Datenschutz in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe: Die öffentliche Jugendgerichtshilfe im Spannungsfeld zwischen dem Recht der Gerichte und Behörden auf Information und dem Grundrecht des beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auf informationelle Selbstbestimmung [1 ed.] 9783428518876, 9783428118878

Der Datenschutz in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe (JGH) ist bislang praktisch ungeregelt. Der Gesetzgeber verweist

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Datenschutz in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe: Die öffentliche Jugendgerichtshilfe im Spannungsfeld zwischen dem Recht der Gerichte und Behörden auf Information und dem Grundrecht des beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auf informationelle Selbstbestimmung [1 ed.]
 9783428518876, 9783428118878

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CONSTANZE WEBERS

Datenschutz in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe

Strafrechtliche Abhandlungen • Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (t) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 166

Datenschutz in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe Die öffentliche Jugendgerichtshilfe im Spannungsfeld zwischen dem Recht der Gerichte und Behörden auf Information und dem Grundrecht des beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auf informationelle Selbstbestimmung

Von

Constanze Webers

Duncker & Humblot • Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Werner Beulke, Passau Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 739 Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11887-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Dissertation entstand zwischen Oktober 2002 und Oktober 2004 während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht sowie Kriminologie der Universität Passau. An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Ich danke Herrn Dipl.Soz.Päd. (FH) Matthias Wagner für die Anregung zur vertieften Auseinandersetzung mit der Problematik des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe. Mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Werner Beulke, war ein engagierter Förderer meiner Arbeit. Er gab mir durch seine fachliche Kompetenz viele Anregungen zur Bewältigung des Themas und unterstützte mich in vertrauensvoller Zusammenarbeit. Hier bedanke ich mich ganz besonders herzlich, war doch der Lehrstuhl über viele Jahre meine wissenschaftliche Heimat. Herrn Prof. Dr. Bernhard Haffke sei für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens herzlich gedankt. Meinen Eltern möchte ich meine tiefe Dankbarkeit dafür aussprechen, dass sie nicht nur mein Studium ermöglicht, sondern darüber hinaus auch jederzeit mein Promotionsvorhaben tatkräftig unterstützt und gefördert haben. Schließlich danke ich meinem Ehemann für sein Verständnis und die besondere Zuwendung in problematischen Arbeitsphasen. Die Sicherheit unserer Beziehung war die wesentliche Motivationsquelle in den anstrengenden, persönlich jedoch positiv prägenden Jahren. Passau, im April 2005

Constanze Webers

Inhaltsverzeichnis I.

Problemaufriss

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung 21 1. Einleitung 21 2. Träger, Zuständigkeit und Organisation der Jugendgerichtshilfe 22 a) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe 22 b) Die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe 22 c) Die sachliche und örtliche Zuständigkeit sowie die interne Fallzuständigkeit der Jugendgerichtshilfe 23 d) Die Organisation der Jugendgerichtshilfe 24 3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht - ein geschichtlicher Abriss 25 a) Die Entwicklung bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 25 b) Die Jugendgerichtsbewegung 27 c) Das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1923 29 d) Das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 31 e) Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 32 f) Reformdiskussion in der Wissenschaft und Reform in der Gesetzgebung 32 4. Die Doppelfunktion der Jugendgerichtshilfe 35 a) Gerichtshilfe 35 b) Beschuldigtenhilfe 36 c) Die Zwitterstellung der Überwachungsfunktion 37 d) Mitwirkungsrechte der Jugendgerichtshilfe zur Sicherung der Aufgaben Wahrnehmung 38 5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze 39 a) Hintergründe und geschichtliche Entwicklung des Intra-Rollenkonfliktes 39 b) Konfliktvermeidung durch Veränderung der Funktionsdefinition der Jugendgerichtshilfe 42 c) Organisatorische Lösungsansätze 44 d) Konfliktverminderung durch Konflikteingeständnis 45 e) Datenschutzrechtliche und strafprozessrechtliche Lösungsansätze 46 III. Grundlagen des Datenschutzrechts 1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes a) Die datenschutzrechtliche Situation vor dem „Völkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts b) Das „Völkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts: verfassungsrechtliche Prinzipien des Datenschutzes

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nsverzeichnis

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(1) (2) (3) (4)

Vorbehalt des Gesetzes Gebot der Normenklarheit Verhältnismäßigkeitsprinzip (Übermaßverbot) Zweckbindungsprinzip. Prinzip der „informationellen Gewaltenteilung" (5) Institutionalisierte Verarbeitungskontrolle (6) Selbsterhebungsgrundsatz (7) Transparenzgebot c) Die Datenschutzgesetze der zweiten und dritten Generation (1) Das Bundesdatenschutzgesetz von 1990 (2) Das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches von 1994 (3) Der Einfluss der Europäischen Datenschutzrichtlinie d) Allgemeine Systematik der (sozial-)datenschutzrechtlichen Vorschriften im öffentlichen Bereich (1) Der Geltungsbereich der bundesrechtlichen Datenschutz Vorschriften (2) Der Geltungsbereich der länderrechtlichen Datenschutz Vorschriften (3) Bereichsspezifische Spezialnormen des Bundes am Beispiel der für den Bereich der (allgemeinen) Kinder- und Jugendhilfe geltenden Sozialdatenschutzvorschriften (4) Der Geltungsbereich sonstiger Geheimhaltungsvorschriften (5) Zusammenfassung 2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts a) Sozial-/Datenschutz b) Personenbezogene Daten/Sozialdaten c) Betroffener d) Automatisierte Verarbeitung/nicht automatisierte Datei e) Datenerhebung f) Datenverarbeitung (1) Speichern (2) Verändern (3) Übermitteln (4) Sperren (5) Löschen g) Datennutzung h) Öffentliche Stelle/Verantwortliche Stelle/Empfänger/Dritter. Die Kontroverse um den Behörden- und Stellenbegriff IV. Die Sonderregelung des Datenschutzes im Bereich der öffentlichen Jugendgerichtshilfe 1. Die Entwicklung des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe: Vom allgemeinen über den bereichsspezifischen hin zum „bereichsbereichsspezifischen" Schutz der Daten a) Die Rechtslage vor dem In-Kraft-Treten des SGB VIII 1990 b) Die datenschutzrechtlichen Vorschriften des SGB VIII 1990

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c) Insbesondere: Die Kontroverse über die Befugnis der Jugendgerichtshilfe zur Datenerhebung nach § 62 SGB VIII 1990 (1) Eine Ansicht: Befugnis der Jugendgerichtshilfe zur Datenerhebung ohne Mitwirkung des betroffenen Jugendlichen aus §§43, 38 JGG (2) Gegenauffassung: keine Befugnis der Jugendgerichtshilfe zur Datenerhebung ohne Mitwirkung des betroffenen Jugendlichen 2. Die Rechtslage nach dem Ersten Gesetz zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1993 a) Die Entstehung des § 61 Abs. 3 SGB VIII b) Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes betreffend die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten durch das Jugendamt bei der Mitwirkung im Jugendstrafverfahren (1) §§ 38, 43 JGG: Aufgaben- oder Befugnisnormen? - Überblick über den aktuellen Meinungsstand (2) Stellungnahme (a) Abgrenzung: Aufgaben- und Befugnisnorm (b) Historische Auslegung der §§ 38, 43 JGG (c) Grammatikalische Auslegung des § 38 Abs. 2 JGG (d) Systematische Auslegung des § 38 Abs. 2 JGG (e) Teleologische Auslegung des § 38 Abs. 2 JGG (f) Verfassungskonforme Auslegung des § 38 Abs. 2 JGG (g) § 38 Abs. 2 JGG: Kein Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis (h) § 43 Abs. 1 (S. 4 i.V.m. § 38 Abs. 3) JGG c) Zur Frage der Vereinbarkeit des § 61 Abs. 3 SGB VIII mit § 37 S. 2 SGB I d) Datenschutz in der Jugendgerichtshilfe - ein ungeregelter Bereich? Lösungsansätze (1) Anwendung von BDSG und/oder SGB I, SGB X (2) Direkter Rückgriff auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (3) Weitere Lösungsansätze (4) Rechtstheoretische Herleitung einer Problemlösung 3. Konsequenzen für die Praxis: Die für das Jugendamt bei der Mitwirkung im Jugendstrafverfahren geltenden Datenschutznormen im Einzelnen a) Datenerhebung (1) Bei dem straffällig gewordenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden selbst (2) Bei anderen (Bezugs-)Personen (3) Bei öffentlichen Stellen (a) Jugendgerichtshilfe anderer Jugendämter (b) Von der Jugendgerichtshilfe verschiedene Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe eines anderen Jugendamtes

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(c) Sonderfall: von der Jugendgerichtshilfe verschiedene Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe desselben Jugendamtes (d) Stellen der Sozialverwaltung mit Ausnahme des Jugendamtes (e) Öffentliche Stellen außerhalb der Sozial Verwaltung (f) Datenerhebungsbefugnis und Übermittlungspflicht (g) Risiken des Rückgriffs auf Akten (4) Zusammenfassung b) Speichern und Verändern von Daten c) Übermitteln von Daten (1) Polizei (2) Staatsanwaltschaft (3) Jugendgericht anlässlich der Hauptverhandlung (4) Bewährungshilfe und Strafvollzug (5) Jugendgerichtshilfe anderer Jugendämter (6) Freie Träger der Jugend(gerichts)hilfe (7) Von der Jugendgerichtshilfe verschiedene Bereiche der Kinderund Jugendhilfe eines anderen Jugendamtes (8) Sonderfall: von der Jugendgerichtshilfe verschiedene Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe desselben Jugendamtes (9) Zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung (10) Zusammenfassung d) Datennutzung (1) Daten Weitergabe an Kollegen oder Supervisor (2) Daten weitergäbe zu Aufsichts- und Kontrollzwecken (3) Daten weitergäbe zu Ausbildungs- und Prüfungszwecken e) Rechte des betroffenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden f) Sanktionen bei Verletzung des Datenschutzes

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V. Legislatorische Alternativen de lege ferenda 1. Verankerung datenschutzrechtlicher Befugnisse im Jugendgerichtsgesetz a) Neufassung des § 61 Abs. 3 SGB VIII b) Ergänzung des Jugendgerichtsgesetzes 2. (Wieder-)Einbeziehung des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe in das Normengefüge des SGB VIII

160 160 161 162

VI. Fazit

170

Anhang

174

Literaturverzeichnis

177

Stichwortregister

192

167

Abkürzungsverzeichnis a.A. AAz. Schl.-H. Abb. abgedr. ABl. ABl. EG ABl. EKD Abs. a.E. a.F. AG JGH AGJ Anm. AöR Art. ASD Aufl. BAG BAG JGH B AT BayDSG BayGO BayKJHG BayMeldeG BayVwVfG BbgDSG Bd. BDSG Bek. betr. BewHi BfD BGB BGBl. BGH

andere Ansicht Amtlicher Anzeiger Schleswig-Holstein Abbildung abgedruckt Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland Absatz am Ende alte Fassung Arbeitsgruppe Jugendgerichtshilfe in der DVJJ Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe Anmerkung Zeitschrift „Archiv für öffentliches Recht" Artikel Allgemeiner Sozialer Dienst Auflage Bundesarbeitsgericht Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendgerichtshilfe der DVJJ B undes-Angestelltentarifvertrag Bayerisches Datenschutzgesetz Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern Bayerisches Kinder- und Jugendhilfegesetz Bayerisches Gesetz über das Meldewesen Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz Brandenburgisches Datenschutzgesetz Band Bundesdatenschutzgesetz Bekanntmachung betreffend Zeitschrift „Bewährungshilfe" Bundesbeauftragte(r) für den Datenschutz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof

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BGHSt BKK BldW BlnDSG BMJ BMJFG BremDSG BremVwVfG BRRG BSGE Bsp. BT BVerfG BVerfGE BWVPr bzw. CDU CR CSU DAVorm DDR ders. d.h. DJT DÖV DRiZ Drucks. DSG M-V DSG NRW DSG-EKD DSG-LSA DuD DVB1. d. Verf. DVJJ DVJJ-Extra DVJJ-Journal ebs.

Abklirzungs Verzeichnis

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Zeitschrift „Die Betriebskrankenkasse" Zeitschrift „Blätter der Wohlfahrtspflege" Berliner Datenschutzgesetz Bundesministerium der Justiz Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit Bremisches Datenschutzgesetz Bremisches Verwaltungsverfahrensgesetz Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundessozialgerichts Beispiel Bundestag Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Baden-Württembergische Verwaltungspraxis beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Computer und Recht Christlich-Soziale Union in Bayern Zeitschrift „Der Amtsvormund" (ab 2001 JAmt) Deutsche Demokratische Republik derselbe das heißt Deutscher Juristentag Zeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung" Zeitschrift „Deutsche Richterzeitung" Drucksache Landesdatenschutzgesetz Mecklenburg-Vorpommern Datenschutzgesetz Nordrhein-Westfalen Kirchengesetz über den Datenschutz in der Evangelischen Kirche in Deutschland Datenschutzgesetz Sachsen-Anhalt Zeitschrift „Datenschutz und Datensicherheit" Zeitschrift „Deutsches Verwaltungsblatt" der Verfasser Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe e.V. DVJJ-Journal EXTRA Mitgliederrundbrief der DVJJ (ab 2/2003 ZJJ) ebenso

Abkürzungsverzeichnis

Erl. f. ff. Fn. Forum Jugendhilfe FS GBl. gem. GG ggü. GV./GVB1./GVOB1. GVG HDSG HmbDSG HmbVwVfG Hrsg. hrsg. HS. HVwVfG i.d.F. i.E. insbes. i.Ü. i. V. m. Jahrg. JAmt JGG JGH JR JStA Jugendhilfe Jura JuS JWG JWohl JZ KDO KJHG krit. KuR LDSG LDSG BW

Erläuterung folgende fortfolgende Fußnote Zeitschrift „AGJ-Mitteilungen" Festschrift Gesetzblatt gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Hessisches Datenschutzgesetz Hamburgisches Datenschutzgesetz Hamburgisches Verwaltungsverfahrensgesetz Herausgeber herausgegeben Halbsatz Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung im Ergebnis insbesondere im Übrigen in Verbindung mit Jahrgang Zeitschrift „Das Jugendamt" Jugendgerichtsgesetz Jugendgerichtshilfe Zeitschrift „Juristische Rundschau" Jugendstaatsanwalt Zeitschrift „Jugendhilfe" Zeitschrift „Juristische Ausbildung" Zeitschrift „Juristische Schulung" Jugendwohlfahrtsgesetz Zeitschrift „Jugendwohl" Zeitschrift „Juristenzeitung" Anordnung über den kirchlichen Datenschutz Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts kritisch Zeitschrift „Kirche und Recht" Landesdatenschutzgesetz Landesdatenschutzgesetz Baden-Württemberg

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LDSG RP LDSG SH LfD LG LT LVwG SH LVwVfG BW LVwVfG RP m. E. m. w. N. MBL MDR MiStra MRRG MschrKrim NDSG NDV n.F. NJW NK Nr. NStZ NVwVfG NVwZ NZS o. OLG OVG RdJ RdJB RDV RGBl. RJGG RJWG Rn. RsDE RStGB s. S. SächsDSG

Abkrzungserzeichnis

Landesdatenschutzgesetz Rheinland-Pfalz Landesdatenschutzgesetz Schleswig-Holstein Landesbeauftragte(r) für den Datenschutz Landgericht Landtag Allgemeines Verwaltungsgesetz Schleswig-Holstein Landesverwaltungsverfahrensgesetz Baden-Württemberg Landesverwaltungsverfahrensgesetz Rheinland-Pfalz meines Erachtens mit weiteren Nachweisen Ministerialblatt Zeitschrift „Monatsschrift für Deutsches Recht" Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen Melderechtsrahmengesetz Zeitschrift „Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform" Niedersächsisches Datenschutzgesetz Zeitschrift „Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Vorsorge" neue Fassung Zeitschrift „Neue Juristische Wochenschrift" Zeitschrift „Neue Kriminalpolitik" Nummer Zeitschrift „Neue Zeitschrift für Strafrecht" Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz Zeitschrift „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht" Zeitschrift „Neue Zeitschrift für Sozialrecht" oben Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Zeitschrift „Recht der Jugend" (ab 1968 RdJB) Zeitschrift „Recht der Jugend und des Bildungswesens" Zeitschrift „Recht der Datenverarbeitung" Reichsgesetzblatt Reichsjugendgerichtsgesetz Reichsjugendwohlfahrtsgesetz Randnummer Zeitschrift „Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen" Reichsstrafgesetzbuch siehe Seite(n); Satz (Sätze) Sächsisches Datenschutzgesetz

Abkürzungsverzeichnis

SächsVwVfG SDSG SGB I SGB VIII SGB X s.o. SPD StGB StPO StV StVollzG

s.u. SVwVfG ThürDSG ThürVwVfG u. u.a. UJ ULD usw. v. Var. VerpflichtungsG vgl. VO vv VwGO VwVfG VwVfG LSA VwVfG M-V VwVfGBbg WK ZblJugR ZfJ ZfSH/SGB ZfStrVo ZG zit. 2 Webers

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Sächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz Saarländisches Datenschutzgesetz Sozialgesetzbuch, Erstes Buch Sozialgesetzbuch, Achtes Buch Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch siehe oben Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Zeitschrift „Strafverteidiger" Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) siehe unten Saarländisches Verwaltungsverfahrensgesetz Thüringer Datenschutzgesetz Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetz unten; und unter anderem Zeitschrift „Unsere Jugend" Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein und so weiter vom Variante Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen vergleiche Verordnung Verwaltungsvorschrift Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes Verwaltungsverfahrensgesetz Sachsen-Anhalt Landesverwaltungsverfahrensgesetz Mecklenburg-Vorpommern Verwaltungsverfahrensgesetz Brandenburg Weltkrieg Zeitschrift „Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt" (ab 1984 ZfJ) Zeitschrift „Zentralblatt für Jugendrecht" Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Zeitschrift für Gesetzgebung zitiert

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ZJJ ZRP ZStW

Abkrzungserzeichnis

Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

I. Problemaufriss „Ipsa scientia potestas est." („Wissen ist Macht.")» konstatierte der englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626)1. In besonderem Maße bewahrheitet sich diese Erkenntnis im Verhältnis zwischen Staat und Bürger 2: Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte und Verwaltungsbehörden benötigen vielfältige Informationen über den Rechtsunterworfenen, um ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllen und ihre staatlichen Machtbefugnisse ausüben zu können. Staatliche Institutionen haben daher ein Interesse an möglichst umfassenden Informationsbeschaffungsrechten, ungehemmten Informationsflüssen innerhalb einer Behörde sowie einem umfangreichen interbehördlichen Informationsaustausch. Demgegenüber hat der Rechtsunterworfene ein Interesse daran, möglichst wenige Informationen über sich preiszugeben, zumindest aber zu wissen, wer was wann über ihn erfährt, um nicht zum „gläsernen Bürger" zu werden. Einen Ausgleich dieser gegensätzlichen Interessen zu schaffen, ist die Aufgabe des Datenschutzrechts. Der Gesetzgeber hat, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im so genannten „Volkszählungsurteil" folgend, den Datenschutz im Bundesdatenschutzgesetz, in den Datenschutzgesetzen der Länder sowie in zahlreichen bereichsspezifischen, d.h. auf spezielle Informationsverarbeitungssituationen zugeschnittenen Datenschutzgesetzen geregelt. Dabei hat auch der Datenschutz in der Jugendgerichtshilfe eine bereichsspezifische Regelung erfahren. Die entsprechende Norm, § 61 Abs. 3 SGB VIII, welche für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten durch das Jugendamt bei der Mitwirkung im Jugendstrafverfahren auf die Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes verweist, ist jedoch in ihrer Bedeutung unklar geblieben. Es fragt sich insbesondere, ob das Jugendgerichtsgesetz überhaupt datenschutzrechtliche Eingriffsbefugnisse verleiht und falls dem nicht so sein sollte, wie die dann entstehende Lücke im Datenschutz zu schließen ist. Diesen Fragen will die vorliegende Abhandlung nachgehen. Hierzu soll zunächst ein kurzer Überblick über Wesen, Aufgaben und Rechtsstellung der Jugendgerichtshilfe sowie ihre geschichtliche Entwicklung gegeben werden. An1

Zit. nach: Der Duden, Bd. 12, Stichwort „Wissen ist Macht". Vorbemerkung zum Sprachgebrauch: Im Text erfolgt die Bezeichnung weiblicher und männlicher Personen aus Gründen der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit jeweils in der maskulinen Form. Mit allen verwendeten Personenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint. 2

2*

20

I. Problemaufriss

schließend wird auf die normativen Grundlagen sowie die Grundbegriffe des allgemeinen Datenschutzrechts einzugehen sein. Schließlich soll das spezifische Problem des Datenschutzes in der Jugendgerichtshilfe erörtert und einer dogmatischen Lösung zugeführt werden. Mit der Darstellung der Konsequenzen der gefundenen Lösung für die Praxis und für das Selbstverständnis der Jugendgerichtshilfe schließen die Betrachtungen ab. Die Erörterungen konzentrieren sich dabei auf die datenschutzrechtlichen Regelungen, welche auf die ermittelnde Tätigkeit der in öffentlicher Trägerschaft stehenden Jugendgerichtshilfe Anwendung finden. Soweit der Vertreter der öffentlichen Jugendgerichtshilfe nämlich ausschließlich betreuend tätig wird, unterliegt er vollumfänglich den Datenschutzbestimmungen des Vierten Kapitels des SGB VIII 3 . Auf die freien Träger der Jugend(gerichts)hilfe findet hingegen §61 Abs. 3 SGB VIII keine Anwendung, sodass diesbezüglich die im Mittelpunkt der Abhandlung stehende Streitfrage keine Relevanz entfaltet. Die freien Träger unterliegen vielmehr eigenständigen Datenschutzregelungen, wie etwa den kirchlichen Datenschutzgesetzen. Auf die in freier Trägerschaft stehende Jugend(gerichts)hilfe wird daher nur insoweit einzugehen sein, als sich Berührungspunkte zur öffentlichen Jugendgerichtshilfe ergeben.

3

Vgl. nur Laubenthal JGH, S. 129.

II. Die Jugendgerichtshilfe Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung 1. Einleitung Jugendgerichtshilfe ist die von den Jugendämtern als Pflichtaufgabe (vgl. §§ 2 Abs. 3 Nr. 8, 3 Abs. 3 S. 1, 52 Abs. 1 SGB VIII, s. dazu u. II.2., S. 22 ff.) zu leistende Hilfe zur Durchführung des Jugendstrafverfahrens. Die Jugendgerichtshilfe ist ein Prozessorgan eigener Art 1 , welches in das Verfahren vor den Jugendgerichten die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Aspekte einbringen soll. Dies gilt nicht nur für das Verfahren gegen Jugendliche, sondern vielmehr ebenso für Verfahren gegen Heranwachsende2, auch wenn sie zwischenzeitlich erwachsen sind3, und gegen straffällig gewordene jugendliche bzw. heranwachsende Ausländer 4, selbst wenn sich diese nur vorübergehend als Touristen in Deutschland aufhalten 5. Die Einrichtung der Gerichtshilfe existiert zwar auch im allgemeinen (Erwachsenen-)Strafprozess 6. Ihre Aufgabe und rechtliche Organisationsform war hier jedoch im Unterschied zur Jugendgerichtshilfe lange Zeit umstritten (vgl. aber nunmehr §§ 160 Abs. 3 S. 2, 463d StPO). Im Gegensatz dazu hat die Institution der Jugendgerichtshilfe bereits im RJGG von 1923 ihre gesetzliche Anerkennung gefunden (s. dazu näher u. H.3., S. 25 ff.). Eine deutliche Beschreibung ihres Aufgabenbereiches findet sich in § 38 JGG (s. dazu u. H.4., S. 35 ff.). Der Dualismus der beiden Funktionen der Jugendgerichtshilfe - Hilfe für das Gericht einerseits sowie Hilfe für den jugendlichen bzw. heranwachsenden Beschuldigten andererseits - führt zwangsläufig zu Konflikten in ihrem Aufgabenund Selbstverständnis (s.u. H.5., S. 39 ff.).

1 2 3 4 5 6

Vgl. nur LG Bonn, NStZ 1986, 40. BGHSt 27, 250 ff. BGHSt 6, 354. BGH bei Holtz, MDR 1980, 456. BGH StrV 1982, 336 f. Vgl. hierzu Bottke, MschrKrim 1981, 62 ff.

