 306 (308).

B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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Inhalt des Gesagten etc 43 • einzuschränken. Dabei haben sich im Laufe der Jahrhunderte im wesentlichen sechs Einschränkungsgruppen herausgebildet, die sich teils überschneiden und die in sich selbst eine Vielfalt von Variationen aufweisen. Im Mittelpunkt der Einschränkungsversuche stand dabei der Schutz vor "zu viel Öffentlichkeit"44. Im einzelnen handelt es sich um folgende Gruppen: 4S (1) Das Aussprechen der Wahrheit sollte dann als Ehrverletzung strafbar sein, wenn an der Mitteilung der ehrenrührigen Tatsache weder ein öffentliches noch ein berechtigtes Privatinteresse bestand, d. h. der Wahrheitsbeweis sollte nur dann zulässig sein, wenn die mitgeteilte Wahrheit sehr wichtig sei und dem ganzen an der Bekanntmachung gelegen sei 46 • Dies wurde zum Teil nur dann angenommen, wenn die Wahrheit dem Staat nützlich sei, was nur bei der Mitteilung schwerer Kriminalstrafen der Fall sei 47 . Andere wollten den Wahrheitsbeweis nur bei gerichtlicher Anzeige von Straftaten zulassen 48 • Wieder andere schlossen ihn bei Antragsdelikten ganz aus 49 • Andere hielten es für ausreichend, wenn der einzelne einen triftigen Grund habeSO, eine ehrverletzende Wahrheit zu offenbaren, denn es dürfe nur niemand ohne Grund verletzt werden s1 . (2) Das Aussprechen der Wahrheit sollte immer dann als Ehrverletzung strafbar sein, wenn die ehrenrührige Tatsache öffentlich vorgebracht wurde, d. h. der Beweis der Wahrheit sollte dann ausgeschlossen sein, wenn der Äußernde die Wahrheit da nicht vorbringen durfte, wo er sie äußerte, z. B. wenn ein Prediger öffentlich gewisse Personen namentlich herabwürdige S2 oder bei Veröffentlichungen in der Presse S3 . (3) Das Prinzip des Informationsverbots sollte dann gelten, wenn eine absolute Pflicht zur Verschwiegenheit bestand. Der Wahrheitsbeweis sollte dann ausgeschlossen sein, wenn der Äußernde nach seinen Verhältnissen nicht befugt sei, gewisse Dinge zu sagen, d. h. wenn er einer vollkommenen Pflicht zur Geheimhaltung unterliege 54 (z. B. Berufsgeheimnisse). Nachw. bei Hertel, aaO., S. 61 ff. Vgl. etwa Eltzbacher, Schutz vor der Öffentlichkeit. 45 Vgl. auch die Übersichten bei Köstlin, GoltdA 3 (1855), 306 (323 ff.); Mittermaier, Archiv des Criminalrechts (1839), 1 (31 ff.); Hertel, aaO., S. 61 ff. 4ö Nachw. bei Weber, Ueber Injurien und Schmähschriften, S. 176; Köstlin, GoltdA 3 (1855), 306 (320,323); Hertel, aaO., S. 14f.; Gerhard, aaO., S. 21. 47 Nachw. bei Kohler, GoltdA. 47 (1900) , 1 (124f.). 48 Nachw. bei Weber, aaO., S.177. 49 Nachw. bei Hertel, aaO., S.66ff. 50 Nachw. Bei Köstlin, aaO., S. 323. 51 Henning, aaO., S. 85,96 m. w. Nachw. 52 Vgl bei Weber, Ueber Injurien und Schmähschrifet, S. 173 f.; dazu Köstlin, aaO. S. 310, 323 m. w. Nachw.; Hertel, aaO., S. 104ff. 53 Vgl. Mittermaier, aaO S. 40ff.; Pester, Der Schutz des Privatlebens. 43

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4 Brossette

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

(4) Das Prinzip des Informationsverbots sollte dann gelten, wenn es um die Mitteilung besonders sensibler Daten ging, d. h. der Wahrheitbeweis sollte immer bei Mitteilung von Privat- und Familiengeheimnissen ausgeschlossen sein. Diese Auffassung wurde im franz. und österreichischen Recht auf der Grundlage des franz. Sprichwortes" La vie privee doit etre muree" vertreten 55, wobei jedoch auch hier hauptsächlich an die öffentliche Mitteilung 56 solcher Tatsachen gedacht war. Der Wahrheitsbeweis sollte nur bei Beamten und sonstigen im öffentlichen Leben stehenden Personen zulässig sein 57. (5) Das Aussprechen der Wahrheit sollte dann als Ehrverletzung strafbar sein, wenn es um die Mitteilung bereits gesühnter Straftaten ging, d. h. der Wahrheitsbeweis sollte bei Mitteilung von Straftaten, die der Betroffene bereits verbüßt habe 58 , von denen er freigesprochen worden sei oder von denen er begnadigt sei oder wenn die Straftat verjährt sei 59, unzulässig sein. (6) Das Aussprechen der Wahrheit sollte dann als Ehrverletzung strafbar sein, wenn die Mitteilung der Wahrheit unlauteren Motiven und Zielen diente, d. h. der Wahrheitsbeweis sollte dann ausgeschlossen sein, wenn die Wahrheit mit der Absicht kundgetan wurde, zu beleidigen, wenn mit "animo injurandi" gehandelt wurde, wobei an das Vorliegen des "animo injurandi" sehr unterschiedliche Anforderungen gestellt wurden 60 ; allgemein sei der Wahrheitsbeweis ausgeschlossen, wenn sich der Äußernde in der Art des Ausdrucks oder der Bekanntmachung unlauterer Mittel bediene 61 (Schmähungen). Die meisten der genannten Einschränkungen, mit denen ein Mißbrauch eines Rechts der Wahrheit verhindert werden sollte, und die sich in der Diskussion um den Schutz der Persönlichkeit wiederfinden, vermochten sich in dieser Form im Bereich des strafrechtlichen Ehrenschutzes jedoch nicht durchzusetzen. Vielmehr hat sich in unserer Rechtsordnung, ausgehend von Matthäus 62 , Weber 63 , Mittermaier 64 , Köstlin 65 u.a. das "Recht der Wahrheit" durchgesezt. Auf die Vgl. Nachw. bei Weber, aaO. S. 171 f.; dazu Köstlin, aaO. S. 323; Kohler, aaO. S. 135. Vgl. dazu Köstlin, aaO. S.313, 315; Kohler, aao. S. 131 ff.; Hertel. aaO., S.22f.; Friedmann, aaO., S. 7; Lammasch, Diebstahl und Beleidigung, S. 47ff.; Henning, aaO., S. 87 ff.; Giesker, Das Recht des Privaten an der eigenen Geheimsphäre, S. 168, 170; Maass, Information und Geheimnis im Zivilrecht, S. 12f. S6 Vgl. nur Köstlin, aaO., S. 315. S7 Vgl. nur Hertel, aaO., S.22ff.,63f. 58 Vgl. dazu Weber, aaO. S.179f.; Köstlin, aaO S. 330; Hertel, S.18, 57f.; Henning, aaO., S. 91 ff.; Kohler, aaO. S. 139, bejaht auch hier die Zulässigkeit des Wahrheitsbeweises, meint aber in solchen Fällen könne ein Zivildelikt nach § 826 BGB gegeben sein. S9 Dazu Weber, aaO., S. 179ff.; Köstlin, aaO., S. 324ff.; Hertel, aaO., S. 17f., 106ff. 60 Dazu nur Köstlin, aaO., S. 324ff. 61 Vgl Weber, aaO., S. 171, 175; dazu Köstlin, aaO., S. 324. 62 De criminibus, ad lib. XLVII, tit IV c. 1 Nr.8, zitiert nach Friedmann, aaO., Fn.1. 63 aaO. 64 aaO. 65 aaO. 54

S5

B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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einzelnen heute bestehenden Ausnahmen 66 soll hier nicht näher eingegangen werden. Vielmehr ist zunächst interessant, welche Argumente für eine recht weite Zulassung des Wahrheitsbeweises, also die Meinung, daß eine wahre Tatsachenbehauptung grundsätzlich nicht als Ehrdelikt strafbar sein dürfe, ausschlaggebend waren.

In. Gründe für die Zulassung des Wahrheitsbeweises Vom juristischen Ansatzpunkt her sind im wesentlichen drei verschiedene Wege beschritten worden, um den Wahrheitsbeweis zu rechtfertigen. Diese Begründungen verdienen Aufmerksamkeit, da sie in vielerlei Hinsicht den Begründungen ähneln, die die modernen Privatheitstheorien 67 heute verwenden und als neue Erkenntnisse zu verkaufen versuchen, wenn auch zum Teil mit genau umgekehrten Vorzeichen, als dies in der Diskussion um den Wahrheitsbeweis geschehen ist. 1. Das absolute Recht, die Wahrheit frei und offen sagen zu dürfen

Der weitestgehende Ansatzpunkt ist das genaue Gegenteil dessen, was heute zum Teil unter dem Recht am eigenen Datum oder dem sog. Recht auf inforrnationelle Selbstbestimmung verstanden wird 68 , nämlich das Recht, die Wahrheit offen und frei sagen zu dürfen. Köstlin hat dieses Recht, das zuvor auch schon von anderen vertreten wurde 69 , wie folgt forrnuliert7°: "Jene Regel, daß die in der Form nicht erzedirende Beschuldigung wahrer,ehrenrühriger Thatsachen an sich unsträflich sei, ist nun aber auch in der That nur die einfache Konsequenz des nicht zu verkümmernden Rechts der freien Rede. Die Befugnis, die Wahrheitfrei und offen zu sagen, ist ein absolutes Recht der Persönlichkeit, wie das Recht der Denkfreiheit, wie das Recht des freien Gebrauchs ihrer körperlichen Organe. Von diesem Rechte ist als dem Prinzipe auszugehen ..."

Vgl. die Nachw. in den einschlägigen Kommentaren zu §§ 190,192 StGB. Zum Zivilrecht vgl. etwa Giesker, Das Recht des Privaten an der eigenen Geheimsphäre; Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht; Maass, Information und Geheimnis im Zivilrecht; Huber, in: Studium Generale 23 (1970), 769ff.; Jäggi, in: ZSR 79 (1960 II), 133 aff.; zum Verfassungsrecht v~l. Salzwedel, in: Gedächnisschrift für Hll;~s Peters, S.756ff.; Scholler, Person und Offentlichkeit; Evers, Privatsphäre und Amter für Verfassungsschutz; Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre; zum Strafrecht vgl., Henkel, in: 42. DJT., Bd. H, 1957, SD 99ff.; Gallas, ZStW 75 (1963), 16ff'; Kienapfel, Privatsphäre und Strafrecht; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft; Schünemann, ZStW 90 (1978), 11 ff.; Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre; sh. ferner etwa Westin, Privacy and Freedom; Gavision, Privacy and the Limits of Law; Luhmann, Grundrechte als Instituition; Suhr, Entfaltung der Menschen durch den Menschen; u. a. 68 Dazu ausführlich unten § 10 C. 69 Matthäus, aaO.; vgl. auch Schlettwein, vgl. oben § 2 A 1. 70 Köstlin, aaO., S. 316. 66 67

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

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Köstlin sah dieses absolute Recht, "die Wahrheit frei und offen sagen zu dürfen", das er wohl dem Naturrecht entnimmt und als Recht der Persönlichkeit ansieht, als nicht einschränk bar an durch bloße entgegenstehende Interessen des einzelnen oder der Allgemeinheit, sondern nur durch ein entgegenstehendes Recht. Solche entgegenstehenden Rechte ließen sich nicht aus der Moral, der Religion, aus Rechten des Staates oder der Gesellschaft ableiten 71. Auch bestehe kein anderes Recht der Persönlichkeit, wodurch das Recht, die Wahrheit sagen zu dürfen, ausgeschlossen sein könne 72 : "Gewiß ist nun vor Allem, daß es kein anderes Recht der Persönlichkeit giebt, wodurch jenes Recht ausgeschlossen würde. Es müßte das Recht sein, andere vom Urtheil über schlechte Handlungen, die man begeht, auszuschließen. Denn wollte man sie etwa auch vom Urtheil über die löblichen zurückhalten, so wäre die Welt ein vollkommenes Auburnisches Zuchthaus. Indessen fällt es den Gegnern keineswegs ein, fremdes Lob über die eigenen Handlungen abschneiden zu wollen; nur der Tadel soll abgeschnitten sein; nur die unsittliche und unrechtliche Handlung soll das Vorrecht haben, von einem Dritten nicht auf die Zunge genommen zu werden. Wahrlich ein sonderbares Servitut, das man dem Rechte der freien Gedankenmitteilung auferlegen will! Man bedenkt dabei gar nicht, daß man das ganze Fundament des Ehrbegriffs zerstört, welcher eben die volle Freiheit des unbefangenen Urtheils der Gesellschaft über die sittliche Realität ihrer Mitglieder zur naturwesentlichen Voraussetzung hat. Jedenfalls müßte aber mit dem Nachsagen der schlechten Handlungen auch das Nachsagen der guten als verdammlieh erklärt werden. Denn wenn es richtig wäre, daß das, was (wie man sagt) der innersten Indivudialität des Menschen angehört, nicht vor das Forum der Öffentlichkeit gezogen werden dürfe, so würde dies für den einen Fall so gut wie für den anderen gelten."

Die Auffassung Köstlins, daß es ein absolutes Recht gebe, die Wahrheit sagen zu dürfen, ist allerdings auch bei den Befürwortern des Wahrheitsbeweises auf zum Teil sehr scharfe Kritik 73 gestoßen, und vermochte sich in der von ihm behaupteten Absolutheit auch in unserem Rechtskreis nicht durchzusetzen. So führt Binding aus 74 : "Solche Rechtsmonstra, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen, haben nie bestanden und werden nie bestehen: Sie sind nur erheiternde Konfusionsprodukte".

Andere haben Bindings Kritik an einem Recht, die Wahrheit sagen zu dürfen, als überzogen bezeichnet 75 . Richtig haben sie erkannt, daß es zwar keine aaO, S. 316. aaO, S. 317. 73 Vgl. etwa Henning, aaO., S. 85, der die Auffassung, die Wahrheit auf jeden Fall sagen zu dürfen als primitiv bezeichnet und im Anschluß an Kohlrausch von einem Wahrheitsfanatismus spricht; weitere Nachw. bei Pester, aaO., S. 25 in Fn. 64. 74 Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, Leipzig 1892, S. 24. 75 Etwa Hertel, aaO., S. 53; vgl. auch Urteil vom 13.10.1880, RGSt 2,379 (381): "Der Satz, daß der Beweis der Wahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache die Bestrafung aus § 186 ausschließt, beruht auf der Anerkennung des Rechts die Wahrheit sagen zu dürfen"; sh. auch Giesker, aaO., S. 126. 71

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B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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schrankenlose Befugnis geben kann, die Wahrheit sagen zu dürfen - schrankenlose Befugnisse existieren überhaupt nicht -, aber sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß es auf jeden Fall überall dort erlaubt sein müsse, die Wahrheit zu sagen, wo der Staat das Aussprechen derselben nicht ausdrücklich verboten habe; insoweit könne von einem Recht die Wahrheit zu sagen, gesprochen werden. Wo dieses Recht seine Grenzen finde, bestimme der Gesetzgeber. Bei der Festsetzung der Grenzen der Freiheit, die Wahrheit sagen zu dürfen, habe er die in Betracht kommenden Interessen, soweit diese widerstreitender Natur seien, gegeneinander abzuwägen 76. Dabei sei grundsätzlich der Wahrheit als schützenswertes Gut der Vorrang einzuräumen 77. 2. Wahrheit kann die Ehre nicht verletzen 78

Der zweite Ansatzpunkt zur Rechtfertigung des Wahrheitsbeweises wurde im Wesen der Beleidigung als Delikt gegen die Ehre 79 gesehen. Wer die Wahrheit Etwa Mittermaier, aaO, S. 1 f; Kohler, aaO. 134ff.; Hertel, aaO., S. 54. Etwa Kohler, aaO., S.119f. 78 Auch im Zivilrecht geht die Meinung dahin, daß das Aufstellen und Verbreiten wahrer Tatsachen grundsätzlich keine Ehrverletzung ist, vgl. etwa Weitnauer, DB 1976, 1413: "Das Aufstellen und Verbreiten wahrer Behauptungen tatsächlicher Art ist erlaubt; man kann den Gedanken auch so formulieren, daß die Wahrheit ein absoluter Rechtfertigungsgrund für die mit der Äußerung verbundene Ehrverletzung ist. Was wahr ist, darf man sagen und muß man sagen dürfen. Die alte englische Rechtsparömie "The greater the truth, the greater the libel" hat zwar viel an psychologischer Richtigkeit für sich, kann aber nichts für die Rechtswidrigkeit der Äußerung ergeben. Die einzige Ausnahme, die gemacht werden muß, beruht nicht auf Gründen des Ehrenschutzes, sondern betrifft die Mitteilung aus dem Privatleben, wofür der Lebach-Fall als Beispiel dienen kann"; vgl. ferner Erman-Weitnauer zu§ 12 Rn. 37; MK-Schwerdtner, § 12 Rn 252. 79 Der EhrbegrifTist und war sehr umstritten, vgl. Kohler, aaO. S. 1 fT. "Die Ehre, als die innere Würde einer Person, ist überhaupt unantastbar; sie besteht kraft der Persönlichkeit und kraft der Art unserer Bethätigung als Persönlichkeit; sie ist unabhägnig von der Anerkennung anderer: ... " ... "Die innere und objektive Ehre ist zunächst Ausdruck des Werthes, den dem Menschen die sittliche Menschenwürde gewährt; diese beruht darauf, dass der Mensch dazu bestimmt und dazu geeignet ist, nicht als Naturwesen dem Naturtriebe zu dienen, sondern mit Selbstbestimmung (Herv. v. Verf.) gewisse Grundsätze zu verfolgen, die den göttlichen Zielen des Menschengeschlechts entsprechen, Grundsätze, die wir als sittliche Grundsätze bezeichnen, die sich zwar in verschiedenen Zeiten wandeln und wechseln können, die aber jeweils den Grad der Kultur und die Art der Bildung des Volkes widerspiegeln."; ders. S. 3 "Von der objektiven Ehre wohl zu unterscheiden ist die subjektive Ehre, d. h. die Anerkennung der Mitwelt, also die in der Mitwelt lebende Meinung von der Würdigkeit und dem Werthe der Persönlichkeit, ... "; Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Kapitel IV, Von dem was einer vorstellt, S. 78 "die Ehre ist, objektiv die Meinung anderer von unserem Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung"; Maurach/ Schroeder, Strafrecht BT, Teilband 1, 6. Aufl. 1977, S. 199, "Die Ehre ist das subtilste, mit den hölzernen Handschuhen des Strafrechts am schwersten zu erfassende und daher am wenigsten wirksam geschützte Rechtsgut unseres Strafrechtssystems"; vgl. ferner Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 1892; Engelhardt, Die Ehre als Rechtsgut im Strafrecht, 1921; Hirsch, Ehre und Beleidigung; Grundfragen des strafrechtlichen Ehrenschutzes, 1967; Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915; 76

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

sage, könne an sich nie beleidigen, denn die Aussage der Wahrheit kann, da sie die Ehre des anderen gerade in ihrem rechten Licht erscheinen läßt, nicht als eine Verunglimpfung dieser Ehre, als eine Mißachtung des anderen angesehen werden 80. Insoweit steht das Recht, die Wahrheit zu sagen, neben bzw. über dem Recht auf Achtung der Person. 81 So schreibt Hertel 82 : "Man könnte daher nur dann in der bloßen Erzählung dieser Tatsachen schon eine Beleidigung finden, wenn schlechthin jedermann einen Anspruch darauf hätte, daß seine Ehre nach außen in einem günstigeren Licht erscheint, ganz gleichgültig, ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht. Einen solchen Anspruch kann aber eine, auf gesunder Basis beruhende Gesetzgebung nicht anerkennen, noch viel weniger denselben aus dem Rechte des einzelnen auf Schutz gegen widerrechtliche Angriffe auf seine Ehre herleiten und Verletzungen derselben unter dem Gesichtspunkt der Ehrkränkung bestrafen. Denn der Betroffene hat durch seine Äußerung nicht eine unbefleckte Ehre angetastet, sondern nur auf einen schon vorhandenen Makel an dieser Ehre hingewiesen. Die Ehre, die durch das Vorliegen einer derartigen Tatsache eine Einbuße erleidet, ist eben in Bezug auf die Erzählung dieser Tatsache gleichsam ein untaugliches Objekt für eine Beleidigung geworden. Denn es fehlt in diesem Falle an der Ehre bzw. an der Freiheit von Unehre, die vorhanden sein müßte, damit der Vorwurf zur Beleidigung werden könnte." 3. Interessenabwägung spricht rur die Wahrheit

Eine dritte Auffassung vertrat den Standpunkt, daß es weder ein absolutes Recht gebe, die Wahrheit sagen zu dürfen, noch die Wahrheit einer Tatsache stets eine Ehrverletzung ausschließe 83 • Vielmehr könne eine Erklärung umso wirksamer sein,je mehr sie die Wahrheit hinter sich habe. Dahinter stand der aus dem englichen Recht stammende Grundsatz ". The greater the truth, the greater the Mel" 84. Letztlich könne die Frage, ob die Wahrheit den Vorzug verdiene, nur auf Grund einer Interessenabwägung beantwortet werden, dabei seien die Gefahren, die die Wahrheit für die Ehre des einzelnen mit sich bringe, mit den Interessen der Gesellschaft und des anderen, dem die Befugnis genommen werde, die Wahrheit zu sagen oder zu erfahren, abzuwägen 8s • TenckhoJf, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systhematik der Beleidigungstatbestände, 1974; einen Überblick liefert Geppert, Jura 1983, 530 (531 f.) m.w.Nachw. 80 Vgl. RGSt 3, 330; RG, DR 1944, 768; KG, JW 1930, 2579, Nr.5; SK-Rudolphi, § 192 StGB, Rn. 1; LK-Herdgen, § 192 StGB, Rn. 2; Maurach-Schroeder, BT 1, S. 224; unklar Kohler, aaO S. 119f.; a.A etw LK-SchäJer, StGB, 8. Aufl., § 192 II 2 b, der in dem Recht die Wahrheit zu sagen eine naturrechtliche Phantasie sieht. 81 Vgl. Klee, Das Recht der Wahrheit als Grundprinzip des § 193 StG B, in: Festgabe für Reinhard von Frank, Neudruck der Ausgabe Tübingen 1930, 1969, S. 365 (370): "Im Ergebnis ist dem RG (Bd.25 S.16) durchaus darin beizutreten, daß es sich um ein besonderes Recht des Täters handelt, das neben bzw. über dem Recht auf Achtung der Person steht". 82 aaO., S. 51 f. 83 So wohl auch Kohler, aaO. S. 119. 84 Dazu Kohler, aaO., S. 127.

