Der Rätselhafte: Gorbatschows Anfänge als Generalsekretär im Blick des Auswärtigen Amtes (1985–1987) [1 ed.] 9783428583584, 9783428183586

Als Michail Gorbatschow vom Politbüro der KPdSU zum Generalsekretär erkoren wurde, ahnte niemand, was bevorstand. Er war

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Der Rätselhafte: Gorbatschows Anfänge als Generalsekretär im Blick des Auswärtigen Amtes (1985–1987) [1 ed.]
 9783428583584, 9783428183586

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Zeitgeschichtliche Forschungen 58

Der Rätselhafte Gorbatschows Anfänge als Generalsekretär im Blick des Auswärtigen Amtes (1985–1987) Von Hans-Jürgen Meyer

Duncker & Humblot · Berlin

HANS-JÜRGEN MEYER

Der Rätselhafte

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 58

Der Rätselhafte Gorbatschows Anfänge als Generalsekretär im Blick des Auswärtigen Amtes (1985–1987)

Von

Hans-Jürgen Meyer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18358-6 (Print) ISBN 978-3-428-58358-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Drei Jahrzehnte sind seit dem Ende des „Kalten Krieges“ und der Herrschaft von Michail Sergejewitsch Gorbatschow vergangen. Nach dem Ende der Schutzfrist für Archivgut des Bundes stehen auch die Akten der damaligen Bundesregierung der historischen Forschung zur Verfügung. Umfang und Vielfalt des Quellenmaterials ermöglichen eine dichte Beschreibung von Einschätzungen und Überlegungen der Sowjetunion-Experten des Auswärtigen Amtes, des Außenministers und des Bundeskanzlers zu Zielen und Motiven der sowjetischen Führung in der ersten Phase der Ära Gorbatschow. Die Betrachtung der deutsch-sowjetischen Beziehungen während der ersten zweieinhalb Jahre der Herrschaft Gorbatschows ist lohnend, weil sich zwei unterschiedliche historische Perioden überlagern und sich beobachten lässt, wie die Sklerose des sowjetischen Machtapparates und die Eiszeit der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach dem Stationierungsbeschluss allmählich – trotz des folgenreichen Newsweek-Interviews des Bundeskanzlers – einer neuen und sich stetig selbst verstärkenden Dynamik weichen, die schließlich das Ende der Epoche herbeiführen sollte. Ebenso spiegeln sich in den Akten das gesellschaftliche Klima und die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik Mitte der achtziger Jahre sowie der innere Wirkungsmechanismus des westlichen Bündnisses mit der Bundesrepublik Deutschland als einem maßgeblichen Akteur. Die vorliegende Untersuchung beruht auf einer Auswertung von Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, teilweise veröffentlicht in der Edition von „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ des Instituts für Zeitgeschichte. In ihrem Fokus steht die in den Akten dokumentierte Perspektive des Auswärtigen Amtes auf die historischen Vorgänge, welche in aller Subjektivität Grundlage von Handlungen und Entscheidungen der bundesdeutschen Außenpolitik war und deren Kenntnis zum Verständnis der Politik der Bundesregierung unabdingbar ist. Die Aufklärung von Irrtümern und Fehleinschätzungen steht ebenso wenig im Mittelpunkt dieser Untersuchung wie eine Bewertung Michail Gorbatschows und seiner Politik aus heutiger Sicht. Berlin, im April 2021

Hans-Jürgen Meyer

Inhaltsverzeichnis I.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

II.

Gerontokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

III.

Nachrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

IV.

Gespannte Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

V.

Anfänge der neuen Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

VI. Öffentlichkeitsarbeit und „Propaganda“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 VII. Abwarten und Beobachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 VIII. Der XXVII. Parteitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 IX. Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 X.

Genscher in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

XI. Reykjavik und „Newsweek“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 XII. Bundestagswahlen und Davoser Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 XIII. Die Deutsche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 XIV. Neustart – Weizsäcker in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 XV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Abkürzungen AA AAPD AL AM B BK BM BP BPA BT FS G GK GS INF KPdSU MD MdB MDgt MfS-HVA P PA-AA PB PS RFSR RGW SAM SED SDI SRINF StS SU UdSSR VM VP ZK 2

