Die Tschuwaschen: Ein Volk im Schatten der Geschichte
 9783412506520, 9783412505646

Citation preview

Andreas Kappeler

Die Tschuwaschen Ein Volk im Schatten der Geschichte

2016 BÖHLAU VERLAG · KÖLN · WEIMAR · WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Eine tschuwaschische Bauernfamilie (um 1930) Quelle: Archiv Muzeja ėtnografii i antropologii RAN

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50564-6

Inhalt

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



9

Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Theoretisch-methodischer Hintergrund: Can the Subaltern Speak? . . . . . 14 Vorgeschichte des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Quellen und Fachliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Zur Terminologie und Transliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20

1. Kapitel:

Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23



Die Einordnung der tschuwaschischen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Wolgabulgaren und ihre Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Die Kontroverse zwischen Tschuwaschen und Tataren um das bulgarische Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Die Diskussion um die Ethnogenese der Tschuwaschen und Tataren in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Zuspitzung der Auseinandersetzung in postsowjetischer Zeit . . . . . . . . 35

2. Kapitel:

Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung? Die Tschuwaschen kommen unter die Herrschaft Russlands . . . . . . . . 39



Die ersten Erwähnungen des Namens Tschuwaschen . . . . . . . . . . . . . 41 Der Anschluss an Russland in der Mitte des 16. Jahrhunderts . . . . . . . 44 Lebens- und Wirtschaftsweisen der Tschuwaschen im 16. und 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .48 Die Religion der Tschuwaschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

3. Kapitel:

Integration und Protest: Die Tschuwaschen vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61



Status quo und schrittweise Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die Tschuwaschen in den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts . . . . . . .66

6

Inhalt



Die Zwangschristianisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abrechnung mit den orthodoxen Geistlichen im Pugačev-Aufstand . . . . .79 Protest mit den Füßen: Die Migrationen der Tschuwaschen und die Entstehung der tschuwaschischen Diaspora . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

4. Kapitel:

»Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«: Beschreibungen der Tschuwaschen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87



Die Expeditionen der Petersburger Akademie der Wissenschaften . . . . . 87 Von Olearius bis Georgi: Die Reisenden und ihre Schriften . . . . . . . . . 91 Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers, Johann Gottlieb Georgis und ihrer Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Russische ethnographische Studien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

5. Kapitel:

Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus. Persönlichkeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113



Der historische Rahmen: Die Tschuwaschen im 19. Jahrhundert . . . . . . 113 Die Begründung tschuwaschischer Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Der ethnographische Autodidakt: Spiridon Michajlov . . . . . . . . . . . . 121 Der nationale »Erwecker«: Ivan Jakovlev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Wissenschaftler und Nationaldemokrat: Nikolaj Nikol’skij . . . . . . 133 Der nationale Aktivist: Gavriil Aljunov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Der Sozialrevolutionär: Daniil Ėl’men‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Der Nationaldichter: Konstantin Ivanov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Vier Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

6. Kapitel:

Revolution und Nationsbildung (1905–1929) . . . . . . . . . . . . . . . . 147



Anfänge einer Nationalbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Soziale, politische und nationale Mobilisierung nach der Februarrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und der Aufstand von 1921 . . . . . . . 153 Die Hungersnot der Jahre 1921–1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Inhalt



Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

7. Kapitel:



Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . Industrialisierung und Alphabetisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf gegen den »bürgerlichen Nationalismus« . . . . . . . . . . . . Der »Große Terror« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175 192 195 196

8. Kapitel:

Die Tschuwaschen in der späten Sowjetunion und in der Russländischen Föderation im Spiegel von Biographien . . . . . . . . . . 207



Der Rahmen: Tschuwaschien vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der Kosmonaut: Andrijan Nikolaev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Die Ballerina: Nadežda Pavlova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Zwei Olympiasiegerinnen: Valentina Egorova und Elena Nikolaeva . . . . 217 Der Poet: Gennadij Ajgi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Der Präsident: Nikolaj Fedorov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Der Historiker: Vasilij Dimitriev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257



1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Fachliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267



Abkürzungen der Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Liste der Bilder mit Legenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

7

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

Wer sind die Tschuwaschen? Wozu ein Buch über die Geschichte der Tschuwaschen? Heute gibt es etwa 1,7 Millionen Tschuwaschen. Sie sind also zahlreicher als die Esten oder Letten, deren Nationalstaaten Mitglieder der Europäischen Union sind. Die Tschuwaschen sprechen eine Turksprache, sind aber im Gegensatz zu fast allen anderen Turkvölkern keine Muslime, sondern weit überwiegend orthodoxe Christen. Die Hälfte der ethnischen Tschuwaschen wohnt in der nach ihnen benannten Republik, die zur Russländischen Föderation gehört. Die Republik Tschuwaschien hat eine Fläche von 18.343 Quadratkilometern, ist also ungefähr so groß wie Slowenien, Rheinland-Pfalz oder Niederösterreich, und hat 1,25 Millionen Einwohner. Die Republik liegt südlich des Mittellaufs der Wolga, zwischen den Großstädten Nižnij Novgorod und Kazan‘, etwa 650 Kilometer östlich von Moskau. Die Westgrenze der Republik folgt der Sura, einem südlichen Nebenfluss der Wolga. Das Flusskraftwerk von Čeboksary staut die Wolga flussaufwärts in einem See mit einer Fläche von mehr als 2.000 Quadratkilometern.1 Die ethnischen Tschuwaschen stellen nach den Angaben der Volkszählung von 2010 in der Tschuwaschischen Republik eine Mehrheit von fast zwei Dritteln (65,1 %, neben 25,8 % ethnischen Russen, 2,7 % Tataren und 1,0 % Mordwinen). Sie sind damit im europäischen Russland (mit Ausnahme des Nordkaukasus) die einzige namengebende ethnische Gruppe, die in ihrer Republik eine klare Mehrheit aufweist. Nach ihren Wohngebieten teilt man die Tschuwaschen in »obere« (vir’jal) im Nordwesten und »untere« (anatri) im Südosten. Die beiden Gruppen unterscheiden sich in Sprache und Traditionen. Im Jahre 2010 lebten 57 Prozent der Tschuwaschen in den Grenzen ihrer Republik, 30 Prozent in anderen Gebietseinheiten der Wolga-Ural-Region, vor allem in den Oblasti Ul‘janovsk und Samara und den Republiken Tatarstan und Baschkortostan. Das zentrale Siedlungsgebiet der Tschuwaschen hat ein gemäßigt-kontinentales Klima mit kalten Wintern und warmen Sommern, mit mittleren Januartempera-

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

REPUBLIK MARI-ĖL

Koz’modem’jansk a

lg Wo

Novočeboksarsk Wolga

Civil’sk

Kurmyš

Su

ra

ČEBOKSARY Jadrin

Šumerlja

Kanaš

ra

Su

REPUBLIK TATARSTAN

GEBIET NIŽNIJ NOVGOROD

10

Alatyr‘ REPUBLIK MORDWINIEN

GEBIET UL’JANOVSK

Karte 1: Abb. 1 Karte 1. Die Republik Tschuwaschien. Zeichnung: Silvia Stocker

DIE REPUBLIK TSCHUWASCHIEN

turen von minus 12 Grad und mittleren Julitemperaturen von fast 20 Grad und mit Niederschlagsmengen von ungefähr 500 mm im Jahr. Es verfügt vorwiegend über graue Waldböden und im Süden auch über Schwarzerdeböden, die beide für den Ackerbau gut geeignet sind. Im Norden und Südwesten herrschen weniger fruchtbare Rasenpodsol- und Sandböden vor. Etwa ein Drittel der Fläche der Republik nehmen Wälder ein, im Norden Nadelwälder, im übrigen Gebiet Laubwälder (Birke, Linde, Eiche, Espe), von denen in den vergangenen drei Jahrhunderten etwa die Hälfte abgeholzt wurde. Dank seiner fruchtbaren Böden war das Gebiet der Tschuwaschen schon seit Jahrhunderten relativ dicht besiedelt, und noch heute ist die Bevölkerungsdichte der Tschuwaschischen Republik mit 68 Einwohnern pro

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

St. Petersburg

Moskau Nižnij Novgorod Kazan‘ Ul’janovsk Samara

Karte 2: Abb. Karte 2. Die Tschuwaschien Republik Tschuwaschien Rahmen der Die2 Republik im im Rahmen der Russländischen Föderation (europäischer Teil). Zeichnung:Teil) Silvia Stocker Russländischen Föderation (europäischer

11

12

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

Quadratkilometer größer als die aller benachbarten Verwaltungseinheiten. In der Hauptstadt Čeboksary (tschuwaschisch Şupaşkar), die an der Wolga liegt, leben 450.000 Menschen, also mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Republik. Trotz ihrer beträchtlichen Zahl und trotz ihrer Zugehörigkeit zu Europa sind die Tschuwaschen außerhalb Russlands weitgehend unbekannt, dies im Gegensatz zu anderen ethnischen Minderheiten der Russländischen Föderation wie den Tschetschenen und Wolga-Tataren. Eine Ursache dafür ist, dass Tschuwaschien seit langem politisch stabil ist und kaum je in den Schlagzeilen auftaucht. Die Tschuwaschen gehörten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu Russland, wurden aber von der staatlichen Verwaltung, der wirtschaftlichen Modernisierung und der russischen Kultur lange wenig berührt und blieben an der Peripherie des Zarenreiches und der Sowjetunion. Sie standen im Schatten der Geschichte, abseits der »großen Politik«. Zweitens hatte und hat Tschuwaschien keine besondere wirtschaftliche Bedeutung. Es produziert kaum exportorientierte Güter, ist noch immer stark agrarisch geprägt und verfügt im Gegensatz zur erdölreichen Nachbarrepublik Tatarstan über keine nennenswerten Bodenschätze. Lediglich die Sprachwissenschaft schenkt den Tschuwaschen große Aufmerksamkeit, und seit mehr als zwei Jahrhunderten wird über die Genese und die Struktur des Tschuwaschischen debattiert, dessen isolierte Stellung innerhalb der Turksprachen der Forschung viele Rätsel aufgibt. Wozu also ein Buch über die Geschichte der Tschuwaschen? Fragestellung

Mein Interesse an den Tschuwaschen geht gerade von ihrer Marginalität aus. Das zentrale Anliegen dieses Buches ist es, die Geschichte Russlands und der Sowjetunion aus der Perspektive dieses kleinen Volkes, das lange fast ausschließlich aus Bauern bestand, aus dem Blickwinkel der Peripherie abseits der großen Verkehrswege und Kommunikationsnetze zu erzählen. Gegenstand der Darstellung ist also nicht die Politik, die in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg oder in den regionalen Zentren Kazan‘ und Nižnij Novgorod gemacht wurde, nicht die Zaren und Kommissare und ihre Nationalitätenpolitik. Die Tschuwaschen waren über weite Strecken ihrer Geschichte fremdbestimmte Objekte der großen Politik, sie galten und gelten als stilles, friedfertiges und geduldiges Volk. Sie standen im Schatten Russlands und der Russen, zeitweise auch der Wolga-Tataren, und traten nur sporadisch ins Rampenlicht der Geschichte. Ziel dieses Buches ist es, ein weitgehend unbekanntes Volk aus dem Schatten zu holen und mit dem Blick vom Rande her die »große Geschichte« in neuem Licht erscheinen zu lassen.

Fragestellung

Dem Stereotyp des friedlichen Untertanen widerspricht, dass sich die Tschuwaschen seit dem 16. Jahrhundert immer wieder gewaltsam erhoben. In diesen Protestbewegungen wurden sie zu eigenständigen historischen Akteuren. Ihnen widme ich deshalb besondere Aufmerksamkeit (3., 6. und 7. Kapitel). Über die Aufstände berichteten vornehmlich Vertreter der Zentralmacht und der Regionalverwaltung, während die überlieferten Quellen die Tschuwaschen nur selten direkt, etwa in Petitionen oder Flugblättern, zum Sprechen bringen. Indirekte Schlüsse auf ihre Anliegen und Anstöße erlauben die Ziele ihrer Proteste, ebenso wie Symbole und Rituale des Widerstandes, die allerdings nicht leicht zu entschlüsseln sind. Es handelte sich dabei um kollektive Aktionen, nur ganz selten traten einzelne Tschuwaschen als Individuen aus dem Schatten heraus. Der kollektive Widerstand der Tschuwaschen gegen die Eingriffe des Staates blieb eine Konstante ihrer Geschichte, bis er in den 1930er Jahren vom stalinistischen Regime gebrochen wurde. Im 18. Jahrhundert wurden die Tschuwaschen zu Gegenständen von ethnographischen Beschreibungen, die erstmals systematisch über ihre Lebensformen, Wirtschaftsweisen, Sitten und Bräuche und Wertvorstellungen berichteten (4. Kapitel). Sie standen im Kontext der Bestrebungen europäischer Wissenschaftler, das Wissen über außereuropäische Völker zu systematisieren. Die meist deutschen und russischen Beobachter bemühten sich, wissenschaftliche Methoden der Ethnographie anzuwenden. Sie blieben aber einem Eurozentrismus verhaftet, der die europäische (russische) Kultur als höherwertig, die Tschuwaschen und anderen Nichtrussen, ihre Kultur und Religion als rückständig betrachtete. Durch Aufklärung und Christianisierung sollten sie zivilisiert werden. Die Idee einer Zivilisierungsmission Russlands blieb unter dem Zarismus und dem Sowjetsystem erhalten und lebt bis heute fort; sie wurde auch von zahlreichen Tschuwaschen übernommen.2 Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts traten einzelne Tschuwaschen als Individuen mit einer eigenen Stimme aus dem Schatten heraus (5. Kapitel). Voraussetzung dafür war eine gewisse Schulbildung. Die Schulen und die städtische Gesellschaft waren allerdings von der dominanten russischen Kultur und Sprache geprägt, die sich die Tschuwaschen aneigneten. Immerhin wurden nun erste tschuwaschischsprachige Schulen eingerichtet, und eine kulturelle Vermischung, eine Hybridisierung der aufsteigenden Eliten setzte ein. Manche dieser neuen Akteure setzten sich für die Schulbildung, für eine eigene Schriftsprache und Literatur und mittelfristig auch für eine politische Partizipation und ein nationales Territorium der Tschuwaschen ein. Dabei übernahmen sie von der auf den Westen ausgerichteten dominanten russischen Kultur eurozentrische Werte und Begriffe,

13

14

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

und versuchten sie mit den traditionalen Werten des tschuwaschischen Dorfes zu vereinen. Der Zusammenbruch des Zarenreiches und die frühe Politik der Sowjetmacht, die eine Entfaltung der einzelnen Ethnien und ihrer Sprachen förderte, verstärkten diese Bestrebungen (6. Kapitel). Seit den späten 1920er Jahren wurde das tschuwaschische Dorf gewaltsam zerschlagen, ein großer Teil der neuen Eliten ermordet, und eine forcierte Integration und Russifizierung setzte ein (7. Kapitel). Sie hielt bis zum Ende der Sowjetunion an, doch ermöglichte das Sowjetsystem tschuwaschischen Bauernkindern sozial aufzusteigen und in einzelnen Fällen sogar gesamtsowjetische Prominenz zu erlangen (8. Kapitel). Theoretisch-methodischer Hintergrund: Can the Subaltern Speak?

Die skizzierten Fragestellungen nehmen Anregungen der postcolonial studies auf, die seit dem Erscheinen von Edward Saids »Orientalism« im Jahre 1978 versuchen, die eurozentrische Perspektive zu überwinden und Geschichte aus dem Blickwinkel der kolonialen und postkolonialen Peripherien zu schreiben. Saids Ansatz lässt sich – mindestens im engeren Sinn – nicht direkt auf die Tschuwaschen anwenden, wurden diese doch im Gegensatz zu den muslimischen Tataren nicht als Teil des Orients betrachtet. Meiner Fragestellung näher steht der Begriff der Subalternität, der von Antonio Gramsci stammt und von der South Asian Subaltern Studies Group auf koloniale und postkoloniale Situationen, besonders auf Widerstandsbewegungen in Indien, übertragen wurde. »Can the Subaltern Speak«, fragte Gayatri Chakravorty Spivak in einem vor dreißig Jahren publizierten Aufsatz und löste damit eine Diskussion aus, die bis heute anhält.3 Diese Frage trifft mein zentrales Anliegen, die Tschuwaschen zum Sprechen zu bringen, sie aus dem Schatten der Geschichte heraustreten zu lassen. Spivak betonte die Definitionsmacht der Metropolen und ihrer Eliten, die die schriftlichen Quellen prägt und die Subalternen dazu zwingt, sich der Sprache und Begriffe der Herrschenden zu bedienen. Die indigenen Eliten in der Peripherie, meist Intellektuelle, treten als hybride Mittler zwischen den analphabetischen Bauern und den herrschenden Eliten der Metropolen auf. Sie geben den Subalternen eine Stimme, auch wenn sie in der Sprache und oft im Interesse der Herrschenden erklingt. Wie andere Vertreter der postcolonial studies richtete Spivak ihr Augenmerk auf die Bauernaufstände, die in den meisten Peripherien kontinuierlich anzutreffen sind, und auf andere Formen des Widerstandes, in denen die Subalternen als Subjekte auftreten. In mehrfacher Hinsicht subaltern sind die Frauen der Peripherien, die es besonders schwer haben, sich zu artikulieren. Dies gilt auch für meine Untersuchung. Tschuwaschische Frauen traten in den Quellen sehr selten hervor,

Theoretisch-methodischer Hintergrund: Can the Subaltern Speak?

deutlich fassbar erst im Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft in den frühen 1930er Jahren. Ich bin deshalb gezwungen, die Geschichte der Tschuwaschen weitgehend als Geschichte von Männern zu erzählen. Im Ganzen gab Spivak eine skeptische Antwort auf ihre Frage: Es ist außerordentlich schwer, die Subalternen zum Sprechen zu bringen. Außerdem warnt sie vor einer Idealisierung der unterdrückten Subalternen. Dieser Gefahr bin auch ich ausgesetzt, und ich werde versuchen, ihr bei aller Empathie für das kleine Volk der Tschuwaschen nicht zu erliegen. In den postcolonial studies werden die Subalternen als koloniale, bzw. postkoloniale Subjekte definiert. Dies wirft die Frage auf, ob die Tschuwaschen überhaupt einer kolonialen Herrschaft unterworfen waren. Nachdem Russland lange aus dem Kolonialismus-Diskurs ausgeblendet worden war, ist heute weitgehend unbestritten, dass die zentralasiatischen und kaukasischen Territorien sowie Sibirien als Kolonien Russlands und der Sowjetunion gelten können.4 Im Unterschied zu den überseeischen Kolonien der westlichen Mächte grenzten die meisten dieser Gebiete an das von Russen bewohnte Kerngebiet. Es fehlte also die große räumliche Distanz zwischen Metropole und Peripherie. Dies gilt in noch höherem Maß für die Nichtrussen der Region der Mittleren Wolga, die schon im 16. Jahrhundert unter die Herrschaft Russlands kamen und deren Siedlungsgebiete bald zu Inseln in einem vorwiegend von Russen besiedelten Raum wurden. Ihre Lebensweisen und Wirtschaftsformen unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen der sesshaften Ackerbauern in rein russisch besiedelten Gebieten. Man hat für abhängige Gebiete innerhalb eines Herrschaftsverbandes den Begriff der »inneren Kolonie« geprägt, und es wird diskutiert, ob sogar die russische Provinz eine »innere Kolonie« der Metropolen war. Denn auch die russischen Bauern standen unter dem Druck hegemonialer Diskurse und der Zivilisierungsmission.5 Koloniale Züge trug die Herrschaft Russlands und der Sowjetunion insofern, als die Tschuwaschen vom Zentrum kontrolliert und fremdbestimmt waren. Unter den Entscheidungsträgern im Zentrum waren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts keine ethnische Tschuwaschen; der erste und bisher einzige ist Nikolaj Fedorov, der vor und nach seiner Amtszeit als Präsident Tschuwaschiens Minister in der Regierung der Russländischen Föderation war. Die Tschuwaschen, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in regionale Führungsgremien aufrückten, waren in der Regel gegenüber Staat und kommunistischer Partei loyal und passten sich der Politik und den Wertordnungen der Metropolen an. Eine klare Differenz zwischen Russen und Tschuwaschen bestand in der Religion und in der Sprache. Die Tschuwaschen waren bis zu ihrer Zwangstaufe im 18. Jahrhundert Animisten und gaben auch danach ihren vorchristlichen Glauben

15

16

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

nicht völlig auf, sondern es bildete sich ein hybrider Synkretismus heraus. Eine zweite Differenz war die tschuwaschische Sprache, die sich fundamental von der russischen unterscheidet. Sie ermöglichte den Tschuwaschen eine vor Außenstehenden geschützte Kommunikation und war ein wichtiges Element des Zusammenhalts und der Identifikation. Obwohl seit dem Ende des 19. Jahrhunderts tschuwaschischsprachige Schulen eingerichtet wurden, forcierte die Zentrale in der Folge – mit Ausnahme der 1920er Jahre – die Verwendung der russischen Sprache. Das Tschuwaschische konnte sich trotzdem bis zur Gegenwart halten, wenn auch stark bedrängt vom dominanten Russischen. In der Abgrenzung der europäischen Kolonialmächte von den Kolonisierten war neben der Kultur die »Rasse« von zentraler Bedeutung. Zwar hat ein Teil der Tschuwaschen Gesichtszüge, die von der russischen Norm abweichen, etwa eine doppelte (mongolische) Lidfalte. Das wird zwar in Texten gelegentlich angesprochen, doch gab es keinen expliziten biologischen Rassismus der Russen gegenüber den Tschuwaschen. Dagegen sprachen auch die zahlreichen Mischehen. Obwohl die Herrschaft Russlands und der Sowjetunion über die Tschuwaschen also durchaus koloniale Züge hatte und auch von manchen tschuwaschischen Historikern als kolonial bezeichnet worden ist, vermeide ich in der Folge die Begriffe Kolonialismus und Kolonie. Sie setzen in der Regel eine größere räumliche und kulturelle Differenz zur Metropole voraus und sie sind politische Kampfbegriffe, die a priori-Wertungen implizieren, die im Falle der wenig erforschten Geschichte der Tschuwaschen erst einmal überprüft werden müssen. Keine Bedenken habe ich gegen die Anwendung der Begriffe »Imperium« und »imperiale Herrschaft« auf Russland und die Sowjetunion. Hier nehme ich Anregungen der imperial oder postimperial studies auf, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion etabliert haben.6 Trotz kulturwissenschaftlicher Anleihen bleibe ich, wie in meinen früheren Arbeiten, den Zugängen der Sozialgeschichte verbunden, die politische, kulturelle, intellektuelle und wirtschaftliche Fragestellungen zu integrieren suchen. Im Sinne der Schule der Annales erzähle ich eine histoire totale (soweit die Quellen dies zulassen) und eine histoire de longue durée, von den Anfängen der geschriebenen Geschichte der Tschuwaschen bis zur Gegenwart. Nur am Rande nehme ich Anleihen der Ethnologie/Anthropologie auf, klammere also ethnographische Quellen, Folklore, Sitten und Bräuche, Traditionen, die chronologisch nicht zuzuordnen sind, weitgehend aus. Zusammenfassend: Dieses Buch ist keine theoriegeleitete Untersuchung, sondern eine empirische Arbeit, die die schriftlichen Quellen kritisch analysiert und auswertet. In ihre Interpretation fließen die oben skizzierten methodisch-theoretischen Ansätze ein.

Vorgeschichte des Buches

Vorgeschichte des Buches

Der zweite Anlass für dieses Buch hat mit meinem wissenschaftlichen Werdegang zu tun. In den 1970er Jahren verfasste ich meine Habilitationsschrift, die den fünf Völkern der Mittleren Wolga im 16. bis 19. Jahrhundert gewidmet war, den Wolga-Tataren, Udmurten (Wotjaken), Mari (Tscheremissen), Mordwinen und eben auch den Tschuwaschen. Die zentrale These der Arbeit, die auch im Titel der 1982 erschienenen Monographie »Russlands erste Nationalitäten« ihren Ausdruck findet, ist, dass sich in der Auseinandersetzung mit den Völkern der Mittleren Wolga die Grundmuster der Nationalitätenpolitik herausbildeten, die den Aufbau des Russländischen Imperiums im 16. bis 19. Jahrhundert ermöglichten und prägten.7 In diesem Buch vollziehe ich nun einen Perspektivenwechsel. Nicht mehr die Politik Russlands steht im Vordergrund, sondern die Objekte dieser Politik, die zu Subjekten werden. Mein besonderes Interesse an den Tschuwaschen war geweckt worden, als ich entdeckte, dass die Tschuwaschische Autonome Sowjetrepublik über eine umfangreiche Historiographie von relativ hohem Niveau verfügte.8 In der Sowjetunion war es mir damals nicht möglich, nach Tschuwaschien zu fahren – das ganze Gebiet der Mittleren Wolga war für Ausländer gesperrt – , so dass meine Begegnung mit den Tschuwaschen über lange Zeit nur im Lesen ihrer Bücher stattfand. Nach dem Kollaps der Sowjetunion und der Aufhebung der Verbote reiste ich mehrmals nach Tschuwaschien und lernte dort zahlreiche Historikerinnen und Historiker kennen und schätzen. Besonders wichtig war die Begegnung mit Vasilij Dimitriev, dem 2013 verstorbenen Patriarchen der tschuwaschischen Geisteswissenschaften. In Gesprächen mit ihm und anderen Kolleginnen und Kollegen kam mir der Gedanke zu diesem Buch. In den Diskussionen und Briefwechseln mit den tschuwaschischen Historikern und Ethnologen habe ich viel gelernt. Sie unterstützten mich durch die Zusendung zahlreicher Bücher, die außerhalb Russlands nicht zugänglich waren. Evgenij Kasimov und Fedor Kozlov stellten mir die Manuskripte ihrer unpublizierten Dissertationen und Material zur Sowjetzeit zur Verfügung, das sie in Archiven der Republik Tschuwaschien erschlossen haben. Valentina Charitonova, Evgenij Kasimov, Fedor Kozlov und Leonid Tajmasov sandten mir Fotografien, die in tschuwaschischen Archiven aufbewahrt werden und die ich für die Illustrationen verwendet habe. Valentina Charitonova und besonders Leonid Tajmasov beantworteten über Jahre hinweg bereitwillig alle meine Fragen. Viel gelernt habe ich auch von der Ethnologin Ekaterina Jagafova und dem Religionswissenschaftler Anton Salmin, die mir ihre Publikationen und andere Materialien zur Verfügung gestellt haben. Ihnen und den zahlreichen anderen Wissenschaftle-

17

18

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

rinnen und Wissenschaftlern, deren Arbeiten ich mit Gewinn gelesen habe, bin ich zu tiefem Dank verpflichtet. Kontrovers waren ihre Meinungen zum Titel des Buches. Nicht wenige tschuwaschische Historikerinnen und Historiker wandten sich gegen den von mir vorgeschlagenen Titel, gegen die Vorstellung, dass ihr Volk im Schatten der Geschichte gestanden sei. Aus der nationalen Perspektive ist das eigene Volk immer im Zentrum und weder peripher noch subaltern. Dimitriev betonte, dass die Wolgabulgaren, die als Vorfahren der Tschuwaschen angesehen werden, im Mittelalter im Rampenlicht der Geschichte gestanden seien. Trotz dieser Einwände habe ich den gewählten Titel beibehalten. Das Buch ist nicht für ein tschuwaschisches Publikum bestimmt. Aus der Perspektive des westlichen Auslandes standen und stehen die Tschuwaschen im Schatten Russlands. Eines meiner Anliegen ist es gerade, ihnen eine Stimme zu verleihen und sie aus diesem Schatten heraustreten zu lassen, damit sie einen Platz auf der kognitiven Karte Europas einnehmen. Quellen und Fachliteratur

Das Buch basiert in erster Linie auf gedruckten Quellen, von den russischen Chroniken des 16. Jahrhunderts, Publikationen von Akten und anderen Dokumenten bis hin zu Reiseberichten und ethnographischen Abhandlungen des 18. bis 21. Jahrhunderts. Für die Sowjetzeit konnte ich Materialien aus dem Historischen Staatsarchiv und dem Staatsarchiv für Zeitgeschichte der Tschuwaschischen Republik heranziehen, die mir, wie erwähnt, Kollegen freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Die sehr umfangreiche Fachliteratur zur Geschichte der Tschuwaschen, die ganz überwiegend in Čeboksary erschienen ist9, konnte ich bei weitem nicht vollständig berücksichtigen. Ich konzentriere mich auf Arbeiten, die in postsowjetischer Zeit erscheinen sind, und auf Werke mit übergreifender Thematik.10 Für die Geschichte der Tschuwaschen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte ich auf meine eigene Monographie »Russlands erste Nationalitäten« zurückgreifen, in der ich die Literatur bis zum Beginn der 1980er Jahre berücksichtigt habe. Deshalb war ich besonders angewiesen auf die Arbeiten, die sich mit der Geschichte der Tschuwaschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigen. Ein Schwerpunkt der tschuwaschischen Historiographie liegt seit der Sowjetzeit auf Studien über die »nationalen Erwecker« (V. Dimitriev, N. Krasnov), die tschuwaschischen Bauern (G.A. Nikolaev) und zur Formierung des nationalen Territoriums in den 1920er Jahren (V. Ivanov, V. Klement‘ev, E. Mineeva). Erst in den

Quellen und Fachliteratur

vergangenen 15 Jahren wurde das in der Sowjetzeit tabuisierte Thema der tschuwaschischen Nationsbildung und Nationalbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vermehrt aufgegriffen (G. Aleksandrov, Ju. Gusarov, V. Klement’ev, A. Leont’ev, V. Orlov, S. Ščerbakov), ebenso wie der Hunger und der Widerstand der frühen Sowjetzeit (E. Kasimov, F. Kozlov, V. Orlov). Nachholbedarf hatte auch die in sowjetischer Zeit weitgehend ausgeblendete Kirchen- und Religionsgeschichte (V. Charitonova, F. Kozlov, L. Tajmasov). Erheblich weniger erforscht wurde bis heute die Zeit des Stalinismus. Eine der wenigen größeren Arbeiten ist die ungedruckte Dissertation Evgenij Kasimovs zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Zum Massenterror der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gibt es noch immer wenige Studien. Ausnahmen sind eine Arbeit Fedor Kozlovs zur Verfolgung der Kirche und das zweibändige, von der Regierung der Republik Tschuwaschien herausgegebene »Gedenkbuch an die Opfer der politischen Repression« (Kniga pamjati). Angesichts der großen Lücken war mir die Überblicksdarstellung zur Geschichte Tschuwaschiens im 20. Jahrhundert, besonders die von Arsenij Izorkin und Vladimir Klement’ev verfassten Kapitel von großem Nutzen.11 Das Gleiche gilt für die demographischen Arbeiten Vitalij Ivanovs und ethnographische Werke, unter ihnen ein zweibändiges Sammelwerk12 und die grundlegenden Studien von Ekaterina Jagafova (Samara) über die tschuwaschische Diaspora und von Anton Salmin (St. Petersburg) über die Religion der Tschuwaschen. Mit dem tschuwaschischen Herkunftsmythos beschäftigte sich der Moskauer Ethnosoziologe Viktor Šnirel’man. Zuverlässige Informationen über Personen, Institutionen und Ereignisse der tschuwaschischen Geschichte enthält die umfangreiche Tschuwaschische Enzyklopädie.13 Außerhalb Russlands hat man sich nur selten mit der Geschichte der Tschuwaschen beschäftigt. Zu nennen sind die Studien von Wayne Dowler, Robert Geraci und Paul Werth zum Wolgagebiet im 19. Jahrhundert und zwei japanische Arbeiten (Masanori Goto, Tomochito Ujama). Mehr Interesse fanden seit dem 19. Jahrhundert die Ethnographie und die Sprache der Tschuwaschen, wobei ungarische Forscher, die in den Tschuwaschen Verwandte der Ungarn suchten, besonders hervortraten.14 Es ist kein Zufall, dass das einzige den Tschuwaschen gewidmete deutschsprachige Buch, das in den letzten Jahren erschienen ist, eine Grammatik des Tschuwaschischen ist.15 So ist dieses Buch die erste Geschichte der Tschuwaschen, die außerhalb der Grenzen der Republik Tschuwaschien geschrieben und publiziert worden ist.

19

20

Wozu ein Buch über die Tschuwaschen?

Zur Terminologie und Transliteration

Eine Vorbemerkung zum Gebrauch der Völkernamen (Ethnonyme). Bezeichnungen von Völkern (Ethnien) können je nach Zeitpunkt und Kontext unterschiedliche Gruppen meinen. Es ist deshalb problematisch, Gruppen, die mit demselben Volksnamen bezeichnet werden, automatisch gleichzusetzen. Um einer essentialistischen Sicht entgegenzutreten, müsste ich konsequent von »den Vorfahren der heutigen Tschuwaschen« sprechen. Dies wäre allerdings einem lesbaren Stil abträglich, so dass ich darauf verzichte. Ich betone aber mit Nachdruck, dass, wenn ich für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert, als sich Nationen zu konsolidieren begannen, von »Tschuwaschen« schreibe, »Vorfahren der heutigen Tschuwaschen« gemeint ist. Dies betrifft selbstverständlich nicht nur die Tschuwaschen, sondern alle ethnischen Gruppen, auch die Russen und Tataren. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich in der Regel darauf, die weiblichen Formen mit anzuführen, schreibe also nicht von Tschuwaschinnen und Tschuwaschen, Russinnen und Russen, und auch nicht von Bäuerinnen und Bauern, sondern verwende nur die männlichen Versionen. Das Ethnonym Tschuwaschen ist gleichzeitig Selbstbezeichnung und Fremdbezeichnung, ebenso wie Russen und Tataren, während die beiden anderen Nachbarvölker der Tschuwaschen, die Mari und Udmurten, im Russischen bis in die Sowjetzeit hinein als Tscheremissen bzw. Wotjaken bezeichnet wurden. Ich verwende im Folgenden je nach Kontext beide Bezeichnungen. Außerdem werden in älteren Quellen Tschuwaschen zuweilen als Tscheremissen oder Tataren bezeichnet. Ich komme auf diese Problematik noch zurück. Unter Tataren verstehe ich immer die Wolga-Tataren oder Kazan‘-Tataren (diese beiden Bezeichnungen verwende ich alternativ). In der Transliteration des Russischen und Tschuwaschischen folge ich der wissenschaftlichen Umschrift, also russisch Чч als Čč (= tsch), Шш als Šš (=sch), Щщ als Šč šč (= schtsch), Жж als Žž (= stimmhaftes sch), Зз als Zz (= stimmhaftes s), Цц als Cc (= z), Ыы als Yy und Ээ als Ėė (= hartes e). Dazu kommen die tschuwaschischen Laute Ӑӑ (= reduzierter hinterer Vokal), Ӗӗ (= reduzierter vorderer Vokal), Ҫҫ als Şş (= vorderer Konsonant zwischen sch und s), Ӳӳ (= Üü). Ausnahmen sind im Deutschen eingebürgerte Namen wie Moskau und Völker­ namen wie Tschuwaschen (nicht Čuvašen), Tscheremissen (nicht Čeremissen). Die Literaturangaben werden bei der ersten Erwähnung vollständig zitiert, danach in der Regel nur der Familienname und das Erscheinungsdatum. Sind einzelne Titel im Internet verfügbar, wird der Link nur im Literaturverzeichnis angeführt.

Zur Terminologie und Transliteration

Zu danken habe ich zahlreichen tschuwaschischen Kolleginnen und Kollegen, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können, allen voran Valentina Charitonova, Vasilij Dimitriev (ϯ), Ekaterina Jagafova, Evgenij Kasimov, Fedor Kozlov und Leonid Tajmasov. Marc Junge hat mir wichtige Auskünfte zu den Quellen der Stalinzeit gegeben, Claudia Römer zur Geschichte der Turksprachen. Silvia Stocker hat die Karten und eine Graphik gezeichnet. Dank gebührt auch dem Böhlau Verlag und besonders Bettina Waringer für die wie gewohnt gute Zusammenarbeit.

21

1. Kapitel:

Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

Wenn heute jemand je von den Tschuwaschen gehört hat, so ist sie oder er höchst wahrscheinlich an Sprachen interessiert. Denn seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten beschäftigt sich die Sprachwissenschaft mit dem Tschuwaschischen. Es wird heute nicht mehr bestritten, dass das Tschuwaschische der Familie der Turksprachen zuzurechnen ist, doch nimmt es eine isolierte Stellung ein, die seit langem Anlass für vielerlei Theorien und Spekulationen ist. So wurden die Tschuwaschen schon als Nachkommen der Awaren, Chasaren und sogar der Sumerer oder Basken angesehen. Die Einordnung der tschuwaschischen Sprache

Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahm der Schwede Philipp Johann von Strahlenberg, der in der Schlacht von Poltava 1709 in russische Kriegsgefangenschaft geraten war und erst nach dem Frieden von Nystad 1721 in seine Heimat zurückkehrte, den Versuch einer sprachlichen Einordnung des Tschuwaschischen. In seinem 1730 erschienenen Werk »Das Nord- und Ostliche Theil von Europa und Asia« beschäftigte er sich mit verschiedenen Völkern Russlands und legte den Versuch einer Klassifizierung der im Nordosten Russlands gesprochenen Sprachen vor. Er unterschied die finno-ugrischen von den turko-tatarischen Sprachen und ordnete das Tschuwaschische (nach heutigem Forschungsstand korrekt) in die zweite Gruppe ein. Strahlenberg verdanken wir auch eine erste Wortliste des Tschuwaschischen.16 Diese frühe Klassifizierung des Tschuwaschischen als Turksprache blieb nicht unumstritten. Zwar wurde sie vom bekannten Orientalisten Julius Klaproth in einer 1828 erschienenen Studie bestätigt.17 Diese Zuordnung vertrat auch der Ber-

is

Ujgurisch

Usbekisch

Baschkirisch

Wolgatatarisch

Krimtatarisch

h

st Ö

Westlicher Zweig

c ris ga ul -B ch

lic he rZ

w

ch

is ur gh

ei g

us

O

Ki pt s

gh O

ch ak

Kirgisisch

Kasachisch

Turkmenisch

Türkisch

Aseri

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren TSCHUWASCHISCH

24

Proto-Türkisch

Abb. 3. Stammbaum der Turksprachen (Vereinfachtes Schema; einzelne Zuschreibungen sind umstritten) STAMMBAUM DER TURKSPRACHEN

(vereinfachtes Schema; einzelne Zuschreibungen sind umstritten) liner Orientalist Wilhelm Schott in einer 1841 publizierten Arbeit, die eine 1836 erschienene Grammatik des in einem tschuwaschischen Dorf aufgewachsenen russischen Popensohnes Viktor Višnevskij auswertete.18 Im 19. Jahrhundert verbreitete sich jedoch, unter anderem dank der Autorität des in Russland wirkenden Turkologen Friedrich Wilhelm Leopold Radloff, die Auffassung, es handle sich um eine finno-ugrische Sprache, die einer Türkisierung unterlegen sei. Argumente dafür waren die Existenz zahlreicher finno-ugrischer Wörter im Tschuwaschischen sowie viele Gemeinsamkeiten der Lebensform, Kultur und Religion der Tschuwaschen mit den benachbarten Mari (Tscheremissen), deren Sprache zum wolgafinnischen Zweig der finno-ugrischsprachigen Familie gerechnet wird. Ein wichtiges Argument für diese Hypothese war, dass die Tschuwaschen im Gegensatz zu fast allen anderen Sprechern von Turksprachen keine Muslime waren (und sind), sondern wie ihre wolgafinnischsprachigen Nachbarn einem animistischen Naturglauben anhingen, bevor sie im 18. Jahrhundert großteils unfreiwillig zum russisch-orthodoxen Glauben bekehrt wurden. Zwar anerkannten diese Forscher die Tatsache, dass die tschuwaschische Sprache zahlreiche turksprachige Elemente

Die Wolgabulgaren und ihre Sprache

aufweist, doch erklärten sie dies damit, dass die Tschuwaschen jahrhundertelang in engem Kontakt mit den benachbarten Wolga-Tataren standen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich jedoch die Hypothese einer Zuordnung des Tschuwaschischen zu den Turksprachen durch. Ihr folgte auch die erste und einzige Volkszählung, die im Jahre 1897 im Russländischen Reich durchgeführt wurde und 843.757 Personen mit tschuwaschischer Muttersprache auswies.19 Daran schloss sich die Frage an, welcher Untergruppe der Turksprachen das Tschuwaschische zuzuordnen sei. Zunächst wies man nach, dass das Tschuwaschische nicht wie das Wolgatatarische in die Familie der Kiptschakspachen einzuordnen ist, sondern eine isolierte Stellung einnimmt. Das Tschuwaschische weist mit keiner anderen lebenden Turksprache größere Ähnlichkeiten auf, so dass man ihm am imaginierten Stammbaum der Turksprachen einen eigenen Zweig zuwies. Da das Tschuwaschische die älteste bekannte Turksprache ist, lassen Elemente, die es mit allen anderen Turksprachen gemein hat, auf eine »urtürkische« Sprache zurückschließen. Das tschuwaschische Rätsel war damit noch immer nicht gelöst, denn nun stellte man sich die Frage, wie die Genese des Tschuwaschischen historisch zu erklären sei, wann und wie es sich vom hypothetischen Hauptstamm der Turksprachen abgezweigt habe und ob man es auf eine ältere, möglicherweise ausgestorbene Sprache, sozusagen einen dürren Ast, zurückführen könne. Die Wolgabulgaren und ihre Sprache

Als möglicher Ahne des Tschuwaschischen gilt heute allgemein das Bulgarische.20 Damit ist nicht das heutige Bulgarische, das zu den südslawischen Sprachen gerechnet wird, gemeint, sondern das sogenannte Proto-Bulgarische oder Oghurische, die Sprache der aus Innerasien stammenden Bulgaren. Die Bulgaren oder Proto-Bulgaren, wie sie auch genannt werden, um sie von den slawischsprachigen Bulgaren am Westufer des Schwarzen Meeres zu unterscheiden, waren eines der Reitervölker, die aus Zentralasien über die weiten Steppen in den Raum nördlich des Kaspischen und Schwarzen Meeres einwanderten. Ihre Reihe beginnt mit den mehrheitlich iranischsprachigen Skythen und Sarmaten, es folgten die Hunnen, dann die Bulgaren, und weiter die Awaren, Chasaren, Magyaren (Ungarn), Petschenegen, Polowzer (Kumanen) und schließlich die Mongolen. Die sprachliche Zuordnung der frühen Steppenvölker ist umstritten. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die meisten Reiternomaden keine schriftlichen Zeugnisse hinterließen. Andererseits setzten sich diese »Völker« aus sprachlich-ethnisch heterogenen Gruppen zusammen, und ihre Namen wurden für unterschiedliche historische Verbände verwendet. Ganz allgemein muss festgehal-

25

26

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

ten werden, dass Sprachen nicht mit Völkern, mit ethnischen Gruppen, gleichgesetzt werden können, dass sich ständige Vermischungen vollzogen und dass Mehrsprachigkeit häufig war. Sprachen haben ihre eigene Geschichte, die die moderne Sprachwissenschaft zu (re-)konstruieren versucht. Sie ist freilich nicht gleichzusetzen mit der Geschichte von Völkern, auch wenn diese den Namen einer Sprachgruppe trugen. Die Völkernamen haben ihrerseits ihre eigene Geschichte, und es ist problematisch, Gruppen, die mit demselben Volksnamen bezeichnet werden, automatisch gleichzusetzen. Die Oghuren-Bulgaren waren die ersten, mindestens partiell turksprachigen Reiternomaden, die nach Europa vorstießen. Man hat vermutet, dass sich Reste der Hunnen ihren Verbänden anschlossen. Die schriftlichen Zeugnisse sind für die Frühzeit dermaßen spärlich, dass eine sprachliche Zuordnung des Proto-Bulgarischen schwerfällt. Unter den wenigen Quellen ist das in Russland entdeckte Manuskript einer bulgarischen Fürstenliste mit einigen Zusätzen, die als Regierungsdevisen oder chronologische Angaben interpretiert worden sind. Der Name Bulgaren, dessen Herkunft ungeklärt ist, tritt seit dem 5. Jahrhundert in den Quellen auf. Um 567 wurden diese Bulgaren von den reiternomadischen Awaren besiegt, und ein Teil der Bulgaren zog mit den Awaren weiter nach Westen bis ins heutige Ungarn. Für die damaligen Bulgaren ist auch der Name Onoguren (zehn Stämme) überliefert. Davon leitet sich der Name Ungarn, die Fremdbezeichnung der Magyaren, ab, was auf frühe Kontakte der Proto-Bulgaren mit dem Reitervolk der Magyaren oder Ungarn hinweist. Laut ungarischen Sprachwissenschaftlern gibt es im Ungarischen, das der finno-ugrischen Sprachfamilie zugerechnet wird, zahlreiche türkisch-bulgarisch-tschuwaschische Lehnwörter.21 Der bulgarische Khan Kubrat (Kobrat) befreite sich von der awarischen Oberherrschaft und begründete in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts in der Steppe nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres einen Herrschaftsverband, der in byzantinischen Quellen »Großbulgarisches Reich« genannt wird. Kubrat stand in engen Beziehungen zum Oströmischen Reich, und der Kaiser verlieh ihm den Ehrentitel patrikios. Diese für einen »Barbaren« seltene Auszeichnung spiegelt die Bedeutung wider, die das Großbulgarische Reich in dieser Zeit für das von den sassanidischen Persern bedrängte Byzanz hatte. Schon in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts wurde das Großbulgarische Reich aber von den nachrückenden Chasaren, einem weiteren mehrheitlich turksprachigen Reitervolk, erobert. Das Chasarische, von dem fast keine Quellen überliefert sind, wird meist auch den oghurischen Sprachen zugeordnet. Ein Sohn Kubrats unterwarf sich den Chasaren, ein zweiter, Khan Asparuch, zog mit einer Streitmacht nach Westen und begründete um 680 im heutigen Bul-

Die Wolgabulgaren und ihre Sprache

Abb. 4 Bolgar, die Hauptstadt des Wolgabulgarenreiches (Museumskomplex mit restaurierten Gebäuden)

garien das Erste Donaubulgarische Reich. Dessen turksprachige Führungsschicht wurde von der ansässigen slawischen Bevölkerung assimiliert, und Fürst Boris nahm im Jahre 863 das orthodoxe Christentum an. Möglicherweise zog sich eine weitere Gruppe von Bulgaren in den Kaukasus zurück; es wird vermutet, dass der Name des bis heute im Nordkaukasus lebenden Turkvolks der Balkaren auf die Bulgaren zurückzuführen ist. Die Sprache der Balkaren wird allerdings der kip­ tschakischen Familie zugeordnet. Eine weitere Gruppe von Bulgaren wanderte nach Norden und ließ sich seit dem späten 7. Jahrhundert im Gebiet der Mittleren Wolga nieder. Khan Kotrag, ebenfalls ein Sohn Kubrats, begründete südlich des Zusammenflusses von Kama und Wolga das sogenannte Reich der Wolgabulgaren. Die Wolgabulgaren wurden durch finno-ugrischsprachige Gruppen, die sie teilweise unter ihre Herrschaft gebracht hatten, wesentlich beeinflusst und gingen von einer halbnomadischen Lebensweise zur Sesshaftigkeit über. Das fruchtbare Land garantierte gute Erträge, und in ostslawischen Chroniken ist später von Getreideimporten aus Bulgar (Bolgar) in die nordöstliche Rus‘ die Rede. Die Hauptstadt Bolgar wurde zu einem wichtigen Handelszentrum zwischen Europa und dem Orient, und der Handel trug wesentlich zum raschen Aufschwung des Reichs der Wolgabulgaren bei.22

27

28

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

Im 9. und 10. Jahrhundert trat mindestens die Oberschicht der Wolgabulgaren zum Islam über, was zu einer Intensivierung des Handels mit dem Orient führte. Der arabische Reisende Ibn-Fadlān, der als Gesandter des Kalifen in den Jahren 921/922 aus Bagdad über Zentralasien nach Bolgar reiste, verfasste darüber einen farbigen Bericht.23 Der »König« der Bulgaren Almisch (oder Almasch) hatte um Unterweisung im Islam und um Hilfe beim Bau einer Festung gegen die Chasaren, denen die Wolgabulgaren tributpflichtig waren, gebeten. Der »König« empfing Ibn-Fadlān am 12. Mai 922 in einem sehr großen, reich geschmückten Zelt und bewirtete ihn mit gebratenem Fleisch. Die Bulgaren, so Ibn-Fadlān, äßen Pferdefleisch, Hirse und anderes Getreide und tränken Met. In Bolgar begegnete er den Rus‘, normannischen Kaufleuten, die mit den Wolgabulgaren Handel trieben. Die Rus’ waren in den Augen des gebildeten Arabers Barbaren. Sie seien zwar blond und groß wie Dattelpalmen, doch seien sie schmutzig, tätowierten sich, betrieben in aller Öffentlichkeit Geschlechtsverkehr und beteten Götzen an. Es handelt sich um einen der ersten Berichte über die Rus‘, die nordgermanischen Waräger, die im 9. Jahrhundert den ersten Herrschaftsverband der Ostslawen begründeten und ihm ihren Namen gaben, von dem sich der Name der Russen ableitet. Ibn-Fadlān erwähnt die Suwa-r (suwa-z, suw-an), einen Stamm, dessen einer König der Schwiegersohn des Khans der Wolgabulgaren sei. Auch in anderen, meist arabischen Quellen sind die Suwaren bezeugt. In der Stadt Suwar, die wie die Stadt Bulgar am linken Wolgaufer lag, wurden später eigene Münzen geprägt. Es liegt nahe, den Namen der Suwaren (oder Suwasen) mit dem Namen der Tschuwaschen in Verbindung zu bringen. Stimmt man dieser nicht unumstrittenen Deutung zu, wäre der Volksname der Tschuwaschen schon im Jahre 922 und nicht erst im 16. Jahrhundert in den Quellen bezeugt. Das bedeutet allerdings nicht, dass man eine direkte gerade Linie von den Suwaren zu den Tschuwaschen ziehen könnte. In ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsstand, ihrer politischen Organisation und ihrer Kultur standen die Wolgabulgaren (und Suwaren) im 10. Jahrhundert den Rus‘, den Vorfahren der Russen, Ukrainer und Weißrussen, keineswegs nach. Dies ist wichtig für das Selbstbewusstsein der heutigen Tschuwaschen, die sich als Nachfahren der Wolgabulgaren begreifen und seit über 450 Jahren unter der politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanz Russlands stehen. Das Wolgabulgarenreich erlebte als Handelsdrehscheibe im 10. bis 13. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blüte. Der Wolgaweg bis zum Kaspischen Meer verband es einerseits mit den islamischen Zentren im Iran, in Arabien und Zentralasien, andererseits gegen Westen und Norden mit den Fürstentümern der Rus‘, der Stadtrepublik Novgorod und der Ostsee. Das Reich der Wolgabulgaren war in das Kräftespiel zwischen den Fürsten der Rus‘ und den nomadischen Petschenegen und Polow-

Die Wolgabulgaren und ihre Sprache

zern (Kumanen), die nach den Chasaren in die Steppe nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres eingewandert waren, eingebunden. Als sich die Mongolen unter Batu, dem Enkel Dschingis Khans, zur Unterwerfung Europas aufmachten, eroberten (und zerstörten) sie im Jahre 1236 als erstes das Reich der Wolgabulgaren. Seit dieser Zeit standen die Wolgabulgaren und die übrige Bevölkerung der Region unter der Herrschaft des nach dem jüngsten Sohn Dschingis Khans benannten Ulus Dschutschi, der später als Goldene Horde bezeichnet wurde. Die schmale Schicht der mongolischsprachigen Eroberer nahm bald die Sprache der turksprachigen Polowzer an, die zur Familie der Kiptschaksprachen gerechnet wird. Das Gebiet der Wolgabulgaren und ihrer Untertanen erholte sich rasch von den Zerstörungen infolge der Eroberung und erlebte zunächst eine neue wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Dies änderte sich, als die Goldene Horde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts durch Fehden und Raubzüge erschüttert wurde und in der Mitte des 15. Jahrhunderts zerfiel. Im Gebiet der Wolgabulgaren wurde nun ein Nachfolgereich der Goldenen Horde, das Khanat von Kazan‘, begründet, das unter der Herrschaft eines Dschingisiden, eines Nachkommen Dschingis Khans, stand. Statt Bulgar wurde das weiter nördlich gelegene Kazan‘ Hauptstadt. Das Khanat von Kazan‘ wurde im Jahre 1552 vom russischen Zar Ivan IV. erobert. Ich komme im folgenden Kapitel darauf zurück. Das Tschuwaschische wird heute allgemein auf die Sprache der Wolgabulgaren, die als Turksprache angesehen wird, zurückgeführt. Dass die Tschuwaschen Nachkommen der Wolgabulgaren seien, behauptete als Erster der russische Historiker Vasilij Tatiščev (1686–1750), der die Wolgaregion aus eigener Erfahrung kannte. Er schrieb in seiner postum erschienenen »Russländischen Geschichte seit den allerältesten Zeiten« mehrfach von »den Tschuwaschen, den alten Bulgaren« und von »den übriggebliebenen bulgarischen Völkern, den Tschuwaschen«.24 Sprachwissenschaftler entdeckten im 19. Jahrhundert, dass Grabinschriften der Wolgabulgaren aus dem 13. und 14. Jahrhundert Elemente enthalten, die dem modernen Tschuwaschischen nahestehen. Die erste wissenschaftlich breit abgestützte sprachliche Analyse unternahm der im Gebiet der Tschuwaschen aufgewachsene Russe Nikolaj Ašmarin (1870–1933), der im Jahre 1902 eine längere Abhandlung »Bulgaren und Tschuwaschen« veröffentlichte.25 Gestützt auf die wenigen schriftlichen Denkmäler, auf Entlehnungen tschuwaschischer Wörter in den wolgafinnischen Sprachen und auf eine detaillierte Analyse des tschuwaschischen Wortschatzes wies er nach, dass das moderne Tschuwaschische mit der (ausgestorbenen) Sprache der Wolgabulgaren große Übereinstimmungen aufweist. Ašmarins Hauptwerk war sein 17-bändiges Wörterbuch der tschuwaschischen Sprache, das mit vielen Kommentaren versehen ist und als Enzyklopädie der tschuwaschischen Kultur gelten kann.26

29

30

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

Die Kontroverse zwischen Tschuwaschen und Tataren um das bulgarische Erbe

Es wird heute kaum mehr bestritten, dass die (wolga-)bulgarische Sprache als Vorläuferin des Tschuwaschischen zu gelten hat. Problematischer ist es, die Genese der Sprache mit der Entstehung des Volkes gleichzusetzen, wie das die meisten tschuwaschischen Historikerinnen und Historiker seit einem Jahrhundert tun. Wenn ich im Folgenden die Kontroverse zwischen Tschuwaschen und Wolga-Tataren um das wolgabulgarische Erbe ausführlich behandle, so geschieht dies nicht mit dem Ziel, Klarheit über die Entstehung der beiden Völker zu gewinnen. Schon eine solche Fragestellung ist meines Erachtens wenig sinnvoll, überträgt sie doch moderne Kategorien auf die ferne Vergangenheit, konstruiert einen zielgerichteten Prozess der Volkswerdung und essentialisiert die ethnische Gruppe oder Nation. Was hier interessiert, ist der Abstammungsmythos als zentrales Element der Identifikation und Integration. Wie andere Völker auch bemühen sich die Tschuwaschen, ihre Herkunft zu erklären, und als Volk, das jahrhundertelang im Schatten der Geschichte stand, suchen sie nach einem »Goldenen Zeitalter« in der fernen Vergangenheit. Die Bemühungen, die Wolgabulgaren als Vorläufer der Tschuwaschen darzustellen, stoßen auf das Problem, dass mindestens die Führungsschicht der Wolgabulgaren, wie erwähnt, im 10. Jahrhundert den Islam annahm, während die Tschuwaschen einer Naturreligion anhingen, bevor die Mehrheit im 18. Jahrhundert zum orthodoxen Christentum bekehrt wurde. Nun hat man sich die Wolgabulgaren ebenso wie die anderen Herrschaftsverbände reiternomadischer Herkunft nicht als ethnisch und religiös einheitliches Volk vorzustellen, sondern es handelte sich um einen Zusammenschluss unterschiedlicher Gruppen. Wie erwähnt, wurde einer dieser Stämme mit dem Namen Suwaren/Suwasen bezeichnet, den manche tschuwaschische Historiker mit den Tschuwaschen in Verbindung bringen. Gemäß ihrer Deutung waren die Suwaren Teil einer Föderation der Bulgaren und die Bulgaren-Suwaren generell die Vorläufer der Tschuwaschen, ein »alt-tschuwaschisches Volk«. Die Frage der Herkunft der Tschuwaschen komplizierte und politisierte sich dadurch, dass die Berufung auf die Wolgabulgaren seit dem 18. Jahrhundert unter den Wolga-Tataren ebenfalls verbreitet war. Anstelle des Ethnonyms »Tataren«, das einen negativen Anstrich hatte, verwendeten sie (neben der Bezeichnung Muslime) den Namen »Bulgaren«.27 In mehreren islamisch-tatarischen Geschichtswerken und in anderen Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert wurden die tatarischen Khane nicht als Nachfolger Dschingis Khans, sondern der bulgarischen Herrscher

Die Kontroverse zwischen Tschuwaschen und Tataren um das bulgarische Erbe

bezeichnet. Russische Beobachter berichteten, dass sich »die Tataren ihrer Abkunft von den Bulgaren rühmten« und dass ihre Kaufleute »würdige Erben der alten Bulgaren« seien.28 Auch in der eschatologischen islamischen Volksbewegung der tatarischen Vaisi oder Vaisovcy spielte das bulgarische Erbe eine zentrale Rolle.29 Im Gegensatz zu den Wolga-Tataren haben wir keine direkten Zeugnisse dafür, dass sich die Tschuwaschen vor dem 20. Jahrhundert als Bulgaren bezeichnet hätten. Das oben zitierte Zeugnis Tatiščevs aus der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt aber vermuten, dass nicht nur unter gebildeten Russen, sondern auch unter den Tschuwaschen ein bulgarischer Abstammungsmythos existierte. Das Fehlen von direkten Quellen kann daran liegen, dass die Tschuwaschen im Gegensatz zu den Tataren vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über keine Schriftkultur verfügten. Während im Anspruch der Tschuwaschen auf das wolgabulgarische Erbe die sprachliche Verwandtschaft ins Feld geführt wird, beziehen sich die Wolga-Tataren auf den Islam, der die herrschende Religion im Herrschaftsverband der Wolgabulgaren war, und auf die Tatsache, dass das Kernterritorium des Wolgabulgarenreichs mit den Städten Bolgar und Suwar heute von Tataren besiedelt wird. Der Bezug auf die Bulgaren mag überraschen, denn es läge nahe, dass sich die Tataren als Erben der Mongolen-Tataren, die ein Weltreich geschaffen und beherrscht hatten, beriefen. Diese Deutung verbreitete sich unter den Wolga-Tataren jedoch nur zögernd in national orientierten Kreisen, die im mongolischen Imperium eine Art »Goldenes Zeitalter« der Tataren sahen. Eine Orientierung auf die Mongolen-Tataren war im Russländischen Reich und in der Sowjetunion nicht ratsam, denn in deren historischen Narrativen waren die Tataren und das »Tatarenjoch«, die mehr als zwei Jahrhunderte währende Herrschaft der Goldenen Horde über Russland, negativ konnotiert. Es war also ratsam, sich auf die Bulgaren und nicht auf die Mongolen-Tataren zu berufen. Von tschuwaschischer Seite wird als wichtigstes Argument gegen die bulgarische Abkunft der Wolga-Tataren die Zuordnung der wolgatatarischen Sprache zur kiptschakischen Gruppe angeführt. Diese war die herrschende Sprache im Reich der Goldenen Horde und im Khanat von Kazan’. Ein bedeutender Teil der an der Mittleren Wolga ansässigen wolgabulgarischen Bevölkerung unterlag, so die Argumentation vieler tschuwaschischer Forscher, im 13. bis 16. Jahrhundert der sprachlichen Assimilation durch das Tatarische, der Sprache der herrschenden Elite. Andere Wolgabulgaren bewahrten ihre (tschuwaschische) Sprache, die aber im Laufe der Jahrhunderte auf Kosten des Tatarischen zurückgedrängt wurde. In der Auseinandersetzung um die Herkunft der Tschuwaschen spielen unterschiedliche Interpretationen der Ethnonyme »Tschuwaschen« und »Tataren« in

31

32

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

den russischen Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts eine Rolle.30 Es fällt auf, dass die beiden Begriffe oft nebeneinander stehen und sich gelegentlich auf ein und dieselbe Person beziehen. Dies kann man als Beweis dafür ansehen, dass ein Teil der bulgarischsprachigen Bevölkerung seit der Eroberung durch die Mongolen-Tataren allmählich tatarisiert und islamisiert wurde. Dafür spricht, dass sich diese Zeugnisse oft auf später ausschließlich von Tataren besiedelte Gebiete auf dem linken Wolgaufer beziehen. Gemäß einer anderen Interpretation hatten die Begriffe »Tataren« und »Tschuwaschen« in diesen und anderen Quellen keine ethnisch-sprachliche, sondern eine rechtlich-soziale Bedeutung. Da die Tataren im Khanat von Kazan’ Dienstleute waren, die keine Steuern (jasak) bezahlen mussten, die Kategorie der JasakTata­ren also nicht existierte, wurden die Tataren, die in russischer Zeit Abgaben entrichteten, lange nicht als Jasak-Tataren, sondern, wie schon die abgabenpflichtige turksprachige Bevölkerung des Khanats, als Jasak-Tschuwaschen bezeichnet. Dafür spricht auch, dass einige dieser Jasak-Tschuwaschen Muslime waren. Dieser Deutung zufolge bezeichnete der Begriff »Tschuwaschen« also in diesem Kontext die turksprachigen Abgabenpflichtigen, unabhängig davon, ob es sich um ethnische Tataren oder Tschuwaschen handelte. Dies würde bedeuten, dass es sich bei zahlreichen »Tschuwaschen«, die in Grundbüchern und Akten des 16. und 17. Jahrhunderts links der Wolga und am rechten Ufer gegenüber von Kazan’ bezeugt sind, um ethnische Tataren handelte. Umgekehrt konnten mit »tatarischen Dienstleuten« (služilye ljudi) auch Tschuwaschen, die keinen Jasak entrichteten, gemeint sein. In der tschuwaschischen Historiographie wird die erste Erklärung bevorzugt, da sie eine Kontinuität tschuwaschischer (bulgarischer) Besiedlung des Kerngebiets Wolgabulgariens annimmt und damit den Anspruch auf das Erbe der Wolgabulgaren untermauert. Die zweite Variante wird dagegen als herabsetzend empfunden, da hier der Name der Tataren für die Elite, der Name der Tschuwaschen hingegen für die Unterschicht steht. Außerdem würde dadurch die These entkräftet, dass zahlreiche Tschuwaschen bis ins 18. Jahrhundert auf dem linken Wolgaufer lebten und dort erst allmählich tatarisiert wurden. Die Entscheidung für eine der beiden Interpretationen fällt mir nicht leicht. Ich habe in früheren Arbeiten die zweite These vertreten, gemäß der die Namen Tataren und Tschuwaschen in diesen Quellen eine rechtlich-soziale Bedeutung haben. Heute erscheint mir die erste, mehrheitlich von Tschuwaschen vertretene These, ebenfalls plausibel. Es ist denkbar, dass die Terminologie ambivalent war und sowohl Assimilierungsprozesse wie auch eine auf das Khanat von Kazan zurückgehende soziale Zweiteilung in turksprachige Elite (»Tataren«) und turksprachige Untertanen (»Tschuwaschen«) widerspiegelt. Ich werde deshalb beide Erklärungen

Die Diskussion um die Ethnogenese der Tschuwaschen und Tataren in der Sowjetunion

für die Auslegung der entsprechenden Quellen heranziehen und von deren Kontext abhängig machen, welche jeweils mehr Plausibilität hat. Die Diskussion um die Ethnogenese der Tschuwaschen und Tataren in der Sowjetunion

Die Auseinandersetzung zwischen Tschuwaschen und Tataren um das Erbe der Wolgabulgaren wurde schon in sowjetischer Zeit öffentlich ausgetragen, obwohl sie dem Dogma der »Völkerfreundschaft« widersprach.31 In den 1920er Jahren, als die sowjetische Politik die Nationsbildung der Nichtrussen förderte, forcierten tschuwaschische Autoren den wolgabulgarischen Abstammungsmythos bis hin zur These eines »tschuwaschisch-bulgarischen Nationalstaats«. In Tatarstan dagegen wurden in dieser Zeit die Tataren-Mongolen der Goldenen Horde zu nationalen Helden stilisiert, die einst auch Russland beherrscht hatten. Solche und andere von den Bolschewiki angekurbelte nationale Ideologien erregten indessen bald das Misstrauen der Führung. In den Dreißigerjahren wurden die nationalistischen Stimmen erstickt und die meisten nationalen Ideologen erschossen oder ins Straflager geschickt. Dennoch sah sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei am 9. August 1944 veranlasst, scharfe Kritik an der Idealisierung der Goldenen Horde durch tatarische Historiker und Literaturwissenschaftler zu üben. Dahinter stand die Sorge, dass sich unter dem Banner der tatarisch-mongolischen »Erzfeinde« antirussische bzw. antisowjetische Strömungen verbreiten könnten, wie sie im zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg bei einigen Völkern der Sowjetunion aufgetreten waren. Ein Zusammenhang mit der drei Monate zuvor, im Mai 1944, erfolgten Deportation der Krimtataren nach Zentralasien ist wahrscheinlich. Die mit den Wolga-Tataren verwandten Krimtataren, deren Eliten sich ebenfalls auf die Tataren-Mongolen der Goldenen Horde beriefen, waren pauschal der Kollaboration mit Nazideutschland bezichtigt wurden. Im April 1946 berief die sowjetische Akademie der Wissenschaften eine wissenschaftliche Konferenz ein, die sich scharf gegen die Identifikation der Wolga-Tataren mit den zugewanderten Tataren-Mongolen und gegen den »tatarischen Nationalismus« wandte. Ihr wurde die Aufgabe gestellt, die Herkunft der Wolga-Tataren von den Wolgabulgaren wissenschaftlich zu begründen. Diese Konferenz und einige folgende standen im Kontext neuer ideologischer Strömungen, wie sie besonders vom Orientalisten und Sprachwissenschaftler Nikolaj Marr vertreten worden waren. Dieser war für eine Dominanz sozio-ökonomischer Faktoren gegenüber der Kategorie Ethnos und für die These von der Priorität der autoch-

33

34

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

thonen Faktoren (und nicht der Wanderungsbewegungen) in der Herkunft der Völker aufgetreten. Obwohl Marrs zum Teil abenteuerliche Ideen, die beispielsweise die Tschuwaschen mit den alten Sumerern in Beziehung setzten, bald verdammt wurden, blieb die Priorität der Autochthonie fester Bestandteil der sowjetischen Forschungen. Damit einher ging der Aufbau eines ganzen neuen Forschungszweiges, der sich mit der Ethnogenese der Völker beschäftigte.32 Er stand im Zusammenhang mit einer generellen Ethnisierung der Sowjetunion unter Stalin und förderte ein essentialistisches Verständnis von Ethnos und Nation. Die Ethnogenese wurde als ein komplexer Prozess aufgefasst, der nur in Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen, der Sprachwissenschaft, der Archäologie, der Ethnographie und der physischen Anthropologie, adäquat erforscht werden könne. Gegenüber den pauschal auf die sprachliche Verwandtschaft oder die Religion bezogenen Abstammungsmythen war die Berücksichtigung weiterer Faktoren, vor allem der materiellen und geistigen Kultur, ein Fortschritt. Andererseits ist es sehr schwer, die einzelnen Elemente, deren Auftreten meist nicht datiert werden kann, miteinander zu verbinden und daraus Schlüsse auf die Entstehung einer ethnischen Gruppe zu ziehen. Die Forschungen zur Ethnogenese der Völker der Sowjetunion wurden in den folgenden Jahren zügig vorangetrieben. Im Jahre 1950 folgte eine ebenfalls von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften organisierte Konferenz zur Ethnogenese der Tschuwaschen. Jetzt wurden die Thesen von der bulgarischen Herkunft der Tschuwaschen, wie sie von »den tschuwaschischen Nationalisten« verbreitet worden seien, scharf verurteilt. Dagegen wertete man die autochthonen finno-ugrischen Elemente in der Ethnogenese der Tschuwaschen auf. Allerdings wandte sich die Konferenz gegen den Exklusivanspruch der Wolga-Tataren auf das wolgabulgarische Erbe, wie er an der Konferenz von 1946 geäußert worden war. Im Sinne des Dogmas der »Völkerfreundschaft« wurde betont, dass beide Völker Erben der Wolgabulgaren seien, so wie Russen, Ukrainer und Weißrussen gemeinsam Nachkommen der Kiever Rus‘ seien. Der wichtigste Unterschied bestehe darin, dass bei den Tschuwaschen das finno-ugrische, bei den Tataren das kiptschakische Element besondere Bedeutung habe. Nach Stalins Tod gingen die Auseinandersetzungen weiter. Man war nun nicht mehr so direkt an Weisungen der Politik gebunden und konnte offener polemisieren. Im Jahre 1956 fand eine weitere Konferenz zur Ethnogenese der Tschuwaschen statt, und 1965 erschien als vorläufige Summe eine über 500 Seiten zählende Monographie aus der Feder des tschuwaschischen Archäologen Vasilij Kachovskij, die im Jahre 1984 auch in tschuwaschischer Sprache publiziert wurde.33 Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der archäologischen, sprachwissenschaftlichen, ethnographischen, anthropologischen und historischen

Zuspitzung der Auseinandersetzung in postsowjetischer Zeit

Forschung kam Kachovskij zum Schluss, dass die wolgabulgarischen Elemente einen höheren Stellenwert hätten als die autochthonen finno-ugrischen. Er verfolgte die Ethnogenese der Tschuwaschen vom 1. Jahrtausend v. Chr. bis zu den Wolgabulgaren und den Suwaren, die nicht nur ihre Sprache, sondern im Gegensatz zu den Bulgaren ihren traditionellen Glauben bewahrt hätten. Eine Zusammenfassung der tschuwaschischen Lehrmeinung erfolgte im 1984 veröffentlichten Band »Die Bulgaren und die Tschuwaschen«, in dem führende Archäologen, Historiker und Sprachwissenschaftler zu Worte kamen.34 Der tschuwaschischen Deutung setzten tatarische Sprachwissenschaftler und Archäologen die These der Kontinuität zwischen Wolgabulgaren und Wolga-Tataren entgegen, wobei als zweiter Strang der tatarischen Ethnogenese das kiptschakische Element wieder auftauchte . Die Mehrheit der tschuwaschischen und tatarischen Historiker anerkannte, dass beide Völker als Erben der Wolgabulgaren bzw. Suwaren anzusehen seien. Zwar gab es durchaus gegensätzliche Standpunkte dazu, doch kam es kaum zu einer offenen Polemik, die an den Dogmen der »Völkerfreundschaft« gerüttelt hätte. Zuspitzung der Auseinandersetzung in postsowjetischer Zeit

Das änderte sich in postsowjetischer Zeit. Zunächst profitierten Publizisten von der neu gewonnenen Freiheit des Wortes und lancierten abenteuerliche Theorien über die Herkunft der Tschuwaschen von den alten Sumerern, den Etruskern, den Skythen und Sarmaten, von einer mythischen sibirisch-tschuwaschischen Zivilisation oder gar von der Entdeckung Amerikas durch die Sumerer-Tschuwaschen. Die tschuwaschischen Wissenschaftler pochten nicht überraschend wieder stärker auf ihren exklusiven Anspruch auf das wolgabulgarische Erbe. Zum Wortführer der Kontroverse wurde nun Vasilij Dimitriev, der führende tschuwaschische Historiker, der sich schon zu sowjetischer Zeit an den Diskussionen beteiligt hatte.35 Seiner Meinung nach verschwanden die Suwaren/Suvasen im 11. Jahrhundert nicht nur aus den Quellen, sondern auch aus der Geschichte, und es formierte sich auf dem ganzen Territorium des Wolgabulgarenreiches eine einheitliche bulgarische (alt-tschuwaschische) Ethnie (narodnost‘). Die Tataren der Goldenen Horde, die sich aus mongolischen und kiptschakischen Elementen zusammensetzten, unterjochten im 13. Jahrhundert die Bulgaren. Infolge von Wirren in der Goldenen Horde und eines Feldzuges des Eroberers Timur wurden am Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts die bulgarischen Länder verwüstet. Laut Dimitriev war dies mit einem wahren Genozid an der bulgarisch/tschuwa-

35

36

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

schischen Bevölkerung verbunden. Zahlreiche Bulgaren-Tschuwaschen verließen ihre Stammgebiete, während die am linken Wolgaufer verbliebenen, vor allem die islamisierten Eliten, tatarisiert wurden. Dimitriev wandte sich dezidiert gegen die Auffassung »Kazaner Historiker«, dass die Wolgabulgaren die ethnischen Vorfahren der Wolga-Tataren gewesen seien, sondern betonte, dass die Bulgaren keine Rolle für die Entstehung des tatarischen Volkes gespielt hätten. Der Interpretation Dimitrievs folgte im Wesentlichen die offiziöse Interpretation der Ethnogenese der Tschuwaschen, wie sie etwa in einer 2009 erschienenen Überblicksdarstellung vertreten wurde.36 Bei den Tataren gewannen nach 1991 die Anhänger des mongolo-tatarischen Erbes wieder an Boden. Dabei schwang jetzt erneut der Stolz mit, Nachkommen der Welteroberer zu sein, die Europa in Angst und Schrecken versetzten und mehr als zwei Jahrhunderte über Russland herrschten. Das heißt nicht, dass die Auffassung von der wolgabulgarischen Herkunft der Tataren aufgegeben würde. Die Bedeutung, die dem Wolgabulgarenreich in der Geschichte der Tataren beigemessen wird, erhellt aus der Tatsache, dass ihm in der siebenbändigen »Geschichte der Tataren« ein ganzer, 960 Seiten umfassender Band gewidmet wurde.37 Das Reich der Wolgabulgaren wurde hier als ethno-politische und ethno-konfessionelle Gemeinschaft interpretiert, die auf dem Islam, der Staatlichkeit und einer relativ einheitlichen Kultur basierte. Die »Geschichte der Tataren« ging kaum auf die Frage ein, ob die Wolgabulgaren Vorfahren der (heidnischen) Tschuwaschen gewesen sein könnten. Man nahm an, dass es im Reich der Wolgabulgaren keine einheitliche Hochsprache gegeben habe, sondern unterschiedliche Turksprachen nebeneinander standen. Im Rahmen der Goldenen Horde und des Khanats von Kazan´ sei die Bevölkerung des ehemaligen Wolgabulgarenreiches nicht einfach verschwunden, sondern von den vorwiegend kiptschaksprachigen Eroberern überlagert worden, was dann zur Formierung der tatarischen Ethnie (narodnost’) geführt habe. Die Auseinandersetzung zwischen Tschuwaschen und Tataren darüber, wer Erbe der Wolgabulgaren sei, wird mit einer Heftigkeit geführt, die das Verhältnis zwischen manchen Intellektuellen der beiden Völker richtiggehend vergiftet hat. Die Emotionalität, mit der die Tschuwaschen den Streit mit den Wolga-Tataren führen, muss vor einem breiteren Hintergrund betrachtet werden. Aus tschuwaschischer Sicht wurden und werden die Tschuwaschen, deren Geschichte im Schatten der Geschichte Russlands und der Sowjetunion stand und steht, gleichzeitig von Osten her von den Tataren in den Schatten gestellt. Die muslimischen Tataren hatten nicht nur die Führungsschicht der Goldenen Horde und des Khanats von Kazan‘ gestellt, sondern tatarische Adlige spielten auch im Moskauer

Zuspitzung der Auseinandersetzung in postsowjetischer Zeit

Reich eine gewisse Rolle, während die Tschuwaschen ebenso wie die finnischsprachigen Mordwinen, Mari und Udmurten abgabenpflichtige Bauern waren. Nur die muslimischen Tataren verfügten seit dem 15. Jahrhundert über eine Schriftkultur. Obwohl die tatarischen Muslime im 18. Jahrhundert unter starken Druck gerieten, erhielt sich eine Elite aus Kaufleuten, Adligen und einer neuen Intelligenz, die in der Welt des Islams Rückhalt fand. In der Sowjetunion fiel dann allerdings fast die gesamte tatarische Elite den »Säuberungen« zum Opfer. Seit in den 1960er Jahren in Tatarstan Erdölvorkommen entdeckt wurden, traten die Tataren wieder stärker in den Vordergrund. Obwohl die Gewinne mehrheitlich nach Moskau flossen, gehört Tatarstan seither zu den reicheren Regionen der Sowjetunion bzw. Russlands, während die Tschuwaschische Republik eine der armen Regionen war und geblieben ist. Diesem Interesse der Politik und Wirtschaft entsprach ein Interesse der ausländischen Forschung, die sich erheblich mehr mit den Wolga-Tataren als mit den in ihrem Schatten stehenden Tschuwaschen beschäftigt hat. Außerdem sind die Wolga-Tataren mit 5,3 Millionen gut dreimal zahlreicher als die Tschuwaschen und als Vertreter eines »Euro-Islam« von Interesse. Der Streit zwischen Tschuwaschen und Wolga-Tataren um das Erbe der Wolgabulgaren ist nach wie vor im Gange. Die Mehrheit der tschuwaschischen Wissenschaftler erhebt einen exklusiven Anspruch auf das wolgabulgarische Erbe, der vor allem sprachlich begründet wird. Die Tschuwaschen gelten als die einzigen direkten Nachfahren der Wolgabulgaren, während die Tataren ausschließlich von den kip­ tschaksprachigen Eroberern abstammten. Das Reich der Wolgabulgaren wird als »Goldenes Zeitalter« erinnert. Im Jahr 1995 fanden offizielle Feiern zum 1100-jährigen Bestehen der »bulgarisch-tschuwaschischen Staatlichkeit« statt. Damit war der Anspruch verbunden, dass die Tschuwaschen eine ältere Tradition der Staatlichkeit hatten als die Tataren, deren Schatten seit dem 13. Jahrhundert auf den Tschuwaschen lag. Mit dem Erbe der »Suvaro-Bulgaren« beschäftigt sich die gesellschaftliche Organisation »Suvar«. In direkter Anknüpfung an die Bemühungen in den 1920er Jahren schlugen einige Intellektuelle, unter ihnen Dimitriev, dem Präsidenten der Republik im Jahr 2012 die Umbenennung in »Republik Tschuwaschien-Wolgabulgarien« vor. Trotz recht breiter Unterstützung in der Bevölkerung wurde die Umbenennung bis heute nicht vorgenommen. Moskau würde sie wahrscheinlich nicht gutheißen, da es die Tataren nicht brüskieren will.38 Anders als bei den Tataren sind für die Tschuwaschen die Wolgabulgaren und ihr Reich der einzige mögliche Bezugspunkt für vergangene Größe und Staatlichkeit. Dimitriev brachte den Stellenwert, den das bulgarische Erbe für sein Volk hat, auf den Punkt, als er mir in einem Gespräch sagte, in der Zeit der Wolgabulgaren seien die Tschuwaschen nicht im Schatten, sondern im Scheinwerferlicht der Geschichte gestanden.

37

38

1. Kapitel: Die Suche nach dem Goldenen Zeitalter: Das Erbe der Wolgabulgaren

Von außen betrachtet sind die Argumente der beiden Seiten nicht so weit voneinander entfernt. Auch unter den tschuwaschischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt es Stimmen, die zugestehen, dass die Wolgabulgaren Vorfahren nicht nur der Tschuwaschen, sondern auch der Tataren gewesen seien. Andererseits schlossen sich einige tatarische Gelehrte wie der Archäologe Ravil’ Fachrutdinov, dem wir eine Monographie zur Geschichte der Wolgabulgaren verdanken, der Meinung an, dass die Wolgabulgaren keine primäre Rolle in der Ethnogenese der Tataren gespielt hätten. Man kann mit guten Gründen am wissenschaftlichen Sinn der Diskussionen um Ethnogenese und Abstammung zweifeln. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft ist es fragwürdig, die Herkunft eines Volkes als direkte Linie von der Antike oder dem Mittelalter bis zur Gegenwart zu verstehen. Das gilt auch für die Abstammung der Tschuwaschen von den Bulgaren des 7. Jahrhunderts oder gar von Turkstämmen des 1. Jahrtausends vor Christi Geburt. In den dreizehn Jahrhunderten seit der Landnahme der Bulgaren-Suwaren vollzogen sich ständig Prozesse der Umgruppierung, Überlagerung, Hybridisierung und Akkulturation, des Wandels in Sprache, Religion und Kultur. Dabei wirkten in erster Linie die Sprachen und Kulturen der autochthonen finno-ugrischsprachigen Ethnien und später der Russen wesentlich auf die turksprachigen Gruppen ein. Eine Gleichsetzung der modernen Tschuwaschen mit den Wolgabulgaren-Suwaren verbietet sich also, stellt eine anachronistische Rückprojektion heutiger Zustände in die Geschichte dar. Auf der anderen Seite ist es legitim, nach seiner Herkunft zu fragen, in der Geschichte Ahnen zu suchen, auf die man stolz sein kann. Abstammungsmythen sind wichtig für das Selbstverständnis der Menschen und spielen eine bedeutende Rolle in der Begründung eines nationalen Bewusstseins. Die Berufung auf eine lange gemeinsame Vergangenheit ist sogar eines der zentralen Elemente nationaler Ideologien. Das erklärt auch, dass die Arbeiten zur Ethnogenese in der tschuwaschischen Gesellschaft auf ein reges Echo stoßen. Dieses Interesse teilen die Tschuwaschen (und Tataren) mit anderen Völkern, die in Kontroversen über ihr jeweiliges historisches Erbe stehen. Man denke etwa an die Ungarn und Rumänen (in Siebenbürgen), die Armenier und Aserbaidschaner (in Bergkarabach) oder die Serben und Albaner (im Kosovo). Der bulgarische Abstammungsmythos der Tschuwaschen ist nicht einfach eine willkürliche Konstruktion, sondern es können keine Zweifel daran bestehen, dass die Wolgabulgaren und ihre Sprache eine nicht unwichtige Rolle im langen und komplizierten Prozess der Entstehung des tschuwaschischen Volkes spielten.