B. Wahrheit und Ehrenschutz im Strafrecht

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Trotz dieser unterschiedlichen Ansatzpunkte zur Herleitung eines "Rechts, die Wahrheit sagen zu dürfen" besser der Freiheit, grundsätzlich die Wahrheit sagen zu dürfen, und zwar auch dann, wenn sie dazu geeignet ist, das bisher vom Betroffenen in der Öffentlichkeit oder bei Dritten genossene Ansehen herabzusetzen und ihm zu schaden, bestand im Grunde seit der Schrift Webers "über Injurien und Schmähschriften" aus dem Jahre 1793 Einigkeit, daß die Wahrheit ein so wichtiges Gut sei, daß sie sich regelmäßig gegen die Interessen des von der Wahrheit Betroffenen durchsetzen müsse 86 . Zur Rechtfertigung wurden sowohl Gründe des Gemeinwohls als auch die privaten und geschäftlichen Interessen des einzelnen angeführt 87 . Bei den Gründen des Gemeinwohls stand eine Überlegung im Vordergrund, die in der modernen Diskussion um den Datenschutz wieder an Bedeutung gewonnen hat, nämlich die Überlegung, daß ein zu weit getriebener Ehrenschutz zum "Tatenschutz"88 werden könne. Mit Recht wurde hervorgehoben, daß gerade das öffentliche Wohl die Aufdeckung von Übeltaten erfordere; daß durch die Bestrafung wahrer Beschuldigungen eine Verpflichtung zur Verstellung und zur Heuchelei begründet werde, zum Schutze des Lasters und der Korruption 89 ; daß damit das Gesetz der Immoralität einen Freibrief ausstellen würde, denn wer im Verborgenen unsittlich handle, brauche nicht zu befürchten, sich die Mißachtung weiter Kreise zuzuziehen, da es verboten wäre, die von ihm begangenen Schlechtigkeiten anderen mitzuteilen, daß es der Billigkeit und dem Volksbewußtsein widerspreche, jemanden zu bestrafen, der jemandem die heuchlerische Maske 90 abgerissen habe, der sich mit der Moral und Tugend brüstete; daß gerade auch die öffentliche Meinung und die Furcht vor derselben ein lebhaftes, mittelbares Interesse des Staates sei, da bei der Unvollkommenheit der menschlichen Charaktere sich die Menschen meist nicht durch hohe ethische Motive leiten ließen, sondern oft durch Erwägungen niederer Art; insbes. der Scheu vor der schlechten Meinung und dem Tadel der Mitmenschen 91 ; daß nicht Vgl. Mittermaier, aaü., S. 1 ff.; Kohler, aaO., S. 120. Weber, aaO., S. 175ff.; Mittermaier, S.316ff.; Friedmann, aaü., S.6f.; Klee, in: Frank-Festgabe, S. 365ff.; Hertel, aaü., S. 51 ff.; Gerhard, aaO., S. 26ff. 87 Vgl. vorstehende Fn. 88 In diese Richtung Weber, aaO., S. 175 ff.; Mittermaier, aaO., S. 26ff.; Köstlin, aaO., S 316; Kohler, aaO., S. 134ff.; Friedmann, aaO., S. 6f.; Hertel, aaO., S. 51 ff.; Gerhard, aaü., S.19ff. 89 Nachw. bei Friedmann, aaO., S.7. 90 Vgl. dagegen die modernen Rollentheorien, die in der "Maske" eine wichtige Schutzbarriere für die persönliche Freiheit sehen und deshalb meinen, der einzelne müsse eine "Maske tragen dürfen"; zu solchen und ähnlichen Anschauungen vgl. die Nachw. bei Rogall, aaO., §§ 14,15; ferner Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 118 ff. insbes. 119: "Es ist wohl kein Zufall, daß der Begriff Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet."; vgl. auch unten im Text § 10 C I, II. 91 Weber, aaO., S. 175; Mittermaier, aaü., S. 26; Hertel, aaO., S. 56; vgl. auch Kohlerin Vorwegnahme von Ansätzen der soge. modernen Rollentheorien: "Ist hiernach der Werth der subjektiven Ehre bedeutend geringer, als man vielfach annimmt, so ist sie doch nicht 85

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

nur Schlechtigkeiten des öffentlichen Lebens, sondern auch des Privatlebens an die Öffentlichkeit müßten, weil das schleichende Gift der Verderbnis, die Unsittlichkeit, die Ausbeutung anderer, Tücke und Niedertracht, Herrschsucht und Rücksichtslosigkeit, schwere Gebrechen des Kulturlebens seien 92 ; daß ein Volk durch die Anforderung, die Wahrheit zu verheimlichen, nicht sittlich gehoben, sondern depraviert werde 93 ; daß die Mitteilung löblicher Taten ihren Wert verliere, wenn jene schändlicher verboten werde 94 ; daß auch vieles dafür spreche, die nur aus Schwatzhaftigkeit, Übermut oder übler Laune erzählten wahren Schlechtigkeiten zuzulassen, da die meisten Schlechtigkeiten auf diese Weise an den Tag kämen 95 ; daß aus solchen Motiven erfolgte Aussagen zwar unsittlich, unmoralisch oder unchristlich sein könnten, sie aber nicht damit zugleich Unrecht seien 96 ; daß die Verpflichtung, jede ehrenrührige Tatsache für sich zu behalten, die Gesellschaft in ein Zuchthaus verwandle 97 ; daß jeder einzelne darauf angewiesen sei, die Wahrheit über seine Mitmenschen zu wissen. So schreibt etwa Hertel 98 : In erster Linie sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, die es geradezu als unumgänglich notwendig erscheinen lassen, daß jedermann die Wahrheit, auch wenn sie für andere nachteilig ist, offen sagen darf, ... denn die Menschen sind auf den Verkehr miteinander angewiesen; sobald sie aber zu anderen Personen in nähere Beziehung treten wollen oder müssen, haben sie ein Interesse daran, über diese Personen die Wahrheit erfahren zu können, und sie werden daher auch vielfach vor Eingehung näherer Beziehungen diesbezügliche Erkundigungen einziehen. So wird der erfahrene Kaufmann, ehe er ein Gesellschaftsverhältnis eingeht, sich nicht bloß über die Vermögenslage und die Geschäftstüchtigkeit der übrigen Gesellschafter, sondern auch über deren sittliche Qualität zu vergewissern suchen, insbesondere darüber, ob sie einen achtbaren Ruf haben oder in dem Ansehen stehen, zu unreellen Machtinationen zu neigen ... Wer sich verheiraten will, hat ein sehr natürliches Interesse daran, über den anderen Teil die Wahrheit zu erfahren, denn den wenigsten wird das Vorleben des anderen Teils gleichgültig sein. Und so gibt es noch zahlreiche andere Lebensverhältnisse und Interessensphären, auf die jede Beschränkung der Möglichkeit, über einen bedeutungslos. Allerdings liegt die Bedeutung auf einer anderen Seite, sie liegt zunächst auf dem Felde der Nützlichkeit: weit davon entfernt, dass die subjektive Ehre den sittlichen Kern des Menschen antaste, ist es zunächst eine kluge Berechnung, welche den Einzelnen veranlasst, sie nicht unberücksichtigt zu lassen; ihr Wert ist ein utilitarer: wer die Achtung anderer Menschen verliert, verliert dadurch an der Möglichkeit, in der Mitwelt weiter zu kommen, er verliert an der Möglichkeit, hier eine solche Rolle zu spielen, wie sie ihm sonst zukommen würde."; ähnlich Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 78f., 82, der Helvetius wie folgt zitiert: "Wir lieben die Ehre nicht um der Ehre, sondern allein um der Vorteile willen, die sie bringt". 92 Kahler, aaO., S. 135; dazu auch Hertel, aaO., S. 90ff. 93 Friedmann, aaO., S.6. 94 Mittermaier, aaO., S. 30ff.; Hertel, aaO., S. 57. 95 Kahler, aaO., S. 135. 96 Hertel, aaO., S. 58f. 97 Köstlin, aaO., S 317; ebenso für das Zivilrecht Giesker, aaO., S.125f. 98 S.54,55.

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anderen die Wahrheit zu erfahren, höchst nachteilig einwirken würde." ... "Es würde allerdings in einem solchen Gemeinwesen, in dem die Erzählung wahrer Thatsachen schlechthin verboten wäre, in der Oeffentlichkeit meist ein tiefer Friede herrschen, und keine Skandalgeschichten würden die Ruhe des Bürgers stören. Allein dieser Zustand wäre für alle gesellschaftlichen und Verkehrsverhältnisse unerträglich. Denn niemand könnte mehr hoffen, die Wahrheit über einen anderen zu erfahren, falls diese der Ehre desselben nachteilig ist, und die Folge wäre eine grosse Unsicherheit in den Verkehrsverhältnissen und ein allgemeines Mißtrauen der Menschen gegeneinander."

Diese zumindest bedenkenswerten Argumente haben den Gesetzgeber veranlaßt und später auch daran festhalten lassen, den Wahrheitsbeweis in unserem Recht weitgehend zuzulassen. Es gibt auch heute ein "Recht die Wahrheit sagen zu dürfen"99. Allerdings hat der Gesetzgeber wegen der genannten Gefahren den Wahrheitsbeweis insoweit beschränkt, als er dem Verleumder das Risiko des Beweises abweichend vom Grundsatz "In dubio pro reo" auferlegt hat 100, womit er den einzelnen verpflichtet, gewissenhaft zu prüfen, ob das Gesagte auch wahr ist (bloße Wahrhaftigkeit soll nicht genügen), den Wahrheitsbeweis bei Vorwurf einer Straftat im Falle eines freisprechenden Urteils (§ 190 S. 2 StGB) ausgeschlossen hat und bei gewissen Exzessen der Wahrheitsäußerung eine Bestrafung nach § 185 StGB zuläßt, § 192 StGBI01, was insbes. bei Mitteilungen aus dem Intim/eben und bestimmten Presseveröffentlichungen angenommen worden ist 102 • Der Wahrheitsbeweis hat dabei eine doppelte Funktion. Er dient der Wiederherstellung der Ehre im Falle des Beweises der Unwahrheit und der Befreiung des "Täters" vom Makel der Lüge im Falle des Beweises der Wahrheit der Behaupteten Tatsache. 103 Aus letztgenanntem Grund kann die" BeweislastregeI" des § 186 StGB auch nicht auf den Widerrufsanspruch im zivilrechtlichen Ehrschutzverfahren übertragen werden. Es widerspricht dem Persönlichkeitsrecht des einzelnen, eine Tatsachenbehauptung zu widerrufen, deren Unwahrheit nicht bewiesen ist, weil er sich sonst ohne Beweis der Lüge bezichtigen müßte. 1M

99 Lackner spricht davon, "daß es im allgemeinen gestattet sein sollte, die Wahrheit zu sagen", § 186 Anm. 6. 100 Kritisch dazu Friedmann, aaO., S. 7ff.; Überblick bei Geppert, Jura 1983, 530 (582); Lenckner, in: SchönkejSchröder, 23.Aufl., § 186 Rn. 16; zur Frage ob die Unwahrheit auch bei § 185 StGB Strafausschließungs-, Rechtfertigungsgrund oder Tatbestandsmerkmal ist, vgl. ders., § 185 Rn. 6, § 186 Rn. 10 m.w.Nachw.; zur andersgelagerten Beweislastverteilung im Zivilrecht sh. BGH, NJW 1985, 1621 fT. 101 Sogen. Formalbeleidigung; typisches Beispiel: Hochzeitgast G erklärt im Hinblick auf die ganz in Weiß gekleidete Braut vor versammelter Mannschaft: "Na ja: die Farbe der Unschuld ist doch wohl nicht am Platz!" G kann den Wahrheitsbeweis führen; als frührer Freund der Braut weiß er, wovon er spricht; weitere Beispiele bei Arzt j Weber, Strafrecht BT, LH 1, S. 167. 102 Vgl. die Nachw. bei Dreher, StGB, § 192 Rn. 2fT. 103 Lackner, StGB, § 186 Anm. 6. 104 BGHZ 69, 181 fT.

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

Das bis heute umstrittene aber anerkannte Recht, "die Wahrheit sagen zu dürfen", ist allerdings, seitdem die §§ 185ff. StGB gelten, nie aus der Schußlinie der Kritik geraten und sah sich immer wieder zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Ein wesentlicher Faktor des ständigen Unbehagens über dieses "Recht" liegt in den immer wieder vorkommenden Übergriffen der Presse und daraus resultierenden Veröffentlichungen aus dem Privat- und Familienleben 105 • Während man vor dem 20. Jahrhundert diesen Gefahren vornehmlich durch die Beschränkung oder gar den Ausschluß des Wahrheitsbeweises entgegenzutreten versuchte, wird seit Beginn des 20. Jahrhundert unter dem Eindruck der Prozesse gegen Maximilian Harden und Fürst Eulenburg ausgehend von Beling 106 auch die Einführung eines Indiskretionsdelikts 107 gefordert, das die Verletzung von Privatgeheimnissen, unabhängig von besonderen Verschwiegenheitspflichten pönalisieren will, wobei jedoch die potentielle Reichweite eines solchen Deliktes sehr unterschiedlich gesehen wird. Zum Teil wird die Bestrafung jeder Weitergabe von Privatgeheimnissen gefordert 108, z. T. nur die öffentliche Indiskretion von Privatgeheimnissen 109, zum Teil nur die Mitteilung "bloßstellender Tatsachen aus dem Sexual- und sonstigen Intimbereich"llo als strafenswert angesehen. Allerdings vermochte sich ein solches Delikt, das über den klassischen Ehrschutz weit hinausgehen würde und als Schutzgut die Privatsphäre im Blick hatte, in unserer Rechtsordnung bisher nicht durchzusetzen, vielmehr ist letztlich dem Recht der Wahrheit mit allen seinen nicht zu leugnenden Gefahren der Vorrang eingeräumt worden 111 , da wie es im Entwurf von 1962 heißt, die "Auffassung, daß man die Wahrheit doch muß sagen dürfen" zu sehr im Volke verwurzelt sei 112. Smend sprach in diesem Zusammenhang von einem "Stück sittlich notwendiger Lebensluft. "113 lOS Vgl. hierzu Eltzbacher, Schutz vor der Öffentlichkeit, Berlin 1913; Pester, Der Schutz des Privatlebens gegen Indiskretionenen im gegenwärtigen und künftigen Strafrecht; Schünemann, ZStW Bd. 90, 11 (34ff.); Arzt, Der Strafrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 142ff. 106 Wesen, Strafbarkeit und Beweis der üblen Nachrede, S. 45ff.; zu den Prozessen gegen Harden u. Eulenburg vgl. Maximilian Jacta (alias Schwinge) Machtkampf und Intrige im Wilhelminischen Deutschland, 1973, 7ff.; zitiert nach Schünemann, ZStW, Bd. 90, 11 (34) in Fn. 66. 107 Vgl. dazu etwa die Nachw. bei Rogall, aaO., § 7; Roeder, in: Festschrift für Reinhart Maurch, 1972, S. 347ff., sowie Schünemann, ZStW Bd. 90, 11 (34ff.). 108 Vgl. etwa Schmidt, ZStw 79 (1967), 741 ff., 795ff. 109 So schon das französische Pressegesetz, vgl. Maass, aaO., S. 17; vgl. auch die verschiedenen Reformvorschläge zum StGB, umfassend nachgewiesen bei Rogall, aaO., § 7. 110 Etwa Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 287 ff. 111 Vgl. Schünemann, ZStw Bd.90, 1 (34ff.); Rogall, aaO., § 7. 112 Vgl. die Diskussion in der großen Strafrechtskommission, umfassend nachgewiesen bei Roga/l, aaO., § 7 III. 4; sh. auch Maass, aaO., S. 60f. 113 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl., 1968,89 (95).

C. Sonstige strafrechtliche Schutzinseln vor der Wahrheit

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Die Ausführungen haben gezeigt, daß die im Strafrecht verrechtliche Moralauffassung unserer Kulturordnung für den Bereich der Weitergabe wahrer Informationen stets von dem Prinzip der Informationsfreiheit ausgegangen ist und auch heute noch von diesem Prinzip ausgeht, weil bei Abwägung von Nutzen und Gefahr der Wahrheit, der Nutzen als höherrangig eingestuft wurde und sich die Überzeugung durchgesetzt hat, daß der einzelne sich an dem messen lassen muß, was er ist. Nicht der Schein ist das Wesentliche, sondern die Wirklichkeit. Zugleich hat sich aber auch gezeigt, daß das Prinzip der Informationsfreiheit, im Sinne eines Rechts, die Wahrheit sagen zu dürfen, auch im Bereich des Ehrenschutzes nicht unbestritten war und Einschränkungen erforderte, insbes. bei Mitteilungen an einen individuell nicht bestimmten Personenkreis, also die Öffentlichkeit oder bei Mitteilungen aus dem Privat- und Familienleben oder aus dem Gedanken der Resozialisierung, ging.

