Der Spätstalinismus und die "jüdische" Frage: Zur antisemitischen Wendung des Kommunismus 9783412304324, 3412019984, 9783412019983

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Der Spätstalinismus und die "jüdische" Frage: Zur antisemitischen Wendung des Kommunismus
 9783412304324, 3412019984, 9783412019983

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Der Spätstalinismus und die „jüdische Frage"

SCHRIFTEN des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien

Herausgegeben von Nikolaus Lobkowicz, Leonid Luks und Donal O'Sullivan

Band 3

DER SPÄTSTALINISMUS UND DIE JÜDISCHE FRAGE" Zur antisemitischen Wendung des Kommunismus

Herausgegeben von Leonid Luks

§

1998

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Spätstallnismus und die „jüdische Frage" : zur antisemitischen Wendung des Kommunismus / hrsg. von Leonid Luks. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 1998 (Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien ; Bd. 3) ISBN 3-412-01998-4 © 1998 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Magenta 4, Eichstätt Umschlagabbildungen: Moskau, Kreml. Feier zum 1. Mai 1946: Stalin und seine Gefährten; New York 26. Januar 1953: Demonstrationen gegen die Verfolgung von jüdischen Ärzten in der UdSSR Satz: ZIMOS, Eichstätt Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier Druck und Verarbeitung: MVR Druck, Brühl Printed in Germany ISBN 3-412-01998-4

Inhaltsverzeichnis

Leonid Luks "Vbrwort

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Eduard Goldstücker Der stalinistische Antisemitismus - ein Erlebnisbericht

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Lindmila Dymerskaya-Tsigelman Die Doktrin des Stalinschen Antisemitismus. Zur Entstehungsgeschichte

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Shimon Redlich The Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR: New Documentation from Soviet Archives.

53

Lev Besymenski Was das Sowjetvolk vom Holocaust wußte

69

Gennadij Kostyrcenko Der Fall der Ärzte

89

Vladimir Naumov Die Vernichtung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees

117

Eitan Finkelstein Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel von 1948 - 1953. Thesen eines \brtrages

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Peter Krupnikow Juden im Baltikum 1945-1953

155

Karel Kaplan Der politische Prozeß gegen R.Slänsky und Genossen

169

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György Dalos Juden in Ungarn nach 1945

189

Hildrun Glass Die kommunistische Politik gegenüber der jüdischen Minderheit in Rumänien (1944-1953)

199

Krystyna Kersten Polish Stalinism and the So-Called Jewish Question

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Gerd Koenen Die DDR und die "Judenfrage". Paul Merker und der nicht stattgefundene "deutsche SMsky-Prozeß" 1953

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Leonid Luks Stalin und die "jüdische Frage" Brüche und Widersprüche

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Über die Autoren

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Vorwort

Stalins Politik gegenüber den Juden zeichnete sich durch eine ausgesprochene Ambivalenz aus, die besonders nach dem Ausbruch des deutschsowjetischen Krieges deutlich zum Ausdruck kam. Einerseits versuchte Moskau die jüdische Karte zu spielen und gründete zu diesem Zweck im April 1942 das Jüdische Antifaschistische Komitee. Das Komitee appellierte an die jüdische Öffentlichkeit im Westen, die Sowjetunion in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen. Zur gleichen Zeit begann aber die KremlfÜhrung Säuberungen nach rassischem Prinzip vorzunehmen, um manche sowjetische Institutionen von der sog. "jüdischen Dominanz" zu befreien. Der Antisemitismus, der bis dahin im kommunistischen Vokabular als "bürgerliches Vorurteil" gegolten hatte und immer wieder angeprangert worden war, begann nun immer stärker die sowjetische Politik zu bestimmen. Vor der partiellen Öffnung der sowjetischen Archive war die Mehrheit der Forscher davon überzeugt, daß die antisemitische Wende des stalinistischen Regimes erst nach der Bezwingung des Dritten Reiches stattgefunden hatte. Die nun zugänglichen Dokumente zeigen, daß diese Wende um einige Jahre vorverlegt werden muß. Bereits im Jahre 1942, als die deutschen Truppen sich Stalingrad näherten, wurde in der Abteilung für Propaganda des bolschewistischen ZK eine Reihe von Denkschriften und Dokumenten mit eindeutig antisemitischem Charakter verfaßt. Die Grundzüge der antikosmopolitischen Kampagne, die einige Jahre später beginnen sollte, waren hier bereits antizipiert. Auch nach der Bezwingung des Dritten Reiches blieb die sowjetische Judenpolitik ausgesprochen ambivalent. So läßt z.B. die von Stalin befohlene Ermordung des Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und Schauspielers Solomon Michoels viele Fragen offen. Denn der Mord an dieser Symbolfigur des sowjetischen Judentums fand ausgerechnet in der Zeit statt, als Moskau dabei behilflich war, den uralten jüdischen Traum von der Errichtung eines eigenen Staates zu verwirklichen. Die UdSSR setzte sich vehement für die Gründung des Staates Israel ein und unterstützte den neuentstandenen jüdischen Staat massiv in seinem Überlebenskampf.

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Vorwort

Ein Satellitenstaat Moskaus - die Tschechoslowakei - lieferte 1948 dringend benötigte Waffen nach Israel. Die Juden aus den von der Sowjetunion abhängigen Staaten Osteuropas durften relativ ungehindert nach Israel auswandern. Etwa 300.000 von ihnen gelangten in den Jahren 1948-52 in den jüdischen Staat. Zugleich bekämpfte aber Moskau brutal die zionistischen Bestrebungen in der Sowjetunion selbst und ließ, bis auf wenige Ausnahmen, keine sowjetischen Juden nach Israel auswandern. Alle diese Widersprüche bedürfen einer Erklärung. Auch die sog. antikosmopolitische Kampagne, die seit 1948/49 eindeutig antisemitisch ausgerichtet war, enthielt mehrere Widersprüche. Trotz der weitgehenden Stalinisierung des Ostblocks wurde die antikosmopolitische Kampagne in einzelnen kommunistischen Ländern mit unterschiedlicher Intensität geführt. Deshalb ist eine vergleichende Analyse der jeweiligen Rahmenbedingungen erforderlich, um die Frage nach den Ursachen für die antijüdische Wendung des Stalinismus zu beantworten. Auch ein anderes Problem bedarf einer Klärung: warum wurde die sog. antikosmopolitische Kampagne von 1948/49 vorübergehend eingestellt, um dann, nach zwei Jahren, in einer noch schärferen Form wiederaufzuleben? Die ambivalente Einstellung der stalinistischen Führung zur jüdischen Frage war sicher mit dem internationalistischen Erbe der bolschewistischen Ideologie verknüpft. Trotz der physischen Vernichtung eines großen Teils der "alten bolschewistischen Garde" konnte sich Stalin von der bolschewistischen Tradition, die auch universalistische Komponenten enthielt, nicht gänzlich lossagen. Dies hätte die Legitimität seines Regimes in Frage stellen können. Deshalb war der offene und hemmungslose Antisemitismus, wie ihn rechte Gruppierungen praktizieren, für die Stalinisten nicht möglich. Ihre antijüdische Politik mußte zwangsläufig viele Widersprüche und Brüche enthalten. In den letzten Jahren der Stalinschen Herrschaft (etwa ab 1951) begann die sowjetische Judenpolitik ihre Ambivalenz zu verlieren und wurde beinahe offen antisemitisch. Auch diese politische Wende gibt der Forschung Rätsel auf. Unklar ist auch die Tatsache, warum der Prozeß gegen führende Vertreter des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (Mai-Juli 1952), der mit 13 Todesurteilen endete, geheim blieb, der Slänsky-Prozeß hingegen (November 1952), der eine neue Terrorwelle gegen die Juden einleiten sollte, öffentlich verlief.

Vorwort

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Alle diese Fragen standen im Zentrum des Symposiums, zu dem das Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) und der Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt fuhrende russische, israelische, tschechische, polnische, ungarische und deutsche Kenner der Problematik eingeladen haben. Bei dem Symposium handelt es sich um die erste, derart breite Zusammenkunft führender Kenner der Thematik seit der partiellen Öffnung der osteuropäischen Archive. Die Tagungsbeiträge sind in diesem Sammelband enthalten. Ich möchte an dieser Stelle meinen herzlichen Dank allen aussprechen, die das Zustandekommen sowohl des Symposiums als auch des Tagungsbandes ermöglicht haben: Der Volkswagen-Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung des Symposiums, den Referenten, die nicht selten einen langen Anreiseweg nach Eichstätt zurücklegen mußten, für ihre anregenden Vorträge und Diskussionsbeiträge. Besonders herzlich möchte ich mich bei Frau Chiara Savoldelli bedanken, und zwar sowohl für die organisatorische Betreuung des Symposiums wie auch für die Fertigstellung des druckfertigen Typoskripts. Sie wurde dabei von Frau Elisabeth Maier tatkräftig unterstützt, die ich ebenfalls mit großem Dank erwähnen möchte. Frau Cornelia Baumgartner danke ich sehr herzlich für das Abtippen der Tonbandaufzeichnungen. Und last but not least gilt mein besonderer Dank Herrn Peter Paul Bornhausen für das aufmerksame Lektorieren der Texte. Leonid Luks

Eduard Goldstücker Der stalinistische Antisemitismus - ein Erlebnisbericht Einführung in das Thema

Leonid Luks Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Sie nun herzlich zum Vortrag von Herrn Professor Goldstücker begrüßen, der unser Symposium: "Der Spätstalinismus und die jüdische Frage" eröffnen wird. Im Zentrum dieses Symposiums wird eine äußerst paradoxe Frage stehen. Warum eine Macht, gemeint ist die Sowjetunion, die 1945 die Tore von Auschwitz geöffnet hatte, einige Jahre später einen brutalen Feldzug gegen die von ihr geretteten Juden begann. Etwa drei Jahre nach der Bezwingung des Dritten Reiches begann nämlich im kommunistisch beherrschten Osteuropa und in der Sowjetunion die sogenannte antikosmopolitische Kampagne, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit der nationalsozialistischen Judenhetze aufwies. Die Juden wurden von den stalinistischen Propagandisten als nicht integrierbare Fremdlinge, als Schmarotzer bezeichnet, die jede nationale Kultur zersetzten. Diese Kampagne intensivierte sich fortwährend, bis sie Ende 1952 Anfang 1953 ihren Gipfel erreichte. Damals fand in Prag der erste antisemitische Schauprozeß statt, der mit elf Todesurteilen endete, sechs Wochen später begann in Moskau die sogenannte Ärzte-Affäre, die eine Art Lösung der jüdischen Frage in der Sowjetunion herbeifuhren sollte. Diese partielle Nazifizierung der kommunistischen Ideologie, deren eigentlicher Schöpfer, Karl Marx, selbst jüdischer Herkunft war, gibt der Forschung bis heute Rätsel auf. Um einigen dieser Rätsel auf die Spur zu kommen, versammelten sich hier in Eichstätt fuhrende Kenner der Thematik aus Ost und West zu einem Symposium. Dieses Symposium wird durch den Vortrag von Professor Dr. Eduard Goldstücker eröffnet, der die antikosmopolitische Kampagne "in den Kno-

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Eduard Goldstücker

chen trägt", wie er sich einmal in einem Brief an uns geäußert hat. Als führender tschechoslowakischer Diplomat befand er sich in den Jahren 1949-1951 auf einem sehr heißen Posten. Er war Gesandter seines Landes in Israel. Dafür aber, und vor allem für seine jüdische Herkunft mußte er büßen. 1951 wurde er verhaftet und zwei Jahre später als sogenannter jüdischer bourgeoiser Nationalist zu lebenslangem Kerker verurteilt. Allen diesen Ereignissen ist auch sein Vortrag gewidmet. Wenn man von Herrn Goldstücker spricht, darf man auch nicht unerwähnt lassen, daß er zu den besten Kennern der deutschen Literatur zählt. Für seine Bücher über Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel und viele andere erhielt er unzählige Literaturpreise. In dem für sein Land schicksalhaften Jahr 1968 wurde Herr Goldstücker zum Vorsitzenden des tschechoslowakischen Schriftsteller-Verbandes gewählt. Auch dafür wie seinerzeit für seine jüdische Herkunft mußte er büßen. Die Zeit der sogenannten Normalisierung in der Tschechoslowakei - etwa zwanzig Jahre - verbrachte er im englischen Exil. Jetzt lebt er wieder in Prag und nun, sehr verehrter Herr Goldstücker, haben Sie das Wort.

Eduard Goldstücker Sehr verehrter Herr Luks, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die große Ehre, die mir durch die Einladung erwiesen wurde, dieses Symposium mit meinem autobiographischen "Vortrag" zu eröffnen. Ich weiß, daß mir diese Ehre hauptsächlich deshalb erwiesen wurde, weil ich ein alter Mann bin; denn je älter man wird, um so mehr ist man Zeuge der erlebten Zeit. Ich muß den Geist eines uralten Chinesen unwissentlich beleidigt haben, denn von den alten Chinesen sagt man, daß sie in ihrem Umgang miteinander hoch kultiviert waren, nicht so grob wie wir. Und als zwei solche alte, kultivierte Chinesen in einen Streit gerieten, benutzten sie nicht so arge Verwünschungen wie wir. Sie sagten nicht "der Schlag soll dich treffen!" oder "drop dead!", sondern das Ärgste, was einer dem anderen in so einer Lage zu sagen fähig war, hieß: "ich wünsche dir in einer interessanten Zeit zu leben." Ich habe in einer sehr interessanten Zeit gelebt und lebe noch immer in einer solchen.

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Und das bedeutet, daß ich verschiedene Erfahrungen gesammelt habe, nicht nur aus Büchern, sondern aus dem Leben selbst. Nun, dieses Thema, daß für dieses Symposium gewählt wurde, scheint mir sehr wichtig zu sein, denn die Erforschung dieses Themas kann und wird wahrscheinlich zur Beantwortung verschiedener bisher nicht geklärter Phänomena führen, z.B. der Frage, wie es gekommen ist, daß eine am Anfang humanistische, eine Verbrüderung der Menschheit verheißende Bewegung sich in allen Hinsichten in ihren Gegensatz entwickelt. Daß sie mit Internationalismus auftritt, mit der Losung der Brüderlichkeit aller Menschen, aller Rassen, aller Religionen, aller Nationen und am Ende mit chauvinistischen Hetzen und Mordprozessen endet. Was geschieht in der Seele einer Macht, wenn es so etwas gibt, wenn sie um jeden Preis an der Macht bleiben will. Was für Kompromisse und was für einen Verrat ihrer eigenen Ideologie sie hinnehmen muß und was für Opfer sie der Menschheit abverlangt, was für Verbrechen sie an der Menschheit verübt, vorgebend, daß sie diese hohen Ideale verfolgt und verwirklichen möchte. Ich rede deshalb davon, weil der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums eine für mich wenigstens sehr interessante und wichtige Frage aufwirft. Die Sowjetunion war, soweit ich weiß, das größte Unternehmen zur Verwirklichung einer Utopie in der ganzen Geschichte. Es gab in der Geschichte niemals eine so weltweite globale utopische Vorstellung, die verwirklicht werden sollte und an deren Verwirklichung man heranging, wie die Utopie, mit der die Sowjetunion vor die Welt trat. Und die Frage ist, was nach dem schrecklichen und verdienten Zusammenbruch dieses Imperiums mit dieser Utopie geschehen soll, ob wir, die Überlebenden, noch überhaupt daran denken dürfen, daß es eine Utopie gibt und geben kann, die die schwierigen Probleme der gegebenen Gesellschaft von einem Tage zum anderen lösen könnte. Das ist, glaube ich, die wichtigste Folge, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu ziehen ist: daß wir an eine Utopie, an eine Utopie als ein Allheilmittel der gesellschaftlichen Gebrechen nie mehr denken dürfen. Denn eine jede jemals in der Geschichte vorgenommene Utopie endete in einer Tragödie. Und es gibt auch heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verschiedene Ansätze von Utopien. Nun, dieser Übergang von der höchst humanistischen Programmvorstellung zu einem mörderischen Regime, das seine eigenen Ideen verrät und

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ins Gegensätzliche umdreht. Wie ist es dazu gekommen? Daß das internationalistische marxistische Programm mit einer Verhetzung der Völker, nicht nur der Klassen wie am Anfang, sondern der Völker, der Religionen, der Menschen untereinander endete. Man muß vor allem wissen, daß ein totalitäres Regime, wie es das stalinistische war, nicht die Möglichkeit hat, wenn etwas in der Gesellschaft schiefgeht, vor die Bürger zu treten und zu sagen: "wir haben uns geirrt, vergebt uns Genossen, oder Bürger." Wenn ein Regime, ein totalitäres Regime, das allein die Macht in der Hand hält und sie mit niemanden teilt, einmal, zweimal mit einer solchen Entschuldigung vortreten würde, dann würden die Genossen oder die Bürger sagen: "also, geht zum Teufel und gebt jemand anderem die Möglichkeit, unsere Angelegenheiten zu leiten und sich nicht immer wieder zu irren." Ein totalitäres Regime hat diese Möglichkeit nicht. Deshalb muß es zu anderen Mitteln greifen, um das, was nicht gut gegangen ist und was schmerzhaft von den Bürgern empfunden wird, zu erklären. Die Erklärung ist dann: "nicht wir sind schuld, sondern einzelne Verbrecher, die sich in unsere Reihen eingeschlichen haben. Agenten des Feindes, die hohe Positionen erschlichen und dort ihre verräterische, schädliche Arbeit, ihre Wühlarbeit geführt haben." Und ein Regime wie dieses muß immer eine Reserve dieser Menschen haben, die es, wenn notwendig, zu Feinden erklärt und liquidiert - wie dieses schöne Wort in der Sowjetunion hieß - also einen Vorrat von zukünftigen Verbrechern muß dieses Regime immer haben. Und immer daran denken, wer der nächste sein wird, welche Gruppe des Volkes oder der Partei oder der Machtelite es sein wird, die als nächstes Opferlamm aufgeopfert werden soll, um die Macht zu erhalten. Wissen Sie, die ganze Tragödie, denn es war eine schreckliche Tragödie für Millionen in der Sowjetunion, begann in dem Augenblick, wo nach Lenins Revolution keine andere in einem entwickelten Land folgte. Das war ja Lenins Vorstellung, daß er in Rußland die Kette des Imperialismus brechen kann und daß nach diesem großen Beispiel andere Proletarier in anderen, entwickelten Ländern diesem Beispiel folgen würden. Als das nicht eintrat, wir können es heute nach dem Fall des Bolschewismus rückblickend sagen, in dem Augenblick, wo die weiteren Revolutionen ausblieben, war der Versuch einer sozialistischen Gesellschaftsordnung im zurückgebliebenen Rußland unmöglich, und das bedeutete den Anfang des Absterbens der Sowjetunion.

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Denn die Sowjetführung, die bolschewistische Partei mußte von diesem Augenblick an alles tun, um die Macht zu erhalten in einem Land, wo sie eine winzige Minderheit waren. Wenn ich mich nicht irre, hat die bolschewistische Partei Anfang 1917, unmittelbar vor der Revolution 24.000 Mitglieder gehabt. Und mit diesen 24.000 (Ende 1917 zählte die Partei etwa 200.000 Mitglieder) wollten sie ein Land von 150 Millionen beherrschen und eine Weltrevolution einführen. Also mußte die sowjetische Macht, die bolschewistische Macht alle Energien auf die Erhaltung ihrer Macht in einem Land konzentrieren, das anders dachte und andere Interessen hatte als sie: gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Da fing dann auch diese Methode der Machterhaltung an, wie ich angedeutet habe, immer wieder für das, was nicht gelingt, was als schmerzhaft empfunden wird, jemanden als den Schuldigen hinzustellen und ihn für solche schrecklichen Sachen wie Verteuerung, Hunger usw. des Lebens zu berauben. Herr Luks hat es schon erwähnt, einige wenige Jahre nach dem Holocaust, nach Auschwitz kam eine Zeit, wo die Sowjetunion - also die stalinistische Equipe - zu dem Schluß kam, daß die Nächsten, die nun die Rolle der Schädlinge zu spielen hatten, die Juden sein sollten. Und da man vier, fünf Jahre nach Auschwitz nicht "Jude" sagen konnte, da änderte man die Terminologie in den "Kampf gegen den Zionismus". Ich werde dann aus meiner Erfahrung sagen, wie hauchdünn diese Tarnung in der Praxis war. Am Ende dieser Kampagne war auch das zu wenig und offiziell hieß es dann, daß man gegen den Zionismus und Judaismus kämpfen muß: gegen die Schädlinge, die als Agenten im Interesse des Feindes die Sowjetunion und den Sozialismus unterwühlen. Wie ist es dazu gekommen? Wir wissen, daß das bolschewistische Regime ein Land regiert hat, in dem endemisch Judenhaß vorhanden war und in dem der Haß gegen die Juden dem zaristischen Regime immer wieder dazu diente, soziale Spannungen zu entschärfen durch ein offiziell organisiertes oder mit einem durch ein zugemachtes Auge toleriertes Pogrom. Das war eine Methode der zaristischen Regierung, welche die Bolschewiki dann verfeinert und künstlerisch gestaltet haben. Sie haben also ein Land regiert, in dem der, ich sage nicht Antisemitismus, aber der Judenhaß, endemisch da war. Der Judenhaß ist überall in der christlichen Welt vorhanden und heute nicht nur mehr in der christlichen, auch in der arabischen. Er ist

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immer da, seit 2000 Jahren, aber er braucht besondere Umstände, gesellschaftliche Umstände, um aus dem Boden herauszuwachsen und diese Giftpilze des Hasses lind des Mordes zu erzeugen. Die offizielle bolschewistische Propaganda stand von Anfang an offen gegen den Antisemitismus. Lenin schrieb sogar einen sehr wichtigen Artikel dagegen. Offiziell begegnen wir in der sowjetischen Propaganda antijüdische, offizielle antijüdische Einstellungen erst in den letzten Jahren Stalins. Aus Gründen, die wir erwähnen werden. Das ist der Umschwung, der, wie gesagt, dann kam, als es für notwendig gehalten wurde, die Juden als Schädlinge zu bezeichnen und zu liquidieren. Das geschah so in meiner Erinnerung, in meiner Erfahrung, im Zusammenhang mit der Entstehung des Staates Israels. Im Jahre 1949, ich war damals in London Botschaftsrat, wurde ich zu meiner Überraschung zum Gesandten in Israel ernannt. Das war etwa so ein halbes Jahr nach der Entstehung des Staates Israel. Ich blieb in London bis Mitte 1949, kehrte nach Prag zurück und versuchte ein halbes Jahr lang diese Ernennung rückgängig zu machen. Denn ich war der Ansicht, daß es falsch sei, einen Juden als diplomatischen Repräsentanten der Tschechoslowakei nach Israel zu schicken. Meine Bemühung zur Revokation der Ernennung wurde zurückgewiesen und ich mußte nach Israel. Ich kaufte dann im Namen der tschechoslowakischen Republik ein eigenes Haus für die Gesandtschaft. Das war damals alles am Rande der Stadt Tel-Aviv, jetzt ist das, ich habe es 1983 wieder gesehen, in der Mitte der Stadt und der bloße Boden, auf dem dieses Haus steht, ist wenigstens zwanzigmal so viel wert wie das ganze Haus damals. Ich kam am Anfang des Jahres 1950 nach Israel und war dort bis März 1951. Vor meiner Ernennung und vor der offiziellen Aufnahme der diplomatischen Beziehungen war es die Tschechoslowakei, die die Existenz des Staates Israels ermöglichte. Denn in dem Krieg gegen alle arabischen Nachbarn, der, wie Sie wissen, sofort am Tage ausbrach, an dem Ben Gurion den Staat Israel als ein Faktum erklärte, in diesem Krieg wurde der Staat Israel durch tschechoslowakische Waffen gerettet. Ohne diese Waffen wäre die Verteidigung des Staates unmöglich gewesen und die Juden wären, so wie die Araber damals sagten, in das Meer zurückgedrängt worden. Es ist wichtig zu wissen, daß diese tschechoslowakische Hilfe der Waffenlieferungen und der Ausbildung israelischer und jüdischer Soldaten und Offizie-

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re und Flieger usw. in der Tschechoslowakei aufgrund eines Ratschlags der Sowjetregierung geschah. Es konnte anders nicht sein. Ohne den Willen der Sowjetunion wäre die Tschechoslowakei unfähig gewesen, eine solche Hilfe zu leisten. Die Initiative kam also aus Moskau. Denn von allen Staaten des neuen Sowjetimperiums war die Tschechoslowakei am besten dazu vorbereitet, Waffen zu erzeugen und zu liefern. Einige Jahre später, im Jahre 1951/52, wurde derjenige, der für diese Waffenlieferungen auf sowjetischen Rat oder Befehl verantwortlich war, an die Spitze der fabrizierten, nicht existenten Verschwörung gestellt und hingerichtet. Das war Rudolf Slänsky. Stellen Sie sich vor, er tut etwas, was ihm die Sowjetregierung einflüstert oder befiehlt, und zwei oder drei Jahre später wird er dafür, daß er das befolgt hat, gehängt. Das ist der Umschwung. Nun müssen wir zum Ende des Krieges zurückgehen. Wissen Sie, am Ende des Krieges ging man bei allen Verhandlungen über die Nachkriegsordnung in Europa, und zwar auf allen Ebenen, davon aus, daß die West-Ost-Allianz auch nach dem Kriege bestehen bleibt. Alle Entscheidungen der Neuordnung Europas wurden aufgrund dieser Voraussetzung getroffen. Als sich dann sehr bald zeigte, daß die Unstimmigkeiten zu sehr ernsthaften Problemen zwischen Ost und West führten und anstatt einer Allianz sich zwei Lager des Kalten Krieges bildeten und ein heißer Krieg in Stalins Vorstellungen von Tag zu Tag möglich war, dann mußte die Sowjetunion, die Sowjetführung ihr Imperium, ihr Lager, wie das hieß, disziplinieren. Die Sowjetunion mußte Maßnahmen ergreifen, die für eine solche Situation, die da drohte, erforderlich waren: ökonomisch vor allem sicherzustellen, daß genügend Waffen erzeugt werden. Das bedeutete die absolute Vorherrschaft der Schwerindustrie und die Vernachlässigungen dessen, was für das tägliche Leben der Volksmassen wichtiger war wie die Leichtindustrie, die Produktion von Nahrungsmitteln, Produktion von Haushaltsgeräten usw. Auch die Tschechoslowakei mußte sich diesem Kurs anpassen. Dies ungeachtet der Tatsache, daß die Tschechoslowakei, wie Sie vielleicht wissen, in den dreißiger Jahren eines der zehn meist industrialisierten Länder in der Welt war. Aber auch hier wurden die Industrien, die nicht Waffen erzeugten, vernachlässigt und die internationalen Verbindungen auf diesen Gebieten wurden zerschlagen und man baute neue große Betriebe, als ob die Tschechoslowakei erst am Anfang ihrer Industrialisierung stünde.

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Ich spreche deshalb darüber, weil neben diesen ökonomischen Maßnahmen wichtige politische Maßnahmen ergriffen werden mußten, die vom Standpunkt Stalins aus den Zusammenhalt, d.h. die Disziplinierung des disparaten Imperiums sichern sollten. Das bedeutete eine Politik, die diesen Völkern zeigen mußte - sehr nachdrücklich zeigen mußte -, daß sie an nichts anderes denken dürfen als an das, was ihnen von Moskau befohlen wird. Also keine Möglichkeit einer anderen Allianzkombination, keine Möglichkeit einer Teilnahme am Marshallplan. Nichts anderes, als was von Moskau kam. Bis unmittelbar nach dem Kriege propagierte die Sowjetunion die Idee, daß ein jedes dieser neu unter den Sowjeteinfluß geratenen Ländern sich auf seine eigene Art und Weise zum Sozialismus entwickeln sollte. Sobald sich anstatt der Allianz der Kalte Krieg etablierte, wurde diese Idee als sehr schädlich weggeworfen und diejenigen, die an dieser Idee noch festhielten, wurden als Abweichler betrachtet und dann kamen sie oft auf die Anklagebank. Ich datiere das bis zur Gründimg des sogenannten Informationsbüros kommunistischer Parteien: Kominform-Büro. Das war, glaube ich, im September 1947. Damals tagte diese erste Gründungsversammlung der Spitzenvertreter kommunistischer Parteien, darunter auch die der französischen und der italienischen Partei. Damals war schon der Bruch mit Tito reif. Der Bruch mit Tito erfolgte nach einer Rebellion gegen diese Disziplinierung, von der ich spreche. Titos Jugoslawien war der einzige Staat, der sich diesem Übergang vom Verbündeten zum kolonialen Land widersetzte. Tito war der einzige, denn er hatte sein Land selbst, ohne die Rote Armee befreit und konnte der Sowjetunion gegenüber selbständiger auftreten als die anderen. Der Bruch mit Tito war von Moskau her so scharf, so kompromißlos gefuhrt worden, denn die Lösung dieses Problems mußte den andern als Beispiel dienen, nicht zu versuchen, sich selbständig zu machen oder an eine selbständige Zukunft fur sich zu denken. Diesen Charakter hatte die Kampagne gegen Tito. Tito wurde in der ganzen kommunistischen Presse als der Hund des Imperialismus dargestellt. In Karikaturen der kommunistischen Presse führte immer ein amerikanischer oder westdeutscher Imperialist einen Hund an der Leine und auf dem Band um den Hals dieses Hundes stand "Tito" geschrieben. Als dann im Jahre 1968 Tito nach Prag kam und als große moralische Hilfe bejubelt wurde, da kam eine tschechische Zeitung mit dem Titel heraus: Der nichtimperialistische Nichthund ist

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nach Prag gekommen. In meiner vierjährigen Kerkerzeit habe ich zweimal die Möglichkeit gehabt, den Rundfunk zu hören. Einmal als der neue Ministerpräsident Siroky sprach, ein anderes Mal als Chruäöev nach Belgrad fuhr und diesen imperialistischen Hund am Flugplatz mit den Worten ansprach: "dorogoj tovarisc Tito" [teurer Genösse Tito]; plötzlich war dieser imperialistische Hund dorogoj tovarisc. Als ich das im Kerker hörte, sagte ich mir, ich werde bald herauskommen. Die Tito-Affäre diente einem Zweck. Die politischen Maßnahmen, die die Sowjetführung ergriff, um das Land, um das Lager zu disziplinieren, zu vereinheitlichen, sich dienstbar zu machen, waren eine Andeutung, daß sie bereit war, terroristisch vorzugehen, und das wurde in den Massenprozessen gezeigt, in den Schauprozessen, in allen Ländern, wo sie stattfanden. In Polen wurde auch ein solcher Prozeß gegen Jakub Berman vorbereitet, den jüdischen Sicherheitschef, und gegen Gomulka, aber dazu kam es nicht. Wissen Sie, anstatt angeklagt zu werden, wurde Gomulka zum ersten Sekretär der polnischen kommunistischen Partei gewählt und als Erlöser des Landes gefeiert. Das ist auch ein Symptom der fortwährenden Krise dieses Regimes, daß am Ende in drei Fällen Leute das Regime retten mußten, die von Moskau vorher zur Vernichtung bestimmt waren: Gomulka in Polen, Kädär in Ungarn, Husak in der Tschechoslowakei. Diese Leute sollten verschwinden, sollten liquidiert werden. Aber sie überlebten und das Regime brauchte sie, um an der Macht zu bleiben. Nun, der Staat Israel entstand. Die Sowjetunion unterstützte mit allen Mitteln die Entstehung dieses Staates in den Vereinten Nationen, publizistisch, mit Waffenlieferungen via die Tschechoslowakei und dann geschah etwas, was mit Politikern nicht oft geschieht und was das schrecklichste ist, was mit Politikern geschehen kann: daß sie Opfer ihrer eigenen Propaganda werden. Denn die Propaganda ging soweit in der Unterstützung der Bewegung, die zum Staat Israel führte, daß sie verkündete, eine neue Volksdemokratie entsteht dort. Als dann der Staat Israel entstand und sich zeigte, daß es keine Volksdemokratie war, änderte sich die Einstellung der Sowjetunion diesem Staat gegenüber. Als ich nach Israel kam, wurde ich vom Außenminister - dem ausgezeichneten Mann Mosche Scharet - empfangen. Er erzählte mir, daß die Sowjetunion darauf bestand, daß der erste diplomatische Vertreter, der in Israel offiziell empfangen werden soll, der sowjetische sein mußte. Und es

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war wirklich der sowjetische diplomatische Repräsentant, der als erster ins israelische Außenministerium kam und als solcher empfangen wurde. Und dann erzählte mir Scharet, wie er sich auf dieses Treffen vorbereitet hatte. Er sagte seinem Sekretär im Vorzimmer, daß er diesen sowjetischen Diplomaten für wenige Minuten in eine Unterredung verwickeln soll: "Ich will nicht, daß er meint, daß ich ihn so ungeduldig erwarte, wie ich es tue, also einige Minuten wirst du mit ihm eine Unterredung halten, aber paß auf, wenn er dich fragt, was wir von der Sowjetunion denken, sage ihm, daß wir sie als die größte Macht, Großmacht betrachten; wenn er Stalin erwähnt, sage ihm, daß wir ihn für einen der größten Staatsmänner halten. Und wenn er sagt, daß ihre Armee besser ist als die unsere, streite nicht mit ihm und sage ja." Als ich am 3. Januar 1950 nach Israel kam, war dort im diplomatischen Korps ein einziger Botschafter: der amerikanische. Wir andern waren Gesandte, ministres plenipotentiaires, so auch der britische Gesandte Herr MacDonald, ein sehr kultivierter alter Herr, er war der ständige doyen des diplomatischen Korps. Das erwähne ich deshalb, weil die Sowjetunion die Entstehung des Staates Israel deswegen so nachdrücklich unterstützte, weil sie die Position Großbritanniens im Nahen Osten schwächen wollte. Das war der wirkliche Grund der Unterstützung. Als sich dann herausstellte, daß statt Großbritannien die Vereinigten Staaten diese Position einnahmen, da wandte sich langsam die Einstellung der Sowjetunion Israel gegenüber. Ich habe einige Stadien davon erlebt. Meiner Ansicht nach erfolgte der entscheidende Punkt des Wechsels von der positiven Einstellung gegenüber Israel zur negativen in dem Augenblick, als der Staat Israel zeigen wollte, daß er den Kontakt mit der Sowjetunion hoch schätzte und deshalb seine beste Vertreterin in die Sowjetunion schickte. Dies war Golda Meirson damals hieß sie noch so. Ich habe sie noch so kennengelernt. Golda Meirson - später Golda Meir - kam in die Sowjetunion und wurde von den sowjetischen Juden als ihre Repräsentantin begrüßt und enthusiastisch empfangen. Und das gab Stalin die Idee, daß die Juden nach der Entstehung des Staates Israels ständig eine doppelte Loyalität haben würden, von seinem Standpunkt aus also unzuverläßlich seien. Und es wurde diskret zustande gebracht, daß Golda Meir ohne Publizität zurückgerufen wurde und in dem Augenblick, als sie die Sowjetunion verließ, zerbrach die Sowjetregierung alle jüdischen kulturellen Einrichtungen und es fing eine

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Entwicklung an, die zum Prozeß der Vertreter des Jüdischen Antifaschistischen Komitees führte. Das war der kritische Punkt, meiner Ansicht nach. Stalin hatte nun die ideö fixe, daß die Juden eine doppelte Loyalität hätten, sobald sie ihren Staat besitzen und daß man sie als ein potentiell schädliches Element im Staate anzusehen hätte. Unterdessen gab es, wie Sie wissen, im Jahre 1949 einen der ersten Schauprozesse in Osteuropa - den Rajk-Prozeß in Ungarn. Laszlo Rajk wurde zusammen mit anderen zum Tode verurteilt. Rajk war Außenminister, dann gab man ihm eine andere Funktion und dann verhaftete man ihn und organisierte einen großen Prozeß. Einen Prozeß vor allem gegen jüdische Exemigranten aus dem Westen. Bei diesem Rajk-Prozeß wurde allem Anschein nach von der sowjetischen Geheimpolizei eine Liste ausgearbeitet, die von der Idee ausging, daß der Rajk-Prozeß nur eine Erscheinungsform einer internationalen Verschwörung gegen den Sozialismus ist. Das Zentrum dieser Verschwörung piazierte man in die Tschechoslowakei. Diese Theorie erarbeitete die sowjetische Geheimpolizei mit der ungarischen gemeinsam. Bei dem Rajk-Prozeß wurde eine Liste von ungefähr 60 Namen erstellt und Gottwald nach Prag geschickt. Dies war die Liste der sogenannten Staatsfeinde und Gottwald wurde aufgerufen, mit diesen Individuen wie mit Staatsfeinden umzugehen. Mein Name war auch darunter. Das war am Umbruch des Jahres 1949/50. Bereits Ende des Jahres 1949 begannen in Prag die ersten Verhaftungen kommunistischer Exemigranten. Es wurden der damalige Vizeminister für auswärtigen Handel, Eugen Loebl, und ein nichtjüdischer Chefredakteur verhaftet. Beide waren in Krakau in der politischen tschechoslowakischen Emigration tätig und in Verbindung mit einem Amerikaner Namens Hermann Field gewesen. Der war in Krakau, den habe ich gekannt. Ich war ja auch Emigrant in Krakau. Sein Bruder Noel Field war während des Krieges in der Schweiz. Er wurde verhaftet und auch Hermann Field wurde verhaftet und wegen dieser zwei Brüder wurde eine große Verschwörung fabriziert. Die Brüder Field waren der Sowjetgeheimpolizei sehr willkommen, die das organisierte, denn es handelte sich um westliche Kommunisten, die im Osten tätig waren. Also Verbindungsmänner der verschwörerischen Spionage. Nun einige Worte zu dieser Vorstellung, daß sich in der Tschechoslowakei das Zentrum dieser internationalen Verschwörung befand. Ich erwähnte, daß Eugen Loebl im November 1949 verhaftet wurde, zusammen mit seiner

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Frau, einer Österreicherin, die seinerzeit in England mit uns in der Emigration war. Als sie verhaftet wurde, war ich bereits zum Gesandten in Israel ernannt, aber ich war damals noch in Prag. Wie ich später erfuhr, wurde sie schon verhört und gedrängt, über Goldstückers Antistaatsaktivitäten zu erzählen. Nun ich war in Israel, wie gesagt, von Anfang 1950 bis Frühjahr 1951. Dann wurde ich zum Gesandten in Schweden ernannt. Aber nach Schweden kamen nur meine Handkoffer, ich wurde unter verschiedenen Vorwänden in Prag zurückgehalten und ein halbes Jahr später verhaftet - unmittelbar nach Rudolf Slänsky. Diese sogenannte tschechoslowakische Verschwörung mußte nun zusammengesetzt werden. Man mußte entscheiden, wer da als der Hauptverbrecher, Hauptverschwörer fungieren und wer mit angeklagt werden sollte. Das dauerte über zwei Jahre in der Tschechoslowakei. Denn man ging einige Szenarien für diese sogenannte Verschwörung durch. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Die erste, die man betrachtete, war, daß die Hauptverschwörer und Hauptangeklagten die leitenden Kommunisten in der englischen Emigration sein sollten. Die kommunistische Partei der Tschechoslowakei hat während der Emigration der Hitlerjahre in England eine Organisation gehabt. Aber es hat sich als unmöglich erwiesen, diese Leute als Hauptverschwörer hinzustellen, denn der Leiter dieser Organisation war ein älterer, hochgeschätzter Bergmann aus Kladno, der dann in der ersten Nachkriegsregierung Innenminister wurde und dem man das Leben auch so bitter machte, daß er bald an einem Herzinfarkt starb. Er hieß Vaclav Nosek. Er sollte der Hauptverschwörer werden. Aber inzwischen kam Stalin zu der Überzeugung, daß die Juden unzuverlässig seien. Man begann, an einem anderen Szenario zu arbeiten. In der Zwischenzeit wurde noch eine andere Variante dieses Programms ausprobiert. Man wollte als Hauptangeklagte eine Frau - die Svermovä - hinstellen, die Stellvertreterin Slänskys in der Partei. Sie war nicht jüdisch, aber sie hatte ein intimes Verhältnis mit einem kommunistischen Emigranten aus London, Otto Sling, und aufgrund dessen wollte man sie als Oberhaupt der Verschwörung anklagen, daß sie durch ihre Verbindung zu Sling den Schädlingen aus dem Westen, den Unterwühlern usw. den Zutritt zur Parteiführung erleichterte. Aber das ging auch nicht, denn kurz vorher war in einem anderen Schauprozeß eine Frau an die Spitze gestellt und hingerichtet worden. Ich kannte sie. Dies war eine sehr kultivierte und vernünftige Dame - Frau Horäkovä.

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Also das ging auch nicht. Wieder eine Frau und dazu noch die Witwe eines Nationalhelden, Jan Sverma, der im slowakischen Aufstand umgekommen ist. Das ging nicht, also suchte man weiter. Bis sich der Prozeß gegen die Vertreter des Jüdischen Antifaschistischen Komitees in Moskau abspielte, das war glaube ich in der Mitte des Jahres 1952, und da blieb man stehen. Die neue Variante des Szenarios war antijüdisch. Das bedeutete, alle Juden, die mehr oder weniger einflußreiche Positionen in der Partei und in der Regierung einnahmen, zu eliminieren. Sie sollten der Bevölkerung als Verbrecher, Hochverräter, Spione präsentiert werden. Diese jüdische Variante bestätigt die Entwicklung der Sowjetführung von dem Internationalismus zum Antisemitismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gab Vorstufen dieser Entwicklung. Sobald es Differenzen gab in der Allianz, und die kamen sehr früh, wollte sich die Sowjetunion aller Elemente in diesem Bereich, die zu Agenten des Westens werden konnten, entledigen. Also solcher, die eine längere Zeit im Westen gelebt hatten und Kommunisten waren. Denn diese Kommunisten konnten viel mehr Schaden anrichten als Nichtkommunisten, denn die Nichtkommunisten hatten keinen Einfluß, aber die Kommunisten konnten Positionen erwerben, hohe Funktionen haben usw. Also das war das: sich vor allem vom Einfluß der Kommunisten befreien, die längere Zeit im Westen gelebt hatten und besonders der jüdischen Kommunisten. Jeder Prozeß dieser Art bedeutete die Eliminierung einer gewissen Kategorie von Menschen aus dem Machtbereich der Partei und der Regierung. Bloß, wer sollte verschwinden und dabei als das Opferlamm ausgenützt werden, von dem ich sprach? Bei diesen Prozessen ging es immer darum, diese Leute, die einmal verhaftet wurden, so zu behandeln, als ob ihre gesamte politische Laufbahn von Anfang an nur aus Verbrechen bestanden hätte. Am Ende ihrer Untersuchungshaft stand dies immer fest. Diese Methode der Beweisführung war sehr einfach. Der Autor dieser neuen juridischen Lehre, Andrej VySinskij, den ich das zweifelhafte Glück hatte, persönlich kennenzulemen, arbeitete diese sogenannte sowjetische Rechtsdoktrin als eine sehr einfache Angelegenheit aus. Es genügte dieser Doktrin nach, wenn der Verhaftete ein Geständnis ablegte, dann brauchte man keine Beweise mehr. Sobald er gestand, war die Sache fertig, und um ein Geständnis von ihm zu erreichen, wurde er der Geheimpolizei übergeben. Sehr einfach. Auch an mir wurde diese Methode ausprobiert. Ich wurde anderthalb Jahre in absoluter Isolation

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verhört. Und dann unterschrieb ich doch mein Geständnis, einen Text, der von der Geheimpolizei geschrieben wurde, den ich auswendig lernen mußte, um ihn vor dem obersten Gericht herzusagen. Sobald ich verhaftet war, war ich verurteilt. Denn es gab sehr wenige Fälle, wo die Verhafteten nach einer gewissen Zeit ohne Prozeß entlassen wurden. Nun zur antijüdischen Linie dieser ganzen Prozesse, dieser ganzen Verhöre. Man sprach zunächst vom Antizionismus, am Ende vom Antijudaismus, was immer man darunter verstand, aber das war dasselbe wie der richtige Antisemitismus. Judaismus, was ist das? Das ist die jüdische Religionslehre, aber im stalinistischen Sprachgebrauch waren das die Juden. Die Stalinisten sagten: Wir sind gegen den Zionismus, nicht gegen die Juden, wir sind keine Antisemiten. Die Juden verfälschen unsere Position, wenn sie sagen, wenn wir einen Zionisten angreifen, daß wir antijüdisch sind, daß wir Antisemiten sind, das ist nicht wahr. Wir sind gegen den Zionismus. Und der Zionismus ist eine weltweite Bewegung, die in Diensten der Imperialisten steht, besonders Amerikas und Westdeutschlands. Also immer wieder Antizionismus: wann immer in meinen Verhören ein neuer Name auftauchte, fragte der verhörende Geheimpolizist mich sofort, ob ich ihn kenne, ob er ein Zionist sei. Ich sagte immer wieder, wenn sie wissen wollen, ob er ein Jude ist, dann ja, ob er ein Zionist ist, weiß ich nicht. Er sagt, das ist dasselbe. Einmal habe ich nach langen Verhören dieser Art die Geduld verloren und ihn gefragt: "Sagen sie mir bitte, wenn der Name von Karl Marx vorkäme, würden sie mich auch fragen, ob er Zionist war?" Da war er ganz perplex. Er konnte vielleicht eine Minute lang kein Wort von sich geben. Am Ende vergaß er die vorgeschriebene Terminologie und sagte: "War er auch ein Jude?", denn in der sowjetischen Enzyklopädie stand das nicht. Also da kam es zum Durchbruch dieser künstlichen Terminologie - Antizionismus. Es war aber in Wirklichkeit Antisemitismus. Es gab Vorboten dieser antizionistischen Kampagne. So eine erste Andeutung dessen, daß die Sowjetunion sich von allem westlichen Einfluß frei halten will, hatte ich während der Friedenskonferenz in Paris im Jahre 1946, es kann so im Oktober 1946 gewesen sein, registriert. Ich war Zeuge eines Gesprächs des damaligen sowjetischen Außenministers Molotov mit unserem Staatssekretär für äußere Angelegenheiten, Vladimir Clementis. Während sie so redeten, zeigte sich ein sehr bekannter Journalist aus Prag, der unter dem Namen Andre Simon schrieb. Über zwanzig Jahre

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lang hat er als Journalist hohen Ranges der Komintern gedient, er hat ζ. B. das Braunbuch über den Reichstagsbrand redigiert und er kam aus der mexikanischen Emigration nach Prag zurück im Jahre 1946 und wurde zu einem Star der kommunistischen Presse für internationale Angelegenheiten. Der kommunistische Staatssekretär Clementis, der mit Slänsky dann gehängt wurde, berief ihn nach Paris als eine Hilfe für die Verbindung mit anderen Presseleuten. Als Clementis mit Molotov sprach, ging plötzlich Simon vorbei und Molotov sah ihn und sagte: "Was macht dieser Globetrotter da?" Ein sehr verdienter kommunistischer Journalist, der der Kommunistischen Internationale treue Dienste geleistet hat, wird plötzlich als Globetrotter bezeichnet. Das bedeutet, daß dieser Mann, der in westlicher Emigration war, ganz und gar für unglaubwürdig und unzuverlässig erachtet wurde. Das war eine Andeutung, daß alles, was vom Westen kommt, mit großem Zweifel angesehen wird. Aus diesem Ausdruck "Globetrotter" entwickelte sich dann eine exaktere Benennung "Kosmopolit" und danach wurde der Name Kosmopolit mit dem Namen Jude identisch. Juden waren die Kosmopoliten par excellence - in der ganzen Welt zerstreut dienten sie dem Imperialismus. Kurz nach meiner Verhaftung, etwa Anfang 1952, organisierte der Hauptideologe der tschechoslowakischen kommunistischen Partei, Informationsminister Väclav Kopecky, eine spezielle Konferenz über den Kosmopolitismus. Die fand in Brünn statt, wie ich dann erfuhr. Und eines Tages holt mich mein Verhörer hinauf; ich wurde anderthalb Jahre in der Zelle allein gehalten und wann immer ich aus der Zelle geholt wurde, wurden meine Augen verbunden und erst in seinem Büro, ich glaube es war der fünfte Stock, wieder frei gemacht. Eines Tages ließ er mich hinaufbringen. Ich sollte mich auf ein in die Ecke eingemauertes Holzbrett setzen, zu dessen beiden Seiten Eisenringe eingemauert waren, um den Verhörten anbinden zu können. Er ließ mich da niedersetzen und ich sehe, daß auf seinem Tisch eine offene Broschüre liegt, in der er blättert. Als er das gefunden hatte, was er suchte, sagte er zu mir: "Na, welcher ist der höchste Berg in Europa?" Ich sage, "Was für eine Frage, es ist der Mont Blanc", und er sagt: "Sehen Sie, da haben Sie verraten, was für ein Kosmopolit Sie sind, denn der höchste Berg Europas ist El'brus." Da war ich abgestempelt als Kosmopolit.

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Nun, noch zu meiner Zeit des diplomatischen Wirkens in Israel. Wie gesagt, Israel wurde mit tschechoslowakischen Waffen gerettet. Als ich nach Israel kam, war diese Phase schon lang vorbei und bevor ich Prag verließ, begannen in Prag Verhandlungen mit der israelischen Regierung über ein Handelsabkommen. Die zogen sich schrecklich in die Länge. Ich als diplomatischer Vertreter in Israel bekam von meiner Regierung überhaupt keine Informationen über die Verhandlungen. Nur wenn etwas schief ging, kamen die israelischen Vertreter zu mir und fragten, was ich dazu sage. Einmal kam der Leiter der ökonomischen Sektion des israelischen Außenministeriums zu mir, ein sehr gebildeter deutscher Jude, und sagt: "Was wollen die Ihrigen von uns?" Ich sage: "Was wollen Sie?" "Was sollen wir mit Schmuck für Weihnachtsbäume tun?" Ich frage: "Wie kommen Sie darauf?" Dann sagt er: "Na, die Ihrigen wollen, daß wir riesige Mengen von Weihnachtsbaumschmuck übernehmen und wir haben nicht nur Zierrat nicht nötig, wir haben keine Bäume, was sollen wir tun?" Und so ging es, das wurde in die Länge gezogen, schon zum Anzeichen dafür, daß die Freundschaft zu Ende ist. Der Vertrag wurde dann abgeschlossen, formell, worauf die Israelis sofort nach der Unterzeichnung dieses Vertrags eine größere Menge von Zucker bestellen wollten. Da wurde ihnen ganz einfach gesagt, Zucker für Israel gibt es nicht. Als die Sowjetunion sah, daß in Israel der amerikanische Einfluß überwiegend geworden ist und der Kalte Krieg schon da war, wandte sie sich zu den Arabern. Da habe ich wieder etwas erlebt, das mir diese Wandlung sehr prägnant bewußt machte. Ich wurde zur Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1950 aus Tel-Aviv hindelegiert; mein Außenminister, der mich nach Israel geschickt hatte, war schon verhaftet, und der neue Außenminister Siroky war eines Abends im November 1950 zu einem Nachtmahl in der sowjetischen Delegationsrepräsentanz eingeladen. Der Leiter der sowjetischen Delegation war VySinskij. Einige von uns saßen noch in unserem Hotel, es war später am Abend, und Siroky kam von diesem Abendessen nach Hause und war sehr konsterniert. Man sah es ihm an und er setzte sich zu uns und sagte: "Heute Abend habe ich etwas Außerordentliches erlebt. VySinskij hat nicht nur die Hauptvertreter der Verbündeten eingeladen, d.h. die Volksdemokratien, sondern auch die Spitzenvertreter aller arabischen Delegationen und er benahm sich ihnen gegenüber mit ungewöhnlicher Freundschaftlichkeit." Und das war für mich der Hinweis, daß

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da eine sehr weitgehende Umschichtung der Bündnispolitik der Sowjetunion im Nahen Ostena stattfand. Das war der Anfang der dann offenen antiisraelischen Offensive, die sich auch in unserem Prozeß (Slänsky) widerspiegelte. Also: erst Globetrotter, dann Kosmopoliten, dann Zionisten, dann Judaisten. Am Ende habe ich da zwei Publikationen auf tschechisch, die diesen Prozeß festhalten. Das sind Publikationen, die nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 von der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei als politische Schulbücher benutzt wurden. Ein Buch heißt Der Zionismus. Es besteht aus drei Teilen. Den ersten schrieb der berüchtigte sowjetische "Spezialist" für den Antizionismus, Jurij Ivanov, dazu ist ein Nachtrag über die Lehren aus der Schrift Ivanovs in bezug auf die Tschechoslowakei, d.h. eine Anklageschrift gegen den Prager Frühling, verfaßt worden. Ich habe den zweifelhaften Ruhm, in den dreißig Seiten, die das ausmacht, acht Seiten für mich reserviert zu haben. Und der dritte Teil ist eine Aufzählung aller jüdischen Organisationen in der Welt, verfaßt von einem polnischen Spezialisten, Tadeusz Walichnowski. Der zweite tschechische Teil ist mit einem Namen unterschrieben, den ich für ein Pseudonym hielt, denn in diesem Namen kommt dreimal das englische Wort jew vor: Jewgenij Jewsejew. Aber man sagte mir, daß das ein wirklicher Mann war und daß er eines Tages aus der Straßenbahn in Moskau fiel und tot war. Das zweite Büchlein wurde von einem gewissen FrantiSek Josef Kolär verfaßt. Als junger Mann, vor vielen Jahren saß er bei mir, fast wie bei seinem Guru, ein jüdischer Knabe, der dann auch einige Jahre lang eingesperrt wurde. Eine Zeitlang war er Sekretär bei Slänsky, dann arbeitete er in der ökonomischen Kommission des Zentralkomitees, deren gesamte Mitglieder dann eingekerkert wurden, ihr Leiter, Ludwig Frejka, wurde gehängt. Dieser Mann kam nach einigen Jahren heraus und war der einzige, der wieder in den Parteiapparat aufgenommen wurde, als Journalist, und er war sehr stolz darauf, daß er der einzige war. Meiner Frau gegenüber hat er sich gerühmt: "Stell dir vor, ich bin der einzige von den Verhafteten, der in den Parteiapparat wieder aufgenommen wurde." Dieser Mann wurde dann Chefredakteur einer Zeitschrift und man hat ihn nach Moskau berufen, dort ausgebildet usw. und seine Broschüre wurde auch als Pflichtlektüre für Parteifunktionäre benützt. Wie gesagt, ich muß einen alten Chinesen beleidigt haben, denn ich lebte in einer sehr interessanten Zeit. Danke.