2. Kapitel:

Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung? Die Tschuwaschen kommen unter die Herrschaft Russlands

In der Mitte des 16. Jahrhunderts eroberte der Moskauer Staat das Khanat von Kazan’. Damit kamen neben den Wolga-Tataren (Kazan‘-Tataren), Tscheremissen (Mari), Mordwinen und Wotjaken (Udmurten) auch die Tschuwaschen unter die Herrschaft Russlands. Der Moskauer Staat war seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zu einer regionalen Großmacht geworden. Unter den Großfürsten Ivan III., Vasilij III. und dem minderjährigen Ivan IV. (dem späteren Schrecklichen) schritt die Staatsbildung voran. Gleichzeitig vervielfachte sich das Territorium des Moskauer Staates mit der Annexion weiter Gebiete im Westen und Norden, die vorwiegend von orthodoxen Ostslawen bewohnt waren. Der Moskauer Großfürst zeigte nun ein gesteigertes Selbstbewusstsein im Umgang mit ausländischen Mächten. Mit der Krönung des 17jährigen Ivans IV. (reg. 1533-1584) zum Zaren im Jahre 1547 erhob Moskau implizit Anspruch auf Gleichrangigkeit mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches in Wien und mit dem ehemaligen Kaiser des Oströmischen Reiches, das unter der Herrschaft der Osmanen stand. Als Zaren bezeichnete man in Russland nicht nur die Kaiser, sondern auch die Khane der Goldenen Horde, die die Rus’ zwei Jahrhunderte lang beherrscht hatten. Nachdem diese Herrschaft unter Ivan III. formell beendet worden war, ging der Moskauer Staat zur Gegenoffensive über. Die Zarenkrönung bedeutete ein Signal zum »Sammeln der Länder der Goldenen Horde«. Der erste Schritt war die Eroberung des »Zartums von Kazan’«, des Nachfolgereiches der Goldenen Horde (und des Reichs der Bulgaren) an der Mittleren Wolga. Mit der Unterwerfung des Khanats von Kazan’ und seiner polyethnischen und multireligiösen Bevölkerung ging die Expansion Moskaus erstmals über die von orthodoxen Ostslawen besiedelten Gebiete der alten Rus’ hinaus.39

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

0

400 km

Nach 1533 erworbenes Territorium

SCHWEDEN

Ob

Archangel’sk

rd Nö

Novgorod Wolga

Kiev

a

vin

l. D

LITAUEN

40

Nižnij Novgorod

Moskau Smolensk

Ufa

Kazan‘

Samara Voronež

K KH RIM AN AT

Belgorod Don

Saratov NOGAJ-HORDE

W

ol

ga

Astrachan‘

r

ee

sM

e ch

is sp

Ka

Schwarzes Meer

Karte 3:

Abb. Karte 3. Die Ostexpansion des MoskauerReiches Reiches imim 16. Jahrhundert. Zeichnung: Die 5Ostexpansion des Moskauer 16. Jahrhundert Silvia Stocker

Die ersten Erwähnungen des Namens Tschuwaschen

Die ersten Erwähnungen des Namens Tschuwaschen

Der österreichische Diplomat Sigismund von Herberstein schrieb in seinem berühmten, 1549 erstmals erschienenen Russlandbuch: „Der Khünig zu Casan mag in dreyssigthausendt man aufbringen, und sonderlichen zu fueß, darundter seind die Czeremissen und Zuwaschi [Czubaschi in der lateinischen Erstfassung] gewisse Schützen. Die ZUWASCHI [Großbuchstaben im Original] seind erfarne Schiffleut.«40

Herberstein hatte auf seinen beiden Russlandreisen in den Jahren 1517 und 1526 Informationen über den Moskauer Staat und seine Nachbarn gesammelt, die er nach mehr als zwei Jahrzehnten in lateinischer, acht Jahre später auch in deutscher Sprache veröffentlichte. In der zitierten Stelle beschrieb er das militärische Potenzial des Khanats von Kazan’ und hob die Tscheremissen und Tschuwaschen als sichere Schützen, die Tschuwaschen zusätzlich als erfahrene Wolgaschiffer hervor. Es handelt sich um die erste Erwähnung des Namens der Tschuwaschen in einer westlichen Quelle und eine der ersten Erwähnungen überhaupt. Auf der Karte, die seinem Werk beigelegt ist, sind aber nur die »Czeremissa Populi« (und zwar nur auf der linken Seite der Wolga) eingezeichnet. Auf der Karte des Engländers Anthony Jenkinson, der 1557 und 1571 mehrfach die Wolgaroute benutzte, werden die »Seremise Lowgovoi« (die Wiesen-Tscheremissen) auf der linken Wolgaseite und die »Seremise Gorni« (die Berg-Tscheremissen) am rechten Ufer unterschieden. 41 »Tscheremissen« war die damals übliche russische Bezeichnung nicht nur für die Mari (Tscheremissen), sondern auch für die Tschuwaschen. Auf Jenkinsons Karte findet sich auch schon die 1555 begründete Festung »Shaboghshar« (Čeboksary). (Abb. 6, S. 42). In russischen Quellen tauchte der Volksname Tschuwaschen ebenfalls erst im 16. Jahrhundert auf. In zwei Urkunden der Jahre 1510 und 1542 wurden Tschuwaschen im Gebiet Vjatka, die in Abhängigkeit von tatarischen Fürsten standen, erwähnt.42 Da in dieser Region im Norden, die damals schon zum Moskauer Staat gehörte, danach nie ethnische Tschuwaschen lebten, nehme ich an, dass das Ethno­ nym hier eine rechtlich-soziale Kategorie bezeichnete, dass es sich also nicht um Tschuwaschen, sondern um lastenpflichtige Tataren handelte. Eine russische Chronik, die in den Jahren 1533 bis 1544 niedergeschrieben wurde, berichtete über eine Schlacht zwischen Truppen des Moskauer Großfürsten und des Khans von Kazan’ im Jahre 1524: Mit Gottes Hilfe seien viele »Fürsten, Murzen, Tataren, Tscheremissen und Tschuwaschen (čiuvaša)« geschlagen worden.43 Wie bei Herberstein ist hier von Tschuwaschen die Rede, die unter der

41

42

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Abb. 6 Karte des Moskauer Staates aus dem Jahr 1593 (nach Anthony Jenkinson). Ausschnitt. In der Bildmitte Shaboghshar (Čeboksary)

Herrschaft des Khans von Kazan’ standen. Tschuwaschen auf Moskauer Seite wurden erstmals im Jahre 1549 in einem Brief genannt, den der damals mit Moskau verbündete Herrscher der Nogaj-Tataren an Ivan IV. schickte. Er forderte ihn auf, mit einem Heer aus loyalen Tataren, Tscheremissen, Tschuwaschen und Mordwinen gegen Kazan’ zu ziehen.44

Die ersten Erwähnungen des Namens Tschuwaschen

Schon unter dem Jahr 1534 erwähnte eine russische Chronik unter den Moskauer Hilfstruppen, die gegen den Großfürsten von Litauen zogen, neben Tataren, Mordwinen und Tscheremissen auch Tschuwaschen. Der Verfasser der Chronik, ein orthodoxer Mönch, hob hervor, dass »Ungläubige« auf Moskauer Seite gegen die orthodoxen Fürsten Litauens kämpften und beklagte die Auseinandersetzung zwischen Glaubensbrüdern: »Oh Kummer, Kummer! Oh weh! Oh weh!«45 Der Herausgeber der Chronik datierte ihre Niederschrift erst auf die frühen 1550er Jahre, doch könnten ihr ältere Vorlagen zugrunde liegen. Sicher auf die 1550er Jahre zu datieren ist die Erwähnung von Tschuwaschen in einer Chronikmitteilung unter dem Jahr 1551. Sie figurieren unter den auf der rechten Seite der Wolga (der Bergseite) lebenden Gruppen, die dem Moskauer Zaren einen Treueeid ablegten. In derselben Erzählung wurden auch Tschuwaschen erwähnt, die auf dem linken Ufer der Wolga, das damals noch unter der Herrschaft des Khans von Kazan stand, lebten.46 Das Ethnonym »Tschuwaschen« ist also erst spät überliefert. Die Namen der Mordwinen und Tscheremissen (Mari), die ebenfalls (mindestens zum Teil) Untertanen des Khans von Kazan’ gewesen waren und in der Mitte des 16. Jahrhunderts unter Moskauer Herrschaft kamen, sind dagegen in ostslawischen Quellen schon in der ältesten, im 12. Jahrhundert kompilierten Chronik präsent. Dieses späte Auftauchen des Ethnonyms bedeutet nicht, dass die Tschuwaschen als ethnische Gruppe erst seit diesem Zeitpunkt wahrgenommen wurden, sondern erklärt sich dadurch, dass sie in den russischen Quellen und ihnen folgend in ausländischen Berichten und auf Karten wie die Herbersteins und Jenkinsons in der Regel als Tscheremissen bezeichnet wurden. Dieser Name stand nicht nur, wie später, für die heute unter dem Namen Mari bekannte finno-ugrischsprachige Gruppe, sondern bis ins 18. Jahrhundert oft pauschal für die nicht-tatarische (nicht-muslimische) Bevölkerung des (ehemaligen) Khanats von Kazan’, also die späteren Mari (Tscheremissen), Tschuwaschen und Udmurten (Wotjaken). Dies schafft Verwirrung, da das Ethnonym gleichzeitig und in zunehmendem Maß als russische Fremdbezeichnung für die Mari diente.47 Oft ist es nicht möglich zu entscheiden, ob der Begriff Tscheremissen in der weiteren oder engeren Bedeutung verwendet wird. Vorfahren der späteren Tschuwaschen gehörten also zu den lange als Tscheremissen bezeichneten Gruppen. Nicht selten verwendeten die russischen und ausländischen Quellen zur Präzisierung eine geographische Bezeichnung und unterschieden zwischen den »Berg-Tscheremissen« (gornye čeremisa) bzw. »Bergleuten« (gornye ljudi) und den »Wiesen-Tscheremissen« (lugovaja čeremisa) bzw. »Wiesenleuten« (lugovye ljudi). Damit wurden die Gruppen, die auf dem rechten, steilen

43

44

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Ufer der Wolga siedelten (heute Tschuwaschen und Berg-Mari), von denen, die am flachen, linken Ufer wohnten (Wiesen-Mari) unterschieden. Eine nicht völlig gesicherte zeitgenössische Quelle, die wahrscheinlich vom Fürsten Andrej Kurbskij in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verfasste Geschichte Ivans IV., bestätigte dies: »Die Berg-Tscheremissen, die in ihrer Sprache Tschuwaschen genannt werden, sind ein eigenes Volk«.48 Der Anschluss an Russland in der Mitte des 16. Jahrhunderts

Im Dezember 1546 schickten, nach dem Zeugnis der Chroniken und des Dienstlistenbuchs, die Berg-Tscheremissen (in ihrer Mehrheit Tschuwaschen) zwei Gesandte nach Moskau und forderten den jungen Ivan IV. auf, ein Heer gegen den Khan von Kazan’ zu schicken. Sie erklärten, dem Herrscher dienen und mit dessen Heerführern gegen Kazan’ ziehen zu wollen. Diese Aktion blieb folgenlos. Fünf Jahre später berichtete der Chronist, dass erneut Vertreter der »Bergleute« in Moskau erschienen und erklärten, dem Zaren dienen zu wollen. Dieser nahm ihre Unterwerfung an und stellte ihnen eine Gnaden-Urkunde aus. Damit waren die Tschuwaschen zu Untertanen Russlands geworden. In diesen beiden Gesandtschaften lassen die Chroniken Gruppen von Tschuwaschen zum ersten Mal als historische Akteure auftreten. Die Chroniken vertraten den Standpunkt der Moskauer Regierung und Kirche und stellten die Ereignisse aus deren Perspektive dar. Die wichtigste Quelle für die frühen Beziehungen der Tschuwaschen zu Russland ist der Letopisec načala carstva (Chronist des Anfangs des Zarentums), der in offiziellem Auftrag im Jahre 1552 zur Feier der Eroberung Kazan’s verfasst und in spätere Chroniken aufgenommen wurde.49 Weitere Quellen, die über die Eroberung des Khanats von Kazan‘ berichten, sind die Dienst- oder Ranglistenbücher (razrjadnye knigi), die knappe Informationen über Moskauer Feldzüge enthalten, Kurbskijs »Geschichte des Moskauer Großfürsten« und eine halb-literarische »Kazaner Geschichte«.50 Die entscheidenden Veränderungen in den Beziehungen Moskaus zu den Tschuwaschen vollzogen sich im Jahr 1551, als am rechten Wolgaufer unweit von Kazan‘ die russische Festung Svijažsk errichtet wurde.51 Dem Zeugnis des Chronisten zufolge kamen nun Vertreter der rechts der Wolga siedelnden »Bergleute« (in der Mehrheit Tschuwaschen) nach Svijažsk, und baten darum, sie nicht weiter zu bekämpfen. Im Juni dieses Jahres erschien in Moskau, wie erwähnt, eine Abordnung der ganzen »Bergseite«, die unter der Führung zweier Tataren stand und den Zaren bat, seinen Zorn ihnen gegenüber abzulegen, und erklärte, ihm dienen zu wollen. Dies geschah im Namen »der Fürsten, Murzen, Hundertschafts- und Zeh-

Der Anschluss an Russland in der Mitte des 16. Jahrhunderts

nerschaftsführer, der Tschuwaschen, Tscheremissen und Kosaken«. 52 Diese Quellenpassage, die soziale und ethnische Begriffe vermischt, macht deutlich, dass die »Bergleute« sich nicht nur aus Tschuwaschen und Mari-Tscheremissen zusammensetzten, sondern auch aus Adligen und einfachen Dienstleuten aus den Reihen der Tataren. Der Zar nahm die Unterwerfung »der Berg­ leute« an, versprach, seinen Zorn abzulegen, und gebot ihnen, nicht zum Khan von Kazan’ abzufallen. Er stellte ihnen eine Gnadenurkunde mit goldenem Siegel, das wichtigen staatlichen Dokumenten vorbehalten war, aus und beschenkte sie reich mit Geld und Pelzen. Er erließ ihnen den Jasak, die Kopfsteuer, für drei Jahre und erklärte, danach von ihnen AbgaAbb. 7 Gesandtschaft der Tschuwaschen und ben in der Höhe, wie sie früher dem Tscheremissen bei Ivan IV. im Jahr 1551 Khan von Kazan bezahlt worden (Miniatur in einer russischen Chronik) waren, zu erheben. Die »Bergleute« sollten nicht weiter bekämpft werden, ihr Gebiet wurde in den Moskauer Staat eingegliedert und administrativ der neu erbauten russischen Festung Svijažsk zugeordnet. Um ihre Loyalität zu prüfen, wurde eine Abteilung der unter Führung tatarischer Adliger stehenden »Bergleute« über die Wolga geschickt, um gegen Kazan’ zu Felde zu ziehen. Als die dortigen Tataren sie angriffen, »zitterten die Bergleute, die Tschuwaschen und Tscheremissen und ergriffen die Flucht«, hundert Mann wurden getötet und fünfzig gefangen genommen. Die russischen Heerführer erklärten sich zufrieden und anerkannten, »dass die Bergleute dem Herrscher aufrichtig dienten«. Den ganzen Sommer über kamen nun Tataren, Tschuwaschen und Mari-Tscheremissen in Gruppen von 50 bis 100 Mann nach Moskau und wurden dort reich beschenkt. Die Bedeutung dieser Vorgänge erhellt daraus, dass der Chronist anmerkte, dass es solch reiche Geschenke zuvor nicht gegeben habe.53

45

46

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Im noch unabhängigen Khanat von Kazan‘, wo zu dieser Zeit ein Khan aus der Dynastie der Krimtataren herrschte, kam es nun zu Unruhen. Auf dem linken Wolgaufer lebende Tschuwaschen griffen Kazan‘ an und riefen die Bevölkerung ohne Erfolg auf, sich dem Moskauer Zaren zu ergeben. Nachdem die Krimtataren Kazan‘ geräumt hatten, setzte Ivan IV. in Kazan‘ einen Moskau treuen Tataren als Khan ein. Es kam jedoch zu neuen Unruhen, und in Kazan‘ kam wieder ein Moskau feindlich gesinnter Tatare auf den Thron. Darauf fielen viele Tataren, Tschuwaschen und andere »Bergleute«, die ein Jahr zuvor dem Zaren Treue geschworen hatten, wieder von Moskau ab. Dieses reagierte unverzüglich, und im Sommer 1552 zog ein großes Heer unter Führung Ivans IV. durch das Siedlungsgebiet der Tschuwaschen gegen Kazan’. Zunächst wurden die abtrünnigen »Bergleute« erneut unterworfen, und diese baten den Zaren um Nachsicht wegen ihres Abfalls, den sie nur aus Angst vor den Kazanern vollzogen hätten. Kurbskij, der am Feldzug teilnahm, berichtete davon, dass die Moskauer Truppen schon am Grenzfluss Sura von größeren Gruppen von Tschuwaschen freundlich begrüßt worden seien. In der Chronik heißt es, dass die zuvor feindlichen Mordwinen und Tscheremissen die Truppen mit Brot, Honig und Rindfleisch versorgt hätten. Im Heer, das sich im August in Svijažsk versammelte, befanden sich neben Tataren auch zahlreiche Tschuwaschen. Am 2. Oktober 1552 eroberten die vom Zaren angeführten Truppen Kazan’. Das unterworfene Khanat von Kazan’ wurde in das Moskauer Reich eingegliedert, und damit kamen fast alle Tschuwaschen unter die Herrschaft Russlands. Mit der Eroberung des Khanats und der Unterwerfung seiner muslimischen und animistischen Bevölkerung wurde der Moskauer Staat zum Imperium. Zunächst musste allerdings die Herrschaft über das Khanat von Kazan’ gesichert werden, denn Teile der Bevölkerung leisteten weiter bewaffneten Widerstand. Dabei spielten die auf der linken Seite der Wolga siedelnden Tataren und »Wiesen-Tscheremissen« (lugovye Mari) die führende Rolle. Die Tschuwaschen und die anderen Bewohner der »Bergseite«, die schon früher unterworfen worden waren und militärisch leichter kontrolliert werden konnten, wurden dagegen unter den Aufständischen viel seltener genannt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich alle mit der russischen Herrschaft abgefunden hätten. Schon im Dezember 1552 überfielen nach dem Zeugnis einer Chronik »Wiesenleute« und »Bergleute« (in diesem Fall eindeutig Tschuwaschen) Moskauer Kuriere, Kaufleute und Dienstleute mit Vorräten auf der Wolga. Die Tschuwaschen wurden von einem Moskauer Heerführer gefangen, und 74 von ihnen wurden gehängt. Der bewaffnete Widerstand der Bevölkerung am linken Ufer der Wolga konnte erst nach fünf Jahren niedergeschlagen werden. Er brach jedoch in

Der Anschluss an Russland in der Mitte des 16. Jahrhunderts

den Jahren 1571–1573 und 1581–1584, als der Moskauer Staat Krisen erlebte, erneut aus. Es waren wieder die linksufrigen Mari und Tataren, die sich bewaffnet erhoben und weite Teile des ehemaligen Khanats unter ihre Kontrolle brachten. Ihnen schlossen sich gelegentlich auch »Berg-Tscheremissen« (Tschuwaschen und Mari) an. Diese verübten Einfälle in mehrheitlich von Russen bewohnte Gebiete jenseits der Sura und verbrannten russische Bauernhöfe und Klöster. Erst als der Livländische Krieg im Jahre 1582 beendet war, konnte »das Kazaner Land« in nicht weniger als sieben Feldzügen endgültig unterworfen werden. Die Nachrichten der Chroniken über die Eroberung des Khanats von Kazan’ haben den Mythos von den friedlichen und russlandfreundlichen Tschuwaschen begründet. Tatsächlich widersetzten sich die Tschuwaschen der Eroberung und Eingliederung in den Moskauer Staat viel weniger heftig als die (auf dem linken Wolga-Ufer lebenden) Tataren und Mari. Andererseits machen die erwähnten Berichte der Chroniken misstrauisch, denn generell gehören die Einladung zur Machtübernahme und die freiwillige Unterwerfung zum Repertoire kolonialer Rechtfertigungsrhetorik. Auch in Volksliedern und historischen Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die Dimitriev zusammengestellt hat, ist vom Kampf der Tschuwaschen gegen die Kazan’-Tataren und von mythischen Helden, die auf Seite der Russen kämpften, die Rede.54 Von dieser dominanten Erzählung abweichende Traditionen, die es höchst wahrscheinlich auch gegeben hat, fehlten weitgehend. Generell ist Vorsicht gegenüber folkloristischen Quellen geboten, die zu einer Zeit aufgezeichnet wurden, als im Russländischen Imperium und in der Sowjetunion gute Beziehungen zu Russland verordnet wurden. Im Narrativ der tschuwaschischen Historiographie, das sich in der Sowjetzeit herausbildete, hatte die Unterstellung der Tschuwaschen unter die Herrschaft Russlands zentrale Bedeutung. Wie bei anderen Nationalitäten gehörte »die freiwillige Vereinigung mit Russland« und besonders mit dem russischen Volk zu den Kernelementen des sowjetischen Dogmas der »Völkerfreundschaft«, einer wichtigen ideologischen Klammer des Vielvölkerstaates. Russland befreite die Tschuwaschen vom »tatarischen Joch«, unter dem sie wie die Russen gelitten hatten, und öffnete ihnen den Weg zum Fortschritt bis hin zur Oktoberrevolution und zur Sowjetunion. Zwar wurden auch negative Folgen der russischen »Feudalherrschaft« nicht verschwiegen, doch wurde die russische Option, wie bei anderen sowjetischen Völkern, als »kleineres Übel« betrachtet. So wurde im Jahre 1976 der 425. Jahrestag der freiwilligen Vereinigung mit Russland offiziell gefeiert.55 25 Jahre später knüpfte das postsowjetische Russland an diese Tradition an. Am 31. Mai 2001 erließ der russische Präsident Vladimir Putin einen Ukaz »Über die Feier des 450jährigen Jubiläums des Eintretens Tschuwaschiens in den Bestand Russlands«.

47

48

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Eine konträre Interpretation der Ereignisse hatten tschuwaschische Historiker in den 1920er Jahren gegeben, indem sie vom heldenhaften Widerstand der Tschuwaschen gegen die russischen Eroberer berichteten.56 Nach dem Ende der Sowjet­ union knüpften einzelne Historiker wie A.V. Izorkin daran an und unterstrichen den gewaltsamen Charakter der Unterwerfung der Tschuwaschen und die im Vergleich mit dem Khanat von Kazan’ repressivere Ordnung des Moskauer Staates.57 Eine solche radikale Umdeutung der nationalen Geschichte setzte sich jedoch, anders als etwa in der Ukraine oder in Tatarstan, nicht durch. Vasilij Dimitriev, der das tschuwaschische historische Narrativ seit den 1960er Jahren nachhaltig geprägt hat, setzte sich wiederholt mit dem Thema der Einverleibung der Tschuwaschen durch Russland auseinander. In Aufsätzen und endgültig in einer aus Anlass des genannten Jubiläums im Jahre 2001 publizierten Monographie ersetzte er das sowjetische Dogma der »freiwilligen Vereinigung« durch den Begriff des »friedlichen Eintretens«, relativierte also die Eigeninitiative der Tschuwaschen. Er hielt aber daran fest, dass die Tschuwaschen, denen in der Goldenen Horde und im Khanat von Kazan’ der Untergang gedroht habe und die von den Tataren unterdrückt und ausgebeutet worden seien, nur im Rahmen Russlands ihre ethnische Identität erhalten und sich kulturell und politisch entfalten konnten. Für ihn und die meisten anderen tschuwaschischen Historiker stand außer Frage, dass die Angliederung des Khanats von Kazan’ an Russland gerechtfertigt und progressiv war.58 Lebens- und Wirtschaftsweisen der Tschuwaschen im 16. und 17. Jahrhundert

Die (fast ausschließlich russischen) Quellen berichteten kaum darüber, wie die Tschuwaschen im Khanat von Kazan‘ und während der ersten anderthalb Jahrhunderte unter der Herrschaft Russlands lebten, welchen Beschäftigungen sie nachgingen, welche Formen ihre Familien- und Dorfgemeinschaften hatten und welchem Glauben sie anhingen. Da sich die vormodernen Lebens- und Wirtschaftsweisen nur langsam veränderten, kann man aber die Grundmuster, über die uns spätere Quellen berichten, mit Vorsicht auch auf die frühere Zeit übertragen.59 Fast alle Tschuwaschen waren Bauern. Sie bauten als Sommergetreide in erster Linie Roggen an, der Grundnahrungsmittel war und in der Form von Brot, Grütze und Brei genossen wurde. Die wichtigste Winterfrucht im Rahmen der Dreifelderwirtschaft, die sich seit dem 16. Jahrhundert durchsetzte, war Hafer; Hafergrütze gehörte ebenfalls zu den Grundnahrungsmitteln. Weniger verbreitet war der Anbau von Gerste, Buchweizen, Dinkel und Linsen. Breie, Grütze und Pfann-

Lebens- und Wirtschaftsweisen der Tschuwaschen im 16. und 17. Jahrhundert

kuchen aus verschiedenen Getreidearten waren auch unverzichtbare Bestandteile religiöser Riten. Als Getränk war das aus Gerste oder Roggenmalz und Hopfen hergestellte Bier weit verbreitet und spielte in religiösen Zeremonien ebenfalls eine bedeutende Rolle. Von den technischen Kulturen war Flachs, der zu Leinen, dem wichtigsten Grundstoff für die Bekleidung, weiterverarbeitet wurde, am wichtigsten. In den Gärten wurden Kohl, Gurken, Zwiebel und Rüben gepflanzt. Der Boden wurde mit dem Hakenpflug bearbeitet, im Süden kamen auch hölzerne Räderpflüge zum Einsatz. Das Getreide wurde mit der Sichel, das Gras mit Sensen gemäht. Neben dem Ackerbau war die Viehwirtschaft verbreitet. Jeder Bauernhof hatte in der Regel ein Pferd, das als Zugtier diente. Dazu kamen ein bis zwei Kühe als Milchlieferanten, einige Schafe oder Ziegen sowie Geflügel. Schweine fehlten, was wohl auf islamischen Einfluss zurückgeführt werden kann. Das Großvieh weidete meist im Wald, so dass es als Düngerproduzent ausfiel. Man aß sehr selten Fleisch, eine Gelegenheit boten religiöse Rituale, bei denen Tiere (Geflügel, Hammel, Rinder und Pferde) geopfert und anschließend aufgegessen wurden. Die Grundmuster der Landwirtschaft bei den Tschuwaschen stimmten in ihren wesentlichen Zügen mit den in derselben Klimazone lebenden Russen und finno-ugrischen Ethnien überein. Es ist anzunehmen, dass die Tschuwaschen zahlreiche Elemente der Landwirtschaft von den in der Wolgaregion schon vor der bulgarischen Landnahme lebenden Mari-Tscheremissen übernahmen. Die Arbeit in der Landwirtschaft mit ihren Anforderungen im jahreszeitlichen Wechsel bestimmte das Leben der tschuwaschischen Bauern, ebenso wie zahlreiche ihrer Bräuche, Traditionen und Kulthandlungen. Verbreitet waren Waldgewerbe. Holz diente zum Heizen des Ofens und war der Grundstoff für Bauten, Werkzeuge, Essgeschirr, Körbe und Transportmittel. Aus Lindenbast gefertigte Schuhe waren die verbreitete Fußbekleidung in der wärmeren Jahreszeit. Von großer Bedeutung war die Waldbienenzucht, die Honig als Süßstoff lieferte. Die Tschuwaschen pflegten sorgsam ihre meist in hohlen Bäumen befindlichen Bienenstöcke, mit denen sich ebenfalls religiöse Zeremonien verbanden. Die Tiere des Waldes, der Wiesen und der Bäche (Elche, Wildschweine, Wölfe, Bären, Hasen, Marder, Eichhörnchen, Füchse, Biber, Nerze) wurden gejagt, wobei Fallenstellen besonders verbreitet war. Herberstein hob explizit die aus Tschuwaschien stammenden Eichhörnchenfelle als »die edelsten« hervor.60 In den Flüssen Wolga, Sura, Svijaga, Civil’ und kleineren Bächen und Teichen wurden Fische gefangen. Der Fang von Fischen und Bibern ging zurück, als in Russland Klöster und Staat die Ausbeutung der Gewässer immer stärker monopolisierten.

49

50

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Die Tschuwaschen blieben während Jahrhunderten ganz überwiegend auf die Landwirtschaft ausgerichtet. Mit Ausnahme der auf den Eigenbedarf ausgerichteten Tätigkeiten wie Holzbearbeitung, Spinnen, Weben, Sticken und Flechten waren Handwerk und Gewerbe schwach entwickelt. Noch im 19. Jahrhundert war man auf russische und tatarische Spezialisten angewiesen. Dass wir seit dem 17. Jahrhundert kaum tschuwaschische Schmiede antreffen, lag allerdings auch daran, dass die Moskauer Regierung nach wiederholten Aufständen den Tschuwaschen und den anderen Nichtrussen der Region die Metallverarbeitung verbot, um sie daran zu hindern, Waffen zu produzieren. Das Zeugnis Herbersteins von den Tschuwaschen als Wolgaschiffern steht isoliert. Ganz im Gegenteil hielten sich die tschuwaschischen Ackerbauern vom Fluss fern. »Mütterchen Wolga« war ein russischer, kein tschuwaschischer Fluss. Die typische Siedlungsform war im weniger fruchtbaren Norden das Haufendorf, das aus mehreren Nestern bestand. Diese Nester trugen den Namen ihres Begründers und waren ursprünglich von Verwandten bewohnt. Die Dörfer waren klein und bestanden aus bis zu 12 Höfen. Im fruchtbareren Süden waren die Siedlungen etwas größer, und hier setzte sich allmählich das Liniendorf durch, dessen Höfe sich meist entlang eines Baches oder einer Straße aufreihten. Die Höfe bestanden aus einem Bauernhaus in der Mitte, eingerahmt von Stall, Scheune und Keller. Die Bauernhäuser waren aus Holz, und in die Wände waren Holzpritschen eingebaut. Wie in allen Gebieten mit kalten Wintern war der Ofen zentraler Ort in der Bauernstube, und mit ihm verbanden sich eigene Rituale und Gottheiten. Bei den Tschuwaschen waren sogenannte Rauchhütten ohne Kamin weit verbreitet. Vor allem im Winter, wenn Türe oder Fenster wegen der Kälte nur kurz geöffnet werden konnten, muss der Aufenthalt in den verrauchten Häusern unangenehm gewesen sein. Andererseits vertrieb der Rauch Ungeziefer. Die Rauchhütten leisteten Augenkrankheiten Vorschub, vor allem dem Trachom. Dass die Tschuwaschen auch später von dieser Krankheit besonders betroffen waren, findet seine Bestätigung in der Volkszählung von 1897, als die Tschuwaschen unter den »Erblindeten« des Russländischen Reichs weit oben standen. Wurden bei den Russen 15 Erblindete pro 10.000 gezählt und bei den Tataren 24, waren es bei den Tschuwaschen 93 (bei den Frauen, die mehr Zeit in den Hütten verbrachten als die Männer, sogar 114). Der Anteil der Erblindeten war bei den Tschuwaschen noch höher als bei den benachbarten Mordwinen (29) und Tscheremissen/Mari (61); nur die Jakuten, Ostjaken/Mansi und Tungusen, die im besonders kalten Nordsibirien lebten, wiesen einen noch höheren Prozentsatz auf.61 Dies unterstreicht den konservativen Charakter des tschuwaschischen Dorfes, das nur langsam von den russischen und tatarischen Bauern den Kamin übernahm. Konservativ war auch die Kleidung der tschuwaschischen Bäuerinnen und Bauern. Nach Meinung tschuwaschischer Ethnographinnen vermischten sich bulgari-

Lebens- und Wirtschaftsweisen der Tschuwaschen im 16. und 17. Jahrhundert

sche Traditionen mit denen der finno-ugrischen Gruppen. Grundlage der Festkleidung waren lange weiße, rot bestickte und gegürtete Hemdröcke aus Leinen. Die Frauentrachten zeichneten sich durch eine reiche Ornamentik der Stickereien aus, die auch eine rituelle Bedeutung hatte. Besonders prächtig geschmückt waren die Brautkleider mit ihrem Kopfschmuck (surban). Die Familie, die im Hof zusammenlebte, und die Dorfgemeinschaft bestimmten das Zusammenleben der Bauern.62 Neben der Reproduktion und sozialen Funktionen hatten wirtschaftliche Faktoren Priorität. Die Familie (der Hof ) war eine Wirtschaftsgemeinschaft, und die Zahl der Arbeitskräfte war der wichtigste Faktor für Wohlstand. Diese stellte ausschließlich die Familie, da es Dienstboten wie bei den Russen nicht gab. Die Wahl der Ehepartner war durch strenge Bestimmungen geregelt, die Heiraten auch mit entfernten Verwandten strikt verboten und Heiraten mit Partnern aus dem eigenen Dorf einschränkten. Das Heiratsalter war niedrig, wobei die Männer oft jünger waren als ihre Frauen, die ihrer eigenen Familie möglichst lange als Arbeitskraft erhalten bleiben sollten, während eine frühe Heirat der Söhne der Familie mit der erwachsenen Schwiegertochter eine zusätzliche Arbeitskraft bescherte. Die Eltern des Bräutigams hatten an die Eltern der Braut den Kalym zu bezahlen, ein Begriff, der in den turko-tatarischen Sprachen verbreitet war. Neben den Kalym trat die Mitgift der Braut, meist Kleidungsstücke, die sie in die neue Familie mitbrachte und über die sie (mindestens theoretisch) weiter verfügen konnte. Weit verbreitet war der Brautraub, der allerdings oft nur ein mit Einwilligung der Braut durchgeführtes Ritual war. Die Familie war patriarchalisch organisiert. Die Jüngeren waren den Älteren, die Frauen den Männern untergeordnet. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie bestimmten deren Identifikation. Es war üblich, nicht die Vornamen, sondern den jeweiligen Verwandtschaftsgrad zu verwenden (Frau des …, ältester Sohn des …). Das Familienoberhaupt hatte die absolute Autorität und traf alle wichtigen Entscheidungen, die die Familie und die Wirtschaft betrafen. In der Regel erbte der jüngste Sohn den Hof, doch begründeten auch die älteren Söhne einen eigenen Hausstand auf dem Grund und Boden der Familie. Da das Ackerland infolge der relativ dichten Besiedlung knapp wurde und die Tschuwaschen geringe Bereitschaft zur Intensivierung des Ackerbaus zeigten, mussten sich immer mehr Söhne neuen Grund und Boden suchen, indem sie Wald rodeten oder abwanderten. Oft begründeten sie Tochtersiedlungen, die die Verbindung zu den Mutterdörfern lange aufrechterhielten. Mehrere Dörfer bildeten zusammen die Dorfgemeinde, die bei den Tschuwaschen (und den Mari) mit bis zu zehn Dörfern im Durchschnitt größer war als bei den Russen und Tataren. Die Gemeinde übte eine weitgehende Selbstverwaltung

51

52

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

aus, und die Gemeindeversammlung war zuständig für allgemeine wirtschaftliche Belange, für die Schlichtung von Konflikten und die Durchführung religiöser Zeremonien. Die periodische Umverteilung des Grund und Bodens verbreitete sich erst seit dem 18. Jahrhundert in Zusammenhang mit der Einführung der Kopfsteuer. An der Spitze der Gemeinde standen Älteste. Die Besitzdifferenzierung im tschuwaschischen Dorf war aber relativ gering. Wir haben kaum konkrete Informationen über die soziale Gliederung der Tschuwaschen. Im Khanat von Kazan’ stellten die Tataren die grundbesitzende Oberschicht und die Verwaltungsleute. Allerdings besaßen die Tataren, wie alle Muslime, keine leibeigenen Bauern, so dass es unter den Tschuwaschen keine Leibeigenen gab. Daran änderte die russische Regierung nichts. Zwar verloren die Tataren nach der Eroberung des Khanats von Kazan’ ihre dominierende Stellung, doch konnte sich in den ersten 150 Jahren russischer Herrschaft eine schmale Schicht von tatarischen Grundbesitzern halten, die teilweise russische Leibeigene besaßen. Einen tschuwaschischen grundbesitzenden Adel gab es dagegen nicht. Die in den Quellen erwähnten Hundertschaftsführer, Zehnerschaftsführer und tarchany waren Dienstleute mit militärischen und administrativen Aufgaben, bezeichneten aber in der Folge oft einfach eine herausgehobene wirtschaftliche und soziale Stellung im Dorf. Die tschuwaschischen Bauern hatten dem Khan von Kazan‘ und später dem Moskauer Zaren eine Kopfsteuer, den Jasak, zu entrichten. Dazu kamen verschiedene Dienstleistungen, unter anderem in militärischen Aufgeboten des Khanats und später des Moskauer Staates. Die Religion der Tschuwaschen

Während die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bei den Tschuwaschen viele Übereinstimmungen mit der Situation der russischen Bauern der Frühen Neuzeit aufwiesen, unterschied sich ihre Religion fundamental vom orthodoxen Christentum.63 Neben ihrer Sprache war es der Glaube, der die Tschuwaschen als Kollektiv gegen andere Ethnien und generell gegen die Außenwelt abgrenzte und mit Bräuchen, Zeremonien, Riten und Symbolen das Zusammenleben der Menschen strukturierte. Noch im 19. Jahrhundert bezeichneten nichtgetaufte Tschuwaschen nur sich selbst als »Tschuwaschen« oder als »echte Tschuwaschen«, während sie die Mehrheit der zum »russischen Glauben« übergetretenen Tschuwaschen als »Getaufte« ausgrenzten. Auf der anderen Seite wies die Religion der Tschuwaschen zahlreiche Übereinstimmungen mit den Glaubensvorstellungen der finnischsprachigen Ethnien der Mittleren Wolga auf, vor allem mit den Mari/Tscheremissen. Tschuwaschen, Mari und Udmurten hatten außerdem vor und nach der

Die Religion der Tschuwaschen

Eroberung des Khanats von Kazan‘ denselben sozialen Status von bäuerlichen Jasakleuten. Deshalb bestanden zwischen den Tschuwaschen und den wolgafinnischsprachigen Gruppen weniger scharfe Grenzen als zu den andersgläubigen und sozial stärker differenzierten Tataren und Russen. Neben den Gemeinsamkeiten mit den Mari und Udmurten werden in wissenschaftlichen Studien zur traditionellen Religion der Tschuwaschen das Erbe der vorislamischen Wolgabulgaren oder noch ältere Prägungen, etwa durch den iranischen Zoroastrismus, genannt. Besser gesichert sind Einflüsse des Islams und (seit dem 16. Jahrhundert) des orthodoxen Christentums. Die Forschung ist sich einig, dass sich die Religion der Tschuwaschen ständig veränderte und immer wieder Elemente anderer Religionen aufnahm, doch ist die zeitliche Fixierung solcher Einflüsse nur schwer möglich. So können islamische Elemente schon im 10. bis 13. Jahrhundert, aber auch erst im 16. und 17. Jahrhundert oder noch später aufgenommen worden sein. Da fast alle Quellen zum Glauben der Tschuwaschen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert stammen, ist es schwierig, ihre traditionale vorchristliche Religion zu rekonstruieren. Als Grundlage dafür dienen einzelne Berichte über die noch ungetauften Tschuwaschen aus dem 18. Jahrhundert, Aufzeichnungen über die Glaubensvorstellungen derjenigen Tschuwaschen, die auch nach dem Massenübertritt zur Orthodoxie im 18. Jahrhundert an ihrem »heidnischen« Glauben festhielten, und Berichte über vorchristliche Elemente im Glauben der getauften, nominell orthodoxen Tschuwaschen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es noch zwischen 10.000 und 20.000 ungetaufte Tschuwaschen, heute sollen es nur noch 5.000 sein, was etwa 0,4 Prozent aller Tschuwaschen ausmacht. Natürlich kann man die im 18. bis 21. Jahrhundert gewonnenen Informationen über den »tschuwaschischen Glauben« nicht einfach auf die Zeit vor der Christianisierung oder gar in die bulgarische Epoche zurückprojizieren. So sind manche Besonderheiten der tschuwaschischen Religion als Reaktionen auf die russische Herrschaft und die Orthodoxie zu verstehen.64 Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen versuche ich, gestützt auf die Forschungsarbeiten des tschuwaschischen Religionswissenschaftlers Anton Salmin und tschuwaschischer Ethnologinnen, einen knappen Überblick über die wichtigsten Elemente des Glaubens der Tschuwaschen zu geben. Die Welt der tschuwaschischen Götter, Gottheiten und Geister ist kompliziert und mit unterschiedlichen Funktionen verknüpft. Dennoch weist sie eine klare Spitze auf: Tură (von tschuwaschisch tu, »schöpfen«), der Schöpfer und Lenker der Welt, der Gott des Guten und des Lichts, der Himmel in Menschengestalt. Ob die Etymologie von Tură mit dem germanischen Tor oder dem iranischen Tur

53

54

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

in Verbindung gesetzt werden kann, ist umstritten. Tură bewegt sich auf einem Wagen über den Himmel und schleudert Blitz und Donner auf die Erde. Auf der Erde zeigt er sich als grauhaariger, weißgekleideter, an einem Stock gehender alter Mann. An ihn richten sich Gebete der Dorfgemeinschaften, Familien und Individuen, ihm werden Opfer dargebracht. Er besitzt eine Familie, doch Tură delegiert die meisten Aufgaben an andere Götter des Himmels, die zwischen ihm und der Erde vermitteln. Am nächsten steht ihm der Götterbote Pűlӗch, der in seinem Auftrag die Namen der Neugeborenen aufschreibt und ihr Schicksal bestimmt. Ähnliche Vermittlungsfunktionen zwischen Himmel und Erde übt Kepe aus, eine weibliche Gottheit, die gelegentlich als Gattin von Tură erscheint. Ein anderer Bote, Pichampar (»weißes Fohlen«, aus dem Persischen), bereist die Erde und beschützt das Vieh. Im tschuwaschischen Pantheon gibt es außerdem die Götter der Sonne, des Mondes, der Sterne, der Winde, des Feuers und des Regenbogens, die unterschiedliche Aufgaben haben und denen jeweils eigene Rituale gelten. Eine Sonderstellung hat die »Mutter Erde«, deren Geburtstag in einem eigenen Fest begangen wird. Eine besonders wichtige Gottheit ist Kiremet (tschuwaschisch, russisch Kiremet’, auch Keremet), der nach Meinung Salmins in seiner Bedeutung nur Tură nachsteht. Gemäß einer Überlieferung verbannte Tură Kiremet aus dem Himmel, so dass er aus einer himmlischen zu einer irdischen Gottheit wurde. In einer anderen Legende war er der älteste Sohn von Tură, der in einem von Schimmeln gezogenen Wagen über die Erde fuhr, um Fruchtbarkeit zu bringen. Vom Satan angestiftete Menschen töteten und verbrannten ihn, und seine Asche wurde vom Wind zerstreut. Wo sie auf die Erde fiel, wuchsen Bäume, und diese Stellen wurden zu Kultstätten, die ebenfalls Kiremet genannt werden. Die Kiremet haben eigene Familien und Dienstboten. Sie leben an unterschiedlichen Orten, bevorzugt auf Hügeln mit Bäumen. Auf diesen Kiremeti oder Kiremetišča genannten Kult- und Opferplätzen werden sie angebetet, wird ihrer gedacht und werden ihnen Opfer dargebracht. Die Etymologie des Begriffs Kiremet ist umstritten. Eine Hypothese führt ihn auf arabisch keremet/karamat (Wunder, Heiliger, Seele des Toten) zurück und verknüpft ihn mit Totenkulten der islamischen Wolgabulgaren. Die Natur wird von einer Vielzahl von guten und bösen Geistern belebt. Die Tschuwaschen unterscheiden unter anderem den Berggeist, Waldgeist, Feldgeist und Wassergeist, den Geist des Bades, des Viehs und des Todes. Die bösen Geister sind Werkzeuge des Satans (Šujtan, von arabisch Schaitan), einer widerwärtigen fetten und schielenden Gestalt. Er wird von Tură verfolgt und versteckt sich überall, auch unter der Erde. Der böse Waldgeist ist groß wie ein Baum, trägt ein Fell und lange, bis zum Boden reichende Haare. Er hat vier Augen, drei Arme und

Die Religion der Tschuwaschen

Abb. 8 Hölzerne Grabsäule (jupa) auf einem Friedhof ungetaufter Tschuwaschen (20. Jh.)

Beine und wiehert wie ein Pferd. Aus der unterirdischen Welt kommen Dämonen auf die Erde, unter ihnen der Todesengel, ein Feuerdrache und der Mondverzehrer. Sie alle bringen Krankheiten und anderes Ungemach und werden mit Gebeten, mit Zweigen der Eberesche oder mit Eisenstücken gebannt. Dazu spricht ein weiser Mann Beschwörungsformeln. Auf der anderen Seite helfen Schutzengel den Menschen. Die Hausgöttin Chӗrt-surt wohnt auf dem Ofen und liebt das Spinnen. Sie beschützt das Haus und die Familie und diese nimmt regelmäßig gemeinsame Mahlzeiten, einen nach ihr benannten Brei, mit ihr ein. Magische Bräuche und Sprüche bannen die Geister und heilen Kranke, die verhext worden sind. Dazu werden den Geistern Hirse, Brot und Eier dargebracht; die Hirse weist auf die alte Tradition solcher Rituale hin, möglicherweise auf die Wolgabulgaren, die noch Hirse anbauten. Einzelne Gottheiten werden in Figuren in Menschen- oder Tiergestalt verehrt, die aus Holz, Gerten, Ton, Metall oder Lumpen gefertigt werden. Besondere Verehrung genießen Figuren von Ĭӗrӗch, oft in weiblicher Gestalt, entweder als böser Geist oder als Beschützerin des häuslichen Herdes und der Sippe, die auf einem Ehrenplatz in der Bauernstube oder im Speicher aufgestellt werden. Auch auf Kleidern und Kopfschmuck finden sich Darstellungen dieser Gottheit.

55

56

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

Die Tschuwaschen lebten in enger Verbindung mit der sie umgebenden Natur, die durch die zahlreichen Götter und Geister belebt war. Gebete, Mythen und Rituale verbinden sich mit den Elementen Wasser, Luft, Erde und Feuer. Religiöse Zeremonien werden von mehreren Dörfern gemeinsam, von einem Dorf, von der Familie und oder von Individuen durchgeführt. Ein anderer Typ sind Feiern, an denen nur die jungen Leute des Dorfes teilnehmen. Die Rituale ganzer oder mehrerer Dörfer finden selten statt und sind mit besonders reichen Opfergaben verbunden. Sie sind vornehmlich Tură und anderen höheren Göttern gewidmet. Die Opferfeiern werden von einem alten, weisen Mann geleitet, dem Jumza. Er ist mit seinen Helfern bei allen wichtigen Festen dabei, der Geburt, der Hochzeit, der Beerdigung und den Opferfeiern. Er steht den Bauern auch als Ratgeber bei Krankheiten, Unglücksfällen und anderen Problemen zur Seite. So erfüllt der Jumza ähnliche Aufgaben wie ein Schamane und ein christlicher Geistlicher. Die meisten Rituale sind mit den einzelnen Phasen des landwirtschaftlichen Jahreszyklus verbunden. Viele erbitten eine reiche Ernte, den Schutz des Viehs vor Seuchen und die Abwehr von Regen, Frosteinbrüchen und Stürmen. Rituale des Betens, der Darbietung von Essen und der Opferung von Tieren finden vor Beginn der Aussaat, zur Sommersonnenwende, vor oder nach der Getreideernte statt. Als heilige Zahl gilt die 77, im Kult überwiegen die Farben weiß und schwarz. In der Volksüberlieferung ist die Rede davon, dass es ursprünglich 77 Sprachen, 77 Religionen, 77 Typen von Menschen, Bäumen und Fischen gab. Die mythische alte Frau Ašapatman kommt »von jenseits der 77 Meere, auf einem weißen Pferd, bekleidet mit einem weißen Überwurf, geführt von einem weißen Hund, mit gelösten silbernen Haaren, mit nur einem Auge und einem goldenen Zahn«. Manche Zeremonien dienen der Reinigung des Hauses und der darin wohnenden Menschen gegen böse Geister. Kultplatz für die größeren Zeremonien ist ein Ort außerhalb des Dorfes, unweit einer Quelle oder eines Baches, auf dem Bäume, Eichen oder Linden, am besten ein ganzer Hain, steht. An von mehreren Dörfern alle paar Jahre begangenen großen Opferfeiern beteiligen sich bis zu tausend Menschen. Nach einer Reinigung im Bad schreiten die Beteiligten in weißen Gewändern zum Opferplatz. Alte Männer sprechen dort Gebete. Es folgen Tieropfer, bei denen Gänse, Hühner, Lämmer, Hammel und selten Stiere oder Pferde nach bestimmten Regeln geschlachtet und geopfert werden. Die Feiern der einzelnen Dörfer finden einmal im Jahr statt. Für die Kiremet-Gottheit jedes Dorfes gibt es eigene, von den Tură geweihten Orten getrennte Plätze, die ebenfalls Kiremet genannt werden. Der viereckige Kultplatz liegt meist auf einer Anhöhe. Er ist von einem mannshohen Zaun umgeben. Ihn umgibt ein Hain heiliger Bäume, vornehmlich Eichen, Birken oder Linden, an

Die Religion der Tschuwaschen

Abb. 9 Gedächtnisfeier ungetaufter Tschuwaschen (um 1900)

deren Ästen Opfergaben aufgehängt werden, sowie ein Bienengarten, denn Honig ist eine der zentralen Opfergaben. Mutter und Vater Baum sind selbst Gegenstand der Verehrung und Mittler zwischen Mensch und Gottheit. Sie dürfen nicht gefällt werden. Die Eberesche (Vogelbeerbaum) gilt als heiliger Baum, so wie bei den alten Germanen und Kelten. Aus ihr werden Amulette verfertigt. Innerhalb des Zauns stehen die rituellen Opfertische, auf denen die Opfertiere erst gewaschen und dann geschlachtet und zerlegt werden. In der Mitte des Platzes steht ein Bau aus Holz mit einem spitzen Dach, der nach Osten hin offen ist. In ihm werden die Gebete gesprochen und das Fleisch der Opfertiere und andere geopferte Esswaren gegessen. Jeder Kiremet-Platz hat einen Aufseher oder Wächter. Die kleineren und häufigeren Familienfeiern sind in erster Linie für die Verbindung zu den Vorfahren bestimmt. Die Rituale des Ahnenkults folgen ebenfalls dem Rhythmus der Jahreszeiten. Die bösen Geister werden verjagt, dem Kiremet wird ein Hammel oder Huhn geopfert, und man nimmt zusammen mit den Ahnen eine Mahlzeit aus Pfannkuchen, Brei und Bier ein. Die Palette der Opfergaben spiegelt die wichtigsten Wirtschaftszweige und Speisen der Tschuwaschen wider. Im Vordergrund stehen nicht überraschend Getreide und Getreideprodukte wie Grütze, Breie, Brot, Fladenbrot, Salma (eine Art Nudeln, die auch bei den Tataren verbreitet war) und Pfannkuchen, bei den Getränken das ebenfalls auf der Grundlage von Getreide gebraute Bier sowie den aus Honig zubereiteten Met. Auch Milchprodukte wie Butter und Käse, sowie vor allem Eier gehören zu

57

58

2. Kapitel: Unterwerfung oder freiwillige Vereinigung?

den Opfergaben. Tiere werden seltener geopfert, am häufigsten Geflügel, während Hammel, Lämmer, Stiere und Pferde den großen Zeremonien vorbehalten bleiben. Schweine und Schweinefleisch gehören nicht zu den Opfergaben, während das Pferd besondere Verehrung genießt, was auf nomadische Ursprünge (Bulgaren und Tataren) verweisen könnte. Religiöse Rituale begleiten die wichtigen Stationen des Lebens, Geburt, Heirat und Tod, und bestimmen auch andere Lebensbereiche mit. Die Religion und ihre Zeremonien, die hier nur in ihren Umrissen dargestellt werden können, waren neben der landwirtschaftlichen Arbeit und der eigenen Sprache die bestimmenden Elemente einer tschuwaschischen Identität. Obwohl die meisten religiösen Texte erst im 20. Jahrhundert aufgezeichnet worden sind, geben sie einen (gefilterten) Einblick in die traditionalen Vorstellungen der Tschuwaschen und verleihen den Subalternen eine Stimme. Uns Menschen der Moderne fällt es allerdings schwer, diese Stimme zu verstehen. Auszüge aus dem Gebet zu einem Opferfest: „Oh Pűlӗch! Mutter von Tură, Mutter von Pűlӗch, Geist, der vor Tură lebte, Zorn von Tură, Leiden von Tură, Krankheit von Tură, Unglück von Tură; Kepe, Pichampar, wandernder Geist, Chrban, Tore des Himmels, Welt des Diesseits; Vater der Sonne, Mutter der Sonne, Flügel der Sonne, Füße der Sonne, Ohren der Sonne, Zorn der Sonne, Leiden der Sonne, Krankheit der Sonne, Unglück der Sonne; [es erfolgen entsprechende Anrufungen von Wind, Erde und Wasser] Gründung des Hauses, Reichtum des Hofes, Reichtum der Speicher, Schäfer des Hofes, Beschützer der Scheune, Stifter des Getreides, Pflanzer des Getreides, Geist, der das Getreide bewegt, Vater der Sparsamkeit, Mutter der Sparsamkeit, Schöpfer der Tiere, Beschützer der Herde, Schöpfer der Bienen und der Bewegung der Bienen, Vater der Blumen, Mutter der Blumen, Erzeuger des Süßen, Erzeuger des Bitteren, Begleiter auf den Straßen, Beschützer der Wege, Halter der Zügel, Leiden der Reisenden, Bewohner von Biljar, Bewohner von Kazan‘, Kiremet Kepe, Großer Kiremet, kleiner Kiremet. Götter, erbarmt Euch!

Die Religion der Tschuwaschen

Mit meinen Kindern, mit meinem Haushalt, mit meiner Familie, mit Nachbarn als Gästen, mit der Dorfgesellschaft, mit dem ganzen Volk, bin ich heute gekommen und stehe vor Dir, in Freude, in Beseeltheit, mit dem Opferbier, mit dem neuen Getreide, wende ich mich an Dich und danke … Oh Tură! Gib Vermögen! Gib Gesundheit! Für das neue Getreide danke ich Dir und verbeuge mich tief. Für ein gesätes Korn gib 1000 Körner! Beschütze uns vor künftigen Leiden, Unglücken, Dieben, Feuersbrünsten … Gewähre uns, oh Tură, den Reisenden zu wärmen, der frierend kommt, den Hungrigen genährt zu entlassen! Drei Arten Korn mögen wir lagern in unseren Speichern, drei Arten von Vieh und drei Höfe gib uns … Gib der Stute ein Fohlen, gib der Kuh ein Kalb, lass das Vieh sich vertausendfachen, … Oh Vater der Erde, oh Mutter der Erde, wir sagen zu viele Worte, die nutzlos und fehl am Platz sind, Götter, erbarmt Euch!«65

59

3. Kapitel:

Integration und Protest: Die Tschuwaschen vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert

Am Ende des 16. Jahrhunderts waren die Tschuwaschen ebenso wie die anderen Bewohner des ehemaligen Khanats von Kasan endgültig zu Untertanen Russlands geworden. Sie sollten es bis zum heutigen Tag bleiben. Welche Folgen hatte der Herrschaftswechsel für die Tschuwaschen? Status quo und schrittweise Veränderungen

Für die Tschuwaschen brachte der Wechsel der Herrschaft vom Kazaner Khan zum Moskauer Zar zunächst nur wenige Veränderungen.66 Moskau akzeptierte und garantierte den Status quo, um keinen Widerstand zu provozieren. Die Tschuwaschen blieben fast ausschließlich Ackerbauern, deren Landbesitz garantiert und in Grundbüchern erfasst wurde. Im Uloženie, dem Gesetzbuch von 1649, wurden die Besitzrechte der Tschuwaschen und anderen Nichtrussen explizit bestätigt. Sie hatten ihre Abgaben und Dienstleistungen nun nicht mehr dem Khan von Kazan‘, sondern dem Moskauer Zaren zu leisten. Dieser hatte garantiert, dass die Höhe der Abgaben denen im Khanat entsprechen sollten, also nicht erhöht werden durften. Auch die aus dem Mongolischen stammende Bezeichnung der wichtigsten Abgabe »Jasak« (Tribut) wurde übernommen. Der Jasak wurde in Geld, Getreide, Honig oder anderen Naturalien erhoben. In den Quellen erscheinen die Tschuwaschen ebenso wie die Mari, Udmurten und sibirische Ethnien fortan als Jasakleute. Erst als Peter der Große die soziale Ordnung des Imperiums systematisierte, wurden die Jasakleute in den neu geschaffenen Stand der Staatsbauern, der auch die freien russischen Bauern umfasste, eingegliedert. Da es im Khanat keine Leibeigenschaft gegeben hatte, wurden die Tschuwaschen und anderen Jasakleute nicht wie die Mehrheit der russischen Bauern zu

62

3. Kapitel: Integration und Protest

Leibeigenen degradiert, die von Adligen oder Klöstern abhängig waren, sondern blieben direkt der staatlichen Verwaltung unterstellt. Die Tschuwaschen waren also dem Zugriff der Gutsbesitzer entzogen. Entsprechend der sozialen Ordnung im Khanat von Kazan‘ wurden nur Tataren in den Adel aufgenommen, während die tschuwaschischen Hundertschaftsführer und tarchany nicht als ebenbürtig anerkannt wurden. Die Tschuwaschen blieben also auch im Moskauer Reich weiter im Schatten der Tataren. Die Zahl der tatarischen Adligen nahm allerdings infolge der brutalen Niederwerfung der Aufstände, von Aussiedlungen und Flucht erheblich ab. Viele Tataren sanken zu lastenpflichtigen Jasakleuten ab, die, wie erwähnt, teilweise als Jasak-Tschuwaschen bezeichnet wurden. Wie unter der Herrschaft der muslimischen Tataren wurde auch im christlichen Russland der Glaube der Tschuwaschen nicht angetastet. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts blieben missionarische Bemühungen auf wenige Einzelaktionen kirchlicher Akteure beschränkt, die aber vom Staat weder gefördert noch gebilligt wurden. Defensiv ausgerichtet waren Maßnahmen, die verhindern sollten, dass Russen die heidnischen Sitten der Nichtrussen übernehmen könnten. So bewahrten die Tschuwaschen während der ersten eineinhalb Jahrhunderte russischer Herrschaft ihren alten Glauben, das wichtigste Element ihrer Identifikation und ihrer sozialen und kulturellen Kohärenz. Trotz des grundlegenden Prinzips der Anerkennung des Status quo und der Nichteinmischung brachte die Herrschaft Russlands schrittweise Veränderungen. Zunächst wurden zur Sicherung des neu eroberten Gebiets Festungen mit Garnisonen errichtet. Im Jahre 1555 wurde (auf der Basis einer schon bestehenden Festung) an der Wolga Čeboksary begründet, die heutige Hauptstadt der Republik Tschuwaschien. 1589 folgten Civil’sk im Zentrum und 1590 Jadrin (an der unteren Sura) im Nordwesten der heutigen Republik. Schon 1583 wurde im Gebiet der Berg-Mari die Festung Koz’modem’jansk erbaut, der zahlreiche tschuwaschische Dörfer zugeordnet wurden. Dies galt auch für zwei andere Festungen, die außerhalb des Siedlungsgebiets der Tschuwaschen lagen, Svijažsk an der Wolga (1551) und Alatyr‘ an der mittleren Sura (1556). Um diese Festungen herum formierten sich kleine Städte, die Zentren der Verwaltungseinheiten der Bezirke (uezdy) waren. An ihrer Spitze standen russische Voevoden, die aus dem Adel rekrutiert und von einem Sekretär (d’jak) unterstützt wurden. Sie hatten die Aufgabe, den Jasak und andere Abgaben zu erheben, Recht zu sprechen und generell die Bevölkerung zu kontrollieren. Zwar wurde der Jasak nicht erhöht, doch kamen im Laufe des 17. Jahrhunderts Zinsen für die Nutzung von Wäldern und Flüssen hinzu. So bezahlten drei tschuwaschische Dörfer im Bezirk Čeboksary den Jasak im Wert von 28 Rubeln, aber nicht weniger als 51

Status quo und schrittweise Veränderungen

Abb. 10 Karte 4. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts erbaute Festungen und Grenzverhaulinien

63

64

3. Kapitel: Integration und Protest

Rubel Honig- und 7 Rubel Mühlenzins.67 Die Städtchen waren fast ausschließlich von Russen bewohnt, zunächst vorwiegend von Militär- und Verwaltungspersonen, dann auch von Handwerkern und Händlern. Sie blieben alle klein. Lediglich die außerhalb des Siedlungsgebiets der Tschuwaschen gelegenen Kazan’, das zu den größten Städten des Moskauer Staates gehörte, und Svijažsk zählten am Ende des 16. Jahrhunderts mehr als 1000 Bewohner, bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren auch Čeboksary und Jadrin in diese Kategorie aufgerückt. Die Städte waren kleine Inseln in einem von tschuwaschischen Bauern besiedelten Meer, und sie waren Symbole der Herrschaft Russlands. Der Gegensatz russische Stadt – tschuwaschisches Dorf blieb bis ins 20. Jahrhundert prägend. Die Dorfgemeinden verwalteten sich selbst und wählten ihre Ältesten, die Ansprechpartner der Bezirksverwaltung waren. In der Theorie galt das Prinzip der Nichteinmischung, man findet in den Akten immer wieder die Anweisung, den Tschuwaschen »Wohlwollen und Freundlichkeit zu erweisen«. Die Praxis sah anders aus, denn Amtsträger nutzten ihre Macht zu Willkürakten und zur Bereicherung. Unter ihnen waren auch Tschuwaschen, wie ein tarchan, der tschuwaschische Bauern so lange drangsalierte, bis sie ihr Dorf verließen und er ihr Land in Besitz nehmen konnte. Ein Fall aus dem Kreis Jadrin betraf Dolmetscher, die die tschuwaschischen Jasakbauern betrogen, ausplünderten und erpressten. Im Kreis Civil’sk legte ein Vertreter der Lokalverwaltung den Bauern, die ihn um das Verfassen einer Bittschrift baten, ein leeres Blatt vor, das von den analphabetischen Tschuwaschen mit ihren Namenszeichen versehen wurde. Statt der Bittschrift setzte er dann eine Schuldverschreibung auf.68 Als Reaktion auf Aufstände zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzte die Moskauer Regierung erstmals gezielte repressive Maßnahmen gegen die Tschuwaschen und anderen Wolgavölker ein. Zum einen mussten die Nichtrussen Geiseln (amanaty) stellen, die auf Kosten der Bauern in einem »Geiselhof« festgehalten wurden. So wurden in Kurmyš Geiseln aus allen tschuwaschischen Dörfern des Bezirks festgehalten, die für das Verhalten der Bauern ihres Dorfes hafteten. Eine zweite Maßnahme richtete sich gegen den Waffenbesitz der Nichtrussen. Verboten wurde nicht nur der Besitz von Feuerwaffen, Pulver und Blei, sondern überhaupt die Anfertigung von Metallwaren und der Handel mit diesen »verbotenen Waren«. Die Tschuwaschen durften sogar Äxte, Sensen und Sicheln nur in kleinen Mengen kaufen und mussten den Behörden davon Meldung erstatten. Diese repressiven Maßnahmen wurden ebenso wie der aus dem Arabischen stammende Begriff amanat von den Mongolen-Tataren übernommen und auch in Sibirien angewandt. Mit beiden Instrumenten griff die Obrigkeit erstmals direkt in die Dorfgemeinschaften ein. Das Waffen- und Metallverbot diskriminierte die Nichtrussen gegenüber

Status quo und schrittweise Veränderungen

den Russen, es behinderte die bis dahin bei den Tschuwaschen beliebte Jagd und hemmte die Entwicklung des Handwerks. Im 16. und 17. Jahrhundert wanderten zunehmend russische Bauern in das Gebiet der Mittleren Wolga ein und ließen sich im Raum um Kazan’ und in den fruchtbaren Gebieten am Steppenrand nieder. Das zentrale Siedlungsgebiet der Tschuwaschen, das bereits dicht besiedelt war, zog dagegen kaum russische Siedler an. Auch russische Adlige, die auf die Arbeitskraft ihrer Bauern angewiesen waren, ließen sich sehr selten im Gebiet der Tschuwaschen nieder. Der im 17. Jahrhundert anschwellende Strom der »russischen Ostsiedlung« umging also den Kernraum der Tschuwaschen. Lediglich die Gebiete um Kurmyš im Nordwesten und die Steppenrandgebiete im Süden, die im 16. und 17. Jahrhundert durch befestigte Grenzlinien gesichert worden waren, wurden zunächst von militärischen Dienstleuten (Kosaken und Strelitzen) und dann auch von russischen Bauern besiedelt. Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine neue befestige Linie weiter im Süden errichtet wurde, die bis zur neu begründeten Stadt Simbirsk (heute Uljanovsk) an der Wolga reichte, wurden auch tschuwaschische Dienstleute in den neuen Festungen stationiert und später tschuwaschische Bauern in den Steppenrandgebieten angesiedelt. Neben den Festungen und Verwaltungszentren dienten orthodoxe Klöster als Stützpunkte Russlands. Unter ihnen waren die bereits in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung begründeten drei Tochterklöster des größten russischen Klosters, des Sergij-Dreifaltigkeitsklosters, in Svijažsk, Čeboksary und Alatyr’. Die Klöster erhielten Privilegien wie das Monopol auf den Fang von Fischen und Bibern, was auf Kosten der tschuwaschischen Bauern ging. Daraus ergaben sich Konflikte, die in Gerichtsakten fassbar werden. Schon während des Aufstandes von 1581-1584 verbrannten Tschuwaschen und Mari der Bezirke Jadrin, Koz’modem’jansk und Čeboksary einen Klosterhof im Bezirk Kurmyš und nahmen gewaltsam Ackerland, Bienen- und Fischgründe des Klosters in Besitz. Erst im Jahr 1596 erhielt das Kloster seinen Besitz und seine Rechte zurück. In diesen Akten wurden zahlreiche »tscheremissische« (in ihrer Mehrheit tschuwaschische) Hundertschafts-, Zehnerschaftsführer und Älteste mit ihren Namen genannt.69 Im Kerngebiet des heutigen Tschuwaschiens blieb der Anteil an Russen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts sehr gering (unter 5 Prozent), während die Russen in den am linken Wolgaufer liegenden zentralen Regionen des ehemaligen Khanats von Kazan‘ zu dieser Zeit bereits etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Die Welt der tschuwaschischen Bauern blieb weiterhin gegen außen abgeschottet. Als Mittler zur Welt der Russen, zu den Vertretern der Obrigkeit, dienten die Dorfältesten und Dolmetscher, zum Teil auch Vertreter der lokalen Oberschicht.

65

66

3. Kapitel: Integration und Protest

Die Tschuwaschen in den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts

Russland wurde im 17. und 18. Jahrhundert von mehreren großen Volksaufständen erschüttert. In allen Erhebungen spielten Kosaken, die im 16. Jahrhundert an den am Steppenrand liegenden Unterläufen der Flüsse Dnjepr, Don, Wolga, Jaik und Terek militärdemokratische Gemeinschaften begründet hatten, eine führende Rolle. Neben den vorwiegend russischen Kosaken waren die nichtrussischen Völker der Wolga-Ural-Region die wichtigsten Träger der Aufstände. In den Volksaufständen waren die Tschuwaschen nicht mehr passive Objekte der Politik, sondern traten als historische Akteure ins Scheinwerferlicht. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts erlebte Russland seine tiefste Krise zwischen dem Einfall der Mongolen und der Revolution von 1917.70 In der Zeit der Smuta (Wirren) brach das Moskauer Russland zusammen. Im Jahr 1598 starb mit Fedor Ivanovič, dem geistig behinderten Sohn Ivans IV., die Dynastie der Rurikiden aus. Mit der dynastisch-politischen Krise verband sich eine schwere wirtschaftliche Krise, die in den Jahren 1601-1603 in der größten Hungerkatastrophe Russlands vor dem 20. Jahrhundert gipfelte. Der Zusammenbruch der Zentralmacht und der Wirtschaft waren der Auslöser für einen Bürgerkrieg und für den ersten großen Volksaufstand der russischen Geschichte, die Erhebung unter Führung Ivan Bolotnikovs. Der ehemalige Knecht Bolotnikov zog im Jahre 1606 mit seinen, bald mehrere Zehntausende zählenden, sozial heterogenen Anhängern aus Don- und Dnjeprkosaken, niederen Adligen, militärischen Dienstleuten, Stadtbewohnern, Vertretern nichtrussischer Völker, Bauern und Knechten (Cholopen) bis vor Moskau, um den angeblichen Zarensohn Dmitrij als Herrscher einzusetzen. Die Belagerung Moskaus scheiterte, die Aufständischen wurden besiegt und Bolotnikov wurde 1608 hingerichtet. Die soziale Unruhe war damit nicht beseitigt, und Kosaken zogen noch jahrelang raubend und plündernd durch Russland. Während der Smuta erhoben sich zahlreiche Nichtrussen der Wolgaregion.71 Schon im Jahre 1603 ist von Tschuwaschen die Rede, »die den Herrscher verraten und die Russen [gemeint sind wohl die Verwaltungsleute] töten wollen«, meldete ein Jasak-Tschuwasche dem Befehlshaber von Čeboksary.72 Den Anstoß für eine allgemeine Erhebung gab im Herbst 1606 der Bolotnikov-Aufstand. Abteilungen von Russen und Nichtrussen, unter denen die Tschuwaschen die größte Gruppe bildeten, eroberten die meisten rechts der Wolga gelegenen Städte, auch die im Siedlungsgebiet der Tschuwaschen liegenden Čeboksary, Civil’sk, Jadrin und Kurmyš. Nach Bolotnikovs Niederlage brach die Erhebung wieder zusammen, doch zwei Jahre später flammte sie erneut auf, und wieder fielen einige Städte der »Bergseite« in die Hände der Aufständischen. Auch nach der Wahl Michail Roma-

Die Tschuwaschen in den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts

novs zum Zaren war der Widerstand nicht erstickt. Als die Behörden im Jahre 1615 von den Tschuwaschen und Mari zusätzliche Abgaben einziehen wollten, kam es erneut zu einem großräumigen Aufstand, der im folgenden Jahr niedergeschlagen wurde. Die Aufstände der Jahre 1603-1616 im Gebiet der Mittleren Wolga wurden von unterschiedlichen sozialen und ethnischen Gruppen getragen. An allen Erhebungen waren Tschuwaschen beteiligt, gelegentlich auch in Führungspositionen. Allerdings engagierten sich einzelne Tschuwaschen auch auf der Regierungsseite, und in den »Wirren« des Bürgerkriegs wechselten die Fronten ständig. Im Gegensatz zu den Erhebungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die ausschließlich von Nichtrussen getragen worden waren, erhoben sich im Bürgerkrieg der Smuta Nichtrussen und Russen gemeinsam. Spezifische Motive der Nichtrussen traten zurück hinter transethnischen sozialen und politischen Anliegen. Ziele der Aufständischen waren die Städte als Sitz der Staatsmacht. In den eroberten Städten Čeboksary und Alatyr’ wurden die Befehlshaber getötet. »Im Jahr 1609 zerstörten die Missetäter und die Tscheremissen [hier Tschuwaschen] die Stadt Civil’sk und brannten sie vollständig nieder, nahmen die Stadtbevölkerung gefangen und verbrannten alle Bücher und Dokumente.«73 Das Verbrennen der Verwaltungsakten war ein symbolischer Akt, der sich auch später wiederholte. Viele Aufständische stellten die Bezahlung der Abgaben ein, Tschuwaschen und Mari entrichteten drei Jahre lang weder Jasak noch Zinse. In der ausschließlich von Nichtrussen getragenen letzten Erhebung der Jahre 1615/16 erklärten Tschuwaschen und Tscheremissen: »Sie wollen kein Geld… [über den Jasak hinaus] … geben, und wenn die Steuereinnehmer kommen, wollen sie in die Wälder fliehen« oder sich bewaffnet zur Wehr setzen. »Sie wollen für sich leben«, kommentierte eine andere Quelle den Widerstand der Wolgavölker.74 Dieser letzte Aufstand hatte allerdings weniger Durchschlagskraft als die vorangehenden Erhebungen, in denen Russen und Nichtrussen zusammenwirkten. Ohne Unterstützung militärisch erfahrener Kosaken und russischer Dienstleute gelang es nicht mehr, Städte zu erobern. Unter den beiden ersten Romanov-Zaren Michail und Aleksej konsolidierte sich die Autokratie in Russland, und der Druck auf die Unterschichten nahm ständig zu. Abgaben und Dienstleistungen wurden erhöht und die russischen Gutsbauern endgültig an die Scholle gebunden. Der Druck auf die Bevölkerung der Randgebiete, die als Herd der Unruhe galten, wurde verstärkt. Dies war der Hintergrund für einen neuen Volksaufstand in den Jahren 1670/71. Im Gegensatz zur Epoche der »Wirren« war diesmal nicht das ganze Land in Aufruhr. Die Regierung des Zaren Aleksej Michajlovič blieb fest im Sattel, und es gelang ihr, den Auf-

67

68

3. Kapitel: Integration und Protest

stand in weniger als einem Jahr niederzuschlagen. Obwohl die vom Donkosaken Stepan Razin angeführte Erhebung auf die Randgebiete im Osten und Südosten beschränkt blieb, alarmierte sie die Regierung und den Adel des Moskauer Staates. Sten’ka Razin wurde zu einem Fanal der Unzufriedenheit des Volkes und ging als legendäre Figur in die russische Folklore ein. Wie schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren die Tschuwaschen eine der wichtigsten Trägergruppen der Erhebung. Da die Quellenlage günstig ist, behandle ich den Razin-Aufstand ausführlicher. Zwar stammen auch in diesem Fall fast alle Zeugnisse von im Dienste des Zaren stehenden Heerführern und Verwaltungsleuten. Nur gelegentlich ist die Stimme der Subalternen direkt zu hören, etwa wenn Tschuwaschen unter der Folter aussagten oder der Obrigkeit freiwillig Informationen über ihre aufständischen Landsleute lieferten. Der Kosake Stepan Razin war von den ärmeren Donkosaken zum Ataman gewählt worden und zog im Frühling 1670 mit einer großen Streitmacht vom Don an die untere Wolga und dann dem Fluss nach aufwärts.75 Anfang September erreichten die Kosaken Simbirsk und belagerten die Stadt. Viele der an den Grenzverhaulinien postierten Dienstleute und der in deren Hinterland siedelnden Bauern, unter ihnen zahlreiche Tschuwaschen, schlossen sich den Kosaken an. Im September 1670 »verrieten die Strelitzen und Kosaken der Linie von Simbirsk, die [russischen] Bauern, die Tataren, Mordwinen und Tschuwaschen des Kreises Simbirsk den Zaren«.76 Die Aufständischen zogen dann weiter in den Bezirk Alatyr’, eroberten und verbrannten die Stadt, und bald darauf auch die Stadt Kurmyš, deren Befehlshaber getötet wurde. Anfang Oktober erlitten die Aufständischen vor Simbirsk eine Niederlage, Razin wurde verwundet und zog sich an den Don zurück. Er wurde verraten, gefangengenommen und im Juni 1671 hingerichtet. Die von Kosaken angeführten Aufständischen setzten jedoch den Widerstand fort, und der Aufstand erfasste nun auch die »Bergseite«, das zentrale Siedlungsgebiet der Tschuwaschen und Berg-Mari, die sich geschlossen erhoben und auch russische Stadtbewohner und Bauern mitrissen. Sie belagerten die Städte und nahmen einige von ihnen ein. Zeitweise verlor die zarische Regierung die Kontrolle über die Region vollständig. Den Ablauf der Kampfhandlungen schilderte – aus seiner Sicht – der russische Heerführer Jurij Barjatinskij in einem zusammenfassenden Rechenschaftsbericht. Barjatinskij zog mit seinen Truppen aus Kazan‘ über die Wolga auf die »Bergseite«, um sie von Aufständischen zu »säubern«. Er besiegte eine Abteilung von 500 Mann und nahm 13 Gefangene. Sieben Tschuwaschen ließ er hängen und drei Russen mit der Knute peitschen; zwei Tschuwaschen entließ er in ihre Dörfer, damit sie ihre Landsleute zum Aufgeben überreden sollten. Diese Vorgehensweise

Die Tschuwaschen in den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts

Abb. 11 Die Stadt Čeboksary am Ende des 17. Jahrhunderts (aus: Nicolaes Witsen: Noord en Ooost Tartarye. Bd. 2. Amsterdam 1705)

wiederholte sich mehrfach. In der Folge gelang es ihm, einen anderen Trupp von 2.000 Aufständischen zu besiegen. Kurz darauf versperrten ihm nicht weniger als 10.000 Russen, Tschuwaschen und Mari den Weg nach Civils’k, doch gelang es ihm, auch diese große Streitmacht zu schlagen und die von Aufständischen mehr als zwei Monate lang belagerte Stadt zu entsetzen. Darauf kamen 549 Tschuwaschen aus den umliegenden Dörfern in die Stadt, um sich zu ergeben. Ihnen folgten viele Tschuwaschen des Bezirks Čeboksary. Sie alle hatten einen Eid auf den Zaren zu leisten (»nach ihrem Glauben«) und wurden dann nach Hause entlassen. Als Barjatinskij aus Civil’sk abzog, kam ihm eine Abteilung von 2.000 Tschuwaschen und Mari entgegen. Sie wurden geschlagen, und die Gefangenen wurden alle getötet. Jetzt näherten sich aus Koz’modem’jansk, das schon Anfang Oktober in die Hände der Aufständischen gefallen war, 3.000 gut bewaffnete Russen, Tschuwaschen und Tscheremissen, die ebenfalls geschlagen wurden. Zarentreue Truppen eroberten darauf die Stadt Koz’modem’jansk zurück, wobei sie erhebliche Verluste erlitten. Doch gaben sich die Aufständischen nicht geschlagen, sondern es zog, wie

69

70

3. Kapitel: Integration und Protest

es in einem anderen Bericht heißt, eine große, mit Kanonen [!] bewaffnete Streitmacht aus Russen, Tschuwaschen und Mari vor die Stadt. Ihnen kamen 1.000 Russen und 12.000 Tschuwaschen und Mari aus allen Bezirken rechts der Wolga zu Hilfe. Auch sie wurden schließlich besiegt. Im Dezember 1670 legten 1.243 Jasak-Tschuwaschen des Bezirks Civil’sk den Eid auf den Zaren ab, 793 weigerten sich, und deren Herkunftsorte wurden sorgfältig notiert.77 Ähnliche Szenarien finden sich in anderen Quellen. Die russischen Truppen waren zwar militärisch überlegen und gewannen die meisten Gefechte. Die Aufständischen ergriffen jeweils die Flucht, doch sammelten sie sich immer wieder in Verbänden, deren zahlenmäßige Stärke in den Quellen allerdings wohl übertrieben wurde. Die Tschuwaschen kannten die natürlichen Bedingungen, verschanzten sich in den Wäldern und fanden Rückhalt in den tschuwaschischen Bauern, von denen sich immer wieder Gruppen den Aufständischen anschlossen. Die Berichte der russischen Heerführer unterschlugen die prekäre Lage der Amtsträger. Anders der Befehlshaber des von den Aufständischen erneut belagerten Civil’sk, der die Not der Stadtbevölkerung, den Mangel an Soldaten und Waffen beklagte und die Hartnäckigkeit der Aufständischen betonte. Er wusste wohl vom Schicksal seiner Kollegen in Koz‘modem’jansk und Kurmyš, die von den Aufständischen getötet worden waren. Auch unter den Anführern der Erhebung waren neben Donkosaken, russischen Dienstleuten und Stadtbewohnern vereinzelte Nichtrussen. Im Bericht des Obersten Matvej Kravkov tritt uns der Tschuwasche Pachtemejko Achtubaev entgegen, den die Tschuwaschen »Dienst-tarchan« nannten. Es handelte sich also um einen Vertreter der lokalen Oberschicht, der offensichtlich großes Ansehen genoss. Er wurde auch als Ataman bezeichnet, was darauf hinweist, dass die aufständischen Tschuwaschen die Organisation der Kosaken übernahmen. Er wurde gefangengenommen und gab unter der Folter wichtige Informationen preis. Neben Achtubaev wurden in Kravkovs Bericht die Namen elf weiterer aufständischer Atamane, die Mehrheit von ihnen Tschuwaschen, genannt.78 Gegen Ende des Jahres 1670 verlor der Aufstand an Schwung, doch blieb gerade das Siedlungsgebiet der Tschuwaschen ein Herd des Widerstandes. Kravkov, der die Aufgabe hatte, die Tschuwaschen erneut auf den Zaren zu vereidigen, berichtete, dass er auf viele verlassene Dörfer stieß, denn viele Tschuwaschen waren in den Wald geflüchtet. Im Februar 1671 gelang es den Regierungstruppen, den Widerstand der Tschuwaschen und anderer Aufständischen zu ersticken. Die Aufständischen der Jahre 1670/71 waren sozial homogener als diejenigen zur Zeit der »Wirren«, als die Erhebungen über weite Strecken Bürgerkriegscharakter hatten und auch Vertreter des Adels einschlossen. Eine (allerdings isolierte)

Die Tschuwaschen in den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts

Quelle ist von besonderem Interesse, weil sie auf soziale Konflikte zwischen armen und reichen Bauern schließen lässt. Drei Jasak-Tschuwaschen, die Brüder Achpaev, richteten ein Bittschreiben an den Zaren, in dem sie um Rückerstattung des ihnen von den Aufständischen geraubten Vermögens ersuchten. Diese hätten ihre Häuser verbrannt, alles Getreide und ihre Habe geraubt und sie mit dem Tod bedroht. Offensichtlich handelte es sich um reiche Bauern, denn sie verfügten, wie sie sagten, über beträchtliche Geldbeträge von 85 bzw. 240 Rubel.79 Die Quellen zum Razin-Aufstand erlauben einige Rückschlüsse auf die Ziele der Aufständischen. Stepan Razin selbst wandte sich mit sogenannten »Lockbriefen« in russischer und tatarischer Sprache an das Volk und forderte es auf, »die Adligen und alle Befehlshaber und Kanzleileute in den Städten totzuschlagen«. Im September 1670 wandte er sich direkt an »die Russen, Tataren, Tschuwaschen und Mordwinen« des vorwiegend von Tschuwaschen bewohnten Kreises Civil’sk und forderte sie auf, seine Proklamation in ihrem Gebiet zu verbreiten. Die Zielsetzungen der Aufständischen lassen sich auch aus ihren Aktionen erschließen. Zahlreiche Adlige wurden erschlagen, ihre Höfe geplündert und verbrannt. Der Protest der Tschuwaschen, in deren Siedlungsgebiet es nur wenige adlige Gutsbesitzer gab, richtete sich wie schon zu Beginn des Jahrhunderts in erster Linie gegen die Städte als Zentren der Verwaltung. Alle Städte in ihrem Gebiet wurden mindestens einmal erobert, wobei die russische Bevölkerung oft freiwillig zu den Aufständischen überlief. Die meisten Befehlshaber und anderen Repräsentanten der Regierung wurden getötet, die Insassen der Gefängnisse und Geiselhöfe befreit. Der Aufstand unter Führung Stepan Razins richtete sich nicht gegen die Zarenautokratie als solche, sondern gegen deren Vertreter vor Ort. Die Kosaken hielten am Glauben »an den guten Zaren« fest und verbreiteten das Gerücht, dass sich ihnen ein Sohn des Zaren angeschlossen habe. Ihre militärische Erfahrung und ihre Organisation verstärkten die Kampfkraft der Aufständischen und ermöglichten die Kommunikation zwischen den einzelnen Schauplätzen. Die Tschuwaschen und anderen Nichtrussen, die keine Feuerwaffen besaßen und gewöhnlich mit Pfeil und Bogen, Sensen und Äxten kämpften, profitierten von den gut ausgerüsteten Kosaken. Die Aufständischen übernahmen zum Teil die kosakische militärdemokratische Ordnung mit gewählten Atamanen. Ohne die Kosaken, deren Aktivitäten nach der Niederlage Razins zurückgingen, hatten die Aufständischen gegen die gut ausgerüsteten Regierungstruppen aber keine Chance. Nachdem der Aufstand niedergeworfen war, wurden die Aufrührer hart bestraft. Hunderte wurden hingerichtet, Tausende der Knutenstrafe unterworfen. In der Folge versuchte man, die tschuwaschischen Jasakleute mit Propaganda und Beschwichtigungen zu beruhigen.