C. Sonstige strafrechtliche Schutzinseln vor Wahrheit

- zugleich ein historischer Überblick -

Bestimmte, eng begrenzte Bereiche haben Strafgesetzgebung und Strafrechtswissenschaft bereits früh als "Geheimnisbereiche" anerkannt, die vor dem "Licht der Wahrheit" geschützt werden müssen, die also verhindern sollen, daß Dritte oder die Allgemeinheit bestimmte Informationen erhalten und / oder weitergegeben werden. Die Urtypen solchen Geheimnisschutzes sind die Berufsgeheimnisse, der Schutz des Hausfriedens und das Briefgeheimnis. I. Strafrechtlicher Schutz bestimmter Berufsgeheimnisse (Privatgeheimnisse)

Eine der ältesten Formen strafrechtlichen Schutzes gegen die Weitergabe wahrer Informationen bilden die sog. Berufsgeheimnisse. In diesem Bereich anerkennt das Recht eine Pflicht zur Geheimhaltung anvertrauter oder in Erfahrung gebrachter "Geheimnisse", die sich allerdings nur auf bestimmte Personengruppen bezieht, nämlich solche, deren amtliche oder gewerbliche Stellung andere nötigt, ihnen vertrauliche Mitteilungen bestimmter Art zu machen 114. Spuren des Schutzes solcher Geheimnisse finden sich bereits 800 vor Christus. So heißt es etwa in einem überlieferten Werk des indischen Volkes llS : "Die Vorgänge im Hause des Kranken dürfen nicht ausgeplaudert, auch darf von einem dem Kranken etwa drohenden frühen Ende nichts mitgeteilt werden, wo es dem Kranken oder sonst jemandem Nachteil bringen kann."

Bekannter, als Nachweis für die lange Tradition des Arztgeheimnisses, dürfte der Eid des Hypokrates sein 116 : 114 115

Vgl. schon Binding, Lehrbuch, BT.Bd. 1, S. 126. Vgl. Sauter, Das Berufsgeheimnis, S. 1.

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht "Über das, was ich bei der Behandlung oder auch unabhängig von der Behandlung sonst im menschlichen Leben sehe oder höre und was nach außen nicht ausgeplaudert werden soll, werde ich schweigen, solches als Geheimnis betrachtend".

Erste Nachweise für eine Schweigepflicht der "Advokatur" werden dem Römischen Recht entnommen 117, das gegen das unbefugte Verlesen eines Testamentes die actio injuriarum gewährte. Daneben kennt das kanonische Recht seit langem eine den Berufsgeheimnissen verwandte Schweigepflicht der Priester, das sog. Beichtgeheimnis 118 , das den Priester zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet 119. Allerdings hat ein solch strenges Beichtgeheimnis nicht immer gegolten, vielmehr gab es auch Zeiten, in denen die Beichte öffentlich vor der versammelten Gemeinde abgelegt wurde 120, mithin ein Bedürfnis, den Priester zur Verschwiegenheit zu verpflichten, überhaupt nicht bestand. Ebenso wurden auch die Berufsgeheimnisse, insbes. auch das traditionsreiche Arzt- und Advokatengeheimnis nicht durchgängig in den Rechtsordnungen geschützt. So waren z. B. dem germanischen Recht des Mittelalters besondere Berufsgeheimnisse völlig fremd 121. Erst in der Reichskammergerichtsordnung von 1495 fand sich ein Advokatengeheimnis 122 und die ärztliche Schweigepflicht ist erstmals im preußischen "Medizinaledikt" von 1725 festgeschrieben 123 und entwickelte sich von da aus ständig weiter l24 • In § 300 RStGB heißt es dann: "Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Strafsachen, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker sowie die Gehilfen dieser Personen werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut sind, ... bestraft."

Mit der Ausweitung der Berufsgruppen deren Tätigkeit der Mensch anrufen oder doch dulden muß, ohne verhindern zu können, daß sie bei dieser Gelegenheit Einblick in seine "Geheimnisse" erhalten, wurde es auch erforderlich, den Schutz der Vorschrift zu erweitern, und zwar durch Ausweitung der geschützten Rechtspflege- und Heilberufe und durch Erstreckung des Schutzes auf weitere Berufsgruppen 125. Der Gesetzgeber hat dem und dem gestiegenen Bedürfnis nach umfassenderem Schutz des persönlichen Lebens- und GeheimVgl. Sauter, aaO., S.2; Flor, JR 1953, 368. Vgl. Sauter, aaO., S. 3ff. 118 Dazu etwa Flor, JR 1953, 368ff.; Brewe, Peter, Das Beichtgeheimnis im Altertum und Mittelalter, Scholastik 2 (1934), S. 11 ff.; Höfer j Rahner, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd.2, Sp. 128ff. 119 Vgl. Flor, JR 1953, 368 (372). 120 Vgl. AuerjRatzinger, Kleine kathl. Dogmatik, Bd. 7, S.128ff. 121 Dazu Sauter, aaO., S. 10ff. 122 Sauter, S. 14. 123 Sauter, S. 21. 124 Zur Entwicklung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Sauter, S. 13ff.; zur neueren Entwicklung vgl. Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre; Rogall, aaO., § 26 11. 125 Vgl. etwa Dreher j Dröndle, StGB, § 203. 116 117

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bereichs nach und nach, zuletzt durch Einführung des § 203 StGB126, der § 300 StGB a. F. ablöste, Rechnung getragen 127 • Heftigst umstritten ist nach wie vor, welches Rechtsgut § 203 StGB schützt 128 . Nach richtiger Auffassung besteht der Endzweck der Vorschrift im Schutz öffentlicher Interessen 129, nämlich der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit bestimmter Berufsgruppen, die im überwiegenden Allgemeininteresse wie Gesundheitswesen und Rechtspflege tätig werden, während der Schutz der Privatsphäre nur ein Reflex ist. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, daß die Verpflichtung zur Wahrung der Geheimnisse immer nur für ganz bestimmte Berufsgruppen bestanden hat und auch heute noch besteht, und zwar für solche, deren Tätigkeit auch im Allgemeininteresse liegt, die allgemeine Anerkennung gefunden haben, und denen gegenüber der Betroffene sich offenbaren muß, will er bestimmte "Leistungen" in Anspruch nehmen 130. Wäre die Privatsphäre eigentlicher Schutzgegenstand, ließe sich die Beschränkung auf bestimmte Berufsgruppen nicht erklären. Als hier interessierendes Ergebnis festzuhalten bleibt, daß das Strafrecht über § 203 StGB nur dort Schutz gegen die Weitergabe einer wahren Information gewährt, wo der Äußernde gegen eine gesetzliche Schweigepflicht verstößt, die ihm auf Grund der Ausübung eines ganz bestimmten Berufes oder Amtes obliegt, keineswegs aber eine allgemeine Pflicht zur Geheimhaltung anvertrauter oder in Erfahrung gebrachter Geheimnisse statuiert 131 . Das Strafrecht schützt vor Weitergabe wahrer Informationen grundsätzlich also nur dann unabhängig davon, um welche Art eines Geheimnisses es sich handelt - wenn der einzelne außer Stande ist, sich selbst gegen Verrat zu sichern, d. h. wenn er auf Grund einer besonderen Beziehung zu einem anderen genötigt ist, diesem gewisse Informationen anzuvertrauen und dieses Vertrauen im Allgemeininteresse besonders schutzwürdig ist. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist nach allen Bestimmungen, daß unbefugt ein Geheimnis offenbart wird, das man in Ausübung einer ganz bestimmten Tätigkeit erfahren hat. Über diesen Schutzbereich geht nur die Vorschrift des § 185 StGB hinaus. Sie gewährt in Ausnahmefällen - unabhängig von einer qualifizierten Schweigepflicht - Schutz gegen das Verbreiten wahrer Informationen. In allen anderen Fällen besteht die Freiheit, die Wahrheit sagen zu dürfen. Zur Entwicklung vgl. Gahler, NJW 1974, 833ff.; Becker, MDR 1974, 888ff. Aufweitere Einzelheiten der Vorschrift, insbes. wann ein Geheimnis vorliegt, wann ein solches offenbart ist, kann hier nicht eingegangen werden, vgl. etwa Olshausen, aaO., § 300 RStGB, Anm.2, 8, 9; Dreher/Tröndle, § 203 StGB Rn. 2fT.,27fT.; Ragall, aaO., § 26 II. 128 Vgl. die umfassenden Nachw. bei Ragall, aaO., § 26 1I,1.a). 129 So richtig schon Sauter, Das Berufsgeheimnis, S. 45fT.; BGH, NJW 1968, 2288ff.; Lenckner, in: Schönke / Schröder, § 203 Rn. 3, m.w.Nachw.; a.A. etwa Dreher / Dröndle, § 203 Rn. 1; Ragall, aaO.,§ 26 11, 1.a); Ratt, RDV 1989, 117 (119), jeweils m.w.Nachw. 130 Sauter, Das Berufsgeheimnis, S. 45 ff; BVerfGE 44,353 (376,379) Drogenberatungsstelle -; E 33, 367 (377ff.) - Sozialarbeiter-. 131 So richtig bereits Binding, Lehrbuch BT.Bd.l, S. 126. 126 127

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§ 3 Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Strafrecht

11. Schutzinseln vor "Wahrheitserhebung" 1. Der herkömmliche Schutzbereich

a) Der Schutz des Hausfriedens Als eine der ältesten Formen des Schutzes gegen das Erforschen der Wahrheit im Sinne des Schutzes von Geheimhaltungsinteressen werden oft die Bestimmungen zum Schutze des Hausfriedens angeführt. Historisch betrachtet ist diese Auffassung jedoch nicht ganz zutreffend 132. Normen, die einen Hausfrieden schützen, sind schon früh nachzuweisen und seitdem die Menschen in festen Behausungen wohnen, ist auch ein Interesse ihrer Bewohner belegbar, in derartigen Behausungen nicht behelligt zu werden 133. So finden sich auch bereits im spätmittelalterlichen Recht Deutschlands Nachweise für den Grundsatz, daß jeder Bürger in seinem Haus Frieden haben solle l34 und damit auf ein "anerkanntes Recht auf ungestörtes Wohnen und für sich allein sein im Hause"135. Im Zentrum dieses Friedens, dieses Rechts auf ungestörtes Wohnen, stand jedoch nicht der Schutz von Geheimnissen, sondern die Abwehr von Gewalt 136 . Zwar finden sich im manchen altdeutschen Rechten Vorschriften zum Schutz vor Lauschern 137 , womit bereits früh eine Respektierung von Geheimhaltungsinteressen nachweisbar ist 138, solche Regelungen waren jedoch nur vereinzelt vorhanden und spielten nur eine untergeordnete Rolle. Wie gering lange Zeit die Bedeutung des Hauses als Geheimsphäre, als Informationsschranke eingschätzt wurde, hat jüngst Amelung 139 an der rechtlichen Behandlung der Haussuchung nachgewiesen, die - wie er treffend formuliert - sich direkt gegen die häuslichen Geheimnisse richtet. Der Gedanke, daß ein solcher Akt schutzwürdige Geheimnisse ans Tageslicht bringen könne, spielte zunächst nur eine ganz untergeordnete Rolle l40 • Erst in der politischen Diskussion des späten 18. lahrhunderts 141 , tritt der Schutz der 132 Vgl. dazu ausführlich Amelung, ZStW 98 (1986), 355 (384ff.); ders., in: Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 291 (300ff.); Giesker, aaO., S. 11. 133 Vgl. Osenbrüggen, Der Hausfrieden, S. 32 ff.,35ff.; Amelung, in: Birtsch, aaO., S. 291 (293 ff.) m.w.Nachw. 134 Vgl. Kroeschell, in: Erler / Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 2023; Osenbrüggen, aaO., S.4. 135 Pfister, Hausfriedensbruch, Diss. Heidelberg 1915, S. 19. 136 Amelung, ZStW 98 (1986), 355 (390). 137 Vgl. Nachw. bei Osenbrüggen, aaO., S.59 ff; Giesker, aaO., S. 4 schreibt hingegen: "Der Lauscher war seit jeher so verhaßt wie der Briefbrecher". 138 Osenbrüggen, aaO., S.59ff. 139 Vgl. ZStW 98 (1986), 355ff. 140 Amelung, ZStW 98 (1986), 355 (390), mit Hinweis auf Ohlenroth, Von der Haussuchung, 1759, S. 6,11,13. 141 Vgl. dazu die Nachw. bei Amelung, in: Birtsch, aaO., 291 (314ff.).

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Wohnung als Schutz einer Geheimsphäre, die allerdings im wesentlichen gegen Angriffe des Staates geschützt werden solll42, in den Vordergrund. Fichte l43 formuliert: "Die Aufsicht des Staates geht bis zum Schlosse, von da an geht die meinige an." In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts breitete sich dann die Forderung in der Literatur aus, die räumliche Privatsphäre gegen den Staat zu schützen, woraus die Forderung nach Schaffung eines Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung resultierte, das dann in § 140 der Pauls-Kirchenverfassung von 1849, Art. 115 Weimarer Reichsverfassung und zuletzt in Art. 13 Grundgesetz geschaffen wurde l44 . Strafrechtlich geschützt wurde der Hausfrieden nach dem Mittelalter auch erst wieder im 19. J ahrhundert(§ 123 RStGB von 1871) während er in dem dazwischen liegenden Zeitraum nur noch in partikulären Rechten, nicht hingegen im gemeinen Recht geschützt war 145 . Allerdings steht auch bei den neuen Regeln des strafrechtlichen Schutzes des Hausfriedens, der Schutz von Geheimhaltungsinteressen nicht im Vordergrund l46 , was schon seine systematische Stellung zeigt, sowie die Tatsache, daß die ganz überwiegende Auffassung den Lauscher nicht nach den Regeln des Hausfriedens bestrafte l47 . Schutzgut der Vorschrift war und ist nicht in erster Linie der Schutz gewisser Geheimhaltungsinteressen, sondern wie die heute h. M. definiert, im Kern "die Freiheit der Entscheidung, wer sich innerhalb der geschützten Räume aufhalten darf und wer nicht"l48 und dies, obwohl sich durch Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein stärkeres Streben nach Abschirmung einer privaten Sphäre gegen fremde Beobachtungen herausgebildet hat 149. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß § 123 StG B auch ein Interesse an Geheimhaltung schützt 150, denn daß die Abwehr von Eindringlingen zugleich die Gewinnung von Informationen aus dem geschützen räumlichen Bereich hindert, steht außer Frage. Schutzgut des § 123 StGB ist mithin nach neueren Meinungen auch eine räumlich begrenzte Geheimsphäre 1s1 , bei der es sich je nach der geschützten Räumlichkeit um den Schutz unterschiedlicher Geheirnhaltungsinteressen handeln kann. Amelung ZStW 98 (1986), 355 (391). Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Teil 2, 1796, S. 242. 144 Nachw. bei Amelung, in: Birtsch, aaO., 291 (315fT.). 145 Kroeschell, aaO., Sp. 2024. 146 Amelung, ZStW 98 (1986), 353 (389); Rogall, aaO., § 24 III 1.,jeweils mit w.Nachw. 147 Anders aber Eger, Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 18, S.265. 148 Vgl. Krey, Strafrecht, Bd. 1, Rn. 431 m.w.Nachw.; vgl. auch schon Binding, Lehrbuch BT. Bd. 1, S.120. 149 Vgl. dazu die Ausführungen u. Nachw. bei Amelung, ZStW 98 (1986),355 (384fT.) und eingehend unten 4. Kapitel § 3 B 1. 150 Amelung ZStw 98 (1986), 355 (384ff.). 151 Amelung, in: Birtsch, aaO., 355 (403); Amelung / Schall JuS 1975, 565; Schall, Die Schutzfunktionen der Strafbestimmung gegen den Hausfriedensbruch, 1974, 131 fT.; Hirsch, ZStW 88 (1976), S.752. 142

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Die Geheimnisschutzfunktion des Hausfriedens ist allerdings auch schon um die Jahrhundertwende von verschiedenen Autoren gesehen worden 152. So behandelt Binding 153 in seinem Lehrbuch den Hausfriedensbruch systematisch direkt vor dem Verrat von Privatgeheimnissen, Lizst l54 spricht in seinem Lehrbuch von "verwandten Rechtsgütern" und KohlerIss zieht das Hausrecht sogar zur Vergleichung mit dem Autorgeheimnis und mit dem Erfindungsgeheimnis heran. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Auffassung von Eger l56 , der in der unbefugten phonographischen Aufnahme vom Gesprächen in fremden Räumen einen Hausfriedensbruch gesehen hat, was nur möglich ist, wenn man diese Vorschrift als "Geheimnisschutz" interpretiert. Eine Sichtweise, die, wäre sie von der Rechtsprechung und Lit. aufgenommen worden, die Schaffung des § 298 a. F. StGB (§ 201 n. F. StGB) entbehrlich gemacht hätte 157 . Der Lauscher, sei es nun durch Aufnahme von Worten auf einem Tonträger oder durch Abhören mittels Abhörgeräten, dringt in den räumlich umgrenzten Geheimbereich des anderen ein. Die h. M. hat sich diese Sichtweise jedoch nicht zu eigen gemacht und unter Eindringen nur das körperliche Eindringen in den Schutzbereich angesehen 158 und konnte deshalb das Eindringen mittels neugieriger Blicke und Ohren nicht erfassen I59 • b) Schutz des Briefgeheimnisses

Bereits bei den Römern finden sich Nachweise für den Schutz eines dem Briefgeheimnis ähnlichen Rechts 160. Das Briefgeheimnis selbst hingegen fand im Römischen Recht keine ausdrückliche Erwähnung l61 . Geschützt wurde im Römischen Recht die Verletzung des Testamentsgeheimnisses durch Öffnen (nach Röm. Recht wurde das Testament verschlossen, verschnürt und von den Zeugen auch außen versiegelt)162 oder Verlesen eines Testamentes vor dem Tode Vgl. nur Giesker, aaO., S. 11, 38,44. Lehrbuch, BT., Bd.1, §§ 29, 30. 154 Lehrbuch des Strafrechts, Berlin 1900, S. 399. 155 Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 18, S. 264 ff.; Patentrecht, 1901, S. 249, 264. 156 Archiv für bürgerliches Recht, Bd. 18, S.265. 157 Vgl. dazu auch Arzt, Der Strafrechtliche Schutz der Intimspähre, S. 240 m.W.Nachw. 158 Die mögliche Parallele ist auch bei den Beratungen der großen Strafrechtskommission gezogen worden, vgl. dazu Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 240 Fn.294. 159 Nach hM. soll hierin auch keine Beleidigung liegen, vgl. Maurachj Schroeder, BT.1, S.211. 160 Vgl. die Nachw. bei Friedländer, ZStW, Bd. 16 (1896), 756 (757) sowie Rogall, aaO., § 2 I. 161 Friedländer, ZStW, Bd. 16 (1896), 756 (758) führt dies auf die damalige Art der Briefbeförderung zurück. 162 Friedländer, aaO. 152 153

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des Erblassers durch die Lex cornelia de falsis 163. Rogal[I64 leitet daraus ab, daß die Römer damit sowohl das Beschaffen wahrer als auch das Verbreiten wahrer Informationen, soweit sich diese Verhaltensweise auf Testamente beziehen, mit Strafe bedroht haben. Allerdings stand im Römischen Recht keineswegs die Verhinderung der Informationsbeschaffung im Vordergrund, sondern sie war lediglich mittelbare Folge. Zur Strafbarkeit nach der lex cornelia de falsis genügte die Eröffnung des Testaments, weder die Kenntnisnahme noch die Verbreitung des Inhaltes waren erforderlich 165. Geschützt war letztlich der Urkundsverschluß. Die Römer haben den Bruch des Testamentsgeheimnisses wohl in erster Linie als Fälschungsverbrechen und damit als ein Delikt gegen die "publica fides" angesehen 166. Daneben gewährte das Römische Recht allerdings auch Schutz des Testamentsgeheimnises über die actio injuriarum 167. Dieser Schutz erstreckte sich allerdings nicht auf das Öffnen des Testaments und die Kenntnisnahme des Inhaltes, sondern nur auf die Bekanntgabe des Inhaltes, wobei die Verlesung der geheimen Anordnungen des Testators vor mehreren Anwesenden konstitutiv war l68 • Bezüglich des Schutzgutes führt Friedländer l69 aus: "Die Nichtachtung des Geheimhaltungswillens ist eine Nichtachtung der Persönlichkeit selbst und deshalb dient zur Reaktion, die bekanntlich zum Schutz der Persönlichkeit bestimmte actio injuriarum".