Liudmila Dymerskaya-Tsigelman Die Doktrin des Stalinschen Antisemitismus. Zur Entstehungsgeschichte

Wie jede antisemitische Doktrin ist der stalinistische Antisemitismus kein geschlossenes Lehrgebäude, sondern Bestandteil einer umfassenderen, Universalität beanspruchenden Ideologie. Der Stalinismus trägt wie schon die ihm vorangegangenen religiösen und ethno-etatistischen Ideologien (deutscher oder russischer Provenienz) unübersehbare messianische Züge, ebenso wie diese interpretiert er alle Phänomene der Vergangenheit und der Gegenwart nach manichäisch-gnostischem Muster, und auch seine Zukunftsvorstellungen erweisen sich als eine Variante eschatologischer Denktraditionen. Keine derartige Ideologie ist lebensfähig ohne die Figur eines Antipoden. Darum entwickeln sie alle jeweils ihre Variante des Antisemitismus, deren Inhalt - die Verteufelung des Juden und die Maßnahmen, durch die man sich seiner entledigt - in direkter Abhängigkeit zu den Vorstellungen steht, die eine solche Ideologie von der Mission des jeweiligen Messias hegt. Der stalinistische Antisemitismus ist Bestandteil des russisch-imperialen kommunistischen Messianismus, der frühere Vorstellungen einer welthistorischen Befreiungsmission Rußlands auf die neuen historischen Gegebenheiten überträgt. Anfang 1936 wurde diese Ideologie von Stalin in den Rang einer Staatsideologie erhoben, doch ihre Anfänge reichen weiter zurück. Den ersten Vorstoß unternahm bereits Lenin, als er den Sieg der proletarischen Revolution in einem Land verkündete. Stalin leistete in der Folge der Idee der besonderen historischen Mission Rußlands beträchtlichen Vorschub, als er den Sieg des Sozialismus in der UdSSR für möglich erklärte (Ende 1924) und dann - zehn Jahre später - diesen Sieg auf dem "Parteitag der Sieger" (XVII. Parteitag der Bolschewiki) verkündigen ließ. Die Revolution erschien nun als großartige Errungenschaft des russischen Volkes, das sich an die Spitze des welthistorischen Prozesses gesetzt hatte. Damit entzog Stalin der verbreiteten Meinung den Boden, die bolschewistische Revo-

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lution sei eine jüdische Revolution. Diese Meinung stützte sich auf die "Protokolle" ["der Weisen von Zion"], die in viele Sprachen übersetzt wurden und große Popularität genossen. Ohne sich jemals auf eine direkte Polemik gegen die Anhänger der "Protokolle" einzulassen, bemühte sich Stalin zu zeigen, daß nicht, wie diese behaupteten, der Antichrist die Macht übernommen hatte, sondern der rechtmäßige russisch-kommunistische Messias. Die Gestalt des Antipoden wechselte in direkter Entsprechung zur Figur des neuerschienenen Messias und seiner zwei Hypostasen - der russischimperialen und der proletarisch-kommunistischen. Solange die Befreiung der Menschheit im wesentlichen Sache des "internationalen Proletariats" und der "Weltrevolution" war, diente als Antipode zum Messias die "internationale Bourgeoisie" und ihre diversen "Agenten", die man unter der Kategorie "Klassenfeind" zusammenfaßte. Die Lage änderte sich jedoch, als neben dem "internationalen Proletariat" der neue, alte Messias - das "russische Volk" - auf das Podest gehoben wurde, als diese beiden Hypostasen des Messias sich zu einer Pyramidenformation gruppierten, deren Fundament das russische Volk darstellte (hatte es doch die heroischste Kampftruppe des internationalen Proletariats hervorgebracht): die russische Arbeiterklasse mit der Partei der Bolschewiki und den "Menschheitsgenies" an der Spitze, den Führern Lenin und Stalin. Die Antipodenfiguren wurden parallel zu den neuen Hypostasen des Messias und in direkter Entsprechung zu ihnen in die Propaganda eingeführt. In dem Moment, in dem man die Begriffe "Patriotismus" und "Vaterland" ("das sozialistische Vaterland aller Werktätigen") zu nutzen begann sie wurden auf dem "Parteitag der Sieger" aktiviert -, stand auch schon die Figur "Verräter des Vaterlands" bereit. Nach zwei- bis dreijähriger gezielter Bearbeitung, die auf den Glauben an das Ende der Repressionen, an den "sozialistischen Humanismus" und den "Staat des ganzen Volkes" setzte, gelang es, die Gestalt des Volksfeindes im Massenbewußtsein zu verankern, indem man die Abstraktion "Volk" als höchsten Wert setzte und sie in Philippiken gegen den "Formalismus" auch als obersten Wertgeber, als "Maß aller Dinge" erscheinen ließ. Die Begriffe "Verräter des Vaterlandes" und "Feind des Volkes" gewannen eine ebensolche Schlagkraft wie die Bezeichnung "Klassenfeind": am 8. Juni 1934 wurde das Gesetz über den "Vaterlandsverrat" angenommen, das nur eine Bestrafung vorsah, nämlich

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die Todesstrafe, am 15. August 1936 erschien der Begriff "Volksfeind" in der Presse gleichzeitig mit der Publikation der Anklageschrift gegen Kamenev und Zinov'ev. Einige Monate vor dem Erscheinen des Begriffs "Volksfeind" tauchte in der Pravda die Schablone "Feind des russischen Volkes" auf. Die Rolle dieser neuen Negativfigur war gänzlich von den Interessen des Führers diktiert. Anfangs sollte der angestammte russische Intellektuelle Nikolaj Ivanoviö Bucharin sie spielen, eine Tatsache, die in der umfangreichen Literatur über Bucharin, darunter in der vollständigsten Monographie über ihn von Stephen Cohen aus irgendeinem Grund keine Beachtung findet. Ebensowenig wird berücksichtigt, daß gerade durch die Gegenüberstellung zum "Antipatrioten", zum "Feind des russischen Volkes", "zum Mietling des Faschismus" Stalins neue Rollen ihre Kontur erhielten - als Verteidiger des Volkes, als Erfüller der russischen Geschichte und ihr Hauptchronist. Im Verlauf der Kampagne gegen Bucharin wurde die Matrize des Antipoden zum russisch-kommunistischen Messias geschaffen. Sie diente in der Folge als Vorlage für die Figuren der "Antipatrioten", "Kosmopoliten", "Russophoben", "Zionisten" - kollektive Verkörperungen des Dämonischen, die bereits nicht mehr lediglich als Volksfeinde rangierten, sondern ein Feindvolk darstellten, das als Antipode zum russisch-kommunistischen Messias alle bisherigen Hypostasen dieser Gegenfigur in sich vereint. Die "Feindvolk"-Doktrin, die Doktrin des Antisemitismus war Bestandteil des späten Stalinismus, der jedoch ungeachtet einiger evolutionärer Veränderungen das blieb, was er gewesen war: die Ideologie des russischimperialen kommunistischen Messianismus. Das Geheimnis eines Dinges, sagte Hegel, liegt in seinem Werden. Versuchen wir herauszufinden, wann, wie und zu welchem Zwecke die Ideologie, in deren Rahmen der russisch-sowjetische Antisemitismus entstand, in den Rang einer Staatsideologie erhoben wurde. "An der Front der Geschichtswissenschaft" - unter dieser Schlagzeile erschienen am Montag, dem 27. Januar 1936, auf der zweiten Seite der Pravda und der Izvestija die eineinhalb Jahre zuvor, im August 1934, verfaßten "Bemerkungen der Genossen Stalin, Kirov und Zdanov über die Lehrbücher zur Geschichte der UdSSR und zur Neueren Geschichte". Daneben stand eine Mitteilung "Im Rat der Volkskommissare der UdSSR und im ZK der VKP(b) [Allunions Kommunistische Partei der Bolschewi-

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ki]", die besagte, beide hohen Instanzen hätten beschlossen, "eine Kommission des Rats der Volkskommissare und des ZK der VKP(b) zur Überprüfung und gründlichen Verbesserung, und wo es als notwendig erscheint, auch zur Überarbeitung der bereits geschriebenen Lehrbücher zu gründen." In der Resolution, die von Stalin und Molotov unterschrieben war, wurden alle elf Kommissionsmitglieder aufgezählt, Zdanov war als Vorsitzender genannt, und als letzter auf der Liste stand Bucharin, dessen Untergang wie auch der der anderen Kommissionsmitglieder (Radek, Bubnov, Bauman, Lukin, Zatonskij, Svanidze, Chodiaev, Gorin, Jakovlev) vermutlich schon damals besiegelt war; ebenso wie während der Arbeit an den "Bemerkungen" das Schicksal der beiden russischen Mitautoren Stalins - Kirov, der erschossen wurde, und Zdanov, der ihn ablöste und damals seine Karriere als "Hauptinterpret der Stalinschen Idee" begann - vermutlich bereits besiegelt war. Doch kehren wir zu den "Bemerkungen" zurück. Als sie erschienen, widmeten ihnen die Zeitungen sofort Leitartikel und theoretische Kommentare: Die Pravda brachte einen Artikel von Radek, die Izvestija einen Artikel ihres verantwortlichen Redakteurs Bucharin. Dem Nichteingeweihten wäre es nicht im Traum eingefallen, daß die Frontlinie zwischen den beiden Zentralorganen verlief, die die Angelegenheit unisono als "Sache von größter Wichtigkeit" rühmten. Nicht einmal Bucharin selbst argwöhnte wohl im Januar, daß er eben der Feind war, gegen den die "Front der Geschichtswissenschaft" eröffnet wurde. Im Gegenteil, man kann eher den Eindruck gewinnen, als dränge er sich in der scheinbar gegen Pokrovskijs Historikerschule gerichteten Kampagne in die erste Reihe [Der Untertitel seines Artikels lautete: "Über einige grundlegend wichtige, aber haltlose Ansichten des Genossen M.N. Pokrovskij"]. Aber bereits nach drei Tagen war fur jeden deutlich, daß die Operation nicht Bucharins verstorbenem Freund Pokrovskij galt, sondern ihm selbst. Am Donnerstag, dem 30. Januar, ist im Leitartikel der Pravda schon die Rede von irgendwelchen "Liebhabern von Wortklaubereien, die wenig vom Leninismus verstehen" und sich unterstanden zu behaupten, daß "bis zur Revolution die Oblomoverei der universalste Charakterzug der Russen war, daß das russische Volk eine Nation von Oblomovs war." Im Leitartikel vom 1. Februar setzt die Pravda den Angriff fort. Diesmal erscheint der immer noch nicht namentlich genannte Bucharin in der Ge-

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sellschaft von "käuflichen faschistischen Professoren", die beweisen wollen, daß "Russen keine Menschen sind", und wird mit Hitler in Verbindung gebracht, der erklärt habe, nicht das staatsbildende Talent des Slawentums habe dem russischen Staat seine Kraft und Stärke verliehen, dies verdanke Rußland vielmehr germanischen Elementen. Um Bucharin in noch größere Nähe zum Faschismus zu bringen, werden unter den "germanischen Elementen" nicht nur reale historische Personen genannt ("die russischen Zaren des Romanov-Hauses, dann alle diese Oldenburger, Rennenkampfs, Frederikse, von Plehwes, Stürmers, Ostensackens u.a."), sondern auch der in die russische Literatur eingegangene Typ des "deutschen Verwalters". Natürlich ist Stolz gemeint, die Figur aus dem Roman Oblomov. Der Name des Titelhelden Oblomov, der seit den Artikeln Dobroljubovs über GonCarov einen negativen Klang hat, wird in einem Artikel Bucharins, der Lenins Todestag gewidmet ist, tatsächlich erwähnt. Dieser Artikel (Izvestija, 21. Januar; sechs Tage vor den "Bemerkungen") trägt die Überschrift "Unser Führer, unser Vater, unser Lehrer". In welchem Kontext erscheint hier der Ausdruck "Nation von Oblomovs"? Er wird tatsächlich verwendet und zwar, um dem "früheren zersplitterten Rußland" die Sowjetunion gegenüberzustellen, das "organisierteste Land der Welt, mit einer einheitlichen Theorie, einer einheitlichen Führung". Lenin und die Partei der Bolschewiki werden als eine Kraft beschrieben, die notwendig war, um "aus der amorphen, wenig bewußten Masse eines Landes, in dem die Oblomoverei der universalste Charakterzug war, in dem eine Nation von Oblomovs herrschte, eine Stoßbrigade des Weltproletariats zu machen." Aus diesem Text geht hervor, daß Bucharin seiner proletarisch-internationalistischen Orientierung treu geblieben war und keine Bereitschaft zeigte, die inzwischen anerkannte These vom Russischen Reich als Wegbereiter der UdSSR zu akzeptieren. Im Gegenteil, Bucharin führte wörtliche Zitate Lenins ins Feld, in denen Oblomov als Typus des russischen Lebens definiert wird, um die UdSSR und die Bolschewiki in einen möglichst starken Kontrast zu Rußland und der universalen russischen Oblomoverei zu bringen. Aber natürlich war es nicht die Treue zu den Ideen des "großen Lenin", die den Hauptregisseur der gegen Bucharin gerichteten Kampagne in Alarm versetzte. Das Einschleusen der imperialen Idee in die offizielle Sowjetideologie, für die Sanktionierung des beginnenden "großen Terrors" unerläßlich,

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konnte nur im Kampf gegen einen Feind gelingen. Stalin brauchte Bucharin dringend als Negativfigur, um sich gegen sie als der wahre Führer des russischen Volkes abzuheben, dem die Würde des russischen Volkes, die Fortschreibung seiner Staatsgeschichte, seine besondere historische Mission wahrhaft am Herzen liegen. Die neue Hypostase des Feindes hatte die Funktion, neue Gesichter des Führers zum Vorschein zu bringen - das des Beschützers des russischen Volkes, des Erfüllers seiner Geschichte. Bereits im ersten Leitartikel der Prctvda gegen Bucharin heißt es über den "Liebhaber von Wortklaubereien": "Ein Volk, das der Welt solche Genies schenkte wie Lomonosov, Lobaöevskij, Popov, PuSkin, Cernyäevskij, Mendeleev, solche Giganten der Menschheit wie Lenin und Stalin, ein Volk, das unter der Führung der bolschewistischen Partei die sozialistische Oktoberrevolution vorbereitet und vollendet hat, ein solches Volk eine "Nation von Oblomovs nennen", das kann nur ein Mensch, der nicht weiß, was er sagt". So vollzieht sich, untermalt von wutschnaubenden Tiraden gegen den Bösewicht, die wundersame Verwandlung des "wunderbaren Georgiers" [Lenin] in einen "Giganten der Menschheit", den das russische Volk der Welt geschenkt hat. In der übernächsten Nummer (1. Februar 1936) hält die Pravda der "historischen Unwahrheit", dem "schädlichen Geschwätz" von der Oblomov-Nation die "glänzende These des Genossen Stalin vom revolutionären russischen Schwung" entgegen. Sie bringt nun den immer noch nicht genannten Urheber dieses "Geschwätzes" mit faschistischen Professoren und Hitler in Verbindung und behauptet, daß "das Feuer der feindlichen Verleumder in erster Linie auf das russische Volk gerichtet ist." Den Haß auf die Russen erklärt die Pravda mit deren Mission - damit, daß "das große russische Volk sich an die Spitze des historischen Prozesses stellte und dem Proletariat und den Werktätigen der kapitalistischen Länder den Weg der Befreiung vom Joch der Ausbeutung wies." Im weiteren wird mit lautem Pathos die messianisch-zivilisatorische Rolle des "großen russischen Volkes" beschworen, das hier erstmals "das erste unter Gleichen" genannt wird. Am folgenden Tag (2. Februar) versucht Bucharin im Leitartikel der Izvestija die Angriffe der Pravda zu parieren, indem er ihren russischmessianischen Thesen die Formel des proletarischen Internationalismus entgegensetzt.

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Als Antwort erscheint in der Pravda vom 10. Februar ein umfangreicher redaktioneller Artikel unter dem Titel "Über eine morsche Konzeption", in dem Bucharin bereits namentlich angegriffen wird. Dem Autor der "morschen" Konzeption werden Lenin und Stalin gegenübergestellt, die genialen Führer der Werktätigen, die "unser großes russisches Volk der Welt geschenkt hat", wie die Pravda einmal mehr wiederholt. "Genösse Stalin nennt den Leninismus die höchste Errungenschaft der 'russischen Kultur n\ definiert ihn als den "russischen revolutionären Schwung, der so viele welthistorische Siege garantiert". Er "weist erschöpfend nach, warum Rußland zum Herd des Leninismus wurde, und Lenin zum Schöpfer und Führer der russischen Kommunisten". Stalins Antagonist Bucharin indes befindet sich "in unversöhnlichem Widerspruch zur gesamten Geschichte unseres Landes, unserer Revolution und unserer Partei", der Partei, die "immer gegen alle Erscheinungen der antileninistischen Ideologie der Ivane kämpfte, die weder Heimat noch Herkunft kennen und versuchen, die historische Vergangenheit unseres Landes schwarz in schwarz zu malen." Die gesamte Partei wird gegen Bucharin ins Feld geführt, denn sie sei eine Partei, die "niemals Entstellungen der historischen Perspektive und Kontinuität zugelassen hat." Was mit der Kontinuität der russischen und der sowjetischen Geschichte gemeint ist, läßt sich an den Anschuldigungen gegen Bucharin erkennen. Laut Pravda könne Bucharin wohl kaum erklären, "wie eine 'Nation von Oblomovs' sich historisch zu einem so riesigen Staat entwickeln konnte, der ein Sechstel des Festlands der Erdkugel umfaßt." Um dies zu erklären, so heißt es in dem Artikel, müsse eine "wahrhaft wissenschaftliche Geschichte der Völker der UdSSR" erstellt werden. "Welche enorme Bedeutung die Partei einer solchen Geschichte beimißt, verdeutlichen unmißverständlich die kürzlich veröffentlichten Materialien 'An der historischen FroSiir, die Bemerkungen der Genossen Stalin, Kirov, 2danov", verrät die Pravdü und enthüllt damit, was hier eigentlich vor sich geht. Die sich anschließende Drohung, "alle morschen antileninistischen verleumderischen Konzeptionen, die unsere Vergangenheit entstellen, zu zerschmettern", legen nahe, daß die oben genannten "Bemerkungen" nicht zuletzt als Polemik gegen Bucharin konzipiert wurden. Für diese Annahme spricht schon die zeitliche Nähe der Ereignisse. Wir erinnern: Der mit dem

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Bannfluch bedachte Artikel Bucharins ist am 21. Januar erschienen, sechs Tage später werden die "Bemerkungen" veröffentlicht, und im Anschluß beginnt eine propagandistische Kampagne, die einzig der Entlarvung der "verleumderischen Konzeption" Bucharins und dem Aufbau einer Gegenfigur zum Führer dient. Vier Tage nach dem Artikel in der Pravda, am 14. Februar, veröffentlicht Bucharin in der Izvestija einen Artikel mit der Überschrift "Antwort auf eine Frage" - obwohl die unwiderruflichen Schuldzuweisungen der Pravda alles andere als Fragen waren. Bucharin spricht deutlich aus, daß man einen "Vorwand" benutzt habe, um ihm eine "ganze historische Konzeption zuzuschreiben", woraus man schließen kann, daß das planmäßige Vorgehen "an der historischen Front" für ihn kein Geheimnis mehr darstellte. Bucharins angebliche antirussische Konzeption wurde bei dem neuerlichen Angriff in Zusammenhang mit dem deutschen Faschismus und unmittelbar mit Hitler selbst gebracht. Durchschaute Bucharin das Manöver Stalins, das dessen Absicht kaschieren sollte, Hitlers so erfolgreiche national-imperiale Idee für sich zu nutzen? Eine aufmerksame Lektüre der Izvestija gibt Grund zu der Annahme, daß Bucharin nicht nur das Ziel von Stalins Geschossen erriet, sondern auch versuchte, die ihm zur Verfügung stehende Tribüne zu nutzen, um anderen den Sinn der Ereignisse zu verdeutlichen. Am 11. Februar, einen Tag nach den Ergüssen der Pravda, erschien in der Izvestija die erste Folge des Romans Die Nase von Bruno Jasenskij, der in den Nummern vom 12., 14. und 17. Februar fortgesetzt wurde. Die Hauptperson des Romans Die Nase, ein Professor für vergleichende Rassenkunde namens Otto Kallenbruck, erforscht in seiner neuen wissenschaftlichen Arbeit "Die endogenen Minus-Varianten des Judentums" den Einfluß der semitischen Nase auf die psychischen Eigenschaften des Judentums. Das Buch ist sehr gefragt und wird schnell in einer Massenauflage publiziert. "Jedoch der Führer selbst", schreibt Jasenskij, "mit Staatsgeschäften überlastet, hat das Buch bis heute nicht gelesen. Im Reichsministerium für Bildung und Propaganda stimmte man zu, es als Pflichtlektüre zur Rassenkunde für die mittlere Schulstufe zu empfehlen, unter der Bedingung, in die Neuausgabe einige Korrekturen einzubringen." ^

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Die Analogie zu den eben erst veröffentlichten "Bemerkungen" Stalins über Geschichtsbücher für den Unterricht der Mittelschulen ist nicht zu übersehen; zumal die Episode mit dem Lehrbuch in der Handlung des Buches keinerlei Funktion hat. Es ist nicht auszuschließen, daß sie in den schon früher geschriebenen Text nachträglich eingefugt wurde. Übrigens ist nicht nur diese Episode, sondern die gesamte Phantasmagoric Jasenskijs so aufgebaut, daß beim Leser unausweichlich Assoziationen zu Realien des Sowjetlands geweckt werden. Herrn Professor Kallenbruck jedenfalls wächst, ob nun wirklich oder scheinbar, im Zuge einer geistigen Verwirrung, eine unverkennbar semitische Nase. Im Tiergarten, der sich in einen genealogischen Garten verwandelt hat, wird ein Stammbaum gefunden. Darin bestätigt sich, daß der Gründer der Gesellschaft zur Verbesserung der germanischen Rasse jüdischer Herkunft ist. Der Rassenkundler fragt in einem lichten Moment seine Frau: "Was würdest du tun, wenn sich herausstellte, daß dein Mann Jude ist?" "Natürlich würde ich mich auf der Stelle scheiden lassen." "Und es täte dir nicht leid um eure Kinder und um die langen Jahre, die ihr zusammen gelebt habt?" "Warum sollte es mir um einen Juden leid tun?" antwortet die stramme Nationalsozialistin. [Wir erinnern uns: Die Lossagung von den Opfern der Parteisäuberungen, besonders der gnadenlosen Säuberungen nach dem Mord an Kirov waren das Hauptthema eines anderen Romans von Bruno Jasenskij mit dem Titel Verschwörung der Gleichgültigen. Die Handlung des Romans, der gleichzeitig in Deutschland und Rußland spielt, beginnt am 31. Dezember 1934 mit dem Ausschluß eines der Haupthelden aus der Partei]. "Willi", fragt Kallenbruck seinen siebenjährigen Sohn, "was würdest du tun, wenn sich plötzlich herausstellte, daß dein Vater Jude ist?" "Ich würde Freddi und Trudi rufen," [antwortet dieser Berliner Pavlik Morozov] "wir würden ihn rauslocken, ihm mit dem Schürhaken auf den Kopf hauen und dann in den Rinnstein werfen." Ein enger Freund des Professors, von der Pfordten [eine reale Gestalt, die nach dem Willen des Schriftstellers wieder auferstand, er war der juristische Berater Hitlers und wurde am 9. November 1923 beim Münchner Putsch getötet], erkennt die schreckliche Wahrheit, wobei er, wie es sich für ein Parteimitglied gehört, zuallererst an die Partei- und Staatsinteressen denkt.

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"Stellen Sie sich vor, wie sich die Feinde des Nationalsozialismus freuen würden, was für ein Geheul sie anstimmen würden, wenn sie erführen, daß einer der bedeutendsten Rassentheoretiker und -Ideologen ein Jude ist. Sie verstehen selbst, daß Sie verschwinden müssen und möglichst ohne jeden Lärm", [erklärt er Kallenbruck, wie es seine Parteipflicht vorsah] - [...] "Ich könnte Ihnen meinen Revolver leihen, aber ein allzu offensichtlicher Selbstmord würde unseren Feinden einen bequemen Vorwand für neue Angriffe auf das Dritte Reich bieten. Am klügsten wäre es, wenn Sie es als harmlosen Unglücksfall aussehen lassen [...] Hören Sie auf meinen freundschaftlichen Rat und erledigen Sie die Sache gleich heute Abend, je eher desto besser. Ich muß Sie warnen: Falls Sie nicht den Mut aufbringen, es selbst zu tun, wird die Partei sich gezwungen sehen, Ihnen dabei zu helfen!" Man sieht, daß sowohl die Lossagung der Familie als auch die internen nationalsozialistischen Auseinandersetzungen Realien des erstarkenden Stalinismus widerspiegeln. Zu den Praktiken des Führers, "den das russische Volk der Welt schenkte", gehörte bereits der politische Mord an Mitstreitern (Frunze, Skrypnik u.a.). Die Umstände des Todes von Ordionikidze, der angeblich an einer "Herzattacke" starb, in Wirklichkeit aber erschossen wurde oder sich selbst erschoß, entsprechen genau dem Szenario, das in Jasenskijs Roman der Parteigenosse dem durch seine jüdische Herkunft kompromittierten nazistischen Rassenkundler vorschlägt. Jasenskij hat diese Umstände vorweggenommen, wie er auch die ideologische Motivierung der Selbstbezichtigungen in den Moskauer Prozessen vorwegnahm, darunter diejenige Bucharins, der den Sinn seines Untergangs in einer "großen und kühnen politischen Idee" suchte. Die Vorahnungen Jasenskijs bezeugen, daß er über die Ähnlichkeit der Erscheinungen hinaus die Tendenzen erkannte, die sowohl das Stalin- als auch das Hitlerregime als politische Systeme totalitären Typs charakterisieren. Sein Roman ist nach Stalins national-imperialistischer Attacke nicht nur einfach post hoc, sondern propter hoc veröffentlicht worden - dafür spricht, wie gesagt, mindestens die Episode mit den Bemerkungen des Führers über das rassenkundliche Lehrbuch für Mittelschulen. Die darin enthaltenen Analogien zwischen dem Hitler- und dem Stalinsystem sind allerdings so offensichtlich, die Anspielungen so durchsichtig, daß man sich fragt: Wie

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konnten Jasenskij und Bucharin ein solches Wagnis eingehen und wofür taten sie es? Wahrscheinlich deshalb, weil sie die Maßstäbe des beginnenden "großen Terrors" noch nicht erahnten. Auch mochten sie glauben, daß der literarische Ruhm und die Parteiautorität [besonders nach dem Roman Ein Mensch häutet sich von Jasenskij] sowie die Position Bucharins sie unantastbar machten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie das Risiko bewußt eingingen, weil sie eine "Hitlerisierung" der Sowjetmacht verhindern wollten (auch dann haben sie sich wohl kaum vorstellen können, was sie erwartet). Bucharin sprach in Paris, wohin er Ende Februar fuhr, um das Archiv von Marx und Engels zu erwerben, mit Boris Nikolaevskij über eine solche Gefahr. In diesem Gespräch ging es darum, mit welchen politischen Formen ein "hitleristisches System", d.h. die totale Macht einer Partei verhindert werden könne. Bucharin, der damals an der Verfassung arbeitete, schlug vor, gesetzlich einen "parteilosen Block" der kreativen Intelligenz vorzusehen und bei den Wahlen eine zweite Liste zuzulassen, die von Gor'kij und einer Reihe bedeutender Gelehrter angeführt werden sollte. Man sollte nicht vergessen, daß Stalins nationalistische Kampagne gerade angelaufen war, als Bucharin in Paris war. Und man darf annehmen, daß Bucharin nicht nur den politischen, sondern auch den ideologischen Aspekt der "Hitlerisierung" im Sinn hatte, zumal dieser Aspekt ihn seit langem interessierte, mindestens seit Hitler an die Macht gekommen war. Einerseits vertrat Bucharin die Meinung, daß der Kommunismus mit der "Bestialität und dem Rassismus des Faschismus" unvereinbar sei, und setzte den Humanismus und die hohe geistige Kultur des Kommunismus "dem Prozeß der Entmenschung, der Dehumanisierung, der Vertierung, Bestialität, Entseelung, Entpersönlichung" entgegen. Andererseits beobachtete er die vielseitige und wachsende Annäherung des Hitler- und des Stalin-Regimes und hob gerade die Seiten des Hitlersystems hervor, für die es in der UdSSR Entsprechungen gab. Als echtem Internationalisten erschien ihm Stalins national-imperiale Ideologie als bedrohliches Symptom der "Hitlerisierung". Beiden, dem Autor des Romans Die Nase ebenso wie dem Herausgeber, war wohlbekannt, daß der Antisemitismus mit der russischen Variante der national-imperialen Ideologie ebenso organisch verbunden war wie mit der deutschen. Kann es nicht sein, daß sie die Befürchtung hegten, die neue,

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von Stalin heraufbeschworene Manifestation dieser Ideologie könne den Antisemitismus wiederbeleben? Und würden solche Befürchtungen nicht erklären, warum der Roman thematisch und ideell um den nationalsozialistischen Antisemitismus kreist und mit vielsagenden Analogien zwischen dem Hitler- und dem Stalinsystem gespickt ist? Es ist kaum vorstellbar, daß der Roman Die Nase Stalins Aufmerksamkeit entgangen sein könnte. Vielleicht war er sich dessen bewußt, daß seine national-apologetische Aktion nicht nur bei Bucharin und Jasenskij Assoziationen zu Hitler und dessen Antisemitismus hervorrief. Man kann auch nicht ausschließen, daß Stalin, der seine Absichten immer durch Ablenkungsmanöver zu verschleiern pflegte, im Mai 1936 persönlich den Prozeß um die Ermordung des jüdischen Arztes Wulfson in Gang setzte, in dem demonstrativ antisemitische Tendenzen verurteilt wurden. Entgegen der geläufigen Praxis, schreibt A. Vaksberg, führte damals der oberste Staatsanwalt der UdSSR selbst Anklage. Der Prozeß wurde während seiner einwöchigen Dauer von einer lärmenden Pressekampagne begleitet und war eindeutig auf den Propagandaeffekt angelegt: Der oberste Staatsanwalt VySinskij beschuldigte den Mörder, er habe "sich erdreistet ... die bemerkenswerten Anweisungen unseres Führers und Lehrers zur unverbrüchlichen Freundschaft der Völker unseres Landes direkt zu verletzen". Auf diese Weise trat zu dem Titel "Führer des russischen Volkes", den Stalin im Kampf gegen Bucharin angenommen hatte, der Titel eines "Führers aller Völker der UdSSR" hinzu, der die Verantwortung für die unverbrüchliche Freundschaft der Völker trägt und für so ein bösartiges Fehlverhalten wie den Antisemitismus gerechte Strafen verhängt. Wer dieses Image in Zweifel zu ziehen wagte, mußte mit einer entsprechenden Reaktion des Führers rechnen. Jasenskij wurde im Juli 1937 verhaftet und verschwand unwiederbringlich in den Abgründen des GULAG. Das Schicksal Bucharins, in dem der Führer einen Gegner seiner Alleinherrschaft sah, war bereits vor der Publikation der Nase und unabhängig von ihr besiegelt. Die Verleumdung des russischen Volkes wurde ihm allerdings als besonders schweres Verbrechen angelastet. Die Anklageschrift, die eine Auflistung der Übeltaten Bucharins seit 1916 enthält, endet mit dem Jahr 1936, in dem Bucharin "das russische Volk als eine Nation von Oblomovs bezeichnete". Im Plädoyer Vyäinskijs wird Bucharin als eine Mischung aus Schwein und Fuchs bezeichnet und dem "Block der

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Verräter" zugerechnet, dem der "Block der großen und in unerschütterlicher Liebe mit ihrem Vaterland und dem großen Stalin verbundenen sowjetischen Patrioten" gegenübersteht. Und so ist Bucharin einer der ersten, die von Stalin zum Feind des russischen Volkes erklärt wurden. Wie diese Ernennung zustandekam und auf welche Weise Stalin sie mit der Eröffnung der "Front der Geschichtswissenschaft" verknüpfte, haben wir schon gesehen. Versuchen wir nun herauszufinden, warum gerade Bucharin der geeignetste Kandidat für diese Rolle war. In der Literatur zur Frage, welche Einstellung Bucharin zum Russentum hatte, trifft man auf unterschiedliche Ansichten. So nennt Michail Korjakin Bucharin einen "russischen Revolutionär", dem Rußland teuer war, der die Revolution für die Rettung des Landes vor dem militärischen Untergang und die NÖP für den Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Stärkung des Bauerntums hielt. Michail Agurskij hält die Behauptungen Korjakins für Mythenbildung und vertritt seinerseits die Meinung, daß von allen bolschewistischen Führern gerade Bucharin "in höchstem Maße die antinationalen Ideen des frühen Bolschewismus" verkörpere, was er mit etwas "Existentiellem", mit einem "nationalen Selbsthaß Bucharins" zu erklären versucht. Aber lassen wir einmal die Frage nach Bucharins Verhältnis zur russischen Nation beiseite. Denn welcher Art es auch gewesen sein mag, es war nicht der Grund, weshalb er fur die Rolle des "Antipatrioten" ausgewählt wurde. Der wahre Grund war seine Interpretation der NÖP, die Stalin eine "rechte Abweichung" oder das "Programm der Rechten" nannte. Eben weil die NÖP sowohl in Parteikreisen als auch in breiten Kreisen der Bevölkerung als ein Programm aufgefaßt wurde, das Kontinuität garantierte und letztlich das Volk schützte, beschuldigte Stalin zunächst einmal Bucharin, das russische Volk zu verleumden, um ihn dann zum Feind dieses Volkes zu erklären. Erteilen wir einem so kompetenten Zeugen wie A. Avtorchanov das Wort. "Stalin wußte nur zu gut", schreibt er, "daß die Opposition der Bucharin-Gruppe im Unterschied zur Opposition des Trockij-Zinov'ev-Blocks nicht nur in der Partei, sondern im ganzen Land populär war.[...] Darin bestand die tödliche

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Gefahr des Programms der 'Rechten' für das sich schon abzeichnende Stalinsche 'Polizeiregime' [...], wie Bucharin es nannte." Stalin schmückte sich, um das völkermordende Wesen seines Regimes zu verschleiern, mit dem Etikett des Volksbeschützers, das er Bucharin entrissen hatte. In kasuistischer Manier zielte er darauf ab, die mit Bucharins Programm verbundenen Assoziationen der Zeitgenossen nun auf sich zu übertragen. Aber damit war die Sache nicht getan. Stalin begann die gegen Bucharin eingesetzte russisch-imperiale Apologetik zu modifizieren, indem er sie mit der "Theorie der Zuspitzung des Klassenkampfes" verknüpfte. Die so entstehende kasuistische "nationalistisch-internationalistische Klassendoktrin" sollte den Terror sanktionieren, der seinem Maßstab und seinen Resultaten nach (Zerstörung der Lebensgrundlagen des Volkes, Vernichtung der humanistischen Quellen der Kultur) die Ausmaße eines Genozids - vor allem am russischen und am ukrainischen Volk - annahm. Die seit der Kampagne gegen Bucharin eingeführte russisch-imperiale Apologetik fand Verbreitung in Publizistik, Kunst und Film und schlug sich formelhaft in den Artikeln der sowjetischen Enzyklopädien nieder. Im 9. Band der MSE [Kleine Sowjetenzyklopädie. März 1941] beginnt der Artikel "Russen" mit der Behauptung: "Das große russische Volk ist das erste unter Gleichen". Dort wird wieder die "gemeine Verleumdung der russischen Nation" angeprangert, die "der Judas-Bucharin in seiner bestialischen Feindseligkeit [...] eine 'Nation von Oblomovs'" genannt habe, und wiederum der Hinweis des Genossen Stalin auf "eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des russischen Volkes - seinen revolutionären Schwung" angeführt. Und in einem Atemzug mit der Entlarvung der "schlimmsten Volksfeinde" - Trockij und Bucharin, die "die russische Kultur in den Schmutz ziehen" wollten und "den Imperialisten die Aufteilung der UdSSR erleichtern" wollten, rühmt die sowjetische Enzyklopädie pathetisch den Paternalismus und den Messianismus des russischen Volkes und verkündet lange vor der Kampagne gegen den "Kniefall vor dem Westen" die Überlegenheit des russischen Volkes in allen Bereichen der kulturellen und geschichtlichen Leistungen. Das große russische Volk, heißt es dort, als "ruhmreicher Führer, Freund und Kampfgenosse der anderen Völker [...] führt den Kampf aller Völker

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des Sowjetlandes für das Glück der Menschheit, für den Kommunismus Μ

an. Das Volk wird hier personifiziert und mit denselben Metaphern geschmückt wie der in dieser Zeit zum Gott erhobene Stalin. Wie auch Stalin ist das russische Volk Freund der Völker und führt seinen Kampf um das Glück der Menschheit an. Und wie sich die Größe des Führers in seinem Kampf gegen die Antipoden offenbart, die sich allein durch ihre Opposition - ganz gleich ob scheinbar oder real - in die Kategorie der niedrigsten Kreaturen katapultieren und in ekelhafte Verräter, gemeine Mörder, Schädlinge, Spione usf. verwandeln, so ist auch die Verkündigung der Größe des russischen Volkes an eine Kampfansage gekoppelt, welche sich gegen diejenigen richtet, die diese Größe angeblich leugnen; sie werden zu "Verleumdern" erklärt und später als die schlimmsten - schon nicht mehr ideologischen, sondern politischen - Feinde des russischen Volkes angeprangert. Die gleiche Metamorphose, die Bucharin während seines kafkaesken Prozesses durchmachte, erleidet auch die Figur, die ihn ablöst: der Jude. Der neue ideologische Feind, der schon früher verdeckt bekämpft wurde, beginnt sich nach dem berühmten Trinkspruch des Führers vom 24. Mai 1945 auf das russische Volk abzuzeichnen, als er dieses "die hervorragendste Nation unter allen Nationen der Sowjetunion" nennt. Dabei wird nach dem gleichen Schema vorgegangen, das im Prozeß gegen Bucharin entwickelt worden war: a) Verleumdungen zurückweisen b) dem Antipoden entgegentreten. Und wie der Prozeß gegen Bucharin mit einer Kampagne gegen den "volksfeindlichen" Formalismus in Musik (Sostakoviö), Architektur, Kunst und Theater einherging, so wurde auch die Kampagne gegen den Kosmopolitismus von solchen Schlägen gegen die Intelligenz vorbereitet: Verfügungen gegen die Zeitschriften Zvezda [Stern] und Leningrad, die Oper von Muradeli Die große Freundschaft usw. Thomas Mann schrieb: "Wenn ich sehe, wie die russischen Komponisten auf die Knie fallen und höre, wie sie mit hohlen Stimmen bereuen: Ja, wir waren Formalisten, und unsere Kunst war dissonant, wir haben gesündigt, Väterchen, und bereuen - graut mir. Die Moskauer Bewertung von Kunst und Vorschriften fur die Kunst sind identisch mit denen der Nazis."

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Diese Parallelen waren fur viele offensichtlich, auch Gennadij Kostyröenko hat über sie geschrieben. Wenn wir aber auf die Frage zu sprechen kommen, welche Vorbilder nachgeahmt wurden, so war das eigene, in den dreißiger Jahren fast synchron mit dem deutschen entstandene, das nächstliegende. Das stalinistische und nationalsozialistische Schema entwickelten sich nach ein und derselben Logik totalitärer Regime. Die Zerschlagung der "ideologischen Feinde", die Errichtung der totalen Kontrolle über die Intelligenz bereiten den physischen Terror vor: in Deutschland den Genozid, in der UdSSR die Vernichtung von Klassen, den Soziozid, der sich später mit Genozid-Maßnahmen vermischte: mit dem zuerst verdeckten Genozid [seine Opfer waren die Völker, die der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt wurden], dann öffentlich propagierten, allerdings nie realisierten Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Nach den ersten gezielten Salven gegen die Formalisten und diejenigen, die "vor dem Westen auf die Knie fallen", wurde in der Nachfolge Bucharins erneut jemand angeklagt, "falsche Beschuldigungen gegen das große russische Volk zu erheben", es "skrupellos zu verleumden", ihm "die negativsten Eigenschaften anzulasten" [Bolschewik, Nr. 5, 1949]: Diesmal war es der "heimatlose Kosmopolit". Die sowjetische Folklore hatte eine neue Generallinie: "Nenne den Juden Kosmopolit, damit man dich nicht als Antisemiten abstempeln kann." Wie früher die Bucharinsche "Nation von Oblomovs", so rechtfertigten jetzt die "verleumderischen Erfindungen der Kosmopoliten" das Pathos, mit dem in Hunderten von Publikationen in Millionenauflagen daran erinnert wird, wie hoch "der Genösse Stalin das russische Volk schätzt", der darauf hinwies, daß das große russische Volk so bemerkenswerte Eigenschaften besitzt wie einen klaren Verstand, festen Charakter, Bedachtsamkeit und kluge Geduld". In demselben Artikel der Zeitschrift Bolschewik, aus dem dieser panegyrische Erguß stammt (Nr. 5, 1949), wurde eine direkte Linie von den Kosmopoliten zu den "schlimmsten Feinden des sozialistischen Vaterlands, den Trotzkisten und Bucharin-Anhängern" gezogen. Und wie der Vorwurf des "Antipatriotismus" gegen Bucharin nur dazu diente, seiner Verurteilung als Volksfeind den Weg zu bereiten, so wurde der Kosmopolitismus bald als "Werkzeug des Zionismus" verteufelt, der im Dienst des anglo-amerikanischen Imperialismus stehe. Schon in der Kampagne gegen die Kosmopoliten, vor allem aber zur Zeit des Slänsky-Prozes-

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ses und der Kampagne gegen die "Mörder im weißen Kittel", erschien der Jude und Zionist nicht bloß als ideologischer, sondern auch als politischer Feind, der ein weitverzweigtes Verschwörernetz gegen den Führer des Volkes und Staates geschaffen hatte. Die Metamorphosen Bucharins vollzogen sich zeitlich parallel zur Erhebung des russisch-imperialen Kommunismus in den Rang einer Staatsideologie. Die entsprechenden Metamorphosen der Gestalt des Juden beziehen sich auf die Nachkriegszeit und begleiteten die Etappe der Festigung dieser Ideologie. Es fand ein Wechsel des "Feindbildes" statt; die Verteufelung Bucharins, die nach den Worten Stephen Cohens zum integralen Bestandteil der stalinistischen Ideologie geworden war, wurde - in voller Übereinstimmung mit den Absichten des Führers - durch den Antisemitismus ersetzt. Aber wovon ließ der Führer selbst sich leiten? - Vielleicht von einer unüberwindlichen paranoiden Judenphobie wie Hitler? Louis Rapoport1 gibt eine Erklärung, die dem nahekommt. Arkadij Vaksberg und einige andere Forscher neigen stark zu einer solchen Interpretation. Wirklich war der ehemalige Seminarist Stalin - dafür gibt es viele Zeugnisse - für antisemitische Emotionen äußerst anfällig, besonders stark wurden sie gegen Ende seines Lebens. Dennoch war er nicht Hitler, der Vielvölkerstaat UdSSR nicht das mononationale Deutschland und der russische Kommunismus war, wenn auch in vielem ähnlich, doch nicht identisch mit dem deutschen Nationalsozialismus. Außerdem stellte bei Stalin im Gegensatz zu Hitler die Ideologie keine autonome Kraft dar. Sie bediente immer die Politik, die dem generellen Ziel, der Festigung seiner Alleinherrschaft, der kommunistischen Expansion und der Hegemonie der UdSSR in der Welt, unterworfen war. Für die Realisierung dieses Zieles mußte die stalinistische Ideologie zwei Funktionen erfüllen: 1. eine negative - die Konturierung des Feindbildes, um die "Knute" der Repression zu sanktionieren und zu rechtfertigen; 2. eine apologetische - die Bestätigung der Ziele und Ideale, die den Werten der gesellschaftlichen Gruppen nahekommen, auf die sich das Regime stützt.

1 Rapoport, Louis: Stalin's War against the Jews: The Doktor''s Plot and the Soviet Solution. New York: Free Press, 1990, 300pp.

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Daß man als ideologischen Köder die national-imperiale Doktrin wählte, zeugt vom wachsenden sozialen Gewicht der Kreise, die sich zu dieser oder einer ihr nahestehenden Ideologie bekannten. Dies bedeutete auch, daß Stalin von nun an sowohl im Apparat als auch in der Intelligenz auf diese Kreise setzte und nicht mehr auf die leninistischen Internationalisten (die Vorbereitungen zu ihrer Liquidierung waren bereits angelaufen). Die Apparatschiki und die "eigene" Intelligenz, d.h. diejenigen, welche die Politik bestimmten und ihre Grundlagen legten, wurden zur sozialen Stütze des Regimes, in dem die Ideologie keine geringere Rolle spielt als das System der Repressionen. Man kann also die Ideologie als eine Art Indikator betrachten, der Aufschluß über die gesellschaftlichen Gruppen gibt, durch die Stalin die alte "Leninsche Garde" und die "ungezähmte" Intelligenz ersetzte oder zu ersetzen gedachte, wenn sie vernichtet waren. Man kann die Ideologie auch als Mittel zur Verwandlung der "ideologisch nahen" Kräfte in "sozial nahe" definieren. Die Doktrin, mit der sich Stalin rüstete, wird häufig "Nationalbolschewismus" genannt. Vom semantischen Gesichtspunkt aus ist daran nichts auszusetzen, denn der Terminus spiegelt zwei Bestandteile des Stalinismus wider - die nationale und die klassenbezogene Version des Messianismus. Doch zugleich erheben sich Einwände. Nationalbolschewismus wurde nämlich auch eine Ideologie genannt, die sich von der Stalinschen wesentlich unterscheidet, auch wenn sie in einigen Punkten mit ihr übereinstimmt. Eine ausweitende Verwendung des Terminus kann zur Verwechslung zweier sorgfältig zu unterscheidender Phänomene führen, nämlich einer staatlich propagierten und einer aus der Gesellschaft selbst entstandenen Ideologie. Sie kann die Beziehungen zwischen Macht und Gesellschaft verschleiern, deren Distanz immer erhalten blieb, ungeachtet aller Anstrengungen des totalitären Regimes, einen einheitlichen ideologischen Raum zu schaffen. Nikolaj Ustrjalov, einer der ersten und angesehensten Ideologen des Nationalbolschewismus, veröffentlichte sein Credo zu Beginn der zwanziger Jahre. Er rief die Emigration auf, den Bolschewismus anzunehmen, weil er das russische Reich wiedererstehen lasse. In der Restituierung des russischen Staates und der Erhaltung des russischen Volkes sah der Nationalbolschewismus seine historische Hauptaufgabe. Der prinzipielle Unterschied des stalinistischen national-imperialen Kommunismus zum Nationalbol-

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schewismus liegt darin, daß für Stalin ein mächtiger russischer Staat, verstärkt durch russisch-imperialen Patriotismus, in kasuistischer Verknüpfung mit dem proletarischen Internationalismus nichts anderes als ein Werkzeug zur Festigung seiner Alleinherrschaft, zur Verbreitung des Kommunismus, das heißt, seines, Stalins Einflusses in der ganzen Welt war. Rußland und das russische Volk werden deshalb erhöht, weil sie als erste den Kommunismus verwirklichten, der als globales Ziel des gesamten historischen Prozesses gesehen wird. So ist Stalins Konzeption, die das russische Volk und den russischen Staat nur als Mittel zur Durchsetzung seiner Alleinherrschaft und seines Regimes in Rußland und in der ganzen Welt betrachtet (und in der Politik in diesem Sinne ausnutzt), dem nationalbolschewistischen Programm im Grunde entgegengesetzt. Denn das Ziel Ustrjalovs und seiner Gesinnungsgenossen war, wie bereits gesagt, die Stärkung der russischen Nation und des russischen Staates. Den Bolschewismus hingegen betrachteten sie bloß als ein historisch gegebenes, sich selbst überlebendes Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Doch die Idee vom starken Zentralstaat in den Grenzen des vormaligen russischen Reiches und von der besonderen Mission des russischen Volkes, die Stalin von der russisch-imperialen Ideologie übernahm und in präparierter Form der offiziellen Ideologie einfügte, lassen seine Konzeption derjenigen Ustrjalovs ähneln. Sie ähneln sich, ohne jedoch identisch zu sein. Aber auch diese "Ähnlichkeit" genügte, um ungeachtet von Millionen Opfern den Glauben an die russisch-imperialen Potenzen des Stalin-Regimes zu wecken und wachzuhalten. Die Resonanz seiner Ideen erlaubte es Stalin, die zahlreichen Gruppen von Parteirekruten, Militärs, Intellektuellen in "sozial nahestehende" Gesellschaftsgruppen zu verwandeln. Diese nahmen die Stelle der proletarischen Internationalisten ein, die nun immer öfter mit dem Weltjudentum und seinem Streben nach Weltherrschaft gleichgesetzt wurden. Also war die Vereinnahmung der russisch-imperialen Ideen durch die offiziöse Ideologie nichts anderes als die ideologische Adaption des Regimes an seine soziale Basis - an die reale und die potentielle. Anfangs machte sich Stalin nur die russisch-apologetische Seite der national-imperialen, besonders der national-bolschewistischen Doktrin zu eigen. Ihre Negativseite, die im Grunde genommen aus verschiedenen Versionen des Antisemitismus besteht, ging nicht in die offiziöse Diktion

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ein, solange die Repressionen nur durch die Lehre vom Klassenkampf sanktioniert wurden. Mit der Einfuhrung "nicht klassenmäßiger" Feinde jedoch - "Verräter des Vaterlandes", "Volksfeinde" und schließlich "Feinde des russischen Volkes"2 - , die aufgrund der ihnen angelasteten Verbrechen bereits in die Nähe des "Feindvolks" gerückt waren, - begann sich die offizielle Ideologie immer stärker an die traditionelle chauvinistische und fremdenfeindliche Komponente der imperialen Ideologie anzulehnen. Der Prozeß wurde vom Krieg unterbrochen, der es den Machtinstanzen nicht erlaubte, vom latenten zum offenen Antisemitismus überzugehen. Aber der Krieg legte die Reserven des Antisemitismus in der russischen Gesellschaft offen und begrub damit den Mythos von dessen Abflauen und sogar völligem Verschwinden in der UdSSR der dreißiger Jahre, ein Mythos, der sich auf die zeitweilige, später vollständige Einstellung aller gegen antisemitische Strömungen gerichteten Aktionen der sowjetischen Presse seit 1934 stützte.3 A.Vaksberg hält unter den streng geheimgehaltenen Prozessen der dreißiger Jahre, in denen die Anklage auf Antisemitismus lautete, die Sache der zehn Personen umfassenden "antisowjetischen Gruppe sibirischer Schriftsteller" für die aufschlußreichste. Ihnen wurde vorgeworfen, "den Antisemitismus als Mittel zur Beeinflussung rückschrittlicher Schichten im antisowjetischen, konterrevolutionären Geiste" zu nutzen. Geheim war auch der Prozeß gegen Professor Aleksej Losev. Man verurteilte ihn wegen seiner Arbeit "Ergänzung zur Dialektik des Mythos", die im Gefängnis entstand und als "eine in sich geschlossene philosophische und politische Plattform der militanten Schwarzhunderter" hingestellt wurde. Aus der detaillierten Inhaltsangabe der Arbeit, die bei der OGPU eingereicht wurde, geht hervor,

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Schon nach den Angriffen auf Bucharin hob Isaj Leznev (er leitete seit 1935 das Ressort für Literatur und Kunst in der Pravda und war ohne Zweifel an den Attacken beteiligt) in seinem Artikel "Die Smerdjakovs", der dem Prozeß gegen Pjatakov und Radek gewidmet war, darauf ab, daß die Beschuldigten - die meisten waren Juden - nicht einfach Volksfeinde, sondern vor allem Feinde des russischen Volkes seien. Leitmotiv des Artikels waren die Worte Smerdjakovs: "Ich hasse ganz Rußland [...] Das russische Volk muß man züchtigen...", die angeblich die Gedanken und Gefühle der zum Tode Verurteilten wiedergeben. Pravda, 1937, 25. Januar. 3 Kipnis, M.: Russian-Language Soviet Books against Antisemitism, 1925-1934: An Annotated Bibliography. XVII, 56-73.

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daß Losev wirklich im Judentum die Quelle aller destruktiven Prozesse in der Geschichte sah, daß er mit dem Judentum die Sowjetmacht und den Sozialismus in Verbindung brachte, auf die eine zerstörerische, aber für die Juden vorteilhafte Anarchie folgen werde.4 Aber es geht hier nicht um die Sache Losevs - sie gibt viele Rätsel auf und muß gesondert untersucht werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Materialien der nichtöffentlichen Prozesse der dreißiger Jahre antisemitische Tendenzen, und zwar einen sorgsam verschwiegenen ideologischen Antisemitismus, bezeugen. Diese Materialien, wahrscheinlich nicht die einzigen in den sowjetischen Archiven, lassen vermuten, daß Stalin hier wie überall danach strebte, sein vollständiges Monopol durchzusetzen und dabei jede selbständige Aktion zu unterdrücken, selbst dann, wenn sie ihm imponierte. Dabei setzte er auf die reale Verbreitung antisemitischer Neigungen in den ihn stützenden national orientierten Kreisen, den Hauptadressaten der in die offiziellen Formeln aufgenommenen russisch-imperialen Apologetik. Der Mythos vom Abflauen des Antisemitismus in den dreißiger Jahren führte zu einem weiteren Irrtum: Man erklärte die massenhaften Manifestationen des Antisemitismus während des Krieges mit dem Einfluß der nationalsozialistischen Propaganda. Zwar spielte diese Propaganda, die alle Verbrechen des Regimes den Juden anlastete, als Katalysator des sogenannten "volkstümlichen" Antisemitismus eine nicht unwesentliche Rolle. Aber aus dem Buch von Gennadij Kostyröenko erfahren wir von Dokumenten aus dem Jahre 1942, die die Vorherrschaft der Juden in der sowjetischen Kunst belegen sollten. Sie wurden in den höchsten parteiideologischen Instanzen unter unmittelbarer Beteiligung von Beamten aus der Umgebung des Führers - von Aleksandr Söerbakov und seiner Kreatur Georgij Aleksandrov u.a. - zusammengestellt Man kann diese Männer kaum verdächtigen, hilflos der Nazipropaganda ausgeliefert gewesen zu sein, ebensowenig wie Zdanov und Malenkov, den Interpreten und Vollstreckern von Stalins Absichten und Anweisungen. Gerade solche Männer aber waren es, die Stalin in den Parteiolymp erhob und auf die Plätze der liquidierten "Internationalisten" stellte. Ihre

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Istoinik. 4, 1996.