71

72

3. Kapitel: Integration und Protest

Die Aufständischen protestierten gegen den steigenden Druck des Staates, die Erhöhung der Abgaben und Dienstleistungen und die Willkür der Lokalverwaltung. Im Kampf gegen diesen gemeinsamen Gegner verbanden sich die Interessen von Russen und Nichtrussen. Die russischen Bauern rebellierten außerdem gegen die Verschärfung der Leibeigenschaft. Spezifische Anliegen der Nichtrussen waren die repressiven Instrumente der Geiselnahme und Waffenverbote und allgemein die gegenüber den Nichtrussen besonders ausgeprägte Willkür und Gewalt der Vertreter der Obrigkeit. Im Ganzen verstärkte der gemeinsame Protest der Russen und Nichtrussen gegen die Staatsgewalt die Dynamik des Aufstandes. Dabei spielten die Tschuwaschen wie schon in den Erhebungen zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Sie traten erneut als Akteure aus dem Schatten heraus, in einigen Fällen sind auch einzelne Tschuwaschen als Individuen in Umrissen fassbar. Dass sie den zweiten großen Volksaufstand in Russland mit prägten, widerspricht erneut dem Mythos der »friedlichen Tschuwaschen«. Die Zwangschristianisierung

Mehr als 150 Jahre lang blieb der Glaube der Tschuwaschen im christlich geprägten Moskauer Staat weitgehend unbehelligt. Missionsbestrebungen der Orthodoxen Kirche wurden von der Regierung zurückgebunden, da sie befürchtete, dass Eingriffe in das Wertesystem ihrer Untertanen Proteste auslösen und die Stabilität der peripheren Regionen erschüttern könnten. Diese Duldung nichtchristlicher Bekenntnisse war im damaligen Europa ganz außergewöhnlich. Zu den Pflichten des frühneuzeitlichen Staates gehörte die Aufklärung aller Untertanen, wozu selbstverständlich die Durchsetzung des Christentums gehörte. Auch russische Zeitgenossen wie der politische Denker Ivan Posoškov schlossen sich dieser Meinung an. Dieser rief im Jahre 1719 zur Taufe der Heiden und Muslime Russlands auf, die schon fast zweihundert Jahre unter russischer Herrschaft seien und »inmitten unseres russischen Staates, an der Wolga und Kama, leben«, um deren Aufklärung sich aber »weder die weltlichen Behörden noch die Geistlichkeit im geringsten gekümmert hätten«. Die Katholiken hätten dagegen sogar in China und Amerika missioniert. „Schau, mein Sohn, auf die Lateiner und eifere ihnen in Deinen Taten nach... Wenn wir auf ihr Bemühen blicken, müssen wir uns da nicht schämen? … Nicht dass wir in fremden Reichen das Wort Gottes verkündeten, nein, nicht einmal in unserem eigenen Reich tun wir dies!«80

Die Zwangschristianisierung

Als Peter der Große daran ging, Russland grundlegend umzugestalten, folgte er auch in seiner Religionspolitik dem Vorbild des Westens, und die pragmatische Duldung der nicht-orthodoxen Untertanen fand ihr vorläufiges Ende. Es war nicht die geschwächte Orthodoxe Kirche, sondern die weltliche Macht, die nach westlichem Vorbild die Untertanen Russlands sozial und religiös vereinheitlichen wollte. Russland als europäischer Staat hatte die Pflicht, die Animisten und Muslime seines Reiches über die Taufe in den Kreis der christlichen Zivilisation zu bringen. Dass Russland den Nichtchristen seines Imperiums europäische Aufklärung und Fortschritt zu bringen, dass es eine zivilisatorische Mission zu erfüllen hatte, gehörte in den folgenden Jahrhunderten zum Standardrepertoire der Legitimation seiner Expansionspolitik.81 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Schamanisten Westsibiriens mit einer Mischung von materiellen Anreizen und Gewalt christianisiert. Die Ostjaken (Mari) und Wogulen (Chanty) leisteten heftigen Widerstand, nur eine Minderheit entging aber der Taufe. Allerdings blieb die Bekehrung an der Oberfläche, und die sibirischen Ethnien hielten weitgehend an ihrem Glauben fest. Schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde der Druck auf die islamischen Tataren verstärkt, und im Jahre 1713 stellte Peter der Große die muslimischen Gutsbesitzer vor die Wahl, zur Orthodoxie überzutreten oder ihre Güter mit orthodoxen Bauern abzutreten. Eine Minderheit von tatarischen Adligen ließ sich taufen und ging in den folgenden Jahrzehnten allmählich im russischen Provinzadel auf. Die Mehrheit der muslimischen Adligen wurde zu Staatsbauern degradiert und in den Dienst der Admiralität, des russischen Flottenbaus, gestellt. Manche von ihnen schafften in der Folge die Transformation zu erfolgreichen Kaufleuten und Unternehmern. Auch als in den 1740er Jahren Staat und Kirche mit Zwangsmaßnahmen die Christianisierung der Tataren endgültig durchsetzen wollten und zahlreiche Moscheen zerstörten, blieben die Bemühungen weitgehend ohne Erfolg und stärkten nur den Widerstandswillen.82 Unter Peter dem Großen verstärkte der Staat den Druck auch auf die Tschuwaschen und anderen animistischen Ethnien der Wolgaregion. Zunächst wurde in den Jahren 1718 bis 1724 die Sonderkategorie der Jasakleute aufgehoben, und die Tschuwaschen wurden in den neu geschaffenen Stand der Staatsbauern eingegliedert. Diese waren einer einheitlichen Kopfsteuer unterworfen und hatten wie die Russen Rekruten zu stellen. Damit wurde ihre Belastung durch Abgaben und Dienstleistungen insgesamt erhöht und an die der russischen Bauern angepasst. Erhalten blieb die Willkür der Regionalverwaltung, der die Nichtrussen in höherem Maß ausgesetzt waren als die Russen. Die tschuwaschischen Bauern blieben allerdings gegenüber der Mehrheit der russischen Bauern weiter insofern

73

74

3. Kapitel: Integration und Protest

privilegiert, als sie auch jetzt nicht zu Leibeigenen des russischen Adels degradiert wurden. Die Einführung der Kopfsteuer machte die zahlenmäßige Erfassung der Lastenpflichtigen notwendig. Diese erfolgte in den sogenannten Revisionen, die von 1721/22 bis 1857 regelmäßig durchgeführt wurden. Da dabei auch die ethnische Zugehörigkeit erfasst wurde, haben wir erstmals (allerdings sehr ungenaue) Angaben über die Zahl der Tschuwaschen. Danach lebten im Jahre 1719 im Wolgaraum ungefähr 218.000 Tschuwaschen, bis zum Jahr 1761 war ihre Zahl auf 277.000, bis 1795 auf 307.000 angewachsen.83 War die soziale Integration der Tschuwaschen in das Ständegefüge Russlands zu Beginn der 1730er Jahre weitgehend abgeschlossen, so standen sie weiterhin außerhalb der christlich-orthodoxen Welt. Der petrinische Staat hatte mit dem Anreiz der zeitlich beschränkten Befreiung von Abgaben nur eine geringe Zahl von Tschuwaschen zur Taufe geführt. Nach Peters Tod wurde im Jahre 1732/32 im Marienkloster von Svijažsk eine »Kommission (später Kontor) für Angelegenheiten der Neugetauften« begründet, die die Christianisierungspolitik in der Wolgaregion koordinieren sollte. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1740, bis eine Massenbekehrung einsetzte. Jetzt blies man zum Generalangriff nicht nur auf den Islam, sondern auch auf den traditionellen Glauben der Tschuwaschen und anderen Animisten der Wolgaregion.84 Zur Durchsetzung der Christianisierung operierte der Staat mit Zuckerbrot und Peitsche und verband Steuerprivilegien mit wirtschaftlichen Druckmitteln. Die Getauften wurden für drei Jahre von der Kopfsteuer und generell von der Pflicht, Rekruten zu stellen, befreit. Die Taufe wurde mit Geschenken belohnt, jeder Täufling sollte ein Kreuz, eine Ikone, mehrere Kleidungsstücke und die nicht unbeträchtliche Geldsumme von eineinhalb Rubel für Männer und einen Rubel für Frauen erhalten. Die Getauften kamen auch in den Genuss einer Teilamnestie für Vergehen. Die wichtigste Neuerung bestand darin, dass die den Getauften erlassenen Abgaben und Lasten auf diejenigen Tschuwaschen überwälzt werden sollten, die sich der Taufe widersetzten. Diese hatten also zusätzlich zu ihren eigenen Lasten die Abgaben und die Dienstleistungen, vor allem die Stellung von Rekruten, für die getauften Dorfgenossen zu tragen. Dieser wirtschaftliche Druck löste eine wahre Tauflawine aus, und in den Jahren 1744 bis 1749 trat die weit überwiegende Mehrzahl der Animisten der Wolgaregion, unter ihnen die große Mehrheit der Tschuwaschen, zum orthodoxen Christentum über. Wir haben nur wenige Informationen darüber, wie diese Massentaufen vor sich gingen. Ein besonders drastisches Beispiel: Im Mai 1745 reichten Tschuwaschen der Bezirke Jadrin und Kurmyš beim Senat eine Klage gegen den Protopopen S. Kuprojanov und den Popen V. Michajlov ein. Diese bei-

Die Zwangschristianisierung

den seien mit einer größeren Zahl von Helfern in die tschuwaschischen Dörfer gekommen und hätten Hunderte Tschuwaschen gewaltsam getauft, nachdem sie sie mit Stöcken geschlagen und tagelang gefesselt oder in Eisen geschmiedet gefangen gehalten hatten.85 Nicht alle Tschuwaschen wurden mit Gewalt bekehrt, viele wurden überrumpelt und ließen sich von den Versprechungen von Privilegien und Geschenken verlocken. Als klar wurde, dass diese nur zu einem kleinen Teil eingelöst wurden, war der Taufakt vollzogen und es gab keinen Weg zurück, denn der Abfall von der Orthodoxie war ein schweres Verbrechen. Die Behörden hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass so viele Animisten in kurzer Zeit zum Christentum übertreten würden. Die meisten Maßnahmen ließen sich deshalb nicht durchführen. Die versprochenen Belohnungen wurden nur zu einem geringen Teil ausbezahlt und dann ganz eingestellt. Die Geistlichen wurden nun angewiesen, den Täuflingen klarzumachen, dass es nicht um materielle Vorteile, sondern um ihr Seelenheil gehe. Da viel zu wenige ungetaufte Tschuwaschen übrigblieben, auf die man die Abgaben und Dienstleistungen hätte überwälzen können, mussten die Getauften schon bald wieder Kopfsteuer bezahlen und Rekruten stellen. In den Quellen ist selten von direkten Protestaktionen tschuwaschischer Bauern gegen die Zwangschristianisierung die Rede. Ein Beispiel: In den Jahren 1743 und 1744 griffen mit Heugabeln und Knüppeln bewaffnete tschuwaschische Bauern den Protopopen Davydov an, der, begleitet von einer Abteilung Soldaten, in ihr Dorf gekommen war, um sie zu taufen. Der Geistliche sei verprügelt und das Kreuz, das er trug, geschändet worden.86 Um der Zwangschristianisierung zu entgehen, traten zahlreiche Tschuwaschen zum Islam über, der quasi als geringeres Übel angesehen wurde. Ihre Zahl ist nicht festzumachen, da die meisten von ihnen in der Folge tatarisiert wurden (uchodili v tatary). Eine andere Form von Protest war die Flucht. Zahlreiche Tschuwaschen flohen vor dem Zugriff der Kirche und des Staates in die östlichen Gebiete des Imperiums, wo die meisten von ihnen allerdings mittelfristig der Taufe nicht entgingen. Ich komme auf die Migrationen noch zurück. Angesichts der Massenaktionen versteht es sich von selbst, dass die Taufe ein rein formaler Akt blieb. Die weit überwiegende Mehrheit der Tschuwaschen war des Russischen (und erst recht des Kirchenslawischen) nicht mächtig, während die Geistlichen nicht Tschuwaschisch sprachen, was die christliche Aufklärung stark erschwerte. Schon Posoškov forderte deshalb, dass die Priester das Tschuwaschische und andere lokale Sprachen zu erlernen hätten. Tatsächlich wurden in den 1730er und 1740er Jahren in Kazan’ und Svijažsk Schulen eingerichtet, in denen tschuwaschische Knaben zu Priestern und Kirchendienern ausgebildet werden

75

76

3. Kapitel: Integration und Protest

sollten. 320 tschuwaschische Knaben wurden in diese Schulen geschickt und dort während sechs bis neun Jahren unterrichtet. Ungefähr zweihundert von ihnen schlossen die Schule ab, nicht weniger als sechzig starben während der Schulzeit. Nach dem Erlernen des Alphabets in Russisch und Kirchenslawisch stand die Lektüre des Katechismus und anderer geistlicher Schriften im Vordergrund. Dazu kamen Lektionen im Singen und für einige im Ikonenmalen. Das 1764 ausgeteilte Abschlusszeugnis für den 18jährigen Boris Ivanovič Oris, der die Schule seit 1755 besucht hatte, merkt an, dass dieser das Gebetbuch und den Psalter korrekt lese und einige geistliche Gesänge gelernt habe, aber nur mittelmäßig schreibe. Es gab aber auch einen Absolventen, dem gute Lese- und Schreibkenntnisse attestiert wurden. Er könne auch Noten lesen und mit Zahlen umgehen, viele geistliche Schriften habe er auswendig gelernt. Er beherrsche tschuwaschisch, tatarisch und russisch, weniger gut auch das Kirchenslawische. Die besten Absolventen wurden zur Weiterbildung ins Geistliche Seminar nach Kazan’ geschickt, wo sie auch in Latein unterrichtet wurden.87 Das ehrgeizige Unternehmen brachte nur bescheidene Resultate, und nur wenige der tschuwaschischen Absolventen kehrten als Priester zurück ins tschuwaschische Dorf. Es war ein Vorspiel zur Entwicklung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als immer mehr Tschuwaschen den Weg aus dem analphabetischen Dorf in die russische Welt der Buchstaben einschlugen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war die überwiegende Mehrheit der Tschuwaschen getauft und zu Schäfchen der Russischen Orthodoxen Kirche geworden. Die Zahl der Tschuwaschen, die sich der Taufe widersetzten und dem »Heidentum« die Treue hielten, war gering. Im Jahre 1783 zählte man offiziell nur noch 6.588 ungetaufte Tschuwaschen. Die Mehrheit von ihnen wohnte in geschlossenen Siedlungen in den Regionen östlich der Wolga, in die sie oder ihre Vorfahren geflüchtet waren.88 In den größeren Siedlungen, deren Bevölkerung zum Christentum übergetreten war, wurden bis zum Jahre 1764 (meist auf Kosten der Dorfbevölkerung) 62 Kirchen errichtet und (fast ausschließlich) russische Priester eingesetzt. Die Dorfbewohner hatten nun die Geistlichen und ihre Familien materiell zu versorgen und für den Unterhalt der Kirchen aufzukommen. Das trug nicht zur Popularität des Christentums bei, hatte man doch den Jumzy, den animistischen Opferpriestern, keine regelmäßigen Zahlungen leisten müssen. Die Priester, die von außen kamen und meistens des Tschuwaschischen nicht mächtig waren, hatten nur beschränkte Wirkungsmöglichkeiten. Die geistlichen Behörden setzten zwar Dolmetscher ein und erließen genaue Anweisungen, mit welchen Gebärden die Priester ihre Schäfchen zu unterweisen hätten. Sie konzentrierten sich auf Äußerlichkeiten, wachten darüber, dass die Neugetauften Kreuze trugen, den Gottesdienst besuchten und

Die Zwangschristianisierung

Abb. 12 Die Mariä Opferkirche in Čeboksary (Mitte 17. Jh.)

ihre traditionellen Glaubenszeremonien aufgaben. Damit hatten sie allerdings nur beschränkten Erfolg. Zwar wurden manche animistischen Kultstätten zerstört, doch andere blieben erhalten und wurden weiter für religiöse Zwecke genutzt. Übereinstimmend wird berichtet, dass viele Tschuwaschen an der Verehrung ihrer heidnischen Götter und an ihren Bittfeiern und Opferfesten festhielten und Eheschließungen und Begräbnisse mit ihren traditionellen Zeremonien begingen. Priester beklagten sich ständig darüber, dass die Neugetauften die Kirchenfeste und das Fasten ignorierten. Ikonen dienten als Kinderspielzeug, oder man bohrte den Heiligen die Augen aus, um sie daran zu hindern, das Leben in den Hütten zu beobachten. Viele weigerten sich, ihre tschuwaschischen Namen abzulegen und russische (christliche) Namen zu benutzen. Den Tschuwaschen blieb »der russische Glaube« fremd, und das Verhalten der russischen Geistlichen trug nicht zu seinem Ansehen bei. Der Übertritt zur Orthodoxie bedrohte den Kern ihrer Identität als Tschuwaschen. Dies kam in einer Bittschrift von Neugetauften zum Ausdruck, in der es hieß, dass »sie wie früher Tschuwaschen bleiben und ihren alten Glauben, den schon ihre Väter und Urgroßväter hatten, behalten wollten«.89 Trotz allem erreichte der Staat mittelfristig sein Ziel, und es setzte ein Prozess der allmählichen Christianisierung ein. In den folgenden Jahrzehnten drangen vermehrt Elemente des orthodoxen Christentums in das tschuwaschische Dorf ein, doch war dies ein langer Prozess. Erst

77

78

3. Kapitel: Integration und Protest

allmählich lösten sich die Tschuwaschen von ihrer alten Religion, und es bildete sich ein synkretistischer Glaube heraus, der von den Tschuwaschen zunehmend als christlich verstanden wurde. Eine wichtige Folge der Christianisierung war, dass der Staat in der Person der orthodoxen Geistlichen erstmals direkt in den größeren tschuwaschischen Dörfern präsent war. Dies erhöhte seine Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten erheblich. Die Priester wurden zu sozialdisziplinierenden Maßnahmen angehalten und lieferten den Behörden Informationen über die Dorfbewohner. Erstmals wurde die Geschlossenheit der kompakten tschuwaschischen Dorfgemeinschaft in Frage gestellt. Erstmals kamen Fremde, die russisch und nicht tschuwaschisch sprachen, ins Dorf und machten sich daran, die traditionelle Religion und Lebenswelt zu zerstören. Die Politik der forcierten Christianisierung wurde im Jahre 1755 abgeblasen. Den Ungetauften wurden die großen Steuerrückstände, die sich angesammelt hatten, erlassen, und im folgenden Jahr wurde die Überwälzung der Rekruten auf die Animisten aufgehoben. Kaiserin Katharina II. verkündete im Jahre 1775 Toleranz gegenüber allen Glaubensrichtungen. Sie schaffte die mit der Taufe verbundenen Privilegien ab und bremste die Missionstätigkeit erheblich. Dies wirkte sich in erster Linie auf die Stellung der islamischen Tataren und Baschkiren aus, die sich den Christianisierung erfolgreich widersetzt hatten und fortan ihren Glauben wieder frei ausüben konnten. Den Tschuwaschen und anderen Animisten war aber die Rückkehr zum alten Glauben versperrt. Andererseits anerkannte der Staat die zur Orthodoxie Bekehrten zunächst nicht als vollwertige Christen, sondern schuf für sie die Kategorie der »Neugetauften« (novokreščeny), die sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von den christlichen Russen trennte. Katharina II. war in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit bestrebt, Informationen über die Wünsche und Beschwerden breiterer Bevölkerungsschichten einzuholen. In den Jahren 1763 bis 1765 sollte eine von Oberstleutnant Aleksandr Svečin geleitete Kommission Missständen im Gouvernement Kazan’ auf die Spur kommen. Sie nahm mehrere hundert schriftliche Klagen entgegen und fasste sie in einem »Extrakt« von 168 Punkten zusammen. Im Jahre 1767 berief Katharina II. eine »Kommission für ein neues Gesetzbuch« ein, in der Vertreter der unterschiedlichen Stände, Regionen und Ethnien ihre Wünsche und Beschwerden vorbringen sollten. Unter den etwa 560 Delegierten waren 52 Nichtrussen, 29 von ihnen aus der Region der Mittleren Wolga, unter ihnen fünf Tschuwaschen. Obwohl die den Delegierten mitgegebenen Instruktionen nicht immer repräsentativ waren, gaben sie zusammen mit dem Bericht Svečins einen Einblick in die Wünsche und Nöte der Tschuwaschen.90

Abrechnung mit den orthodoxen Geistlichen im Pugačev-Aufstand

Unter den angesprochenen Problemen waren Beschwerden gegen Abgaben und Dienstleistungen und gegen Übergriffe der Verwaltungsleute besonders häufig. Es ist die Rede von Betrug, Bestechungen, Erpressungen und gewaltsamen Verschleppungen, gegen die sich die des Russischen nicht mächtigen nichtrussischen Bauern nicht wehren konnten. »Mehr als anderswo geschah dies in den Siedlungen der neugetauften Tschuwaschen und Tscheremissen«, heißt es im Svečin-Bericht. Mehrere Klagen betrafen die Verstaatlichung der Wälder für den Schiffsbau und die Willkür der zu deren Schutz eingesetzten »Waldmeister« und den sich daraus ergebenden Mangel an Holz. Im Svečin-Bericht häuften sich außerdem Klagen über die Methoden der Christianisierung, die nicht aus Überzeugung, sondern aus materiellen Erwägungen erfolgt sei, und von Gewaltakten begleitet war. Geistliche plünderten die Getauften erbarmungslos aus, statt sich um das Seelenheil der Getauften zu kümmern. So würden die des Russischen unkundigen Neugetauften mit Geldstrafen bedacht, wenn sie kirchenslawische Gebete nicht korrekt aufsagten oder die Gebühren für Heirat und Begräbnis nicht entrichteten. Abrechnung mit den orthodoxen Geistlichen im Pugačev-Aufstand

Die Unzufriedenheit der Nichtrussen der Wolga-/Uralregion kulminierte im größten vormodernen Volksaufstand Russlands, der Erhebung unter Führung des Donkosaken Emeljan Pugačev, der sich als Peter III., der 1762 ermordete Gemahl Katharinas II., ausgab.91 Der Aufstand ging im Jahr 1773 von den Kosaken am Jaik aus. Pugačev versprach die Einführung der egalitären Ordnung der Kosaken unter den Nichtrussen und Russen. Die Erhebung breitete sich zunächst im Gebiet der Baschkiren im Südural aus, dann zog Pugačev mit seinen Anhängern vor Kazan’, das bis auf den Kreml’ in die Hände der Aufständischen fiel. Schon im Januar 1774 hatten einzelne Tschuwaschen auf die Nachrichten von der Volkserhebung reagiert. Ein Beispiel, das vom gespannten Verhältnis zur Geistlichkeit zeugt: Nach einer Prozession betrat der Pope Petr Kondrat‘ev mit drei Begleitern die Hütte des tschuwaschischen Bauern Petr Ivanov Rachmul. Dieser war nicht anwesend, doch seine Frau beantwortete die Frage des Popen, ob vor der Ikone in ihrer Hütte eine Kerze brenne, dreist mit »Da ist Scheiße und keine Kerze!« Er versetzte ihr darauf drei Hiebe und nahm ihr 4 Kopeken und zwei Brote als Abgabe ab. Als ihr Mann davon erfuhr, ging er zum Popen und sagte ihm auf Tschuwaschisch: »Wer hat dich geheißen, mit dem Kreuz zu gehen, jetzt reicht‘s! Jetzt kommt unser Zar und mit euch ist es aus. Euch wird man alle in Orenburg aufhängen und eure Kirchen verbrennen.« Der Pope gab ihm eine Ohrfeige, worauf ihn der Tschuwasche an den Haaren packte und über den Fußbo-

79

80

3. Kapitel: Integration und Protest

den zog. Wir wissen nicht, wie die Angelegenheit ausging.92 Die Tschuwaschen glaubten also, wie die meisten russischen Bauern, an den »guten Zaren« Petr, als der sich Pugačev ausgab, und lehnten die Herrschaft Russlands nicht prinzipiell ab, sondern erwarteten vom Zaren, dass er den »bösen Bojaren« und Beamten den Garaus machen würde: »Die Tschuwaschen erwarteten den Bösewicht Pugačev wie einen Vater«, berichtete eine russische Quelle.93 Im Sommer 1774 überAbb. 13 Emeljan Pugačev (zeitgenössische querte Pugačev mit einer kleinen Darstellung) kosakischen Streitmacht von 500 bis 700 Mann bei Kazan‘ die Wolga, eroberte die Städte Civil’sk und Kurmyš und riss die (vorwiegend tschuwaschischen) Bauern der Region zu einem heftigen Aufstand mit. In Civil’sk hängten sie den Voevoden und zwei seiner Mitarbeiter auf, in Kurmyš zwei Offiziere und eine Adlige. Bei den Behörden gingen beunruhigende Meldungen ein: »Kaum hatte er die Wolga überschritten, erhoben sich alle Nichtrussen und töteten ihre Priester«. »Die Tschuwaschen sind ganz vom rebellischen Geist angesteckt. Sie nehmen die Soldaten und Offiziere gefangen und hängen die Priester auf«.94 Als Pugačev in ihre Dörfer kam, erhoben sich die Tschuwaschen mehrerer Bezirke geschlossen. Sie schickten Delegationen zu Pugačev, um ihm als Zaren zu huldigen. Manche schlossen sich seiner Truppe an und traten in der Folge, wie schon im Razin-Aufstand, als »Kosaken aus den Tschuwaschen« auf. Andere organisierten selbst Trupps, die mit Pfeil und Bogen, Äxten, Spießen und Knütteln bewaffnet waren und zum Teil unter dem Kommando der tschuwaschischen Kosaken standen. Die von Pugačev in Manifesten verbreiteten Ziele des Aufstands, die Befreiung von der Willkür der Behörden, von Abgaben und Dienstleistungen und das Versprechen der religiösen Toleranz mobilisierten die Tschuwaschen. Unter ihnen zirkulierte das Gerücht, dass »der Zar Petr Fedorovič [Pugačev] uns befiehlt, die Wälder zu schlagen, die Popen aufzuhängen… und keine Abgaben mehr zu entrichten«.95 Die Tschuwaschen töteten die Vertreter der Staatsmacht, die ihnen in die Hände fielen, unter ihnen viele Waldaufseher, und ließen ihre Wut an russi-

Abrechnung mit den orthodoxen Geistlichen im Pugačev-Aufstand

schen Kaufleuten aus, die sie mit ihren Mühlen und Wucherzinsen ausbeuteten. In einigen Fällen wurden reichere Tschuwaschen (koštany) umgebracht. Die meisten gewaltsamen Aktionen der tschuwaschischen Bauern richteten sich gegen die Geistlichen, die einzigen Vertreter der Staatsmacht, die seit einem Vierteljahrhundert in ihren Dörfern präsent waren. Sie waren verhasst, da sie die Bauern dazu zwangen, die christlichen Zeremonien zu vollziehen, und von ihnen Abgaben erhoben. In den meisten Dörfern wurden die Kirchen ausgeraubt und zerstört, die Geistlichen und ihre Diener aufgehängt, erdrosselt oder zu Pugačev gebracht, der sie hinrichten ließ. Besonders hervorgehoben wurden in den offiziellen Berichten die Schändung der Kirchen und das symbolische Erstechen und Erschießen der Heiligen auf den Ikonen. Einige Priester wurden an »den heiligen Pforten«, an der Kirchentüre, aufgehängt. Der Diakon Egor Stepanov aus dem Dorf Akramovo im Bezirk Čeboksary berichtete, dass tschuwaschische Bauern gemeinsam mit Kosaken alle Geistlichen und Kirchendiener gefangen nahmen und seinen Vater, einen Priester, und seinen älteren Bruder töteten und ihren Hof ausplünderten. Ihm und seinem jüngeren Bruder schnitten sie die (bei den orthodoxen Priestern üblichen) langen Haare »nach tschuwaschischem Brauch« ab und befahlen ihnen, nach »ihrem Unglauben« zu leben. Die Aufständischen zogen weiter in andere Dörfer, wo sie die Geistlichen umbrachten. Einer musste, auf einem Pferd ohne Sattel sitzend, mit ihnen ziehen, doch gelang ihm, als die Tschuwaschen alle betrunken waren, die Flucht.96 Die Tschuwaschen ermordeten also die Geistlichen nicht nur, sondern rechneten mit ihnen und dem verhassten neuen Glauben auch symbolisch ab. Im Sommer 1774 wurden im Gebiet der Tschuwaschen mindestens zweihundert Popen und andere Personen geistlichen Standes getötet, unter ihnen der oben erwähnte Petr Kondrat’ev, der zu Tode geprügelt und im Wald aufgehängt wurde. Gemäß einer Aufstellung der Geistlichen Verwaltung von Čeboksary wurden allein in diesem Bezirk 18 Priester, 7 Diakone und 6 andere Kirchenleute und einige Soldaten getötet. Im Bezirk Jadrin waren es 38 Personen geistlichen Standes, unter ihnen je 4 Frauen und Kinder, im Bezirk Kurmyš 39 Personen geistlichen Standes sowie 3 Verwaltungsleute und 15 andere Hofleute.97 Zu diesen 108 Opfern kam eine unbekannte Zahl in den übrigen Bezirken. In diesen lebten zusammen doppelt so viele Tschuwaschen wie in den drei oben genannten Bezirken. Auch wenn eine Extrapolation unsicher ist, bewegt sich die genannte Schätzung von mindestens 200 Opfern geistlichen Standes an der unteren Grenze, es könnten mehr als 300 gewesen sein. In den Untersuchungsprotokollen wurden Dutzende von Fällen mit den Listen der Beschuldigten festgehalten, wobei oft sowohl ihre christlichen als auch ihre tschuwaschischen Namen genannt wurden. Nicht überraschend waren

81

82

3. Kapitel: Integration und Protest

es fast ausschließlich Tschuwaschen (und andere ehemalige Animisten), die mit der Geistlichkeit abrechneten, während Pugačev und seine Kosaken die Geistlichen meist in Ruhe ließen. Als Pugačev Anfang August 1774 mit seiner kleinen Truppe abzog, brach der heftige Aufstand der Tschuwaschen und anderen Bauern der Region rasch zusammen. Im September fiel Pugačev in die Hände der Regierungstruppen, wurde nach Moskau gebracht und dort hingerichtet. Die letzten Keime der Erhebung wurden allerdings erst in den folgenden Monaten erstickt. Wenn er auch nur etwa zwei Wochen, in einzelnen Dörfern oft nur wenige Tage, dauerte, brachte der Pugačev-Aufstand die Unzufriedenheit der Tschuwaschen dramatisch zutage. Den Quellen zufolge waren sie auf dem rechten Wolgaufer die aktivste aufständische Gruppe. Der zunehmende Druck der Verwaltung und des Staates hatte schon seit dem frühen 17. Jahrhundert heftige Proteste ausgelöst. Der direkte Angriff auf die Wertsysteme, die den Kern der eigenständigen Kultur und Identifikation der Tschuwaschen ausmachten, verlieh dem Widerstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine starke zusätzliche Dynamik. Zielscheiben der Aufständischen waren nun nicht mehr primär, wie im Razin-Aufstand, die Vertreter der zarischen Verwaltung, sondern die orthodoxen Geistlichen. Die besonders gewalttätige Abrechnung mit ihnen zeigte deutlich, dass sich die Tschuwaschen mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrer Taufe noch immer nicht damit abgefunden hatten, dass sie zum Übertritt zur Orthodoxie gezwungen und den Geistlichen ausgeliefert worden waren. Die Regierungstruppen marschierten ab Ende Juli 1774 in das Gebiet der Tschuwaschen ein, eroberten die besetzten Festungen zurück und brachen den erbitterten Widerstand der tschuwaschischen Bauern mit dem Einsatz von Soldaten und Feuerwaffen. Es folgte eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen. Ihre Anführer wurden an Ort und Stelle aufgehängt, andere wurden später zum Tode verurteilt, in einigen Dörfern wurde jeder Hundertste nach dem Los hingerichtet. Zur Abschreckung wurden in den tschuwaschischen Dörfern Galgen und Räder aufgestellt. Zahlreiche Rebellen wurden zu Zwangsarbeit verurteilt und in den Ural verschickt. Die überwiegende Mehrheit wurde zu Körperstrafen (Knute, Peitsche, Abschneiden eines Ohrs) verurteilt. In den Protokollen der geheimen Kommission, die sich mit der Bestrafung der Aufrührer befasste, wurde nicht selten angemerkt, dass der Verurteilte an der Körperstrafe gestorben sei.98 In der tschuwaschischen Volksüberlieferung blieb die Erinnerung an den Pugačev-Aufstand noch lange lebendig. Auch im 19. Jahrhundert kam es gelegentlich zu Protesten gegen die Kirche und die Geistlichen, doch fügten sich die Tschuwaschen bald darin, jetzt offiziell zu den orthodoxen Christen zu gehören. Das hin-

Die Migrationen der Tschuwaschen und die Entstehung der tschuwaschischen Diaspora

derte sie allerdings nicht daran, weiter ihre traditionellen religiösen Vorstellungen und Bräuche zu pflegen. Erheblich mehr Widerstand leisteten die benachbarten Mari, die in den Wäldern jenseits der Wolga wohnten. Unter ihnen blieb der Prozentsatz der Animisten höher als bei den Tschuwaschen, und das ist bis heute so geblieben. Protest mit den Füßen: Die Migrationen der Tschuwaschen und die Entstehung der tschuwaschischen Diaspora

Eine in Russland seit dem 16. Jahrhundert verbreitete Form des Protestes war die Flucht der Bauern aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in neu erschlossene, meist fruchtbarere und von der Verwaltung und der Gutsherrschaft noch nicht kontrollierte Räume im Osten und Südosten des Reiches. Durch den Bau immer neu vorrückender befestigter Grenzlinien wurden diese fruchtbaren Regionen an der Steppengrenze vor Einfällen der Steppennomaden geschützt und für die bäuerliche Kolonisation geöffnet. An diesen Grenzlinien wurden militärische Dienstleute (Strelitzen und Kosaken) angesiedelt, die ein Stück Land erhielten und in der Regel keine Abgaben bezahlen mussten. Tschuwaschische Bauern verließen schon seit dem 16. Jahrhundert und in größerem Ausmaß seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ihre Dörfer, um dem Druck der Abgaben und Dienstleistungen, der Willkür der Verwaltungsleute und der Schrumpfung der Anteile an Grund und Boden zu entgehen und um in den fruchtbareren Grenzgebieten ein besseres Auskommen zu finden.99 Der Druck der Zwangschristianisierung und die Übergriffe der orthodoxen Priester ließen die Migration weiter anschwellen. Die Behörden konnten die Flucht der Bauern nicht verhindern und wollten dies auch nicht unbedingt, da sie an einer Besiedlung der neu erschlossenen Grenzgebiete interessiert waren. Mittelfristig holte der Staat die flüchtigen Bauern ohnehin ein, indem er die Kontrolle über die Grenzgebiete im Süden und Südosten sukzessive verstärkte und deren Bevölkerung integrierte. Die Zielgebiete der tschuwaschischen Kolonisation waren die Schwarzerde-Regionen an der Steppengrenze im Süden, Osten und Südosten des zentralen Siedlungsraumes. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich die territorialen Gruppen der tschuwaschischen Diaspora etabliert, die im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben sind. Die weitaus größte Zahl von Tschuwaschen blieb weiterhin im Siedlungsgebiet südlich der Wolga, zwischen den Flüssen Sura und Svijaga, in dem sie die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Das erste und nächste Ziel der Migration waren die südlich angrenzenden fruchtbaren

83



Abb. 14 Migrationen der Tschuwaschen vom 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts (Vorlage E. Jagafova)

84 3. Kapitel: Integration und Protest

Die Migrationen der Tschuwaschen und die Entstehung der tschuwaschischen Diaspora

Regionen des Gouvernements Simbirsk100, die als erste durch Grenzverhaulinien gesichert worden waren. Infolge dieser zahlenmäßig bedeutenden Migration wurde das kompakte tschuwaschische Siedlungsgebiet nach Süden erweitert. Hier wurden oft Tochtersiedlungen der ursprünglichen Dörfer begründet, die mit den Vorsilben Neu-, Feld-, Steppen-, Klein- u.a. bezeichnet wurden. Nach der Errichtung der befestigten Grenzlinien im Süden wurden dort zusammen mit Russen, Tataren und Mordwinen mehrere tausend Tschuwaschen als Dienstleute angesiedelt. Diese verloren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Privilegien, worauf viele über die Wolga nach Osten flohen. Andere tschuwaschische Bauern ließen sich im Süden des Gouvernements Simbirsk nieder, unter anderem auf der Wolgahalbinsel gegenüber Samara, der sogenannten »Samara-Krümmung« (Samarskaja Luka) nördlich von Syzran’. Die Zahl der in dieser, südlich des kompakten Siedlungsgebiets liegenden Region lebenden Tschuwaschen betrug im Jahre 1719 etwa 9.000 und blieb im 18. Jahrhundert konstant. Noch weiter im Süden, im Gouvernement Saratov an der unteren Wolga, ließen sich ebenfalls Gruppen von Tschuwaschen nieder. In der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten im Gouvernement Saratov 12.688 Tschuwaschen (2,4 % aller Tschuwaschen). Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts jenseits der Wolga eine befestigte Grenzlinie, die sogenannte Trans-Kama-Linie, errichtet worden war, überquerten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr Tschuwaschen die Wolga und besiedelten die von der Trans-Kama-Linie geschützten Regionen im Einzugsbecken der Flüsse Malyj Čeremšan und Bolšoj Čeremšan im Süden des Gouvernements Kazan’ und im Nordwesten des Gouvernements Samara. In den 1720er Jahren lebten hier schon mehr als 8.000 Tschuwaschen, und in der Folge nahm ihre Zahl beträchtlich zu. Nachdem in den 1730er Jahren weiter im Süden eine »Neue Trans-Kama-Linie« gebaut worden war, stieß die Kolonisation nach Südosten in das Einzugsgebiet der Flüsse Sok, Bol‘šoi Kinel’ und Samara im Nordosten des Gouvernements Samara vor. Hier spielten tschuwaschische Dienstleute aus den Reihen der tarchany zum Teil eine Vorreiterrolle. Der Bau der Orenburger Linie führte zur Wanderung kleinerer Gruppen in den südlicher gelegenen Raum am Fluss Buzuluk. Im Gouvernement Samara, das im Jahre 1851 um zuvor zum Gouvernement Orenburg gerechnete Bezirke erweitert wurde, lebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits 49.543 Tschuwaschen, was knapp 10 Prozent aller Tschuwaschen ausmachte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das westliche Uralgebiet, das Einzugsgebiet der Flüsse Ik, Dema und Belaja im Süden des Gouvernements Ufa zum wichtigsten Zielraum der Migration. Hier lebten die halbnomadischen Baschkiren, die zwar seit längerer Zeit unter der losen Herrschaft Russlands standen, aber erst im 18. Jahrhundert endgültig unterworfen worden waren. Die Zuwanderer, außer

85

86

3. Kapitel: Integration und Protest

den Tschuwaschen zahlreiche Russen, Wolga-Tataren, Mari und Mordwinen, pachteten Grundstücke der Baschkiren und bezahlten dafür einen Zins; später kauften sie den Baschkiren Land ab. Zwischen 1720 und 1784 ließen sich im Südural mindestens 150.000 Kolonisten nieder, unter ihnen über 20.000 Tschuwaschen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in den Gouvernements Ufa und Orenburg 33.311 Tschuwaschen (6,4 % aller Tschuwaschen). Nur in dieser Region setzte sich auch im 19. Jahrhundert eine nennenswerte Zuwanderung fort. Von den 522.300 Tschuwaschen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Russländischen Reich lebten, wohnten 82.854 (16 %) in den Gebieten östlich der Wolga. In den neuen Siedlungsgebieten, in denen die tschuwaschische Diaspora eine Minderheit ausmachte, waren die Tschuwaschen Einflüssen der anderen ethno-religiösen Gruppen mehr ausgesetzt als in ihren angestammten Regionen. Allerdings blieben sie auch hier in der Mehrheit der Dörfer unter sich. In anderen Dörfern lebten sie mit Tataren und Mordwinen zusammen. Im 19. Jahrhundert verstärkte sich die russische Kolonisation der Region jenseits der Wolga, so dass nun tschuwaschisch-russische Dörfer häufiger wurden. So war in der Mitte des 19. Jahrhunderts im südlich der Kama liegenden Kreis Čistopol’ die Mehrheit (42) der 71 von Tschuwaschen bewohnten Dörfer ethnisch gemischt, 22 tschuwaschisch-russisch, je 5 tschuwaschisch-mordwinisch und tschuwaschisch-tatarisch, und 6 wurden sogar von drei Ethnien (Tschuwaschen, Russen und Tataren) bewohnt.101 Im Uralgebiet waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als drei Viertel der von Tschuwaschen bewohnten Dörfer monoethnisch, in den übrigen Dörfern lebten Tschuwaschen mit Tataren und Baschkiren, seltener mit Russen, zusammen. Zahlreiche Tschuwaschen waren in die entlegeneren Gebiete geflohen, um der Zwangs­ christianisierung zu entgehen. In den Kolonisationsgebieten östlich der Wolga behaupteten sich kleine Gruppen ungetaufter Tschuwaschen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sollen es 7.400 gewesen sein, in Wirklichkeit waren es wohl mehr. Sie lebten mehrheitlich in geschlossenen Dörfern. Die Zahl muslimischer Tschuwaschen blieb gering, wobei auch hier mit einer Dunkelziffer zu rechnen ist. Die Migrationen vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert legten den Grund für die große tschuwaschische Diaspora. In der Folge blieb ihre geographische Verteilung im Wesentlichen konstant, doch stieg der Anteil der außerhalb der Kerngebiete lebenden Tschuwaschen noch weiter an. Wie schon im 18. und 19. Jahrhundert steht die heutige tschuwaschische Diaspora unter starkem Einfluss der anderen ethnischen Gruppen, heute in erster Linie der Russen.

4. Kapitel:

»Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«: Beschreibungen der Tschuwaschen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die Tschuwaschen sind uns bisher fast ausschließlich als Objekte der Politik entgegengetreten. Die einzigen Ausnahmen waren vereinzelte Manifestationen sozialen und religiösen Protests. Dies bedeutet, dass die Quellen Tschuwaschen im jeweiligen Kontext lediglich kurz erwähnen, ohne dass ihre soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation, ihre Lebensweise und Traditionen beleuchtet würden. Das änderte sich im 18. Jahrhundert, als die Tschuwaschen und anderen Völker des Russländischen Reiches erstmals systematisch beschrieben und in vereinzelten bildlichen Darstellungen vorgestellt wurden. Auch diese Quellen stammten wie die der vorangehenden Zeit von Außenstehenden, die meist nur kurzfristig in die Region der Mittleren Wolga kamen. Selbstzeugnisse von Tschuwaschen sind erst aus dem 19. Jahrhundert überliefert, und erst dann treten uns Tschuwaschen nicht nur als Kollektiv, sondern als Individuen entgegen. Sie sind Gegenstand des folgenden 5. Kapitels. Die Expeditionen der Petersburger Akademie der Wissenschaften

Die Tschuwaschen waren schon in einzelnen Reiseberichten des 16. und 17. Jahrhunderts, so in den beiden Russlandbüchern der Diplomaten Herberstein und Olearius, erwähnt worden. Erst im 18. Jahrhundert wurden sie aber zusammen mit den meisten anderen Völkern des Russländischen Reiches zum Gegenstand von geographischen und ethnographischen Beschreibungen. Deren Autoren waren zunächst gelehrte Ausländer, mehrheitlich Deutsche, die nach Russland eingeladen worden waren, um das Land, seine Geschichte und seine Völker zu erforschen. In ihren Fußstapfen folgten bald auch russische Wissenschaftler.

88

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Mit den Entdeckungen des 15. bis 17. Jahrhunderts war das Interesse Europas an den noch unbekannten Regionen anderer Erdteile und ihren »wilden Völkern« angewachsen, wovon eine Vielzahl von Reiseberichten Zeugnis ablegte. Erst im Gefolge der Aufklärung entstanden dann systematische Beschreibungen der fremden Völker. Europa machte sich daran, die Welt zu kartieren und das Wissen über die außereuropäischen Länder und ihre Bewohner zu benennen, zu ordnen und zu klassifizieren. Russland folgte im Zuge seiner Verwestlichung dem Beispiel der anderen europäischen Länder. Die 1724 begründete Petersburger Akademie der Wissenschaften organisierte groß angelegte Expeditionen, die beauftragt wurden, die Randgebiete des Imperiums zu erforschen. Gerade die gewaltige territoriale Ausdehnung und die große ethnische Vielfalt repräsentierten den imperialen Charakter Russlands.102 Die Forscher sollten im Auftrag der Regierung Informationen gewinnen, um die imperiale Herrschaft über Völker und Regionen und ihre wirtschaftliche Ausbeutung zu optimieren. Im Vordergrund des Interesses stand Sibirien bis hin zur Halbinsel Kamčatka, nach der zwei große Expeditionen der Jahre 1725–1727 und 1733–1743 benannt wurden. Die Zweite Kamčatka-Expedition oder Große Nordische Expedition war eine gewaltige Unternehmung mit etwa 500–600 Personen, zusätzlich 2.500–3.000 Soldaten und Kosaken als Begleitschutz. Die Leitung der Zweiten wie schon der Ersten Expedition wurde dem Dänen Vitus Bering anvertraut, der zu Schiff nach Ostsibirien fuhr und dort die nach ihm benannte Beringstraße (wieder-)entdeckte. Ein kleinerer »Akademischer Trupp« reiste zu Lande und besuchte im Herbst und Winter 1733/34 auf dem Weg nach Sibirien die Wolga-Ural-Region, wo die Nichtrussen, unter ihnen die Tschuwaschen, ihr Interesse fanden. Diese Gruppe stand unter der Leitung des Historikers Gerhard Friedrich Müller (1705–1783), des Botanikers, Chemikers und Mediziners Johann Georg Gmelin (1709–1755), die beide aus Deutschland stammten, und des französischen Astronomen Louis De l’Isle de la Croyère. Neben den drei Gelehrten umfasste der Trupp sechs russische Studenten, unter ihnen Stepan Krašeninnikov, der später selbst ein bedeutender Wissenschaftler werden sollte, fünf Feldmesser, je einen Dolmetscher und Instrumentenmacher, alles Russen, sowie je einen deutschen Maler und Zeichenmeister. Dazu kamen als Begleitschutz 12 Soldaten, ein Korporal und ein Trommler, zusammen also 30 Personen. Von Müller und Gmelin stammen die ersten genaueren Beschreibungen der Tschuwaschen. Müllers »Nachricht von dreyen im Gebiete der Stadt Casan, wohnhaften Heidnischen Völkern. Den Tscheremissen, Tschuwaschen, und Wotiacken« wurde 1759 als Teil des dritten Bandes seiner »Sammlung russischer Geschichte«

Die Expeditionen der Petersburger Akademie der Wissenschaften

gedruckt. Eine russische Fassung war schon 1756 erschienen. Die Schrift umfasst 76 Seiten, dazu kommt eine vergleichende Wortliste in Deutsch und in sieben Sprachen des Wolga-Ural-Raums, darunter das Tschuwaschische, sowie die Übersetzung des Vaterunsers ins Tscheremissische und Tschuwaschische. 103 Schon acht Jahre früher wurde der erste Teil von Gmelins »Reise durch Sibirien« veröffentlicht, in dem sich ebenfalls Informationen über die Tschuwaschen finden.104 Außerhalb der Akademiereisen stand ein zweibändiges Werk von Petr Ryčkov (1712–1777), der einige Zeit als Beamter im Gouvernement Orenburg im südlichen Ural zubrachte. Es behandelte auch die Nichtrussen der Wolga-Ural-Region, die Tschwaschen allerdings nur knapp.105 Mehr als drei Jahrzehnte später wurden auf Geheiß der aufgeklärten Herrscherin Katharina II. weitere Akademie-Expeditionen organisiert. Sie waren nicht mehr primär Entdeckungsreisen, sondern auf den Nutzen, den die peripheren Territorien dem Imperium bringen konnten, ausgerichtet. Eine von ihnen, die unter der Leitung des Geographen und Naturforschers Peter Simon Pallas (1741–1811) stand, besuchte in den Jahren 1768–1774 das Wolga-Uralgebiet und Westsibirien. Sie bereiste allerdings das zentrale Siedlungsgebiet der Tschuwaschen nicht, sondern besuchte lediglich Siedlungen der Tschuwaschen am Čeremšan, einem linken Nebenfluss der Wolga. Weitere Teilnehmer dieser Expedition waren der aus Schweden stammende Naturforscher Johan Peter Falck (1733–1774) und zwei ­Russen, der Arzt und Botaniker Ivan Lepechin (1740–1802) und der Offizier ­Nikolaj Ryčkov (1746–1784), der Sohn von Petr Ryčkov. Die Reiseberichte von Pallas, Lepechin und Ryčkov wurden schon in den Jahren 1770 und 1771 gedruckt. Falck beging 1774 in Kazan‘ Selbstmord, und seine Aufzeichnungen wurden erst 1785 im Rahmen seiner »Beiträge zur Topographischen Kenntnisz des Russisches Reichs« publiziert.106 Im Jahre 1770 stieß der Geograph, Apotheker und Botaniker Johann Gottlieb Georgi (1729–1802) zur Expedition. Im Gegensatz zu Pallas, Lepechin und Ryčkov besuchte er auf dem Rückweg aus Sibirien im Jahr 1773 Kazan‘ und das Gebiet der Tschuwaschen. Er verfasste einen Reisebericht, der 1775 gedruckt wurde. Ein Jahr später erschien sein Kompendium der ethnischen Gruppen Russlands, die »Beschreibung aller Nationen des Russischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidung und übrigen Merckwürdigkeiten«. Georgi stellte darin nicht weniger als 95 Völker, unter ihnen die Tschuwaschen, in einem eigenen Kapitel und mit je zwei Illustrationen vor.107 Die Arbeiten der zweiten Generation deutsch-russischer Forschungsreisenden wurden in mehrere Sprachen übersetzt und fanden eine weite Verbreitung. Die Forschungsreisenden waren im Prinzip an allen Informationen interessiert, die einzelnen Wissenschaftszweige waren nicht klar voneinander abgegrenzt.

89

90

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Abb. 15 Titelblätter der Werke von Gerhard Friedrich Müller (links) und Johann Gottlieb Georgi (rechts)

Demzufolge umfassten die Teams der Expeditionen Spezialisten unterschiedlicher Sparten, und auch die meisten Gelehrten waren multidisziplinär ausgerichtet. Ihnen ging es nicht mehr wie den früheren Reisenden nur um eine Wiedergabe von Eindrücken, nicht um ein Anhäufen von mehr oder weniger zufälligen Zeugnissen, sondern sie setzten sich Ziele, die in Fragenkatalogen und detaillierten Programmen festgehalten wurden. Ihre enzyklopädischen Werke umfassten gleichermaßen die Geschichte, Geologie und Geographie, die Tier- und Pflanzenwelt der Regionen, wie die Sprachen, Kulturen, Religionen und sozialen Organisationen der Völker. In der Ausarbeitung des Forschungsprogramms spielte Müller die zentrale Rolle. Er schlug für die 2. Kamtschatka-Expedition als neues Projekt die Untersuchung der »Historia gentium«, der Geschichte, Sitten und Gebräuche der Völker, vor. Im Jahre 1732, also schon vor Reiseantritt, stellte er eine zehn Punkte umfassende Instruktion zusammen, die aufgrund der Reiseerfahrungen ständig erweitert wurde.108 Müller vollzog damit den methodischen Schritt zur Völker-Beschreibung, zur Ethnographie avant la lettre, die auch Geschichte, Archäologie,

Von Olearius bis Georgi: Die Reisenden und ihre Schriften

Geographie, Statistik und Sprachwissenschaft einschloss. Er war, so die These von Gudrun Bucher und Han Vermeulen, der Schöpfer der Ethnographie nicht nur in Russland, sondern weltweit.109 Pallas war in ständiger Verbindung mit Müller und griff auf dessen Fragenkatalog zurück, als er die Instruktionen für die Akademie-Expedition von 1768–1774 verfasste. Bei allem Bemühen um Objektivität blieben die Forschungsreisenden dem europazentrischen Fortschrittsdenken verpflichtet. Sie sahen ihre Aufgabe in der Verbreitung der europäischen Zivilisation und des Christentums und in der Aufklärung der rückständigen, unwissenden, von Aberglauben verblendeten Völker. Auch alte Heterostereotypen der dummen, schmutzigen, lügnerischen, lasterhaften und trunksüchtigen Fremden flossen in ihre Wertungen ein, Eigenschaften eines »Volkscharakters«, die von ausländischen Reisenden des 16. und 17. Jahrhunderts den Russen zugeschrieben worden waren. Von Olearius bis Georgi: Die Reisenden und ihre Schriften

In den Reiseberichten über das Moskauer Russland tauchten die Tschuwaschen nur sehr selten auf. Wie erwähnt, nannte Herberstein als erster die Tschuwaschen bei ihrem Namen, doch waren seine sonstigen Informationen mager und aus zweiter Hand. Im Gegensatz zum österreichischen Diplomaten besuchte Adam Olearius (1599–1671) das Gebiet der Tschuwaschen, als er im Jahr 1636 als Sekretär einer Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorp auf der Wolga abwärts fuhr, um nach Persien zu reisen. Sein Reisebericht erschien 1643, erlebte mehrere Auflagen und wurde ins Französische, Englische und Niederländische übersetzt. In seine Beschreibung der Flussfahrt von Nižnij Novgorod nach Kazan‘ fügte er ein kurzes Kapitel »Von Ceremissischen Tartern« ein. Damit waren nicht die Tataren, sondern die Mari und Tschuwaschen gemeint.110 Olearius unterschied zwischen den Berg-Tscheremissen am rechten und den Wiesen-Tscheremissen am linken Ufer der Wolga. Den Begriff »Tschuwaschen« verwendete er nicht, sondern er erfasste unter den Berg-Tscheremissen, wie die meisten damaligen russischen Quellen, sowohl die rechtsufrigen Mari wie die Tschuwaschen. Er stellte fest, dass die Berg-Tscheremissen eine eigene Sprache hätten (gemeint ist offensichtlich das Tschuwaschische), die weder mit dem Tatarischen noch Türkischen verwandt sei. Olearius interessierte sich in erster Linie für die fremde Religion, und dazu befragte er einen 45jährigen »Tscheremissen«. Er erfuhr, dass sie alle Heiden seien, die an einen Gott glaubten, den man ehren müsse, da er den Menschen Gutes tue. Sie beteten auch zu Sonne, Mond und Wasser, und zuweilen sogar zu Kühen und

91

92

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Pferden. Olearius schalt seinen Gewährsmann deswegen, doch erwiderte dieser schlagfertig, dass die Russen zu Göttern beteten, die aus Holz und Farben gefertigt seien und an der Wand hingen. Dann sei es schon besser, die Sonne und Lebewesen anzubeten. Wichtig sei der Glaube an Teufel, die sie Plagegeister nennten und die man mit Opfern besänftigen müsse. Olearius erwähnte eine Opferstätte südlich von Kazan‘ (wohl im Gebiet der Tschuwaschen). Dort habe der Teufel seine Residenz. Er beschrieb die Opferfeiern, bei denen gekochtes Fleisch und Met ins Feuer geworfen würden. Bei Totenfeiern werde an einem Bach das beste Pferd geschlachtet und von der Gemeinschaft verzehrt. Er schloss mit knappen Bemerkungen zu Kleidung und Haartracht der Tscheremissen (Tschuwaschen). Mit dem viel gelesenen Werk von Olearius erreichten erstmals konkrete Informationen über die Tschuwaschen die europäische Öffentlichkeit. Dass in erster Linie ihre religiösen Bräuche bekannt wurden, entsprach dem Interesse des Autors und des Lesepublikums. Dies sollte auch für die Beschreibungen des 18. Jahrhunderts typisch bleiben. Der kurze Bericht Olearius‘, der offensichtlich auf dem Zeugnis eines einzigen »Tscheremissen« beruhte, enthielt einige, mit Abstrichen glaubwürdige, Basisinformationen. Auch der Schwede Strahlenberg, der dadurch bekannt wurde, dass er erstmals den Ural als Grenze zwischen Europa und Asien festlegte, und der, wie erwähnt, als erster die tschuwaschische Sprache den Turksprachen zuordnete, beschränkte sich in seinem 1730 publizierten Werk auf einige knappe Bemerkungen zu den religiösen Zeremonien der Tschuwaschen, vor allem zu den Begräbnisriten. Er behauptete, dass bei ihnen die Polygamie verbreitet sei. Als erster nannte er »Thor«, den Namen ihres obersten Gottes.111 Im Oktober 1733, fast ein Jahrhundert nach Olearius, fuhren Müller und Gmelin die Wolga abwärts von Nižnij Novgorod nach Kazan‘. Sie ließen das Hauptschiff des »Akademischen Trupps« zurück und reisten mit nur sieben Begleitern auf einer kleinen Schaluppe voraus. Sie machten unterwegs mehrfach Station im Gebiet der Tschuwaschen, so auch drei Tage in der Stadt Čeboksary. Unter den vier Soldaten, die sie begleiteten, waren zwei getaufte Tschuwaschen, die ihnen über die Religion der Tschuwaschen Auskunft gaben. Als sie aus der Ferne von der Wolga aus ein Feuer sahen, kletterten die beiden Professoren am Steilufer empor und stießen auf einen viereckigen Platz, auf dem zwei Tschuwaschen eine Andacht verrichteten, indem sie einen Hammel schlachteten und sein Fleisch kochten. Es handelt sich um den ersten Augenzeugenbericht über eine tschuwaschische Opferfeier. Die beiden Forscher merkten an, dass die Tschuwaschen, »allereinfachste Bauern«, ihnen keine befriedigenden Auskünfte geben konnten.112 Deshalb bemühten

Von Olearius bis Georgi: Die Reisenden und ihre Schriften

sie sich darum, in der Gouvernementshauptstadt Kazan‘ mehr zu erfahren. Müller forderte von der dortigen Kanzlei, ihm zur Geschichte und Gegenwart der Region schriftliches Material bereitzustellen, außerdem »von jeder Nation, und zwar von den hiesigen Tataren, Tscheremissen, Tschuwaschen und Mordwinen, jeweils ein oder zwei alte und erfahrene Personen auszusuchen« und zu ihnen zu schicken, damit sie »über ihren Glauben, ihre Lebensweise, ihren Handel, ihre Handarbeiten, ihre Gebräuche und ihre Sitten« befragt werden könnten. Außerdem sollten drei lebende Bisamratten und je ein Exemplar verschiedener Fische beschafft werden.113 Der frühe Ethnograph Müller zog also für seine Forschungen ausgesuchte Exemplare von Tieren und Menschen heran, eine Methode, die weiter entwickelt wurde bis hin zu den ethnographischen Ausstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die »Wilde« in Käfigen zeigten. Die Kanzlei antwortete, dass sie bis auf wenige Ausnahmen über kein Material zur Geschichte und zur gegenwärtigen Situation der Region verfüge. Immerhin schickte man Vertreter jeder ethnischen Gruppe, unter ihnen einen Tschuwaschen, sowie einen Tschuwaschisch-Dolmetscher und die angeforderten Tiere. Mit Hilfe des Dolmetschers stellte Müller sein Wörterverzeichnis zusammen.114 Müller standen also nur beschränkte Informationen zur Verfügung, die er für seine »Nachricht von dreyen im Gebiete der Stadt Casan, wohnhaften Heidnischen Völkern« verwertete, die er in Kazan‘ niederschrieb und auf der Weiterreise ergänzte. Er beteuerte in einer Vorbemerkung, dass er alles entweder selbst gesehen oder durch »öfteres Nachfragen, entweder von diesen Völkern selbst, oder von Dolmetschern, die der Sachen vollkommen kündig waren«, in Erfahrung gebracht habe. Er merkte zusätzlich an, dass sich bis zum Zeitpunkt der Drucklegung im Jahre 1759 manches verändert habe, da bis dahin viele Angehörige dieser Völker getauft worden seien.115 Seinen wissenschaftlichen Anspruch bekräftigte er dadurch, dass er Olearius und Strahlenberg mehrfach kritisierte. Die unbefriedigende Quellenlage hatte zur Folge, dass Müller in seinem Werk nicht alle zehn Punkte, die er in seiner Instruktion festgehalten hatte, berücksichtigen konnte. So fielen die Punkte 2, 8 und 9, die der Geschichte jedes Volkes gewidmet werden sollten, fast ganz weg. Müller beklagte diesen Umstand aus der überheblichen Perspektive des gelehrten Europäers gegenüber »unhistorischen Nationen«: Alle drei Völker »leben übrigens in der grössesten Finsterniß des Verstandes«, sie hätten weder Schrift, noch Bücher und überhaupt keine Überlieferung außerhalb der religiösen.116 Dass die Tschuwaschen keine Vorstellungen von ihrer Herkunft und Geschichte hätten, beklagte auch Petr Ryčkov. Er machte sich dann selber Gedanken darüber und versuchte, die Wolgavölker historisch einzuordnen. Während die

93

94

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«:

Tataren Zuwanderer seien, wohnten die Tschuwaschen und anderen Völker seit alters in der Region. Ryčkov brachte sie mit den Skythen und Sarmaten in Verbindung und zitierte den russischen Historiker Tatiščev, der sie, wie oben erwähnt, für »eine bulgarische Nation« halte. Obwohl sie im Ural auch »Bergtataren« genannt würden, sei ihre Sprache mit der tatarischen nicht verwandt.117 Falck erwähnte, dass die Tataren, Tschuwaschen und anderen Völker im »Königreich« Kazan‘ gelebt hätten, und »diese Nationen sind alle noch vorhanden, und auch auf keine Weise unterdrükt und nicht verpflanzet«. Er war überrascht, mitten im europäischen Russland auf eine so bunte Vielfalt an Völkern zu stoßen, die »einträchtiglich zusammen lebten«.118 Auch zu Punkt 5 seiner Instruktion, der die Wirtschaft und politische Ordnung betraf, konnte Müller nur wenige Informationen beschaffen. Punkt 10, der Illustrationen vorsah, wurde in der Publikation von 1759 ebenfalls nicht Genüge getan; immerhin wurde die Kleidung der Tschuwaschen beschrieben. Punkt 4, Sitten und Bräuche, wurde dagegen ausführlich behandelt. Das Hauptgewicht von Müllers Werk lag auf der Beschreibung des Glaubens der Tschuwaschen, aufgeteilt in je ein Kapitel zur Religion und zu den Zeremonien. Ich gebe im Folgenden einen Überblick über die Informationen über die Tschuwaschen in Müllers »Nachricht«, die die Basis für das frühe Bild der Tschuwaschen (und der Tscheremissen und Wotjaken) in Russland und im Ausland legten. Ich vergleiche die einzelnen Kapitel, die seiner Instruktion folgten, mit dem einzigen im 18. Jahrhundert publizierten Text, der sich ausschließlich mit den Tschuwaschen (und nicht wie Müllers Nachricht auch mit den Tscheremissen und Wotjaken) beschäftigte, dem Tschuwaschen-Kapitel in Georgis »Beschreibung aller Nationen des Russischen Reichs«, die 1776 im Druck erschien.119 Georgi hatte schon in seinem Bericht über seine Rückreise von Sibirien, die ihn im Frühjahr 1774 an die Wolga führte, je einen Abschnitt über die Tscheremissen, Tschuwaschen und Mordwinen eingefügt. Er begründete dies damit, dass »Nachrichten von dem Heidentum dieser Völker künftig desto schwerer zu sammlen seyn werden, je mehr sich die Zeit ihrer Tauffe entfernt.« Jetzt gebe es noch »wirkliche Heiden« und andere, die zwar getauft seien, ihrem alten Glauben aber »im Herzen recht fest anhängen«.120 Er bestätigte damit das primäre Interesse für die Glaubensvorstellungen, das die meisten Forschungsreisenden teilten. Georgis Reisebericht wurde schon 1775 in St. Petersburg gedruckt, und der Abschnitt über die Tschuwaschen diente ihm als Grundlage für das entsprechende Kapitel in der »Beschreibung aller Nationen«. Ich werde beide Varianten berücksichtigen. Georgi gab zu, dass er nicht alle Informationen aus erster Hand habe, sondern sie aus verschiedenen Quellen, unter ihnen Müllers »Nachricht« und Pallas’ Reisebericht, geschöpft habe. Er betonte, dass die Tschuwaschen in ihrem Äußeren und

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

ihrem Charakter, ihren Dörfern, Häusern, Beschäftigungen, Speisen, Vermögen und Abgaben den Tscheremissen »ungemein ähnlich« seien. Zusätzlich zu den Werken Müllers und Georgis füge ich zu den einzelnen Themenbereichen Ergänzungen aus den Werken von Falck, Lepechin, Pallas, P. und N. Ryčkov hinzu. Wie erwähnt, reiste die unter der Leitung von Pallas stehende Akademie-Expedition, die im Jahre 1768 nach Sibirien aufbrach, auf einer Route, die das Siedlungsgebiet der Tschuwaschen nur im Süden und auf der Rückkehr im Norden streifte. Ihre Angaben beschränkten sich deshalb weitgehend auf die Gruppe der Tschuwaschen, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts über die Wolga in die neu erschlossenen Gebiete am Fluss Čeremšan ausgewandert waren.121 Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers, Johann Gottlieb Georgis und ihrer Zeitgenossen

In ihrer Struktur sind sich die Tschuwaschen-Kapitel Müllers und Georgis ähnlich. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Georgi Müllers Werk als Quelle benutzte. In beiden Texten liegen eindeutige Schwerpunkte auf der vorchristlichen Religion und ihren Zeremonien und auf weltlichen Sitten, besonders der Heirat, also auf klassischen Themen der Ethnographie. Der erste Abschnitt von Müllers »Nachricht« (S. 305–314) »Von den Wohnsitzen dieser Völker und ihrer bürgerlichen Einrichtung« bietet eine sehr knappe, im Ganzen zuverlässige geographische Beschreibung der Mittleren-Wolga-Region. Gleich zu Beginn stellte Müller klar, dass die ethnische Klassifizierung, die Olearius vorgenommen habe, nicht korrekt sei. Die überwiegende Mehrheit der am rechten Wolgaufer lebenden sogenannten »Nagornie Tscheremißi« seien Tschuwaschen. Er wies außerdem darauf hin, dass auch auf dem linken Ufer der Wolga, unterhalb der Einmündung der Kama, Tschuwaschen siedelten. Im Gegensatz zu den Tscheremissen und Wotjaken, die nur im Waldgebiet wohnten, seien Tschuwaschen, so Müller, im Gouvernement Simbirsk schon am Rand der Steppe ansässig. Aufschlussreich sind seine Bemerkungen über die ethnische Zusammensetzung der Dörfer. Ein wichtiges, den Tschuwaschen, Tscheremissen und Wotjaken gemeinsames Charakteristikum sei, dass sie ausschließlich auf dem Lande lebten, meist in ethnisch geschlossenen Dörfern. An einigen Orten hätten sich allerdings Tschuwaschen mit Mordwinen und Tataren vermischt, und im Kreis Koz‘modem’jansk »sind Tscheremissen und Tschuwaschen dergestalt vereinigt, daß man sie, obenhin betrachtet, beynahe nach allen Umständen für ein Volk halten würde«. Müller bestätigte damit die enge Verwandtschaft der Tschuwaschen mit den am rechten Wolgaufer siedelnden Berg-Mari. Pallas ergänzte, dass im linksufrigen

95

96

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Kolonisationsgebiet Mordwinen, Tataren und oft noch ungetaufte Tschuwaschen in einem Dorf zusammen lebten.122 Die Tschuwaschen hätten meist große Dörfer von 20 bis 100 Häusern, während bei den Tscheremissen 10 bis 20 Häuser die Regel seien. Die Häuser aller drei Völker seien nach Art der tatarischen gebaut und hätten im Gegensatz zu den russischen einen Feuerabzug. Die beiden letzten Aussagen sind im Gegensatz zu den übrigen Angaben dieses ersten Abschnittes zweifelhaft: Die Mehrheit der Tschuwaschen lebte, wie Georgi zu Recht anführte, in kleinen Dörfern im Walde und an Gewässern und bewohnten sogenannte Rauch-Hütten. Hier rächte sich, dass Müller, wie er selbst bekannte, nie ein tschuwaschisches Dorf besucht hatte. Georgi beschrieb den tscheremissischen Bauernhof, der dem tschuwaschischen ähnlich war, mit einem Raum, einer »Schwarzstube« (also ohne Rauchabzug) mit Ofen, Herd, und breiten Schlafbänken, niedrigen Türen und einem mit einer Blase oder einem Lappen verschlossenen Fenster. Dazu kämen kleine Ställe und Speicher.123 Lepechin bestätigte, dass die Tschuwaschen wie die Mordwinen und im Gegensatz zu den Tataren »schwarze Stuben« hätten, wogegen sein Mitreisender Pallas bemerkte, dass die tschuwaschischen Höfe am Čeremšan oft einen Rauchfang aufwiesen.124 Gmelin führte ergänzend Zahlen der »sehr großen Nation« der Tschuwaschen an. In den zentralen Bezirken links der Wolga seien es etwa 100.000. Diese Zahl ist recht zuverlässig, wenn man in Rechnung zieht, dass den beiden Reisenden wahrscheinlich die für die Steuererhebung maßgebenden Zahlen der »männlichen Seelen« mitgeteilt wurden. Gmelin zufolge lebten also in den zentralen Siedlungsgebieten ungefähr 200.000 Tschuwaschen, was den von der heutigen Forschung angeführten Zahlen nahekäme. Georgi nennt sie »ein zahlreich Volk, welches für mehr als 200.000 Köpfe steuert«, was eine Gesamtzahl von 400.000 ergäbe – eine wohl zu hohe Zahl.125 Es folgen bei Müller knappe zutreffende Angaben zur Verwaltungsordnung. Die drei Völker hätten die Freiheit, aus ihrer Mitte in ihren Dörfern »Gerichtspfleger« zu wählen, die nach russischem Vorbild »Sotniken, Wybornie, Starosten und Desjätniken« genannt würden. Die großen tschuwaschischen Dörfer hätten ihre eigenen Sotniki, die »ältesten und ansehnlichsten«, die die niedere Gerichtsbarkeit innehatten. Alle seien wie die russischen Staatsbauern der Kopfsteuer unterworfen, die von gewählten Vertretern den Behörden in der nächsten Stadt abgeliefert wurde. Im zweiten Abschnitt »Von ihrer Leibes- und Gemüths-Beschaffenheit« (S. 315–318) zeigt sich krass, dass sogar ein gebildeter Wissenschaftler wie Müller die fremden Völker als Menschen zweiter Klasse betrachtete und sie mit den traditionellen eurozentrischen Stereotypen abqualifizierte.

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

„Wegen ihres ungeübten Verstandes sehen sie sehr dumm und fürchterlich aus den Augen…. Die Gemüths-Eigenschaften dieser Völker sind eben so wenig anzupreisen. Der Verstand ist von der grössesten Dummheit und Unwissenheit verfinstert. Sie wissen von keinem Triebe der Ehrlichkeit und Tugend, … von keinem Guten, ausser was sie durch Zwang lernen.«

Diese pauschalen Vorurteile differenzierte Lepechin, wenn er bemerkte, die Tataren seien »unter allen die witzigsten und gesittetsten«; dann kämen die Mordwinen »und die letzte Stelle gehört den Tschuwaschen.«126 Außerdem, so Müller, seien sie diebisch, die Tschuwaschen seien als Pferdediebe berüchtigt. Männer wie Weiber seien dem Trunk ergeben, die Tschuwaschen betränken sich mit Bier und Met, nicht aber mit Schnaps, laut Gmelin aufgrund ihrer Sparsamkeit.127 Zwar seien die drei Völker »sehr zu Lastern geneigt«, doch hob sie Müller von »den morgenländischen Völkern« und »ihren groben Unzuchtssünden« ab – ein Hinweis darauf, dass die Tschuwaschen nicht primär mit der orientalistischen Brille betrachtet wurden. Laut Georgi waren die Tschuwaschen blasser als die Tscheremissen, »träger und von noch stumpferen Verstande, auch schmuziger«. Sie wohnten, äßen und kleideten sich schmutzig, was teilweise auf die engen Wohnverhältnisse zurückzuführen sei. Die Tataren seien dagegen, wie schon Gmelin festhielt, am reinlichsten, während die Tschuwaschen und Wotjaken »säuisch« seien.128 Das verbreitete Fremdstereotyp des Schmutzes wurde also nicht auf die Tataren übertragen, die überhaupt viel positiver bewertet wurden als die Tschuwaschen. Die anti-islamischen Vorurteile waren also weniger wirksam als die Anerkennung des in den Augen der Beobachter höheren Zivilisationsstandes der Tataren. Pallas schrieb dagegen über die Tschuwaschen des ethnisch gemischten Čeremšan-Raumes, dass sie in der Reinlichkeit den Tataren nicht nachstünden. Auch ihre Gesichtszüge und ihr dunkles Haar seien den Tataren ähnlich.129 Der dritte Abschnitt von Müllers Werk ist der Bekleidung gewidmet (S. 318– 324). Alle Männer trügen Bärte, »und die meisten scheeren auch nach Art der Tataren den Kopf ganz kahl oder schneiden wenigstens die Haare sehr kurz ab.« Die Männer seien nach Art der Russen bekleidet, der einzige Unterschied bestand laut Lepechin darin, dass ihre Hemden mit bunter Wolle ausgenäht seien.130 In der Tracht der Frauen, besonders der verheirateten, zeigten sich Besonderheiten, wobei die Unterschiede zwischen Tschuwaschinnen und Tscheremissinnen gering seien. Am auffälligsten war für Müller wie auch für viele spätere Beobachter der weibliche Kopfschmuck, der mit Silbermünzen oder Zinnplättchen und Koral-

97

98

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Abb. 16 Zeichnung von Tschuwaschinnen im Werk von Peter Simon Pallas (1771)

Abb. 17 Abbildung einer Tschuwaschin in Johann Gottlieb Georgis »Beschreibung aller Nationen des Russischen Reiches« (1776)

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

Abb. 18 Tschuwaschinnen in ihrer traditionellen Tracht (Foto um 1900)

len oder Porzellanmuscheln besetzt sei. Die Kleider seien aus grober, am Rande bestickter, Leinwand, als Farben seien rot und blau am beliebtesten. Als Fußbekleidung dienten wie bei den Russen Filz- und Bastschuhe.

99

100

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Knapp gehalten ist der 4. Abschnitt über Alltagsleben und Wirtschaft (S. 324–329). Müller beginnt mit der Ernährung und hebt den Genuss von Fleisch und Fisch hervor; Pferdefleisch sei besonders beliebt, ebenso Blutwürste und getrocknete Fleischwürste. Schweinefleisch dagegen äßen sie nicht (was Müller auf tatarischen Einfluss zurückführt). In Wirklichkeit stand Fleisch bei den tschuwaschischen und anderen Bauern der Region nur selten auf dem Speisezettel; offensichtlich verwechselte Müller die Tatsache, dass bei Opferfeiern das Fleisch der geopferten Tiere gegessen wurde, mit den kargen alltäglichen Mahlzeiten. Speziell erwähnte er das tschuwaschische Brot und seine Zubereitung. Als Getränke dienten bei allen drei Völkern Wasser, Milch, Bier und Met. Grundlage der Wirtschaft war der Ackerbau. Die tschuwaschischen Frauen hülfen, so Müller, bei allen landwirtschaftlichen Arbeiten mit und besorgten außerdem die Hausarbeit. Das überschüssige Getreide und Gemüse wie Kohl, Rüben, Gurken und Zwiebeln verkauften sie in den Städten. Wichtig sei die Gewinnung von Honig, sowohl im Wald wie in Bienenstöcken. Bei der Jagd bedienten sich die Tschuwaschen »gebohrter Feuerröhren«, welche sie mit kleinen Kugeln laden und auf Eichhörnchen oder Auerhähne schießen. »Handwerker haben sie eigentlich keine«, sondern jeder fertige das Notwendige selber an. Messer und Scheren müssten sie bei den Russen kaufen – die Ursache dafür, das für die Nichtrussen lange geltende Verbot der Metallwaren, erwähnte Müller nicht. Der 8. Teil der »Nachricht« befasst sich eingehend mit »ihren weltlichen Sitten und Gebräuchen« (S. 363–381). Im Vordergrund stehen die Zeremonien bei Geburt, Tod und (am ausführlichsten) bei der Heirat. Der Säugling werde nach der Person benannt, die als erste nach der Geburt ins Haus komme. Die Geburt finde gewöhnlich in der Badestube statt. Danach orientiere die Hebamme Verwandte und Nachbarn, die in der Badestube mit Pfannkuchen bewirtet würden. 131 Müller betonte an anderer Stelle (S. 355), dass die drei Völker die (in Westeuropa damals weniger verbreitete) Gewohnheit des Badens hätten, die sie von den Tataren übernommen hätten. Dass die Finnen und Russen die Sauna seit jeher kannten, erwähnte er nicht. Tote würden mit ihren Kleidern begraben und man gebe ihnen Haushaltsgegenstände wie Kessel, Löffel und Messer bei. Georgi ergänzte, Pallas folgend, dass die Toten auch mit Brot und einem Stück gekochten Huhns versorgt würden. Auf den Gräbern errichteten die Tschuwaschen Holzsäulen. Für reichere Tote würden später Gedächtnisfeiern veranstaltet, die mit Spielen und Tieropfern verbunden seien. Das Fleisch der Tiere werde bis auf ein kleines für den Verstorbenen reserviertes Stück, von den Anwesenden verzehrt.132

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

Müller behauptete wie schon Strahlenberg, dass bei allen drei Völkern »nach dem Beispiel aller Morgenländischen Völcker« die Polygamie erlaubt sei, und schrieb die Tschuwaschen an dieser Stelle also den Orientalen zu. Lepechin bestätigte, dass die heidnischen Tschuwaschen bis zu drei Ehefrauen haben könnten, bei Georgi ist davon nicht die Rede. Nikolaj Ryčkov kam wohl der Wirklichkeit am nächsten, wenn er bemerkte, dass nur einige wenige Tschuwaschen zwei bis drei Frauen hätten, die weitaus meisten aber nur eine.133 Die übrigen Bemerkungen Müllers zur Heirat stimmen im Wesentlichen mit den späteren Reiseberichten und den Erkenntnissen der ethnographischen Forschung überein. Er erwähnte die Sitte, Knaben von 5 bis 6 Jahren mit erheblich älteren Mädchen zu verheiraten, um diese als Arbeitskraft zu gewinnen, das Verbot von Eheschließungen naher Verwandter und den Brautraub. Zur Hochzeit werde das ganze Dorf eingeladen, und es werde gespielt, getanzt und viel getrunken. Die jungen Leute sprängen, begleitet vom Spiel von Instrumenten wie den Gusli oder dem tatarischen Dudelsack, »ohne Ordnung« herum und klatschten dabei in die Hände. Georgi merkte an, dass der Mann befehle und die Frau zu gehorchen habe. Wenn er mit ihr unzufrieden sei, zerreiße er ihren Schleier, was Scheidung bedeute; diese sei allerdings selten.134 Der 5. Abschnitt ist vornehmlich den Sprachen gewidmet (S. 329–339). Wie Strahlenberg stellte Müller fest, dass das Tscheremissische mit dem Finnischen verwandt sei, während das Tschuwaschische dem Tatarischen näher stehe. Im Gegensatz dazu ordnete Georgi das Tschuwaschische den finnischen Sprachen zu; allerdings schränkte er ein, dass es sich mit dem Tatarischen vermischt habe.135 Damit waren die beiden Positionen bezogen, die die Diskussion um die Herkunft des Tschuwaschischen noch im 19. Jahrhundert bestimmen sollten. Müller war der einzige Forschungsreisende, der sich kompetent zu den tschuwaschischen Dialekten äußerte, die in eine nordwestliche und südöstliche Gruppe aufgeteilt seien. Er präsentierte eine Liste von gegen 300 Wörtern in den regionalen Sprachen mit der deutschen Übersetzung sowie eine tschuwaschische Übersetzung des Vaterunsers. Müller merkte an, dass bei den Tschuwaschen im Gegensatz zu den Tscheremissen (Mari) und den Wotjaken (Udmurten) Fremd- und Eigenbezeichnung zusammenfielen. An anderer Stelle erwähnte er den Gebrauch von Zahlen, die bei Schuldverschreibungen auf Kerbstöcke geschrieben würden, und von Unterschriften oder Eigentumszeichen (S. 363f.). Despektierlich (und inkompetent) äußerte er sich über die Zeitrechnung der Tschuwaschen. Sie wüssten nicht einmal, wann ein Jahr beginne, auch die Einteilung in Monate fehle, lediglich die sieben Tage der Woche seien ihnen bekannt (S. 333). Georgi führte dagegen die Namen der Monate in tschuwaschischer Sprache an.136

101

102

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Wie in seiner Instruktion festgelegt, fragte Müller im 6. und 7. Abschnitt seiner »Nachricht« nach »ihrer natürlichen Religion, und dem Begriffe, welchen sie von Gott und göttlichen Dingen haben« (S. 339–344) und »ihrem erdichteten heidnischen Gottesdienste, und denen dazu gehörigen Ceremonien« (S. 344–363). Er gab einen recht zuverlässigen Überblick über den Glauben der Tschuwaschen, obwohl er seine Informationen aus zweiter Hand hatte und seine Gewährsleute einem Fremden gegenüber wahrscheinlich vieles verschwiegen. Wie schon aus der zweiten Überschrift hervorgeht, hielt Müller die Religion dieser Völker für »dunkel und mangelhaft«. Er näherte sich also seinem Gegenstand nicht als wertfreier Wissenschaftler, sondern war von der Überlegenheit des Christentums überzeugt. In seiner Charakteristik zeigten sich auch Übereinstimmungen des tschuwaschischen Glaubens mit dem Christentum, die ihm offensichtlich nicht auffielen. Sie glaubten, so Müller, an einen Gott, von dem alles Gute komme und der das Böse von ihnen abwende und es deshalb verdiene, angebetet zu werden. Gott bestrafe sie für ihre Sünden, vergebe aber denen, die ihn anbeteten. Dennoch kritisierte er, dass den Tschuwaschen der Bezug auf das Ewige fehle und ihre Gebete sich nur auf konkrete Strafen Gottes wie Krankheit, Unfruchtbarkeit, Viehseuchen, Missernten und Ähnliches bezögen. Georgi dagegen berichtete, dass sich die Tschuwaschen durchaus Vorstellungen vom Leben nach dem Tode machten, dem Paradies (»dem Land der Zufriedenheit«) für »redliche Leute« und der Hölle für die Bösen. Im Gegensatz zu Müller enthielten sich Georgi ebenso wie Pallas, dessen Reisebericht er hier weitgehend folgte, hier aller negativen Wertungen. Dies dürfte einerseits auf die Veränderung des geistigen Klimas unter der »aufgeklärten« Monarchin Katharina II., andererseits auf die unterdessen erfolgte Bekehrung der meisten Tschuwaschen zurückzuführen sein. Der heidnische Glaube musste nun nicht mehr bekämpft werden, sondern war nur noch Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Im längsten Kapitel seines Werks behandelte Müller den »heidnischen Gottesdienst« und seine Zeremonien. Der höchste Gott der Tschuwaschen heiße »Thora« (Tură), was vielleicht mit dem »Thor der alten Gothen« zusammenhänge. Daneben verehrten die Tschuwaschen kleinere Gottheiten, etwa Schutzpatrone von Dörfern, die sie mit den christlichen Heiligen verglichen. Georgi führte die Namen der wichtigsten Götter und zusätzlich einige »gute Untergötter, die Kinder oder Verwandte des Thore sind«, an.137 Müller behauptete, dass sich die Tschuwaschen, anders als viele andere heidnische Völker, aber wie die Tataren, keiner Bilder oder geschnitzter Figuren bedienten. Georgi bestätigte, dass sie »keine eigentlichen Götzen« hätten, nannte dann aber, Pallas folgend, Jerich oder Irich, ein Bündel Rosensträucher, das im Zimmer aufgestellt und »so heilig oder gefährlich geachtet

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

werde, dass sich ihnen keiner nähern darf«. Jeden Herbst erneuerten sie den Jerich und ließen den alten auf einem Fluss davonschwimmen.138 Die Figuren des Ĭӗrӗch, die aus Holz oder anderem Material gefertigt wurden, erwähnte er nicht, während er im Tscheremissen-Kapitel »Götzen«-Holzfiguren aus Birkenrinde nannte.139 Müller berichtete, dass die Tschuwaschen keinen Feiertag hätten, an dem sie ihren Gottesdienst abhielten, sondern dass sie ihre Andacht verrichteten, wenn es dazu einen praktischen Anlass gebe. Pallas und Lepechin beschrieben dagegen, wie die Tschuwaschen am Čeremšan (möglicherweise nach dem Vorbild der dort lebenden Tataren) den Freitag als arbeitsfreien Tag feierten. Gotteshäuser gebe es keine, sondern sie verrichteten ihren Gottesdienst entweder in ihren Häusern oder unter freiem Himmel, meist im Wald, auf einem runden umzäunten Platz, mit einem überdachten Tisch in der Mitte. Diese Plätze hießen in allen drei Sprachen Keremet. Der Keremet (oder Kiremet) bezeichnete also gemäß Müller nur den Kultplatz, nicht aber eine Gottheit. Dies stellte Georgi richtig, indem er den Keremet als vornehmsten Untergott bezeichnete, dem eigene Andachts- und Opferplätze gewidmet seien. Müller kam hier auf die erwähnte Episode zu sprechen, als er am rechten Ufer der Wolga einen solchen Ort gesehen habe, wo einige Tschuwaschen ihren Gottesdienst hielten. Er versäumte nicht anzumerken, dass es mühselig gewesen sei, durch den dichten Wald das steile Ufer emporzuklettern. Die wichtigsten Zeremonien stimmten laut Müller bei den Tschuwaschen, Tscheremissen und Wotjaken überein. Eine zentrale Rolle spielten die Wahrsager oder Hexenmeister, alte Männer, die in hohen Ehren gehalten würden, die die Tschuwaschen »Jonmas« oder »Jümmase« (Jumza) nannten. Sie würden bei wichtigen Angelegenheiten um ihren Rat gefragt. Ihnen oblägen die Vorbereitung und Durchführung »ihres eiteln und selbst erdichteten Gottesdienstes«. Der Anlass dafür sei immer ein praktischer, ein Ungemach, das eine Familie oder ein Dorf heimsuche. Zunächst bediene sich der Wahrsager allerlei »Gauckelspielen«, die Zeit, Ort und genauere Umstände der Andacht festlegten. Müller betonte, dass der Jumza nur mit den religiösen Zeremonien, nicht aber mit Geburten, Heiraten und Begräbnissen betraut sei (367). Georgi umschrieb dessen Aufgaben breiter mit »opfern, beten, zaubern und wahrsagen«, während Nikolaj Ryčkov erzählte, dass »die Zauberer oder Zauberinnen… mit Bohnen Zauberei trieben und wahrsagten.140 Am meisten Interesse weckten bei den Beobachtern die Tieropfer, die einen besonderen exotischen Reiz hatten. Die Pferde, Ochsen, Kühe und Schafe würden in den Keremets der Dörfer, Federvieh und Hasen eher zu Hause geschlachtet, gekocht und nach einem Gebet von den Anwesenden verzehrt. Schweine würden dazu nicht verwendet, da man ihr Fleisch verabscheue. Bei der Schlachtung

103

104

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

dürfe kein Blut verloren gehen, und die Häute würden an einem Baum, vor allem an Eichen und Birken, gegen Osten hin aufgehängt. Das Fleisch werde dann in Stücke geschnitten, in einem Kessel gekocht und auf einen Tisch gelegt. Dann spreche einer die Gebete, die sich auf den Anlass der Opferfeier bezögen, und alle Anwesenden verbeugten sich mehrmals. Laut Lepechin dauerten die Gebete vier Stunden und nach dem Verzehren der Opfertiere noch einmal zwei Stunden.141 Der Vorbeter werfe ein Stück Fleisch und Brot auf den Boden und ins Feuer. Alles Übrige werde aufgegessen bis auf die Knochen, die zu Hause verbrannt würden, damit das der Gottheit geopferte Tier nicht von Hunden angetastet werde. Die Gottesdienste seien nach dem Vorbild der Tataren ausschließlich eine Angelegenheit der Männer, die auch für die Sünden der Frauen verantwortlich seien. Dem widersprach Georgi, der behauptete, dass Frauen sogar als Jumza dienen könnten. Er nannte ergänzend einige Opferfeiern im Lauf des Jahres (mit ihren tschuwaschischen Bezeichnungen), so im Frühling zur Reinigung des Keremets und im Herbst das Erntedankfest mit der Bitte um ein fruchtbares nächstes Jahr.142 Bei Georgi findet sich ein Gebet in deutscher Übersetzung, in seinem Reisebericht auch im tschuwaschischen Original. Es entspricht inhaltlich den aus anderen Quellen bekannten Gebeten, von denen ich ein Beispiel im 2. Kapitel angeführt habe. „Gott, erbarme dich! Gott, verlass mich nicht! Gieb mir viele Söhne und Töchter! Gott, gieb mir viele Kornhaufen und fülle meine Vorrathskammern. Gott, gieb Brodt, Honig, Trinken, Essen, Gesundheit, Ruhe. Gott, fülle mein Haus mit Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen. Gott, segne mein Haus, dass ich Reisende beherbergen, speisen und wärmen kann. Gott! Gott segne die Beherrscherin der Erde [gemeint ist die Monarchin]!« Zwischen jedem Gebet sage dann die Gemeinde »Amin!«143 Ein ähnliches Gebet führte Lepechin in Tschuwaschisch und Russisch (bzw. in deutscher Übersetzung) an.144 Georgi und die anderen Reisenden, die die Tschuwaschen 20 bis 25 Jahre nach den Massentaufen antrafen, registrierten, dass in deren Glauben schon Elemente des Christentums aufgenommen worden waren. Davon zeugte schon das »Amen« am Ende des Gebets, doch Georgi wies auch explizit darauf hin, dass sich in den religiösen Zeremonien der Tschuwaschen heidnische, christliche und islamische Elemente vermischten.145 Lepechin rief in Erinnerung, wie die Taufe der Tschuwaschen und Mordwinen durch Steuerprivilegien und Geldbelohnungen befördert

Das Bild der Tschuwaschen in den Werken Gerhard Friedrich Müllers ...

worden sei. Dabei hätten sich einige zwei- bis dreimal taufen lassen, um mehrfach in den Genuss der Vergünstigungen zu kommen.146 Georgi meinte, dass sich die Tschuwaschen der Bekehrung besonders hartnäckig widersetzt hätten, und es gebe noch immer mehr heidnische Tschuwaschen als Tscheremissen (was der Forschungsmeinung und der Ansicht Ryčkovs widerspricht).147 Man lasse die Heiden jetzt in Ruhe, und diese »lassen sich auch in einem stillen friedlichen Betragen, Fleiß, Treue und Anhänglichkeit gegen ihre Obern von den Getauften nicht übertreffen«. Hier tauchte das Stereotyp des stillen, friedlichen Tschuwaschen auf, das bis in die Gegenwart weiterlebt. Müller hatte dagegen auf Grund seiner Beobachtungen aus dem Jahr 1733 noch festgestellt, dass die russische Geistlichkeit zwar versuche, dieser »grossen Verfinsterung ihres Verstandes« mit christlicher Mission zu begegnen, allerdings fast ohne Erfolg. Wenig Hoffnung wecke laut Müller das Seminar im Zilantov-Kloster bei Kazan‘, in dem Jugendliche dieser heidnischen Völker in der christlichen Lehre und der russischen Sprache unterrichtet würden. Gmelin berichtete davon, wie Zöglinge aller »Nationen« vor den beiden Professoren Verse in Russisch und in ihren Sprachen vortrugen.148 An ihre baldige Christianisierung sei nicht zu denken. Etwas mehr als zehn Jahre, nachdem Müller seine »Nachricht« verfasst hatte, war die Mehrheit der Tschuwaschen, Mari/Tscheremissen und Udmurten/Wotjaken unter staatlichem Druck zur Orthodoxie bekehrt worden. Die Teilnehmer der Expedition von 1768 verwiesen aber darauf, dass die Tschuwaschen an ihrem alten Glauben festhielten und ihre Zeremonien weiter durchführten. Falck charakterisierte die Neugetauften zusammenfassend als »Zwitter russischer und ihrer väterlichen Nationen«.149 Obwohl Müller nicht immer klar zwischen den drei Völkern, die er gemeinsam vorstellte, unterschied, zeichnete seine »Nachricht« ein facettenreiches Bild der Tschuwaschen. In seinen Grundzügen entspricht es den Erkenntnissen der heutigen Forschung und dient dieser in einigen Aspekten sogar als Quelle. So beißt sich die Katze in den Schwanz, wenn wir die Glaubwürdigkeit der ethnographischen Beschreibungen des 18. Jahrhunderts am heutigen Forschungsstand messen. Denn die wissenschaftlichen Erkenntnisse basieren zum Teil auf diesen frühesten Quellen über Lebensformen, Sitten, Bräuche und Glaubensvorstellungen der Tschuwaschen. Eindeutig falsche Informationen sind erstaunlich selten. Damit stand ein Basiswerk zur Verfügung, auf dem die Teilnehmer der zweiten Expedition aufbauen und dessen Inhalte sie ergänzen und teilweise korrigieren konnten. Natürlich ist es kein vollständiges Bild im Sinne der »histoire totale«, das Müller und die anderen Gelehrten entwerfen. Eine ganze Reihe von Lebensbereichen wurde nur knapp oder gar nicht behandelt. Einige kamen zwar in Müllers Katalog

105

106

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Abb. 19 Abbildung von Tschuwaschinnen in Karl Rehbergs »Les peuples de la Russie« (1812)

vor, doch konnten er und seine Kollegen manche Fragen mangels Informationen nicht beantworten. Dies betraf die Ursprünge und Geschichte der Tschuwaschen, ihre mündlichen Überlieferungen und historischen Denkmäler in ihrem Gebiet. Die von Müller gestellten Fragen nach dem Wirtschaftsleben (Handel, Gewerbe, Ackerbau), nach der politischen Ordnung und dem Kriegswesen konnten nur ansatzweise beantwortet werden. Lediglich am Rande angesprochen wurden das Alltagsleben (Arbeit, Essen und Trinken, Wohnen, Freizeit) und das Verhältnis der Nichtrussen zur russischen Bevölkerung, besonders zu Behörden und Polizei. Die Zwangsmittel der Missionierung wurden nur angedeutet, die Missbräuche der Verwaltungsleute kamen ebenso wenig vor wie Widerstand und Protestbewegungen der Tschuwaschen. Die Reisenden der zweiten Expedition besuchten den Wolgaraum allerdings kurz vor dem Pugačev-Aufstand. Solche politisch brisante Fragen wurden ausgeklammert. Die Aufgabe der Forschungsreisenden war nicht die Kritik, sondern die Legitimation der Herrschaft Russlands und seiner Zivilisierungsmission unter den »rückständigen« Völkern des Reiches. Ihr eurozentrischer Blick auf die Subalternen zeigte sich deutlich in ihren Wertungen. Manche der negativen Charakteristika waren typisch nicht nur für die Tschuwaschen,

Russische ethnographische Studien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

sondern generell für sogenannte »primitive« schriftlose, gegen außen abgeschlossene ethnische Gemeinschaften von Ackerbauern, auch für die Russen. Einzig ihre Religion und die Zeremonien mit den Tieropfern hoben die Tschuwaschen und anderen Wolga-Völker von den anderen ethnischen Gruppen im Osten Europas ab. Die Forschungsreisenden stellten aber kaum Vergleiche mit den Russen oder mit außereuropäischen »Wilden« an. Abbildungen von Tschuwaschen fehlen in den ethnographischen Beschreibungen weitgehend. Nur bei Pallas findet sich ein Bild dreier Tschuwaschinnen, das dann von Georgi und in Variationen in mehreren Alben zu den Völkern Russlands übernommen wurde. Weit verbreitet wurde die Abbildung in Karl Rehbergs »Les peuples de la Russie« (1812), die von Emel‘jan Korneev auf der Basis von Pallas’ Bild gemalt worden war.150 Die ethnographischen Beschreibungen, die aus den Akademie-Expeditionen der Jahre 1733 und 1768–1772 hervorgingen, verbreiteten erstmals breitere Informationen über die Tschuwaschen in Russland und im Ausland. Es war ein selektives Bild, im Vordergrund standen Sitten, Bräuche und Zeremonien, die meistens mit der vorchristlichen Religion verbunden waren. Die empirische Grundlage dieser Beschreibungen war schmal, ihre Autoren hielten sich nur kurze Zeit im Gebiet der Tschuwaschen auf, und ihre direkten Beobachtungen waren mehr oder weniger zufällige Eindrücke. Sie holten allerdings zusätzliche Informationen ein, einerseits bei den Behörden der Regional- und Lokalverwaltung, andererseits indem sie einzelne Tschuwaschen befragten. Die Forscher standen in Kontakt miteinander und tauschten Informationen aus. Da die meisten Werke mehrere Auflagen in verschiedenen Sprachen erlebten, konnte sich jetzt die gebildete Elite Russlands und des übrigen Europas über Grundzüge des Lebens dieses Volkes orientieren. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten die Tschuwaschen aus dem Schatten heraus und wurden als Kollektiv wahrgenommen. Russische ethnographische Studien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich in Russland die wissenschaftliche Ethnographie und Geographie heraus, die sich nun eingehender mit den Ethnien des Russländischen Imperiums beschäftigten. Wichtige Impulse gingen von der 1845 begründeten Russischen Geographischen Gesellschaft aus, die eine ethnographische Abteilung hatte. Maßgebend für die Erforschung der Tschuwaschen waren Gelehrte aus der Region, die erste umfassende Beschreibungen publizierten. Das erste dieser Werke erschien 1834 in der regionalen Zeitung Zavolžskij Muravej und

107

108

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

1840 als selbständiges Buch. Es umfasst nicht weniger als 329 Seiten, seine erste Hälfte ist den Tschuwaschen, die zweite den Tscheremissen gewidmet.151 Seine Verfasserin war Aleksandra Fuks, geborene Apechtina (1805–1853), Tochter eines russischen Gutsbesitzers aus der Region Čeboksary und Gattin des aus Deutschland stammenden Karl Fuks (Fuchs), eines Arztes, der seit 1805 als Professor an der Universität Kazan‘ lehrte. Das Haus Fuks war ein wichtiges Zentrum des kulturellen Lebens in Kazan‘, und Aleksandra war eine fruchtbare Schriftstellerin. In ihr lebendig geschriebenes Werk flossen persönliche Erfahrungen aus Besuchen tschuwaschischer Dörfer ein. So konnte sie Zeremonien bei Heiraten, Begräbnissen, Totengedenken und Gebeten bei getauften und ungetauften Tschuwaschen beobachten, die sie detailliert beschrieb. Sie begegnete »ihren tschuwaschischen Freunden« mit Wohlwollen, wenn auch von oben herab: Sie galten ihr als gutherzige geduldige Kinder der Natur. »Ich liebe dieses einfache und schüchterne Volk«. Als Frau gewann sie Zugang auch zu Tschuwaschinnen und berichtete erstmals über das Leben der tschuwaschischen Bäuerinnen. Sie führte auch einige Lieder in tschuwaschischer Sprache mit russischer Übersetzung an. Das Werk von Aleksandra Fuks enthält eine Fülle von Eindrücken unterschiedlicher Aspekte des Lebens im tschuwaschischen Dorf. Zwar wurden ihr von Zeitgenossen und Nachwelt zahlreiche Irrtümer vorgeworfen, doch trug sie wesentlich dazu bei, Kenntnisse über die Tschuwaschen in der regionalen Öffentlichkeit zu verbreiten. Der wichtigste frühe Erforscher der Tschuwaschen war Vasilij Sboev (1810– 1855). Seine »Bemerkungen zu den Tschuwaschen« erschienen zwischen 1840 und 1850 zunächst in der regionalen Zeitung Kazanskie Gubernskie Vedomosti, in den Jahren 1851, 1856 und 1865 unter unterschiedlichen Überschriften als Buch. Die dritte Ausgabe kam in Moskau heraus, so dass breitere Informationen über die Tschuwaschen auch außerhalb der Wolgaregion verbreitet wurden.152 Sboev war als Sohn eines russischen Priesters in einem tschuwaschischen Dorf aufgewachsen, studierte am Geistlichen Seminar in Kazan‘, dann an der Theologischen Akademie in St. Petersburg. In der Folge unterrichtete er Kirchengeschichte und Griechisch am Geistlichen Seminar in Kazan‘ und war von 1841 bis 1850 Professor-Adjunkt der russischen Philologie an der Universität Kazan. Er kannte die Familie Fuks und setzte sich mit der Schrift Aleksandras ebenso wie mit den Werken Strahlenbergs, Müllers, Pallas’, Lepechins und Georgis kritisch auseinander. Sboevs Werk schloss die Epoche der »Völkerbeschreibungen« ab und eröffnete diejenige der wissenschaftlichen Studien. Sboev begann sein Werk, das in Briefform gekleidet ist, mit der rhetorischen Frage, ob es nicht langweilig gewesen sei, sich mit einem Volk zu beschäftigen, das noch kaum den Zustand der »Wilden« hinter sich gelassen habe. Nein, antwortete

Russische ethnographische Studien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Abb. 20 Titelblatt des Werks von Vasilij Sboev: Die Tschuwaschen in ihrer Lebensweise und ihren historischen und religiösen Beziehungen. Ihre Herkunft, Sprache, Bräuche, Glaubensvorstellungen, Überlieferung etc. Moskau 1865.

er, ganz im Gegenteil sei ihm der Besuch der tschuwaschischen Dörfer eine Freude. Die Tschuwaschen seien nämlich alte Bekannte aus seiner Kindheit, als er ihre Sprache und ihr Leben kennengelernt habe. Diese Erinnerungen habe er jetzt 25 Jahre später bei Besuchen tschuwaschischer Dörfer aufgefrischt und mit der gegenwärtigen Situation verglichen. Im Gegensatz zu den Akademie-Reisenden des 18. Jahrhunderts besaß er also gute Voraussetzungen für Feldforschung der »teilnehmenden Beobachtung«, sprach Tschuwaschisch, hatte selbst lange unter Tschuwaschen gelebt und genoss ihr Vertrauen. Allerdings war Sboev kein neutraler Beobachter, sondern schon durch seine Ausbildung stark in orthodoxem Gedankengut verhaftet, sah sich explizit als Förderer des Christentums und mittelfristig der Russifizierung der Tschuwaschen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen glaubte er an den Siegeszug des Christentums und der europäischen (russischen) Zivilisation. Obwohl Sboev behauptete, die Tschuwaschen hätten ihren heidnischen Glauben weitgehend aufgegeben und das Christentum angenommen, legte auch er wie alle anderen bisherigen Autoren den Schwerpunkt auf die Inhalte und Zeremonien der traditionellen Religion und widmete ihnen mehr als die Hälfte seines Werks. Er betonte die Schwierigkeiten der Erforschung ihres Glaubens, stünden doch

109

110

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

weder schriftliche Zeugnisse, Kirchen noch Götzenbilder zur Verfügung. Er schlug eine allgemeine Erklärung der Entwicklung vor: Die ursprünglichen Grundlagen der tschuwaschischen Religion seien der Glaube an den guten Gott Tora (Tură) im Himmel und den Satan in der Hölle. Er vermutete, dass dieser Dualismus auf Einflüsse des Zoroastrismus oder der jüdischen Chasaren zurückzuführen sei. In der Folge sei die Zahl der Götter sukzessive gewachsen, indem zunehmend Verwandte und Diener Gottes und des Satans verehrt wurden. Er stellte ein Pantheon mit 25 Gottheiten, die in Verbindung mit Tură standen, vor. Dazu kamen zahlreiche böse Götter, als wichtigster der Keremet, der in ganz unterschiedlicher Gestalt auftrete und seine eigenen Kinder und Diener habe. Jedes Dorf habe seinen eigenen Keremet, dem Opfer dargebracht wurden. In seinen Ausführungen über den Glauben der Tschuwaschen bestätigte Sboev die meisten Beobachtungen, die die Forschungsreisenden im 18. Jahrhundert gemacht hatten. Er widersprach allerdings der Ansicht seiner Vorgänger, dass die Keremet genannten Kultplätze für alle Feiern benutzt worden seien. Die großen Gebets- und Opferfeiern für Tură fänden zweimal im Jahr auf freiem Feld statt, einmal vor der Aussaat des Sommergetreides, einmal vor der Aussaat des Wintergetreides. Tură würden Brot, Getreidebrei und Bier dargebracht, und die Feiern endeten in einem großen Besäufnis. Der Keremet-Platz sei dagegen vornehmlich den Opferfeiern für die bösen Götter vorbehalten. Sboev schilderte ausführlich die unterschiedlichen Zeremonien, unter ihnen die Begräbnisse und die zahlreichen Gedenkfeiern an Verstorbene, die den Charakter des Ahnenkults hätten. Im Vergleich mit der Situation im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stellte Sboev große Veränderungen fest. Seien die Tschuwaschen damals schlechte Heiden und sehr schlechte Christen gewesen, so hätten sie sich jetzt weitgehend von ihrer alten Religion abgewandt, gingen regelmäßig zur Messe, befolgten die Fasten und feierten das Osterfest. Er beschrieb allerdings auch Elemente des Synkretismus: Christliche Engel und Heilige seien an die Stelle der alten Gottheiten getreten, ohne dass sich die Zeremonien ihrer Verehrung grundsätzlich änderten. Die großen Gebetsfeiern im Frühjahr und Herbst fänden weiterhin statt, jetzt begleitet vom an den »russischen Tora« gerichteten Vaterunser. Die Tschuwaschen verneigten sich weiterhin gegen Osten und nicht vor der Ikone in ihren Hütten. Die Jumzy seien nicht ganz verschwunden, sondern würden zu allen Feiern eingeladen und bei Krankheiten und Missernten um Rat gefragt. Auch die unmäßigen Biergelage bei den Gebetsfeiern seien erhalten geblieben. Die Tschuwaschen seien nun den orthodoxen Priestern, die sie früher gehasst hätten, freundlicher gesinnt. Immerhin kritisierte er, dass die Tschuwaschen im 18. Jahrhundert unter Anwendung von Zwang christianisiert worden waren. Ande-

Russische ethnographische Studien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Abb. 21 Tschuwaschische Bauernhäuser (um 1900)

rerseits rechtfertigte er das Abholzen der Keremet-Kultstätten. Sboev beobachtete eine deutliche Zunahme der Russischkenntnisse unter den Tschuwaschen, sogar einige Frauen sprächen schon Russisch. Auch Mischehen nähmen allmählich zu. Die meisten Tschuwaschen blieben allerdings misstrauisch, versteckten sich, wenn ein Russe ihr Dorf betrete. Dieses Verhalten erkläre sich aus den schlechten Erfahrungen, die sie mit den Behörden und Händlern gemacht hätten, die sie verachtet, betrogen, ausgenutzt und ausgeraubt hätten. Wenn das Eis einmal gebrochen sei, seien sie gastfreundlich. Sboev ging genauer als die Reisenden des 18. Jahrhunderts auf Wirtschaft, Sozialstruktur und Alltagsleben der Tschuwaschen ein. Er bestätigte, dass sich die tschuwaschischen Dörfer meist abgelegen, fern aller Verkehrswege, befänden. Die Anlage der Dörfer sei unordentlich, da sie aus Nestern von Höfen einer Sippe bestünden. Die Bauernhäuser hätten breite Bänke, einen Ofen, aber mindestens bei den ärmeren keinen Rauchabzug, sondern nur Schiebefenster, die man gelegentlich öffnete. Als Erster wies er auf den Zusammenhang zwischen Rauchhütten und Augenkrankheiten hin. Die einfache Ernährung der Tschuwaschen bestehe aus Brot, Brei und Suppen aus Roggen und Hafer, das Getränk sei Wasser. Alles andere, Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Alkohol seien Luxus. Sboev lobte die

111

112

4. Kapitel: »Sie leben in der grössesten Finsterniß des Verstandes«

Tschuwaschen als erfahrene, fleißige, geschickte erfolgreiche Ackerbauern, die ihre Grundstücke sorgfältig pflegten. Für einmal wurden hier die Tschuwaschen positiv von den Russen abgehoben, die den Boden nicht regelmäßig düngten und ihr Getreide unsachgemäß aufbewahrten. Zwar seien die tschuwaschischen Bauern skeptisch gegenüber Neuerungen, dennoch erzielten sie höhere Erträge als die russischen. Die Russen hätten deshalb Respekt vor den tschuwaschischen Ackerbauern, die der Natur verbunden seien und das Wetter zuverlässig vorhersagten. Neben Getreide sei der Anbau von Hopfen wichtig, und sie verkauften beide Produkte auf den Märkten in der Stadt. Neben Russen und Tataren träten hier auch einige tschuwaschische Händler hervor, die Sboev als »tschuwaschische Aristokratie« bezeichnete. Diese wohnten in großen sauberen Häusern, tränken Tee und Wein und sprächen russisch. Leider ging er auf diese reichen Tschuwaschen nicht weiter ein. Seine Bemerkung dürfte allerdings eher Wunschdenken als Realität widerspiegeln. Nur wenige tschuwaschische Bauern betätigten sich im regionalen Handel, so der Holzhändler Efrem Efremov, der später ein bedeutendes Familienunternehmen begründete.153 Sboev nahm auch Stellung zur umstrittenen Frage, welcher Sprachgruppe das Tschuwaschische zuzurechnen sei. Für ihn stand außer Zweifel, dass es eine Turksprache sei, die arabische, persische und russische Elemente aufgenommen habe. Mit den finnischen Sprachen hätte das Tschuwaschische nichts gemein und die von zahlreichen Gelehrten vertretene Annahme, dass es zur finnischen Sprachgruppe gehöre, sei abzulehnen. Sboev distanzierte sich aber auch von den Theorien einer Abstammung von den Wolgabulgaren, wie sie damals vom russischen Orientalisten Pavel Savel’ev vertreten wurde. Er plädierte für eine Herkunft von den Burtasen, einem von arabischen Quellen im mittelalterlichen Wolga-Raum verorteten Volk, von dem sonst wenig bekannt ist. Neben den reichen Händlern entstehe allmählich eine »gelehrte Aristokratie«, ein »junges Tschuwaschlandija«. Dies sei der Förderung der Volksbildung zu verdanken. Die Kirchenschulen auf dem Dorf vermittelten Kenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens und der Religion. Junge alphabetisierte Tschuwaschen träten dann in die Dienste der Lokalverwaltung und setzten sich für die Erweckung und Entwicklung ihres Volkes ein. Sboev entwarf damit zweifellos ein zu optimistisches Bild der damaligen Sprengelschulen, dennoch erkannte er richtig, dass sich allmählich eine kleine Gruppe von alphabetisierten Tschuwaschen formierte, die ihr Dorf verließen. Sie waren die ersten Tschuwaschen, die aus dem Schatten der Anonymität heraustraten und als Individuen fassbar werden. Sie stehen im Zentrum des folgenden Kapitels.