In späteren Rechtsordnungen taucht der Bruch des Testamentsgeheimnisses nur noch ganz vereinzelt auf. Erst zu Beginn des 16. Jahrhundert lassen sich wieder Normen finden, die das Testaments- und erstmals auch das Briefgeheimnis 170 strafrechtlich schützen, es weiterhin zum falsum rechnen und mit willkürlicher Strafe bedrohen 171. Erst im 19. Jahrhundert finden sich dann eingehendere Regelungen des Briefgeheimnisses 172, die allerdings von der strafrechtlichen Schutzrichtung sehr unterschiedlich sind und z. T. über den bloßen Schutz des Briefgeheimnisses bereits weit hinausgehen. So wird "das Eindringen auf unerlaubte Weise" oder "diejenigen, die auf unerlaubte Weise in fremde Geheimnisse eindringen" mit Strafe bedroht 173 • Das RStGB von 1871 Friedländer, aaO. § 2 1. 165 Friedländer, aaO. 166 Rogall, aaO., § 2 1. 167 Friedländer, aaO.; Rogall, aaO., § 3 1. 168 Rogall, aaO., § 3 1. 169 aaO., S.759. 170 Vgl. dazu Wiechert, Der strafrechtliche Schutz des Briefgeheimnisses im Zusammenhang mit der Entwicklung des Persönlichkeitsschutzes, S. 61 ff. 171 Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 12. Aufl., Berlin 1903, S. 405. 172 Nachw. bei Friedländer, aaO, S. 760ff.; Rogall, aaO., § 2 IH, IV; Wiechert, aaO., S.63ff. 173 Friedländer, aaO., S. 770; Wiechert, aaO., S. 62f. 163

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und auch die heute geltenden Strafbestimmungen haben diesen weitreichenden Weg zum Schutz gegen das Eindringen in fremde Geheimnisse nicht beschritten. In § 299 RStGB heißt es: "Wer einen verschlossenen Brief oder eine andere verschlossene Urkunde, die nicht zu seiner Kenntnisnahme bestimmt ist, vorsätzlich und unbefugterweise eröffnet, wird mit Geldstrafe oder Geflingnis bis zu drei Monaten bestraft."174

§ 299 RStGB bedrohte mithin die vorsätzliche und unbefugte Eröffnung eines verschlossenen, nicht zur Kenntnisnahme durch den Täter bestimmten Schriftstückes (Brief oder andere Urkunde, letztere nicht im technischen Sinne des 267 StGB175) mit Strafe. Nicht geschützt waren, wegen der Beschränkung auf Schriftstücke, Zeichnungen, Abbildungen etc. Die Verletzungshandlung bestand dabei in der Beseitigung (nicht notwendig Verletzung 176) des Verschlusses. Nicht erforderlich und auch nicht genügend war die Kenntnisnahme des Inhalts, weshalb z. B. im Durchleuchten des Briefes, um sich vom Inhalt Kenntnis zu verschaffen, eine Strafbarkeit nicht gesehen wurde 177 • Ebensowenig fielen unter § 299 StGB a. F. Schriftstücke, die als solche nicht verschlossen waren, sondern sich lediglich in einem verschlossenen Behältnis befanden 178 . Unter dem Eindruck des techno Fortschritts und der damit einhergehenden Gefahren für den einzelnen ist die Vorschrift dann durch das EGStGB geändert und als § 202 ins Strafgesetzbuch eingeführt worden 179 . Die wesentlichen Änderungen bestehen dabei darin, daß § 202 StGB über § 299 StGB a.F. hinaus die Kenntnisverschaffung unter Anwendung techno Mittel ohne Öffnung des Verschlusses, die Kenntnisverschaffung unter Öffnung des gegen die Kenntnisnahme sichernden Behältnisses unter Strafe stellt und neben Schriftstücken auch Abbildungen in den Schutzbereich einbezieht.

174 Daneben werden Übergriffe der Post und Telegraphenbeamten gesondert unter Strafe gestellt, vgl. §§ 354, 355 RStGB. 175 Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 2, 11. Aufl, Berlin 1927, § 299 Anm. 2 m.w.Nachw. 176 Olshausen, aaO., § 299 Rn. 4 m.w.Nachw. 177 Liszt, aaO., S. 405f.; Binding, aaO., Bd. 1, S. 129; Schwarz-Dreher, 23. Aufl. 1960, § 299 Anm. 2; Kohler, Recht an Briefen, Archiv für bürgerliches Recht 7 (1893), S. 94(127): "Wer auf andere Weise als durch Eröffnung eines Briefverschlusses, von einem Vertrauensschriftstück Kenntnis erlangt, begeht kein strafrechtliches Delikt; auch liegt kein Civildelikt vor, wenn er lediglich von einem solchen Schriftstück auf verbotenem Wege Einsicht nimmt. Wenn er aber, die so erlangte Kenntnis benutzend, den vertraulichen Inhalt des Schriftstücks Dritten kundgiebt, oder davon in seinem eigenen Interesse Gebrauch macht, so ist dies ein Civildelikt; es ist ein Civildelikt, das zur Entschädigung verpflichtet. " 178 Kohler, Recht an Briefen, aaO., S. 114ff.; Olshausen, aaO., § 299 Anm. 2; DreherSchwarz, aaO., § 299 Anm. LA:. 179 Vgl dazu Dreher/Tröndle, StGB, Vorbem. vor 33 201ff., §202 Rn. 1.

c.

Sonstige strafrechtliche Schutzinseln vor der Wahrheit

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2. Erweiterung des Schutzbereiches

a) Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes Die fortschreitende technische Entwicklung, die Erfindung von Tonbandgeräten, Richtmikrophonen, Abhörgeräten, Teleobjektivenetc. hat jedoch gezeigt, daß der über § 123 StGB gewährte mittelbare Schutz einer "Geheimsphäre" nicht ausreichend war. Eine Entwicklung, die lose! Kohler 1BlJ bereits im Jahre 1912 vorausgesehen und wie folgt beschrieben hat: "Nun denke man sich die phonographische und cinernatographische Erfindung weiterentwickelt und stelle sich vor, daß es möglich wäre, in einem Raume verborgen einen Apparat anzubringen, wodurch das geheimste Wort fixiert oder ohne Willen der Anwesenden ein cinernatographisches Bild der intimsten Vorgänge bewirkt würde; hier müßten neue Rechtsnormen erwachsen. Das häusliche Leben darf nicht auf solche Weise prophaniert werden, und eine derartige, das Geheimnis in die ÖtTentlichkeit bringende Maßnahme müßte als Eingriff in die Persönlichkeit verboten und schon die Anbringung unter Strafe gestellt werden. Hier steht das Persönlichkeitsrecht im Kampf mit der Erfindung! (Herv. v. Verf)"

Der Gesetzgeber hat dann im Jahre 1967 den von Kohler vorausgesehenen Kampf zwischen Persönlichkeitsrecht und neuen technischen Möglichkeiten, nach eingehenden Vorarbeiten und unter Übernahme der von der Zivilrechtsprechung entwickelten Grundsätze, durch Einführung von § 298 a. F.StGB (= § 201 n. F. StGB)181 zu lösen versucht, und das unbefugte Aufnehmen oder Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mittels bestimmter techno Hilfsmittel unter Strafe gestellt, allerdings das unbefugte Herstellen von Fotografien und Filmen nicht geregelt 182 .

b) Ausspähen von Daten 183 Die techno Entwicklung, die dazu geführt hat, daß computergespeicherte Daten und Informationen zu den wichtigsten Trägern, nicht nur betrieblichen know hows geworden sind, hat einen verstärkten Schutz gespeicherter Daten erforderlich gemacht. Die vorhandenen Strafbestimmungen waren zum Schutz gespeicherter Daten nicht ausreichend. Der Gesetzgeber hat deshalb durch das 2. Wirtschaftskriminalitätsgesetz mit Wirkung zum 1.8.1986 § 202 a StGB eingeführt, der alle gespeicherten und im Überrnittlungsstadium befindlichen Daten vor unbefugtem Zugriff schützt, und zwar unabhängig von der Sensibilität der Daten 184; daß die Daten zu einem persönlichen, geschäftlichen oder Einfluß der Erfindungen auf die Rechtsentwicklung, DJZ 1912, Sp. 25 (29f.). Vgl. dazu Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 237 tT.; Rogall, aaü., § 29 I; Erni, Die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes. 182 Geregelt ist lediglich die Weitergabe von Abbildungen, vgl. § 33 KUG und Rogall, aaü., § 30 I. 183 V gl dazu etwa Dreher / Tröndle, Anm. zu § 202 a StGB. 180 181

5*

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betrieblichen Geheimnisbereich gehören, ist nicht erforderlich. Geschützt werden über § 202 a StGB auch nur Daten, die elektronisch, magnetisch oder sonst nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, also nicht sichtbar oder nicht unmittelbar lesbar und gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind. c) § 17 Abs. 2 UWG185

Ebenfalls durch das 2. Wirtschaftskriminalitätsgesetz sind mit Wirkung zum 1.8.86 die Abs. 2 bis 4 des § 17 UWG geändert worden. Ein wesentlicher Punkt der Änderung besteht darin, daß erstmals auch das unbefugte Ausspähen (Auskundschaften) von Betriebs 186 - oder Geschäftsgeheimnissen unter bestimmten Bedingungen mit Strafe bedroht ist, während zuvor nur die Mitteilung und Verwertung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen nach §§ 17, 18 UWG strafbar waren 187. Das unbefugte sich verschaffen von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen ist allerdings nicht schlechthin, sondern nur dann strafbar, wenn es in ganz bestimmten Erscheinungsformen geschieht, dann aber auch, wenn eine Verwertung unterbleibt. Typisch ist dabei für die strafbaren Begehungsformen, daß der Täter, um das Geheimnis zu erfahren, technische Mittel einsetzt (Abs. 2 Nr. 1 a), insbes. eine körperliche Festlegung des Geheimnisses bewirkt (Abs.2 Nr.1 b) oder Sachen wegnimmt, in denen das Geheimnis selbst verkörpert ist (Abs.2 Nr. 1 b). Subjektiv muß der Ausspähende zudem zu Zwecken des Wettbewerbs, aus Eigennutz, zu Gunsten eines Dritten oder in Schädigungsabsicht gehandelt haben. 3. Zusammenfassung

Zusammenfassend kann mithin festgestellt werden, daß das Strafrecht nur vereinzelt Schutz gegen die Erhebung wahrer Informationen gewährt. Eine wesentliche Voraussetzung der Bestrafung ist dabei, daß die Information unter Überwindung besonderer Hindernisse beschafft wurde (§ 123 Eindringen in den umfriedeten Raum, § 202 verschlossene Schriftstücke, verschlossenes Behältnis), wobei zunehmend die Überwindung von Hindernissen durch die Technik in den Vordergrund rückt (§ 201 Abs.2 Abhörgerät; § 202 Abs.1 Nr. 2 unter 184 Nach Lackner, StGB, § 202a Anm. 1, wird "ein formalisiertes Interesse an der Geheimhaltung von Daten" geschützt; a.A. Haft, NStZ 1987, 6 (9), der das Vermögen als geschütztes Rechtsgut sieht; umfassende Nachw. zu den verschiedenen Auffassungen bei Dreher(Tröndle, StGB, §202a Rn. 2. 185 Vgl. dazu Baumbach( Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 15. Aufl. 1988, § 17 UWG und vor §§ 17 - 20 a m. umfassenden Nachw.; allgern. zum Schutz vor Geheimnisverrat durch das UWG, Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, § 8. 186 Zur Entstehung der Betriebsgeheimnisse vgl. die Nachw bei Amelung, ZStW 98 (1986), 354 (389) in Fn. 128. 187 Die sogen. Aussphähung oder Betriebsspionage ist durch die neue Nr. 1 des § 17 UWG nicht generell verboten worden, um die Informationsbeschaffung seitens der Wirtschaft nicht übermäßig zu behindern, vgl. BT.-Drucks. 10(5058, S. 40 f.

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Anwendung techno Hilfsmittel; § 202 a Daten, die gegen unberechtigten Zugang besonders gesichert sind; § 17 Abs.2 Nr. 1 a UWG unter Anwendung techno Mittel), oder die Information außerhalb des Gehirns festgehalten (verkörpert) wird (§ 201 Nr. 1 StGB auf Tonträger; § 17 Abs. 2 Nr. 1 b UWG Herstellung einer verkörperten Wiedergabe des Geheimnisses) oder eine Sache weggenommen wird, in der die Information verkörpert ist (§ 17 Abs. 2 Nr. 1 c UWG).

Zweiter Teil

Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Informationsfreiheit im Zivilrecht § 4 Überblick über das Informationsordnungssystem des Zivilrechts

Auch die zivilrechtliche Infonnationsordnung ist von den Grundprinzipien der Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Infonnationsfreiheit als Gegensatz zu Verstellung, Lüge und Täuschung geprägt. Auch der Zivilprozeß dient der Realitätsfindung, also der Wahrheitsennittlung 1 . Nur auf der Grundlage eines mit der Realität übereinstimmenden Sachverhaltes ist dem Richter eine "gerechte" Nonnanwendung möglich 2 • Zwar ist im Zivilprozeß die Wahrheit, im Gegensatz zum Strafprozeß, nicht von Amts wegen zu ermitteln, vielmehr gelten Beibringungsgrundsatz und Dispositionsmaxime (Verhandlungsmaximep, dies bedeutet allerdings nicht, daß das bewußte Verschweigen wahrer, streitentscheidender Tatsachen oder die Lüge erlaubt wäre 4 • § 138 ZPO verpflichtet vielmehr die Parteien zur Wahrhaftigkeit s. Die Vorschrift statuiert das Verbot, die Wahrheitsfindung durch wahrheitswidriges bzw. unvollständiges Vorbringen zu stören und das Gebot in zumutbarer Weise aktiv und nicht nur duldend an der Sachverhaltsrekonstruktion mitzuwirken 6 • Im Gegegensatz zum Strafrecht erstreckt sich die Verpflichtung wahrhaftig auszusagen nicht nur auf die Zeugen und Sachverständigen, sondern auch auf die Parteien und zwar gerade auch dann, wenn die Wahrheit für sie nachteilig ist1, sofern die Partei von der ihr nachteiligen Wahrheit überzeugt ist 8 • Das Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, § 5. Schmidt, in: AK-ZPO, § 138, Rn 6. 3 Vgl. etwa Jauernig, Ziviprozeßrecht, § 26. 4 Vgl. etwa Leiphold, in: Stein-Jonas, ZPO, § 138 Rn 1. 5 StaU aller Schmidt, in: AK-ZPO, § 138 Rn 8; allgemein zu den aus § 138 resultierenden Pflichten vgl. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses; ders, ZZP 98 (1985), 237ff.; Arens, ZZP 96,1 ff.; Olzen, ZZP 98, 403ff.; w.Nachw. bei Leiphold, in: Stein-Jonas, ZPO, § 138 in Fn. 1. 6 Schmidt, in: AK-ZPO, § 138 Rn 4; Jauernig, Zivilprozeßrecht, §§ 24-26. 7 Auch wenn sie sich dadurch der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzt, vgl. etwa Stürner, aaO., § 12; ders., NJW 1981,1757 (1759f.); Winkler von Mohren/eis, Abgeleitete Informationspflichten, S.51f., 97ff.; Schmidt, in: AK-ZPO, § 138 Rn 35, 26; a.A. B / L / A / H, ZPO, § 138 Anm 1 c.; zum Schutz der persönlichen und gewerblichen Geheimsphäre vgl. Stürner, aaO., §§ 13, 14. 1

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Streben nach materieller Wahrheit, das sich auch hinter zahlreichen Beweislastumkehrungen verbirgt 9 , ist auch die Leitlinie des Zivilprozesses und nicht die Wahrheitsfindung, sondern ihre Begrenzung durch Zeugnisverweigerungsrechte, Einschränkung von Aufklärungspflichten und Beweisverbote bedarf der besonderen Rechtfertigung 10 • Auch die Lüge, die der Partei selbst nachteilig ist, ist im Interesse der Wahrheitsfindung nicht erlaubt, denn die Pflicht zur Wahrhaftigkeit dient nicht nur dem Schutz des Prozeßgegners, sondern sie ist gerade auch eine Pflicht gegenüber der Allgemeinheit l l . Ähnliches gilt für die materielle Zivilrechtsordnung. Die arglistige Täuschung durch unwahre Tatsachenbehauptungen wird im Rechtsverkehr ebenso sanktioniert (vgl. etwa § 123 BGB) wie das arglistige Verschweigen wahrer Sachverhalte (etwa § 463 S. 2 BGB). Im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben, die Redlichkeit der Geschäftspartner und zum Schutz des Vertrauens in die Gültigkeit geschlossener Verträge, wird die bewußte Unwahrheit durch Tun oder Unterlassen sanktioniert und damit Wahrheit und Wahrhaftigkeit gefordert. Im Gegensatz zum Prozeßrecht enthält die materielle Informationsordnung zwar keine ausdrückliche und allgemeine Pflicht zur Wahrhaftigkeit, sie anerkennt aber in weitreichendem Maße den Wert der mit der Realität übereinstimmenden Information als Voraussetzung einer fehlerfreien Willensbildung und der Redlichkeit und Verläßlichkeit des Rechtsverkehrs. Deshalb respektiert sie die Freiheit des einzelnen die "Wahrheit wissen zu dürfen", d. h. sich notwendige Informationen beschaffen zu dürfen und auch die Freiheit die Wahrheit sagen zu dürfen. Den Ausgleich zwischen Informationsinteresse und Geheimhaltungsinteresse hat die Zivilrechtsordnung dabei wie folgt geregelt: 12 Zur Durchsetzung bestimmter Informationsinteressen hat sie zahlreiche klagbare Informationsansprüche ausdrücklich normiert 13, auf Grund derer bei BGH, NJW 1988, 63. Vorsätzliche oder fahrlässige Beweisvereitelung durch die nicht beweisbelastete Partei sanktioniert der BGH vielfach durch die Umkehrung der Beweislast (zur uneinheitlichen Rspr. vgl. BGH, NJW 1986, 61 f.). Beispiele: Die nicht beweisbelastete Partei vernichtet einen Gegenstand vor Prozeßbeginn, obwohl sie dessen Beweiserheblichkeit in einem zu erwartenden Prozeß erkennen mußte (BG H LM N r. 2 zu § 282 Beweislast); sie weigert sich grundlos, allein ihr zugängliche Beweismittel zu benennen oder verwertbar zu machen, z.B nur ihr bekannte Unfallzeugen namhaft zu machen (BGH, NJW 1960, 821 f.) in ein Auskunftsersuchen an eine Bank (BG H, NJW 1967, 2012 f.) oder an das Finanzamt (BA G, NJW 1975,408) einzuwilligen, ihren Steuerberater von der Schweigepflicht zu entbinden (BGH LM Nr. 3 zu § 383); weitere Nachw. bei BGH, NJW 1980, 888; vgl. auch Gerhardt, AcP 169, 289ff.; Schneider, MDR 1969, 4ff.; 75, 445f.; Peters, ZZP 82, 200ff.; zum Arzthaftungsprozeß vgl. Laufs, Arztrecht, Rn. 427ff.; zur Produzentenhaftpflicht BGHZ 51, 104ff.; 67, 361 f.; 92, 147ff. 10 Richtig Schmidt, in: AK-ZPO, § 138 Rn 12, 15, 18, 35. 11 BGHZ 37, 154ff.; BI LI AI H. ZPO, § 138 Anm 1 D. 12 Vgl. Ehmann, AcP 188 (1988), 232 (253ff.). 8

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bestimmten Dritten, mit Hilfe der Gerichte, zwangsweise Informationen erhoben werden können. Die Rechtsprechung hat zudem nach und nach diese klagbaren Informationsansprüche durch Analogien zu bestehenden Informationsansprüchen oder über die Grundsätze von Treu und Glauben erheblich erweitert l 4, da die gesetzlich normierten Fälle die möglichen Sachverhalte nicht hinreichend regelten und regeln. Daneben gewährt sie zur Aufrechterhaltung des Informationsverkehrs zahlreiche Einblicksrechte in öffentliche Register 15 • Mittelbaren Schutz bestimmter Informationsinteressen gewährt sie zudem durch zahlreiche unentwickelte Informationsansprüche 16 , die auch als Aufklärungs- und Obhutspflichten bezeichnet werden. Aus diesen folgt zwar kein klagbarer Informationsanspruch, werden jedoch bestimmte Informationen nicht offenbart oder falsche Informationen vorgespiegelt, so kann daraus eine Schadensersatzpflicht folgen. Solche Aufklärungspflichten sind im BGB nur rudimentär geregelt. Sie werden etwa in §§ 443,460 S. 2, 463 S. 2, 476, 477 S. 1, 523 Abs. 1, 638 Abs. 1, S. 1 BGB oder auch in § 123 BGB sowie in § 823 Abs. 2 BGB iVm § 263 StGB vorausgesetzt. Die meisten dieser Aufklärungspflichten sind jedoch nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern von der Rechtsprechung nach und nach aus den Grundsätzen von Treu und Glauben entwickelt worden 17. Außerhalb dieses unmittelbaren oder mittelbaren Schutzes bestimmter Informationsinteressen, der Gewährung eines Rechts auf Wahrheit, gilt das Prinzip der Informationsfreiheit, d. h. der einzelne hat zwar keinen klagbaren Rechtsanspruch auf die Information, er darf aber dennoch danach fragen oder die Information in sonstiger Weise erheben und / oder weiterleiten. Der Betroffene selbst oder Dritte können, müssen aber nicht, die Information erteilen. Während das BGB mithin bestimmte Informationsinteressen in einem abgestuften System geschützt hat, kennt es, im Gegensatz zum Grundgesetz 18 , keine spezialgesetzlichen Regelungen zum Schutz von Geheimhaltungsinteressen, die über den bereits beschriebenen strafrechtlichen Schutz, der über § 823 Abs.2 BGB auch im Zivilrecht wirkt, hinausgeht. Spezialgesetzliche Verbote bestehen 13 Vgl. etwa Lüke, JuS 1986, 2ff. u. unten § 5 A 1), 2); zu den Informationsrechten von Gesellschaftern vgl. etwa Wohlleben, Informatinsrechte des Gesellschafters, 1989, 75ff., 149ff.; K. Schmidt, Informationsrechte in Gesellschaften und Verbänden, 1984; von Aufsichträten Lutter, Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 1984; Lutter / Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 1988; Theisen, Überwachung der Unternehmensführung, 1987; Sina, NJW 1990, 1016ff.; von Betriebsräten vgl. Haug, Informationelle Strategien im Arbeitsrecht, S. 186ff.; Balthasar, Der allgemeine Infonnationsanspruch des Betriebsrats; vgl. ferner die Kornmentarliteratur zu § 80 Abs. 2 BerVG; auch § 81 BetrVG. 14 Vgl. unten § 5 B. 15 Einen Überblick liefert Leue, Einsichtsrechte in öffentliche Register, in: Vollkommer (Hrsg.), Datenverarbeitung und Persönlichkeitsschutz, S. 83 ff. 16 Vgl. unten § 5 B II. 17 Vgl. dazu unten § 2 II, 2). 18 Vgl. Artt. 10, 13 GG; dazu Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, § 129 Rn 47ff.