22

II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

2. Träger, Zuständigkeit und Organisation der Jugendgerichtshilfe a) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe Nach § 38 Abs. 1 JGG sind die Jugendämter im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe die Träger der Jugendgerichtshilfe. Das SGB VIII präzisiert diese Aussage: Nach § 2 Abs. 1 SGB V I I I umfasst die Jugendhilfe „Leistungen" und so genannte „andere Aufgaben" zugunsten junger Menschen. Letztere sind Aufgaben, welche der Gesetzgeber „in Ausübung des Wächteramtes" nach Art. 6 GG nicht „zur Disposition des einzelnen (Kind, Jugendlicher, Eltern)" 7 stellen wollte. Die Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz gehört nach § 2 Abs. 3 Nr. 8 SGB V I I I zu diesen „anderen Aufgaben" der Jugendhilfe 8. Gemäß § 3 Abs. 3 S. 1 SGB VIII werden diese von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe wahrgenommen. Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind örtliche und überörtliche Träger (Gebietskörperschaften), welche die Aufgabenwahrnehmung an Behörden, namentlich die Jugendämter bzw. Landesjugendämter delegieren (vgl. § 69 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 SGB VIII). b) Die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind nach § 3 Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 76 Abs. 1 SGB VIII ermächtigt, anerkannte Träger der freien Jugendhilfe (§ 75 SGB Vni) an der Durchführung ihrer Aufgaben bei der Mitwirkung im Verfahren nach dem JGG zu beteiligen oder ihnen diese Aufgaben - widerruflich 9 - zur Ausführung zu übertragen. Zu den anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe zählen u.a. die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas und das Diakonische Werk sowie die auf Bundesebene zusammengeschlossenen Verbände der Freien Wohlfahrtspflege. Da es sich um die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben handelt, bestimmt § 76 Abs. 2 SGB VIII ausdrücklich, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben verantwortlich bleibt. Im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Vertrages mit dem Träger der freien Jugendhilfe, welcher für diesen die Rechtsgrundlage seines Tätigwerdens darstellt, muss sich daher das Jugendamt allgemeine, nicht auf den Einzelfall bezogene Kontroll- und (im Extremfall auch) Weisungsrechte vorbehalten. Das eigenständige Betätigungsrecht der freien Jugendhilfe steht dem nicht entgegen, weil sich dieses lediglich 7

Vgl. Begründung zum Entwurf des KJGH, BT-Drucks. 11/5948 S. 47. Krit. zu dieser Einordnung Jans/Happe/Saurbier/Maas, Erl. § 52 Art. 1 KJHG Rn. 29 sowie Mörsberger, in: BMJ-JGH, S. 149 [155]. 9 Vgl. Happe, RsDE 1994, 25 [29]. 8

2. Träger, Zuständigkeit und Organisation der Jugendgerichtshilfe

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auf den Bereich der Jugendhilfeleistungen beschränkt, nicht aber auf den Bereich der anderen Aufgaben übergreift, wie der Vergleich des Wortlauts des § 3 Abs. 2 S. 1 SGB VIII mit dem des § 3 Abs. 3 S. 1 SGB V I I I deutlich macht 10 . Eine Pflicht zur Übertragung einzelner Aufgaben besteht trotz des in § 4 Abs. 2 SGB VIII festgeschriebenen Grundsatzes der Zusammenarbeit der öffentlichen mit der freien Jugendhilfe nicht. Sinnvoll ist eine Aufgabenübertragung insbesondere, wenn dadurch auf spezialisierte Angebote freier Träger für bestimmte Zielgruppen, wie beispielsweise junge Migranten in Großstädten, zurückgegriffen werden kann. Zudem kann durch die Beteiligung der freien Träger der Gefahr verwaltungsmäßiger und bürokratischer Erstarrung der Jugendgerichtshilfe vorgebeugt werden 11. Von jedem Vertreter der Jugendgerichtshilfe wird - unabhängig von der Art der Trägerschaft, der er untersteht - eine hohe fachliche Qualifikation (z.B. im Hinblick auf kriminologische Erkenntnisse) erwartet. Das Jugendamt darf daher die Möglichkeit der Aufgabenübertragung nicht zur Abwälzung von Geschäften auf sachunkundige Personen nutzen. Es muss sich vielmehr jeweils von der spezifischen Befähigung des freien Trägers überzeugen 12. Zudem sollte in Fällen schwerer Kriminalität und wenn Widerstand zu erwarten ist von einer Aufgabenübertragung im Einzelfall abgesehen werden, da die öffentliche Jugendgerichtshilfe hoheitliche Befugnisse innehat sowie über die größere Autorität verfügt 13 . c) Die sachliche und örtliche Zuständigkeit sowie die interne Fallzuständigkeit der Jugendgerichtshilfe Die sachliche Zuständigkeit des Jugendamtes als Träger der öffentlichen Jugendhilfe folgt aus § 85 Abs. 1 i.V.m. §§ 2 Abs. 3 Nr. 8, 52 SGB VIII. Die örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes bestimmt sich nach § 87b i.V.m. §§ 86 Abs. 1-4 und 86a Abs. 1-3 SGB VIII. Danach ist grundsätzlich bei Jugendlichen der gewöhnliche Aufenthalt der Eltern und bei Heranwachsenden deren eigener gewöhnlicher Aufenthalt maßgeblich (so genanntes „Heimatjugendamt"). Die vor Einführung des § 87 b SGB VIII in der jugendstrafrechtlichen Literatur überwiegend vertretene Auffassung, es sei in entsprechender Anwendung des § 143 GVG die Zuständigkeit des Jugendamtes des jeweiligen Gerichtsbezirkes begründet 14, ist somit nunmehr überholt. 10

So auch Wiesner, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, Rn. 20; a.A. Krahmer, NDV 1994, 63 [65]. 11 Vgl. Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 34 II. 1. 12 Vgl. Papenheim, in: LPK-SGB VIII, 1. Aufl. 1998, § 76 Rn. 6. 13 Brunner/Dölling, JGG, § 38 Rn. 2. 14 Vgl. hierzu nur Becker, NJW 1954, 335 [337].

SGB VIII, § 76

24

II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

Fehlen Anknüpfungspunkte zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes, muss auf den tatsächlichen Aufenthaltsort abgestellt werden 15 . Andere Jugendämter können im Wege der Amtshilfe gehört werden. Die interne Organisation der Fallzuständigkeit innerhalb der Jugendämter erfolgt mehrheitlich regionalbezogen 16. Dies steht im Gegensatz zu der in der Justiz noch vorherrschenden Zuständigkeitsverteilung nach dem „anonymisierenden" Buchstabenprinzip, woraus Schwierigkeiten wie zum Beispiel Terminüberschneidungen resultieren können. Diese lassen sich jedoch durch eine intensivere Abstimmung zwischen den Beteiligten minimieren. Zudem besteht, wenn Justiz und Jugendamt nach demselben Zuständigkeitsprinzip arbeiten, die Gefahr, dass sich eine enge Kooperation zwischen dem einzelnen Vertreter der Jugendgerichtshilfe einerseits und dem Jugendstaatsanwalt sowie dem Jugendrichter andererseits entwickelt und sich so für den beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden das Bild von der einseitigen Gerichtsorientierung der Jugendgerichtshilfe verdichtet 17. d) Die Organisation der Jugendgerichtshilfe Die Organisation der Aufgaben des Jugendamtes liegt wie die Ablauforganisation in der so genannten Organisationshoheit der Träger der Jugendhilfe. Die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe werden zum größten Teil durch auf die Mitwirkung im jugendgerichtlichen Verfahren (teil-)spezialisierte Fachkräfte wahrgenommen. Dabei lässt sich aber ein deutliches Stadt-Land-Gefälle im Spezialisierungsgrad feststellen: Während sich bei den städtischen Jugendämtern überwiegend spezialisiert arbeitende Jugendgerichtshilfemitarbeiter finden (70%), ist in den Landkreisen (55% spezialisierte Aufgabenwahrnehmung) und Gemeinden (50% spezialisierte Aufgabenwahrnehmung) der Anteil der „Allround-Sozialarbeiter" höher 18 . War in den 1990er Jahren umstritten, ob die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe weiterhin durch einen spezialisierten Fachdienst19 oder aber im Rahmen des allgemeinen Sozialdienstes (ASD) 2 0 wahrgenommen werden sollten 21 , scheint sich nunmehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich die Organisations15

Vgl. Eisenberg, JGG, § 38 Rn. 51. Vgl. zu den Ergebnissen der bundesweiten JGH-Umfrage durch die BAG JGH: Trenczek, DVJJ-Journal 1999, 151 [160]; zur Regionalisierung der JGH vgl. auch Raben, DVJJ-Journal 1991, 382 f.; Spiro-Rietz, DVJJ-Journal 1991, 391 ff. 17 So auch Riekenbrauk, in: LPK-SGB VIII, § 52 Rn. 17. 18 Vgl. Trenczek, DVJJ-Journal 1999, 151 [157]. 19 Ein Bericht über die Arbeit eines Jugendamtes mit spezialisierter JGH findet sich bei Matenaer, in: BMJ-JGH, S. 74 ff. 20 Zur Arbeit eines Jugendamtes mit nichtspezialisierter JGH vgl. Jost, in: BMJJGH, S. 67 ff 16

3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht - ein geschichtlicher Abriss

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form der Jugendgerichtshilfe in erster Linie an einer bestmöglichen Umsetzung der normativen Vorgaben orientieren muss. Unter Beachtung der Spezifika städtischer und ländlicher Sozialstrukturen gilt es daher, die sozialpädagogischen Gesichtspunkte in der Jugendgerichtshilfe durch sozialpädagogisch kompetente, kriminologisch geschulte und forensisch erfahrene Fachkräfte der sozialen Arbeit zur Geltung zu bringen 22 . Organisationsformen, welche in der Vergangenheit eine Trennung der betreuenden Arbeit und der gerichtlichen Aufgaben vorsahen („Gerichtsgängerunwesen"23), versucht der durch das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes von 1990 neu eingefügte § 38 Abs. 2 S. 4 JGG entgegenzuwirken. Er bestimmt, dass in die Hauptverhandlung der Vertreter der Jugendgerichtshilfe entsandt werden „soll", der selbst die notwendigen Erkundigungen über die Persönlichkeit, die Entwicklung und das soziale Umfeld des Beschuldigten eingezogen hat. Dass es sich nur um eine Soll-Vorschrift handelt, beruht auf Kostenerwägungen 24, hat jedoch zur Folge, dass auch heute in der Praxis noch nicht völlig, aber doch in zunehmendem Maße 25 auf den Gerichtsgänger verzichtet wird. Damit beschränkt sich dessen Einsatz nunmehr weitgehend auf Fälle urlaubs- und krankheitsbedingter Vertretungen.

3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht ein geschichtlicher Abriss a) Die Entwicklung bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 Seit nunmehr gut acht Jahrzehnten existiert in Deutschland neben dem allgemeinen (Erwachsenen-)Strafrecht das Jugendstrafrecht als Sonderstrafrecht (vgl. § 2 JGG) für junge Delinquenten. Das eigenständige Strafverfahren für Jugend-

21

Für ASD: 8. Jugendbericht, BT-Drucks. 11/6576; Emig, DVJJ-Journal 2001, 51 ff.; für spezialisierte Fachkräfte: AG JGH, in: BMJ-JGH S. 85 [99]; Ostendorf, DVJJ-Journal 1997, 242 f.; Rein, DVJJ-Journal 1998, 335 ff.; Weyel, ZfJ 1996, 349 ff. 22 Vgl. Klier/Brehmer/Zinke, JGH, S. 222 ff.; Münder u.a., FK-SGB VIII, § 52 Rn. 89 ff.; ähnlich Deußer, DVJJ-Journal 1991, 387 ff.; Emig, DVJJ-Journal 1997, 237 ff.; Laubenthal, JGH, S. 49 ff. 23 s. hierzu nur Laubenthal, JGH, S. 52 ff. 24 Vgl. BT-Drucks. 11/5829 S. 22. 25 Während bei einer Umfrage auf dem 1. Bundestreffen der JGH 1991 in Berlin noch ein Viertel der Jugendgerichtshelfer aus den „neuen" Bundesländern und 45% ihrer Kollegen aus den „alten" Bundesländern angaben, dass auf Gerichtsgänger nicht verzichtet werden könne (Trenczek, DVJJ-Journal 1991, 404 [405]), sank 1999 der Anteil der schwerpunktmäßig zur Wahrnehmung von Hauptverhandlungsterminen eingesetzten besonderen Mitarbeiter auf 4%; der Einsatz solcher Mitarbeiter in Vertretungsfällen lag bei 5% (Trenczek, DVJJ-Journal 1999, 151 [160]).

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liehe wurde durch das so genannte Erste Jugendgerichtsgesetz26 - verabschiedet am 16. Februar 1923 - gesetzlich normiert. Bereits seit dieser ersten Kodifikation des Jugendstrafrechts ist die Jugendgerichtshilfe zentraler Bestandteil des Jugendstrafverfahrens. Intention, Wesen und Aufgabe dieser Institution werden nur vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung des Jugendstrafrechts selbstverständlich. Jungen Straftätern begegnete man zwar schon von jeher mit relativer Milde. Dennoch galt bis zum In-Kraft-Treten des Ersten Jugendgerichtsgesetzes von 1923 der Grundsatz, dass delinquente Jugendliche wie „kleine Erwachsene" zu behandeln sind: Sie wurden von den Gerichten, die auch für Erwachsene zuständig waren, nach denselben Regeln verurteilt und mit denselben Sanktionen belegt wie Erwachsene. Allerdings konnte bei ihnen von Strafe abgesehen oder aber die an sich verwirkte Strafe gemildert werden. Das Motiv hierfür war lange Zeit das den Jugendlichen von den Erwachsenen entgegengebrachte Mitleid und somit rein subjektiv. Die Erkenntnis, dass mangelnde bzw. geminderte Schuldfähigkeit eine mildere Behandlung der jungen Täter auch objektiv erfordern, reifte erst langsam. Ein Beispiel für den schonenden Umgang mit delinquenten Kindern findet sich bereits im ältesten und einflussreichsten Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, dem zwischen 1220 und 1235 verfassten „Sachsenspiegel". Hier war bestimmt, dass Kinder nicht zum Tode verurteilt werden durften: „Ein Kind kann unter seinen Jahren nichts tun, wodurch es sein Leben verwirke." (Teil I I 65 § i)27. Die Grundproblematik eines fehlenden eigenständigen Verfahrens für junge Rechtsbrecher blieb über die Jahrhunderte von der „Peinlichen Gerichtsordnung" Kaiser Karls V. von 1532 (Constitutio Criminalis Carolina, C.C.C.) über das „Preußische Allgemeine Landrecht" (ALR) von 1794 bis hin zum „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich" (RStGB) von 1871 bestehen28. Ganze drei Paragrafen des RStGB von 1871 (§§ 55-57) enthielten bis zum In-Kraft-Treten des Ersten Jugendgerichtsgesetzes von 1923 die jugendspezifischen materiell-rechtlichen Regeln. Beherrscht wurden diese noch immer vom Strafgedanken. Der Erziehungsgedanke fand lediglich bei noch nicht voll zurechnungsfähigen Tätern insoweit Anwendung, als diese der häuslichen Zucht zu überlassen bzw. nach den jeweiligen Länderbestimmungen in Erziehungsoder Besserungsanstalten unterzubringen waren 29 . 26

RGBl. I 1923, 135; vgl. dazu Schady, ZJJ 2003, 389 ff. Eckhardt (Hrsg.), Sachsenspiegel Bd. 5, S. 90. 28 Zu Einzelheiten der Entwicklung des Jugendstrafrechts bis 1871 vgl. Rössner, in: Meier/Rössner/Schöch, JugendStrafR, Rn. 4; Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 3 sowie Voß, Jugend ohne Rechte, S. 52 ff. 27

3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht - ein geschichtlicher Abriss

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Strafmündig war gem. § 55 RStGB 1871, wer das zwölfte Lebensjahr vollendet hatte. Eine individuelle Strafmündigkeitsprüfung durch das Gericht fand für 12—17jährige Täter statt. Kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Jugendliche zur Tatzeit nicht in der Lage war, die Strafbarkeit der Tat einzusehen, war er freizusprechen, anderenfalls musste er bestraft werden (§ 56 RStGB 1871). Bezüglich der Strafzumessung sah § 57 RStGB 1871 eine Milderung der Strafe für jugendliche Verurteilte vor. Die Strafe sollte zwischen dem gesetzlichen Mindestbetrag der angedrohten Strafart und der Hälfte des Höchstbetrages liegen. Wie dieses Strafmaß im Einzelnen zu ermitteln war, legte das Reichsgericht in seiner Entscheidung RGSt 6, 98 ff. fest. Mit Ausnahme des Verweises bestanden keine Rechtsfolgen, die speziell auf die Verletzung von strafrechtlichen Vorschriften durch Jugendliche abgestimmt waren. Der Verweis war jedoch - im Gegensatz zu dem heutigen Zuchtmittel der Verwarnung (§14 JGG) - eine echte Kriminalstrafe und galt bei Rückfall als Vorstrafe. b) Die Jugendgerichtsbewegung Vor diesem Hintergrund brach in Deutschland mit der so genannten Jugendgerichtsbewegung eine neue Ära an. Diese Bewegung nahm ihren Ausgangspunkt Ende des 19. Jahrhunderts und formulierte auf dem ersten deutschen Jugendgerichtstag 1909 in Berlin erstmals ihr Programm. Sie wurde durch neue biologische, psychologische und soziologische Einsichten über das Jugendalter genährt, die um die Jahrhundertwende unter maßgeblichem Einfluss der angelsächsischen Länder wachsende Bedeutung erlangten. Es setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass die kriminogene Situation des jugendlichen Straftäters in der biologischen und soziologischen Eigengesetzlichkeit des Jugendalters begründet ist: Verstandeskräfte sowie die Fähigkeit zur rationalen Willenssteuerung entfalten sich erst allmählich. Die tatsächlichen Folgen seines Tuns zu erkennen sowie die von der Rechtsordnung statuierten Anforderungen an ein geordnetes Gemeinschaftsleben zu überblicken, lernt der Jugendliche erst im Laufe eines „Sozialisation" genannten Prozesses. Zudem ist das Jugendalter von biologischen, auf dem körperlichen Reifungsvorgang (Pubertät) beruhenden Veränderungen sowie damit einhergehenden Konflikten und kritischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Familie und mit Gleichaltrigen geprägt. Die Bewältigung von Gefühlen der Aggressivität, des Trotzes und der Selbstunsicherheit, das wachsende Streben nach Selbststän29 Schubert (Hrsg.), Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, S. 223 (Das RStGB 1871 stellte lediglich eine redaktionelle Überarbeitung des StGB für den Norddeutschen Bund dar, weshalb ein Rückgriff auf die Motive zu letzterem möglich ist.).

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

digkeit, das Erkennen veränderter Erwartungen seitens der Umwelt sowie erste (oft noch vorläufige) berufliche Orientierung tragen zur seelischen und sozialen Reifung des Jugendlichen bei. Angesichts dieser nunmehr erkannten Spezifika des Jugendalters wurde deutlich, dass das Bedürfnis der Allgemeinheit nach Schutz vor und schuldangemessener Sühne von Jugendstraftaten in einer jener besonderen eigenständigen Periode im Leben eines Menschen angepassten Form befriedigt werden muss. Dabei sollte die Behandlung der Jugendlichen nicht grundsätzlich milder, sondern zweckmäßiger als bisher und damit notfalls auch härter sein 30 . Eine rasche Umsetzung dieser empirischen Erkenntnisse in das Strafrecht wäre jedoch kaum möglich gewesen, wenn nicht parallel zur Einleitung des „Jahrhunderts des Kindes und der Jugend" das Strafrecht selbst von einem anderen Ausgangspunkt aus eine Entwicklung in die gleiche Richtung genommen hätte. Gesetzgebung, Rechtspraxis und Strafrechtswissenschaft waren sich zur Zeit der Entstehung des RStGB 1871 völlig darin einig, dass das staatliche Strafen unter Ablehnung aller spezialpräventiver Tendenzen nur im Zeichen generalpräventiver Tatvergeltung zu stehen habe, dass allen Verbrechen in gleicher Weise zu begegnen sei, ohne Berücksichtigung der Verschiedenartigkeiten der Täterpersönlichkeiten, ohne Rücksicht darauf, wie die Strafe durch ihren Vollzug auf bestrafte Menschen wirkt. An diesem Tatvergeltungsprinzip orientierte der Gesetzgeber seine nach der objektiven Deliktsschwere abgestuften Strafdrohungen, richtete die Rechtspraxis ein der Tatschwere angepasstes Straftaxensystem aus, und weder der Gesetzgeber noch der Richter fragten nach dem bestraften Menschen. Die Rechtswissenschaft sah ihre Aufgabe angesichts dieses Strafrechts ausschließlich in begriffsjuristischer Arbeit. Der Mensch mit seinem Schicksal in Gestalt von ererbter Anlage und von sozialer Umwelt, mit seiner unterschiedlichen Differenziertheit in psycho-physischer Beziehung wurde nicht gesehen. Revolutionär erschien den Juristen des ausgehenden 19. Jahrhunderts daher die Fragestellung des Rechtslehrers und Kriminalpolitikers Franz v. Liszt: Er wollte in Erfahrung bringen, was Verbrechen im Schicksalsablauf des Einzelnen und im sozialen Leben als täglich wiederkehrende Schädigungen an Rechtsgütern der Allgemeinheit oder der Einzelnen bedeuten, wer überhaupt die Verbrecher sind, die solche Taten begehen und aus welchen sozialen und individuellen Ursachen verbrecherische Taten entstehen. Schließlich suchte er zu ergründen, was solchen Delinquenten gegenüber das staatliche Strafen zu leisten vermag, ob es Erfolge oder Misserfolge zeitigt, ob es überhaupt das einzige Mittel ist, das der Staat im Kampf gegen das Verbrechen einsetzen kann. Seine Forschungen kulminierten 1882 im so genannten „Marburger Programm" 31 , in dem er 30

Sieverts, in: Simonsohn (Hrsg.), Jugendkriminalität, S. 122 [131].

3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht - ein geschichtlicher Abriss

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schließlich die Umwandlung des alten tatvergeltenden Strafrechts in ein spezialpräventives Täterstrafrecht forderte. Zehn Jahre später entwarf Hugo Appelius, Angehöriger der von v. Liszt durch dessen Thesen mitbegründeten so genannten „modernen Schule", in einem Bericht über die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder 32 ein differenziertes, vom Erziehungsgedanken geleitetes System für die strafrechtliche Behandlung jugendlicher Rechtsbrecher. Ein Großteil seiner Forderungen fand später nach und nach Eingang in die verschiedenen Jugendgerichtsgesetze. Im Rahmen der Reformbestrebungen kristallisierten sich von Anfang an zwei bis heute fortbestehende Richtungen heraus: Während die eine ein System anstrebte, welches auf sämtliche Formen jugendlicher Dissozialität - gleichgültig, ob diese sich in einer Straftat oder in Verwahrlosung äußert - mit reinen Erziehungsmaßnahmen reagieren sollte, favorisierte die andere das Modell des Sonderstrafrechts für Jugendliche, welches durch Einführung erzieherischer Gesichtspunkte in das Strafrecht entstehen sollte 33 . Letztere Auffassung konnte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Dualismus von Jugendhilferecht (BGB, SGB VIII [früher: JWG]) auf der einen und Jugendstrafrecht (JGG) auf der anderen Seite durchsetzen. Die Diskussionen mündeten zunächst in der Umsetzung wichtiger Reformforderungen durch die Praxis im Wege von Verwaltungsmaßnahmen. Ab 1908 wurden durch Geschäftsverteilung die ersten Jugendkammern eingerichtet. Gleichzeitig konzentrierten sich auch bei den Staatsanwaltschaften einzelne Beamte auf die Jugendstrafsachen. Um diese Jugendgerichte gruppierte sich eine Jugendgerichtshilfe, da sich schon früh an vielen Orten Vereinigungen gebildet hatten, die Straf- und Vörmundschaftsrichter bei der Erforschung der Persönlichkeit und der Lebensverhältnisse der Jugendlichen zu unterstützen suchten34. c) Das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1923 Die angestrebte umfassende Neugestaltung war jedoch ohne eine Reform der Gesetze nicht durchsetzbar. Seit 1890 wurde an einer Reform des gesamten Straf- und Strafverfahrensrechts gearbeitet. Im Rahmen dieser Bemühungen entwarf man zunehmend differenziertere Sonderregelungen für die Behandlung de31 32

1892. 33

v. Liszt, ZStW 3 [1883], 1 ff. Appelius, Die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder,

Vgl. hierzu näher Miehe, Die Anfänge der Diskussion über eine strafrechtliche Sonderbehandlung junger Täter, in: Schaffstein/Miehe, JugendStrafR, S. 1 ff.; Simonsohn, in: Simonsohn (Hrsg.), Jugendkriminalität, S. 7 ff. 34 Hasenclever, Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900, S. 20 ff.