5. Kapitel:

Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus. Persönlichkeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

In der Mitte des 19. Jahrhunderts traten die ersten Tschuwaschen als Individuen aus dem Schatten heraus. Voraussetzungen dafür waren eine soziale Mobilisierung der Gesellschaft und eine gewisse Schulbildung, wie sie nun auch tschuwaschischen Bauern ermöglicht wurde. Bevor ich sechs Persönlichkeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorstelle, skizziere ich den historischen Hintergrund, besonders die Begründung von Schulen in den tschuwaschischen Dörfern. Der historische Rahmen: Die Tschuwaschen im 19. Jahrhundert

Die Zwangschristianisierung und der Pugačev-Aufstand brachten der tschuwaschischen Gesellschaft gewaltige Erschütterungen. Zwar waren die Tschuwaschen seit dem 16. Jahrhundert sukzessive in die Verwaltung, Wirtschaft und Sozialstruktur Russlands integriert worden, doch erst die Zwangschristianisierung stellte ihr traditionelles Wertesystem und ihren kulturellen und sozialen Zusammenhalt in Frage. Darauf reagierten die Tschuwaschen mit einer Massenerhebung, der zahlreiche russische Verwaltungsleute und Geistliche zum Opfer fielen, sowie mit einer Intensivierung der Auswanderung in die östlichen Regionen des Imperiums. In der Folge hatten sich die Tschuwaschen aber mit den neuen Gegebenheiten abzufinden und leisteten nur noch passiven Widerstand, etwa indem sie im Geheimen an vorchristlichen Glaubensinhalten und Zeremonien festhielten. Nachdem sie im Jahre 1774 für lange Zeit zum letzten Mal in das Rampenlicht der Geschichte getreten waren, zogen sich die Tschuwaschen für mehr als 140 Jahre in den Schatten zurück.154

114

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Die rechtliche und soziale Stellung der Tschuwaschen hatte sich zwar stark an die der russischen Staatsbauern angeglichen, doch galten sie noch immer nicht als voll integriert. Äußerlich zeigte sich das darin, dass sie und die anderen zur Orthodoxie übergetretenen Wolgavölker in den Quellen für mehrere Jahrzehnte als »Neugetaufte« (novokreščeny) bezeichnet wurden. Die Tschuwaschen wurden damit von den ebenfalls orthodoxen Russen geschieden. Der Begriff »Neugetaufte« markierte einerseits den Status zwischen den Religionen und war andererseits eine kollektive ethnische Bezeichnung für die orthodoxen Nichtrussen. Die »Neugetauften« hatten unter den russischen Priestern zu leiden, für deren Lebensunterhalt sie zu sorgen hatten, indem sie Gebühren für kirchliche Riten wie Taufe, Heirat und Begräbnis entrichten mussten. Die tschuwaschischen Bauern trauten ihren Jumzy mehr als den russischen Geistlichen und beschenkten sie freiwillig für ihre Dienste. Da die animistischen Zeremonien von den Behörden jahrzehntelang weitgehend geduldet worden waren, galten sie den Tschuwaschen als Teil des orthodoxen Glaubens. Ihr Wertesystem zeigte fortan die Anzeichen eines religiösen Synkretismus. Der Staat war sich der schwachen Verwurzelung der Orthodoxie unter den Tschuwaschen und anderen »Neugetauften« bewusst und richtete deshalb im 19. Jahrhundert sein Augenmerk darauf, sie in ihrem Glauben zu bestärken.155 Direkter Anlass für eine Missionierung waren Abfallbewegungen von »Neugetauften«, die seit dem Jahr 1827 periodisch auftraten. Tausende von »neugetauften« Tataren, Tscheremissen und Tschuwaschen erklärten, zu ihrem alten Glauben zurückkehren zu wollen. Als Begründung dafür führten sie an, dass sie unfreiwillig zum Christentum übergetreten seien. Die Apostasie von der Orthodoxie war aber ein Staatsverbrechen, das geahndet werden musste. Sie stellte die neue Ordnung, wie sie im 18. Jahrhundert erzwungen worden war, wieder in Frage. All dies alarmierte die weltlichen und geistlichen Behörden, und in den 1830er Jahren setzte eine aktive Missionspolitik ein, die den »heidnischen« Bräuchen den Kampf ansagte. Tschuwaschen, die animistische Gebets- und Opferfeiern durchführten, wurden bestraft, ebenso Personen, die den alten Glauben propagierten. Auch diejenigen Tschuwaschen, die sich der Taufe widersetzt hatten und weiter ihrem alten Glauben die Treue hielten, gerieten vermehrt unter Druck. So wurden im Jahr 1829 über 4.000 Tschuwaschen in den östlich der Wolga liegenden Gebieten des Gouvernements Simbirsk getauft. 1857 wurde ebenfalls aus dem Gouvernement Simbirsk berichtet, dass zahlreiche heidnische Tschuwaschen zur Orthodoxie bekehrt wurden, »indem man sie mit Gewalt in eine Scheune trieb und unter Drohungen taufte«.156 Trotz der Missionsbemühungen blieben kleinere Gruppen ungetaufter Tschuwaschen erhalten, und im Jahr 1897 zählte man in Russland noch

Der historische Rahmen: Die Tschuwaschen im 19. Jahrhundert

13.885 nichtchristliche Tschuwaschen, die fast ausschließlich in den Kolonisationsgebieten wohnten.157 Unter ihnen waren offiziell 1.293 Muslime, in Wirklichkeit dürften es mehr gewesen sein.158 Trotz dieser Intensivierung der Mission kehrte man nicht zur Zwangschristianisierung der 1740er Jahre zurück. Man sah ein, dass es nicht möglich war, den traditionellen Glauben auf einen Streich zu eliminieren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts zählte man im Russländischen Reich 522.300 Tschuwaschen. Die meisten von ihnen (63,9 %) lebten im Gouvernement Kazan‘, es folgten das südlich angrenzende Gouvernement Simbirsk (17,6 %) und die jenseits der Wolga liegenden Gouvernements Samara (9,5 %) und Ufa (6,1 %). In ihrem alten Siedlungsgebiet bildeten sie weiterhin die Mehrheit, mit 90 Prozent im Kreis Jadrin, 78 im Kreis Civils‘k und 70 im Kreis Čeboksary. Die zweitgrößte ethnische Gruppe waren in allen drei Bezirken die Russen. Die Zahl der Tschuwaschen stieg rasch an und betrug im Jahr 1897 843.757. Wie schon seit Jahrhunderten waren fast alle Tschuwaschen Ackerbauern. Der Volkszählung von 1897 zufolge lebten 99 Prozent der Tschuwaschen auf dem Lande und 98 Prozent waren in der Agrarwirtschaft beschäftigt. Diese Anteile lagen erheblich über denen der Russen (84 bzw. 72 %) und der meisten anderen Völker des Russländischen Reiches.159 In den Städten blieben die Tschuwaschen eine kleine Minderheit, in Čeboksary lebten damals nur 440 Tschuwaschen (9,3 % der Bevölkerung und im kleinen Civil’sk 374 (16 %). Im Jahre 1897 gehörten nur 1.162 Tschuwaschen zum Stand der meščane, der städtischen Grundschichten, fast alle von ihnen lebten außerhalb der Region der Mittleren Wolga. Zum Stand der vermögenderen Kaufleute wurde gemäß der Volkszählung in ganz Russland kein einziger Tschuwasche gerechnet. Aus anderen Quellen wissen wir allerdings von einem tschuwaschischen Gildenkaufmann, dem Holzhändler Prokopij Efremov, der verschiedene lokale Ämter innehatte, als Mäzen hervortrat und sogar in den Stand der »erblichen Ehrenbürger« aufgenommen wurde. Die Villen der Familie Efremov prägen noch heute das Stadtbild des »alten« Čeboksary. Das Handelshaus der Familie Efremov, der auch ein Sägewerk gehörte, blieb bis 1917 aktiv, ebenso wie die Firma der tschuwaschischen Familie Selivanov, die mit landwirtschaftlichen Produkten handelte. Die weit überwiegende Mehrheit der etwa 20 Kaufleute und Unternehmer im damaligen Tschuwaschien stellten jedoch ethnische Russen.160 In der Volkszählung von 1897 gaben 234 Tschuwaschen an, im Handel beschäftigt zu sein, 1.525 in Handwerk und Industrie und 435 in der Verwaltung.161 Sie waren ganz überwiegend in untergeordneten Positionen, etwa als Dienstboten, Amtsdiener oder Fuhrleute, tätig. Die Tschuwaschen wiesen also weiter eine sehr schwache soziale Differenzierung auf. Die meisten waren arm, fanden aber ihr Aus-

115

116

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

kommen in Ackerbau und Viehzucht. Periodisch auftretende Missernten konnten allerdings zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung führen. Die weitaus meisten Tschuwaschen lebten wie eh und je in ihren ethnisch kompakten Dörfern, und ihre Kontakte mit der Außenwelt blieben limitiert. Die wichtigsten Ausnahmen waren die Rekruten, die in die zarische Armee eingezogen wurden, vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1874 in der Mehrzahl der Fälle aber nicht ins Dorf zurückkehrten. 1897 zählte man im Russländischen Imperium 2.805 tschuwaschische Soldaten.162 Mit der Niederschlagung des Pugačev-Aufstandes war der Widerstand der Tschuwaschen gebrochen. Die einzige größere tschuwaschische Protestaktion im ganzen 19. Jahrhundert richtete sich gegen Neuerungen im Zuge der in den Jahren 1837 bis 1841 bei den Staatsbauern durchgeführten Reformen, unter ihnen gemeinsam zu bestellende Felder und eine verbesserte Vorratshaltung. Infolge einer Hungersnot wurde im Jahre 1840 der Anbau der bis anhin weitgehend unbekannten Kartoffel auf den neu eingeführten »gemeinschaftlichen Äckern« (obščestvennaja zapaška) forciert. Zahlreiche Tschuwaschen widersetzten sich diesen Eingriffen in ihre Wirtschaftsführung.163 In den Jahren 1841 und 1842 erhoben sich zahlreiche russische und nichtrussische Staatsbauern im Wolga-Uralgebiet. Ihr größtes Ausmaß erreichte die Bewegung am rechten Wolgaufer im Siedlungsgebiet der Tschuwaschen und Tscheremissen. Wie in den anderen vormodernen Volkserhebungen protestierten sie gegen die Veränderungen des Status quo: »Wir wollen keine gemeinsamen Äcker und keine Kartoffeln, sondern wir wollen nach altem Brauch leben.«164 Man weigerte sich, die Neuerungen einzuführen und sammelte Geld, um Vertreter nach St. Petersburg zu schicken, die den Zaren um Rücknahme der neuen Anordnungen bitten sollten. Der Protest der Aufständischen weitete sich aus und richtete sich generell gegen die Steigerung der Abgaben und Dienstleistungen und die Willkür und Bestechlichkeit der Beamten. Zahlreiche Tschuwaschen verweigerten den Behörden den Gehorsam, verprügelten lokale Verwaltungsleute und bezahlten ihre Abgaben nicht mehr. In der Gemeinde Akramovo im Bezirk Koz‘modem’jansk leisteten über 5.000 Tschuwaschen bewaffneten Widerstand. Der Aufstand konnte nur mit massivem Truppeneinsatz niedergeworfen werden. Dabei wurden 36 Aufständische getötet und über 200 verwundet, auch 87 Vertreter der Staatsmacht wurden verletzt. Auf einen persönlichen Befehl des Zaren Nikolaus I., die Rädelsführer zur Abschreckung der übrigen exemplarisch zu bestrafen, wurden 410 Aufständische zu Spießruten und nachfolgender Zwangsarbeit oder Militärdienst verurteilt. »Wegen der Leichtgläubigkeit und des halbwilden Zustandes der Tschuwaschen und Tsche-

Der historische Rahmen: Die Tschuwaschen im 19. Jahrhundert

remissen« wurden die Urteile dann gemildert und nur an 32 Anführern vollzogen. Diese wurden anschließend nach Sibirien verschickt. Der Widerstand hatte insofern Erfolg, als die vorgesehenen Maßnahmen in dieser Region vorerst nicht durchgeführt wurden. Dennoch verbreitete sich der Kartoffelanbau seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, und die Kartoffel gehört heute zu den Nationalspeisen der Tschuwaschen. Die »Kartoffelaufstände« blieben die einzige nennenswerte Protestaktion der Tschuwaschen im ganzen 19. Jahrhundert. Die Bauernbefreiung von 1861 betraf nur die leibeigenen Bauern, und die 1866 durchgeführte Reform der Staatsbauern, zu denen die Tschuwaschen gehörten, veränderte den Status quo kaum. Zwar wurde den Staatsbauern die Ablösung ihres Grund und Bodens auferlegt, die sich bis zum Jahre 1930 erstrecken sollte. Die Bauern bezahlten aber nur einen Bruchteil der geforderten Summen, und es sammelten sich schon bald große Rückstände an, die nie zurückbezahlt wurden. Die Tschuwaschen behielten ihre (oft kleinen) Anteile an Grund und Boden, und es gab unter ihnen weiter kaum landlose Bauern. Die wirtschaftlichen Veränderungen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland vollzogen, wirkten sich auf das tschuwaschische Dorf nur abgeschwächt aus. Zahlreiche Bauern beschäftigten sich neben ihrer landwirtschaftlichen Arbeit wie eh und je mit der Herstellung von Geräten, Kleidung und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs. Die Zahl der otchodniki, der Bauern, die auf der Suche nach einem Zusatzerwerb ihr Dorf verließen, nahm im Gegensatz zu den russischen Bauern aber nur unerheblich zu. Die Revolution, die Russland in den Jahren 1905/06 erfasste und die Zarenregierung an den Rand des Abgrunds brachte, begann in den Städten. Mit Verspätung reagierten auch die Bauern und Russland wurde seit dem Sommer 1905 von einer Agrarrevolution erfasst. Ihre Schwerpunkte lagen in den Schwarzerdegebieten und im Baltikum, wo die ehemaligen Leibeigenen zahlreiche Gutshöfe plünderten und das im Besitz des Adels befindliche Land besetzten. Im Gebiet der Tschuwaschen, wo es praktisch keine Leibeigenschaft gegeben hatte und kaum adlige Gutsbesitzer lebten, war das Konfliktpotential geringer. Nicht zufällig gingen auch hier die Unruhen meistens von den wenigen russischen ehemaligen Leibeigenen aus. In den Jahren 1906 und 1907 nutzten dann auch tschuwaschische Bauern die Schwächung der Staatsmacht, um ihre Interessen durchzusetzen. Wie schon im Pugačev-Aufstand holzten tschuwaschische Bauern Wälder ab, die sich in staatlichem oder privatem Besitz befanden, um der steigenden Holzknappheit zu begegnen. In einigen Dörfern gab es Übergriffe auf lokale Behördenvertreter und Priester. Im Ganzen gesehen traten die Tschuwaschen aber in der Revolution von 1905–07 nur sporadisch aus dem Schatten heraus.165 Das änderte sich erst, als

117

118

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

die neue Sowjetmacht die Gesellschaft mit Gewalt umkrempelte und einen Generalangriff auf die Bauern und die ländlichen Traditionen lancierte. Dieser vollzog sich seit dem Jahre 1918 in mehreren Etappen. Davon handeln das 6. und 7. Kapitel. Die Begründung tschuwaschischer Schulen

Die negativen Erfahrungen mit Zwangsmaßnahmen förderten die Wende der Religionspolitik hin zu einer Verstärkung der christlichen Aufklärung der Ungläubigen, um sie im orthodoxen Glauben zu festigen. Nachdem die vorab von russischen Priestern geführten kirchlichen Grundschulen, wie sie seit 1807 auch in einigen tschuwaschischen Dörfern eingerichtet worden waren, ebenso bescheidene Erfolge gezeitigt hatten wie die im 18. Jahrhundert geschaffenen Schulen, ging man zu einer neuen Methode der christlichen Unterweisung in der jeweiligen Muttersprache über, um damit die Tschuwaschen und anderen Nichtrussen schneller zu alphabetisieren, sie für die Orthodoxie zu gewinnen und mittelfristig zu russifizieren. Da es keine sprachkundigen Priester gab, die als Lehrer eingesetzt werden konnten, wurden an der 1842 begründeten Theologischen Akademie von Kazan’ Sprachkurse in Tatarisch und Tschuwaschisch eingeführt.166 Als Lektor für Tatarisch verpflichtete man den jungen Orientalisten Nikolaj Il’minskij (1821–1891), der in der Folge zum wichtigsten Protagonisten dieser neuen Methode der Mission wurde. Il’minskij konzentrierte seine Tätigkeit auf die Tataren, die die größte Gruppe der vom Christentum Abgefallenen stellten. Er wurde 1861 Professor für türkische Sprachen an der Universität Kazan‘ und begründete 1863 in Kazan’ eine Zentralschule für getaufte Tataren. Sie führte Tatarisch als Unterrichtssprache (während der ersten zwei Jahre) ein und diente als Modell für andere Schulen für »Neugetaufte«. Im Jahre 1870 billigte das Ministerium für Volksaufklärung offiziell Il’minskijs Programm des muttersprachlichen Unterrichts in der Wolgaregion. Eine erneute Apostasiewelle führte 1867 zur Begründung einer Missionsgesellschaft, der »Bruderschaft des heiligen Gurij (benannt nach dem ersten Erzbischof von Kazan’ im 16. Jahrhundert). Sie wurde von Il’minskij präsidiert, zu ihren Mitgliedern gehörte Nikolaj Zolotnickij, der 1871/72 Materialien zu einem tschuwaschisch-russischen Wörterbuch publizierte. Die »Bruderschaft« begründete Schulen für nichtrussische Christen und eine Übersetzungskommission, die bis 1891 177 Schriften in mehr als einem Dutzend Sprachen publizierte. Für das Tschuwaschische und andere Sprachen mussten erst Schriftsprachen in modifizierter kyrillischer Schrift normiert werden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden über 40 tschuwaschische Bücher in einer Auflage von über 100.000 Exemplaren publiziert, bis 1917 waren es schon etwa 700 Bücher.

Die Begründung tschuwaschischer Schulen

Abb. 22 Lehrer mit tschuwaschischen Schülerinnen und Schülern beim Gesangsunterricht (um 1890)

Nicht nur in der Schule, sondern auch im Gottesdienst sollten die Sprachen der ethnischen Minderheiten eingesetzt werden, wie der Allerheiligste Synod 1883 empfahl. Dazu wurde die Ausbildung von Priestern aus den Reihen der Tschuwaschen gefördert. Nichtrussen bekamen eigene Stipendien für das Priesterseminar in Kazan‘, und bald wurden die ersten orthodoxen Priester aus den Reihen der Nichtrussen ordiniert. Im Jahr 1878 gab es lediglich zwei, im Jahr 1905 schon 140 tschuwaschische Priester. Dies trug wesentlich dazu bei, dass die orthodoxe Kirche und der christliche Glaube im tschuwaschischen Dorf Fuß fassten. Um das nach Il’minskij benannte und von ihm vorangetriebene Schulsystem zu verwirklichen, benötigte man Lehrer aus den Reihen der Nichtrussen. Im Jahre 1872 wurde deshalb in Kazan’ ein Lehrerseminar für Nichtrussen eingerichtet, an dem bis zum Jahr 1904 126 Tschuwaschen ausgebildet wurden. Noch wichtiger für die Ausbildung von tschuwaschischen Lehrern war die Zentrale tschuwaschische Schule in Simbirsk, die 1890 in Tschuwaschische Lehrerschule umbenannt wurde. Ihr Begründer war der Tschuwasche Ivan Jakovlev. Ich komme auf ihn und seine Schule zurück. In Russland existierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Typen von Elementarschulen nebeneinander, so dass es schwierig ist, die Gesamtzahlen ihrer Schülerinnen und Schüler zu eruieren. Ein erster Typ waren die schon erwähnten Schulen der Gurij-Bruderschaft, an denen im Jahr 1903 1.574 Tschuwaschen,

119

120

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

unter ihnen 434 Mädchen, lernten. Unter den staatlichen Schulen und den Schulen der regionalen Verwaltungskörper, der Zemstva, waren im Gouvernement Kazan‘ im Jahre 1898 122 tschuwaschische Schulen mit 5.970 Schülern und 803 Schülerinnen, im Gouvernement Simbirsk im Jahr 1900 57 Schulen mit 2.350 Schülern und 381 Schülerinnen. In den Kolonisationsgebieten links der Wolga blieb die Zahl der tschuwaschischen Schulen geringer. Die Zahl der kirchlichen Sprengelschulen für Nichtrussen nahm in derselben Periode ebenfalls stark zu. In der Diözese Kazan‘ zählte man im Jahr 1904/05 317 tschuwaschische Schulen dieses Typs mit 8.691 Schülern und 2.211 Schülerinnen. In den meisten Schulen aller Typen wurde nach der Methode Il‘minskijs mindestens in den ersten beiden Jahren in der Muttersprache unterrichtet. Im Jahr 1911 gab es im Kazaner Lehrbezirk schon 4.160 tschuwaschische Schulen mit 34.400 tschuwaschischen Grundschülern, ein Drittel davon Mädchen. Die Tschuwaschen hatten nun in ihren Stammgebieten, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, fast gleich viele Dorfschulen wie die Russen der Region. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler an der Gesamtbevölkerung der Region betrug bei den Tschuwaschen 3,5 Prozent, bei den Russen 4,3 und bei den Mari/Tscheremissen 3,0.167 Die gezielte Förderung des Elementarschulwesens, vor allem die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts, zeitigte also schon nach kurzer Zeit Erfolge. Im Jahr 1897 konnten 9,2 Prozent der über zehnjährigen Tschuwaschen des Imperiums lesen, in der Wolgaregion waren es 9,8 Prozent.168 Der Rückstand gegenüber den Russen (24,3 %) und Tataren (23,8 %) blieb aber groß. Besonders niedrig war weiter die Zahl der alphabetisierten Frauen: Nur etwa zwei Prozent der über zehnjährigen tschuwaschischen Frauen konnten lesen. 339 Tschuwaschen hatten eine höhere als Elementarschulbildung erlangt, die meisten von ihnen als Volksschullehrer. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wuchs die Zahl der alphabetisierten Tschuwaschen weiter stark an, und im Jahr 1917 konnten 11 Prozent aller (nicht nur der über zehnjährigen) Tschuwaschen lesen und schreiben. Das bedeutete eine Verdoppelung in zwanzig Jahren, denn im Jahr 1897 waren es nur 5,6 Prozent gewesen. Die Frauen hatten mit 4 Prozent etwas aufgeholt, doch blieb der Rückstand auf die Männer (18 %) groß.169 Die meisten Schulen vermittelten in drei bis vier Jahren höchstens die Grundbegriffe des Lesens und Schreibens (in Tschuwaschisch und Russisch) und Rechnens. Einen wichtigen Platz nahmen Religion, Kirchengeschichte und Kirchengesang ein, und auch die anderen vermittelten Inhalte waren religiös geprägt, schon allein deswegen, weil die ins Tschuwaschische übersetzten Lehrbücher lange fast ausschließlich die Religion und Kirchengeschichte betrafen. Längst nicht alle Eltern waren darüber erfreut, dass ihre Kinder, besonders ihre Töchter, nun die Schule besuchten und als Arbeitskräfte teilweise ausfielen.

Der ethnographische Autodidakt: Spiridon Michajlov

Die neue Methode der Mission mittels des muttersprachlichen Unterrichts war auch in Regierungs- und Kirchenkreisen nicht unumstritten. Nicht wenige Politiker und Missionare setzten sich für den russischsprachigen Unterricht und die damit geförderte direkte sprachliche Russifizierung ein. Diese Tendenzen verstärkten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zeichen des zunehmenden russischen Nationalismus. Die Gegner der muttersprachlichen Schulen befürchteten, dass die Tschuwaschen und anderen Nichtrussen infolge der Förderung ihrer Sprachen ein Nationalbewusstein entwickeln würden, das nicht nur kulturellen, sondern auch politischen Charakter annehmen könnte. Diese Befürchtungen entbehrten nicht der Grundlage. In der Tat wurden einzelne Absolventen der neuen Schulen nicht nur Förderer der tschuwaschischen Sprache und Kultur, sondern begründeten eine politische Nationalbewegung. Andererseits entfremdete die Schulbildung diese Tschuwaschen ihrer traditionellen dörflichen Welt und trug zu ihrer Integration in die russische Kultur und Gesellschaft bei. Im Pantheon berühmter Tschuwaschen nimmt heute der berühmte Orientalist und Sinologe Iakinf Bičurin (1777–1853) eine Ehrenstellung ein.170 Er wuchs zwar in einem tschuwaschischen Dorf als Sohn eines Priesters auf, doch ist es unwahrscheinlich, dass er ethnischer Tschuwasche war. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkte der Tschuwasche Petr Egorov als Architekt in Petersburg, wohin ihn ein Adliger schon als Junge gebracht hatte.171 Bičurin und Egorov waren vollständig in die russische Gesellschaft integriert. Mit der ersten Persönlichkeit, die als Tschuwasche ins Licht der Öffentlichkeit trat, beschäftige ich mich im folgenden Abschnitt. Der ethnographische Autodidakt: Spiridon Michajlov

Im Januar 1852 erschien in den Kazaner Gouvernements-Nachrichten ein kurzer Aufsatz über die Geographie und Geschichte von Koz‘modem’jansk und den Besuch der Stadt durch Kaiser Paul und seine beiden Söhne. Eine der folgenden Nummern enthielt einen Beitrag mit dem Titel »Die Überlieferungen der Tschuwaschen«. Als Verfasser beider Texte wurde »der amtliche Übersetzer für die tschuwaschische Sprache des Kreisgerichts von Koz‘modem’jansk Spiridon Michaj­lov« genannt. Damit trat erstmals ein Tschuwasche als Autor an die Öffentlichkeit.172 Schon der zweite Aufsatz zeigt, dass Michajlov über Informationen verfügte, die seinen russischen und deutschen Vorgängern verschlossen geblieben waren. Zwar wiederholte er zu Beginn die Stereotypen von der Bescheidenheit und Unwissenheit der Tschuwaschen, die über sich und ihre Herkunft nicht Bescheid wüss-

121

122

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 23 Tschuwaschische Redensarten und Märchen, zusammengestellt von Spiridon Michajlov, Übersetzer der tschuwaschischen Sprache. Kazan‘: Universitäts-Typographie 1853.

ten. In der Folge widersprach er sich selbst und gab erstmals einen Überblick über die Vorstellungen der Tschuwaschen von ihrer Geschichte, über ihr kollektives Gedächtnis, wie wir heute sagen würden. Noch frisch war die Erinnerung an die Taufe ihrer Vorfahren, die Errichtung von Kirchen und besonders an den Pugačev-Aufstand. Dieser diente den Tschuwaschen als chronologischer Merkpunkt, um die Lebenszeit ihrer Vorfahren zu datieren (»vor oder nach Pugačev«). Michajlov gab (wohl mit Rücksicht auf die Zensur) allerdings nur indirekte Hinweise darauf, dass Pugačev unter den Tschuwaschen noch immer als Fürsprecher des Volkes erinnert wurde. Im kollektiven Gedächtnis war als zweites, weiter zurückliegendes Ereignis die Eroberung von Kazan‘ präsent. Die Tschuwaschen hätten als Untertanen der Tataren unter dem Druck der Steuern und dem Raub ihrer Töchter gelitten und deshalb die Protektion des Moskauer Zaren gesucht und seinen Feldzug gegen Kazan‘ unterstützt. Es ist anzunehmen, dass Michajlov dieses Narrativ hervorhob, um seine Loyalität gegenüber der Zarenautokratie auszudrücken. Michajlov zufolge hatte der Ahnenkult zentrale Bedeutung im kollektiven Gedächtnis der Tschuwaschen. Es kursier-

Der ethnographische Autodidakt: Spiridon Michajlov

ten zahlreiche Legenden über die Vorväter der einzelnen Sippen, nach denen die meisten Dörfer benannt waren. Diffus waren die Vorstellungen darüber, woher die Tschuwaschen in ihre Wohngebiete gelangt seien, »vom Schwarzen Meer über die Berge«. Michajlov diskutierte die These Sboevs von den Burtasy als Vorfahren der Tschuwaschen, sprach sich aber in einer späteren Schrift für die Herkunft von den Wolgabulgaren aus. Im Jahr 1853 systematisierte Michajlov seine Beobachtungen in einer »Kurzen ethnographischen Beschreibung der Tschuwaschen«.173 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern widmete er der traditionellen Religion nur wenig Raum. Dafür ging er als Erster genauer auf die einzelnen Lebensbereiche ein: Behausungen, Nahrung, Geburt und Aufzucht der Kinder, Arbeit in Ackerbau und Viehzucht, Feste und Freizeit. Dieser gehaltvolle Beitrag bildete den ersten Teil eines Buches, das ebenfalls schon 1853 in Kazan‘ erschien. Sein Titel »Tschuwaschische Redensarten und Märchen« bezog sich auf den zweiten längeren Teil, in dem Michajlov Sagen, Märchen, Lieder, Rätsel und andere folkloristische Quellen, die von ihm in tschuwaschischen Dörfern aufgezeichnet worden waren, (in russischer Übersetzung) präsentierte und kommentierte.174 Es handelte sich um die erste Sammlung tschuwaschischer Volksliteratur, die in einer Reihe mit den Sammlungen russischer Folklore stand, wie sie damals die Russische Geographische Gesellschaft initiierte. Mit den Heiratsbräuchen der Tschuwaschen befasste sich Michajlov in einem eigenen längeren Aufsatz, der umfassender und zuverlässiger war als die früheren Studien zu diesem Thema.175 Das Manuskript einer größeren Arbeit zu Geschichte und Ethnographie der Tschuwaschen, das Michajlov in Moskau publizieren wollte, ging verloren. Die Studien Michajlovs vermittelten zum ersten Mal einen umfassenden Überblick über unterschiedliche Facetten des Alltagslebens, der mündlichen Überlieferungen und der Kultur der Tschuwaschen. Sie erweiterten das bisherige Wissen beträchtlich und korrigierten manche Aussagen von Aleksandra Fuks und Vasilij Sboev. Dabei kamen Michajlov seine Herkunft aus einem tschuwaschischen Dorf und die Kontakte mit seinen Verwandten und Freunden zugute. Spiridon Michajlov wurde im Jahr 1821 im Dorf Junga-Jadrin im Kreis Koz‘modem’jansk geboren. Sein Vater war ein angesehener Bauer, der seine Herkunft von der früheren dienstleistenden tschuwaschischen Oberschicht herleitete. Beide Eltern waren wie damals fast alle Tschuwaschen Analphabeten, doch konnten sie russisch sprechen. Spiridon hatte zwei Halbgeschwister und sieben Schwestern und Brüder; zwei Brüder dienten in der Armee. Wie sein Vater und fast alle Tschuwaschen gehörte auch Spiridon dem Stand der Staatsbauern an. Im Alter von sieben Jahren wurde er von seinem Vater in die Stadt Koz‘modem’jansk geschickt. Wie andere soziale Aufsteiger begründete er dies in seiner Autobiographie mit

123

124

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 24 Die Stadt Koz’modem’jansk (zeitgenössische Ansichtskarte)

dem Wissensdurst des kleinen Jungen, der unbedingt lesen lernen wollte. »Mein Herz brach aus dem Vaterhaus aus in die heilige Rus‘«, so sein pathetischer Ausruf.176 Sein Vater sei damit nicht einverstanden gewesen, da er der Meinung war, das Lesen und Schreiben sei den Russen vorbehalten und bringe den Tschuwaschen nichts Gutes. Der Widerstand war verständlich, denn der Bauer war sich bewusst, dass er seinen Sohn verlieren würde, wenn dieser die Welt des tschuwaschischen Dorfes verließ und in die russische Stadt zog. Koz’modem’jansk war der Hauptort des gleichnamigen Bezirks und zählte, wie Michajlov in einem seiner Aufsätze über die Stadt festhielt, im Jahre 1853 4.574 Einwohner, unter ihnen 38 erbliche Adlige und 43 Geistliche. 480 Bewohner der Stadt, also nur gut 10 Prozent, konnten lesen und schreiben. Man zählte 800 Häuser, davon 10 aus Stein, dazu 5 Steinkirchen und ein kleines Krankenhaus. Die Stadt lag an der Wolga und war ein wichtiger Umschlagplatz für den Holzhandel. Sie befand sich schon im Siedlungsgebiet der Berg-Mari, doch gehörten zum Bezirk auch tschuwaschische Siedlungen, unter ihnen der Geburtsort Michajlovs. Koz’modem’jansk war wie die anderen Städte der Region ganz überwiegend von ethnischen Russen bewohnt. In Koz‘modem’jansk wurde Spiridon von einer russischen Kaufmannsfamilie aufgenommen. Eine Verwandte und ein subalterner Verwaltungsangestellter

Der ethnographische Autodidakt: Spiridon Michajlov

brachten ihm die Grundzüge des Lesens und Schreibens bei, wobei Psalter und Gebetsbücher als Lehrmittel dienten. Eine Schule konnte der Knabe nicht besuchen, obwohl es in der Stadt eine staatliche und eine kirchliche Schule gab. Spiridon berichtete, dass er unter den Hänseleien der Dienstboten und Arbeiter zu leiden hatte, die ihn als »tschuwaschischen Geist« und als »tschuwaschische Schaufel« bezeichneten: »Schwer fiel es mir kleinem Buben, solche Frechheiten zu ertragen!«177 Schon als Dreizehnjähriger musste er für seinen Lebensunterhalt selber aufkommen und diente in den folgenden acht Jahren als Schreiber und in anderen untergeordneten Funktionen in der Lokalverwaltung. Im Jahre 1842 wurde er zum Dolmetscher und Schriftführer im Bezirksgericht Koz‘modem’jansk ernannt. Diese Stelle behielt er bis zu seinem frühen Tod. Im Jahr 1843 heiratete er ein armes russisches Mädchen, das lesen und schreiben konnte. Die Ehe blieb kinderlos, doch nahmen die Eheleute eine Tochter an. Während seines ganzen Lebens bildete sich Spiridon im Selbstunterricht weiter. Er las viel schöne Literatur und historische Werke. Besonders stolz war er darauf, dass er die berühmte »Geschichte des Russländischen Staates« von Nikolaj Karamzin erwerben konnte. Es dauerte noch einmal fast ein Jahrzehnt, bis er selber zu schreiben begann. Die Publikation seines ersten Aufsatzes im Januar 1852 war ein Höhepunkt in seinem Leben: „Jetzt sprach mein pochendes Herz zu mir: Fürchte dich jetzt nicht mehr, Finne! Jetzt wirst du nicht mehr verachtet, fürchte dich nicht, Tschuwasche! Dir schreibt Aleksandr Ivanovič Artem‘ev! [der Redakteur der Gouvernements-Nachrichten und ein bekannter Historiker]. Zieh den Vorhang weg! Es schreibt dir das Mitglied hochgestellter Gesellschaften! ... ein Magister der Wissenschaften!«178

Auf einmal gewann er die Achtung der Stadtbewohner, und sogar der Bürgermeister beglückwünschte ihn, den kleinen Tschuwaschen (čuvašlenka). Auch in Kazan‘ wurde man aufmerksam auf den »autodidaktischen tschuwaschischen Schriftsteller«. Dass aus dem Kreis der analphabetischen »Fremdstämmigen« ein gebildeter Mann hervorgehen könnte, galt fast als Wunder. Man begann zu fragen: »Kann es denn sein, dass ein Mann tschuwaschischer Herkunft, der an keiner Schule gelernt hat, etwas Vernünftiges geschrieben hat?«179 Michajlov wurde nun von russischen Gelehrten wie dem Orientalisten Il‘ja Berezin, der Professor an der Universität Kazan‘ war, gefördert und er trat in Korrespondenz mit dem Historiker Michail Pogodin. Auch offizielle Ehrungen wurden ihm zuteil: Im Jahre 1853 wurde er Mitarbeiter der »Russischen Geographischen Gesellschaft« und 1856 Korrespondierendes Mitglied des Statistischen Komitees des Gouvernements Kazan‘.

125

126

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Dennoch fühlte sich Michajlov zurückgesetzt und nicht voll akzeptiert von der russischen Gesellschaft. In seiner Autobiographie schilderte er den komplizierten Weg, den er ohne Protektion und finanzielle Mittel unbeirrt ging, obwohl er von seiner Umgebung Spott und Niedertracht, Verleumdungen und Nachstellungen erfahren musste. Auf der anderen Seite bezeichnete er sich in einem Brief an Pogo­ din selbstbewusst als »ersten Schriftsteller aus einer Million Tschuwaschen und Tscheremissen«180 und verglich sich mit dem russischen Universalgelehrten Michail Lomonosov, der als einfacher Fischerssohn aus dem Russischen Norden viele Widerstände überwinden musste, bis er zum gefeierten Wissenschaftler wurde. In seiner Autobiographie beschrieb er die Hybridität seiner Position. Er sei selber zum Russen geworden und habe alles getan, um sich in die russische Gesellschaft zu integrieren, doch akzeptierte ihn diese nicht als ebenbürtig. Die dreifache Diskriminierung als Tschuwasche, als Bauer und als Mann ohne Schulbildung war nicht zu überwinden. Michajlov beklagte sich, dass er trotz seiner Verdienste sein Leben lang dem Bauernstand zugeschrieben blieb und dass er im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen nicht befördert wurde. Ein böswilliger Beamter versuchte sogar, ihn als dienstpflichtigen Bauern für die Armee zu rekrutieren. Auch seine materielle Lage war und blieb unbefriedigend. Gleichzeitig entfremdete er sich seinen tschuwaschischen Verwandten. Diese kritisierten ihn, dass er arm geblieben sei und in der Stadt nicht Karriere gemacht habe und ihnen keinen Nutzen bringe.181 In seinen Briefen an höhergestellte Persönlichkeiten bat er wiederholt ohne Erfolg um Geld zur Durchführung seiner wissenschaftlichen Vorhaben und für den Erwerb eines kleinen Hauses in Koz’modem’jansk. Im Januar 1861 starb Michajlov unerwartet. Das Haus, das er mit geliehenem Geld doch noch gekauft hatte, wurde seiner Witwe nach einem Rechtsstreit wieder entzogen. Michajlov war in der Situation des entwurzelten Aufsteigers, der zwischen den Kulturen stand. Er war seiner Herkunftsgesellschaft und seinen ethnischen Wurzeln entfremdet und wurde von der imperialen Gesellschaft zwar als exotischer Außenseiter wahrgenommen und sogar gelobt, aber dennoch nicht voll akzeptiert – die typische Situation des Subalternen. In einem Brief an Artem’ev bekannte er, dass er sich darum bemühe, seine Volksgenossen zu fördern, und durch sein Beispiel wenigstens einige Tschuwaschen aus der Unwissenheit herauszuführen: »Mein ganzes Leben und alle meine Wünsche richten sich darauf, einige meiner Volksgenossen nachzuziehen.«182 Der Einfluss Michajlovs auf andere Tschuwaschen blieb aber, auch auf Grund seines frühen Todes, gering. Erst in den folgenden Jahrzehnten gelang es immer mehr Tschuwaschen, aus dem Schatten herauszutreten. Zum wichtigsten Kanal für ihren sozialen Aufstieg wurden die Schulen, die seit den 1860er Jahren für die Nichtrussen der Region eingerichtet wurden.

Der nationale »Erwecker«: Ivan Jakovlev

Der nationale »Erwecker«: Ivan Jakovlev

Die zentrale Figur unter den Tschuwaschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Ivan Jakovlev (1848–1930). Er war für die Tschuwaschen, wie es in einer Broschüre aus dem Jahr 2002 hieß, »Pädagoge-Demokrat, Schriftsteller, Aufklärer, Schöpfer der tschuwaschischen Schriftsprache« und »Patriarch«.183 Jakovlev wurde im Jahr 1848 in einem Dorf im Norden des Gouvernements Simbirsk geboren. Er war das außereheliche Kind einer tschuwaschischen Bäuerin, die bei der Geburt starb, worauf das Waisenkind von einem Bauern adoptiert wurde. Der kleine Ivan arbeitete früh in der Landwirtschaft mit. Die Tschuwaschen des Dorfes waren, wie er in seinen Erinnerungen berichtete, noch stark in ihrem alten Glauben verhaftet, beteten zu ihren heidnischen Gottheiten und opferten ihnen. Der kleine Ivan nahm selbst an solchen Opferfeiern teil, bei denen Vieh geschlachtet und aufgegessen wurde. Die Kinder hätten gotteslästerlich mit Ikonen gespielt, die sie um die Wette warfen. Die russischen Priester, mit denen die Tschuwaschen nicht kommunizieren konnten, führten die formalen Zeremonien durch und sammelten in den Bauernhöfen als Gebühren Hühner, Eier und Hafer ein. Bei solchen kritischen Bemerkungen gegenüber der Orthodoxen Kirche muss berücksichtigt werden, dass Jakovlev seine Memoiren nach der Oktoberrevolution verfasste. Im Jahre 1856 wurde er in die Sprengelschule eines Nachbardorfes geschickt, in dem neben Tschuwaschen auch Russen wohnten. Die Schule war russischsprachig, und den Schülern wurde ausdrücklich verboten, tschuwaschisch zu sprechen. Der Unterricht der Anfänger in Lesen und Schreiben, in Religion und Kirchengeschichte wurde von den älteren Schülern erteilt, und dem Dorfpriester oblag nur die Aufsicht. Ivan wurde bei einer russischen Familie untergebracht und lernte so schnell russisch. Im Jahre 1860 wurde er in die eben eröffnete Spezialklasse des Gymnasiums von Simbirsk aufgenommen, in der Landvermesser und Taxatoren ausgebildet wurden. Im Sommer wurden die Schüler für praktische Arbeiten in unterschiedliche Gegenden geschickt, und Jakovlev kam dabei in Kontakt mit der polyethnischen Bevölkerung der Region. Nach Abschluss der Schule wurde er zum Landvermesser ernannt und in die Stadt Syzran‘ an der unteren Wolga geschickt. Nach zwei Jahren gab er seine Stellung auf und bereitete sich mit Hilfe adliger Gönner auf die Aufnahmeprüfung in die 5. Klasse des klassischen Knabengymnasiums von Simbirsk vor, die er als 19jähriger bestand. Das Leben Jakovlevs blieb eng mit Simbirsk verbunden. Simbirsk, an der Wolga gelegen, war im 17. Jahrhundert als Festung an der Steppengrenze begründet worden. Sie war die Hauptstadt des gleichnamigen Gouver-

127

128

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 25 Die Stadt Simbirsk (zeitgenössische Ansichtskarte)

nements und zählte 1863 etwa 25.000 Einwohner. Sie hatte mehrere Verwaltungsgebäude, Kirchen, Klöster, Schulen, Theater, eine Bibliothek, eine Buchhandlung, Handelshäuser und Werkstätten. Im Jahre 1864 fielen zahlreiche Gebäude der Stadt einem Brand zum Opfer. Im Gymnasium kam Jakovlev zum ersten Mal mit der städtischen Elite und der russischen Hochkultur in Kontakt. Er las viel und bildete sich weiter, um in dieser fremden Welt zu bestehen. Im Jahre 1870 absolvierte er das Gymnasium als einziger seiner Klasse mit einer Goldmedaille. Es gelang ihm, dank eines staatlichen Stipendiums das Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität Kazan‘ aufzunehmen, das er 1875 abschloss. Jakovlev war, soweit mir bekannt, der erste Tschuwasche mit Hochschulbildung. Während seiner Gymnasialzeit dachte Jakovlev darüber nach, wie er den Analphabetismus bei den Tschuwaschen bekämpfen könnte. Er nahm einige junge Tschuwaschen bei sich auf, um ihnen in Simbirsk den Besuch einer Schule zu ermöglichen. Finanziert wurde diese Aktion mit Nachhilfestunden und später auch durch Spenden von Sympathisanten. Sein Ziel war die Ausbildung tschuwaschischer Lehrer, die auf dem Lande wirken sollten. Deren Aufgabe sollte nicht nur darin bestehen, den tschuwaschischen Kindern lesen und schreiben beizubringen, sondern auch, sie im orthodoxen Glauben zu bestärken und in die russische Gesellschaft zu integrieren. Als Gründungsdatum der Simbirsker Tschuwaschischen Schule gilt gemeinhin das Jahr 1868, doch handelte es sich zunächst nur um eine

Der nationale »Erwecker«: Ivan Jakovlev

Abb. 26 Ivan Jakovlev: Tschuwaschische Fibel. Religiös-sittliche Unterweisungen, Gebete und ausgewählte Stellen aus der Heiligen Schrift, dargelegt im Dialekt der unteren Tschuwaschen, oder anatri. Kazan‘ 1872

Wohngemeinschaft von drei bis vier jungen Tschuwaschen. Erst drei Jahre später gelang es Jakovlev, öffentliche Mittel und offizielle Anerkennung für seine kleine Schule zu erhalten. Als Lehrer für die bis zu 15 tschuwaschischen Schüler wurde ein Russe verpflichtet, der sich mit der tschuwaschischen Sprache vertraut machte. Die Schule wurde nun zu einer Ausbildungsstätte für tschuwaschische Lehrer; sie zählte im Jahre 1872 26, drei Jahre später schon 52 Schüler. Außerdem wurde im Heimatdorf Jakovlevs eine Mustergrundschule für tschuwaschische Kinder eingerichtet. An der Universität Kazan‘ lernte Jakovlev Nikolaj Il’minskij kennen, der ihn in seinem Vorhaben unterstützte. Im Hause Il’minskij begegnete er seiner späteren Frau Ekaterina Bobrovnikova, einer Adoptivtochter Il’minskijs. Dieser überzeugte ihn, wie Jakovlev in seinen Erinnerungen schrieb, dass der Unterricht in der Muttersprache als Grundlage der Bildung der Tschuwaschen und anderen Nichtrussen dienen sollte. Er stand ihm auch in seiner Übersetzungstätigkeit zur Seite, denn für den Unterricht benötigte man geeignete Lehrmittel. Jakovlev schuf nun zusammen mit dem russischen Pädagogen Vasilij Belilin ein tschuwaschisches Alphabet in kyrillischer Schrift mit zunächst 47, dann 25 Buchstaben. 17 Buchstaben wurden aus dem Russischen übernommen, 7 mit zusätzlichen diakritischen Zeichen verse-

129

130

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

hen. Das Alphabet wurde in der Folge mehrfach verändert. Die von Jakovlev übersetzte Fibel erlebte 19 Auflagen und wurde in den tschuwaschischen Schulen bis zum Jahr 1919 benutzt. Er publizierte außerdem ein Lehrbuch der russischen Sprache für Tschuwaschen und ein tschuwaschisches Lesebuch. Wie die Protagonisten anderer Nationalbewegungen bereiste er im Sommer Dörfer, um volksprachliches Material zu sammeln, das er dann für die Zusammenstellung seiner Fibel benutzte und später zum Teil publizierte. Nach dem Abschluss des Studiums an der Universität Kazan‘ wurde Jakovlev zum Inspektor der tschuwaschischen Schulen des Kazaner Lehrbezirks ernannt. Er war damit der erste Tschuwasche, der eine höhere Verwaltungsfunktion wahrnahm. Seine einfache Herkunft stellte in der Epoche der Reformen schon nicht mehr wie noch für Michajlov ein unüberwindliches Hindernis für einen sozialen Aufstieg dar. Er übernahm wieder die Leitung der von ihm begründeten tschuwaschischen Schule in Simbirsk, für die er 1876 ein Haus erwarb. Sie wurde 1877 eine Zentralschule, die nun offiziell die Erlaubnis erhielt, Lehrer für die tschuwaschischen Schulen auszubilden. Im Jahre 1890 wurde sie in Tschuwaschische Lehrerschule umbenannt. Ihr Ziel war, wie es im staatlichen Reglement hieß, »die Vorbereitung von Lehrern für die tschuwaschischen Grundschulen zum Zwecke der Verbreitung der religiös-moralischen, orthodoxen russischen Aufklärung unter der tschuwaschischen Bevölkerung«.184 Die Lehrerausbildung dauerte sechs Jahre. Der Unterrichtsstoff umfasste Religion, Russisch und Kirchenslawisch, Mathematik, Geometrie, russische Geschichte und Geographie, Grundbegriffe der Naturwissenschaften, Rechtschreiben, Zeichnen, Kirchengesang und wenn möglich Gymnastik. Um die Russischkenntnisse zu fördern, wurden auch einzelne russische Schüler aufgenommen. Unterrichtet wurden außerdem handwerkliche und landwirtschaftliche Fächer, für die Werkstätten und eine Farm bereitstanden. Deren Erzeugnisse trugen zur Finanzierung der Lehranstalt bei. Einen Förderer seiner Anliegen fand Jakovlev im Inspektor, später Direktor der Schulen des Gouvernements Simbirsk Il’ja Uljanov (1831–1886), dem Vater Lenins. Dessen Andenken wurde in der Sowjetunion hoch gehalten, und die Stadt Simbirsk trägt seit 1924 bis zum heutigen Tag seinen Namen, ebenso die Staatliche Tschuwaschische Universität. Im Jahr 1879 trat Vladimir Ul’janov, der spätere Lenin, in das Klassische Gymnasium von Simbirsk ein, zu dessen Direktor im selben Jahr Fedor Kerenskij, der Vater Aleksandr Kerenskijs, des Gegenspielers Lenins im Jahre 1917, ernannt wurde. Es ist wahrscheinlich, dass sich Lenin und Jakovlev begegnet sind. Il’ja Uljanov unterstützte Jakovlev auch, als dieser im Jahre 1878 die Begründung einer Abteilung zur Ausbildung tschuwaschischer Mädchen

Der nationale »Erwecker«: Ivan Jakovlev

anregte. Das Ministerium verweigerte allerdings seine Zustimmung, worauf Jakovlevs Frau Ekaterina begann, tschuwaschische Mädchen privat zu unterrichten. Im Jahre 1891 wurde die Mädchenschule dann doch eröffnet, und zehn Jahre später wurden Pädagogische Kurse für Frauen eingerichtet. Mit dem Lehrerseminar verbunden waren je eine Volksschule für Knaben und Mädchen. Das von Jakovlev begründete Lehrerseminar war die wichtigste Kaderschmiede für die tschuwaschische Intelligenz, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte. Sie zählte im Jahr 1916 105 Schüler (88 Tschuwaschen, 16 Russen und einen Mordwinen) und 78 Schülerinnen (53 Tschuwaschinnen, 24 Russinnen und eine Mordwinin). Ihre Bibliothek umfasste 13.348 Bände.185 Im Simbirsker Seminar wurden bis 1918 ungefähr tausend Lehrer und Lehrerinnen ausgebildet, die Mehrzahl von ihnen Tschuwaschen. Allerdings gingen längst nicht alle Absolventen als Lehrer in die Dorfschulen. Da es für viele die einzige Möglichkeit einer weiterführenden Schule war, diente sie als Sprungbrett für ein Hochschulstudium und für andere Berufe. Ein Beispiel ist der Tschuwasche Aleksej Rekeev (1848–1932), der aus demselben Dorf wie Jakovlev stammte und einer seiner ersten Schüler war. Er wirkte in der Folge als Lehrer an tschuwaschischen Schulen und am Kazaner Lehrerseminar, wo er mit Il’minskij zusammenarbeitete, sowie als Übersetzer. Dann wurde er Priester in tschuwaschischen Dörfern und nahm Funktionen in der Kirchenadministration wahr. In seiner 28-jährigen Tätigkeit als Inspektor der tschuwaschischen Schulen begründete Jakovlev zahlreiche tschuwaschische Dorfschulen, publizierte über 100 Lehrbücher, Unterrichtsbehelfe und andere Schriften in tschuwaschischer Sprache, unter ihnen auch eine Übersetzung des Neuen Testaments und literarische Werke. Die von ihm begründete Schule leitete er während eines halben Jahrhunderts, bis er sich im Jahre 1919 im Alter von 71 Jahren zurückzog. Er übersiedelte drei Jahre später nach Zentralrussland und lebte in den Familien seiner Kinder. Er starb 1930 hochbetagt in Moskau. Jakovlev gehörte zu den »nationalen Erweckern« des 19. Jahrhunderts, die erkannten, dass Schulbildung die Voraussetzung für die Emanzipation ihrer Völker war. Dem Vorbild Il’minskijs folgend, wählte er den Weg des muttersprachlichen Unterrichts, um den Analphabetismus möglichst rasch zu beseitigen. Jakovlev stand in Korrespondenz mit zahlreichen hervorragenden Persönlichkeiten wie dem Historiker Sergej Platonov, dem Turkologen Wilhelm Radloff, dem Komponisten Mili Balakirev und dem Verleger Anton Reclam. Jakovlev war ein loyaler Untertan und seine Bemühungen wurden denn auch von der Regierung gewürdigt. Er erhielt mehrere Orden und Medaillen, und 1904 wurde ihm der hohe Rang eines Wirklichen Staatsrats zuerkannt. Eines seiner zentralen Anliegen war die

131

132

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 27 Denkmal für Ivan Jakovlev in Čeboksary

Festigung der Orthodoxie unter den Tschuwaschen und ihre Annäherung an die russische Kultur. »Wir müssen im Geiste Russen werden: Russisch denken und fühlen. Dafür ist es nötig, zur russischen Kultur aufzusteigen … Die Kultur der Tschuwaschen anzuheben ist nur möglich über ihre Muttersprache.«186 Das Ziel der Formierung einer politischen tschuwaschischen Nation stand ihm fern. Erst einige seiner Schüler, die seine Tätigkeit fortsetzten, überschritten die von Jakovlev gesetzten Grenzen und begründeten politische Organisationen. Jakovlev distanzierte sich von ihnen und von allen oppositionellen Strömungen und wurde deshalb von der jüngeren Generation der tschuwaschischen Nationalbewegung als klerikaler Konservativer abgelehnt. Ivan Jakovlev ist heute unter den Tschuwaschen eine der populärsten historischen Persönlichkeiten. Die Staatliche Pädagogische Universität in Čeboksary trägt seinen Namen, an der Staatlichen Tschuwaschischen Universität gibt es ein eigenes Jakovlev-Institut, mehrere Museen und Denkmäler sind seinem Andenken gewidmet. Im nationalen Narrativ wird ihm zu Recht die Rolle des »nationalen Erweckers« zugeschrieben, der muttersprachliche Schulen und ein Lehrerseminar begründete, der die Sprache kodifizierte und russische Schriften ins Tschuwaschische übersetzte. Jakovlev repräsentierte den gemäßigten Reformer, der nicht die

Der Wissenschaftler und Nationaldemokrat: Nikolaj Nikol’skij

Konfrontation mit der herrschenden russischen Kultur und dem zarischen Staat suchte, sondern den Ausgleich, nicht die Trennung von tschuwaschischer und russischer Kultur, sondern ihre Symbiose. Dieses Credo steht im Zentrum seines »Vermächtnisses für das tschuwaschische Volk«, eines Texts, den er allerdings erst im Jahr 1921, im Alter von 73 Jahren, verfasste.187 „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Ich wende mich als erste an Euch, meine tschuwaschischen Freunde und Verwandte. … Bewahrt vor allem den größten Schatz, den Glauben an Gott. Das zweite Vermächtnis ist die Liebe zum russischen Volk: Ehrt und liebt das große, gute und kluge russische Volk … Es hat Euch in seine Familie aufgenommen wie Brüder, hat Euch nicht beleidigt und erniedrigt, … es wird zum Führer und Lenker Eurer Entwicklung werden … Glaubt an Russland, liebt es und es wird Euch eine Mutter sein.«

Der von ihm verehrte Il’minskij erschien ihm als Verkörperung des russischen Volkscharakters. Im Weiteren appellierte Jakovlev an die gebildeten Tschuwaschen, sein Werk fortzusetzen und sich um die ungebildeten Landsleute und um die Förderung der tschuwaschischen Sprache zu kümmern »Die Hinwendung zur Volkssprache ist kein Verrat an der russischen Sache: Man kann dem großen russischen Vaterland dienen, ohne seine Muttersprache zu vergessen.« Zwar war Jakovlevs Religiosität im Russland des Jahres 1921 nicht mehr zeitgemäß, doch passte sein Appell an die Liebe zum russischen Volk vorzüglich zum sowjetischen Axiom der Völkerfreundschaft, das seit den 1930er Jahren verkündet wurde. Noch heute gilt Jakovlevs Vermächtnis vielen Tschuwaschen als Richtschnur. Der konservative, russophile, der Regierung loyal gegenüberstehende Jakovlev ist für viele Tschuwaschen ein Nationalheld, der ihren eigenen Wertvorstellungen entspricht. Nur eine Minderheit kritisiert sein »Vermächtnis« als »prachtvolles Beispiel von Liebedienerei und Unterwürfigkeit«, wie sie auch in der (postsowjetischen) Gegenwart noch lebendig seien.188 Der Wissenschaftler und Nationaldemokrat: Nikolaj Nikol’skij

Einer neuen Generation tschuwaschischer Intellektueller gehörte Nikolaj Nikol’skij (1878–1961) an. Er genoss eine umfassende Ausbildung in den geistlichen Lehranstalten, entfaltete eine reiche Tätigkeit in Wissenschaft und Lehre, engagierte sich öffentlich für die tschuwaschische Sache und bekleidete im Umbruch des Jahres 1917 wichtige Funktionen. In der Sowjetunion fiel er in Ungnade, überlebte aber den Terror und starb erst 1961.189

133

134

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 28 Nikolaj Nikol’skij mit seiner Frau (Anfang des 20. Jahrhunderts)

Nikol’skij wurde im Jahre 1878 in einem tschuwaschischen Dorf des Kreises Jadrin geboren. Sein Vater hatte (wie Jakovlev) eine Ausbildung zum Landvermesser durchlaufen und in anderen Teilen Russlands gearbeitet, bevor er mit seiner russischen Frau in sein Dorf zurückkehrte. Auch die beiden Brüder und Schwestern Nikolajs gingen zur Schule, der ältere Bruder wurde Grundschullehrer. Nikolaj Nikol’skij besuchte die Dorfschule und anschließend fünf Jahre lang die weiterführende geistliche Lehranstalt in Čeboksary, bevor er von 1893 bis 1899 am Priesterseminar von Kazan‘ studierte. Sein Vater hätte ihn gerne als Geistlichen gesehen, doch ihn zog es zu höherer Bildung. Er besuchte die Kazaner Theologische Akademie, die er 1903 mit dem Grad eines Kandidaten der Theologie abschloss. Die Akademie stand in der Tradition des 1891 gestorbenen Il’minskij, und Nikol’skij setzte sich sein Leben lang für die muttersprachliche Bildung der Tschuwaschen und anderen Nationalitäten des Wolgaraums ein. Er hörte Vorlesungen an der Universität Kazan‘ und machte dort die Bekanntschaft von Nikolaj Ašmarin, dem bedeutenden Erforscher der tschuwaschischen Sprache. In der Folge unterrichtete Nikol’skij an unterschiedlichen Lehranstalten in Kazan‘. Er lehrte »die tschuwaschische Sprache und ihr benachbarte Fächer« an der Theologischen Akademie, nach 1906, als er wegen politischer Unzuverlässig-

Der Wissenschaftler und Nationaldemokrat: Nikolaj Nikol’skij

keit entlassen wurde, Geschichte am Lehrerseminar und tschuwaschisch am Priesterseminar. Im Jahre 1913 wurde ihm der Grad eines Magisters der Theologie verliehen, und 1915 begann er als Privatdozent an der Universität Kazan‘ zu lehren. Nikol’skij war seit 1905 Mitglied der »Gesellschaft für Archäologie, Geschichte und Ethnographie an der Universität Kazan‘«, der führenden geisteswissenschaftlichen Gesellschaft der Region und wurde 1916 zum Wirklichen Mitglied der Russischen Geographischen Gesellschaft gewählt. Als Mitglied der »Bruderschaft des Heiligen Gurij« machte er sich um zahlreiche Übersetzungen ins Tschuwaschische verdient, die jetzt nicht mehr vorab religiöse Schriften betrafen, sondern alle Lebensbereiche, von Lehr- und Wörterbüchern, über Kalender bis zu praktischen Anleitungen zu Medizin und Landwirtschaft. Als sich infolge der Revolution von 1905 die Zensur lockerte, wurde im Januar 1906 auf seine Initiative hin die erste tschuwaschischsprachige Zeitung Chypar (Nachrichten) begründet, deren erster Herausgeber und Redakteur er war. Als nach der Februarrevolution von 1917 die gesellschaftlichen Aktivitäten in ganz Russland explodierten, engagierte sich Nikol’skij erneut, und sein Ansehen als Hochschullehrer brachte ihn in verantwortungsvolle Positionen. Ich komme im 6. Kapitel darauf zurück. Im Jahre 1918 brach die öffentliche Tätigkeit Nikol’skijs ab, denn er galt wohl zu Recht nicht als Anhänger der sowjetischen Ordnung. Immerhin konnte er an verschiedenen höheren Schulen seine pädagogische Tätigkeit fortsetzen. Von 1918 bis 1922 lehrte er an der Universität Kazan‘, anschließend hatte er am Orientalischen Pädagogischen Institut in Kazan‘ den Lehrstuhl für Ethnographie inne und wurde 1928 zum Professor ernannt. Nachdem im Jahre 1929 zwei seiner Bücher scharf kritisiert worden waren, wurde er »aus gesundheitlichen Gründen« zwangspensioniert und musste Kazan‘ verlassen. Die folgenden zehn Jahre war er an der Sammlung historischer Dokumente zur Geschichte der Mordwinen beteiligt. 1931 und 1933 wurde er zweimal wegen »antisowjetischer Aktivität« verhaftet, doch nach mehreren langen Verhören jeweils nach einigen Monaten wieder freigelassen. Gegen ihn erhobene Vorwürfe waren einerseits sein Verhältnis zur Religion und seine Beziehungen zur orthodoxen Kirche, andererseits seine Tätigkeit in »bürgerlich-nationalistischen« Organisationen. Nikol’skij erklärte sich für unschuldig und es gelang ihm, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.190 Trotzdem wurde Nikol’skij seit dieser Zeit in der sowjetischen Historiographie als »bürgerlicher Nationalist« und »Apostel des Missionartums« beschimpft. In den 1940er Jahren war er Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts der Mari-Republik. Es gelang ihm, in Nischen die Stalinschen »Säuberungen« zu überleben, und im Jahre 1947 wurde ihm vom Institut für Ethnographie

135

136

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften sogar der Grad des Doktors der historischen Wissenschaften verliehen. Dennoch gelang es ihm nicht, seine neueren Arbeiten zu publizieren. Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU erfuhr er eine gewisse Wiedergutmachung von Seiten der Tschuwaschischen Republik, als er im Jahre 1958 im Alter von 80 Jahren außerplanmäßiger Mitarbeiter am Tschuwaschischen Forschungsinstitut wurde. Drei Jahre darauf starb er in Kazan‘. Seine wissenschaftliche Tätigkeit begann Nikol’skij unter Anleitung des russischen Ethnographen Vasilij Magnickij, der sich für die Förderung des Bildungswesens unter den Tschuwaschen einsetzte. Wie schon Spiridon Michajlov und andere junge Intellektuelle aus den Reihen »kleiner Völker« sammelte er zeit seines Lebens Material zu Ethnographie und Geschichte der Tschuwaschen und anderen Ethnien der Region. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit der Christianisierung der Tschuwaschen, 1912 erschien seine Monographie zu diesem Thema, die auf einer breiten Quellenbasis beruhte und bis heute ihren Wert nicht verloren hat. Nikol’skij wurde bei der Verteidigung der Dissertation dafür kritisiert, dass er die Christianisierung nur aus der Perspektive der Tschuwaschen betrachte, die er idealisiere und als Opfer der Zwangsmaßnahmen von Staat und Kirche darstelle – ein Vorwurf, der aus heutiger Sicht einem Historiker und Ethnographen wohl ansteht. In seinen zahlreichen anderen Publikationen beschäftigte er sich mit unterschiedlichen Aspekten der Geschichte und Ethnographie der Tschuwaschen und anderer Wolgavölker, so unter anderem mit der Volksmusik und Volksmedizin. Im Jahr 1919 erschien sein tschuwaschisch-russisches Wörterbuch, ein Jahr später eine Geschichte der Mari, die erste Gesamtdarstellung ihrer Geschichte. Zwischen 1908 und 1926 legte er mehrere Auflagen eines »Konspekts der Ethnographie der Tschuwaschen« vor, die in einen zweibändigen Überblick über die Ethnographie der Tschuwaschen mündeten. Als der erste Band im Jahre 1929 in Čeboksary erschien, wurde er einer vernichtenden Kritik unterzogen und aller möglichen ideologischen Abweichungen, so des Nationalismus und Mystizismus, bezichtigt. Der zweite Band der Ethnographie konnte nicht mehr erscheinen, ebenso wenig wie ein großes Werk, das den Reiseberichten über die Tschuwaschen gewidmet war, eine knappe Gesamtdarstellung der Geschichte des tschuwaschischen Volkes und eine dreibändige Geschichte der Mari. Nikolaj Nikol’skij widmete sich in seinem Leben und Schaffen der Aufklärung der tschuwaschischen Bauern, der Förderung der tschuwaschischen Sprache und Kultur, verfolgte also ähnliche Ziele wie eine Generation vor ihm Ivan Jakovlev. Beide sahen sich als Schüler Il’minskijs und seines Programms des muttersprachlichen Unterrichts. Nikol’skij lebte aber schon in einer anderen Epoche. Er engagierte sich während der ersten und zweiten Revolution öffentlich in der tschuwa-

Der nationale Aktivist: Gavriil Aljunov

schischen Nationalbewegung und setzte sich auch für die anderen Wolgavölker ein. Er hielt an seinen national-liberalen Positionen fest, für die in der Sowjetunion spätestens seit dem Ende der 1920er Jahre kein Platz mehr war. Als erster Tschuwasche verfasste er im engeren Sinn wissenschaftliche Arbeiten und durchlief die akademische Stufenleiter vom Magister bis zum Doktor der Wissenschaften und Professor. Der nationale Aktivist: Gavriil Aljunov

Die meisten Tschuwaschen, die am Ende des 19. Jahrhunderts an die Öffentlichkeit traten, waren Absolventen der von Jakovlev begründeten Tschuwaschischen (Lehrer-)Schule in Simbirsk oder der geistlichen Seminare von Kazan‘ und Simbirsk. Viele von ihnen blieben im Rahmen der herrschenden Ordnung, wurden Dorfschullehrer und Priester oder förderten die kulturelle Entwicklung der Tschuwaschen in anderen Bereichen. Nur wenige wurden zu Gegnern des Zarenregimes. Hier sollen zwei von ihnen vorgestellt werden, Gavriil Aljunov, einer der führenden nationalen Aktivisten, und der Revolutionär Daniil Ėl’men‘, der später sowjetischer Funktionär wurde. Gavriil Fedorov (Pseudonym Aljunov) wurde 1876 als Sohn eines tschuwaschischen Bauern im Gouvernement Simbirsk geboren.191 Nach dem Besuch der Dorfschule arbeitete er erst auf dem Hof seiner Eltern. Von 1890 bis 1895 besuchte er, ausgestattet mit einem Stipendium, die Tschuwaschische Lehrerschule in Simbirsk und unterrichtete dann an einer Dorfschule im Kreis Civil’sk. Danach absolvierte er, ebenfalls dank eines Stipendiums, das Priesterseminar in Simbirsk und unterrichtete nach 1900 an einer Zemstvo-Schule im Gouvernement Samara. Im Jahre 1902 begann er ein Studium am Juristischen Demidov-Lyzeum, einer traditionsreichen Hochschule in Jaroslavl‘ in Zentralrussland. Wie viele andere Studierende wurde Aljunov von der ersten russischen Revolution politisch mobilisiert, nahm im Herbst 1905 an Demonstrationen in Jaroslavl‘ teil und gab sein Studium auf. Er kehrte in die Mittlere Wolga-Region zurück und wirkte als Erzieher am Lehrerseminar für Nichtrussen in Kazan‘. Er wurde Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre (SR) und eine der führenden Figuren in der tschuwaschischen Nationalbewegung. In Zeitungsartikeln kritisierte er Jakovlev und seine negative Haltung zur Revolution. Im Oktober 1906 wurde er verhaftet und nach Sibirien verbannt. Nach einer Amnestie setzte er sein Studium am Lyzeum fort, wurde zum Kandidaten der Rechtswissenschaften promoviert und arbeitete dann als Rechtsanwalt in Jaroslavl‘.

137

138

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 29 Gavriil Aljunov (2. von links) mit drei anderen Studenten des Priesterseminars von Simbirsk (1899)

Nach einer kurzen Militärdienstzeit wurde Aljunov nach der Februarrevolution zum Vorsitzenden des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten von Jaroslavl‘ gewählt. Er setzte seine politische Karriere aber nicht in Zentralrussland fort, sondern kehrte an die Mittlere Wolga zurück und wurde dort erneut einer der wichtigsten Aktivisten der tschuwaschischen Nationalbewegung. Auf Aljunovs politische Aktivitäten im Wolgagebiet im Gefolge der Revolutionen von 1905 und Februar 1917 komme ich im folgenden Kapitel zurück. Im November 1917 wurde Aljunov als Deputierter in die All-russische Konstituierende Versammlung gewählt. Nach deren Auflösung durch die neue Sowjetregierung im Januar 1918 kehrte er aus Petrograd nach Kazan‘ zurück. Dort wurde er ins Zentralkomitee des neu begründeten All-russischen tschuwaschischen Kriegs-Sowjets gewählt, dessen Vorsitz er im Mai übernahm. Nachdem im August 1918 die Tschechoslowakische Legion Kazan‘ eingenommen hatte, wurde er Mitglied des Komuč, des von den Sozialrevolutionären dominierten antisowjetischen »Komitees der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung«. Als die Rote Armee Anfang September Kazan‘ eroberte, floh Aljunov ins westsibirische Tobol’sk. Im Juli 1920 wurde er verhaftet und nach Kazan‘ gebracht. Im Juli 1921 starb Aljunov 45-jährig im Gefängnis von Kazan‘. Aljunov und der zwei Jahre jüngere Nikol’skij waren die ersten Tschuwaschen, die im Jahr 1917 wichtige öffentliche Ämter bekleideten. Anders als Nikol’skij, der in erster Linie Wissenschaftler und Lehrer war, wurde der Jurist Aljunov früh politisiert und engagierte sich in der Partei der SR. Nach der Oktoberrevolution stellte sich Aljunov offen auf die Seite der gegenrevolutionären »Weißen« und war damit dem Tod geweiht, es sei denn, er wäre emigriert. Jakovlev, Nikol’skij und Aljunov

Der Sozialrevolutionär: Daniil Ėl’men‘

machten sich, jeder auf seine Art, verdient um die Nationsbildung der Tschuwaschen. In der heutigen Tschuwaschischen Republik werden aber nur die beiden Erstgenannten als »nationale Erwecker« erinnert und mit Museen, Denkmälern und Straßennamen geehrt, während Aljunov in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen ist – wohl eine Folge seiner sieben Jahrzehnte dauernden Verunglimpfung als Feind der Sowjetmacht. Der Sozialrevolutionär: Daniil Ėl’men‘

Mehrere frühe tschuwaschische Intellektuelle waren Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre, die vorrangig die Interessen der Bauernschaft vertrat. Während Aljunov der Hauptrichtung der SR folgte, die in Opposition zur Sozialdemokratischen Partei stand, im Jahre 1917 in der Provisorischen Regierung vertreten war und sich der Machtübernahme der Bolschewiki widersetzte, schloss sich Daniil Ėl’men‘ den Linken Sozialrevolutionären an, die sich gegen die Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung aussprachen und nach der Oktoberrevolution mit den Bolschewiki zusammenarbeiteten. Im Laufe des Jahres 1918 verloren die Linken Sozialrevolutionäre ihren Einfluss und wurden von den Bolschewiki zusehends ausgeschaltet. Ein Teil trat darauf in die Kommunistische Partei ein. Daniil Semenov (1885–1932), der später das Pseudonym Ėl’men‘ annahm, wurde in einem Dorf des Kreises Jadrin geboren.192 Er war der älteste Sohn einer armen tschuwaschischen Familie, die Schulden machen musste, um im Frühjahr, als die Getreidevorräte zur Neige gingen, zu überleben. Daniil half dabei, die Schulden auf den Feldern der Geldgeber abzuarbeiten. Ein Nachbar brachte dem Jungen lesen und schreiben bei, und im Alter von acht Jahren wurde er in die lokale Zemstvo-Schule geschickt. Sein Lehrer beabsichtigte, ihn auf die weiterführende Tschuwaschische Schule zu schicken, doch fehlten ihm, wie er später schrieb, die Mittel und die Kleider für die Reise nach Simbirsk. Immerhin gelang es ihm, eine zweiklassige tschuwaschische Schule zu besuchen, die kurz zuvor in der Nähe seines Heimatdorfes begründet worden war. Nach erfolgreichem Abschluss wurde er im Jahr 1905 dann doch als Schüler in die Simbirsker Tschuwaschische Schule aufgenommen. Er begann sein Studium also in der Zeit der ersten russischen Revolution. Er schloss sich anderen Schülern an, die gegen die Zustände in der Schule protestierten, worauf die ganze Klasse relegiert wurde. Daniil kehrte in sein Dorf zurück und nahm Kontakt mit einer sozialrevolutionären Gruppe auf, die von einem Dorflehrer geleitet wurde. Er verteilte Proklamationen in tschuwaschischer Sprache, die die Bauern zum Aufstand aufriefen. Im Jahr 1907 wurde er verhaftet, doch bald

139

140

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Abb. 30 Daniil Ėl’men‘ 1913

wieder freigelassen. Darauf trat er in die Armee ein und diente bis 1911 und dann wieder im Ersten Weltkrieg. Im Jahre 1917 treffen wir ihn dann als Delegierten des 1. All-russischen Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Ėl’men‘ schloss sich den Linken Sozialrevolutionären an, die mit den Bolschewiki zusammenarbeiteten. Im Februar 1918 wurde er zum Vorsitzenden des Sowjets seines Heimatkreises Jadrin ernannt. Er gehörte zu den Begründern der Zeitung Kanaš, die im Februar 1918 an die Stelle des aufgelösten Chypar trat. Es herrschte großer Mangel an Sozialisten unter den Tschuwaschen, so dass Ėl’men‘ rasch Karriere machte. Im Mai 1918 wurde er Vorsitzender der Tschuwaschischen Sektion im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen in Moskau, und im September 1918 trat er mit anderen Linken Sozialrevolutionären der Kommunistischen Partei bei. Im Jahre 1919 kämpfte er in der Roten Armee und wurde verwundet. Er kehrte nach Tschuwaschien zurück, übernahm in der Folge Leitungsfunktionen in dessen Partei- und Staatsorganisation und wurde zu einem der Architekten der tschuwaschischen nationalen Autonomie. Einen Knick bekam seine Karriere, als er im Juni 1921 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und nach Sibirien abgeschoben wurde. Nach zehn Monaten wurde er indessen zurückbeordert und als Sekretär des Gebietskomitees von Tschuwaschien eingesetzt. Im Jahre 1924 verlor er diese Stellung, holte von 1924 bis 1929 die versäumte Ausbildung nach und studierte am Institut der roten Professur in Moskau. Darauf wurde er Dozent an der Kommunistischen Universität

Der Nationaldichter: Konstantin Ivanov

in Nižnij Novgorod. Seit Sommer 1928 wurde er des »rechten Opportunismus« und des »Nationalchauvinismus« beschuldigt und vorübergehend aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er starb im Jahre 1932 in einem Erholungsheim, rechtzeitig, bevor er höchst wahrscheinlich dem Stalinschen Terror zum Opfer gefallen wäre. In der Zeit der »Säuberungen« wurde die »Ėl’men‘ščina« (die Gruppe um Ėl’men‘) zum Inbegriff der »konterrevolutionären bürgerlichen Nationalisten« und zur Standardbeschuldigung tschuwaschischer Kommunisten. Der Nationaldichter: Konstantin Ivanov

Die meisten Nationen brauchen einen Nationaldichter. Das gilt vor allem für junge Nationen, die keine ungebrochene Tradition einer Schriftkultur und Hochliteratur haben. Gerade bei ihnen spielten Dichter nicht nur für die Schaffung einer Nationalliteratur, sondern allgemein in der Verbreitung der Literatursprache und nationaler Ideen eine hervorragende Rolle. Paradebeispiele sind der Ukrainer Taras Ševčenko, der Finne Elias Rönnroth, der Slowene France Prešeren oder der Provenzale Frédéric Mistral. Der tschuwaschische Nationaldichter ist unbestritten Konstantin Ivanov (1890–1915).193 Ivanov wurde in einem tschuwaschischen Dorf im Gouvernement Ufa geboren, als Abkömmling von Bauern, die aus der Gegend von Čeboksary in den Ural ausgewandert waren. Schon sein Großvater konnte lesen und schreiben und diente als Schreiber, und auch sein wohlhabender Vater verfügte über eine elementare Bildung. Konstantin besuchte die Dorfschule und dann für kurze Zeit die Stadtschule in Belebej im Ural. Darauf wurde er wie zahlreiche andere junge Tschuwaschen nach Simbirsk geschickt, um in die dortige Tschuwaschische Lehrerschule einzutreten. In Simbirsk beschäftigte sich der junge Mann mit der Lektüre der russischen und der Weltliteratur. Wie der zehn Jahre ältere Ėl’men‘ besuchte er die Schule in Simbirsk in der Zeit der ersten russischen Revolution und nahm an Protestdemonstrationen teil. In dieser Zeit dichtete er eine »Tschuwaschische Marseillaise«. Seine ganze Klasse wurde wie diejenige Ėl’men’s der Schule verwiesen. Ivanov kehrte in sein Dorf zurück und versuchte erfolglos in das Lehrerseminar von Belebej einzutreten. Erneut in Simbirsk, beschäftigte er sich an der Tschuwaschischen Lehrerschule mit Übersetzungen. So übertrug er Dichtungen Michail Lermontovs und Gedichte Nikolaj Nekrasovs und Konstantin Bal’monts sowie eine Erzählung Lev Tolstojs aus dem Russischen ins Tschuwaschische. Er unterstützte Ivan Jakovlev im Verfassen tschuwaschischer Fibeln.