§ 4 Überblick über das Infonnationsordnungssystem des Zivilrechts

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nur bezüglich unwahrer Informationen 19 . Ansonsten hat das BGB dem Richter nur die Möglichkeit eingeräumt, wahre Informationen aufgrund der Generalklauseln des § 826 BGB und § 1 UWG im Einzelfall, als Ausnahme von der Regel, durch die Einstufung als sittenwidrig, als Rechtsverletzung zu werten. Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers hat die Rechtsprechung zunächst durch Fallgruppenbildung im Rahmen des Urteils der Sittenwidrigkeit und dann durch Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB "korrigiert" und nach und nach auch hier Fallgruppen entwickelt, die im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht des einzelnen, die "Freiheit die Wahrheit wissen und sagen zu dürfen" weiterhin als Ausnahme von der Regel beschränkt haben. Unter dem Eindruck der "Gefahren" der automatischen Datenverarbeitung scheint nun die bisherige Ausnahme zur Regel gemacht zu werden; nicht das Verbot der Wahrheit, sondern diese selbst soll nach weit verbreiteter Auffassung der besonderen Rechtfertigung bedürfen. Diese kurz skizzierte Rechtsentwicklung soll im Folgenden deutlich aufgezeigt und kritisch analysiert werden.

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Etwa §§ 824 BGB, 14 UWG.

§ 5 Das Recht auf Wahrheit (Information) im Regelungssystem des BGB A. Klagbare Infonnationsansprüche I. Kein allgemeiner Informationsanspruch Das BGB und auch andere Gesetze enthalten zahlreiche Rechtsnormen, die klagbare Informationsansprüche gewähren 1 , das positive Recht kennt aber keine Generalklausel, die Auskunfts- bzw. Informationsansprüche allgemein regelt. Einen allgemeinen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch "gegen Jedermann und über alles" gibt es nicht 2 • In Übereinstimmung mit der geschilderten Ansicht Kants 3 , sowie anderer Philosophen und Theologen ist also nach den Grundsätzen des BGB niemand verpflichtet, jedem beliebigen Dritten auf dessen Frage hin eine wahrheitsgemäße Antwort zu geben. Vielmehr anerkennt das Recht "ein Recht auf Wahrheit" (Information) nur bei Bestehen bestimmter Rechtsbeziehungen. Ansonsten respektiert es die Freiheit des einzelnen zu schweigen. Lüderitz4 formuliert den Grund für die Zurückhaltung des Gesetzgebers wie folgt: "Einen allgemeinen Auskunftsanspruch gibt es nicht - und kann es nicht geben, soll nicht der Bürger von Berufsneugierigen und Verdachtsbesessenen gegeißelt werden". Giesker s meinte, jeder Auskunftsanspruch müsse strikte interpretiert werden, da jede Pflicht zur Auskunft in die allgemeine Handlungsfreiheit, in der Form des Rechts auf Trägheit des Auskunftspflichtigen und zugleich in sein Recht an der eigenen Geheimsphäre eingreife. Stürner 6 formuliert: "Der klagbare, völlig uneingeschränkte Informationsanspruch liefe Gefahr, zu einem höchst lästigen "SchnüfTelparagraphen" auszuufern, der die massive Belästigung durch verdachtsbessene Dritte erlaubt. Die Rechtswohltat erzwingbarer Vorinformationen sollte deshalb nur zu Lasten von Mitbürgern gewährt werden, die zu der informationsbedürftigen Partei bereits ohnehin in einem Verhältnis gesteigerter Pflichtigkeit stehen Vgl. etwa den Überblick bei Lüke, JuS 1986, 2fT. Vgl. RG Gruchot 51, 897; RGZ 102, 235; BGH, NJW 1970, 751; sh. ferner Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 287,293; Balthasar, Der allgemeine Informationsanspruch des Betriebsrates, S. 9; Bark, JA 1983, 174fT. jeweils m.w.Nachw. 3 Vgl. oben § 2 A 1.; Für Kant gilt nur die Pflicht, daß alles wahr ist, was man sagt, nicht jedoch, daß man auf alles antworten muß, wonach man gefragt wird. Nur wenn man auf eine Frage antwortet, muß man wahrhaftig sein und zwar unabhängig davon, ob der Fragende ein Recht auf die Wahrheit (Informationsanspruch) hat oder nicht. 4 Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch bei Verfolgung privater Rechte, S. 32. 5 Vgl. Giesker, Das Recht des Privaten an der eigenen Geheimsphäre, S. 57. 6 aaü., S. 318. 1

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A. Klagbare Informationsansprüche

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oder gestanden haben und denen aus diesem Grunde der ZugrifT auf ihren Rechtskreis als weitere Konsequenz der Sonderbeziehung eher zumutbar erscheint. Oft wird diese Sonderbeziehung rechtlicher Ausdruck gesteigerter sozialer Verantwortlichkeit sein, die durch eigenes willentliches Handeln herbeigeführt ist, so daß die zu Gunsten des Mitbürgers eintretende Mehrbelastung ihre innere Rechtfertigung erfährt".

Die Zurückhaltung der Rechtsordnung bei der Anerkennung von Infonnationsansprüchen beruht mithin auch auf der Respektierung des Geheimhaltungsinteresses und der sonstigen Handlungsfreiheit des Infonnationsträgers, der nicht ohne triftigen Grund gezwungen werden soll, Auskünfte zu erteilen, die ihm Mühe machen oder die gar zu seinem Nachteil verwendet werden können 7 • Ein uneingeschränktes Recht auf Wahrheit im Rechtssinne gibt es nicht. 11. Die gesetzlich ausdrücklich geregelten Informationsansprüche - Systematik und Gruppen -

Ein allgemein gültiges System, wann die Rechtsordnung über bloße Infonnationsfreiheit sogar ein subjektives Recht auf Infonnation, also einen klagbaren Infonnationsanspruch gewährt, läßt sich den zahlreichen und sehr zertreut geregelten Infonnationsansprüchen nicht entnehmen. Immerhin lassen sie sich aber nach der jeweiligen Interessenlage etwa wie folgt injünjGruppen einteilen 8 , die z.T. stark den Gruppen ähneln, aus denen im Strafrecht Garantenpflichten abgeleitet werden, die zur Venneidung einer Strafbarkeit ebenfalls zu einer positiven Handlung verpflichten 9 • (1) Die wichtigste Gruppe der materiellen Infonnationspflichten bezieht sich auf Rechtsverhältnisse die "einem Teil die Wahrnehmung oder Achtung der Interessen der anderen Partei zur wesentlichen Pflicht machen"lO. Als Mustervorschrift für diese Gruppe wird immer wieder § 666 BGB angeführt, der den Beauftragten verpflichtet, dem Auftraggeber die erforderlichen Nachrichten zu geben, auf Verlangen über den Stand des Geschäfts Auskunft zu erteilen und nach der Ausführung des Auftrags Rechenschaft abzulegen l l . Die Verpflichtung zur Wahrung oder Achtung fremder Interessen kann dabei, wie im Fall des Auftrags, auf Grund eines Vertrages begründet sein, sie kann aber auch, wie im Fall der Geschäftsführung ohne Auftrag (nach §§ 677, 681 S. 2; 666 BGB) auf Balthasar, aaO., S. 52fT.; Vgl. Stürner, aaO., S. 286fT.; Winkler von Mohrenjels, aaO., S. 19fT.; Balthasar, aaO., S. 9fT.; Haug, Informationelle Strategien im Arbeitsrecht, S. 37fT. 9 Vgl. zur Garantenpflicht im Strafrecht etwa WesseIs, Strafrecht AT, 18. Aufl. 1988, §161I 4-7. 10 Stürner, aaO., S. 287. 11 Grundsätzlich wird eine Benachrichtigungspflicht über alle dem Auftraggeber unbekannten Informationen angenommen, die ihn so weit über den Stand der Dinge unterrichten, daß er seine Pflichten erfüllen und sachgerechte Entscheidungen trefTen kann, vgl. MK-Seiter, BGB, 2. Aufl., § 666 Rn. 5. 7

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§ 5 Das Recht auf Wahrheit im Regelungssystem des BGB

der gesetzlichen Auferlegung von besonderen Interessenwahrnehmungspflichten beruhen 12 . (2) Nach der 2. Gruppe führen rechtswidrige Eingriffe in einen fremden Rechtskreis (Ingerenz) zu einer Informationspflicht des Eingreifers. Die zentrale Norm ist hier § 687 Abs. 2 BGB, der bei bewußter Eigengeschäftsführung den Geschäftsherrn über §§ 681, 666 BGB Auskunftsansprüche einräumt. (3) Die dritte Gruppe gewährt bei bestehendem Hauptanspruch Informationsansprüche zur Klärung des Anspruchsinhaltes oder möglicher Einwendungen. Als Beispiel für die Klärung des Anspruchsinhaltes seien §§ 1379, 2314 BG B genannt, die dem ausgleichberechtigten Ehegatten bzw. dem Pflichtteilsberechtigten weitreichende Informationsrechte zur Berechnung ihrer Zahlungsansprüche gewähren. Als Beispiel für die Klärung einer Einwendung des Informationsberechtigten sei § 1214 Abs. 1 BGB genannt: Der Pfandgläubiger muß sich beim Nutzungspfand den Reinertrag der Nutzung auf seine Forderung anrechnen lassen und durch Rechnungslegung dem Eigentümer bzw. Schuldner den Tilgungseinwand ermöglichen. (4) Die vierte Gruppe dient der Sicherung der Nutzung eines erworbenen Rechts. So ist etwa nach § 402 BGB der Zedent verpflichtet, dem Zessionar die zur Geltendmachung der Forderung nötige Auskunft zu erteilen und ihm zum Beweis der Forderung dienende Urkunden auszuliefern.

(5) Die 5. Gruppe gewährt in Ausnahmefällen Informationsansprüche auch außerhalb bestehender Rechtsverhältnisse, dann wenn zwischen den Parteien "ein besonderer sozialer Kontakt" besteht. Hierzu wird etwa § 809 S. 1 2. Alt. BGB gezählt, wonach der Besitzer einer Sache ihre Besichtigung gestatten muß, wenn sich Jemand "Gewißheit verschaffen" will, ob ihm ein "Anspruch in Ansehung der Sache" zusteht, und die Besichtigung aus diesem Grunde für ihn von Interesse ist 13. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal für die Systematisierung der gesetzlich geregelten materiellen Informationsansprüche, die ein Recht auf Wahrheit gewähren, ist ihre Abhängigkeit von einem bestehenden Hauptanspruch 14. Eine Vielzahl der im BGB und in anderen Gesetzen geregelten Informationsrechte dienen allein oder überwiegend der besseren Durchsetzung anderer Rechte, etwa einem Hauptanspruch oder der Vorbereitung eines potientiellen Rechtsstreits (sog. präparatorische Informationspflichten)15. Daneben existieren aber auch zahlreiche Informationspflichten, die völlig oder weitgehend losgelöst von einem potentiellen Hauptanspruch lediglich der Unterrichtung des Berechtigten dienen (sog. selbständige Informationsansprüche). 12 Vgl. zuletzt BGH, NJW 1989, 1671 = Coester-Walljen, JK 89, BGB § 675/2; weitere Beispiele bei Balthasar, aaO., S. 13. 13 Vgl. auch § 80 Abs. 2 BetrVG. 14 Balthasar, aaO., S. 26ff. 15 Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 30ff.

A. Klagbare Infonnationsansprüche

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Grundlage präparatorischer Informationsansprüche ist also nicht nur eine zwischen den Parteien bestehende Sonderrechtsbeziehung, sondern hinzutreten muß immer ein präparatorischer Zweck, der zugleich den Informationsanspruch nach Grund und Umfang begrenzt 16. Für die selbständigen Informationsansprüche ist hingegen typisch, daß sie zwar eine besondere Pflichtigkeit erfordern, aus der sich eine "Informantenstellung" ableitet, aber keine Hilfsfunktion zu einem durchzusetzenden Hauptanspruch haben. Der klassische Fall eines solchen Informationsanspruchs im geltenden Recht ist § 666 Abs. 1 S. 1 1. u. 2. Alt. BGB. Schon das Reichsgericht 17 hat zu dieser Vorschrift ausgeführt: " ... Dieser Auskunftsanspruch hängt nicht davon ab, daß dem Geschäftsherrn ein Zahlungsanspruch gegen den Beauftragten zusteht oder daß der Geschäftsherr wenigstens einen Vertrauensmißbrauch nachweist. Vielmehr dient er dazu, dem Geschäftsherrn die notwendige Übersicht zu verschaffen und ihm ggfs. den Nachweis eines Vertrauensmißbrauchs zu erleichtern."

Dahinter steht auch der Gedanke, daß häufig bereits die Informationsmöglichkeit an sich einen Wert darstellt, der schützenswert ist. "Ein Mensch, der weiß, daß er jederzeit auskunftspflichtig ist, der weiß, daß er kontrolliert wird, verhält sich anders; er richtet sein Verhalten darauf ein, daß er seine Entscheidungen nicht nur vor sich selbst, sondern vor anderen zu verantworten hat; er wägt möglicherweise länger, detaillierter und mit anderen Schwerpunkten ab, trifft weniger risikoreiche Entscheidungen, wird vorsichtiger"18.

IH. Die Fortbildung klagbarer Informationsansprüche durch die Rechtsprechung 19 1. Rechtsfortbildung

Die Rechtsprechung hat aus den zahlreichen gesetzlich geregelten Informationsansprüchen niemals den Umkehrschluß gezogen, daß darüber hinausgehend keine weiteren klagbaren Informationsansprüche bestünden. Sie hat zwar häufig unter Hinweis auf die vorgegebene positivrechtliche Regelung betont, ein allgemeiner Auskunfts- und Informationsanspruch bestehe nicht 20 , zugleich aber in einer umfangreichen Kasuistik im Wege echter Rechtsfortbildung 21 16 Balthsar, aaO., S. 32. 17 RG Recht 1921, 1343. 18 Balthasar, aaO., S. 28. 19 Vgl. dazu Stürner, aaO., S.293fT.; Balthasar, aaO., S. 17f.; Winkler von Mohren/eis, aaO., S. 33ff.,66f.,69, 76fT.; Breidenbach, Die Voraussetzungen von Infonnationspflichten beim Vertragsschluß; Haug, Infonnationelle Strategien im Arbeitsrecht, S.4fT.; MKKeller, § 260 Rn. 7 ff.; zur älteren Literatur und Rspr. vgl. die zahlreichen Nachweise bei Staudingen-Weber, 11. Aufl. 1961, Anm. 814fT.; vgl auch schon Giesker, aaO., S. 56fT., insbes. 67 ff. 20 Vgl. BGH NJW 1957, 669 fT.; 1981, 1733; Stürner, aaO., S. 293. 21 Winkler von Mohren/eIs, aaO., S. 35.

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§ 5 Das Recht auf Wahrheit im Regelungssystem des BGB

zunächst im Wege der Vertragsauslegung, dann durch Analogie zu bestehenden Vorschriften und/ oder aus den Grundsätzen von Treu und Glauben 22 zahlreiche weitere klagbaren Informationsansprüche, und zwar sowohl präparatorische 23 als auch selbständige 24 entwickelt. Als eigentliche Geburtsstunde des erweiterten Auskunftsanspruchs 25 wird die Entscheidung des RG vom 4.5.1923 26 bezeichnet, in der es heißt: "In den Fällen, in denen ein Recht auf Auskunft gegenüber dem Verpflichteten die Rechtsverfolgung im hohen Maße erleichtert, oft überhaupt erst möglich macht, istauch abgesehen von der Geschäftsführung ohne Auftrag - nach den Grundsätzen von Treu und Glauben dem Berechtigten ein Anspruch auf Auskunft bei Rechtsverhältnissen zu gewähren, deren Wesen es mit sich bringt, daß der Berechtigte entschuldbarerweise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen, der Verpflichtete aber in der Lage ist, unschwer solche Auskunft zu erteilen."

Zuvor, im Urteil vom 23.4.1910 27, hatte das RG aus den gesetzlichen Einzelfällen der §§ 666, 675, 681 Abs.2 und 713 sowie §§ 27 Abs. 3, 86, 1214 Abs. 1, 1421, 1681, 1686, 1840, 1890, 1898, 1915, 1978, 1991,2130 Abs. 2 und 2218 BGB den allgemeinen Grundsatz abgeleitet, "daß rechenschaftspflichtig ist, wer fremde Angelegenheiten oder solche, die zugleich eigene oder fremde sind, besorgt."