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Ernennung, die mit einem massenhaften Vordringen Gleichgesinnter einherging, kann als Adaption der Stalinschen Kaderpolitik an die nationalbolschewistische Umgebung bewertet werden, die die ideologische Adaption ergänzte und begleitete. Doch was war dies für eine Umgebung? Michail Agurskij betrachtet in seiner gründlichen und vielseitigen Untersuchung des Nationalbolschewismus ein breites Spektrum von Tendenzen, deren Gemeinsamkeit die Versöhnung mit dem Bolschewismus, die Anerkennung des Bolschewismus als die nationale Kraft darstellt, die die russische Macht und Größe wiedererrichtet. In einem Vergleich des ideologischen und des sozialen Spektrums weist er nach, daß ein bedeutender Teil derer, die den Bolschewismus akzeptierten, in den Bolschewisten ein Gegengewicht zu den kommunistischen Internationalisten, d.h. zu den Juden sah und darauf hoffte, daß die Bolschewiki Rußland vor jüdischer Dominanz und jüdischer Einmischung bewahren würden. Aus denselben Motiven schließt sich den Bolschewiki auch ein Teil der äußersten Rechten an, darunter einige Führer und eine beachtliche Anzahl einfacher Mitglieder des "Russischen Volksbundes" [Sojuz Russkogo Naroda], Agurskij konstatiert ein Eindringen von Rechten in die Partei der Bolschewiki auf breiter Front. Nach den Worten des von ihm zitierten Izgoev konnte der Russische Volksbund "erst dann vermehrten Einfluß und Erfolg verzeichnen, als er sich ein neues Image gab und in die Kommunistische Partei einging.5 Ein so bekannter rechter Politiker und antisemitischer Ideologe wie Vasilij Sul'gin erklärt: "Das Banner des einigen Rußland wurde von den Bolschewiki erhoben!" [1920. Leningrad 1926]. Dieses Banner inspirierte auch die Militärs - von 130.000 Kommandeuren der Roten Armee waren etwa die Hälfte ehemalige Offiziere und Generäle des Zaren, deren Verhältnis zu den Juden im Bürgerkrieg hinreichend deutlich geworden war. Zahlreiche Spezialisten, die auf eine politische Wende, auf eine "Verwandlung Rußlands in einen Nationalstaat" hofften, rechtfertigten ihre Arbeit für die Sowjetmacht mit dem beginnenden "Eindämmen der Revolu-

s Agurskij, M.: Ideologija nacional-bol'sevizma [Die Ideologie des Nationalbolschewismus]. Paris 1980, S. 53.

Die Doktrin des Stalinschen Antisemitismus

51

tion", worunter sie vielfach die Entfernung der Juden von führenden Posten verstanden. Derartige Ansichten gewannen sowohl in der Emigration als auch in Rußland unter Intellektuellen weite Verbreitung. Nicht ohne Beteiligung der GPU, die die berüchtigte Operation "Trust" organisierte, die "geheime" Visite Sulgins in der UdSSR 1926 und die gleichzeitige Veröffentlichung seines Buches 1920 in Leningrad. Sulgin sammelte Material für sein Buch Drei Hauptstädte [Tri stolicy], worin er mit Befriedigung die Verwandtschaft von Faschismus und Kommunismus konstatiert. Sein Kommentar zu den Worten eines seiner Gesprächspartner [eines Mitarbeiters der GPU], der sagte: "Im gegenwärtigen russischen Leben drängt neben dem jüdischen Strom zweifellos auch ein starker russischer Strahl zur Spitze" lautet: "Natürlich wird man die Juden bald liquidieren." Nationalbolschewistische Hoffnungen dieser Art finden lebhaften Anklang in der Partei, deren Mitgliederbestand sich in den Jahren des Leninaufgebots (1924-1926) wesentlich verändert hat. Die neu Aufgenommenen [350.000, ihre Zahl überstieg um das Vielfache die Zahl der alten Parteimitglieder] bilden eine kompakte russisch-bäuerliche Mehrheit. Sie bringen alte Traditionen ein, die sich unter dem Einfluß der massiven und alles durchdringenden Schwarzhunderterpropaganda gebildet hatten. In einer solchen Situation, in der das Sowjetsystem sozial bedeutsame Gruppen von Menschen integriert, die es auf die eine oder andere Weise als nationales System anerkennen, setzt Stalin die russisch-messianische Losung vom "Sozialismus in einem Land" in Umlauf und beginnt einen Kampf gegen die linke Opposition, die von den Juden Trockij, Kamenev und Zinov'ev geführt wird. Dieser Kampf wird dank entsprechender Regie Stalins als Widerstand gegen die jüdische Vorherrschaft aufgefaßt und gibt den antisemitischen Strömungen in- und außerhalb der Partei einen mächtigen zusätzlichen Impuls. Auf diese Weise mit einem nationalistisch-antisemitischen Alibi ausgestattet, bereitet Stalin die Kollektivierung und Industrialisierung vor - völkermörderische Aktionen, in deren Verlauf und Folge er die russisch-imperiale Apologetik ausfeilt, um das wahre Wesen seiner Alleinherrschaft zu verschleiern, sich das Image des russischen Führers sowie - nur in dieser Eigenschaft - auch das des "Führers aller Völker" anzueignen und um den mit der Zerschlagung der alten Parteiführung begonnenen Massenterror zu rechtfertigen.

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Liudmila

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Dies ist in großen Zügen die Genese des russisch-imperialen kommunistischen Messianismus - der stalinistischen Ideologie, in deren Rahmen die Doktrin des russisch-sowjetischen offiziellen Antisemitismus Gestalt annahm. (Übersetzung: Dagmar Hermann)

Shimon Redlich The Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR: New Documentation from Soviet Archives.

The existence of the Jewish Anti-Fascist Committee (JAFC) spanned the years 1941-1948, which almost paralleled the last decade of Stalinism in the USSR. Although the history of the JAFC represents a specifically Jewish aspect in the Soviet reality of those times, its ups and downs have been an expression of general Stalinist attitudes and policies of that era. The JAFC was the only central Jewish structure in the USSR active during a most significant and tragic period for the country as a whole and for its Jewish population in particular, that of the Second World War, the Holocaust and latter-day Stalinism. The story of the Jewish Committee, rather limited in scope, reflects problems and difficulties which confronted Soviet Jewry as a whole, and particularly its national-cultural leadership, which was quite identical with the Commitee's leadership. The various stages in the JAFC's history reflect not only specific Stalinist policies vis a vis that particular organization. They also pinpoint Stalinist attitudes and policies toward Jews and Jewish culture in the USSR. The JAFC has been the subject of scrutiny over the years by a number of scholars.1 I have published the first monograph on the subject in the early 1980's.2 A second, updated, version followed in 1990.3 What were the major sources available up to that time concerning the subject under discussion?

1 For a detailed list of studies concerning the JAFC see Redlich, Shimon: Propaganda and Nationalism in Wartime Russia: The Jewish Antifascist Committee in the USSR, 19411948. East European Monographs, Boulder, 1982, note 4, pp. 179-180 and Redlich, Shimon: Tehiyyah al tenai: ha-vaad ha-yehudi ha-antifashisti ha-sovyeti: aliyato ushkiato (1941-1948). Tel-Aviv 1990, p. 184. 2 Redlich, Shimon: Propaganda and Nationalism, ibid. 3 Redlich, Shimon: Tehiyyah al tenai, ibid.

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a. Official Soviet publications concerning the JAFC, primarily its Yiddish newspaper Eynikayt. There were also the published accounts of the various JAFC public meetings as well as reports in the general Soviet press. b. Archival documentation. I have consulted numerous public and private archives in the US, England and Israel. Since the JAFC has been an outward-oriented organization, traces of its activities could be found in archival collections outside the USSR. The principal archival sources, however, those located in the Soviet Union, were inaccessible. c. Memoiristic literature. Any memoirs concerning the Committee, its members and leaders were carefully examined. They were mainly of two sorts: memoirs written by Jewish non-Soviet writers and intellectuals who spent the war years in the Soviet Union and were allowed to leave the USSR immidiately after the war,4 and those written by relatives of some JAFC leaders, allowed to leave the USSR in the 1970's.5 Some information was culled from memoirs published in the Soviet Union.6 d. A most important, though at times controversial source, was that of "oral history," i.e. structured in-depth interviews with individuals who had any connection with the JAFC. These were people who lived during the war inside Russia, those who met with Mikhoels and Fefer during their mission to world Jewry, official JAFC guests, who traveled to the Soviet Union in the immediate post-war years and relatives of Committee leaders allowed to emigrate from the USSR.

4 Such as Kaczerginski, Sz.: Tsvishn hamer ttn serp. Paris 1949, Ianasovich, I.: Mit yiddishe shrayber in rusland. Buenos Aires 1959 and Abraham Sutskever's memoirs published in: Di goldene keyt, 43: 1962, pp. 153-169, 61: 1967, pp. 21-37. 3 See Markish, Ester: Lahazor midereh aruka. Tel-Aviv 1977 and Vovsi-Mikhoels, Natalya: Avi Shlomo Mikhoels: hayyav u-motoh shel sahkan yehudi. Tel-Aviv 1982. 6 Such as Ehrenburg, llya: The War: 1941-1945 (vol. 5 of Men, Years, Life). Cleveland and New York 1964.

The Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR

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Some additional sources for the history of the JAFC reached the West in a semi-legal manner during the Brezhnev years. These were parts of the Mikhoels collection and a considerable part of Ehrenburg's papers.7 Then came the unexpected era of Gorbachev, the collapse of the Soviet system and the "rush for the archives". Some commentators refer to it as "the archival revolution of the early 1990's."8 A heated discussion of these profound changes, especially concerning the ensuing irregularities and lack of accepted "equal rights" for access to the various archival collections, erupted both inside Russia and in the West. In numerous instances journalists and media representatives got an upper hand over professional historians. Some Western institutions "acquired" whole archival collections not always accessible to "native" Russian scholars. In some instances Russian scholars and writers close to the upper echelons of the postcommunist establishment barred access to subject matter which they considered their personal "property". The most celebrated case has been that of the late D.A. Volkogonov.9 Some Russian scholars accused their archival administration of a "sellout" of national historical documentation to "strangers".10 An abnormal situation concerning access to Russian archives still prevails. At least two important archival collections, that of the KGB and the "Presidential Archive", are almost inaccessible to the average Russian or Western scholar, even in the late 1990's. My first encounter with Soviet archives was in the years 1989-1991. After researching and teaching the history of the USSR for more than twenty years, I was allowed for the first time to visit Moscow." The object of my intense interest were of course those archival collections pertaining directly

7

Deposited respectively at the Central Archive for the History of the Jewish People, Jerusalem and Yad Vashem Archives, Jerusalem. 8 Kozlov, Vladimir and Lokteva, Ol'ga: '"Arkhivnaya revoliutsiia' ν Rossii (1991-1996)", in: Svobodnaia mysl', January, 1997, pp. 113-121. * See for example: Knight, Amy: "The Fate of the KGB Archives", in: The Slavic Review, vol. 52, no. 3, 1993, p.585. Some significant sources for the history of the JAFC, unaccessible to me, were made available to Vladimir P. Naumov, Arkadii Vaksberg and Aleksandr Borshchagovskii. 10 "The Case of the Russian Archives: An Interview with Iurii N. Afanas'ev", in: The Slavic Review, vol. 52, no. 2, 1993, pp. 338-352. 11 Redlich, Shimon: "Discovering Soviet Archives: The Papers of the Jewish Anti-Fascist Committee", in: The Jewish Quarterly, vol. 39, no. 4, Winter 1992-1993, pp. 15,19.

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to the JAFC, a subject which I had been studying for more than a decade. Following an agreement, signed by Ben Gurion University and Yad Vashem representing Israel, and GARF (The State Archive of the Russian Federation) and RTsKhlDNI (The Russian Centre for Preservation and Study of Records of Modern History) representing Russia, a project of publishing a collection of documents and commentaries concerning the fate of the JAFC has been launched. It resulted in two parallel publications, in English and in Russian. 12 The principal archival collections for the study of the JAFC, never accessible to scholarship in the past, used now to check and complement my previous work on the subject, were the JAFC collection (fond) in GARF (the former October Revolution Archive) and JAFC related documentation in RTsKhlDNI (the former Party Archive). The former reflects mostly inner matters and issues concerning the Committee, whereas the latter portrays atitudes, considerations and decisions at the CPSU Central Committeee level. Following are some samples of this new documentation as weil as observations concerning the comparison between initial JAFC related research in the West and the newly accessible sources. The Erlich-Alter Affair has been quite well documented in the past, however only now did we learn about the exact dates and details of the fate of these two outstanding Polish-Jewish Bund leaders, the would-be organizers of the still-born Jewish Anti-Hitlerite Committee in the USSR. A top secret NKVD report concerning Erlich stated: "Comrade Butenko reported from Kuibyshev no. 9072 of May 16, 1942, that at 20:00h on May 14 it was discovered in a cell in Kuibyshev internal prison that the prisoner of Section 4, 2nd Directorate NKVD, Erlich Gersh-Volf Moiseyevich had hanged himself on the window bars."13 Another document, concerning Alter, drafted by Senior Major of State Security, Ogoltsov, dryly reported to Commissar of State Security V.N. Merkulov: "Your order to execute by shooting prisoner no. 41 was carried out on 17 February. A certificate has been drawn up which I am enclosing together with the personal file. I withdrew all documents and records

12

Redlich, Shimon: War, Holocaust and Stalinism: A Documented Study of the Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR. Harwood Academic Publishers, 1995 and Evreiskii antifashistskii komitet ν SSSR 1941-1948: dokumentirovannaia istoriia. Moscow 1996. 13 Redlich, Shimon: War, Holocaust and Stalinism, ibid., p. 169. Hereafter: WHS.

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relating to prisoner no. 41 from the internal jail and 1st Special Section. His belongings have been burned." 14 Although the launching of a new Soviet-Yiddish newspaper, Eynikayt, for wartime purposes was a known fact, only now could we learn about the various organizational stages of the process. A request by 6 Jewish writers was addressed to the Sovinformburo less than a month after the German invasion of the USSR: "The Jewish press of Minsk, Kovno, Vilnius, Lvov, Belostok and a number of other cities has ceased to exist. We therefore raise the question of the urgent need to establish a Yiddish newspaper before the Soviet Information Bureau. There are sufficient literary personnel as weil as printing facilities in Moscow to maintain such a newspaper. A Yiddish newspaper in Moscow will play a major role in organizing the Jewish masses for the support of our homeland. Moscow Soviet Jewish Writers Perets Markish S. Hal kin D. Bergelson L. Kvitko I. Nusinov E. Fininberg" Shcherbakov's decision at that time was: "Inadvisable at the present time. Let the Jewish writers work for Moscow newspapers." 15 The final decision was taken only in September: "A group of Jewish writers, artists and scientists has appealed to the CC AUCP(B) with a request to publish a Yiddish newspaper in the capital. Before the war Yiddish newspapers were published in the Ukraine, Belorussia, and the Baltic Republics. At present there is only one Yiddish newspaper published in the USSR — in Birobidzhan.

14 15

WHS, p. 170. WHS, ρ 186.

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The Propaganda Department proposes the publishing of a Yiddish newspaper in the city of Moscow starting from October 15, 1941, on a weekly basis, with an edition of 10,000 copies."16 Following the crisis of mid-October 1941 and the evacuation of most government offices to Kuibyshev, the actual printing of Eynikayt started as late as June 1942. Whereas a report on the February 1943 JAFC plenary session has been published at the time in Eynikayt,11 only now can we learn about the highly critical remarks by a Comintern official concerning opinions voiced then by some JAFC members: "A review of the Materials from the Second Plenary Session of the Jewish Antifascist Committee shows that there were a number of flagrant political blunders in this session regarding foreign Jewish issues and the connection between these issues and the Patriotic War of the Soviet Union [...] In order to confirm this, we attempted to receive a copy of the plenary session material immediately after the end of the plenum, but the leaders of the Committee, confining themselves to promises, placed at our disposal only the greetings of the plenum, a letter to comrade I. Stalin, and a copy of a short communication about the work of the plenum. Familiarization with the Materials of the plenum became possible only after they appeared in Eynikayt, the official organ of the Jewish Anti-Fascist Committee, in the second half of March [...] The discussion at the Plenary Session displayed an unacceptable conceit and arrogance in connection with the role of Soviet Jews in the Patriotic War. The participants of the plenum obviously overlooked the fact that they assumed the right to speak in the name of all Soviet Jews, and also in the name of a Soviet organization, and that such a role is linked to responsibility. The second problem which the Jewish Committee decided to deal with, as well as the way to resolve it, was stated in the concluding speech by comrade Epshteyn: it consists of a public declaration of war on certain reactionary Jewish political groups in the USA. It is true that the leadership of the Committee did not attain complete agreement as to whom exactly it was necessary to fight against, as was made clear by the single reasonable retort hurled from the audience during comrade Epshteyn's speech. However, the Committee was bent on 'forcing certain authors to speak', forcing others to remain silent, and so forth. Thus, the speech

16 17

WHS, p. 189. Eynikayt, March 15, 1943.

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is not only about aid to the Red Army or about tanks and bombers for the Red Army. The speech talks about 'high polities', which the Committee took upon itself to champion in the USA, paying absolutely no attention to the actual conditions in the country or the existing political situation, and completely ignoring the political action program of our own party in America, and its leadership of the Jewish section. The Jewish Anti-Fascist Committee is thus forgetting that it is located in Moscow, in the Sovinformburo [...] It seems to us that in the report of the plenary session published in Eynikayt there were also blatant politically harmful blunders: speeches were published which were not to be made public, like, for example, the speech by comrade Ehrenburg citing the necessity of struggling against antisemitism, and that of comrade Strongin, the director of the Yiddish publishing house, about the circulation of the newspaper and about difficulties concerning its publication and proper dissemination."18 We did know from indirect sources that some Soviet Jews considered the JAFC as a "Jewish address". They approached it in their plight and sorrow and asked for support and assistance. But only now do we have the direct evidence, i.e. those original letters and requests. Thus, for example, two Jews from Vinnitsa, in liberated Ukraine, wrote to the Committee in July

1944: "[...] An especially grim impression is made by re-evacuated Jewish families. They have no material means returning to the place of their former residence, they sometimes cannot even find the apartment where they had previously lived. Part of the local population is not especially friendly towards the re-evacuated, because disputes arise over the return of apartments and demands for the return of plundered property when it is found."19 A message sent to the Committee from the town of Polonnoe exclaimed: "Dear Friends: Save us from starvation! Send a package with clothing and food! I am ashamed to ask for your brotherly help, but we have no other way out. We will never forget you."20 Some of the appeals spoke about the necessity to commemorate the victims of the War and the Holocaust. Colonel David Dragunsky, Twice

" WHS, p. 214-215. " WHS, p. 226. 20 WHS, p. 227.

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Hero of the Soviet Union, who in his late life was to play an unsavory role in Soviet-Jewish politics, appealed to Mikhoels in late 1945: "After four years of war, I had the opportunity to visit my native region — my home town Novozybkov and Svyatsk, the village where I was born. My fellow villagers warmly greeted me: kolkhozniks, workers, students. Soviet and party organizations gave me a worthy welcome, but these joyful moments were darkened. For in my home town the German fascist monsters executed my entire family — 74 members of the Dragunsky family in all. But what especially saddened me was that no graves were arranged. The little bones of my sisters and children are scattered about the fields. Cattle trample them — in a word, all human dignity is lost. And in the village council there is no list of how many, when and who were murdered. It's true that at my insistence they are now taking action, but these facts induced me to write you a letter and raise the question of delegating to the Antifascist Committee the work of setting up monuments for the executed children, old people and women. There are murdered victims of fascism in all cities, towns and villages. There are no graves. Often cattle graze in the fields where human bones are scattered. This doesn't only refer to Jewish victims, but also many partisans, executed children, women, and old people are not buried. You will be doing a great and necessary service through such work. The humiliated victims and the fascists' unheard of degradations will not be forgotten for centuries. It is difficult to forget the four year nightmare. We must erect fences, monuments, and inscriptions everywhere and show dates. It seems to me that this measure is even a way to mitigate those individual cases of antisemitism which took root through Goebbels' propaganda in the days of the occupation. Therefore we must give special attention to the task of establishing monuments, simple fences and an account of all those executed and murdered. Please raise this question before the responsible organizations. I pledge to offer you any support I can in this undertaking. Very truly and respectfully yours, Colonel D. Dragunsky Hero of the Soviet Union (twice-decorated) December 4, 1945."2'

21

WHS, pp. 231-232.

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The new documentation relates fully the dramatic and tragic history of the Russian Black Book on Nazi atrocities against Jews, compiled and prepared for publication in the mid-forties, but never published in the Soviet Union.22 A laconic note by a CC Propaganda Department official closed the issue in the fall of 1947: "Comrade Mikhoels, Chairman of the Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR, appealed to Comrade A. A. Zhdanov with a request to speed up the publication of The Black Book, which presents literary reworked materials describing the atrocities which the German-fascist invaders perpetrated on the Jews on territories of the USSR occupied by the enemy. The Propaganda Department has meticulously studied The Black Book. It contains grave political errors. The Propaganda Department does not approve publication of the book in 1947. Consequently, The Black Book may not be published."23 A most significant chapter in the history of the JAFC have been the numerous letters and appeals directed to its leadership concerning the establishment of Israel and the ensuing struggle for its survival. Indirect evidence indicated in the past a flow of such appeals, but it is only now that one could examine this material. Thus, a Red Army lieutenant from Minsk wrote to the JAFC three days after the proclamation of Israel's independence: "I would like to ask you if it is possible to go to Palestine, and if so, how can it be arranged? I am a former lieutenant and have worked as an intelligence officer. At present I am working in Minsk at the tractor plant. I feel that I could be of help somehow. Please answer my letter."24 A collective appeal from Jewish students of Leningrad's Institutions of Higher Learning stated:

22 23 24

WHS, pp. 95-108; 347-371. WHS, p. 368. WHS, p. 376.

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"The latest events in Palestine have aroused public opinion in the entire world. Progressive people everywhere are following the struggle of the young State of Israel against the Arab League - satellites of Anglo-American imperialism - with great interest. The State of Israel was established by the Jews of Palestine on the basis of the decision of the United Nations General Assembly on November 29, 1947. This decision was taken with the active support of the Soviet delegation and the delegations from the New Democracies. On the day of the proclamation of independence, the armies of six countries, armed by English and American money with American weapons, invaded Israel despite the decision of the General Assembly of the United Nations. German fascists, Polish reactionaries from Anders' army, and Spanish Phalangists could be found in the ranks of the Arab armies. During the War, the Jewish people experienced all the horrors of the Nazi atrocities. About six million Jews perished in concentration camps and ghettos. All progressive-minded people feel that after all the hardships and misfortunes, the Jews have a right to the establishment of a national, independent state. This opinion was expressed by the USSR representative in the UN, comrade Gromyko, as well as by numerous progressive leaders from other countries. However, this proposal is not supported by the governments of England and the United States. Although the US has recognized the new State of Israel, it together with England has not ceased its sinister behind-the-scenes machinations in the Arab countries, sowing national discord between Jews and Arabs. The bloody events in Israel, just like the executions of resistance fighters in Greece and the persecution of democratic organizations in South Korea and West Germany, are part of the reactionary policies of the Anglo-American imperialists. Soviet Jews are following the events taking place in Palestine with great interest. We are interested in the position of the Jewish Anti-Fascist Committee in connection with the events taking place in Israel. We are interested in knowing what concrete measures the Jewish Anti-Fascist Committee proposes to undertake in order to aid Israel in its struggle against the henchmen of Anglo—American imperialism. We ask that the Jewish Anti-Fascist Committee come out clearly in the central press against the invasion of the State of Israel by the Arab armies. Thirty-six people have signed this statement."25

25

WHS, p. 378.

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A telegraphic type note to the Committee sent on May 20,1948 from Novosibirsk insisted: "Why don't you organize help for the new State of Israel fighting for its independence?" 26 An anonymous dramatic appeal accused the Committee of idleness at a moment of mortal danger to the Israelis: "How long will the Jewish Anti-Fascist Committee sit idly by while the unfortunate Jews, who have been assailed for thousands of years, are finally annihilated by the Arabs in Palestine? When the Civil War raged in Spain, everyone sent volunteers to defend the Republic. Why isn't anyone sending them now? American and British thugs have been conniving with, and will always connive with the Arabs. And we cannot expect help from the United Nations either. Therefore, we must send volunteers at once and ask the Soviet Government and Comrade Stalin, who have always aided freedom fighters, to arm these troops. Immediately! Or else it will be too late! Every hour of indecision will result in more Jewish blood being spilled. Soon there will be no Jews left on the earth."27 The new documentation presents in detail the growing criticism of the JAFC in the postwar years, up to its liquidation in the fall of 1948.28 We only now have the Politburo decision of November 20, 1948 to close the Committee: "The Bureau of the USSR Council of Ministers instructs the USSR Ministry of State Security immediately to disband the 'Jewish Anti-Fascist Committee' since, as the facts show, this Committee is a center of anti-Soviet propaganda and regularly submits anti-Soviet information to organs of foreign intelligence. The publishing agencies of this Committee should be closed accordingly and the Committee's files confiscated. Nobody should be arrested yet."29 A careful examination of the newly available documents concerning the Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR shows that they do not refute my initial findings. My basic assumptions and conceptual approach seem to remain valid. However, a number of issues, discussed briefly or not at all in my original study, now become significant, and some details, previously

26 27

28 29

WHS, WHS, WHS, WHS,

p. 380. p. 386. pp. 121-143; 413-470. p. 464.

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taken for granted, have been modified. In addition, whereas my former study of the JAFC concluded with the Liquidation of the Committee in 1948, information we now possess reveals the tragic fate of its leaders and associates in the years 1949-1952.30 We now know much more about the origins of the JAFC. Previously unknown details concerning Erlich and Alter have emerged. Their rearrest, and the appointment of Mikhoels as chairman of the JAFC in December 1941, reveal when it was decided to abandon the idea of a truly international Jewish committee and to establish, instead, a fully controlled Soviet-Jewish institution. Although it was previously apparent that the JAFC and its chairman, Mikhoels, were considered an "address" by Soviet Jews, this has only now been folly confirmed, through the availability of direct evidence, in the form of letters and appeals. The large flow of complaints to the JAFC, primarily from the liberated territories, reflected the difficulties faced by the Holocaust survivors and Jewish returnees. They confirm previous information about discrimination and antisemitism. The JAFC, and Mikhoels in particular, assumed responsibility and attempted to intervene with the authorities. The newly discovered documents reveal the scope of these attempts and the reaction of the Soviet leadership. The circumstances surrounding the proposal to establish a Jewish republic in the Crimea have now become more intelligible. The publication history of the Black Book is now folly documented. It testifies to the persistence of the JAFC and Ehrenburg in exposing the uniqueness of Jewish suffering in the German-occupied territories of the USSR and its denial by the Soviet leadership. Numerous documents describe the JAFC's attempts to maintain contacts with Jewish organizations outside the USSR. Repeated requests to participate in conferences, even those in pro-Soviet Eastern Europe, were consistently denied. The mission of Mikhoels and Fefer in 1943 was destined to be the sole direct contact between Soviet Jews and world Jewry. The reaction of Soviet Jews to the establishment of Israel, and the role played by the JAFC in this context, as reflected in the JAFC files, reveal the complexities of the Committee's position as a Soviet-Jewish organization.

30

WHS, pp. 145-158; Naumov, V.P., ed.: Nepravednyi sud: poslednii stalinskii rasstrel. Moscow 1994.

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The relations between the JAFC and the Soviet leadership, an almost unknown chapter in the JAFC's history, have now become extensively documented. We now know considerably more about the attitudes of some Soviet leaders towards the JAFC. Although the Sovinformburo, which directed and supervised the JAFC during the war, was generally satisfied with the Committee's functioning, some of its officials started criticizing the JAFC's "nationalist tendencies" as early as 1943. All significant decisions concerning the JAFC in the years 1942-1945 were brought to Shcherbakov, and although he showed signs of antisemitism, he understood the importance of foreign Jewish wartime support for Russia. Lozovsky, Shcherbakov's deputy in the Sovinformburo, and himself a Jew, was the man most directly involved in the JAFC's activities. He gradually found himself in a precarious situation. During the war years, when the JAFC was effective and needed, Lozovsky carefully deflected his subordinates' criticism of the JAFC. In 1944, when the Soviet attitude toward the JAFC and Soviet Jews in general seemed promising, Lozovsky became involved in the promotion of a Jewish republic in the Crimea. He would pay dearly for this a few years later. Beria was personally involved in the formation of the Jewish Committee. He apparently approached Stalin with a recommendation to use Erlich and Alter in mobilizing worldwide Jewish support for the USSR in its struggle against Hitler. However, when Stalin decided otherwise, Beria, of course, complied. Beria, surprisingly, more than other Soviet leaders, was ready to acknowledge the particularly harsh fate of Jews in the occupied territories, and recommended helping them. He was not involved, as it had been formerly assumed, in the murder of Mikhoels, and after Stalin's death, he was among the initiators of the investigation of the perpetrators. Although Zhdanov's cultural policies, starting in 1946, adversely affected the JAFC and Soviet-Jewish culture in general, he was less suspicious of the JAFC than was Suslov, and less hostile toward it. It was perhaps not by chance that the JAFC was closed down after Zhdanov's death. The man who clearly appears in the new documentation as the Party's specialist on the JAFC and Jewish-related issues in the postwar years is Mikhail Suslov. His correspondence, reports and recommendations on the subject were forwarded to the very top, including Stalin. Suslov was the first high-ranking Soviet official who accused the JAFC of outright nationalism

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Shimon Redlich

and Zionism. He consistently recommended rejecting each of the JAFC's requests concerning direct contacts with Jewish organizations abroad, and believed that the Jewish Committee posed a danger to the Soviet state. As early as the fall of 1946, he became the first high-ranking Soviet official to recommend shutting down the JAFC. And finally, what do we know now, that we did not know before the opening of the Soviet archives, about Stalin's involvement in the tragic end of the JAFC and its leaders ? We may safely assume that Stalin was briefed on the Jewish Committee during the war years. However, his growing interest in the JAFC started in late 1947 and early 1948. He was directly involved in the first arrests and investigations of the JAFC members in the fall of 1947. We now posses more evidence that Mikhoels was murdered in January, 1948, on Stalin's explicit orders. Stalin was the first addressee listed on Abakumov's ominous March 1948 report on the JAFC. He was, then, at least the co-author, if not the originator, of the "JAFC plot". The arrests in late 1948 and early 1949 were carried out with his approval. We also know now that Stalin closely followed the interrogations of the JAFC's leaders and sealed their ultimate fate. The question whether Stalin or the MGB [the Ministry of State Security] initiated the accusations and "scenarios" concerning the JAFC is a moot one. Even if people like Abakumov and Riumin did not get specific instructions, they had no doubt that they were following Stalin's wishes. However, it is possible that the ever increasing "plots", "conspiracies" and "dangers" reported by the MGB, fed Stalin's paranoid mind. MGB reports, the protocols of the interrogations, and confessions by some MGB officers clearly delineate the contours of Stalin's basic perception of Soviet Jews as a group and of the JAFC as their representative. They were portrayed as potentially dangerous "aliens", hostile to the regime, and to him personally. The interrogations of, and accusations against, the arrested JAFC leaders and staff, repeatedly mentioned biographical details, which were supposed to prove this assumption. Thus, Abakumov's March 1948 report explicitly mentioned the fact that Soviet-Jewish writers, members of the JAFC, lived abroad for prolonged periods of time. Some of the JAFC leaders, like Fefer and Prof. Lina Shtern, had close relatives abroad. Molotov's wife, Zhemchuzhina, accused of complicity with Mikhoels,

The Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR

67

corresponded with her American brother. The Mikhoels-Fefer mission to world Jewry was, in retrospect, viewed as an act of treason. The "Crimean affair" was one of its outcomes. The JAFC was portrayed as a center of subversion linked to world Jewry, to the Zionists, and to US intelligence. What was, then, the essence of the JAFC within the Stalinist context, according to both, the previous and the newly accessible documentation? The Jewish Anti-Fascist Committee, an institution established for Soviet wartime objectives, was caught up in a crosscurrent of events. The war and the Holocaust forced the Jewish Committee to cope with tasks which were beyond its official mandate. In spite of differences of opinion and various conflicts within the JAFC leadership, it identified with specifically Jewish problems and grappled for solutions. For a while, it seemed that the JAFC could serve the interests of both Stalin's Russia and Soviet Jewry. However, postwar Stalinism turned the Jewish Anti-Fascist Committee into an anathema for the aging dictator. The "JAFC case", the trial of the Committee leaders and their execution in August, 1952, the announcement of the "doctors' plot" in January, 1953 - all these were ill omens of what was in store for Soviet Jews. Additional suffering and tragedy were apparently averted only by Stalin's death.

Lev Besymenski Was das Sowjetvolk vom Holocaust wußte

Was spielte sich auf den Territorien der Sowjetunion ab, die unter das deutsche Besatzungsregime geraten waren? In den Nachkriegsjahren bildeten die entsprechenden Beschreibungen hunderte, ja tausende Bücher. Aber der menschliche Verstand stumpft bei der Aufnahme der ebenfalls menschlichen Grausamkeiten ab. Deshalb wertet jedes ins Blickfeld kommende Zeugnis die menschliche Perzeption gleichsam auf. Was kann Il'ja Erenburg wohl empfunden haben, als er im Januar 1945 aus Kiev, das eben von den Deutschen gesäubert worden war, von der Lehrerin Emma Kotlova folgenden Brief bekam:1 "Wie bleib ich in Kiev und warum? Es gab eine Zeit, da war es unmöglich, Kiev zu verlassen, und als sich diese Möglichkeit ergab, erkrankte meine Jüngste, und ich konnte sie, krank wie sie war, nicht transportieren. Kaum war sie von ihrer Krankheit geheilt, als meine beiden Töchter Masern bekamen. Das war gerade in den Tagen des Einzugs des Kannibalen Hitler. Über den Einmarsch Hitlers in die Stadt braucht man nicht zu schreiben, ist ja allen bekannt. Eine schwarze Gewitterwolke zog über der Stadt herauf. An allen Kreuzungen und in allen Schaufenstern hingen Anschläge und Befehle über den Tod oder die Hinrichtung. Das Volk sagte: 'Auf alles steht der Tod, wozu hat man denn das Leben?' Drei Tage später brannte Kiev. Das war das Jüngste Gericht für die Menschen. In dieser furchtbaren Zeit, als Häuser zusammenbrachen, flogen angebrannte Holzstücke durch die Luft, Stein- und Schottersplitter schütteten die Menschen zu, die Fensterscheiben rieselten wie Regen herab. Die Menschen liefen in Panik hin und her wie angebrannte Ratten in einem Käfig, und überall war das Geschrei und Gejammer von Menschen zu hören. In dieser Zeit raubten die Hitlerleute im Rauch und Feuer die Wohnungen aus, klauten Plattenspieler, Nähmaschinen und Kleider; an die Rettung von Menschen dachten sie nicht. In denselben Tagen zeigte Hitler dem Volk sein wahres Gesicht (seine Niedertracht, Frechheit, aber noch keine Bestialitäten, das war noch verborgen). Er ermordete viele jüdische Jugendliche,

1

Sovetskie evreipiSut U'e Erenburgu [Sowjetische Juden schreiben an Il'ja Erenburg]. Tel Aviv 1994, S. 56-57.

70

Lev Besymenski

die er der Brandlegung beschuldigte. Genau 10 Tage später, zum Jom Kippur, dem Versöhnungsfest nach der jüdischen Sitte, am 29. September 1941, verübte Hitler seine scheußliche Greueltat. Er brachte seinem Idol 'Faschismus' ein Opfer. Er verschlang 62.000 Juden, unschuldige Einwohner. Er trank sich am jüdischen Blut satt, daß ihm die Adern platzten. Und dieser denkwürdige Tag wird in die Geschichte der Menschheit eingehen. In der Morgendämmerung schon prangte ein 'Hitler-Befehl', von niemandem unterzeichnet, über den beispiellosen Untergang der Juden (ich gebe wörtlich wieder). Der Befehl war in zwei Sprachen, in Deutsch und Ukrainisch, gedruckt. 'Es wird befohlen, daß sich alle Juden der Stadt Kiev und der Umgebung am Montag, dem 29. September 1941, um 8.00 Uhr morgens an der Ecke der Melnikova- und der Dokterevskaja-Straße (in der Nähe des Friedhofs) einzufinden haben. Alle sind verpflichtet, Papiere, Geld, Wäsche und anderes mitzunehmen...' Noch am Abend vor Jom Kippur, d. h. am 28. September 1941, hatte Hitler alle jüdischen Männer der Stadt Kiev versammelt und zu Babij-Jar getrieben, wo sie Gruben auszuheben hatten, und am Abend waren sie alle erschossen. Alle Juden waren überzeugt, daß Hitler sie in ein Ghetto verschicke, und niemand konnte auch nur ahnen, daß auf sie dort das Ende wartete. Der Anblick der unglücklichen, wehrlosen Juden und ihr Marsch zum Ort ihres vorausbestimmten Todes - erschütternd! Angst und Schrecken! Das war eine wogende Menschenmasse, jung und alt, Frauen, Männer und Kinder jeden Alters, und jeder beeilte sich, im Waggon einen günstigeren Platz zu belegen. Mit Fuhren und Karren schleppten sie ihre Habe (Kleidung, Geschirr, Lebensmittel). Einige hatten Wolldecken, Bettwäsche, Samoware mit. Der Zug setzte sich am 29. September 1941 um 8.00 Uhr morgens in Bewegung, und drei Tage hintereinander gingen und fuhren sie dahin. Aber wohin? Das wußten sie selbst nicht. Babij-Jar befindet sich dicht am jüdischen Friedhof, dessen eine Mauer beinahe an die Schlucht stößt. Die Graben waren schon im voraus vorbereitet, sie stellten sich um die Gruben hin und schössen aus Maschinengewehren auf die Menschen, und diese fielen in die Gruben. Die Kinder wurden abgesondert und extra ermordet, die Soldaten spießten sie auf Bajonette, rissen Neugeborene entzwei. Wenn die Gruben nicht ausreichten, wurde die Erde mit Minen gesprengt, wobei zugleich Juden lebendigen Leibes mit Erde zugeschüttet wurden und neue Gruben entstanden. Die Erde schwankte von den Bewegungen der Menschen in einer Grube, und in einer anderen bildete sich ein Spalt, und daraus rieselte jüdisches Blut. Der Ort war von Gestapoleuten umzingelt. Beim Eingang wurden den Menschen die Dokumente, die Kleidung, die Wertsachen und Lebensmittel weggenommen, und weiter in der Schlucht hieß man sie alles ablegen und warf ihre Sachen auf einen Haufen. Jammern, Schreie, Weinen, Flehen und herzzerreißende Rufe von Kindern und Frauen ließen die vertierten Seelen der gräßlichen faschistischen Henker kalt. Alles geschah auf 'Befehl' von Hitler. Alte Juden beteten zu Gott und schrien 'Shmai Israel adenai echod.' (hebräisch; Höre, Israel, unser alleiniger Gott.) Junge

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Leute kämpften gegen die Henker und schrien: 'Das Volk wird uns rächen!' Vor dem Mord vergewaltigten sie noch Frauen. Selbst wenn man in einer Entfernung stand, hätte man vor Angst sterben können. Aber der Mensch ist stärker als Eisen und stirbt nicht vor seiner Zeit, er lebt und erträgt alles. (Ich schreibe jetzt in Kürze). Einige Juden gingen nicht zu Babij-Jar, sie begingen Selbstmord. Ärzte vergifteten sich und ihre Kinder mit Morphium, es kam vor, daß man sich und seine Kinder mit Petroleum übergoß und sich nicht den Henkern ergab. Diesen Tod starb Riva Chasan, Schülerin der 5. Klasse unserer Schule Nr. 47, die Familie wohnte in der Korolenko-Straße 43, Wohnung 13. Mutter und Tochter Übergossen sich mit Petroleum und verbrannten, und alles verbrannte mit. In unserem Haus, in der Lenin-Straße 12, töteten sie den alten Stoljarov, und als die Mieter ihn in den Hof hinauswarfen, traten die Hitlerleute mit ihren schmutzigen genagelten Stiefeln auf das Gesicht des ermordeten Juden und schrien schadenfroh: 'Jude kaputt!' Das Gesicht des Ermordeten zeigte schon Löcher, und dann schössen sie ihm noch einmal in den Mund und einmal in die Augen und gingen weg. Welch einen Rachedurst hatte ich, als ich all das sah! Aber oh weh! Und wie verfluchte ich diese Minute, die ich noch erleben mußte!..." Il'ja Erenburg, Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, der damals zusammen mit einem anderen bekannten Schriftsteller, Vasilij Grossman, ein Schwarzbuch über die Greueltaten der Antisemiten in SSund Wehrmachtsuniform vorbereitete, nahm Emma Kotlovas Erzählung in dieses Buch auf. Aber das Buch erreichte den russischen Leser erst 1993. Was wußten aber die Sowjetbürger damals, in den Kriegsjahren, von der Verwirklichimg der ungeheuerlichen Hitlerschen Pläne? Das ist eine entscheidende Frage. Die Kenntnisse der sowjetischen Bevölkerung entstanden unter den besonderen Bedingungen des Großen Vaterländischen Krieges. Die Notwendigkeit der absoluten Machtkonzentration angesichts der unmittelbaren und ganz realen Bedrohung der Existenz des Staates zog die völlige Konzentration und Kontrolle der Massenmedien nach sich, was in der UdSSR übrigens nicht weiter schwerfiel, da die VKP(b) [Allunions Kommunistische Partei der Bolschewiki] Presse und Rundfunk auch schon in den Vorkriegsjahren voll kontrolliert hatte. Davon, was an den Fronten und im Ausland geschah, konnte ein Sowjetbürger entweder im Einheitsrundfunk hören (nur ein einziges Programm für die gesamte UdSSR) oder aus Zeitungen erfahren, in denen die militärische Information ihrerseits superkonzentrierte Formen hatte, nämlich: a. Berichte des Sowjetischen Informationsbüros (SIB);

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Lev Besymenski

b. Meldungen der Telegrafenagentur der Sowjetunion [TASS] (vorwiegend aus dem Ausland); c. eigene Informationen der zentralen Zeitungen, die an den Fronten ihre Sonderkorrespondenten hatten. Diese Kanäle unterlagen der Kontrolle der (vorausgehenden) Militärzensur und der allgemeinen Aufsicht durch die Verwaltung Agitation und Propaganda im ZK der VKP(b). Die Personalunion des Sowjetischen Informationsbüros, der Verwaltung Agitation und Propaganda im ZK und der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee in Person des Sekretärs des ZK der VKP(b) Generaloberst A. Sierbakov bekräftigte die strenge Zentralisierung der gesamten militärischen Information. Die lokale Presse konnte ihre Informationen lediglich aus SIB-Materialien oder Zentralzeitungen schöpfen. Was die SIB-Berichte selbst angeht, so waren sie wie folgt strukturiert: a. Erster Teil: unmittelbare Kriegsberichte, die im Generalstab der Roten Armee vorbereitet wurden, womit sich im Generalstab ein spezielles Referat befaßte (Generalmajor V. Platonov); b. Zweiter Teil: Episoden der Kriegshandlungen an den Fronten, Mitteilungen über Aktionen der Partisanen hinter der Frontlinie, die Situation auf den besetzten Territorien, manchmal Auszüge aus Aussagen von Kriegsgefangenen. Dieser Teil wurde aufgrund von Angaben der 7. Abteilung, der GRU [Hauptverwaltung für Aufklärung der Roten Armee], bisweilen des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten vorbereitet. Jede Meldung enthielt 7-15 solche Episoden.2 Was konnte nun der Leser (darunter auch der einfache Soldat, der Frontzeitungen erhielt, deren Gesamtinformation zu 90-100 Prozent auf SIBBerichte reduziert war) über Themen erfahren, die wir hier analysieren: über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Todeslager? Die Analyse von SIB-Berichten zeugt von folgendem (Berichte aus der Zeit von der zweite Hälfte 1943 bis Januar 1945, d. h. bis zur Befreiung von Auschwitz):

2

Mitteilungen des Sowjetischen Informationsbüros. Moskau 1946, Bde. I-VIII.

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Jahr

Zahl von Episoden

Hinweise auf Hinweise auf Hinweise auf Verbrechen der KZ und die die Ermordung Okkupanten Deportation der von Juden Bevölkerung

1943 Juli August September Oktober November Dezember

263 213 228 212 218 192

15 14 6 23 24 28

4 0 1 0 0 0

keine keine keine keine keine keine

1944 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember

223 177 194 186 201 199 261 180 169 173 141 143

14 12 10 15 12 5 3 1 4 1 5 2

2 1 2 2 5 0 2 1 1 0 1 0

keine keine keine keine keine keine keine keine keine keine 1 keine

1945 Januar

131

6

2

keine.

Als Anmerkung dazu sei gesagt, daß die Hinweise auf Todeslager (ohne Angaben Uber die nationale Zusammensetzung der Häftlinge) sich auf die Befreiung von Majdanek (11. September 1944), Dachau und Oswi^cim (5.

3

Ebenda.

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bzw. 31. Januar 1945) beziehen. Das einzige Mal, daß die Greueltaten gegen die jüdische Bevölkerung erwähnt wurden, bezog sich auf das Lager Salaspils (15. November 1945); die Rede war damals von "Massenerschießungen friedlicher sowjetischer Einwohner: Russen, Letten, Belorussen und Juden". Hinzuzufügen wäre, daß auch in den früheren (aus der Zeit vor 1943 stammenden) SIB-Berichten dieses Thema nicht berührt wurde. In den Materialien der zentralen sowjetischen Zeitungen, insbesondere der Pravda,4 die als Eichmuster der sowjetischen Informations- und Propagandatätigkeit galt, gehörte das Thema der Verbrechen des deutschen Naziregimes gleich seit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges zu den wichtigsten. Es erschienen, einer nach dem anderen, große Artikel: "Vernichtung der slawischen Völker" (01.07.1941), "Das Ungeheuer Hitler - der Erzfeind des russischen Volkes" (13.07.1941), "Was Hitler den slawischen Völkern bringt" (15.07.1941), "Die Bibel der Kannibalen" (16.07.1941), "Hitlers Plan der Versklavung Europas" (05.08.1941). Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichungen, die sofort nach Hitlers Überfall auf die UdSSR erschienen, stand aus naheliegenden Gründen die Bedrohung des russischen Volkes, die der Hitlerismus bedeutete. In all diesen Artikeln wie auch in denen über die Lage in Polen, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und in anderen okkupierten Ländern wurde die Ermordung von Juden kein einziges Mal erwähnt. Besonders auffällig war das in den fundamentalen Artikeln Georgij Aleksandrovs, von der Verwaltung Agitation und Propaganda im ZK der VKP(b). Vor diesem Hintergrund mag eine Seite der Pravda vom 25. August 1941 überraschend wirken, denn sie war der ersten antifaschistischen jüdischen Kundgebung gewidmet, die die Grundlagen für das zukünftige Jüdische Antifaschistische Komitee legte. Schon das Erscheinen eines ganzseitigen Materials in der Pravda betonte die Bedeutung des Ereignisses {Pravda-Seiten waren eine Art Ritual). Auch die Liste der Redner sprach für sich. Das waren hervorragende, in der ganzen UdSSR bekannte Persönlichkeiten: der Schauspieler Solomon Michoels, die Schriftsteller II'ja Erenburg, Samuil Maräak, Perec Markig, David Bergel'son, der Architekt Iosif Iofan, das Akademiemitglied Petr Kapica. Ihre Äußerungen enthielten

4

Jahrgänge der Pravda 1941-1945.

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den zutiefst internationalistischen Gedanken, daß es lebensnotwendig war, das jüdische Volk, gegen das sich die Spitze der nazistischen Barbarei richtete, zu retten. David Bergel'son: "Die Frage der eigentlichen Existenz des jüdischen Volkes ist jetzt so akut wie noch nie in der ganzen früheren Geschichte dieses leidgeprüften Volkes. Früher stand es allein da. Diesmal ist der wütende Feind der Juden auch der Feind der Franzosen, Polen, Tschechen und zahlreichen anderen Völkern, ist der Erzfeind der Völker der Sowjetunion."

Die Redner hoben die Gleichberechtigung der Juden in der UdSSR hervor und verwiesen auch auf ihre Gleichberechtigung in den Reihen der Roten Armee. Von besonderer Bedeutung war die Ansprache des weltbekannten Physikers Petr Kapica, der im Namen der Russen sprach. Die Kundgebung nahm eine Botschaft an die "jüdischen Brüder in der ganzen Welt" an, was schon an sich in der Geschichte der sowjetischen Propaganda präzedenzlos war, denn nie hatte sie die Gemeinsamkeit des sowjetischen Judentums mit den Stammesgenossen in anderen Ländern betont. Aber gleichsam als Hinweis darauf, daß man die jüdische Frage nicht besonders hervorzuheben brauche, folgten auf die Rundfunkkundgebungen der Juden ebensolche Veranstaltungen der antifaschistischen Bewegungen der Slawen der ganzen Welt, der Frauen, der Jugend und der Wissenschaftler (Sommer/Herbst 1941). Die sowjetische Regierung war die erste unter den Alliierten, die die Welt über die NS-Pläne der Vernichtung der Juden in ganz Europa alarmierte. Es stand schwarz auf weiß in der offiziellen Erklärung von Molotov vom 18. Dezember 1942.5 Eine höchst realistische Erklärung, wenn man bedenkt, daß die Wannsee-Konferenz Anfang 1942 tagte. Aber wenn man den Bestand 06 (Sekretariat Molotov) des Archivs der auswärtigen Politik unter die Lupe nimmt, so kann man einen mühevollen Gang dieser Erklärung sehen. Der erste Entwurf wurde vom sowjetischen Diplomaten Konstantin Umanskij gemacht. Er verwertete die Angaben des NKVD über die Greueltaten der SS und der Wehrmacht gegen die sowjetischen Juden. Übrigens war es eine ausgezeichnete Arbeit, gemacht vom NKVD-General

5

Pravda vom 19.12.1942.

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Pavel Sudoplatov. Und was wurde daraus? Molotov strich diese faktischen Angaben zusammen, kürzte die Erklärung von mehr als 20 auf 8 Seiten, strich die allgemeinen Stellungnahmen zum Antisemitismus weg. Gewiß, es blieb noch viel drin. Aber eine gewisse Tendenz war schon im Entstehen. Das wäre Beispiel Nr. 1: 1941-1942 war es so, daß die Medien Judenverfolgungen und Judenmorde manchmal meldeten. So berichteten TASS und Pravda am 23. November 1941 wahrheitsgemäß über das Babij-JarMassaker. Es gab einen Artikel in der Pravda vom 9. August 1942 über Judenmorde in Minsk, Warschau, Kovel'. Am 19. und 23. Dezember 1942 wurden sogar TASS-Meldungen mit Erklärungen des Jüdischen Weltkongresses gedruckt. Am 21. April 1943 wurde Auschwitz zum ersten Mal erwähnt, übernommen aus einer belgischen Pressequelle. Es gab einen Bericht über Judenvernichtung in Mariuopol'. Nicht viel, aber immerhin! Nach dieser Publikation war es verständlich, daß in einer Pravda-Korrespondenz über die Ereignisse in Kiev nach seinem Fall 1941 direkt auf die Bluttaten gegen die jüdische Bevölkerung der ukrainischen Hauptstadt hingewiesen wurde (23. November). Doch in späteren Zeitungsartikeln, darunter mehrere von Georgij Aleksandrov, wurden antisemitische Aktionen des Faschismus wiederum nicht erwähnt. So interpretierte er in seinem Artikel "Hitlerdeutschland wird unter der Last seiner Verbrechen zusammenbrechen" (04. Dezember) die massive Vertreibung der Juden aus Deutschland nur als Vertreibung von "400 000 Patrioten, die nicht mit dem faschistischen Regime einverstanden waren". In der darauffolgenden Zeit hielten sich die /Vavcfa-Materialien an die gleiche Sprachregelung. Dazu Beispiel Nr. 2 - Akte über Babij-Jar: Der Ortsname Babij-Jar kann seinem symbolhaften Inhalt nach neben Auschwitz gestellt werden. Zwischen dem 22. und dem 30. September 1941 vernichtete das Sonderkommando 4 a, ein Bestandteil der Einsatzgruppe C, in der Kiever Schlucht Babij-Jar 33 771 Juden; die Zahl war im Bericht des Sonderkommandos fein säuberlich angegeben. Diese Einheit, die in einen so üblen Ruf kommen sollte, zog am 19. September in Kiev ein und hielt sich dort bis zum November auf. Die Greueltat, die mit Billigung des Militärkommandanten der Stadt General Kurt Eberhard verübt und in den berüchtigten SS-Ereignismeldungen festgehalten wurde, bildete gleichsam ein Muster künftiger Aktionen, die im Wannsee-Plan abgesegnet waren. Charakteristisch ist auch der heuchlerische Selbsttrost, den sich die Organisato-

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ren der Massenmorde an den Juden als Begründung zurechtlegten: Man habe die Juden vernichtet, um sie vor dem Zorn der örtlichen, d. h. der ukrainischen Bevölkerung zu schützen. Viele Jahre danach sollten auch sowjetische Antisemiten aus dem Innenministerium zu diesem "Argument" Zuflucht nehmen. Im Bericht der Einsatzgruppe C hieß es u. a.: "[...] II. Exekutionen und sonstige Maßnahmen Einmal auf Grund der wirtschaftlichen Besserstellung der Juden unter bolschewistischer Herrschaft und ihrer Zuträger- und Agentendienste für das NKVD, zum anderen wegen der in Kiev erfolgten Sprengungen und der daraus entstandenen Großfeuer, war die Erregung der Bevölkerung gegen die Juden außerordentlich groß. Hinzu kommt, daß Juden sich nachweislich an der Brandlegung beteiligt hatten. Die Bevölkerung erwartete deshalb von den deutschen Behörden entsprechende Vergeltungsmaßnahmen. Aus diesem Grunde wurden in Vereinbarung mit dem Stadtkommandanten sämtliche Juden Kievs aufgefordert, sich am Montag, dem 29.09. bis 8.00 Uhr an einem bestimmten Platz einzufinden. Diese Aufrufe wurden durch die Angehörigen der aufgestellten ukrainischen Miliz in der ganzen Stadt angeschlagen. Gleichzeitig wurde mündlich bekanntgegeben, daß sämtliche Juden Kievs umgesiedelt würden. In Zusammenarbeit mit dem Gruppenstab und 2 Kommandos des Polizei-Regiments Süd hat das Sonderkommando 4 a am 29. und 30.09 33 771 Juden exekutiert. Geld, Wertsachen, Wäsche und Kleidungsstücke wurden sichergestellt und zum Teil der NSV zur Ausrüstung der Volksdeutschen, zum Teil der kommissarischen Stadtverwaltung zur Überlassung an die bedürftige Bevölkerung übergeben. Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfalle haben sich nicht ergeben. Die gegen die Juden durchgeführte 'Umsiedlungsmaßnahme' hat durchaus die Zustimmung der Bevölkerung gefunden. Daß die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher kaum bekanntgeworden, würde auch nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stoßen. Von der Wehrmacht wurden die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen. Die noch nicht erfaßten, bzw. nach und nach in die Stadt zurückkehrenden geflüchteten Juden werden von Fall zu Fall entsprechend behandelt."6 Die böse Ironie des Schicksals wollte es, daß Babij-Jar mehrere Jahre später zu einem weiteren Symbol wurde: nicht nur für den Holocaust in der Praxis, sondern auch fiir das vorsätzliche Totschweigen der Tatsache, daß die Partei- und Staatsführung der UdSSR gegen die Juden vorging.