141

142

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

Im Jahre 1909 legte er als Externer das Lehrerexamen am Klassischen Gymnasium von Simbirsk ab. Da er keine Stelle erhielt, kehrte er für ein Jahr in sein Dorf zurück, bis ihn Jakovlev wieder nach Simbirsk holte. Ivanov hatte schon früh begonnen zu zeichnen und zu malen, und er wurde im September 1911 als Zeichenlehrer an der Tschuwaschischen Lehrerinnenschule in Simbirsk angestellt. In diesen Jahren wandte er sich immer mehr dem Malen zu und bereitete sich für die Aufnahmeprüfung an der Petersburger Akademie der Künste vor. Hier zeigt sich eine auffällige Parallele zum ukrainischen Nationaldichter Ševčenko, der ebenfalls Poet und Maler war und an der Petersburger Akademie studiert hatte. Ivanov erkrankte im Jahr 1914 an Tuberkulose. Er unternahm noch eine symbolische Reise zum Grab seines Vorbildes Lermontov, bevor er in sein Heimatdorf zurückkehrte, wo er im März 1915 im Alter von 25 Jahren starb. Im kurzen Zeitraum zwischen 1906 und 1908, im Alter von 16 bis 18 Jahren, verfasste Konstantin Ivanov eine größere Zahl von Gedichten, Poemen, Balladen und Legenden. Außerdem sammelte er wie andere nationale Aktivisten in den tschuwaschischen Dörfern folkloristisches Material, unter anderem Beispiele heidnischer Gebete. Zum 40-jährigen Jubiläum der Simbirsker Schule verfasste er das Gedicht »Unsere Zeit«, in dem er über die Geschichte der Tschuwaschen nachdenkt: „Was wäre mit den Tschuwaschen geschehen? Wären alle vor den Tataren zurückgewichen? Hätten sie deren Glauben angenommen? Oder wären sie zu Russen geworden?« Und er fährt fort, dass all dies ohne das Wirken Jakovlevs hätte eintreten können. Damit thematisierte Ivanov vielleicht als erster die Situation der Tschuwaschen zwischen Tataren und Russen. Als Ivanovs Hauptwerk gilt das 1908 erschienene Poem Narspi, das zum ersten Klassiker der tschuwaschischen Literatur wurde.194 Die Hauptfigur Narspi, liebreizende Tochter reicher Bauern, wird von ihrer Familie gegen ihren Willen mit einem wohlhabenden älteren Mann zwangsverheiratet. Ausführlich wird das Hochzeitsfest nach traditionellem tschuwaschischem Brauch geschildert. Narspi liebt ihren bösen Mann nicht, der sie prügelt, sondern den armen Jüngling Setner. Sie vergiftet ihren Mann und flieht in den Wald, wo Setner sie findet. Als sie zu ihm zieht, verfluchen ihre Eltern das Paar. Am Ende kommen alle ums Leben, Narspi begeht Selbstmord. Das romantische Poem klagt den Vater an, der auf die Gefühle seiner Tochter keine Rücksicht nimmt und sie ins Unglück treibt. Darüber hinaus geht es um allgemeinmenschliche Fragen von Gut und Böse, Natur und

Der Nationaldichter: Konstantin Ivanov

Abb. 31. Denkmal für Konstantin Ivanov in Čeboksary (im Hintergrund das Denkmal der »Mutter-Beschützerin«)

Mensch, Liebe und Hass. Dabei nimmt Ivanov Elemente der tschuwaschischen Folklore auf. Zusammen mit dem ebenfalls an der Schule von Simbirsk ausgebildeten Lehrer und Musiker Fedor Pavlov plante er eine tschuwaschische Nationaloper Narspi. Er verfasste ein Libretto, doch konnten die beiden ihre Arbeit nicht zu Ende führen. Konstantin Ivanov wurde früh als Nationaldichter kanonisiert. Dazu trugen nicht nur seine Werke, allen voran das Epos Narspi, sondern auch sein früher Tod bei. Es erscheint noch heute fast als Wunder, dass ein Jüngling aus dem fernen Ural formal und inhaltlich reife Dichtungen schuf, zu einem Zeitpunkt, als die tschuwaschische Schriftsprache und Literatur noch in den Kinderschuhen steckten. Sein Werk gab der allmählich entstehenden tschuwaschischen Literatur ebenso wie der Formierung der tschuwaschischen Schriftsprache wichtige Impulse. Für das Nationalbewusstsein der Tschuwaschen war die Existenz eines Nationaldichters von außerordentlicher Bedeutung. Sein Andenken wird bis heute hochgehalten: Das Tschuwaschische Theater in Čeboksary trägt seinen Namen, ein Museum, mehrere Denkmäler und Straßennamen erinnern an den früh vollendeten und jung

143

144

5. Kapitel: Die Tschuwaschen treten aus dem Schatten heraus

verstorbenen Poeten. Das Jahr 2015 wurde in Tschuwaschien zum Jahr Konstantin Ivanovs erklärt. Außerhalb seiner Heimat blieb Ivanov dagegen weitgehend unbekannt, obwohl zahlreiche seiner Dichtungen ins Russische übersetzt wurden, das Epos Narspi auch ins Deutsche. Immerhin schaffte er es zu Einträgen in die baschkirische, deutsche, englische finnische, italienische, russische, tschuwaschische, tatarische und ukrainische Wikipedia. Vier Generationen

Die sechs Persönlichkeiten, die ich exemplarisch vorgestellt habe, stehen für die frühe tschuwaschische Elite, die aus dem im Schatten liegenden Bauerndorf heraustrat und in die russische Welt der Städte gelangte. Die meisten Tschuwaschen machten eine weniger spektakuläre Karriere und kehrten ins Dorf zurück. Nach ihrer Ausbildung am Lehrerseminar in Simbirsk oder Kazan‘ bzw. einem Priesterseminar wirkten bis 1917 gegen tausend tschuwaschische Lehrerinnen und Lehrer und über hundert tschuwaschische Priester auf dem Lande. Sie leisteten einen großen Beitrag zur Hebung des Bildungsniveaus unter den tschuwaschischen Bauern und Bäuerinnen und zur Entwicklung der tschuwaschischen Schriftsprache. Der erste Tschuwasche, der an die Öffentlichkeit trat, war der 1821 geborene Michajlov, der unter der repressiven Herrschaft Nikolaus’ I. aufwuchs, als Autodidakt einen Posten in der Lokalverwaltung erreichte und ethnographische Arbeiten publizierte. Schon in der Epoche der Großen Reformen lebte der junge Jakovlev (geboren 1848), der als außerehelicher Bauernsohn im russischen Bildungssystem bis zu einem Universitätsabschluss und einem hohen Beamtenposten aufstieg. Einer dritten Generation gehörten Aljunov (geb. 1876) und Nikol’skij (geb. 1878) an, die nach dem Besuch von tschuwaschischen Schulen Karriere machten, Aljunov als Jurist, Nikol’skij als Wissenschaftler und erster tschuwaschischer Hochschullehrer. Hatte sich die Tätigkeit Michajlovs und Jakovlevs auf die kulturelle »Erweckung« der Tschuwaschen beschränkt, so wurden die folgenden vier Persönlichkeiten in der Revolution von 1905 politisiert. Aljunov und Nikol’skij spielten eine hervorragende Rolle in der tschuwaschischen Nationalbewegung, der 1885 geborene Ėl’men‘, einer der beiden Vertreter der jüngsten Generation, verschrieb sich der Revolution, während Ivanov (geb. 1890), der Begründer der tschuwaschischen Literatur, noch vor der Revolution von 1917 starb. In Sowjetrussland machte nur Ėl’men‘ Karriere, bevor er in Ungnade fiel und rechtzeitig eines natürlichen Todes starb. Aljunov fiel der Sowjetherrschaft zum Opfer, Nikol’skij überlebte in Nischen. Alle sechs Persönlichkeiten stammten aus tschuwaschischen Dörfern. Ihre Väter waren Bauern, Nikol’skijs Vater hatte allerdings schon eine Ausbildung

Vier Generationen

erhalten, und Ivanovs Vater war wohlhabend. Ihre räumliche Mobilität nahm im Laufe der Zeit zu. Michajlov kam in seinem ganzen Leben nicht aus der Provinzstadt Koz’modem’jansk heraus, nur in seinen Briefen reiste er bis nach Moskau. Die Wolga-Uralregion war der Lebens- und Wirkungskreis der übrigen fünf Figuren, mit Schwerpunkten in Simbirsk ( Jakovlev, Ėl’men‘, Ivanov) oder Kazan‘ (Nikol’skij, Aljunov). Über die Grenzen der Region hinaus kamen Aljunov und Ėl’men‘ als Soldaten im Ersten Weltkrieg; Aljunov hatte zuvor als einziger in Zentralrussland studiert und gearbeitet. Seit 1917 gelangten alle damals noch lebenden Persönlichkeiten in andere Regionen Russlands, ins Ausland ist meines Wissens keiner von ihnen je gekommen. Die Aneignung westlicher Bildung, das Erlernen der russischen Sprache und das Leben in den von Russen dominierten Städten entfremdeten die wenigen sozial aufsteigenden Tschuwaschen ihrer bäuerlichen Herkunft und der traditionellen Dorfkultur. Sie bildeten eine schmale hybride Gruppe, die zwischen den russischen Eliten und der Masse der Bauern stand. Bis zum Jahre 1917 sollen immerhin gegen hundert Tschuwaschen ein Hochschulstudium absolviert haben. Sie arbeiteten vorwiegend als Ärzte, Juristen, Beamte und Wissenschaftler. Zusammen mit den viel zahlreicheren Lehrerinnen und Lehrern bildeten sie das Fundament einer nationalen Gesellschaft. Das Verhältnis der Tschuwaschen zu Russland und den Russen blieb jedoch asymmetrisch. Die tschuwaschische Sprache und Kultur wurden im Zarenreich nicht als gleichwertig, ja nicht einmal als erhaltenswert eingestuft. Alle sechs Persönlichkeiten setzten sich auf ihre Weise für die Emanzipation der Tschuwaschen ein. Alle bis auf Michajlov durchliefen das russische Bildungssystem und alle waren durch die russische Kultur und Sprache geprägt. Sie waren als Subalterne gezwungen, sich der Sprache und Begriffe der Herrschenden zu bedienen, auch in ihren Bemühungen, ihren Landsleuten eine Stimme zu verleihen. Im Grunde waren alle Vertreter der europäischen Zivilisierungsmission unter den rückständigen Tschuwaschen. Während Michajlov und Jakovlev der engen Bindung an Russland, an die russische Sprache und Kultur, das Wort redeten, strebten die Vertreter der beiden jüngeren Generationen eine kulturelle und politische Emanzipation ihres Volkes an. Mit dem Sturz des alten Regimes im Februar 1917 veränderten sich die Rahmenbedingungen, und den »kleinen Völkern« Russlands eröffneten sich neue Möglichkeiten einer kulturellen Entfaltung und nationalen Emanzipation. Mit »Revolution und Nationsbildung« beschäftigt sich das folgende Kapitel.

145

6. Kapitel:

Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Anfänge einer Nationalbewegung

Die Formierung einer schmalen tschuwaschischen Intelligenz, wie ich sie im 5. Kapitel anhand von sechs Persönlichkeiten beschrieben habe, war die Voraussetzung dafür, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine nationale Bewegung zu entfalten begann. Die Revolutionen von 1905 und vom Februar 1917, die in Russland vorübergehend bürgerliche und nationale Freiheiten und Rechte verkündeten, brachten allen ethnischen Gruppen des Russländischen Imperiums, unter ihnen den Tschuwaschen, einen »Völkerfrühling«. Nachdem einige »Aufklärer« aus den Reihen der Tschuwaschen (und Russen) mit der Kodifizierung der tschuwaschischen Sprache, mit muttersprachlichen Publikationen, mit ersten literarischen Werken und mit Forschungen zu Ethnographie, Geschichte und Sprache der Tschuwaschen Grundlagen für eine Nationsbildung geschaffen hatten, wurden während der Revolution von 1905/06 erstmals nationale Organisationen begründet, die neben kulturellen auch politische Ziele auf die Tagesordnung setzten.195 Im November 1905 gelang es Nikolaj Nikol’skij, damals der führende Vertreter der tschuwaschischen Intelligenz, von den Behörden die Erlaubnis zum Erscheinen der ersten legalen Zeitung in tschuwaschischer Sprache zu erhalten.196 Nikol’skij war Herausgeber und Redakteur der ersten Nummer von Chypar (Nachrichten), die am 8. Januar 1906 in Kazan‘ erschien. Die Wochenzeitung hatte einen Umfang von 16 Seiten und eine Auflage von 1.500 Exemplaren; später sank die Auflage auf 600. Als Korrespondenten dienten meistens tschuwaschische Lehrer und Priester, ihre Beiträge behandelten ein vielfältiges Spektrum von Themen, von politischen Ereignisse in Russland und der Welt über wirtschaftliche, medizinische, juristische und kulturelle Fragen bis hin zu Gedichten. Der Verlag gab neben der Zeitung

148

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Abb. 32 Die erste Nummer der Zeitung Chypar 1906

zahlreiche Broschüren in tschuwaschischer Sprache heraus. Nach der Ablösung Nikol’skijs als Redakteur übernahmen im August 1906 Tschuwaschen, die der Partei der Sozialrevolutionäre angehörten, die Zeitung, die sich in der Folge radikalisierte. Im Oktober 1906 wurde der Redakteur Sidor Ignat’ev verhaftet und des Landes verwiesen. Am 31. Mai 1907 stellte Chypar auf Druck der Behörden sein Erscheinen ein. Obwohl Chypar nur während 16 Monaten erscheinen konnte, war die Begründung einer muttersprachlichen Zeitung eine wichtige Etappe der Nationsbildung. Sie förderte die nationale Kommunikation und Integration und die Weiterentwicklung der tschuwaschischen Hochsprache. Trotz ihrer geringen Auflage erreichte die Zeitung eine gewisse Breitenwirkung, wurde sie doch den Bauern von Dorfschullehrern vorgelesen. Chypar wurde zum Symbol einer eigenständigen Sprache und Kultur. »Auch für uns Tschuwaschen beginnt das Licht über der Welt zu leuchten«, schrieb ein begeisterter Leser der ersten Nummer – Chypar war ein Schritt hinaus aus dem Schatten.197 Im Jahre 1906 begründeten tschuwaschische Lehrer lokale und regionale Organisationen und organisierten mehrere geheime Versammlungen. Einige von ihnen standen der Partei der Sozialrevolutionäre nahe, was sie den Behörden verdächtig

Soziale, politische und nationale Mobilisierung nach der Februarrevolution

machte. Am 1./2. August 1906 trafen sich auf einer Wolgainsel bei Simbirsk gegen fünfzig Delegierte aus den Gouvernements Kazan’, Simbirsk, Ufa und Samara zu einer illegalen Versammlung der tschuwaschischen Lehrer. Sie begründeten den »Zirkel der in der Volksbildung tätigen Tschuwaschen«, in dessen Führungsgruppe die Sozialrevolutionäre Gavriil Aljunov als Vorsitzender, Semen Nikolaev (1880–1976) und Timofej Nikolaev (Churi) (1878–1918) gewählt wurden. Sie übernahmen auch die Redaktion des Chypar. Der Zirkel trat mit Ivan Jakovlev in Verbindung, doch sprach sich dieser dezidiert gegen jede politische Tätigkeit der Lehrer aus. Die Behörden schritten ohne Verzug ein, einige Lehrer wurden entlassen, Aljunov verhaftet und nach Sibirien verbannt.198 In das erste russische Parlament, die 1. Reichsduma, wurde 1906 als einer von zehn Deputierten des Gouvernements Kazan’ der Tschuwasche Jakov Abramov (1873–1934) gewählt. Er kam aus dem Bauernstand, hatte eine Dorfschule besucht und als Eisenbahner gearbeitet. Er schloss sich im Parlament den Trudoviki an, der Gruppe, die zusammen mit den Sozialrevolutionären die Interessen der Bauern vertrat. Mit Abramov war nach den Delegierten der Gesetzgebenden Kommission von 1768 erstmals wieder ein Tschuwasche in eine politische Funktion in der Hauptstadt St. Petersburg aufgerückt. Nach der Auflösung der 1. Duma wurde er unter Polizeiaufsicht gestellt. Er kandidierte erfolglos für die 2. Duma, in die dafür der tschuwaschische Bauer Aleksandr Fedorov gewählt wurde. Mit je einem Vertreter (0,2 %) waren die Tschuwaschen, die 0,6 Prozent der Bevölkerung Russlands ausmachten, im Parlament stark untervertreten. In die 3. Duma, in der die Vertretung der Bauern erheblich eingeschränkt wurde, wurde der tschuwaschische Kaufmann Nikolaj Efremov gewählt.199 Soziale, politische und nationale Mobilisierung nach der Februarrevolution

Im Februar 1917 stürzte eine weitgehend spontane Revolution das Ancien Régime in wenigen Tagen. Zar Nikolaus II. dankte ab, und an seine Stelle traten eine »Provisorische Regierung« und der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten. Russland wurde zur Republik, die bürgerlichen Grundrechte wurden erstmals garantiert ebenso wie die Gleichberechtigung der Nationalitäten. Der Sturz des Zarenregimes entfesselte Streiks und Aufstände der Stadtbevölkerung, besonders der Arbeiter, und eine Agrarrevolution. Im Sommer und Herbst 1917 nahmen zahlreiche Bauern mit Gewalt Güter des Adels in ihren Besitz. Gleichzeitig desertierten immer mehr Soldaten und kehrten von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in ihre Dörfer zurück. Im Herbst kulminierte die soziale und politische

149

150

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Krise, was von den Bolschewiki unter Lenin genutzt wurde, um im Oktober 1917 die Macht zu ergreifen. Die Tschuwaschen und ihr Wohngebiet gehörten nicht zu den Kerngebieten der Revolution.200 Diese stützte sich zunächst auf die Bevölkerung der größeren Städte, auf die gebildete Intelligenz, die Arbeiter und die Soldaten der Garnisonen. Diese Bevölkerungsgruppen waren unter den Tschuwaschen sehr klein. Fast alle Tschuwaschen waren nach wie vor Bauern, doch erfasste sie die Agrarrevolution wie schon im Jahre 1906 nur am Rande. So meldete die politische Polizei (Tscheka) im Januar 1918, dass es im Bezirk Jadrin keinen privaten Landbesitz gebe. Damit entfiel die zentrale Triebkraft der Bauernbewegung von 1917, die Enteignung der adligen und kirchlichen Gutsbesitzer und die Verteilung ihres Landes an die Bauern. In der zunehmenden Anarchie zogen sich die tschuwaschischen Bauern noch mehr auf ihr Dorf zurück. Sie hatten unter den Ausnahmebedingungen des Ersten Weltkriegs, als 40 Prozent der arbeitsfähigen Männer in die Armee eingezogen wurden und der Umfang der Getreideernte halbiert wurde, ebenso gelitten wie die Bauern in anderen Teilen Russlands. Als die Provisorische Regierung Beauftragte aufs Land schickte, um in den Dörfern »überschüssiges Getreide« und Vieh zu beschaffen, kam es unter den tschuwaschischen Bauern zu Protestaktionen. Im Bezirk Koz’modem’jansk kostete ein bewaffneter Konflikt mehrere Tschuwaschen das Leben.201 In den kleinen Städten Tschuwaschiens begrüßte die schmale Schicht der Gebildeten, die vorwiegend aus ethnischen Russen bestand, den Sturz des Zarenregimes, und Vertreter der Provisorischen Regierung übernahmen die Verwaltung. Die neue Ordnung schuf die Voraussetzungen dafür, dass nun Tschuwaschen erstmals öffentliche Positionen bekleideten. Angehörige der schmalen tschuwaschischen Intelligenz stellten zum Beispiel im Juni 1917 im Bezirk Čeboksary die Posten des Kommissars und des Chefs der Miliz. Nikolaj Nikol’skij wurde sogar zum Vorsitzenden der Zemstvo-Behörde des Gouvernements Kazan’ gewählt und war damit der erste Tschuwasche in einer höheren administrativen Leitungsfunktion. Auf lokaler Ebene nahmen Tschuwaschen in den neu begründeten Komitees der öffentlichen Sicherheit Einsitz. Im Ersten Weltkrieg war der Militärdienst zu einem Kanal des sozialen Aufstiegs geworden. Tschuwaschische Soldaten, Unteroffiziere und niedere Offiziere begründeten in einigen Städten Militärkomitees. Im Komitee von Kazan’ spielte Aleksandr Krasnov (1890–1952), ein ehemaliger Artillerist, eine führende Rolle und wurde in den dortigen Arbeiter- und Soldatensowjet gewählt. Dies war aber eine Ausnahme, denn in den Sowjets der Region waren Tschuwaschen nur schwach vertreten. Im Ganzen wurden die neuen, nach der Februarrevolution entstehenden Organe im Wolgaraum von Russen dominiert,

Soziale, politische und nationale Mobilisierung nach der Februarrevolution

die meistens der Partei der Sozialrevolutionäre nahestanden. Die Bolschewiki, die seit November 1917 die Herrschaft über Russland ausübten, fanden dagegen wenig Unterstützung. Die Februarrevolution von 1917 löste in Russland eine neue Welle nationaler Bewegungen aus, die Voraussetzungen dafür schufen, dass sich nach der Oktoberrevolution die meisten peripheren Gebiete des europäischen Russlands für unabhängig erklärten. Auch die nichtrussischen Ethnien der Mittleren Wolga wurden von nationalen Bewegungen erfasst, die allerdings nicht das Ausmaß derjenigen in Polen, im Baltikum oder im Südkaukasus annahmen. Ihre Zielsetzungen betrafen in erster Linie die Sprachenfrage, die Publikation von nationalsprachlichen Periodika und die Verwendung der nationalen Sprachen in Schule, Gericht und Gottesdienst. Es ist bemerkenswert, dass sich Vertreter der christianisierten Völker der Mittleren Wolga und des Urals schon früh gemeinsam organisierten und am 22. März 1917 in Kazan’ die »Gesellschaft (später Bund) der kleinen Völkerschaften des Wolgagebiets« begründeten. Diese Initiative legte Zeugnis davon ab, dass sich die Mari, Mordwinen, Tschuwaschen und Udmurten als Schicksalsgemeinschaft mit ähnlichen Problemen und Anliegen betrachteten und sich von den Russen und den muslimischen Tataren und Baschkiren abgrenzten. Zum ersten Vorsitzenden der Gesellschaft wurde Nikol’skij gewählt, der damals zusätzlich zu seiner administrativen Leitungsfunktion im Kazaner Zemstvo Privatdozent an der Universität Kazan’ war. Die Tschuwaschen waren schon stärker national mobilisiert als die anderen drei Ethnien, was aus der Tatsache erhellt, dass die tschuwaschische Sektion im August 1917 weit mehr als die Hälfte der gesamten Mitglieder der Gesellschaft umfasste. Am 15. Mai traten mehr als 500 Delegierte in Kazan‘ zum ersten Kongress der kleinen Völker der Wolgaregion zusammen. Sie forderten eine Landreform, kulturelle Autonomie und Selbstverwaltung, was auch die Schaffung neuer, den ethnischen Verhältnissen Rechnung tragender Verwaltungseinheiten einschließen sollte. Die schon bestehenden Ausbildungsstätten für Lehrer sollten in nationale Seminare umgewandelt werden. Ein Vertreter der Gesellschaft wurde eingeladen, an der Ausarbeitung eines Statuts für die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung teilzunehmen. Entsandt wurde der Jurist Semen Nikolaev, der schon 1906 hervorgetreten war. Nikolaevs Biographie ist typisch für die frühen Vertreter der tschuwaschischen Nationalbewegung: Der Bauernsohn besuchte nach der Grundschule das Tschuwaschische Lehrerseminar in Simbirsk, arbeitete als Lehrer und wurde in der Revolution von 1905 politisiert. Dank eines Stipendiums konnte er an der Universität Jura studieren und war dann an einem lokalen Gericht tätig. Im Ersten Weltkrieg wurde er

151

152

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

zur Armee einberufen und widmete sich im Jahre 1917 ganz der politischen Tätigkeit.202 Das bedeutendste Ereignis der nationalen Bewegung war der von Aljunov organisierte 1. All-Tschuwaschische Nationale Kongress, der vom 20. bis 28. Juni 1917 in Simbirsk unter dem Vorsitz Semen Nikolaevs zusammentrat. Wie eine Zeitung berichtete, kamen 700 bis 800 Tschuwaschinnen und Tschuwaschen aus allen Regionen des Wolga-Uralgebiets zusammen, unter ihnen Lehrer und Lehrerinnen aller Stufen, Priester, Juristen, Bauern, Soldaten und Offiziere. Man begründete eine »Tschuwaschische nationale Gesellschaft«, die in der Folge mehrere lokale Filialen eröffnete. Sie trat für kulturelle Autonomie und die Förderung der tschuwaschischen Sprache und Kultur ein. Sie übernahm auch die Redaktion des wiederbelebten Chypar und begründete einen Verlag, der einige tschuwaschische Broschüren herausgab. Einige Teilnehmer des Kongresses mit Aljunov an der Spitze begründeten in Kazan’ innerhalb der Redaktion des Chypar eine tschuwaschische Gruppe der Sozialrevolutionären Partei. Diese übernahm im August die Leitung der »Tschuwaschischen Nationalen Gesellschaft«. An einer Zusammenkunft der Gesellschaft im September 1917 wurden die Wahlen zur All-Russländischen Konstituierenden Versammlung vorbereitet, die am 12.–14. November, also schon nach der Oktoberrevolution, stattfanden. Die Tschuwaschen stellten im Gouvernement Kazan’ eine eigene nationale Liste auf, die sehr erfolgreich war, indem sie mit 226.496 Stimmen 26 Prozent aller Stimmen auf sich vereinte, bei einem Bevölkerungsanteil der Tschuwaschen von nur 23 Prozent. Fünf Tschuwaschen wurden in die Konstituante gewählt, was fast ihrem Bevölkerungsanteil entsprach. Im Gouvernement Kazan’ waren es die beiden Juristen Aljunov und Nikolaev sowie der Student und Redakteur des Chypar Ivan Vasil’ev (1892–1938), im Gouvernement Simbirsk der Student Dmitrij Petrov (1885–1939) und der Lehrer (im Ersten Weltkrieg Offizier) Germogen Titov (1885– 1919). Alle Gewählten standen der Zeitung Chypar und der Sozialrevolutionären Partei nahe. Diese erhielt bei den Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen in ganz Russland. Die Konstituante trat am 5. Januar 1918 in Petrograd zusammen und wurde nach nur einem Verhandlungstag von den Bolschewiki aufgelöst. Dies bedeutete das Ende der demokratischen Republik Russland.203 Die freiheitliche Ordnung der im Februar 1917 ausgerufenen Republik hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die tschuwaschische Nationalbewegung rasch entfaltete. Aus der Intelligenz der Lehrer, Behördenvertreter, Juristen und Studenten rekrutierte sich eine Führungsgruppe, die nationale Organisationen begründete, die alle wichtigeren Siedlungsgebiete der Tschuwaschen erfassten. Diese national bewusste Elite war noch immer schmal, wie die ständig wieder-

Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und der Aufstand von 1921

kehrenden Namen zeigen. Einzelne von ihnen waren schon in der Revolution von 1905–07 politisiert worden. Wenn man die Wahlen zur Konstituante mit der Wahl von lediglich einem Tschuwaschen in die Erste und Zweite Reichsduma vergleicht, wird deutlich, dass nun auch die breite Masse der mehrheitlich analphabetischen tschuwaschischen Bauern allmählich politisch mobilisiert wurde. Für die Bauern standen zwar soziale und wirtschaftliche Probleme im Vordergrund, doch trauten sie ihren Landsleuten eher als russischen oder tatarischen Kandidaten zu, ihre Interessen zu vertreten. Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und der Aufstand von 1921

Der Oktoberumsturz in Petrograd blieb zunächst ohne Folgen für die tschuwaschische Provinz. Die Bolschewiki waren hier nur schwach vertreten, und die Machtverhältnisse blieben bis zum Frühjahr 1918 ungeklärt. Für das neue Regime traten in erster Linie ehemalige Soldaten ein, die den Linken Sozialrevolutionären nahestanden. Erst im März 1918 setzte sich die Sowjetordnung durch, und die alten Selbstverwaltungsorgane der Zemstva wurden abgeschafft. Die Bolschewisierung der Räte (Sowjets) verzögerte sich jedoch. Noch im Sommer 1918 hatten die Linken Sozialrevolutionäre und Parteilosen in allen Bezirks-Sowjets der Region die überwiegende Mehrheit. Die »Tschuwaschische nationale Gesellschaft« und die tschuwaschischen Sozialrevolutionäre, die fast durchwegs antibolschewistisch eingestellt waren, bestanden bis zum Sommer 1918 fort. Allmählich verstärkte sich allerdings der Druck des sowjetischen Zentrums. Schon im Februar 1918 war die Zeitung Chypar geschlossen und durch die Zeitung Kanaš (tschuwaschisch Rat/Sowjet) ersetzt worden. Im Rahmen des bereits nach der Oktoberrevolution begründeten Volkskommissariats für Nationalitätenfragen wurde im Mai 1918 eine tschuwaschische Abteilung geschaffen, deren Leitung Daniil Ėlmen’ übernahm. Sein Nachfolger Gurij Komissarov (1883–1969) war seit 1905 als Geistlicher, Lehrer, Ethnograph und als Organisator tschuwaschischer Vereinigungen hervorgetreten.204 Im Sommer 1918 wurde die Wolga-Ural-Region zu einem Hauptschauplatz des beginnenden Bürgerkriegs zwischen »weiß« und »rot«. Unter dem Schutz der Tschechoslowakischen Legion trat in Samara ein von den Sozialrevolutionären dominiertes »Komitee der Mitglieder der Konstitutierenden Versammlung« (Komuč) zusammen und brachte weite Teile der Mittleren Wolga mit den Städten Simbirsk und (am 5. August) Kazan‘ unter seine Herrschaft. Die Mehrheit der führenden Aktivisten der tschuwaschischen Nationalbewegung mit den vier Abgeordneten der Konstituante Aljunov, Nikolaev, Petrov und Vasil’ev an der Spitze

153

154

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Abb. 33 Bürgerkriegsfreiwillige des Tschuwaschischen Lehrerseminars von Simbirsk im April 1919

stellte sich in den Dienst des antibolschewistischen Komuč. In Kazan’ wurden die »Tschuwaschische nationale Gesellschaft« und die Zeitung Chypar wiederbelebt. Schon am 10. September 1918 eroberte die Rote Armee Kazan’ und vertrieb die antibolschewistischen Kräfte. Aljunov floh nach Sibirien und kam 1921 im Gefängnis ums Leben. Vasil’ev wurde ebenfalls verhaftet, doch konnte er fliehen und lebte in Sibirien, bis er 1938 hingerichtet wurde. Nikolaev emigrierte in die Tschechoslowakei, während Petrov die Seiten wechselte und unter dem Pseudonym Mĕtri Juman zu einem der bekanntesten tschuwaschischen Schriftsteller wurde. Auf der Seite der Bolschewiki standen damals noch wenige Tschuwaschen, unter ihnen die ehemaligen Sozialrevolutionäre Ėl’men’ und Krasnov, die leitende Funktionen übernahmen. Die politische Abteilung der Roten Armee eröffnete eine tschuwaschische Sektion. Etwa 70.000 Tschuwaschen wurden in die Rote Armee rekrutiert und kämpften an den Fronten des Bürgerkriegs. Aus dem Dörfchen Budajka nahe Čeboksary stammte der populärste Held des Bürgerkriegs Vasilij Čapaev (1887–1919). Ob seine Mutter Tschuwaschin war, ist ungesichert. Čapaev hatte sich als Soldat im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet, trat dann der Partei der Bolschewiki bei und erreichte in der Roten Armee den Rang eines Divisionskommandanten. Im September 1919 fand er im Kampf gegen die »Weißen« den Tod. Der (wahrscheinli-

Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und der Aufstand von 1921

che) Ort seines Todes, der heute im westlichen Kasachstan liegt, wurde später in Čapaev umbenannt. Die sowjetische Propaganda stilisierte Čapaev zum Kriegshelden. Schon im Jahre 1923 wurde er durch einen Roman des Schriftstellers Dmitrij Furmanov, der als bolschewistischer Kommissar in der Einheit Čapaevs gekämpft hatte, bekannt und im Film, der auf der Grundlage des Romans entstand, zum unsterblichen Mythos. Der Film wurde im Jahre 1934, mitten in der Kampagne zur Förderung des Sowjetpatriotismus, lanciert und hatte einen gewaltigen Erfolg; schon im ersten Jahr sollen ihn 30 Millionen Menschen gesehen haben. Auch im Ausland wurde der Film gezeigt. Berühmt wurde das Kampflied »Tschapajews Tod«, das in der Übersetzung von Erich Weinert, gesungen vom Schauspieler Ernst Busch, den Ruhm des Helden bis nach Deutschland trug. Čapaev wurde in der Folge zum Held unzähliger Anekdoten und Witze. Meist ist er (Vasilij) begleitet von seinem Adjutanten Petka und dem Maschinengewehrschützen Anka, gelegentlich tritt auch der Politkommissar Furmanov auf. Vasilij, Petka und Anka verkörpern den gesunden Menschenverstand und Witz des geduldigen einfachen Menschen gegenüber ihren Vorgesetzten, sind also ein russisches Pendant zum braven Soldaten Schwejk. Čapaev ist in der Sowjetunion zu einem Erinnerungsort geworden und im Unterschied zu den bekannten Kommunisten bis heute geblieben. Seinen Namen tragen mehr als 20 Orte in Russland, der Ukraine und Kasachstan und unzählige Straßen. Angesichts dessen, dass Čapaev auf dem Gebiet des heutigen Čeboksary geboren wurde, sind die ihm gewidmeten Erinnerungsorte in Tschuwaschien wenig zahlreich. Zu erwähnen ist lediglich der 1974 begründete Museumskomplex, der sein Geburtshaus, ein Museum, einen Platz, ein Denkmal und eine Wand mit Reliefs umfasst.205 Im sogenannten »Kriegskommunismus« unterlagen die sowjetischen Bauern der Versorgungsdiktatur der Behörden, die mit Gewalt Getreide, Vieh und andere Nahrungsmittel konfiszierten, um die Versorgung der Roten Armee und der Städte sicherzustellen. Damit verbanden sich Experimente mit Staatsgütern, Kommunen und »Komitees der Dorfarmut«, die die armen Bauern gegen die reicheren, die sogenannten Kulaken, mobilisieren und die Getreidebeschaffung unterstützen sollten. Die Bolschewiki schafften es aber nicht, im Dorf Fuß zu fassen. Noch im Jahre 1919 waren sie in den ländlichen Sowjets fast gar nicht vertreten, ihre Präsenz in den tschuwaschischen Dörfern war noch schwächer als in den russischen Siedlungen.206 Das tschuwaschische Dorf blieb gegen außen abgeschlossen und sozial wenig differenziert, und die seit Jahrhunderten überlieferte traditionale Wirtschaftsweise blieb unverändert. Der Erste Weltkrieg, der Bürgerkrieg und die rücksichtslose Getreidebeschaffung verschlechterten allerdings die wirtschaftliche Situation erheblich. Im Sommer 1918 kamen zehn bewaffnete Abteilungen aus den

155

156

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Zentren Russlands und beschlagnahmten in Tschuwaschien 4,7 Millionen Pud (1 Pud = 16,4 kg) Getreide. Im folgenden Jahr mussten 5 Millionen Pud Getreide, 1,8 Millionen Pud Kartoffeln und 110.000 Stück Vieh abgeliefert werden. Im Jahr 1920 wurde die Politik der gewaltsamen Konfiszierung von Lebensmitteln fortgesetzt. Die Quoten waren nun niedriger, denn die Ernteerträge waren erheblich gesunken. Dennoch wurden die Behörden der (1920 begründeten) Tschuwaschischen Autonomen Oblast‘ angehalten, mit allen Mitteln gegen Bauern vorzugehen, die sich der Ablieferung widersetzten. Das tschuwaschische Dorf hungerte. Die Bauern Russlands leisteten seit 1918 passiven und zunehmend auch aktiven Widerstand gegen die Zwangseintreibung von Getreide. Besonders heftig war der Protest gegen die Getreidebeschaffung in den fruchtbaren Schwarzerdgebieten von der Ukraine bis an die untere Wolga. Auch in der Region der Mittleren Wolga, besonders in den Gouvernements Samara und Simbirsk, kam es im Jahre 1919 zu verbreiteten Unruhen, die sich in spontanen Erhebungen der Bauern manifestierten. Ein bewaffneter, vom Linken Sozialrevolutionär Aleksandr Antonov angeführter Aufstand im Gouvernement Tambov erfasste 1920 ein großes Territorium und wurde erst im folgenden Jahr mit großer Brutalität niedergeschlagen.207 Zunächst wurde, wie die Tscheka registrierte, nur der fruchtbare Süden Tschuwaschiens von Bauernaufständen erfasst. Noch Anfang Oktober 1919 hieß es, dass die Lage unter Kontrolle sei. Schon im November wurden dann aus verschiedenen Regionen Bauernunruhen gemeldet.208 Im Herbst 1920 spitzte sich die Situation in der Tschuwaschischen Autonomen Oblast zu. In einem Bericht der regionalen Tscheka heißt es, dass die Stimmung unter den Bauern angespannt sei, da es an allen Dingen des täglichen Bedarfs mangle. Das Verhältnis der Mehrheit der Bauern und sogar der Angestellten der Sowjets zur Sowjetmacht und zu den Vertretern der Kommunistischen Partei sei ablehnend. Es ist von Exzessen »kleiner Banden aus Deserteuren und Kulaken« gegen die Getreidebeschaffung die Rede.209 Der Hunger zwang die Bauern dazu, Saatgetreide als Nahrung zu verwenden. Dies war jedenfalls der offizielle Anlass dafür, dass Moskau am 28. Dezember 1920 die regionalen Funktionäre anwies, bei den Bauern das Saatgut zu requirieren, um die Aussaat im kommenden Jahr sicherzustellen. Dies brachte das Fass zum Überlaufen. Zahlreiche Bauern befürchteten wohl nicht zu Unrecht, dass das Saatgetreide auch anderweitig verwendet würde und sie damit der letzten Getreidevorräte beraubt werden sollten. Die Dorfältesten beriefen Gemeindeversammlungen ein, die beschlossen, die Abgabe des Saatgetreides zu verweigern.210 Die Bauern des Dorfes Akulevo im Bezirk Čeboksary waren am Abend des 13. Januars 1921 vom Vorsitzenden des lokalen Exekutivkomitees zusammengerufen worden, um die Abgabe des Saatgetreides zu organisieren. Sogleich erhoben sich Proteste und man

Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und der Aufstand von 1921

schrie: »Wir geben das Saatgetreide nicht heraus, auch wenn ihr uns umbringt!« Am 18. Januar erschienen hochrangige Vertreter der Sowjetmacht in Akulevo, an ihrer Spitze der Vorsitzende der Parteiorganisation Ėl’men‘, um nach dem Rechten zu sehen. Sie wurden begleitet von einigen mit einem Maschinengewehr ausgerüsteten Soldaten. Die Bauern widersetzten sich, entwaffneten die Soldaten und verprügelten die Mitglieder der Delegation. Dabei fand der Vertreter der regionalen Militärbehörde den Tod, die übrigen mit dem verletzten Ėl’men‘ retteten sich nach Čeboksary. Schon am nächsten Tag besetzte eine militärische Abteilung Akulevo, ohne auf Widerstand zu stoßen. Doch kurz darauf erschienen zahlreiche Bauern, bewaffnet mit Keulen, Spaten, Heugabeln und Äxten und einigen Gewehren. Sie wurden nach heftigem Widerstand auseinandergejagt. Zehn von ihnen wurden getötet und 200 gefangen genommen. Nach einer offiziellen Zusammenstellung wurden in Akulevo und Umgebung 39 Bauern und ein Pope erschossen.211 Trotzdem weitete sich der Bauernaufstand weiter aus und erfasste bald Zehntausende von Bauern in ungefähr der Hälfte der Gemeinden in der Tschuwaschischen Autonomen Oblast‘. Allein im Dorf Panklei im Bezirk Jadrin sollen sich 15.000 Aufständische versammelt haben. Die erbosten Bauern machten Jagd auf die Vertreter der Sowjetmacht, verprügelten sie und töteten zahlreiche Kommunisten. Sie besetzten die Büros der sowjetischen Behörden und verbrannten die Akten (eine Parallele zum Razin-Aufstand 250 Jahre zuvor). Zielscheiben der Gewalt waren nicht nur die Vertreter von Partei und Verwaltung, sondern auch der Schule, die von vielen Bauern als von außen aufgedrängte Zwangsorganisation betrachtet wurde. Ein Beispiel: Im Dorf Košelei tötete die Menge 7 Personen, nämlich den Vorsitzenden der Genossenschaft A.S. Maksimov, Dmitrij Pavlov, Mitglied des lokalen Exekutivkomitees, den Praktikanten Novikov, den »Schularbeiter 2.Klasse« (Lehrer) K. Petropavlovskij, die Lehrerin Klavdija Krečetnikova, sowie die Mitglieder der kommunistischen Jugendorganisation Aržanuchin und Solov’ev.212 Auch Soldaten der Roten Armee wurden attackiert. Im Dorf Chuvaš-Sorma töteten tschuwaschische Bauern ungefähr zwanzig Soldaten, die auf der Durchreise in den Urlaub waren.213 In den Dörfern hörte die Sowjetmacht für einige Tage auf, zu existieren. Tschuwaschien war mehr als zwei Wochen in Aufruhr. Die Quellen berichten von entsetzlichen Grausamkeiten, die die Wut und Verzweiflung der Bauern widerspiegeln. Sie zeugen vom Klima der Gewalt im schon drei Jahre dauernden Bürgerkrieg, das alle Hemmungen löste. So nahmen Aufständische junge Kommunisten fest, übergossen sie bei eisiger Temperatur mit Wasser, jagten sie herum und töteten sie dann. In einem anderen Dorf wurde ein Kommunist skalpiert, einem anderen wurden die Augen ausgerissen. Der Protest

157

158

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

der Bauern gegen die gewaltsame Requisition von Lebensmitteln fand eine grauenhafte Symbolik in zwei Gewalttaten. Ein Bauer schlug auf die Leiche eines lokalen Funktionärs ein und schrie: »Hier hast Du die Eier, hier hast du das Fleisch, hier hast Du die Butter!« Als die oben erwähnte Lehrerin Krečetnikova getötet wurde, schnitt ihr ein Bauer die linke Brust ab und schrie: «Hier, Kommunisten, habt Ihr das Fleisch! Hier die Getreidebeschaffung!«214 Die Aufrufe der Aufständischen richteten sich gegen die Sowjetmacht und die wenigen Vertreter der Kommunistischen Partei vor Ort. Ein Dorfältester erließ folgende Proklamation: »Die verfluchte Sowjetmacht ist abgeschüttelt, und wir haben mit Gottes Hilfe die Kommunisten erschlagen.« Eine Menge von 5.000 Bauern schrie: »Nieder mit den Sowjets, Tod den Kommunisten!« Eine Versammlung aufständischer Bauern stellte einen ganzen Katalog von Forderungen auf, außer dem Widerstand gegen die Getreideablieferung ertönten die Parolen »Nieder mit dem Kommunismus«, »Nieder mit den kommunistischen Lehrern!« aber ergänzend: »Kampf gegen den Analphabetismus, nur ohne Zwang«. Die Forderung, in den Gebäuden des Dorfsowjets Ikonen aufzuhängen und die Tatsache, dass die Aufständischen oft Ikonen mit sich trugen, zeugten davon, dass sich der Widerstand nicht mehr wie im Pugačev-Aufstand gegen die Geistlichen, sondern umgekehrt gegen die kirchenfeindliche Politik der Sowjetmacht richtete.215 Die Kirche hatte im Dorf also Fuß gefasst. Die sowjetischen Organe und in ihrer Folge die sowjetische Historiographie machten für den Aufstand die Feinde der Sowjetmacht verantwortlich, allen voran die reichen »Kulaken«, aber auch Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Geistliche. Die Quellen unterstützen eine solche Deutung nicht, sondern belegen den spontanen Charakter des Aufstandes, dem sich praktisch alle Bauern der jeweiligen Dörfer anschlossen. Die von den Dorfältesten geleitete Gemeindeversammlung diente wie seit Jahrhunderten als Organisationsform, von einem Klassenkampf im Dorf konnte keine Rede sein. Damit unterschied sich der Widerstand der tschuwaschischen Bauern nicht grundsätzlich von anderen bäuerlichen Protestbewegungen dieser Jahre in von Russen bewohnten Regionen. Die Abrechnung der sowjetischen Behörden mit den aufständischen Bauern war unbarmherzig. Das Fehlen einer überregionalen Organisation machte es den Behörden leicht, den Aufstand in einem Dorf nach dem anderen niederzuschlagen Über Tschuwaschien wurde der Kriegszustand verhängt. Ein von Ėl’men‘ geleiteter Stab versammelte Armeeabteilungen und einen Trupp der Tscheka gegen die Aufständischen. Der Widerstand der schlecht bewaffneten Bauern war rasch niedergeworfen. Die Soldaten zogen von Ort zu Ort und erschossen größere Gruppen von Bauern ohne Gerichtsverfahren. Die Gesamtzahl der Opfer des Aufstands ist nicht festzu-

Die Hungersnot der Jahre 1921–1926

stellen. Nach offiziellen Zahlen wurden auf der Seite der Sowjetbehörden 54 Personen (23 Kommunisten, 11 Parteilose und 20 Soldaten) getötet. Auf Seiten der Aufständischen wurden nach offiziellen Angaben 1.006 Personen festgenommen und mindestens 513 (möglicherweise bis zu 700) ohne Gerichtsverfahren erschossen.216 Diese Brutalität schien selbst den zentralen Parteiorganen zu weit zu gehen. Eine Untersuchungskommission wurde entsandt, die der regionalen Parteiorganisation die Erschießung Unschuldiger vorwarf. Man gab zu, dass sich die Bauern in der Frage der Getreideversorgung von den Behörden im Stich gelassen fühlten und dann von »Kulaken« und Popen zum antibolschewistischen Aufstand angestachelt worden seien. Die regionale Parteiorganisation treffe Schuld, da sie es versäumt habe, die sowjetische Politik den Bauern zu erklären. Ėl’men‘ wurde im Juni 1921 als Vorsitzender des Gebietskomitees abgesetzt und für sechs Monate aus der Partei ausgeschlossen. Schon im August erreichte er seine Rehabilitierung. Der Aufstand von 1921, der in einer Quellenedition gut dokumentiert ist, wirft ein Schlaglicht auf die meist stumme Welt der subalternen tschuwaschischen Bauern, die in einer Ausnahmesituation spontan ihre Stimme erhoben, als Kollektiv Forderungen artikulierten und gewaltsamen Widerstand leisteten, bis hin zu grausamen Verstümmelungen der Opfer. Sie protestierten nicht nur gegen die gewaltsame Getreidebeschaffung, sondern im Grunde gegen alle Eingriffe der Sowjetmacht in die geschlossene Welt ihrer Dörfer. Damit stand der Aufstand von 1921 in einer Linie mit dem Pugačev-Aufstand der Jahre 1773–75 und den »Kartoffelaufständen« von 1841/42. Die Hungersnot der Jahre 1921–1926

Trotz des Bauernaufstandes setzte die Zentrale zunächst die Requirierung von Saatgetreide fort, und bis zum 1. März 1921 waren zwei Drittel der geplanten Menge abgeliefert. Nachdem schon im Jahre 1920 die Ernte unbefriedigend ausgefallen war, suchten im folgenden Jahr eine schlimme Dürre, Sommerfröste und Waldbrände Tschuwaschien heim. Etwa die Hälfte des ausgesäten Getreides wurde vernichtet, und die Ernteerträge betrugen nur ein Fünftel derjenigen von 1920 und ein Zehntel derjenigen vor 1914. Infolge der rücksichtslosen Requirierungen hatten die verelendeten Bauern keine Vorräte mehr, und in den Jahren 1921 und 1922 wütete in Tschuwaschien eine schreckliche Hungersnot.217 Ab Mai 1921 gingen bei der Tscheka Meldungen über den Hunger ein.218 Ende Juni heißt es, dass schon 85 Prozent der Bevölkerung einiger Gemeinden hungerten und sich ausschließlich von Gras ernährten. Allein aus dem Bezirk Civil’sk wurden 800 Hungertote gemeldet. Aus einem Bericht:

159

160

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

„Der Hunger löscht in Tschuwaschien täglich Tausende von Menschenleben aus, die Menschen essen Baumrinden, Laub, Aas, begehen Selbstmord. Es kommt zu Kannibalismus. Mütter, die das Leiden ihrer Kinder nicht mitansehen können, heizen ihre Häuser auf, schließen die Kamine und fallen in ewigen Schlaf. Die Hungernden sterben auf den Straßen und überall, wo sie auf der Suche nach Brot herumirren.«219

Das Fehlen von Saatgetreide für die Aussaat des Wintergetreides bringe, so heißt es, die Bauern zur Verzweiflung. Zahlreiche Bauern verließen auf der Suche nach Nahrungsmitteln ihre Dörfer. Die Hälfte des Großviehs und praktisch das gesamte Kleinvieh kam um. Im Winter 1921/22 gingen die Lebensmittel, auch die Surrogate, endgültig zur Neige, und der Hunger raffte nun immer mehr Menschen hinweg. In einigen Dörfern lägen die Leichen von Hungertoten wochenlang herum, weil niemand mehr da sei, um sie zu beerdigen. Im März 1922 meldete das GPU, die Nachfolgeorganisation der Tscheka, weitere Fälle von Kannibalismus. Auch Tierkadaver würden gegessen. Im März 1922 wurde gemeldet, dass in der Tschuwaschischen Autonomen Oblast‘ 750.000 bis 800.000 Menschen, also fast die gesamte Bevölkerung, hungerten. Viele geschwächte Bauern seien an Tuberkulose erkrankt. Schon am 1. Januar wurden 35.000 Hungertote registriert, im April 1922 war ihre Zahl auf 70.000 gestiegen, das wären fast 10 Prozent der Bevölkerung. In diese Zahl sind allerdings diejenigen, die an Krankheiten starben, mit eingerechnet. Vorsichtigere Schätzungen nennen 12.000 Hungertote. Im Mai und Juni 1922 gab das GPU Entwarnung, da nun Saatgetreide geliefert und ausgesät worden sei. Zur Verbesserung der Situation trugen nationale und internationale Hilfsaktionen wesentlich bei. Am effizientesten war die Hilfe der American Relief Administration und der International Federation of Trade Unions, die in Tschuwaschien bis Juni 1922 Kantinen für 74.000 Kinder einrichteten, die notdürftig mit Lebensmitteln versorgt wurden. Die Sowjetmacht nutzte die Hungersnot dazu, um einen Schlag gegen die Orthodoxe Kirche zu führen.220 Die sowjetische Propaganda hatte schon früher atheistische Kampagnen im tschuwaschischen Dorf durchgeführt, allerdings ohne viel Erfolg. Die Behörden bezichtigten Geistliche, die Bauern zum Aufstand vom Januar 1921 angestiftet zu haben. Mehr als sieben Priester wurden damals wegen Zugehörigkeit zu einer »konterrevolutionären Organisation« erschossen. Im Januar 1922 rief man dazu auf, Schätze und Wertgegenstände aus den Kirchen und Klöstern zu verkaufen, um den Hungernden beizustehen. Im April wurden in Tschuwaschien 223 Kirchen und fünf Klöster ausgeräumt und mehr als eine Tonne Silber, Gold und Edelsteine beschlagnahmt. Geraubt wurden in erster Linie die wertvollen Verzierungen der Ikonen, während man die beschädigten Heiligen-

Die Hungersnot der Jahre 1921–1926

Abb. 34 Hungernde tschuwaschische Bauernfamilie (1921)

bilder zurückließ. Im Zuge des Kampfes gegen Kirche und Religion wurden in Tschuwaschien zwischen 1918 und 1930 15 Kirchen und alle Klöster geschlossen. Die Hungersnot von 1921/22 war nicht auf Tschuwaschien beschränkt, sondern betraf weite Teile Sowjetrusslands. Ihr fielen mehrere Millionen Menschen zum Opfer; die Schätzungen gehen bis zu 5 Millionen. Sie hatte ihren Schwerpunkt in den Gebieten, die am schwersten unter der Getreideablieferung gelitten hatten, ganz besonders die Wolgagouvernements Samara, Saratov und Simbirsk, also die Regionen in direkter Nachbarschaft zu den südlichen Gebieten Tschuwaschiens.221 Schon im März 1921 veranlassten die schwere ökonomische und politische Krise und die verbreiteten Bauernaufstände die Bolschewiki zu einem Kurswechsel. Die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NĖP) machte den Bauern, Arbeitern und Nationalitäten Konzessionen, zum anderen verschärfte man die politische Kontrolle, um oppositionelle Strömungen ein für allemal zu unterbinden. Um die Wirtschaft zu konsolidieren und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, ließ man den privaten Handel wieder zu. Allerdings beseitigte die NĖP die alten strukturellen Probleme der Landwirtschaft (kleine Höfe, Bodenzersplitterung, einfache Technologie, niedrige Arbeitsproduktivität) nicht. Die Bedeutung der bäuerlichen Umteilungsgemeinde nahm in den Zwanzigerjahren sogar wieder zu, und die soziale Differenzierung im Dorf blieb trotz marktwirt-

161

162

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

schaftlicher Anreize gering. Probleme im Warenaustausch zwischen Land und Stadt führten zu mehreren »Getreidekrisen«, die Stalin im Jahre 1929 als Anlass für seinen »Sprung nach vorn« dienten, der den sowjetischen Bauern das Genick brechen sollte. Die Einführung der NĖP kam für das Jahr 1922 zu spät, um die Hungersnot einzudämmen. Auch in den Jahren 1923 bis 1925 konnte der Hunger nicht besiegt werden, und erst in den folgenden Jahren erholte sich die sowjetische Wirtschaft. Wenn man offiziellen Statistiken Glauben schenken darf, erreichte die landwirtschaftliche Aussaatfläche und Gesamtproduktion nach der guten Ernte von 1926 etwa den Stand von 1913. In Tschuwaschien erholte sich die Landwirtschaft erheblich langsamer als in den meisten anderen Regionen der Sowjetunion und erreichte den Vorkriegsstand bis zum Ende der Zwanzigerjahre nicht. Der Hunger blieb bis 1926 präsent. Auch Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria und das Trachom waren nun weiter verbreitet als in der Zeit vor 1917. Während die Sterberaten in den meisten Regionen Russlands ab 1923 sanken, blieben sie in Tschuwaschien bis 1925 hoch.222 Schon im Dezember 1922 meldete das GPU erneut verbreiteten Hunger, im März 1923 belief sich die Zahl der Hungernden in der Oblast‘ schon wieder auf 200.000, im Mai auf 379.000.223 In zusammenfassenden Überblicken zum Jahr 1923 gehörte die Tschuwaschische Autonome Oblast mit der Baschkirischen Republik und dem Gebiet Čeljabinsk im Ural zu den Regionen der Sowjetunion mit der höchsten Zahl von Hungertoten. Zusätzlich suchten Feldmäuse und Heuschrecken das Gebiet heim, und eine Malaria- und Pockenepidemie brach aus. Wenn man den allgemeinen Zustandsberichten des GPU glauben würde, verbesserte sich die Versorgungslage im Sommer 1923 allmählich. Dem widersprechen aber unzählige Dokumente, die weiter von einer angespannten Situation berichten. Schon 1925 führte eine schlechte Ernte, die von einer Typhusepidemie begleitet war, erneut zu verbreitetem Hunger, der im Frühjahr 1926 noch zunahm. Die Organe des GPU berichteten periodisch von Unzufriedenheit unter den Bauern. Ein Beispiel dafür ist eine anonyme, auf Tschuwaschisch verfasste »Erklärung« eines Unbekannten vom Dezember 1925, die bei einer Wachstube im Bezirk Čeboksary gefunden wurde. Der Polizeibeamte merkte an, dass der unbekannte Autor seine Handschrift bewusst verfälscht habe. Die spontanen emotionalen Äußerungen sprechen für die Echtheit des Schriftstücks, das zu einer Fundamentalkritik der Sowjetordnung ausholte. „Bürger, ich spüre, dass es unumgänglich ist, mich mit Euch über den Staatsaufbau und die geltenden Gesetze zu unterhalten und dazu eine eigene Versammlung einzuberufen. In letzter Zeit beginnen die Kommunisten sich zu fürchten, sich schlecht

Die Hungersnot der Jahre 1921–1926

zu fühlen … Es stehen die Neuwahlen der Sowjets vor der Tür, und Eure Aufgabe ist es, eindeutig antisowjetisch ausgerichtete Personen in die Sowjets zu wählen. Die sowjetische (teuflische) Macht führt uns in den Untergang, sie hat die Absicht, uns in einer allgemeinen Kommune zu vereinigen, in der wir vor Hunger ersticken werden. Wir dürfen also nicht schweigen und uns unterordnen, sondern müssen uns den Sowjets mit allen Mitteln widersetzen, trotz aller Beschwichtigungen und schönen Phrasen. Mit der Sowjetmacht muss es ein Ende haben, und das Ende kommt schnell, denn, wenn es keine andere Regierung gibt, werden wir in kurzer Zeit am Hunger zugrunde gehen. … Oh weh! Schrecklich ist es, grauenvoll! Wir werden alle zugrunde gehen! Die ganze Welt brodelt, siedet, wir werden alle wie die Fliegen umkommen. Die Feinde des Volkes – die Kommunisten – haben kein Mitleid mit uns.« 224

Auch Frauen beteiligten sich an den Protesten. So beschwerten sich im Januar 1926 15 tschuwaschische Frauen und forderten materielle Hilfe: »Die Sowjetmacht ist für die Armen, sie muss uns, den Armen, helfen!« Manche verglichen die gegenwärtige Situation mit der Lage unter den Zaren und kamen zum Schluss, dass es damals viel besser gewesen sei. Jetzt sei es auch schlimmer als in den Hungerjahren 1921 und 1922, da damals wenigstens Hilfe geleistet worden sei. 225 Als sich die Erträge ab 1926 wieder steigerten, zogen es viele tschuwaschische Bauern vor, das Getreide zur Herstellung von Schnaps (Samogon) zu verwenden, anstatt es zu verkaufen. Zwar versuchten die Behörden dies zu verhindern, hatten aber wenig Erfolg. Der tschuwaschische Samogon wurde auch außerhalb der Republik abgesetzt und brachte höhere Erträge als das Getreide. Eine Folge war die Ausbreitung der Trunkenheit.226 Als Ursachen dafür, dass sich die Landwirtschaft in Tschuwaschien so langsam erholte und der Hunger im Dorf so lange nicht überwunden werden konnte, werden in der Forschung die hohe Bevölkerungsdichte, die Landknappheit und die niedrige Produktivität, die mit dem Festhalten der Tschuwaschen an ihren Traditionen zusammenhing, genannt. Der Hunger hatte dazu geführt, dass ein großer Teil des Viehs geschlachtet worden war, was zu einem Mangel an Zugtieren für den Ackerbau führte. Die in ihren traditionellen Denkmustern verhafteten Tschuwaschen vermochten die Möglichkeiten der Neuen Ökonomischen Politik weniger zu nutzen als die Bauern anderer Regionen, die seit jeher in kommerziellen Wechselbeziehungen mit den Städten standen. Tschuwaschien war in der Mitte der 1920er Jahre eine der wirtschaftlich schwächsten Gebiete der Russländischen Sowjetrepublik.

163

164

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Abb. 35 Zwei tschuwaschische Bäuerinnen

Für die Tschuwaschen – und das waren nach wie vor fast ausschließlich Bauern – brachten die Jahre 1914 bis 1926 eine Kette von Katastrophen. Zahlreiche Männer wurden im Ersten Weltkrieg und im Bürgerkrieg als Soldaten eingezogen, viele kamen um oder kehrten als Invalide in ihre Dörfer zurück. Während der ganzen Zeit fehlten sie als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Trotzdem wurde das tschuwaschische Dorf wie nie zuvor als Lieferant von Nahrungsmitteln ausgebeutet. Das begann im Ersten Weltkrieg, als die Soldaten und Städter ernährt werden mussten, verstärkte sich im sogenannten Kriegskommunismus, als die gewaltsame Beschlagnahmung von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten eine neue Qualität annahm. Die tschuwaschischen Bauern reagierten im Januar 1921 mit einem Aufstand, der gegen die Getreideablieferungen und generell gegen den Kommunismus und seine Eingriffe in das traditionelle Leben gerichtet war. Die blutige Abrechnung mit den Aufständischen erstickte weiteren Widerstand, verstärkte aber die grundsätzliche Opposition der meisten Bauern gegen die Sowjetmacht. Die darauf folgende Hungerkatastrophe forderte in den Jahren 1921 und 1922 Zehntausende von Opfern, und der Hunger blieb bis 1926 ein ständiger Begleiter. Die tschuwaschischen Bauern lebten also während der ersten zehn Jahre der Sowjetmacht unter erheblich schlechteren Bedingungen als vor dem Ersten Weltkrieg, als sie ihr Auskommen gefunden hatten und, wenn sie ihre Abgaben

Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

bezahlten, von den Behörden mehr oder weniger in Ruhe gelassen wurden. Jetzt kamen ständig Vertreter der neuen Ordnung aus der Stadt ins tschuwaschische Dorf, um immer neue Forderungen zu erheben und im Dorf den Kommunismus zu propagieren. Die Folge war, dass die tschuwaschischen Bauern sich noch mehr als zuvor von der Außenwelt abschotteten. Am Ende der 1920er Jahre schickte sich die Sowjetmacht an, die bäuerliche Welt endgültig unter Kontrolle zu bekommen und zu zerstören. Mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft begann eine neue Periode des Leidens und der wirtschaftlichen Not. Sie steht im Zentrum des 7. Kapitels. Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

Am 24. Juni 1920 erließen das All-russische Zentrale Exekutivkomitees (VCIK) und der Rat der Volkskommissare (SNK) das Dekret »Über die Autonome Tschuwaschische Oblast‘« (ČAO). Es trug die Unterschriften des Vorsitzenden des SNK Vladimir Lenin (Ul’janov) und des Vorsitzenden des VCIK Michail Kalinin. Damit wurden die Tschuwaschen nicht nur offiziell als Nation anerkannt, sondern sie wurden auch mit einem autonomen Territorium ausgestattet, das den Kern des Siedlungsgebiets der Tschuwaschen umfasste.227 Schon seit dem Jahr 1918 hatte die sowjetische Regierung unter Federführung des von Josef Stalin geleiteten Volkskommissariats für Nationalitäten (NarKomNac) damit begonnen, die polyethnische Bevölkerung des jungen Sowjetstaats in Nationen bzw. Nationalitäten einzuteilen und ihnen ein Territorium zuzuordnen. Angesichts der ethnischen Gemengelage war eine klare Grenzziehung allerdings unmöglich. Dies eröffnete Raum für Streitigkeiten zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen und für eine Politik des »Teile und Herrsche« der Zentrale. Die nationalen Territorien wurden nach Größe und Entwicklungsstand in eine Hierarchie eingeordnet. Die oberste Kategorie waren die theoretisch souveränen Sowjetrepubliken (SSR), so schon im Dezember 1917 die Ukrainische SSR und im März 1918 die Russländische Föderative SSR (RSFSR). Auf der nächsten Stufe standen die Autonomen Republiken (ASSR), die innerhalb einer Sowjetrepublik über vorwiegend kulturelle und beschränkte wirtschaftliche Rechte verfügten, als erste im März 1919 die Baschkirische ASSR im Rahmen der RSFSR. Eine Stufe niedriger folgten die Autonomen Oblasti (Gebiete, AO) mit beschränkten kulturellen Rechten. Die nationalen Territorien wurden 1922 in einer Föderation, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), zusammengefasst. Es ist bemerkenswert, dass die territoriale Gliederung des von seinen ideologischen

165

166

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Grundlagen her internationalistischen Sowjetstaates ethnisch-nationalen Kriterien folgte und die einzelnen Einheiten nach den Sprachvölkern benannt wurden.228 Im Volkskommissariat für Nationalitäten war eine tschuwaschische Abteilung geschaffen worden, die einen Antrag auf Begründung eines tschuwaschischen nationalen Territoriums stellte, der am 3. Januar 1920 diskutiert wurde. Im Antrag wurde die Geschichte der Tschuwaschen seit den Wolgabulgaren dargelegt und ihre Unterdrückung durch den Zarismus unterstrichen. Nur innerhalb eines nationalen Territoriums könne die Rückständigkeit der Tschuwaschen überwunden werden. Zur Legitimierung dieses Vorhabens wurde der 1. Kongress der tschuwaschischen Sektionen der Russländischen Kommunistischen Partei (b) (RKP) einberufen. Auf Vorschlag von Ėl’men’ sprach sich der Kongress zunächst dafür aus, nach dem Vorbild der Wolgadeutschen eine Tschuwaschische Arbeitskommune im Rahmen der RSFSR zu begründen. In Moskau wurde nun die national-territoriale Gliederung des ganzen Wolgagebiets an die Hand genommen. Am 8. Juni 1920 wurde die Tatarische ASSR ausgerufen und die Einrichtung einer Tschuwaschischen ASSR diskutiert. Man entschied sich jedoch für die niedrigere Stufe der Autonomie, die AO – die Tschuwaschen sahen sich also im Vergleich zu den Tataren benachteiligt. Angesichts der ethnischen Gemengelage war die Grenzziehung wie in den meisten anderen neu geschaffenen nationalen Territorien schwierig. Das Territorium der AO umfasste lediglich die drei vorwiegend von Tschuwaschen bewohnten Bezirke Čeboksary, Jadrin und Civil’sk, während daran angrenzende, ebenfalls von Tschuwaschen besiedelte Gebiete ausgeschlossen blieben. Ein Vorteil dieser Minimallösung bestand darin, dass die Tschuwaschen nicht weniger als 82 Prozent der Bevölkerung der Oblast‘ ausmachten und damit einen höheren Anteil der namengebenden Ethnie als in den meisten anderen nationalen Einheiten aufwiesen. Als Führungsorgan diente ein Tschuwaschisches Revolutionäres Komitee, ab November 1920 Exekutivkomitee des Gebietskomitees, mit Ėl’men‘ an der Spitze und vier weiteren Mitgliedern, unter ihnen zwei ethnische Russen. Dem Beispiel Tschuwaschiens folgend wurden am 4. November 1920 die Autonomen Oblasti der Mari (Tscheremissen) und der Udmurten (Wotjaken) geschaffen. Fünf Jahre später erreichten die tschuwaschischen Politiker ihr Ziel doch noch. Am 21. April 1925 beschloss das Präsidium des VCIK, die Tschuwaschische Autonome Oblast‘ in die Tschuwaschische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik im Rahmen der RSFSR umzuwandeln.229 Die Autonomen Oblasti der Mari und Udmurten, die fast gleichzeitig mit der der Tschuwaschen begründet worden waren, wurden erst 1936 bzw. 1934 zur ASSR aufgewertet. Es kam zu einer Reihe von Grenzkorrekturen. Die Führung der AO strebte eine erhebliche terri-

Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

Abb. 36 Karte 6. Die Tschuwaschische ASSR 1928

toriale Erweiterung auf das dreifache an und schlug ein »Groß-Tschuwaschien« von 37.000 Quadratkilometern mit der Hauptstadt Simbirsk vor. Dieses Projekt wurde abgelehnt, immerhin umfasste das Territorium der ASSR 18.300 Quadratkilometer (gegenüber 11.600 der AO von 1920). Als wichtigstes neues Gebiet kam die Stadt Alatyr’ mit einigen mehrheitlich von Russen und Mordwinen bewohnten Siedlungen hinzu. Der Anteil der ethnischen Tschuwaschen an der Gesamtbevölkerung sank deshalb von 86 auf 74,6 Prozent; ihnen standen 20 Prozent Russen, 2,7 Prozent Mordwinen und 2,5 Prozent Tataren gegenüber. 40 Prozent der ethnischen Tschuwaschen lebten außerhalb der ASSR. Zwar gingen die Diskussionen um Grenzkorrekturen weiter (und einige kleinere wurden vollzogen), doch im Prinzip blieben die 1925 festgelegten Grenzen bis heute bestehen. Mit der Schaffung des nationalen Territoriums vollzog sich eine Gewichtsverschiebung auf die neue Hauptstadt Čeboksary. Da es im Siedlungsgebiet der Tschuwaschen keine bedeutenden Städte gab, hatten seit dem 19. Jahrhundert die

167

168

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Abb. 37 Čeboksary in den 1930er Jahren

großen Städte Kazan’ und Simbirsk als Zentren der Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Nationalbewegung gedient. An ihre Stelle trat nun Čeboksary, das mitten im Siedlungsgebiet der Tschuwaschen lag. Die administrative Trennung von der alten Universitätsstadt Kazan‘ und der traditionellen tschuwaschischen Schule in Simbirsk führte allerdings zu einer Isolierung. Čeboksary hatte im Jahr 1926 lediglich 9.000 Einwohner und übernahm erst allmählich administrative und kulturelle Zentrumsfunktionen. Die Hauptstadt hatte keinen Eisenbahnanschluss; erst am Ende der 1930er Jahre wurde von der 1920 begründeten Stadt Kanaš an der Strecke Moskau-Kazan‘ eine Stichbahn nach Čeboksary gebaut. In der ganzen ASSR war die Infrastruktur schwach entwickelt. Die meisten Straßen waren nicht befestigt und im Frühjahr und Herbst kaum passierbar. Die neue Hauptstadt musste mit Symbolen ausgestattet werden. Der zentrale Platz der Stadt wurde in »Roter Platz« umbenannt und in seiner Mitte ein »Rotes Tor«, eine Art Triumphbogen, errichtet. Es begann eine rege Bautätigkeit, um Wohnraum für die neuen administrativen Eliten zu schaffen. Allerdings wurden zunächst längst nicht alle Pläne verwirklicht, und Čeboksary hatte 1939 erst 31.000 Einwohner. Es ist den Ruf der Provinzstadt nie ganz losgeworden, obwohl es heute 450.000 Einwohner hat. Die Tschuwaschische ASSR erhielt eine den übrigen sowjetischen föderalen Verwaltungseinheiten entsprechende Struktur mit einem Deputierten-Sowjet als Quasi-Parlament, das ein Zentrales Exekutivkomitee wählte. Als Regierung diente

Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

ein Rat der Volkskommissare mit je einem Kommissariat des Inneren, der Justiz, der Volksaufklärung, für Landwirtschaft und Soziales. Die Befugnisse dieser und anderer Institutionen der Republik wurden allerdings durch die parallel bestehende zentralisierte Parteiorganisation wesentlich eingeschränkt. Das 1920 begründete Oblast‘-Gebietskomitee der Partei unterlag der Kontrolle durch das Zentrum, und zwischen 1921 und 1926 wurden seine Vorsitzenden nicht weniger als sechsmal ausgewechselt. Im Jahre 1926 wurde Sergej Petrov (1889–1942) als regionaler Parteichef eingesetzt: Er sollte nicht weniger als 11 Jahre an der Macht bleiben und die Geschichte Tschuwaschiens in dieser dramatischen Periode mit prägen. Petrov stammte aus einem Dorf im Kreis Čeboksary und besuchte dort eine Zemstvo-Schule, die er 1903 abschloss. Dann war er Gelegenheitsarbeiter in Kazan’ und Samara und engagierte sich in revolutionären Gruppen. Im August 1917 trat er in die Sozialdemokratische Partei ein und von 1919 bis 1923 diente er als Politkommissar in der Roten Armee. Von 1923 bis 1926 war er Sekretär eines Partei-Bezirkskomitees im Gouvernement Samara.230 Als ethnischer Tschuwasche mit einer proletarischen Biographie war er der ideale Mann für den Posten des Parteichefs. Für ihn sprach auch, dass er seit seiner Jugendzeit nicht in Tschuwaschien gelebt und sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger Ėl’men’ nicht in tschuwaschischen Organisationen betätigt hatte, die des »bürgerlichen Nationalismus« verdächtigt werden konnten. Petrov erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen und zeigte sich als williger Erfüllungsgehilfe der Partei und Stalins. Was brachte die Gewährung der nationalen Autonomie den Tschuwaschen? Die Organe der AO und dann der ASSR hatten von Anfang an Befehle aus dem Zentrum auszuführen, zunächst vorrangig die Requisition von Getreide. Zwar wurde auf regionalen Sowjetkongressen verhaltene Kritik an der Getreidepolitik geübt, doch ohne Erfolg. Auf der anderen Seite förderte die sowjetische Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre die Nationsbildung, die als gesetzmäßiger Prozess verstanden wurde, den jedes Volk durchmachen musste. Man war allerdings überzeugt, dass die Nationen mit der Abschaffung des Kapitalismus automatisch wieder verschwinden würden. Die erste Strategie zur Nationsbildung war die sogenannte Korenizacija (Einwurzelung, Indigenisierung), die Besetzung von bisher meist Russen vorbehaltenen Führungspositionen mit Einheimischen. Es gelang, den Anteil der ethnischen Tschuwaschen in der Verwaltung zu steigern. Im Jahre 1925 stellten sie bereits 40 Prozent des Personals der zentralen Behörden und 65 Prozent in der Provinz.231 Die zweite Strategie war die Förderung der nationalen Sprachen und Kulturen, die »national in der Form, sozialistisch im Inhalt« zu sein hatten. Dazu mussten in vielen Fällen erst normierte Literatursprachen geschaffen werden, bei kleineren

169

170

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Ethnien sogar die Schriftsprache überhaupt. Die Tschuwaschen konnten auf die von Ivan Jakovlev begründete Schriftsprachlichkeit in einem modifizierten kyrillischen Alphabet und auf tschuwaschischsprachige Publikationen zurückgreifen. Allerdings war die Zahl derjenigen, die tschuwaschisch lesen und schreiben konnten, gering. Schon am 26. Januar 1921, einige Tage nach dem gewaltsamen Aufstand, verfügte das Exekutivkomitee der ČAO, dass das Tschuwaschische als Staatssprache in allen regionalen Schulen und vor Gericht einzuführen sei. Das wichtigste Ziel dieser Maßnahmen war einerseits die rasche Alphabetisierung, die, wie man annahm, in der Muttersprache leichter vor sich ging, andererseits die Verbreitung der sowjetischen Ideologie, um, wie es hieß, »die rückständige tschuwaschische Bevölkerung in den Aufbau der Sowjetunion einzubeziehen und bei ihnen die Ideen der Großen Oktoberrevolution zu stärken«. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die die Durchführung dieser Maßnahmen zu überwachen hatte.232 Dies war allerdings leichter gesagt als getan. Um Gesetze und Verordnungen ins Tschuwaschische zu übersetzen, mussten für zahlreiche Begriffe erst tschuwaschische Entsprechungen gefunden werden, wofür eine »Terminologische Kommission« eingesetzt wurde. Generell musste das Tschuwaschische als Hochsprache normiert und an die Bedürfnisse des modernen Lebens angepasst werden. Wie in anderen nationalen Gemeinschaften entbrannten heftige Diskussionen um die Zulässigkeit von Fremdwörtern. Die Bauern stellten 1927 noch immer 96 Prozent der Bevölkerung der ASSR, und es fehlte an des Tschuwaschischen kundigen Fachleuten. Die meisten Stadtbewohner und Kommunisten waren ethnische Russen. Man richtete deshalb Tschuwaschisch-Kurse ein, die von den Vertretern der Behörden zu besuchen waren. Trotz dieser Erlasse, Absichtserklärungen und ersten Maßnahmen kam die sprachliche Tschuwaschisierung nur langsam voran. Zunächst regelte man Äußerlichkeiten wie die Einführung zweisprachiger (tschuwaschisch-russischer) Ortstafeln und Straßenschilder oder die Anpassung der Schreibmaschinen an die Besonderheiten der tschuwaschischen Schrift, die gegenüber dem Russischen einige Sonderzeichen aufwies. Es galt zahlreiche Widerstände zu überwinden. Als vor dem Sowjetkongress der ČAO im Jahre 1924 der Rechenschaftsbericht auf Russisch vorgetragen wurde, verlangte der Vorsitzende, dies habe auf Tschuwaschisch zu geschehen. In einer Abstimmung sprach sich aber die Mehrheit der Delegierten für die russische Sprache aus. Ende 1925 führte erst ein Viertel der Gemeinde-Verwaltungen ihren Schriftverkehr in tschuwaschischer Sprache. Im Gegensatz dazu setzte sich das Tschuwaschische als Unterrichtssprache in den Grundschulen der tschuwaschischen Dörfer im Laufe der 1920er Jahre weitgehend durch. Gefördert wurde

Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

Abb. 38 Schule für tschuwaschische Bäuerinnen (1924). Plakat: »Eine wichtige Aufgabe für uns ist jetzt lernen und lernen! (Lenin)«

auch die Publikation tschuwaschischer Bücher und Periodika. Dazu gehörte die Zeitung Kanaš, deren Redaktion von Kazan’ nach Čeboksary verlegt wurde, sowie eine literarische und eine satirische Zeitschrift. Im Oktober 1925 wurden die ersten Radiosendungen in tschuwaschischer Sprache ausgestrahlt. Als im Jahre 1928 beschlossen wurde, bei den Turkvölkern und anderen Nationalitäten der UdSSR die lateinische Schrift einzuführen, wurden auch die Sprachen der nichtmuslimischen Wolgavölker in die Diskussion einbezogen. Diese zog sich allerdings hin, und als im Januar 1936 eine grundsätzlich positive Entscheidung gefallen war, war die Periode der Latinisierung der Alphabete bereits vorbei und ein Jahr später wurde der Beschluss rückgängig gemacht. Im Unterschied zum Tatarischen, Aserbaidschanischen und den Sprachen der anderen muslimischen Turkvölker wurde beim Tschuwaschischen der Übergang zur lateinischen Schrift also nicht vollzogen. Dies wirft auch ein Licht auf das vielleicht wichtigste Motiv der Latinisierung: Die Abschaffung der arabischen Schrift sollte die Muslime von ihren religiösen Wurzeln abschneiden. Die Förderung der tschuwaschischen Sprache ging einher mit dem Kampf gegen den Analphabetismus. Das Schulwesen in Tschuwaschien war in den Jahren des Bürgerkriegs und Hungers zusammengebrochen, und im Schuljahr 1922/23 gab es nur noch 608 Schulen und 48.300 Schüler. Erst im Schuljahr 1927/28 wurde der Stand von 1920 (893 bzw. 74.500) wieder erreicht. Wie in der ganzen Sowjet-

171

172

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

union wurde im Jahr 1924 eine Kampagne zur Liquidierung des Analphabetismus verkündet. Wenn man den offiziellen Statistiken glauben darf, verminderte sich zwischen 1920 und 1929 der Prozentsatz der Analphabeten (unter den über 8-Jährigen) in der ASSR von 71,7 auf 58,7 Prozent. Allerdings wurde nicht klar definiert, wer als alphabetisiert zu gelten hatte, jemand, der seinen Namen schreiben konnte oder nur jemand, der auch einige Jahre die Schule besucht hatte. Der Anteil analphabetischer Frauen blieb besonders groß. Die Schaffung von Mittelschulen zur Ausbildung von Kadern wurde ebenfalls gefördert, doch blieben auch hier die Erfolge beschränkt. Das ehemalige Tschuwaschische Lehrerseminar in Simbirsk wurde in ein Pädagogisches und ein Landwirtschafts-Technikum geteilt, die der Regierung in Čeboksary unterstellt wurden. Mit der Einrichtung einiger mittlerer und höherer Schulen und mit der Entsendung begabter Studierender an andere Hochschulen außerhalb der Republik wuchs die tschuwaschische Intelligenz dennoch langsam an. Tschuwaschisierung bedeutete auch die Förderung der tschuwaschischen Kultur und Geschichte. Hier spielte vorerst die 1925 begründete »Tschuwaschische national-linguistische Abteilung« am Orientalischen Pädagogischen Institut in Kazan’ eine besondere Rolle. Hier wurden Lehrer der tschuwaschischen Sprache und Literatur ausgebildet, und hier wirkten hervorragende Gelehrte wie der Sprachwissenschaftler Nikolaj Ašmarin, der 1929 zum Korrespondierenden Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde, der Historiker Nikolaj Nikol‘skij, der Literaturwissenschaftler Gurij Komissarov und der Linguist Vasilij Egorov. Nach der Begründung des Tschuwaschischen Pädagogischen Instituts in Čeboksary im Jahr 1930 wurde die Hochschule in Kazan‘ geschlossen. Wie in der ganzen Sowjetunion wurde in den 1920er Jahren die Landeskunde (kraevedenie) gefördert. Schon 1921 begründete man eine Gesellschaft zur Erforschung der Region, die zunächst 51, im Jahre 1926 schon 150 Mitglieder hatte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre führte man mehrere archäologische, ethnographische und linguistische Expeditionen durch. Als nationale Narrative in den neu gebildeten Sowjetrepubliken einen gewissen Auslauf erhielten, erschienen einige kürzere populäre Arbeiten zu Geschichte, Sprache und Literatur der Tschuwaschen. Unter ihren Autoren waren Vertreter der Nationalbewegung wie der Dichter und Literaturwissenschaftler Komissarov und der Schriftsteller Dmitrij Petrov sowie der später prominente russisch-amerikanische Turkologe Nikolaj Poppe.233 Einige Intellektuelle verkündeten die Losung vom »Goldenen Zeitalter des tschuwaschisch-bulgarischen Nationalstaats« und erhoben die Forderung, die Tschuwaschische ASSR in Bulgarische Republik umzubenennen. Gleichzeitig wurde, der damaligen offiziellen Linie folgend, die Herrschaft Russlands vorwiegend negativ beurteilt.

Die Schaffung des nationalen Territoriums und die Tschuwaschisierung

Für die Nationsbildung besonders wichtig war das Aufblühen der tschuwaschischen Literatur. Sie widerspiegelte die Widersprüche der Epoche, den Rückgriff auf nationale Traditionen, die Schaffung einer nationalen Kultur und das Bemühen um die »reine« tschuwaschische Sprache auf der einen, die Sowjetisierung, Internationalisierung und Offenheit der Sprache für fremde Einflüsse auf der anderen Seite. Das wichtigste Thema der jungen tschuwaschischen Literatur war die Befreiung des tschuwaschischen Volkes in Revolution und Bürgerkrieg: Der positive Held kämpft gegen Abb. 39 Der Dichter Mišši Şeşpĕl die Vertreter der Reaktion und opfert sich für sein Volk und für seine Ideen auf. Ein wichtiger Vertreter dieser literarischen Richtung war Mišši Şeşpĕl (russ. Michail Sespel’) (1899–1922), der in sowjetischen Institutionen Tatarstans, Tschuwaschiens und der Ukraine tätig war und sich im Alter von 23 Jahren selbst tötete. In seinen Gedichten verbanden sich Einflüsse der tschuwaschischen Folklore, der russischen Literatur und der Weltliteratur. Im Gedicht »Das tschuwaschische Wort« aus dem Jahr 1920 beklagte er das jahrhundertelange Leiden der Tschuwaschen und die Verfolgung ihrer Sprache. Doch sie bewahrten ihre Sprache und jetzt sei die Zeit für ihr Aufblühen gekommen. Im Gedicht »Tschuwasche! Tschuwasche!« rief er die ruhigen, schüchternen, bescheidenen Landsleute dazu auf, Mut zu fassen und ihre Schwingen auszubreiten (1921). Kurz darauf verlor er selbst den Mut und schrieb angesichts der Hungersnot in einem »Hungerpsalm«: »Ich habe meine Zunge verloren.«234 Der um acht Jahre jüngere Petr Chuzangaj (1907–1970) studierte in Kazan’ am Tschuwaschischen Pädagogischen Technikum und am Orientalischen Pädagogischen Institut und arbeitete als Journalist. Seine frühen Arbeiten kreisten um die Erweckung des tschuwaschischen Volkes. Später übersetzte er Dichtungen Puškins und Majakovskijs in Tschuwaschische. Derselben Generation gehörte Vasilej Mitta (1908– 1957) an. Auch er wurde zum Lehrer ausgebildet und unterrichtete einige Jahre, bevor er Journalist wurde. Von 1935 bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1937 studierte er am Moskauer Gor‘kij-Institut für Literatur. In seiner frühen Lyrik verbanden sich Romantik und die kulturelle Erweckung des tschuwaschischen Volkes, in den 1930er Jahren stellte er seine Dichtungen in den Dienst des Aufbaus des Sozialismus. Er verbrachte 17 Jahre in Straflagern und verfasste dort eine Reihe von

173

174

6. Kapitel: Revolution und Nationsbildung (1905–1929)

Gedichten, in denen er das Los der Verbannten beklagte. Erheblich älter war der schon mehrfach erwähnte Dmitrij Petrov (Pseudonym Mĕtri Juman). Er griff in seinem Schaffen auf die tschuwaschische Folklore und vor allem auf Gestalten und Symbole der vorchristlichen Religion zurück und stellte den tragischen Zusammenstoß von Tradition und Moderne dar. Er lebte seit 1924 außerhalb Tschuwaschiens und starb 1939 im russischen Fernen Osten. Ein in Kazan’ begründetes tschuwaschisches Theater setzte seine Tätigkeit nach 1921 als Tschuwaschisches staatliches Theater in Čeboksary fort. Es hatte allerdings unter finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen und entwickelte sich nur zögernd. In die 1920er Jahre fielen die Anfänge der professionellen Musik, die sich ganz auf die Sammlung und Umsetzung der Volksmusik konzentrierte. Wie bei anderen jungen Nationen waren Chöre wichtige Träger nationaler Kultur. Im Jahr 1926 wurde der erste tschuwaschische Film aufgeführt, der einen Aufstand tschuwaschischer Bauern im Jahr 1906 zum Thema hatte. Die Schriftsteller wurden 1923 im »Bund der tschuwaschischen Schriftsteller und Journalisten« organisiert, der sich um die Zeitung Kanaš, das offizielle Organ des Gebietskomitees der Kommunistischen Partei, gruppierte und dessen Vorsitzenden Ėl’men‘ zu seinem Präsidenten wählte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nahm der Druck der Partei auf die Literatur allmählich zu. Im Jahre 1926 wurde der Bund in »Assoziation der proletarischen tschuwaschischen Schriftsteller« umbenannt, und Kampagnen gegen tschuwaschische »Klassiker« wie Ivan Jakovlev und Konstantin Ivanov und allgemein gegen »nationalistische« Tendenzen setzten ein. Nicht nur die Tschuwaschen in der Autonomen Republik, sondern auch die immerhin 40 Prozent aller ethnischen Tschuwaschen umfassende Diaspora erhielt gewisse nationale Rechte und kleine nationale Verwaltungseinheiten. So wurden in der Baschkirischen ASSR zwei tschuwaschische Bezirke und 36 Dorfsowjets und in der Tatarischen ASSR 91 Dorfsowjets begründet. Umgekehrt erhielten innerhalb der Tschuwaschischen ASSR die 2,7 bzw. 1,4 Prozent der Bevölkerung umfassenden Minderheiten der Tataren und Mordwinen das Recht auf Gebrauch ihrer Sprachen in Schule und Behörden. Die Nationsbildung und die den nationalen Gebietseinheiten gewährten Freiräume fanden dort ihre Grenze, wo sie Grundlagen der sowjetischen Ordnung und Ideologie tangierten. Die Herrschaft der Kommunistischen Partei und die Kernpunkte der Ideologie waren unantastbar.

7. Kapitel:

Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft „Genosse Stalin, seien Sie so gut! Wir, die Bauern des Dorfes Atlaševo, Rajon Marinskij Posad, Tschuwaschische Republik, schreiben über unsere Nöte, die man auf unsere Rücken lädt. Wir Mittelbauern leben unter schlimmen Bedingungen. Man hat von uns Getreide, Fleisch und Flachs eingezogen. Einige von uns sind verelendet. Auch wer in die Kolchose eintritt, wird weiter diesen Abgaben unterworfen. Eine solche Haltung der Sowjetmacht zu den Mittelbauern ist unserer Meinung nach falsch. Im Falle eines Kriegs werden die Mittelbauern nicht auf der Seite der Sowjets sein; obwohl auch die Bourgeoisie und die Gutsbesitzer die Bauern und Arbeiter unterdrücken, wird die Bauernschaft auf die Seite der Imperialisten übergehen und die Armee und den Sowjetstaat nicht unterstützen.«235

Am 7. Januar 1930, also in den ersten Wochen der Massenkollektivierung, richteten tschuwaschische Bauern diesen Brief an Stalin, in dem sie sich über Missbräuche bei der Kollektivierung der Landwirtschaft beklagten. Die Quelle zeigt, dass der Glaube an den »guten Zaren«, hier an Stalin, der nicht weiß, was seine Untergebenen Böses tun, unter den tschuwaschischen Bauern noch immer verbreitet war. Der selbstbewusste Ton und die radikalen Schlussfolgerungen des Briefes erstaunen. Die Bauern von Atlaševo kritisierten nicht nur das rücksichtslose Vorgehen der Kommunisten, sondern stellten den Sowjetstaat als Ganzes in Frage. Der Beschwerdebrief ist auch deshalb bemerkenswert, weil er nicht wie viele andere ähnliche Schriften anonym war, sondern von identifizierbaren Personen unterzeichnet wurde. Wir wissen nicht, welche Konsequenzen er hatte, doch ist anzunehmen, dass die Verfasser dafür zur Verantwortung gezogen wurden.