Beide Formulierungen hat das RG später in ständiger Rechtsprechung zur Begründung zahlreicher Informationsansprüche benutzt. Diese Grundsätze sind später vom BGH28 in ständiger Rechtsprechung bestätigt worden und auch in der Literatur weitgehend anerkannt 29 •

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2. Die Voraussetzungen im einzelnen Grundelemente klagbarer Informationsansprucbe 30

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Im folgenden sollen nur holzschnittartig die wesentlichen von der Rechtsprechung und Literatur geforderten Grundelemente eines jeden klagbaren Informationsanspruchs, ihr "kleinster gemeinsamer Nenner" herausgearbeitet werden. Es wird sich im Laufe der weiteren Behandlung der "Wahrheitsfrage" zeigen, daß die Entwicklung unserer Rechtsordnung auf dem Wege zu sein Stürner, aaO., S. 293; Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 38f. Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 33ff. 24 Stürner, aaO., S. 311 fT. 25 So Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 37. 26 RGZ 108,1 (7); seither st. Rspr., vgl. etwa BGHZ 10,387; BGH NJW 1978, 1002. 27 RGZ 73, 286fT. 28 Vgl. etwa BGH, NJW 1983, 328; BAG AP Nr.l u. 3 zu § 242 Auskunftspflicht; BGHZ 55, 201 fT. 29 Nachw. bei Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 35, 37f.; Haug, aaO., S. 41 in Fn. 39. 30 Vgl. Balthasar, aaO., S. 33fT. 22 23

A. Klagbare Infonnationsansprüche

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scheint, die Grenzen zwischen einem klagbaren subjektiven Informationsanspruch und einem rechtlichen Informationsverbot so zu verschieben, daß der zwischen diesen extremen Polen liegende weite Raum der Informationsfreiheit immer kleiner wird, bis letztlich "Freiheit" nur noch dort besteht, wo die Voraussetzungen für einen klagbaren Informationsanspruch gegeben sind 31 . Recht auf Wahrheit, Pflicht zur Wahrhaftigkeit und die Freiheit, die Wahrheit wissen und sagen zu dürfen, scheinen ineinander zu verschmelzen. Im einzelnen lassen sich die Voraussetzungen eines klagbaren Informationsanspruches wie folgt zusammenfassen: a) Materiell-rechtliche Sonderbeziehung

Wie bereits oben angedeutet, ist Voraussetzung eines jeden klagbaren Informationsanspruchs, daß zwischen den Parteien eine materiellrechtliche Sonderbeziehung besteht 32 , aus der sich eine "gesteigerte Ptlichtigkeit"33 ergibt, die den Informationspflichtigen von jedem x-beliebigen Bürger unterscheidet. Mit rechtlicher Sonder beziehung sind dabei rechtliche Beziehungen gemeint, die den Beteiligten über das "Gebot wechselseitigen Achtens" hinaus weitergehende Pflichten abverlangen und das Verhältnis zwischen den Beteiligten damit von dem zwischen allen Bürgern bestehenden "rechtlichen Grundverhältnis" abheben 34 , etwa vergleichbar mit den Garantenstellungen im Strafrecht. Der Grund für die Beschränkung auf rechtliche Sonderbeziehung liegt zu einem darin, daß fast alle gesetzlich geregelten Informationsansprüche eine solche erfordern, zum anderen ist er darin begründet, daß nur eine besondere Rechtsbeziehung zwischen Bürgern einen solchen Eingriff in die Rechtssphäre des anderen zu rechtfertigen vermag. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, z. B. im Erbrecht 35 , können auch außerhalb solcher Sonderrechtsbeziehungen Informationsansprüche bestehen. b) Informationsinteresse 36

Zur Verhinderung der unbegrenzten und unbegründeten Ausforschung und Belästigung der informationspflichtigen Partei ist Voraussetzung eines jeden Informationsanspruchs ferner, das Bestehen eines berechtigten Informationsinteresses. 31 Ehmann AcP 188 (1988), 230 (258); vgl. insbes. § 33 des BISG-Entwurfs der SPDFraktion vom 13.12.1988, BT-Drucks 11/3730; dazu unten § 7 C 11; § 10 C. 32 Lüderitz, Ausforschungsverbot und Auskunftsanspruch, S. 35; ders., Anm. zu BAG, AP Nr. 12 zu § 242 BGB Auskunftspflicht; Stürner, aaO., S. 317 fT. 33 Stürner, aaO., S. 326f. 34 Nachw. bei Stürner, aaO., S. 317. 35 Vgl. §§ 2002 Abs.2, 2005 Abs.2, 2011 S.2, 2012 Abs. 1 S.2, 2027, 2028 Abs. 1,2057, 2121,2122,2127,2130 Abs.2,2218, 2314, 2362 Abs.2 BGB; Stürner, aaO., S. 319; Winkler, aaO., S. 48 ff. 36 Stürner, aaO., S.329fT.; Winkler von Mohren/eis, aaO., S.51 tT.; Balthasar, aaO., S.36.

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§ 5 Das Recht auf Wahrheit im Regelungssystem des BGB

Bei präparatorischen Infonnationsansprüchen, die der Vorbereitung und Durchsetzung eines über die Infonnation hinausgehenden Hauptanspruchs dienen, mithin der Infonnationsanspruch sich streng am durchzusetzenden Hauptanspruch orientiert, ist das erforderliche Infonnationsinteresse nur dann zu bejahen, wenn das Bestehen des Hauptanspruches hinreichend sicher ist 37 . Es scheidet mithin immer dann aus, wenn der Hauptanspruch nicht besteht oder ihm dauerhafte Einreden entgegenstehen. Es ist hingegen zu bejahen, "wenn ausreichende Anhaltspunkte für das Bestehen des Anspruchs vorliegen", wenn der Anspruch also wie Stürner 38 es ausdrückt, "plausibel" ist. Soll ein Infonnationsbegehren hingegen erst dazu dienen, die nötigen Anhaltspunkte zu erlangen, so besteht kein berechtiges Infonnationsinteresse, vielmehr handelt es sich dann um einen unzulässigen Ausforschungsversuch 39 • Als berechtigt wird das Infonnationsinteresse auch nur bezüglich solcher Infonnationen angesehen, die für den verfolgten Hauptanspruch relevant sind 40 • Bei selbständigen Infonnationsansprüchen wird das berechtigte Infonnationsinteresse nur dann bejaht, wenn es von der besonderen Ptlichtigkeit des Infonnationspflichtigen gedeckt wird. c) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Dieser Punkt wird zwar in der Rechtsprechung und Literatur nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch dem Grunde nach entweder im Rahmen des berechtigten Infonnationsinteresses oder bei dem sog. Subsidiaritätsgrundsatz geprüft 41 . So verlangt Winkler von Mohren/eis beim Infonnationsinteresse als eigenständige Punkte "Erforderlichkeit der Inanspruchnahme der Auskunftsperson"42, "die Angemessenheit der Inanspruchnahme des Verpflichteten"43 sowie die "Billigkeit des Infonnationsverlangens" und im Rahmen des Subsidiaritätsgrundsatzes wird gefordert, daß der klagbare Infonnationsanspruch entfallen müsse, wenn der Kläger sich die notwendige Infonnation auf andere Weise verschaffen könne 44 • Deshalb werden diese Punkte hier unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zusammengefaßt. Es gilt folgendes: - Sind andere Mittel vorhanden, die dem Infonnationsinteresse Rechnung tragen, ohne dabei in dem Maße in die Rechte anderer einzugreifen, wie gerade die Inanspruchnahme des Verpflichteten, so ist letztere venneidbar, also nicht erforderlich45 . Vgl. etwa BGHZ 96, 188 (191 ff.) - Vertragserbe -. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Stürner, aaO., S. 329ff.; Winkler von Mohren/eis, aaO., S.53ff. 39 Vgl. auch Stürner, ZZP 98 (1985), 237ff.; BGHZ 61, 180 (185). 40 Winkler von Mohren/eis, aaO., S. 56. 41 Stürner, aaO., S. 336ff.; Balthasar, aaO., S. 39f.; Bork, JA 1983, 174 (175). 42 S.57. 43 S.58. 44 Stürner, aaO., S. 336ff. 37

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A. Klagbare InfonnationsanspTÜche

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Vom Verpflichteten können nur solche Informationen verlangt werden, deren Beibringung ihm bezüglich des erforderlichen Aufwands zumutbar ist 46 • Eine Informationspflicht besteht nur dann, wenn die Unkenntnis des Informationsberechtigten nicht von diesem selbst verschuldet wurde, wenn der Berechtigte trotz Möglichkeit und hinreichender Veranlassung zur früheren Informationssuche und Sicherung solches unterlassen hat. Art und Umfang der Informationserhebung richten sich nach der materiellrechtlichen Sonderbeziehung; die Informationsberechtigung ist umso weitergehender und die Informationsverpflichtung umso umfangreicher, je enger die "Rechtsbeziehung" ist 47 .

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In einer neueren Entscheidung hat das BVerfG aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung in dem Sinne abgeleitet, daß erlangbare Informationen über die Person des Vaters nicht vorenthalten werden dürfen 48 • IV. Einsichtsrecht in öffentliche Register49 Klagbare Informationsanprüche gewährt unsere Rechtsordnung auch durch Gewährung von Einsichtsrechten in öffentlich geführte Register. Bei öffentlichen Registern handelt es sich um Datensammlungen, die durch Gesetz zur Sicherung eines funktionierenden Rechtsverkehrs institutionalisiert worden sind. Einsichtsrechte in solche öffentliche Register gewährt die Rechtsordnung in einem abgestuften System. Es gibt Register, in die grundsätzlich Jedermann Einsicht nehmen kann, wie z. B. das Vereinsregister 50 , das Handelsregister 51 , das Güterrechtsregister 52 , das Schuldnerverzeichnis 53 etc.; in andere Register darf nur Einblick nehmen, wer ein berechtigtes oder ein rechtliches Interesse nachweist. Dies gilt z. B. für die Personenstandsbücher 54 und das Grundbuch 55; Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 57. Winkler von Mohrenfels, aaO., S. 58. 47 Balthasar, aaO., S.48. 48 BVerfG, JZ 1989, 335ff. m.Anm. Strack. 49 Zu Einschränkungstendenzen von Registerauskünften auf Grund des sogen. Grundrechts aufinfonnationelle Selbstbestimmung vgl. die Nachw. bei Ehmann AcP 188 (1988), 230 (299 ff.); vgl. nun aber auch BVerfG, RDV 1989, 77 f. - Schuldnerverzeichnis -; dazu unten § 10 C 11 3) c).; zum Umfang des Einsichtsrechts in das Handelsregister vgl. BGH, RDV 1990, 31 f. 50 § 79 BGB. 51 § 9 Abs. 1 HGB; dazu Kollhosser, NJW 1988, 2409ff. und zuletzt BGH, RDV 1990, 31f. 52 § 1563 BGB. 53 § 915 ZPO; zu Refonnvorstellungen sh. Ehmann, aaO. 54 § 1 Personenstands gesetz. 55 § 12 GBO; dazu Böhringer, RPfleger 1987, 181 ff. 45

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6 Brossette

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andere Register stehen zur Einsicht nur ganz bestimmten Personengruppen offen, z. B. das Bundeszentralregister 56 oder das Verkehrsregister 57 • Die Abstufung der Zugangsvoraussetzungen erfolgt dabei nach der Funktion, die das Register im Rahmen des Rechtsverkehrs erfüllt und der Art der gespeicherten Daten 58 •

B. Unentwickelte Informationsansprüche (Anzeige-, Mitteilungs-, Aufklärungs- und Offenbarungspflichten)59 I. Eigen- und Selbstverantwortlichkeit als Prinzip des BGB

Neben den genannten klagbaren Informationsanspruchen, die dem anderen Teil helfen sollen, sein künftiges Verhalten zu bestimmen, hat die Rechtsprechung zahlreiche unentwickelte Informationsansprüche, die auch als Anzeige-, Mitteilungs-, Aufklärungs- und Offenbarungspflichten bezeichnet werden, entwickelt. Diese sind nicht als Informationsanspruche einklagbar, sie sind vielmehr retrospektiv 60 • Die vorenthaltene Information ist meist bekannt geworden und jedenfalls jetzt ohne Wert, weil die Verhaltensreaktion bereits erfolgt ist und es nur noch um den Ausgleich des entstandenen Nachteils geht 61 • Das BGB selbst kennt solche unentwickelten Informationspflichten nur vereinzelt innerhalb bestehender Vertragsverhältnisse. So konstituieren etwa die §§ 545 Abs. 1, 650 Abs. 2,694 BGB zur Vermeidung von Schadensersatzanspruchen des anderen Teils Anzeigepflichten. Außerhalb des BGB bestehen verschiedene neuere spezialgesetzliche Regelungen, die insbes. aus Grunden des Verbraucherschutzes Aufklärungspflichten normieren 62. Eine weitere wichtige Norm, die bereits vor Vertragsschluß umfangreiche Anzeigepflichten normiert, findet sich in § 16 VVG: § 42 Bundeszentralregistergesetz. § 30 StVG. 58 Leue, in: Vollkommer (Hrsg.), aaO. 59 Vgl. dazu Kress, Schuldrecht AT, S. 5ff.; 578ff.; Palandt, 47. Aufl, § 123 Anm. 2 c, § 242Anm 4 B d, §276 Anm 6 B c, §433 Anm 7 j, 631 Anm 2 a, § 823 Anm 6 B i, 14; MKRoth, §242 Rn. 197ff.; MK-Emmerich, Vor §275 Rn. 43ff. in Fn 74 m.w.Nachw.; AKTeubner, § 242 Rn. 70ff.; Breidenbach, Die Voraussetzungen von Informationspflichten; Deutsch, VVertrR, 1984, S.140ff.; Lauer, Vorvertragliche Informationspflichten, S. 100ff.; Werres, Aufklärungspflichten in Schuldverhältnissen; Burghardt, Aufklärungspflichten des Bürgschaftsgläubigers; Klingler, Aufklärungspflichten im Vertragsrecht; Küpper, Das Scheitern von Vertragsverhandlungen, S. 173 ff; zur älteren Lit. u. Rspr. vgl. die Nachw. bei Staudinger-Weber, 11. Aufl. 1961, Anm. 829ff.; zum Arztrecht vgl. etwa die Nachw. bei Laufs, Arztrecht und Staudinger-Schäfer, § 823 Rn. 360ff., 469ff. sowie Wiedemann, in: Soergel / Siebert, Vor § 275 Rn. 307 ff.; Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens. 60 Werres, aaO., S. 4. 61 Kress, Schuldrecht AT, S. 5ff., 578ff.; MK-Roth, §242 Rn. 197. 62 Nachw.bei Werres, S. 5 ff; zum Versicherungsrecht Taupitz (Fn.59), 38ff. 56 57

B. Unentwickelte Infonnationsansprüche

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"Der Versicherungsnehmer hat bei Schließung des Vertrages alle ihm bekannten Umstände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer anzuzeigen. Erheblich sind die Gefahrenumstände, die geeignet sind, auf den Entschluß des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu dem vereinbarten Inhalt abzuschließen. Ein Umstand, nach dem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, gilt im Zweifel als erheblich."

Dem BGB selbst sind solche ausdrücklichen und weitreichenden vorvertraglichen Aufklärungspflichten fremd. Allerdings kennt es eine Reihe von Vorschriften, die zur Begründung einer Schadensersatzpflicht an ein arglistiges Verschweigen anknüpfen und damit begriffsnotwendig das Bestehen einer Aufklärungspflicht voraussetzen 63 • Daneben kann das Verschweigen bestimmter Informationen im Rahmen der §§ 123, 826 BGB und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bei Vorliegen besonderer Umstände Bedeutung haben (vgl. ferner § 33 EheG; § 89 VerglO; § 196 KonkO). Dem BGB-Gesetzgeber war zwar bewußt, daß zahlreiche Lebenssachverhalte denkbar sind, in denen man auch von Rechts wegen eine Partei für verpflichtet ansehen muß, die anderen ungefragt wahrheitsgemäß über Tatsachen aufzuklären, die für ihre Willensentschließung von Bedeutung sind; wegen der Vielzahl und der Unterschiedlichkeit der zu regelnden Sachverhalte stellte er hierzu jedoch resignierend fest, daß sich die Lösung dieser Frage der gesetzlichen Regelung entziehe und hat diese Aufgabe der Rechtsprechung überlassen 64 • Dem BGB liegt die liberale Auffassung der Eigen- und Selbstverantwortlichkeit der Vertragspartner zu Grunde, die sich grundsätzlich unabhängig als gleichermaßen urteilsfähige Partner gegenüberstehen 65 und in freier Selbstbestimmung, Reichweite und Inhalt vertraglicher Pflichten festlegen 66 • Danach obliegt es jeder Partei selbst, sich über das allgemeine Marktrisiko und die Vertragsrisiken in der eigenen Sphäre, über den Vertragspartner und dessen Zuverlässigkeit etc. zu informieren. Der "natürliche Interessenwiderstreit" im klassischen Vertragsmodell steht einer wechselseitigen Pflicht zur Aufklärung, zumal grundsätzlich niemand verpflichtet ist, seinen eigenen Interessen zuwider zu handeln, entgegen 67 • Die Statutierung einer allgemeinen Aufkärungspflicht Kress, Schuldrecht AT, § 23; Werres, aaO., S. 11. MoU 208 = Mugdan I 467; ebenso Medicus, Verschulden bei Vertragsverhandlungen, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. I 1981,479 (539). 6S Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 481 f.; Taupitz (Fn. 59), 31 tT. 66 Vgl. dazu auch Flume, AT, Bd. 2, § 1. Zur Wirksamkeit auch risikoreicher Verträge als Ausfluß der Privatautonomie vgl. BGH, NJW 1989, 1276 = Schreiber, JK 89, BGB § 305/1; BGH NJW 1989, 1665 = Coester-Waltjen, JK 89, BGB § 305/ 2; zur Kritik an dieser Konzeption des BGB vgl. etwa Böhmer, Einführung in das BGB, insbes. §§ 4-6,13, 26, 35 tT.; Schmidt, JZ 1980, 153 tT.; Hippel, Der Schutz des Schwächeren, 1982; Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974; Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen; Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 1973. 67 AK-Teubner § 242 Rn. 70. 63

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würde im Ergebnis das Erzielen von Gewinn auf Kosten des Vertragspartners sowie die Ausnutzung besonderer Marktkenntnisse und sonstiger Informationsvorteile unmöglich machen 68 und damit unser ganzes Wirtschaftssystem in Frage stellen. Zudem liefe sie den Regelungen des BGB, wonach ein bloßer Motivirrtum bei der Willensbildung grundsätzlich unbeachtlich ist 69 (Ausnahme§§ 119 Abs. 2, 123 BGB), zuwider, denn nachdem Regelungssystemdes BGB soll grundsätzlich die Verantwortung für den Willensbildungsprozeß als bloßes Internum bei jedem selbst liegen 70 und nicht dem Vertragspartner aufgebürdet werden. So hat denn auch das Reichsgericht der Ansicht der Vorinstanz, der Verkäufer sei nach Treu und Glauben verpflichtet, "dem Käufer alle ihm bekannten Umstände mitzuteilen, die nach vernünftigem Ermessen für die Willensentschließung des Käufers erheblich sein können", widersprochen, aber zugleich wenig aussagekräftig eine Mitteilungspflicht bei Tatsachen angenommen, "dessen Mitteilung der andere Teil unter den gegebenen Umständen nach der Verkehrsauffassung erwarten darf'71, was nach den Verhältnissen des einzelnen Falles zu beurteilen sei. Das RG ist über diese einzelfallbezogene Billigkeitsrechtsprechung auch in späteren Entscheidungen nicht hinausgekommen 72 und auch der BGH hat eine exaktere Beschreibung der Aufklärungspflichten vermieden und sich stattdessen auf die Grundsätze von Treu und Glauben 73 und die Verkehrsauffassung 74 gestützt7 5 • Mit dieser punktuellen Billigkeitsrechtsprechung 76 hat der BGH mit Hilfe des "Allzwecksinstruments der cic"?? die Aufkärungspflichten nach und nach beträchtlich ausgedehnt und die spezialgesetzlichen Gefahr- und Risikoverteilungsregeln so zum Teil auf den Kopf gestellt. Deutlich zu erkennen ist dabei eine Abkehr vom Prinzip der Selbstverantwortlichkeit hin zum Schutz vor eigener Sorglosigkeit und damit verbunden ein Abbau freier Selbstbestimmung 78 . Der Gedanke, daß man als freier Bürger auch die Aufgabe und Verpflichtung hat, sich selbst zu schützen, indem man bevor man ein Rechtsgeschäft abschließt, sich über die rechtlichen und tatsächlichen Folgen hinreichend informiert, tritt immer mehr in den Hintergrund 79, während auf der anderen Seite der Gedanke der SelbstbestimMK-Roth, § 242 Rn 200. Allgern. Meinung, vgl. statt aller, MK-Kramer, § 119 Rn. 10,91, § 123 Rn. 10. 70 Vgl. etwa Werres, aaO., S. 24. 71 RGZ 62,149 (150); vgl. auch RGZ 120, 249 (252); BGHZ 60,221 (224); 71, 386 (396); BGH, WM 1986, 11 (12); BGH, NJW 1987, 909 (910); MK-Emmerich, Vor § 275 Rn 43. 72 RG JW 1921, 680 f.; RGZ 111, 233 ff. 73 Etwa BGH, NJW 1971, 1795 (1799). 74 Etwa BGH, BB 1954, 360. 75 Werres, aaO., S. 14. 76 AK-Teubner, § 242 Rn. 70. 77 Werres, aaO., S. 21; dazu Küpper, aaO., S 171 ff. 78 Lange-Köhler, BGB AT, § 58 I, S.423; Werres, aaO., S. 22f. 79 MK-Roth, § 242 Rn 202. 68