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

linquenter Jugendlicher. In den Jahren 1909 35 und 1912 36 wurden die ersten, neben dem allgemeinen Strafrecht auch das Jugendstrafverfahren und die Jugendgerichtsverfassung betreffenden Entwürfe parlamentarisch beraten, die jedoch letztlich an Fragen scheiterten, die nicht das Jugendstrafrecht betrafen 37. Zwar tauchte in diesen Entwürfen das Wort „Jugendgerichtshilfe" noch nicht auf. Dennoch war sie der Sache nach bereits vorgesehen, wie die nachfolgende Passage aus dem Gesetzesentwurf von 1909 verdeutlicht: „Ein fruchtbares Feld der Tätigkeit wird durch die Beseitigung des Verfolgungszwanges den Fürsorgeausschüssen und ähnlichen freien Organisationen des Jugendschutzes eröffnet; sie erscheinen als die gegebenen Stellen, um schon die Staatsanwaltschaft wie weiterhin die Gerichte bei der Wahl des einzuschlagenden Weges zu unterstützen."38 Der Entwurf von 1912 griff diesen Gedanken auf und führte ihn weiter. Die Jugendgerichte sollten „mit den der Jugendfürsorge gewidmeten Behörden und Vereinen zusammenwirken. Die Fürsorgevereine, die schon jetzt eine weite Verbreitung und zum Teil eine vorzügliche Organisation besitzen, umfassen eine große Zahl wertvoller Hilfskräfte, die sich mit opferwilliger Hingebung der verwahrlosten und fürsorgebedürftigen Jugend widmen."39 Ein eigenständiges Jugendgerichtsgesetz, welches sowohl materiell-rechtliche als auch Verfahrensvorschriften enthielt, wurde erstmals 1920 entworfen 40, nachdem die Entwicklung aufgrund des Ersten Weltkrieges zwischenzeitlich stagnierte. Die Verkündung des Jugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) im Jahre 1922 41 , welches den Jugendämtern die Jugendgerichtshilfe als Pflichtaufgabe zuwies, machte eine entsprechende Anpassung des JGG-Entwurfes notwendig. Schließlich markierte das In-Kraft-Treten des Ersten Jugendgerichtsgesetzes am 1. Januar 1924 42 den Beginn der eigenständigen jugendstrafrechtlichen Gesetz35

Entwürfe eines Gesetzes betr. Änderungen des GVG, einer StPO und eines zu beiden Gesetzen gehörenden Einführungsgesetzes v. 26.03.1909, vgl. Verhandlungen des Reichstags, XII. Legislaturperiode, I. Session, Bd. 254, Anlage zu den Stenographischen Berichten, Nr. 1310. 36 Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren gegen Jugendliche, vgl. Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, I. Session, Bd. 300, Anlage zu den Stenographischen Berichten, Nr. 576. 37 Vgl. hierzu näher Heinz, BewHi 1988, 261 [263]. 38 Entwürfe eines Gesetzes betr. Änderungen des GVG, einer StPO und eines zu beiden Gesetzen gehörenden Einführungsgesetzes (vgl. o. Fn. 35), Begründung, S. 33. 39 Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren gegen Jugendliche (vgl. o. Fn. 36), Begründung, S. 9. 40 Entwurf eines JGG, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrg. 1920, Bd. 1, Drucks. Nr. 37. 41 RGBl. I 1922, 633. 42 s.o. Fn. 26; zu inhaltlichen Einzelheiten vgl. Rössner, in: Meier/Rössner/Schöch, JugendStrafR, Rn. 7; Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 5 II.

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gebung. Die Jugendgerichtshilfe erfuhr in diesem Gesetz erstmals Anerkennung als Institution. Man erkannte ihr umfangreiche Mitwirkungsmöglichkeiten im Strafprozess gegen Jugendliche zu, welche von der Ermittlungshilfe über die gutachterliche Äußerung bis zur Mitwirkung bei den Aussetzungsentscheidungen, bei der Überwachung der Strafaussetzung zur Bewährung und beim Strafvollzug reichten. Der einheitliche Aufbau einer Jugendgerichtshilfe wurde jedoch durch eine Regelung des Einführungsgesetzes zum RJWG 43 verhindert, welche aufgrund der schlechten Finanzlage der Kommunen diese von der Pflicht zur Errichtung von Jugendämtern und zur Durchführung der Pflichtaufgabe Jugendgerichtshilfe befreite. d) Das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 erfuhr das Jugendgerichtsgesetz selbst zunächst keine Änderungen, was nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen ist, dass es „infolge seiner knappen wertneutralen Formulierungen in gewissem Umfang eine Verwirklichung neuer Gedanken und eine Ausfüllung mit neuem Inhalt gestattete"44. Es erfolgte in den Kriegsjahren sogar eine gewisse Weiterentwicklung insofern, als mit den Verordnungen vom 04.10.194045 und vom 10.09.194146 der Jugendarrest und die Jugendgefängnisstrafe von unbestimmter Dauer eingeführt wurden. Einen Rückschritt bedeutete allerdings die durch das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) von 1943 47 eingeführte Aufweichung der Altersgrenzen, welche unter bestimmten Voraussetzungen die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre und die Anwendung allgemeinen Strafrechts auf Jugendliche ermöglichte. Der Wirkungsbereich des RJGG von 1943 war jedoch - erst auf den zweiten Blick erkennbar - in der Praxis erheblich eingeschränkt. Das Gesetz galt von vornherein nur für Verfehlungen deutscher Jugendlicher. Zudem wurde sein Schutzbereich während der Herrschaft der Nationalsozialisten sukzessive durch Sondergerichtsbarkeiten und allgemein geltende Strafrechtsverordnungen eingeschränkt, welche der Anwendung des RJGG von 1943 vorgingen 48. 43

Einführungsgesetz zum RJWG i.d.F. der Verordnung v. 14.02.1924, RGBl. I 1924, 110. 44 Kümmerlein, RJGG, S. 4. 45 VO zur Ergänzung des Jugendstrafrechts, RGBl. I 1940, 1336. 46 VO über die unbestimmte Verurteilung Jugendlicher, RGBl. I 1941, 567. 47 RGBl. I 1943, 637; zu inhaltlichen Einzelheiten vgl. Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 5 II. 48 Vgl. hierzu Rössner, in: Meier/Rössner/Schöch, JugendStrafR, Rn. 11.

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

Auch für die Jugendgerichtshilfe blieb das RJGG von 1943 nicht ohne Auswirkungen. Sie wurde - in Zusammen Wirkung mit der Hitlerjugend - in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt, um im Strafverfahren die „Volkszugehörigkeit des Beschuldigten, seine Lebens- und Sippenverhältnisse, seine Lebensgeschichte, seine Haltung in der Volks- und Jugendgemeinschaft" zu erkunden (vgl. §§ 25, 28 Abs. 1 RJGG von 1943). e) Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 Nach Kriegsende (1945) verabschiedete die Bundesrepublik am 4. August 1953 ein Jugendgerichtsgesetz49, das im Wesentlichen eine von einzelnen nationalsozialistischen Elementen bereinigte Fortentwicklung des RJGG von 1943 darstellte. Im Gegensatz zu der bloßen Verankerung der Jugendgerichtshilfe als Institution der Jugendgerichtsverfassung im RJGG von 1923 wurden nunmehr der organisatorische Rahmen und der Aufgabenbereich der Jugendgerichtshilfe in § 38 geregelt 50. Zur endgültigen Etablierung der Jugendgerichtshilfe trug die Beseitigung der Freistellung der Kommunen von der Verpflichtung zur Schaffung der Jugendämter bei. f) Reformdiskussion in der Wissenschaft und Reform in der Gesetzgebung Seit seinem In-Kraft-Treten hat das JGG von 1953 zwar eine Reihe von Änderungen erfahren 51, im Kern ist es aber unverändert geblieben. Die Reformdiskussion kam jedoch nie zum Erliegen 52 . In den 1960er und 70er Jahren war sie geprägt von grundsätzlichen Überlegungen zur Überwindung des Dualismus zwischen Jugendwohlfahrts- und Jugendstrafrecht 53. Diese Bestrebungen fanden ihren Niederschlag in den von der Kommission Jugendrechtsreform der Arbeiterwohlfahrt erarbeiteten „Vorschlägen für ein erweitertes Jugendhilferecht" 54 sowie in einem vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegebenen Diskussionsentwurf 49

BGBl. I 1953, 751; zu inhaltlichen Einzelheiten vgl. Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 5 III.; zur Entwicklung des Jugendstrafrechts nach dem 2. WK in der DDR vgl. Rössner, in: Meier/Rössner/Schöch, JugendStrafR, Rn. 19; speziell zur Entwicklung der Jugendgerichtshilfe in der DDR vgl. Klier/Brehmer/Zinke, JGH, S. 20 f. sowie Müller, DVJJ-Journal 1991, 370 ff. 50 Eisenberg, StV 1998, 304. 51 Überblick bei Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 5 IV. 52 Überblick bei Walter, DRiZ 1998, 354 [356]. 53 Zur Konzeption der Jugendgerichtshilfe in diesen Modellen vgl. Happe, in: Schaffstein-FS, S. 333 ff. 54 Vgl. Schriften der Arbeiterwohlfahrt Nr. 22, 1970.

3. Jugendgerichtshilfe und Jugendstrafrecht - ein geschichtlicher Abriss

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aus dem Jahre 1973 55 . Gleichzeitig wurden aber Mängel und Brüche der beschriebenen einspurigen Konzeption offenbar 56, weshalb in der Folgezeit an der Trennung von JWG und JGG festgehalten, die möglichst einheitliche Umsetzung des Erziehungsgedankens indessen in beiden Gesetzen angestrebt wurde. Einen wesentlichen Fortschritt stellte dabei der Erlass des Achten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V I I I ) 5 7 im Jahre 1990 dar, welches das alte JWG ablöste und nunmehr als modernes Leistungsgesetz einen angemessenen - auch für das Jugendstrafrecht nutzbaren - rechtlichen Rahmen bietet. Im Jugendstrafrecht selbst vollzog sich ab Mitte der 1970er Jahre eine innere Reform. Den Handlungsspielraum des JGG ausnutzend, wurden in stetiger Verfolgung des Erziehungsziels Tendenzen der Reformdiskussion von der jugendstrafrechtlichen Praxis aufgenommen und umgesetzt. Hierzu gehörte neben der Erprobung und Institutionalisierung neuer ambulanter Reaktionen wie sozialer Trainingskurse, Betreuungsweisungen und Täter-Opfer-Ausgleich insbesondere die Reduzierung formeller - d.h. durch Urteil angeordneter - Sanktionen zugunsten informeller Maßnahmen (Diversion) 58 . Das Ergebnis dieser inneren Reform wurde schließlich durch das Erste JGGÄnderungsgesetz von 1990 59 gesetzlich systematisiert und festgeschrieben. Da bereits zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Gesetzes weiterer Regelungsbedarf absehbar war, hatte der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, bis zum 1. Oktober 1992 den Entwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung des JGG vorzulegen 60. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung allerdings bis heute 61 nicht nachgekommen, weil sich das kriminalpolitische Klima für eine solche Umsetzung in der Folgezeit verschlechterte 62.

55

BMJFG (Hrsg.), Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, 1973. Vgl. hierzu u.a. Böhm, ZfStrVo 1974, 29 ff.; Müller-Dietz, ZblJugR 1973, 453 ff.; Schaffstein, MschrKrim 1973, 326 ff.; Thiesmeyer, RdJ 1972, 339 ff.; Walter, ZblJugR 1974, 41 ff. 57 Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (KJHG), BGBl. I 1990, 1163; vgl. hierzu ausführlich Wiesner/Zarbock (Hrsg.), KJHG. Das SGB VIII ist Art. 1 des KJHG. Die richtige Zitierweise lautet daher entweder „Art. 1 § ... KJHG" oder „§ ...SGB VIII". 58 Vgl. zur Diversion u.a. Blau, Jura 1987, 25 ff.; Heinz, ZRP 1990, 7 ff.; Trenczek, DVJJ-Journal 1991, 8 ff.; Walter, DRiZ 1998, 354 ff.; krit. insbes. zur Polizeidiversion Miehe, Brunner-Symposium, S. 141 ff.; Ostendorf, DVJJ-Journal 2003, 3 ff. 59 BGBl. I 1990, 1853; vgl. hierzu u.a. Böhm, NJW 1991, 534 ff.; Böttcher/Weber, NStZ 1990, 561 ff. und 1991, 7 ff. 60 BT-Drucks. 11/7421, S. 3. 61 Allerdings hat des BMJ aus Anlass des Urteils des BVerfG zum Anwesenheitsrecht der Eltern in der Hauptverhandlung vom 16.1.2003 (DVJJ:Journal 2003, 68 ff.) im April 2004 einen Referentenentwurf zu einem Zweiten JGG-Änderungsgesetz vorgelegt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen großen Reformentwurf. Es werden vielmehr „diejenigen Bereiche ausgespart, die erkennbaren Sprengstoff in der zur56

3 Webers

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

Die derzeitige Diskussion ist von zwei gegensätzlichen Strömungen geprägt: der generellen Re-Kriminalisierung von Jugend einerseits sowie dem Festhalten an sozialpädagogisch orientierten Reaktionen auf Delinquenz junger Menschen unter teil weisem Verzicht auf Strafe andererseits 63. Beide Ansichten trafen konzentriert auf dem 64. Deutschen Juristentag im September 2002 in Berlin aufeinander: Während die Zweite Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ im Vorfeld ein progressives, den Erkenntnissen moderner kriminologischer, sozialwissenschaftlicher und pädagogischer Forschung angepasstes eigenes Konzept für ein reformiertes Jugendstrafrecht 64 als Diskussionsgrundlage vorlegte, lautete die Kernforderung des Hauptgutachters des Juristentages, Albrecht 65 , das Erziehungsstrafrecht zugunsten eines am Erwachsenenstrafrecht orientierten, jugendadäquat gemilderten Tatschuldrechts abzuschaffen 66. Der Juristentag folgte zwar letzterer Zielsetzung nicht, hat jedoch viele reformerische Einzelvorschläge aus dem Gutachten übernommen 67. Hinsichtlich der Jugendgerichtshilfe lehnte der Juristentag die Forderung nach einer Trennung der ermittlungs-, berichts- und überwachungsbezogenen Funktionsbereiche von der allgemeinen Jugendhilfe und einer Übertragung an eine Untergliederung der Gerichtshilfe im Zuständigkeitsbereich der Jugendstaatsanwaltschaft oder einer besonderen Jugendbewährungshilfe ab. Vielmehr soll das bisherige Modell der in das Jugendstrafverfahren integrierten Jugendgerichtshilfe bei Stärkung ihrer Teilnahmerechte und Einflussmöglichkeiten beibehalten und dabei die Belehrungspflichten gegenüber dem Beschuldigten und das Auswahlverfahren im Hinblick auf die von der Jugendgerichtshilfe zu bearbeitenden Fälle gesetzlich klargestellt werden 68 .

zeit sehr polarisierten Situation in sich tragen" (so Goerdeler, ZJJ 2004, 184). Vgl. zum Referentenentwurf auch die Stellungnahme der DVJJ in ZJJ 2004, 322. 62 Vgl. hierzu Brehmer, DVJJ-Journal 1998, 12 [14 f.]. 63 Vgl. Ostendorf, NK 2003, 16 ff.; ders., ZRP 2000, 103 ff. 64 Abschlussbericht der Kommissionsberatungen abgedr. in: DVJJ-Extra Nr. 5, 2002; vgl. hierzu auch Goerdeler/Sonnen, ZRP 2002, 347 ff.; Ostendorf, StV 2002, 436 ff.; ders., NK 2003, 16 ff.; krit. Beulke/Dittrich/Mann, DVJJ-Journal 2002, 122 ff.; Vieten-Groß, DVJJ-Journal 2002, 126 ff. 65 Vgl. Albrecht, H.-J., Ist das Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?, 2002; krit. hierzu u.a. Dünkel, NK 2002, 90 ff.; Kreuzer, NJW 2002, 2345 ff. 66 Diesem Gedanken schließt sich Weyel, ZJJ 2003, 406 ff. an. Vgl. jedoch die ablehnende Entgegnung von Pieplow, ZJJ 2003, 410 f. 67 Vgl. Beschlüsse des 64. DJT, abgedr. in: NJW 2002, 3073 [3077 ff.]; hierzu Ostendorf, NK 2003, 16 ff.; vgl. auch Sabaß, MschrKrim 2003, 221 ff. 68 Vgl. Punkt VII. 2. (Abteilung Strafrecht) der Beschlüsse (o. Fn. 67), S. 3078 f.

4. Die Doppelfunktion der Jugendgerichtshilfe

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4. Die Doppelfunktion der Jugendgerichtshilfe Die Jugendgerichtshilfe hat im Jugendstrafverfahren, zu dem sie so früh wie möglich herangezogen werden soll (§ 38 Abs. 3 S. 2 JGG), eine doppelte Funktion: die Unterstützung des Gerichts einerseits sowie andererseits die Unterstützung des Beschuldigten. a) Gerichtshilfe Soweit die Jugendgerichtshilfe in ihrer Funktion als Gerichtshilfe tätig wird, nimmt sie vorrangig Ermittlungsaufgaben wahr. Richtet sich in einem Ermittlungsverfahren der Verdacht gegen einen Jugendlichen oder Heranwachsenden, sollen so bald wie möglich die Lebens- und Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle übrigen Umstände ermittelt werden, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können (§§ 43 Abs. 1 S. 1, 109 Abs. 1 S. 1 i.V.m. §§ 43 Abs. 1 S. 4, 38 Abs. 3 JGG). Im gerichtlichen Verfahren selbst ist für die Feststellung des Reifegrades des Täters (§§ 3, 105 JGG), insbesondere aber für die Auswahl einer erzieherisch möglichst wirksamen Unrechtsreaktion die Erforschung von Tatsachen zur Persönlichkeit, Entwicklung und Umwelt des Beschuldigten (vgl. § 38 Abs. 2 S. 2 JGG) von zentraler Bedeutung. Die Ermittlung des persönlichen Hintergrundes des Beschuldigten und der kriminologischen Entstehungszusammenhänge der Tat erfordert eine hohe Fachkompetenz des Nachforschenden. Daher ist es nur folgerichtig, dass das Gesetz diese Aufgabe weder allein dem Richter, noch dem Jugendstaatsanwalt oder der Polizei, sondern sozialarbeiterisch bzw. sozialpädagogisch besonders geschulten Fachkräften - beispielsweise den Sozialarbeitern des Jugendamtes - anvertraut. Während etwa die Polizei durch die Aufklärung der Tat die Grundlagen für den Schuldspruch legt und infolge dieser Konzentrierung auf die Sachverhaltserforschung Gefahr läuft, Tatsachen einseitig unter dem Aspekt der Strafverfolgung zu beurteilen, bringt die Jugendgerichtshilfe bewusst eine andere als die strafrechtlich orientierte Perspektive in das Verfahren ein. Zur Ermittlung der Entwicklungsgeschichte des Beschuldigten, seiner Familienverhältnisse, seines Verhaltens im Schul- oder Arbeitsbereich, seiner Bezugs* und Kontaktpersonen, seiner Norm- und Wertvorstellungen sowie des situativen Tatzusammenhanges dienen der Jugendgerichtshilfe u.a. die Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter, die Lehrer sowie die Ausbilder am Arbeitsplatz als Auskunftspersonen (vgl. §43 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§43 Abs. 1 S. 4, 38 Abs. 3 JGG). Treten Ermittlungsschwierigkeiten in Bezug auf tatsächliche Umstände im psychopathologischen, soziologischen oder (sozial-) psychologischen Bereich auf, sollte die Jugendgerichtshilfe eine Begutachtung 3*

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

des Beschuldigten durch einen dazu befähigten Sachverständigen anregen (vgl. § 43 Abs. 2 i.V.m. §§ 43 Abs. 1 S. 4, 38 Abs. 3 JGG). Die Ergebnisse ihrer Ermittlungstätigkeit fasst die Jugendgerichtshilfe in der Regel in einem schriftlichen Bericht 69 an das Gericht zusammen. Zudem trägt sie ihre Erkenntnisse grundsätzlich durch den Vertreter, der die Nachforschungen selbst angestellt hat (vgl. § 38 Abs. 2 S. 4 JGG), in der Hauptverhandlung mündlich vor. b) Beschuldigtenhilfe Neben der Aufgabe, das Gericht zu unterstützen, obliegt der Jugendgerichtshilfe auch die Hilfe für den Beschuldigten. Diese besteht einerseits darin, gesetzlich nicht intendierten negativen Auswirkungen des Jugendstrafverfahrens (präventiv) entgegenzuwirken und damit Beeinträchtigungen der weiteren Entwicklung des Beschuldigten durch das Verfahren möglichst auszuschließen. Zum anderen zielt die Betreuung darauf ab, individuelle äußere Umstände, welche für die Begehung der Straftat mitursächlich waren, zu eliminieren bzw. ihren Einfluss auf den Betroffenen zu minimieren. Der Auftrag zur Hilfe verpflichtet die Jugendgerichtshilfe zur sozialpädagogischen Betreuung des Beschuldigten während der gesamten Verfahrensdauer (vgl. § 52 Abs. 3 SGB VIII). Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe hat daher frühzeitig zu prüfen, ob für den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden Leistungen der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 2 SGB VIII) in Betracht kommen. Dabei muss er, ausgehend von einem Gespräch mit dem Betroffenen, dessen aktuelle Lebenssituation sowie sein soziales Umfeld erforschen und die Lösung der so zutage tretenden dringlichsten Probleme in Angriff nehmen, wobei er nicht auf das Instrumentarium des SGB VIII beschränkt ist. Der Jugendgerichtshelfer hat somit u.a. Sorge zu tragen für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Kontaktes zu Eltern, Erziehungsberechtigten oder anderen Bezugspersonen des Betroffenen, die Sicherstellung von Geldmitteln, auf die ein Anspruch besteht, die Vermittlung von Wohnraum oder anderweitige Unterbringung, die Erhaltung bzw. Vermittlung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, gegebenenfalls die Bereitstellung eines Therapieplatzes, Schuldenregelungen oder - bei Nichtdeutschen - den Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung. Hinzu treten Hilfen, welche eine drohende Untersuchungshaft vermeidbar machen können. Gleichzeitig oder auch im Anschluss daran kann die Jugendgerichtshilfe bei den Eltern oder Erziehungsberechtigten erzieherische Maßnahmen anregen, die dem Jugendstaatsanwalt die Einstellung des Verfahrens erlauben (vgl. § 45 Abs. 2 JGG). 69

Zur Berichtspflicht des Jugendgerichtshelfers und ihrer Grenzen vgl. Lühring, Berichtspflicht.