176

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Die Landwirtschaft in der Tschuwaschischen Republik hatte sich von den verheerenden Folgen des Bürgerkriegs langsamer als in anderen Regionen erholt. Die Zugeständnisse der NĖP an die Bauern, denen privater Handel erlaubt wurde, erreichten hier ihre Ziele nur bedingt, und der endemische Hunger blieb präsent. Wie anderswo war die Umteilungsgemeinde erhalten geblieben, und das tschuwaschische Dorf wurde von den sowjetischen gesellschaftlichen Umwälzungen nicht entscheidend verändert. Die soziale Differenzierung des Dorfes, das ganz überwiegend aus einer armen, aber nicht elenden Grundschicht bestand, war weiter gering. Die Bauern blieben dem Zugriff der Kommunistischen Partei weitgehend entzogen. Neben Problemen in der Getreideversorgung der Städte und der Finanzierung der 1928 lancierten forcierten Industrialisierung war die mangelnde Kontrolle über die Bauern der Hauptgrund für die Kollektivierung der Landwirtschaft, die im November 1929 beschlossen wurde.236 Die privaten Wirtschaften sollten abgeschafft, das Land, die Geräte und das Vieh vergesellschaftet werden. Die Kolchosbauern bearbeiteten das Land nun gemeinschaftlich. Sie wurden in Brigaden organisiert und nach ihrer Leistung (meist in Naturalien) bezahlt. Sie wurden vom Boden getrennt und verloren die Verantwortung für ihre Arbeit. Den Bauern verblieben ihre Höfe mit einem Garten und Kleinvieh, die für die Selbstversorgung wichtig blieben. Die Planvorgaben waren sehr ehrgeizig. Man dekretierte, die Kollektivierung innerhalb von zwei Jahren abzuschließen. Die regionalen Behörden begannen sofort mit der Umsetzung, und im März 1930 soll schon über die Hälfte der Haushalte der sowjetischen Bauern kollektiviert worden sein. Da die Partei und der Staat auf dem Land noch immer wenig präsent waren, benötigte man Unterstützung von außen. Deshalb wurden Funktionäre, Komsomolzen (Angehörige der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol) und Arbeiter aus der Stadt (die sogenannten 25.000) und zusätzlich Soldaten und Milizionäre aufs Land geschickt. Sie hatten in der Regel keine Ahnung von Landwirtschaft und fanden keine gemeinsame Sprache mit den Bauern. Da die Bauern nicht freiwillig zum Eintritt in Kolchosen zu bewegen waren, schritt man erneut zu Zwangsmaßnahmen. Am 27. Dezember 1929 lancierte Stalin zusätzlich eine Kampagne zur »Liquidierung des Kulakentums als Klasse«, den schonungslosen Kampf gegen diejenigen Bauern, die zu reichen Ausbeutern erklärt wurden. Die Absicht war, mit Hilfe der »Dorfarmut« den Klassenkampf im Dorf zu entfesseln. Binnen kurzem wurden nicht nur die wohlhabenden Bauern (von denen es nur wenige gab), sondern alle, die sich der Kollektivierung widersetzten (oder zu widersetzen schienen), als Kulaken bezeichnet und verfolgt. Der Klassenkampf fand in der Regel nicht statt, weil sich das Dorf meist solidarisch gegen die Außenwelt stellte. So waren es die

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

aufs Land geschickten Kader, die mit Hilfe des GPU, der politischen Polizei, und der Armee »die Kulakenklasse liquidierten.« Nachdem die regionalen Parteiorganisationen festgelegt hatten, wer als Kulak zu gelten habe, wurden die »Kulaken« registriert und mussten ihre Höfe verlassen. Ihr Vermögen wurde eingezogen, Widerstand mit Gewalt gebrochen. Die »Kulaken« wurden in drei Kategorien eingeteilt: Die zu schlimmsten Ausbeutern erklärten und Widerstand leistenden Bauern wurden erschossen oder eingesperrt. Die große zweite Kategorie wurde nach Nordrussland und Sibirien deportiert. Millionen wurden mit ihren Familien in Viehwaggons verschickt, und Unzählige kamen dabei ums Leben. Der dritten Kategorie wurde außerhalb der Kolchosen auf einem Stück schlechten Landes die Ansiedlung als »Einzelbauern« erlaubt. Der Massenterror gegen die sogenannten Kulaken, dem Hunderttausende von Menschen zum Opfer fielen und unter dem Millionen schwer zu leiden hatten, war das erste schreckliche Kapitel der Stalinschen Gewaltherrschaft. Zahlreiche Bauern leisteten Widerstand gegen die Zwangskollektivierung, die teilweise als »neue Leibeigenschaft« bezeichnet wurde.237 Bauern und besonders auch Bauersfrauen verweigerten die Arbeit auf den Kolchosen, schlachteten ihr Vieh ab, um es nicht an die Kolchosen abtreten zu müssen, verbrannten Getreide und Häuser, verkauften oder zerstörten ihr Inventar, verjagten und töteten Funktionäre. Der Protest der Bauern gipfelte in lokalen Aufständen, die mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Angesichts der völligen Zerrüttung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ordnete Stalin zwar am 2. März 1930 einen vorübergehenden Rückzug an, was zu einer starken Reduzierung der Kolchosen führte. Binnen kurzem nahm man aber (in etwas gemäßigterer Form) den alten Kurs wieder auf, und bis Sommer 1931 waren die Hälfte, 1934 drei Viertel und 1938 95 Prozent der Höfe in der Sowjetunion kollektiviert. Die Zwangskollektivierung und der bäuerliche Widerstand resultierten 1931 und 1932 in Missernten und einem drastischen Rückgang der Getreideproduktion. Da dadurch die Versorgung der Städte, der Getreideexport und damit auch das Industrialisierungsprogramm gefährdet wurden, verschärfte man die Zwangsmaßnahmen der Getreidebeschaffung weiter. Die Bauern wurden gezwungen, ihre gesamten Getreidevorräte abzuliefern. Ein neuer Krieg der Stadt gegen das Land begann, diesmal gegen die Kolchosen und ihre Bauern. Strafexpeditionen militärischer Abteilungen, Verhaftungen, Erschießungen und Parteisäuberungen auf lokalem Niveau waren an der Tagesordnung. Dies führte in den Jahren 1932/33 zu einer schrecklichen Hungersnot, die zwischen 5 und 8 Millionen Opfer forderte. Sie konzentrierte sich auf die Schwarzerde-Gebiete, in denen die Ablieferungsquoten aufgrund früherer guter Ernten hoch angesetzt worden waren, besonders auf die

177

178

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Abb. 40 Bauern der Kolchose Stalin bringen Getreide nach Čeboksary

Ukraine, Kasachstan, den Nordkaukasus und die Region der unteren Wolga. Die Zwangskollektivierung führte zu einem starken Rückgang der Agrarproduktion und zu strukturellen Problemen, die bis zum Ende der Sowjetunion bestehen blieben. Stalin erreichte aber sein Ziel, die Bauern als eigenständige gesellschaftliche Kraft auszuschalten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft in Tschuwaschien folgte der allgemeinen Entwicklung.238 Schon in den Jahren 1928 und 1929 wurde die Errichtung von Kolchosen in der Tschuwaschischen ASSR gefördert, doch wurden diese Anstöße zunächst nicht auf breiter Basis umgesetzt. Dies änderte sich erst, nachdem Stalin den Übergang zur Massenkollektivierung erklärt hatte. Am 16. Dezember 1929 forderte der Vertreter der Tschuwaschischen ASSR in Moskau den Sekretär des regionalen Parteikomitees Sergej Petrov dazu auf, das Tempo der Kollektivierung zu erhöhen, damit die Republik Tschuwaschien nicht mehr wie bisher »am Schwanz stehe«.239 Die verantwortlichen Gremien der Republik setzten sich nun fantastisch kurzfristige Ziele und immer mehr Bauern wurden gezwungen, sich in die Kolchosen einzutragen. Man errichtete einige gigantische Kolchosen, die größte umfasste 6.408 Höfe mit 31.143 Personen. Anfang 1930 wurden aus den benachbarten russischen Regionen etwa zweihundert kommunistische Arbeiter und Komsomolzen

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

nach Tschuwaschien geschickt, um die regionalen Behörden zu unterstützen.240 Obwohl sie wenig Ahnung von der Landwirtschaft und dem Leben der Bauern hatten und nicht tschuwaschisch sprachen, wurden sie an vorderster Front, oft als Vorsitzende der Kolchosen, eingesetzt. Die meisten von ihnen verließen bis Ende 1932 die Republik wieder. Mindestens äußerlich war die Kampagne erfolgreich: Offiziellen Angaben zufolge stieg der Prozentsatz der kollektivierten Höfe in der Republik von 13 Prozent am 10. Januar 1930 auf 68 Prozent am 1. März – ein Wert, der erheblich über dem Durchschnitt des ganzen Landes (57 %) lag. In den meisten Fällen wurden die Bauern mit Drohungen oder direkter Gewalt zum Eintritt in die Kolchosen gezwungen. Es liegt auf der Hand, dass in dieser kurzen Frist von weniger als zwei Monaten die Kollektivierung weitgehend auf dem Papier blieb. Überhaupt muss man mit den statistischen Angaben dieser Zeit sehr vorsichtig umgehen. Die Erklärung Stalins vom 2. März 1930, in der er das überstürzte Vorgehen der Behörden bei der Kollektivierung kritisierte, führte auch in der ČASSR zum Austritt der meisten Bauern aus den Kolchosen; am 1. Juli waren nur noch 11 Prozent der Höfe kollektiviert. Das Tempo der Austrittsbewegung war wie schon das der Kollektivierung höher als im Landesdurchschnitt. Über 300 für die Kollektivierung verantwortliche Personen wurden vor Gericht gestellt und viele von ihnen entlassen. Im Winter 1930/31 setzte die Massenkollektivierung erneut ein, diesmal unterstützt durch positive Anreize und Propagandakampagnen, und bis Ende 1931 waren 43 Prozent, Ende 1935 70 Prozent der Höfe kollektiviert. Auch in der »Liquidierung der Kulaken als Klasse« setzte die regionale Parteiorganisation die Anordnungen der Zentrale eilfertig um. Die Zuordnung der Bauern zu den »Kulaken« war noch willkürlicher als in anderen Teilen der Sowjetunion, denn das tschuwaschische Dorf war ökonomisch besonders wenig differenziert. Nach offiziellen Statistiken wurden 2,8 Prozent der Höfe zu den »wohlhabenden« gerechnet, wobei als »wohlhabend« diejenigen Bauern bezeichnet wurden, die mehr als ein Pferd oder mehr als eine Kuh besaßen. In einzelnen Regionen bemühte man sich, die Planvorgaben noch zu übertreffen. Im Bezirk Groß-Batyrevo wurden in wenigen Tagen 806 Höfe »entkulakisiert«. Das waren 9 Prozent aller Höfe, in einzelnen Dörfern sogar über ein Viertel. Nach Berechnungen Evgenij Kasimovs wurden in der Republik in den 1930er Jahren etwa 6.000 Bauernhöfe (3,4 % aller Höfe) »dekulakisiert«. Diese Prozentzahl lag etwas über den geschätzten Werten für die ganze Sowjetunion. Zahlreiche »Kulaken« wurden ausgesiedelt. Auch diesmal wurden den einzelnen Bezirken Planziffern (je 75 Höfe) vorgegeben, die nicht selten »übererfüllt« wurden. Eine Sitzung der Parteiorganisation der Republik bestätigte, dass

179

180

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Abb.41 Eine Tschuwaschin, die als »Kulakin« eingestuft wurde und deshalb als »Einzelbäuerin« außerhalb der Kolchose stand, beim Pflügen

die Vorgabe, 1.000 »Kulaken«-Familien auszusiedeln, bis August 1931 mit 1.455 erheblich übererfüllt wurde.241 Die »Kulaken« wurden nachts aufgeweckt und aus ihrem Haus getrieben; ihr Vieh, ihre Häuser und ihre übrige Habe wurden konfisziert. Die Deportation der tschuwaschischen »Kulaken« und ihr weiteres Schicksal ebenso wie der Umgang mit der ersten, »gefährlichsten« Kategorie sind kaum erforscht. Entgegen der offiziellen Linie des »Klassenkampfs« protestierten die Bauern eines Dorfes immer wieder gegen die Enteignung und Aussiedlung von Kulaken und forderten deren Freilassung und die Rückgabe ihres Grundbesitzes. So verhinderte eine 300-köpfige Menge eines Dorfes im Kreis Alatyr’, die sich vor allem aus Frauen zusammensetzte, die Deportation einer »Kulaken«-Familie mindestens vorläufig. In der Folge wurden allerdings 23 Personen verhaftet.242 Flankiert wurden die Zwangskollektivierung und der Kampf gegen die »Kulaken« durch einen neuen Angriff auf die Kirche.243 Die Orthodoxe Kirche und ihre Priester waren schon seit dem Jahr 1918 verfolgt und diskriminiert worden, und die Ländereien der Kirchen und Klöster wurden konfisziert. In den Dreißigerjahren wurde der Kampf mit der Orthodoxen Kirche, den Geistlichen und der Religion verschärft. Die systematische Verfolgung der Geistlichen begann in der ČASSR Anfang 1930. Die Popen wurden gemeinsam mit den »Kulaken« pauschal als

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

Feinde der Sowjetmacht bezeichnet, und zahlreiche Geistliche wurden verhaftet, viele zum Arbeitsdienst verpflichtet. In den Jahren 1929 bis 1934 wurden gegen 250 Kirchen geschlossen, die meisten Gemeinden verloren ihren Priester. Die Bevölkerung reagierte darauf mit heftigen Protesten, worauf die Zentrale in der antireligiösen Kampagne wie bei der Kollektivierung einen vorübergehenden Rückzug antrat. Die meisten geschlossenen Kirchen wurden darauf wieder geöffnet. Der Widerstand bestätigte aber die sowjetische Führung in der Meinung, dass die Pfarrgemeinden, die zusammen mit der Umteilungsgemeinde den letzten Raum darstellten, der dem Zugriff der Partei weitgehend entzogen war, ausgeschaltet werden mussten. Im Jahre 1932 fabrizierte das GPU der Republik zwei antisowjetische konterrevolutionäre Organisationen der Kirchen und Klöster, denen der Prozess gemacht wurde: 47 Personen wurden verhaftet, unter ihnen 14 Geistliche. Viele tschuwaschische Bauern widersetzten sich der Kollektivierung. Sie nahmen den fundamentalen Eingriff in ihre traditionelle Wirtschafts- und Lebensweise nicht hin und traten ein letztes Mal aus dem Schatten heraus, bevor sie der Terror mundtot machte und sie als soziale Gruppe eliminierte.244 Während in den Berichten des GPU der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die politische Lage in den einzelnen Bezirken der Republik als relativ ruhig eingeschätzt worden war, änderte sich dies im Herbst 1929 schlagartig. Die regelmäßigen Übersichten der Jahre 1930 und 1931, die ich eingesehen habe, sind voll von Meldungen über bäuerlichen Widerstand in vielen Formen und unterschiedlicher Intensität. Möglicherweise übertrieb die politische Polizei gelegentlich das Ausmaß des Protestes, um ihre Tätigkeit zu legitimieren. In einer sorgfältigen Untersuchung über andere Regionen der Sowjetunion kommt Sarah Davies aber zum Schluss, dass die Berichte im Ganzen gesehen glaubwürdig seien.245 Aus der Perspektive der Geheimdienstleute ging im Dorf ein intensiver »Klassenkampf« vonstatten. Die Aufmerksamkeit richtete sich deshalb auf die Vertreter der »ausbeuterischen Klasse«, »Kulaken«, Popen und andere schädliche Elementen wie Spekulanten oder ehemalige Weißgardisten, die alle als Anstifter der Unruhen benannt wurden.246 Diese Beschuldigungen können nicht verschleiern, dass der Widerstand eine breitere Basis hatte. Um das Dogma vom Klassenkampf zu retten, wurden die »Mittelbauern« und Armen, die sich dem Protest anschlossen, einfach als Helfer der »Kulaken« (podkulačniki) bezeichnet. Wie anderswo in der Sowjetunion spielten die Bauersfrauen eine hervorragende Rolle in den Protesten gegen die Zwangskollektivierung und gegen die Verfolgung der Kirche. Die Behörden führten das auf die besondere Rückständigkeit, Unwissenheit und mangelnde Bildung der Frauen zurück, und man ging weniger streng gegen sie vor als gegen die Männer.247 Obwohl die alte Bauerngemeinde mit der Kollektivierung aufgelöst worden war,

181

182

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Abb. 42 Die sowjetische Briefmarke aus der Serie »Völker der UdSSR«, die den Erfolg der Kollektivierung bei den Tschuwaschen abbildet, kontrastiert mit dem wirtschaftlichen Desaster und dem weit verbreiteten Widerstand unter der Bauernschaft

beriefen die Bauern weiter Gemeindeversammlungen ein, das Gremium, das traditionell die wichtigsten gemeinsamen Aufgaben wie die Neuverteilung des Landes und Streitigkeiten lösen musste. Jetzt diente sie dazu, den Widerstand zu planen und zu koordinieren. Manche Dorfversammlungen setzten den Kolchosvorsitzenden ab und wählten an seiner Stelle einen neuen »Ältesten«. Zahlreiche Bauern und Bäuerinnen widersetzten sich der Durchführung der Kollektivierung und den Anordnungen der Funktionäre direkt. Sie boykottierten die neue Kolchosordnung und versuchten, an ihren Traditionen der Landaufteilung und Feldbearbeitung festzuhalten. Sie prangerten die Zwangsabgaben an und bezeichneten die Kollektivierung als »neue Leibeigenschaft«. Statt ihr privates Vieh an die Kolchose abzutreten, griffen (wie in anderen Regionen der Sowjetunion) viele zum äußersten Mittel, das Vieh abzuschlachten. Von 1930 bis 1933 gingen nach offiziellen Angaben die Zahlen der Pferde von 168.000 auf 132.000, des Hornviehs von 259.000 auf 221.000, der Schafe und Ziegen von 982.000 auf 582.000 und der Schweine von 164.000 auf 113.000 zurück. Allein im Jahr 1931 wurden in der ČASSR mehr als 2.000 Personen wegen des Abschlachtens von Vieh zur Verantwortung gezogen. Dennoch konnte diese Form des Widerstands nicht gestoppt werden, und der Viehbestand in der Republik ging weiter zurück.248 Die Mehrheit der Bauern lehnte die Kollektivierung ab, auch wenn sie sich ihr nicht aktiv widersetzte. Von Ende 1929 bis zum 1. Juni 1931 wurden in der ČASSR Hunderte »terroristischer« Aktionen registriert, darunter 379 Anschläge auf die Aktivisten der Kollektivierung, 96 Fälle von Brandstiftung und 36 von Vergiftung des Kolchos-Viehs. Den Höhepunkt erreichte der gewaltsame Protest im Frühjahr 1930. So wurden im Verlauf von zwei Wochen 25 Fälle von Brandstiftung gemeldet: 83 Häuser, zwei Kanzleien von Dorfsowjets und ein Postamt sowie 1.525 Pud Saatgetreide verbrannten.249 Im Dorf anwesende Funktionäre wurden bedroht und

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

verprügelt, ihre Häuser angezündet, ebenso wie diejenigen von Parteimitgliedern und Komsomolzen, Gebäude der Kolchose, Kanzleien, Lesehallen und Schulen. Manche Lehrer und Lehrerinnen, die als Vertreter der Sowjetmacht angesehen wurden, wurden verjagt. Nicht selten tranken sich die rebellischen tschuwaschischen Bauern Mut an, bevor sie zur Tat schritten und mit den Rufen »Schlagt den Lehrer«! »Schlagt den Vorsitzenden!« zum Angriff bliesen. In der Mehrzahl der Fälle gelang den Angegriffenen die Flucht. Andererseits wird auch von Dorflehrern berichtet, die den Protest gegen die Kollektivierung unterstützten. Im Gegensatz zu anderen Regionen der Sowjetunion kam es in Tschuwaschien zu keinen größeren Aufständen, die den Einsatz von Militär erfordert hätten. Auch Akte grausamer Volksjustiz wie im Aufstand von 1921 blieben aus. Nur einige wenige Funktionäre wurden ermordet. Hierzu zwei Beispiele. Sie stammen wie die folgenden Zeugnisse alle aus dem Herbst und Winter 1931. Im Oktober 1931 wurde in einem Dorf des Rayons Civil’sk der lokale Kolchosvorsitzende erstochen. Verdächtigt wurden ein Rekrut und der Sohn eines »Kulaken«. Im November wurde ein Kolchosbauer und Mitglied des Komsomol erschossen, verdächtigt und verhaftet wurde ein Holzarbeiter, der ehemaliger Pächter einer Mühle war.250 Die Bauern erhoben die Forderung, die »Entkulakisierung«, die Enteignung und Aussiedlung einzelner »Kulaken«-Familien rückgängig zu machen. Den Gewalttaten des Kommunismus sollte ein Ende gesetzt werden. Oft wurde ein Krieg vorausgesagt, der das Land vom »Joch der Bolschewiki« befreien werde. Zahlreiche Bauern, unter ihnen besonders viele Frauen, protestierten gegen die Schließung der Kirchen und die Verhaftung der Priester. Zu hören waren Parolen wie – – – – – – – – –

Die Macht liegt beim Volk, das Land gehört uns! Wir wollen wie früher leben! Bei uns gibt es keine Kulaken und Arme! Wir sind alle gleich! Haben wir auf eine solche Freiheit gewartet, mit dem Stock zur Arbeit getrieben zu werden? Das Kollektiv ist wie die Leibeigenschaft! Die Sowjetregierung versklavt die Bauern wie früher die Gutsherren! Ergreift und töten alle Milizionäre! Nieder mit der Sowjetmacht! Auf zum Kampf gegen die Sowjets und die blutsäuferischen Kommunisten!

Auch fantastische Gerüchte machten die Runde und führten zu Panik:

183

184

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

– In der Kolchose wird es gemeinsame Betten geben! – Alle Mädchen, die vier Pud wiegen, werden nach China verschickt! – Die Haare der Frauen werden abrasiert und zur Weiterverwertung nach Amerika gebracht! Der aktive und passive Widerstand zeigten, dass die Bauern zu diesem Zeitpunkt vom bolschewistischen Terror noch nicht völlig eingeschüchtert waren. Die Behörden verhafteten zahlreiche Bauern und leiteten Untersuchungen ein, über deren Ausgang mir keine Informationen vorliegen. Gleichzeitig übten die Berichte der GPU Kritik an den lokalen Funktionären, die schlecht vorbereitet, überfordert und nicht wachsam seien. Viele Kolchosvorsitzende seien faul und trunksüchtig, sie zweigten Geld für sich ab, betrieben Schwarzhandel und verkauften einen Teil der Produktion ihrer Kolchose auf dem Schwarzmarkt. Die Berichte stimmten darin überein, dass die Lage in den Kolchosen alles andere als zufriedenstellend sei. Die Ernte werde nicht rechtzeitig eingebracht und verfaule deshalb, das Vieh werde vernachlässigt, die Organisation der Arbeit klappe überhaupt nicht. Wie andere Sowjetbürger richteten die Tschuwaschen Beschwerden an die Behörden der ČASSR, der Sowjetunion, an die Zeitung Pravda, an den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare Vjačeslav Molotov oder direkt an Stalin. Die meisten der hier präsentierten Eingaben stammen aus dem Jahr 1930.251 Die Bauern hatten den Glauben an »den guten Zaren« noch nicht verloren, erklärten oft ihre Loyalität zur Sowjetmacht, schilderten aber gravierende Missstände im Verlauf der Kollektivierung, die offene Gewalt im Zuge der Getreidebeschaffung und die Willkür der Behörden in der Auswahl der »Kulaken«. Zahlreiche Bittsteller beschwerten sich, dass sie fälschlicherweise als Kulak eingestuft worden seien, dass sie ausgesiedelt und ihr Hof beschlagnahmt und sie des Wahlrechts beraubt worden seien. Sie legten ihre unverdächtige Biographie (etwa ihren Dienst in der Roten Armee) dar, bekräftigten, dass sie nie zu den Großbauern, Unternehmern oder Händlern gehört hätten, und zählten ihren Besitz, besonders das Vieh, auf, der nicht den Kriterien eines Kulaken entspreche. Manche legten den ihrer Ansicht nach gesetzwidrigen Ablauf der »Entkulakisierung« dar und nannten Dorfgenossen, die sie verleumdet haben könnten. In einigen Fällen liegen die Entscheidungen der Behörden bei, die mehrheitlich die »Entkulakisierung« bestätigten, in einigen Fällen den Gesuchstellern Recht gaben. Wie abenteuerlich das Leben eines tschuwaschischen Bauernsohnes verlaufen konnte, zeigt eine siebenseitige Autobiographie, die ein gewisser Petr Emeljanov im Jahr 1938 an Stalin schickte, um kurz vor seinem Tod mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen. Er wurde 1891 in einem Bauerndorf geboren, und es gelang ihm trotz großer Schwierigkeiten eine mittlere Schulbildung zu erlangen. Er wurde in

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

die Armee eingezogen und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Ukraine von Anton Denikins antisowjetischer Freiwilligenarmee angeworben. Nach deren Auflösung wurde er nach Ägypten evakuiert. In die Ukraine zurückgekehrt, trat er 1921 in die Dienste der Tscheka. Zwei Jahre später kehrte er nach Tschuwaschien zurück und betrieb dort Landwirtschaft. Im Jahre 1927 emigrierte er nach Sibirien, wo er Stellen in der Verwaltung innehatte. Schwer krank kehrte er nach Tschuwaschien zurück und schrieb seinen Brief an Stalin. Seine Autobiographie wirft ein Schlaglicht auf die bewegte Epoche. Erstaunlich ist, dass Emeljanov trotz seiner konterrevolutionären Vergangenheit nicht ins Netz der Geheimpolizei geriet.252 Während die Briefe unterzeichnet wurden, ihre Autoren also identifizierbar waren und mögliche Repressalien zu befürchten hatten, äußerte sich die Stimmung unter den Bauern unmittelbarer in anonymen Schriften, die sich im Archiv des GPU finden. Die folgenden Beispiele stammen aus dem Winter 1930/31, als die Bauern schon ein Jahr lang Erfahrungen mit der Kollektivierung gemacht hatten. Es hatte sich gezeigt, dass offene Kritik, wie die eingangs zitierte Petition vom Januar 1930, zu gefährlich war. Die Anonymität erlaubte dagegen schärfere Kritik an der Kollektivierung und der Sowjetmacht. Die einzelnen Texte unterscheiden sich stark voneinander, was der Vorstellung des einheitlichen tschuwaschischen Dorfes widerspricht. Allerdings dürften sich eher verzweifelte Außenseiter der Gefahr, die das Verfassen einer antisowjetischen Schrift mit sich brachte, ausgesetzt haben. Die meisten dieser handschriftlichen Texte sind in tschuwaschischer Sprache verfasst und wurden übersetzt, bevor sie an die übergeordnete Instanz, das GPU von Nižnij Novgorod, weitergeleitet wurden. Dies lässt den Schluss zu, dass die Tschuwaschisierung auf dem Dorf nicht ohne Erfolg geblieben war, wenn man bedenkt, dass vor der Mitte der 1920er Jahre praktisch niemand tschuwaschisch schreiben konnte. Am 31. Dezember 1930 fand ein Schüler im Dorf Jangorčino auf einem Pfahl eine anonyme Schrift in tschuwaschischer Sprache. Darin hieß es: „Der sozialistische Wettbewerb ist für Dummköpfe. Das Volk ist erschöpft, man hat ihm das ganze Getreide weggenommen, und Holz gibt man ihm keines. Man schickt es in den Wald zum Bäumefällen, doch man bezahlt es schlecht. Man macht sich lustig über das Volk. Zuhause lässt man es auch nicht frei leben, sondern man bedrängt es und jagt es gewaltsam in die Kolchose. Die Kolchose ist eine ungute Sache, denn man jagt das Volk dorthin. Das Volk ist umzingelt von Miliz und bösen Lehrern, von Agenten und unnützen und strengen Funktionären, die kein anderes Mittel finden, als uns gewaltsam in die Kolchose zu jagen. Das Volk soll sich vorsehen gegenüber den Betrügern.«253

185

186

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Der folgende, von einem fiktiven Absender verfasste anonyme Text ist ein mit drastischen Schimpfwörtern gewürzter Aufschrei der Verzweiflung. „Ach, du Fotze, du Sowjetmacht. Hast du dich durch die Vernichtung der Reichen etwa bereichert? Ach, du teuflischer Sowjet, hast du dich etwa bereichert durch das Sammeln der Haare auf der weiblichen Fotze? Viele hast du zum Weinen gebracht. Zar Nikolaj hat früher niemanden beleidigt und niemanden so zum Weinen gebracht wie du, er hat weder Schafe noch sonst etwas weggenommen. Ach, du Fotze Sowjet, dadurch dass du von jedem Hof die Hühner einziehst, wirst du dennoch nicht reich. Du nimmst uns auch Hopfen, Zwiebel und anderes weg. Schamloser, ach du Schamloser! Ach, du Dummkopf, gieriger! Die letzten Groschen nimmst du den alten Frauen weg und hast doch kein Geld. Ach, du gieriger! Die Leute haben kein Geld und du heißt sie alles bezahlen – alles Scheiße. Du kommst ins Haus und nimmst alles bis zum letzten Nagel mit … Zu unanständig benimmst du dich. Es ist höchste Zeit, damit aufzuhören. Ach, du Teufelsmacht, kannst du nicht erkennen, dass es bei den Armen und den Reichen gleichermaßen Menschen gibt? Die Armen liegen ständig auf dem Ofen, die Reichen aber arbeiten, bis ihnen das Brot ausgeht. Es ist Zeit, auch die Armen vom Ofen herunterzuholen.«254

Der Tenor der anonymen Schrift, der der offiziellen Propaganda vom »Kulaken«, der sich mit allen Mitteln der Sowjetmacht entgegenstellt, recht gab, könnte den Verdacht wecken, dass es sich um eine Provokation des GPU handelte, um die Vorstellung vom geldgierigen schamlosen Kulaken zu untermauern. Ich halte den Text für authentisch, verfasst von einem Bauern, der als »Kulak« verfolgt wurde und hier seinem Abscheu gegen das Vorgehen der Sowjetmacht Luft machte, in einer spontanen, derben Art, die nicht die Handschrift der Geheimpolizei trug. Auf einem Plakat mit der Aufschrift »Nieder mit der Kolchose und der Sowjetmacht!«, das im März 1931 gefunden und an das GPU geschickt wurde, wurden an einer Ecke Verse in tschuwaschischer Sprache angebracht, die folgendermaßen beginnen: »Wir wünschen ein neues Leben, wir brauchen diese Regierung nicht, die uns ins Elend geführt hat. Früher gab es alles, wir aßen Honig und Weißbrot, Jetzt aber ist die Zeit gekommen, in der wir nur noch [Schwarz-]Brot und Wasser haben«.255

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

Auf einem Plakat, das im Mai 1931 gefunden wurde, hieß es: »Nieder mit der Sowjetmacht, nieder mit der Kolchose, nieder mit dem Sozialismus! Euch muss man alle erschießen!« Ganz ungewöhnlich ist, dass dieser Autor die Person Stalin ins Blickfeld nahm, denn er unterschrieb seinen Aufruf mit »Stalin, 1.1.1917«.256 Man drohte, die Verantwortlichen der Kolchosen zu verbrennen, zu erschießen, ihnen die Haut vom lebendigen Leib zu reißen. Besonders geschmäht wurde ein Mitglied des Komsomol, dessen Hals wie ein Gänsehals abgeschnitten werden müsse.257 In einer anonymen Schrift treten religiös-chiliastische Elemente zutage: „Wir brauchen die Kolchose nicht. Der Sozialismus ist die Religion des Antichrist, das beweist der Fünfjahrplan… Satan ist erschienen… Die satanische Regierung nimmt uns Wolle und Eier weg… Jetzt soll der Krieg kommen. Ich will den Krieg«.258

Trotz des hohen Tempos zu Beginn wurde die weitere Kollektivierung der Landwirtschaft in der Tschuwaschischen Republik nicht so schnell vollzogen wie in anderen Regionen der Sowjetunion. Ende 1935 waren 70 Prozent und 1937 82 Prozent der Höfe kollektiviert. In der ganzen RSFSR waren es im Jahre 1937 schon 93 Prozent. Nicht wenige tschuwaschische Bauern hielten also an der privaten Wirtschaft fest, obwohl sie höheren Steuern unterworfen wurden als die Kolchosbauern und auch anderweitig diskriminiert wurden. Im November 1936 sandten tschuwaschische Einzelbauern einen Brief an den 8. außerordentlichen Sowjetkongress, der über die neue Sowjetverfassung beriet (bzw. sie absegnete). Sie beklagten sich über die drückende Steuerlast und ihre Benachteiligung gegenüber den Kolchosbauern. Sie wiesen auf die Missstände und Misserfolge der Kollektivierung hin und unterstrichen die – mindestens unter gewissen Bedingungen – bestehenden Vorzüge des Einzelbauerntums. Dabei beriefen sie sich direkt auf die in der sowjetischen Verfassung garantierten Bürgerrechte: »Wir sind genauso wie die Kolchosbauern Bürger der Sowjetunion und keine Feinde der Sowjets und keine Ausländer«. Das ihnen zugefügte Unrecht ließe sie jedoch daran zweifeln, ob »die Sowjetmacht die Macht der Werktätigen, Arbeiter und Bauern sei und sie wirklich sagen könnten: ‚Es lebe die neue Verfassung!‘«259 Die Widerstandsaktionen und die zahlreichen Protestbriefe machen erneut deutlich, dass sich zahlreiche tschuwaschische Bauern, wie andere Bauern der Sowjetunion, der Kollektivierung vehement widersetzten. Sie hatten dafür auch allen Grund. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, der »Liquidierung der Kulaken als Klasse« und der Verfolgung der Geistlichen verloren die Bauern, die noch

187

188

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Abb. 43 Die ersten Traktoren erreichen das tschuwaschische Dorf

immer die weit überwiegende Mehrheit aller Tschuwaschen stellten, ihre relative Autonomie. Das traditionelle tschuwaschische Dorf gehörte der Vergangenheit an, das Rückgrat der Bauern war gebrochen. Mit dem Protest, den sie in ihren Aktionen und Schriften ausdrückten, erhoben die Subalternen zum letzten Mal ihre Stimme. In der Folgezeit traten die tschuwaschischen Bauern ganz in den Schatten zurück. Die meisten Kolchosen funktionierten mindestens in den ersten Jahren schlecht, und die Landwirtschaft der Republik war zerrüttet. Da es keine wirtschaftlichen Anreize mehr gab, ging die Arbeitsmoral zurück. Man wandte dagegen wie üblich das Instrument der Repression an. So wurde gesetzlich festgelegt, dass ungenügende Arbeitsleistung als Sabotage zu gelten habe. Allein im ersten Halbjahr 1935 kamen deswegen über tausend tschuwaschische Bauern vor Gericht. Unabhängig von der ökonomischen Situation auf dem Land erzwang der Staat erneut die Ablieferung großer Mengen von Getreide und anderen Lebensmitteln. Die Einrichtung der Kolchosen erleichterte das Eintreiben von Lebensmitteln erheblich – für den Staat war die Kollektivierung also trotz aller Missstände ein Teilerfolg. Zu Hungersnöten im Ausmaß derjenigen von 1922/23 oder der von 1932/33 in der Ukraine und an der unteren Wolga kam es in der Tschuwaschischen ASSR in den 1930er Jahren nicht. Dennoch spitzte sich die Versorgungssituation

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

Abb. 44 Junge Pioniere feiern den 1. Mai

in den Jahren 1934, 1936, 1938 und 1939 auch hier zu, und zahlreiche tschuwaschische Bauern hungerten erneut. Erst gegen Ende der 1930er Jahre erholte sich die Landwirtschaft allmählich. Die Mechanisierung wurde gefördert, bis 1935 wurden in der ČASSR zehn, bis 1940 25 Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) eingerichtet. Der Grad der Mechanisierung blieb aber erheblich hinter dem Landesdurchschnitt zurück. Bei den MTS wurden Politabteilungen eingerichtet, die die Kontrolle über die Kolchosen verstärkten. Die Vorsitzenden der Kolchosen wurden nun sehr oft ausgewechselt: Im Jahr 1935 wurden 40 Prozent von ihnen abgelöst, und vier Jahre später waren 55 Prozent weniger als ein Jahr auf ihren Posten. Die Saatfläche wurde zwar sukzessive erhöht, doch hielt die Qualität des geernteten Getreides damit nicht Schritt. Die Verluste im Viehbestand infolge der Massenabschlachtungen und unsachgemäßer Haltung in den Kolchosen konnten bis 1940 nicht ausgeglichen werden. Die überwiegende Menge an Fleisch, Milch, Eiern, Wolle und etwa die Hälfte der Kartoffeln produzierten nicht die Kolchosen, sondern die Hofwirtschaften der Bauern. Trotzdem ging der Lebensstandard der Bauern in den Dreißigerjahren erheblich zurück. Den tschuwaschischen Bauern blieb indessen nichts anderes übrig, als sich mit den neuen Verhältnissen abzufinden. Eine Minderheit begrüßte die Kollek-

189

190

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

tivierung und glaubte an die Notwendigkeit der sozialistischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und die damit einhergehende Beseitigung von Ausbeutung und Ungleichheit. Allerdings haben wir allen Grund, den optimistischen Rechenschaftsberichten der Kolchosvorsitzenden zu misstrauen, denen zufolge sich arme und mittlere Bauern gegen die ausbeuterischen Kulaken zusammenschlossen, gemeinsam mit der Partei begeistert die Kollektivierung durchführten, Rekordernten erzielten und damit dem Sowjetland den Weg in eine lichte Zukunft bereiteten. Andererseits glaubten nicht wenige vor allem jüngere Tschuwaschinnen und Tschuwaschen an die kommunistische Ideologie und an Stalin. Dazu einige Beispiele aus dem Archiv. »Unser geliebter Vater, unser teurer Freund, Lehrer und Führer Iosif Vissarionovič! Große Freude und großes Glück haben mich erfasst, als ich am Radio Ihre teuren Worte hörte, die Worte eines großen Menschen, der uns so teuer ist. Ihre Rede über das Projekt der Sowjetverfassung hörten wir im Radio sehr aufmerksam. Teurer Iosif Vissarionovič! Wie gut, einfach und verständlich haben Sie gesprochen! Den 25. November 1936 werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Schon einen ganzen Monat begrüßen die Völker unseres unermesslichen, glücklichen Landes des Sozialismus mit großer Freude die neue Stalinverfassung, in die alle Siege unseres Sowjetlandes eingeschrieben sind. Die Bürger der UdSSR haben das Recht auf Arbeit, auf Urlaub, auf materielle Versorgung im Alter, auf unentgeltliche medizinische Unterstützung usw.«260

So beginnt der Brief, den der 18-jährige V. Krasnov aus dem Dorf Ivanovo im Rajon Civil’sk am 29. Dezember 1936 an Stalin sandte. Der Brief zeigt, dass der junge Tschuwasche, der die Schule besucht hatte, die Lektionen der herrschenden Ideologie und des Stalinkults gelernt hatte. Allerdings verfolgte er damit eine klare Absicht, denn er fuhr fort: »Im Zusammenhang mit dem Recht auf unentgeltliche medizinische Hilfe, will ich, teurer und geliebter Iosif Vissarionovič, Ihnen freundschaftlich meine Lage schildern«. Krasnov wollte eine Musikschule besuchen, litt aber unter einem schweren Rückenleiden. Eine medizinische Behandlung war indessen ohne Bezahlung nicht möglich. So blieb ihm sein Traum verwehrt. Krasnov pochte auf sein in der Verfassung garantiertes Recht und glaubte daran, dass Stalin ihm helfen werde, zu seinem Recht zu kommen. So schloss er seinen Brief erneut mit ideologischen Floskeln: »Es ist ein großes Glück, in der Stalin-Epoche zu leben. Es lebe unser weiser Führer, das große Genie der Menschheit, unser teurer geliebter Genosse Stalin. Ich wünsche

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft

Abb. 45 Ehemaliges Stalindenkmal in Čeboksary Ihnen, unser teurer Freund Iosif Vissarionovič, viele-viele gute Wünsche und ein langes-langes Leben zum Wohle aller Völker der UdSSR und der Werktätigen der ganzen Welt!«.

Im Jahre 1935 sandte der Schüler Michail Azisov einen Brief an Stalin und bat ihn um Schuhe und warme Kleidung, damit er weiter die Schule besuchen könne. Nachdem die Schule den Tatbestand bestätigt hatte, wurden dem Jungen Schuhe und Kleider zur Verfügung gestellt.261 Solche Briefe an Stalin, die ideologische Tiraden mit konkreten praktischen Wünschen verbanden, sind in großer Zahl erhalten. Sie zeugen davon, dass mindestens unter den gebildeten jungen Tschuwaschen die herrschende Ideologie Fuß gefasst hatte und manche daran glaubten, dass ihnen der große Führer helfen würde. Die in diesen Briefen geäußerten Bitten werfen gleichzeitig Schlaglichter auf die tristen Realitäten der Verhältnisse im tschuwaschischen Dorf, die der offiziellen Propaganda widersprachen. Ein Brief vom 1. Januar 1937 an »den geliebten Führer der Werktätigen der ganzen Welt Genossen Stalin«: »Ich will mich mit Ihnen unterhalten«, schrieb ein 16-jähriger Tschuwasche. Er schilderte die schreckliche Armut in seiner Familie und bat Stalin um einen Wintermantel und Galoschen. Er zweifelte implizit an den Erfolgen der Kollektivierung, wenn er anmerkte, dass nach Meinung einiger Bauern das Leben früher nicht so schlecht gewesen sei.262

191

192

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Ausgerechnet im Jahr 1937, als die »großen Säuberungen« stattfanden, richteten tschuwaschische Dichter »einen Brief des tschuwaschischen Volkes an den großen Stalin«, eine 50-seitige Ode, die als eigenständige Broschüre in 2.000 Exemplaren gedruckt wurde. »Unser engster Freund Stalin, Sonne unseres Aufstiegs! Nimm entgegen diese Botschaft Vom tschuwaschischen Volk!«,

so beginnt der Lobpreis des Führers, und er endet: »Für Stalin sind wir bereit – Alles hinzugeben bis hin zum Leben! Zusammen mit Lenin hast Du Dem ganzen Volk die Freiheit gebracht. Tavdabus‘ – Genosse Stalin Vom tschuwaschischen Volk!« [Tavdabus‘ heißt auf Tschuwaschisch danke!]263

Industrialisierung und Alphabetisierung

Die mit der Kollektivierung verknüpfte forcierte Industrialisierung betraf die klassische Agrarregion Tschuwaschien nur am Rand. Immerhin wurden auch hier im Laufe der ersten drei Fünfjahrpläne neue Industriebetriebe errichtet, vor allem holzverarbeitende Fabriken wie das Tanninwerk in Šumerlja. Neue Städte wurden begründet, so der Industrieort Šumerlja und der Eisenbahnknotenpunkt Kanaš, wo eine große Reparaturwerkstätte eingerichtet wurde. Die Zahl der in Industrie- und Gewerbebetrieben Beschäftigten, unter ihnen auch immer mehr Tschuwaschen, stieg zwischen 1926 und 1939 stark an. Die meisten tschuwaschischen Arbeiter, unter ihnen eine beträchtliche Anzahl Frauen, rekrutierten sich aus Zuwanderern aus dem von Krisen geschüttelten Dorf. Zahlreiche Tschuwaschen fanden Arbeit außerhalb der Republik, vor allem im Ural und in Sibirien. Die Gesamtbevölkerung der ČASSR nahm zwischen 1926 und 1939 von 895.000 auf 1.087.000 zu. Die Stadtbevölkerung der Republik verdreifachte sich zwischen 1926 und 1939, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung verdoppelte sich und betrug nun 12,2 Prozent. Hatten im Jahre 1926 lediglich 4.972 Tschuwaschen in Städten gewohnt, waren es 1939 36.359, also siebenmal mehr. Dennoch blieb ihr

Industrialisierung und Alphabetisierung

Urbanisierungsgrad mit 4,7 Prozent sehr niedrig. Die Städte der Republik blieben russisch geprägt, und die neu hingezogenen Tschuwaschen unterlagen einer allmählichen Russifizierung. Außerhalb der ČASSR lebten 1926 knapp 450.000 Tschuwaschen (40,2 % der Gesamtzahl), bis 1939 stieg ihre Zahl auf 592.000 (43,2 %) an, was auf eine erhöhte Migration infolge der Kollektivierung und Industrialisierung zurückzuführen war.264 In den 1930er Jahren verließen zum ersten Mal Tausende Tschuwaschen ihre Dörfer und traten ins Licht der Städte, oder eher in das Halbdunkel einiger kleiner sowjetischer Provinzstädte, die von einer deutlichen Mehrheit ethnisch russischer Bevölkerung bewohnt waren. Die weit überwiegende Mehrheit der Tschuwaschen blieb, was sie immer gewesen war: Ackerbauern, allerdings jetzt nicht mehr als eigenständige Landwirte, sondern als Landarbeiter in den staatlichen Kolchosen. Gleichzeitig mit der Kollektivierung und Industrialisierung wurde der Kampf mit dem noch immer verbreiteten Analphabetismus forciert.265 Im Jahre 1930 wurden die dreijährige Schulpflicht auf dem Dorf und die siebenjährige in der Stadt eingeführt und umgesetzt. Seit dem Schuljahr 1934/35 hatten auch die Dorfkinder die siebenjährige Schule zu besuchen. Nicht nur die Kinder, sondern auch die erwachsenen Analphabeten wurden in die Schule geschickt. Im Schuljahr 1929/30 betraf dies in der Republik 60.994 Analphabeten. Im Jahr 1926 waren 54,2 Prozent der Bevölkerung Analphabeten gewesen. Wenn man den offiziellen Ziffern trauen darf, gab es im Jahre 1940 unter der 9- bis 49-jährigen Bevölkerung in der ČASSR nur noch 9 Prozent Analphabeten (3,3 % bei den Männern, 14 % bei den Frauen). In den 1930er Jahren vollzog sich also auch für die tschuwaschischen Frauen der Durchbruch. Ob alle, die diese Schnellkurse absolvierten, wirklich lesen und schreiben lernten, ist allerdings zweifelhaft. Dennoch war die Alphabetisierung für die einzelnen Tschuwaschinnen und Tschuwaschen von sehr großer Bedeutung. Da neben der tschuwaschischen auch die russische Sprache unterrichtet wurde, verbesserten sich ihre Aufstiegschancen. Gleichzeitig diente die Alphabetisierung dem Ziel, alle Sowjetbürgerinnen und -bürger ideologisch zu indoktrinieren. Von Aufklärung im Sinne eines umfassenden Bildungsideals konnte keine Rede sein. Um die Alphabetisierung erfolgreich durchführen zu können, bedurfte es neuer Lehrkräfte. Ihre Zahl vervierfachte sich in der ČASSR zwischen den Schuljahren 1927/28 und 1940/41 fast. Unter ihnen stellten ethnische Tschuwaschen im Jahr 1937 72,6 Prozent, was genau ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprach. Ihrer Ausbildung dienten fünf pädagogische Technika, ein Lehrerinstitut sowie für die höhere Bildung das 1930 begründete Tschuwaschische Staatliche Pädagogische Institut mit vier Fakultäten und bis 1941 601 Absolventen. Direkt der Industrialisierung und der Mechanisierung der Landwirtschaft dienten das 1931 begründete

193

194

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Tschuwaschische Landwirtschaftsinstitut und mehrere technische Fachschulen. Im Jahre 1930 wurde das Tschuwaschische wissenschaftliche Forschungsinstitut begründet, das in der Folge zum wichtigsten Träger der geisteswissenschaftlichen Forschung in der Republik wurde. Der rasche Aufbau des Bildungssystems und der Mangel an Lehrkräften wirkten sich auf die Qualität der Absolventinnen und Absolventen aus, die mit dem eindrücklichen quantitativen Wachstum nicht Schritt hielt. Für Fachbereiche wie Medizin, Jura und Ingenieurwesen, für die es in der Tschuwaschischen ASSR keine Ausbildungsstätten gab, wurden Studierende in andere Gebiete der Sowjetunion geschickt. Unter den Studierenden in den höheren Schulen der Republik stellten Frauen im Jahr 1940 53,1 Prozent – ein deutliches Signal dafür, dass mindestens in der schmalen Schicht der Gebildeten das Erbe des patriarchalischen Dorfes aufgebrochen worden war. Die ethnischen Tschuwaschen rückten sukzessive in qualifizierte Berufe vor, blieben aber unter den Ärzten und den Ingenieuren klar untervertreten. Das Sowjetsystem eröffnete den Bauernkindern neue Aufstiegschancen, und die neuen tschuwaschischen Eliten, die sich in den 1930er Jahren formierten, waren deshalb dem sowjetischen Staat gegenüber in der Regel dankbar und loyal. Mit der Einführung und Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht drang das Licht der Aufklärung in den Schatten des tschuwaschischen Dorfes. So jedenfalls sahen das die sowjetische Politik und Propaganda, die zum Feldzug gegen die Rückständigkeit aufriefen. Die tschuwaschischen Bauern wurden nicht gefragt, ob sie diesen Weg zum Fortschritt gehen wollten. Manche von ihnen, vor allem die älteren, verloren die Orientierung, den Rückhalt in ihren hergebrachten Traditionen und missbilligten die Bildung als Teil des mit der Zwangskollektivierung verbundenen Angriffs der Stadt auf das Dorf. Dies betraf auch andere Elemente der Zivilisation wie Bibliotheken, Kulturhäuser und Klubs.266 Das Radio drang zusehends ins Dorf vor. Die Sendungen wurden zunächst über Lautsprecher im Freien oder in Kulturhäusern übertragen. Auch einige der in den Städten erscheinenden Zeitschriften und Zeitungen in russischer und tschuwaschischer Sprache fanden den Weg ins Dorf. Bis 1940 gab es 72 Wanderkinos, die auch in die größeren Dörfer kamen. Es versteht sich von selbst, dass alle diese Einrichtungen Instrumente der sowjetischen Propaganda waren. Der Indoktrinierung der Kinder und Jugendlichen dienten die Organisationen der Pioniere und des Komsomol, die sukzessive in das tschuwaschische Dorf vordrangen. Zu den neuen zivilisatorischen Errungenschaften gehörte die Verbesserung der medizinischen Versorgung, zunächst vor allem der Feldscher-Hebammen-Stützpunkte. Im Jahre 1940 gab es in der ČASSR schon 318 Ärzte (gegenüber 82 im

Der Kampf gegen den »bürgerlichen Nationalismus«

Jahre 1926). Wie immer ist bei sowjetischen Statistiken Vorsicht am Platz, ganz abgesehen davon, dass sie nur quantitative und keine qualitativen Werte angaben. So hatten die Einrichtung von Gebärstationen und die Ausbildung zahlreicher Hebammen praktisch keine Reduzierung der sehr hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit zur Folge: Im Jahre 1929 machten Kinder unter 6 Jahren 62,4 Prozent aller Todesfälle in der Republik aus, im Jahre 1939 noch immer 60,6 Prozent. Dennoch wurde in den Dreißigerjahren die Basis für eine verbesserte medizinische Versorgung gelegt, an die man nach dem Krieg anknüpfen konnte. Der Kampf gegen den »bürgerlichen Nationalismus«

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die forcierte Industrialisierung und die Alphabetisierung waren begleitet von einer allmählichen ideologischen Neuorientierung. Nachdem in den 1920er Jahren der Internationalismus propagiert und der Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus als Hauptaufgabe der Nationalitätenpolitik bezeichnet worden war, wurde nun der »bürgerliche Nationalismus« der Nichtrussen der UdSSR zum Hauptfeind erklärt. Diese Tendenzen zeigten sich in Tschuwaschien schon am Ende der 1920er Jahre.267 Die Delegierten, die im Jahre 1928 zum All-tschuwaschischen Kongress nach Simbirsk reisten, um das 60-jährige Jubiläum der tschuwaschischen Schule von Simbirsk und den 80. Geburtstag Ivan Jakovlevs zu feiern, wurden zwei Jahre später wegen ihres »nationalistischen kulakischen Standpunkts« scharf kritisiert. Diese Gleichsetzung des »kulakischen Klassenfeinds« mit dem tschuwaschischen »Nationalisten« wurde auch in der Folge beibehalten, obwohl die schmale tschuwaschische Intelligenz wenig mit den »Kulaken«, den angeblich reichen Ausbeutern im Dorf, zu tun hatte. In einem Bericht des GPU vom 30. Dezember 1931 war von »chauvinistischen Äußerungen und anderen schlimmen Erscheinungen« an einem Technikum in Marinskij Posad die Rede. Ein Lehrer warf dem Direktor des Technikums vor, die tschuwaschische Sprache gegenüber der russischen zu benachteiligen. In einer Wandzeitung wurden »die schweinischen Gefühle« russischer Studentinnen angeprangert: »Die wohlgeborenen Jungfrauen rein russischen Blutes« könnten nach drei Jahren Unterricht kein tschuwaschisches Wort und hielten sich abseits von den tschuwaschischen Studierenden. Auch von den russischen Lehrern würden die Tschuwaschen missachtet. Der Mitarbeiter des GPU äußerte sich besorgt über »diese chauvinistischen Reden«, die zu ungesunden Strömungen unter den Studierenden des Technikums führten. Das GPU warf der Partei und dem Komsomol mangelnde Wachsamkeit vor. Immerhin war das Pendel noch nicht endgültig

195

196

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

zugunsten des russischen Nationalismus umgeschlagen, wurden doch gleichzeitig drei russische Studentinnen kritisiert, die die tschuwaschischen Studierenden als »verlauste Trachomiten« verspottet hätten.268 Dennoch begann sich in den frühen Dreißigerjahren das Blatt zu wenden. Im Jahre 1932 wurde Vertretern der tschuwaschischen Intelligenz vorgeworfen, veraltete tschuwaschische Wörter zu verwenden, die das Volk nicht verstünde. Der bedeutende (ethnisch russische) Erforscher der tschuwaschischen Sprache Ašmarin wurde als »missionarisch-nationalistisch« verleumdet. Es war der Parteichef der Republik Sergej Petrov selbst, der im Schaffen Ašmarins »nicht nur viel Pornographie, sondern auch die direkte Konterrevolution« am Werk sah.269 Wie in der ganzen Sowjetunion wurden auch in Tschuwaschien die schöne Literatur und Kultur zusehends gleichgeschaltet und der Sozialistische Realismus verordnet. »Tschuwaschischen Nationalismus« ortete man in der Literatur, der Musik und im Theater. Tschuwaschische Schriftsteller wurden nach dem ehemaligen Sozialrevolutionär Dmitrij Petrov ( Juman) als »nationalistische Jumanščina« bezeichnet, das Werk Petr Chuzangajs wurde als »kulakisch-nationalistisch« abqualifiziert. Zur besseren Kontrolle wurde 1934 in der Republik ein Schriftstellerverband begründet. Der Wende der Nationalitätenpolitik entsprach, dass die sprachliche Tschuwaschisierung zusehends verwässert wurde. In der 1937 nach dem Vorbild der Sowjetverfassung von 1936 erlassenen Verfassung der ČASSR fehlte der Paragraph über den Status der tschuwaschischen Sprache als Staatssprache. Seit 1936 musste an allen Schulen in den letzten drei Klassen in russischer Sprache unterrichtet werden. Trotz allem wurde die Regel, dass in den ersten Klassen der Schulen das Tschuwaschische die Unterrichtssprache war, (mindestens in der Theorie) nicht aufgehoben. Man führte eine Reform der tschuwaschischen Orthographie durch, die die Unterschiede zur russischen verminderte. Hatten in den 1920er Jahren das Bekenntnis zur tschuwaschischen Nationalität und Kenntnisse der tschuwaschischen Sprache Vorteile gebracht, so konnten sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre Anlass für Beschuldigung des »bürgerlich-kulakischen Nationalismus« werden. Der »Große Terror«

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« hatten das tschuwaschische Dorf in seinen Grundfesten erschüttert. Die Zerstörung der Dorfgemeinde und die Verfolgung der Geistlichen zerstörten die Fundamente ihrer traditionellen Lebensweise. Die gnadenlose

Der »Große Terror«

»Liquidierung« der »Kulaken« beraubte die bäuerlichen Gemeinschaften ihrer wirtschaftlich und politisch aktivsten Mitglieder. Ihr Schicksal war ein abschreckendes Beispiel für die anderen Bauern und diente zu ihrer Disziplinierung. Dieser Terror auf dem Land war für die Tschuwaschen einschneidender als der sogenannte »Große Terror« der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre.270 Dieser traf die Republik Tschuwaschien wie die anderen Regionen der Sowjetunion. Zu den allgemeinen Begründungen des Abb. 46 Sergej Petrov, Parteichef in Terrors kam wie in den übrigen nationalen Tschuwaschien von 1926–1937 Gebietseinheiten der »Kampf mit dem bürgerlichen Nationalismus« hinzu. Andererseits boten die agrarische Struktur und die noch immer schwache Präsenz der Kommunistischen Partei unter den ethnischen Tschuwaschen zunächst weniger Angriffsflächen für die »Säuberungen« als die Städte Russlands und die dort lebende Intelligenz. Die Kommunistische Partei der ČASSR wurde mehreren Wellen von »Säuberungen« unterworfen.271 Mit den Vorwürfen der »rechten Abweichung«, der Existenz »sozial fremder Elemente« und des »bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus« wurden in den Jahren 1929 und 1934 zahlreiche Parteimitglieder ausgeschlossen, um »die eiserne proletarische Disziplin zu gewährleisten«. Sergej Petrov, seit 1926 Vorsitzender der Parteiorganisation der Republik, entledigte sich seiner Konkurrenten aus den Reihen der alten Kommunisten und sicherte sich die Herrschaft über die Republik. Die regionalen und lokalen Sowjets und Gewerkschaften wurden vollends zu gleichgeschalteten Instrumenten der Partei. Schon im Sommer 1928 wurde eine Kampagne gegen Petrovs Vorgänger Daniil Ėl’men’ lanciert, dem »rechte Abweichung« und die Verbreitung von Ideen »einer Wiedergeburt der Tschuwaschen« vorgeworfen wurden. In der Folge gehörte die Ėl’men‘ščina, die Zugehörigkeit zur Gruppe um Ėl’men‘, zu den Standardbeschuldigungen. Nach dem Mord an Sergej Kirov am 1. Dezember 1934 verstärkten sich in der ganzen Sowjetunion die Kampagnen gegen »antisowjetische Elemente«, »Schädlinge« und »konterrevolutionäre trotzkistisch-sinowjewische Gruppen«. Die Bevölkerung der ČASSR wurde zur Wachsamkeit aufgerufen, was Denunziationen und persönliche Abrechnungen begünstigte. Im Juni 1935 kam es zum ersten politischen Prozess gegen »Volksfeinde«. 16 Studierende des Tschuwaschischen

197

198

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Musik- und Theatertechnikums wurden der Schaffung einer antisowjetischen Organisation beschuldigt. Ein Angeklagter wurde zum Tod durch Erschießen, die übrigen zu zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Im selben Jahr wurden acht Lehrer verurteilt. Es folgten 26 Studierende, die Anekdoten und Spottverse auf führende Kommunisten verfasst hatten. Im Jahr 1936 wurden 304 Personen wegen konterrevolutionären Aktivitäten verhaftet und vor Gericht gestellt. Die meisten von ihnen waren Lehrer und Studierende, die als Erzieher, Multiplikatoren und künftige Eliten besonders aufmerksam beobachtet wurden. Im Archiv ist der spektakuläre Fall einer fundamentalen Systemkritik überliefert. Im Dezember 1936 wandte sich der Tschuwasche Filipp Nikitin (1883-?), Vorsitzender der Kolchose »Krasnoe Sormovo« und Mitglied der Kommunistischen Partei, in einem Brief an Vjačeslav Molotov, den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare. Im Januar 1937 legte er seine Ansichten auch auf einer regionalen Parteiversammlung vor. Er bezeichnete die Aufgabe der NĖP und die Kollektivierung der Landwirtschaft als schweren Fehler. Die Mitglieder der Kolchosen litten unter der unerträglichen Last der Abgaben, den nicht zu erfüllenden Planvorgaben und »tausend Formen von Ausbeutung«. Die Bauern weigerten sich, unter Zwang zu arbeiten, »man müsse ihnen ein freies Leben ermöglichen«. Kurz: »Die Kolchosen können nie bolschewistisch sein, sie sind konterrevolutionär«. Damit nicht genug, kritisierte Nikitin das Entstehen einer privilegierten Parteielite um Stalin, die sich auch in den Regionen fortpflanze. »Die Partei hat begonnen, sich vom Marxismus zu entfernen«. Wenig überraschend schloss die Parteiversammlung den kühnen Genossen aus ihren Reihen aus. Nikitin wurde im Mai 1937 zu 5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, im Jahre 1939 zu zusätzlichen 10 Jahren. Wann und wie er ums Leben kam, ist unbekannt. Im Jahre 1969 wurde er rehabilitiert.272 Es ist wohl kein Zufall, dass Nikitin seinen Brief an Molotov schickte, der zur alten Garde der Bolschewiki gehörte und von dem er wohl annahm, dass er an den kommunistischen Idealen festhielt. Dass er öffentlich das Entstehen der später als Nomenklatura bezeichneten »neuen Klasse«, die sich von den Prinzipien des Marxismus entfernte, geißelte und sogar Stalin selbst in diese Kritik einbezog, ist allerdings ungewöhnlich und zeugt vom Mut oder von der fast schon selbstzerstörerischen Verzweiflung des überzeugten Kommunisten. Nikitin hatte seit 1928 den Aufbau einer Kommune geleitet. Die Kommunen waren eine seit dem Jahr 1920 bestehende radikale Form der Kollektivierung, in der der gesamte Besitz außer den persönlichen Gegenständen der Bauern, also im Unterschied zu den Kolchosen auch Höfe und Kleinvieh, vergesellschaftet wurden. Diese Kommune wurde 1934 als Brigade in eine Kolchose eingegliedert, und 1936 wurde Nikitin Kolchosvorsitzender. Diese Tätigkeit öffnete ihm die Augen dafür, dass die Politik der Kollekti-

Der »Große Terror«

vierung ein mit marxistischen Grundsätzen nicht zu vereinbarender Irrweg war. Daraus zog er radikale Konsequenzen, die ebenso radikale Folgen hatten, die ihn geradezu zum Märtyrer eines »wahren Kommunismus« stempeln. Wie in der ganzen Sowjetunion brachten die Jahre 1937 und 1938 den Höhepunkt des Massenterrors. Im berüchtigten Geheimerlass Nr. 00447 vom 30. Juli 1937 »über die Operation zur Repressierung ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente« legte das Politbüro der Partei feste Quoten fest, wie viele Personen in den einzelnen Verwaltungseinheiten zu erschießen (das »höchste Strafmaß«) und wie viele in Gefängnisse und Lager zu stecken seien.273 Die »Kulaken« wurden noch immer als wichtigste Feinde des Sowjetsystems genannt, man war sich der Loyalität des Dorfes also noch immer nicht sicher. Das bedeutete, dass nicht nur die gebildeten Bewohner der Städte, unter denen die Tschuwaschen schwach vertreten waren, Opfer der »Säuberungen« wurden, sondern erneut auch die Bauernschaft, der Kern der tschuwaschischen Nation. Die Vertreter von Partei und NKVD der einzelnen Gebietseinheiten waren schon Anfang Juli 1937 aufgefordert worden, die Anzahl der gefährlichen antisowjetischen Elemente der beiden Kategorien in ihren Regionen nach Moskau zu melden. Die regionalen Zweige des NKVD, der politischen Polizei, die 1934 an die Stelle des GPU getreten war, machten sich daran, Listen der zu verhaftenden Personen anzulegen. Am einfachsten war es, diejenigen Personen auszuwählen, die bereits aktenkundig waren und wegen früherer Vergehen als Kulaken, konterrevolutionäre Geistliche, Angehörige politischer Parteien, Spekulanten oder Anführer von Bauernaufständen denunziert und verurteilt worden waren. Aufgrund der hohen Zahlen, die nach Moskau gemeldet wurden, erhöhte man die regionalen Kontingente. Die Gesamtzahl der in der »Kulakenoperation« Verurteilten betrug schließlich 767.397 Personen, die Hälfte davon wurde zum Tode verurteilt. Das waren 0,47 bzw. 0,24 Prozent der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion. Die Behörden der Tschuwaschischen ASSR legten auf Anfrage am 9. Juli 1937 die Quote der in der Republik zu verurteilenden Personen auf 1.017 fest, von denen 140 zum Tode verurteilt werden sollten.274 Der Anteil der für die Höchststrafe Vorgesehenen war erheblich geringer als im Unionsdurchschnitt. Im Befehl 00447 wurden die Kontingente für die Republik fast verdoppelt (1.800, davon 300 Todesurteile). Nachdem das Plansoll im November vorzeitig erfüllt worden war, schickte das NKVD der ČASSR neue Zahlen nach Moskau, und das Politbüro erhöhte die Quoten auf 2.600 (davon 700 Todesurteile). Wie anderswo setzten die regionalen Behörden die Befehle eilfertig um und verurteilten in der »Kulakenoperation« im Ganzen 2722 Personen, davon 642 zum Tode. Die Hälfte der Verurteilten waren ehemalige »Kulaken«, 17 Prozent Kriminelle, der Rest »andere konterrevolutionäre

199

200

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

Abb. 47 Das Gefängnis des NKVD in Čeboksary

Elemente«. Das bedeutet, dass im Rahmen der ganzen Operation« 0,27 Prozent der Bevölkerung der Tschuwaschischen Republik verurteilt wurden, 0,06 Prozent wurden erschossen. Diese Prozentzahlen lagen erheblich unter den Gesamtzahlen für die gesamte Sowjetunion, bei den Verurteilten betrug der Anteil etwas mehr als die Hälfte, bei den zum Tode Verurteilten nur ein Viertel. Weit überdurchschnittliche Anteile an Verurteilten und Erschossenen wiesen die Republik der Wolgadeutschen, Karelien, Turkmenistan und Tschetscheno-Inguschien auf, aber auch einige vornehmlich von Russen bewohnte Regionen, besonders in Sibirien. Die Zahlen für die Nachbarrepubliken Tatarstan, Udmurtien und Mordwinien lagen auf derselben Höhe wie in der ČASSR. Die Tschuwaschen und die anderen Völker der Region wurden also von Moskau als weniger gefährlich eingeschätzt als die Bevölkerung anderer Gebiete. Die ganze »Kulakenoperation« war im Januar 1938 im Wesentlichen abgeschlossen und wurde im Herbst 1938 offiziell eingestellt. Der von Moskau initiierte und gelenkte Massenterror wurde in der ČASSR wie in den anderen Regionen meist innerhalb weniger Tage umgesetzt. Das regionale NKVD ließ die Anzuklagenden in den frühen Morgenstunden verhaften. Es folgte eine Durchsuchung, bei der ein Vertreter der lokalen Behörden anwesend war. Die Behörden stellten schriftliche Unterlagen in Form eines Formulars für jeden zu Verurteilenden zusammen, in denen neben Angaben zur Person die Anklagepunkte vermerkt wurden. Dazu kamen oft Aussagen von Zeugen und eine Empfehlung, welcher Kategorie der Verhaftete zuzuordnen sei. Aufgrund dieser Unterlagen und nicht selten in Abwesenheit der Angeklagten, fällten dann drei

Der »Große Terror«

Personen in einem Schnellverfahren die Urteile. Diese sogenannte Trojka bestand aus dem regionalen Parteivorsitzenden, dem Chef des NKVD und dem Staatsanwalt der Republik. Die Verhandlung wurde protokolliert. Die meisten Angeklagten erklärten sich laut den Akten für schuldig. Um den Massenmord geheim zu halten, tagten die Trojki meistens nachts und erledigten in einer Nacht Dutzende, manchmal, wie wir aus anderen Regionen wissen, Hunderte von Fällen. Die Todesurteile wurden vor Ort sofort oder in den folgenden Tagen und Wochen vollstreckt. Auch die Erschießung wurde in einem Akt festgehalten, der vom zuständigen Mitarbeiter des NKVD unterschrieben wurde. Offensichtlich wurden die Untersuchungsakten teilweise fabriziert, nachprüfbar war die Tätigkeit der Trojki ohnehin nicht. Nicht nur die »Volksfeinde« wurden verfolgt, sondern nicht selten wurden auch ihre Frauen zu fünf bis acht Jahren verurteilt und ihre Kinder je nach »Grad der sozialen Gefahr« in Besserungsanstalten und spezielle Kinderheime gesteckt. Die meisten Urteile wurden in Čeboksary gefällt, im August 1937 allein 258. Die Trojka tagte im Leninmuseum, und die Leichen der Erschossenen wurden im Hof des Gebäudes in eine Grube geworfen. In den 1960er Jahren wurden dort 300 Leichen ausgegraben und auf einen Friedhof überführt.275 Da bisher keine Fallstudien über die Durchführung des Befehls 00447 in der ČASSR vorliegen, greife ich auf eine Untersuchung zum benachbarten Tatarstan zurück.276 Sie bestätigt, dass die Aktion vom NKVD in Moskau minuziös geplant und bürokratisiert und nicht, wie man früher annahm, spontan durchgeführt wurde. Die regionalen Behörden führten genau Buch über die Massenoperation.277 Ein Beispiel: Nachdem die Trojka der Tatarischen Republik am 23. August 1937 zehn Personen zum Tode verurteilt hatte, wurde am 25. August eine Liste der Betroffenen an einen Oberleutnant des regionalen NKVD von Čistopol’ gesandt mit dem Befehl, diese unverzüglich zu erschießen. Man wies darauf hin, dass den Angeklagten das Urteil nicht mitgeteilt werden dürfe. Am folgenden Tag wurde der Vollzug der Todesurteile nach Kazan’ gemeldet, wobei die Akte des Erschießungskommandos beigelegt wurde. Am 15. Oktober 1937 meldeten die Verantwortlichen des NKVD von Čistopol’, dass im August und September »für operative Zwecke« 84 Patronen des Revolvers »Nagan« verbraucht worden seien, und ersuchten um Nachschub. Aus anderen Quellen ist bekannt, dass in diesem Zeitraum in der Region 38 Personen zum Tode verurteilt worden waren – man hatte also 2,2 Patronen pro Person verbraucht.278 Aus Tatarstan ist ein Fall von Widerstand überliefert. Als in Menzelinsk der ehemalige Bürgerkriegsheld und Fabrikdirektor A. Železkin verhaftet wurde, wurde eine Petition verfasst, die gegen seine Verhaftung protestierte, und von einer Delegation ehemaliger »roter Partisanen« beim NKVD eingereicht. Das NKVD

201

202

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

griff sofort durch, leitete eine Untersuchung ein und konfiszierte die bereits von 25 Personen unterschriebene Petition. Man stellte fest, dass hinter der Aktion »eine konterrevolutionäre Organisation« stehe, die 80 Personen umfasse. Man verhaftete und verhörte diese »Volksfeinde«, die sich ohne Ausnahme für schuldig bekannten. In der Akte fehlen Informationen über ihr weiteres Schicksal, doch waren ihnen harte Urteile sicher.279 Im Ganzen führte die Trojka der Tatarischen ASSR zwischen dem 23. August 1937 und dem 6. Januar 1938 an 28 Tagen 165 Sitzungen durch. Dabei wurden 2.570 Personen zum Tode und 2.792 zu Lagerhaft verurteilt. Pro Tag (oder pro Nacht) wurden also fast 200 Urteile gefällt, davon 92 Todesurteile.280 Die Verurteilten und ihre Vergehen umfassten die ganze Palette der im Befehl 00447 genannten »antisowjetischen Elemente«: Ehemalige Kulaken, Kriminelle, Anhänger von Religionsgemeinschaften, ehemalige Mitglieder politischer Parteien (vor allem Sozialrevolutionäre), Bürgerkriegsgegner und andere. Dazu kamen Anklagen wegen Spionage für eine ausländische Macht und tatarischer Nationalismus. Diese Gruppen hätten Terroranschläge gegen Stalin und seine Umgebung vorbereitet und konterrevolutionäre Ansichten wie das Lob des Faschismus und Hitlers geäußert. Die Trojka in der Tschuwaschischen ASSR bestand im Jahre 1937 aus dem Ersten Sekretär der Partei der Republik Sergej Petrov, dem Volkskommissar des NKVD Aleksej Rozanov (1900–1939) und dem Staatsanwalt Stepan Ėlifanov (1900–1985). Petrov und Ėlifanov waren ethnische Tschuwaschen, Rozanov Russe. Unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des NKVD der Republik machten ethnische Tschuwaschen ungefähr die Hälfte aus. Dieser Anteil ist angesichts des noch immer niedrigen tschuwaschischen Anteils an der Stadtbevölkerung und an den Parteimitgliedern recht hoch, auch wenn er nicht ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Republik von 72,2 Prozent erreichte.281 Ich nehme an, dass dies das Ergebnis einer bewussten Tschuwaschisierung des NKVD war, um die Verantwortung für die Gewaltmaßnahmen nicht allein den »fremden« russischen Kommunisten aufzuerlegen. Man hat lange angenommen, dass die Opfer des »Großen Terrors« des Jahres 1937 vor allem die Eliten des Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparats gewesen seien. Die neueren Untersuchungen zeigen aber, dass die weit überwiegende Mehrheit (bis zu 90 %) der Opfer einfache Menschen waren, unter ihnen viele »Kulaken«, die schon früher verfolgt worden waren. So wurden am 8. September 1937 17 Bauern des Dorfes Njurgeči im Kreis Batyrevo verhaftet. Man warf ihnen die Zugehörigkeit zu einer »konterrevolutionären Kulakengruppe« vor, die »antisowjetische Agitation« betrieben habe. Fünf von ihnen wurden zum Tod verurteilt und erschossen, die übrigen wurden zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt.282

Der »Große Terror«

In Tschuwaschien waren die Lehrer und Priester, die die Mehrheit der aus der Bauernschaft stammenden Gebildeten stellten, bevorzugte Zielscheiben des Terrors. Allein vom 1. September 1937 bis 1. Februar 1938 wurden 290 Lehrerinnen und Lehrer verhaftet, und in den Jahren 1937 und 1938 wurden über tausend von ihnen entlassen. Noch rigoroser war die kleine Gruppe tschuwaschischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den »Säuberungen« betroffen. Im Jahre 1937 wurden alle Mitglieder des »Wissenschaftlichen Forschungsinstituts« entlassen. Erneut wurden Kampagnen gegen »die nationalistische Konzeption der tschuwaschischen Geschichte« entfesselt. Auch viele tschuwaschische Schriftsteller wurden Opfer des Terrors. Bis zum 1. März 1938 wurden 15 der 28 Mitglieder aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Petr Chuzangaj wurde des Nationalismus bezichtigt, im Januar 1938 verhaftet, doch im August 1939 als unschuldig entlassen. Vasilej Mitta wurde 1937 verhaftet und in den GULAG verschickt. Er wurde erst 1954 befreit und starb drei Jahre später. In seinen letzten Lebensjahren verarbeitete er seine Erfahrungen in der sibirischen Verbannung literarisch. Im »Großen Terror« wurde auch der endgültige Schlag gegen Kirche und Geistlichkeit geführt.283 Unter fantastischen Anschuldigungen (Verschwörungen, Spionage, Sabotage, Terror) wurden in Tschuwaschien im Jahre 1937 mindestens 53 Priester verhaftet und meist zu drei bis zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Mindestens acht Geistliche wurden erschossen, und zahlreiche starben im Lager. Die Gesamtzahl der Priester und Kirchenleute, die »repressiert« wurden, ist nicht zu ermitteln. Gesichert sind weniger als 200 Namen, doch schätzt sie Fedor Kozlov auf 600, was bedeuten würde, dass ungefähr drei Viertel von ihnen dem Terror zum Opfer fielen.284 Neben den Geistlichen wurden zahlreiche Bauern, die der Sympathie für die Kirche beschuldigt wurden, zu Zielscheiben des NKVD. So wurde zum Beispiel im Dezember 1937 I.G. Jaroslavcev wegen enger Kontakte zum Priester Vvedenskij und wegen antisowjetischer Propaganda zum Tode verurteilt, Vvedenskij kam mit 10 Jahren davon. Im Jahre 1941 wurde die »aktive Kirchengängerin« E.E. Rodionova zu 10 Jahren Lager verurteilt aufgrund der Beschuldigung, dass sie die Kolchosbauern dazu aufgerufen habe, Gott zu fürchten. In demselben Jahr wurden sieben Bauern wegen »antisowjetischer Agitation« mit dem Ziel der Wiedereröffnung der Kirchen verhaftet; drei wurden zum Tode, vier zu 10 Jahren Lager verurteilt. Dass viele Bauern gegen die Verfolgung der Priester protestierten, zeigte erneut, dass die Orthodoxe Kirche im tschuwaschischen Dorf angekommen war und nicht mehr als ein Fremdkörper empfunden wurde. In den Jahren 1935 bis 1942 wurden praktisch alle verbliebenen Kirchen geschlossen, und 1943 gab es in der ČASSR nur noch sechs offene Kirchen. Die Kirchengebäude wurden unter anderem als Schulen, Klubs, Lagerhallen, Kraftwerke oder als Standorte für medi-

203

204

7. Kapitel: Zerstörung der bäuerlichen Lebenswelt und der nationalen Eliten (1929–1941)

zinische Einrichtungen genutzt. In einer Kirche von Čeboksary wurde ein antireligiöses Museum eingerichtet. Andere Kirchen wurden zerstört und zerfielen, ihre Glocken wurden eingeschmolzen und in der Industrie verwendet. Mit der Geistlichkeit wurden die letzten halbwegs autonomen Kräfte im Dorf beseitigt. Wie in der gesamten Sowjetunion blieb auch die in der Stalinzeit etablierte Parteiführung, die den Terror entfesselt hatte, nicht verschont. Moskau schickte im Herbst 1937 die Parteifunktionäre Marija Sach‘janova und Ol‘ga Mišakova, beides ethnische Russinnen, in die Republik, die sofort begannen, zunächst den Komsomol und dann die Parteiorgane von »Feinden zu säubern«. Am 6. November 1937, also noch vor Abschluss der »Kulaken-Operation«, an der er als Mitglied der ­Trojka­führend beteiligt war, wurde der allmächtige Petrov abgesetzt und verhaftet. Das gleiche Schicksal traf die meisten anderen Parteiführer der Republik. Die Vorwürfe, die man ihnen machte, wiederholten nicht nur die allgemeinen Beschuldigungen, wie sie damals gegen sowjetische Kader gerichtet wurden, sondern hoben zusätzlich die Förderung des tschuwaschischen Nationalismus hervor. »S.P. Petrov unterließ nicht nur die Ausrottung der Volksfeinde und die Liquidierung der Folgen ihrer Schädlingstätigkeit, sondern schuf auch die gesetzlichen Bedingungen für die Tätigkeit der bürgerlichen Nationalisten in Tschuwaschien. Unter dem Deckmantel der ‚Gesellschaft zur Erforschung des heimatlichen Gebiets‘ und der ‚Gesellschaft zur Erforschung der tschuwaschischen Kultur‘ propagierte man die Idee der Restaurierung des Kapitalismus und der Loslösung des tschuwaschischen Volkes von der Sowjetunion. Unter dem Dach dieser Gesellschaften verbirgt sich eine bürgerlich-nationalistische Partei, die gegen die Sowjetmacht Stellung bezieht. Sie verbreiten die Idee der bulgarischen Herkunft des tschuwaschischen Volkes und wollen für ihre konterrevolutionäre Spionageaktivitäten Beziehungen zu den faschistischen bürgerlichen Staaten aufnehmen.«285

Zu den Beschuldigungen gehörte also auch die Verbreitung des bulgarischen Herkunftsmythos. Wie abstrus die Anklagepunkte sein konnten, zeigte der Fall eines Parteifunktionärs, der beschuldigt wurde, eine bestickte tschuwaschische Tracht verschenkt zu haben, was ihm zehn Jahre Lagerhaft eintrug.286 Petrovs Nachfolger Gerasim Ivanov (1905–1939) wurde ebenfalls verhaftet und im folgenden Jahr erschossen. Er wurde abgelöst vom Russen Aleksej Volkov (1890–1942), einem bewährten Apparatschik, der zuvor verantwortliche Parteiämter in Turkmenistan, der Ukraine, Saratov, Moskau und Weißrussland bekleidet hatte. Auch er wurde 1940 wieder abgesetzt und starb zwei Jahre darauf in Moskau offensichtlich eines natürlichen Todes.

Der »Große Terror«

Den Abschluss des »Großen Terrors« brachte der im Oktober und November 1939 durchgeführte Schauprozess gegen die ehemalige Parteiführung. Angeklagt wurden 13 Personen, an ihrer Spitze der Parteichef Sergej Petrov, seit 1926 Erster Sekretär des Tschuwaschischen Gebietskomitees, der Zweite Sekretär Jakov Andreev, der Vorsitzende der Regierung der Republik Vasili Toksin und sein Stellvertreter, sowie weitere hohe Funktionäre. Die Vorwürfe, die man gegen sie erhob und die als Begründungen für die Urteile dienten, waren genauso fantastisch wie anderswo in der Sowjetunion. Ihnen wurde vorgeworfen, »eine konterrevolutionäre bürgerlich-nationalistische Organisation begründet zu haben, die jahrelang eine schädliche Wühltätigkeit in der Volkswirtschaft der ČASSR ausgeübt habe mit dem Endziel, die Sowjetordnung zu stürzen«. In Zusammenarbeit mit den Führern des rechtstrotzkistischen Blocks hätten sie terroristische Akte gegen Parteiführer verübt. Petrov, Andreev, Toksin und zwei andere Angeklagte wurden zum Tod verurteilt, ihre Strafe wurde im Jahre 1941 in 10 Jahre Lagerhaft umgewandelt. Die übrigen Angeklagten wurden zu 10 bis 20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Petrov starb 1942 in Kazachstan. Erstaunlicherweise wurde er im Jahre 1956 rehabilitiert, im Gegensatz zu vielen Opfern und anderen Tätern des Stalinismus.287 Der Vorwurf des »bürgerlichen Nationalismus« wurde eben gegen die Parteiund Staatsführung erhoben, die in der ersten Hälfte der Dreißigerjahre nationale Tendenzen gegeißelt und deren Vertreter verfolgt hatten. Die »Säuberungen« betrafen alle Vertreter der Sowjetmacht in Tschuwaschien. Da infolge der Politik der Korenizacija der Anteil von Tschuwaschen in den Behörden der Republik (auf zwei Drittel) und in den lokalen Ämtern (auf über 90 Prozent) angewachsen war, waren davon vor allem ethnische Tschuwaschen betroffen. Da die tschuwaschische Intelligenz noch immer schmal war, traten teilweise ethnische Russen an ihre Stelle, so die beiden Parteichefs Volkov und Ivan Čarykov (1940–1948), der Ministerpräsident Aleksandr Somov und viele andere. So wurde in der Tschuwaschischen Republik in den Dreißigerjahren wie in der gesamten Sowjetunion ein beträchtlicher Teil der Eliten hingerichtet oder in die Straflager geschickt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen lebten und zu einem beträchtlichen Teil starben. Dieser Aderlass traf die Tschuwaschen schwerer als die Russen, da sie noch immer nur über eine schmale Schicht von Gebildeten verfügten. Mit der »Dekulakisierung« und der Verfolgung der Geistlichen, Lehrer, Schriftsteller und anderen Kulturschaffenden wurden gerade die Gruppen dezimiert, die als Kern einer tschuwaschischen Nation gelten konnten. Der Prozess der tschuwaschischen Nationsbildung, der sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzogen hatte, wurde damit abgebrochen.

205

8. Kapitel:

Die Tschuwaschen in der späten Sowjetunion und in der Russländischen Föderation im Spiegel von Biographien

Der Rahmen: Tschuwaschien vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart

Die Tschuwaschen gingen wie die anderen Völker der Sowjetunion durch die Höllen der Zwangskollektivierung und des Stalinschen Terrors. Ihre eigenständigen kulturellen Traditionen und Wirtschaftsweisen wurden weitgehend zerstört, und ein großer Teil der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen schmalen nationalen Eliten wurde »liquidiert«. Zugleich vollzogen sich in der Sowjetunion eine stürmische Industrialisierung, Urbanisierung und Alphabetisierung, die neue Eliten hervorbrachten, die dem Regime meist loyal gegenüberstanden.288 Viele Tschuwaschen kämpften wie die anderen Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland. Etwa die Hälfte der 200.000 in der Republik Eingezogenen kam ums Leben. Die Tschuwaschische Republik war zwar nicht Kriegsschauplatz, doch waren auch hier die ökonomische Situation angespannt und die Lebensmittelversorgung ungenügend. Aus den Kriegsgebieten evakuierte Industrieunternehmen wurden in der Republik wiederaufgebaut, an ihrer Spitze eine Fabrik für Elektromechanik aus Charkiv. Alle Frauen wurden in den Arbeitsprozess einbezogen, da die meisten arbeitsfähigen Männer an der Front waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlief die Geschichte der Tschuwaschen in ruhigen Bahnen und entsprach der gesamtsowjetischen Entwicklung. Die Industrialisierung setzte sich fort, neue große Unternehmen der Maschinen- und Baumwollindustrie und eine chemische Fabrik, die auch Nervengase produzierte, wurden

208

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

errichtet. Die Industrie war auf die Hauptstadt Čeboksary und die neu errichtete Trabantenstadt Novočeboksarsk konzentriert. Diese wurde im Jahre 1960 begründet und in der Folge zum Standort eines Wolgakraftwerks. Bis zum Jahr 1982 entstand ein gewaltiger Stausee mit einer Fläche von 2.274 Quadratkilometern. Die wichtigsten Industriebetriebe blieben auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhalten. Der Lebensstandard in den Städten und phasenverschoben auch auf dem Lande stieg allmählich an, blieb aber hinter den zentralen Regionen Russlands zurück. Die Republik war ökonomisch schwach, da sie über keine Bodenschätze verfügte wie etwa die Tatarische ASSR mit ihren Erdölfeldern. Sie war auf Zuschüsse angewiesen, was ihre Abhängigkeit von Moskau erhöhte. Die Landwirtschaft wurde nun vermehrt gefördert und erzielte hohe Erträge. Im Vordergrund standen Kartoffeln, Getreide und Hopfen. Die Kolchosbauern blieben aber lange unterprivilegiert. Wie im gesamten postsowjetischen Raum brachten die 1990er Jahre eine schwere Wirtschaftskrise und eine dramatische Verschlechterung der sozialen Verhältnisse. Die Privatisierung vollzog sich in Tschuwaschien verzögert und mit großen Schwierigkeiten. Die Industrieproduktion ging rapide zurück, auch weil Zulieferer und Absatzmärkte ausfielen. Die großen Betriebe wie das Traktorenwerk in Čeboksary und die Chemiefabrik in Novočeboksarsk gerieten in Schwierigkeiten. Der ohnehin bescheidene Lebensstandard der Bevölkerung sank erheblich, eine Schere zwischen der Masse der Verarmten und wenigen Neureichen öffnete sich. Zwar kam es zu einigen Streiks und Demonstrationen, doch blieb es im Ganzen ruhig. Die Tschuwaschen wurden erneut ihrem Ruf als stille, friedliche Bürger gerecht. Wie in ganz Russland erholte sich die Wirtschaft nach der Jahrhundertwende allmählich, doch blieb Tschuwaschien eine wirtschaftlich rückständige periphere Provinz Russlands mit einem Bruttosozialprodukt pro Kopf, das im Jahr 2010 nur gut die Hälfte des Landesdurchschnitts der Russländischen Föderation betrug. In der Landwirtschaft vollzog sich die Privatisierung der Kolchosen und Sowchosen stockend, und sie geriet ebenfalls in eine Krise. Einige Zweige wie die Viehwirtschaft und der Kartoffelanbau kamen besser über die Runden als der Getreideanbau, für den Maschinen benötigt wurden. Bedeutend blieb der Anbau von Hopfen, und die Republik produzierte zeitweise bis zu 80 Prozent des Hopfens von ganz Russland. Die Tschuwaschen behielten also ihre Reputation als Spezialisten in der Herstellung von Bier. Die Tschuwaschische Republik war weiterhin stärker landwirtschaftlich geprägt als andere Regionen Russlands. Der Anteil der landwirtschaftlichen Produktion war mit 9,4 Prozent doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt.