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mung und Autonomie immer mehr betont wird BO. Eine klare Linie und verallgemeinerungsfähige Grundsätze läßt die Rechtsprechung jedoch nur bezüglich weniger Punkte erkennen. Roth B1 kennzeichnet die rechtliche Situation treffend wie folgt: " ... , nahezu alle im folgenden genannten Umstände können durch andere wieder eingeschränkt und entwertet werden. Die sichere Vorherbestimmung ist oft ausgeschlossen." 11. Der Weg der Rechtsprechung

Ausgehend vom inneren Grund der Haftung aus cic, der Inanspruchnahme von Vertrauen einerseits und dessen Gewährleistung andererseits B2 , sieht die Rechtsprechung den haftungsbegründenden Tatbestand dann für gegeben an, wenn sich die Verantwortlichkeit des Auskunftspflichtigen, ähnlich wie bei den Informationspflichten, zu einer Art Garantenstellung verdichtet hat. Mit Hilfe dieser Konstruktion werden dem Vertragspartner nicht nur sachbezogene, produktbezogene oder die Rechtsfolgen eines Rechtsgeschäfts betreffende, sondern auch die persönlichen und sachlichen Verhältnisse betreffende Aufklärungspflichten auferlegt. Eine Aufklärungspflicht wird etwa angenommen bei der Inanspruchnahme besonderer Fachkunde. Auf dieser Grundlage sind den Gebrauchtwagenhändlern B3 zahlreiche Aufklärungspflichten auferlegt worden. Auf dieser Grundlage werden auch für Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte B4 und Architekten zahlreiche Aufklärungspflichten statuiert. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sollen Rechtsanwälte B5 und Architekten B6 sogar verpflichtet sein, auf möglicherweise gegen sie bestehende Regreßansprüche hinzuweisen. Garantenstellungen können sich ferner aus übernommener Interessenwahrung, aus einer vertraglichen Vertrauensstellung oder Ingerenz ergeben. So hat das BAG87 einen Arbeitgeber, bei dem die Auszahlung fälliger Löhne zweifelhaft war, für verpflichtet gehalten, einen Stellenbewerber über diesen Umstand aufzuklären. Ferner hat der BGH88 etwa im Fall eines Dazu unten § 10 C. aaO., Rn 200. 82 Küpper, aaO., S. 179ff., Werres, aaO., S 73. 83 Vgl. z.B. BGHZ 63, 382ff. 84 Dazu Laufs, Arztrecht, S. 55ff. m. umfangreichen Nachw. 8S Vgl. BGH, NJW 1975, 1655; OLG Celle, VersR 1978, 119; vgl. ferner MK-Hanau, §276 Rn 172ff.; MK-Seiler, §675 Rn 8ff. insbes. 9:" Nach st. Rspr. erstreckt sich die Belehrungspflicht des Anwalts auch auf die gegen ihn selbst bestehenden Ansprüche und eine insoweit drohende Verjährung; er muß gegen sich selbst Schritte unternehmen oder das Mandat niederlegen." 86 BGH BauR 1978, 235 (237); mehrfach bestätigt durch BGH BauR 1985,97; 1986, 112; vgl dazu Jagenburg, NJW 1987, 2974ff.; Allgemein zur AutKlärungspflicht der Architekten, Werner / Pastor, Der Bauprozeß, 5. Aufl., Rn. 1244ff., 1299 ff.; zur Offenbarungspflicht anderer Berufe vgl. Taupitz (Fn. 59) § 3. 87 NJW 1975, 708. 88 NJW 1974, 1505 (1506). 80 81

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Grundstückskaufs, bei dem der Verkäufer zu erheblichen finanziellen Aufwendungen veranlaßt war, angenommen, daß der seine Mutter als Käuferin vertretende Sohn deren wirtschaftliche Lage nicht unerwähnt lassen durfte. Auch innerhalb eines Bankvertrages können besondere Umstände einer Aufklärungs- und Warnpflicht der Bank gegenüber einem Kunden begründen. Die Rechtsprechung hat dies angenommen, wenn die Bank Kenntnis von der Zahlungseinstellung oder dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Kreditnehmers, Überweisungsempfängers oder dessen Empfangsbank hat 89 • Aufklärungspflichten sind von der Rechtsprechung auch sonst bezüglich der Zahlungsunfähigkeit oder gar der bloßen Überschuldung bejaht worden 90 • Im Versicherungsrecht kann die Verletzung einer Obhutspflicht auch ohne Verschulden den Verlust des Versicherungsschutzes ganz oder teilweise auslösen 91 • Verschweigt z. B. ein Autofahrer dem Versicherer gegenüber bei der Unfallanzeige die Mitfahrer, so kann dies den Verlust des Versicherungsschutzes zur Folge haben. Selbst unvollständige oder falsche Auskünfte gegenüber der Polizei sind von den Gerichten als Verletzung der Aufklärungspflicht gegenüber dem Versicherer begriffen worden 92 • In bereits rechtshängigen Zivilprozessen verbirgt sich ähnliches hinter der Sanktion von Behauptungs- und Beweislastumkehrungen 93 . So hat der BGH z. B. in einem Fall, in dem der OHG Gesellschafter auf die ihm vertraglich zustehende Zulassung zur Geschäftsführung klagte, gegen den aber die Mitgesellschafter einwandten, er leide an persönlichen Defekten, die den Anspruch ausschlössen 94 , die nicht beweispflichtige Partei für verpflichtet erklärt, die Untersuchung einschließlich körperlicher Eingriffe zu dulden und den Verstoß gegen diese Pflicht mit Prozeßnachteilen sanktioniert 95 • Hinter dieser Rechtsprechung steht auch der Gedanke, daß der Vertragspartner auf solche Umstände hinweisen muß, die erkennbar den Vertragszweck 96 89 Dazu Zöllner, ZHR 149 (1985),179 (185) unter Bezug auf BGH WM 1982, 1111; ferner Canaris, Bankvertragsrecht, 3. Aufl., § 46 Rn 80 m.w.Nachw.; grundlegend RGZ 139, 103 ff; MK-Roth, § 242 Rn 214; datenschutzrechtlich sollen solche Auskünfte jedenfalls bei Privatkunden - nur nach förmlicher schriftlicher Einwilligung des Betroffenen erteilt werden dürfen; dazu Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (257, 349ff.). 90 Vgl. MK-Roth, § 242 Rn 204. 91 Vgl. Deutsch, VVertR, 1984, S. 151f.; Pröllsj Martin, VVG, 23. Aufl., § 6 Anm. 9. 92 Vgl. BGH, VerR 1983, 258ff. 93 Vgl. Stephan, in: Zöller, vor §284, Rn. 21; Baumbachj Lauterbachj A/bersj Hartmann, Anh. § 286, Anm. 3 C; Jauernig, Zivlprozeßrecht, § 50 VII; vgl. auch Fn. 9, ferner Taupitz, (Fn. 59) § 8. 94 BGH, NJW 1958, 1491 ff. 9S BGH, NJW 1958, 1491 ff.; BGH LM Nr. 5 zu § 286 (B); BGH, NJW 1972,1131 ff; zustimmend Stürner, aaO., S.20; zu Beweislastfragen im Arbeitsrecht vgl. Haug, Informationelle Strategien im Arbeitsrecht, S. 107ff. m.w.Nachw. 96 Zur Bestimmung des Vertragszwecks vgl. Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (272ff.); allgern. zum Zweck im Recht vgl. Kress, Schuldrecht AT, § 5.

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gefährden können 97 • Aber auch ohne besondere Zweckgefährdung können innerhalb besonders enger Vertragsbeziehungen mit starkem personalen Element weitreichende Aufklärungspflichten bestehen. So soll nach Meinung in der Literatur 98 bei "Eingehen der Ehe" der Partner nicht nur über eine evtl. Unfruchtbarkeit, sondern über alle Tatsachen aufzuklären haben, die für ein vertrauensvolles Zusammenleben der Partner von Bedeutung sind, z. B. ansteckende Krankheiten, die Existenz eines minderjährigen Kindes aus früherer Ehe etc. Das OIG Frankfurt 99 hat einen ehemaligen kath. Priester für verpflichtet erachtet, seine Partnerin, die praktizierende Katholikin war, über seine Vergangenheit als Priester aufzuklären ll)(). Keine Aufklärungspflicht besteht in diesem Bereich bezüglich der eigenen Vermögensverhältnisse (vgl. § 31 Abs.3 EheG). Erkennbar ist auch eine starke Tendenz der Rechtsprechung dahingehend, daß die cic in immer stärkerem Maße zum Schutze geschäftlich Unerfahrener oder wirtschaftlich unterlegener Parteien gegen ihre Überrumpelung durch besonders versierte oder übermächtige Partner 101 und zum Zwecke des Verbraucherschutzes eingesetzt wird 102. UI. Kritik

Inwieweit die ständige Ausweitung der Aufklärungspflichten über die Generalklauseln der cic und unter Mißachtung der spezialgesetzlichen Regelungssysteme 103 notwendig und sachgerecht ist, insbes. im Hinblick auf den Gedanken des Verbraucherschutzes, muß hier im wesentlichen dahinstehen und kann letztlich nur am konkreten Einzelfall und bereichsspezifisch für den jeweiligen Vertragstyp unter Beachtung der jeweiligen besonderen Gefahrtragungsregeln entschieden werden. Jedoch sind einige grundsätzliche Erwägungen erforderlich. Letztlich läuft die Rechtsprechung darauf hinaus, dem einzelnen immer mehr die Befugnis abzusprechen, "selbst bestimmen zu können, welche Verträge er mit wem zu welchen Bedingungen abschließen will", und die Verträge einer umfassenden richterlichen Billigkeitskontrolle zu unterwerfen 104-. Damit wird 97 Dazu AK-Teubner, § 242 Rn. 72; Werres, aaO., S 11 0 ff.; Küpper, aaO., S 179 m.w.Nachw. 98 Vgl. etwa MK-Müller-Gindullis, § 33 EheG, Rn. 7. 99 FamRZ 1964, 258 (260). 100 Dazu Werres, aaO., S. 150f. 101 MK-Emmerich, Vor § 275 Rn 54. 102 Vgl. z. B. BGH, NJW 1974, 849 (850). 103 Werres, aaO., S. 28ff. 104 Für mehr Freiheit und Selbstverantwortung der Vertragspartner im Hinblick auf die Privatautonomie nunmehr auch der BGH, NJW 1989, 830 (831): "Grundsätzlich sind Darlehensverträge nicht allein deshalb mit den guten Sitten unvereinbar, weil der Dariehnsnehmer nicht in der Lage ist, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Die Vertagsfreiheit als Teil der Privatautonomie läßt es zu, auch risikoreiche Geschäfte

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dem einzelnen zwar "die Last der Verantwortung", die Teil eigenverantwortlicher Selbstbestimmung ist, für eigenes Tun genommen, da "Kauf nicht mehr Kauf ist" und das alte Rechtssprichwort "Augen auf: Kauf ist Kauf' seine allgemeine Geltung verloren hat, zugleich wird er dadurch aber in seiner geschäftlichen Sorglosigkeit durch ein neues Rechtssprichwort: "Der Richter wirds schon richten" bestärkt, wissend daß viele seiner eigenen "Dummheiten und Sorglosigkeiten" durch die Konstruktion weiter Aufklärungspflichten der "Mächtigen" ihm nicht zum Nachteil gereichen werden, da diesen die eigene Selbstverantwortung kraft Richterrechts als Fremdverantwortung übertragen worden ist. Eine solche Risikoverlagerung, die in die Rechte der anderen Vertragspartei nicht unerheblich eingreift, in dem sie diese verpflichtet, ihren eigenen Interessen entgegen zu handeln und Pflichten zu Gunsten Dritter begründet, erscheint nur dort gerechtfertigt, wo der einzelne auch bei gehöriger Anstrengung seiner eigenen Kräfte, wozu auch die Heranziehung fachkuridigen Rates durch Dritte gehören kann, nicht in der Lage ist, sich hinreichend selbst zu schützen oder wo Beratungs- und Aufklärungspflichten mit zum Vertragsgegenstand gehören, weil etwa gerade damit geworben worden ist oder gerade das besondere Fachwissen Gegenstand des Vertrages ist. Informationen, die der andere Teil durch zumutbare Nachforschungen sich selbst zu verschaffen vermag, braucht der andere nicht ungefragt 105 zu offenbaren, dies folgt schon aus dem sonst so gerne herangezogenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wo der einzelne bei zumutbarer Sorgfalt einen naheliegenden Irrtum in der Willens bildung selbst vermeiden kann, ist kein Raum für die Aufklärungspflicht des anderen Teils. Eigenverantwortung geht vor Fremdverantwortung. Auch kann nicht jedes unfaire oder unmoralische Verhalten 106 des künftigen Vertragspartners zu einer Aufklärungspflicht führen, soll diese nicht zu einer allgemeinen "Schweinehundregel" degradiert werden 107 • In diesem Grenzbereich zwischen bloß unfairem Verhalten und Rechtsverletzung sollte man durchaus auf die reinigende Kraft des Marktes vertrauen. Zudem steht die stetige Ausweitung der Aufklärungs- und Offenbarungspflichten in einem erheblichen Wertungswiderspruch zu Tendenzen in Rechtsprechung und Gesetzgebung auf dem Gebiet des sogenannten Persönlichkeits-, Daten- und Informationsschutzes. Während dort immer stärker der Gedanke der Seibstbestimmung l08 im Sinne einer Preisgabebefugnis über alle personenabzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die nur unter besonders günstigen, gegebenenfalls unter dauernder Inanspruchnahme des pfändungsfreien Einkommens, erbracht werden können."; vgl. auch BGH, NJW 1989, 1276 = Schreiber, JK 89, BGB § 305/1; BGH, NJW 1989,1665 = Coester-Waltjen, JK 89, BGB, § 305/2; zu den Grenzen der Vertragsfreiheit zuletzt etwa BVerfG, NJW 1990, 1469 (1470); zur Inhaltskontrolle von Verträgen außerhalb des AGBG, Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1 tr. 105 Zur Verpflichtung der wahrheitsgem. Beantwortung von Fragen vgl. unten § 7 C II. 106 Zum Verhältnis von Recht und Moral vgl. etwa Geddert, Recht und Moral, Berlin 1984 m.w.Nachw. 107 Richtig Werres, aaO., S. 20.

B. Unentwickelte Informationsansprüche

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beziehbaren Informationen betont und damit selbst die Freiheit, die Wahrheit sagen und in Erfahrung bringen zu dürfen immer weiter, gerade auch mit dem Argument beschränkt wird, daß sie geeignet sei, dem anderen zu schaden, wird hier immer extensiver die Verpflichtung aufgestellt, ungefragt wahre Sachverhalte zu offenbaren, also die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie die eigenen subjektiven Interessen empfindlich verletzt. Der Wertungswiderspruch läßt sich auch nicht mit dem Hinweis darauflösen, daß es bei den Aufklärungspflichten regelmäßig um sachbezogene Informationen gehe, während beim Persönlichkeits-, Daten- und Informationsschutz die personenbezogene Information im Vordergrund stehe. Die Ausweitungstendenz im Daten- und Informationsschutz zielt nämlich gerade auf die Ausweitung der geschützten Information weg vom klassischen Geheimnis-, Persönlichkeits- und Sphärenschutzes hin zu jeder personenbeziehbaren 1W Information, letztlich also jeder, aufgrund derer eine Beziehung zur Person im weitesten Sinne hergestellt werden kann. Zudem betreffen die Aufklärungspflichten gerade auch persönliche Sachverhalte. IV. Haftung aus organisiertem sozialen Kontakt? Entgegen der hier vertretenen Auffassung einer eher restriktiven Auslegung von Informations- und Aufklärungspflichten wird in der Literatur z. T. deren Ausweitung durch Anerkennung einer dritten Haftungsnorm neben Vertrag und Delikt, nämlich "der Haftung aus organisiertem sozialen Kontakt" 110, gefordert, da weder das klassische Vertrags- noch das Deliktsrecht in der Lage seien, die durch funktionale Differenzierung neu auftauchenden Risikolagen und Interpendenzen zwischen hochspezialisierten Positionen zu bewältigen lll. Es müsse über die Zweierbeziehung hinausgegriffen und eine institutionelle Koordination zwischen arbeitsteilig spezialisierten gesellschaftlichen Positionen mit haftungsrechtlichen Mitteln erbracht werden. Bereits die Rechtsprechung habe allgemein die Nebenpflichten umgeformt zu einem "Recht der schwächeren Partei auffürsorgende Hilfe beim Vertragsschluß"ll2. Die neuen dogmatischen Schlüsselbegriffe, die hinter dieser Rechtsprechung stünden, seien "Vertragszweck, Rolle und Organisation"ll3. Über den Vertragszweck sei der Umweltbezug zum System herzustellen 114 und die Vertragsumwelt ((1) die persönliche Beziehungsebene der Vertragspartner (2) die den Einzelvertrag Vgl. dazu insbes. unten § 10 C II; Taupitz (Fn. 59), 35ff. Vgl. etwa § 87 a Nr. 3 des Gesetzesentwurfs der SPD Fraktion vom 28.09.1988 zur Änderung des BetrVG, BT.-Drucks. 11 /2995. 110 AK-Teubner, § 242 Rn 59,65. 111 AK-Teubner, § 242 Rn 47. 112 StolI, zitiert bei AK-Teubner, § 242 Rn. 53. 113 AK-Teubner, § 242 Rn. 71. 114 AK-Teubner, § 242 Rn. 51. 108

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§ 5 Das Recht auf Wahrheit im Regelungssystem des BGB

übergreifende Ebene von Markt und Organisation (3) die gesamtgesellschaftliche Ebene des Zusammenspiels von "Politik", "Wirtschaft" und Recht)115 systematisch in das interne Pflichtengefüge einzubeziehen. Durch "rollenspezifische Beratungspflichten" sei Markttransparenz herzustellen, sowie "Informations-, Kompetenz- und Machtasymetrien"1l6 auszugleichen. Das Informationsgefälle zwischen den Parteien sei der Auslöser von Aufldärungspflichten. Aus dem Prinzip der "organisationsbezogenen Risikoverlagerung" sei ein Recht der schwächeren Partei auf fürsorgende Hilfe beim Vertragsschluß abzuleiten 1l ? • Tatsächlich ist nicht zu verkennen, daß auch diese Gedanken sich hinter einzelnen Entscheidungen des BGH verbergen und daß das klassische Vertragsund Deliktsrecht in zahlreichen Fällen durch neue Institute ergänzt werden mußte, da neue Lebenssachverhalte entsprechende Rechtsregeln erforderten. Hierauf beruht die Entwicklung der cic ll8 , der PVVll9, des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter 120 , der Drittschadensliquidation 121, der Produzentenhaftung 122 , die Entwicklung des Einwendungsdurchgriffs beim finanzierten Abzahlungskauf1 23 , die Prospekthaftung 124 sowie die Statuierung zahlreicher Nebenleistungspflichten. Falsch ist es jedoch, die von Teubner aus der Rechtsprechung heraus interpretierten Gesichtspunkte zu neuen und allgemein geltenden Ordnungsprinzipien zu erheben, da man sich damit von den gesetzlich vorgegebenen Leitprinzipien völlig entfernt und die Ausnahme zur Regel erhebt. Dahinter steht der Gedanke, so ein neues Pathos zu schaffen, um dann mit den Schlagworten "Machtgleichgewicht", "InformationsgefäIIe", "Recht der schwächeren Partei" etc. die bisher noch geltenden Prinzipien der Vertragsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit aus dem Bewußtsein zu verdrängen, um ein neues Wirtschaftssystem zu schaffen. Solche Veränderungen vorzunehmen ist aber nicht Aufgabe der Rechtsprechung, sondern - wenn überhaupt - Aufgabe der Gesetzgebung. Die Ansicht von Teubner zeigt aber zugleich, daß hinter der Ausweitung der Aufklärungs- und Offenbarungspflichten einerseits und der Ausweitung des Daten- und Informationsschutzes andererseits sich doch ein, wenn auch AK-Teubner § 242, Rn. 21. AK-Teubner, § 242 Rn 75; zu ähnlichen Gedanken im Datenschutzrecht vgl. unten § 10 B, C. 117 AK-Teubner, § 242 Rn 79. 118 Vgl. RGZ 78, 239ff. Linoleumrolle -; zur Entwicklung der cic vgl. etwa die Nachw. bei Küpper, aaO., S. 21 ff. 119 Dazu Medicus, Schuldrecht I, AT, § 35 m.w.Nachw. 120 Medicus, aaO., § 67. 121 Medicus, aaO., § 54 IV. 122 Vgl. dazu Deutsch, Unerlaubte Handlungen und Schadensersatz, Köln 1987, § 18. 123 Vgl. dazu Pfaff, Schuldrecht durch Rechtsprechung, S. 27ff. 124 BGHZ 70, 263ff.; 84, 143ff. 115

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B. Unentwickelte Infonnationsansprüche

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falsches, System verbirgt. Beide Standpunkte werden insbes. mit Schlagworten wie "Machtgleichgewicht" , "Informationsgefälle" , "Schutz der schwächeren Partei" und dem RollenbegrifTbegründet. Sowohl die Ausweitung des Informationsschutzes, als auch die Ausweitung der Aufklärungspflichten werden als sich ergänzende Mittel zur Herstellung von "Machtgleichgewicht" verstanden, indem den sogen. "Mächtigen" einerseits der InformationszugrifT erschwert wird, und sie gleichzeitig verpflichtet werden, die "Schwächeren" stärker zu informieren. Anerkennt man das Ziel "Herstellung von Machtgleichgewicht" , so ist der oben aufgezeigte Wertungswiderspruch aufgelöst.