4. Die Doppelfunktion der Jugendgerichtshilfe

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Der Vertreter der Jugendgerichtshelfer hat den Jugendstaatsanwalt bzw. den Jugendrichter von den von ihm eingeleiteten Hilfeleistungen zu unterrichten, damit geprüft werden kann, ob ein Vorgehen nach §§ 45, 47 JGG möglich ist. Zentrale Aufgabe der Jugendgerichtshilfe ist weiterhin, den - möglicherweise noch gerichtsunerfahrenen - Angeklagten auf den Ablauf der Hauptverhandlung 7 0 und auf die zu erwartenden Rechtsfolgen 71 vorzubereiten. Wird der Beschuldigte zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, soll die Jugendgerichtshilfe eng mit dem Bewährungshelfer zusammenarbeiten (vgl. § 38 Abs. 2 S. 8 JGG). Erfolgt hingegen eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung, ist es Aufgabe des Jugendgerichtshelfers, den Kontakt zu dem Jugendlichen bzw. Heranwachsenden aufrechtzuerhalten und ihm dadurch die Vollzugssituation zu erleichtern (vgl. § 38 Abs. 2 S. 9 JGG). Die Jugendgerichtshilfe unterstützt den Verurteilten bei der Vorbereitung der Lebensführung nach der Entlassung. Nach der Entlassung kann die Betreuung - mit Einverständnis des Betroffenen - fortdauern 72. Die Jugendgerichtshilfe kann dann beispielsweise unter den Voraussetzungen der §§97, 111 JGG die Beseitigung des Strafmakels beantragen. c) Die Zwitterstellung der Überwachungsfunktion Die Jugendgerichtshilfe hat schließlich eine - partiell subsidiäre - Überwachungsfunktion inne, welche gleichsam eine Zwitterstellung einnimmt, da sie Elemente der Gerichtshilfe und der Beschuldigtenhilfe in sich vereint. Soweit nicht ein Bewährungshelfer dazu berufen ist, kontrolliert die Jugendgerichtshilfe, ob der Jugendliche bzw. Heranwachsende Weisungen (§ 10 JGG) und Auflagen (§ 15 JGG) befolgt (vgl. § 38 Abs. 2 S. 5 JGG). Dabei hat der Vertreter der Jugendgerichtshilfe nur erhebliche Verstöße dem Jugendgericht mitzuteilen (vgl. § 38 Abs. 2 S. 6 JGG), bei leichteren kann er selbst ermahnen. Diese Vorschrift ist einschränkend auszulegen, weil im Hinblick auf die zweite Aufgabe der Jugendgerichtshilfe, die Beschuldigtenhilfe 73, die Bewältigung der aufkommenden Probleme in erster Linie zwischen dem Vertreter der Jugendgerichtshilfe und dem Betroffenen stattfinden muss 74 . Daher kann das Bemühen um eine Konfliktlösung eine Zuwiderhandlung als nicht erheblich er-

70

Vgl. Berg, RdJ 1964, 102 [103]; Brunner, in: Böhm-FS, S. 791 [801]. Vgl. Peters, JWohl 1951, 274 [275 f.]. 72 Vgl. zur nachgehenden Betreuung Carspecken, ZblJugR 1957, 89 [93 ff.]; Weber, ZblJugR 1974, 398 ff. 73 s.o. II.4.b), S. 36 f. 74 Vgl. Eisenberg, JGG, § 38 Rn. 17. 71

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

scheinen lassen. Insoweit dient die Überwachung auch der Unterstützung des Betroffenen. Ergeht an den Angeklagten eine Betreuungsweisung (§ 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 JGG), ist die Jugendgerichtshilfe umfassend für Betreuung und Aufsicht zuständig, wenn nicht der Richter eine andere Person mit dieser Aufgabe betraut (vgl. § 38 Abs. 2 S. 7 JGG). Der Begriff der Betreuung verdeutlicht bereits, dass es sich bei dieser - durch ihre Dauer relativ eingriffsintensive - Weisung ebenfalls um eine Hilfe für den Verurteilten handelt. Ihm soll zielgerichtet bei der Lösung von Familien-, Beziehungs-, Schul- und Ausbildungs-, Arbeits-, Wohnungs- und finanziellen Problemen geholfen werden, während er zugleich den erforderlichen Freiraum für seine Entwicklung zur Selbstständigkeit behält 75 . d) Mitwirkungsrechte der Jugendgerichtshilfe zur Sicherung der Aufgabenwahrnehmung Um die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Jugendgerichtshilfe sicherzustellen, hat diese bestimmte Verfahrensrechte inne. So verfügt sie beispielsweise über ein Äußerungsrecht in jedem Verfahrensstadium (§§ 38 Abs. 2 S. 2; Abs. 3 S. 3; 50 Abs. 3 S. 2 JGG), ein umfassendes Verkehrsrecht mit dem verhafteten Beschuldigten (§ 93 Abs. 3 JGG i.V.m. § 148 Abs. 1 StPO), ein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung (§ 50 Abs. 3 JGG) sowie ein Recht auf nachgehende Betreuung und Überwachung (§§ 38 Abs. 2 S. 5, 6, 8, 9; 97 Abs. 1 S. 2 JGG). Hinzu kommt ein Recht auf Unterrichtung durch Staatsanwaltschaft und Jugendgericht über die Einleitung, den Ausgang, etc. eines Strafverfahrens gegen einen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden (§ 70 JGG; Nr. 32 MiStra). Zur Verwirklichung dieser Rechtspositionen dient die Verpflichtung der entsprechenden Behörden, die Jugendgerichtshilfe zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden heranzuziehen (vgl. § 38 Abs. 3 S. 1 und 2, § 43 Abs. 1 S. 1 und 4 JGG). Es gehört zu den Standards des Fachdienstes Jugendgerichtshilfe, auf die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Informationspflichten hinzuwirken 7 6 Die frühzeitige Information der Jugendgerichtshilfe darf jedoch nicht dazu führen, dass sie ihre Tätigkeit aufnimmt, ehe ein zumindest hinreichender Tatverdacht 77 gegen den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden besteht. Andernfalls

75

Vgl. BT-Drucks. 11/5829, S. 16. Vgl. Standards für den Fachdienst Jugendgerichtshilfe der BAG JGH, abgedr. in: DVJJ-Journal 1997, 212 ff. 77 Siehe hierzu Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 114, 357. 76

5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze.

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könnte die Ermittlungstätigkeit der Jugendgerichtshilfe zu einem erheblich stärkeren Eingriff in die durch Art. 1 GG geschützte Privatsphäre des Betroffenen führen, als dies § 2 JGG i.V.m. § 160 Abs. 3 StPO gestattet.

5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze. a) Hintergründe und geschichtliche Entwicklung des Intra-Rollenkonfliktes Das beschriebene Aufgabenspektrum der Jugendgerichtshilfe konfrontiert jeden einzelnen Jugendgerichtshelfer mit divergierenden Erwartungshaltungen des Jugendgerichts und der Jugendstaatsanwaltschaft einerseits sowie des beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und seiner Erziehungsberechtigten andererseits. Während erstere erwarten, dass der Vertreter der Jugendgerichtshilfe wahrheitsgetreu ermittelt und die so gewonnenen Informationen streng objektiv 7 8 berichtet, erhoffen sich letztere beistands- und anwaltsähnliche Unterstützung sowie eine vertrauliche Behandlung von Informationen, teilweise auch deren Verschweigen. Dieser vielbeschriebene 79 Intra-Rollenkonflikt resultiert zwangsläufig aus der Antinomie zwischen der Strafverfolgung als einem reaktiven Angriff gegen den Jugendlichen bzw. Heranwachsenden und der Hilfe als Ausdruck von Schutz und Förderung für ihn 8 0 . Der Rollenkonflikt birgt die Gefahr in sich, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende die Jugendgerichtshilfe als „Doppelagentin" 8 1 erlebt, denn auf der einen Seite sucht der Jugendgerichtshelfer zur Wahrnehmung seiner Hilfefunktion für den Beschuldigten, d.h. für dessen erfolgreiche sozialpädagogische Betreuung, den auf Vertrauen basierenden Zugang zum straffällig gewordenen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden. Auf der anderen Seite wird er über seine Ermittlungs- und Überwachungsfunktion in das System der sozialen Kontrolle eingebunden und erscheint damit in dem Moment, in dem er seine Mitteilungs- und Berichtsaufgaben gegenüber Jugendgericht und -Staatsanwaltschaft wahrnimmt, aus der Perspektive des beschuldigten Jugendlichen bzw. Heranwachsenden als Teil des Strafverfolgungsapparates. Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen muss sich die Jugendgerichtshilfe positionieren und ihr Selbstverständnis definieren. In der Vergangenheit 78

LG Bonn, NStZ 1986, 40. Vgl. statt vieler nur Albrecht, P.-A., Jugendstrafrecht, § 40 B. I. 2, D. 2.; Laubenthal, JGH, S. 54 ff.; Ostendorf, ZfJ 1991, 9 ff.; Schaffstein, in: Dünnebier-FS, S. 661 [670 ff.]; Schlink, in: BMJ-JGH, S. 51 ff.; krit. John, ZblJugR 1982, 10 [16 ff.]. 80 So Eisenberg, JGG, § 38 Rn. 37. 81 Ostendorf, ZfJ 1991, 9 ff.; krit. zu diesem Begriff Münder u.a., FK-SGB VIII, § 52 Rn. 11. 79

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

war das Selbstverständnis der Jugendgerichtshilfe von einer stark justiznahen Aufgabenwahrnehmung geprägt. Als Teil der Jugendhilfe fühlte sie sich lange in der Tradition der „Fürsorge", welche seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts vorwiegend die Kontrolllücke zwischen Schule und Militär in einer obrigkeitsstaatlichen Gesellschaft schloss82. Erst im Zusammenhang mit der Bildungsreformpolitik und mit den Protestbewegungen der 1960er Jahre war ein Paradigmenwechsel insoweit festzustellen, als nicht allein die Jugendlichen, sondern vor allem die Bedingungen ihres Aufwachsens in den Mittelpunkt rückten. Dennoch blieb die Jugend(gerichts)hilfe weiterhin einer - aus dem Grundverständnis von Jugend als Problem und Abweichung entwickelten - Devianzperspektive und damit einhergehend einem wohlfahrtsstaatlichen Interventionsmodell verhaftet 83. Jugendkriminalität wurde als Ausdruck eines Erziehungsdefizits interpretiert. Straffällig gewordene Jugendliche betrachtete die Jugendgerichtshilfe als entwicklungsgestört und daher resozialisierungsbedürftig. Um kriminellen Karrieren Jugendlicher schon bei den ersten Anzeichen, den ersten Verstößen gegen strafrechtliche Normen, entgegenzuwirken, setzte sie auf eine möglichst frühzeitige Anwendung des Erziehungsstrafrechts gegen „Anlage- und Erziehungsmängel" 84. Das sozialarbeiterische Handeln der Jugendgerichtshilfe war somit letztlich Kontrollhandeln 85. Die hieraus resultierende mangelnde Eigenständigkeit gegenüber der Justiz ist vielfach kritisiert worden. Bereits im Dritten Jugendbericht der Bundesregierung 1972 wird beispielsweise beanstandet, dass sich die Jugendgerichtshilfe in der Praxis weitgehend auf die Ermittlungen und auf die Vertretung im Gerichtsverfahren beschränke und die jugendhilfeorientierten Aufgaben häufig zu kurz kämen 86 . Der Gesetzgeber des Ersten JGG-Änderungsgesetzes stellte 1990 fest, dass die Jugendgerichtshilfe ihrer vom Gesetz vorgeschriebenen Aufgabe zum Teil nicht gerecht wird 8 7 . Zudem ließen Ergebnisse empirischer Forschungen besonders der 1980er Jahre die Praxis der Jugendgerichtshilfe in einem sehr ungünstigen Licht erscheinen 88. Insbesondere der Umstand, dass Jugendgerichtshelfer traditionell ganz überwiegend ihre Effizienz an der durch Antizipa-

82 Überblick über die gewandelten Sichtweisen von Jugend und sozialer Kontrolle bei v. Wolffersdorff, in: BMJ-JGH, S. 19 ff. 83 Vgl. Trenczek, RdJB 1993, 316 [317]. 84 Vgl. Kiehl, in: Wiesner/Zarbock (Hrsg.), KJHG, S. 173 [176, 192]. 85 So Thiem-Schräder, DVJJ-Journal 1991, 336. 86 BT-Drucks. 06/3170, S. 66. 87 BT-Drucks. 11/5829, S. 13. 88 Vgl. nur Heinz/Hügel, Erzieherische Maßnahmen im deutschen Jugendstrafrecht; Hermann/Kerner, in: Kury (Hrsg.), Entwicklungstendenzen kriminologischer Forschung, S. 187 ff.; Hügel, BewHi 1988, 308 ff.; Momberg, Die Ermittlungstätigkeit der JGH; ders., ZblJugR 1983, 333 ff.

5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze.

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tion der richterlichen Entscheidung erzielten Übereinstimmung mit dem Gericht messen89, zeigt deutlich die Unterordnung unter die Justiz. Unter dem Eindruck neuer kriminologischer Befunde der 1980er Jahre korrigierte die Jugendgerichtshilfe ihr Kriminalitätsverständnis von Jugenddelinquenz und gab die ausschließlich an Abweichung orientierte Interventionsstrategie zugunsten einer entdramatisierenden „Normalitätsperspektive" 90 sowie den hieraus folgenden neuen sozialpädagogischen Handlungsansätzen91 auf. Die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Jugendkriminalität, welche die Veränderung in der Aufgabenwahrnehmung der Jugendgerichtshilfe einleiteten, entstammten vornehmlich der so genannten Dunkelfeldforschung. Die wesentlichsten Befunde lauten zusammengefasst, dass Jugenddelinquenz im statistischen Sinne normal, ubiquitär, d.h. über die gesamte Bevölkerung gestreut und damit auch schichtunabhängig, sowie passager, d.h. als entwicklungstypische, vorübergehende Auffälligkeitsform, anzusehen ist 9 2 . Hieraus folgt, dass Jugenddelinquenz in aller Regel kein irgendwie geartetes (Erziehungs-)Defizit ausdrückt, welches mit pädagogischen Leistungen der Jugend(gerichts)hilfe zu kompensieren ist. Diese Erkenntnisse konnten nicht ohne Auswirkungen auf die Aufgabenerfüllung der Jugendgerichtshilfe bleiben. Sie entwickelte nach und nach eine völlig neue Strategie im Umgang mit den Jugendlichen, speziell in Bezug auf Bagatellkriminalität und jugendtypische Straftaten. Es gewann die Einsicht an Gewicht, dass, wenn - wie überwiegend im Bagatell- und Ersttäterbereich - kein erkennbarer Hilfebedarf bei den straffällig gewordenen Jugendlichen besteht, die Jugend(gerichts)hilfe zur Vermeidung von „Überbetreuung" und Stigmatisierung von Nonintervention Gebrauch machen und ihren Handlungsschwerpunkt auf die Lösung tatsächlich vorhandener pädagogischer und sozialer Probleme und die Mithilfe bei der Entkriminalisierung junger Menschen verlagern muss. Somit weist die Entwicklung der Jugendgerichtshilfe in den letzten Jahren verstärkt in die Richtung einer eigenständigen, aus der sozialpädagogischen Fachlichkeit heraus entwickelten, autonomen Aufgabenwahrnehmung. Die Funktion der Betreuung des und der Hilfe für den delinquenten Jugendlichen hat spürbar eine größere Bedeutung erlangt. Sie nimmt nunmehr gegenüber der Gerichtshilfefunktion eine (mindestens) gleichrangige Stellung ein. Infolgedes89

Vgl. hierzu Hauser, Der Jugendrichter, S. 192 ff. Vgl. hierzu Thiem-Schräder, Normalität und Delinquenz, 1989. 91 Vgl. Trenczek, RdJB 1993, 316 [317]. 92 Vgl. nur AG JGH, in: BMJ-JGH, S. 85 [89 f.]; Kiehl, in: Wiesner/Zarbock (Hrsg.), KJHG, S. 173 [192 ff.]; Laubenthal, JGH, S. 16 ff.; Mörsberger, in: Wiesner/ Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, § 52 Rn. 9 ff.; Münder, DVJJ-Journal 1991, 329 [330 f.]; Münder u.a., FK-SGB VIII, § 52 Rn. 29 ff.; Schaffstein/Beulke, JugendStrafR, § 2 I.; Zieger, Verteidigung in Jugendstrafsachen, Rn. 1 ff.; jeweils m. w.N. 90

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

sen verlangt jedoch das Problem des Intra-Rollenkonfliktes umso mehr nach einer Klärung. Die Problematik des Rollenkonfliktes ist zwar insoweit in ihrer Dramatik zu relativieren, als sie nicht ausschließlich jugendgerichtshilfespezifisch, sondern vielmehr der Tätigkeit eines jeden im gesellschaftlichen Auftrag und im öffentlichen Dienst stehenden Sozialarbeiters immanent ist. Jede Sozialarbeit muss den Gegensatz zwischen den Vorgaben der Träger und den gesetzlichen Regeln einerseits und der Orientierung am Klienten andererseits bewältigen93. Jedoch gilt es, den Konflikt, welcher der Jugendgerichtshilfe letztendlich die Erfüllung ihrer Aufgaben erschwert, aber gleichzeitig unvermeidlich bleibt, solange SGB V I I I und JGG der Jugendgerichtshilfe teilweise widerstreitende Funktionen zuweisen, im Interesse der Jugendlichen so weit wie möglich zu reduzieren. Hierfür werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen: b) Konfliktvermeidung durch Veränderung der Funktionsdefinition der Jugendgerichtshilfe Ausgehend von der These, dass die lex lata und das herrschende Verständnis den Jugendgerichtshelfer auf einen bloßen Gerichtshelfer mit den beiden Funktionen „gerichtliche Ermittlung" und „überwachende Tätigkeit" reduzieren, hat Hauber 94 de lege ferenda 95 die Forderung erhoben, die Jugendgerichtshilfe zum „Sozialanwalt" des straffällig gewordenen Jugendlichen zu machen. Ihr solle eine dem Beistand im Sinne des § 69 JGG vergleichbare Stellung zukommen. Subjektive Parteinahme für den Jugendlichen sei Voraussetzung dafür, dass der „neue Jugendgerichtshelfer" seiner sozialarbeiterischen Tätigkeit effektiv nachkommen kann. Im Ergebnis hieße dies, die Aufgaben der Jugendgerichtshilfe einseitig auf die Hilfe für den Beschuldigten zu konzentrieren, wodurch der oben beschriebene Rollenkonflikt zwangsläufig entfallen würde. Gegen diesen - soweit ersichtlich in dieser Radikalität heute kaum mehr vertretenen 96 - Ansatz spricht insbesondere, dass die diesem Konzept innewohnende Parteilichkeit des „Sozialanwalts" dazu führt, dass er - ähnlich einem Verteidiger - dem Gericht lediglich die für den Beschuldigten günstigen, ihn entlastenden Umstände mitteilen darf. Aus der Sicht von Jugendstaatsanwalt 93

So Klier/Brehmer/Zinke, JGH, S. 18; Münder u.a., FK-SGB VIII, § 52 Rn. 11. ZblJugR 1980, 509 ff. 95 Die Zusammenarbeit mit der Justiz aufzukündigen, ist de lege lata gesetzeswidrig, vgl. Ostendorf, ZfJ 1991, 9. 96 Vgl. jedoch Zach, DVJJ-Journal 1996, 251, der meint, die Jugendhilfe im Gerichtssaal solle sich als „eine Sozialanwaltschaft bzw. auch als ein[en] Systemfehler in der Bannmeile der Strafjustiz" verstehen und an anderer Stelle (S. 253) ausführt, dass „wir [Jugendgerichtshelfer, d. Verf.] als Jugendhilfe eben keinen justitiellen Ermittlungsauftrag auszuführen haben". 94

5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze.

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und -gericht entwertet dies den Bericht des Vertreters der Jugendgerichtshilfe. Er vermittelt kein objektives und vollständiges Gesamtbild von der Persönlichkeit und den Lebensumständen des delinquenten Jugendlichen. Staatsanwaltschaft und Gericht sind daher gezwungen, das so entstehende Informationsdefizit durch anderweitige Ermittlungen zu kompensieren, um eine Basis für die Entscheidung über die optimale und angemessene Reaktion auf die Delinquenz des Jugendlichen zu erhalten. Es liegt nicht zuletzt im wohlverstandenen Interesse des Jugendlichen selbst, dass auf eine fachliche Bewertung auch und gerade der für ihn negativen Umstände durch den besonders geschulten Jugendgerichtshelfer nicht verzichtet wird. Daher ist Schaffstein 97 beizupflichten, wenn er formuliert: „So sehr jedoch eine solche Beseitigung des Rollenkonfliktes, in dem der Helfer heute als Ermittler und Betreuer steht, einleuchten könnte, so ist sie doch mit dem Verzicht auf die Ermittlungsfunktion der JGH zu teuer erkauft." Gleichwohl ist dem Grundgedanken des Konzepts von Hauber, der generellen Stärkung der Funktion der Hilfe für den Beschuldigten gegenüber der Gerichtshilfefunktion, zuzustimmen98. Ostendorf 99 lehnt zwar einerseits die einseitige Rollenwahrnehmung der Jugendgerichtshilfe ab, andererseits fordert er aber eine „tätigkeitsspezifische Rollenübernahme" in dem Sinne, dass im Ermittlungsverfahren, d.h. bis zur Anklageerhebung bzw. bis zur Hauptverhandlung, die Ermittlungs- und Hilfefunktion für die Justiz im Mittelpunkt der Tätigkeit der Jugendgerichtshilfe stehen und erst danach die Betreuungsfunktion für den Jugendlichen zunächst eine gleichrangige, bei der Durchführung der Sanktionen schließlich eine vorrangige Bedeutung erlangen soll. Er begründet dies mit der besonderen psychischen Belastung, welcher der Jugendliche durch die Anklageerhebung ausgesetzt wird und welche erst die Betreuungsbedürftigkeit auslöse. Abgesehen davon, dass Betreuungsbedarf - wie bereits ausgeführt 100 - auch und gerade schon vor Abschluss des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens bestehen kann, schreibt § 52 Abs. 3 SGB VIII die Betreuung des Jugendlichen durch die Jugendgerichtshilfe während des gesamten Verfahrens vor. Dies schließt die Zeit des Ermittlungsverfahrens ein. Schließlich kann dieses Konzept Friktionen auch nicht gänzlich vermeiden, da jedenfalls für die Zeit von der Anklageerhebung bis zum Abschluss der Hauptverhandlung der Vertreter der Jugendgerichtshilfe doch wieder beide Funktionen gleichrangig wahrnehmen muss. Der akute Rollenkonflikt erstreckt sich somit lediglich über einen kürzeren Zeitraum, ist aber nicht ausgeräumt. 97

In: Dünnebier-FS, S. 661 [667]. s.o. II.5.a), S. 42. 99 ZfJ 1991, 9 [11]. 100 s.o. II.4.b), S. 36. 98

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

c) Organisatorische Lösungsansätze In die gleiche Richtung, jedoch verbunden mit organisatorischer Neustrukturierung, weisen die Vorschläge, die Jugendgerichtshilfe in einen „sozialen Dienst" der Justiz zu integrieren, welcher Bewährungshilfe, Jugendgerichtshilfe, Führungsaufsichtsstellen und Sozialarbeiter im Vollzugsdienst umfassen soll 1 0 1 . Mit einer reinen Verlagerung von einer Institution zur anderen ändert sich jedoch nichts am Problem der Doppelfunktion der Jugendgerichtshilfe 102. Zudem fördert die organisatorische Zuordnung zur Justiz wiederum die Dominanz der Funktion der Hilfe für das Gericht, die es gerade zu überwinden gilt 1 0 3 . Hiervon zu unterscheiden sind Überlegungen, die Aufgaben der Beratung und Betreuung des Jugendlichen einerseits und die Ermittlungs- und Berichtstätigkeit für das Gericht andererseits strikt personell zu trennen und von verschiedenen Vertretern der Jugendgerichtshilfe durchführen zu lassen. Sowohl der Vorschlag, die beiden Aufgabenbereiche auf zwei verschiedene Mitarbeiter des Jugendamtes zu übertragen 104, als auch der Gedanke, die ermittelnd-kontrollierende Tätigkeit dem Jugendamt zu belassen und die beratend-betreuenden Funktionen den Trägern der freien Jugendhilfe zu übertragen 105, sind nicht geeignet, den Konflikt zu lösen. Die unterschiedlichen Funktionen der Jugendgerichtshilfe stehen in einem inneren Zusammenhang106. Dies macht eine Zusammenarbeit der mit den jeweils getrennten Aufgabenbereichen befassten Vertretern der Jugendgerichtshilfe unerlässlich. Hieraus entsteht eine neue Konfliktlage, da es im Rahmen der Zusammenarbeit zu einem Informationsaustausch kommen muss. Dadurch wird jedoch die höchst komplexe Frage der Zulässigkeit der Weitergabe und Verwertung der im jeweiligen Bereich gewonnen Daten aufgeworfen 1 0 7 , auf welche im Verlauf dieser Abhandlung noch genauer einzugehen sein wird 1 0 8 .

101 Vgl. Möller, ZblJugR 1974, 394 ff.; krit. Neupert, ZblJugR 1980, 395 ff.; Albrecht, P.-A., Jugendstrafrecht, § 40 D. 2., erwägt eine Zuweisung der Ermittlungstätigkeit entsprechend § 160 Abs. 3 S. 2 StPO an die Justiz; zu einem Verbundmodell in Esslingen vgl. Lochmann/Berner, BewHi 1992, 272 [277ff.]; krit. Laubenthal, JGH, S. 56. 102 So auch Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VII § 52 Rn. 24. 103 s.o. II.5.a), S. 40 ff. 104 So Müller-Dietz, MschrKrim 1975, 1 [10]; Schlink, in: BMJ-JGH, S. 51 [57]; Walter, ZblJugR 1973, 485 [497 f.]. 105 So Eisenberg, JGG, 8. Aufl., 2000, § 38 Rn. 6 (anders aber nunmehr § 38 Rn. 6a); Peters, Strafprozeß, S. 597. 106 Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, § 52 Rn. 25. 107 Vgl. Laubenthal, JGH, S. 55 f. 108 s.u. IV.3.a), S. 108 ff. und IV.3.c), S. 132 ff.