Der Rahmen: Tschuwaschien vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart

Abb. 48 Hopfen-Ernte. Tschuwaschien ist der mit Abstand wichtigste Hopfen-Produzent Russlands

Die Bevölkerung der ČASSR betrug im Jahre 1939 1,078 Millionen (72 % Tschuwaschen, 22 % Russen). Infolge der großen Verluste während und nach dem Krieg erreichte sie erst im Jahre 1959 wieder den Vorkriegsstand. Im Jahr 1989 war die Bevölkerung der Republik auf 1,338 Millionen (68 % Tschuwaschen, 27 % Russen) angewachsen. Nach dem Ende der Sowjetunion ging sie bis zum Jahr 2010 um 87.000 auf 1,251 Millionen zurück. Nachdem der Anteil der ethnischen Tschuwaschen seit 1926 stetig abgenommen hatte, blieb er seit 1989 konstant. Mit zwei Dritteln der Bevölkerung stellten die Tschuwaschen im Unterschied zu zahlreichen anderen Titularnationen der Republiken der Russländischen Föderation weiter eine klare Mehrheit. Im Jahre 2010 lebten 57 Prozent der Tschuwaschen in den Grenzen ihrer Republik, 30 Prozent in anderen Gebietseinheiten der Wolga-Ural-Region, der Rest weit verstreut von Moskau bis Sibirien. Die Gesamtzahl der in der Russländischen Föderation lebenden Tschuwaschen verringerte sich zwischen 1989 und 2010 von 1,842 auf 1,436 Millionen, was einen Rückgang von 406.000 oder 22 Prozent ergibt. Die Zahl der in der Tschuwaschischen Republik lebenden Tschuwaschen nahm im gleichen Zeitraum lediglich um 6,7 Prozent ab. Der in den vergangenen 25 Jahren zu beobachtende Bevölkerungsrückgang der Tschuwaschen ist einerseits wie bei den anderen europäischen Ethnien der Russländischen Föderation auf ein leichtes Absinken der Geburtenrate bei gleich-

209

210

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Abb. 49 Das moderne Čeboksary

bleibender hoher, bei Männern sogar steigender Sterberate zurückzuführen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Republik entsprach dem gesamtrussischen Wert mit im Jahr 2007 67,4 Jahren (bei den Männern 61,0, bei den Frauen 74,2); in den folgenden Jahren stieg sie etwas an. Die Ursachen für die sehr hohe Sterblichkeit der Männer dürfte wie in der gesamten Russländischen Föderation in erster Linie auf Alkohol- und Nikotinmissbrauch sowie auf Unfälle zurückzuführen sein. Für die sehr große Abnahme der ethnischen Tschuwaschen außerhalb ihrer Kerngebiete war zusätzlich der Wechsel der ethnischen Selbstzuschreibung verantwortlich: Immer mehr Tschuwaschen deklarierten sich hier als Russen. Dazu trug bei, dass die sprachliche Russifizierung hier viel schneller voranging als in der Tschuwaschischen Republik. Laut soziologischen Umfragen entschieden sich Kinder aus ethnisch gemischten Ehen weit überwiegend für die russische Nationalität. Im Zuge der Urbanisierung überstieg die Zahl der Stadtbevölkerung der Republik zu Beginn der 1980er Jahre diejenige der auf dem Land Lebenden, und im Jahr 2010 betrug der Urbanisierungsgrad 60 Prozent. Die Republik blieb damit im Vergleich zur gesamten Russländischen Föderation (74 % Stadtbevölkerung) weiter stärker ländlich geprägt. Im Jahre 1939 hatten in der Autonomen Republik nur 36.400 Tschuwaschen in Städten gelebt, was 28 Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. Nach dem Krieg stieg ihre Zahl stark an, und 1989 war die tschuwaschische Stadtbevölkerung erstmals zahlreicher als die russische. Dennoch lebte im Jahr 2010 noch immer die Hälfte der Tschuwaschen der Republik auf dem

Der Rahmen: Tschuwaschien vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart

Land, während mehr als 85 Prozent der Russen in der Stadt wohnten. Čeboksary hatte 2010 453.721 Einwohner, davon 58,5 Prozent Tschuwaschen. Das bedeutet, dass fast 70 Prozent der tschuwaschischen Stadtbevölkerung der Republik in der Hauptstadt lebten. Die Konzentration auf die Hauptstadt wurde verstärkt durch die in der Nähe liegende zweitgrößte Stadt Novočeboksarsk mit 2010 124.097 Einwohnern.289 Trotz ihrer raschen Urbanisierung und der Ausbreitung städtischer Kultur blieben die Tschuwaschen stark bäuerlich geprägt. Wie in der ganzen Sowjetunion wurde auch in der ČASSR das Bildungswesen sukzessive ausgebaut. Zunächst bildeten das Staatliche Pädagogische Institut und das Landwirtschafts-Institut die für die Republik wichtigsten Fachkräfte aus. Ein wichtiger Schritt war die Begründung der Tschuwaschischen Staatlichen Universität im Jahre 1967, die nach Lenins Vater Il‘ja Uljanov benannt wurde. Das Schulwesen der Republik wurde zusehends russifiziert. Seit den 1960er Jahren war die Unterrichtssprache ab der 5. Klasse das Russische, und die Zahl der rein russischsprachigen Schulen nahm zu. Auch nachdem in der postsowjetischen Republik das Tschuwaschische und Russische wieder zu Staatssprachen erklärt worden waren, etablierte sich keine Zweisprachigkeit. Zwar gab es im Jahr 2010 nach offiziellen Angaben in der Republik 306 Schulen mit tschuwaschischer und 168 mit russischer Unterrichtssprache (62,5 % bzw. 34,2 %), doch dominierte, wie soziologische Umfragen zeigten, im Schulalltag das Russische. Dazu trug bei, dass zahlreiche Kinder gar nicht tschuwaschisch sprachen und dass nicht genügend Lehrmittel in tschuwaschischer Sprache zur Verfügung standen. Auch der theoretisch in allen Schulen verpflichtende Unterricht des Faches Tschuwaschisch blieb weitgehend auf dem Papier. Die Folge davon war, dass praktisch alle Tschuwaschen russisch beherrschten, doch kaum ein Russe tschuwaschisch sprach. Das Russische übernahm endgültig alle Funktionen der Hochsprache, während das Tschuwaschische weitgehend auf den privaten Gebrauch, auf die schöne Literatur und die Geisteswissenschaften beschränkt war. Nur in den ethnisch meist homogenen Dörfern und in manchen Familien konnte sich die tschuwaschische Umgangssprache behaupten. Hatten im Jahre 1939 noch 96,7 Prozent der ethnischen Tschuwaschen das Tschuwaschische als ihre Muttersprache angegeben, so sank ihr Anteil bis 1989 auf 77,5, und bis 2012 auf 58,9 Prozent. Auch diese Prozentsätze gaben nicht die Realität wieder, denn nicht alle diese Tschuwaschen beherrschten ihre Muttersprache und verwendeten sie im Alltag.290 Das sowjetische Gesellschaftssystem erhöhte die soziale Mobilität, und einige Tschuwaschen traten aus dem Schatten der Provinz heraus und brachten es zu gesamtsowjetischer Prominenz. Manche von ihnen zogen aus Tschuwaschien weg

211

212

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

und verloren ihre Bindung an die Heimat. Dennoch war und ist man in Tschuwaschien stolz auf die Landsleute, die in das Licht der großen Städte der Sowjetunion und dann der Russländischen Föderation traten. Ich greife im Folgenden sieben Persönlichkeiten heraus, die sich seit den 1960er Jahren in unterschiedlichen Bereichen hervortaten. Ihre Biographien veranschaulichen die Geschichte der Tschuwaschen in der späten Sowjetunion und in der Russländischen Föderation. Der Kosmonaut: Andrijan Nikolaev

Seit den Weltraumflügen des Satelliten Sputnik im Jahre 1957 und Jurij Gagarins, des ersten Menschen im Weltall, im Jahre 1961 herrschte unter den Sowjetbürgerinnen und -bürgern große Begeisterung für die Weltraumfahrt. Endlich hatte die Sowjetunion gezeigt, dass sie zu Höchstleistungen fähig war und die USA in einem spektakulären Bereich überholen konnte. Unzählige Kinder und Jugendliche hatten den Wunsch, Kosmonauten zu werden. Dass der dritte Sowjetbürger im Weltall ein Tschuwasche war, war und ist für das tschuwaschische Nationalbewusstsein von großer Bedeutung. Andrijan Nikolaev (1929–2004) wurde im tschuwaschischen Dorf Šoršely im Nordosten der ČASSR geboren.291 Sein Vater war Pferdewärter, seine Mutter Melkerin der Kolchose. Ihr kleines hölzernes Wohnhaus mit zwei Fenstern, in dem Andrijan geboren wurde und aufwuchs, ist heute Museum. Er wuchs in den schwierigen Jahren der Stalinschen Zwangsherrschaft und des Zweiten Weltkriegs auf. Nach der siebenjährigen Dorfschule zog er in die nächste Kleinstadt Marinskij Posad, wo schon sein älterer Bruder lebte. Dort besuchte er das Technikum für Holzindustrie, das er im Jahre 1947 abschloss. In der Folge fand er Arbeit in seinem Beruf in Karelien, das mehr als tausend Kilometer von seiner Heimat entfernt liegt. Die Mobilität der Arbeitskräfte in der Sowjetunion war groß, was zur Homogenisierung der Bevölkerung beitrug. Nikolaev wechselte auch in der Folge häufig seinen Wohnsitz, bis er endgültig in der Hauptstadt Moskau ankam. Im Jahre 1950 wurde er in die Armee einberufen, die wie für viele andere Sowjetbürger zum Kanal seines beruflichen und sozialen Aufstiegs wurde. Er wurde den Luftstreitkräften zugeteilt und zum Jagdflieger ausgebildet. Seine Ausbildung brachte ihn in weitere Regionen der Sowjetunion, erst nach Tadschikistan, dann zu den Höheren Luftwaffen-Lehranstalten für Flieger im ukrainischen Černihiv und in Frunze (heute Biškek), der Hauptstadt Kyrgyzstans, wo er im Jahre 1954 sein Studium abschloss. Er diente weiter in den Luftstreitkräften, genoss eine Spezialausbildung und wurde im Jahr 1960 in die erste Gruppe der sowjetischen Kosmonauten aufgenommen.

Der Kosmonaut: Andrijan Nikolaev

Abb. 50 Andrijan Nikolaev und Valentina Tereškova

Vom 11. bis 15. August 1962 flog er mit Vostok 3 als dritter sowjetischer Kosmonaut nach Jurij Gagarin und German Titov ins Weltall und umkreiste die Erde in 64 Umläufen. Dies war der bis dahin längste Weltraumflug. Einen Tag später startete der Ukrainer Pavlo Popovyč mit Vostok 4, näherte sich Vostok 3 bis auf 6,5 Kilometer an und nahm Funkkontakt mit Nikolaev auf. Damit waren erstmals zwei bemannte Raumschiffe gleichzeitig im All. Die Landung war erfolgreich, und in Moskau schilderten die beiden Kosmonauten vor 5.000 Journalisten ihre Erlebnisse. Anfang September fuhr Nikolaev im Triumph durch die Straßen Čeboksarys. Der tschuwaschische Bauernsohn gehörte nun zur sowjetischen Prominenz. Im November 1963 heiratete er Valentina Tereškova, die fünf Monate zuvor als erste Frau ins Weltall geflogen war. Man munkelte, dass Parteisekretär Nikita Chruščev die Traumehe arrangiert habe. Tereškova (geb. 1937) war wie Nikolaev einfacher Herkunft, hatte als Textilarbeiterin gearbeitet und war in ihrer Freizeit begeisterte Fallschirmspringerin. Sie bewarb sich für die Ausbildung zur Kosmonautin und wurde 1962 aufgenommen. Schon im Juni 1963 flog sie als Pilotin von Vostok 6 in den Weltraum. Das Ehepaar hatte eine gemeinsame Tochter, im Jahre 1982 wurde die Ehe geschieden. Tereškova wurde sehr populär, die Vorzeigefrau der Sowjetunion, und machte eine politische Karriere als Abgeordnete des Obersten Sowjets

213

214

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

(1966) und Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU (1971). Sie ist noch heute Abgeordnete der Duma der Russländischen Föderation als Mitglied der Regierungspartei »Einiges Russland«.292 Nikolaev besuchte nach seinem ersten Weltraumflug die Akademie für Luftwaffen- Ingenieure in Moskau, die er 1968 abschloss. Dann trainierte er für einen bemannten Mondflug. Dieser kam nicht zustande, dafür flog Nikolaev im Jahr 1970 zusammen mit Vitalij Sevastjanov an Bord von Sojuz 9 ein zweites Mal in den Weltraum. Mit 17 Tagen stellten die beiden Kosmonauten einen neuen Langzeitrekord für den Aufenthalt in der Schwerelosigkeit auf. Nach ihrer Rückkehr hatten sie längere Zeit Probleme, sich wieder an die Schwerkraft anzupassen, was seither als Nikolaev-Effekt bezeichnet wird. Nikolaevs weitere Karriere verlief weniger spektakulär als die seiner Frau. Während zwanzig Jahren war er stellvertretender Direktor des Gagarin-Kosmonauten-Trainingszentrums in Moskau und seit 1970 Generalmajor der Luftwaffe. Im Jahr 1975 wurde ihm der akademische Grad eines Kandidaten der technischen Wissenschaften verliehen. Vortragsreisen führten ihn bis nach Japan, Guinea und Brasilien. Er war Abgeordneter des Obersten Sowjets der Russländischen Sowjetrepublik, dann von 1991 bis 1993 im ersten demokratisch gewählten Parlament, dem Kongress der Volksdeputierten Russlands. Er schrieb mehrere Bücher, darunter eines in tschuwaschischer Sprache (»Im Kosmos«). Er starb am 3. Juli 2004 im Alter von 74 Jahren in Čeboksary, wo er als Schiedsrichter an einem Sportfest teilgenommen hatte, an einem Herzinfarkt. Er wurde auf dem Friedhof seines Heimatdorfes beigesetzt. Auf seinem Grab wurden in Goldbuchstaben Worte aus einem seiner Bücher eingraviert: »Ich träume oft vom heimatlichen Šoršely und von den Sternen über ihm.« Nikolaev wurde mit Ehrungen überhäuft. Zweimal wurde ihm der Titel »Held der Sowjetunion«, je einmal der Leninorden und der Orden des Roten Sterns verliehen. Ehrungen erfuhr er auch in Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei, der Mongolei, Vietnam, Nepal, Indonesien, Ägypten und Kuba. Er war Ehrenbürger Tschuwaschiens und zahlreicher Städte wie Čeboksary, Karaganda, Karlsbad und Sofia. Denkmäler in Smolensk und Černihiv erinnern an den sowjetischen Kosmonauten. Sogar ein Mondkrater wurde nach ihm benannt. In Tschuwaschien wird Nikolaevs bis heute in vielfacher Weise gedacht. An der Nikolaev-Straße in Čeboksary steht ein Nikolaev-Denkmal. In seinem Heimatdorf Šoršely wurden zu seinen Ehren ein Memorialkomplex und ein Museum der Kosmonautik errichtet. Es gehört zum Pflichtprogramm aller Besucher der Republik, unter ihnen vor einigen Jahren der Autor dieses Buches. Ein Teil des Museums ist in der ehemaligen Dorfkirche untergebracht – ein Symbol für die Sowjetwelt, die ihrer säkularen Heiligen gedachte.

Die Ballerina: Nadežda Pavlova

Andrijan Nikolaev ist in seiner Heimat bis heute der wahrscheinlich bekannteste und beliebteste Tschuwasche. Sein Leben zeigt, wie ein einfacher tschuwaschischer Bauernsohn aus dem Schatten seines Dorfes in das Rampenlicht der sowjetischen, russländischen und internationalen Öffentlichkeit treten konnte. Sein Leben kann außerdem als sowjetische Musterkarriere gelten. Der junge Soldat hatte buchstäblich den Marschallstab im Tornister und wurde zu einem Aushängeschild. Die Ballerina: Nadežda Pavlova

Unter den Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, die ich bisher vorgestellt habe, ist keine einzige Frau. Tatsächlich fällt es schwer, herausragende Frauen tschuwaschischer Herkunft zu finden, die über den lokalen Kontext hinaus bekannt wurden. Das gilt nicht nur für die Sowjetunion, sondern noch mehr für die Zarenzeit. Der Hauptgrund dafür dürfte in der bäuerlichen Prägung der Tschuwaschen liegen, in der Tradition der patriarchalischen Bauernfamilie, in der zwar die Frauen unentbehrlich waren, jedoch nach außen hinter den Männern zurücktraten und auch lange eine viel höhere Analphabetenquote hatten als die Männer. Wenn es jemandem gelang oder jemandem erlaubt wurde, das Dorf zu verlassen, waren es lange fast nur die Söhne, nicht die Töchter. Diese verzögerte Frauenemanzipation war keineswegs typisch für Russland und die frühe Sowjetunion, wo Frauen es im Allgemeinen leichter hatten, eine Karriere zu machen als im bürgerlichen Mittel- und Westeuropa. Es waren allerdings lange Zeit Töchter aus Familien der Oberschicht, des Adels und dann der Intelligenz, die als herausragende Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen und Malerinnen bekannt wurden. Erst in der Sowjetunion änderte sich das allmählich, wie das Beispiel der Kosmonautin Tereškova, die aus einer Arbeiterfamilie stammte, zeigt. Immerhin hatten die tschuwaschischen Mädchen schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, in den Simbirsker Pädagogischen Kursen für Frauen zu studieren und als Grundschullehrerinnen zu arbeiten. Aus ihrem Kreis kam Marfa Trubina (1888–1956), eine der wenigen bekannteren tschuwaschischen Dichterinnen, die nicht zufällig als Autorin von Kinderbüchern, die als Domäne der Frauen galten, bekannt wurde. Nadežda Čerepanova (1912–1984) studierte schon in der Sowjetzeit und arbeitete in der Lebensmittelindustrie. Sie verfasste Gedichte und satirische Erzählungen und übersetzte die Werke tschuwaschischer Dichter ins Russische.293 Es dauerte aber bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, bis die ersten Frauen aus dem Schatten der Provinz heraustraten und Karriere außerhalb ihrer Region machten. Die drei bekanntesten unter ihnen waren eine Ballerina und zwei Sportlerinnen.

215

216

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Abb. 51 Nadežda Pavlova mit Nikolaj Ciskaridze im Moskauer Bol’šoj-Theater

Während unzählige sowjetische Jungen Kosmonaut werden wollten, träumten viele sowjetische Mädchen davon, Ballerina zu werden. Eine Tschuwaschin machte diesen Traum wahr und trat aus dem Schatten der Provinz in das Bühnenlicht des Bol’šoj-Theaters in Moskau. Nadežda Pavlova wurde 1956 in Čeboksary als achtes und jüngstes Kind einer tschuwaschischen Familie geboren.294 Ihr Vater war als Techniker, ihre Mutter als Kindergärtnerin beschäftigt. Als erste der hier vorgestellten Persönlichkeiten war sie nicht auf dem Land aufgewachsen, sondern schon ihre Eltern gehörten der Generation sozialer Aufsteiger an. Als Siebenjährige trat sie in Tanzgruppen der Pioniere, der sowjetischen Kinderorganisation, auf. Eine Abordnung der choreographischen Lehranstalt von Perm‘ im Ural, die im Jahre 1966 auf Talentsuche nach Čeboksary kam, wurde auf das Mädchen aufmerksam und bot ihm einen Studienplatz an. Sieben Jahre lang studierte Nadežda in Perm‘ bei Ljudmila Sacharova, einer sowjetunionweit bekannten Ballettpädagogin. Sie erinnerte sich später nur ungern an diese harten Jahre, als sie der eisernen Disziplin ihrer strengen Lehrerin unterworfen wurde, wie in einer Kaserne lebte, ständig hungerte, oft weinte und nicht Kind sein durfte. In Perm‘ trat sie regelmäßig in Kinderrollen öffentlich auf. Mit 15 Jahren gewann sie ihren ersten nationalen, mit 18 ihren ersten internationalen Wettbewerb. Gastspiele führten die junge Tänzerin in mehrere europäische Länder, in die USA, nach Japan und China.

Zwei Olympiasiegerinnen: Valentina Egorova und Elena Nikolaeva

Im Jahre 1975, im Alter von 19 Jahren, kam der Schritt nach Moskau, wo sie Solotänzerin des Bol’šoj Teatr wurde. Dort trat sie zusammen mit führenden Tänzern wie Aleksandr Bogatyrev, Nikolaj Ciskaridze und Irek Muchamedov in zahlreichen klassischen und modernen Balletten auf. Ihr wichtigster Partner war der berühmte Vjačeslav Gordeev, den sie schon 1975 geheiratet hatte. Nach der Scheidung zehn Jahre später heiratete sie den Psychoanalytiker Konstantin Ogulevič, der sie während einer schweren psychischen Krise behandelte. Im Jahre 1984 wurde ihr der Titel »Volkskünstler der UdSSR« zuerkannt. Im selben Jahr schloss sie ihr Studium als Ballettmeisterin ab, entfaltete darauf eine pädagogische Tätigkeit und leitete Meisterkurse in mehreren ausländischen Städten. Sie trat auch in zahlreichen Filmen auf. Heute unterrichtet sie als Professorin an der prestigereichen Russländischen Akademie für Theaterkunst in Moskau. Nadežda Pavlova trat auch gelegentlich in Čeboksary auf. Allerdings hatte sie sich ihrer Geburtsstadt und ihrer Familie entfremdet, so dass sie mit der provinziellen Welt keine engeren Kontakte mehr unterhielt. Auch ihre tschuwaschische Herkunft wurde weitgehend vergessen, sie wird in Biographien und Interviews höchstens am Rande vermerkt. Zwei Olympiasiegerinnen: Valentina Egorova und Elena Nikolaeva

Für junge Menschen aus der sowjetischen Provinz war der Leistungssport ein wichtiger Kanal des sozialen Aufstiegs. Sportlerinnen und Sportler wurden vom Staat gezielt gefördert, um der Welt die Errungenschaften des Sowjetsystems vor Augen zu führen. Das höchste der Ziele war ein Olympiasieg. Zwei Tschuwaschinnen erreichten dieses Ziel und wurden Olympiasiegerinnen in der Leichtathletik. Valentina Egorova wurde 1964 im kleinen Dorf Izederkino im fast nur von Tschuwaschen besiedelten Rayon Morgauš südwestlich von Čeboksary geboren.295 Ihre Familie hatte fünf Kinder, ihre Eltern waren in der örtlichen Kolchose beschäftigt. Sie besuchte die achtjährige Dorfschule in einem Nachbarort, dann eine technische Fachschule in Čeboksary und später das Pädagogische Institut in Naberežnye Čelny in Tatarstan. Bald wurde ihr Talent entdeckt, und die nur 1,55 Meter große Valentina wurde zur Spezialistin für den Langstreckenlauf trainiert. Im Alter von 14 Jahren bestritt sie ihren ersten Wettkampf. Im Jahr 1988 wurde sie in die sowjetische Leichtathletikmannschaft aufgenommen. An der Europameisterschaft in Split gewann sie im Jahre 1990 die Silbermedaille im Marathonlauf, knapp hinter der portugiesischen Favoritin Rosa Mota. Ihr großer Tag kam am 1. August 1992, als sie bei den Olympischen Spielen in Barcelona die Goldmedaille holte. In Atlanta wurde sie 1996 Zweite hinter der äthiopischen Olympiasiegerin

217

218

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Abb. 52 Valentina Egorova

Fatume Robe. Damit brach die Ära der äthiopischen und kenianischen Langstreckenläuferinnen an. Vier Jahre später bestritt sie den Marathonlauf an den Olympischen Spielen in Sydney, musste aber aufgeben. Im Jahr 1997 absolvierte sie das Sport-Institut in Volgograd. Valentina Egorova blieb ihrer tschuwaschischen Heimat treu und arbeitete in der Folge als Sporttrainerin in Čeboksary. Im Jahre 1995 wurde sie zur Ehrenbürgerin von Čeboksary, ein Jahr später auch von Tokio, ernannt. Im Jahr 2007 erhielt sie den »Orden für Verdienste vor der Tschuwaschischen Republik«. In ihrem Heimatbezirk werden regelmäßig nach ihr benannte Leichtathletikwettkämpfe durchgeführt. Elena Nikolaeva (geb. 1966) wurde Olympiasiegerin in einer verwandten Sportart, dem Langstrecken-Gehen. Dies gelang ihr 1996 in Atlanta im Wettbewerb über 10-km-Gehen, nachdem sie in Barcelona Silber geholt hatte. Noch im Jahre 2003 gewann sie als 37-jährige das 20-km-Gehen an den Weltmeisterschaften in Paris.296 Nikolaeva stammte ebenfalls aus einem tschuwaschischen Dorf und trat nach der Schule in die Tschuwaschische Landwirtschaftsakademie ein, wo sie sich auf Leichtathletik spezialisieren konnte. Sie blieb in Tschuwaschien und heiratete ihren Trainer, der später Sportminister der Republik wurde. Sie wurde mehrfach

Der Poet: Gennadij Ajgi

als Deputierte in den Staatsrat Tschuwaschiens gewählt, und 1997 wurde ihr das Ehrenbürgerrecht der Stadt Čeboksary verliehen. Die drei hier vorgestellten Frauen nutzten die Möglichkeiten, die sich in der Sowjetunion für begabte Mädchen im Bereich des Balletts und des Sports boten. Sie genossen eine intensive unentgeltliche Ausbildung und wurden, als sie Erfolg hatten, zu prominenten Persönlichkeiten. Dass eine solche Laufbahn auch ihre Schattenseiten hatte, wurde bei Nadežda Pavlova deutlich. Für die Tschuwaschen und besonders die Tschuwaschinnen wurden die drei Frauen aber zu Identifikationsfiguren und zu Objekten des Nationalstolzes. Der Poet: Gennadij Ajgi

Der Dichter Gennadij Ajgi (1934–2006) war während mehrerer Jahrzehnte der weltweit bekannteste Tschuwasche.297 Er gilt heute als einer der bedeutendsten russischsprachigen Dichter der zweiten Hälfte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts. Seine Gedichte wurden in nicht weniger als 54 Sprachen übersetzt, allein in deutscher Sprache liegen 20 Ausgaben mit Übertragungen seiner Werke vor. In Russland und auch in Tschuwaschien entdeckte man Ajgi dagegen erst spät. Das lag daran, dass er in der Sowjetzeit Publikationsverbot hatte und seine Werke erst danach allmählich in den Kanon der russischen Lyrik aufgenommen wurden. Ajgi wurde im tschuwaschischen Dorf Šajmurzino, das 120 Kilometer südlich von Čeboksary liegt, geboren. Sein eigentlicher Name war Gennadij Lisin. Erst im Jahr 1969 ersetzte er den russischen Familiennamen durch den tschuwaschischen Namen Ajgi, den seine Familie früher getragen hatte. »Das Dorf lag inmitten endloser Wälder und zählte zweihundert Gehöfte. Ajgi – der Name unserer Sippe – stammt aus heidnischer Zeit und bedeutet der dort. Mein Vater hatte die Tschuwaschische Arbeiter-Fakultät beendet und an einer Siebenklassen-Schule Russisch unterrichtet. In seiner Jugend hatte er Gedichte geschrieben, von denen einige in tschuwaschische Lesebücher aufgenommen worden sind. Er mochte Puškin und übersetzte ihn ins Tschuwaschische«,

so Ajgi später.298 Ajgis Vater Nikolaj Lisin kam 1942 im Zweiten Weltkrieg ums Leben, und seine Witwe schlug sich mit ihren drei Kindern (neben Gennadij zwei Schwestern) allein durch. Ajgis Schwester Eva Lisina wurde ebenfalls Schriftstellerin und widmete sich später der Aufgabe, die Bibel vollständig ins Tschuwaschische zu übersetzen. Sein Großvater mütterlicherseits

219

220

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

„war der letzte heidnische Priester unseres Dorfes. Dieses Amt war an seine Sippe gebunden. Heidnische Bräuche, die von der Kirche verworfenen und auch die nicht verbotenen, waren meiner Mutter geläufig. Sie und ihre Schwester kannten viele heidnische Gebete und Beschwörungen, die sie mir auf Wunsch vorlasen.«

Schon in Ajgis Elternhaus verband sich also das Erbe der tschuwaschischen Volksüberlieferung mit dem der jungen tschuwaschischen Intelligenz und ihrer Liebe zur Literatur. Ajgi besuchte die Pädagogische Lehranstalt im nahegelegenen Batyrevo, in dem tschuwaschische und tatarische Lehrer ausgebildet wurden. Schon früh begann er Gedichte in tschuwaschischer Sprache zu schreiben und in Zeitungen zu veröffentlichen. Nachdem er 1953 das Lehrerseminar absolviert hatte, gelang es ihm dank der Fürsprache des tschuwaschischen Dichters Petr Chuzangaj als 19jähriger in das renommierte Moskauer Gor‘kij-Institut für Literatur aufgenommen zu werden. Unter seinen literarischen Vorbildern waren die tschuwaschischen Schriftsteller Mišši Şeşpĕl und der aus einem Nachbardorf stammende Vasilej Mitta. Seine frühen Gedichte waren stark von Vladimir Majakovskij beeinflusst. Etwas später entdeckte er Charles Baudelaire und lernte Französisch, um ihn und andere Dichter im Original lesen zu können. In Moskau begegnete Ajgi dem Dichter Boris Pasternak, der damals schon in Ungnade gefallen war und seinen Roman Doktor Živago 1957 nur im Ausland publizieren konnte. Die Bekanntschaft mit Pasternak, der 1958 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, ihn aber nicht selbst entgegennehmen durfte, weckte die Aufmerksamkeit der sowjetischen Geheimpolizei. Als Ajgi seine Abschlussarbeit, einen Band tschuwaschischsprachiger Gedichte mit dem Titel »Im Namen der Väter«, vorlegte, wurde diese abgelehnt. Im März 1958 wurde Ajgi aus dem Literaturinstitut und aus dem Komsomol ausgeschlossen. Als Begründung führte man an, dass er »einen hasserfüllten Gedichtband« verfasst habe, der »die Grundlagen der Methode des sozialistischen Realismus untergrabe«. Wenn man die frühen Gedichte Ajgis, die er zunächst auf Tschuwaschisch schrieb und ins Russische übersetzte, liest, so findet man darin keine Spur von Hass. Sie folgten allerdings formal und inhaltlich nicht den Regeln, die die sowjetische Bürokratie der Literatur verordnet hatte, sondern waren in freien Versen verfasst. Ajgi blieb in Moskau, konnte sein Diplom doch noch ablegen, wobei er jetzt als Abschlussarbeit eine Übersetzung ins Tschuwaschische vorlegte. Er fand eine Beschäftigung im Majakovskij-Museum, wo er zehn Jahre lang wirkte. In dieser Zeit übersetzte er viele Gedichte russischer, spanischer, französischer, englischer und italienischer Autoren ins Tschuwaschische, unter ihnen Majakovskij, Baude-

Der Poet: Gennadij Ajgi

laire, Dante, García Lorca und Walt Whitman. Er publizierte in Čeboksary vier Anthologien mit Dichtungen aus Frankreich, Ungarn und Polen in tschuwaschischer Übersetzung. Noch in sowjetischer Zeit stellte er eine umfangreiche Anthologie tschuwaschischer Dichtungen zusammen, die sowohl Volksüberlieferungen als auch Werke von Dichtern des 19. und 20. Jahrhunderts enthielt. Sie wurde unter der Ägide der UNESCO ins Englische, Italienische, Ungarische und Schwedische übersetzt. Ajgi verfasste dazu eine Einführung, in der er seine Auffassung von der Geschichte, Kultur und Literatur der Tschuwaschen darlegte.299 Soweit mir bekannt, handelt es sich um die einzige Sammlung tschuwaschischer Literatur, die im Ausland erschienen ist. Durch dieses Werk und mit seinen Übersetzungen wurde Aigi zum wichtigsten kulturellen Mittler zwischen den Tschuwaschen und der äußeren Welt. Vor allen Dingen schrieb Ajgi weiter eigene Gedichte, erst in tschuwaschischer, mit der Zeit vermehrt in russischer Sprache. Schon im Jahr 1958, in dem Ajgi in Moskau in Ungnade fiel, kam in Čeboksary sein erster Gedichtband in tschuwaschischer Sprache heraus. In den Jahren 1961 bis 1964 gelang es ihm, einige seiner Gedichte in russischer Übersetzung in den bekannten Periodika Literaturnaja Gazeta, Znamja, Novyj Mir und Literaturnaja Rossija zu veröffentlichen. Im Jahre 1964 erhielt er Publikationsverbot, und seine russischsprachigen Werke konnten in der Sowjetunion bis zu deren Zusammenbruch nicht mehr publiziert werden. Nur kleinere Schriften in tschuwaschischer Sprache erschienen weiter in Čeboksary. Seine russischen Gedichte wurden aber abgeschrieben und zirkulierten im Samizdat. Ajgi nahm regen Anteil am Leben der Moskauer Dichter und Künstler, die sich den offiziellen Dogmen widersetzten. Obwohl er sich nicht scheute, sich in seinen Gedichten auf verfemte Autoren wie Varlam Šalamov zu beziehen und sogar ein Gedicht auf Jan Palach zu schreiben, den tschechischen Studenten, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die Okkupation seines Landes durch die Truppen des Warschauer Pakts selbst verbrannte, war er, wie er auch selbst betonte, kein politischer Schriftsteller. Er geriet zwar mehrfach ins Visier des Geheimdienstes, doch kam es nie zu einer Verurteilung. Bald wurden seine Gedichte im Ausland, zunächst in Emigrantenzeitschriften, publiziert. In den Jahren 1971 und 1975 erschienen erste Gedichtbände Aigis in Deutschland (in Russisch und in Deutsch). Es folgten Editionen seiner Werke in französischer, englischer, polnischer und anderen Sprachen. Nach 1991 wuchs ihre Zahl rasch an, und bis heute liegen Werke Ajgis, wie erwähnt, in 54 Sprachen vor. Schon 1992 erschien eine Biographie Ajgis aus der Feder des französischen Slawisten Léon Robel. Die bekannte Komponistin Sof ’ja Gubajdullina, Tochter eines

221

222

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

tatarischen Vaters, die seit 1992 in Deutschland lebte, verfasste einen Zyklus »Jetzt immer Schnee. Fünf Stücke für Sprecher, Kammerensemble und Kammerchor nach Texten von Gennadij Ajgi«. Im August 1988 durfte Ajgi zum ersten Mal ins Ausland fahren. Es folgten zahlreiche Reisen zu Lesungen in Frankreich, Deutschland, den meisten anderen europäischen Ländern, Nordafrika und Japan. Im Herbst 1987 erschienen – erstmals seit 23 Jahren – in der Sowjetunion russischsprachige Gedichte Ajgis, nicht zufällig im provinziellen Čeboksary. Erst dann folgten die Abb. 53 Gennadij Ajgi hauptstädtischen Journale, und im Jahre 1991 kam in Moskau ein erster Band ausgewählter Gedichte heraus, mit einem Vorwort des bekannten russischen Dichters Evgenij Evtušenko. In der Folge wurden weitere seiner Werke publiziert bis hin zu einer siebenbändigen Gesamtausgabe, die 2009 in Moskau herauskam. Die modernistischen Dichtungen Ajgis wurden allerdings auch jetzt lediglich von der Intelligenz Moskaus, Petersburgs und anderer größerer Städte rezipiert. Wegen seiner formalen Kühnheit wurde er mehrfach von russischen Literaten attackiert. Auch unter den Tschuwaschen war es nur ein enger Kreis von Intellektuellen, der sich mit seinen Dichtungen befasste. Ajgi erreichte trotz seiner Herkunft und trotz mehrerer offizieller Ehrungen in breiteren Kreisen keine große Popularität. Der Nimbus des Nationaldichters blieb Konstantin Ivanov vorbehalten. Im postsowjetischen Russland blieb Ajgi ein Außenseiter. Mehrfach kritisierte er die Kriege gegen die Tschetschenen, denen er als Angehöriger einer anderen Minderheit und dank zahlreicher Reisen im Kaukasus nahestand. Ajgi starb im Jahre 2006 in Moskau. Er wurde auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Šajmurzino begraben. Von seinen sechs Kindern wurde Aleksej ein bekannter Geiger, Komponist und Bandleader der Musikgruppe 4’33«. Seine einzige Tochter Veronika, deren ersten Lebensmonaten er die berührende Gedichtsammlung »Veronikas Heft« widmete, wurde Schauspielerin.300 Ajgi nahm in seinen Dichtungen Elemente der tschuwaschischen Volkskultur auf. Seine bevorzugten Themen Feld und Wald führte er selbst auf seine Kindheit im tschuwaschischen Dorf zurück.

Der Poet: Gennadij Ajgi

»Ich bin in einem tschuwaschischen Dorf geboren, das umgeben ist von endlosen schlummernden Wäldern, die Fenster unserer Hütte gingen direkt aufs Feld hinaus – aus Feld und Wald bestand für mich »meine geistige Welt … Im Augenblick empfinde ich eine immer stärkere Bindung an die tschuwaschische Volksdichtung. Ich möchte, dass meine Gedichte derart vollkommen wären wie die Werke der tschuwaschischen Poesie«,

so Ajgi in einem Interview. 301 »Überhaupt, je älter ich werde, desto häufiger gerate ich ins Nachsinnen über die Weisheit meines Volkes, über die Eigenständigkeit seiner Kultur, seines Lebens. Im Leben der Tschuwaschen gab es vieles, was den Europäern gänzlich unbekannt ist. Es gibt zum Beispiel ein ganzheitliches Erziehungssystem. Das Verhalten gegenüber den Gestirnen – der Sonne, dem Mond – ist in einer bestimmten Weise vorgeschrieben. Sie sind heilig, sie sind ‚sehr lebendig‘… All dies wird uns von klein auf anerzogen. Wissen Sie, wir haben eine Art pantheistischer Erziehung. Sie umfasst ein besonderes Verhältnis zu den Gestirnen, zu den Bäumen, zum Wasser, zum Wind, zu allem, was uns umgibt – alles ist in unsere heidnischen Gebete hineingelegt. Das ist es, worauf sie beruhen.«

Ajgi bestätigte damit, dass im Glauben der Tschuwaschen die vorchristlichen Elemente auch im 20. Jahrhundert noch lebendig waren. Er neigte zu einer Idealisierung der Kultur und Geschichte der Tschuwaschen und schrieb den Mythos vom »friedlichen Tschuwaschen« fort: »In Tschuwaschien lebte man vier Jahrhunderte lang ohne Obrigkeit, ohne Geld, ohne Bücher (das ist schade), ohne spürbare Grenzen – ohne Krieg. Sie führten vier Jahrhunderte lang keinen Krieg. Mit niemandem.«

Als zentrales Anliegen bezeichnete er seinen Wunsch, »anderen etwas zu berichten über die Erscheinungsweise des eigenen Landes«. Mit anderen Worten, er strebte danach, seinem subalternen Volk eine Stimme zu verleihen, es aus seiner Marginalität heraustreten zu lassen. »Ich wollte das ‚Geringe‘ zum Größeren erheben, ihm allgemeine Bedeutung verleihen. Der Begriff ‚Provinz‘ kann nicht auf die Felder und Schober bezogen werden – für die Erde gibt es keine Provinz. Kurz, die Felder und Wälder in meinen Gedichten sind schlicht die Gesichter meiner Heimat, welche einen mehr oder weniger symbolischen Charakter annahmen«.302

223

224

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Ajgi wurden zahlreiche Ehrungen zuteil, unter anderen der Lyrikpreis der Académie française (1973) und der Petrarca-Preis (1993). Im Jahre 1998 wurde er Commandeur des Arts et Lettres des französischen Kulturministeriums. Er war wiederholt als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch. Schon in den Perestrojka-Jahren besannen sich auch die offiziellen Stellen der Tschuwaschischen Republik ihres berühmten Sohnes und verliehen ihm 1987 den Vasilej Mitta-Preis und 1990 den Konstantin Ivanov-Staatspreis der ČASSR. Nach seinem Tod wurden eine Schule in Šajmurzino und eine Straße in Čeboksary nach ihm benannt. In den Jahren 1997 und 2009 fanden in Čeboksary Ajgi gewidmete internationale wissenschaftliche Konferenzen statt. Trotz dieser offiziellen Ehrungen blieb Gennadij Ajgi für die breitere Bevölkerung Tschuwaschiens ein Fremder, obwohl er wie kein anderer die tschuwaschische Kultur in die Weltliteratur einbrachte und gleichzeitig die Tschuwaschen mit der westeuropäischen Dichtung bekannt machte. Die Frage, ob er sich für einen russischen Dichter halte, beantwortete Ajgi unmissverständlich: Er halte sich für einen tschuwaschischen Dichter, der russisch schreibe. Der Präsident: Nikolaj Fedorov

Die von Moskau und Petersburg ausgehenden Reformen Michail Gorbačevs mit ihren Schlagworten Perestrojka und Glasnost‘ erreichten Tschuwaschien nur in abgeschwächter Form. Im Oktober 1990 wertete sich die Tschuwaschische ASSR zur Tschuwaschischen Sowjetrepublik auf, seit 1992 heißt sie Tschuwaschische Republik. Mehrere Initiativen, ihren Namen durch die Bezeichnung »Wolgabulgarien« oder »Tschuwaschien-Wolgabulgarien« zu ersetzen, verliefen im Sande.303 Im Oktober 1990 erklärte der Oberste Sowjet der Republik die staatliche Souveränität, was jedoch einen rein deklarativen Charakter hatte: Von Unabhängigkeit war nie die Rede. Die Republik blieb eng an Moskau gebunden und unterzeichnete im Februar 1992 als Erste den Föderationsvertrag. Nach dem Beispiel anderer Republiken wurden zivilgesellschaftliche Bewegungen begründet, die sich für die Entwicklung der tschuwaschischen Nation, die Förderung der tschuwaschischen Sprache und Kultur, eine größere Eigenständigkeit der Republik und die tschuwaschische Diaspora einsetzten.304 Die drei wichtigsten Organisationen waren das »Tschuwaschische gesellschaftlich-kulturelle Zentrum« (begründet im Dezember 1989), die »Partei der tschuwaschischen Wiedergeburt« (1991) und der »Tschuwaschische Nationalkongress« (1992). Eine »Versammlung der Völker der Wolga-/Uralregion« und eine »Versammlung der Turkvölker« weiteten den Blick auf andere Ethnien im postsowjetischen Raum und die Türkei aus.

Der Präsident: Nikolaj Fedorov

Abb. 54 Der Konkurrent: Atner Chuzangaj

Eine führende Rolle in der Nationalbewegung spielte Atner Chuzangaj, Sohn des bekannten Dichters und promovierter Orientalist. Chuzangaj, der die radikalere Richtung verkörperte, der gemäßigte Dichter Mišši Juchma und andere Intellektuelle setzten sich die »Wiedergeburt« der tschuwaschischen Nation zum Ziel und formulierten eine auf alten Traditionen beruhende »tschuwaschische Idee«. Drei Bezugspunkte standen im Vordergrund. Erstens die Berufung auf das Reich der Wolgabulgaren, die eine große Breitenwirkung hatte und sich in zahlreichen wissenschaftlichen und populären Publikationen niederschlug. Zweitens die Pflege der tschuwaschischen Literatur, die, wenn man von der Verehrung des Nationaldichters Ivanov absieht, eine Angelegenheit der schmalen Intelligenz blieb. So erreichte die literarische Zeitschrift Lik Čuvašii (Das Antlitz Tschuwaschiens, heute Lik), die zahlreiche Werke tschuwaschischer Schriftsteller, unter ihnen Ajgi, publizierte, nur eine geringe Auflage von wenigen hundert. Etwas mehr Resonanz fanden die 1991 wiederbelebte tschuwaschischsprachige Zeitung Chypar und der 1998 begründete gleichnamige Verlag. Drittens die Rückbesinnung auf die traditionelle Religion. Man organisierte animistische Opferfeiern und plante die Errichtung einer »heiligen Säule« für Opfer- und Gebetfeiern in der Hauptstadt. Dies löste heftige Kontroversen aus und der Plan wurde nicht verwirklicht. Anders als in der benachbarten Republik Mari Ėl, wo eine neo-paganistische Bewegung zahlreiche Anhänger fand, hatte in Tschuwaschien die Rückkehr zum Heidentum in breiten Kreisen der Bevölkerung wenig Rückhalt. Nur gelegentlich war in der regionalen Presse von »heidnischen« Tschuwaschen die Rede, die dafür demonstrierten, ihre Bräuche auf ihrem Gebetsplatz, auf dem sie eine heilige Säule errichtet hatten, unbehindert ausüben zu können, oder gegen Behinderungen durch die Orthodoxe Kirche protestierten.305 Dies blie-

225

226

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

ben jedoch Randerscheinungen. Wie andere Bürger Russlands wandten sich viele Tschuwaschen im Gegenteil verstärkt dem auch von offiziellen Stellen geförderten orthodoxen Christentum zu. Im Zeichen der Glasnost‘ begann man, umstrittene Probleme der Geschichte, vor allem der sowjetischen Epoche, neu zu interpretieren und bisher verfemte Historiker und Schriftsteller zu rehabilitieren. Im Allgemeinen blieb der Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit aber vorsichtig zurückhaltend. Die nationalistischen Gruppen waren auf Teile der Intelligenz beschränkt, denen es nicht gelang, die Masse der Bevölkerung politisch zu mobilisieren. Dazu trug bei, dass anders als etwa in Tatarstan oder Tschetschenien das ethnisch-sprachliche Bewusstsein schwach war und kaum interethnische Spannungen mit der russischen Bevölkerung bestanden. Die alten kommunistischen Eliten, die sich teilweise als parteilos erklärten, blieben in Tschuwaschien fest im Sattel. Aus den Wahlen zur russländischen Duma von 1995 und 1999 gingen die Kommunisten in der Republik als mit Abstand stärkste Partei hervor, 1993 als zweite hinter den nationalistischen »Liberaldemokraten« Vladimir Žirinovskijs. In der zweiten Runde der Präsidentenwahl von 1996 sprachen sich 62,6 Prozent der Wählenden für den Kommunistenführer Gennadij Zjuganov aus und nur 31,8 Prozent für Boris El‘cin. Im Jahre 2000 landete Zjuganov knapp hinter Vladimir Putin auf dem zweiten Platz.306 Im August 1991 beschloss der Oberste Sowjet der Republik die Einführung der Funktion des Präsidenten, und im Dezember 1991 fanden die ersten Präsidentenwahlen statt. Die Ergebnisse zeigten ein Gleichgewicht der Kräfte. Am meisten Stimmen erhielten Leonid Prokop’ev, langjähriger früherer Ministerpräsident der ČASSR und seit 1990 Vorsitzender des Staatlichen Komitees der RSFSR für Nationalitätenfragen, mit 28,3 Prozent und Atner Chuzangaj mit 20,2 Prozent. Im zweiten Wahlgang, der am 21. Dezember 1991, mitten im Prozess der Auflösung der UdSSR, stattfand, schwang Chuzangaj überraschend mit 46,4 Prozent obenauf gegen 43,1 Prozent für Prokop’ev. Da nach der Verfassung die absolute Mehrheit der Stimmen erforderlich war, wurde Chuzangaj nicht gewählt. Offensichtlich hatten mehr als 10 Prozent der Wählenden entweder leer eingelegt oder gegen beide Kandidaten gestimmt. Darauf wurde ein Moratorium verkündet. Erst zwei Jahre später, im Dezember 1993, fanden erneut Präsidentenwahlen statt. Im ersten Wahlgang erhielt Nikolaj Fedorov, der damals Justizminister der Russländischen Föderation war, die meisten Stimmen, vor Lev Kurakov, dem Präsidenten der Tschuwaschischen Staatlichen Universität, während Chuzangaj abgeschlagen auf dem vierten Platz landete. Die kurze Zeit des nationalen Aufschwungs war damit beendet, wozu auch die schwere Wirtschaftskrise, die die

Der Präsident: Nikolaj Fedorov

postsowjetischen Staaten in den 1990er Jahren durchmachten, beitrug. Im zweiten Wahlgang gewann Fedorov klar und trat Anfang 1994 sein Amt als erster Präsident der Tschuwaschischen Republik an. Zu seinem Erfolg trug wesentlich bei, dass man in den erst 36-jährigen Tschuwaschen, der sich als Reformer profiliert und in Moskau einen hohen Posten erreicht hatte, Hoffnungen auf eine dynamische Entwicklung der Republik und auf eine verstärkte Förderung durch die Zentrale setzte. Die Geschichte des postsowjetischen Tschuwaschiens ist stark von der Persönlichkeit Nikolaj Fedorovs geprägt worden, der fast 17 Jahre im Präsidentenamt verblieb.307 Fedorov war ein typischer Vertreter der schillernden postsowjetischen Elite Russlands, ein gut ausgebildeter Jurist, gläubiger orthodoxer Christ, weltoffen, polyglott, smart, sportlich, nicht immer linienkonform, zuweilen mutig, aber dennoch kein Oppositioneller. Er war erst Mitglied der Kommunistischen Partei, wechselte aber bald zu anderen Parteien, bis er sich schließlich Vladimir Putins »Einiges Russland« anschloss. Er wurde in jungen Jahren russischer Justizminister, und es schien ihm eine große Karriere in Moskau bevorzustehen, doch zog er es vor, ins heimatliche Tschuwaschien zurückzukehren. Nikolaj Fedorov wurde im Jahr 1958 in einem Dorf unweit von Čeboksary geboren, das zu Beginn der 1960er Jahre der gigantischen Chemiefabrik Chimprom weichen musste. Er stammte aus einer kinderreichen Bauernfamilie. Sein Großvater war Kaufmann gewesen und im Jahr 1929 der »Entkulakisierung« zum Opfer gefallen. Sein Vater schaffte es dennoch, erfolgreich zu wirtschaften und, wie Fedorov in seiner Autobiographie schrieb, eine Art Farmer zu werden. Im landwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten alle Kinder mit. Fedorov wuchs in einer tschuwaschischsprachigen Umgebung auf und bekannte später, dass er russisch viel schlechter als tschuwaschisch spreche.308 Er besuchte die Mittelschule in Čeboksary und studierte anschließend Jura an der Universität Kazan‘. Er schlug eine Hochschullaufbahn ein und unterrichtete in den 1980er Jahren sowjetisches Recht und wissenschaftlichen Kommunismus an der Tschuwaschischen Staatlichen Universität. Im Jahre 1985 wurde er vom Institut für Staat und Recht der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau promoviert. Im Jahre 1989 wurde er als Deputierter in den Volksdeputiertenkongress, das erste freie sowjetische Parlament, gewählt. Im folgenden Jahr wurde er Justizminister in der Regierung der Russländischen Sowjetrepublik, ab Dezember 1991 in der unabhängigen Russländischen Föderation, unter Boris El‘cin. Aus Protest gegen die verfassungswidrige Einführung des Ausnahmezustandes durch Präsident El‘cin trat Fedorov im März 1993 von seinem Amt zurück. Er kritisierte in der Folge auch die gewaltsame Auflösung des russischen Parlaments durch El‘cin und

227

228

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Abb. 55 Nikolaj Fedorov (im Hintergrund das Denkmal der » Mutter-Beschützerin« in Čeboksary)

die bewaffnete Intervention in Tschetschenien, die er als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des tschetschenischen Volkes anprangerte. Zwar übernahm er kurzfristig andere Funktionen, doch entschied er sich noch im selben Jahr dafür, für das Amt des Präsidenten Tschuwaschiens zu kandidieren. Wie erwähnt, wurde er im Dezember 1993 gewählt. Fedorov ging nun energisch daran, die Verwaltung und Regierung der Republik Tschuwaschien zu reformieren und das Land zu modernisieren. Er setzte sich für marktwirtschaftliche Reformen und eine Verbesserung der Infrastruktur, des Bildungswesens und der sozialen Wohlfahrt ein und initiierte eine großzügige Erneuerung des Stadtbildes von Čeboksary. Er förderte auch die Entwicklung der tschuwaschischen Sprache und Kultur. Im Januar 1995 unterschrieb er ein Dekret, das es den Bürgern der Republik erlaubte, den Militärdienst in Tschetschenien zu verweigern, worauf zahlreiche tschuwaschische Soldaten nicht in den Krieg zogen. Seine Politik stieß von Anfang an mit dem von Kommunisten dominierten Parlament und der Justiz der Republik zusammen, die sich einzelnen Reformen widersetzten. In den Jahren 1995 bis 2001 war Fedorov Senator in der zweiten Kammer des russländischen Parlaments, dem Föderationsrat, in dem er sich erneut als Rechtsexperte profilierte. Er zeigte Zivilcourage, als er im Dezember 2000 als einziger Senator gegen das Gesetz stimmte, durch das die Melodie der sowjetischen Nationalhymne für die Hymne Russlands übernommen wurde. Im selben Jahr machte er sich zum Anwalt der nichtrussischen Republiken der Föderation und wandte sich (erfolglos) gegen Maßnahmen des neuen Präsidenten Vladimir Putin, die

Der Präsident: Nikolaj Fedorov

die Rechte der Parlamente und Regierungen der Regionen und Republiken einschränkten. Fedorov war einer der wenigen Funktionsträger in Russland, der es wagte, seine kritische Stimme zu erheben. Dieses Verhalten wurde erleichtert durch seine Machtbasis in Tschuwaschien. Fedorov war populär und wurde in den Jahren 1997 und 2001 als Präsident wiedergewählt. Er schuf sich allerdings zusehends Feinde unter den alten Eliten. So gewann er die zweite Wiederwahl nur knapp. Dazu trug auch bei, dass seine Reformpolitik die Wirtschaftskrise, die ganz Russland erfasst hatte, nicht verhinderte. Nachdem die Direktwahl der Vorsitzenden der einzelnen Föderationssubjekte abgeschafft worden war, ernannte ihn Präsident Putin im Jahre 2005 erneut zum Präsidenten Tschuwaschiens. Im August 2010 trat Fedorov als Präsident der Tschuwaschischen Republik zurück, und Präsident Dmitrij Medved’ev ernannte Michail Ignat’ev (geboren 1962) zu seinem Nachfolger. Ignat’ev hatte zunächst ein Technikum absolviert und als Elektromonteur gearbeitet. Dann wurde er Spezialist für Landwirtschaft und durchlief verschiedene Stationen vom Kolchosvorsitzenden bis zum Landwirtschaftsminister. Im Gegensatz zu Fedorov machte er seine Karriere ausschließlich in Tschuwaschien. Im Jahr 2003 kandidierte er als Vertreter der kleinen Agrarpartei für die Staatsduma, wurde jedoch nicht gewählt. Ignat’ev war der Kandidat der Konservativen, die der Politik des energischen und eigenmächtigen Fedorov skeptisch gegenüberstanden. Seit dem Jahr 2012 wurde Ignat’ev wiederholt kritisiert, und im Juni 2015 trat er zurück. Drei Monate später wurde er aber mit fast zwei Dritteln der Stimmen wiedergewählt.309 Fedorov wurde nach seinem Rücktritt erneut Mitglied des Föderationsrats und leitete dessen Komitee für internationale Beziehungen. Von Januar 2011 bis Mai 2012 war er Vertreter der Russländischen Föderation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Im Mai 2012 wurde er erneut Minister, diesmal für Landwirtschaft. Im März 2015 übten Medien offen Kritik an seiner Politik, die es nicht geschafft habe, die wegen der Einmischung Russlands in der Ukraine verhängten westlichen Wirtschaftssanktionen für die Entwicklung der Landwirtschaft zu nutzen. Im April 2015 trat Fedorov als Landwirtschaftsminister zurück und wurde vorübergehend zum Berater Präsident Putins in Fragen des agrarindustriellen Komplexes ernannt. Seit September 2015 war er 1. Stellvertreter der Vorsitzenden des Föderationsrats. Mit der Ablösung Fedorovs verlor Tschuwaschien einen außergewöhnlichen Politiker, der über Regierungserfahrung und Einfluss in der Zentrale verfügte. Er war wohl eine Spur zu groß für die Republik und entfremdete sich in seinem Denken und Handeln seinen Landsleuten zusehends. Die politische Ausrichtung der Republik blieb konservativ, nicht nur gegenüber dem reformfreudigen ehemaligen

229

230

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

Präsidenten, sondern auch gegenüber dem Präsidenten Russlands. In den Wahlen zum russländischen Parlament im Jahr 2011 erhielt Putins »Einiges Russland« nur 43,4 Prozent der Stimmen (gegenüber 63,9 % in ganz Russland), die Kommunisten dagegen 20,9 Prozent (11,7 %) und die gemäßigt oppositionelle Partei »Gerechtes Russland« 18,8 Prozent (7,1 %). Ein Ausdruck der fortbestehenden politischen Orientierung ist die halboffizielle Zeitung Sovetskaja Čuvašija (Das sowjetische Tschuwaschien), die seit 1952 bis heute ihren Namen nicht geändert hat. Der Historiker: Vasilij Dimitriev

Vasilij Dimitriev (1924–2013) war der bedeutendste tschuwaschische Historiker und einer der wichtigsten Historiker der Wolga-/Uralregion der zweiten Hälfte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts. Seine Biographie, von der Transformation der Gesellschaft in den 1920er und 1930er Jahren über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre bis zu den ersten beiden postsowjetischen Jahrzehnten, gibt mir Gelegenheit, die sowjetische und postsowjetische Geschichte der Tschuwaschen im Zeitraffer noch einmal Revue passieren zu lassen. Ein Überblick über sein umfangreiches Werk wirft außerdem Schlaglichter auf die Geschichte des vorrevolutionären Tschuwaschiens. Vasilij Dimitriev hat leider keine Erinnerungen verfasst, lediglich eine eineinhalbseitige Autobiographie aus dem Jahr 1955 ist überliefert sowie eine Broschüre über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.310 Die zahlreichen ihm gewidmeten Publikationen und Ehrungen enthalten aber reiches Material über das Leben und Schaffen dieses großen Historikers. Dazu kommt, dass ich Vasilij Dimitrievič mehrfach begegnet bin, mit ihm Gespräche geführt und korrespondiert habe. Zu einem ausführlichen Interview, das ich vorbereitet hatte, war er allerdings nicht bereit. Dimitriev wurde 1924 im kleinen tschuwaschischen Dorf Novo-Sjurbeevo im Kreis Civil’sk, 44 Kilometer südlich von Čeboksary, geboren. Sein Vater war Bauer, der sich vor 1917 als Wanderarbeiter sein Leben verdient hatte. Im Bürgerkrieg kämpfte er von 1918 bis 1922 in der Roten Armee. Seit 1929 waren er und seine Frau Kolchosbauern, ebenso wie später ihre beiden Töchter und Vasilijs jüngerer Bruder. Sein Vater arbeitete in der Kolchose erst als Pferdewärter, später als Müller. 1942 wurde er in die Sowjetarmee eingezogen. Seine Mutter, eine Analphabetin, blieb ihr ganzes Leben in ihrem Dorf. Nur einmal, als Todkranke, reiste sie in die Hauptstadt Čeboksary. Die schwierigen Lebensbedingungen der Vierziger- und Fünfzigerjahre hatten zur Folge, dass seine beiden Schwestern vorzeitig starben und sein Bruder das Gehör verlor.

Der Historiker: Vasilij Dimitriev

Abb. 56 Der junge Vasilij Dimitriev mit seiner Frau Lidija

Vasilij besuchte zunächst die Dorfschule, ab 1934 die Mittelschule im Rajon-Zentrum Čuračiki. Mit elf Jahren erkrankte er an Scharlach und fiel im Krankenhaus ins Koma, erholte sich aber rasch – ein prägender Eindruck, von dem er mir persönlich erzählte. Im Jahr 1940 bestand er die Aufnahmeprüfung an der Historischen Fakultät des Tschuwaschischen Pädagogischen Instituts in Čeboksary. Im Mai 1941 wurde er Mitglied des Komsomol, im folgenden Jahr fungierte er als Sekretär der Kosmomol-Organisation des Instituts. Dimitriev übernahm also schon in jungen Jahren öffentliche Ämter. Im August 1942 wurde er als 18-jähriger in die sowjetische Armee einberufen. Er absolvierte die Artillerieschule in Rostov und erwarb den Rang eines Unterleutnants. Als Kommandant eines Panzerabwehr-Zuges kämpfte er an der ukrainischen Front, ab August 1944 im Baltikum, wo er verwundet wurde. Anschließend nahm er an den Kämpfen in Ostpreußen teil. Im August 1946 wurde er demobilisiert und kehrte an seine Hochschule zurück. Im September 1944 wurde er als Zwanzigjähriger Mitglied der Kommunistischen Partei. Wie für viele seiner Altersgenossen war der »Große Vaterländische Krieg« auch für Dimitriev eine prägende Erfahrung, auf die er auch im Alter immer wieder zurückkam. Schon im Juli 1948 schloss er, gefördert durch ein Stalin-Stipendium, das Studium an der Pädagogischen Hochschule ab. Anschließend war er drei Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Tschuwaschischen wissenschaftlichen For-

231

232

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

schungsinstitut für Sprache, Literatur und Geschichte« tätig und beschäftigte sich mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Tschuwaschiens in der Zwischenkriegszeit. Im Jahr 1951 wurde er als Aspirant (Doktorand) am Lehrstuhl für Geschichte der KPdSU an der Moskauer Universität aufgenommen. Es war eine große Leistung, dass der junge Historiker aus der tiefsten Provinz die Aufnahmeprüfung an die prestigereichste Hochschule des Landes schaffte. Wegen einer Erkrankung seiner Frau Lidija, einer Biologie- und Chemielehrerin, die er 1949 geheiratet hatte, unterbrach er das Studium und kehrte nach Čeboksary zurück, um sich um sie und ihren gemeinsamen Sohn zu kümmern. Nach Stalins Tod setzte Dimitriev sein Doktoratsstudium an der Moskauer Universität fort, doch nicht mehr als Parteihistoriker, sondern im Fachbereich »Geschichte des Feudalismus«. Hier unterrichtete damals eine ganze Anzahl hervorragender Historiker, und Dimitriev berichtete gern davon, wie viel er von Koryphäen des Fachs wie Michail Tichomirov und Petr Epifanov gelernt habe. In dieser Zeit erschloss er in den Moskauer Archiven eine Fülle von Quellen, und im Mai 1955 verteidigte er seine Kandidatendissertation zur Geschichte Tschuwaschiens im 18. Jahrhundert. Die vier Jahre später erschienene, über 500 Seiten starke Monographie ist eine umfassende Untersuchung der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte der Region in dieser Epoche und ein Meilenstein der Regionalgeschichte.311 Es stellt sich die Frage, ob der begabte junge Historiker in Moskau hätte Karriere machen können. Aufgrund seiner Fähigkeiten wäre das denkbar gewesen. Er kehrte aber nach Tschuwaschien zurück, wo er bis zu seinem Tod blieb. In Čeboksary nahm er seine Tätigkeit am Tschuwaschischen Forschungsinstitut, der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Institution der Republik, wieder auf, zunächst als stellvertretender Direktor, von 1968 bis 1988 als Direktor. In Moskau hatte Dimitriev eine gründliche Ausbildung in den historischen Hilfswissenschaften genossen, die er dann als erster an der Tschuwaschischen Staatlichen Universität unterrichtete. Dimitrievs Verdienste wurden auch in der Zentrale gewürdigt. Das zeigte sich darin, dass er seit 1968 Mitglied der angesehenen Archäographischen Kommission der sowjetischen (später russländischen) Akademie der Wissenschaften war. Im Jahre 1968 verteidigte er an der Universität Leningrad seine Doktordissertation zur Geschichte Tschuwaschiens in der Periode des Feudalismus, was die Voraussetzung für seine Ernennung zum Professor im Jahre 1970 war. Unter seinen Schülern waren nicht nur Tschuwaschen und Russen, sondern auch Mari, Udmurten, Mordwinen und Baschkiren, die dann in ihren Republiken Karriere machten. Dank der Tätigkeit Dimitrievs wurde Čeboksary zum damals führenden geschichtswissenschaftlichen Zentrum der Wolga-Region.

Der Historiker: Vasilij Dimitriev

Neben zahlreichen Funktionen in der Wissenschaftsorganisation übernahm Dimitriev auch öffentliche Aufgaben. Unter anderem war er von 1970 bis 1991 Mitglied des Gebietskomitees der KPdSU, von 1975 bis 1990, zeitweise als Deputierter seiner Heimatregion, Mitglied des Obersten Sowjets, des Parlaments, der ČASSR, in dem er die Kommission für Bildung, Wissenschaft und Kultur leitete. Vasilij Dimitriev machte eine sowjetische Bilderbuchkarriere. Aus einem kleinen Dorf gelang ihm der Sprung an die Hochschule und bis an die Moskauer Universität. Der Partei hatte er zu verdanken, dass er das Dorf verlassen und in die Welt der Wissenschaft eintreten konnte. Ihr fühlte er sich zu Dank verpflichtet, trat in ihre Reihen ein und engagierte sich gesellschaftlich, um etwas von dem zurückzugeben, was der Bauernbub erhalten hatte. Er nahm gesellschaftliche Funktionen wahr, obwohl sie ihn, wie er im Alter beklagte, von der Wissenschaft abgehalten hätten. Dimitriev war ein loyaler Sowjetbürger. In seinem Lebenslauf von 1955 betonte er eigens, dass es in seiner Familie keine Verurteilten und »Dekulakisierten« gebe. Allerdings wurde die Familie seiner Frau Lidija Šumilova Opfer des Stalinismus. Ihre Onkel waren schon vor der Revolution erfolgreiche Landwirte gewesen, die sich auf den Anbau von Obst und Hopfen spezialisierten. Im Jahre 1930 fielen zwei Mitglieder der Familie der »Liquidierung der Kulaken« zum Opfer. Im Oktober 1937 wurden sie »wegen antisowjetischer Propaganda« zu je zehn Jahren Arbeitslager verurteilt und kamen im Arbeitslager ums Leben. Sie wurden erst 1989 rehabilitiert. Lidija Šumilovas Vater, ein Mittelschullehrer, erlitt das gleiche Schicksal. Er starb 1943 und wurde 1957 rehabilitiert. Schon im Jahr 1990 widmete Dimitriev dem Schicksal der Šumilovs einen Artikel in der Zeitung »Sovetskaja Čuvašija«. Viel später kam er auf das Thema zurück und erinnerte mit Stolz an die tüchtigen Vorfahren seiner Frau, die Opfer des Stalinismus wurden.312 Mit dem Ende der Sowjetunion gab Dimitriev seine öffentlichen Ämter auf und trat aus der Kommunistischen Partei aus. Er stand jedoch der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung und der ungezügelten Marktwirtschaft, die in den 1990er Jahren in Tschuwaschien wie in ganz Russland zur ökonomischen Krise führten, skeptisch gegenüber. In mehreren Briefen, die er mir in seinen beiden letzten Lebensjahren schrieb, beschwor er mich, in meinem Buch die positiven Aspekte der sowjetischen Epoche nicht zu vergessen. Dimitriev war und blieb, wie zahlreiche Vertreter seiner Generation, vom Sowjetsystem geprägt. Nach seinem Rücktritt als Direktor des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts leitete er die Abteilung für Geschichte Russlands an der Staatlichen Tschuwaschischen Universität. Im Jahr 2011 kehrte er an sein altes Institut zurück, das unterdessen in Tschuwaschisches Staatliches Institut für Humanwissenschaften umbenannt worden war. An der 1991 begründeten Akademie der Wissenschaften der Tschuwaschi-

233

234

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

schen Republik hatte er die Funktion des Sekretärs für Geisteswissenschaften inne. Der Schwerpunkt von Dimitrievs ungemein fruchtbarer wissenschaftlicher Tätigkeit war die Geschichte Tschuwaschiens im Rahmen der Geschichte der Wolgaregion von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert.313 Er publizierte dazu einige fundamentale Monographien und zahlreiche, zum Teil umfangreiche Aufsätze, die der Forschung entscheidende Impulse gaben.314 Eine geplante Gesamtdarstellung der Geschichte Tschuwaschiens im 14. bis 17. Jahrhundert blieb unvollendet. Er erschloss in den Archiven eine Vielzahl bisher unbekannter Quellen, die er sorgfältig analysierte und umsichtig interpretierte und damit ein neues Fundament für die historische Erforschung der Region und allgemein der Politik Russlands gegenüber peripheren Regionen und ethnischen Minderheiten schuf. Meine eigenen Arbeiten auf diesem Gebiet bis hin zu diesem Buch verdanken Dimitriev viel. Dimitriev vertrat in sowjetischer Zeit die offizielle These von der »freiwilligen Vereinigung Tschuwaschiens mit Russland«, modifizierte sie später in »friedlichen Eintritt«, hielt aber daran fest, dass die Herrschaft Russlands im Ganzen gesehen eine positive Wirkung auf die wirtschaftliche und ethnische Entwicklung der Tschuwaschen hatte.315 Dabei verschwieg er die negativen Aspekte der Politik Russlands nicht, so die Missbräuche der russischen Verwaltung und die Zwangs­ christianisierung der Tschuwaschen im 18. Jahrhundert. Die Frage erhielt im Jahr 2001 politische Bedeutung, als Präsident Fedorov vorschlug, Feierlichkeiten zum 450-jährigen Jubiläum der Zugehörigkeit Tschuwaschiens zu Russland zu veranstalten. Die Administration des Präsidenten Russlands holte die Meinungen von Experten der Russländischen Akademie der Wissenschaften ein, die Zweifel an der Zweckmäßigkeit einer solchen Feier äußerten, indem sie den friedlichen Charakter des Anschlusses in Frage stellten. Dimitriev verfasste darauf eine ausführliche Entgegnung und schickte sie unter anderem an Vladimir Putin. Dieser unterschrieb zwei Monate später den Erlass zu den Jubiläumsfeierlichkeiten.316 Dimitriev wandte sich auch den mündlichen historischen Überlieferungen der Tschuwaschen zu. Dazu zog er eine Vielzahl publizierter Quellen und im Archiv erhaltene Aufzeichnungen ethnographischer Feldforschung heran. Für die Geschichte von Völkern, die lange schriftlos waren, sind die folkloristischen Quellen besonders wertvoll. Sie sind allerdings auch verfänglich, wenn sie ausgewertet werden, ohne dass der jeweilige historische Kontext berücksichtigt wird. Dimitriev war sich dieser Fallstricke bewusst, beachtete sie aber meines Erachtens in seinen Interpretationen nicht immer streng.317 In seinen späten Jahren wandte er sich vermehrt der Frage der Ethnogenese der Tschuwaschen zu und vertrat mit Vehemenz die wolgabulgarische These. Hatte in der sowjetischen Zeit das Dogma der Völkerfreundschaft die Auseinander-

Der Historiker: Vasilij Dimitriev

Abb. 57 Vasilij Dimitriev in vorgerücktem Alter

setzungen gebremst, so brach nach 1991, wie im 1. Kapitel dargelegt, eine heftige Polemik mit den tatarischen Wissenschaftlern aus, die ihrerseits das Erbe der Wolgabulgaren für sich beanspruchten. Dimitriev engagierte sich mit seiner ganzen Autorität und wurde zum Wortführer der Auseinandersetzung. Er publizierte zahlreiche Studien zu diesem Thema, in denen er die Geschichte der Bulgaren bis in die Antike zurückverfolgte. In seiner Interpretation waren die Tschuwaschen die wahren Erben der Wolgabulgaren und ihrer Vorfahren. Sie wurden seit dem 13. Jahrhundert von den Tataren unterdrückt, zwangsassimiliert oder in die Flucht ans rechte Wolgaufer getrieben. Dimitriev sprach sogar von einem Genozid an den Bulgaren/Tschuwaschen. Nach seiner Auffassung standen die Tschuwaschen nicht im Schatten Russlands, sondern im Schatten der Tataren, ja, die russische Herrschaft befreite die Tschuwaschen von der tatarischen Herrschaft. Die Polemik vergiftete sein Verhältnis zu den tatarischen Kollegen, die er abwertend als »Kazaner historische Schule« bezeichnete. Vasilij Dimitriev war ein Kind seiner Epoche mit all ihren Widersprüchen. Er war Kommunist und loyaler Sowjetbürger und gleichzeitig ein hervorragender, gewissenhafter Historiker, der sich an die wissenschaftlichen Regeln der Quellenkritik hielt. Bis kurz vor seinem Tod arbeitete er unermüdlich weiter und versuchte, wenigstens einige seiner zahlreichen Forschungspläne noch zu verwirklichen. Er vertrat nach dem Ende der Sowjetunion, wie viele seiner Zeitgenossen, verstärkt

235

236

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

nationale Interpretationen, und löste sich dennoch nicht vom sowjetischen Erbe. Er hatte großes Ansehen und Einfluss nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in der Öffentlichkeit der Republik, doch blieb er bescheiden, pflichtbewusst, getragen von seiner Liebe zur Wissenschaft, und er blieb sich selbst treu. So habe ich ihn in Erinnerung. Als ich im Herbst 2011 Tschuwaschien besuchte, traf ich zum letzten Mal mit Vasilij Dimitriev zusammen. Dabei gab ich ihm das Versprechen, ein Buch über die Geschichte der Tschuwaschen zu schreiben. Am 8. Januar 2013 ist Vasilij Dimitriev im Alter von 89 Jahren gestorben. Mein Versprechen habe ich erst jetzt eingelöst. Schlussbemerkung

Vasilij Dimitrievs Leben und Schaffen vom Bauernbub zum hervorragenden Historiker zeigen den Weg, den die Tschuwaschen, die noch am Ende des 19. Jahrhunderts weit überwiegend analphabetische Bauern gewesen waren, in einem guten Jahrhundert zurücklegten. Sie erinnern auch daran, dass die Sowjetmacht nicht nur die traditionelle Wirtschaftsweise und Werteordnung der Bauern zerstörte und die schmale, national bewusste Elite weitgehend eliminierte, sondern dass sie Bauernkindern Chancen zu einer guten Ausbildung und zum sozialen Aufstieg gab. Andere prominente Beispiele dafür sind der Kosmonaut Nikolaev und der Politiker Fedorov. Die Bedingungen für eine Karriere waren Loyalität gegenüber der Metropole und die Übernahme der Sprache und Werte der Herrschenden. Dimitriev war auf seine Weise ein Vertreter der subalternen Eliten, die zwischen Zentrum und Peripherie vermittelten und selber eine hybride Identifikation besaßen. Einerseits sah er sich als Vertreter der sowjetischen und russischen Kultur und Wissenschaft und war deren Zivilisierungsmission verpflichtet, andererseits setzte er sich für die Nationsbildung der Tschuwaschen ein, für ihr Geschichtsbewusstsein, ihre Sprache und ihre Traditionen. Dieses Bemühen fand seinen deutlichsten Niederschlag in seinen Bemühungen, den Anspruch der Tschuwaschen auf das Erbe der Wolgabulgaren wissenschaftlich zu untermauern. Dimitriev stand in der Reihe tschuwaschischer »Aufklärer«, die mit Spiridon Michajlov, Ivan Jakovlev und Nikolaj Nikol’skij begann, denen er nicht zufällig eigene Forschungsarbeiten widmete. Persönlichkeiten wie Gavriil Aljunov und Daniil Ėl’men‘, die sich der herrschenden Ordnung widersetzten und eine politische Emanzipation der Tschuwaschen anstrebten, standen ihm weniger nahe. Er verkörperte den Idealtyp des arbeitsamen, besonnenen, ruhigen, friedfertigen Tschuwaschen. Er hatte aus der Geschichte die Einsicht gewonnen, dass das »friedliche Eintreten der Tschuwaschen« in das Zarenreich vor mehr als 450 Jah-

Schlussbemerkung

ren und die Freundschaft mit dem russischen Volk den Tschuwaschen den Weg zum wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt eröffnet hatte, dass Widerstand dagegen immer scheiterte und mit großen Opfern verbunden war. Gerade die periodisch wiederkehrenden Proteste machen aber deutlich, dass das Bild des »friedlichen Tschuwaschen« nur eine Teilwahrheit ist. Wenn sich die Metropole in ihre inneren Angelegenheiten einmischte und hergebrachte Traditionen in Frage stellte und zerstörte, leisteten die Tschuwaschen heftigen Widerstand. Im Bolotnikov- und Razin-Aufstand protestierten sie gegen den steigenden Druck der Verwaltung, im Pugačev-Aufstand gegen die Zwangschristianisierung, in den Erhebungen von 1841/42 gegen die Einführung der Kartoffel und anderer Neuerungen. Als die Sowjetmacht gewaltsam Getreide eintrieb und ihre traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise zerstörte, reagierten die tschuwaschischen Bauern im Jahr 1921 und während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit heftigem Protest, der in Gewaltexzessen gipfelte. Der spontane Widerstand flammte allerdings in allen Fällen nur kurzfristig auf und wurde rasch niedergeschlagen. Der brutale Terror der Stalinzeit erstickte schließlich den Widerstand endgültig. In den Revolutionen von 1905/6 und 1917/18 unternahmen Vertreter der Eliten den Versuch, eine tschuwaschische Nation als Solidargemeinschaft zu schaffen. Sie blieben jedoch auf halbem Weg stecken. Zu spät waren die analphabetischen tschuwaschischen Bauern mobilisiert worden, zu gering war die Zahl der Gebildeten, zu stark waren die Gegenkräfte. Auch die äußeren Bedingungen, die geopolitische Lage Tschuwaschiens nahe dem Zentrum Russlands, standen einer nationalen Emanzipation entgegen. Zwar weckte die junge Sowjetmacht, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündete und den Tschuwaschen ein nationales Territorium zusprach, noch einmal Hoffnungen. Der brutale Zugriff des Stalinismus machte diese zunichte. Als die Sowjetunion zusammenbrach, war zwar die Tschuwaschische Republik erhalten geblieben, für einen neuen nationalen Aufschwung fehlte jetzt die Basis. Eine Strategie des passiven Widerstands war die Abschottung gegen außen, wie sie die tschuwaschischen Bauern über Jahrhunderte mit Erfolg betrieben. Daran änderten auch die Zwangschristianisierung, die Einnistung russischer Priester im Dorf und die allmähliche Alphabetisierung nichts Entscheidendes. Erst die Sowjetmacht riss den Zaun um das tschuwaschische Dorf nieder und ging daran, die synkretistische Religion und die traditionalen Werte der Tschuwaschen zu zerstören und durch die kommunistische Ideologie zu ersetzen. Dies gelang jedoch nicht vollständig, denn ländliche Traditionen und eine bäuerliche Mentalität sind unter den Tschuwaschen bis heute lebendig geblieben. Auch der tschuwaschische Glaube wurde nicht vollständig zerstört, wie ethnographische Studien und besonders ein-

237

238

8. Kapitel: Die Tschuwaschen im Spiegel von Biographien

drücklich das Werk des Poeten Ajgi zeigten. Ajgi war zudem eines der seltenen Beispiele, wie ein tschuwaschischer Bauernjunge gegen den Strom schwamm und seine geistige Unabhängigkeit vom Sowjetsystem bewahrte. Auf der anderen Seite unterhöhlten die fortschreitende Urbanisierung und die Ausbreitung der europäisch-russischen Bildung die traditionellen Werte und den Zusammenhalt der Tschuwaschen zusehends. Die tschuwaschische Sprache, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts normiert worden war und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in zahlreichen literarischen Werken ihren Ausdruck fand, geriet seit den 1930er und besonders seit den 1950er Jahren unter starken Druck und erlebte einen Niedergang, der sich nach dem Ende der Sowjetherrschaft fortsetzte. Die Asymmetrie zu den Russen und ihrer Sprache und Kultur verstärkte sich wieder. Trotz der offiziellen Gleichrangigkeit wurden die Tschuwaschen nicht zu einer Nation, die von den Russen als vollwertig anerkannt worden wäre, wie dies etwa den Esten, Armeniern und Tataren gelang. Die Tschuwaschen blieben im Schatten Russlands und der Russen. Zahlreiche Tschuwaschen verinnerlichten und akzeptierten ihre Subalternität und verloren ihre eigene Sprache nicht nur äußerlich, sondern auch in einem übertragenen Sinn. Die Situation der Tschuwaschen glich in manchen Zügen derjenigen der russischen Bauern. Auch diese standen unter dem Druck der Obrigkeit und die Leibeigenen unter ihnen zusätzlich des Adels. Sie waren von der Zwangsrequisition der Lebensmittel durch die Sowjetmacht und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft, die auch das russische Dorf weitgehend zerstörte, ebenso betroffen. Auch die russischen Bauern protestierten heftig gegen Ausbeutung und Unterdrückung, von den Volksaufständen des 17. und 18. Jahrhunderts über die Erhebungen der Jahre 1919–1921 bis zum Widerstand gegen die Kollektivierung. Auch das russische Dorf wurde von der Metropole ausgebeutet, vernachlässigt und marginalisiert. Manches spricht dafür, das russische wie das tschuwaschische Dorf als »innere Kolonien« zu verstehen. Für die Tschuwaschen kam die ethnisch-religiöse Diskriminierung hinzu, gipfelnd im Angriff auf die traditionale Religion und in der sprachlichen Russifizierung. Als kulturell fremde Minderheit waren sie der Zentralmacht und der Willkür ihrer Vertreter vor Ort noch stärker ausgeliefert als die russischen Bauern. Die Eliten, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts formierten, wurden im Terror der 1930er Jahre zu einem bedeutenden Teil ausgelöscht, was sich angesichts ihrer zahlenmäßigen Schwäche gravierender auswirkte als bei den Russen. Im Gegensatz zu diesen stand und steht ihre Existenz als eigenständige ethno-soziale Gemeinschaft auf dem Spiel.

Schlussbemerkung

Die Tschuwaschen sind heute eine marginalisierte Minderheit an der Peripherie des großen Russlands. Ihre Sprache und ihr ethnischer Zusammenhalt sind bedroht. Zur Erhaltung und Förderung des Nationalbewusstseins ist deshalb die kollektive Erinnerung von besonderer Bedeutung. Es gibt heute eine ganze Anzahl historischer Gesellschaften, die sich mit der Landeskunde und Geschichte Tschuwaschiens und der Erhaltung historischer Denkmäler beschäftigen. Zusammen mit den zahlreichen gut ausgebildeten und aktiven Historikerinnen und Historikern widmen sie sich der Aufgabe, das kulturelle Gedächtnis der Tschuwaschen zu bewahren und zu stärken. Einen kleinen Beitrag dazu kann vielleicht auch dieses Buch leisten, indem es die Stimme der Tschuwaschen über die Grenzen Russlands hinaus trägt, sie aus dem Schatten der Geschichte heraustreten lässt und auf der kognitiven Landkarte Europas verortet.

239

240

Anmerkungen

Die Titel werden bei der ersten Erwähnung vollständig, dann abgekürzt (Autor und Erscheinungsjahr) zitiert. Sind Titel im Internet verfügbar, wird der Link nur im Literaturverzeichnis angeführt. Č. = Čeboksary 1 Vgl., auch zum Folgenden, Čuvašskaja respublika. Sociokul’turnyj portret. Č. 2011; Wikipedia deutsch; Wikipedia russ. (Artikel Tschuwaschien). 2 Ulrich Hofmeister: Die Bürde des »weißen Zaren«. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien. Ungedr. Diss. Wien 2014. 3 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, Berlin 2008. Vgl. allgemein: Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. Aufl. Bielefeld 2015. 4 Gerhard Simon: Waren die Republiken der Sowjetunion Kolonien? In: Guido Hausmann, Angela Rustemeyer (Hg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler. Wiesbaden 2009, S. 105–122. Vgl. allg. Jürgen Osterhammel, Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 7. Aufl. München 2013. 5 Vgl. Aleksandr Ėtkind: Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience. Cambridge u.a. 2011. 6 Vgl. Ilya Gerasimov, Sergey Glebov, Marina Mogilner: The Postimperial Meets the Postcolonial: Russian Historical Experience and the Postcolonial Moment, in: Ab Imperio 2013, 2, S. 97–135. 7 Andreas Kappeler: Russlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der Mittleren Wolga vom 16. bis 19. Jahrhundert. Köln 1982. 8 Ders.: Die Geschichte der Völker der Mittleren Wolga (vom 10. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) in der sowjetischen Forschung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), S. 70–104, 222–257. 9 Ich kürze deshalb in den Literaturangaben Čeboksary mit Č. ab. 10 Ich nenne hier bis auf wenige Ausnahmen nur Autorennamen und verweise für die Titel ihrer Werke auf das Literaturverzeichnis. 11 Istorija Čuvašii novejšego vremeni. Bd. 1–2. Č. 2001, 2009. 12 Čuvaši. Istorija i kultura. Istoriko-ėtnografičeskoe issledovanie. Bd. 1-2. Č. 2009.

242

Anmerkungen

13 Čuvašskaja ėnciklopedija. 14 Johannes Benzing: Bolgarisch-tschuwaschische Studien, hg. von Claus Schönig. Wiesbaden 1993; John R. Krueger: Chuvash Manual. Introduction, Grammar, Reader and Vocabulary. The Hague 1961, reprint London 1997 (mit einer landeskundlichen Einführung); Djula Mesaroš: Sbornik čuvašskogo fol’klora. Pamjatniki staroj čuvaškoj very. Č. 2000 (Übers der ungar. Ausgabe Budapest 1909); Heikki Paasonen (Hg.): Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwaschen. Helsinki 1949; András Róna-Tas (Hg.): Chuvash Studies. Wiesbaden 1982; László Vikár, Gábor Berecki: Chuvash Folksongs. Budapest 1977. 15 Angelika Landmann: Tschuwaschisch. Kurzgrammatik. Wiesbaden 2014. 16 Philipp Johann von Strahlenberg: Das Nord- und das Östliche Theil von Europa und Asia, In so weit solches Das gantze Rußische Reich mit Siberien und der großen Tatarey in sich begreiffet... Stockholm 1730, Tabelle zwischen S. 136 und 137. 17 J.H von Klaproth: Comparaison de la langue des Tchouvaches avec les idiomes turks, in: Nouveau Journal Asiatique. Sér. 2, vol. 1, Paris 1828, S. 237–248. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. Ekrem Čaušević: Tschuwaschisch, in: M. Okuka (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt 2002; L.V. Clark: Chuvash, in: The Encyclopedia of Language and Linguistics. Bd. 2. Oxford u.a. 1994. 18 De lingua Tschuwaschorum dissertatio Guilelmus Schott. Berlin s.a. (1841). 19 Henning Bauer, Andreas Kappeler, Brigitte Roth (Hg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. Bd. B. Stuttgart 1991, S. 246. 20 Vgl., auch zum Folgenden, Benzing 1993. 21 I. Fodor: On Magyar-Bulgar-Turkish Contacts, in: Róna-Tas (Hg.) 1982, S. 45–81; A. Róna-Tas: The Periodization and Sources of Chuvash Linguistic History, in: ebda., S. 113–170. 22 Zur Geschichte Wolgabulgariens vgl. R.G. Fachrutdinov: Očerki po istorii Volžskoj Bulgarii. Moskva 1984; F.Š. Chuzin: Volžskaja Bulgarija v domongol’skoe vremja (X – načalo XIII vekov). Kazan‘ 1997. 23 A. Zeki Validi Togan: Ibn-Fadlān’s Reisebericht. Leipzig 1939, Neudruck Frankfurt a.M. 1994; Richard N. Frye (Hg.): Ibn-Fadlān’s Journey to Russia. A Tenth Century Traveler from Baghdad to the Volga River. Princeton 2005. 24 V.N.Tatiščev: Istorija Rossijskaja. Bd. 1. Moskva 1962, S. 252; Bd. 4. 1964, S. 411. 25 I. Ašmarin: Bolgary i čuvaši. Kazan’ 1902, Nachdruck Č. 2012. 26 Slovar‘ čuvašskogo jazyka. Thesaurus linguae Tschuvaschorum. Bd. 1–17. Kazan‘, Č. 1910–1950. Vgl. den entsprechenden Eintrag in: Wikipedia russ. 27 Allen J. Frank: Islamic Historiography and ‚Bulghar’ Identity among the Tatars and Bashkirs of Russia. Leiden u.a. 1998. 28 Kappeler 1982, S. 462, 477.

Anmerkungen

29 Diljara Usmanova: Musul‘manskoe »sektantstvo« v Rossijskoj imperii: »Vaisovskij Božij polk staroverov musul‘man« 1862–1916 gg. Kazan‘ 2009. 30 Vgl. schon Kappeler 1982, S. 84–87, mit Literatur- und Quellenbelegen; ders: Kak klassificirovali russkie istočniki XVI-serediny XIX vv. ėtnoreligioznye gruppy VolgoUral’skogo regiona? in: Ispovedi v zerkale. Mežkonfessional’nye otnošenija v centre Evrazii (na primere Volgo-Ural’skogo regiona XVII–XXI vv.). Nižnij Novgorod 2012, S. 13–39; S.V. Ochotnikova: »Jasačnye čuvaši«. Nekotorye itogi i zadači izučenija. Doklad na naučnoj sessii Čuvašskogo gosudarstvennogo instituta gumanitarnych nauk po itogam rabote 2014 g. Č. 2014. 31 Für den älteren Forschungsstand vgl. Andreas Kappeler: L’ethnogénèse des peuples de la Moyenne-Volga dans les recherches soviétiques, in: Cahiers du monde russe et soviétique 17 (1976), S. 311–334. Neuere Studien: Bolgary i čuvaši. Č. 1984; Victor A. Shnirelman: A Fighting for the Volga Bulgars’ Legacy: the Kazan Tatar-Chuvash Controversy, in: Ethnologia Polona 19 (1996), S. 103–118; ders.: Who Gets the Past? Competition for Ancestors among non-Russian Intellectuals in Russia. Washington D.C., Baltimore 1996; Frank 1998, S. 178–185; Tomochiko Ujama: Ot »bulgarizma« čerez »marrizm« k nacionalističeskim mifam: Diskursy o tatarskom, čuvašskom i baškirskom ėtnogeneze, in: Novaja volna v izučenii ėtnopolitičeskoj istorii VolgoUral’skogo regiona. Sbornik statej. Sapporo 2003, S. 16–51; V.D. Dimitriev: Voprosy ėtnogeneza, ėtnografii i istorii ku’ltury čuvašskogo naroda. Sbornik statej. Č. 2004. 32 Vgl. Victor A. Shnirelman: Politics of Ethnogenesis in the USSR and after, in: Bulletin of the National Museum of Ethnology 30(1) (2005), S. 93–119. 33 V.F. Kachovskij: Proischoždenie čuvašskogo naroda. Osnovnye ėtapy ėtničeskoj istorii. Č. 1965. 3. Aufl. 2003. 34 Bolgary 1984. 35 Dimitriev 2004. 36 Čuvaši 2009, Bd. 1, S. 24–65. 37 Istoriia tatar s drevnejšich vremen. Bd. 2. Volžskaja Bolgarija i Velikaja step’. Kazan’ 2006, besonders S. 7–20, 621–628, 631–658. 38 http://bgru.info/2012/10/29. (30.12. 2015) 39 Vgl. allg. Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. 4. Aufl. München 2008. 40 Sigismund Freyherr zu Herberstein. Moscovia. Wien 1557, in: Ders.: Zapiski o Moskovii. Bd. 1. M. 2008, S. 406. 41 Zu Jenkinson und seiner Karte siehe Wikipedia deutsch. 42 M.V. Griškina (Hg.): Novye gramoty arskim knjaz’jam na Vjatke, in: Sovetskie Archivy 1989, 4, S. 67–71. 43 PSRL 8, S. 270–271; PSRL 13, S. 44.