6

Der Krieg gegen die Sowjetunion. Katalog der Ausstellung. Berlin 1992, S. 124.

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Kiev wurde am 6. November 1943 befreit. Ebenso wie in anderen Fällen gingen die Einheiten der Roten Armee, die die Stadt befreit hatten, und die in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffenen Mitglieder der Regierung der Ukrainischen SSR daran, die Okkupationsfolgen festzustellen und zu beschreiben. Das ZK der KP(B) der Ukraine setzte eine Sonderkommission ein. Selbstverständlich mußte das Los Kievs, darunter die Hinrichtung in Babij-Jar, auch durch die Außerordentliche Staatliche Kommission in Moskau behandelt werden, weshalb sich das Verfahren als langwierig erwies.7 Ende Dezember 1943 wurde der erste Entwurf der Mitteilung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission ihren Mitgliedern zugeleitet. Der Entwurf enthielt folgenden Absatz: "Die Hitler-Banditen haben eine massive bestialische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verübt. Sie hängten eine Bekanntmachung aus, worin alle Juden aufgefordert wurden, sich am 29. September 1941 an der Ecke der Mel'nikovaund der Dokterevskaja-Straße mit Dokumenten, Geld und Wertsachen einzufinden. Die versammelten Juden wurden von den Henkern zu Babij-Jar getrieben, wo man ihnen alles Wertvolle wegnahm und sie dann erschoß."8 Es hat sich in den Archiven der Kommission der vom Metropoliten Nikolaj, Mitglied besagter Kommission, am 25. Dezember 1944 unterzeichnete Text dieses Entwurfs erhalten. Aber dann setzte die Prozedur der Abstimmung auf höchster Ebene ein. Am 25. Dezember 1944 leitete der Kommissionsvorsitzende Nikolaj Svernik den Text dem ZK der KPdSU zu diesem Zweck zu. Er schrieb an den Leiter der Verwaltung Propaganda und Agitation, Georgij Aleksandrov: "An Gen. Aleksandrov. Hierbei übersende ich Ihnen einen Entwurf der Mitteilung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über die Zerstörungen und Bestialitäten der faschistischen deutschen Landräuber in der Stadt Kiev. Bitte um Zustimmung zur Veröffentlichung in der Presse. N. Svernik."9

7

Babij-Jar-Akte: GARF [Staatsarchiv der Russischen Föderation], Bestand 7021, Inventurliste 116, Archivstück 36. 8 Ebenda, S. 94. 9 Ebenda, S. 103.

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Der Text befand sich lange bei Aleksandrov, bis er ihn am 2. Februar an Svernik mit der Bitte zurückschickte, "die redaktionellen Bemerkungen im Text zu berücksichtigen". Nach Aleksandrovs Korrekturen sah der entsprechende Absatz ganz anders aus: "Die Hitler-Banditen" (das weitere ist gestrichen) "trieben am 29. September 1941 [...] Tausende friedliche Sowjetbürger" (diese Worte wurden eingefügt) "an der Ecke der Mel'nikova- und der Dokterevskaja-Straße zusammen. Die Versammelten wurden von den Henkern zu Babij-Jar geführt, wo man ihnen alles Wertvolle wegnahm und sie dann erschoß."10 Nach Erhalt dieser neuen Version beschloß Svernik wohl, sich abzusichern, und richtete noch am selben 2. Februar die neue Variante (Aleksandrov hatte auch einige andere Absätze des Entwurfs redigiert) zwecks Abstimmung an Molotov: "Hiermit übersende ich Ihnen einen Entwurf der Mitteilung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über die Zerstörungen und Bestialitäten der faschistischen deutschen Landräuber in der Stadt Kiev. Der Entwurf ist mit Gen. G. F. Aleksandrov abgestimmt worden. Bitte um Zustimmung zur Veröffentlichung in der Presse."11 Dennoch wurde immer weiter abgestimmt. Offenbar bat Molotov nicht nur Aleksandrov, sondern auch dessen Chef Aleksandr Söerbakov, Sekretär des ZK der VKP(b), mit der Bestätigung der neuen Variante. An ihn richtete Molotov am 10. Februar den Text mit dem Vermerk: "Bitte zu entscheiden." 12 Die weiteren "Kontrolleure" waren Nikita ChruSöev und Andrej VySinskij [Stellvertreter Molotovs]. Am 17. Februar traf der Text aus Kiev mit den Unterschirften Chruäöevs und der anderen Mitglieder der ukrainischen Kommission ein. ChruSöevs Korrektur zum Text: Im Absatz über Babij-Jar stellte er das Wort "Straße" ihrem Namen voran. Auch die bekannten Schriftsteller Maksim Ryl'skij und Pavel Työina hatten den Text unterschrieben. Wahrscheinlich wurde er den Mitgliedern der Moskauer

10

Ebenda. S. 97. " Ebenda: S. 63. 12 Ebenda: S. 63.

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Kommission ebenfalls vorgelegt (davon zeugt ζ. B. die Unterschrift Aleksej Tolstojs). Söerbakov wußte von Aleksandrovs Korrekturen bezüglich BabijJars, weil das ihm zugeleitete Exemplar die von einer unbekannten Hand eingetragenen entscheidenden Änderungen zeigte. Danach wandte sich Svernik am 25. Februar erneut an Molotov: "In Ihrem Auftrag habe ich den Entwurf der Mitteilung" (folgt die Überschrift) "mit den Genn. A. Söerbakov und N. S. Chruäöev abgestimmt. Bitte Sie um die Genehmigung zur Veröffentlichung in der Presse."13 Dieses Dokument weist VySinskijs Vermerk auf: "Habe kleine Änderungen auf Seiten 3 und 6 eingetragen, auf S. 3 einen Satz gestrichen. Im übrigen einverstanden. A. Vyginskij. 27.02." Mit Molotovs Hand steht darauf: "An Gen. Vyäinskij. Rufen Sie mich an, wenn Sie Änderungen für nötig halten. M. 23.02." Am 28. Februar übermittelte Molotovs Privatsekretär Ivan LapSov Svemik den Zettel: "An Gen. Svernik. Kann veröffentlicht werden. I. LapSov. 28.02.'"4 Noch am selben Tag schickte Svernik an Nikolaj Palgunov (Chef der TASS) ein sauberes Exemplar, selbstverständlich mit der neuen Fassung der Seite 14, auf der die Rede von Babij-Jar war. So kann man es als dokumentarisch belegt ansehen, wie auf der Ebene des ZK der VKP(b) die offizielle Sprachregelung aller künftigen Hinweise auf die Vernichtung der Juden geboren wurde. Von nun an durfte man nur von "friedlichen Sowjetbürgern" oder von "Bürgern der europäischen Länder" schreiben. So geschah es auch mit dem KZ Auschwitz, das am 27. Januar 1945 von sowjetischen Truppen (1. Ukrainische Front, 60. Armee) befreit wurde. Das ist nun Beispiel Nr.3.

13 14

Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 21.

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Die Auschwitz-Akte Die Akte der Außerordentlichen Staatlichen Kommission über Auschwitz wurde erst im Mai 1945 veröffentlicht. Die Verzögerung von fast sechs Monaten springt ins Auge, wenn sie auch kaum nur auf bösen Willen zurückzuführen ist. Die Abschlußkämpfe der Sowjetarmee brachten täglich neue Nachrichten mit sich, die Zeitungen waren voll davon, OSwifcim dagegen geriet ins "tiefe Hinterland". Zudem lag es auf polnischem Territorium, und polnische Behörden gingen ebenfalls daran, das Todeslager zu beschreiben. Die Dokumentation der Vorbereitung der Akte der Außerordentlichen Staatlichen Kommission ist äußerst karg, anders als bei der Akte über Kiev. Sie enthält nur das Gesuch Nikolaj Sverniks um die Genehmigung, das Dokument zu veröffentlichen, und die Genehmigung wurde sofort erteilt. Denkt man daran, daß die Autoren des Entwurfs dieselben Mitarbeiter der Kommission waren, die auch die Kiev-Akte konzipiert hatten, so versteht man, daß sie nicht die von Scerbakov und Molotov bestätigten "Korrekturen" Aleksandrovs vergessen hatten. Dennoch hatte die Akte ihre Vorgeschichte.15 Die erste Beschreibung des KZs stammte von den Kampfeinheiten der 100. und der 322. Division, die in das Lagergelände eingedrungen waren. Hier die zeitliche Reihenfolge der betreffenden Dokumente. Schon am 23. und 24. Januar wußten die Politorgane der 60. Armee, daß sie ein Todeslager zu befreien hatten. Am 23. Januar berichtete die politische Abteilung der 107. Schützendivision (Division des Obersten V. Petrenko), daß am 21. Januar bei der Befreiung der Stadt Kwacial die Arbeiter eines dortigen Betriebs erzählt hatten: In einer Entfernung von 20-25 Kilometer befinde sich das Lager Oswi?cim. Am 24. Januar wurden zwei Polen befragt, die sich im Lager Oswi^cim befunden hatten.16 Nach den ersten Mitteilungen über das Lager meldete General Griäaev, Leiter der Politabteilung der 60. Armee, am 26. Januar, d.h. noch vor der Befreiung, Aussagen über ein Lager lägen vor, in dem sich "Juden aus Deutschland,

15

Auschwitz-Dokumente im ZAMO [Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums]: Bestände 6, 417, 1. Ukrainische Front (IUF). 16 ZAMO, Bestand 417, Inventurliste 10597, Aktenstück 151, S. 44.

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Frankreich, Polen, der Tschechoslowakei, Holland und anderen Ländern befinden. Sie wurden 4 Jahre lang ununterbrochen dorthin transportiert ... Neben Juden waren dort politische Häftlinge aus allen europäischen Ländern."17 Die erste offizielle Akte über Auschwitz - aufgestellt offenbar von Offizieren der Einheiten, die als erste ins Lager eingedrungen waren - ist vom 27. Januar datiert und von Major Öeljadin, Hauptmann Tomov, Sergeant Rossel, Gefreiter Vasilenko unterzeichnet (scheinbar Regimentsebene). Daflir war der medizinische Teil der Gruppe sehr repräsentativ: der Arzt Jakov Gordon aus Vilnius, Professor Steinberg aus Paris, Dr. med. Epstein von der Universität Prag, d. h. am Leben gebliebene ehemalige Häftlinge. Ihr gemeinsames Gutachten lautete:18 "In der Zeit des Bestehens des Lagers wurden 4,5-5 Millionen Menschen ausgerottet, meist wurden Juden aus allen okkupierten Ländern, russische Kriegsgefangene und zur Arbeit nach Deutschland deportierte Polen, Tschechoslowaken, Belgier und Holländer vernichtet." Am selben Tag meldete Oberst Ochapkin, Leiter der Politabteilung der 322. Schützendivision, an das Oberkommando der 60. Armee: "Die Lager waren Niederlassungen des Todeslagers OSwi?cim [...] Die Aufgabe war, 7 Millionen Polen und alle in Europa lebenden Juden zu vernichten. Und sie haben diesen Plan der Vernichtung von schuldlosen Zivilpersonen verwirklicht."19 In der Meldung für die Politische Verwaltung der 1. Ukrainischen Front legte GriSaev die Tatsache schon etwas anders dar: "Am Morgen des 27.01. befreiten unsere Truppen Oiwi^cim und Brzezinka. Die Deutschen haben sie in ein riesiges Konzentrationslager für Russen, Ukrainer, Polen, Ungarn, Tschechen, Jugoslawen, Belgier, Holländer und andere Völker Europas umgewandelt [...] die Russen und Ukrainer sind zur Leit- und Sammelstelle der Armee gelenkt worden [...] Oswifcim ist ein Todeslager für die slawischen Völker [...] Dort wurden hunderttausende Frauen, Kinder und alte Leute der slawischen Nationalitäten vernichtet."20

17

Ebenda, Bestand 417, 60. Armee. Inv. 10597, Aks/151, S. 70. " Ebenda, Inv. 2675, Aks 340. " Ebenda, Inv. 10597, Aks 156, S. 7. 20 Ebenda, Aks 151, S. 82.

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GriSaev stellte in dieser Meldung lediglich fest, daß "ins Lager Autos mit Juden hineinfuhren". Am 28.01. suchte er das Lager (wie er in der Meldung schrieb, "auf deutsch Ausschweig" /sie!/) auf. "Unendliche Menschenmengen auf allen Straßen [...] Ich habe auf den Straßen und im Lager selbst keinen einzigen Juden getroffen. Die Häftlinge behaupteten, die Juden seien von den Deutschen ausgerottet und im Krematorium vernichtet worden." Mit Recht schrieb GriSaev, daß eine Gruppe der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Untersuchung herkommen mtlßte. In seiner weiteren Politmeldung vom 1. Februar entschied er sich für eine Kompromißformel: "Im Lager wurden Menschen aus verschiedenen Ländern und von verschiedener nationaler Zugehörigkeit festgehalten: Russen, Ukrainer, Polen, Juden, Engländer, Franzosen, Holländer, Serben, Jugoslawen, Tschechoslowaken."21 Nach Auschwitz kam auch General Krajnjukov, Mitglied des Kriegsrates der 1. Ukrainischen Front. Das Militärkommando war sich über die Bedeutung von Auschwitz absolut im klaren und forderte unverzüglich die Entsendung von Journalisten und Kameraleuten, die schon am 29. und 30. Januar im Lager waren. Darauf wurde die Untersuchung von der Armee- auf die Frontebene übergeleitet. Eine von der Politabteilung der 1. Ukrainischen Front eingesetzte Kommission arbeitete vom 1. bis zum 5. Februar und faßte ein ausführliches Gutachten ab, das 12 Abschnitte enthielt.22 1. Die Schaffung des Lagers 2. Die Lagerordnung 3. Bestialitäten und Schikanen der faschistischen Henker 4. Experimente an lebenden Menschen 5. ein Platz der Massenvernichtung 6. Der Block Nr. 11 7. Die Krematorien 8. Die Anzahl der vernichteten Menschen 9. Aus Warschau deportierte Polen 10. 0§wi?cim als Ort der Bereicherung der Regierung des faschistischen Deutschland und seiner Agentur auf Kosten der Häftlinge.

21 22

Ebenda, S 166. Ebenda, Bestand 1 UF, Inv. 2675, Aks. 340, S. 77ff.

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11. Verwischung der Spuren der Verbrechen 12. SS-Leute als die übelsten Henker Im Abschnitt 7. hieß es u.a.: "Mit der Inbetriebnahme des ersten Krematoriums in Birkenau begann die Massenvernichtung und -Verbrennung von Juden, die nicht nur aus Polen, sondern auch aus allen anderen europäischen Ländern hergebracht wurden. Im Juni 1942 wurden viele jüdische Familien aus der Tschechoslowakei verbrannt. 1943 wurden Juden aus Frankreich, Belgien, Holland, Griechenland und anderen Ländern herbeigebracht. Im Juni und Juli 1944, nach der vorgenommenen endgültigen Deportation der Juden aus Ungarn, wurden binnen zweier Monate etwa 600 000 ungarische Juden von den Deutschen hertransportiert und vernichtet." Aber diese Feststellungen verschwanden später aus den Akten (schon auf der Ebene des Kriegsrates der 1. Ukrainischen Front). So hieß es in einer Meldung des Militärrates der 1. Ukrainischen Front an das Staatskomitee für Verteidigung: 23 "Der Raum der Konzentrationslager von Oswi^cim ist befreit worden. Ein furchtbares Todeslager. Faktisch sind es fünf Lager. Vier davon waren für Bürger aller europäischen Länder bestimmt, das fünfte Lager war ein Gefängnis, in das Menschen für alle möglichen Vergehen gegen die faschistische Verwaltung geworfen wurden. Jedes Lager stellt eine Riesenfläche dar, die von mehreren Stacheldrahtreihen umgeben ist. Oben verlaufen unter Hochspannung gesetzte Drähte. Hinter dem Drahtverhau befinden sich sehr zahlreiche Holzbaracken. Endlose Menschenmengen, die die Rote Armee befreit hat, verlassen diese Todeslager. Unter ihnen sind Ungarn, Jugoslawen, Italiener, Franzosen, Tschechen und Slowaken, Griechen, Rumänen, Dänen, Belgier. Sie alle sehen ganz ausgemergelt aus, grauhaarige Alte und Junge, Mütter mit Säuglingen und Halbwüchsige, fast alle haben nur Lumpen am Leibe. Es gibt sehr viele Sowjetbürger, Einwohner der Gebiete Leningrad, Kalinin, Tula, Moskau, auch aller Bezirke der Sowjetukraine. Sehr viele unter ihnen sind verkrüppelt, tragen Spuren von Folterungen und faschistischen Bestialitäten. Laut vorläufigen Aussagen von Häftlingen wurden in Oswiqcim Hunderttausende Menschen zu Tode gefoltert, verbrannt und erschossen."

23

Nach: Krajnjukov. op. cit, S. 407ff

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Aber das war bei weitem nicht die letzte Instanz. In Moskau wurde lange am Text gefeilt. Die Verzögerung rief sogar im Ausland Erstaunen hervor. Am 15. Februar fragte das Foreign Office Moskau amtlich an, wann die Mitteilung über OSwi^cim veröffentlicht werde; am 19. Februar schnitt der britische Botschafter Clark Kerr diese Frage in Moskau an, worauf VySinskij am 27. Februar antwortete, in Oswi^cim seien "über 4 Millionen Einwohner europäischer Länder vernichtet worden", doch befänden sich unter den Überlebenden keine Engländer. Berücksichtigt man, daß die Akte der Front erst vom 24. März datiert war, so kann man annehmen, daß die Anfragen aus dem Westen die Außerordentliche Staatliche Kommission, die von VySinskij beaufsichtigt wurde, nur dazu bewogen hat, die Auschwitz Akte besonders sorgfältig zu formulieren. Im Unterschied zur Dokumentation über Babij-Jar (Kiev-Akte) haben sich im Archiv der Außerordentlichen Staatlichen Kommission keine Varianten der Auschwitz-Akte erhalten. Es ist durchaus möglich, daß solche Varianten überhaupt nicht existieren, weil die Autoren des Textes, Dmitrj Kudrjavcev und Sergej Kuz'min Mitarbeiter der Kiev-Akte-Kommission waren und somit alle von Aleksandrov vorgenommenen Änderungen kannten. In Auschwitz angekommen, erhielten sie die oben erwähnte Akte der Politischen Verwaltung der 1. Ukrainischen Front und andere Materialien; und diese wurden der von Stalin und Molotov genehmigten Schlußakte zugrunde gelegt. Die Auschwitz - Akte ist ein beredtes Beispiel dafür, wie die Methode der zielgerichteten Entstellung allgemein bekannter Fakten angewandt wurde; in diesem Fall betraf das das Faktum der Judenvernichtung in Auschwitz und die Funktionen dieses Lagers als eines der wichtigsten Orte, an denen der Plan des Genozids an der jüdischen Bevölkerung Europas verwirklicht wurde. Die Entstellung war recht primitiv. Während diese Funktion des Lagers in der ersten (Regiments-) Akte eindeutig ausgedrückt war, ebenso wie im entsprechenden Absatz von Abschnitt 7 der Akte der Politischen Verwaltung der 1. Ukrainischen Front, ist in der Akte der Außerordentlichen Staatlichen Kommission, wie paradox das auch sein mag, überhaupt keine Rede von der spezifischen Funktion der Judenvernichtung. Das Wort "Jude" kommt auf den vielen Seiten nur einmal (!) vor, und auch das "nebenbei"

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in den Aussagen einer Zeugin über medizinische Experimente, deren Opfer u. a. eine "Jüdin aus Griechenland, Bela mit Vornamen", war. Die ausgearbeitete Formel "Vernichtung Bürger aller europäischen Länder" wurde in der Akte als die Hauptformel gebraucht, beispielsweise im abschließenden Gutachten über die Vernichtung "von mindestens 4 Millionen Bürgern der UdSSR, Polens, Frankreichs, Jugoslawiens, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens, der Niederlande, Belgiens und anderer Länder." Auf die Frage, warum die Bürger dieser Länder nach Auschwitz deportiert wurden, gab die Akte keine Antwort. In den angeführten Zeugenaussagen wurde die Judendeportation nicht erwähnt. Ein Zeuge aus den Niederlanden sprach von der "Säuberung des Staatsapparats". Die Zeugin Emilie Dessanti aus Italien ("Nationalität: Italienerin") erzählte über ihren Zug, er habe "3.650 Personen" gezählt. Die Zeugin Anna Könnich aus Ungarn ("Ungarin aus der Stadt Cluj") sprach von der Ankunft von "3.000 ungarischen Häftlingen" ins KZ. Nur die Familiennamen einiger Zeugen (Sures, Gordon, u. a.) legten den Gedanken nahe, daß es sich um Juden handelte. Zugleich betonten die Verfasser der Akte ausdrücklich die Aussagen von Zeugen mit offenkundig nichtjüdischen Namen (Paüszczyk, Waligora, Gandzlik u.a.). Redigiert wurde auch die in der Akte zitierte "Botschaft an die internationale Öffentlichkeit", die von 27 ehemaligen Häftlingen - Professoren, Doktoren, Studenten - unterzeichnet war. Obwohl sie sämtlich Juden waren (ihre Nachnamen wurden in der Akte nicht genannt), handelte die Botschaft wiederum von "Häftlingen aller Nationalitäten". Die Nachwirkungen dieser Entstellung waren klar. Klar war nicht nur die Methode des Nichtgebrauchs des Wortes "Jude", sondern auch etwas anderes: Die sowjetischen Leser, die in der Interpretation dieser Art Lektüre geübt waren, begriffen, daß im Lager Juden vernichtet worden waren. Doch aus der Akte konnten sie auch verstehen, daß davon nicht gesprochen werden durfte. Soweit nur drei konkrete Beispiele der Stalinschen Sprachregelung. Es war eine geschickte Vorarbeit für die spätere Stärkung des staatlichen Antisemitismus. Erstens blieb der Holocaust einem breiteren Publikum kaum bekannt. Zweitens, die Leute, die doch darüber Bescheid wußten, wußten, daß darüber nicht gesprochen werden sollte.

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Zwar sind die Stalin-Zeiten längst vorbei, doch diese Sprachregelung wirkt bis heute. Es erleichtert den heutigen "Nationalpatrioten", die Wahrheit über den Nazismus zu entstellen. Ich schäme mich dafiir, daß wir eine neue Art des Antisemitismus in Rußland erleben müssen. Stalinscher Antisemitismus war staatlich, aber nicht laut. Heute ist er noch nicht staatlich, aber schon laut.

Gennadij Kostyröenko Der Fall der Ärzte

Es sind bereits 45 Jahre seit dem sog. "Fall der Ärzte" vergangen, doch bis zum heutigen Tag gibt es über diese letzte repressive Aktion des Stalinismus keine volle Klarheit. Was war sie und was lag diesem dramatischen Ereignis zugrunde? Eine heftige Äußerung der Paranoia eines vergreisten Diktators, wie manche Historiker behaupten, der Version ChruSöevs zustimmend, welche dieser zum erstenmal in seiner Rede auf dem XX. Parteitag1 und anschließend in seinen Memoiren2 darlegte, oder ausschließlich eine Folge von Stalins rasch fortschreitendem Judenhaß, wie andere diese Angelegenheit darzustellen versuchen? Diese Auslegungen haben viel gemeinsam: Stalin wird als wahnsinnig gewordener Diktator dargestellt, der, nachdem er mit Hilfe der Geheimdienste eine Verschwörung der KremlÄrzte fabriziert hatte, beschloß, mit denen abzurechnen, die er als seine Feinde ansah. Den Anhängern der Interpretation ChruSCevs zufolge waren das die in Ungnade gefallenen nächsten Kampfgenossen des Führers. Nach der zweiten Version sollte die vieltausendköpfige Masse der sowjetischen Juden das Opfer werden, für die Stalin bereits Strafen wie Schauprozesse, Deportation nach Sibirien, mehrere Hinrichtungsarten bis hin zur Lynchjustiz geplant hatte. Die erwähnten Interpretationen sind sowohl in der westlichen Geschichtsschreibung als auch in der sowjetischen vertreten, in der inoffiziellen (der sogenannten Dissidenten-Geschichtsschreibung), der aus der Zeit der Perestrojka sowie in der russischen Fachliteratur der Nach-Perestrojka-Zeit, die sich mit der Spätphase des Stalinismus beschäftigt. Als Hauptquelle dieser Studien dienten neben den veröffentlichten offiziellen Unterlagen hauptsächlich Erinnerungen von Zeugen jener Ereignisse, vor allem von Vertretern der jüdischen Intelligenz, die Ende der vierziger, Anfang der fünfzi-

1 2

Izvestija ZKKPSS, 1989, Nr. 3, S. 154-155. Voprosy istorii, 1991, Nr. 12, S. 70.

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ger Jahre besonders hart betroffen war und seit Beginn der siebziger Jahre den Hauptstrom der sowjetischen Emigration in den Westen bildete. Im Laufe der letzten Jahre sind im Zusammenhang mit der breiten Publizierung zuvor geheimer Archivmaterialien und dem Erscheinen so sensationeller Memoiren wie z.B. P. Sudoplatovs "Die Nachrichtendienste und der Kreml" (Moskau, 1996) eine Menge neuer und sehr wichtiger Tatsachen bekanntgeworden, die sich bereits nicht mehr in den Rahmen der vorherrschenden wissenschaftlichen Vorstellungen über das letzte Verbrechen des Stalinismus einfügen. So ist eine neue, ihrem Wesen nach weniger emotionale und eher skeptische Richtung der Erforschung sowjetischer Geschichte entstanden. Sie gründet sich auf eine objektive Analyse des gesamten Quellenspektrums, und - da frei von verfestigten Ideologemen und Mythologemen - gibt der Nutzung von Archivdokumenten Priorität. Ein solcher, rein wissenschaftlicher und abwägender Zugang offenbart die Inkonsistenz einiger früher publizierter Arbeiten, die sich, wie sich jetzt herausstellt, nicht immer auf authentische Fakten stützen. Es stellt sich zum Beispiel heraus, daß der Minister für Staatssicherheit, V. Abakumov, der an den Ursprüngen des "Ärzte-Falles" stand, durchaus nicht der "Schüler" L. Berijas gewesen ist, als der er in den Lebenserinnerungen Chruscevs erscheint, der behauptete, daß dieser Minister "keine einzige Frage an Stalin richtete, ohne Berija vorher gefragt zu haben, wie er das Stalin unterbreiten solle."3 Die unlängst zugänglich gewordenen Dokumente belegen das Gegenteil. Der wahre "Erzieher" Abakumovs war Stalin selbst. Und obwohl Berija tatsächlich Abakumov anfangs forderte, indem er ihn 1939 zum Chef der NKVD-Verwaltung des Rostover Gebiets machte und 1941 zum Verwaltungschef der Sonderabteilungen des NKVD der UdSSR, begann Stalin bereits ab 1943 den aussichtsreichen Leiter der Sonderdienste persönlich zu fördern; er ernannte ihn zum Leiter der Hauptverwaltung der Spionageabwehr "SMERS" der Roten Armee, als er 35 Jahre alt war und weder durch Jahre noch durch intellektuellen Wissensschatz belastet war (er hatte eine kirchliche Gemeindeschule ohne Abschluß verlassen und bis 1930 als Lastträger gearbeitet). Abakumov war zu allem bereit, um das Vertrauen des Führers zu gewinnen: er kämpfte aktiv mit den Nationalisten im Balti-

3

Voprosy istorii, 1991, Nr. 11, S. 50.

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kum und in der Ukraine, führte ohne überflüssige Sentimentalitäten die Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener aus Deutschland durch, von denen sich viele bald bei der Zwangsarbeit in Sibirien wiederfanden. Gan2 besonders zeichnete sich die von Abakumov geleitete militärische Spionageabwehr bei der Durchführung der Aktion zur geheimen Ergreifung des bekannten schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg, des Retters Tausender zum Tode verurteilter Juden, im Januar 1945 in Budapest aus. Nachdem er sich nicht nur der persönlichen Ergebenheit Abakumovs, sondern ebenso seiner Bereitschaft, auch die politisch schmutzigste Arbeit ohne Diskussion auszuführen, vergewissert hatte, beschloß Stalin, den Beginn der Nachkriegssäuberung der Nomenklatura in dessen Hände zu legen. Im Frühling 1946 wurde der Leiter des "SMER§" mit den Verhaftungen und der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens im sogenan-nten "Luftfahrt-Fall" beauftragt, aufgrund dessen der Volkskommissar der Flugzeug-Industrie, Α. I. Sachurin, die Leiter der Luftstreitkräfte und die für sie verantwortlichen Apparatschiki des ZK der VKP(B) Repressalien ausgesetzt waren. Nachdem Abakumov durch Ausüben groben Drucks, durch Drohungen und Verhöhnungen von den Angeklagten bald ein Schuldeingeständnis für nichtbegangene Sabotage erpreßt hatte, würdigte Stalin Anfang Mai seine Verdienste durch die Ernennung zum Minister für Staatssicherheit. V. N. Merkulov, der diese Stellung vor ihm innehatte, als Protegö Berijas galt und den Ruf eines liberalen ästhetisierenden Beamten hatte (er schrieb unter einem Pseudonym Theaterstücke), wurde degradiert und auf eine neue Stelle versetzt. Dem im August 1946 begonnenen Anziehen der ideologischen Schrauben und der Verschärfung des Regimes trat der neue Chef der Staatssicherheit wohlgerüstet entgegen. In der am 20. August erlassenen Verordnung des Politbüro wurde innerhalb der Struktur des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR die Einrichtung einer Gefangnisabteilung und eines besonderen Rats geplant, der für außergerichtliche Abrechnungen mit politisch Verdächtigen vorgesehen war.4

4

Rossijskij centr chranenija i izuienija dokumentov novejäej istorii [Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und zum Studium der Dokumente der Neuesten Geschichte - weiterhin: RCChlDNl], fond [weiterhin: f.] 17, opis' [weiterhin: op.]162, delo [weiterhin: d.]

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In den nachfolgenden Jahren diente das Ministerium für Staatssicherheit unter der Leitung von Abakumov Stalin reibungslos als wichtigstes Instrument des politischen Terrors. Nachdem es sich neben dem Apparat des ZK der VKP(B) in einen Generator des staatlichen Antisemitismus verwandelt hatte, organisierte und führte diese Behörde nach Weisung Stalins den geheimen Mord an S. Michoels im Januar 1948 aus, fabrizierte später eine ganze Reihe von "Fällen" gegen sogenannte bourgeoise jüdische Nationalisten, die zu einer ganzen Reihe von Todesurteilen führten. "Nationalisten" und "Spione", die im Jüdischen Antifaschistischen Komitee, im Moskauer Stalin-Automobilwerk (Frühjahr 1950), im Kusneckij-Hüttenwerk (Ende 1950, Anfang 1951) entdeckt worden waren, wurden erschossen. Es ist bezeichnend, daß am 18. November 1950 auch Prof. J.G. Etinger als "Jüdischer Nationalist" verhaftet wurde, mit dem eigentlich der "Fall der Ärzte" seinen Anfang nahm. Ihm wurden auch "verleumderische Lügen" über A. Söerbakov und G. Malenkov, die er als Anstifter der antisemitischen Kampagne im Land ansah, angelastet. Das heißt, daß Etinger von den Untersuchungsbehörden anfänglich als Nationalist und Sowjetfeind angesehen wurde, und erst nach seinem Tod, der am 2. März 1951 im LefortovoGefängnis erfolgte, stellte sich plötzlich heraus, daß er mit seiner wissentlich falschen, "verbrecherischen" Therapie zum Tod des ZK-Sekretärs SCerbakov im Jahr 1945 beigetragen hatte. Diese Version, die vom Oberstleutnant M. D. Rjumin ausging, der Etinger sowie I. Fefer und andere Leiter des EAK verhört hatte, erschien derart unsinnig und konstruiert, daß Abakumov sie entschieden ablehnte, da er ahnte, welch unvorhersehbare Folgen sie barg. Ungebildet und geradlinig wie er war, zog er es vor, mit extrem vereinfachten, klaren, wenn auch grob zusammengezimmerten Szenarien zu arbeiten. Da er wußte, daß Stalin den bourgeoisen Nationalismus als schlimmsten Feind des Sowjetstaates ansah, bekämpfte Abakumov als Führer "der bewaffneten Abteilung der Partei" unbarmherzig alle diejenigen, die Anhänger dieser Ideologie waren oder es zu sein schienen, ob es sich nun um bewaffnete Einheiten ukrainischer Nationalisten, oder um die jüdische intellektuelle Elite - Bewahrerin der Kultur und der Traditionen ihres Volkes - handelte. Er hatte jedoch die Nuance nicht erfaßt, daß Stalin

38, list [weiterhin: 1.] 129-133.

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und teilweise auch der ZK-Apparat, die schon seit langem vom Antisemitismus angesteckt waren, nicht nur den Trägem der nationalen Idee den Krieg erklärt hatten, sondern auch dem damit verbundenen und in gewissem Maß assimilierten Teil des Judentums. Dabei wurde diese Verbindung, wie der Feldzug gegen den Kosmopolitismus im Jahr 1949 zeigte, von den Behörden vollkommen willkürlich und spekulativ festgelegt. Rjumin jedoch, selbst ein eingefleischter Antisemit und zudem ein Abenteurer, war viel geübter darin, die Feinheiten in den Stimmungen an der Spitze zu erkennen. Außerdem wußte er, daß Malenkov, der nach Zdanov Stalins Stellvertreter in der Parteihierarchie geworden war, Abakumov nie verzeihen würde, daß dessen Eifer in dem "Luftfahrt-Fall" ihm beinahe die Karriere, wenn nicht gar das Leben gekostet hatte. Indem er praktisch alles auf eine Karte setzte, stellte Rjumin einen Kontakt zu Malenkov über dessen Referenten, D. N. Suchanov, her und erhielt dadurch die Möglichkeit, einen entsprechenden Brief zu verfassen und ihn am 2. Juli 1951 Stalin zu übermitteln. Darin beschuldigte er seinen Chef, das Geständnis Etingers vor der Sowjetführung verheimlicht zu haben, Söerbakov wissentlich falsch behandelt und schließlich planmäßig getötet zu haben, indem er ihn in eine Zelle gesperrt habe, in die Kaltluft geblasen worden sei. Die an die höchste Person im Staat gerichtete Denunziation fiel auf fruchtbaren Boden. Der Stalinismus, der von Anfang an auf den Kammerton der Verschwörungstheorie eingestimmt war, mußte auf einen so starken Reiz reagieren. Umso mehr, als in seinem Systemgedächtnis eine analoge Situation fixiert war, die während der Säuberungen unter Εέον stattgefunden hatte. Denn im Prozeß des sogenannten antisowjetischen rechtstrotzkistischen Blocks vom März 1938 gehörten neben solchen ehemaligen Kampfgenossen Stalins wie N. Bucharin, A. Rykov und G. Jagoda auch die Kreml-Ärzte D. Pletnev, L. Levin und I. Kazakov zu den Angeklagten. Ihnen wurde die bewußt schädigende Behandlung und der "gräßliche Mord" an dem Schriftsteller A. Gor'kij und dessen Sohn M. PeSkov sowie den bekannten Politikern W. Meniinskij und V. KujbySev zur Last gelegt. Jetzt kam nach einem 13 Jahre alten Drehbuch ein neues politisches Schauspiel zur Auffuhrung. Unter der Leitung Malenkovs, der bereits in der Vorkriegszeit in seiner Eigenschaft als Leiter der Abteilung für führende Parteiorgane des ZK Fertigkeiten in derlei Dingen erworben hatte, begann

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die Ermittlungsmaschine der Partei erstaunlich schnell und gut eingespielt zu arbeiten. Bereits einige Tage später, am 11. Juli, legte die von ihm geleitete Kommission, zu deren Mitgliedern auch Berija, M. Skirjatov und D. Ignat'ev zählten, Stalin den Entwurf eines Politbürobeschlusses "Über die ungünstige Situation im Ministerium für Staatssicherheit" vor. Dieses Dokument sah die Befreiung Abakumovs "von der Tätigkeit als Minister für Staatssicherheit der UdSSR, als eines Mannes, der ein Verbrechen gegen die Partei und den Sowjetstaat begangen hat" vor, seinen Ausschluß aus der Partei und die Übergabe des Falles an das Gericht. Außerdem wurde "die Wiederaufnahme der Untersuchung im Fall der terroristischen Tätigkeit Etingers"5 angeordnet. Am nächsten Tag wurde Abakumov verhaftet, am 9. August S.D. Ignat'ev zum neuen Minister für Staatssicherheit ernannt, ein Mann Malenkovs, der bis dahin als Leiter der Abteilung für Parteiorgane des ZK gearbeitet hatte. Dieser war ein sehr mittelmäßiger, charakterschwacher Beamter, der nach Ansicht Sudoplatovs "für die ihm übertragene Tätigkeit absolut ungeeignet war."6 Später, gleich nach Stalins Tod, erklärte Ignat'ev, daß letzterer bei seiner Ernennung zum Minister "entschiedene Maßnahmen zur Aufdeckung einer Gruppe von Terroristen-Ärzten, von deren Existenz er seit langem überzeugt sei", gefordert habe.7 Somit begann der Fall eines einzelnen "Schädlings-Arztes" sich auf Stalins Befehl zu einem staatsfeindlichen Ärztekomplott auszuwachsen. Selbstverständlich wird Rjumin, der den Anstoß für die Entwicklung der Untersuchung in diese Richtung gegeben hatte, mit dessen Leitung betraut. Bald wird er zum Leiter der Untersuchungsabteilung für besonders wichtige Fälle und zum Stellvertretenden Minister ernannt.8 Er erhält regelmäßig Zugang zu Stalin und beginnt, die von diesem vorgeschlagene Version tatkräftig auszuarbeiten. Dafür wird am 1. September 1951 der bereits früher verurteilte Adoptivsohn Etingers, Jakov, zu einer neuerlichen Untersuchung aus einem Durchgangslager im Fernen Osten nach Moskau zurück5

Ebenda, d. 46, 1. 21. Sudoplatov, L.: Razvedka i Kreml' [Die Nachrichtendienste und der Kreml], Moskau 1996, S. 359. 7 Kostyröenko, G.: Vplenu u krasnogofaraona [In der Gefangenschaft des roten Pharao], Moskau 1994, S. 305. ' RCChlDNI, f. 17, op. 3, d. 1091, 1. 75.

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gebracht. Bereits vorher, am 16. Juli, war die ehemalige Leiterin des Bereichs Funktionale Diagnostik der Kreml-Klinik, S. Karpaj, verhaftet worden. Trotz des auf sie ausgeübten starken Drucks wies sie die gegen sie vorgebrachte Anschuldigung der bewußt schädlichen Behandlung Söerbakovs, M. Kalinins und anderer Sowjetführer entschieden zurück. Nach einigen Monaten intensiver Verhöre gelang es nur, sie zu dem Eingeständnis zu bewegen, daß der Chefarzt der Therapie- und Sanitätsverwaltung des Kreml (LSUK), V. Vinogradov, der seinerzeit den krebskranken Kalinin ärztlich beraten hatte, sich darauf beschränkt hatte, ihm Einläufe, Diät und eine allgemein aufbauende Therapie zu verordnen. Diese an und für sich nichtssagenden Aussagen boten Rjumin dennoch jenes Schlupfloch, durch das er hoffte, zum Mittelpunkt des Komplotts der Kremlärzte zu gelangen. Denn Prof. Vinogradov war Leibarzt Stalins gewesen und hatte ihn 1943 sogar zum Treffen mit W. Churchill und F. Roosevelt nach Teheran begleitet. Nachdem er diese Angaben vom Ministerium für Staatssicherheit erhalten hatte, verdichtete sich Stalins Verdacht. Das, was sich in seinem entzündeten Hirn zuvor nur vage abgezeichnet hatte, gewann nun scheinbare Realität. Eine Verschwörung der Ärzte, als eine Art Homunkulus von der Einbildungskraft des Diktators geschaffen, begann rasend schnell zu wachsen und sich durch dieselbe Einbildungskraft in eine hundertköpfige Hydra zu verwandeln. Jetzt mußte man seine Mitstreiter und das ganze Volk von der Existenz einer realen Gefahr für den Staat überzeugen, diese dann mit eiserner Hand liquidieren und dabei zum soundsovielten Mal den Lorbeerkranz des Siegers erhalten. Und trotz seines fortgeschrittenen Alters und der Krankheiten war Stalin für die neue Prüfung bereit, vielleicht weil, wie Milovan Djilas schrieb, er sich in jede einzelne seiner Rollen so hineinlebte, daß es schien, als müßte er sich nie verstellen.9 Da er begriff, daß in diesem Kampf, wahrscheinlich seinem letzten, die Zeit gegen ihn arbeitete, trieb der Diktator die Exekutoren seines Planes ungeduldig an. So herrschte Stalin im Januar 1952, als er in Angst um sein Leben bereits fast alle Ärzte von sich entfernt hatte, Ignat'ev grob wegen des, wie es ihm schien, schleppenden Tempos der Untersuchung an. "Ich

' Dijlas, M.: Lico totalitarizma [Das Gesicht des Totalitarismus], Moskau 1992, S. 56, 73.

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bin doch kein Bittsteller beim Staatssicherheitsdienst!" wütete der Kremlherr. "Ich kann auch fordern und auch eins aufs Maul geben, wenn ihr meine Forderungen nicht erfüllt... Wir werden euch wie Schafe auseinandertreiben!"10 Nach so deutlichen Drohungen begann die Untersuchungsmaschinerie natürlich auf vollen Touren zu arbeiten. Die Verhöre der Untersuchungsgefangenen werden intensiviert, neue Verhaftungen von Ärzten durchgeführt, die der Teilnahme an der Verschwörung verdächtigt sind, eine Vielzahl von Expertisen der Untersuchungsunterlagen werden vorgenommen. Eben in diesem Zusammenhang erscheint in den Dokumenten des "Falles" zum erstenmal der Name L. Timaäuk, die ChruSöev in seiner Rede vor dem XX. Parteitag als Agentin der Staatssicherheit bezeichnete, die mit ihrer Denunziation bei Stalin die grausamen Repressalien gegen die KremlÄrzte provoziert habe. In Wirklichkeit war alles bei weitem nicht so eindeutig. Im Sommer 1952 wurde Timaäuk mehrfach als medizinische Expertin in die Lubjanka zitiert. Während eines solchen Besuches stellte sich zufällig heraus, daß sie während ihrer Zeit als Leiterin der Kardiographie-Abteilung der Kremlklinik unmittelbar an der Behandlung Zdanovs gegen Ende seines Lebens beteiligt gewesen war. Drei Tage vor dem Tod des ZK-Sekretärs war sie ins Sanatorium "Valdaj" gerufen worden, wo man ihn im August 1948 behandelte, und wurde beauftragt, ein Elektrokardiogramm des Patienten vorzunehmen. Als Ergebnis hatte Timaäuk Daten erhalten, die 2danov einen frischen Myokard-Infarkt bescheinigten. Aber der Chef der Therapieund Sanitätsverwaltung des Kreml, P. Egorov, und der behandelnde Arzt Zdanovs, G. Majorov, waren mit dieser Schlußfolgerung nicht einverstanden gewesen und hatten auf einer "funktionellen Störung der Herztätigkeit" bestanden - eben diese Diagnose war zuvor von einem hochangesehenen Ärztekonsilium, das sich aus den Professoren V. Vinogradov, V. Vasilenko und eben P. Egorov zusammensetzte, gestellt worden. Die Leitung der Therapie- und Sanitätsverwaltung des Kreml hatte darauf bestanden, daß Timaäuk den Infarkt Zdanovs in ihrem Gutachten nicht erwähnte. Am nächsten Tag jedoch bekam dieser einen noch stärkeren Herzanfall. Und

10

Kostyröenko, G.: a.a.O., S. 307.

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Timaäuk, die Angst vor der Verantwortung für Zdanovs Tod hatte, beschloß, ihre Diagnose dem Leiter der Hauptverwaltung des Wachdienstes der Staatssicherheit der UdSSR, N. Vlasik, mitzuteilen, was sie auch tat, indem sie ihm über den Leibwächter Zdanovs, A. Belov, einen Brief überbringen ließ. Am 30. August übergab Abakumov Stalin Timaäuks Gutachten mit den angefügten Kardiogrammen. Am darauffolgenden Tag starb Zdanov. Stalin, der mißtrauisch war und fiir gewöhnlich nicht viel Federlesens machte, ließ diesmal aus irgendeinem Grund keine Ermittlungen durchführen, obwohl es hierfür mehr als triftige Gründe gegeben hätte, sondern ließ TimaSuks Brief ins Archiv weiterleiten. Möglicherweise hatte er die Information, die von einer gewöhnlichen Ärztin ausging, für wenig überzeugend angesehen, umso mehr, als sie von der Meinung anerkannter Kreml-Mediziner bestritten wurde, denen er zum damaligen Zeitpunkt noch vertraute. Außerdem hat Stalin den Tod seines Mitstreiters, der, wie auch die hinter ihm stehende, sogenannte Leningrader Gruppe von Sowjetführern, sich bereits seit einiger Zeit in Ungnade befand, wahrscheinlich ohne großes Bedauern aufgenommen. Was TimaSuk angeht, so beschuldigte sie die Führung der Therapie- und Sanitätsverwaltung des Kreml weiterhin einer falschen Behandlung und des Todes von Zdanov. Sie wurde bald aus der Kreml-Klinik entlassen und an eine andere Arbeitsstelle versetzt. Bereits nach Stalins Tod, obwohl es sich im Laufe der von Berija angeordneten Ermittlungen herausstellte, daß praktisch alle Beweise und Tatsachen zum Fall der Ärzte falsch waren, war Prof. Vinogradov gezwungen, auch ohne jeglichen auf ihn ausgeübten Druck zuzugeben, "daß A. Zdanov einen Infarkt hatte, und dessen Leugnung durch mich, die Professoren Vasilenko und Egorov, die Doktoren Majorov und Karpaj ein Irrtum unsererseits gewesen ist."11 Es handelte sich somit um einen ärztlichen Kunstfehler, der primär als Folge jener Übel geschehen war, die sich damals im sowjetischen Nomenklatura-Gesundheitswesen mit seinem mörderischen Geist von BeamtenHierarchiedenken, Kasten-Korpsgeist und wechselseitiger Absicherung eingewurzelt hatten. Und obwohl dieser Fehler eine zufällige und ungeplante Ursache hatte, erhob Stalin, ihn in den Rang eines Staatsverbrechens. Ja,

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Ebenda, S. 315.

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mehr noch, als Ignat'ev Stalin mitteilte, daß Timaäuk bereits vier Jahre zuvor dem Kreml über die falsche Behandlung Zdanovs berichtet hatte, behauptete dieser, daß ihr Brief von Abakumov und Vlasik vor ihm verheimlicht worden sei. Und da ersterer sich zu dieser Zeit bereits hinter Gittern befand, mußte nur noch der zweite dorthin gesteckt werden, was am 15. Dezember 1952 auch geschah. Die Leitung des Staatssicherheitsdienstes erhielt den Befehl, mit den Verhaftungen der Haupt-"Verschwörer" zu beginnen - der Führung der Therapie- und Sanitätsverwaltung des Kreml und ihrer fahrenden Spezialisten, die bei den "Organen" unter Verdacht standen. Ab Ende September bis zu den ersten Novembertagen 1952 wurden die Hauptpersonen des "Ärztefalles" in Gewahrsam genommen - die Professoren P. Egorov, A. Busalov, V. Vinogradov, V. Vasilenko, B. Kogan und andere. Und vom Dezember 1952 bis Februar 1953 wogte eine neue Verhaftungswelle von "Hof'-Ärzten. Schließlich wurden 37 Fälle in das gesamte Gerichtsverfahren der "Verschwörung der Kreml-Ärzte" eingeschlossen, von denen 28 Fälle die eigentlichen Ärzte betrafen und die restlichen neun deren Familienmitglieder, hauptsächlich Ehefrauen. Zuerst wiesen die Verhafteten, trotz der zermürbenden Verhöre und der Drohungen durch die Untersuchungsführer, die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen einmütig zurück. Eine derartige Hartnäckigkeit, die Stalin in große Wut versetzte, wurde von ihm als Versuch gewertet, ihm die Wahrheit über eine real existierende Verschwörung zu verheimlichen. Am 18. Oktober erlaubte er der Leitung des Staatssicherheitsdienstes, den Untersuchungsgefangenen gegenüber Methoden der "physischen Einwirkung" anzuwenden. Aber da es im inneren Gefängnis der Lubjanka keinen für Folterungen vorgesehenen Raum gab, wurden diese (hauptsächlich Prügel mit dem Gummiknüppel) zuerst im Lefortovo-Gefängnis durchgeführt. Um diesen "Mangel" irgendwie abzugleichen, wurden nach Weisung Rjumins bereits ab dem 6. November in den Gefängniszellen der Lubjanka Folterungen vorgenommen, wie ζ. B. mehrtägiges Anlegen von Handschellen bei Untersuchungsgefangenen. Dabei wurden die Hände tagsüber hinter dem Rücken gefesselt und in der Nacht vor den Körper. Diese Maßnahmen erschienen im übrigen unzureichend, und im Dezember 1952 wurde im Arbeitszimmer des Leiters des inneren Gefängnisses, Oberst A. Mironov, der diesen Posten seit 1937 innehatte, eine improvisierte kleine Folterkammer eingerichtet. Als Mittel der psychologischen Einschüchterung

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wurde sie mit Wandschirmen und Metalltischen, die an die Einrichtung eines Operations- oder Seziersaals erinnerten, ausgestattet. Für das Prügeln der Untersuchungsgefangenen mit Gummiknüppeln (deren Verwendung und die der Handschellen wurde durch den Minister für Staatssicherheit oder dessen Stellvertreter gestattet) stellte man gleichzeitig eine Mannschaft kräftiger Männer zusammen, darunter die Leutnants Belov und Kuniänikov.12 Ich nehme vorweg, daß am 4. April 1953 L. Berija in seiner Funktion als Innenminister die Weisung "Vom Verbot jeglicher Zwangsmaßnahmen und Mittel der physischen Einwirkung gegenüber Inhaftierten" unterschrieb, in der angeordnet wurde, daß "im Lefortovo und im inneren Gefängnis alle von der Leitung des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der UdSSR eingerichteten Räume für die Anwendung physischer Druckmittel gegenüber Inhaftierten liquidiert werden, und alle Geräte, mit denen Folterungen durchgeführt wurden, vernichtet werden sollen."13 Trotz derart radikaler Maßnahmen, blieb Stalin dennoch mit der Führung des Ministeriums für Staatssicherheit unzufrieden. Den Führer ärgerte der unentschlossene Chef der Staatssicherheit, Ignat'ev, mit seiner Denkweise eines verknöcherten Parteiapparatschiks, und besonders empörten ihn die Versuche dieses Überversicherers, stets Malenkov und seine anderen Gönner im ZK, die von dem Abenteuer ihres Herrn, die Verhaftung der KremlÄrzte betreffend, durchaus nicht erbaut waren, über alles zu informieren, weil sie durchaus zu Recht fürchteten, daß sie selbst seine nächsten Opfer werden könnten. Diese Stimmungen beeinflußten auch Rjumin, der seinen Diensteifer ebenfalls etwas mäßigte, da er sich immer mehr Sorgen um seine Zukunft machte. Von der bitteren Erfahrung Jagodas, E2ovs und Abakumovs gelehrt, hatte er es durchaus nicht eilig, sich in der Lage des Mohren wiederzufinden, der seine Schuldigkeit getan hatte, und ließ daher die Untersuchung, mit der er betraut war, nach Möglichkeit schleifen. Doch die Nomenklatur-Elite sah in Rjumin weiterhin nur einen Abenteurer und Emporkömmling. Außerdem hatte er durch seine Verwicklung im sogenannten "Mingrelien-Fall", der Ende 1951, Anfang 1952 aufgerollt wurde, den allmächtigen Berija gegen sich aufgebracht. Aber Berija hielt nicht nur diesem gegen ihn gerichteten Schlag stand, sondern erreichte im Sommer

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RCChlDNI, f. 589, op. 3, d. 6913, 1. 27-28. Istoriäeskij archiv, 1996, Nr. 4, S. 151.