5. Der Intra-Rollenkonflikt. Lösungsansätze.

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Zudem ist dieser Lösungsansatz mit § 52 Abs. 3 SGB VIII schwerlich vereinbar 109 , der ausdrücklich von der Betreuung des Jugendlichen durch „den" Mitarbeiter des Jugendamtes bzw. des anerkannten freien Trägers der Jugendhilfe während des gesamten Verfahrens spricht und einer personellen Aufgabenaufteilung somit ersichtlich entgegensteht. d) Konfliktverminderung durch Konflikteingeständnis Als Ausweg aus dem Intra-Rollenkonflikt wird weiterhin empfohlen, die Konfliktsituation dadurch abzumildern, dass der Jugendgerichtshelfer den Probanden über seine Doppelfunktion, d.h. insbesondere über seine Ermittlungsfunktion im Rahmen des Strafverfahrens, in Kenntnis setzt 110 . Hierdurch soll der Gefahr entgegengewirkt werden, dass der Jugendliche den Jugendgerichtshelfer als Verteidigerersatz ansieht und dessen Verhalten im Verfahren als Vertrauensbruch erlebt. Dieser Ansicht ist insoweit Recht zu geben, als die Aufklärung notwendiger Bestandteil eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens ist. Das Vertrauen des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden darf sich der Jugendgerichtshelfer nicht erschleichen. Aus diesem Grunde ist die Offenlegung seiner Doppelrolle unverzichtbar. Aufklärung allein vermag den Konflikt aus der Sicht des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden jedoch dann nicht zu reduzieren, wenn er keine freie Entscheidung darüber treffen kann, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er mit der Jugendgerichtshilfe zusammenarbeitet. Solange die Jugendgerichtshilfe ihre Aufgabe ohne die Mitwirkung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden erfüllen kann, verdeutlicht die Aufklärung dem Beschuldigten nur die schwierige Situation, in der er sich befindet. Sein Misstrauen gegenüber der Jugendgerichtshilfe kann sich sogar verstärken, wenn das Wissen darum, lediglich Objekt des Handelns der Jugendgerichtshilfe zu sein, ein Gefühl der Ohnmacht auslöst. Die Folge ist, dass der Jugendliche bzw. Heranwachsende möglicherweise nicht mehr bereit ist, umfassende Informationen über sich zu offenbaren und einen Einblick in seine Persönlichkeit zu gestatten. Der Argwohn des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden kann schließlich dazu führen, dass Hilfsangebote von ihm sogar völlig abgelehnt werden 111 .

109

So auch Laubenthal, JGH, S. 55. Vgl. Böhm/Feuerhelm, JugendStrafR, § 18 4.; Bottke, ZblJugR 1980, 12 ff.; Ostendorf, JGG, § 38 Rn. 17; ders., ZfJ 1991, 9 [12]. 111 Vgl. Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, § 5 Rn. 26. 110

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II. Die Jugendgerichtshilfe - Wesen, Aufgaben, Rechtsstellung

Festzuhalten ist, dass das Konzept des Konflikteingeständnisses - jedenfalls isoliert betrachtet - nicht die Lösung des Intra-Rollenkonfliktes ist, als die es propagiert wird. e) Datenschutzrechtliche und strafprozessrechtliche Lösungsansätze Das eigentliche Dilemma der Jugendgerichtshilfe besteht darin, „Dienerin zweier Herren" zu sein, von denen der eine - Jugendstaatsanwaltschaft und -gericht - die Übermittlung von Informationen, der andere - der straffällig gewordene Jugendliche bzw. Heranwachsende - Vertraulichkeit und damit Zurückhaltung von Informationen fordert. Möglicherweise gibt dem Jugendgerichtshelfer das geltende Datenschutzrecht ein Instrumentarium an die Hand, einen Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen zu bewirken, indem es verbindliche Regeln aufstellt, welche Informationen weitergegeben werden müssen und welche zurückgehalten werden können. Angenommen, dieser Befund ließe sich verifizieren, bedeutete dies, dass der einzelne Jugendgerichtshelfer von seiner Pflicht entbunden wäre, sich in jedem Einzelfall vor den Strafverfolgungsbehörden für eine eventuelle Nicht-Weitergabe von Informationen rechtfertigen zu müssen. Er dürfte sich vielmehr bis zu einem gewissen Grad auf die vom Gesetzgeber im Vorhinein getroffenen Wertungen zurückziehen. Eventuell bestehende strafprozessrechtliche Institute, wie beispielsweise Zeugnisverweigerungsrechte, könnten ihn dabei unterstützen. Darüber hinaus könnte das Datenschutzrecht bewirken, dass die Jugendgerichtshilfe verstärkt auf die Mitwirkung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden angewiesen ist, dieser mithin als Verfahrenssubjekt in den Mittelpunkt ihres Handelns rückt. Sollte dies der Fall sein, würde dem Beschuldigten ein größerer Entscheidungsspielraum dahingehend eingeräumt, inwieweit er zu einer Zusammenarbeit bereit ist. In diesem Zusammenhang könnte dann auch die Aufklärung über die Doppelrolle der Jugendgerichtshilfe an Bedeutung gewinnen: Kann der jugendliche bzw. heranwachsende Delinquent frei darüber entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Informationen er an den Jugendgerichtshelfer weitergibt und läuft er nicht Gefahr, dass dieser quasi „hinter seinem Rücken" über ihn Ermittlungen anstellt, wird er sich als Person ernst genommen fühlen, wodurch der Grundstein für ein echtes und vor allem beständiges Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem Vertreter der Jugendgerichtshilfe bereits gelegt ist. Dieser datenschutzrechtliche Ansatz soll im Weiteren näher auf seinen Wahrheitsgehalt und seine Praxistauglichkeit untersucht werden. Auf die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit er geeignet ist, den Intra-Rollenkonflikt zu entschärfen, wird zurückzukommen sein 112 . 112

s.u. VI., S. 170 ff.

I I I . Grundlagen des Datenschutzrechts 1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes a) Die datenschutzrechtliche Situation vor dem „Volkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts Auslöser für die Entwicklung der mittlerweile hochdifferenzierten Materie des Datenschutzes war die Herausbildung der modernen Informations- und Kommunikationstechnik seit Anfang der 1960er Jahre. Ausgehend von Datenverarbeitung als Großtechnologie, von der Massendatenverarbeitung und deren Zentralisierung in großen Rechenzentren, vollzog sich eine rasante Technikentwicklung über die Miniaturisierung der Gerätetechnik bis hin zum preiswerten und leicht bedienbaren Personalcomputer (PC), mit der eine zunehmende Dezentralisierung der Datenverarbeitung einherging 1. Dies führte dazu, dass „bei Entscheidungsprozessen nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene Karteien und Akten zurückgegriffen werden muß, vielmehr heute mit Hilfe der automatischen Datenverarbeitung Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person [...] technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Sie können darüber hinaus - vor allem beim Aufbau integrierter Informationssysteme - mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, ohne daß der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann. Damit haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsichtnahme und Einflußnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermö„ „ „ «2 gen. Als Reaktion auf diese erkannte Gefährdungslage wurden in Bund und Ländern die Datenschutzgesetze der „ersten Generation" erlassen. Das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) vom 27. Januar 19773 trat am 1. Januar 1978 in Kraft. Die Reihe der Bundesländer, die ein Landesdatenschutzgesetz erließen, begann 1 Vgl. Büllesbach, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 7 [15 f.]; Riegel, Datenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 26 ff.; Walz, in: Frommann (Hrsg.), Datenverarbeitung, S. 336 [341]; zu den Ursprüngen der Informationstechnik vgl. Richter, Datenschutz, S. 17 ff.; zur Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik bis Anfang der 1990er Jahre vgl. Tinnefeld/Ehmann, DatenschutzR, S. 1 ff. 2 So der Befund des BVerfG, BVerfGE 65, 1 [42] („Volkszählungsurteil").

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bereits 1970 mit Hessen4 und 1974 mit Rheinland-Pfalz 5; sie endete im Jahre 1981 mit dem Stadtstaat Hamburg 6. Diesen Gesetzen war ein Regelungsmodell gemein, welches sich an der Computertechnik orientierte. Ihr Anwendungsbereich war daher auf automatisiert geführte Dateien sowie manuelle Dateien, deren Inhalt zur Übermittlung an Dritte bestimmt war, beschränkt. Zudem fehlten Regelungen über die Zulässigkeit der Datenerhebung. Jedoch schärfte die Auseinandersetzung mit den potentiellen Folgen der Automatisierung gleichzeitig den Blick des Gesetzgebers für die vergleichbaren Probleme, die eine konventionelle Verarbeitung personenbezogener Angaben mit sich bringen kann7. Da der Gesetzgeber sich angesichts der Komplexität der einzelnen Lebensbereiche außerstande sah, das allgemeine Datenschutzrecht auf Akten und andere Datenträger (nicht zuletzt die Informationen „im Kopf des Mitarbeiters") zu erweitern, konzentrierte er sich in der Folgezeit auf bereichsspezifische Datenschutzregelungen8. Bis heute sind die wichtigsten Regelungen dieser Art die Datenschutznormen des Sozialgesetzbuches. Ihren Ausgangspunkt nahm die bereichsspezifische Normierung des Datenschutzes im Sozialbereich 1976 mit der generellen Geheimhaltungsnorm des § 35 SGB I 9 . Bereits 1980 wurde der § 35 SGB I zum ersten Mal neu gefasst 10. An die Stelle des alten Begriffes „Geheimhaltung" trat der neue Terminus „Sozialgeheimnis". Dieser wurde mit dem Bezug zu den Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse verbunden und so mit dem aus den Datenschutzgesetzen des Bundes und der Länder bekannten Begriff der „personenbezogenen Daten" gleichgesetzt11. Am 1. Januar 1981 trat das Zehnte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB X ) 1 2 in Kraft. Es enthielt im Zweiten Kapitel unter der Überschrift „Schutz der Sozialdaten" in den §§67 bis 77 abschließende, detaillierte Offenbarungsbefug3

BGBl. I 1977, 201; zum Werdegang des Gesetzes vgl. Auernhammer, BDSG, Einführung Rn. 22 ff.; Richter, Datenschutz, S. 64 f sowie ausführlich Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 1 ff. 4 GVB1. Hessen I 1970, 625. 5 GVB1. Rheinland-Pfalz I 1974, 31. 6 GVB1. Hamburg I 1981, 71; Die „neuen" Bundesländer erließen nach dem Beitritt zum Bundesgebiet ebenfalls in rascher Reihenfolge LDSGe. Vgl. auch das Fundstellenverzeichnis der Datenschutzgesetze der Länder im Anhang, S. 174. 7 Vgl. Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 14. 8 So Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Vor. § 61 Rn. 11. 9 BGBl. I 1975, 3015. 10 Durch Art. II § 28 Nr. 2 SGB X v. 18.8.1980, BGBl. I 1980, 1469 [1499]. 11 Vgl. Büllesbach/Holst, BldW 1982, 187. 12 BGBl. I 1980, 1469.

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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nisse für die Sozialverwaltung 13, ohne insoweit auf das BDSG Bezug zu nehmen. Die §§79 ff. SGB X ordneten jedoch im Übrigen die Geltung wesentlicher Teile des BDSG für die Sozialverwaltung an. Insbesondere durch diese Verweisung waren dem Sozialdatenschutzrecht zwangsläufig dieselben Schwächen immanent, wie sie bereits für das BDSG selbst konstatiert wurden. Es fehlten hauptsächlich Vorschriften über die Datenerhebung und -speicherung sowie über die Rechte des Betroffenen auf Auskunft, Sperrung und Löschung. b) Das „Volkszählungsurteil44 des Bundesverfassungsgerichts: verfassungsrechtliche Prinzipien des Datenschutzes In seinem so genannten „Volkszählungsurteil" 14 hat das Bundesverfassungsgericht 1983 den Datenschutz auf die Grundlage des aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) 1 5 folgenden informationellen Selbstbestimmungsrechts gestellt. Dieses „Grundrecht gewährleistet [...] die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen" 16 . Es beinhaltet den Schutz des Bürgers in allen Phasen des Umgangs mit seinen persönlichen Daten, d.h. von der Erhebung über die Speicherung und Verwendung bis hin zur Weitergabe der Daten. Im so genannten „Quellensteuer-Urteil" 17 sprach das Bundesverfassungsgericht später sogar explizit von einem „Grundrecht auf Datenschutz". Soweit es um den Schutz von Informationen geht, hat das Bundesverfassungsgericht mit dem „Volkszählungsurteil" seine bis dahin vertretene Sphärentheorie 18 , nach der verschiedene Sphären der Persönlichkeitsentfaltung mit unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit zu unterscheiden waren, aufgegeben. Da durch Verarbeitung und Verknüpfung ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen kann, darf der Schutz von Informationen nicht davon abhängen, aus welcher Sphäre die Informationen stammen und ob die Einzelinformation besonders sensibel oder weniger sensibel erscheint. „In-

13 Zum Sozialdatenschutz nach SGB X 1981 vgl. Büllesbach/Holst, BldW 1982, 187; Kunkel, ZfSH/SGB 1985, 49 ff; Mallmann, NDV 1981, 89 ff. sowie die diversen Beiträge in: Mörsberger (Hrsg.), Datenschutz im sozialen Bereich. 14 BVerfGE 65, 1 ff. 15 Für eine Herleitung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus einem breiteren regulatorischen Konnex einer Reihe von die Kommunikationsfähigkeit des Einzelnen gewährleistenden Grundrechtsartikeln (neben Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG auch Art. 5, 8, 9 und 10 GG): Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 1 Rn. 64 f. 16 BVerfGE 65, 1 [43]; vgl. hierzu u.a. Schlink, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 237 ff., Simitis, NJW 1984, 398 ff. 17 BVerfGE 84, 239 [279 f.]. 18 Vgl. nur BVerfGE 34, 238 ff. 4 Webers

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soweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein »belangloses4 Datum mehr." 19 Ausgehend von diesem neuen Konzept arbeitete das Bundesverfassungsgericht Prinzipien und Gebote heraus 20, welche für den Datenschutz in allen gesellschaftlichen Bereichen Geltung beanspruchen und an denen die existierenden Datenschutznormen ebenso wie das Verwaltungshandeln zu messen sind. (1) Vorbehalt des Gesetzes Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Es kann vielmehr im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dürfen nach Art. 2 Abs. 1 GG nur auf der Grundlage eines (verfassungsmäßigen) Gesetzes erfolgen. Dabei darf der Gesetzgeber sich jedoch nicht auf einen bloßen Hinweis auf ein bestehendes „überwiegendes Allgemeininteresse" beschränken. Vielmehr muss er die jeweiligen spezifischen Informationserwartungen konkret sanktionieren, ansonsten bleiben die Daten unzugänglich21. (2) Gebot der Normenklarheit Das grundrechtseinschränkende Gesetz hat dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit zu entsprechen. Dies bedeutet, dass der Bürger den jeweiligen gesetzlichen Regelungen die Voraussetzungen und den Umfang der Beschränkungen klar entnehmen können muss. Es sollte für ihn deutlich ersichtlich sein, unter welchen Bedingungen welche öffentliche Stelle zu welchen Zwecken welche ihn betreffenden Informationen erheben, verarbeiten oder nutzen darf. Hierzu tragen beispielsweise übersichtlich zusammengefasste Kataloge der Aufgaben der jeweiligen Leistungsträger bei 22 . Das Gebot der Normenklarheit erfordert weiterhin, dass das Gesetz den Besonderheiten der konkret zu regelnden Datenverarbeitungssituation gerecht wird. Diese wiederum bestimmt sich nach den jeweiligen gesetzlichen Aufgaben, in deren Zusammenhang Informationen verarbeitet werden müssen. Das Spektrum ist naturgemäß weit gefasst: Steuer-, Melde-, Polizei-, Verfassungsschutz-, Wehr-, Gesundheits- und Sozialrecht stellen unterschiedlichste Anforderungen an die Datenverarbeitung.

19 20 21 22

BVerfGE 65, 1 [45]. Vgl. BVerfGE 65, 1 [44 ff.]. Vgl. Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 33. Vgl. Proksch, Sozialdatenschutz, S. 34.

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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Generalklauseln eignen sich nicht dazu, diese ungleichen Datenverarbeitungsprozesse für den Bürger transparent zu regeln. Die datenschutzrechtlichen Regeln müssen daher zwingend bereichsspezifisch 23 ausgestaltet werden. Die einzelnen Spezialgesetze sind folglich mit eigenständigen, auf die entsprechende Informationsverarbeitungssituation zugeschnittenen Datenschutzregeln zu versehen. (3) Verhältnismäßigkeitsprinzip

(Übermaßverbot)

Wie jeder Eingriff in Grundrechte steht auch die Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unter dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot, welches allgemein besagt, dass grundrechtseingreifende gesetzliche Regelungen und Ermächtigungen zur Erreichung des jeweils verfolgten, seinerseits verfassungslegitimen Zwecks geeignet und notwendig sein müssen. Auf den Datenschutz übertragen bedeutet dies, dass immer nur das unbedingt zur Erfüllung der jeweiligen gesetzlichen Aufgabe im konkreten Einzelfall erforderliche Minimum an Daten erhoben, gespeichert und weitergegeben werden darf. Zudem muss das Erhebungsverfahren in einer Art und Weise ausgestaltet sein, dass es den Bürger möglichst wenig belastet. Ferner sind die Daten - amtshilfefest - gegen eine Zweckentfremdung durch unbefugte Weitergabe und Verwertung zu sichern 24. Schließlich verbietet das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Erhebung unzumutbarer Intimangaben und sonstiger Selbstbezichtigungen25. (4) Zweckbindungsprinzip. Prinzip der „ informationellen Gewaltenteilung " Als zentrales Prinzip des Datenschutzes erweist sich die - letztlich gleichfalls aus dem Übermaßverbot resultierende - Zweckbindung. Sie legt das Verarbeitungsziel fest und begrenzt den Verarbeitungsumfang. Die Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Daten ist strikt auf den vom Gesetzgeber bereichsspezifisch und präzise bestimmten Zweck begrenzt. Nur so kann dem Nachteil, der mit dem Vorteil einer automatischen Datenverarbeitung - der multifunktionellen Verwendung der Daten - verknüpft ist, nämlich der steigenden Unübersichtlichkeit des Datenverarbeitungsprozesses, begegnet werden 26.

23 Vgl. hierzu u.a. Büllesbach, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 7 [19 f.]; Simitis, NJW 1984, 398 [400]. 24 Näher dazu sogleich u. (4). 25 Vgl. Büllesbach, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 7 [21]. 26 Vgl. Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 35. 4*

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Hiermit lässt sich insbesondere das Sammeln von nicht anonymisierten Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nicht vereinbaren. Von der strengen Zweckbindung darf nicht ohne ein formelles Gesetz, welches zur Verwendung und Übermittlung erhobener Daten für andere Zwecke als den mit der Erhebung verfolgten ermächtigt, bzw. ohne ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen abgewichen werden. Das Zweckbindungsprinzip enthält damit zugleich ein Zweckentfremdungsverbot. Der Schutz vor Zweckentfremdung muss amtshilfefest ausgestaltet sein. Die öffentliche Verwaltung kann nicht (mehr) als Informationseinheit betrachtet werden. Vielmehr gilt das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung auch im Bereich der Datenverarbeitung. Es wird insoweit als „informationelle Gewaltenteilung" bezeichnet. Dem steht das verfassungsrechtliche Postulat der Amtshilfe des Art. 35 GG nicht entgegen. Es schließt im Gegenteil eine Machtbegrenzung durch Verteilung der Aufgaben und der Befugnisse auf verschiedene Institutionen notwendig ein 27 . Die Zweckbindung muss nicht nur in Fällen beachtet werden, in denen eine gesetzliche Auskunftspflicht besteht. Sie gilt in gleichem Maße, wenn der Betroffene Daten freiwillig für bestimmte, bei der Erhebung angegebene Zwecke preisgegeben hat. Seine Einwilligung ist kein Verarbeitungsfreibrief 28, sondern umfasst jeweils nur die ihm bekannten Verarbeitungsziele. Nicht zuletzt folgt aus dem Zweckbindungsprinzip die Verpflichtung, nicht (mehr) benötigte Informationen zu löschen bzw. zu sperren 29. (5) Institutionalisierte

Verarbeitungskontrolle

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung unabhängiger Datenschutzbeauftragter für die Gewährleistung eines wirksamen informationellen Selbstbestimmungsrechts betont. Jeder Einzelne kann sich an die Datenschutzbeauftragten wenden, sollte er die komplexen administrativen Zusammenhänge und hoch technisierten Verarbeitungsprozesse nicht selbst überblicken. Bei einer rechtzeitigen Beteiligung können die Datenschutzbeauftragten als Instanz des vorgezogenen Rechtsschutzes Gefahren, die sich insbesondere aus der Automatisierung der Datenverarbeitungsvorgänge ergeben, wirksam bereits im Vorfeld der Verarbeitung begegnen. Der Betroffene ist somit nicht auf in ihrer Wirksamkeit zweifelhafte nachträg27 So Büllesbach, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn S. 7 [13]; vgl. hierzu auch Schlink, NVwZ 1986, 249 ff. 28 So Simitis, NJW 1984, 398 [402]. 29 Vgl. Münder u.a., FK-SGB VIII, VorKap 4 Rn. 8.

(Hrsg.), Sozialdatenschutz,

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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liehe Korrekturen beschränkt 30. Erst die Kontrollmechanismen der Datenschutzbeauftragten, welche die in der Gesellschaft bestehenden Informationsbahnen ebenso wie den Umgang der Behörden mit Informationen beobachten und die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben überwachen, ermöglichen es dem Bürger, von seinem informationellen Selbstbestimmungsrecht auch umfassend Gebrauch zu machen. (6) Selbsterhebungsgrundsatz Ausfluss des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist schließlich der Selbsterhebungsgrundsatz, auch als Grundsatz der Erst-, Mitwirkungs- oder Betroffenenerhebung bezeichnet31. Er besagt, dass Daten über eine Person grundsätzlich bei dem Betroffenen selbst zu erheben sind. Ohne sein Einverständnis ist eine Erfragung bei Dritten nicht zulässig. Nur so ist sichergestellt, dass der Bürger von vornherein Kenntnis davon hat, wer was wann an Informationen über ihn sammelt und verarbeitet. Werden Daten ohne die Mitwirkung des Betroffenen gleichsam „hinter seinem Rücken" erhoben, so kann dies nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sein. Sonst würde der Bürger zum Objekt staatlichen Handelns degradiert und damit einem Eingriff in seine durch Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Menschenwürde ausgesetzt. (7) Transparenzgebot Mit den beschriebenen Prinzipien korreliert notwendig das Gebot der Informationstransparenz. Wie bereits mehrfach angesprochen, setzt die Inanspruchnahme des informationellen Selbstbestimmungsrechts durch den Bürger voraus, dass dieser darüber unterrichtet ist, wem welche Informationen über ihn vorliegen und in welcher Weise mit ihnen verfahren wird. Daher muss der Betroffene bei der Datenerhebung über den Zweck der Erhebung aufgeklärt werden. Ihm ist, insbesondere durch durchsetzbare Auskunftsrechte, Gelegenheit zu geben, sich Kenntnis zu verschaffen, welche Informationen über ihn gespeichert sind. c) Die Datenschutzgesetze der zweiten und dritten Generation (1) Das Bundesdatenschutzgesetz von 1990 Mit der Neufassung des BDSG vom 20. Dezember 1990 32 , welche zum 1. Juni 1991 in Kraft trat, schrieb der Bundesgesetzgeber das Datenschutzrecht 30 31

Vgl. Simitis, NJW 1984, 398 [403]. Vgl. Kunkel, in: LPK-SGB VIII, § 62 Rn. 6.

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nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts fort. Wegbereiter waren auch insoweit wiederum die Länderlegislativen: Hessen33, Bremen 34 , NordrheinWestfalen , Hamburg und Berlin schufen ihre Datenschutzgesetze der „zweiten Generation" bereits in den Jahren 1986 bis 1990. Die Novelle des BDSG erweiterte den Schutzbereich des Datenschutzes, indem sie die Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Daten ohne Rücksicht darauf regelte, ob ein Missbrauch der Daten tatsächlich zu befürchten ist. Damit setzte sie das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Datenschutzverständnis um, welches als Gegenstand des Datenschutzes den rechtmäßigen Umgang mit personenbezogenen Daten und nicht lediglich die Verhinderung vorwerfbaren Fehlverhaltens ansieht38. Der Anwendungsbereich des BDSG wurde - zumindest für den öffentlichen Bereich (vgl. § 27 Abs. 2 BDSG 1990) - auf personenbezogene Daten in Akten ausgedehnt. Das Zweckbindungsprinzip erfuhr hinsichtlich der Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten eine Verstärkung (vgl. z.B. § 14 BDSG 1990). Zudem wurde durch § 13 Abs. 2 BDSG 1990 der Selbsterhebungsgrundsatz gesetzlich verankert. Mit der Neuregelung hat sich der Gesetzgeber zugleich dafür entschieden, dass öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften sowie die ihnen zugeordneten karitativen und erzieherischen Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht dem Anwendungsbereich des BDSG unterfallen (vgl. § 12 Abs. 1 und 2, § 15 Abs. 4 BDSG 1990). Vielmehr müssen diese den Datenschutz kraft ihrer Regelungsautonomie selbst gewährleisten. In Umsetzung dieser Vorgaben wurde daher am 22. November 1993 auf der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands die Neufassung der „Anordnung über den kirchlichen Datenschutz" (KDO) 3 9 beschlossen, welche ab 1. Januar 1994 in allen Diözesen in Kraft gesetzt wurde. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beschloss am 12. November 1993 ein für den gesamten Bereich der evangelischen Kirche und ihrer Einrichtungen verbindliches neues „Kirchengesetz über den Datenschutz in der Evangelischen Kirche in Deutschland" (DSGEKD) 4 0 , welches zu Beginn des Jahres 1994 in Kraft trat.