243

244

Anmerkungen

44 Prodolženie drevnej rossijskoj vivliofiki. Bd. 8. Sanktpeterburg 1793, S. 141–147. 45 A.A. Zimin (Hg.): Kratkie letopiscy XV–XVII vv., in: Istoričeskij Archiv Bd. 5 (1950), S. 13. 46 PSRL 29, S. 62f. 47 Vgl. Kappeler 1982, S. 57f. 48 J.L.I. Fennell (Hg.): Prince A.M. Kurbsky’s History of Ivan IV. Cambridge 1965, S. 30f. 49 PSRL Bd. 29; Bd. 13. 50 Razrjadnaja Kniga 1475–1598 gg. Moskva 1966; Fennell (Hg.) 1965; G.N. Moiseeva (Hg.): Kazanskaja istorija. Moskva-Leningrad 1954; deutsche Übersetzung: Frank Kämpfer (Hg.): Historie vom Zartum Kasan. (Kasaner Chronist). Graz 1969. 51 Ich verzichte darauf, die einzelnen Quellen zu den folgenden Ereignissen anzuführen, sondern verweise auf die Angaben in: Kappeler 1982, S. 68–94; V.D. Dimitriev: Mirnoe prisoedinenie Čuvašii k Rossijskomu gosudarstvu. Č. 2001. Die neuere Studie von Matthew P. Romaniello: The Elusive Empire. Kazan and the Creation of Russia. Madison 2012, konzentriert sich auf die Moskauer Politik. 52 PSRL 13, S. 164f. 53 PSRL 29, S. 62. 54 V.D. Dimitriev: Čuvašskie istoričeskie predanija. Očerki istorii čuvašskogo naroda s drevnejšich vremen do serediny XIX veka. 2. Aufl. Č. 1993. 55 Vgl. V.D. Dimitriev: Naveki s russkim narodom. K 425-letiju dobrovol’nogo vchoždenija Čuvašii v sostav Russkogo gosudarstva. Č. 1976. 56 Vgl. Kappeler 1982, S. 74, Anm. 19. 57 Vgl. Dimitriev 2001, S. 11, 104, 113. Die Arbeiten Izorkins waren mir nicht zugänglich; die meisten erschienen in tschuwaschischer Sprache. 58 Dimitriev 2001. 59 Zum Folgenden vgl. Kappeler 1982, S. 198–243; Čuvaši 2009, Bd. 1. 60 Herberstein 1557 (2008), S. 282. 61 Bauer u.a. (Hg.) Bd. B, 1991, S. 141–152. 62 Zum Folgenden Čuvaši 2009, Bd. 2. 63 Zum Folgenden Čuvaši 2009, Bd. 2, S. 73–110; A.K. Salmin: Sistema religii čuvašej. 2007; ders: Tradicionnye obrjady i verovanija čuvašej. St. Peterburg 2010; E.A. Jagafova: Čuvašskoe « jazyčestvo » v XVIII – načale XXI veka. Samara 2007; Masanori Goto: Metamorphosis of Gods: A Historical Study on the Traditional Religion of the Chuvash, in: Acta Slavica Iaponica 24 (2007), S. 144–165; Gennady Aygi (Hg.): An Anthology of Chuvash Poetry. London, Boston 1991, S. XVI–XIX. Vgl. auch schon: Paasonen (Hg.) 1949. 64 Salmin 2007, S. 15–18; Goto 2007. 65 Aygi (Hg.) 1991, S. 8–11.

Anmerkungen

66 Dieses Kapitel basiert auf meiner Darstellung in Kappeler 1982, S. 94–243. Vgl. auch Romaniello 2012. 67 Kappeler 1982, S. 160–162 (mit Belegen). 68 Ebda., S. 164, 188 (mit Belegen). 69 Akty feodal’nogo zemlevladenija i chozjajstva. Bd. 3. M. 1961, S. 40–42, 51–62. 70 Zum Folgenden vgl. Kappeler 1982, S. 148–158. Zum Bolotnikov-Aufstand vgl. Martin Krispin: Der Bolotnikov–Aufstand 1606–1607, in: Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Volksaufstände in Russland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65), S. 27–67. 71 V.D. Dimitriev: Krest’janskaja vojna načala XVII veka na territorii Čuvašii, in: Ders.: Čuvašija v ėpochu feodalizma (XVI – načalo XIX vv.). Č. 1986, S. 124–179; ders.:Vosstanie jasačnych ljudej Srednego Povolž’ja i Priural’ja 1615–1616 godov, in: Ders. 1986, S. 219–229. 72 Dimitriev 1986, S. 136. 73 Dimitriev 1986, S. 105. 74 Kappeler 1982, S. 154f. 75 Zum Folgenden vgl. Kappeler 1982, S. 178–187. Die meisten Quellen in: Krest’janskaja vojna pod predvoditel’stvom Stepana Razina. Sbornik dokumentov. Bd. 1–4. Moskva 1954–1976. Einen allgemeinen Überblick über den Aufstand geben Stefan Schleuning und Ralph Tuchtenhagen: Der Kosaken-Aufstand unter Stepan Razin 1667–1671, in: Löwe (Hg.) 2006, S. 131–162. 76 Krest’janskaja vojna Bd. 2 (1) 1957, S. 61f. 77 Ebda., S. 241–245, 279–282. 78 Ebda., S. 515–518. 79 Ebda., S. 398f. 80 I.T. Posoškov: Zaveščanie otečeskoe. St. Peterburg 1893, S. 320–328. Vgl. allg. Hans-Heinrich Nolte: Religiöse Toleranz in Russland 1600–1725. Göttingen 1969. 81 Vgl. Kappeler 2008; Hofmeister 2014. 82 Vgl. Kappeler 1982, S. 245–259. 83 Ebda., S. 328–331; Ivanov 2005, S. 128f. 84 Zum Folgenden Kappeler 1982, S. 270–287; N.V. Nikol’skij: Christianstvo sredi čuvaš Srednego Povolž’ja XVI–XVIII vv. Istoričeskij očerk. Kazan´ 1912, S. 88–111. 85 V.D. Dimitriev: Istorija Čuvašii 18 veka (do krest’janskoj vojny 1773–1775 godov). Č. 1959, S. 347. 86 Ebda. S. 377. 87 Nikol’skij 1912, S. 134–138. 88 Ėtnokonfessional’nye men’šinstva narodov Uralo-Povolž’ja. Monografija. Samara 2010, S. 17f.

245

246

Anmerkungen

89 Nikol’skij 1912, S. 137–144, Zitat S. 141. 90 Kappeler 1982, S. 300–307. Die Quellen in: Krest’janskaja vojna pod predvoditelstvom Emel’jana Pugačeva v Čuvašii. Sbornik dokumentov. Ceboksary 1972, S. 68–98; Nr. 35–47. 91 Vgl. allg. Dorothea Peters: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugačev (1773–1775). Berlin 1973 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 17); Kappeler 1982, S. 307–321, auch zum Folgenden. 92 Krest’janskaja vojna 1972, S. 198; Dimitriev 1959, S. 397. 93 Kappeler 1982, S. 316. 94 Krest’janskaja vojna 1972, S. 221, 214f. 95 Ebda., S. 307f. 96 Ebda., S. 234f. 97 Ebda., Nr. 198, 206, 210, 223. 98 Ebda., S. 240–250. 99 Zum Folgenden Kappeler 1982, S. 322–331, 413–437; Ivanov 2005, S. 121–195; E.A. Jagafova: Čuvaši Uralo-Povolž’ja: Istorija i tradicionnaja kul’tura ėtnoterritorialnych grupp (XVII – nač. XX v.). Č. 2007, S. 174–229, 436–439; Čuvaši 2009, Bd. 1, S. 91–97, 180–188. 100 Ich gebe hier die Verwaltungseinheiten an, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschaffen wurden. 101 Jagafova 2007, S. 436–439. 102 Marcus Köhler: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert. Göttingen 2012. 103 Gerhard Friedrich Müller: Nachricht von dreyen im Gebiete der Stadt Casan, wohnhaften Heidnischen Völkern. Den Tscheremissen, Tschuwaschen, und Wotiacken. St. Peterburg 1759, S. 305–412, = Sammlung Rußischer Geschichte. Bd. 3, 4. Stück. 104 D. Johann Georg Gmelin, der Chemie und Kräuterwissenschafft auf der hohen Schule zu Tübingen öffentlichen Lehrers Reise durch Sibirien, von den Jahren 1733 bis 1743. Bd. 1. Göttingen 1751. 105 Peter Rytschkow: Orenburgische Topographie oder umständliche Beschreibung des Orenburger Gouvernements. 1. Teil Riga 1772; Topografija Orenburgskaja Bd. 1. St. Peterburg 1762. 106 Peter Simon Pallas: Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs. Bd. 1–3. St. Petersburg 1771–1801; Herrn Iwan Lepechin, der Arztneykunst Doktor und der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg Adjunktus, Tagebuch der Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches. Altenburg. Bd. 1. 1774; russ. Original 1771; Herrn Nikolaus Rytschkow kaiserl. Russischen Capitains Tagebuch über seine Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs in den Jahren 1769,

Anmerkungen

1770 und 1771. Riga 1774; russ. Original 1770–1771; J.P. Falck: Beiträge zur Topographischen Kenntnisz des Russisches Reichs. 1768–1773. Bd.1. S.-Peterburg 1785. 107 Johann Gottlieb Georgi: Bemerkungen einer Reise im Russischen Reich im Jahre 1772. Bd. 1–2. St. Peterburg 1775; ders.: Beschreibung aller Nationen des Russischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidung und übrigen Merckwürdigkeiten. Bd. 1–4. St. Peterburg 1776–1780. 108 Wieland Hintzsche (Hg.): Dokumente zur 2. Kamčatkaexpedition. Bd. 2. 1730–1733: Akademiegruppe. Halle 2004, S. 145–149, XXXIV. 109 Gudrun Bucher: »Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völker«. Die Instruktionen Gerhard Friedrich Müllers und ihre Bedeutung für die Entstehung der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2001; Han F. Vermeulen: Von der Völker-Beschreibung zur Völkerkunde. Ethnologische Ansichten Gerhard Friedrich Müllers und August Ludwig Schlözers, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 7. Köln u.a. 2008, S. 781–799. Vgl. auch Peter Hoffmann: Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Historiker, Geograph, Archivar im Dienste Russlands. Frankfurt a.M. u.a. 2005; Köhler 2012, S. 97–114. 110 Adam Olearii Ausführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien… 3. Aufl. Schleswig 1663, S. 343–345. 111 Strahlenberg 1730, S. 188, 347. 112 Gmelin 1751, S. 43–47; Hintzsche (Hg.) 2004, S. 783–785. 113 Hintzsche (Hg.) 2004, S. 682f., 785. 114 Ebda. S. 748–750,784–791. 115 Müller 1759, S. 305, Anm.* 116 Ebda. 1759, S. 333. 117 Peter Rytschkow 1772, S. 151; P. Ryčkov, Bd. 1. 1762, S. 187–189. 118 Falck Bd. 1, 1785, S. 144–146. 119 Georgi, Beschreibung Bd. 1, 1776. Vgl. dazu Köhler 2012, S. 167–203. 120 Georgi, Bemerkungen Bd. 2, 1775, S. 839f. 121 Pallas Bd. 1, 1771, S. 85–93. 122 Ebda., S. 96. 123 Georgi, Bemerkungen Bd. 2, 1775, S. 823; ders.: Beschreibung Bd. 1, 1776, S. 38, 28f. 124 Lepechin 1774, S. 84; Pallas Bd. 1, 1771, S. 88. 125 Gmelin 1751, S. 48; Georgi, Beschreibung Bd. 1, 1776, S. 38. Vgl. Ivanov 2005, S. 146; Kappeler 1982, S. 330, 417. 126 Lepechin 1774, S. 83. 127 Gmelin 1751, S. 47. 128 Georgi, Beschreibung Bd. 1, 1776, S. 38f.; ders., Bemerkungen Bd. 2, 1775, S. 850; Gmelin 1751, S. 98f.

247

248

Anmerkungen

129 Pallas Bd. 1, 1771, S. 87f. 130 Lepechin 1774, S. 99. 131 Vgl. ders., S. 103f. 132 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 42. 133 Lepechin 1774, S. 105; Rytschkow, Nikolaus 1774, S. 151. 134 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 42. 135 Ebda., S. 38. 136 Georgi, Bemerkungen, Bd. 2, 1775, S. 850. 137 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 43. 138 Ebda., S. 43. 139 Ebda., S. 34f. 140 Ebda., S. 42; Rytschkow, Nikolaus 1774, S. 151. 141 Lepechin 1774, S. 100. 142 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 44, 45. 143 Ebda., S. 44f.; ders., Bemerkungen, Bd. 2, 1775, S. 856. 144 Lepechin 1774, S. 100f. 145 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 44. 146 Lepechin 1774, S. 103. 147 Georgi, Beschreibung, Bd. 1, 1776, S. 45; Rytschkow, Nikolaus 1774, S. 82. 148 Gmelin 1751, S. 72f. 149 Falck 1785, Bd. 1, S. 145f. 150 G.N. Ivanov-Orkov: Izobrazitel‘nye materialy po čuvašskomu narodnomu kostjumu (grafika i živopis’XVIII-nač. XIX vv.), in: Materialy po ėtnografii i antropologii čuvašej. Sbornik naučnych trudov. Č. 1997, S. 88–117. 151 Aleksandra Fuks: Zapiski o čuvašach i čeremisach Kazanskoj gubernii, Kazan’ 1840. 152 Vasilij Sboev: Zametki o čuvašach. Issledovanie ob inorodcach Kazanskoj gubernii. Kazan‘ 1856, Reprint Č. 2004; ders.: Čuvaši v bytovom, istor. i relig. otnošenijach. Ich proischoždenie, jazyk, obrjady, pověr›ja, predanija i pr. Moskva 1865. 153 Čuvašskaja Ėnciklopedija. 154 Zum Folgenden vgl. Kappeler 1982, S. 368–508; Istorija Čuvašskoj ASSR Bd. 1, 1966, S. 116–215. 155 Vgl., auch zum Folgenden: L.A. Tajmasov: Christianizacija čuvašskogo naroda v pervoj polovine XIX veka. Č. 1992; ders.: Pravoslavnaja cerkov‘ i christianskoe prosveščenie narodov Srednego Povolž’ja vo vtoroj polovine XIX veka. Č. 2004; Paul W. Werth: At the Margins of Orthodoxy: Mission, Governance, and Confessional Politics in Russia’s Volga-Kama region, 1827–1905. Ithaca, London 2002. 156 Kappeler 1982, S. 405. 157 Bauer u.a. (Hg.) Bd. B, 1991, S. 78.

Anmerkungen

158 Vgl. dazu E.A. Jagafova: Čuvaši-musul’mane v XVIII – načale XXI veka. Samara 2009. 159 Bauer u.a. (Hg.) Bd. B, 1991, S. 69–71, 277–279. 160 V.V. Orlov: Delovaja ėlita Čuvašii v konce XIX – načale XX v., in: Predprinimatel’stvo Povolž’ja: istoki, tradicii, problemy i tendencii razvitija. Č. 1998, S. 188–212; Čuvašskaja Ėnciklopedija. 161 Bauer u.a. (Hg.) Bd. B, 1991, S. 305, 327, 356, 371. 162 Ebda., S. 305. 163 Kappeler 1982, S. 397–400 (mit Belegen). Quellensammlung: Vosstanie čuvašskogo krest’janstva v 1842 g. Sbornik archivnych dokumentov. Č. 1942. Vgl. allg. Alexander Moutchnik: Soziale und wirtschaftliche Grundzüge der Kartoffelaufstände von 1834 und von 1841–1843 in Russland, in: Löwe (Hg.) 2006, S. 427–451. 164 Kappeler 1982, S. 398. 165 Istorija Čuvašskoj ASSR Bd. 1, S. 188–208. 166 Zum Folgenden vgl. Wayne Dowler: Classroom and Empire. The Politics of Schooling Russia’s Eastern Nationalities 1860–1917. Montreal u.a. 2001; Robert P. Geraci: Window on the East. National and Imperial Identities in Late Tsarist Russia. Ithaca, London 2001; Werth 2002, S. 224–235; V.N. Klement’ev: Istorija nacional’noj gosudarstvennosti čuvašskogo naroda. Bd. 1. Istoki gosudarstvennosti čuvašej. Č. 2014, S. 69–155. 167 N.G. Krasnov: Ivan Jakovlev i ego potomki. 2. Aufl. Čeboksary 2007, S. 365–367. 168 Bauer u.a. (Hg.) Bd. B, 1991, S. 232, 247. 169 Ivanov 2005, S. 123f. 170 V.D. Dimitriev: Vostokoved N. Ja. Bičurin i Čuvašija. Č. 2002. 171 Ė. F. Kuznecova: Architektor Petr Egorov. Č. 2003. 172 Spiridon Michajlov: Sobranie sočinenij. Avtobiografija, stat’i i korrespondencii, publikacija dokumentov, očerki i rasskazy, fol’klornye zapisi, pis’ma. Č. 2004, S. 35–41, 50–57. Vgl. V.D. Dimitriev: O čuvašskom učenom i pisatele serediny XIX veka S.M. Michajlove i ego sočinenijach o čuvašach, marijcach i russkich Volžsko-Surskogo kraja. Č. 2003. 173 Michajlov 2004, S. 91–110. 174 S.M. Michajlov: Čuvašskie razgovory i skazki. Kazan’ 1853. 175 Michajlov 2004, S. 67–91. 176 Avtobiografija, in: Michajlov 2004, S. 24–34, hier S. 25. 177 Ebda. S. 27. 178 Ebda. S. 31. 179 Michajlov 2004, S. 416. 180 Ebda. S. 437.

249

250

Anmerkungen

181 Ebda., S. 33. 182 Ebda., S. 421, 425. 183 Vydajuščiesja ljudi Čuvašii. Bd. 1. Č. 2002, S. 61f. Zu Jakovlev: I.Ja. Jakovlev Vospominanija. 2. Aufl. Č.1983; V.D. Dimitriev: Prosvetitel‘ čuvašskogo naroda I.Ja. Jakovlev. Č. 2002; Krasnov 2007. 184 Krasnov 2007, S. 453. 185 Ebda., S. 466. 186 Dimitriev 2002, S. 13. 187 Text in: Krasnov 2007, S. 446f. 188 A.V. Izorkin: Ėtap zaroždenija i razvitija idei samoopredelenija čuvašskogo naroda, in: Problemy nacional’nogo v razvitii čuvašskogo naroda. Sbornik statej. Č. 1999, S. 12. 189 V.D. Dimitriev, A.P. Leont’ev, G.B. Matveev: N.V. Nikol’skij – čuvašskij učenyj, prosvetitel‘, obščestvennyj dejatel‘. Č. 2011. Die gesammelten Werke Nikol’skijs sind in 4 Bänden erschienen. Nikolaj Vasil’evič Nikol’skij: Sobranie sočinenij. Bd. 1–4. Č. 2004– 2009. 190 Verhörprotokolle in: A.P. Leont’ev: »Chypar«: minuvšee i nastojaščee. Fakty, sobytija, ličnosti, sud’by. Č. 2011, S. 460–472. 191 Vgl. G.A. Aleksandrov: Čuvašskie intelligenty. Biografii i sud’by. Čeboksary 2002, S. 138–171; Leont’ev 2011, S. 227–258; Čuvašskaja Ėnciklopedija; Wikipedia russ. 192 Wikipedia russ.; Leont’ev 2011, S. 398–426; M.I. Ivanov: D.S. Ėl’men‘ – čuvašskij obščestvennyj i gosudarstvennyj dejatel‘, žurnalist i publicist (1885–1932 gg.). Avtoref. diss. na soisk. uč. step. kand. istoričeskich nauk. Č. 2010; ders.: Obščestvenno-političeskaja i publicističeskaja dejatel’nost‘ D. Ėl’menja‘, in: Vestnik Čuvašskogo universiteta 2009, 1. 193 Čuvašskaja Ėnciklopedija; Wikipedia russ.; V.P. Stan’jal: Ivanov, Konstantin Vasil’evič (1890–1915). 194 Deutsche Übersetzung auf: http://gov.cap.ru/hierarhy_cap.asp?page=./129/192/1080. (8.1. 2016) 195 Vgl. zum Folgenden Klement’ev 2014, S. 156–178; S.V. Ščerbakov: Nacional’noe samoopredelenie čuvašskogo naroda v načale XX veka: Ideologičeskij aspekt. Č. 2013. 196 Leont’ev 2011, S. 23–102; Dimitriev, Leont’ev, Matveev 2011, S. 54–97. 197 Leont’ev 2011, S. 30. 198 G.A. Aleksandrov: S.N. Nikolaev: štrichi biografii sekretarja Komuča, in: Ličnost’, obščestvo, vlast’ v istorii Čuvašii: XX vek. Č. 2007, S. 42–69; ders.: Čuvašskaja intelligencija v gody pervoj russkoj revoljucii, in: Voprosy istorii 2009, 1, S. 142–147. 199 Čuvašskaja Ėnciklopedija; Ju.V. Gusarov: Obščestvenno-političeskie dejateli Čuvašii načala XX veka A.F. i P.A. Fedorovy, in: Ličnost’ 2007, S. 5–41; R.A. Ciunčuk: Dumskaja model’ parlamentarizma v Rossijskoi imperii: Ėtnokonfessional’noe i regionalnoe izmerenija. Kazan’ 2004, S. 412f.

Anmerkungen

200 Vgl., auch zum Folgenden, Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 13–41; Klement’ev 2014, S. 178–288. 201 Sovetskaja derevnja glazami UČK-NKVD. Dokumenty i materialy. Bd. 1, 1918-1922. Moskva 1998, S. 59. 202 Aleksandrov 2007. 203 Vitalij Ivanov, Vladimir Klement’ev: Obrazovanie čuvašskoj avtonomii. Predposylki, proekty, ėtapy. Č. 2010, S. 23–32; Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 35–41; Leont’ev 2011, S. 114–141; Oliver H. Radkey: Russia Goes to the Polls. The Election to the All-Russian Constituent Assembly 1917. Ithaca-London 2. Aufl. 1977 (reprint 1990), S. 22, 29, 148f. 204 Dazu und zum Folgenden Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 41–73; Klement’ev 2014, S. 215–314; Ščerbakov 2013, S. 94–127. 205 Wikipedia russ.; Čuvašskaja Ėnciklopedija. 206 Orlando Figes: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917– 1921). Oxford 1989, S. 210–219; V.V. Orlov: Krest’janskoe vosstanie v Čuvašii v 1921 g. Pričiny i posledstvija, in: Otečestvennaja Istorija 2008, 5, S. 165–171. 207 Figes 1989, S. 322–351; Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891–1924. Berlin 1998, S. 652–658, 794–800. 208 Sovetskaja derevnja Bd. 1. 1998, S.124f., 128, 159, 173, 199f., 206f., 210, 214f . Vgl. auch zum Folgenden E.V. Kasimov (Hg.): Krest’janstvo Čuvašii v pervye gody sovetskoj vlasti (nojabr‘ 1917–1920 g.). Sbornik dokumentov. Č. 2014. 209 Sovetskaja derevnja Bd. 1, 1998, S. 318f., 270. 210 Zum Aufstand vom Januar 1921 vgl. die Quellenedition von E.V. Kasimov (Hg.): Krest‘janskoe vosstanie 1921 goda v Čuvašii. Sbornik dokumentov. Č. 2009, Vorwort des Herausgebers S. 3–20, sowie Orlov, Krest’janskoe vosstanie 2008. 211 Kasimov (Hg.) 2009, S. 50, 58f., 137–143, 251–254. 212 Ebda., S. 79, 126. 213 Ebda., S. S. 79. 214 Ebda., S. 12, 119, 138. 215 Ebda., S. 6f., 84f. 216 Ebda., S. 8f., 222f. 217 Vgl., auch zum Folgenden, V.V. Orlov: Golod 1920-ch godov v Čuvašii: Pričiny i posledstvija, in: Otečestvennaja Istorija 2008, 1, S. 106–117; ders.: Ėtnopolitičeskie i social’no-ėkonomičeskie aspekty razvitija Čuvašii v 20-gody XX v. M. 2009, S. 328–364; F.N. Kozlov: Golod 1921–1922 godov i iz-jatie cerkovnych cennostej v Čuvašii (monografija). Č. 2011; Štrichi o golode. Č. 1922. 218 Sovetskaja derevnja Bd. 1, 1998, S. 448, 460f., 468, usw. 219 Zit. nach Orlov, Golod 2008, S. 108, 111. Vgl. Štrichi S. 18–20. 220 Kozlov 2011; F.N. Kozlov: Vzaimootnošenija gosudarstva i Russkoj Pravoslavnoj cerkvi

251

252

Anmerkungen

v 1917 – načala 1940-ch gg. (po materialam Čuvašii). Diss. na soisk. uč.step. kand. ist. nauk. Saransk 2009. Ich danke dem Verf. für die Zusendung der unpublizierten Dissertation; Orlov, Golod 2008, S. 112f. 221 Figes 1998, S. 818–826. 222 Orlov, Golod 2008. 223 Sovetskaja derevnja Bd. 2. 2000, S. 64, 72, 83f., 125, 139, 401; »Soveršenno sekretno«: Lubjanka – Stalinu o položenii v strane. Bd. 1,1. Moskva 2001, S. 281, 870. 224 Gosudarstvennyj archiv sovremennoj istorii Čuvašskoj respubliki (GASI ČR), f. P-1, op. 6, d. 35, l. 97. 225 Ebda. l. 46–48, und passim. 226 Belege bei Orlov, Golod 2008. 227 Zum Folgenden Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 73–81; Ivanov, Klement’ev 2010; E.K. Mineeva: Stanovlenie Marijskoj, Mordovskoj i Čuvašskoj ASSR kak nacional‘no-territorial‘nych avtonomij (1920 – 1930e gody). Č. 2009; Orlov 2009. 228 Vgl. allg. Terry Martin: The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca, London 2001; Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft. Baden-Baden 1986. 229 Vgl. zusätzlich zu den in Anm. 227 angeführten Titeln auch Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 105–110. 230 Wikipedia russ.; Čuvašskaja Ėnciklopedija. Vgl. eine unkritische Würdigung Petrovs aus dem Jahr 2009 auf: http://www.cap.ru/home/65/muzei/sait/news /%EF%E0%F0%F2%E8%E9.%E4%E5%FF%F2%E5%EB%FC%2016.10.09.htm (8.1. 2016) 231 E.V. Agaeva, T.S. Sergeev: Formirovanie tvorčeskoi intelligencii Čuvašii: Problemy i poiski. Č. 2008; Mineeva 2009, S. 498. 232 Ebda. S. 406–500, 580, auch zum Folgenden. 233 G.I. Komissarov: Istorija čuvašskogo naroda (in tschuwaschisch). Č. 1921; D.P. Petrov: Čuvašskij narod v bor’be za nacional’noe osvoboždenie. Kazan‘ 1921; ders.: Čuvašija. Istoriko-političeskij i social’no-ėkonomičeskij očerk. Moskva-Leningrad 1926; N.N. Poppe: Čuvaši i ich sosedi. Č. 1927. Diese Schriften waren mir nicht zugänglich. 234 Čuvašskaja Ėnciklopedija; Wikipedia russ., auch zu den folgenden Personen. Einige Texte in englischer Übersetzung in: Aygi, Anthology 1991, S. 149–157. 235 GASI ČR, f. P-1, op. 12, d. 36, l. 126. 236 Zur Kollektivierung vgl. Stephan Merl: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930–1941. Berlin 1990; Sheila Fitzpatrick: Stalin’s Peasants. Oxford, New York 1994. 237 Vgl. Lynne Viola: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance. New York, Oxford 1996.

Anmerkungen

238 Zum Folgenden Evgenij Vital’evič Kasimov: Krest’janstvo Čuvašii i politika gosudarstva po kollektivizacii sel’skogo chozjajstva (1917–1937 gg.). Diss. na soiskanie uč. step. kand. ist. nauk. Č. 2004 (unpubliz). Ich danke dem Verf. für die Zusendung der ungedruckten Dissertation. Vgl. auch ders.: Istoriografija kollektivizacii sel’skogo chozjajstva: diskussionnye voprosy i perspektivy issledovanija, in: Issledovanija po istorii Čuvasii i čuvašskogo naroda. Bd, 5. Č. 2012, S. 185–260; Istorija Čuvašii Bd.1, 2001, S. 143–150, 163–172. 239 Sel‘skoe chozjajstvo i krest‘janstvo Čuvašskoj ASSR 1920–1937. Osuščestvlenie kollektivizacii: Sbornik dokumentov. Č. 1990, S. 153–156. 240 Ebda., S. 160. 241 Ebda., S. 240f. 242 GASI ČR f. P-1, op. 12, d. 38, l. 80f. 243 Zum Folgenden Kozlov 2009; V.G. Charitonova: Ob otnošenii gosudarstva i pravoslavnoj cerkvi v 1920–1930 gg. XX veka (na materialach Čuvašskoj Respubliki), in: Obščestvo – gosudarstvo – religija. Materialy naučno-teoretičeskoj konferencii, posvjaščennoj 2000-letiju christianstva. Č. 2002, S. 86–95. 244 Vgl. Viola 1996; Sarah Davies: Popular Opinion in Stalin’s Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934–1941. Cambridge 1997. 245 Davies 1997, S. 9–19. 246 Zum Folgenden die Berichte des GPU in: GASI ČR, f. P-1, op. 11, d. 34 bis d. 39. Vgl. auch Soveršenno sekretno Bd. 8, 2, 2008, S. 81f.; Sel’skoe chozjajstvo 1990, S. 232f. 247 Vgl. allg. Viola 1996, S. 181–204. 248 Sel’skoe chozjajstvo 1990, S. 308; Kasimov 2004, S. 180–83. 249 GASI ČR, f. P-1, op. 11, d. 39, l. 50f. Vgl. auch l. 71. 250 GASI ČR, f. P-1, op. 12, d. 38, l. 202, l. 301. 251 Gosudarstvennyj istoričeskij archiv Čuvašskoj respubliki (GIA ČR) f. R-202, op. 5, d. 9, 21, 26, 34, 35, 37, 44, 45, 47, 50, 56, 65, 96, 111, 118, 153, 169. 252 Ebda., d. 41. 253 Ebda., op. 12, d. 36, l. 97f. 254 Ebda., l. 90–91. 255 Ebda., l. 279. 256 Ebda. d. 38, l. 6f. 257 Ebda. l. 75–76; 77–78; 256–257; 297–298. 258 Ebda. l. 29–30. 259 Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy. 1927–1940. Bd. 1–5. Moskva 1999–2006, hier Bd. 4, 2002, S. 883–885. 260 GIA ČR f. R-202, op. 5, d. 217, l. 120-121ob. 261 Ebda., d. 139, l. 69–71.

253

254

Anmerkungen

262 Ebda., d. 199, l. 167–173. 263 Pis‘mo čuvašskogo naroda Velikomu Stalinu. Č. 1937. 264 Ivanov 2005, S. 219–248; Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 150–162; Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1939 goda. Osnovnye itogi. Moskva 1992, S. 25, 5, 68. 265 Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 188–196. 266 Ebda., S. 196–201. 267 Ebda., S. 186–188, 201–209. 268 GASI ČR, f. P-1, op.12, d. 38, 1. 364–368. 269 Istoria Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 186. 270 Vgl. allg. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003; ders.: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. Nachdruck. Frankfurt a.M. 2014. 271 Zum Folgenden vgl. Istoria Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 174–188, 202f. 272 Sel’skoe chozjajstvo 1990, S. 361–363, und Anm. 110 (S. 408); Kniga pamjati žertv političeskich repressij. Bd. 2, Č. 2009, S. 100. In den beiden Bänden des Gedenkbuchs sind etwa 13‘000 Terroropfer dokumentiert. 273 Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009; dies. (Hg.): Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No. 00447. Berlin 2010; Nicolas Werth: L’ivrogne et la marchande de fleurs. Autopsie d’un meurtre de masse 1937–1938. Paris 2009. 274 Statistiken in: Binner u.a. 2009. Vgl. allgemein zum Folgenden Istorija Čuvašii Bd. 1, 2001, S. 182–188; Kniga pamjati Bd. 1, 2009, S. 6–44. 275 Kniga pamjati Bd. 1, 2009, S. 23f. 276 A. Stepanov: Rasstrel po limitu. Iz istorii političeskich repressij v TASSR v gody »ežovščiny«. Kazan’ 1999. 277 Ebda., S. 86–117. 278 Ebda., S. 64–68, 70. 279 Ebda., S. 11–13. 280 Ebda., S. 21. 281 Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v 7 tomach. M. 2004–2005, hier Bd. 2, 2004, S. 136–138. 282 Kniga pamjati Bd. 1, 2009, S. 25. 283 Vgl., auch zum Folgenden, Charitonova 2002; Kozlov 2009; Ders.: Repressii protiv pravoslavnogo duchovenstva v 1930-e gg. (po materialam Čuvašskoj avtonomii), in: Christianskoe prosveščenie i russkaja kul’tura. Materialy konferencii. Joškar-Ola 2009, S. 63–72. 284 Kozlov, Vzaimootnošenija 2009, S. 127.

Anmerkungen

285 Kniga pamjati Bd. 1, 2009, S. 25. 286 Ebda., S. 26. 287 Ebda., S. 27. 288 Zum Folgenden: Istorija Čuvašii Bd. 2, 2009; Ivanov 2005; Čuvašskaja respublika 2011; Wikipedia deutsch; Wikipedia russ. 289 http://www.chuvash.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_ts/chuvash/ru/census_and_ researching/census/national_census_2010/score_2010/ (6.1. 2016) 290 Wikipedia russ. (čuvašskij jazyk); I.I. Bojko: Problema ravenstva prav v obrazovanii, in: Ėtnokul’turnoe obrazovanie. Metody social’noj orientacii rossijskoj školy. Vyp. 1. Moskva 2010, S. 127–136. 291 Wikipedia deutsch; Wikipedia russ.; Vydajuščiesja ljudi 2001, S. 209–218; http://www. astronaut.ru/as_rusia/vvs/text/nikolaev-a.htm?reload_coolmenus. (6.1. 2016). 292 Wikipedia deutsch; Wikipedia russ. 293 Čuvašskaja Ėnciklopedija. 294 Wikipedia russ.; Čuvašskaja Ėnciklopedija; http://web.archive.org/web/ 20071213011503/http://www.biograph.ru/bank/pavlova_nv.htm (6.1. 2016); https:// www.youtube.com/watch?v=x5M4E_8kb6Q. (6.1. 2016). 295 Wikipedia deutsch; Wikipedia russ.; http://chuvathletics.narod.ru/content/data/ sportsmens/valya_egorova.htm. (6.1. 2016). 296 Wikipedia deutsch; Wikipedia russ.; http://www.vremya.ru/2003/157/11/78509.html (6.1. 2016); http://chuvathletics.narod.ru/content/data/sportsmens/e_nikolaeva.htm. (6.1. 2016) 297 Leon Robel‘: ajgi. Moskva 2003 (Übers. aus dem Französischen); Wikipedia deutsch; Wikipedia russ.; Čuvašskaja Ėnciklopedija; http://www.krugosvet.ru/enc/kultura_i_ obrazovanie/literatura/AGI_GENNADI_NIKOLAEVICH.html. (6.1. 2016). 298 Gennadij Ajgi: Kurz über mich, in: Ders.: Beginn der Lichtung. Gedichte. Hg. und übers. von Karl Dedecius. Frankfurt a.M. 1992, S.79–117, auch in: http://www.planetlyrik.de/gennadij-ajgi-beginn-der-lichtung/2010/11/ (5.1. 2016); ders.: Gespräch auf Distanz, in: Ders.: Aus Feldern Russland. Gedichte. Prosa. Übers. von Felix Philipp Ingold. Frankfurt a.M. 1991, S. 155–161. 299 Aygi (Hg.) 1991. 300 Gennadij Ajgi: Veronikas Heft. Das erste Halbjahr meiner Tochter. Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold. Frankfurt a.M. 1993. 301 Die Zitate stammen v.a. aus dem in Anm. 298 zitierten autobiographischen Text »Kurz über mich«. Weitere Texte von und über Ajgi auf: http://www.planetlyrik.de/ gennadij-ajgi-beginn-der-lichtung/2010/11/ (61. 2016). 302 Ajgi, Gespräch auf Distanz, in: ders.: Aus Feldern, S. 156f. 303 Vgl. 1. Kapitel.

255

256

Anmerkungen

304 P.M. Alekseev (Hg.): Čuvašskoe naselenie Rossii. Konsolidacija, diasporizacija, integracija. Bd. 1. Respublika i diaspora. Moskva 2000; Sven C. Singhofen: Die institutionelle Regelung ethnischer Konflikte. Eine vergleichende Analyse in der Russischen Föderation. Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 86–100. 305 Olessia P. Vovina: Building the Road to the Temple: Religion and National Revival in the Chuvash Republic, in: Nationalities Papers Bd. 28 (2000), S. 698–706. 306 Robert W. Orttung u.a. (Hg.): The Republics and Regions of the Russian Federation: A Guide to Politics, Policies, and Leaders. Armonk NY u.a. 2000, S. 101–107; Singhofen 2006, S. 160–175. Vgl. allgemein Ksenofont Sanukov: Die Nationalbewegungen der kleinen Völker der Mittleren Wolga (Mari. Mordwinen, Tschuwaschen, Udmurten), in: Andreas Kappeler (Hg.): Regionalismus und Nationalismus in Russland. Baden-Baden 1996, S. 87–103. 307 Wikipedia deutsch; Wikipedia russ.; Fedorovs Erinnerungen: V otvete na vsegda. Moskva 2012. 308 Ebda. S. 45. 309 Wikipedia russ. 310 Avtobiografija V.D. Dimitrieva [1955], in: Dimitriev Vasilij Dimitrievič. Učenyj, pedagog, obščestvennyj dejatel‘, graždanin. Č. 2013, S. 151f.; V.D. Dimitriev: V gody Velikoj Otečestvennoj vojny i poslevoennoj služby v armii. Vospominanija. Č. 2000; Služenie istorii. Sbornik statej. Bd. 1–2. Č. 2005, 2008. 311 Dimitriev 1959. 312 Ju.P. Smirnov: V.D. Dimitriev: žizn‘ i dejatel’nost, in: Služenie istorii Bd. 2, 2008, S. 11–32; V.D. Dimitriev: Pomeščik N.A. Mel’nikov: »Čuvašskoj kul’tury ne byvalo i ne budet«, in: Marijskij Archeografičeskij Vestnik Bd. 22, 2012, S. 59–74; Kniga Pamjati Bd. 2, 2009, S. 435. 313 Vgl. sein umfangreiches Schriftenverzeichnis in: Služenie istorii Bd. 1, 2005, S. 131–196; Bd. 2, 2008, S. 302–312. Vgl. auch Vasilij Dimitrievič Dimitriev: 1924–2013. Biobibliografičeskij Slovar‘. Č. 2014. 314 Ausgewählte Aufsätze in: Dimitriev 1986. 315 Dimitriev 2001. 316 I.I. Demidova: Izučenie V.D. Dimitrievym istorii prisoedinenija Čuvašii k Rossii, in: Služenie istorii Bd.1, 2005, S. 81–97; A.A. Preobraženskij: Mnenie po povodu trech zapisok o 450-letnom jubilee mirnogo prisoedinenija Čuvašii k Rossii, in: ebda. S. 40–42. 317 Dimitriev 1993.

Literaturverzeichnis

Č. = Čeboksary

1. Quellen a) Archivquellen GASI ČR= Gosudarstvennyj archiv sovremennoj istorii Čuvašskoj respubliki, f. P-1. GIA ČR = Gosudarstvennyj istoričeskij archiv Čuvašskoj respubliki, f. R-202. b) Gedruckte Quellen Ajgi, Gennadij: Aus Feldern Russland. Gedichte. Prosa. Übers. von Felix Philipp Ingold. Frankfurt a.M. 1991. Ders.: Beginn der Lichtung. Gedichte. Hg. und übers. von Karl Dedecius. Frankfurt a.M. 1992. Ders.: Veronikas Heft. Das erste Halbjahr meiner Tochter. Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold. Frankfurt a.M. 1993. Ders. (Aygi, Gennady) (Hg.): An Anthology of Chuvash Poetry. London, Boston 1991. Akty feodal’nogo zemlevladenija i chozjajstva. Bd. 3. Moskva 1961. Bauer, Henning; Kappeler, Andreas; Roth, Brigitte (Hg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. Bd. A- B. Stuttgart 1991. Binner, Rolf; Bonwetsch, Bernd; Junge, Marc (Hg.): Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No. 00447. Berlin 2010. Dimitriev, V.D.: V gody Velikoj Otečestvennoj vojny i poslevoennoj služby v armii. Vospominanija. Č. 2000. Falck, J.P: Beiträge zur Topographischen Kenntnisz des Russisches Reichs. 1768–1773. Bd.1. S.-Peterburg 1785. Fedorov, Nikolaj: V otvete na vsegda. Moskva 2012, auf: http://gov.cap.ru/info.aspx?gov_ id=111&type=main&id=2658427 (4.1. 2016). Fennell, J.L.I. (Hg.): Prince A.M. Kurbsky’s History of Ivan IV. Cambridge 1965. Frye, Richard N. (Hg.): Ibn-Fadlān’s Journey to Russia. A Tenth Century Traveler from Baghdad to the Volga River. Princeton 2005. Fuks, Aleksandra: Zapiski o čuvašach i čeremisach Kazanskoj gubernii, Kazan’ 1840, auf: https://docs.google.com/file/d/0B0K47JLp4QpaaERqQUIwQ1pnWWc/edit?pli=1. (5.1. 2016)

258

Literaturverzeichnis

Georgi, Johann Gottlieb: Bemerkungen einer Reise im Russischen Reich im Jahre 1772. Bd. 1–2. St. Peterburg 1775, auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Ders.: Beschreibung aller Nationen des Russischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidung und übrigen Merckwürdigkeiten. Bd. 1–4. St. Peterburg 1776–1780; auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Gmelin, D. Johann Georg: Der Chemie und Kräuterwissenschafft auf der hohen Schule zu Tübingen öffentlichen Lehrers Reise durch Sibirien, von den Jahren 1733 bis 1743, Bd. 1. Göttingen 1751, auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Griškina, M.V. (Hg.): Novye gramoty arskim knjaz’jam na Vjatke, in: Sovetskie Archivy 1989, 4, S. 67–71. Herberstein, Sigismund Freyherr zu: Moscovia. Wien 1557, in: Ders.: Zapiski o Moskovii. Bd. 1. Moskva 2008, auch auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN339971460&IDDOC=123751. (30.12. 2015) Hintzsche, Wieland (Hg.): Dokumente zur 2. Kamčatkaexpedition. Bd. 2. 1730–1733: Akademiegruppe. Halle 2004. Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v 7 tomach. Moskva 2004-2005. Jakovlev, I.Ja.: Vospominanija. 2. Aufl. Č. 1983. Kämpfer, Frank (Hg.): Historie vom Zartum Kasan. (Kasaner Chronist). Graz 1969. Kasimov, E.V. (Hg.): Krest‘janskoe vosstanie 1921 goda v Čuvašii. Sbornik dokumentov. Č. 2009. Ders.: (Hg.): Krest’janstvo Čuvašii v pervye gody sovetskoj vlasti (nojabr‘ 1917–1920 g.). Sbornik dokumentov. Č. 2014. Kniga pamjati žertv političeskich repressij. Bd. 1–2. Č. 2009. Krest’janskaja vojna pod predvoditelstvom Emel’jana Pugačeva v Čuvašii. Sbornik dokumentov. Č. 1972. Krest’janskaja vojna pod predvoditel’stvom Stepana Razina. Sbornik dokumentov. Bd. 1–4. Moskva 1954–1976. Lepechin, Iwan: Herrn Iwan Lepechin, der Arztneykunst Doktor und der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg Adjunktus, Tagebuch der Reise durch verschiedene Provinzen des russischen Reiches. Bd. 1. Altenburg 1774, auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/ Michajlov, S.M.: Čuvašskie razgovory i skazki. Kazan’ 1853. Michajlov, Spiridon: Sobranie sočinenij. Avtobiografija, stat’i i korrespondencii, publikacija dokumentov, očerki i rasskazy, fol’klornye zapisi, pis’ma. Č. 2004, auf: http://xn--80ad7bbk5c.xn--p1ai/ru/content/spiridon-mihaylov-sobranie-sochineniy (4.1.2016). Moiseeva, G.N. (Hg.): Kazanskaja istorija. Moskva-Leningrad 1954. Müller, Gerhard Friedrich: Nachricht von dreyen im Gebiete der Stadt Casan, wohnhaften

1. Quellen

Heidnischen Völkern. Den Tscheremissen, Tschuwaschen, und Wotiacken. St. Peterburg 1759, S. 305–412, = Sammlung Rußischer Geschichte. Bd. 3, 4. Stück, auf: http:// gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Nikol’skij, Nikolaj Vasil’evič: Sobranie sočinenij. Bd. 1–4. Č. 2004–2009. Olearius, Adam: Ausführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien… 3. Aufl. Schleswig 1663. Pallas, Peter Simon: Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs. Bd. 1–3. St. Peterburg 1771–1801, auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Pis‘mo čuvašskogo naroda Velikomu Stalinu. Č. 1937, auf: http://xn--80ad7bbk5c.xn-p1ai/ru/content/pismo-chuvashskogo-naroda-velikomu-stalinu (5.1. 2016). Polnoe sobranie russkich letopisej (PSRL). Bd. 8 (Voskresenskaia letopis’). Sanktpeterburg 1859 (reprint 1973); Bd. 13 (Nikonovskaja letopis’). Ebda. 1901–1904 (1965); Bd. 29 (Letopisec načala carstva). Moskva 1965. Posoškov, I.T.: Zaveščanie otečeskoe. St. Peterburg 1893. Prodolženie drevnej rossijskoj vivliofiki. Bd. 8. St. Peterburg 1793. Razrjadnaja Kniga 1475–1598 gg. Moskva 1966. Rytschkow, Nikolaus: Herrn Nikolaus Rytschkow kaiserl. Russischen Capitains Tagebuch über seine Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs in den Jahren 1769, 1770 und 1771. Riga 1774, auf: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/gdz/ Rytschkow, Peter: Orenburgische Topographie oder umständliche Beschreibung des Orenburger Gouvernements. 1. Teil. Riga 1772; russisch: Ryčkov, P.: Topografija Orenburgskaja Bd. 1. St. Peterburg 1762. Sboev, Vasilij: Čuvaši: V bytovom, istor. i relig. otnošenijach. Ich proischoždenie, jazyk, obrjady, pover›ja, predanija i pr. Moskva 1865, auf: http://reader.digitale-sammlungen. de/de/fs1/object/display/bsb10784134_00007.html?zoom=0.55. (5.1.2016) Ders.: Zametki o čuvašach. Issledovanie ob inorodcach Kazanskoj gubernii. Kazan‘ 1856, Reprint Č. 2004, auf: http://dlib.rsl.ru/viewer/01003542440#. (5.1. 2016) Sel’skoe chozjajstvo i krest’janstvo Čuvašskoj ASSR 1920–1937. Osuščestvlenie kollektivizacii: Sbornik dokumentov. Č. 1990. »Soveršenno sekretno«: Lubjanka – Stalinu o položenii v strane. Bd. 1–9. Moskva 2001– 2013. Sovetskaja derevnja glazami UČK-NKVD. Dokumenty i materialy. Bd. 1–4. Moskva 1998–2012. Strahlenberg von, Philipp Johann: Das Nord- und das Östliche Theil von Europa und Asia, In so weit solches Das gantze Rußische Reich mit Siberien und der großen Tatarey in sich begreiffet... Stockholm 1730. Štrichi o golode. Č. 1922. Tatiščev, V.N.: Istorija Rossijskaja. Bd. 1–7. Moskva 1962–1968.

259

260

Literaturverzeichnis

Togan, A. Zeki Validi: Ibn-Fadlān’s Reisebericht. Leipzig 1939, Neudruck Frankfurt a.M. 1994. Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy. 1927– 1940. Bd. 1–5. Moskva 1999–2006. Vosstanie čuvašskogo krest’janstva v 1842 g. Sbornik archivnych dokumentov. Č. 1942. Vsesojuznaja perepis’ naselenija 1939 goda. Osnovnye itogi. Moskva 1992. Zimin, A.A. (Hg.): Kratkie letopiscy XV–XVII vv., in: Istoričeskij Archiv. Bd. 5 (1950), S. 3–39.

2. Fachliteratur Agaeva, E.V.; Sergeev, T.S.: Formirovanie tvorčeskoi intelligencii Čuvašii: Problemy i poiski. Č. 2008. Aleksandrov, G.A.: Čuvašskaja intelligencija v gody pervoj russkoj revoljucii, in: Voprosy istorii 2009, 1, S. 142–147. Ders.: Čuvašskie intelligenty. Biografii i sud’by. Č. 2002. Ders.: S.N. Nikolaev: štrichi biografii sekretarja Komuča, in: Ličnost’ 2007, S. 42–69. Alekseev, P.M. (Hg.): Čuvašskoe naselenie Rossii. Konsolidacija, diasporizacija, integracija. Bd. 1. Respublika i diaspora. Moskva 2000. Ašmarin, N. I.: Bolgary i čuvaši. Kazan’ 1902. Nachdruck Č. 2012. Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003. Ders.: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. Nachdruck. Frankfurt a.M. 2014. Benzing, Johannes: Bolgarisch-tschuwaschische Studien. Hg. von Claus Schönig. Wiesbaden 1993. Binner, Rolf; Bonwetsch, Bernd; Junge, Marc: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009. Bojko, I.I.: Problema ravenstva prav v obrazovanii, in: Ėtnokul’turnoe obrazovanie. Metody social’noj orientacii rossijskoj školy. Bd. 1. Moskva 2010, S. 127–136. Bolgary i čuvaši. Č. 1984. Bucher, Gudrun: »Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völker«. Die Instruktionen Gerhard Friedrich Müllers und ihre Bedeutung für die Entstehung der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2001. Čaušević, Ekrem: Tschuwaschisch, in: Okuka, M. (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt 2002, auf: http://wwwg.uni-klu.ac.at/eeo/Tschuwaschisch.pdf. (28.12. 2015) Charitonova, V.G.: Ob otnošenii gosudarstva i pravoslavnoj cerkvi v 1920–1930 gg. XX veka (na materialach Čuvašskoj Respubliki), in: Obščestvo – gosudarstvo – religija. Materialy naučno-teoretičeskoj konferencii, posvjaščennoj 2000-letiju christianstva. Č. 2002, S. 86–95.

2. Fachliteratur

Chuzin, F.Š.: Volžskaja Bulgarija v domongol’skoe vremja (X – načalo XIII vekov). Kazan‘ 1997. Ciunčuk, R.A.: Dumskaja model’ parlamentarizma v Rossijskoi imperii: Ėtnokonfessional’noe i regionalnoe izmerenija. Kazan’ 2004. Clark, L.V.: Chuvash, in: The Encyclopedia of Language and Linguistics. Bd. 2. Oxford u.a. 1994. Čuvaši. Istorija i kultura. Istoriko-ėtnografičeskoe issledovanie. Bd. 1–2. Č. 2009. Čuvašskaja respublika. Sociokul’turnyj portret. Č. 2011 Davies, Sarah: Popular Opinion in Stalin’s Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934– 1941. Cambridge 1997. Dimitriev, V.D.: Čuvašija v ėpochu feodalizma (XVI – načalo XIX vv.). Č. 1986. Ders.: Čuvašskie istoričeskie predanija. Očerki istorii čuvašskogo naroda s drevnejšich vremen do serediny XIX veka. 2. Aufl. Č. 1993 Ders.: Istorija Čuvašii 18 veka (do Krest’janskoj vojny 1773–1775 godov). Č. 1959. Ders.: Mirnoe prisoedinenie Čuvašii k Rossijskomu gosudarstvu. Č. 2001. Ders.: Naveki s russkim narodom. K 425-letiju dobrovol’nogo vchoždenija Čuvašii v sostav Russkogo gosudarstva. Č. 1976. Ders.: O čuvašskom učenom i pisatele serediny XIX veka S.M. Michajlove i ego sočinenijach o čuvašach, marijcach i russkich Volžsko-Surskogo kraja. Č. 2003. Ders.: Pomeščik N.A. Mel’nikov: »Čuvašskoj kul’tury ne byvalo i ne budet«, in: Marijskij Archeografičeskij Vestnik 2012, Bd. 22 S. 59–74. Ders.: Prosvetitel‘ čuvašskogo naroda I.Ja. Jakovlev. Č. 2002. Ders.: Voprosy ėtnogeneza, ėtnografii i istorii kul’tury čuvašskogo naroda. Sbornik statej. Č. 2004. Ders.: Vostokoved N. Ja. Bičurin i Čuvašija. Č. 2002. Ders. ; Leont’ev, A.P.; Matveev, G.B.: N.V. Nikol’skij – čuvašskij učenyj, prosvetitel‘, obščestvennyj dejatel‘. Č. 2011. Dimitriev, Vasilij Dimitrievič. Učenyj, pedagog, obščestvennyj dejatel‘, graždanin. Č. 2013. Dowler, Wayne: Classroom and Empire. The Politics of Schooling Russia’s Eastern Nationalities 1860–1917. Montreal u.a. 2001. Ėtkind, Aleksandr: Internal Colonization: Russia›s Imperial Experience. Cambridge u.a. 2011. Ėtnokonfessional’nye men’šinstva narodov Uralo-Povolž’ja. Monografija. Samara 2010. Fachrutdinov, R.G.: Očerki po istorii Volžskoj Bulgarii. Moskva 1984. Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891– 1924. Berlin 1998. Ders.: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917–1921). Oxford 1989.

261

262

Literaturverzeichnis

Fitzpatrick, Sheila: Stalin’s Peasants. Oxford, New York 1994.  Frank, Allen J.: Islamic Historiography and ‚Bulghar’ Identity among Tatars and Bashkirs of Russia. Leiden u.a. 1998. Geraci, Robert P.: Window on the East. National and Imperial Identities in Late Tsarist Russia. Ithaca-London 2001. Gerasimov, Ilya; Glebov, Sergey; Mogilner, Marina: The Postimperial Meets the Postcolonial: Russian Historical Experience and the Postcolonial Moment, in: Ab Imperio 2013, 2, S. 97–135. Goto, Masanori: Metamorphosis of Gods. A Historical Study on the Traditional Religion of the Chuvash, in: Acta Slavica Japonica 24 (2007), S. 144–165. Gusarov, Ju.V.: Obščestvenno-političeskie dejateli Čuvašii načala XX veka A.F. i P.A. Fedorovy, in: Ličnost’ 2007, S. 5–41. Hoffmann, Peter: Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Historiker, Geograph, Archivar im Dienste Russlands. Frankfurt a.M. u.a. 2005. Hofmeister, Ulrich: Die Bürde des »weißen Zaren«. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien. Unpubliz. Diss. Wien 2014. Istorija Čuvašii novejšego vremeni. Bd. 1–2. Č. 2001, 2009. Istorija Čuvašskoj ASSR. Bd. 1–2. Č. 1966–1967. Istoriia tatar s drevnejšich vremen. Bd. 2. Volžskaja Bolgarija i Velikaja step’. Kazan’ 2006. Ivanov, M.I.: D.S. Ėl’men‘ – čuvašskij obščestvennyj i gosudarstvennyj dejatel‘, žurnalist i publicist (1885–1932 gg.). Avtoref. diss. na soisk. uč. step. kand. ist. nauk. Č. 2010, auf: http://www.dissercat.com/content/ds-elmen-chuvashskii-obshchestvennyi-i-gosudarstvennyi-deyatel-zhurnalist-i-publitsist (2.1. 2016) Ders.: Obščestvenno-političeskaja i publicističeskaja dejatel’nost‘ D. Ėl’menja‘, in: Vestnik Čuvašskogo universiteta 2009, 1, auf: http://cyberleninka.ru/article/n/obschestvenno-politicheskaya-i-publitsisticheskaya-deyatelnost-d-elmenya (2.1. 1916) Ivanov, Vitalij: Ėtničeskaja geografija čuvašskogo naroda. Istoričeskaja dinamika čislennosti i regional‘nye osobennosti rasselenija. Č. 2005. Ders.: Ėtničeskaja istorija čuvašskogo naroda. Naučnyj očerk. Č. 2010. Ders., Vladimir Klement’ev: Obrazovanie čuvašskoj avtonomii. Predposylki, proekty, ėtapy. Č. 2010. Ivanov-Orkov, G.N.: Izobrazitel‘nye materialy po čuvašskomu narodnomu kostjumu (grafika i živopis’XVIII-nač. XIX vv.), in: Materialy po ėtnografii i antropologii čuvašej. Sbornik naučnych trudov. Č. 1997, S. 88–117. Izorkin, A.V.: Ėtap zaroždenija i razvitija idei samoopredelenija čuvašskogo naroda, in: Problemy 1999, S. 9–19.

2. Fachliteratur

Jagafova, E.A.: Čuvaši Uralo-Povolž’ja: Istorija i tradicionnaja kul’tura ėtnoterritorialnych grupp (XVII - nač. XX v.). Č. 2007. Dies.: Čuvaši-musul’mane v XVIII – načalo XXI veka. Samara 2009. Dies.: Čuvašskoe « jazyčestvo » v XVIII – načale XXI veka. Samara 2007. Kachovskij, V.F.: Proischoždenie čuvašskogo naroda. Osnovnye ėtapy ėtničeskoj istorii. Č. 1965. 3. Aufl. 2003. Kappeler, Andreas: Die Geschichte der Völker der Mittleren Wolga (vom 10. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) in der sowjetischen Forschung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 26 (1978), S. 70–104, 222–257. Ders.: Kak klassificirovali russkie istočniki XVI-serediny XIX vv. ėtnoreligioznye gruppy Volgo-Ural’skogo regiona? in: Ispovedi v zerkale. Mežkonfessional’nye otnošenija v centre Evrazii (na primere Volgo-Ural’skogo regiona XVII-XXI vv.). Nižnij Novgorod 2012, S. 13–39. Ders.: L’ethnogénèse des peuples de la Moyenne-Volga dans les recherches soviétiques, in: Cahiers du monde russe et soviétique 17 (1976), S. 311–334. Ders.: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. 4. Aufl. München 2008. Ders.: Russlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der Mittleren Wolga vom 16. bis 19. Jahrhundert. Köln 1982. Kasimov, E.V.: Istoriografija kollektivizacii sel’skogo chozjajstva: diskussionnye voprosy i perspektivy issledovanija, in: Issledovanija po istorii Čuvasii i čuvašskogo naroda. Bd. 5. Č. 2012, S. 185–260. Ders.: Krest’janstvo Čuvašii i politika gosudarstva po kollektivizacii sel’skogo chozjajstva (1917–1937 gg.). Diss. na soisk. uč. step. kand. ist. nauk. Č. 2004 (unpubliz.). Klaproth, J.H von: Comparaison de la langue des Tchouvaches avec les idiomes turks, in: Nouveau Journal Asiatique. Sér. 2, vol. 1, Paris 1828, S. 237–248. Klement’ev, V.N.: Istorija nacional’noj gosudarstvennosti čuvašskogo naroda. Bd. 1. Istoki gosudarstvennosti čuvašej. Č. 2014. Köhler, Marcus: Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahrhundert. Göttingen 2012. Kozlov, F.N.: Golod 1921–1922 godov i iz-jatie cerkovnych cennostej v Čuvašii (monografija). Č. 2011. Ders.: Repressii protiv pravoslavnogo duchovenstva v 1930-e gg. (po materialam Čuvašskoj avtonomii), in: Christianskoe prosveščenie i russkaja kul’tura: Materialy konferencii. Joškar-Ola 2009, S. 63–72. Ders.: Vzaimootnošenija gosudarstva i Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi v 1917 – načala 1940ch gg. (po materialam Čuvašii). Diss. na soisk. uč. step. kand. ist. nauk. Saransk 2009 (unpubliz.).

263

264

Literaturverzeichnis

Krasnov, N.G.: Ivan Jakovlev i ego potomki. 2. Aufl. Č. 2007. Krueger, John R.: Chuvash Manual. Introduction, Grammar, Reader and Vocabulary. The Hague 1961, reprint London 1997. Kuznecova, Ė. F.: Architektor Petr Egorov. Č. 2003. Leont’ev, A.P.: »Chypar«: minuvšee i nastojaščee. Fakty, sobytija, ličnosti, sud’by. Č. 2011. Ličnost’, obščestvo, vlast’ v istorii Čuvašii: XX vek. Č. 2007. Löwe, Heinz-Dietrich (Hg.): Volksaufstände in Russland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden 2006 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65). Martin, Terry: The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca, London 2001. Merl, Stephan: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930–1941. Berlin 1990. Mineeva, E.K.: Stanovlenie Marijskoj, Mordovskoj i Čuvašskoj ASSR kak nacional‘no-territorial‘nych avtonomij (1920 – 1930e gody). Č. 2009. Nikol’skij, N.V.: Christianstvo sredi čuvaš Srednego Povolž’ja XVI – XVIII vv. Istoričeskij očerk. Kazan’ 1912. Nolte, Hans-Heinrich: Religiöse Toleranz in Russland 1600–1725. Göttingen 1969. Očerki istorii sel‘skogo chozjajstva i krest‘janstva Čuvašii. Bd.1. Č. 1989. Ochotnikova, S.V.: »Jasačnye čuvaši«. Nekotorye itogi i zadači izučenija. Doklad na naučnoj sessii Čuvašskogo gosudarstvennogo instituta gumanitarnych nauk po itogam rabote 2014 g. Č. 2014. Orlov, V.V.: Delovaja ėlita Čuvašii v konce XIX – načale XX v., in: Predprinimatel’stvo Povolž’ja: istoki, tradicii, problemy i tendencii razvitija. Č. 1998, S. 188–212, auf: http:// www.lib.cap.ru/pdf/elita.pdf. (14.1. 2016) Ders.: Ėtnopolitičeskie i social’no-ėkonomičeskie aspekty razvitija Čuvašii v 20-gody XX v. Moskva 2009. Ders.: Golod 1920-ch godov v Čuvašii: Pričiny i posledstvija, in: Otečestvennaja Istorija 2008, 1, S. 106–117. Ders.: Krest‘janskoe vosstanie v Čuvašii v 1921 g. Pričiny i posledstvija, in: Otečestvennaja Istorija 2008, 5, S. 165–171. Orttung, Robert W. u.a. (Hg.): The Republics and Regions of the Russian Federation: A Guide to Politics, Policies, and Leaders. Armonk NY u.a. 2000. Osterhammel, Jürgen; Jansen, Jan C.: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 7. Aufl. München 2013. Paasonen, Heikki (Hg.): Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwaschen. Helsinki 1949. Peters, Dorothea: Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbe-

2. Fachliteratur

wegung unter Pugačev (1773–1775), Berlin 1973 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 17). Problemy nacional’nogo v razvitii čuvašskogo naroda. Sbornik statej. Č. 1999. Radkey, Oliver H.: Russia Goes to the Polls. The Election to the All-Russian Constituent Assembly 1917. Ithaca, London 2. Aufl. 1977 (reprint 1990). Robel‘, Leon: ajgi. Moskva 2003 (Übers. aus dem Französischen). Romaniello, Matthew P.: The Elusive Empire. Kazan and the Creation of Russia. Madison 2012. Róna-Tas, András (Hg.): Chuvash Studies. Wiesbaden 1982. Salmin, A.K.: Sistema religii čuvašej. St. Peterburg 2007. Ders., Tradicionnye obrjady i verovanija čuvašej. Spb. 2010. Sanukov, Ksenofont: Die Nationalbewegungen der kleinen Völker der Mittleren Wolga (Mari. Mordwinen, Tschuwaschen, Udmurten), in: Andreas Kappeler (Hg.): Regionalismus und Nationalismus in Russland. Baden-Baden 1996, S. 87–103. Ščerbakov, S.V.: Nacional’noe samoopredelenie čuvašskogo naroda v načale XX veka: Ideologičeskij aspekt. Č. 2013. Schott, Guilelmus: De lingua Tschuwaschorum dissertatio. Berlin s.a. (1841), auf: https:// books.google.at/books?id=MARPAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false. (28.12. 2015) Shnirelman, Victor A.: A Fighting for the Volga Bulgars’ Legacy: the Kazan Tatar - Chuvash Controversy, in: Ethnologia Polona 19 (1996), S. 103–118 Ders.: Politics of Ethnogenesis in the USSR and after, in: Bulletin of the National Museum of Ethnology 30 (1) (2005), S. 93–119, auf: http://ir.minpaku.ac.jp/dspace/ bitstream/10502/3305/1/KH_030_1_003.pdf. (6.1. 2016) Ders.: Who Gets the Past? Competition for Ancestors among non-Russian Intellectuals in Russia. Washington D.C., Baltimore 1996. Simon, Gerhard: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft. Baden-Baden 1986. Ders.: Waren die Republiken der Sowjetunion Kolonien? In: Guido Hausmann, Angela Rustemeyer (Hg.): Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler. Wiesbaden 2009, S.105–122. Singhofen, Sven C.: Die institutionelle Regelung ethnischer Konflikte. Eine vergleichende Analyse in der Russischen Föderation. Frankfurt a.M. u.a. 2006. Služenie istorii. Sbornik statej. Bd. 1–2. Č. 2005, 2008. Smirnov, Ju.P.: V.D. Dimitriev: žizn‘ i dejatel’nost, in: Služenie istorii Bd. 2, S. 11–32. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, Berlin 2008.

265

266

Literaturverzeichnis

Stan’jal, V.P.: Ivanov, Konstantin Vasil’evič (1890–1915), auf: http://chuvrdub.ru/base/base. html?mode=bio&id=4. (4.1. 2016) Stepanov, A.: Rasstrel po limitu. Iz istorii političeskich repressij v TASSR v gody »ežovščiny«. Kazan‘ 1999. Tajmasov, L.A.: Christianizacija čuvašskogo naroda v pervoj polovine XIX veka. Č. 1992. Ders.: Pravoslavnaja cerkov‘ i christianskoe prosveščenie narodov Srednego Povolž’ja vo vtoroj polovine XIX veka. Č. 2004. Ujama, Tomochiko: Ot »bulgarizma« čerez »marrizm« k nacionalističeskim mifam: Diskursy o tatarskom, čuvašskom i baškirskom ėtnogeneze, in: Novaja volna v izučenii ėtnopolitičeskoj istorii Volgo-Ural’skogo regiona. Sbornik statej. Sapporo 2003, S. 16–51. Usmanova, Diljara: Musul‘manskoe »sektantstvo« v Rossijskoj imperii: »Vaisovskij Božij polk« staroverov musul‘man« 1862–1916 gg. Kazan’ 2009. Varela, Maria do Mar Castro; Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. Aufl. Bielefeld 2015. Vermeulen, Han F.: Von der Völker-Beschreibung zur Völkerkunde. Ethnologische Ansichten Gerhard Friedrich Müllers und August Ludwig Schlözers, in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 7. Köln u.a. 2008, S. 781–799. Viola, Lynne: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance. New York, Oxford 1996. Vovina, Olessia P.: Building the Road to the Temple: Religion and National Revival in the Chuvash Republic, in: Nationalities Papers Bd. 28 (2000), S. 698–706. Vydajuščiesja ljudi Čuvašii. Bd. 1. Č. 2002. Werth, Nicolas: L’ivrogne et la marchande de fleurs. Autopsie d’un meurtre de masse 1937– 1938. Paris 2009. Werth, Paul W.: At the Margins of Orthodoxy: Mission, Governance, and Confessional Politics in Russia’s Volga-Kama region, 1827–1905. Ithaca, London 2002.

3. Nachschlagewerke Čuvašskaja Ėnciklopedija, auf: http://enc.cap.ru/?t=prsn&lnk=668. Wikipedia deutsch, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/ Wikipedia russ., auf: https://ru.wikipedia.org/wiki/

Verzeichnis der Abbildungen

Abkürzungen der Archive Archiv Čuvašskogo gosudarstvennogo instituta gumanitarnych nauk (Archiv ČGIGI) Archiv Muzeja ėtnografii i antropologii RAN (Archiv MAĖI) Gosudarstvennyj istoričeskij archiv Čuvašskoj respubliki (GIA ČR)

Liste der Bilder mit Legenden Abb. 1: Karte 1. Die Republik Tschuwaschien (Zeichnung Silvia Stocker) Abb. 2: Karte 2. Die Republik Tschuwaschien im Rahmen der Russländischen Föderation (europäischer Teil) (Zeichnung Silvia Stocker) Abb. 3: Stammbaum der Turksprachen (Zeichnung Silvia Stocker) Abb. 4: Bolgar, die Hauptstadt des Wolgabulgarenreiches (Museumskomplex mit restaurierten Gebäuden) Quelle: http://www.gumilev-center.ru/wp-content/uploads/2014/06/407897713.jpg Abb. 5: Karte 3. Die Ostexpansion des Moskauer Staates im 16. Jahrhundert (Zeichnung Silvia Stocker) Abb. 6: Karte des Moskauer Staates aus dem Jahr 1593 (nach Anthony Jenkinson). Quelle: wikipedia deutsch Abb. 7: Gesandtschaft der Tschuwaschen und Tscheremissen bei Ivan IV. im Jahr 1551 (Miniatur einer russischen Chronik) Quelle: http://www.webcitation.org/6CeIByX31 Abb. 8. Hölzerne Grabsäule (jupa) auf einem Friedhof ungetaufter Tschuwaschen (20. Jh.) Quelle: Čuvaši Bd. 2 (2009), nach S. 80 Abb. 9: Gedächtnisfeier ungetaufter Tschuwaschen (um 1900) Quelle: Archiv GIA ČR Abb. 10: Karte 4. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts erbaute Festungen und Grenzverhaulinien Quelle: Kappeler: Russlands erste Nationalitäten (1982), Anhang Abb. 11: Die Stadt Čeboksary am Ende des 17. Jahrhunderts Quelle: Nicolaes Witsen: Noord en Ooost Tartarye. Bd. 2. Amsterdam 1705, S. 725.

268

Verzeichnis der Abbildungen

http://gdz.sub.uni-goettingen.de/en/dms/loader/img/?PPN=PPN340052333&DMDID=DMDLOG_0030&LOGID=LOG_0030&PHYSID=PHYS_0251 Abb. 12: Mariä-Opferkirche in Čeboksary (1657) Quelle: http://enc.cap.ru/pics/%D1%81%D0%BE%D0%B1%D0%BE%D1%80%20 %D0%B2%D0%B2%D0%B5%D0%B4%D0%B5%D0%BD%D0%B8%D1%8F.gif Abb. 13: Emeljan Pugačev Quelle: Wikipedia russ. Abb. 14: Karte 5: Migrationen der Tschuwaschen vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Vorlage E. Jagafova) Abb. 15: Titelblätter der Werke von Gerhard Friedrich Müller und Johann Gottlieb Georgi Quelle: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN331674602&DMDID=DMDLOG_0001&LOGID=LOG_0001&PHYSID=PHYS_0003; http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN332192865&DMDID=DMDLOG_0002. Abb. 16: Zeichnung von Tschuwaschinnen im Werk von Peter Simon Pallas (1771) Quelle: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN329913735&DMDID=DMDLOG_0009 Abb. 17: Abbildung einer Tschuwaschin in Johann Gottlieb Georgis »Beschreibung aller Nationen des Russischen Reiches« (1776) Quelle: http://www.vokrugsveta.ru/encyclopedia/images/2/2b/Chuvash.Georgi. ch.1.1776.pg.jpg Abb. 18: Tschuwaschinnen in ihrer traditionellen Tracht (Foto um 1900). Quelle: http://narod.samddn.ru/53-chuvashi/istoriko-etnograficheskij-ocherk Abb. 19: Abbildung von Tschuwaschinnen in Karl Rehbergs »Les peuples de la Russie« (1812). Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b2300469z/f51.item Abb. 20: Titelblatt des Werks von Vasilij Sboev: Die Tschuwaschen in ihrer Lebensweise und ihren historischen und religiösen Beziehungen. Ihre Herkunft, Sprache, Bräuche, Glaubensvorstellungen, Überlieferung etc. Moskau 1865. Quelle: http://cs628824.vk.me/v628824301/25af1/fxURVats_mc.jpg Abb. 21: Tschuwaschische Bauernhäuser (um 1900). Quelle: Archiv ČGIGI . Abb. 22: Lehrer mit Schülerinnen und Schülern beim Gesangsunterricht (um 1890) Quelle: Archiv ČGIGI.. Abb. 23: Tschuwaschische Redensarten und Märchen, zusammengestellt von Spiridon Michajlov, Übersetzer der tschuwaschischen Sprache. Kazan‘: Universitäts-Typographie 1853. Quelle: http://gov.cap.ru/Home/12//1/2008/news/20080617.jpg (500 px)

Liste der Bilder mit Legenden

Abb. 24: Die Stadt Koz’modem’jansk (zeitgenössische Ansichtskarte) Quelle: http://kuzma1583.narod.ru/foto21.html Abb. 25: Die Stadt Simbirsk (zeitgenössische Ansichtskarte) Quelle: http://xn----9sbdblereaohiofr4b7d.xn--p1ai/biography/image/simbirsk_palacestreet.jpg Abb. 26: Ivan Jakovlev: Tschuwaschische Fibel 1880 Quelle: http://www.myshared.ru/slide/608937/ Abb. 27: Denkmal für Ivan Jakovlev in Čeboksary Quelle: http://foto.cheb.ru/foto/foto.cheb.ru-4070.jpg Abb. 28: Nikolaj Nikol’skij mit seiner Frau. Quelle: Archiv ČGIGI Abb. 29: Gavriil Aljunov (2. von links)mit drei anderen Studenten des Priesterseminars von Simbirsk (1899) Quelle: Leontev, Chypar S. 227 Abb. 30: Daniil Ėl’men‘1913 Quelle: Archiv ČGIGI Abb. 31: Das Denkmal für Konstantin Ivanov in Čeboksary (im Hintergrund das Denkmal der »Mutter-Beschützerin«) Quelle: http://foto.cheb.ru/foto/foto.cheb.ru-6600.jpg Abb. 32: Die erste Nummer der Zeitung Chypar 1906 Q u el le : https : / / w w w. go o gle. at / s e arch ? q = % D 1 % 85 % D 1 % 8 B % D 0 % B F%D0%B0%D1%80&biw=1093&bih=490&source=lnms&tbm=isch&sa=X&sqi=2&ved=0CAcQ_AUoAmoVChMI8Yqx18HQxwIVJP1yCh2NzQCr&dpr=1.25#imgrc=WBZguo89cD3GrM%3A Abb. 33: Bürgerkriegsfreiwillige des Tschuwaschischen Lehrerseminars von Simbirsk im April 1919 Quelle: GIA ČR Abb. 34: Hungernde tschuwaschische Bauernfamilie (1921) Quelle: GIA ČR Abb. 35: Zwei tschuwaschische Bäuerinnen. Quelle: Archiv ČGIGI. Abb. 36: Karte 6. Die Tschuwaschische ASSR 1928 Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D0%90%D1%82%D0%BB%D 0%B0%D1%81_%D0%A1%D0%BE%D1%8E%D0%B7%D0%B0_%D0%A1%D0%BE %D0%B2%D0%B5%D1%82%D1%81%D0%BA%D0%B8%D1%85_%D0%A1%D0%B E%D1%86%D0%B8%D0%B0%D0%BB%D0%B8%D1%81%D1%82%D0%B8%D1%87 %D0%B5%D1%81%D0%BA%D0%B8%D1%85_%D0%A0%D0%B5%D1%81%D0%BF%D1%83%D0%B1%D0%BB%D0%B8%D0%BA_1928_-_%D0%A0.%D0%A1.

269

270

Verzeichnis der Abbildungen

%D0%A4.%D0%A1.%D0%A0._-_%D0%90%D0%B2%D1%82._%D0%A7%D1%83% D0%B2%D0%B0%D1%88%D1%81%D0%BA%D0%B0%D1%8F_%D0%A1.%D0%A1. %D0%A0..jpg Abb. 37: Čeboksary in den 1930er Jahren Quelle: http://enc.cap.ru/pics/%D1%87%D0%B5%D0%B1%D0%BE%D0%BA%D1%8 1%D0%B0%D1%80%D1%8B_%D1%81%D1%82%D0%B0%D1%80.gif Abb. 38: Schule für tschuwaschische Bäuerinnen (1924). Plakat: »Eine wichtige Aufgabe für uns ist jetzt lernen und lernen!« (Lenin) Quelle: https://www.etoretro.ru/pic59215.htm Abb. 39: Der Dichter Mišši Şeşpĕl Quelle: https://i.ytimg.com/vi/y9r5QZdFWzE/maxresdefault.jpg Abb. 40: Bauern der Kolchose Stalin liefern Getreide nach Čeboksary Quelle: Archiv ČGIGI ė Abb. 41: Die sowjetische Briefmarke aus der Serie »Völker der UdSSR«, die den Erfolg der Kollektivierung bei den Tschuwaschen glorifiziert, kontrastiert mit dem wirtschaftlichen Desaster und dem weit verbreiteten Widerstand unter der Bauernschaft Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tschuwaschen#/media/File:Stamps_of_the_ Soviet_Union,_1933-431.jpg Abb. 42: Eine Tschuwaschin, die als »Kulakin« eingestuft wurde und deshalb als »Einzelbäuerin« außerhalb der Kolchose stand, beim Pflügen Quelle: Archiv ČGIGI Abb. 43: Die ersten Traktoren erreichen das tschuwaschische Dorf Quelle: Archiv ČGIGI Abb. 44: Pioniere feiern den 1. Mai Quelle: Archiv ČGIGI Abb. 45: Ehemaliges Stalindenkmal in Čeboksary Quelle: http://www.etoretro.ru/data/media/2227/134588923715b.jpg Abb. 46: Sergej Petrov, Parteichef in Tschuwaschien von 1926 bis 1937 Quelle: GIA ČR Abb. 47: Das Gefängnis des NKVD in Čeboksary Quelle: Kniga pamjati Bd. 1, Tafel nach S. 304. Abb. 48: Hopfen-Ernte. Tschuwaschien ist der mit Abstand wichtigste Hopfen-Produzent Russlands Quelle: http://shandi1.livejournal.com/284559.html Abb. 49: Das moderne Čeboksary Quelle: http://komanda-k.ru/sites/default/files/zima_vesna_2012_155.jpg Abb. 50: Andrijan Nikolaev und Valentina Tereškova Quelle: wikipedia deutsch

Liste der Bilder mit Legenden

Abb. 51: Nadežda Pavlova mit Nikolaj Ciskaridze im Moskauer Bol’šoj-Theater Quelle: GIA ČR Abb. 52: Valentina Egorova Quelle: http://www.sporting-heroes.net/content/thumbnails/00105/10420-zoom.jpg Abb. 53: Gennadij Ajgi http://www.regnum.ru/news/cultura/1898503.html Abb. 54: Atner Chuzangaj Quelle: Wikipedia russ. Abb. 55: Nikolaj Fedorov (im Hintergrund das Denkmal der » Mutter-Beschützerin« in Čeboksary) Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Korus_Nikolay_Vasilyevich_Fyodorov_23_june_2010_(crop).jpeg Abb. 56: Der junge Vasilij Dimitriev mit seiner Frau Lidija Quelle: Dimitriev, Vasilij Dimitrievič. 2013. Abb. 57: Vasilij Dimitriev in vorgerücktem Alter Quelle: http://2.bp.blogspot.com/-9irw9T9WruI/T-33m8fur0I/AAAAAAAAAFs/ ubwttNBwZVc/s1600/Dimitriyev_V.jpg

271

Personenregister

Abramov, Jakov 149 Achpaev, Gebrüder 71 Achtubaev, Pachtemejko 70 Ajgi, Aleksej 222 Ajgi, Gennadij 219–224, 225, 238

Ajgi, Veronika 222 Aleksej Michajlovič, Zar 67 Aljunov (Fedorov), Gavriil 137–139, 144f., 149, 152–154, 236 Almisch (Almasch), Khan der Wolgabulgaren 28 Andreev, Jakov 205 Antonov, Aleksandr 156 Artem’ev, Aleksandr 125

Ašmarin, Nikolaj 29, 134, 172, 196 Asparuch, Khan der Bulgaren 26 Azisov, Michail 191 Balakirev, Mili 131. Bal’mont, Konstantin 141 Barjatinskij, Jurij 68f. Batu, Khan der Mongolen 29 Baudelaire, Charles 220 Belilin, Vasilij 129 Belilin, Vasilij 129 Bering, Vitus 88 Berezin, Il‘ja 125 Bičurin, Iakinf 121 Bobrovnikova ( Jakovleva), Ekaterina 129, 131 Bogatyrev, Aleksandr 217 Bolotnikov, Ivan 66 Boris, Fürst der Bulgaren 27 Bucher, Gudrun 91

Busch, Ernst 155 Čapaev, Vasilij 154f. Čarykov, Ivan 205 Čerepanova, Nadežda 215 Charitonova, Valentina 17 Chruščev, Nikita 213 Chuzangaj, Atner 225f. Chuzangaj, Petr 173, 196, 203, 220

Ciskaridze, Nikolaj 217 Davies, Sarah 181 Dante 221 Davydov, Protopope 75 De l’Isle de la Croyère, Louis 88 Denikin, Anton 185 Dimitriev, Vasilij 17f., 35–37, 47f., 230–234 Dowler, Wayne 19 Dschingis Khan 29 Efremov, Efrem 112 Efremov, Nikolaj 149 Efremov, Prokopij 115 Egorov, Petr 121 Egorov, Vasilij 172 Egorova, Valentina 217f.

El‘cin ( Jelzin), Boris 226f. Ėlifanov, Stepan 202 Ėl’men‘ (Semenov), Daniil 137–141, 144f., 153f., 157–159, 166, 169, 174, 236 Emeljanov, Petr 184 Epifanov, Petr 232 Evtušenko, Evgenij 222

274

Personenregister

Fachrutdinov, Ravil’ 38 Falck, Johan Peter 89, 94f., 105 Fedor Ivanovič, Zar 66 Fedorov, Aleksandr 149 Fedorov, Nikolaj 15, 224–230, 234, 236 Friedrich III., Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorp 91 Fuks, geborene Apechtina, Aleksandra 108, 123 Fuks (Fuchs), Karl 108 Furmanov Dmitrij 155 Gagarin, Jurij 212 García Lorca, Federico 221 Georgi, Johann Gottlieb 89–91, 94–97, 101-105, 107f. Geraci, Robert 19 Gmelin, Johann Georg 88f., 92, 96f. Gorbačev, Michail 224 Gordeev, Vjačeslav 217 Goto, Masanori 19 Gramsci, Antonio 14 Gubajdullina, Sof ’ja 221 Herberstein, Sigismund von 41, 49f., 87, 91 Ibn-Fadlān, Ahmad 28 Ignat’ev, Michail 229 Ignat’ev, Sidor 148 Il’minskij, Nikolaj 118, 129, 133f., 136 Ivan III., Moskauer Großfürst 39 Ivan IV. (der Schreckliche), russischer Zar 29, 39, 42, 44, 46, 66 Ivanov, Gerasim 204 Ivanov, Konstantin 141–145, 174, 220, 225 Ivanov, Vitalij 18f. Izorkin, Arsenij 19, 48

Jagafova, Ekaterina 17, 19 Jakovlev, Ivan 119, 127–133, 134, 136, 138, 141f., 144f., 149, 170, 174, 195, 236 Jenkinson, Anthony 41

Juchma, Mišši 225 Juman, Mĕtri siehe Petrov, Dmitrij

Kachovskij, Vasilij 34f. Kalinin, Michail 165 Karamzin, Nikolaj 125 Kasimov, Evgenij 17, 19, 179 Katharina II., Zarin 78f., 89, 102 Kerenskij, Aleksandr 130 Kerenskij, Fedor 130 Kirov, Sergej 197 Klaproth, Julius 23 Klement‘ev, Vladimir 18f. Komissarov, Gurij 153, 172 Kondrat‘ev Petr 79, 81 Korneev, Emel‘jan 107 Kotrag, Khan der Wolgabulgaren 27 Kozlov, Fedor 17, 203 Krašeninnikov, Stepan 88 Krasnov, Aleksandr 150, 154

Kravkov, Matvej 70 Krečetnikova, Klavdija 157f. Kubrat (Kobrat), Khan der (Proto-) Bulgaren 26 Kuprojanov, S., Protopope 74 Kurakov, Lev 226 Kurbskij, Andrej 44, 46 Lenin, Vladimir 130, 150, 165, 192, 211 Lepechin, Ivan 89, 95–97, 101, 103f., 108 Lermontov, Michail 141f. Lisin, Gennadij siehe Ajgi, Gennadij Lisin, Nikolaj 219 Lisina, Eva 219

Personenregister

Lomonosov, Michail 126 Magnickij,Vasilij 136 Majakovskij, Vladimir 220 Marr, Nikolaj 33f. Medved’ev, Dmitrij 229 Michail Fedorovič Romanov, Zar 66f.

Michajlov, Spiridon 121–126, 130, 136, 144f., 236 Michajlov, V., Pope 74 Mineeva, Elena 18 Mišakova, Ol‘ga 204 Mistral, Frédéric 141 Mitta, Vasilej 173f., 203, 220 Molotov, Vjačeslav 184, 198 Mota, Rosa 217 Muchamedov, Irek 217 Müller, Gerhard Friedrich 88–97, 100–106, 108 Nekrasov, Nikolaj 141 Nikitin, Filipp 198f. Nikolaev, Andrijan 212–215, 236

Nikolaev, Gennadij 18 Nikolaev, Semen 149, 151–154 Nikolaev (Churi), Timofej 149 Nikolaeva, Elena 217f.

Nikolaus I., Zar 116 Nikolaus II., Zar 149 Nikol’skij, Nikolaj 133–138, 144f., 147–151, 236 Ogulevič, Konstantin 217 Olearius, Adam 87, 91–93, 95 Oris, Boris Ivanovič 76 Palach, Jan 221 Pallas, Peter Simon 89–91, 94–97, 100, 102f., 107f., 172

Boris Pasternak 220 Pavlov, Dmitrij 157 Pavlov, Fedor 143 Pavlova, Nadežda 215–217, 219

Peter der Große, Zar 61, 73f. Peter III., Zar 79f. Petrov, Dmitrij (Mĕtri Juman) 152–154, 172, 174, 196 Petrov, Sergej 169, 178. 196f., 202, 204f. Platonov, Sergej 131 Pogodin, Michail 125f. Popovyč, Pavlo 213 Poppe, Nikolaj 172 Posoškov, Ivan 72, 75 Prešeren, France 141 Prokop’ev, Leonid 226 Pugačev, Emeljan 79–82, 122 Putin, Vladimir 47, 226–230, 234 Rachmul, Petr Ivanov 79 Radloff, Friedrich Wilhelm Leopold 24, 131 Razin, Stepan (Sten’ka) 68–71, 80 Rehberg, Karl 106f. Rekeev, Aleksej 131 Reclam, Anton 131 Robe, Fatume 218 Robel, Léon 221 Rönnroth, Elias 141 Rozanov, Aleksej 202 Ryčkov, Nikolaj 89, 95, 101, 103, 105 Ryčkov, Petr 89, 93–95 Sacharova, Ljudmila 216

Sach‘janova, Marija 204 Said, Edward 14 Šalamov, Varlam 221 Salmin, Anton 17, 19, 53

275

276

Personenregister

Savel’ev, Pavel 112 Sboev, Vasilij 108-112, 123 Schott, Wilhelm 24 Selivanov, Familie 115 Şeşpĕl, Mišši (Michail Sespel’) 173, 220 Sevastjanov, Vitalij 214 Ševčenko, Taras 141f. Šnirel’man, Viktor 19 Somov, Aleksandr 205 Spivak, Gayatri Chakravorty 14f. Stalin, Josef (Iosif ) 34, 165, 169, 175, 177, 179, 184, 187, 190-192, 198 Stepanov, Egor 81 Strahlenberg, Philipp Johann von 23, 92f., 101, 108, Svečin, Aleksandr 78f. Tajmasov, Leonid 17 Tatiščev, Vasilij 29, 31 Tereškova, Valentina 213-215

Tichomirov, Michail 232 Titov, German 213 Titov, Germogen 152 Toksin, Vasilij 205 Tolstoj, Lev 141 Trubina, Marfa 215 Ujama, Tomochito 19 Uljanov, Il’ja 130, 211 Uljanov, Vladimir, siehe Lenin Vasil’ev, Ivan 152-154 Vasilij III., Moskauer Großfürst 39 Vermeulen, Han 91 Višnevskij, Viktor 24 Volkov, Aleksej 204 Weinert, Erich 155

Werth, Paul 19 Whitman, Walt 221 Žirinovskij, Vladimir 226 Zjuganov, Gennadij 226 Zolotnickij, Nikolaj 118 Zolotnickij, Nikolaj 118