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1952 noch die Absetzung und Verhaftung des Ministers für Staatssicherheit Georgiens, N. Ruchadze, seines Feindes und eines der Hauptkämpfer gegen den "mingrelischen Nationalismus". Am 14. November desselben Jahres wurde Rjumin nicht ohne Zutun Berijas und ohne Angabe von Gründen seines Postens als Stellvertretender Minister für Staatssicherheit enthoben und auf eine unbedeutende Stelle in das Ministerium für Staatskontrolle der UdSSR versetzt. An seiner Stelle wurde im "Fall der Ärzte" ein Mann Berijas, General S. Goglidze, zum Untersuchungsleiter ernannt, der ein Jahr zuvor gezwungen worden war, seinen Sessel eines Stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit in Moskau gegen den eines Republik-Ministers derselben Behörde in Taäkent einzutauschen. Er wurde jedoch bereits im Februar 1952 auf seinen früheren Posten zurückversetzt. Mit dieser Ernennung erhielt die Untersuchung zum "Fall der Ärzte" eine neue Wendung. Stalin war mit der ihm langweilig gewordenen Version der Schädigung mittels Falschdiagnose der Erkrankungen von Sowjetführern und der Verordnung einer ihrer Gesundheit schädlichen Therapie nicht mehr einverstanden. Er beschloß, diesen "Fall" auf ein höheres, internationalpolitisches Niveau zu heben. Jetzt, wie auch in den aufsehenerregenden Schauprozessen der Jahre 1936-38 schuf seine stets reflexhaft arbeitende Einbildung allerlei bösartige Intrigen gegen die eigene Person unter Mitwirkung seiner nächsten verräterischen Umgebung und der allgegenwärtigen Agenten ausländischer Geheimdienste. Als er Goglidze das Ziel vorgab, eine terroristische Spionageorganisation aufzudecken, die westliche Geheimdienste angeblich in der UdSSR aufgebaut und die Kreml-Ärzte angeheuert hatte, gab er ihm fast wortwörtlich dasselbe mit auf den Weg wie zuvor E2ov zu Beginn der Massenverfolgungen im Juli 1937. Er ließ den für besonders wichtige Fälle zuständigen Untersuchungsleitern im Namen der führenden Instanz übermitteln, daß man im Ministerium für Staatssicherheit "nicht in weißen Handschuhen arbeiten und dabei schön sauber bleiben könne." 14 Gleichzeitig ordnete Stalin an, die verhafteten Ärzte über folgende offizielle Erklärung des Untersuchungsverfahrens zu informieren: "Wir sind angewiesen Ihnen mitzuteilen, daß Sie für die von Ihnen begangenen Verbrechen bereits gehenkt werden könnten, aber Sie könnten Ihr Leben behal-

14 Snejder, M.: NKVD iznutri. Zapiski cekista. [Das NKVD von innen. Aufzeichnungen eines Cekisten], Moskau 1995, S. 63.

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ten und die Möglichkeit zu arbeiten zurückerhalten, wenn Sie ehrlich berichten, wo die Wurzeln Ihrer Verbrechen hinfuhren und nach wem Sie sich orientiert haben, wer Ihre Herren und Mittäter sind. Wir sind ebenfalls angewiesen, Ihnen mitzuteilen, daß, falls Sie tiefe Reue zeigen möchten, Sie Ihre Aussagen an den Führer richten können, der verspricht, im Falle Ihres ehrlichen Geständnisses all ihrer Verbrechen und der vollen Entlarvung Ihrer Mittäter Ihnen das Leben zu erhalten. Die ganze Welt weiß, daß unser Führer seine Versprechen immer gehalten hat."15 Diese Erklärung stammte ebenfalls aus dem reichen Arsenal von Stalins politischer Demagogie aus der Zeit der großen Säuberungen, als zum Beispiel die ehemaligen Oppositionellen G. Zinov'ev und L. Kamenev am eigenen Leib erfahren mußten, was solche Versprechen des Führers wert waren. Die oben erwähnten Reminiszenzen tragen keinen Zufallscharakter, sondern legen Zeugnis darüber ab, daß Stalins Verfolgungen, darunter auch die der fünfziger Jahre, nicht nur und vielleicht auch gar nicht Folge seiner kurz vor dem Tod zerrütteten Psyche waren, sondern ein organischer Fehler des von ihm geschaffenen Machtsystems. 1954 schrieb ein exzellenter Stalinismus-Kenner, der russische Sozialist und Emigrant, N. Nikolaevskij: "Er (Stalin) führte eine verbrecherische Politik, jedoch die einzige, bei der die Diktatur sich halten konnte. Sein Handeln wurde von dieser Politik bestimmt. Den Terror veranstaltete er nicht nach dem Muster des wahnsinnigen Caligula, sondern weil er ihn zum Faktor seiner aktiven Soziologie gemacht hatte."16 Mit anderen Worten, für den Erhalt seiner Alleinherrschaft und seines Charismas war es fur Stalin unerläßlich, vor dem Volk und seinen Mitstreitern von Zeit zu Zeit in der Toga des Vaterlandsretters zu erscheinen, die mit dem Blut stets neuer Feinde dieses Vaterlands getränkt war. Darin bestand das periodisch wiederkehrende Verhaltensstereotyp des Systems, dessen modus vivendi, jene Logik der Dinge, die, wie Stalin sich ausdrückte, stärker war als die Logik der menschlichen Absichten. Also lieferte Stalin im November 1952 die Inspiration zur Umwandlung des "Falls der Ärzte" in eine große internationale Verschwörung der Kräfte

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Kostyröenko, G., a.a.O., S. 329. Valentinov, N.: Nasledniki Lenina [Die Erben Lenins]. Moskau 1991, S. 218.

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des Imperialismus und der Reaktion, die mit Hilfe der "fünften Kolonne" danach strebten, die politische Führung des ersten Landes des Sozialismus zu zerstören. Dem Willen des Führers gehorchend, begann das Ministerium für Staatssicherheit, dieses Szenario in Eile auszuarbeiten. Im Laufe von einigen Wochen gelang es der Untersuchung, durch Verdrehungen und Herstellung falscher Tatsachen sowie auf der Grundlage sogenannter Geständnisse, die den verhafteten Ärzten mit Hilfe von Drohungen, ausgeklügelten Foltern und Verhöhnungen abgepreßt worden waren, dieses Konzept mit einem konkreten Inhalt zu füllen. Es wurde "nachgewiesen", daß von allen gegen die Gesundheit der sowjetischen Führer gerichteten Intrigen am erfolgreichsten der Spionagedienst der USA und die unter dessen "Dach" arbeitende "internationale jüdische bourgeois-nationalistische Organisation" "Joint" gewesen waren, mit denen die Professoren M. Vovsi, B. Kogan, A. Fel'dman, Etinger und andere Kremlärzte jüdischer Herkunft verbunden waren. Nach Angaben des Ministeriums für Staatssicherheit konnte auch der englische Intelligence Service, zu dessen Agenten vorwiegend russische Ärzte gerechnet wurden - P. Egorov, V. Vasilenko, V. Vinogradov, Α. Busalov u.a. - sich nicht geringerer Erfolge rühmen. Als Stalin also am 1. Dezember 1952 die Mitglieder des ZK-Büro-Präsidiums versammelte, war er bereit, vor seine Mitstreiter zu treten, wohlgerüstet mit der frappierenden Tatsache von der Existenz einer mächtigen Spionage-Krake im Land. Der Diktator begann, die Anwesenden mit der Behauptung einzuschüchtern, daß die "Mörder in den weißen Kitteln" beabsichtigt hätten, nicht nur Zdanov und Söerbakov umzubringen, sondern daß die gesamte Sowjetführung allmählich hätte eliminiert werden sollen. Bei der Benennung geplanter Opfer wurden V. Molotov und A. Mikojan, die selbst von Stalin der Spionage verdächtigt wurden, mit Absicht nicht erwähnt. Zur Bestätigung der mitgeteilten Offenbarungen verwendete Stalin Vernehmungsprotokolle mit den "Geständnissen" der verhafteten Ärzte, die anschließend an Malenkov, ChruSöev und andere hochrangige Führer des Landes gesandt wurden. Nun vollends in der Rolle des Retters seiner angeblich sorglosen und naiven Mitkämpfer, zog Stalin mit dem Gefühl triumphierender Überlegenheit Bilanz: "Blinde seid ihr, Katzenjunge, was wird nur nach mir sein - das

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Land wird zugrunde gehen, weil ihr nicht in der Lage seid, die Feinde zu erkennen!"17 Das Resultat eines derart geschickten politischen Spiels war der Erlaß des ZK der KPdSU vom 4. Dezember "Über die Schädlingstätigkeit im medizinischen Bereich", in dem, wie zu erwarten war, die Hauptschuld "für die langjährige und straflose Tätigkeit" der "Vergifter-Ärzte" Abakumov und Vlasik zur Last gelegt wurde, die diesen Ärzten Vorschub geleistet hätten. Ebenfalls vorgesehen war die Entlassung des Ministers für Gesundheitswesen der UdSSR, E. Smirnov wegen zu großer Nachsicht gegenüber den "verbrecherischen" Kollegen, mit denen er sich angeblich "aufgrund des Trinkens eng befreundet habe". In dem Bestreben, den ZK-Apparat durch die Bande der gemeinsamen Verantwortung für die Folgen seines abenteuerlichen Kurses, fester zusammenzuhalten, verschonte Stalin nicht einmal sein liebstes Kind - die Organe der Staatssicherheit - und wies ihnen die Rolle des Prügelknaben zu. Am gleichen Tag, dem 4. Dezember, erschien auch der ZK-Erlaß "Über die Situation im Ministerium für Staatssicherheit", in dem gefordert wurde, "der mangelhaften Kontrolle bei der Tätigkeit der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit ein entschiedenes Ende zu setzen und deren Arbeit sowohl im Zentrum als auch vor Ort unter die systematische und ständige Kontrolle der Partei zu stellen."18 Auf der Suche nach einem weiteren Sündenbock, diesmal für die Erklärung der Gründe, weshalb eine "amerikanisch-zionistische Agentur" in der Tschechoslowakei so lange an der Macht hatte bleiben können (wir möchten ins Gedächtnis rufen, daß am Tag zuvor, am 3. Dezember, die Hinrichtung der Hauptbeschuldigten im SlänskyProzeß stattgefunden hatte), kritisierte Stalin in demselben Erlaß die äußere Abwehr des Ministeriums für Staatssicherheit, die sich seiner Ansicht nach als nicht auf der Höhe erwiesen hatte, aufs schärfste. In diesem Zusammenhang wurde die erste Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, die zuvor auf der Grundlage der Nachrichtendienste beim Informationskomitee des Außenministeriums der UdSSR geschaffen worden war, als nachrichtendienstliche Hauptverwaltung (GRU) reorganisiert. Als Leiter der neuen Hauptverwaltung wurden ehemalige Geschöpfe Abakumovs

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Izvestija ZK KPSS, 1989, Nr. 3, S. 155. " Kostyröenko, G., a.a.O., S. 338.

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ernannt, die Stalin wieder nutzen wollte, um sie Berija entgegenzusetzen. Leiter der nachrichtendienstlichen Hauptverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit und erster stellvertretender Minister wurde einer der Hauptorganisatoren der Mordaktion an S. Michoels, S. Ogol'cov, der aus Usbekistan zurückbeordert worden war, wo er die dortige Staatssicherheit geleitet hatte. Zu seinem Stellvertreter und Leiter der ersten (nachrichtendienstlichen) Verwaltung der GRU wurde der Fachmann im Kampf gegen den Zionismus, Ε. P. Pitovranov, ernannt, der bis zu seiner Verhaftung 1951 die 2. Hauptverwaltung (Außenabwehr) geleitet hatte, und jetzt nicht nur aus der Haft entlassen wurde, sondern auch wieder das Vertrauen des Führers erhielt. Außerstande, solche schwindelerregenden personellen Purzelbäume in seinem Ministerium und die ständigen Angriffe sowie die scharfe Kritik Stalins zu ertragen, wurde der Minister für Staatssicherheit, Ignat'ev, ernsthaft krank. Er hatte einen Infarkt und mußte sich für lange Zeit von der Arbeit zurückziehen und seine Vollmachten an Goglidze und Ogol'cov übertragen. Es sollte erwähnt werden, daß die negative Einschätzung bei der Beurteilung der Tätigkeit der sowjetischen Sonderdienste im Nachkriegs-Osteuropa von Stalin bewußt betont worden war, vielleicht, weil er die eigene Rolle bei der Schaffung einer für die UdSSR annehmbaren Ordnung dort unterstreichen wollte. In Wirklichkeit hatten die "Cekisten" [Mitglieder der Sicherheitsorgane] in dieser Region einiges an Arbeit geleistet. Gerade hier, in den sogenannten Volksdemokratien, fanden sie plötzlich einen neuen Gegner - den internationalen Zionismus, der von Moskau zum ergebenen Diener des amerikanischen Imperialismus erklärt wurde. Und Stalin beschloß, die Hauptschlacht gegen diesen neuen Feind in der Tschechoslowakei zu schlagen. Diese Wahl wurde offenbar durch den wichtigen Umstand bestimmt, daß dieses Land das wirtschaftlich und sozial am weitesten entwickelte Land Osteuropas war, das mit seiner kulturellen und demokratischen Tradition am stärksten mit dem Westen verbunden war. Das alles konnte beim mißtrauischen Stalin nur extreme Vorurteile gegenüber der Prager Führung hervorrufen, selbst dann noch, als sie 1948 vollständig kommunistisch wurde. Öl ins Feuer des Stalinschen Argwohns goß der Führer des benachbarten Ungarn Mätyäs Räkosi, den einer seiner Kabinettskollegen als den spitzfindigsten Politiker, dem er je begegnet sei, bezeich-

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nete.19 Da ihm der Antisemitismus, der im sowjetischen parteistaatlichen Apparat herrschte, nicht nur vom Hörensagen bekannt war, informierte Räkosi, der selbst Jude war, wie im übrigen auch Mihäly Farkas, Jozsef Rivai, Ernö Gerö, Gabor Pdter und andere seiner nächsten Mitstreiter, bereits im Mai 1945, um Verdacht von sich abzulenken, Moskau über das massive Eindringen von Juden in die Reihen der KP Ungarns und bezeichnete das als ernstzunehmende Bedrohung für deren Zukunft.20 Da er den liebsten Aphorismus Stalins - um zu herrschen, muß man voraussehen - tief verinnerlicht hatte, war Räkosi bemüht, den Ereignissen zuvorzukommen. Dieser "beste ungarische Schüler des Genossen Stalin" war der erste unter den Führern der osteuropäischen Länder, der eine großangelegte Säuberung in seiner Umgebung vornahm. Auf seinen Befehl hin wurden im Mai und Juni 1949 150 Personen verhaftet, darunter fünf ZK-Mitglieder der Ungarischen Arbeiterpartei, zehn Generäle und Obersten. Sie alle wurden zu Agenten Titos und der imperialistischen Nachrichtendienste erklärt. Zum Anführer der von den Organen aufgedeckten "fünften Kolonne" beschloß man, nach Absprache mit Moskau, den Außenminister und ehemaligen Stellvertreter im Parteiamt Räkosis, Läszlo Rajk, zu erklären, den man der Vorbereitung eines Planes zum Staatsumsturz beschuldigte, der im Detail mit dem Innenminister Jugoslawiens, Alexander Rankoviö, während dessen Ungarnbesuchs im Oktober 1948 abgestimmt worden sei. Im September 1949 fand vor dem Volksgericht Budapests der Schauprozeß gegen Rajk und sieben seiner Mitangeklagten statt, von denen vier, darunter Rajk, zum Tode verurteilt wurden. Noch vor diesem Schauprozeß, Mitte Juni, übergab Räkosi während eines Pragbesuchs Klement Gottwald eine Liste mit den Namen von 65 hochgestellten tschechoslowakischen Beamten, die laut Aussagen der ungarischen "Verschwörer" anglo-amerikanische Spione waren. Aber in Prag hatte man es offensichtlich nicht eilig, dem Beispiel der ungarischen Genossen zu folgen. Daraufhin schickte Räkosi Anfang September seinen Bruder Zoltän Βίτό mit einem neuen Schreiben zu Gottwald. Biro berichtete später, daß der tschechoslowakische Führer in irritier-

19 Endiju, K. / Gordievskij, O.: KGB: istorija vneSnepolitiöeskich operacij ot Lenina do Gorbaieva [KGB: Die Geschichte der Handlungen in der Außenpolitik von Lenin bis GorbaCev]. Moskau 1992, S. 367. 20 RCChlDNI, f. 17, op. 128, d. 783, 1. 30.

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tem Ton mit ihm gesprochen und gesagt habe, daß "verdiente alte Parteimitglieder nicht zu Spionen werden könnten."21 Es ist anzunehmen, daß Räkosis Enthüllungspathos zumindest zum Teil vom Selbsterhaltungstrieb diktiert wurde, was ihn dazu brachte, bei jeder heraufziehenden Gefahr sein Leben zu retten, indem er das anderer potentieller Opfer anbot. Besonders unsicher fühlte sich Räkosi, wie auch andere osteuropäische Führer jüdischer Herkunft, als ab Frühling 1949 Stalin immer entschiedener von ihnen verlangte, in ihren jeweiligen Ländern mit Zionismus und jüdischem Nationalismus Schluß zu machen. Aber auch da hatten es die tschechoslowakischen Genossen nicht eilig, es dem "Führer der fortschrittlichen Völker" recht zu machen. Im März 1950 teilte der stellvertretende Vorsitzende des Informationskomitees, V. Zorin, der vorher Botschafter in Prag gewesen war, dem ZK-Sekretär M. Suslov mit, daß die Organe der Staatssicherheit der Tschechoslowakei keinen ernsthaften Kampf gegen den zionistischen Untergrund führten und die Bearbeitung der israelischen Mission durch die Agentur seinerzeit nicht organisiert hätten, die das wiederum für die ungehinderte Ausreise aller Juden, die dies wünschten, aus dem Land nutzte.22 Um unter anderem auch die antizionistische Richtung in der Tätigkeit der tschechoslowakischen Sonderdienste zu stärken, wurde vom Politbüro des ZK der Kommunistischen Allunionspartei am 14. Juni 1950 beschlossen, eine Gruppe von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit unter der Leitung von Oberst V. Bojarskij nach Prag zu schicken. Gleich nach seiner Ankunft vor Ort erreichte Bojarskij die Zustimmung Gottwalds, innerhalb der Struktur der tschechoslowakischen Staatssicherheit eine besondere antizionistische Abteilung zu schaffen. Bereits einige Monate später gab es dann eine Reihe von Verhaftungen hochrangiger tschechoslowakischer Funktionäre, von denen eine ganze Anzahl Juden waren (der erste Sekretär des Parteigebietskomitees von Brünn Otto Sling und andere). Mit vereinten Kräften der sowjetischen und einheimischen Mitarbeiter der Staatssicherheit gelang es, aus den Verhafteten kompromittierendes Material über den Generalsekretär der KP der Tschechoslowakei, Rudolf Slänsky, und den Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPÖ, Bedfich

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Ebenda, f. 82, op. 2, d. 1362, 1. 95. Ebenda, f. 81, op. 3, d. 86, 1. 51.

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Geminder, herauszupressen, die man zu Anführern einer staatsfeindlichen Verschwörung zu erklären plante. Aber der "geniale Dosierer" Stalin hatte es nicht eilig, ihr Schicksal 211 entscheiden. Er sah das ihm zugesandte Material als "nicht ausreichend" an, es gebe keine Grundlage für eine Anklage.23 Deswegen wurden die Verhaftungen Slänskys, Geminders und jener, die von den Sonderdiensten als deren Komplizen angesehen wurden, für eine Weile verschoben. Dieser Aufschub war offenbar zum Teil durch Kaderumschichtungen bedingt, die zu dieser Zeit im Zusammenhang mit der Absetzung Abakumovs im Ministerium für Staatssicherheit stattfanden. Bojarskij selbst geriet ebenfalls in diese Säuberung, wenn auch nicht gleich. Es stellte sich heraus, daß er zuvor in seiner Eigenschaft als stellvertretender Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit des Moskauer Gebiets mehrfach Hinweise über Beziehungen Abakumovs zu leichten Mädchen erhalten, diese Informationen jedoch nicht einmal nach Abakumovs Absetzung an das ZK weitergeleitet hatte. Es gab auch eine geheime Anzeige, daß Bojarskij auf seinem Schreibtisch im Moskauer Verwaltungsgebäude ein Porträt Abakumovs stehen hatte. Außerdem stellte sich heraus, daß Bojarskij selbst nicht ganz saubere Hände hatte: während seines Aufenthalts in der Tschechoslowakei hatten er und seine Familie eine deutliche Mehrausgabe an Mitteln, die ihnen von den örtlichen Stellen zur Verfügung gestellt worden waren, verursacht. Am 2. November 1951 wurde Bojarskij durch Beschluß des ZK der Allunions-KP nach Moskau zurückbeordert und zum Oberstleutnant degradiert.24 Statt seiner kam General A.D. Besöastnov nach Prag, der zuvor die Staatssicherheit in Stalingrad geleitet hatte. Er war es denn auch, dem bald darauf angetragen wurde, die politische Karriere Slänskys zu beenden. Am 23. November wurde dieser mit Zustimmung Stalins verhaftet. Und ein Jahr später fand in Prag ein öffentlicher Prozeß gegen das "staatsfeindliche Verschwörerzentrum" statt. Vor dem Tribunal erschienen Slänsky und 13 seiner "Mitverschwörer"; elf der Angeklagten waren Juden. Am 3. Dezember wurden alle Verurteilten, mit Ausnahme von drei, gehenkt, ihre Leichen verbrannt und die Asche verstreut. Als er die Bilanz dieses schrecklichen Autodafds zog, sagte K. Gottwald bei seiner Ansprache auf einer gesamtstaatlichen Konferenz: "Im Laufe der

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Voprosy istorii, 1997, Nr. 3, S. 7, 19. RCChlDNI, f. 17, op. 119, d. 717, 1. 151-154.

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Untersuchung und während des Prozesses gegen das staatsfeindliche Verschwörerzentrum ist ein neuer Kanal aufgedeckt worden, über den Verrat und Spionage in die kommunistische Partei dringen. Es ist der Zionismus." Der Referent vergaß jedoch nicht zu präzisieren, daß "der Kampf mit dem Zionismus mit Antisemitismus nichts gemein hat."25 Bei dem judenfeindlichen Rausch, in dem das Land sich damals befand, wurde diese einschränkende Bemerkung als bloße Formel aufgefaßt. Der Slänsky-Prozeß, der sich als letzter großer Sieg von Stalins bösem Genius herausstellte, wurde von diesem offenbar als Generalprobe für eine analoge, aber wahrscheinlich noch größere politische Aktion angesehen, die er bald darauf in der Sowjetunion zu verwirklichen plante. Der Vorbereitungsmechanismus für diese Aktion wurde offiziell am 9. Januar 1953 in Gang gesetzt. An diesem Tag fand eine Sitzung des Präsidiumsbüros des ZK der KPdSU statt, auf der der Entwurf einer an das Volk gerichteten TASS-Erklärung über die Verhaftung einer Gruppe von "Schädlings-Ärzten" sowie der Pravc/a-Leitartikel unter dem reißerischen Titel "Niederträchtige Spione und Mörder unter der Maske von Medizinprofessoren" erörtert wurden. Außer den Präsidiumsbüromitgliedern L. Berija, N. Bulganin, K. Voroäilov, L. Kaganoviö, G. Malenkov, M. Pervuchin, M. S. Saburov und N. S. ChruSüev nahmen an dieser Sitzung die ZK-Sekretäre Α. B. Aristov, L. BreZnev, N. Ignatov, N. Michajlov, N. Pegov, P. Ponomarenko, M. Suslov, der Vorsitzende des Komitees für Parteikontrolle, M. F. Skirjatov, der Chefredakteur der Pravda, D. Sepilov, sowie die stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, S. Goglidze und S. Ogol'cov teil. Es ist bezeichnend, daß Stalin selbst unerwarteterweise der Teilnahme an dieser Sitzung auswich. Da man das byzantinische Wesen des Diktators kennt, kann man annehmen, daß er sich sicherheitshalber nicht nur ein "Alibi" verschaffen und somit die Verantwortung für das Ingangsetzen des "Ärztefalles" ablehnen, sondern auch die Möglichkeit haben wollte, diese Verantwortung im Notfall auf die Sitzungsteilnehmer abzuwälzen. Seinerzeit hatte L. Trockij diese charakteristische Eigenschaft in Stalins Verhalten vermerkt, der "in kritischen Tagen und in besonders kritischen Stunden" stets darum bemüht war, "sich die Hände freizuhalten, um zur Seite treten

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Adibekov, G.: Kominform i poslevoennaja Europa], Moskau 1994, S. 169.

Evropa [Kominform und Nachkriegs-

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und andere beschuldigen zu können."26 In diesem Zusammenhang ist eine Episode, die vom Komponisten T. Chrennikov beschrieben wurde, bezeichnend: Ende 1952 erklärte Stalin, der zum letztenmal an der Komiteesitzung für die Verleihung der mit seinem Namen verbundenen Prämien teilnahm, völlig unerwartet: "Bei uns im ZK gibt es neuerdings Antisemiten. Empörend ist das!"27 Am 13. Januar wurde die TASS-Mitteilung über die Aufdeckung einer Verschwörung von Kreml-Ärzten veröffentlicht. Damit wurde das Signal gegeben, eine Propaganda-Kampagne zu eröffiien, mit dem Ziel, die öffentliche Meinung im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen die "MörderÄrzte" zu beeinflussen. Davon, daß dieser geplant war, zeugt beredt der Schluß der Erklärung: "Die Untersuchung wird in Kürze beendet sein." Eine führende Rolle bei der Organisation einer neuen psychologischen Attacke auf die Gesellschaft spielte N. Michajlov, der im Oktober 1952 zum ZKSekretär und zum Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda beim ZK ernannt worden war. Dieser ziemlich ungebildete und nicht sehr intelligente Parteifunktionär, der seine Berufstätigkeit als ungelernter Arbeiter begonnen hatte, befand sich, als die blutigen Vorkriegssäuberungen auf ihrem Höhepunkt waren, an der Spitze des ZK des Komsomol, der inoffiziell als die unmoralischste Schule des sowjetischen Karrierismus galt. In der Nachkriegszeit Schloß Michajlov sich aktiv dem Kampf gegen "den heimatlosen Kosmopolitismus" an. Die Papiere, die er in dieser Zeit an das ZK der Allunions-KP richtete, hatten einen offen antisemitischen Charakter. Wahrscheinlich prädestinierte gerade dieser Umstand Michajlov für den Karriereflug auf dem XIX. Parteitag, der es ihm ermöglichte, bis zum Tod des Führers auf der höchsten Ebene der Parteibürokratie zu verbleiben. Da er ein typischer Parvenü und ein "Kalif für eine Stunde" war, strebte der ehemalige Komsomolführer danach, es seinem allmächtigen Gönner in allem recht zu machen. Ohne Umschweife verwendete er in seinen Ansprachen und Artikeln umfassend das theoretische Erbe Stalins aus den zwanziger und dreißiger Jahren, wobei er besonders die These von der Verschärfung des Klassenkampfs im Verlauf des Aufbaus des Sozialismus

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Trockij, L.: Stalin, Bd. 2, Moskau 1990, S. 202-207. Chrennikov, T.: Tichon Chrennikov ο vremeni i ο sebe [Tichon Chrennikov über die Zeit und über sich selbst], Moskau 1994, S. 179. 27

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betonte. Als eine ähnliche propagandistische Reminiszenz erscheint auch der unter Absegnung der Agitprop-Leitung veranstaltete Rummel um die "bescheidene Werktätige" Lidija Timaäuk, die nach der am 21. Januar erfolgten Veröffentlichung eines Erlasses, daß sie "für ihre Hilfe, die sie der Regierung bei der Entlarvung der Mörder-Ärzte" geleistet habe, den Lenin-Orden verliehen bekomme, augenblicklich landesweite Berühmtheit erlangt hatte. Etwas ähnliches geschah auch Anfang 1937, als Stalin während des im Februar - März tagenden Plenums des ZK einem anderen "einfachen Menschen" gedankt hatte, P. Nikolaenko, einer gewöhnlichen Agitprop-Arbeiterin aus der Ukraine, die der Partei im Kampf "gegen die Vielzahl trotzkistischer Schädlinge" geholfen hatte, die damals in der nächsten Umgebung des bald darauf erschossenen ZK-Sekretärs der KP der Ukraine, P. Postyäev, aufgedeckt worden waren. Die sich von Tag zu Tag steigernde propagandistische Hysterie um die "Arzt-Spione" rief im öffentlichen Bewußtsein eine doppelte Reaktion hervor: einerseits Aggressivität und den Wunsch, mit den "Mördern in den weißen Kitteln" abzurechnen, andererseits eine panische, animalische Angst vor ihnen. Die Verbindung dieser negativen Emotionen mit Antisemitismus und Chauvinismus schuf eine wahrhaft explosive Mischung. In seinen Erinnerungen an jene Zeit und an Stalin schrieb der Dichter D. Samojlov: "Er schaffte es, das ganze Land anzustecken. Wir lebten damals in Verfolgungs- und Größenwahn."28 Die Eruption eines plebejischen Antisemitismus zeugte von dessen Lebensfähigkeit in der Gesellschaft und davon, daß sich nicht viel verändert hatte, seit Anfang 1924 in den Bulletins der GPU die Verbreitung von Gerüchten vermerkt wurde, daß Lenin "von Juden, die die Macht an sich reißen wollten, vergiftet worden war [...] daß jüdische Ärzte Lenin vergiftet hätten."29 Das hatte zur Folge, daß das verängstigte Bewußtsein der jüdischen Bevölkerung von düstersten Vorahnungen heimgesucht wurde. Der bei der hauptstädtischen Intelligenzija bekannte Theaterintendant I. NeZnyj kommentierte die TASS-Mitteilung vom 13. Januar folgendermaßen:

28 29

Samojlov, D.: Pamjatnye zapiski [Erinnerungen]. Moskau 1995, S. 165. RCChlDNI, f. 17, op. 84, d. 708, 1. 15, 17.

Der Fall der Ärzte

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"Das werden die Pogrom-Planer, die an diesen oder jenen Rudern stehen, zum Anlaß nehmen, um das Schiff zu seinem Untergang zu führen [...] Bs ist ihnen wichtig, die Juden zu ertränken, und sie werden es tun. In Rumänien soll ja bald ein antijüdischer Prozeß stattfinden! Dort wird es so ablaufen wie in der Tschechoslowakei... Dann wird dasselbe in Bulgarien, dann in Albanien stattfinden, und dann wird man alle Juden zu einem Haufen zusammentreiben und sie nach Sibirien zum Teufel schicken."30 Gerüchte über eine von der Regierung geplante Deportation der Juden waren damals weit verbreitet. Sie tauchten bereits Anfang 1949 nach der Zerschlagung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees auf, während der Massenverhaftungen von Vertretern der jüdischen Intelligenz und der Durchführung einer Propaganda-Kampagne für den Kampf gegen den Kosmopolitismus. Auch von antisemitisch eingestellten Kreisen wurden Gerüchte über Deportationen in Umlauf gebracht. Es ist zum Beispiel bekannt, daß die Frau des Agitprop-Leiters, R. Michajlova, eine grobe und wenig intelligente, dafür aber machtliebende Person, die ihren Mann unter dem Pantoffel hatte, damals zu Svetlana Allilueva sagte: "Ich würde alle Juden aus Moskau jagen!"31 In jüdischen Kreisen entstand dieses tragische Gefühl der Ausweglosigkeit und Verzweiflung in einer Atmosphäre eines klammheimlich wachsenden Judenhasses und wurde in gewissem Maß durch die traditionelle jüdische Mentalität begünstigt, die von den tausendjährigen Erfahrungen ständiger Verfolgungen und der fortwährenden Erwartung einer neuerlichen nationalen Katastrophe sowie der noch frischen Erinnerung an die Vertreibung ganzer Völker, die während des Krieges der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt wurden, geformt worden war. Die Verbreitung der Gerüchte wurde auch durch den völligen Mangel an Glasnost' [Transparenz] im Land gefordert, in dem die Bevölkerung das Fehlen von glaubwürdiger offizieller Information mit allen ihr zugänglichen Mitteln kompensierte: mit dem sogenannten Lesen zwischen den Zeilen, Gemunkel, Vermutungen u.ä. Im Westen begann man bereits ab 1949, seit Beginn der antikosmopolitischen Kampagne in der UdSSR, von der von Stalin geplanten Deportation der Juden nach Sibirien zu sprechen. Seitdem war dort eine Vielzahl

30 31

Kostyröenko, G.: a.a.O., S. 346. Allilueva, S.: Tolko odin god [Nur ein Jahr], Moskau 1990, S. 135.

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von Untersuchungen erschienen, die dieses Thema auf diese oder jene Weise berührten, und in den meisten wird die Deportation der Juden als real geplante und detailliert vorbereitete Massenaktion, angesehen, deren Durchführung im letzten Moment von dem unerwarteten Tod Stalins verhindert wurde. Diese Behauptung gründete sich hauptsächlich auf Aussagen von Menschen, die entweder angeblich selbst etwas gesehen oder von jemandem gehört hatten, daß Juden im ganzen Land bereits in spezielle Listen für die Deportation nach Sibirien eingetragen worden seien, wo angeblich Baracken oder ganze Lager für die Umsiedler gebaut würden, und auf den Abstellgleisen stünden bereits die für diesen Zweck zusammengestellten Züge. Diese Beschreibungen waren in einer ganzen Reihe von Artikeln und Büchern, die zu Beginn der Perestrojka in Rußland erschienen sind, noch um eine Vielzahl von zusätzlichen Einzelheiten und Details angewachsen. Doch weder die westlichen noch die russischen Autoren haben bisher auch nur eine gesicherte Tatsache anführen können, die die Vorbereitung der Deportation bestätigt hätte. Indessen wird die Existenz dieser Pläne von den über die Geheimnisse der Stalinschen politischen Küche so gut informierten Funktionären wie P. Sudoplatov und L. Kaganoviö bestritten. Auch ein so verbissener Kritiker der Verbrechen Stalins wie N. ChruSöev erwähnt die Deportationen in seinen Memoiren nicht. Außerdem gibt es eine Menge anderer gewichtiger Argumente gegen diese Version. Das wichtigste davon ist, daß es keine offizielle Weisung gab, die eine Deportation sanktioniert hätte. Wenn eine solche existierte, und wäre sie auch als Verschlußsache deklariert gewesen, wäre sie unweigerlich aufgetaucht, wie das mit vielen anderen Dokumenten geschehen ist, die vom Sowjetregime unter Verschluß gehalten wurden. Jetzt sind zum Beispiel Geheimbefehle des Verteidigungsministeriums über die Vertreibung der Tschetschenen, Inguschen und anderer kaukasischer Völker in den vierziger Jahren veröffentlicht worden. Im Unterschied zu diesen territorial lokalisierten Völkern lebten Juden größtenteils in Städten über das gesamte Gebiet der UdSSR verteilt und nicht in gesonderten Gemeinden, sondern überwiegend assimiliert und in der Masse der Bevölkerung einer anderen, vorwiegend russischen Nationalität aufgelöst. Deshalb hätte man die Deportation der Juden nicht mit Hilfe einer noch so entschiedenen Weisung durchführen können, zuvor wären radikale Veränderungen notwendig gewesen, und nicht nur in der sowjeti-

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sehen Gesetzgebung (zum Beispiel die Legalisierung des Antisemitismus), sondern auch in der offiziellen kommunistischen Ideologie, die dem chauvinistischen Druck des Stalinismus zum Trotz noch die Romantik des bolschewistischen Internationalismus bewahrte, eine Ideologie, der nationale Diskriminierung und erst recht Rassismus fremd waren. Es ist beispielsweise symptomatisch, daß trotz Stalins Sympathie für das großrussische imperiale Staatswesen die historische Vergangenheit Rußlands nie vollends rehabilitiert und die Oktoberrevolution weiterhin nicht nur als eine große soziale, sondern auch als nationale Befreiungsrevolution verehrt wurde. Daher ist es kein Zufall, daß es dem russischen Patriotismus, dessen Verbreitung seit Ende der dreißiger Jahre intensiv betrieben wurde, bis zum Schluß nicht gelang, die Propagierung des sowjetischen Patriotismus zu verdrängen, sondern daß er im Gegenteil später von diesem vereinnahmt wurde. Wenn man dem Prinzip folgt, daß Erkenntnisse aus Vergleichen gewonnen werden und daraufhin die antijüdische Politik im Hitlerdeutschland analysiert, so muß man feststellen, daß einer Massen-Deportation von Juden aus diesem Land und der Annahme der sogenannten "Endlösung" der Judenfrage (Anfang 1942) eine entsprechende ideologische Begründung (das Erscheinen von Mein Kampf A. Hitlers und anderer unverhohlen rassistischer und antisemitischer Schriften), der wirtschaftliche Boykott von Juden 1933, die Nürnberger Rassengesetze 1935, die Judenpogrome im November 1938 vorausgegangen waren. Sollte er tatsächlich eine Deportation der Juden geplant haben, hätte Stalin den ihm gehorsamen Sowjetstaat erst auf diesen schrecklichen Weg führen müssen. Doch der Diktator hatte bereits keine Kraft und folglich auch keine Zeit mehr, um das antijüdische Experiment der Nazis zu wiederholen. Umso mehr, als praktisch alle nächsten Mitstreiter des Führers dessen judenfeindliche Übungen überaus angespannt beobachteten, da sie nicht ohne Grund befürchteten, daß das alles bei einer späteren Abrechnung gegen sie verwendet werden könnte. Es ist bekannt, daß in Stalins letzten Lebensmonaten Molotov, Mikojan und VoroSilov bei ihm in Ungnade gefallen waren, weil er sie der Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten verdächtigte. Es ist nicht auszuschließen, daß der vorbereitete Prozeß im Fall der Ärzte gerade mit dem Ziel geplant wurde, eine neue Säuberung an der Spitze einzuleiten, wie sie bereits in den dreißiger Jahren

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in der UdSSR und in den vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in den Ländern Osteuropas stattgefunden hatte. Da er wahrscheinlich die Aussichtslosigkeit seines Abenteuers ebenso wie die negative Einstellung seiner nächsten Umgebung dazu und die stürmische Reaktion des Westens auf den antijüdischen Unterton der sowjetischen Propaganda einsah, hatte Stalin offenbar begriffen, daß der "Fall der Ärzte" eine Niederlage für ihn darstellte, möglicherweise die schwerste seiner gesamten Karriere. Nachdem er sich und das ganze Land in eine ideologische und politische Sackgasse manövriert hatte, begann er, einen annehmbaren Ausweg aus der geschaffenen Situation zu suchen, der es ihm ermöglichen würde, die begonnene Aktion zu Ende zu führen und dabei sein "progressives", ideelles Gesicht zu wahren. Und Stalin, der für seine Vorsicht bekannt war, der einen politischen Schritt nur wagte, wenn er sich dessen Erfolgs sicher war, war nun gezwungen, einen Rückzieher zu machen. Wahrscheinlich wäre ihm jetzt mit einem nichtöffentlichen Prozeß gegen die Ärzte mehr gedient gewesen, der keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, als mit einem öffentlichen, der ein unerwünschtes weltweites Echo hervorrufen konnte. Es ist wohl nicht von ungefähr, daß nach dem 20. Februar 1953 der propagandistische Druck, die "Schädlingsärzte" zu entlarven, deutlich nachließ. Mehr noch, Stalin beauftragte den Leiter des Agitprop, Michajlov, im Namen von herausragenden und landesweit bekannten Persönlichkeiten jüdischer Abstammung einen Leserbrief für die Pravda vorzubereiten. Ein entsprechendes kollektives Schreiben wurde tatsächlich verfaßt. An dessen Vorbereitung hatten der bekannte Journalist J.S. Chavinson und das Akademiemitglied, der Historiker I. Mine aktiven Anteil. Letzterer stand Berija sehr nahe, der mit dieser Angelegenheit möglicherweise ebenfalls befaßt war. In dem Brief, den etwa 60 Personen unterzeichnen sollten, wurde im Namen des sowjetischen Judentums der amerikanische Imperialismus, die Umtriebe des internationalen Zionismus, der Staat Israel, zu dem die UdSSR kurz zuvor die diplomatischen Beziehungen abgebrochen hatte, gebrandmarkt, es wurde sogar der Antisemitismus in jenen Ländern angeprangert, wo sich rechte pro-amerikanische Regierungen an der Macht befanden. Es gab da auch einen Absatz, der im Grunde den Inhalt einer TASS-Mitteilung vom 13. Januar 1953 über die "Verhaftung einer Gruppe von Schädlings-Ärzten" wiedergab. Gleichzeitig wurde aber die heraus-

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ragende Rolle der Sowjetunion bei der Rettung der Menschheit vor der Hitlerherrschaft und der europäischen Juden vor der endgültigen Vernichtung hervorgehoben. Dabei wurde besonders betont, daß trotz der Bemühungen des Westens, "in der UdSSR den Boden für ein Wiederaufleben des Antisemitismus, dieses schrecklichen Überbleibsels der Vergangenheit, zu bereiten", "das russische Volk verstehe, daß die weitaus überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in der UdSSR Freunde des russischen Volkes seien". Der Brief enthielt sogar den Wunsch, in der Sowjetunion eine Zeitung für breite Schichten der jüdischen Bevölkerung im Lande und außerhalb herauszugeben.32 Der Text dieses untertänigen Schreibens, das im ZK vorbereitet worden war, bildete eine deutliche Diskrepanz zur vorausgegangenen Propaganda. In ihm wurde das Bestreben deutlich, sich von den antisemitischen Ausfällen, die zuvor in der Presse und im Radio zu lesen und zu hören waren, zu distanzieren. Einige von denen, die dieses Schreiben unterzeichnen sollten, weigerten sich, dies zu tun. Zum Beispiel I. Erenburg, der seinen Entschluß in einem Brief an Stalin damit begründete, daß dieser Brief bei einem Teil der Juden "nationalistische Tendenzen" festigen und sie mit Andeutungen über die Existenz eines eigenständigen jüdischen Volkes verwirren könnte, obwohl "es keine jüdische Nation gibt."33 Kaganoviö weigerte sich ebenfalls, seine Unterschrift unter das Schreiben zu setzen, indem er Stalin erklärte, daß er primär Mitglied des ZK-Präsidiums sei und nicht eine jüdische Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.34 Da der Diktator kurz darauf starb, ist dieser Brief nie veröffentlicht worden. Stalins Nachfolger brauchten weder dieses Manöver noch andere taktische Schritte, um aus einer Lage herauszukommen, in die sie durchaus nicht aus freien Stücken geraten waren. Unter dem Druck Berijas löste die Partei- und Staatsführung dieses Problem rasch und radikal. Von einem Prozeß der Ärzte, dessen Durchführung auch vorher schon in Frage gestellt war, konnte nun keine Rede mehr sein. Am 13. März 1953 befahl Berija eine neue Untersuchung im "Fall der Ärzte". Den Inhaftierten gab man zu

32

Istocnik, 1997, Nr. 1, S. 143-145. Ebenda, S. 142. 34 Cuev, F.: Tak govoril Kaganovic. hpoved' stalinskogo apostola. [So sprach Kaganoviö. Die Beichte von Stalins Apostel], Moskau 1992, S. 174. 33

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verstehen, daß alles, was mit ihnen zuvor geschehen war, auf Willkür beruhte, und sie nun der neuen Führung helfen sollten, die sozialistische Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Am 31. März unterschrieb Berija den Erlaß über die Beendigung der strafrechtlichen Verfolgung und die Freilassung aller, die im Zusammenhang mit dem Ärztefall verhaftet worden waren. Und am 3. April wurde auf seine Initiative vom Präsidium des ZK der KPdSU eine Verfügung über deren Rehabilitierung erlassen. So endete der berühmte "Fall der Ärzte", wobei er mit dem gleichen Reinfall endete wie genau vierzig Jahre zuvor der nicht weniger bekannte und für Rußland schmachvolle Prozeß des Mendel Bejlis. Der Ausgang dieses "Falles" wurde nicht nur zur ersten großen Niederlage Stalins, sondern auch zu einem starken Schlag gegen das von ihm geschaffene unmenschliche System, ein Schlag, der den Beginn seines ideellen und politischen Zusammenbruches bedeutete. (Übersetzung: Tatjana Frickhinger)

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Die Politik des staatlichen Antisemitismus wurde von der sowjetischen Führung ab Mitte der vierziger Jahre immer konsequenter durchgeführt. Wir finden darüber aber keinerlei offizielle Entscheidungen der obersten Gremien der Partei und des Sowjetstaates. Ich denke, daß es darüber auch keinerlei Beratungen gegeben hat. Alles wurde nach vagen Andeutungen und Halbsätzen des Führers verstanden und hingenommen. Im März 1947 wurde L. M. Kaganoviö zum ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine ernannt. In Kiev begann er einen energischen Kampf gegen den ukrainischen Nationalismus. Bald wurden ihm ebenfalls viele antisemitische Vorfälle bekannt, gegen die er ankämpfte. Darauf erfolgten viele Klagen aus der Ukraine nach Moskau seitens der Parteifunktionäre, die von Kaganoviö des Antisemitismus bezichtigt worden waren. Nach einigen Monaten wurde Kaganoviö nach Moskau zurückbeordert, wo er an die Spitze des Ministeriums für Baumaterialien trat. Alle Apparatschiki, die von ihm seinerzeit wegen Antisemitismus abgesetzt worden waren, kehrten auf ihre Posten zurück, aber die Juden, die Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren, konnten jahrelang keine entsprechende Arbeit finden. Schon in den ersten Nachkriegsjahren hielten sich die Parteifunktionäre der politischen Propaganda in Armee und Flotte an das Prinzip, daß jeder Jude ein potentieller Agent des amerikanischen Imperialismus sei. Das gleiche Prinzip wurde - mit dem Hinweis auf persönliche Anweisungen Stalins - auch in der praktischen Arbeit der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) angewandt. Das kannte man schon von früher, aus den Worten führender Funktionäre, die diese Anweisungen schon 1947 erhalten hatten, und auch aus den Aussagen des ehemaligen stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit, M. Rjumin, bei der Voruntersuchung seiner Angelegenheiten 1953. Jetzt verfügen wir über ein zusätzliches

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glaubwürdiges Zeugnis, das die obenerwähnten Aussagen bestätigt. Es stammt von V.A. MalySev [dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR], In seinem persönlichen Archiv befanden sich Tagebuchnotizen, die hauptsächlich seine Gespräche mit Stalin (die recht oft stattfanden) und die Sitzungen des Politbüros, an denen er teilnahm, betrafen. Auf dem XIX. Parteitag der KPdSU wurde MalySev Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees der Partei. In seinem Tagebuch notiert er über die erste Sitzung des Präsidiums des ZK nach dem Parteitag und zu den wichtigsten Bemerkungen Stalins u.a.: "Gen. Stalin l.XII.[1952] [...] Jeder beliebige Jude ist ein Nationalist, ein Agent des amerikanischen] Aufklärungsdienstes. Juden, Nationalisten], meinen, daß ihre Nation von den USA gerettet wurde (dort kann man reich werden, ein Bourgeois, usw.), sie fühlen sich den Amerikanern verpflichtet. Unter den Ärtzen gibt es viele Juden, die Nationalisten sind." (Istocnik, Nr. 5/1997, S. 140-41). Stalin hielt es also für möglich, die antisemitischen Anweisungen in Partei und Staatspolitik ungetarnt auszusprechen, ohne sie umzumänteln. Bis heute bezweifeln einige Wissenschaftler und Politiker in ihren Veröffentlichungen, daß in den vierziger und fünfziger Jahren eine Diskriminierung der Juden stattgefunden hat und daß die sowjetische Führung eine antisemitische Politik verfolgte. Mit gespielter Naivität fragen sie nach diesbezüglichen Dokumenten. Es gibt einige Zeugnisse darüber, aber sie haben nur indirekten Charakter, und Stalin hatte ja den Antisemitismus offen verurteilt. Dabei wird gewöhnlich auf seine Bemerkungen bei der Beratung über die Kandidaten für die Stalinprämie im Jahre 1952 hingewiesen. Hierzu muß gesagt werden: Die Realisierung der staatlichen antisemitischen Politik ist ein überzeugendes Beispiel der Doppelzüngigkeit, des Pharisäertums der sowjetischen Parteiführung. Die Folgen dieser Politik, in deren Geiste eine ganze Generation Parteifunktionäre und Sowjetbeamten erzogen wurde, sind schwer zu überwinden. Kein Wunder, daß die 1953 begonnene Überprüfung des Prozesses des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) sich über zwei Jahre hinzog. Und auch dann erfolgte ein positiver Beschluß nur unter dem Druck der Öffentlichkeit, die die Rehabilitierung der angesehenen Vertreter der jüdischen Intelligenzija forderte, da sie im Laufe von zwei Jahren nach dem Tode Stalins immer noch nicht

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vom Makel des Verrats und der Spionage befreit waren. Dabei wurde der angenommene Beschluß nicht veröffentlicht und blieb der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Mehr noch, die Rehabilitierung war nicht vollständig, und die Verwandten der Verurteilten blieben als "Mitglieder der Familien der Vaterlandsverräter" in ihren Zivilrechten beschnitten. Ich bin in der glücklichen Lage, an der Tätigkeit der Kommission zur Rehabilitierung, die vom Präsidenten der Russischen Föderation im Jahre 1992 gegründet wurde, teilzunehmen. Und vorher nahm ich an der Tätigkeit der Kommission zur Rehabilitierung teil, die vom Politbüro des ZK der KPdSU 1987 eingesetzt wurde. Ich sage, daß ich in einer glücklichen Lage bin, denn es ist meines Erachtens nach eine große Ehre, an einer großartigen Sache teilzunehmen - der Befreiung von Millionen Menschen von makabren und gefälschten Anschuldigungen, auf Grund derer sie vom kommunistischen Regime verfolgt wurden, der Wiederherstellung ihrer Würde und Ehre. Bei der Rehabilitierung der Opfer der kommunistischen Repressalien war die Wahrheitsfindung mit großer Arbeit und seelischen Qualen verbunden. Zehn Jahre Tätigkeit in diesen Kommissionen - das waren zehn Jahre schwerer moralischer Erlebnisse, zehn Jahre Kampf bei der Überwindung bolschewistischer Vorurteile und des Widerstandes derer, die keine historische Wahrheit wollten. Vor uns erstand ein schreckliches Bild der Mißhandlung eines Volkes, seiner Verhöhnung, seiner systematischen und planmäßigen Vernichtung im Namen einer Diktatur, die sich selbst als Diktatur des Proletariats bezeichnete, tatsächlich aber die Diktatur eines Häufchens Usurpatoren und ihrer Helfershelfer war, die davon träumten, in den engen Kreis der Allmächtigen zu kommen. Vor ungefähr zehn Jahren, 1988, beschloß die vom Politbüro eingesetzte Kommission zur Rehabilitierung eine Überprüfung der Gerichtsverhandlung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Wir hatten wenig Zeit dafür, ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wessen Idee es war, auf jeden Fall kam sie von oben: mal nachsehen, ob alle in diesem Prozeß Verurteilten rehabilitiert sind, und warum die Dokumente ihrer Rehabilitierung (1955) bis jetzt geheimgehalten werden. Und so kam ich dazu, die Materialien der Gerichtsverhandlung und auch die Akten zur Rehabilitierung zu lesen, die seinerzeit von der Staatsanwaltschaft der UdSSR vorbereitet wurde. Mir wurde aufgetragen, darüber einen Bericht zu verfassen, der dann in der Zeitschrift Izvestija ZK KPSS veröffentlicht wurde. Alle Materialien befan-

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den sich nur kurze Zeit in meiner Hand, aber es genügte, um mich zu überzeugen, daß hinter diesen primären Dokumenten andere, sehr wichtige Dokumente und Ereignisse stehen, von denen wir noch nichts wissen. 1991 ergab sich - dank der Unterstützung des damaligen Vorsitzenden des KGB V. V. Bakatin und auch des Chefs der 10. Verwaltung des KGB, Α. A. KrajuSkin - die Möglichkeit, mit diesen Dokumenten im Detail bekannt zu werden. Und so befaßten wir uns mit beinahe 50 Bänden des Gerichtsverfahrens und der zusätzlichen Materialien. Man kann sich meinen Zustand vorstellen - wir fanden uns im Gebäude des FSB [Federal'naja sluiba bezopasnosti - Sicherheitsdienst der Russischen Föderation] um 8 Uhr morgens ein (obgleich der Arbeitstag bei denen erst um 9 Uhr begann) und verließen das Gebäude um 8 Uhr abends. Dank der vollen Unterstützung Bakatins, der den Posten des Leiters der Sicherheitsorgane nur kurze Zeit innehatte, wurden uns alle Geheimpapiere vorgelegt. Wir waren die ersten zivilen Historiker, die Zugang zu diesen Dokumenten hatten; man könnte vielleicht hinzufugen: und die die Möglichkeit hatten, den Archivstaub von diesen Dokumenten zu entfernen. Aber diese Dokumente waren ja nicht mit Staub bedeckt. Im Gegenteil, diese beinahe 50 Bände sahen so gebraucht, so abgegriffen aus, daß gleich klar wurde: im Laufe der Jahrzehnte nach dem Prozeß war an diesen Materialien unentwegt gearbeitet worden. Vom Sommer 1952 an und bis 1990 waren sie ununterbrochen gebraucht worden. Für die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes waren sie ein Instrument für neue Verfolgungen, neue Repressalien oder neue Beschneidungen der Zivilrechte. Später habe ich vieles darüber erfahren. Das kann sicher ein Thema eines anderen Vortrages sein, aber ich möchte hierzu bemerken, daß ζ. B. David GofStejn nicht vollständig rehabilitiert war und daß seine Tochter, die in der Kiever Philharmonie arbeitete, noch 1988 nicht mit ihrem Orchester nach Bulgarien fahren durfte. Ich denke, daß wohl schon viele Forscher die Möglichkeit erhalten haben, mit diesen Dokumenten bekannt zu werden. Mich berührte es vor kurzem unangenehm, als auf einer öffentlichen Versammlung die Bemerkung fiel, "alles ist doch klar, alles ist bekannt, es lohnt sich nicht, diese Angelegenheiten weiter zu untersuchen. Man sollte sich damit befassen, die guten Eigenschaften der Menschen zu entwickeln."