32

BGBl. I 1990, 2954; ausführlich zum Entstehungsprozess Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 52 ff. 33 GVB1. I 1986, 309. 34 GBl. 1987, 263. 35 GVB1. 1988, 160. 36 GVB1. I 1990, 133. 37 GVB1. 1991, 16. 38 Vgl. Büllesbach, NJW 1991, 2593 [2595]. 39 Verkündet in den ABl. der Diözesen; vgl. hierzu Fachet, KuR 1995, 29 ff. 40 AB1. EKD 1993, S. 505; vgl. hierzu Ciaessen, DuD 1995, 8 ff.

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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(2) Das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches von 1994 Auch der bereichsspezifische Datenschutz musste den verfassungsrechtlichen Erfordernissen angepasst werden. Zwar sah etwa Bühler 41 durch das SGB X 1981 bereits einen „höchstmöglichen Datenschutz in der Sozial Verwaltung gewährleistet, denn ein noch weitergehender würde die Aufgabenerfüllung sicher beeinträchtigen." Er hielt daher eine Anpassung des damals gültigen Sozialdatenschutzrechts an die vom Bundesverfassungsgericht im „Volkszählungsurteil" aufgestellten Anforderungen an den Datenschutz nicht für erforderlich. Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften über die Verarbeitung und den Schutz von personenbezogenen Informationen innerhalb der Sozialverwaltung bereits in der Fassung des SGB X 1981 als „in die verfassungsrechtlich gebotene Richtung weisend" 42 ansah, verkannte der Befund von Bühler doch den Umfang des zur Behebung noch bestehender Schwächen des SGB X 1981 43 erforderlichen Regelungsbedarfs. Zudem hatte auch die unterbliebene Anpassung des SGB X an das novellierte BDSG aus dem Jahre 1990 zu einer Reihe von Rechtsunklarheiten geführt. Diese resultierten zum einen daraus, dass aufgrund einer veränderten Paragrafenfolge des BDSG die entsprechenden Verweise aus dem SGB X nicht mehr stimmig waren. Zum anderen waren im Rahmen der Novellierung des BDSG neue Fachbegriffe („Nutzung" für „Verwendung", „Übermittlung" für „Offenbarung" 44 ) eingeführt worden, was eine begriffliche Synchronisierung des Sozialdatenschutzrechts mit dem BDSG notwendig machte. Es war daher dringend geboten, den Sozialdatenschutz entweder an das neue BDSG anzupassen oder aber ihn eigenständig zu regeln. Der Gesetzgeber entschied sich mit dem „Zweiten Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuches" vom 13. Juni 1994 45 für eine weitgehend eigenständige Regelung des Sozialdatenschutzrechts, welche jedoch materiell-rechtlich in großen Teilen dem neuen BDSG entspricht. Verweisungen auf das BDSG und die Landesdatenschutzgesetze beschränken sich nunmehr auf ein Mindestmaß. In Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes 46 unterstellt der nochmals neu gefasste § 35 SGB I „Sozialdaten" - dieser Begriff ersetzt nun41

BWVPr 1988, 222 ff. BVerfGE 65, 1 [45]. 43 s.o. III.l.a), S. 48 f. 44 Zu den Begriffen s.u. III.2., S. 62 ff. 45 BGBl. I 1994, 1229; vgl. hierzu Adelt, BKK 1995, 366 ff.; Andre, RDV 1994, 234 ff.; Birne, NZS 1995, 97 ff.; Kunkel, ZfSH/SGB 1995, 225 ff. 46 Skeptisch insoweit Lindner, DuD 1993, 666 [669], der meint, das Sozialdatenschutzrecht des 2. SGB-Änderungsgesetzes widerspräche den Vorgaben des „Volkszählungsurteils". 42

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mehr den der „personenbezogenen Daten" - einerseits grundsätzlich dem Schutz des Sozialgeheimnisses. Andererseits ermöglichen die §§ 67 ff. SGB X im Interesse einer funktionsfähigen Sozialverwaltung Durchbrechungen dieses Schutzes, indem sie unter bestimmten Voraussetzungen das Erheben, das Verarbeiten - einschließlich der Weitergabe an Dritte - und das Nutzen von Sozialdaten erlauben und die jeweils statthaften Verwendungszwecke gesetzlich festschreiben. (3) Der Einfluss der Europäischen Datenschutzrichtlinie Am 24. Oktober 1995 wurde die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr 47 erlassen. Die Richtlinie befasst sich mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten sowie deren manueller Verarbeitung, wenn die entsprechenden Daten in Dateien enthalten oder für sie bestimmt sind. Insoweit bleibt sie hinter dem nationalen Datenschutzrecht zurück, welches auch Daten in Akten betrifft. Sie schützt lediglich natürliche, nicht juristische Personen, gilt jedoch auch für die Datenverarbeitung bei freien Trägern. Hinsichtlich des Sozialdatenschutzes enthält die Richtlinie u.a. detaillierte Bestimmungen zur Information der betroffenen Personen über die Erhebung und Verarbeitung ihrer Daten, einen gesteigerten Schutz besonders sensibler Daten, sowie eine verstärkte Institutionalisierung des Rechtsschutzes. Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht endete am 24. Oktober 1998. Weder der Bund noch die Länder haben sie eingehalten. Wiederum waren es allerdings die Länder, welche als erste die Vorgaben der Richtlinie in ihre Datenschutzgesetze der „dritten Generation" implementierten. Den Anfang machten Brandenburg 48 und Hessen49, etwas später folgten SchleswigHolstein 50 , Baden-Württemberg 51, Nordrhein-Westfalen 52 und Bayern 53 . Alle übrigen Länder wurden nach dem Bundesgesetzgeber tätig. Der Bundesgesetzgeber erließ das entsprechende „Gesetz zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes und anderer Gesetze"54 erst am 18. Mai 2001. Die 47

ABl. EG Nr. L 281 v. 23.11.1995, S. 31; vgl. hierzu Brühann, DuD 1996, 66 ff.; Simitis, NJW 1997, 281 ff.; zu dem sich aus der Richtlinie ergebenden Regelungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber vgl. Brühann/Zerdick, CR 1996, 429 ff. 48 GVB1. I 1998, 243. 49 GVB1. I 1999, 98. 50 GVB1. 2000, 169. 51 GBl. 2000, 450. 52 GV. 2000, 542. 53 GVB1. 2000, 752. 54 BGBl. I 2001, 904; vgl. hierzu Maas, NDV 2001, 281 ff.; Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 91 ff.; Steinbach, NZS 2002, 15 ff.

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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Verzögerung im Prozess der Umsetzung der Europäischen Datenschutzrichtlinie in nationales Recht beruhte zum einen auf dem zwischenzeitlichen Ende der Legislaturperiode. Zum anderen wurden gewichtige Stimmen 55 laut, welche forderten, die anstehende Novellierung des Datenschutzrechtes für eine grundlegende Modernisierung desselben zum Anlass zu nehmen. Zwar flössen in die Novelle letztendlich einige Elemente eines „modernen Datenschutzrechts" 56 ein, wie zum Beispiel die Prinzipien der Datenvermeidung und Datensparsamkeit (vgl. § 3a BDSG), der Datenschutz durch Technik (vgl. § 9 BDSG) sowie die Regelungen zur Videoüberwachung (vgl. § 6b BDSG) und zu mobilen Speicher- und Verarbeitungsmedien (vgl. § 6c BDSG). Die grundlegende Modernisierung des Datenschutzes wurde indes auf eine „zweite Stufe" der Novellierung verschoben 57. Zu den wesentlichen Neuerungen, die durch das Gesetz vom 18. Mai 2001 in das BDSG Eingang gefunden haben58, gehört zum einen die Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereiches des BDSG im nicht-öffentlichen Bereich auf jede unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen erfolgende Verarbeitung personenbezogener Daten (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG). Zum anderen wird die Datenerhebung, wie dies bis dato bereits für die übrigen Phasen der Datenverarbeitung der Fall war, einem Verbot mit Erlaubnis vorbehält unterworfen ( § 4 Abs. 1 BDSG). Zugleich wurden die Voraussetzungen, unter denen eine Datenerhebung ohne Mitwirkung des Betroffenen statthaft ist, in § 4 Abs. 2 BDSG präzisiert. Dem Betroffenen wurde darüber hinaus erstmals ausdrücklich ein allgemeines Widerspruchsrecht gegen ihn betreffende Verarbeitungen personenbezogener Daten eingeräumt (§§ 20 Abs. 5, 35 Abs. 5 BDSG). Zu den erweiterten Verarbeitungsbeschränkungen gehört auch, dass so genannte „besondere Arten" personenbezogener Daten, das sind gemäß § 3 Abs. 9 BDSG Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit oder Sexualleben, aufgrund ihrer besonderen Sensitivität einem gesteigerten Schutz unterworfen werden (vgl. z.B. § 4a Abs. 3 BDSG). Die Novelle beschränkte sich nicht auf den Anwendungsbereich des BDSG, sondern setzte die Vorgaben der Europäischen Datenschutzrichtlinie auch in die bereichsspezifischen Datenschutz Vorschriften, wie beispielsweise jene des SGB, um.

55 Vgl. BfD, 16. Tätigkeitsbericht, Anlage 15; Bull, ZRP 1998, 310; Simitis, NJW 1997, 281 ff. 56 Zu den Zielen der Modernisierung vgl. Simitis, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, Einleitung Rn. 103 ff. m.w.N. 57 Vgl. Gola/Schomerus, BDSG, 7. Aufl., 2002, Einleitung Rn. 11. 58 Vgl. auch Gill, DRiZ 2002, 252 f.; Gola/Klug, NJW 2001, 3747 ff.

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d) Allgemeine Systematik der (sozial-)datenschutzrechtlichen Vorschriften im öffentlichen Bereich Der Sozialdatenschutz wird gewährleistet durch Datenschutzregelungen aus dem SGB I, dem SGB X, dem BDSG, den jeweiligen Landesdatenschutzgesetzen sowie bereichsspezifischen Vorschriften wie beispielsweise dem SGB VIII in der Kinder- und Jugendhilfe. Zusätzlich ergeben sich Geheimhaltungspflichten etwa aus § 203 StGB, aus den jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetzen (z.B. Art. 30 BayVwVfG), aus dienstrechtlichen Regelungen für Beamte (§ 39 BRRG), für Angestellte (§ 9 BAT) und für Mitarbeiter (§§ 1, 2 VerpflichtungsG) sowie nicht zuletzt aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung selbst59. (1) Der Geltungsbereich der bundesrechtlichen Datenschutzvorschriften Grundsätzlich gilt das BDSG ohne Rücksicht auf das Speichermedium für alle Phasen der Verarbeitung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen des Bundes und der Länder - soweit diese Bundesrecht ausführen oder als Organe der Rechtspflege tätig werden und es sich nicht um Verwaltungsangelegenheiten handelt - sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch für nichtöffentliche Stellen (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 BDSG). Außerdem ist das BDSG anzuwenden, wenn auf dieses durch bereichsspezifische Gesetze (z.B. § 82 SGB X) verwiesen wird. Jedoch ist der Anwendungsbereich des BDSG in zweifacher Weise eingeschränkt: Einerseits tritt das BDSG hinter die Landesdatenschutzgesetze zurück (vgl. § 1 Abs. 2 BDSG); andererseits gehen ihm bereichsspezifische Regelungen, wie z.B. die Datenschutzvorschriften des SGB, vor (vgl. § 1 Abs. 3 BDSG). Allerdings tritt das BDSG hinter Spezialgesetze nur insoweit zurück, als sie tatsächlich entsprechende bereichsspezifische Regelungen enthalten (Grundsatz der Subsidiarität). Im VwVfG ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bei der Datenverarbeitung nicht eigens berücksichtigt worden. Die Vorschriften des BDSG gehen deshalb nach § 1 Abs. 4 BDSG denen des VwVfG vor, „soweit bei der Ermittlung eines Sachverhaltes personenbezogene Daten verarbeitet werden". Das VwVfG gilt daher zwar grundsätzlich für die Umsetzung eines Gesetzes, d.h. wenn aus einem ermittelten Sachverhalt die entsprechenden rechtlichen Folgerungen (z.B. Erlass eines Verwaltungsaktes) gezogen werden. Jedoch enthält § 1 Abs. 1 VwVfG a.E. eine Subsidiaritätsklausel, nach welcher inhaltsgleichen oder abweichenden Rechtsvorschriften des Bundes vorrangige Geltung vor dem VwVfG zukommt. Aufgrund der lückenlosen spezialgesetzlichen Da59

Vgl. Kunkel, ZfSH/SGB 1992, 345 ff.

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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tenschutznormierungen in Bundesgesetzen wird die Anwendung des VwVfG auf dem Gebiet der Umsetzung von Gesetzen regelmäßig durch bereichsspezifische Normen bzw. durch das BDSG ausgeschlossen60. Der Anwendungsbereich des VwVfG beschränkt sich in datenschutzrechtlicher Hinsicht somit im Wesentlichen auf die Verarbeitung rein sachbezogener Daten sowie auf die Verarbeitung von Daten juristischer Personen. (2) Der Geltungsbereich der länderrechtlichen

Datenschutzvorschriften

Die Situation in den Ländern ist derjenigen beim Bund vergleichbar. Entsprechend der Kompetenzordnung des Grundgesetzes haben Bundesspezialgesetze Vorrang vor den Landesdatenschutzgesetzen. Für die Landesdatenschutzgesetze gilt wiederum der Grundsatz der Subsidiarität (vgl. Art. 2 Abs. 7 BayDSG 61 ): Datenschutzrechtliche Spezialgesetze der Länder gehen vor. Das Verhältnis der Landesdatenschutzgesetze zu den Landesverwaltungsverfahrensgesetzen korrespondiert ebenfalls mit der bundesrechtlichen Regelung (vgl. Art. 2 Abs. 8 BayDSG 62 , Art. 1 Abs. 1 S. 1 BayVwVfG a.E. 63 ). (3) Bereichsspezifische Spezialnormen des Bundes am Beispiel der für den Bereich der (allgemeinen) Kinder- und Jugendhilfe geltenden Sozialdatenschutzvorschriften Datenschutzrechtliche Spezialnormen des Bundes finden sich beispielsweise im SGB. Das Ineinandergreifen der diversen Datenschutznormen des SGB soll 60

Vgl. hierzu Walz, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 1 Rn. 191 f. Parallelregelungen finden sich in § 2 Abs. 5 S. 1 LDSG BW; § 2 Abs. 5 S. 2 BlnDSG; § 2 Abs. 3 S. 2 BbgDSG; § 1 Abs. 2 S. 3 BremDSG; § 2 Abs. 7 HmbDSG; § 3 Abs. 3 HDSG; § 2 Abs. 4 S. 1 DSG M-V; § 2 Abs. 6 NDSG; § 2 Abs. 3 DSG NRW; § 2 Abs. 7 S. 1 LDSG RP; § 2 Abs. 3 S. 2 SDSG; § 2 Abs. 4 SächsDSG; § 3 Abs. 3 S. 1 DSG-LSA; § 3 Abs. 3 LDSG SH; § 2 Abs. 3 S. 1 ThürDSG. Zu den Fundstellen vgl. die Übersicht im Anhang, S. 174. 62 Parallelregelungen finden sich in § 2 Abs. 4 BlnDSG; § 2 Abs. 3 S. 1 BbgDSG; § 3 Abs. 2 HDSG; § 2 Abs. 7 NDSG; § 2 Abs. 8 LDSG RP; § 2 Abs. 3 SDSG; § 3 Abs. 4 DSG-LSA; § 2 Abs. 4 ThürDSG. In folgenden Gesetzen findet sich keine ausdrückliche Normierung: LDSG BW; BremDSG; HmbDSG; DSG M-V; DSG NRW; SächsDSG; LDSG SH. 63 Parallelregelungen finden sich in § 1 Abs. 1 LVwVfG; § 1 Abs. 1 VwVfGBbg; § 1 Abs. 1 HVwVfG; § 1 Abs. 1 VwVfG M-V; § 1 Abs. 2 NVwVfG; § 1 Abs. 1 VwVfG NRW; § 1 Abs. 1 LVwVfG RP; § 1 S. 1 SächsVwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG; § 1 Abs. 1 S. 1 VwVfG LSA; § 1 Abs. 1 ThürVwVfG. Berlin konstatiert in § 2a Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung ausdrücklich die Geltung des BlnDSG für das Verwaltungsverfahren. Dasselbe gilt gem. § 3a HmbVwVfG für Hamburg. Im BremVwVfG, im SVwVfG sowie im VwVfG SH fehlt eine entsprechende Regelung. Zu den Fundstellen vgl. die Übersicht im Anhang, S. 175. 61

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. Grundlagen des D a t e n s c h u t z e s

im Folgenden am Beispiel des Sozialdatenschutzes in der Kinder- und Jugendhilfe erläutert werden: Die zentrale Grundnorm für den Schutz der Sozialdaten nach dem SGB ist § 35 SGB I. Das so genannte „Sozialgeheimnis" verleiht jedem Bürger einen Anspruch darauf, dass seine Daten von den jeweiligen Leistungsträgern (für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind dies die Jugendämter, vgl. § 69 Abs. 1 und 3 SGB VIII) nur befugt, d.h. im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen, erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Die Sozialdaten unterliegen auf diese Weise einem erhöhten, dem Steuergeheimnis vergleichbaren Schutz. Gemäß § 35 Abs. 2 SGB I dürfen sich die gesetzlichen Ermächtigungen zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten nur aus dem Zweiten Kapitel des SGB X ergeben. Insoweit ist § 61 Abs. 1 SGB VIII überflüssig, der für den Bereich der Jugendhilfe die Geltung der allgemeinen Bestimmungen des Sozialdatenschutzes (§ 35 SGB I und §§ 67 bis 85a SGB X) lediglich klarstellend hervorhebt. Abweichend von den Normen des Zweiten Kapitels des SGB X (§§67 ff. SGB X) stellen jedoch die §§ 61 bis 68 SGB VIII für die spezifische Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe andere Voraussetzungen für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten auf. Hier greift die Kollisionsnorm des § 37 SGB I ein: Sie räumt zunächst in ihrem Satz 1 dem SGB VIII Vorrang ein, nimmt diesen jedoch durch Satz 2 für die dort genannten Paragrafen - u. a. § 35 SGB I - wieder zurück. Im Ergebnis bedeutet dies, dass auch in der Kinder- und Jugendhilfe das Sozialgeheimnis Gültigkeit beansprucht, im Übrigen aber die Vorschriften des Vierten Kapitels des SGB VIII als leges speciales den Datenschutzvorschriften des SGB X vorgehen. Dies gilt auch, soweit die bereichsspezifischen Normen des SGB VIII den Sozialdatenschutz im Vergleich zu den allgemeinen sozialdatenschutzrechtlichen Vorschriften des SGB X einschränken 64.

64 Durch das 2. SGB-Änderungsgesetz von 1994 wurde § 37 SGB I neu gefasst und die Ausnahmen vom Rechtsvorbehalt auf die §§ 1 bis 17, 31 bis 36 SGB I beschränkt. Damit ist die vormalige Problematik der Sperrwirkung der §§67 bis 85 a SGB X vor einschränkenden Bestimmungen in den besonderen Büchern wie dem SGB VIII gelöst. Abweichungen auch in Richtung der Einschränkung des Sozialdatenschutzes in der Jugendhilfe sind nunmehr - abgesehen von den nach wie vor widersprüchlichen Sonderbereichen des Vormundschaftswesens (§ 61 Abs. 2 SGB VIII) und der Jugendgerichtshilfe (§ 61 Abs. 3 SGB VIII), zu letzterem s.u. IV.2.c), S. 96 f. - unbedenklich. So auch Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, § 61 Rn. 4; Rombach, in: Hauck/Noftz, SGB VIII/2, § 61 Rn. 6; a.A. Kunkel, in: LPK-SGB VIII, § 61 Rn. 8, der die §§ 67 ff. SGB X über § 35 Abs. 2 SGB I nach wie vor in die Veränderungssperre einbezogen sieht. Vgl. zur früheren Kontroverse u.a. Kunkel, DAVorm 1992, 270 ff.; ders., ZfJ 1991, 111 ff.; ders., ZfJ 1991, 459 ff.; Maas, ZfJ 1991, 577 ff; ders., NDV 1990, 215 f.; Mörsberger, ZfJ 1991, 114 ff.; ders., ZfJ 1990, 365 [368].

1. Die normativen Grundlagen des Datenschutzes

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Die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder finden im Rahmen von Verfahren nach dem SGB keine Anwendung (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG, Art. 2 Abs. 2 Nr. 4 BayVwVfG 65 ). (4) Der Geltungsbereich sonstiger Geheimhaltungsvorschriften Im Individualinteresse des Betroffenen aber auch im Allgemeininteresse schützt § 203 StGB den persönlichen Lebens- und Geheimbereich vor Verletzungen durch Träger sozial bedeutsamer Berufe, denen der Einzelne aber auch die Allgemeinheit besonderes Vertrauen entgegenbringen. Die Vorschrift verstärkt für die Angehörigen der aufgeführten helfenden Berufe sowie für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst die bestehenden Verschwiegenheitspflichten. Schließlich bestehen für Beamte (§ 39 BRRG), Angestellte im öffentlichen Dienst (§ 9 BAT) und für Mitarbeiter (§§ 1, 2 VerpflichtungsG) unterschiedlich weit gefasste Pflichten zur Wahrung von Amts- bzw. Dienstgeheimnissen. Diese stellen an die jeweils verpflichtete Person häufig ähnliche praktische Anforderungen wie die Datenschutzvorschriften. Die Regelungsbereiche überschneiden sich zum Teil in ihren normativen Anknüpfungspunkten, denn auch im Datenschutzrecht geht es letztlich im Wesentlichen um Verschwiegenheit, wie bereits der Begriff „Sozialgeheimnis" versinnbildlicht. Die Regelungsbereiche unterscheiden sich jedoch grundlegend im Normzweck. Im Datenschutzrecht steht der Schutz des Einzelnen vor Eingriffen in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Vordergrund. Amts- und Dienstgeheimnisse existieren jedoch im öffentlichen Interesse, welches jeweils durch den Dienstherrn definiert wird 6 6 Schwerwiegende Verletzungen des Gebots der Amtsverschwiegenheit werden durch § 353 b StGB strafrechtlich sanktioniert. (5) Zusammenfassung Die Systematik der (sozial-)datenschutzrechtlichen Vorschriften für den öffentlichen Bereich ergibt schematisch vereinfacht folgendes Bild: 65

Parallelregelungen finden sich in § 2 Abs. 2 Nr. 3 LVwVfG BW; § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 3 VwVfGBbg; § 2 Abs. 2 Nr. 3 BremVwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 3 HmbVwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 3 HVwVfG; § 2 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG M-V; § 2 Abs. 2 Nr. 2 NVwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG NRW; § 1 Abs. 3 Nr. 3 LVwVfG RP; § 2 Abs. 2 Nr. 3 SVwVfG; § 1 S. 1 SächsVwVfG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG; § 2 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG LSA; § 336 Abs. 3 Nr. 7 b LVwG SH; § 2 Abs. 2 Nr. 3 ThürVwVfG. 66 Vgl. Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Vor § 61 Rn. 39.

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Abb. 1 : Systematik der (sozial-)datenschutzrechtlichen Vorschriften im öffentlichen Bereich67

2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts Bevor vertieft in die Erörterung der speziellen datenschutzrechtlichen Situation der Jugendgerichtshilfe 68 eingestiegen werden kann, sind zunächst die wichtigsten Grundbegriffe des Datenschutzrechts zu definieren.

67 68

Die Abb. basiert auf Tinnefeld/Ehmann, s.u. IV., S. 77 ff.

DatenschutzR, Schaubild 8, S. 103.