§ 6 Wahrheit als Rechtsverletzung im Regelungssystem des BGB bis zur Anerkennung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts

A. Konzeption des BGB und die Rechtsprechung des Reichsgerichts I. Überblick Während der Gesetzgeber innerhalb und außerhalb des BGB zahlreiche Informationsansprüche zur Sicherung des Informationsverkehrs normiert hat, sind dem BGB spezielle Informationserhebungs- und Verbreitungsverbote als Schutz vor der Wahrheit völlig fremd. Nur in einigen Spezialgesetzen, wie im Kunsturhebergesetz l und dem Urhebergesetz 2 , hat der Gesetzgeber spezielle Informationsverbreitungsverbote für bildliche Aufnahmen und gewisse Schriftstücke normiert. Dies ist vor folgendem Hintergrund zu sehen: Im Zivilrecht ist die Diskussion, inwieweit die Wahrheit eine Rechtsverletzung sein kann, nicht so ausgeprägt geführt worden wie im Strafrecht beim dargestellten Kampf um die Zulassung des Wahrheitsbeweises bei Ehrverletzungen 3 • Die actio injuriarum4, die bei den Römern einen weitreichenden Persönlichkeitsschutz in Teilbereichen auch gegen das Erheben und Verbreiten wahrer Tatsachen gewährt hatte S , wurde seit der Rezeption des römischen Rechts mehr und mehr als reiner Ehrenschutz mißverstanden 6 und, obwohl sie eigentlich dem Zivilrecht angehörte7, immer weiter ins Strafrecht gedrängt 8 • Zuletzt dadurch, daß der BGB-Gesetzgeber und weite Teile der Literatur die Ehre über die §§ 185 ff. StGB i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB als ausreichend geschützt ansahen 9 und deshalb einen weitergehenden zivilrechtlichen Schutz der Ehre für entbehrlich §22 KUG. §§ 12fT. UrhG. 3 Vg!. oben § 3 B. 4 Vg!. dazu Enneccerus/ Kipp/ Wolf, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1,1. Abt!., Recht der Schuldverhältnisse und Register, § 450; Jhering, in: JherJb. 23 (1885), 155 fT.; Kaufmann, AcP 162 (1963), 424fT.; Scheying, AcP 158 (1960), 505ff.; Rogall, Grundfragen eines strafrechtlichen Schutzes der Privatsphäre, § 3 I; Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert, S. 65ff., 73fT. 5 Rogall, aaO., § 2 1. 6 Kohler, GoltdA 47 (1900), S. 8f., 29,34; Binding, Lehrbuch, Bd. 1, S. 132f.; Leuze, aaO., S. 65ff. 7 Leuze, aaO., S. 77; zum zivilrechtlichen Ehrenschutz vg!. Holzschuher, Theorie und Casuistik des Gemeinen Zivilrechts, S.449fT. 8 Vg!. Maass, Information und Geheimnis im Zivilrecht, S. 8 m.w.Nachw. 9 Mugdan, Bd. II, S. 418; Leuze, aaO., S. 77; Maass, aaO., S. 8 m.w.Nachw. 1

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hielten. Zudem scheute der Gesetzgeber sich, einen weitergehenden zivilrechtlichen Schutz einer persönlichen Geheimsphäre oder der Persönlichkeit selbst, wie in der Literatur vielfach gefordert lO , aufzunehmen. Grund dieser ablehnenden Haltung war, ebenso wie bei der philosophischen Diskussion um die Erlaubtheit der Lüge l l und im strafrechtlichen Ehrenschutzverfahren um die Zulässigkeit der Einrede der Wahrheit, die Angst davor, dem Richter sonst eine dem deutschen Recht fremde, allzu souveräne Stellung bei der Ausübung eines kaum eingrenzbaren Ermessens zukommen zu lassen 12 • Hinzu kam das im 19. Jahrhundert herrschende Dogma, daß Ersatz nur bei vermögenswerten Gütern zu beanspruchen sei, d. h. jede Deliktsobligation auch einen Vermögenswert haben müsse 13 • Diese vom Gesetzgeber vertretene Auffassung hat dazu geführt, daß das Reichsgericht Schutz gegen das Erheben und Verbreiten wahrer Tatsachen nur über§ 823 Abs. 2 BGB iVm§ 123,299,300 StGBa.F. und§§ 185ff. StGB, soweit die Wahrheit nicht bewiesen werden konnte oder die Voraussetzungen des § 192 StGB vorlagen oder über 826 BGB gewähren konnte 14 • Einen weitergehenden Vgl. etwa die Nachw. bei Leuze, aaO., S. 68. Vgl. oben 2. Kapitel I. 12 Mugdan, Bd. 2, S. 418f.; dazu Leuze, S. 69; zu gleichen Bedenken beim strafrechtlichen Ehrschutz vgl. etwa Köstlin, GoltdA 3 (1855), 306 (324): "Man denke nur an die Rücksicht a.(Ausschluß der Wahrheitseinrede wenn der Beschuldiger keine trifftige Veranlassung hatte, die Wahrheit zu sagen (Einf.v.Verf.)), wie sehr liegt, wenn man sie abstrakt festhäIt, Alles in der Laune und Willkür des Richters! Wie schlimm steht es dann mit der Redefreiheit! Wenn der Richter darüber entscheiden soll, ob ich eine trifftige Veranlassung hatte, die Wahrheit zu sagen, so wird dieses mein Recht fast illusorisch, und dem Richter wird eine Macht eingeräumt, die ihm garnicht gebührt, die er zur gänzlichen Eludirung des Rechts der freien Rede mißbrauchen kann, die dazu schon oft genug mißbraucht worden ist. Dasselbe gilt von der Rücksicht c.(Ausschluß der Wahrheitseinrede, wenn die Aussage durch den Ort an dem sie gemacht wird, injurierend werde, wie Kanzel, Gericht, Wirtshaus etc. (Einf. v. Verf.)), die im Grunde nur ein Filial der Mutterrücksicht ist. Wenn nur nach objektiver Hinsicht darüber entschieden werden soll, ob ich überhaupt eine trifftige Veranlassung hatte, die Wahrheit zu sagen, ob ich eine solche hatte, sie gerade an diesem Ort zu dieser Zeit, in dieser gesellschaftlichen Kombination etc. auszusprechen, so hängt alles von dem subjektiven Belieben, dem Privatgeschmack des Richters, seinen feineren oder gröberen Nerven, dem Thermometer eigener Verletzlichkeit, der Freiheit oder Engherzigkeit, seiner eigenen Auffassung des geistigen Verkehrs etc. ab. Er ist es dann, der dem Recht der freien Rede seine Grenzen setzt, der seine Rationen dem Bürger vormißt. Allein dies steht ihm nicht zu und bringt ihn in eine ganz falsche Stellung. Noch fataler womöglich hat die selbständige Stellung der Rücksicht d. gewirkt. Denn hier hat schon die Gesetzgebung selbst in ihrer herkömmlichen Angst vor den Gefahren der Presse meist alles Maß überschritten, und um des möglichen Mißbrauchs willen das Recht, die Wahrheit zu sagen, auf höchst unzulässige Weise beschränkt". 13 Vgl. von Tuhr, AT., Bd.1, S. 149; Coing, JZ 1958, 558: Scheying, AcP 158, 507; Leuze, S. 26; Maass, S.8; Klippei, Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 1982, 136ff.; Becker, in: Erler / Kaufmann, Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, unter Persönlichkeitsrecht, Sp. 1627. 14 Vgl. die folgenden Urteile. 10 11

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Schutz vor zu viel Wahrheit, etwa durch Anerkennung der Ehreis , oder gar eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das über die gesetzlich besonders anerkannten Persönlichkeitsrechte (§ 12 BGB, § 22 KunstUrhG) hinaus den Deliktsschutz des § 823 Abs. 1 BGB genieße, lehnte das Reichsgericht 16 und ihm folgend die h. M. im Schrifttum 17 in ständiger Rechtsprechung ab. So heißt es in RGZ 69,401 ff. (403): "Ein allgemeines subjektives Persönlichkeitsrecht ist dem geltenden bürgerlichen Recht fremd. Es gibt nur besondere gesetzlich geregelte Persönlichkeitsrechte, wie das Namensrecht, das Warenzeichenrecht, das Recht am eigenen Bild, die persönlichkeitsrechtlichen Bestandteile des Urheberrechts."

Die Ehre war deshalb gegen fahrlässige Verletzungen nicht geschützt 18 • Aber auch vermögensrechtliche Interessen waren nach dem Willen des BGBGesetzgebers grundsätzlich nicht gegen die Wahrheit geschützt 19 • In diesem Bereich hielt man zwar den strafrechtlichen Schutz über § 187 StGB für nicht ausreichend 20, da § 187 StG B die Kreditgefährdung nur bei Mitteilung unwahrer Tatsachen wider besseres Wissen unter Strafe stellte und noch stellt, aber nicht etwa deshalb, weil man im Sinn gehabt hätte, daß auch die Wahrheit eine Kreditgefährdung sein könne, sondern nur, weil man dem wirtschaftlichen Ruf auch gegen solche Behauptungen für schützenswert erachtete, deren Unwahrheit der Angreifer zwar nicht kennt, aber die er hätte kennen müssen 21 • Allerdings wollte man selbst in diesen Fällen den Äußernden nicht immer haften lassen und hat die Haftung ausgeschlossen, wenn der Xußernde oder der Empfänger der Mitteilung an ihr ein berechtigtes Interesse hat, § 824 Abs. 2 BGB. Mithin war auch der wirtschaftliche Ruf gegen die Mitteilung wahrer Tatsachen grundsätzlich nicht geschützt. Auch das im Jahre 1896 22 in Kraft getretene Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb gewährte und gewährt ausdrücklich nur Schutz gegen unwahre oder nicht erweislich wahre Tatsachenbehauptungen 23 und geht damit bis heute - ebenso wie das BGB - davon aus, daß die Verbreitung wahrer Tatsachen mit Ausnahme der Fälle des Geheimnisverrates 24 grundsätzDazu RGZ 51, 369tT. Vgl. RGZ 51, 369tT.; 69, 401 tT.; 79, 397 (400); 107,277 (281); 113, 414tT.; 123, 313 (320). 17 Umfassende Nachw. bei Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, S. 3 in Fn.6. 18 V gl. etwa Siber, Grundriß des deutschen bürgerlichen Rechts, 2, Schuldrecht, S. 454. 19 Vgl. Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (241). 20 Mugdan, Bd. II, S. 1118; Helle, Schutz der Persönlichkeit, S. 63. 21 Helle, aaO., S. 63. 22 Reichsgesetz vom 27.05.1896, RGBL. S. 145. 23 Vgl. §§ 14, 15 UWG; vgl. dazu und zu den Ausnahmen etwa Nordemann, Wettbewerberecht, 5. Aufl. 1986, Rn 298tT. 24 Vgl. § 17 UWG; dazu Krüger, Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses im Wettbewerbsrecht; Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbes, § 8. lS

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lieh kein unlauterer Wettbewerb, keine gegen die guten Sitten verstoßende Handlung und damit keine Rechtsverletzung sei 2s . Allerdings hat das Reichsgericht niemals verkannt, wie Anatol France formuliert, "daß die Wahrheit eine Keule sein kann, mit der man andere erschlägt"26 und deshalb aus den gesetzlichen Vorgaben nicht den möglichen Urnkehrschluß gezogen, daß die Wahrheit nie den wirtschaftlichen Ruf schädigen oder unlauterer Wettbewerb sein könne 27 , sondern es war stets bemüht über die Generalklauseln des § 826 BGB2s und dann über die durch das Gesetz vom 7.6.1909 29 eingeführte Generalklausel des § 1 UWG Rechtsschutz auch gegen die Weitergabe wahrer Informationen zu gewähren, wenn diese dazu benutzt wurden, dem anderen Teil ohne hinreichenden Grund wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, dabei jedoch beachtend, daß nach der Wertung des Gesetzgebers die Wahrheit grundsätzlich gesagt werden darf3°. 11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts 1. Kein Ebren- und Persönlicbkeitsscbutz

Entgegen einer zuweilen vertretenen Meinung 31 hat das Reichsgericht nicht bereits über § 826 BGB die Persönlichkeit als solche gegen Erhebung oder Weitergabe wahrer Informationen geschützt, vielmehr hat das Reichsgericht die Persönlichkeit über § 1 UWG und § 826 BGB nur mittelbar dann geschützt, wenn vermögenswerte Interessen in Frage standen, und es hat damit stets an dem alten Dogma festgehalten, daß eine Deliktsobligation auch einen Vermögenswert haben müsse 32 . Das Reichsgericht hat bei der Beantwortung der Frage, ob und wann die Mitteilung wahrer Informationen sittenwidrig und / oder wettbewerbswidrig ist, keine wesentlich neuen Erkenntnisse herausgearbeitet, sondern im wesentlichen auf Argumente zurückgegriffen, die bereits im dargestellten 33 Kampf um den 25

19.

Dazu Baumbach/ Hefermehl, 15. Aufl., § 1 UWG, Rn 285ff., Vor§§ 14, 15 UWG, Rn

Vgl. oben § 2 B. Vgl. Baumbach/Hefermehl, § 1 UWG, Rn 285; RG, GRUR 1944, 34 (35). 28 Dazu Emmerich, Wettbewerbsrecht, S. 9f. m.w.Nachw. 29 RGBI. S.499. 30 Vgl. auch BGH, NJW 1987, 2667 (2668) Vertrauensbruch -; "Denn auch in diesem Zusammenhang kann die in § 824 BGB zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertentscheidung nicht unberücksichtigt bleiben, daß gegenüber der Verbreitung wahrer Tatsachen einer Person, selbst wenn diese wegen der Gefahr für ihr berufliches oder geschäftliches Fortkommen vor der Öffentlichkeit geheimhalten möchte, grundsätzlich kein Deliktsschutz besteht, solange es sich nicht um Informationen aus der Intimsphäre handelt." 31 Vgl. die Nachw. bei Maass, aaO., S. 8ff. 32 Vgl. dazu richtg Maass, aaO., S.tt mit Nachw. zur gegenteiligen Ansicht. 33 Vgl. oben § 3 B. 26

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§ 6 Wahrheit als Rechtsverletzung im Regelungssystem des BGB

Ausschluß des Wahrheitsbeweises beim strafrechtlichen Ehrenschutz vorgebracht worden sind, sich aber für den Bereich des strafrechtlichen Ehrenschutzes nicht durchgesetzt haben und ist damit letztlich, allerdings nur soweit gleichzeitig vermögenswerte Güter betroffen waren, der Auffassung von losef Kohler 34 gefolgt: "In der That haben wir ja schon mehrfach hervorgehoben, dass der Persönlichkeitsschutz über den Beleidigungsschutz hinausgeht, und dass eine actio injuriarum auch im modernen Recht unbedingt erforderlich ist; und heutzutage giebt uns der § 826 BG B das ausreichende Hülfsmittel, um die Persönlichkeit nach allen Seiten hin zu schirmen. So sehr wir nun darauf bestehen, dass die Beleidigung als strafrechtlicher Begriff auf ihr Gebiet streng beschränkt wird, so sehr müssen wir betonen, dass für die anderwärtigen Interessen der Persönlichkeit die civilistischen Hülfsmittel angewendet werden können, um sie zu behüten und zu decken." 2. Wahrheit und Sittenwidrigkeit -

FaUbeispiele -

Wie das Reichsgericht im einzelnen geurteilt und welche Methoden es dabei angewandt hat, soll im folgenden an einigen exemplarisch dargestellten Fällen, insbesondere der Mitteilung strafrechtlicher Verfehlungen, gezeigt werden. a) Grundsatz: Die Wahrheit ist frei Die Frage, ob die Verbreitung der Tatsache, daß ein anderer eine Straftat begangen oder wegen einer solchen angeklagt war, sittenwidrig iSd §§ 826 BGB, 1 UWG ist, hat das RG in mehreren Entscheidungen beschäftigt. In einer Entscheidung aus dem Jahre 191135 hatte es zunächst noch die Ansicht vertreten, daß es nicht gegen die guten Sitten verstoße, wenn ein Kaufmann bereits durch die Presse veröffentlichte Berichte über ein Strafverfahren gegen einen Konkurrenten wettbewerbshalber verbreite. "Rechtsgrundsätzlich verstößt hiernach die Verbreitung durch die Presse öffentlich bekanntgewordener wahrer Vorgänge an sich in keiner Weise gegen die guten Sitten. Also reicht dazu auch nicht das bloße Vorzeigen solcher Zeitungsausschnitte im Kundenkreise der Klägerin aus, gleichviel, ob der Beklagte sie den geschäftlich bereisten Kunden der Klägerin vorzeigt und dabei zum Vorteil des eigenen Geschäftes sein Absatzgebiet in den bisherigen Kundenkreis des Klägers hinein zu erweitern versucht hat. Derartiger Wettbewerb unter geschäftlicher Ausnutzung wahrer, bereits an die Öffentlichkeit gelangter Vorgänge, die den Geschäftsleiter des Unternehmens der Klägerin mit Recht in der Achtung der Geschäftswelt herabsetzen können, ist, wenn auch nicht vornehmer Art, so doch noch nicht nach dem Anstandgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen an sich verwerflich."

Es hielt ein solches Verhalten nur für sittenwidrig, wenn besondere Umstände hinzutreten: 34 3S

GoltdA 47 (1900), 1 (150). RGZ 76, 110 (112).

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z. B. wenn er weniger wettbewerbshalber als hauptsächlich schikanös die Ausschnitte vorgezeigt hätte, um das Unternehmen der Klägerin nur böswillig geschäftlich zu ächten; oder wenn er durch alte Zeitungsausschnitte ohne Jahresangabe Vorgänge aus längst vergessener Vergangenheit in dem Sinne wieder aufgedeckt hätte, als handele es sich um frische Geschehnisse von gegenwärtig noch beachtlicher Tragweite. "

b) Durch Interessenabwägung zur Sittenwidrigkeit - Beispiel Auskunftei -

Auch in einer späteren Entscheidung hat das RG36 an dem Grundsatz festgehalten, daß bei Mitteilung wahrer Tatsachen, die Sittenwidrigkeit ihrer Mitteilung nur aus besonderen Umständen abgeleitet werden könne 37 . Die Frage, ob ein solcher Umstand vorliegt, hat es dann auf Grund einer einzeljallbezogenen Güter- und Interessenabwägung vorgenommen, wie dies später der BGH38 auch bei der Beantwortung der Frage, ob ein Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht vorliegt, getan hat, weshalb diese Entscheidung als beispielhaft dafür bezeichnet werden kann, wie auch über § 826 BGB ein weitreichender und wirksamer Persönlichkeitsschutz hätte gewährleistet werden können, wie dies etwa von Kohler 39 , von Tuhr