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Nun aber zurück zu den Dokumenten, die ich eingesehen habe. Es handelte sich dabei nur um die erste Schicht der Quellen zum Jüdischen Antifaschistischen Komitee. In den Archiven - und nicht nur in den Archiven des FSB - befindet sich noch ein riesiges Material, das die Möglichkeit ergeben wird, eine Vorstellung davon zu bekommen, was geschehen ist und wie es geschah. Um so mehr, als die Dokumente des FSB eine heimtückische Quelle sind. Man kann sich keinesfalls auf diese Dokumente vorbehaltlos verlassen. Es genügt, daran zu erinnern, daß das Ziel jeder Voruntersuchung die "Anerkennung der Schuld" war. Und ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie diese Aussagen erzielt wurden. Deswegen müssen diese Dokumente sehr sorgfältig mit anderen Dokumenten - und nicht nur solchen, die in den Verliesen des Sicherheitsdienstes erstellt worden waren - verglichen werden. Ich muß dabei erwähnen, daß die heutigen Forscher nicht immer all das gebrauchen, was im Archiv des FSB zu finden ist. Ich erwähne in diesem Zusammenhang die Gefängnisakten jedes einzelnen Angeklagten, die in dem sogenannten inneren Gefängnis in der Lubjanka, in Lefortovo oder im ButyrkiGefängnis angelegt wurden. Das sind Dokumente, die das Verhalten des Angeklagten charakterisieren, Zeit und Länge seiner Verhöre und seinen Gesundheitszustand angeben. Auch die Menschen, mit denen er in der Zelle saß - zufällig oder mit "Sonderauftrag" - werden beschrieben. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe der Forschung, gerade auch im Falle des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, diese Dokumente auszuwerten. Wir sind davon ausgegangen, daß in diesen mehr als 40 Bänden die Stalin-Abakumovsche Version dieses Komitees dargelegt ist, und wir mußten sorgfältig das aussieben, was von der Staatssicherheit verfälscht worden ist. Diese Untersuchungsrichter waren harte Menschen. Ich werde Ihnen heute nicht den Gang der "Untersuchung" erzählen, und auch das Gerichtsverfahren nicht, obwohl beides außerordentlich interessant und informativ ist. Ich werde mich auf die Probleme, die durch die weitere Erforschung des JAK und den Beginn der "Ärzte-Affäre" entstehen, konzentrieren. Die erste Frage, auf die der Forscher eine Antwort sucht: Warum hat das MGB gerade 1948 begonnen, sich mit dem JAK zu befassen? Denn das ZK und die Staatssicherheit verfaßten bereits 1946 ein Dokument, in dem schon alles vorhanden war: das System der Anschuldigungen, das Ausmaß der

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Schuld (vom Standpunkt der Staatssicherheit) aller Aktivisten des JAK. Wir ersehen aus mehreren Dokumenten, daß die Sammlung der Indizien gegen die einzelnen Angeklagten schon damals begonnen hat. Eines ist unbedingt zu beachten: das damalige Regime Stalins konnte nicht ohne Repressalien existieren. Die Verfolgung der "inneren Feinde" war ihm immanent und das nicht nur, weil diese grausamen Repressalien die persönliche Macht Stalins garantierten. Auch die sogenannte "kollektive Führung" kam nicht ohne Repressalien aus. Und auch solche, die gerne als "große Reformatoren" gelten wollten, griffen - wenn sie es nötig fanden zu dem Instrument der Staatssicherheit. Sobald die Repressalien verringert wurden und liberale Lüftchen aufkamen, begann das Regime an Boden zu verlieren. So endete es auch im August 1991. In den Nachkriegsjahren können wir eine Reihe solcher Massenrepressalien gegen ganze Schichten der Bevölkerung aufzeigen. Die ersten beiden Nachkriegsjahre wurden für die Bearbeitung der Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und der Internierten, die während des Krieges auf dem Territorium des Dritten Reiches oder den von ihm okkupierten Gebieten lebten, benötigt. Das war eine außerordentlich umfangreiche Tätigkeit. Und sie endete mit dem Transport von etwa 2 Millionen Menschen in die Kolyma und andere nördliche Gebiete. Ich denke, daß unter den Faktoren, mit denen die Ernennung Abakumovs 1946 auf den Posten des Ministers für Staatssicherheit zu erklären ist, auch seine Arbeit mit den Repressalien gegen sowjetische Kriegsgefangene eine wichtige Rolle spielte. Diese Repressalien hatten schon während des Krieges begonnen. Ab Ende 1947/Anfang 1948 beginnt ein neuer Abschnitt der Massenrepressalien. Sie wandten sich gegen diejenigen, die bereits in den dreißiger Jahren - während des Großen Terrors - von den Sicherheitsorgane verhaftet worden waren. Ein Teil von ihnen hatte seine Zeit abgesessen, der andere befand sich noch im Lager und wartete auf die Befreiung, weil die Zeit endete. Es handelt sich um hunderttausende der sogenannten "Povtorniki" - so wurden diese Menschen in den Dokumenten des MGB und des Politbüros bezeichnet [povtorit' = wiederholen], aber unter diesen waren nicht nur diejenigen, die ihre Zeit abgesessen hatten, es gab auch die inzwischen groß gewordenen Kinder. Zur Zeit des Großen Terrors der dreißiger Jahre waren sie noch klein, jetzt erlaubte ihr Alter, sie in die Kolyma, in andere nördliche Gebie-

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te zu bringen. Es gab außerdem die "nicht Erfaßten", die frei gebliebenen Verwandten derer, die in den dreißiger Jahren verurteilt worden waren. 1948 war das Jüdische Antifaschistische Komitee an der Reihe. Die sogenannte Voruntersuchung teilt sich im Falle des JAK meines Erachtens in zwei Abschnitte, die sich voneinander unterscheiden. Der erste Abschnitt währte von 1948 - 1951, der zweite von 1951 bis 1952. Diese Abschnitte unterscheiden sich sowohl durch die Vergehen, derer die Verhafteten beschuldigt wurden, als auch durch die verschiedenen Personen, die vom MGB als Leiter der sogenannten "Verbrechergruppe" im Jüdischen Antifaschistischen Komitee vorgesehen waren. Auch wurden im ersten Abschnitt andere Strafmaßnahmen vorgesehen, als im zweiten. Ich denke, daß das Verhalten gegenüber dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee von zwei Umständen bestimmt wurde, die die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft in diesen Jahren charakterisieren. Der erste und wichtigste bestand darin, daß der kalte Krieg dermaßen "erhitzt" wurde, daß bis zur Katastrophe buchstäblich nur ein Schritt blieb. Wahrscheinlich haben wir bis jetzt keine richtige Vorstellung davon, wie real die nukleare Kriegsgefahr Anfang der fünfziger Jahre war. Konkrete Fakten zeugen davon. Es gibt viele Dokumente und aus diesen Dokumenten schließe ich: Je mehr über die Verhinderung des Krieges gesprochen wurde, je größere Ausmaße die Friedensbewegung annahm, die von den prominenten Vertretern der Kultur in der Sowjetunion gesteuert wurde, desto realere, gefährlichere und schrecklichere Schritte wurden von beiden Seiten - von Amerika und der Sowjetunion - zur Verschärfung der internationalen Lage, Beschleunigung des Wettrüstens, Konzentration der Streitkräfte an den entscheidenden Grenzen zwischen den Blöcken unternommen. Die Folgen des unerwarteten Schlages, durch den es Hitler gelungen war, riesige Territorien zu besetzen, ließen sowohl den amerikanischen als auch den sowjetischen Generälen keine Ruhe. Unter diesen Umständen reorganisiert Stalin grundlegend den Staatsapparat und das Verwaltungssystem, die Streitkräfte, Sicherheitsorgane usw. Das ist ein sehr großes Thema, und ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nur auf das Problem lenken, das heute hier besprochen wird. Sie wissen, daß damals das ganze System des MGB reorganisiert wurde. Faktisch übernimmt Stalin die vollständige Kontrolle aller Strukturen der Staatssicherheit. Einzelne Teile des MGB, so zum Beispiel die Voruntersuchungsabteilung besonders wichtiger Angelegenhei-

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ten, wurden ihm nicht nur direkt unterstellt, sondern er griff auch praktisch in die tägliche Arbeit dieser Abteilungen ein. Eigentlich wurde damals im ZK der KPdSU ein eigenes Ministerium für Staatssicherheit gegründet, ein Apparat, der sich in bestimmter Richtung mit einem Sonderkontingent beschäftigte - den Parteifunktionären und höchsten Beamtenrängen. Das Komitee der Parteikontrolle erhält dabei die Funktionen der staatsanwaltlichen Aufsicht, das Recht auf Sonderuntersuchungen. Es wird auch ein eigenes Gefängnis gegründet. Eine große Bedeutung hatte der Sonderinformationsdienst, der direkt dem ZK unterstellt war. Der krasse Umbau des MGB erfolgte im Sommer 1951. In diesem Zusammenhang möchte ich unterstreichen, daß die Briefe und Mitteilungen, die damals aus dem MGB in das ZK der KPdSU geleitet wurden, in verschiedenen Publikationen oft unkritisch ausgewertet werden. Das bezieht sich u.a. auf den sogenannten Brief Rjumins. Wir haben Dokumente, die bezeugen, daß dieser Brief im ZK der KPdSU verfaßt wurde, daß er vom künftigen Minister der Staatssicherheit, Ignat'ev, bearbeitet wurde und daß Rjumin nur einzelne Details hinzufügte, möglicherweise auch zusätzliche Information gab. Aber der Brief selbst wurde im ZK geschrieben und Malenkov war darüber vollständig informiert. Dieser Brief gab Stalin den Anlaß, auf der Plenarsitzung des ZK zu sagen: "Schaut mal, ein kleiner Mensch im MGB hat so große Unzulänglichkeiten erblickt und alle anderen haben das nicht gesehen." Es ist schwer sich vorzustellen, welchen Hochflug Rjumins Karriere damals erlebte - vom einfachen Untersuchungsrichter wird er zum Leiter der Untersuchungsabteilung für besondere Angelegenheiten und sogar zum stellvertretenden Minister. Seit August 1951 beginnt die Arbeit am neuen Szenario der künftigen Gerichtsverhandlungen des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, ungeachtet der Tatsache, daß beinah 30 Menschen schon jahrelang verhaftet waren, ihnen Anklageschriften ausgehändigt worden waren und sie auf das Gericht warteten. Im neuen Prozeßszenario hatte das MGB andere Leiter des Komitees als Hauptangeklagte vorgesehen. Vorher war die Ehefrau von Molotov P. 2emöu2ina für diese Rolle ausgesucht worden, jetzt wurden andere auserkoren. 1951 blieb Michoels im Verzeichnis, Zemöu2ina wurde aber nicht mehr erwähnt. Michoels wurde vom MGB bereits ermordet... Jetzt brauchte man eine bedeutende politische Figur als Haupt der neuen antisowjetischen Organisation. Als solcher wurde S. Lozovskij bestimmt,

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stellvertretender Außenminister, Altkommunist, Mitglied des ZK der VKP(b). Ich möchte kurz daraufhinweisen, wie dieses "Haupt der Spionageorganisation" bestimmt wurde, wie diese Entscheidung sich in den Dokumenten widerspiegelt. Wenn man die Materialien der Untersuchung 1950 liest, so fällt sofort eines auf: wie wenig überzeugend die Anklagen gegen 2emöu2ina sind. Und außerdem: was für eine Figur war Zemöuzina? Man könnte sich gut Michoels als Hauptfigur vorstellen, denn er war ein weltbekannter Mann. Aber 2emöuiina? Alles was gegen sie sprach, war nur, daß sie eine Jüdin war und sich mehrmals mit Golda Meir getroffen hatte. Aber es gibt Dokumente, die meines Erachtens wichtige Umstände beleuchten, die hinter diesen Anklagen standen. 1945 erholte sich Stalin zum erstenmal nach Ende des Krieges im Süden. Während des ganzen Krieges hatte er keinen Urlaub genommen und war in Moskau geblieben. Die "Wirtschaft" wurde nun an Molotov übergeben. Stalins Aufenthalt im Süden dauerte lange und wie mir scheint, hat Molotov in dieser Zeit für einige Augenblicke die ihm sonst eigene Vorsicht beiseite geschoben. Zu den Oktoberfeiern 1945 hatte er in Moskau ein Gespräch mit vier ausländischen Journalisten, wobei er ihnen sagte, daß die Sowjetzensur möglicherweise - im Austausch mit bestimmten Handlungen der Westmächte - gelokkert werden könnte. Bald darauf veröffentlichte einer der Teilnehmer des Gespräches einen Artikel in einer amerikanischen Zeitung mit folgendem Inhalt: Stalin ist müde und faktisch wird der Staat jetzt von Molotov geleitet. Stalin hat den Posten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare am Vorabend des Krieges übernommen. Der Krieg ist beendet - es ist anzunehmen, daß Stalin jetzt diesen Posten verlassen wird. Sie können sich die Wut und Entrüstung Stalins gut vorstellen! Zu diesem Thema existiert eine recht umfangreiche und scharfe Korrespondenz Stalins mit dem Politbüro. Sie endet mit einer Erklärung Stalins: Er hält Molotov nicht mehr für seinen Freund, will mit ihm nichts zu tun haben und bittet eine fllnfköpfige Gruppe der Mitglieder des Politbüros, die Sache zu klären und diesbezügliche Schritte zu unternehmen. Die Mitglieder des Politbüros haben Stalins Bitte sehr vorsichtig ausgeführt. Sie versuchten, auf seine Gefühle einzuwirken und teilten ihm sogar mit, daß Molotov während seiner Äußerungen zu dieser Angelegenheit geweint hatte (als Antwort verfaßte Stalin eine Randbemerkung: warum beträgt er sich wie eine weinerliche Jungfrau!).

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Damit war der Konflikt beigelegt, aber 1948 ließ Stalin diese Korrespondenz vervielfältigen und unter den Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros verteilen. Ich halte es für möglich, daß unter anderen Umständen (die der weiteren Erforschung harren) an der Spitze der "Verbrecherorganisation" - des Jüdischen Antifaschisten Komitees - Vjaöeslav Michajloviö Molotov gestanden hätte. So etwas hätte Eindruck gemacht: In den dreißiger Jahren waren solche Rollen Rykov (seit Lenins Krankheit bis 1930 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der UdSSR), Bucharin (einer der engsten Gefährten Lenins) und anderen zugeteilt worden. Und was Zemöuiina betrifft: muß noch erklärt werden, welche Industrie ihr unterstellt war - Parfumerie, Fischverarbeitung? Das war keine Figur für einen Schauprozeß. Etwas ganz anderes wäre Molotov gewesen. Aber 1949 ist etwas geschehen (ich wiederhole, wir wissen noch nicht, was), das Molotov rettete und somit entfiel auch die Kandidatur seiner Frau. 2emöu2ina wurde deportiert und war weg - sie befand sich bis zum Tode Stalins in Deportation und begeisterte sich bis zu ihren letzten Minuten für die Weisheit und das Genie Stalins. Es begann ein neuer Abschnitt, und in diesem Zusammenhang will ich Ihre Aufmerksamkeit auf einige Punkte des sehr bedeutenden gestrigen Vortrags von Eduard Goldstücker lenken, auf den Prozeß von R. Slänsky. Während des ersten Abschnittes der Affäre des JAK wurde es als Allunionszentrum der antisowjetischen Tätigkeit dargestellt. Im Zusammenhang mit der Slänsky-Affare wurde das JAK zu einem internationalen antisowjetischen Zentrum. Es wurden damals bekanntlich außer dem Slänsky-Prozeß ähnliche Prozesse auch in den anderen Ländern des Sowjetblocks durchgeführt bzw. vorbereitet. Hier ist noch vieles unklar, aber wir sehen schon den Faden, der uns helfen kann, dieses Problem zu klären. Hochverehrter Herr Goldstücker, 1955 wandte sich das ZK der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei an Moskau mit der Bitte um Dokumente, auf Grund derer Slänsky von Stalin und den anderen Mitgliedern des Politbüros beschuldigt wurde. Nach detaillierter Besprechung in Moskau wurde eine Antwort an die Führung der Tschechoslowakei verfaßt, die von A. Selepin und Ju. Andropov unterschrieben wurde. Sie teilten Prag mit, daß alle diese Dokumente leider vernichtet worden seien. Wir aber haben diese Dokumente jetzt gefunden.

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Interessant ist, daß wir diese Dokumente nicht in dem Ressort gefunden haben, das von Selepin geleitet wurde, sondern in den Papieren des ZK der KPdSU. Aber ich denke, daß dort auch Angaben zu finden sind, die uns helfen könnten, hinter die Kulissen des Prozesses des JAK zu blicken. Deswegen erhielten wir auch diese Dokumente nicht. Einer der Gründe für die Veränderung der vorgesehenen Rolle des JAK soll, wie jetzt oft behauptet wird, die Veränderung der Sowjetpolitik gegenüber dem Staat Israel gewesen sein. Vielleicht ist es wirklich so. Es gibt aber auch andere Gründe. Ich hatte schon hier in Deutschland Gespräche mit versierten Wissenschaftlern, u.a. auch mit Herrn Finkelstein, und daraus schließe ich, daß man die Geschichte der Sowjetpolitik in jüdischen Fragen nur durch eine vielseitige Erforschung der damaligen Nahostsituation verstehen kann. In diesem Zusammenhang schlage ich folgende Hypothese vor: Stalins Erfahrung mit Spanien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Bedeutung für den Nahen Osten. Die aus allen Ländern 1936/37 nach Spanien strömenden Freiwilligen, die in den sogenannten "Internationalen Brigaden" kämpften, stärkten nicht nur die Armee der spanischen Republik, sondern halfen auch dem Ausbau der Positionen der Kommunistischen Partei in Spanien, die dadurch zur dominierenden Kraft im politischen Leben der Republik wurde. Es kamen auch Waffen nach Spanien - aber nur aus der Sowjetunion. Die Kommunisten kontrollierten die politische Lage in der Republik Spanien, die bürgerliche Regierung konnte sich ihrer nicht erwehren. Wir wissen nicht, worauf Stalin in Israel hoffte, aber in der Sowjetunion wurden Einheiten sowjetischer Freiwilliger für den Kampf Israels gegen die Araber gebildet. Das begann als streng geheimes Unternehmen. Ich denke, daß Ben Gurion die Geschichte gut kannte, und er tat alles, um eine Wiederholung des spanischen Szenarios in Israel zu verhindern. Er war ein weiser Mann und kannte den Spruch: "Fürchte die Danaer, zumal wenn sie Geschenke bringen." Die "Geschenke" waren für ihn wichtig, aber der Preis wäre zu hoch gewesen. Stalin fühlte den Widerstand der israelischen Führung; sein Plan, im neuen jüdischen Staat Fuß zu fassen, mißlang offensichtlich und das führte zur allmählichen Veränderung der sowjetischen Haltung. Dazu sei bemerkt: es ist wichtig, wer als Freiwilliger nach Israel geschickt wurde und wer geschickt werden sollte. Wirklich haben viele später für ihren Wunsch, als Freiwillige zu fahren, bezahlen müssen. Aber das bezieht sich nur auf die,

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die selbst darum gebeten hatten. Diejenigen, die von diversen Ämtern vorbereitet wurden, waren von den Repressalien ausgenommen. Ich möchte noch ein Problem berühren, über das bisher zu wenig nachgedacht wurde: Warum wurde in dem Prozeß gegen das JAK stenographiert? Wodurch wurde es bedingt? Als die Gruppe, die in der ersten Anklageschrift vorgesehen war, geteilt wurde, blieben 15 im Gefängnis und die anderen waren für diese Angelegenheit nicht mehr vorgesehen. Und sofort gab es einen Beschluß der "Besonderen Beratung" [Osoboe soveSöanije] - der eine erhielt die Todesstrafe, der andere 10 Jahre, der dritte 15. Wozu war denn ein Stenogramm nötig? Ich denke, daß für Stalin damals das "Altern des Verstandes" typisch war und vieles tat er nach der Matrix des Jahres 1937. So hatte er 1936 den Volkskommissar des Innern, der aus dem System der Staatssicherheit stammte, durch einen Sekretär des ZK ersetzt. In der Mitte der fünfziger Jahre geschah etwas ähnliches. Damals kam statt Jagoda Eiov und jetzt kam statt Abakumov Ignat'ev Sekretär des ZK der VKP(b), Leiter einer Abteilung des ZK. Wir haben Direktiven gefunden, die das Ministerium für Staatssicherheit den unterstellten Ämtern verschickte, ζ. B. in Fragen des Prozesses jüdischer Jugendlicher 1952. In alle Provinzabteilungen des MGB wurde die Anklageschrift geschickt. Natürlich wurde dies als ein Hinweis verstanden, daß man ähnlich handeln solle, und an vielen Orten wurde solche Jugend gesucht, um so mehr, weil junge Menschen leichter zu brechen waren. Und das Prozeßstenogramm des JAK war in gewisser Hinsicht eine Wiederholung des schon Gewesenen. Seinerzeit war das Stenogramm des Bucharin-Prozesses vorbereitet worden. Einerseits war es als Lehrbeispiel für die Untersuchungsrichter gedacht, andererseits schien es ein "gewichtiger" Beweis der Schuld der Angeklagten zu sein. Das Stenogramm wurde "bearbeitet", "berichtigt", verfälscht, in kleiner Auflage verlegt und bitte sehr - jetzt konnte man sich überzeugen, daß die Feinde des Volkes ihre Verbrechen selbst eingestanden hatten! Aber mit dem JAK ging es anders, und das Stenogramm blieb nur für die Historiker. Dann sollte ein Stenogramm des künftigen Prozesses der Ärzte erfolgen. Die Untersuchungsrichter sagten ja den Angeklagten: "Was sind denn das für Aussagen? So etwas kann man in einem offenen Prozeß nicht gebrauchen!" Als ob die Opfer daran schuld sind, daß sie nicht dem Szenario entsprechend aussagen. Darüber berichtet u.a. Prof. Rapoport. Bitte beachten Sie, daß auch wir und

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die Forscher, die nach uns kamen, nicht immer die Angaben, die in den Dokumenten des MGB enthalten sind, kritisch genug ausgewertet haben (und auswerten). Man hält diese Angaben fur bare Münze und meint, daß sie hundertprozentige Wahrheit enthalten. So wird ζ. B. überall behauptet, daß Prof. Jakov Etinger während der Untersuchungshaft natürlichen Todes gestorben ist. Aus der Gefängnisakte ist zu ersehen, daß er im Laufe von beinahe vier Monaten fast jede Nacht zu Verhören bestellt wurde und diese dauerten 4 - 5 Stunden. Also - ein bejahrter Mensch, auch seine Gesundheit war nicht gut, nun - und dann so eine Belastung! In seiner Akte ist aber vermerkt, daß er gestorben ist, weil er gegen den Ausguß gestolpert war und sich die Nasenwurzel brach, infolgedessen trat der Tod ein. Ich bin nicht davon überzeugt, daß es wirklich so war. Aber wenn ich sehe, daß sich die Interessen von zwei oder drei Gruppen oder Ämtern, die sich mit Repressalien befassen, kreuzen, und diese Gruppen daran ein Interesse haben, daß ein Mensch verschwindet und er zur gebotenen Zeit auch wirklich stirbt, tauchen große Zweifel auf. Und in diesem Falle hatte Rjumin daran ein Interesse, der mitteilte, daß Etinger ihm gestanden hatte, daß Terrorakte gegen Mitglieder der sowjetischen Regierung vorbereitet wurden. Auch Abakumov hatte ein Interesse daran, denn es ergab sich quasi, daß er, Abakumov, daran schuld ist, daß er diese Angelegenheit "verschlafen" hatte... Die ganze Abteilung zur Untersuchung der besonders gefahrlichen Verbrechen war daran interessiert - denn als später begonnen wurde, weitere Personen (die aus anderen Gründen verhaftet worden waren, im Zusammenhang mit der "Ärzteaffäre") zu verhören, wurde stets wiederholt: Prof. Etinger hat doch auf sie hingewiesen... Mehr noch: Stalin persönlich führte ja diese Untersuchungen und mischte sich in Details ein. Wie hätte er Rjumin befordern können, wenn er den Tod eines so wichtigen Zeugen, der bereit war derartig wichtige Angaben zu machen, verschuldet hätte? Rjumin erhielt nicht einmal irgendeinen Verweis. Dabei spielte Prof. Etinger eine wichtige Rolle in den Plänen Stalins. Eigentlich war er wegen einer - für jene Zeiten - Kleinigkeit verhaftet worden: man hatte seine Telefongespräche und Unterhaltungen mit seinem Sohn abgehört. Er saß im Gefängnis, erwartete sein Schicksal und es wurde ihm nichts außer "antisowjetischen" Äußerungen vorgeworfen. Man hat den Eindruck, daß auf irgend etwas gewartet wurde, aber Stalin vertraute seine Pläne weder Abakumov noch sonst jemandem aus dem System der Staatssicherheit an.

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Stalin befaßte sich mit den Angelegenheiten des MGB mehr als mit solchen des Politbüros oder des Ministerrates. Er traf sich täglich mit den Untersuchungsrichtern, mit dem Chef der Untersuchungsabteilung, mit dem Minister für Staatssicherheit und widmete dem mehr Zeit als den Mitgliedern des Politbüros. Stalin persönlich stellte das Verzeichnis der Fragen, die die Untersuchungsrichter erhielten, und dies sowohl für das JAK als auch für die Ärzte. Er persönlich bestimmte, in welchen Gefängnissen die Angeklagten inhaftiert werden sollten, in Lefortovo oder in dem Inneren Gefängnis in der Lubjanka. Dazu ein Beispiel: Die im Prozeß des JAK angeklagte Lina Stern (Akademiemitglied, weltbekannte Forscherin), erklärt, daß ihr der Untersuchungsrichter mit der Überführung nach Lefortovo drohte. Daraufhin fragte Öepcov, Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichtes: "Besteht denn da ein Unterschied?" L. Stern antwortete: "Das muß man selbst probiert haben - dann werden Sie es wissen. Dort war die Vorstufe der Hölle, und in Lefortovo die Hölle." Also - Stalin bestimmte höchstpersönlich, wer wo zu sitzen hat, welche Foltern angewandt werden sollen, welche Fragen die Angeklagten zu beantworten hatten. Ich war seinerzeit überrascht - plötzlich wurden irgendwelche Provinzärzte nach Moskau bestellt und die ehemaligen Untersuchungsrichter des MGB, die jetzt selbst verhaftet und verhört wurden, erklärten, daß sie das Verzeichnis dieser Ärzte von Stalin erhalten hatten. Man beschloß, einen dieser Fäden zu verfolgen und stellte folgendes fest: Etinger hatte das Gymnasium in Vitebsk beendet. Dort war eine Gruppe junger Menschen, die mit ihm zusammen gelernt hatten, und daraufhin begannen mehrere von ihnen mit dem Medizinstudium. Stalin erhielt das Verzeichnis der Abiturienten des Vitebsker Gymnasiums und notierte, wer verhört und wer verhaftet werden soll. Ich möchte dazu bemerken: Es gab Wochen und Monate, in denen Stalin als Chef der Untersuchungsabteilung fungierte. Ich will außerdem bemerken, daß wir leider bisher noch keine richtige Vorstellung davon haben, was hinter all diesen antisemitischen Aktivitäten stand und was die Bürger unseres Staates, und vielleicht nicht nur unseres, erwartete. Ich meine die Frage der möglichen Deportation der Juden aus Moskau und anderen großen Industriezentren des Landes. Bei der Analyse dieses Problems haben wir es damit verglichen, was in einer anderen Zeit mit anderen Völkern geschah. Nehmen wir die Deportation aus dem Baltikum. Wie wurde diese Aktion technisch vorbereitet und durchgeführt? Das

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Ministerium des Innern und die Hausverwaltungen erhielten den Auftrag, Listen der Einwohner jedes Hauses und jeder Wohnung zusammenzustellen, so wurde eine lückenlose Information vorbereitet. All das wurde auf Anweisung der Parteiinstanzen durchgeführt. Alle Angaben wurden dann im MGB bearbeitet. Mehrere Völker wurden zu verschiedenen Zeiten vom kommunistischen Regime deportiert. Jede dieser Deportationen hatte ihre Eigenart, die vom Ort, von der Zeit, den politischen Gegebenheiten und davon abhing, ob der Staat nur Teile oder ein ganzes Volk zu deportieren beabsichtigte. Auf jeden Fall existierte ein ausgeklügelter, von den Terrororganen ausgearbeiteter Deportationsmechanismus. Weisen wir dabei auf drei Faktoren hin, die jedesmal bedeutend waren. Erstens war es die präzise Fixierung des Wohnortes der Personen, die zur Deportation vorgesehen waren. Zweitens war die Stelle vorher bestimmt, wohin die Deportation gehen sollte, und davon wußten nur sehr wenige Menschen und drittens wurden alle Aktionen zur Deportation besonders geheim gehalten. Viele sehr wichtige Entscheidungen wurden den durchführenden Personen lediglich mündlich mitgeteilt. Es ergibt sich eine Frage - wurden in Moskau solche Listen vorbereitet? Ja, alle Hausverwaltungen hatten solche Listen, die auf Anweisung des Stadt- und der Rajonkomitees der Partei zusammengestellt wurden. Diese Tätigkeit wurde vom MGB beaufsichtigt. Aber das bedeutete nicht, daß im März oder April 1953 eine Deportation der Juden aus Moskau beginnen sollte. Für die Deportation eines bestimmten Teils der Einwohner Leningrads nach der Ermordung Kirovs war das Verzeichnis schon ein halbes Jahr vor dem Tode Kirovs zusammengestellt worden. Beunruhigende Gerüchte und alle möglichen Hypothesen wurden verbreitet. Dann beruhigten sich alle, aber die Listen blieben. Und im gegebenen Augenblick, d.h. Anfang Dezember 1934 wurden nach diesen Listen einige Tausend Leningrader aus der Stadt deportiert. Zweite Frage: Waren schon 1953 Wohnorte für die zur Deportation vorgesehenen Menschen vorbereitet? Ende Januar 1953 wurde ein Beschluß des Politbüros über den Bau neuer Lager für 150-200 Tausend Menschen gefaßt. Dieser Bau erhielt durch den Beschluß des Politbüros große Bedeutung und bestimmte das hohe Maß der Verantwortung für die rechtzeitige Durchführung der bestimmten Aufgaben, denn ein Beschluß des Politbüros

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galt mehr als ein Befehl des Chefs des Gulag. In diesem Beschluß wurde unterstrichen, daß das alles für besonders gefährliche ausländische Verbrecher vorgesehen ist. Also war die Rede nicht von Lagern für irgendwelche Rowdys, sondern von Sonderlagern. Die Archivdokumente zeugen davon, daß es damals in den sowjetischen Gefängnissen und Lagern überhaupt nicht so viele "besonders gefährliche ausländische Verbrecher" gegeben hatte (darunter wurden seinerzeit nur deutsche Kriegsverbrecher verstanden und deren Anzahl war ja um vieles kleiner). Jedesmal, wenn neue Lager oder Gefängnisse gebaut wurden, folgten darauf neue Wellen des Terrors gegen Sowjetbürger. Einige Worte zum Brief, den Akademiemitglied I. Mine zusammen mit J. Chavinson und einigen bedeutenden Vertretern der Kultur zur Unterschrift vorlegten. Wie ist zu erklären, daß der Brief, den sie I. Erenburg brachten, von ihm nicht unterschrieben wurde? Ich bin nicht überzeugt davon, daß sie den Brief herumgetragen haben, den Erenburg gelesen hat. Es könnte sein, daß verschiedene Texte verbreitet wurden. Der Brief, der jetzt veröffentlicht wurde, zeigt den Charakter einer gewissen Entschuldigung - als ob die Juden angeblich in bestimmter Hinsicht schuld sind, aber man soll diese Schuld nicht auf alle beziehen. Möglich, daß ein anderer Text die scharf ablehnende Reaktion von Erenburg, Kaverin u.a. hervorgerufen hatte. Worüber schreibt Erenburg und worin liegt der Sinn seiner Erwiderung? Er unterstreicht, daß diese antisemitischen Aktivitäten das Prestige der Sowjetunion im Westen schwächen. Er sagt nicht, daß sie verbrecherisch und inhuman sind. Er rechtfertigt nicht, er warnt, er erteilt Ratschläge. Aber - falls eine Deportation vorbereitet wurde, so entsteht natürlich die Frage, wo sind all die Verzeichnisse und all diese Dokumente? 1954 fand eine massenhafte Vernichtung von Dokumenten statt, die auf diese oder andere Weise von anstößigen Aktivitäten ChruSCev im Stadtparteikomitee Moskau, im ZK der KP der Ukraine und im ZK der KPdSU zeugten. Allein aus dem Archiv des Moskauer Stadtparteikomitees wurden mehrere Tage lang mit Lkws Archivdokumente weggebracht. Über diese Ereignisse des Jahres 1954 - die Vernichtung der Archivdokumente - wurde auf dem Juliplenum des ZK 1957 gesprochen. Als Leiter dieser ganzen Aktion wurde der Vorsitzende des KGB, General Serov genannt. Serov hat das auf dem Plenum nicht bestritten. Keiner weiß, wo die Dokumente vernichtet

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wurden. Aber wir haben ein wichtiges und wertvolles Zeugnis. Im Herbst 1954 erwarteten der Sohn von Prof. Etinger, J. Etinger, und seine Mutter (Viktorova), im Inneren Gefängnis der Lubjanka die Revision ihres Falles. Sie bezeugen, daß es damals eine Woche lang unmöglich war, in ihren Zellen die Fenster zu öffnen, denn im Hof des Gefängnisses wurden Dokumente verbrannt. Ich will nichts kategorisch behaupten, ich will nur eines sagen: Diese Probleme bedürfen einer tiefschürfenden Forschung und es ist möglich, die sich darauf beziehenden Dokumente aufzufinden. Und noch einige Bemerkungen: Beachten Sie, welche Strafen die Personen erlitten, die an den Massenrepressalien schuld waren, die irgendwelche Beziehung zur Verhaftung der Juden und zu den Hinrichtungen der Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees hatten. Da ist das Urteil im Fall Berija. Es werden verschiedene Sünden Berijas aufgezählt: Er sei ein englischer Spion, er hätte im Dienst der aserbeidschanischen antikommunistischen Organisation der Mussavatisten gestanden usw. Ein großer Absatz - ein Drittel der Seite - ist seinem angeblichen Plan gewidmet, den Deutschen die Überquerung des Kaukasus-Gebirges zu ermöglichen, damit sie das sowjetische Transkaukasien besetzen. Ich denke, daß dieser Stellen wegen das Urteil bis jetzt noch streng geheim bleibt. Aber die Probleme, von denen wir heute sprechen, sind im Urteil überhaupt nicht erwähnt. Und das Urteil im Fall Abakumov: Dort wird von den Massenverhaftungen in Leningrad gesprochen, aber mit keinem Wort ist der Prozeß des JAK erwähnt, und Abakumovs Anteil an Verhaftungen und Erschießungen tausender Menschen. Die Staatsanwaltschaft unternahm einen Versuch, alle Anklagen gegen Abakumov zu streichen und ihm nur den Mißbrauch seiner Stellung vorzuwerfen. Noch mehr wundert man sich beim Urteil im Fall Rjumin: Dieser Mensch trug doch die größte Schuld an den Folterungen der Häftlinge während der Voruntersuchung. Im Prozeß Abakumovs figuriert auch Komarov - ein Mensch, der in einem Brief an Stalin geschrieben hatte, daß er gegen die jüdischen Nationalisten so scharf vorgegangen war, daß er sogar im MBG als Antisemit bezeichnet wurde. In diesem Brief bat er, ihn zu befreien, damit er ihnen, diesen jüdischen Nationalisten den Garaus machen könnte. In der Anklageschrift werden mit keinem Wort die Folterung der Angeklagten und die Fälschungen im Prozeß des JAK erwähnt.

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Sie alle wurden zum Tode verurteilt, weil sie unerwünschte Zeugen waren. Die an der Spitze fürchteten die Entlarvung ihrer Handlungen in der Stalinzeit. Unsere Pflicht ist es, die ganze Wahrheit zu sagen und nicht nur, um damit das Gedenken der Toten zu ehren, sondern auch mit dem Ziel, den nachfolgenden Generationen die Bewertung der Verbrechen und der Opfer des Sowjetregimes zu ermöglichen. Wir müssen die Wahrheit sagen, wir müssen die noch heute geheimgehaltenen Dokumente vorzeigen und erklären, daß alle diese Menschen, die die stalinistischen Verbrechen begangen haben und später verurteilt wurden, dieses Schicksal nicht ihrer blutigen Verbrechen wegen erlitten, sondern weil sie dem Regime und der Führung unbequem geworden waren. Es ist wohl so, daß jede Konferenz durch die Probleme, die diskutiert werden, an Bedeutung gewinnt. Man sagt, daß in der Diskussion die Wahrheit gefunden wird. Aber damit es dazu kommt, muß nach dem alten römischen Spruch die andere Seite auch gehört werden. Ich vertrete hier die andere Seite. Ich präzisiere, sie ist anders im Vergleich zu der Meinung, die mein Opponent - Gennadij Kostyröenko - heute morgen in seinem Vortrag dargelegt hat. Worum geht es? Hat es Deportationspläne für die Juden aus Moskau und anderen Städten gegeben? Falls solche Pläne bestanden, so stellt sich die Frage, wer sie erdacht hat. In welchem Maße, wie weit war das alles vorbereitet? Man sagt, daß es keine Dokumente gibt, die die Existenz derartiger Pläne bestätigen. Ja, direkte Dokumente haben wir bis jetzt nicht gefunden. Aber es gibt Dokumente, die uns erlauben, die Frage nach der Existenz eines solchen Planes aufzuwerfen. Es gibt genügend überzeugende Angaben, die von der Realität solcher Vorhaben sprechen. Ich möchte dazu bemerken: Die Rede ist hier nicht von einer einfachen Operation Stalins, der Partei, des MGB, nicht von einer neuen Reihe antisemitischer Aktivitäten, die damals stattgefunden haben. Ich denke, daß jeder hier im Saal im Laufe dieser Tage der Konferenz fühlen konnte, daß eine Steigerung der politischen Repressalien stattfand, die sich ihrem Höhepunkt näherte. Es wird behauptet, daß es diesen Höhepunkt nicht gab, und wenn es auch Versuche gegeben hat, ihn zu erreichen, sollen diese Versuche mit einem Fiasko für Stalin geendet haben. Wenn wir von der Möglichkeit eines solchen Planes

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sprechen und von einem Dokument, in dem dieser Plan fixiert sein sollte, möchte ich Sie daran erinnern, daß für die Tätigkeit der kommunistischen Partei ein hohes Maß an Geheimhaltung typisch war. Und diese Geheimhaltung bezog sich sowohl auf zweitrangige Fragen, als auch auf die wichtigsten Probleme. 1952 hat es im Parteiapparat dieser großen VielmillionenPartei praktisch keinen einzigen Juden gegeben, aber finden Sie ein Dokument, das diese Frage erörtert. L. Luks: Und Kaganoviö? Mechlis? V. Naumov: Ich werde Ihnen gleich sagen, wie es mit Kaganoviö war. Er war, ebenso wie einige andere, "der Jude des Generalgouverneurs". Hier zeigt sich ja die Heuchelei Stalins und die Hinterlist seiner Pläne. Auf jeden Fall konnte er sagen: Wir haben im Politbüro einen Kaganoviö. Wir haben einen General Kejzer. Aber ich will Ihnen die Frage stellen: hat es irgendein Dokument gegeben, in dem davon gesprochen - oder in dem erwähnt wird, daß man in den Parteiapparat keine jüdischen Mitarbeiter aufnehmen kann? Weiterhin wird gesagt, daß die oder andere Pläne einem breiten Kreis der Mitstreiter Stalins bekannt sein mußten. In diesem Falle kann ich Ihnen einige Beispiele nennen, daß Stalin schon Ende der dreißiger Jahre Beschlüsse angenommen hat, wobei er es nicht für nötig hielt, selbst seine nächsten Mitarbeiter darüber zu informieren. Marschall B. Sapoänikov, Generalstabschef der Roten Armee, hat von der Invasion der Roten Armee in Finnland erfahren, als er sich im Sanatorium befand. Und er erfuhr es aus den Zeitungen. Hier wurden Beispiele genannt - die Deportation der Völkerschaften des Nordkaukasus, ich denke, daß dieses Argument den Ansichten des Referenten [Kostyröenko] widerspricht. Und ich erkläre, weswegen: Alle Beschlüsse über diese Deportation wurden formell erst dann angenommen, als die Aussiedlung schon begonnen hatte. Den Kommandeuren, die diese Aufgaben durchzuführen hatten, wurden diese erst dann erklärt, als die vorausgesehenen Stellungen schon eingenommen waren. Die ausfuhrenden Personen dieser Operation - Kruglov, Kobulov und Apollonov - kamen nur mit mündlich übermittelten Anweisungen in den Nordkaukasus. Im Laufe einiger Tage wurden Hunderttausende deportiert, und im gegebenen Augenblick war alles vorbereitet, auch die Eisenbahnzüge, und keiner hatte gefragt, wozu diese Züge benötigt würden. Wir können heute nicht einmal sagen, wie diese mündlichen Befehle klangen. Wir haben nur den offiziellen Beschluß des Staatlichen Verteidigungs-

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komitees [Gosudarstvennyj komitet oborony], Die Aussiedlung begann am 23. Februar, am Tage vorher war in ganz Tschetschenien viel Schnee gefallen. Der Schnee war so tief, daß es ganz klar wurde: die Alten, die Frauen und Kinder aus den höchsten Bergsiedlungen sind nicht im Stande, im Laufe eines Tages zu den Eisenbahnzügen, die im Tal standen, zu gelangen. In mehreren Rajons wurden diese Menschen in Scheunen und Ställen zusammengepfercht und anschließend erschossen oder verbrannt. Als diese Tatsachen nach dem XX. Parteitag bekannt wurden, konnte man keinerlei Anweisungen der Vorgesetzten finden. Es hatte auch keine Berichterstattung über die Vernichtung dieser friedlichen Zivilisten gegeben. Suchen Sie jetzt Dokumente darüber! Heute hörte man Behauptungen darüber (man findet sie auch in der Literatur), daß es unmöglich war, die Juden zu deportieren, weil sie im ganzen Lande verstreut lebten. In diesem Zusammenhang nenne ich folgende Beispiele der Deportation: Es wurden Krimtataren, Armenier und Griechen deportiert - und nicht nur aus der Krim, sondern auch von der Schwarzmeer-Küste des Kaukasus, wo sie auf einem großen Territorium unter anderen Völkern zerstreut lebten. Es wurden aber doch alle gefunden - kein einziger ist nachgeblieben! Ein zweiter großer Fragenkreis ist mit folgendem verbunden: Wer plante die Prozesse der Juden und die weiteren Verfolgungen inklusive Deportation? Ich denke, daß das eine sehr wichtige Frage ist. Von der Antwort darauf hängt die Auswertung der Rolle Stalins in der Steigerung der antisemitischen Kampagne ab, die Feststellung seiner Rolle bei der Vorbereitung des Ärzteprozesses. Es wird behauptet, daß alles Rjumin getan hatte, daß er Stalin zur Ausweitung der antisemitischen Operation angestossen hatte. Ich wiederhole: das wäre lächerlich, wenn sich nicht weitere ernste Schlußfolgerungen ergeben würden, die gewollt oder ungewollt, Stalin als Hauptorganisator und spiritus rector der Politik des staatlichen Antisemitismus entlasten. Rjumin ist ein Pygmäe, ein Nichts. Er ist der Mensch, von dem Stalin sagte: Wenn ich will, zerdrücke ich ihn, was er später auch getan hat. Wenn behauptet wird, daß Rjumin oder Abakumov den einen oder anderen angeblich nach ihrem Gutdünken verhaftet haben, so haben wir es hier mit einer vollständig falschen Vorstellung des Mechanismus der Verhaftungen, der damals in den Sicherheitsbehörden existierte (und nicht nur damals), zu tun.

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Der Mechanismus war damals so: Als erstes gab es einen mündlichen Bericht des Ministers oder stellvertretenden Ministers der Staatssicherheit an Stalin. Danach erklärte Stalin oder jemand von den Mitgliedern des Politbüros, das damals dabei war, im Namen des Politbüros, das Einverständnis zur Verhaftung. Falls Stalin nicht in Moskau war, so handelte man nach seiner mündlichen Anweisung, erhielt aber danach seine schriftliche Zustimmung. Hochgestellte Personen der Staatssicherheit flogen in so einem Fall zu ihm in den Süden, wenn er in Urlaub war. Erst dann wurden diese Menschen verhaftet. Gewöhnlich folgte nach einigen Tagen das Protokoll der Verhöre, aus dem zu ersehen war, daß der Angeklagte alles zugegeben hatte. Dann folgte ein endgültiger Beschluß über die weitere Untersuchung und das Gericht. Wir haben Zeugenaussagen, daß Stalin nach solchen Berichten manchmal sagte: "Schade um ihn, ein guter Mensch!" Nehmen wir die Anklage, auf Grund derer das Politbüro erlaubt hatte, Etinger zu verhaften. Im Brief des Ministers der Staatssicherheit an Stalin wurde behauptet, daß und wo Etinger antisowjetische Gespräche geführt hatte. J. Etinger wurde anfangs nur zu diesen im Brief an Stalin erwähnten Fragen verhört. Die weitere Arbeit in Richtung eines neuen Szenarios konnte nur mit Erlaubnis eines höheren Vorgesetzten passieren, oder falls der Häftling selbst neue Fragen aufwarf. Aus den Verhörprotokollen J. Etingers geht nicht hervor, daß er eine große Gruppe Gesprächspartner oder gar Gleichgesinnter genannt hätte. Der Vermerk der ehemaligen Untersuchungsrichter, daß Etinger Dutzende Menschen genannt hatte, ist entweder erlogen oder er besagt, daß die Anzahl der Menschen angegeben ist, die während des Verhörs überhaupt genannt wurden. Ich schließe nicht aus, daß der eine oder andere Historiker oder damals Mitarbeiter der Staatssicherheit solche Zahlen im Bericht über die Verhöre Etingers gefunden hatte. Und ich will Ihnen sagen, wie es damals praktiziert wurde. Darüber sprach Lina Stern meines Erachtens nach sogar im Prozeß. Beim Verhör wurde sie gefragt: "Kennen Sie Sidorov?" Sie antwortet: "Nein, ich kenne ihn nicht". Ihr wird gesagt: "Wie ist das möglich? Er arbeitet in dem und dem Institut." Sie sagt: "Ich habe ihn niemals getroffen." Ihr wird gesagt: "Aber er hat die und die Veröffentlichungen." L. Stern antwortet: "Ja, ich kann mich an irgend etwas erinnern". - "Gut." Was lesen wir im Protokoll? Es werden alle Personen aufgezählt, die im Laufe des Verhörs erwähnt wurden. Und dieser Familienname wird vom Vermerk begleitet, daß während des Ver-

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hörs diese Person genannt wurde. Sie alle unterlagen dann einer weiteren sicherheitsdienstlichen Behandlung. Deswegen muß man alle diese Tatsachen sehr sorgfältig auswerten, jedes Verhör genauestens prüfen und feststellen, auf welchem Wege der eine oder andere Name ins Protokoll kam. Ich möchte noch einen Fall nennen. Er zeugt davon, wie Stalin handelte, wenn er persönlich die Anweisung zur Tötung von Menschen gab. Im Sommer 1948 wurde im Politbüro nach dem Vortrag von T. Lysenko die Frage des Zustandes der biologischen Wissenschaft behandelt. A. Zdanov hatte damit nichts zu tun. Damit hatte aber sein Sohn zu tun, der daran schuld war, daß es Veröffentlichungen gegen Lysenko gegeben hatte. Aber Stalin sagte: "Nicht die Kinder sind verantwortlich, sondern die Väter." Die Behandlung dieser Frage verlief vor einem großen Kreis der dazu Eingeladenen und endete nicht an diesem Tag. Am nächsten Tag, schon im engsten Kreise, wurde der Beschluß über Zdanov gefaßt. D. Sepilov, der damals Zdanov direkt unterstellt war und seine Rückkehr von der Sitzung des Politbüros erwartete, erzählte kürzlich, daß Zdanov vor der Sitzung mehrere Male die Besinnung verloren hatte und beim Gehen an Atemnot litt. Nach der Sitzung des Politbüros sah er nach den Worten Sepilovs wie ein lebender Leichnam aus. Sepilov sagte zu Zdanov: "Sie müssen sofort ins Krankenhaus." Aber Zdanov antwortete: "Nein, das Politbüro hat beschlossen, daß ich in die Waldaj zur Erholung fahren muß. Genösse Stalin sagte, daß dort die Luft für Herzkranke gut sei." Aber sowohl die Luft, als auch die Flora der Waldaj sind für Herzkranke nicht gut. Und auch die Gegend ist hügelig, was das Spazierengehen erschwert. Stalin hatte den Ärzten, die Zdanov abholten, gesagt: "Soll er öfter spazieren gehen. Führt ihn durch die Alleen spazieren. Ihr seht doch, er hat großes Übergewicht. Und dadurch wird er es verlieren." Zdanov ist auch während eines Spazierganges gestorben. Eng verbunden mit den persönlichen Interessen Stalins ist auch die ganze Geschichte mit Lidija Timaäuk, mit ihren Briefen, den Kopien der Kardiogramme, mit ihren Denunziationen, die er in seinem Safe verwahrt hat. Ich muß sagen, daß keiner der Zeugen am Leben geblieben ist. Als erste hat sich am 7. Tage die Wirtschafterin erhängt (oder wurde erhängt), dann wurden die anderen vernichtet, u.a. der Arzt, der Pathologe, (er hatte im Badezimmer der Datscha zusammen mit Professor Vinogradov den Leichnam Zdanovs seziert). 1951 erschoß sich der Kommandant des "Sonder-

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Objekts" - der Datscha, in der sich 2danov erholte und wo er gestorben war. Dieser Kommandant hatte viel gesehen und wußte von vielem. Er hat sich an einem Winterabend in der Siedlung Tomilino unweit von Moskau erschossen und war dabei so kunstfertig, daß man bei ihm in der Schädeldekke zwei Kugeleinschüsse fand. Darüber wurde in einem Sonderbericht G. Malenkov Mitteilung gemacht. Im Herbst 1952 wurde Professor Vinogradov, der Zdanov konsultiert hatte und der beim Ableben Zdanovs dabei war, verhaftet und in die Ärzteaffäre einbezogen. Und letzten Endes will ich sagen, daß mein Opponent beim Verteidigen seines Standpunktes sich auf die Situation bezieht, die damals angeblich in den fuhrenden Kreisen der Sowjetunion bestand und die Stalin keine Möglichkeit gegeben hätte, die Ärzteaffäre voll zu entwickeln. Dazu muß ich bemerken, daß diese Meinung im Grunde illusorisch ist. Ich nenne in diesem Zusammenhang ein Beispiel. Im Beschluß des Politbüros über die Verteilung der Pflichten der Sekretäre des ZK wurde Aleksej Aleksandroviö Kuznecov aufgetragen, sich mit den Fragen der Staatssicherheit zu befassen. Aufgrund dieses Dokumentes wurden jetzt in Rußland viele Artikel veröffentlicht, mit denen bewiesen werden soll, daß er sich in den Lauf der Voruntersuchungen eingemischt habe, persönlich an Repressalien beteiligt war, kurz gesagt - Kuznecov sei im Zentrum des Sicherheitsdienstes gewesen. Im vorigen Herbst haben wir Abakumovs Denunziationen an Stalin gefunden. Abakumov beschuldigt Kuznecov, daß er sich nicht mit den Angelegenheiten der Staatssicherheit befasse, die Organe der Staatssicherheit verachte, ihn, Abakumov, als den Minister, vollständig ignoriere und nicht den Wunsch habe, ihn zu treffen. Abakumov schreibt, daß er Kuznecov nur zweimal dienstlich getroffen habe. Das ist sehr verständlich: Wie konnte sich Kuznecov, der vorher Sekretär eines Gebietskomitees (Leningrad) war, und jetzt zum Sekretär des allmächtigen ZK geworden war, in die Angelegenheiten der Staatssicherheit vertiefen, mit denen sich Stalin höchstpersönlich direkt befaßte. Stalin wiederum hatte Kuznecov keinerlei konkrete Aufgaben gestellt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch einmal darauf lenken, welche Art Quellen wir benutzen können und welchen Charakter das Ressort hatte, dessen Dokumente dies sind. Wir haben mit Dokumenten zu tun, die Beschlüsse des Politbüros enthalten, die vom Politbüro nie angenommen

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Vladimir Naumov

worden waren. Etwas konnte während eines Mittag- oder Abendessens, auch spät in der Nacht, bei Stalin gesagt worden sein, und dann auf seine Anweisung hin als Beschluß des Politbüros zu den Akten gelegt werden. In manchen Fällen wurden nach diesen Gesprächen Beschlüsse gefaßt, manchmal auch nur Artikel in der zentralen Presse veröffentlichte. Und dann hieß es: Das Zentralkomitee der KPdSU hat sich mit der und der Frage befaßt und folgenden Beschluß angenommen. Ein anderes Beispiel, das unser Thema direkt berührt - der bekannte Beschluß des Politbüros über das Jüdische Antifaschistische Komitee vom 20. November 1948. Es stellt sich heraus, daß Stalin und Molotov das primäre Papier mit einem solchen Text geschrieben haben. Der Leitung des Ministerrates teilten sie mit: Wir halten es für nötig, einen solchen Beschluß anzunehmen. Poskrebyäev übergab dieses Papier weiter um 0.15 Uhr des 21. November 1948. Auf Dokumenten, die heute von der Forschung benutzt werden, finden wir jedoch auch andere Daten. Am 20. November wurde dieser Beschluß von einer "Neunergruppe" im Ministerrat angenommen, am selben 20. November vom Ministerrat bestätigt, worauf am selben 20. November dieser Beschluß vom Politbüro gefaßt wurde. Ich denke, daß es heute unmöglich ist, festzustellen, wann dieser Beschluß wirklich gefaßt wurde. Oder als letztes Beispiel - die Affäre Abakumov. In dieser Angelegenheit hat es drei verschiedene Untersuchungen gegeben. Die erste wurde im Februar 1953 abgeschlossen, von Stalin persönlich begutachtet, und daraufhin wurden die Anklageschrift und das Urteil formuliert. Die Anklage lautete: Abakumov hat im MGB eine zionistische antisowjetische Organisation aufgezogen und die Arbeit des MGB lahmgelegt. Abakumov - Leiter einer zionistischen Organisation! In der Akte werden die Namen Svarcman, Broverman und andere genannt. Im Frühling 1953, nach dem Tode Stalins, wurde auf Anweisung Berijas eine neue Untersuchung durchgeführt. Sie wurde schnell beendet und im Entwurf des Urteils sollte Abakumov zum Tode verurteilt werden. Zur Last gelegt wurde ihm diesmal Mißbrauch seiner Stellung und Mißhandlung von Häftlingen. Die Anklageschrift bezog sich hauptsächlich auf die sogenannte "Mingrelische Affäre". P. Krupnikow: In welchem Monat war das? V. Naumov: März/April/Mai. Abakumov wurde auch die Affäre des JAK angelastet. Vor Gericht kam er, und wurde zum Tode verurteilt, aber im Jahr 1954 für die "Leningrader

Die Vernichtung des Jüdischen Antifaschistischen

Komitees

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Affäre", nach der 3. Untersuchung, mit der nach der Verhaftung Berijas begonnen wurde. Die Strafe und die Anklageformel wurden vor Gericht vom Präsidium des ZK der KPdSU bestätigt. Alle Anklagen in Sachen JAK gegen Abakumov und seine Helfer wurden diesmal fallengelassen. Bei jeder Untersuchung im Falle Abakumov ist der Zeuge Rjumin. Er hat jedesmal mit seinen Aussagen die gegen Abakumov erhobenen Anklagen konkret unterstützt. Er erklärte seine veränderten Aussagen mit dem Druck, der auf ihn im ersten Fall von dem neuen Leiter der Untersuchungsabteilung ausgeübt wurde, im zweiten Fall - von Vladzimirskij und Kobulov. Abschließend sei gesagt, daß in unserer Geschichte Ende 1952 und Anfang 1953 am wenigsten das Problem der politischen Prozesse erforscht wurde. Ich rede sowohl von denen, deren Vorbereitung sich dem Abschluß näherte und von denen, die in großer Eile vorbereitet wurden. Wir wissen nicht, welche Ziele Stalin sich stellte, möglich, daß er auch seinen nächsten Mitstreitern nicht vertraute. Wir wissen aber, daß damals zwei Prozesse gleichzeitig vorbereitet wurden und beide Gruppen der Untersuchungsrichter hatten dieselben Anweisungen, wann die Vorbereitungen abgeschlossen sein sollten. Beim ersten Prozeß sollten die Ärzte vor Gericht kommen, und im zweiten Fall eine Gruppe von "Terroristen" aus der Kreml-Wache und eine Gruppe Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft, die angeblich Attentate gegen die sowjetische Führung vorbereitet hatten. Die Botschaft der USA war in einer schwierigen Lage, denn der Botschafter George Kennan war zu der Zeit nicht in der Sowjetunion und wurde nicht wieder hereingelassen. Die amerikanische Botschaft hatte schon die Forderung der Herausgabe zweier Mitarbeiter erhalten. Welche Ziele verfolgte Stalin mit dem Doppelschuß zweier Prozesse? Das zu klären ist unsere Aufgabe. Das ist alles, was ich sagen wollte. Ich bitte um Entschuldigung für meine lange Rede. Ich wollte nur aufgrund der mir bekannten Dokumente einige Fragen klären und einem jungen Forscher dieses so komplizierten Themas eine kollegiale Unterstützung bieten. (Übersetzung: Peter Krupnikow)

Eitan Finkelstein Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel von 1948 - 1953. Thesen eines Vortrages

Für das Gedächtnis der Nachkriegsgenerationen galten die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel als äußerst feindlich, und mehr noch: als feindlich in symbolischer Hinsicht. In der Rangtabelle der Feinde der Sowjetunion nahm "Israel - Zionismus" anfangs den dritten Platz ein, nach dem amerikanischen "Imperialismus" und dem bundesdeutschen "Revanchismus"; ungefähr um 1967 nahm Israel Platz 2 ein. Was war der tatsächliche Grund dieser feindlichen Beziehungen sowohl im Anfangsstadium in den ersten Nachkriegsjahren als auch im folgenden halben Jahrhundert? Leider haben die Historiker bis heute wenig Möglichkeiten, diese Probleme anhand primärer Dokumente zu analysieren. Trotz der langen Zeit seit 1946 bzw. 1953 sind die diversen Archivbestände beider Staaten versiegelt. Somit ist das Ziel meines Vortrages nicht die Beantwortung dieser Fragen, sondern nur die Formulierung des Problems und die Skizzierung des Rahmens, in den hinein später die heute verschlossenen Dokumente geschrieben werden müssen. Tröstlich bleibt, daß eine richtig formulierte Frage einen Teil der Antwort bereits enthält. Vielfach verstrickte Fäden erklären das scheinbar irrational unverständliche Verhalten Stalins gegenüber allem, was mit dem jüdischen Staat verbunden war. Es waren Probleme der realen Politik, sowohl der Außenais auch der Innenpolitik. Das hatte einen unmittelbaren Bezug zu der neuen Ausrichtung der Nationalitätenpolitik, die Stalin in den Nachkriegsjahren in Theorie und Praxis in seinem Lande zu realisieren versuchte. Gleichzeitig war er - als Kopf der kommunistischen Weltbewegung - gezwungen, der alten marxistischen Ideologie Rechnung zu tragen. Und letztendlich bestimmten seine persönlichen Sympathien und Antipathien, die sich im Laufe der Jahre veränderten und unter dem Einfluß der Umstände

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Eitan Finkelstein

und der Menschen in seiner Umgebung verstärkten oder abschwächten, seine Beziehungen zum jüdischen Staat. Beginnen wir mit den außenpolitischen Bedingungen, die die Entstehung des Staates Israel begleiteten. Das Ende des Zweiten Weltkrieges stellte die Siegermächte vor neue Probleme. Präsident Truman verfolgte die Politik Roosevelts, trug sich mit den Ideen allgemeinen Friedens und der Gerechtigkeit für alle. General de Gaulle ließ nichts unversucht, um die frühere Größe Frankreichs wiederherzustellen. Winston Churchill wollte den Zerfallsprozeß des Empires möglichst zivilisieren. Josef Stalin beschäftigte die Frage, wie Moskaus Macht in den Staaten, in denen sowjetische Truppen standen, zu festigen sei. Den Plänen der Ausweitung des Sowjetimperiums nach Westen und Süden widerstand Winston Churchill am aktivsten. Dementsprechend wurde der britische Imperialismus als Hauptfeind der Sowjetunion betrachtet. Die Macht Großbritanniens wurde in hohem Maße überschätzt, dabei spielten sicherlich auch die Stereotypen der Vergangenheit im Bewußtsein Stalins und seine persönliche Antipathie gegenüber dem britischen Premierminister eine große Rolle. Jedenfalls erklärte Stalin Churchill zum Feind Nummer 1 und versuchte, den Einfluß Londons zu neutralisieren, um seine Ziele in Ost- und Mitteleuropa zu erreichen. Ein Frontalangriff kam dabei aus mehreren Gründen nicht in Frage, hauptsächlich des amerikanischen Atombombenmonopols wegen (die sowjetische Atombombe war noch nicht fertig). Man mußte andere Wege suchen, und die entsprechende Taktik hieß "den britischen Imperialismus an seiner schwächsten Stelle zu treffen". Zu dieser schwächsten Stelle gehörte auch Indien, wo die Mohammedaner und Hindus einen blutigen Krieg führten. Sicher hat Stalin sich vor Freude über diesen Konflikt die Hände gerieben, wußte aber wohl, daß er keine Hebel zur Einmischung hatte. Das Blutvergießen in Hindustan war nicht das einzige Problem des britischen Empires. Ein Herd ernster Konflikte zeichnete sich in Palästina ab, wo die jüdischen Kolonisten einen Partisanenkrieg sowohl gegen die ortsansässigen Araber als auch gegen die englischen Okkupationstruppen führten. Der Konflikt bedrohte London mit großen Komplikationen und bot gleichzeitig für den Kreml große Möglichkeiten zur Einmischung. Vieles zeugt davon, daß Stalin die Entwicklung in Palästina aufmerksam verfolgte und sich dabei folgendes Bild schuf: Jüdische Siedler, in ihrer

Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel 1948 - 1953

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Mehrzahl linksorientierte Werktätige aus Rußland führen einen Kampf gegen den britischen Imperialismus und seine Verbündeten, arabische "reaktionäre Marionettenmonarchien". Das politische Gedankengut jener Zeit und die Psychologie Stalins ließen annehmen, daß der Kremlherr alles unternehmen würde, seinen natürlichen Verbündeten - den jüdischen Siedlern - zu helfen und so den britischen Imperialismus an seiner schwächsten Stelle zu treffen. Stalin hatte schon ähnliche Erfahrungen gesammelt, als er in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die spanische Volksfrontregierung mit Waffen, Geld und "Beratern" unterstützte. Es war anzunehmen, daß Stalin versuchen würde, sich seine Verbündeten in Palästina im Kampf gegen die Engländer soweit Untertan zu machen, daß Palästina in Zukunft ebenso zum Erbgut der Sowjetunion würde, wie er es mit den Staaten Osteuropas plante. Die Existenz solcher Pläne wird in den Erinnerungen des ehemaligen NKVD-Generals Pavel Sudoplatov erwähnt.1 Sudoplatovs Version des Verhaltens Stalins zur Gründung des jüdischen Staates ist aber von niemandem und nirgends bestätigt worden. Der ehemalige General schrieb, daß die Amerikaner und Engländer angeblich in der Nachkriegszeit ihre weitere Hilfe für die Sowjetunion mit der Bedingung der Gründung eines jüdischen Staates (in der Krim) verbunden hätten. Laut der zweiten Version Sudoplatovs waren England und Amerika bereit, der Sowjetunion Hilfe zu gewähren, aber in erster Linie zum Wiederaufbau jener Gebiete in Weißrußland, in denen sehr viele Juden lebten, oder zum Wiederaufbau der Krim. Sudoplatov behauptet, daß Stalin "beschloß, diese Hilfe unter solchen Bedingungen nicht anzunehmen, um so mehr, weil er die Gründung eines jüdischen Staates irgendwo weit von der Sowjetunion entfernt ins Auge faßte. Letzten Endes unterstützte Moskau die Idee der Gründung Israels in Palästina." Sudoplatov setzt fort: "Von Anfang an war diese Idee als antienglische Aktion gedacht. Übrigens wurde die jüdische Frage nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von den Engländern sondiert. Auch wir haben unsererseits London sondiert. Aber als 1945/46 die USA und Großbritannien beschlossen hatten, die Sowjetunion außerhalb der Vorbereitung zur Gründung des jüdischen Staates zu lassen, entschied sich Stalin,

1

Pavel, Α.: Sudoplatov. Special tasks. Boston 1994.