2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts

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a) Sozial-/Datenschutz „Datenschutz" zielt nicht auf den „Schutz von Daten" als solche. Die Wortbildung ist insoweit missverständlich. Vielmehr versteht man unter Datenschutz die Summe aller tatsächlichen und rechtlichen Vorkehrungen, die erforderlich und geeignet sind, den Einzelnen vor Beeinträchtigungen seines Persönlichkeitsrechts durch den Umgang mit seinen personenbezogenen Daten zu schützen (vgl. § 1 Abs. 1 BDSG 69 ). Sozialdatenschutz ist hingegen - enger - die Summe aller tatsächlichen und rechtlichen Vorkehrungen, welche die Vorgänge der Informationserhebung, -Verarbeitung und -nutzung der Sozialverwaltung unter dem Gesichtspunkt der Wahrung von Interessen der Betroffenen rechtlich eingrenzen und ihnen Rechte zur Wahrung ihrer Interessen an den sie betreffenden Informationen verleihen 70. b) Personenbezogene Daten/Sozialdaten Der Begriff „Daten" ist den empirischen Sozialwissenschaften und der Volkswirtschaftslehre entlehnt, in denen er große Informationsmengen bezeichnet. Im Gegensatz zur Informatik, welche unter „Daten" lediglich die durch Zeichen dargestellten Informationen versteht, ist der Ausdruck im Bereich des Datenschutzrechts Synonym für die Information selbst. Personenbezogene Daten sind nach § 3 Abs. 1 BDSG 71 „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person". Die Zuordnung von Einzelangaben zu einer der beiden Kategorien „persönliche" oder „sachliche" Verhältnisse ist, auch wenn der Gesetzeswortlaut das Gegenteil suggeriert, praktisch und rechtlich unerheblich. Personenbezogene Daten sind daher sämtliche erdenklichen Informationen, seien es Tatsachen, Vermutungen oder Wertungen, die einer Person zugeordnet werden können. Unerheblich ist, unter welchen Aspekten sie entstehen, ob sie sich auf die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft der Person beziehen, ob sie (scheinbar) trivial

69 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 1 LDSG BW; Art. 1 BayDSG; § 1 Abs. 1 Nr. 1 BlnDSG; § 1 BbgDSG; § 1 Abs. 1 BremDSG; § 1 HmbDSG; § 1 Abs. 1 Nr. 1 HDSG; § 1 DSG M-V; § 1 S. 1 NDSG; § 1 DSG NRW; § 1 Abs. 1 LDSG RP; § 1 SDSG; § 1 SächsDSG; § 1 LDSG SH; § 1 Abs. 1 DSGLSA; § 1 ThürDSG. 70 So Proksch, Sozialdatenschutz, S. 41. 71 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 1 LDSG BW; Art. 4 Abs. 1 BayDSG; § 4 Abs. 1 S. 1 BlnDSG; § 3 Abs. 1 BbgDSG; § 2 Abs. 1 BremDSG; § 4 Abs. 1 HmbDSG; § 2 Abs. 1 HDSG; § 3 Abs. 1 DSG M-V; § 3 Abs. 1 NDSG; § 3 Abs. 1 DSG NRW; § 3 Abs. 1 LDSG RP; § 3 Abs. 1 SDSG; § 3 Abs. 1 SächsDSG; § 2 Abs. 2 LDSG SH; § 2 Abs. 1 S. 1 DSG-LSA; § 3 Abs. 1 ThürDSG.

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oder interessanten Inhalts sind 72 . Nicht mehr personenbezogen ist das Datum dann, wenn es durch Anonymisieren (vgl. § 3 Abs. 6 BDSG 73 ) oder Pseudonymisieren (vgl. § 3 Abs. 6a BDSG 74 ) derart verändert wurde, dass es einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person nicht mehr oder nur unter unverhältnismäßig großem Aufwand zugeordnet werden kann. Der Begriff „Sozialdaten" wird in Anlehnung an § 3 Abs. 1 BDSG wortgleich in § 67 Abs. 1 S. 1 SGB X definiert. Er ist folglich mit dem Begriff „personenbezogene Daten" inhaltlich identisch. Die Vorschrift stellt lediglich klar, dass ein personenbezogenes Datum dann zum Sozialdatum wird, wenn es „von einer in § 35 des Ersten Buches genannten Stelle im Hinblick auf ihre Aufgaben nach diesem Gesetzbuch erhoben, verarbeitet oder genutzt" wird (vgl. § 67 Abs. 1 S. 1 SGB X a.E.), es sich also um eine sozialleistungsbezogene Information über eine bestimmte oder bestimmbare Person handelt. Hingegen gelten für fiskalisches Handeln der betreffenden Stelle oder für deren Umgang mit Informationen in ihrer Funktion als Arbeitgeber andere Geheimhaltungsvorschriften 75 . c) Betroffener Die doppelte Legaldefinition des § 3 Abs. 1 BDSG 76 bezeichnet als Betroffenen diejenige bestimmte oder bestimmbare Person, der die Einzelangaben über persönliche bzw. sachliche Verhältnisse zuzuordnen sind. Teilt jemand einer öffentlichen Stelle, etwa dem Jugendamt, Informationen über eine dritte Person mit, dann handelt es sich um personenbezogene Daten mit Doppelbezug bzw. Drittwirkung 77 mit der Folge, dass sowohl die mitteilende als auch die in Bezug genommene Person Betroffene sind. Sowohl der 72 Vgl. die detaillierten Aufzählungen u.a. bei Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 10 ff.; Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 3; Busch, Der Schutz von Sozialdaten in der Jugendhilfe, S. 26 f.; Proksch, Sozialdatenschutz, S. 40 f. 73 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 6 LDSG BW; Art. 4 Abs. 8 BayDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 7 BlnDSG; § 3 Abs. 3 Nr. 1 BbgDSG; § 2 Abs. 4 BremDSG; § 4 Abs. 9 HmbDSG; § 3 Abs. 4 Nr. 8 DSG M-V; § 3 Abs. 7 DSG NRW; § 3 Abs. 7 LDSG RP; § 3 Abs. 8 S. 1 SDSG; § 3 Abs. 2 Nr. 4 SächsDSG; § 2 Abs. 7 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 Nr. 6 LDSG SH; § 3 Abs. 9 ThürDSG. Das HDSG u. das NDSG enthalten keine entsprechende Definition. 74 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 7 LDSG BW; § 4 Abs. 3 Nr. 8 BlnDSG; § 3 Abs. 3 Nr. 2 BbgDSG; § 2 Abs. 5 BremDSG; § 4 Abs. 10 HmbDSG; § 3 Abs. 4 Nr. 9 DSG M-V; § 3 Abs. 8 DSG NRW; § 3 Abs. 8 LDSG RP; § 3 Abs. 8 S. 2 SDSG; § 2 Abs. 7a DSG-LSA; § 2 Abs. 2 Nr. 7 LDSG SH; § 3 Abs. 10 ThürDSG. Keine entsprechende Definition enthalten das BayDSG, das HDSG, das NDSG u. das SächsDSG. 75 Vgl. Binne, NZS 1995, 97 [98]. 76 Zu den Parallelregelungen in den LDSGen vgl. o. Fn. 71. 77 Vgl. hierzu ausführlich Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 41 ff.

2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts

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Vorgang der Mitteilung als solcher als auch die übermittelten Angaben über den anderen sind durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützte Daten. d) Automatisierte Verarbeitung/nicht automatisierte Datei Die Unterscheidung der Begriffe „automatisierte Verarbeitung" und „nicht automatisierte Datei" geht auf die Europäische Datenschutzrichtlinie zurück. Das novellierte BDSG 7 8 gilt allerdings - ebenso wie bereits das BDSG von 1990 (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BDSG 1990) - für öffentliche Stellen (§ 2 Abs. 1 bis 3 BDSG) ohne Einschränkungen für alle Datenverarbeitungsphasen und insbesondere ohne Rücksicht auf das Speichermedium und die Art der Verarbeitung. Lediglich hinsichtlich der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch nicht-öffentliche Stellen (§ 2 Abs. 4 BDSG) beschränkt das Gesetz seinen Schutzbereich auf die Datenverarbeitung unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen bzw. auf die Verarbeitung von Daten in oder aus nicht automatisierten Dateien. Das BDSG erfasst folglich im öffentlichen Bereich namentlich die Datenverarbeitung außerhalb nicht automatisierter Dateien und damit insbesondere auch die Akten Verarbeitung. Es reicht insoweit in zulässiger Weise über die Mindestvorgaben der Europäischen Datenschutzrichtlinie hinaus. Auch wenn das Vorliegen einer automatisierten Verarbeitung bzw. der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung von Daten in oder aus einer nicht automatisierten Datei für die Anwendbarkeit des BDSG im Bereich der öffentlichen Stellen nicht konstituierend ist, gestaltet doch das Gesetz die datenschutzrechtlichen Verpflichtungen dieser Stellen teilweise differenziert danach aus, ob Daten in Akten oder aber dateimäßig verarbeitet werden (vgl. §§ 8 Abs. 4, 18 Abs. 2, 20 Abs. 2 und 4 BDSG). „Automatisierte Verarbeitung" ist gemäß § 3 Abs. 2 S. 1 BDSG 7 9 die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen, d.h. von Anlagen zum automatisierten Handhaben von Daten 80 (zumeist Computer).

78

Gleiches gilt für die LDSGe. Parallelregelungen finden sich in § 3 Abs. 8 LDSG BW; § 4 Abs. 3 Nr. 4 BlnDSG; § 3 Abs. 5 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 4 S. 1 BremDSG; § 2 Abs. 6 HDSG; § 3 Abs. 5 NDSG; § 3 Abs. 5 DSG NRW; § 3 Abs. 5 S. 1 LDSG RP; § 3 Abs. 6 SDSG; § 3 Abs. 5 SächsDSG; § 2 Abs. 2 HS. 1 DSG-LSA; § 3 Abs. 2 ThürDSG. Das BayDSG, das HmbDSG, das DSG M-V u. das LDSG SH enthalten keine entsprechende Definition. 80 Vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 65. 79

5 Webers

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III. Grundlagen des Datenschutzrechts

Eine „nicht automatisierte Datei" ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich um eine manuelle Sammlung personenbezogener Daten handelt, welche gleichartig aufgebaut und nach bestimmten Merkmalen zugänglich ist sowie die Möglichkeit der Auswertung besitzt (vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 BDSG 8 1 ) 8 2 . Grundsätzlich können auch Akten und Aktensammlungen unter den so definierten Dateibegriff subsumiert werden, wenn sie mindestens zwei Merkmale (etwa Aktenzeichen, Name, Betreff, usw.) aufweisen, welche eine Sortierung oder Auswertung ermöglichen 83 . Dieser Auslegung steht auch der Erwägungsgrund 27 der Europäischen Datenschutzrichtlinie 84 nicht entgegen, wonach die Richtlinie „bei manuellen Verarbeitungen lediglich Dateien erfasst, nicht jedoch unstrukturierte Akten. [...] Akten und Aktensammlungen sowie ihre Deckblätter, die nicht nach bestimmten Kriterien strukturiert sind, fallen unter keinen Umständen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie." Es sollen mithin nur die „unstrukturierten" Akten, d.h. solche, die nicht für ihre Benutzung im Hinblick auf die betroffenen Personen organisiert sind, deren Struktur also den Zugriff auf und die Suche nach Daten über natürliche Personen nicht erleichtert, herausfallen. Im Gegensatz zum BDSG von 1990 (vgl. § 3 Abs. 2 S. 2) ist es nicht mehr erforderlich, dass die Akten bzw. Aktensammlungen durch automatisierte Verfahren umzuordnen und auszuwerten sein müssen, um den Dateibegriff zu erfüllen. Da der Begriff der Akte für die Anwendbarkeit des BDSG nicht mehr von Relevanz ist, wird er im BDSG, anders als in den meisten Landesdatenschutzgesetzen85, nicht mehr definiert. Soweit das BDSG weiterhin spezielle Regelungen für in Akten gespeicherte Daten enthält (z.B. § 20 Abs. 6), umschreibt es sie als „personenbezogene Daten, die weder automatisiert verarbeitet noch in einer nicht automatisierten Datei gespeichert sind".

81

Parallelregelungen finden sich in § 3 Abs. 9 Nr. 2 LDSG BW; Art. 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BayDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 5 Alt. 2 BlnDSG; § 3 Abs. 6 Alt. 2 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 4 S. 2 BremDSG; § 4 Abs. 6 Nr. 2 HmbDSG; § 2 Abs. 8 Nr. 2 HDSG; § 3 Abs. 2 Nr. 2 DSG M-V; § 3 Abs. 5 S. 2 Alt. 2 LDSG RP; § 37 Abs. 2 Nr. 2 SDSG; § 3 Abs. 7 Nr. 2 SächsDSG; § 2 Abs. 2a DSG-LSA; § 3 Abs. 7 HS. 2 ThürDSG. Das NDSG; das DSG NRW u. das LDSG SH enthalten keine entsprechende Definition. 82 Zu Einzelheiten vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 71 ff.; Gola/ Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 17 ff. 83 Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 20. 84 ABl. EG Nr. L 281 v. 23.11.1995, S. 31 [33 f.]. 85 Vgl. § 3 Abs. 10 LDSG BW; Art. 4 Abs. 4 BayDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 6 BlnDSG; § 3 Abs. 7 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 5 BremDSG; § 2 Abs. 7 HDSG; § 3 Abs. 3 DSG M-V; § 3 Abs. 6 NDSG; § 3 Abs. 6 DSG NRW; § 3 Abs. 6 LDSG RP; § 3 Abs. 7 SDSG; § 3 Abs. 6 SächsDSG; § 2 Abs. 3 DSG-LSA; § 3 Abs. 8 ThürDSG.

2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts

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e) Datenerhebung Das BDSG ordnet - im Gegensatz zu den Landesdatenschutzgesetzen mit Ausnahme des BayDSG und des DSG-LSA - die Datenerhebung deflatorisch als eigenständige Vorphase der nachfolgenden Datenverarbeitung ein. Das „Erheben" von Daten ist gemäß § 3 Abs. 3 BDSG 8 6 das Beschaffen von Daten über den Betroffenen. Im Regelfall hat die Erhebung der Daten beim Betroffenen selbst zu erfolgen (Betroffenenerhebung); ausnahmsweise können Daten über den Betroffenen auch bei anderen Personen oder Stellen erhoben werden (Dritterhebung). Die Erhebung setzt ein aktives zielgerichtetes Handeln der erhebenden Stelle voraus, welches in einer willentlichen Kenntnisnahme von den Daten bzw. in einer Begründung der Verfügungsmöglichkeit über selbige resultiert 87. Die Datenerhebung kann daher etwa durch mündliche oder schriftliche Befragung, Einsichtnahme in Unterlagen, zweckgerichtete Beobachtung, Fotografieren oder Untersuchung erfolgen 88. Mangels einer entsprechenden Aktivität liegt kein Erheben vor, wenn die Daten der Stelle ohne eigenes Zutun zugehen, beispielsweise durch nicht angeforderte Anträge, Eingaben oder Berichte 89 . Fällt die Datenerhebung mit dem Speichern oder Übermitteln von Daten zusammen (z.B. bei der Befragung Dritter), müssen für die Zulässigkeit dieser weiteren Eingriffe auch deren gesetzliche Voraussetzungen vorliegen. Beschafft sich die verantwortliche Stelle Daten aus ihren eigenen Datenbeständen oder verwendet sie bereits vorhandene Daten für einen anderen als den ursprünglichen Zweck, dann handelt es sich nicht um Datenerhebung sondern um Datennutzung. Beschafft sie sich hingegen Daten bei einer anderen Stelle, so handelt es sich sowohl um eine Datenerhebung als auch um eine Datenübermittlung. Um diese Vorgänge voneinander abzugrenzen und für jeden die entsprechenden Zulässigkeitsvoraussetzungen ermitteln zu können, ist eine exakte Definition der „verantwortlichen Stelle" unerlässlich 90.

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Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 LDSG BW; Art. 4 Abs. 5 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. Nr. 1 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 SächsDSG; § 2 Abs. 4 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 ThürDSG. 87 Sokol , in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 13 Rn. 11. 88 Vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 108 ff.; Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 24. 89 Sokol , in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 13 Rn. 11. 90 s.u. III.2.h), S. 71 ff. 5*

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III. Grundlagen des Datenschutzrechts

f) Datenverarbeitung „Verarbeiten" ist legaldefiniert in § 3 Abs. 4 S. 1 BDSG 91 . Es umfasst die folgenden fünf 9 2 Verarbeitungsvorgänge „ungeachtet der dabei angewendeten Verfahren", d.h. unabhängig davon, ob es sich um automatisierte Datenverarbeitung oder um die Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch herkömmliche manuelle Methoden handelt: (1) Speichern „Speichern" ist das Erfassen, Aufnehmen oder Aufbewahren von personenbezogenen Daten auf einem Datenträger zum Zwecke ihrer weiteren Verarbeitung oder Nutzung (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 BDSG 93 ). Die Speicherung beginnt somit erst mit dem Fixieren des Datums auf einem Datenträger, d.h. auf einem Medium, das zum Aufnehmen personenbezogener Daten geeignet ist 9 4 . Dabei handelt es sich um eine besonders sensible Phase der Datenverarbeitung, da mit der Speicherung die personenbezogenen Daten in den Datenverarbeitungsprozess in mehr oder weniger dauerhafter Form Eingang finden und hierdurch die Gefahr, dass durch den Umgang mit den Daten das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung beeinträchtigt wird, besonders virulent wird. (2) Verändern Unter „Verändern" versteht das Gesetz das inhaltliche Umgestalten gespeicherter personenbezogener Daten (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 BDSG 95 ). Eine vorhan91 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 1 LDSG BW; 4 Art. Abs. 6 S. 1 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 1 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 1 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 1 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 1 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 1 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 1 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 1 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 1 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 1 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 1 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 1 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 1 DSGLSA; § 2 Abs. 2 S. 1 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 1 ThürDSG. 92 In den LDSGen werden z.T. die Datenerhebung und -nutzung, das Pseudonymisieren und Anonymisieren sowie das Verschlüsseln als Unterfälle der Datenverarbeitung gezählt, wodurch sich deren Anzahl auf bis zu zehn erhöht. Die hieraus entstehenden Unterschiede sind rein systematischer, nicht aber inhaltlicher Natur. 93 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 LDSG BW; Art. 4 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ThürDSG. 94 Vgl. Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 26. 95 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 LDSG BW; Art. 4 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BlnDSG; § 3 Abs. 2

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dene Information wird folglich verändert, wenn sie durch einen zielgerichteten Eingriff in den Inhalt (nicht allein in die äußere Form) einen neuen Informationswert erhält. Hierunter fällt beispielsweise auch die Zusammenführung und Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Dateien, da durch diese Vorgänge die Daten in einen neuen Kontext gelangen und hierdurch eine neue Qualität gewinnen96. (3) Übermitteln „Übermitteln" (nach früherer Terminologie: „Offenbaren" 97) ist „das Bekanntgeben gespeicherter oder durch Datenverarbeitung gewonnener personenbezogener Daten an einen Dritten in der Weise, dass die Daten an den Dritten weitergegeben werden oder der Dritte zur Einsicht oder zum Abruf bereitgehaltene Daten einsieht oder abruft" (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 BDSG 98 ). Auf die Form der Bekanntgabe kommt es nicht an 99 . Wesentlich ist wiederum, dass lediglich die Bekanntgabe an Dritte als Übermittlung zu qualifizieren ist. Die Weitergabe von Daten innerhalb einer verantwortlichen Stelle stellt keine Übermittlung, sondern eine Datennutzung dar. Ebenso ist eine Übermittlung zu verneinen, wenn Daten an den Betroffenen selbst oder einen Auftragnehmer weitergegeben werden. (4) Sperren „Sperren" ist legaldefiniert als „das Kennzeichnen gespeicherter personenbezogener Daten, um ihre weitere Verarbeitung oder Nutzung einzuschränken" (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 BDSG 1 0 0 ). S. 2 Nr. 3 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 HmbDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 DSG-LSA; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ThürDSG. Das HDSG, das LDSG RP u. das LDSG SH definieren die Datenveränderung nicht ausdrücklich. In diesen Ländern ist die Datenveränderung ein (unbenannter) Unterfall der Datennutzung bzw. der sonstigen Datenverarbeitung. 96 Vgl. Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 30. 97 Vgl. zur Entwicklung der Termini anschaulich Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, § 61 Rn. 6. 98 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 LDSG BW; Art. 4 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 4 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 ThürDSG. 99 Zu möglichen Bekanntgabeformen vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 152.

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III. Grundlagen des Datenschutzrechts

Die Kennzeichnung erfolgt durch einen Sperrvermerk bei dem einzelnen betroffenen Datum (Einzelsperre) oder aber durch eine Sammel- bzw. Datensatzsperre, wenn mehrere Daten betroffen sind 1 0 1 . (5) Löschen „Löschen" ist das Unkenntlichmachen gespeicherter personenbezogener Daten (§ 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 5 BDSG 1 0 2 ). Diese letzte Phase der Datenverarbeitung bedeutet eine Steigerung des Sperrens durch Vernichtung der Information. Mögliche Formen des Löschens sind Schwärzen oder Ausradieren eines Datums sowie die Vernichtung des Datenträgers. Aus datenschutzrechtlicher Sicht unzureichend ist das normale „Löschen" einer Computer-Datei per Mausklick, da hierdurch lediglich die Datei zum Überschreiben freigegeben wird, eine Entfernung der beinhalteten Daten aber nicht erfolgt. Mit Datenrettungsprogrammen ist es nach wie vor möglich, die Daten auszulesen. Auch ein einmaliges Überschreiben einer sensiblen Datei garantiert aufgrund einer bestehen bleibenden Restmagnetisierung des Datenträgers kein datenschutzrechtlich unbedenkliches Löschen. Um Daten in Computer-Dateien tatsächlich irreversibel zu löschen, müssen sie wiederholt - mit Hilfe von Spezialprogrammen - mit neuen Daten überschrieben werden 103 . g) Datennutzung Jede Verwendung von personenbezogenen Daten, bei der es sich nicht um Verarbeitung im eben beschriebenen Sinn handelt, ist Datennutzung (vgl. § 3 Abs. 5 BDSG 1 0 4 ). 100 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 LDSG BW; Art. 4 Abs. 6 S. 2 Nr. 4 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 5 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 ThürDSG. 101 Zu den verschiedenen Kennzeichnungsformen vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 172 ff.; Gola/Schomerus, § 3 Rn. 39. 102 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 LDSG BW; Art. 4 Abs. 6 S. 2 Nr. 5 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 HmbDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 6 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 8 SächsDSG; § 2 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 DSG-LSA; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 LDSG SH; § 3 Abs. 3 S. 2 Nr. 6 ThürDSG. 103 Informativ hierzu Schmundt, in: DER SPIEGEL, 52/2003, S. 144 f. 104 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 LDSG BW; Art. 4 Abs. 7 BayDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 BlnDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7

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Das Nutzen von Daten ist ein umfassender Auffangtatbestand, der immer dann vorliegt, wenn die Verwendung geschützter Daten keiner anderen Verarbeitungsphase zugeordnet werden kann 1 0 5 . Mithin fallen hierunter sämtliche Vorgänge, die zur Fallbearbeitung innerhalb der verantwortlichen Stelle notwendig sind, wie etwa auch die interne Verwendung nicht gespeicherter Daten sowie das Herstellen von Kopien 106 . h) Öffentliche Stelle/Verantwortliche Stelle/Empfänger/Dritter. Die Kontroverse um den Behörden- und Stellenbegriff Während die „öffentliche Stelle" den Normadressaten des BDSG bzw. der Länderdatenschutzgesetze definiert, dient der Begriff „verantwortliche Stelle" (nach früherer Terminologie: „speichernde" oder auch „datenverarbeitende Stelle") als Anknüpfungspunkt für die im Gesetz festgelegten Rechte und Pflichten 107 . Die §§ 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 und 2 BDSG 1 0 8 definieren als öffentliche Stellen nicht die juristischen Personen Bund, Länder und Gemeinden als solche, sondern die Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen ebendieser. Verantwortliche Stelle ist hingegen gemäß § 3 Abs. 7 BDSG 1 0 9 „jede Person oder Stelle, die personenbezogene Daten für sich selbst erhebt, verarbeitet oder nutzt oder dies durch andere im Auftrag vornehmen lässt", also diejenige Person oder Stelle, welche „Herrin der Daten" ist.

BbgDSG; § 2 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 BremDSG; § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 HmbDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 Nr. 7 DSG M-V; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 NDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 DSG NRW; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 LDSG RP; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 7 SDSG; § 3 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 SächsDSG; § 2 Abs. 6 DSG-LSA; § 3 Abs. 4 ThürDSG. Das HDSG und das LDSG SH enthalten keine entsprechende Definition. 105 Vgl. auch OLG Köln, RDV 2001, 103 [104]. 106 Vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 201. 107 Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 3 Rn. 230. 108 Auf Länderebene gilt Gleiches für die Parallelregelungen in § 2 Abs. 1 LDSG BW; Art. 4 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 BayDSG; § 2 Abs. 1 S. 1 BlnDSG; § 2 Abs. 1 S. 1 BbgDSG; § 1 Abs. 2 S. 1 BremDSG; § 2 Abs. 1 S. 1 HmbDSG; § 3 Abs. 1 S. 1 HDSG; § 2 Abs. 1 DSG M-V; § 2 Abs. 1 S. 1 NDSG; § 2 Abs. 1 S. 1 DSG NRW; § 2 Abs. 1 S. 1 LDSG RP; § 2 Abs. 1 S. 1 SDSG; § 2 Abs. 1 SächsDSG; § 3 Abs. 1 S. 1 DSG-LSA; § 3 Abs. 1 S. 1 u. 2 Nr. 1 LDSG SH; § 2 Abs. 1 ThürDSG. 109 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 3 LDSG BW; Art. 4 Abs. 9 BayDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 1 BlnDSG; § 3 Abs. 4 Nr. 1 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 1 BremDSG; § 4 Abs. 3 HmbDSG; § 2 Abs. 3 HDSG; § 3 Abs. 5 DSG M-V; § 3 Abs. 3 NDSG; § 3 Abs. 3 DSG NRW; § 3 Abs. 3 LDSG RP; § 3 Abs. 3 SDSG; § 3 Abs. 3 SächsDSG; § 2 Abs. 8 DSG-LSA; § 2 Abs. 3 LDSG SH; § 3 Abs. 5 ThürDSG.