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Eitan Finkelstein

England die Suppe zu versalzen [...] In dem Augenblick, als Moskau merkte, daß die Sowjetunion an der Tätigkeit im Spezialkomitee der UNO zur Palästinafrage gehindert wird, wurde beschlossen, durch einen Rösselsprung eine starke Gruppe Kundschafter-Terroristen nach Palästina zu schaffen. Sie sollten die jüdische terroristische Organisation 'Stern', die gegen die Engländer kämpfte, und andere Organisationen unterwandern, die später Armee, Sicherheitsdienst u.a. Israels bilden sollten [...] Wir hatten seit den dreißiger Jahren Kontakte zum 'Stern' gehalten, diese Organisation litt unter starken inneren Widersprüchen, wir nutzten das, und erreichten einige unserer Ziele." Und noch ein Zitat Sudoplatovs: "Eines der ersten Opfer war Michoels. Er wußte zuviel von den Kremlintrigen mit den Zionisten..." Augenscheinlich ist dieser Teil der Erinnerungen Sudoplatovs ein Echo der Gerüchte und Gespräche, die damals in der Lubjanka gefuhrt wurden und eine spätere Konstruktion des Verfassers zu den Geschehnissen. Was können wir trotzdem aus den Erinnerungen des "verdienten Tschekisten" folgern? Zunächst eines - die "jüdische Bouillon" wurde in der Kremlküche sehr intensiv gekocht und als Chefkoch trat Stalin persönlich auf. Die intensive Infiltration der Agenten des NKVD in Palästina ist aus vielen Spionageprozessen in Israel und aus Erinnerungen anderer sowjetischer Sicherheitsdienstfunktionäre bekannt. Die "Fünfte Kolonne" Moskaus unter den jüdischen Siedlern bestand nicht nur aus infiltrierten Agenten des NKVD, sondern auch aus Leuten der Komintern, Mitgliedern extrem linker, Moskau-treuer politischer Gruppierungen und auch aus begeisterten Anhängern Stalins, des Siegers über Hitler-Deutschland. Die pro-sowjetischen Ansichten waren unter den Juden Palästinas damals sehr verbreitet und die "fünfte Kolonne" Moskaus war so stark, daß der amerikanische Forscher Alfred M. Lilienthal das damalige jüdische Palästina als "Mekka des Kommunismus" bezeichnete. 2 Das war ein wichtiger Faktor das Innenlebens der jüdischen Gemeinde in Palästina und konnte ein überaus mächtiges Motiv für eine aktive und energische Einmischung Stalins in die Angelegenheiten Palästinas sein. Es verwundert, daß Stalin, im Besitz solcher Trümpfe, sehr langsam und vorsichtig vorgegangen ist. Bekanntermaßen hat Moskau die Juden Palästinas militärisch unterstützt. Aber die Waffenlieferungen kamen auf Umwe-

2

Lilienthal, Alfred M.: There Goes the Middle East. New York 1957.

Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel 1948 - 1953

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gen nach Palästina, aus der Tschechoslowakei, und es waren deutsche oder tschechische Beutewaffen, keine sowjetischen, und die Waffen wurden nicht verschenkt, sondern verkauft: sie wurden von den Juden Palästinas voll bezahlt. In den Archiven Moskaus und Prags lagern sicher Dokumente über Bedingungen und Umfang dieser Waffenlieferungen. Es muß auch objektiv geklärt werden, welche Rolle die Waffen aus der Tschechoslowakei im Krieg Israels mit den arabischen Ländern gespielt haben. Das könnte Licht in das Dunkel der Beziehungen zwischen Israel und der Sowjetunion in jener Zeit bringen. Unbezweifelbar ist eins: Stalin handelte in Palästina lange nicht so entschlossen und umfassend, wie das die strategischen Interessen der Sowjetunion gefordert hätten und wozu in Palästina günstige Bedingungen herrschten. Warum? Glaubte er vielleicht nicht an den Erfolg der Juden im Kampf mit den Engländern und Arabern? Der Sieg der Juden an und fur sich war für ihn gar nicht so wichtig, ihm hätte auch eine Niederlage der jüdischen Siedler genügt; die Hauptsache war fur ihn, daß der Kampf mit den Engländern möglichst lange dauert und so dramatisch wie möglich verläuft. Falls man annimmt, daß Stalin anfangs nicht daran glaubte, daß es möglich sein könnte, mit Hilfe der Juden den Engländern zu schaden, stellt sich die Frage, warum er die von ihm erwarteten Schritte nicht unternahm - mit Ausnahme einer verhaltenen diplomatischen Unterstützung,3 als die Erfolge der Siedler augenfällig wurden und im Mai 1948 von ihnen ein jüdischer Staat ausgerufen wurde. Vielleicht hat Stalin irgendwelche Bedingungen gestellt, die die Siedler nicht angenommen haben. Es gibt genügend Gerüchte, die besagen, daß "Ben Gurion die Forderungen des Kreml abgelehnt" hatte, oder daß "Stalin sich von den Juden Palästinas abwandte, als er sich davon überzeugte, daß sie einen demokratischen Staat gegründet hatten." Aber es fehlen Dokumente über Verhandlungen zwischen Moskau und Tel Aviv, über irgendwelche Forderungen Stalins und über Erwiderungen seitens Ben Gurion. Und trotzdem ist im breiten politischen Kontext die Antwort auf diese Frage klar: das außenpolitische Problem Palästinas war aufs engste mit der Innenpolitik Stalins

3

Lilienthal, Alfred M.: What Price of Israel. Chicago 1953.

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verbunden. "Der Vater der Völker" verstand sehr gut, daß ein "A" in der Palästinafrage ihn zu einem "B" zwingen würde. D.h. es hätte ihn gezwungen, mit dem jüdischen Palästina enge Beziehungen aufzunehmen und dorthin nicht ein oder mehrere Hunderte "Berater" und "Kämpfer" zu schicken, sondern Tausende, vielleicht Hunderttausende sowjetischer Juden. Das hätte eine radikale Veränderung seiner Prinzipien in der jüdischen Frage und vor allem seiner Nationalitätenpolitik im allgemeinen gefordert. Er hätte die Juden als eine Nation bezeichnen müssen, was Stalin als Theoretiker des Marxismus-Leninismus immer verneint hatte. Er hätte ebenfalls die Verwandtschaft und Gemeinschaft der sowjetischen Juden mit ihren Brüdern im Ausland und ihr gemeinsames Recht auf einen Nationalstaat anerkennen müssen. Das alles widersprach entschieden seinen Vorstellungen und Plänen. 1936 verkündete Stalin, daß in der UdSSR der "Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft" beendet worden sei. Tatsächlich waren zu dieser Zeit die dem Proletariat "feindlichen Klassen" praktisch vernichtet, aber am Horizont zeichnete sich ein neuer Feind, der Nationalismus, ab. Eigentlich kam der Dschinn nicht ohne Stalins Hilfe aus der Flasche. Schon vor dem Krieg kam Stalin zu dem Schluß, daß der proletarische Internationalismus im Falle eines Krieges zu einer gefährlichen Ideologie mutieren könnte. Man mußte erreichen, daß der Soldat der Roten Armee aufhört, im Soldat der feindlichen Armee einen "Proletarier im Soldatenrock" zu erblicken. Der Rotarmist sollte vor sich einen Feind, der vernichtet werden mußte, erblicken. Dementsprechend übernahm die sowjetische Propaganda mehr und mehr die Thesen des Patriotismus, der in den ersten Tagen des Krieges endgültig die veraltete Klassenideologie ersetzte. Den Punkt auf dem i setzte der Kremlherr selbst: bei der realen Bedrohung einer militärischen Niederlage versuchte Stalin den russischen Großmachtschauvinismus zur Unterstützung der Roten Armee zu mobilisieren, ebenso die Religion, den Nationalismus der kleinen Völker, die russischen Emigranten, das Geld der Kapitalisten - all das, was noch vor kurzem als "konterrevolutionär" bezeichnet wurde. Damals wurden auch die "antifaschistischen Komitees" unterschiedlicher sowjetischer Kreise - das slawische, das jüdische, der Frauen u.a. gegründet. Es entstand der Propaganda-Slogan "Tod den deutschen Okkupanten".

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Es ist leicht, den Dschinn aus der Flasche herauszulassen, schwerer ist es, ihn zurückzustopfen: während des Krieges kam in der Sowjetunion eine Welle des Chauvinismus, Nationalismus, Antisemitismus auf. Jetzt hatte Stalin die Aufgabe, diese Welle in ein ihm genehmes Fahrwasser zu lenken. Es konnte keine Rede mehr von der Rückkehr zu den Prinzipien des proletarischen Internationalismus Leninscher Prägung sein: Stalin baute ein riesiges Imperium auf, das sich auf die allmächtigen Repressionsorgane innerhalb des Landes und auf die Macht seiner Streitkräfte außerhalb der Sowjetunion stützte. Die abstrakte, revolutionäre Phraseologie entsprach nicht mehr den Forderungen des Tages, den Nationalismus aber meinte Stalin als Waffe zu gebrauchen, mit deren Hilfe man die verarmten, hungrigen Menschen unter schwersten Bedingungen zwingen konnte, Panzer, Flugzeuge und unterirdische Städte zu bauen. Die neue Ideologie forderte eine noch dichtere Schließung der Grenzen und für das Volk die Schaffung eines klaren Feindbildes. Stalin ergriff die Initiative, gegen Ende des Krieges wurden 14 Völker des Verrats angeklagt und zur Deportation verurteilt. Später betraf das einen großen Teil der Einwohner der baltischen Republiken, der Ukrainer und der "Nationalisten" anderer Völker der Sowjetunion. 4 Aber es betraf die russischen Nationalisten nicht: der Kremlherrscher verwandelte den russischen Großmachtschauvinismus in seine ideologische Hauptwaffe. Parallel dazu verstärkte Stalin den Eisernen Vorhang: Heiraten von Sowjetbürgern mit Ausländern wurden untersagt, die Korrespondenz mit dem Ausland praktisch unterbunden, Verwandte im Ausland bedeuteten für den Sowjetbürger beinahe ein Verbrechen. Konnte sich Stalin unter diesen Umständen erlauben, die Juden als Ausnahmefall zu behandeln? Sicherlich nicht. Mehr noch, die Juden paßten am besten in die Rolle des allgemeinen konkreten Feindes. Die Vorbereitung zu dieser Kampagne begann schon früh. Trotz der unvergleichlich großen Teilnahme sowjetischer Juden am Krieg gegen das Dritte Reich wurden schon während des Krieges intensiv Gerüchte verbreitet, daß die Juden nicht gekämpft, sondern "in Taschkent die Zeit in Sicherheit verbracht" hätten. In den westlichen Gebieten der Sowjetunion erwartete die Juden, die aus der Evakuierung zurückkamen, Anfeindung und

4

NekriC, Α.: Nakazannye narody [Die bestraften Völker]. New York 1978.

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Verfolgung. Nicht selten wurden sie nicht in die eigenen Häuser gelassen, bekamen keine Arbeit, wurden nicht angemeldet. Jüdische Schulen, Zeitungen, Theater usw. wurden nach Ende des Krieges nicht erneuert. Die zentralen Instanzen erhielten eine Unmenge von Klagen darüber, aber es änderte sich nichts, und das bedeutete, daß die Administration vor Ort nicht spontan, sondern auf Anweisung von oben handelte.5 Dokumente dieser Zeit würden Stalins damalige Pläne verständlich machen. Während die jüdischen Siedler in Palästina einen verzweifelten Kampf gegen die Mandatsmacht führten und auf die Hilfe des "ersten sozialistischen Staates" hofften, trug sich Stalin schon mit Plänen zur Zerschlagung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und zur Kampagne des "Kampfes gegen die vaterlandslosen Kosmopoliten". Das war die Vorbereitung der späteren "Ärzte-Affäre". Das erklärt seine äußerste Vorsicht und Unentschiedenheit in der Palästinafrage. Sicher, die Sowjetunion hat als einer der ersten Staaten Israel de jure anerkannt, und die israelfreundliche Rede des sowjetischen Vertreters in der UNO, Andrej Gromyko bei der Abstimmung zur Frage der Teilung Palästinas6 weckte bestimmte Hoffnungen der Juden. Aber das alles waren nur zeitweilige Schwankungen Stalins. Sicher hat er 1948 endgültig entschieden, daß "die jüdische Karte" im Kampf gegen den britischen Imperialismus höchstens eine Sechs, aber in der Innenpolitik ein As bedeutet. Im Januar 1948 wurde Michoels ermordet, es begann eine intensive Vorbereitung zu den antijüdischen Prozessen, die später zum Anlaß für die großangelegte Verfolgung dieses Volkes dienen sollte. Die sowjetischen Juden erwartete nicht das Schicksal der "Patrioten im Kampf gegen den britischen Imperialismus", sondern die Rolle der "Agenten des Zionismus, der Spione und Verräter." In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu verstehen, wie die andere, die israelische Seite, die Situation bewertete und was sie zu erreichen versuchte. David Ben Gurion, der den Kampf der jüdischen Gemeinde gegen die Araber Palästinas und die Briten führte, war ein Mann linker Überzeugungen. In seiner Jugend war Lenin für ihn ein Idol, und er nannte sich

5

Oierki Istorii evrejskogo naroda [Skizzen zur Geschichte des jüdischen Volkes]. Pod red. S. Ettingera. Tel Aviv, 1979. 6 Ibid.

Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Israel 1948 - 1953

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damals einen Bolschewik.7 Jetzt aber, in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre waren das tempi passati und Ben Gurion wurde zu einem harten Realpolitiker. Die Realität war damals: die Juden Palästinas konnten entweder siegen oder untergehen. Sie brauchten dringend konkrete Hilfe und keiner beeilte sich damit. In seinen Erinnerungen schreibt Ben Gurion, daß der jüdische Staat in Palästina früher oder später vernichtet würde, wenn es nicht gelingen würde, die Unterstützung einer der Großmächte zu erreichen. Welche Großmacht aber konnte damals als Patron des jüdischen Staates im Zentrum der arabischen Welt auftreten? Die Vereinigten Staaten meinten, daß die Zeit des Kolonialismus endete und daß die Völker Asiens und Afrikas sich nach der Befreiung von der Herrschaft der europäischen Staaten unter dem Banner der Demokratie und des Fortschritts sammeln würden und daß die Vereinigten Staaten ihnen als leuchtendes Vorbild dienen würden. In Washington meinte man, daß die arabischen Staaten in kürzester Zeit unabhängig sein würden und daß alles getan werden mußte, um die Blicke ihrer Führer in westliche Richtung zu lenken. In den Vereinigten Staaten hatte man natürlich Mitgefühl für die Opfer des Holocaust: Amerika empfing Hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus Europa, aber die Bildung eines winzigen jüdischen Staates im Herzen der arabischen Welt konnte nach Meinung Washingtons das jüdische Problem nicht lösen, wohl aber die Beziehungen des Westens mit den Arabern erschweren. Es gab damals in Washington keine israelische Lobby, und in den Augen vieler amerikanischer Juden waren die zionistisch-sozialistischen Führer der Juden in Palästina recht verdächtige Leute. Natürlich gab es in Amerika einzelne, die Geld spendeten und halfen, Waffen für Palästina zu beschaffen, aber sie handelten auf eigene Faust. Der Ankauf von Waffen, das Spendensammeln und der Transport von Freiwilligen nach Palästina wurde damals von einer kleinen Gruppe tollkühner Idealisten durchgeführt, die buchstäblich Wunder vor der Nase der Sicherheitsdienste der ganzen Welt bewirkten. Da die Siedler in Palästina isoliert waren und die Welt sich ihnen gegenüber gleichgültig verhielt, waren die Waffen, die man aus der Tschechoslowakei erhielt, auch deshalb wichtig, weil hinter diesen Lieferungen

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Bar-Zohar, M.: Ben Gurion. Biography. Tel Aviv 1980.

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Moskau stand. Das bedeutete vieles, aber was konkret? Größere Waffenlieferungen im Falle militärischer Erfolge? Öffentliche Unterstützung? Massenrepatriierung der Juden aus der Sowjetunion? Vielleicht endlich die Unterstützung einer Großmacht, auf die viele in Palästina hofften? Hat es damals direkte Kontakte der Führung der jüdischen Gemeinde und des Kremls gegeben? Was bedeuten die Worte Sudoplatovs, daß Michoels ermordet wurde, weil er "zuviel von den Kremlintrigen mit den Zionisten wußte"? In der Zeit des ersten arabisch-israelischen Krieges gab es in Moskau Gerüchte darüber, daß "irgendwo oben" eine Regierung für Palästina mit Lazar' Kaganoviö an der Spitze gebildet wird. Waren das reine Fabeln oder hatten diese Gerüchte eine Grundlage? Wurden den jüdischen Führern in Palästina irgendwelche Vorschläge dieser Art gemacht? Eines ist klar - Ben Gurion hätte niemals Hilfe angenommen, die mit einem direkten politischen Diktat verbunden gewesen wäre; beim Kampf um die Macht war Ben Gurion tatsächlich ein guter Schüler Lenins. Sogar in den kritischsten Augenblicken des Kampfes um die Existenz der jüdischen Gemeinde in Palästina war er zu keinem Kompromiß mit den rechten Zionisten bereit. Im Gegenteil, er befahl, Feuer auf den Dampfer "Altalena" zu eröffnen, auf dem sich jüdische Flüchtlinge, Anhänger Begins und Waffen für dessen Kampforganisation befanden. 8 Erst recht wäre Ben Gurion nicht bereit gewesen, ein Diktat politischer Art von Moskau zu akzeptieren. Und trotzdem hat es damals scheinbar keinen scharfen Konflikt oder gar einen Bruch der Beziehungen zwischen Moskau und Tel Aviv gegeben. Sonst wäre Golda Meir nach der Ausrufung des jüdischen Staates nicht zur Botschafterin in Moskau ernannt worden. In der Hierarchie des zionistischen Establishments befand sich Golda Meir auf einer der höchsten Stufen. Sie gehörte zum engen Kreis um Ben Gurion und konnte sicher mit einem Ministerposten in seiner Regierung rechnen. Jetzt aber fuhr sie als Botschafterin in die sowjetische Metropole. Sicher konnte sie das Land in so einem kritischen Augenblick nur verlassen, weil sie in Moskau eine Mission besonderer Art zu erfüllen hatte.

8

Ibid.

Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion

und Israel 1948 - 1953

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Aber welche Mission? Wir verfügen noch immer nicht über Dokumente oder Zeugnisse darüber (in ihren Erinnerungen verliert Golda Meir darüber kein Wort),9 aber es ist anzunehmen, daß sie vorhatte, sich mit Stalin innerhalb eines breiten Spektrums zu verständigen. Sicher haben sie Fragen militärisch-wirtschaftlicher und diplomatisch-politischer Unterstützung des jungen Staates zuallererst interessiert. Viel problematischer war die Möglichkeit einer Einigung über die Massenauswanderung sowjetischer Juden. Die zionistischen Führer hatten recht allgemeine Vorstellungen von der Lage in der Sowjetunion, schlossen aber nicht aus, daß Stalin - vielleicht! - Israel energisch unterstützen könnte, und daß dadurch alle Fragen gelöst werden würden... Die Tätigkeit Golda Meirs als erste Botschafterin Israels in Moskau ist von vielen Legenden umwoben. Ihr wurde die Überreichung eines Verzeichnisses an Stalin zugeschrieben, mit den Namen sowjetischer Juden, die den Wunsch hatten, nach Palästina zu fahren. Ihr wurde die Schuld an der Verhaftung der Frau von Molotov - Polina 2emöu2ina - und an vielem mehr gegeben. Golda Meir selbst hat diese Beschuldigungen von sich gewiesen und behauptet, daß sie sich mit Stalin nicht getroffen, und mit lemöuiina nur einmal einige nichtssagende Phrasen gewechselt habe. Sicher hat Stalin die Bedeutung erfaßt, die die Sendung dieser Botschafterin aus der politischen Spitze des Staates Israel hatte. Hat er von Anfang an alle Versuche der Botschafterin, in Moskau etwas zu erreichen, abgewiesen (was man aus den Behauptungen Golda Meirs schließen kann), oder hat doch ein Dialog stattgefunden? Möglicherweise hat Golda Meir einen Zugang zu Stalin gesucht (vielleicht sogar durch Frau Zemöuiina?), aber solche in der westlichen diplomatischen Praxis üblichen Schritte hätten Stalin nur geärgert. Tatsache ist: die Mission Golda Meirs in Moskau endete mit einem Fiasko, sie hat in Moskau nichts erreicht und mußte Moskau ohne Wahrung diplomatischer Höflichkeiten verlassen. Das sollte zweierlei Fragen klären. 1. Stalin verweigerte Israel seine Unterstützung und gab 2. klar zu verstehen, daß von einer Auswanderung eines Teiles der sowjetischen Juden nach Israel keine Rede sein konnte.

9

Meir, G.: Afy Life. Jerusalem 1986.

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In Tel Aviv verstand man die Bedeutung des Fiaskos Golda Meirs. Schwer zu sagen, ob Ben Gurion deswegen enttäuscht gewesen ist, denn in bestimmtem Sinne hatte er etwas gewonnen. Die linken und extrem linken Kräfte, die seine ernsten Konkurrenten im Kampf um die Macht waren, verloren ihren Haupttrumpf, die Unterstützung durch die Sowjetunion. Die fünfte Kolonne Moskaus zeigte keine Aktivitäten, die weit verbreiteten prosowjetischen Stimmen verloren an Bedeutung. Die Feindschaft Moskaus zwang Ben Gurion zur Suche nach Unterstützung im Westblock. Mehr noch, der Anstieg des Antisemitismus in Moskau und die offene Feindschaft gegenüber dem Zionismus löste bei einem Teil der Einwohner Israels scharfen Protest aus. Im Februar 1953 warf ein Fanatiker eine Bombe auf das Territorium der Sowjetbotschaft in Ramat Gan. Dies diente Moskau als Anlaß, seine diplomatischen Beziehungen mit Israel abzubrechen, und obwohl sie im Juli 1953 - nach dem Tode Stalins - wieder erneuert wurden, kam man in Tel Aviv zu dem Schluß, daß eine parallele Struktur zur Unterhaltung von Kontakten mit sowjetischen Juden und den Juden in den Staaten des Ostblocks geschaffen werden mußte. Im selben Jahr wurde das "Kontaktbüro mit den Juden Osteuropas und der Sowjetunion" gebildet. Die Beziehungen beider Staaten verlagerten sich in die Illegalität und in die Tätigkeit der Sicherheitsdienste. Zweifellos - die politische und militärische Aktivität der Sowjetunion in Nahost, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre in der Investition vieler Milliarden in die arabischen Staaten dieser Region äußerte, war durch die Supermachtsansprüche zu erklären. Die Tatsache, daß Moskau im Kampf mit dem Westen die arabische Karte ausspielte, war mit der inneren Nationalitätenpolitik Stalins und seiner Nachfolger zu erklären. Damit ist auch die notorische Feindschaft gegenüber Israel zu erklären, die 50 Jahre lang weit über das außenpolitische Maß hinaus ging. (Übersetzung: Peter Krupnikow)

Peter Krupnikow Juden im Baltikum 1945-1953

Leonid Luks Wir setzen unsere Tagung mit einem Vortrag von Professor Peter Krupnikow fort. Zuvor einige Worte zu Herrn Krupnikow. Er war bis zu seiner Emeritierung Geschichtsprofessor an der Universität in Riga und einige Jahre auch an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist ein ausgezeichneter Kenner der deutsch-russischen Beziehungen und hat mehrere Bücher über das Dreieck Baltikum-Rußland-Deutschland veröffentlicht. Nun wird er uns seine Erlebnisse schildern. Neben Herrn Goldstücker gehört er zu den wenigen Zeitzeugen. Er hat die antikosmopolitische Kampagne als Zeitzeuge erlebt und nachdem wir die Erlebnisse eines Schriftstellers und Diplomaten gehört haben, werden es jetzt die Erlebnisse eines Historikers sein.

Peter Krupnikow Nur Erlebnisse allein genügen nicht, es muß schon ein bißchen Geschichte sein, wenn ich dieses Thema behandele. Also: Das Baltikum, das war seinerzeit Estland und Lettland und seit 1918 gehört auch Litauen zu den baltischen Staaten. Ich werde aus drei Gründen über Lettland sprechen. Erstens einmal kenne ich es viel besser als Estland und Litauen. Zweitens, weil es eine Mittelstellung einnahm. Die Esten hatten ganz wenige Juden. Die Litauer hatten sehr viele Juden. Bei uns war das so ein Mittelding, wir hatten fünf Prozent jüdische Einwohner. Das dritte, was in diesem Falle wichtig ist: Lettland hatte zur kommunistischen Zeit die unselbständigste Führung. Die Litauer hatten es verstanden, sich Moskau gegenüber eine bestimmte besondere Stellung zu erkämpfen. Die Esten wurden dafür 1951 geschlagen,

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haben trotzdem dank des Volkscharakters eine gewisse Eigenständigkeit erhalten können. In Lettland machte man alle Wenden und Wendungen der Moskauer Politik durch und deswegen konnte man die Moskauer Politik besser bei uns verstehen. Jetzt zur Lage der Juden. Also einfach einige Tatsachen. 1915, bevor die deutsche Armee nach Litauen und nach Kurland kommt, erklärt der russische Oberbefehlshaber, Großfürst Nikolaj Nikolaeviö, daß die Niederlagen der russischen Armee in Litauen mit dem Massenverrat der Juden zu erklären sind. Die Juden seien deutsche Spione und deswegen kommt der Befehl, alle Juden aus der Frontlinie, aus der Frontzone zu deportieren. Und in Kurland, also in Südlettland werden alle Juden deportiert, außer in den Kreisen und Städten, wo die deutschen Armeen bereits waren. Später machte Gendarmerie-General Kurlov Untersuchungen und stellte fest: Die Juden waren gar nicht schuld, es waren ganz andere Umstände, aber die Juden waren schon deportiert. Aber die deutsche Armee war die Retterin für die, die nicht deportiert wurden. Ab 1915 bis 1918 gibt es eine deutsche Okkupation, also am Anfang in Kurland und später in Riga, dann in Nordlettland und Estland. Im Verständnis vieler Letten, die während dieser Okkupation von den Deutschen sehr unterdrückt wurden, waren die Juden das Liebkind der deutschen Okkupanten im 1. Weltkrieg. Das spielte 1941 eine große Rolle. Viele blieben, flohen nicht, weil sie sagten, wir kennen ja die Deutschen, ein bißchen schlimmer werden sie sein durch Hitler, aber im Prinzip kennen wir sie. 1919 nehmen die Juden am Befreiungskampf teil und es gibt sehr viele jüdische Offiziere und Träger lettischer Orden. Die Erinnerungen der lettischen Schriftstellerin Ivande Kaija vermerken zur Einnahme Rigas am 22. Mai 1919 durch die deutsch-baltische Landeswehr: Es freuen sich nur die Deutschen und die Juden. Die Letten faßten es als eine Katastrophe auf. Nicht deswegen, weil sie die Befreiung von den Bolschewiken als Katastrophe auffaßten, aber weil es die Deutschen waren, die sie in diesem Falle befreit haben. Nennen sie mir neben der Hauptstadt der Republik Lettland (1918-1940) eine zweite Stadt in Europa, wo acht Völker Schulen in neun Sprachen (die Juden hatten Schulen in Jiddisch und Ivrit) unterhalten haben. Theater in vier Sprachen. Eine sechssprachige Presse. Also wir hatten einen wirklichen Vielvölkerstaat. Dabei, das muß man sagen, nicht eine so progressive Minderheiten-Politik wie in Estland, aber eine recht progressive. Dessenun-

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geachtet gibt es auch Verschärfungen. Die deutsch-lettischen Beziehungen waren kompliziert, besonders wegen einiger Maßnahmen der lettischen Regierung. Später erhielt deswegen das Dritte Reich Einfluß unter den deutschen Einwohnern. Die lettischen Faschisten machten den Vorschlag, 20 Prozent der Einwohner Lettlands zu vertreiben: Russen 12 Prozent, Deutsche beinahe 4 Prozent, Juden 5 Prozent, also ein Fünftel der Bevölkerung muß vertrieben werden. 1933/34 gibt es solche Pläne und darüber gibt es Literatur. Als 1940 die Wehrmacht mehrere westeuropäische Staaten überrennt und Polen bereits überrannt war, kommt die Rote Armee nach Riga; am Anfang - das kann ich beweisen, falls jemand daran Zweifel haben sollte - verstand man nicht recht, was da auf Lettland, ebenfalls auf Estland und Litauen zukommt. Also man kann beweisen, daß sogar sehr bedeutende Politiker, inklusive unser Diktator Ulmanis dachten, daß man sich irgendwie so in einer Sonderstellung halten würde, aber das, was später kam, war etwas ganz anderes. Aber recht viele Juden waren unter denen, die die Rote Armee im Juni 1940 begrüßten und das war später so ein starkes Propagandamaterial gegen sie. Sehr bald kommt die Ernüchterung. Es gibt ein hochinteressantes Dokument von Heydrich an Ribbentrop vom 1. Oktober 1940, ein Papier über die Lage in Lettland. Ein solches Papier entsteht nicht an einem Tage, man muß doch Material sammeln, es muß doch eine bestimmte Spionagetätigkeit existieren, um alle diese Dinge zu erfahren. Und da wird u.a. festgestellt, daß in Lettland Enttäuschung herrscht. Erstens die lettischen Arbeiter, zweitens die lettländischen Kommunisten und drittens die Juden sind von der Sowjetmacht enttäuscht. Und da kommt also am 13./14. Juni 1941 diese schreckliche Massendeportation, die wir erlebt haben. Nach zehn Tagen ist ja Riga schon mitten im Kriege und nach 16 Tagen wird Riga von der Wehrmacht okkupiert und später wird diese Deportation in der nationalsozialistischen, lettischen und deutschen Propaganda als ein Judenwerk vorgestellt. Das wirkt übrigens noch sehr stark nach: Bis heute muß man manchmal das Gegenteil beweisen. Im vorigen Jahr druckte das lettische Staatsarchiv ein namentliches Verzeichnis aller Deportierten mit statistischen Angaben. Und es stellt sich heraus, daß keine einzige nationale Gruppe in Lettland so gelitten hat, wie die Juden. Ein Beispiel: In einer Stadt wie Libau wurden 510 Mann deportiert, 170 davon Juden. Das ist ein Beispiel dafür, wie sehr die Deportation sie betroffen hat, proportioneil nämlich doppelt so stark wie die Letten.

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1941/45 sind also nicht alle weg. Es ist ein großer Teil geblieben, die Mehrzahl ist geblieben und die kommt unter den Holocaust. Die anderen flüchteten nach Osten. Ich war darunter und kam später als Freiwilliger in die 201. lettische Schützendivision und bin beinahe den ganzen Krieg in lettischen Truppenteilen der Roten Armee gewesen, war am Ende Kompaniechef. Ich muß sagen, das war schon aus einem Grunde eine sehr wichtige Zeit, weil sich in beiden lettischen Divisionen die Vertreter der verschiedenen Nationalitäten sehr zusammengetan haben. Die nationalen Unterschiede, die in den Friedenszeiten so auffallend waren, die verschwanden in großem Maße. Interessant ist folgendes. Es war ca. 1943, ich gehörte dem lettischen Reserveregiment an und hatte als wachhabender Offizier des Regiments die Wachablösung gemacht, da wurde ich in den Stab gerufen und mein Freund KaktinS zeigte mir ein Papier aus Moskau, da steht: Das Regiment muß zehn Mann nach Moskau in die höhere diplomatische Schule schicken, die jetzt eröffnet wird. Und er sagt mir, weißt du, der stellvertretende Regimentskommandeur hat schon gesagt, die, die, die und dich hat er auch u.a. genannt, weil du ja einige Sprachen kennst usw. Und am nächsten Tag treffe ich KaktinS, und er sagt, weißt du es ist ein neues Papier aus Moskau gekommen heute am Morgen und da steht: Nur Vertreter der lettischen Bevölkerung, keine Russen, keine Juden, und deswegen bist du und mehrere Russen gestrichen worden. Also, das ist ein Beispiel, wo man eine bestimmte Politik fühlte. Nun, 1945 setzte sich die jüdische Bevölkerung Lettlands aus folgenden Gruppen zusammen: erstens - die wenigen, die sich gerettet hatten, an Ort und Stelle, denn einige wurden gerettet. Ich möchte einen Mann nennen, der 50 Juden, auch russische Kriegsgefangene und Deserteure aus der lettischen Legion gerettet hat: Das ist, mit seiner Familie, der einfache Hafenarbeiter Zanis Lipke, der, das muß ich mit Nachdruck sagen, jahrelang sein Leben riskierte und den man in diesem Zusammenhang nennen muß. Dann kamen Gerettete, die in Deutschland im KZ gewesen waren. Sie alle waren vom Standpunkt des sowjetischen Sicherheitsdienstes aus suspekt: Wieso sind sie am Leben geblieben? Ich habe viel darüber von diesen Juden gehört. Aber einmal, das verdient erwähnt zu werden, in den siebziger Jahren war ich bei einem russischen Studenten zu dessen Geburtstag eingeladen und sein Vater hatte mit mir ein Gespräch. Da stellte sich heraus, der Vater war 1945 Offizier in einem Filtrierungslager, wo diese

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verschiedensten Menschen, die aus Europa zurückkamen, "filtriert" wurden; dieser Mann erzählte mir, daß er mit einer Gruppe von Juden zu tun hatte und herausfinden mußte, wieso, auf welche Weise und durch welchen Verrat sie sich gerettet hatten. Und er sagt, wissen Sie, ich habe verstanden, was für ein Schwein ich bin, in dem Augenblick, als nach dem 20.Verhör ein kleiner, ganz abgemagerter Jude plötzlich mit der Faust auf dem Tisch knallte und sagte, wissen Sie, Genösse Major, wenn ich gewußt hätte, was ich hier bei Ihnen jetzt erleben werde, dann wäre ich selbst in den Ofen gekrochen, damit ich nicht diese Schweinerei erlebe, von Ihnen immer wieder die Frage jede Nacht zu hören, wieso haben Sie sich gerettet. Einfach so ein Beispiel, wie ein Offizier später verstanden hat, welche Rolle er gespielt hatte. Zweitens hat es die lettländischen Juden gegeben, die aus der Roten Armee kamen. Zur dritten Gruppe gehörten die sogenannten sowjetischen Juden, die nach Riga kamen und zur vierten die lettländischen Juden, die nach Sibirien deportiert waren, die also letztendlich durch die sowjetische Deportation gerettet worden waren. Nun es gab einen Umstand, der die Stimmung sehr verdorben hat, ungeachtet dessen, daß der Sieg im Kriege und die Errettung viel bedeutete. Das war dieser schlimme, wahllose Terror in Lettland und ebenfalls in Litauen und in Estland und auch überall überhaupt. Ich hatte Gespräche mit alten Frauen auf dem Lande, und fragte sie, wie ist es hier in der Gemeinde? Ja, sagen sie, da ist der und der verhaftet worden. Das ist gut, daß er verhaftet ist, der hat 1941 elf verwundete Rotarmisten, die also nicht weiter flüchten konnten, persönlich erschossen. Da wurde mir auch erzählt, es sind die und die verhaftet worden, aber die sind unschuldig und trotzdem sind sie verhaftet. Und ich war nach einem halben Jahr wieder in dieser Gemeinde und fragte bei denselben Frauen, wie ist diesen Leuten ergangen, die unschuldig verhaftet wurden? Da sagten sie, die seien alle verurteilt und solche Gespräche hatte ich viele. Es war gerade die Wahllosigkeit dieses Roten Terrors damals, die viele empörte. Nun und dann kamen solche Ereignisse. Also von der einen Seite fühlte man eine Veränderung in der Politik nicht nur den Juden, sondern allen Minderheiten gegenüber. So blieben z.B. nur lettische und russische Schulen. Es wurden keine jüdischen Schulen erneuert. Die litauischen Schulen wurden geschlossen, die weißrussischen, die estnischen (die deutschen

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waren seit 1939 sowieso weg). Das polnische Gymnasium erhielt sich noch zwei Jahre und dann wurde es auch geschlossen. Nur zwei Sprachen wurden demnach von der politischen Führung geduldet. Die übrigen Sprachen haben sich in den Kirchen erhalten. Also in der katholischen Kirche Litauisch und Polnisch usw. Es gab sogar einen Gottesdienst auf Deutsch bis in die letzten Jahre. Als die jüdische Gemeinde in Riga das jüdische Theater erneuern wollte, wurde dies nicht gestattet. Auch die Polen wollten ein Theater haben. Ihre Bitte wurde aber ebenfalls abgewiesen. Die Polen sagten: Wir finanzieren es selbst. Wir bekommen aus Polen vielleicht Geld. Nein, auf keinen Fall. In der Kaderpolitik ließ sich beobachten, daß die Juden eindeutig diskriminiert wurden. Gleichzeitig erscheint aber in der Zeitschrift Bolschewik, dem theoretischen Zentralorgan des ZK in Moskau, ein Artikel und plötzlich, am Ende des Artikels, wird von Antisemitismus gesprochen und dem Baltikum - konkret Lettland - wird vorgeworfen, daß es dort solche schreckliche Sachen wie antisemitische Erscheinungen gibt. Also man konnte nicht richtig verstehen, wie das eigentlich lief. Manchmal erklärte man die Tatsache, daß dieser oder jener Jude, diesen oder jenen Posten nicht erhalten hat, damit, daß das Volk nicht denken soll: das ist eine jüdische Macht. Man hatte also Angst vor den propagandistischen Klischees, die in der Zeit der NS-Okkupation geherrscht hatten. Ich war in einer Hinsicht in einer vorteilhaften Situation: Mehrere meiner ehemaligen Kameraden aus dem Regiment waren nach dem Kriege sehr bald im Parteiapparat aufgestiegen, einige waren im ZK auf niedrigeren Positionen und ich erhielt Informationen darüber, was dort in internen Gesprächen gesagt wurde. Nun und dann kam diese israelische Geschichte, die Gründung des Staates Israel und die allgemeine Stimmung im ZK war, das ist unser Land im Nahen Osten. Wir hatten als Reserveoffiziere jeden Monat einmal ein Treffen mit theoretischen Übungen, und ich treffe einen Mann und wir gehen so ein bißchen Cognac trinken und da sagt er zu mir: Ja, ich denk an dich die ganze Zeit. Ich frage warum? Er: Siehst du mal, ich wurde einmal angefragt, wenn ich Griechen habe, soll ich sie nach Moskau schicken und später fuhren sie zum Partisanenkampf dort nach Nordgriechenland. Und dann wurde ich einmal gefragt, ob ich Koreaner habe, aber ich hatte keine Koreaner und dann verschiedenes andere, sagt er. Aber jetzt warte ich jeden Tag, daß man nach Juden fragen wird, und du bist bei mir natürlich als

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Kompaniechef einer der Ersten, die ich in so einem Fall nach Moskau schicken werde. Ich habe ihn noch mehrere Male getroffen, jedes Mal sagte er mir, aus Moskau gebe es keine Anfrage. Aber er war absolut darauf vorbereitet, daß die Sowjetunion dorthin ihre Leute schicken würde. Ich muß sagen, daß die Vernichtung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees eigentlich wenig bemerkt wurde. Ich habe davon einfach deshalb erfahren, weil ich die Manier hatte, mit Menschen, die etwas wissen könnten, zu sprechen, aber ich habe eine Unmenge Bekannter, die überhaupt erst nach Jahren davon erfahren haben. Worüber im ZK, also in einer internen Besprechung gesprochen wurde, erzählte mir einer meiner ehemaligen Kompaniekollegen; das war dieser Empfang, der der israelischen Botschafterin Golda Meirson, später Golda Meir in Moskau von den Juden in Moskau bereitet wurde. Und da gab es KalnberzinS, den ersten Sekretär des Zentralkomitees bei uns, also ein Lette, der 1919 nach Rußland gegangen war und später illegal gearbeitet hatte und wieder nach Moskau gegangen war, kurz: In unserem Begriff ein Moskauer Lette. Er hatte den Mitarbeitern des ZK folgende Frage gestellt, zur Klärung dieses Problems. Stellen wir uns vor, der Botschafter des bürgerlichen Lettlands kommt 1920 oder 1925 nach Moskau und die Moskauer Letten empfangen ihn als ihren Mann. Da würde doch natürlich Dzieriyhski in so einem Falle sofort eingreifen, und so tut es jetzt der Genösse Berija, wenn die Moskauer Juden diese Frau empfangen. Dann kam die Geschichte mit dem Kosmopolitismus. Wiederum hatte ich Informationen. Es war ein Anruf aus Moskau, nachdem dort die ersten Artikel erschienen waren: Lettland muß zwei Kosmopoliten nennen. Nun, das ZK nannte gleich zwei Mann, Gureviö und Kac, das waren zwei miteinander zerstrittene jüdische Journalisten in der russischen Zeitung, die wurden genannt. Das war am Morgen. Abends, das ZK arbeitete ja damals auch am Abend, kam ein Anruf aus Moskau: Nein, Juden genügen nicht, gebt noch zwei Letten dazu. Da wurde leider Alexander Öaks, der beste lettische Dichter genannt, und der wurde daraufhin so verhöhnt und so verfolgt und so schikaniert, daß er im Alter von 49 Jahren an einem Infarkt gestorben ist. Aber interessant, es mußten zwei und zwei sein. Was weiter auffiel: Erstens mal, daß die Pseudonyme immer mehr gelüftet wurden. Noch eine Erscheinung: Also in Lettland und Estland gibt es Familiennamen deutscher Herkunft, aber ein bißchen anders ausgespro-

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chen, Grinbergs, Feldmanis usw. Man kann bei diesen Familiennamen nicht wissen, ist es ein Este, ist es ein Lette oder ist es ein Jude. Wenn nun irgendein negativer Fall war, wo der Grinbergs ein Jude war, da wurde ausführlich geschrieben Abraham Chaimoviö usw. usw., also Name und Vatersname. Wenn es etwas positives war, wurde der Name und Vatersname nicht genannt. Und, wenn es ein Lette war, bei dem es negativ war, wurde nicht geschrieben Sowieso Grinbergs, das war einfach M. Grinbergs. Das ging z.B. soweit: Wir hatten 1952 einen schrecklichen Sturm in der Ostsee und ein Schiff rettete ein zweites Schiff und da hatten sich vier Mann hervorgetan und die wurden überall in den lettischen Zeitungen genannt. Drei davon waren Letten und einer war ein Jude mit Namen Vulfsons. In den Zeitungen in Riga und Tallin wurden sie alle vier genannt. Auch Moskau schrieb darüber. Aber dieser vierte wurde dort nicht genannt. In einer Arbeit von M. Lemke über die zaristische Zensur gibt es einen Befehl der zaristischen Zensur an die Zeitungen aus der Zeit Alexanders III., keine positiven Fälle zu nennen, die mit Juden verbunden sind. Und hier erinnerte man sich daran im Zusammenhang mit diesem Vulfsons. Eines schönen Tages, das war nach dem Rajk- und dem Slänsky-Prozeß, da rief mich ein Bekannter an, D. Dmitrijev, der im ZK arbeitete und sagte: Weißt du was, komm, ich erzähl dir eine interessante Geschichte. Wir hatten heute eine interne Sitzimg im Zentralkomitee über verschiedene Fragen und Kalnberzinä, der erste Sekretär, der aus Moskau gekommen war, gebrauchte folgende Formel: Die Juden haben das Vertrauen der Partei nicht gerechtfertigt. Ich bin mit Kalnberzinä, als er schon lange Rentner war und wir uns einmal zufällig getroffen haben, zusammengekommen und habe gesagt: Ich bin der und der, ich habe eine Frage. Sie hatten damals vor Jahrzehnten diesen Ausdruck gebraucht in diesem Zusammenhang. Da sagt er, ja ich erinnere mich daran, das habe ich in Moskau gehört und da wurde mir gesagt, daß ich es zu Hause sagen soll, damit das ZK orientiert ist, sozusagen wie die Lage eigentlich ist. Ich hatte in einer Hinsicht großes Glück, ich hatte, als die Lage sich immer verschlimmerte, mehrere Menschen, mit denen ich Gespräche führte. Der eine war stellvertretender Minister, A. Mozerts, ein alter Lette, Parteimitglied seit dem Jahre 1913. Bis zum Jahre 1937 war er Handelsvertreter der Sowjetunion in Südafrika, später in London und dann flog er von all diesen Posten auf einen ganz kleinen Posten in Moskau herunter und war

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heilfroh, daß er nicht wie die anderen lettischen Kommunisten erschossen wurde. Und ich hatte mit ihm beinahe jeden Tag Gespräche. Ich hatte auch mehrere Gespräche in der Zeit mit einem ehemaligen Menschewiken, K. Lorencs, der zu jeder Regierung im Gefängnis gesessen hatte, er war damals schon 70 Jahre alt, ich war also viel jünger als er. Aus diesen Gesprächen mit sehr verschiedenen Menschen konnte man versuchen, ein bißchen besser zu verstehen, was passierte. Nun, mein erster Gesprächspartner - der alte lettische Kommunist - hatte eine einfache Einstellung. Er erinnerte immer an einen antisowjetischen Witz des Jahres 1919: Worauf hält sich die Sowjetmacht. Die Antwort war: Auf jüdischen Köpfen, auf lettischen Bajonetten und auf russischen Dummköpfen (auf russisch reimt es sich). Und er sagte, wir Letten wurden 1937 gestrichen, jetzt seid ihr dran. Das ist ganz normal, sagte er, und er gebrauchte immer das Wort von Napoleon, stärkere Bataillone behielten immer Recht. Nun dieser alte Menschewik, Lorencs, ein ehemaliger Minister in Lettland, der gab mir einmal ein Buch zu lesen und sagte: Lesen sie das Buch, es wird Sie interessieren. Geschrieben wurde es von Vasilij Sul'gin, von demjenigen russischen Politiker, der 1917 von der Duma geschickt wurde, die Abdankung Nikolajs II. entgegenzunehmen, und zwar deshalb, weil er Nikolaj II. sympathisch war. Er war ganz rechts gerichtet, hatte eine sehr interessante Biographie, stellte eine Art Inkarnation des Weißgardismus dar. Am Ende dieses Buches, wo er die Flucht der russischen Armee von Wrangel aus der Krim in die Türkei beschreibt, gibt es die hochinteressante Wiedergabe eines Gesprächs, das unweit von Konstantinopel, in Gallipoli stattfand. Gallipoli war damals ein Lager aus weißen Zelten. Dort kampierten die Soldaten der geschlagenen Weißen Armee. In der russischen Poesie wird Moskau oft die aus weißem Stein gebaute Stadt genannt. Und der Autor ist die ganze Zeit niedergeschlagen, in der weißen Zeltstadt zu sein, statt in der weißen Stadt. Rußland ist untergegangen und schlimmer kann es schon gar nicht mehr werden, und dann beschreibt er ein Gespräch, ohne aber seinen Gesprächspartner zu nennen. Es ist aber klar, daß es sich dabei um einen weißen General handelt. Das Gespräch verlief folgendermaßen: Schlimmer kann es nicht mehr werden. Der General sagt: Was regen sie sich auf, wir Weißen haben ja gesiegt. Wieso die Weißen? Die Rote Armee hat uns aus der Krim herausgefegt. Lenin hat gesiegt. Lenin sitzt im Kreml und wir sitzen in Konstantinopel. Ja, da müssen sie sich nicht aufregen, sagt