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III. Grundlagen des Datenschutzrechts

Besondere Bedeutung erlangt der Begriff „verantwortliche Stelle" hinsichtlich der Beurteilung einer Weitergabe von Daten als Datenübermittlung 110, denn eine solche ist nur im Bekanntgeben von personenbezogenen Daten an einen „Dritten" zu sehen. In Einschränkung des sehr weit gefassten Begriffes des „Empfängers" - das ist nach § 3 Abs. 8 S. 1 BDSG 1 1 1 jede Person oder Stelle, die personenbezogene Daten erhält - ist „Dritter" jede Person oder Stelle außerhalb der verantwortlichen Stelle (§ 3 Abs. 8 S. 2 BDSG), mit Ausnahme des Betroffenen selbst sowie der Auftragnehmer im Inland ebenso wie im Europäischen Wirtschaftsraum (§ 3 Abs. 8 S. 3 BDSG 1 1 2 ). Aus diesen Definitionen wird ersichtlich, dass die Auslegung der Termini „Stelle" und „Behörde" (als klassische und wichtigste Organisationseinheit) die Anwendbarkeit der Übermittlungsvorschriften präjudiziell. Nachdem der Behörden- und Stellenbegriff datenschutzrechtlich nicht eindeutig festgelegt ist, stehen sich denn auch zwei gänzlich unterschiedliche Interpretationsansätze gegenüber: Der organisationsrechtliche bzw. institutionelle Behörden- und Stellenbegriff 1 1 3 im datenschutzrechtlichen Sinn baut auf dem verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff, der etwa den §§ 61 Nr. 3, 78 VwGO zugrunde liegt, auf. Nach letzterem ist Behörde jede durch Organisationsrecht gebildete Stelle, die vom Wechsel des Amtsinhabers unabhängig und nach der einschlägigen Zuständigkeitsregelung berufen ist, unter eigenem Namen und nach außen eigenständig Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen 114. Übertragen auf das Datenschutzrecht bedeutet dies, dass die jeweilige aufbauorganisatorisch definierte Einheit im Ganzen, also etwa das Ministerium, das Landratsamt oder die Gemeinde als Verwaltungseinheit einschließlich sämtlicher Untergliederungen und unselbstständiger Zweigstellen eine datenschutzrechtliche Stelle bildet. Keine eigenständigen Stellen bzw. Behörden sind dagegen die

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s.o. III.2.f)(3), S. 69. Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen in § 3 Abs. 4 LDSG BW; § 4 Abs. 3 Nr. 2 BlnDSG; § 3 Abs. 4 Nr. 2 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 2 BremDSG; § 4 Abs. 5 HmbDSG; § 2 Abs. 4 HDSG; § 3 Abs. 4 S. 1 NDSG; § 3 Abs. 4 S. 1 DSG NRW; § 3 Abs. 4 S. 1 LDSG RP; § 3 Abs. 4 SDSG; § 3 Abs. 2 Nr. 5 SächsDSG; § 2 Abs. 10 DSG-LSA; § 2 Abs. 4 LDSG SH; § 3 Abs. 6 S. 1 ThürDSG. Das BayDSG u. das DSG M-V enthalten keine entsprechende Begriffsbestimmung. 112 Auf Länderebene finden sich Parallelregelungen zu § 3 Abs. 8 S. 2 u. 3 BDSG in § 3 Abs. 5 LDSG BW; Art. 4 Abs. 10 BayDSG; § 4 Abs. 3 Nr. 3 BlnDSG; § 3 Abs. 4 Nr. 3 BbgDSG; § 2 Abs. 3 Nr. 3 BremDSG; § 4 Abs. 4 HmbDSG; § 2 Abs. 5 HDSG; § 3 Abs. 6 DSG M-V; § 3 Abs. 4 S. 2 u. 3 NDSG; § 3 Abs. 4 S. 2 u. 3 DSG NRW; § 3 Abs. 4 S. 2 u. 3 LDSG RP; § 3 Abs. 5 SDSG; § 3 Abs. 4 SächsDSG; § 2 Abs. 9 DSG-LSA; § 2 Abs. 5 LDSG SH; § 3 Abs. 6 S. 1 u. 2 ThürDSG. 113 Hierzu zählten die kommunalen Landesverbände, vgl. 2. Tätigkeitsbericht der LfD in Baden-Württemberg, 1981, S. 62. 114 P. Stelkens/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 1 Rn. 217. 111

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nicht nach außen hin auftretenden (Fach-)Abteilungen, (Fach-)Referate und Sachgebiete von Behörden, d.h. die internen (Fach-)Organisationseinheiten. Der funktionale bzw. aufgabenbezogene Behörden- und Stellenbegriff 115 nimmt hingegen den verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG zum Ausgangspunkt, wonach Behörde jede Stelle ist, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Dies bedeutet, dass alle mit hinreichender organisatorischer Selbstständigkeit ausgestatteten Einrichtungen, denen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und entsprechende Zuständigkeiten zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen sind, jeweils eine Behörde bzw. Stelle formen 116 . Nicht maßgeblich ist mithin, dass die Stelle die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung nach außen hin wahrnimmt 117 . Die Verwaltungseinheit „Gemeinde" ist danach beispielsweise, ebenso wie Ministerien und andere Behörden mit mehreren Aufgabenbereichen, entsprechend ihrer gesetzlich geregelten sachlichen Aufgaben, Befugnisse und Zusammenhänge in organisatorische Teileinheiten zu untergliedern. Dabei ist auf die funktional kleinste Einheit abzustellen118. Erst diese Teileinheiten bilden die (verantwortliche) Stelle im Sinne des Datenschutzrechts. Allgemein lässt sich sagen, dass jede Behörde bzw. Stelle im organisationsrechtlichen Sinn auch eine Behörde/Stelle im funktionalen Sinn ist. Nicht jede Behörde im funktionalen Sinn ist hingegen umgekehrt auch eine Behörde im organisationsrechtlichen Sinn. Zur Bewertung dieser beiden Theorien muss ihr entstehungsgeschichtlicher Hintergrund herangezogen werden. Der Grund für die Entwicklung des funktionalen Behörden- und Stellenbegriffes lag darin, dass das BDSG 1977 die sonstige, d.h. nicht in eine der fünf Datenverarbeitungsphasen 119 einzuordnende, Datennutzung nicht in das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt einbezogen hatte. Die Zugrundelegung des organisationsrechtlichen Behörden- und Stellenbegriffes 115 Vgl. BVerfG NJW 1988, 959 [961]; OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein RDV 1989, 241 [243]; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, NDV 1986, 227 [228]; Emrich, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 113 ff.; Gola/Schomerus, BDSG, § 2 Rn. 6 f.; Kauß/ Hager, Soziale Arbeit 1989, 122 ff.; Mehl, NDV 1982, 67 [70]; Münder u.a., FKSGB VIII, § 61 Rn. 16 ff.; Proksch, Sozialdatenschutz, S. 49, 92, 135; Schaffland/ Wiltfang, BDSG, § 2 Rn. 1; Schlink, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 39 [47]; Simitis, NDV 1982, 62 [65]; Willenbücher/Boreherding, ZfSH/SGB 1988, 122 [126]; grundsätzlich auch Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 2 Rn. 15 ff. 116 So Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 1 Rn. 51. 117 P. Stelkens/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 1 Rn. 219 ff. 118 Vgl. zum parallel gelagerten Problem im § 61 SGB VIII Münder u.a., FK-SGB VIII, § 61 Rn. 18; Proksch, Sozialdatenschutz, S. 49, 135. Gegen eine damit verbundene „Atomisierung der öffentlichen Verwaltung" Schaffland/Wiltfang, BDSG, § 2 Rn. 2. 119 s.o. III.2.f), S. 68 ff.

III. Grundlagen des Datenschutzrechts

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hatte zur Folge, dass ein aufgabenübergreifender freier Datenfluss innerhalb der gesamten Behörde möglich war, da es sich lediglich um grundsätzlich zulässige Datennutzung, nicht jedoch um restringierte Datenübermittlung handelte. Der funktionale Behörden- und Stellenbegriff wirkte dem entgegen und verwirklichte zugleich das vom Bundesverfassungsgericht im „Volkszählungsurteil" aufgestellte enge Zweckbindungsprinzip 120, indem er die Vorschriften zur Zulässigkeit der Datenverarbeitung, insbesondere zur Datenübermittlung, stets zur Anwendung brachte, wenn sich der Verwendungszweck änderte. Der Gesetzgeber hat mit der Novellierung des BDSG im Jahre 1990 das Ziel, welches mit dem funktionalen Behörden- und Stellenbegriff verfolgt wurde, auf andere Weise umgesetzt. Er dehnte das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auf die Datennutzung aus, und zwar auch und gerade auf die Nutzung von Daten durch die verantwortliche (speichernde) Stelle selbst (vgl. §§ 4 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 2 BDSG 1990). Das interpretatorische Ziel des funktionalen Behörden- und Stellenbegriffes ist damit auf anderem Wege vollumfänglich erreicht worden 121 . Im Anwendungsbereich des BDSG muss daher nicht mehr auf ihn rekurriert werden. Lediglich soweit bereichsspezifische Datenschutzgesetze entweder die ausdrückliche Geltung des funktionalen Behörden- und Stellenbegriffes anordnen (z.B. § 67 Abs. 9 S. 3 SGB X) oder aber den Schutzzweck nicht durch eine umfassende Nutzungsregelung gewährleisten, ist auf den funktionalen Behörden- und Stellenbegriff zurückzugreifen. Auf Länderebene ist das Bild allerdings nach wie vor uneinheitlich. Zwar unterwerfen alle Landesdatenschutzgesetze die Datennutzung gleichfalls einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt 122, so dass es grundsätzlich ausreichend ist, die Behörde bzw. Stelle organisationsrechtlich zu bestimmen. Jedoch schreibt das BlnDSG in § 4 Abs. 3 Nr. 1 HS. 2 für seinen Anwendungsbereich ausdrücklich den funktionalen Stellenbegriff fest. Der Wortlaut der Definitionsnormen der übrigen Landesdatenschutzgesetze ist ambivalent. Viele Landesdatenschutzgesetze enthalten allerdings eine Bestimmung 1 2 3 , welche die entsprechende Geltung der Vorschriften zur Übermittlung von Daten innerhalb des öffentlichen Bereiches für den Fall anordnet, dass per120

s.o. III.l.b)(4), S. 51 f. Vgl. Dammann, in: Simitis (Hrsg.), BDSG, § 2 Rn. 17; Dörr/Schmidt, BDSG 1990, § 2 Rn. 3. 122 Vgl. §§ 4 Abs. 1, 15 Abs. 1 u. 2 LDSG BW; Art. 15 Abs. 1, 17 Abs. 1 u. 2 BayDSG; §§ 6 Abs. 1, 11 Abs. 1 u. 2 BlnDSG; §§ 4 Abs. 1, 13 Abs. 1 u. 2 BbgDSG; §§ 3 Abs. 1, 12 Abs. 1 u. 2 BremDSG; §§ 5 Abs. 1, 13 Abs. 1 u. 2 HmbDSG; §§ 7 Abs. 1, 13 Abs. 1 u. 2 i.V.m. 12 Abs. 2 u. 3 HDSG; §§ 7 Abs. 1, 10 DSG M-V; §§ 4 Abs. 1, 10 Abs. 1 u. 2 NDSG; §§ 4 Abs. 1 S. 1, 13 Abs. 1 u. 2 DSG NRW; §§ 5 Abs. 1, 13 Abs. 1 u. 2 LDSG RP; §§ 4 Abs. 1 S. 1, 13 Abs. 1 u. 2 SDSG; §§ 4 Abs. 1, 13 Abs. 1 u. 2 SächsDSG; §§ 4 Abs. 1, 10 Abs. 1 u. 2 DSG-LSA; §§ 11 Abs. 1, 13 Abs. 2 u. 3 LDSG SH; §§ 4 Abs. 1, 20 Abs. 1 u. 2 ThürDSG. 121

2. Grundbegriffe des Datenschutzrechts

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sonenbezogene Daten „innerhalb einer öffentlichen Stelle" weitergegeben werden. In der Gesetzesbegründung zur ersten Novellierung des SDSG heißt es dazu 124 : „Nach [§ 14, d. Verf.] Absatz 5 sollen die für die Übermittlung geltenden Bestimmungen der Absätze 1 bis 4 auch beim Datenfluß innerhalb einer öffentlichen Organisationseinheit entsprechende Anwendung finden. Die besondere Bestimmung ist erforderlich, weil eine solche Datenweitergabe keine Übermittlung an Dritte nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 darstellt. Gleichwohl kann die Datenweitergabe innerhalb einer öffentlichen Stelle nicht unbeschränkt zugelassen werden; auch sie muß sich am Grundrecht des informationellen Selbstbestimmungsrechts ausrichten. Damit hat § 14 Abs. 3 des geltenden Rechts, der - ausgehend vom funktionalen Behördenbegriff - auch Teile derselben öffentlichen Stelle mit anderen Aufgaben oder anderem räumlichen Bereich als andere öffentliche Stellen im Sinne der Übermittlungsregelungen definiert, seine Bedeutung verloren und wird in die Neuregelung nicht übernommen." Hieraus wird deutlich, dass sich die entsprechenden Landesgesetzgeber ebenso wie der Bundesgesetzgeber - das interpretatorische Ziel des funktionalen Stellenbegriffes zu Eigen gemacht haben. Sie beschränkten sich allerdings nicht darauf, den Datenfluss innerhalb einer öffentlichen Behörde bzw. Stelle in die Datennutzungsbestimmungen einzubeziehen, sondern haben ihn darüber hinaus explizit den Regelungen der Datenübermittlung unterworfen. Auf diese Weise ist dem Gedanken, der dem funktionalen Behörden- und Stellenbegriff zugrunde liegt, vollständig Rechnung getragen. Seiner bedarf es somit in den genannten Ländern nicht (mehr) 125 . An den organisatorischen Behörden- und Stellenbegriff knüpfen auch das BayDSG 126 , das HDSG 1 2 7 sowie das LDSG S H 1 2 8 an. Der funktionale Behörden- und Stellenbegriff gilt hingegen im Rahmen des LDSG B W 1 2 9 sowie des DSG M - V 1 3 0 . Nach Ansicht des Hamburgischen Da123

Vgl. § 14 Abs. 5 BbgDSG; § 13 Abs. 5 BremDSG; § 11 Abs. 4 NDSG; § 14 Abs. 4 DSG NRW; § 14 Abs. 6 LDSG RP; § 14 Abs. 5 SDSG; § 11 Abs. 6 DSGLSA; § 21 Abs. 5 ThürDSG. 124 LT-Drucks. 10/526, Begründung S. 17. 125 Vgl. aber die Begründung zum BbgDSG, LT-Drucks. 1/491, S. 43 a.E.: „Ausgehend vom sogenannten funktionalen Behördenbegriff sollen die für die Übermittlung geltenden Bestimmungen der Sätze 1 bis 4 auch beim Datenfluß innerhalb einer öffentlichen Organisationseinheit entsprechende Anwendung finden (Absatz 5)." Nach Auskunft des LfD NRW an den Verf. liegt auch dem DSG NRW mit Ausnahme des Bereiches der Gemeinden und der Gemeindeverbände der funktionale Behördenbegriff zugrunde. 126 Vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch, BayDSG, Art. 2 Rn. 8 ff. 127 Vgl. Nungesser, HDSG, § 3 Rn. 19. 128 Vgl. Nr. 30 zu § 2, Nr. 2 zu § 3 der Bekanntmachung des ULD, AAz. Schl.-H. 2000, S. 195. 129 Vgl. Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 12/4899, S. 30.

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III. Grundlagen des Datenschutzrechts

tenschutzbeauftragten 131 ist im Anwendungsbereich des HmbDSG die Behörde bzw. Stelle ebenfalls aufgabenbezogen zu bestimmen. Gleiches gilt schließlich für das SächsDSG132.

130 131 132

Vgl. LfD M-V, Erläuterungen, S. 17, S. 30 f., S. 34 f. Hmb. DatenschutzR 1991, S. 40; Hmb. DatenschutzR 2001, S. 52 a.E. Vgl. SächsLfD, Bekanntmachung vom 11. März 2004, S. 2.

IV. Die Sonderregelung des Datenschutzes im Bereich der öffentlichen Jugendgerichtshilfe 1. Die Entwicklung des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe: Vom allgemeinen über den bereichsspezifischen hin zum „bereichs-bereichsspezifischen" Schutz der Daten a) Die Rechtslage vor dem In-Kraft-Treten des SGB V I I I 1990 Mit der allgemeinen Sensibilisierung für das Erfordernis des Datenschutzes1 wurde auch die (in öffentlicher Trägerschaft befindliche) Jugendgerichtshilfe als Teil des Jugendamtes in den Geltungsbereich der diversen Datenschutzgesetze einbezogen. Die Jugendgerichtshilfe war somit zunächst der Geheimhaltungsnorm des § 35 SGB I a.F., dann den maßgeblichen Datenschutzgesetzen der Länder unterworfen. Das SGB X von 1981 erklärte für alle Sozialbehörden - folglich auch für die beim kommunalen Jugendamt verortete Jugendgerichtshilfe 2 - die Datenschutzbestimmungen des SGB X selbst und mittelbar durch Verweisungen auch weite Teile des BDSG von 19773 für anwendbar4. Vor dem Hintergrund der bis dato allgemein praktizierten Überbetonung der ermittelnden Funktion der Jugendgerichtshilfe 5 wurde die Jugendgerichtshilfe während dieser Zeit als insbesondere zur Erhebung von Daten - und zwar auch ohne Mitwirkung des betroffenen Jugendlichen - befugt angesehen. Diese Befugnis wurde aus den §§ 38, 43 des JGG von 1953 hergeleitet. Besonders vor Ergehen des „Volkszählungsurteils" im Jahre 1983 wurde kaum daran gezwei-

1

s.o. III.l.a), S. 47 ff. Ob und ggf. inwieweit die Datenschutz Vorschriften der §§ 35 SGB I und 67 ff. SGB X auch im Verhältnis zwischen Gericht und JGH galten, war allerdings umstritten, vgl. hierzu OLG Köln, NStZ 1986, 569 ff. und LG Bonn, ZfJ 1986, 67 ff. einerseits sowie Eisenberg, NStZ 1986, 308 [310] andererseits. 3 Vgl. o. III.l.a), S. 48 f. 4 Vgl. zu damals diskutierten Problemen des Datenschutzes speziell in der Jugendgerichtshilfe u.a. Emrich, in: Frommann/Mörsberger/Schellhorn (Hrsg.), Sozialdatenschutz, S. 113 [119 f.]; zu allgemeinen datenschutzrechtlichen Problemen des SGB X von 1981 vgl. die Nachweise o. S. 49, Fn. 13. 5 s.o. II.5.a), S. 39 ff. 2

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IV. Sonderregelung des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe

feit, dass diese Vorschriften eine verfassungsmäßig ausreichende Ermächtigungsgrundlage zur Datenerhebung darstellten. b) Die datenschutzrechtlichen Vorschriften des SGB V I I I 1 9 9 0 Im Zuge der Einführung der - erst in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens auf Anregung des Bundesrates6 und des Bundesdatenschutzbeauftragten 7 in den Gesetzesentwurf aufgenommenen - „bereichs-bereichsspezifischen"8 Datenschutzvorschriften für das Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe durch das SGB VIII im Jahre 1990 vollzog sich insoweit ein Auffassungswandel. Die datenschutzrechtlichen Vorschriften wurden gefeiert als „Perspektive ,Neues Jugendamt4"9, aber auch als „teilweise überflüssig, unklar, in der Terminologie unscharf 410 heftig kritisiert 11 . § 61 Abs. 1 S. 1 und 2 i.V.m. § 1 Abs. 3 Nr. 8 SGB V I I I 1990 bestätigten nunmehr ausdrücklich, dass die Vorschriften zum Schutz der Sozialdaten auch für die Jugendgerichtshilfe als „andere" - d.h. nicht als „Leistung" klassifizierte - Aufgabe der Jugendhilfe Geltung beanspruchten. Dennoch entzündete sich an den neuen Sozialdatenschutzregelungen eine Grundsatzdebatte über deren Reichweite und konkrete Auswirkungen auf den Stellenwert und das Selbstverständnis der Jugendgerichtshilfe. Es stellte sich die Frage, ob die §§ 61 ff. SGB VIII 1990 eine Neubestimmung der Position der Jugendgerichtshilfe in Richtung einer mehr sozialpädagogischen statt ordnungsrechtlichen Handlungsorientierung und damit einer Stärkung der helfenden gegenüber der ermittelnden Funktion beabsichtigten oder auch (nur) tatsächlich bewirkten. Mit anderen Worten: Leiteten die neuen Datenschutzregelungen den Auszug der Jugendgerichtshilfe aus dem „Souterrain der Justiz" 12 ein?

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Vgl. BT-Drucks. 11/6748 S. 82. Vgl. 12. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, BTDrucks. 11/6458 S. 62. 8 So treffend Mörsberger, ZfJ 1990, 365 [368]. 9 Mörsberger, ZfJ 1990, 365 [368]. 10 Kunkel, ZfJ 1991, 111 [114]. 11 Wie stark die neuen Datenschutzregelungen polarisierten, verdeutlichen die Titel der ersten juristischen Beurteilungen: „Datenschutz kontrovers4' {Mörsberger, ZfJ 1991, 114 ff.), „Datenschutz pervers44 (Kunkel, ZfJ 1991, 459 ff.), „Datenschutz ka44 putt (Maas, ZfJ 1991, 577 ff.). 12 Vgl. Titel des Aufsatzes von Trenczek in: RdJB 1993, 316 in Anlehnung an die Formulierung von Müller/Otto (Hrsg.), Damit Erziehung nicht zur Strafe wird, Vorwort der Herausgeber, S. VII ff. 7

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n l u n g des Datenschutzes in der öffentlichen Jugendgerichtshilfe

c) Insbesondere: Die Kontroverse über die Befugnis der Jugendgerichtshilfe zur Datenerhebung nach § 62 SGB V I I I 1 9 9 0 Namentlich die Vorschrift des § 62 SGB V I I I 1990, welche die Datenerhebung regelte, stand im Mittelpunkt des Interesses. Sie lautete (in Auszügen): „8 62 Datenerhebung (1) Personenbezogene Daten dürfen nur erhoben werden, soweit ihre Kenntnis zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten sind beim Betroffenen zu erheben. Er ist über die Rechtsgrundlage der Erhebung und über den Verwendungszweck aufzuklären, soweit dieser nicht offenkundig ist. (3) Ohne Mitwirkung des Betroffenen dürfen personenbezogene Daten nur erhoben werden, wenn 1. eine gesetzliche Bestimmung dies vorschreibt oder erlaubt oder 2. ihre Erhebung beim Betroffenen nicht möglich ist oder die jeweilige Aufgabe ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen erfordert, die Kenntnis der Daten aber erforderlich ist für a) die Feststellung der Voraussetzungen oder für die Erfüllung einer Leistung nach diesem Buch oder b) [...] c) für die Wahrnehmung einer Aufgabe nach §§42 bis 48 oder d) [...] 3. ... (4) [...]" Während die Absätze 1 und 2 lediglich - wenn auch mit erheblichen Auswirkungen auf die Praxis - die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Zweckbindung und der Selbsterhebung für den Bereich der Jugend(gerichts)hilfe konkretisierten, warf Absatz 3 die Frage auf, ob die Jugendgerichtshilfe zwecks Erforschung der Persönlichkeit im Falle der mangelnden Bereitschaft des betroffenen Jugendlichen zu Auskunft und Mitwirkung Informationen zu dessen Persönlichkeit, Entwicklung und sozialem Umfeld bei anderen Personen einholen darf. Eine Verpflichtung des Jugendlichen zur Mitwirkung bei der Datenerhebung bestand - und besteht - nämlich nicht (