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der General, sowieso haben wir Weißen gesiegt. Der Autor ist sprachlos: Wieso haben wir gesiegt? Sagt der andere: Der weiße Gedanke, der antikommunistische Gedanke, ist wie die Laus. Die Laus kennt ja keine Front. Dann fügte er hinzu: Erinnern Sie sich daran, wie Lenin den Bürgerkrieg begonnen hat. Er wollte damals mit einer freiwilligen Armee kämpfen, mit einer Armee, die Kommandeure wählte, die über alles abstimmte; und dann haben wir Lenin diesen Bürgerkrieg aufgezwungen und wir haben ihn gezwungen, eine richtige Armee zu bilden. Nur mit einer solchen Armee war er stark genug, uns zu schlagen. Also hat Lenin heute eine Armee und diese Armee wird früher oder später Lenin ihre Politik aufzwingen, und dann wird Rußland seine Grenzen weiter und weiter erweitern, bis es auf widerstandsfähige staatliche Organismen stoßen wird. Soweit wird es gehen. Nach ein paar Tagen war ich wieder bei Lorencs und er fragte mich: Haben sie das Buch gelesen? Ja, ich habe es gelesen. Und was fiel ihnen auf? Ich sage, das Gespräch in Konstantinopel. Deswegen habe ich ihnen ja dieses Buch gegeben, damit sie diese Stelle lesen. Denn sehen sie, wenn es eine Armee ist, die Lenin ihren Gedanken aufzwingen wird, dann wird sich das nicht nur auf die Außenpolitik, sondern auch auf die Innenpolitik auswirken. Und diese russische Bauernarmee wird natürlich xenophob sein, das war also seine Meinung. Nun, mittlerweile wurde es schlimmer und schlimmer. Letzten Endes kam es zu dieser Pressemeldung vom Januar 1953, von der heute gesprochen wurde, bezüglich der Ärzte-Affare. Die Atmosphäre verschlechterte sich katastrophal. Meine Frau war Ärztin, sie arbeitete in einem Krankenhaus und da gab es viele, sehr viele Fälle, wo z.B. ein Offizier kam und sagte: Zu meiner Tochter, drei Jahre alt, wurde ein Arzt geschickt, aber wissen sie, der Arzt ist augenscheinlich ein Jude, ich vertraue ihm nicht. Wir haben doch jetzt gelesen, was diese jüdischen Ärzte in Moskau angerichtet haben. Und solche Fälle hat es sehr viele gegeben. Gerade von Offizieren. Ja, es hat einen Fall gegeben, wo eine Ärztin trotz ihrer russischen Abkunft ein wenig von östlichem Aussehen war. Sie kommt zu einem Kranken, und der sagt ihr: Ja, woher weiß ich, daß sie Arzt sind? Bitte sehr, hier ist mein Ausweis. Ja, haben sie auch einen Paß? Wozu brauchen sie einen Paß? Damit ich sehe, ob es wirklich dieselbe Fotografie ist. Sie gibt den Paß und da sagt er erleichtert: Gott sei Dank, ich wollte ja nur eigentlich sehen, was für eine Nationalität eingeschrieben ist. Sie sind

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Russin, jetzt können Sie mich untersuchen. Und da fragt sie ihn: Und wenn ich eine Jüdin gewesen wäre? Nein, wissen sie, nehmen sie es mir nicht übel, aber jetzt wo ich diese Geschichte in Moskau erfahren habe, dann will ich das nicht. Kurz und gut. Bald darauf erfolgten in Riga die ersten Verhaftungen. Verhaftet wurde als erster ein sehr bekannter Mann, Professor M. Schatz, Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees in Moskau, ein Mann, der seinerzeit in der kommunistischen Bewegung gewesen war. Bei einem Verhör etwa 1923 wurde er von der lettischen politischen Polizei so geschlagen, daß er das Augenlicht verlor. Er war blind. Seine Frau wurde auch verhaftet. Dann wurde ein Arzt, Dr. Magilnitzki mitsamt seiner Frau verhaftet, der 1931/32 offizieller Redakteur einer links gerichteten Zeitschrift gewesen war. Daraufhin wurde eine Frau, A. Pevzner, verhaftet, die zu Zeiten des alten Lettlands ein bißchen mit der linken Bewegung verbunden gewesen war. Das waren Menschen, die mir sehr verbunden waren. Auch der Direktor des Staatsarchivs, wie auch einige Schauspieler wurden verhaftet. Dabei war es absolut klar, daß das Menschen sind, die mit dem Zionismus nichts zu tun haben. Dabei lebten in Riga damals noch ehemalige Zionisten. Wenn man es schon nötig hatte, konnte man sie ohne Schwierigkeiten aufgreifen, sie waren alle bekannt. In der damaligen antisemitischen Propaganda war sehr viel von der amerikanisch-jüdischen Organisation Joint die Rede. Gott im Himmel, der Sohn des Gründers des lettischen Joints und Mitarbeiter des Joints lebte in Riga. Der wartete jeden Tag, daß man ihn abholt, dabei ist er bis zum Ende unbehelligt geblieben, d.h. diese Politik war vor allem eine Politik gegen die linken Elemente unter den Juden. Nun, ich habe gesehen, daß unter den Verhafteten einige gute Bekannte waren. Kurz und gut, ich gab meiner Frau mein Tagebuch und sagte: Schau es durch und reiße die Seiten mit regimekritischen Ausdrücken heraus. Mein Tagebuch ist danach ganz mager geworden, nur wenig ist in ihm geblieben. Dann hatte ich vom Kriege noch zwei Revolver behalten, sie landeten im Feuerwehrteich in Riga. Mein stellvertretender Minister rief mich einmal zu sich und sagte mir, ich solle doch mit einem Mann sprechen. Dann kam der Mann und es stellte sich sehr schnell heraus, daß wir uns kannten. Und der Mann, E. DiZbite, sagte mir folgendes: Er war ein Lette aus Moskau und hatte sich 1937 nur dadurch gerettet, daß er seine Familie verließ und als Landarbeiter

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durch verschiedene Sowchosen ging. Er arbeitete nirgends länger als drei Monate und fuhr dann in ein anderes Gebiet und arbeitete weiter. Nur dadurch habe ich mich gerettet, sagte er mir. Denn zu seiner Frau war man zweimal gekommen und suchte ihn. Denken sie nach, sagt er zu mir, vielleicht sollten sie ihre Familie auch für ein paar Monate verlassen, bis man sieht, wie das alles weiter geht. Nun, ich habe es nicht getan. Dann hörte man verschiedenste Erzählungen. So wurde der Direktor des medizinischen Instituts, Prof. Burtnieks, ins ZK gerufen und man sagte ihm: Sie haben so und so viele jüdische Professoren, Dozenten usw., sie müssen so und so viele entlassen, nicht alle auf einmal, aber so Stück für Stück. Dann hat er gesagt: Gut, das tue ich, aber bitte ein Papier. Welches Papier? Ja: Geben sie mir einen schriftlichen Befehl. Nein, das geben wir nicht. Ja, sagt er, solche Sachen tue ich nur, wenn es ein schriftlicher Befehl ist. In diesen Tagen wurde ich von einem Mitstreiter aus dem Regiment angerufen, demselben D. Dmitrijev, der im ZK war, und der erzählte folgendes: Nach Riga sei ein Funktionär aus dem Moskauer ZK gekommen, dem nach einem Vortrag Fragen gestellt wurden. Die erste Frage war folgende: Wir können die Geschichte mit den jüdischen Ärzten nicht verstehen. Die Antwort lautete: Sie verstehen nicht, aber die ganze Geschichte hat folgendermaßen begonnen: 1941 im November, als die Wehrmacht in der zweiten Hälfte des Monats den Großangriff auf Moskau begann, war eine Panik unter diesen jüdischen Professoren ausgebrochen. Was wird sein, wenn die Wehrmacht nach Moskau kommt? Es ist bekannt, daß die Amerikaner bis zum 7. Dezember keinen Krieg mit Deutschland führten. Die Amerikaner verlagerten die Botschaft nach Kujbyäev, aber das Konsulat blieb in Moskau. Und diese Ärzte hätten sich an das Konsulat gewandt und gesagt, sie möchten, falls die Wehrmacht nach Moskau kommt, im amerikanischen Konsulat ein Versteck finden. Da hätten die Amerikaner ihnen gesagt, bitte sehr, das machen wir gerne. Nur müßt ihr ein Papier unterschreiben, daß ihr bei der amerikanischen Botschaft, also bei der amerikanischen Regierung um Hilfe gebeten habt, und dieses Papier sei später dazu benutzt worden, diese Ärzte für den amerikanischen und englischen Geheimdienst anzuwerben. Wurde zur Zeit der Ärtzte-Affare eine Deportation der Juden vorbereitet? Ich kann mich dazu nicht äußern, ich kenne keine Dokumente. Ich kann nur folgendes sagen und will es ein bißchen überspitzt sagen: Stalin wäre

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dazu gezwungen gewesen, denn man hatte ja mit einer solchen Pogrom-Stimmung begonnen, daß es zu Ausschreitungen gekommen wäre, denn man muß sich vorstellen, nach dem Prozeß in Moskau waren Prozesse in weiteren Städten geplant. Es wäre dann sicher zu Ausschreitungen gekommen. Dabei wollte Stalin keine Volksausschreitungen. Da mußte Ordnung herrschen. Die Ausschreitungen mußte der Sicherheitsdienst organisieren. Warum konnten viele im Ausland und nicht wenige in der Sowjetunion diese antisemitische Politik nicht richtig durchschauen? Viele waren dadurch verwirrt, daß I. Erenburg damals einen Stalin-Preis erhielt und ein anderer Jude, L. Mechlis - einer der schlimmsten Getreuen Stalins - mit einem pompösen Staatsbegräbnis geehrt wurde. Das war nicht wenig verwirrend. In Riga wurden im April 1953 nach dem Tode Stalins und der Befreiung der Moskauer Ärzte alle befreit, außer einem Mann, L. Teitelbaum, den ich gut kannte. Dieser Mann arbeitete als Ingenieur vor dem Kriege, also im alten Lettland, bei der Shell-Vertretung. Nun, kurz und gut, eines schönen Tages bekomme ich einen Anruf und werde in das Ministerium der Staatssicherheit bestellt. Alle sind bereits befreit. Dieser eine sitzt aber. Und ich komme dorthin, mit mir beginnt ein sehr höfliches Gespräch, wie es mir geht und was ich tue. (Ich studierte und arbeitete gleichzeitig.) Und wie es mit dem Studium geht? Ich saß so und dachte, die rufen mich doch nicht, um zu erfahren, welche Noten ich bei der letzten Prüfung in Geschichte des Mittelalters erhalten habe! Was wollen die Leute von mir? Und das Gespräch läuft und läuft und plötzlich öffnet sich die Tür, und es kommt irgendein Mann in Zivil herein, und der, der mit mir gesprochen hat, sagt ihm: Das ist also Rrupnikow. Der in Zivil sagt, wissen sie, wir wollten mit ihnen so freundschaftlich über denjenigen sprechen, der noch sitzt. Er hat doch überall auf die Sowjetmacht geschimpft, daß er schlechter lebt als vor dem Kriege und sicher hat er in ihrer Gegenwart auch so etwas getan. Wissen sie, sagte ich, in meiner Gegenwart hat er es nie getan. Sie müssen sich doch versuchen zu erinnern. Es kann nicht sein, daß er das in so und so vielen Fällen gesagt hat und in ihrer Gegenwart nichts. Nur ich bestand darauf, daß in meiner Gegenwart nichts gewesen sei und der Ton änderte sich. Ja, sie müssen verstehen, daß sie dem Staat doch mal helfen müssen, nicht nur immer vom Staat eine Hilfe erwarten dürfen. Also sie studieren

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doch, zahlen sie für das Studium? Nein ich zahle nicht. Keiner zahlt hier bei uns. Ja, sehen sie, und jetzt braucht der Staat von ihnen eine Hilfe, denn der Mann ist ja sehr suspekt und der hat bei Shell gearbeitet. Kurz es endete so, daß ich sehr unwirsch entlassen wurde. Ich muß sagen, ich war stark verschwitzt, als ich nach Hause kam. Ich nahm ein Bad und hatte das Gefühl, daß ich den Schmutz nicht wegbekommen kann. Vor der Befreiung der Ärzte wäre man mit mir anders verfahren ... Ich wurde nach Jahren mit Evgenij M.Tareev bekannt, Professor der Medizin, der anstatt des verhafteten Prof. Vinogradov, der heute hier erwähnt wurde, einen Lehrstuhl erhalten hatte. Ich hatte ihm auf Bitten eines Freundes die Altstadt Rigas gezeigt, und da saßen wir so und Tareev hatte viel getrunken und begann zu erzählen. Er begann zu erzählen, wie manche Professoren aufgerufen wurden, Erklärungen darüber abzugeben, daß die verhafteten Ärtzte Patienten absichtlich falsch behandelt hätten. Zwei von den Professoren, die sich weigerten, wurden abgesetzt und kamen ins Gefängnis. Und er sagte zu mir, er habe eine solche Erklärung unterschrieben. Nun und dann bekam er am 4. April um ein Uhr nachts einen Anruf, daß der Verhaftete befreit werden wird. Als er dies erfuhr, sagte er, sei er mit seinen Assistenten hingefahren, er habe die ganze Bibliothek des Verhafteten wieder eingeräumt, seine eigene Bibliothek herausgekramt und am Tage des 4. April war dort alles beendet. Eine vielsagende Tatsache dieser ersten Jahre nach Stalin war, daß das Zentralkomitee auf einer Aussöhnung zwischen den Opfern und den genötigten - Tätern bestand. E. Tareev und Vovsi, die "Nummer 1" der "Ärzte-Verschwörung", waren Ko-Vorsitzende des Allunions-TherapeutenKongresses im Jahre 1954.

Karel Kaplan Der politische Prozeß gegen R. Slänsky und Genossen

Im November 1952 fand im Sowjetblock der größte politische Prozeß der Nachkriegszeit gegen hohe Funktionäre statt - der Prozeß gegen den ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Rudolf Slänsky und weitere dreizehn Angeklagte. Er hatte die offizielle Bezeichnung "Prozeß gegen die Führung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slänsky an der Spitze", doch man sagte damals gewöhnlich "Prozeß gegen das Zentrum". Von den vierzehn Angeklagten wurden elf zur Todesstrafe verurteilt und hingerichtet. In den darauffolgenden zwei Jahren kam es dann noch zu den sog. "Folgeprozessen", die mittels verschiedener künstlicher Konstruktionen mit dem Hauptprozeß verbunden wurden. Die Zahl der Verurteilten erhöhte sich dadurch um einige Dutzend Funktionäre und um eine vollzogene Todesstrafe [die meisten dieser Folgeprozesse verliefen zu einer Zeit, als in anderen Ländern des Sowjetblocks ähnliche Prozesse bereits revidiert wurden]. Jeder große politische Prozeß hat seine besondere Ideologie, welche die politische Absicht seiner Urheber und "Hersteller" ausdrückt. In der Tschechoslowakei verzögerte sich der Prozeß gegen die führenden kommunistischen Funktionäre; seine Vorbereitung ab Oktober 1950 zog sich zwei Jahre lang dahin. Selbst mit Hilfe sowjetischer Berater gelang es nicht, ihn in einer ersten Welle auszuführen, wie ähnliche Prozesse in anderen Ländern des Sowjetblocks in den Jahren 1949-1950. Diese Tatsachen beeinflußten die Ideologie des tschechoslowakischen Prozesses. Es fehlten dabei nicht die für die erste Runde der Prozesse im Sowjetblock charakteristischen ideologischen Hinweise auf den amerikanischen und britischen Imperialismus, den Trotzkismus und besonders auf den jugoslawischen Titoismus. Ausschlaggebend für die politisch-ideologische Ausrichtung des Prozesses gegen Slänsky wurde allmählich der Kampf gegen den Weltzionismus, begleitet vom Feldzug gegen den "Kosmopolitismus", gegen den von den sowjetischen Beratern angeprangerten "jüdischen bourgeoisen Nationalis-

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mus". Unter diesen Begriffen verbarg sich in der offiziellen Propaganda der Antisemitismus. Im Prozeß gegen Slänsky und Genossen waren von vierzehn Verurteilten elf jüdischer Herkunft [Ein weiterer, Josef Frank, Stellvertreter des Generalsekretärs der kommunistischen Partei, wurde in der irrtümlichen Überzeugung verhaftet, er sei jüdischer Herkunft, was nach langem Forschen nicht nachzuweisen war]. Nach dieser kurzen Einleitung ist es wichtig, einige Tatsachen zu erwähnen, die sich während des Prozesses einstellten und in diesem Zusammenhang viel über sein politisches Ziel aussagen. Die Tschechoslowakei unterstützte von Anfang an die Gründung eines jüdischen Staates. Sie war Mitglied im UNO-Ausschuß für Palästina und ihr Vertreter war Vorsitzender der Kommission, die die Verwirklichungen der Beschlüsse der UNO beobachtete und sicherte. Die Einstellung und Aktivität der Tschechoslowakei bei der Entstehung Israels wurde von jüdischen Organisationen und den Politikern des neuen Staates geschätzt. Sie ist zur Grundlage der freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten geworden, begleitet von regen politischen und Handelsbeziehungen. Bezüglich dieser Einstellung gab es unter den damaligen Parteien der Tschechoslowakei keinen Unterschied; die Vertreter des künftigen Staates schätzten insbesondere die Haltung von Präsident BeneS und des Außenministers Jan Masaryk - also vor dem kommunistischen Staatsstreich vom Februar 1948. Die freundschaftlichen Beziehungen dauerten auch nach dem kommunistischen Umsturz an. Auch wenn von Anfang an, zur Zeit der großen Freundschaft, diese Beziehungen den verschiedenen Einflüssen und Veränderungen der internationalen und inneren Politik ausgesetzt waren, überwogen in den tschechoslowakisch-israelischen Beziehungen in den Jahren 1945-1949 Freundschaft und Zusammenarbeit. Dazu trug das entschlossene Vorgehen der Regierung gegen antisemitische Äußerungen auf heimatlichem Boden bei, wie die Hilfe für Juden bei deren Flucht aus Polen vor den Pogromen des Jahres 1946, aber auch beiderseitige ökonomische Interessen wären zu nennen. Die tschechoslowakische Unterstützung des neuen jüdischen Staates beschränkte sich nicht nur auf das diplomatische Gebiet. Am wichtigsten waren die Waffenlieferungen, die Ausbildung militärischer Spezialisten, Organisation und Sicherung der Massenauswanderung der Juden nach Israel und die Bildung einer Militärbrigade jüdischer Freiwilliger auf tschechoslowakischem Gebiet.

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Die Verhandlung über Waffenlieferungen wurde durch Vereinbarung mit tschechoslowakischen Unternehmen noch vor der Entstehung des israelischen Staates abgeschlossen. Nach dessen Gründung erhöhte sich der Bedarf, und die tschechoslowakischen Stellen hatten ihre Mühe mit den Forderungen der israelischen Regierung, denn die heimliche Lieferung von Waffen war mit einem Risiko verbunden, seit eine Resolution der UNO vom 29. November 1947 deren Verkauf in das Gebiet von Palästina verboten hatte. Der wesentliche politische Grund für das Handeln der Tschechoslowakei war die eindeutig positive Haltung zur Gründung des jüdischen Staates. Erst später spielten auch Interessen der UdSSR in diesem Bereich des Mittelmeeres eine Rolle und Vorstellungen über die Rolle Israels im Nahen und Mittleren Osten. Stark war für die Tschechoslowakei auch das ökonomische Motiv. Ihre israelische Option hatte unmittelbare und langfristige wirtschaftliche Vorteile. Aus finanzieller Sicht war der Waffenverkauf sehr vorteilhaft. Die Zahlungen und Lieferungen verliefen ohne ernste Komplikationen und wurden eine wichtige Quelle fiir die benötigten Dollars. Die Vertreter Israels schätzten ihrerseits die Waffen zur Verteidigung des gerade erst entstandenen Staates. Der Zustrom weiterer Bewohner in den kleinen Staat Israel war außerordentlich wichtig. Man setzte voraus, daß der Hauptstrom der Einwanderer aus den Ländern Mittel- und Osteuropas kommen würde. Die Tschechoslowakei ermöglichte im Frühjahr 1949 eine Massenemigration von etwa 20.000 Juden nach Israel. Sie duldete auch den sog. illegalen Abgang vieler Flüchtlinge aus Ungarn oder Polen, wo ihre Auswanderung faktisch eingestellt worden war. In der Tschechoslowakei verlief die Ausbildung von mehr als 200 Spezialisten für die israelische Armee: Flieger, Fallschirmjäger, Panzerschützer. Seit Mitte 1948, zur Zeit des israelisch-arabischen Krieges, begann in Vereinbarung mit der Tschechoslowakei die Entstehung einer Brigade jüdischer Freiwilliger von mehr als 1.300 Soldaten. Die Hoffnung, die Brigade würde dank der Zuwanderer aus Polen und Ungarn auf viereinhalb Tausend Freiwillige anwachsen, erfüllte sich nicht. Die damaligen tschechoslowakischen Beziehungen mit Israel waren nicht ganz frei von Konflikten, Schwierigkeiten und Streitigkeiten. Nach dem Februar 1948 paarte sich die Haltung des kommunistischen Regimes mit den Großmachtinteressen der Sowjetunion und den eindeutigen Machtzielen

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der Israelischen Kommunistischen Partei. Sie blieben nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis der tschechoslowakischen Kommunisten zur zionistischen Bewegung überhaupt, wie vor allem zu ihren einzelnen Richtungen. Es schien nicht sicher, daß sich die Hoffnungen auf ein prosowjetisch orientiertes Regime in Israel erfüllen werden und auch die Aussiedler und Brigadeangehörigen enttäuschten hinsichtlich ihrer künftigen Parteimitgliedschaft und Sympathien. Die führenden kommunistischen Funktionäre Israels kritisierten ihre tschechoslowakischen Genossen am Ende sogar wegen des Verkaufs von Waffen und beklagten sich in Moskau. Auch die Funktionäre der KPÖ (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei), die sich mit jüdischen Angelegenheiten befaßten, merkten, daß die Entwicklung ihrer politischen Zielsetzung zuwiderlief. Besonders die internationale Sektion des ZKs der KPÖ und ihre sog. jüdische Kommission, wie auch die zuständigen Funktionäre im Sicherheits- und Nachrichtendienst bemühten sich, die ungünstige Situation zu ändern, sowohl die Auswanderung wie auch vor allem die Brigade jüdischer Freiwilliger unter ihre Kontrolle zu bringen. Ebenso die jüdischen und zionistischen Organisationen, die in der Tschechoslowakei tätig waren. Ihre Bemühung brachte nicht den erwarteten Erfolg; die israelische Botschaft und die zionistischen Organisationen verstärkten zuletzt ihre Position bei der Auswahl der Aussiedler und der Brigadeangehörigen. Das bestimmte die Beziehung der Kommunisten zum Zionismus. In den Jahren 1947-1948 differenzierten sie innerhalb der zionistischen Organisationen, schlossen extreme Rechtsrichtungen im Zionismus aus und bemühten sich um Zusammenarbeit mit linksorientierten Strömungen. Allmählich schwächte sich die Differenzierung ab, bis sie ganz aufhörte und der Zionismus für die Kommunisten einheitlich zur feindlichen Bewegung wurde. Schließlich kamen Vorschläge, den Abzug der Brigade nach Israel zu verbieten, weil sie dem Zionismus verfiel. Am 22. Oktober 1948 gab BedFich Geminder, Leiter der internationalen Abteilung des ZKs der KPÖ, zu der auch die "jüdische Kommission der KPÖ gehörte, den Beschluß der Parteiführung bekannt, die Annahme Freiwilliger einzustellen, bis zum November ihre Ausbildung zu beenden und den Abzug der Brigade innerhalb von vierzehn Tagen sicherzustellen. Diese plötzliche Entscheidung stieß auf Komplikationen und die Brigade kam erst im Januar-März 1949 nach Israel, als der israelisch-arabische Krieg zu Ende war.

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Vom Jahre 1949 an begannen sich in den bisher freundschaftlichen Beziehungen der Tschechoslowakei zu Israel unangenehme Schatten zu bilden. In den darauffolgenden zwei bis drei Jahren überwogen sie derart, daß man bei der Jahreswende 1951/1952 schon von einem Zustand der Feindschaft sprechen kann. Als den Schlüsselpunkt dieser Veränderung betrachtete man den Wahlausgang in Israel vom 31. Januar 1949, als die Kommunisten nur 3,5 % der Stimmen für sich verbuchen konnten. Wenn man auch in Moskau und Prag nicht mit einem Wahlsieg der Kommunistischen Partei Israels gerechnet hatte, hatte man doch einen Sieg der linksgerichteten Parteien, welche freundschaftliche Beziehungen zur UdSSR unterhielten, und die Bildung eines Regimes in Israel erwartet, der den europäischen Volksdemokratien der ersten Nachkriegsjahre geähnelt hätte. Trotz des Wahlsiegs der rechtsgerichteten sozialistischen Partei hegte man wegen der Kraft der linksgeneigten Richtungen noch immer die Hoffnung, daß Israel eine Haltung einnehmen werde, die der sowjetischen Politik und ihren Ipteressen in dieser Region entspricht. Auch die aufkommende antisemitische Welle in der Sowjetunion wirkte sich auf die tschechoslowakisch-israelischen Beziehungen ungünstig aus, war aber nicht der unmittelbare Grund zur Unterbrechung der Beziehungen. Immer noch dauerte das beiderseitige Interesse am Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen an, wenngleich im Frühjahr 1949 aus den Reihen der Wirtschaftsfunktionäre Aufrufe zur Bestimmung einer klaren Linie tschechoslowakischer Politik gegenüber Israel laut wurden. Meiner Ansicht nach entstand die ausdrückliche und entscheidende Änderung in den tschechoslowakischen Kontakten zu Israel erst im September 1949. Ursache war die Anleihe von 100 Millionen Dollar, welche die USA Israel gewährten. In Prag und Moskau wertete man die Anleihe als Beweis dafür, daß sich Israel in der Ost-West-Balance dem Westen zugeneigt hatte. Ein Jahr später bestätigte das Prager Außenministerium, daß die USA die führende Position im Nahen Osten übernommen hätten. Zu Beginn des Jahres 1951 berichtete das Außenministerium, daß Israel nach und nach zum Gehilfen der Vereinigten Staaten geworden sei und ihr Bestreben unterstützten, den Nahen Osten zur antisowjetischen Plattform zu machen. Die Vorstellungen sowjetischer Politik, Israel zum Ausgangspunkt einer Einflußnahme im Nahen Osten zu nehmen, waren gescheitert. Dieser

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Mißerfolg führte dazu, daß man Israel fortan als Verbündeten und Werkzeug des Feindes betrachtete. Mit den tschechoslowakisch-israelischen Beziehungen habe ich mich etwas näher befaßt, denn im Prozeß gegen Slänsky und Genossen spielten sie eine besonders wichtige Rolle: sie geben Aufschluß über seine Ideologie und führten zur Verurteilung der Betroffenen - R. Slänsky, der als Generalsekretär der KPC über viele Schritte informiert war oder über sie entschieden hat, Bedrich Geminder (Leiter der internationalen Abteilung des ZK der KP(5 und der jüdischen Kommission), Bedrich Reicin (Stellvertreter des Verteidigungsministers), Rudolf Margolius, Ev2en Löbl (Stellvertreter des Ministers für Außenhandel) und Otto Fischl (Stellvertreter des Finanzministers). Über die politischen Prozesse gegen führende Kommunisten überhaupt wie auch über den tschechoslowakischen Prozeß sind einige Bücher geschrieben worden. Die "Methode der Herstellung" war immer die gleiche oder zumindest sehr ähnlich, weil die Hauptkonstrukteure aller dieser Prozesse - die Berater - sie nach Sowjetmuster und Hinweisen ihrer Moskauer Zentrale vorbereiteten. Meine Ausführungen begrenze ich daher auf die Entfaltung der politischen Konzeption und der Ideologie des sog. "Prozesses gegen das Zentrum". Der Mißerfolg der Durchführung eines Prozesses im Jahre 1950 in der Tschechoslowakei, wie es die politischen Prozesse im Jahr zuvor in Budapest, Sofia und Albanien gewesen waren, konnte die Bemühung um das Aufdecken einer Verschwörung in Prag nicht stoppen. Zwei erfolglose sowjetische Berater, die im Oktober 1949 gekommen waren, um einen tschechoslowakischen Rajk zu entdecken, und gegen ihn den Prozeß vorzubereiten, wurden von einer anderen Beratergruppe abgelöst, an deren Spitze Vladimir Bojarskij stand. Auch sie tappten einige Monate im Dunkeln, konnten weder die Ergebnisse ihrer Vorgänger ausnützen, die den Außenminister Vladimir Clementis verdächtigten, noch die Verhafteten im Falle von Noel Field, auch nicht die jugoslawischen Agenten. Erst durch die Verhaftung Otto Slings, des Landessekretärs der kommunistischen Partei in Brünn, gewannen sie einen festen Anhaltspunkt. Sling erwies sich aus mehreren Gründen als geeignete Person: sein Aufenthalt im Londoner Exil ermöglichte die Anschuldigung der Zusammenarbeit mit dem britischen Nachrichtendienst und einen Feldzug gegen das kommunistische Exil in London überhaupt. Seine Zugehörigkeit zu den

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spanischen Interbrigadisten erschien zur Aufdeckung des Trotzkismus in deren Reihen geeignet, eventuell im Zusammenhang mit französischer Spionage. Seine außerordentliche Aktivität, Initiative und Erfindungsgabe waren mustergültig und wurden von Marie Svermovä unterstützt, der Stellvertreterin des Generalsekretärs der KPC. So ergab sich die Möglichkeit, den Feind im engeren Parteikreis zu entlarven und so weitere Funktionäre in der Partei und im Staatsapparat zu denunzieren. Daß Sling aus einer jüdischen Familie stammte, spielte ein halbes Jahr nach seiner Verhaftung im Oktober 1950 noch keine Rolle. Trotz außerordentlich harter Untersuchung Slings, der Verhaftung seiner Mitarbeiter, einer Parteiuntersuchung von Marie Svermovä durch eine Sonderkommission der Führung der KPÖ, kam es zu keinem schnellen Ergebnis. Es entstand der Verdacht, daß Freunde Slings in dem Sicherheitsapparat, wo Interbrigadisten führende Posten innehatten, der Bruder von M. Svermovä (Karel Sväb) und auch Freunde aus der Londoner Kriegsemigration die Untersuchung behinderten. Die Beschwerden führender kommunistischer Funktionäre der KP£ wegen absichtlich schlecht geführten Ermittlungen enthielten auch den Verdacht, daß somit eine eigene Beteiligung der Ermittler an Slings feindlicher Tätigkeit gedeckt werden sollte. Außerdem wurde eine Parteisicherheitsgruppe gegründet, die insgeheim und unter Führung eines Beraters (Smirnov) Material über eine Reihe von kommunistischen Funktionären herausarbeitete, die meist Interbrigadisten und Londoner Emigranten waren. Diese Aktivitäten uferten im Januar-Februar 1951 in groß angelegten Verhaftungen aus. Unter den etwa fünfzig verhafteten kommunistischen Funktionären befand sich neben Marie Svermovä der ehemalige Minister (V.Clementis), einige stellvertretende Minister der Leiter und andere führende Funktionäre der Staatssicherheit, einige Bezirkssekretäre der KPC, führende slowakische Politiker. Im Februar 1951 wurden dem ZK der KP£ Berichte über die Existenz zweier feindlicher, antiparteilicher Gruppen vorgelegt, deren Endziel die Beseitigung des derzeitigen Regimes und des Bündnisses mit der Sowjetunion war. Die Berichte ergaben sich aus erzwungenen Geständnissen, nicht bezeugten Berichten, aus Kombinationen und Konstruktionen der Ermittler, der Berater und führender Politiker: die erste, die tschechische Gruppe, mit Marie Svermovä und Sling an der Spitze, sollte sich vor allem um die Beseitigung von Parteifunktionären bemüht haben, vor allem die Rudolf

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Slänskys, sowie um die Isolierung Klement Gottwalds. Die politische Konzeption lautete: Anschuldigung des Trotzkismus und der Zusammenarbeit mit westlichen Nachrichtenzentralen. Die zweite, die slowakische Gruppe, mit Vladimir Clementis und Gustav Husäk an der Spitze, sollte den Sturz der Parteiführung in der Slowakei betrieben haben. Die Ideologie inkriminierte das als gegen die Einheit der Tschechoslowakei gerichteten "slowakischen bourgeoisen Nationalismus". Im Geiste dieser politischen Konzeptionen und Ideologien und mit Genehmigung des ZK der KP£ führten die Hauptkonstrukteure - Ermittler wie Berater - im Februar 1951 die Untersuchungen. Seit der Jahreswende 1949-1950 begann in den Verhörprotokollen der Name Slänskys aufzutauchen, aber auch der anderer Mitglieder der kommunistischen Führung. Noch häufiger erschienen sie in den Verhöraussagen der verhafteten Personen Anfang 1951. Sie beriefen sich darauf, daß die von den Ermittlern als strafbar dargestellte Taten auf Weisung, mit Wissen oder den Richtlinien übergeordneter Funktionäre entsprechend durchgeführt worden seien. K. Gottwald erschrak und verbot, die Verhöre auf führende Funktionäre auszudehnen sowie ihre Namen in das Protokoll aufzunehmen. Die Sowjetberater und die ihnen ergebenen Ermittler hielten das Verbot nicht ein. Auf Weisung der Berater erstellten sie eigene Geheimprotokolle der Aussagen über Slänsky und andere; diese erhielten weder der Ermittlungsleiter, noch der Minister, sondern die Moskauer Sicherheitszentrale. Daß die Lage Slänskys immer gefährlicher wurde, zeigte sich bei der Beratung im Kreml im Januar 1951, als zum Vortrag des Berichtes, welchen Slänsky hatte vorbringen sollen, Stalin stattdessen Alexej Cepiöka aufforderte. Im April 1951 tauchte in den Aussagen der Verhafteten über Slänsky ein neues Faktum auf. Einige Untersuchte behaupteten, daß ihre Straftat durch klare Unterstützung Slänskys ermöglicht worden sei. Solche Aussagen machten Ev2en Löbl, Karel Sväb und Artur London. Nur die Berater erhielten sie. Mit ihrem Einverständnis wurde zur gleichen Zeit der als nazistischer Agent verurteilte Josef Vondräöek verhört, der später einen umfangreichen Bericht über die internationale zionistische Bewegung und ihre Tätigkeit in der Tschechoslowakei geschrieben hat. In diesem Bericht erwähnte er Slänskys Verbindung zum amerikanischen Spion GenugerGrenwill. Trotz der Einwände der Ermittlenden verteidigten die Sowjetberater die Glaubwürdigkeit des Vondräöek-Berichts.

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Im Mai fuhr der Beraterfuhrer nach Moskau. Über seine Tätigkeit haben wir keine Belege. Tatsache ist, daß sich nach seiner Rückkehr die Untersuchungen änderten. Grundsätzlich änderte sich die politische Konzeption und die Ideologie des vorzubereitenden Prozesses: die Gruppe Sling-Svermovä habe nicht mehr Slänsky beseitigen wollen, im Gegenteil gehörte sie zu einer Verschwörergruppe, an deren Spitze Slänsky stand. Unverändert blieb das ihnen angelastete Ziel: Vorbereitung einer antistaatlichen Verschwörung. Die bisherige Ideologie, welche Hauptgefahr und Hauptfeind besonders im amerikanischen Imperialismus, seinen jugoslawischen Verbündeten und dem Trotzkismus gesehen hatte, wurde um den neuen Hauptgegner Weltzionismus oder jüdischer bourgeoiser Nationalismus ergänzt. Auf die Gefahr des Zionismus hatten sowjetische Berichterstatter die tschechoslowakischen Funktionäre der Staatssicherheit schon früher aufmerksam gemacht. Im Frühjahr 1949 haben sie durch zwei slowakische Sicherheitsoffiziere, welche Kontakte zu sowjetischen Kollegen unterhielten, empfohlen, den Zionismus und seine Organisationen zu beobachten. Zwei Sowjetberater [Lichaüev und Makarov], die im Oktober 1949 nach Prag kamen, schockierten dort durch ihren groben Antisemitismus. Im Januar 1951 überzeugten ihre - von Bojarskij angeführten - Nachfolger die leitenden Ermittler aus der Sonderabteilung der Staatssicherheit "Feind in der Partei", wie auch die Mitarbeiter des Apparats des ZK der KPÖ, ZU denen sie damals noch Vertrauen hatten, davon, daß der "größte Feind der internationale Zionismus" sei. Dabei verwiesen sie auch auf die Ausrichtung des neuen Staates Israel und bewiesen, daß die Hauptvertreter des internationalen Imperialismus die Juden seien. Als die gefährlichsten Trotzkisten wurden die Juden bezeichnet. Nach der Verhaftung der Leiter der Staatssicherheit im Januar-Februar 1951 setzte man bekannte Antisemiten in die freigewordenen Funktionen ein. Aus diesem Anlaß entstand in der Staatssicherheit innerhalb der Abteilung "Feind in der Partei" die Sektion Zionismus, zu deren Leiter ein eingefleischter Antisemit wurde. Dank der Berater verbreitete sich seit Beginn 1951 in der Staatssicherheit eine antizionistische und antisemitische Atmosphäre, und ihre Ansichten beeinflußten immer mehr Funktionäre und Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Wende in der politischen Ausrichtung des geplanten Prozesses machte einige Schritte unerläßlich. Die Berater riefen die Ermittler dazu auf, die bislang geheim gesammelten Vermerke über Slänsky nun offiziell

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dem Minister zu übergeben, um dadurch die Aufhebung des Verbots zu erreichen, Verhöre über leitende Funktionäre zu fuhren. Der Minister erlangte die Zustimmung Gottwalds unter der Bedingung, daß die Aussagen der Gefangenen zwar notiert würden, aber keine Konsequenzen haben werden. Der zweite Schritt war, die Ermittlungsleiter davon zu überzeugen, daß die bisherige politische Konzeption und damit auch die Ausrichtung der Untersuchung nicht richtig gewesen sei. Die Berater verhandelten dahingehend schon im April-Juni 1951 mit den Leitern der Untersuchung und überzeugten sie, diese auf der "Linie des jüdisch-bourgeoisen Nationalismus" zu fuhren, da sich in hohen Funktionen des staatlichen, wirtschaftlichen und parteilichen Apparats, in der Staatssicherheit und in der Armee zielstrebig viele Kommunisten jüdischer Herkunft eingefunden hätten. Von dieser Behauptung war es nur noch ein kleiner Schritt dazu, Slänsky die Verantwortung für die Personalpolitik zuzuschreiben. Die führenden Ermittler (B. Doubek, K. KoSfäl) waren schon im Juli 1951 davon überzeugt, daß Slänsky der Feind sei und an der Spitze einer Verschwörerorganisation stehe. Ende Juni einigten sich die Berater mit den Ermittlungsleitern darüber, daß es notwendig sei, insbesondere die Untersuchungsergebnisse über den jüdischen bourgeoisen Nationalismus an die zuständigen Stellen weiterzuleiten. Den Bericht erarbeiteten die Ermittlungsleiter Doubek und KoSfäl, bekommen hat ihn der Innenminister, Gottwald und der Bericht ging auch nach Moskau. Er ging von bisherigen Aussagen aus, besonders bezüglich Slänsky und Geminder, auch wenn sie darin noch nicht als Feinde bezeichnet wurden (nach dem späteren Zeugnis Doubeks sprachen die Berater schon damals von Slänsky als möglichem Feind). Den möglicherweise ergänzten oder korrigierten Bericht übergab die Moskauer Sicherheitszentrale an Stalin. Man erwartete seine Zustimmung oder Anweisung zur Verhaftung Slänskys, dessen Geständnis die wichtigste Vorbedingung des geplanten Prozesses war. Am 20. Juli 1951 schrieb Stalin an Gottwald, daß die in Moskau erhaltenen Materialien über Slänsky und Geminder "als ungenügend erachtet werden" und es "keinerlei Gründe für eine Anschuldigung" gebe. Stalin zufolge ging es um die Anzeige bekannter Täter, nicht um Fakten, welche diese Anzeige stützen würden. Stalin weiter: "Hieraus ist ein nicht genügend ernstes Verhältnis zu dieser Arbeit sichtbar, warum wir uns entschlossen haben, Bojarskij nach Moskau abzuberufen." Zugleich lud er Gottwald ein, in dieser Angelegenheit in Moskau zu ver-

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handeln. Für Gottwald war Stalins Stellungnahme eine Erleichterung; er teilte Stalin mit, daß er der gleichen Meinung sei. Statt selber zu reisen, schickte er seinen Schwiegersohn, Mitglied der kommunistischen Führung und Verteidigungsminister Alexej CepiCka, der sich am 23. Juli 1951 an der Tagung der sowjetischen Parteiführung beteiligte. Stalin bekräftigte nochmals ausdrücklich seinen Standpunkt und fugte nach Öepiökas Vermerk hinzu, daß die Aussagen eine Provokation der Verbrecher sein könnten. Die Verhandlung Schloß er mit einer Kritik der schlechten Personalpolitik ab, welche die feindselige Tätigkeit der verhafteten Funktionäre ermöglicht habe. Für die Personalpolitik war Slänsky verantwortlich, darum sei es nötig, ihn seiner Funktion als Generalsekretär zu entheben. Das war auch der Inhalt des Briefes, den Cepiöka Gottwald überbrachte. Es fragt sich, weshalb Stalin die Anschuldigung Slänskys ablehnte, was doch die Vorbereitung eines großen Prozesses verhinderte samt der Möglichkeit, ihn gegen den Zionismus auszunützen und so zur Unterstützung der antisemitischen Welle beizutragen. Darüber können nur die sowjetischen Archive Aufschluß geben. Es ist nicht auszuschließen, daß ihm die Aussagen für eine Anschuldigung und einen großen Prozeß wirklich zu dürftig schienen. Die Initiatoren des antisemitisch ausgerichteten Prozesses in der Moskauer Sicherheitszentrale, die Berater in Prag und die tschechoslowakischen Ermittler werteten zwar Stalins Entscheidung als Mißerfolg, gaben aber ihr Ziel nicht auf. Sie mißachteten Gottwalds Befehl, der das Verbot erneuert hatte, Verhöre über Slänsky und andere hohe Funktionäre zu führen und setzten ihre Ermittlungen heimlich fort. Ihre Aktivitäten wurden von zwei Begebenheiten unterstützt. Die erste war, daß zu Slänskys fünfzigstem Geburtstag am 31. Juli 1951 zwar Glückwünsche von vielen kommunistischen Parteien eintrafen, Moskau aber selbst schwieg. Das signalisierte mindestens Vorbehalte gegenüber Slänsky, konnte aber auch die erwartete Abberufung Slänskys von seiner Funktion bedeuten, über die Gottwald Stalin am 26. Juli informiert hatte. Für Stalin und seinen unmittelbaren Kreis war Slänsky schon nicht mehr Generalsekretär der KPC. Die zweite ermunternde Begebenheit war die Enthebung Slänskys aus der Funktion am 6. September 1951 durch das Zentralkomitee der KPC selbst, auch wenn ihm durch die Ernennung zum Stellvertreter des Regierungsvorsitzenden und durch Belassen der Mitgliedschaft im engsten Parteiführungsgremium weiterhin Vertrauen ausgedrückt wurde.

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Hinsichtlich der Vorbereitung des großen Prozesses und seiner neuen politischen Konzeption hatte die Septemberversammlung eine außerordentliche Bedeutung; Slänsky trug dort eine selbstkritische Erklärung vor und deklarierte seine Verantwortung für eine Personalpolitik, die es so vielen Feinden erlaubt hatte, in wichtige Funktionen vorzudringen. Seine Schuld betonte er noch unter Berufung auf die Erfahrungen aus den Enthüllungen Trotzkis, Bucharins und anderer. Im Zusammenhang mit der Personalpolitik sprach dort Gottwald über die mögliche Bildung eines zweiten Machtzentrums und Vaclav Kopecky, ein für seine Kontakte zu Sowjetstellen und Ideologen politischer Prozesse bekanntes Mitglied der kommunistischen Führung, sprach schon davon, daß sich das Zentralsekretariat der KPC schon zum zweiten Machtzentrum entwickelte. Auf dieser Septemberversammlung des ZK der KPC - und das kann als besonders wichtig erachtet werden - erklang bereits öffentlich jene politische Konzeption des anstehenden Prozesses, die bislang nur in den Vorstellungen und Zielen der Berater und Ermittler existiert hatte. Als Gottwald darüber klagte, daß die Mehrheit der eingesperrten Kommunisten "nicht aus der Wurzel unseres Landes und unserer Partei erwuchs", drückte er sich noch relativ vage aus, während sie Kopecky schon als Kosmopoliten bezeichnete. Beide dachten an die Funktionäre jüdischer Herkunft. Kopecky sprach zudem lange über die Gefahr des Zionismus, der dem angloamerikanischen Imperialismus zum Mittel zur inneren Auflösung der Volksdemokratien diene. Die kommunistischen Organisationen, die sich mit den Ergebnissen der Septemberversammlung ihres Zentralkomitees befaßten, werteten mehrheitlich Slänskys Selbstkritik als aufrichtig und faßten seine Mitgliedschaft in der engsten Führung als Vertrauensbeweis auf. Auf den Versammlungen aber ertönten nicht wenige Stimmen, die für ein schärferes Vorgehen gegen ihn plädierten. Sie glaubten nicht an seine Aufrichtigkeit und verurteilten ihn deswegen, daß er Leute jüdischer Herkunft in hohe Funktionen eingesetzt habe. Der Antisemitismus, der bereits in der Staatssicherheit zu wuchern begann, machte sich allmählich auch in der kommunistischen Partei und der Gesellschaft breit. Das Weiterführen der Geheimverhöre brachte keine Erfolge. Nur diejenigen Vernehmungen nahmen zu, die gerade nicht zum Beweis für die notwendige Verhaftung Slänskys dienen konnten. Zum Beweisstück wurde schließlich ein Brief, adressiert an den "Großen Straßenkehrer"; ihn über-

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brachte am 9. November 1951 ein Agent des Nachrichtendienstes der tschechoslowakischen Emigration (R. Neveöefal), der für den amerikanischen Dienst arbeitete und den tschechoslowakische Organe als "Doppelagenten-Fußgänger" angeworben hatten. Der Brief forderte den Adressaten, den "Großen Straßenkehrer", zur Emigration auf, da ihm Verhaftung und Prozeß drohe. Die tschechoslowakischen Sicherheitsbeamten, die den Brief erhielten, widmeten ihm keine größere Aufmerksamkeit, doch der Brief ging sichtlich auch einen anderen Weg: nach Moskau. Schon am 11. November 1951 kam plötzlich und faktisch geheim das Mitglied des Moskauer Politbüros Anastas Mikojan nach Prag mit einer Botschaft Stalins an Gottwald, daß Slänsky zu verhaften sei, denn es bestehe Fluchtgefahr. Gottwald stimmte der Verhaftung zu, zögerte aber noch und argumentierte, daß keine Beweise vorlägen; auch von Mikojan erfuhr er nichts über den Brief an den "Großen Straßenkehrer". Slänsky wurde am 24. November 1951 verhaftet. Gottwald, der Regierungschef A. Zäpotocky und der Minister CepiCka entschieden sich erst dann zu diesem Schritt, als Aleksej Besöastnov, der neue Beraterleiter, dem Minister für Staatssicherheit den Brief übergab. Von den verschiedenen Versionen über Urheber und Absicht des Briefes erwähne ich zwei, dafür aber die wichtigsten. Die eine geht davon aus, daß es sich hierbei um eine Aktion des tschechoslowakischen Nachrichtendienstes in der westlichen Emigration handelte, die Slänsky warnen sollte und seine Abreise in den Westen organisieren wollte. Die zweite sieht im Brief eine Provokation, hinter der tschechoslowakische und sowjetische Berichterstatter standen und die einen direkten Grund zur Verhaftung Slänskys geben sollte. In beiden Versionen bleiben aber bisher einige unbeantwortete Fragen. Fest steht nur, daß der Brief an den "Großen Straßenkehrer" zur Verhaftung Slänskys führte, nicht aber zu seiner Flucht. Nach der Verhaftung Slänskys entflammte eine neue Welle des Antisemitismus, diesmal viel heftiger als im September 1951. Die Teilnehmer an der Vorstandssitzung des ZK der KP£ vom 25. November sprachen schon von den Beziehungen Slänskys zum Zionismus, daß er Zionisten schützte, daß sein Anliegen die Entstehung des zionistischen Staates Israel wäre. Kopeckys Auftritt enthüllte bereits einen unverdeckten Antisemitismus: "Die Beziehungen (sc. Slänskys und Gen.) zum Westen stehen auf der Linie des Zionismus. Zionismus ist hebräischer Titoismus." Und seine Rede auf der Hauptversammlung des ZK der KPÖ, die sich am 6. Dezember 1951

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mit der Verhaftung Slänskys befaßte, widmete er vor allem dem Zionismus, der seiner Ansicht nach eine "ungewöhnlich ernste Gefahr in den letzten Jahren wurde und mit dem Staat Israel verbunden ist." Er wiederholte seine Worte über den jüdischen Titoismus und sagte, "daß in Polen und Ungarn ein Zusammenhang mit dem Zionismus festgestellt wurde." Viele Resolutionen, die aus arrangierten kommunistischen und sonstigen öffentlichen Versammlungen kamen - in nur drei Wochen waren es 2.355 enthielten Forderungen nach der Abberufung jüdischer Funktionäre, von denen viele zu jenen gehörten, die von Slänsky in Funktionen eingesetzt worden waren oder dann wegen der Zusammenarbeit mit Slänsky abberufen wurden. Es folgten Verhaftungen, von denen auch Bedrich Geminder und Jarmila Taussigovä betroffen waren, eine führende Gestalt der Kommission der Parteikontrolle des ZK der KPÖ. Auf das Zentralsekretariat der KPÖ und der Staatssicherheit rollten auf Gottwalds Aufforderung hin Angaben über eine Reihe von Funktionären zu, die entweder der Ausführung der Weisungen Slänskys bezichtigt wurden oder jüdischer Herkunft waren. Die Staatssicherheit stellte aus diesen Briefen "anstößige Erkenntnisse" über 2077 Personen zusammen. 1952 wurden jene verhaftet, die von den Ermittlern schon früher als die Hauptgruppe der Angeklagten ausgemacht worden waren. Es ging um Personen, die die antisemitische, antizionistische politische Linie des Prozesses stärken sollten. Zu ihnen gehörte Ludvik Frejka, der Führer der volkswirtschaftlichen Kommission des ZK der KPC und der Abteilung der Kanzlei des Präsidenten der Republik, Andre Simone, ein kommunistischer Journalist, Rudolf Margolius, der Stellvertreter des Ministers für Außenhandel, Otto Fischl, der Stellvertreter des Finanzministers und der bereits erwähnte Josef Frank. Die Verhaftungen betrafen die Mehrheit der Kapitäne der tschechoslowakischen Industrie, was u.a. mit der Existenz einer jüdischen Gruppe begründet wurde, die die Ökonomie beherrschte und sie absichtlich in einen kritischen Zustand geführt hatte. Genau ein Jahr von der Verhaftung an dauerte die Vorbereitung des Prozesses gegen Slänsky und Genossen. Die Ermittler mußten nun die schon früher Verhafteten davon "überzeugen", daß sie Slänsky nicht hatten beseitigen wollen, im Gegenteil zu seinen Mitarbeitern gehörten und ihr Ziel die Vernichtung des aktuellen Regimes war. Die Mehrzahl der untersuchten Funktionäre fügte sich dem Umschwung in der Konzeption. Mit

Der politische Prozeß gegen R. Slansky und Genossen

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den Verhören begannen die Ermittler zwei Tage nach Slänskys Verhaftung und gingen mit den sowjetischen Beratern, die in Wirklichkeit die Untersuchungen leiteten, nach Plan vor. Der Zionismus kam erst nach einem halben Jahr an die Reihe, am 12. Mai 1952. Erst mußte das Opfer die anfängliche Phase des sog. psychologischen Bruches durchmachen und sich der Hoffnungslosigkeit seines Widerstandes gegen das erpreßte, unwahre Geständnis vergewissern. Bis Mai konzentrierten sich die Verhöre auf das Bekenntnis der Spionagetätigkeit und der Existenz eines antistaatlichen Verschwörungszentrums. Die ersten Vernehmungen zum Zionismus dauerten vierzehn Tage und brachten nicht den erwarteten Erfolg. Slansky verweigerte ganz am Anfang die Unterschrift des Protokolls, das auf Weisung der Berater anführte, daß er jüdischer und nicht tschechischer Nationalität sei. Den Konflikt löste man mit der Kompromißformulierung: tschechischer Nationalität, jüdischer Herkunft. Er weigerte sich auch, sich zur führenden Rolle einer zionistischen Organisation zu bekennen, da er keine kenne. Nach langen, von derben antijüdischen Beschimpfungen begleiteten Verhören, "bekannte" er schließlich, daß die Unterstützung der Zionisten auch amerikanischen und englischen imperialistischen Interessen dienen könnte; er leugnete aber, über Zionisten eine Verbindung zu amerikanischen und englischen Kreisen oder zu Spionen unterhalten zu haben, was ihm die Konstruktionen der Berater und Ermittler unter Berufung auf Geminder unterstellten. Von Geminder hatte man schon falsche Geständnisse erzwungen. Nach über einem Monat, am 30. Juni, wandte sich die Untersuchung Slänskys dem Zionismus zu und dauerte fast drei Wochen. Man erschlich sich durch vorher ausgearbeitete Verhörpläne das Eingeständnis, daß er Zionisten zielstrebig in hohe Funktionen eingeschleust habe, daß er zionistische Organisationen in der Tschechoslowakei unterstützte und Spionageverbindungen mit israelischen Diplomaten unterhielt, vor allem mit dem Botschafter Überall in Prag. Alle diese Anschuldigungen leugnete er auch nach Konfrontation mit Geminder. Nach sehr starkem Druck wich er allmählich von seiner Haltung zurück, so daß die Ermittler wenigstens einen Teil ihres Planes durchsetzten konnten. Slansky leugnete auch eine direkte Verbindung zu israelischen Diplomaten-Spionen, gestand nur die Vermittlung Geminders zu und widersprach auch dem erzwungenen Geständnis, schon vor dem zweiten Weltkrieg mit zionistischen Organisationen zu-

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sammengearbeitet zu haben. In bezug auf den Zionismus wurde auch eine Reihe anderer Gefangener intensiv verhört: außer Geminder u.a. Reicin, Margolius, Löbl, aber auch die israelischen Bürger Oren und Orenstein, sowie Funktionäre der jüdischen Kommission und der internationalen Sektion der KP