Auswärtiges Amt Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland Abteilungsleiter Außenminister Botschafter Bundeskanzler Bundesminister Bundespräsident Bundespresseamt Deutscher Bundestag Fernschreiben Gesandter Generalkonsul Generalsekretär Intermediate-Range Nuclear Forces Kommunistische Partei der Sowjetunion Ministerialdirektor Mitglied des Bundestages Ministerialdirigent Ministerium für Staatssicherheit/Hauptverwaltung Aufklärung Präsident Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Politbüro Planungsstab des Auswärtigen Amtes Russische Föderative Sowjetrepublik Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) Sowjetisches Außenministerium Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Strategic Defense Initiative Short-Range-Intermediate-Range Nuclear Forces Staatssekretär Sowjetunion Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Verteidigungsminister Vizepräsident Zentralkomitee AA Abteilung 2 (Politische Abteilung) AA Unterabteilung 21 AA Referat 213 (Sowjetunionreferat)

I. Einführung Im Oktober 1986 gab Bundeskanzler Helmut Kohl der Zeitschrift „Newsweek“ ein Interview, das aufgrund seiner Charakterisierung des sowjetischen Generalsekretärs Michail Sergejewitsch Gorbatschow historische Berühmtheit erlangen sollte: „Das ist ein moderner kommunistischer Führer. Der war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber der versteht was von PR. Der Goebbels verstand auch was von PR. (Gelächter) Man muss doch die Dinge auf den Punkt bringen.“1 Aufregung im In- und Ausland und eine neue Eiszeit in den deutsch-sowjetischen Beziehungen waren die Folge. Die Aussage war Bestandteil einer politischen Botschaft des Bundeskanzlers am Vorabend seiner USA-Reise nur kurze Zeit nach dem Gipfeltreffen von Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan in Reykjavik und sie war Ausdruck eines spürbaren Missvergnügens angesichts der wachsenden Beliebtheit des Generalsekretärs in der westlichen und zumal deutschen Öffentlichkeit. Wie in einem Prisma bündeln sich im Kohl-Interview zeitgeschichtliche Aspekte, um die es hier gehen wird: Das für den Kalten Krieg bezeichnende Misstrauen im Ost-West-Verhältnis, das auf der Überzeugung beruhte, die andere Seite werde jede sich bietende Möglichkeit ergreifen, in eine Position der Überlegenheit zu gelangen, um sich im machtpolitischen Zweikampf durchzusetzen, was auch immer Gegenteiliges sie behaupten möge; die Rüstungs- und Abrüstungsdebatte, die das OstWest-Verhältnis der siebziger und achtziger Jahre beherrschte und mit der Wiederwahl Reagans (1984) und dem Amtsantritt Gorbatschows (1985) in ein neues Stadium getreten war, in welchem der Gipfel von Reykjavik einen wichtigen Meilenstein und infolge überraschender Angebote zugleich eine Herausforderung für die Einigkeit im westlichen Bündnis bedeutete; schließlich der ständige Versuch einer Instrumentalisierung der Öffentlichkeit durch Beeinflussung von Medien, Parteien und anderen Multiplikatoren, um Druck aufzubauen und politisches Handeln in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Ära Gorbatschow, an deren Ende das Schicksal der Sowjetunion besiegelt war, markiert die letzte Phase des Kalten Krieges, jener Epoche der globalen Dominanz zweier weltanschaulich antagonistischen Blöcke unter Führung der USA und der Sowjetunion. In dieser Welt beruhte der Frieden auf der gegenseitigen Respektierung der Einflusssphären von Jalta sowie in militärischer Hinsicht auf den Prinzipien von Kräftegleichgewicht und Abschreckung, wobei Abschreckung die sichere Aussicht bedeutete, im Falle eines bewaffneten Konflikts durch Nuklearwaffen vollständig vernichtet zu werden („mutual assured destruction“), was wie1 Audio-Mitschrift: https://www.swr.de/archiv/diekohlstory/newsweek-interview-mit-fol gen-oktober-1986/-/id=6008018/did=6101728/nid=6008018/1fig0jw/index.html [18.02.20].

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derum einen anhaltenden Rüstungswettlauf und die Potenzierung der beiderseitigen Zerstörungskraft bedingte. Unter diesen Umständen galt Stabilität im Ost-WestVerhältnis quasi als Wert an sich, freilich mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Völker Europas: Während den einen ein Leben in Freiheit und Wohlstand verheißen war, mussten die anderen sich mit Unterdrückung und Rückständigkeit abfinden2. Die Einflusssphären der Großmächte waren durch Mauer und Stacheldraht hermetisch getrennt, der Umgang der Blöcke miteinander war in zahlreichen Verträgen und Vereinbarungen geregelt und unterlag feinsinnigen bis zuweilen absurden diplomatischen Konventionen. Im Osten zementierten die Machtausübung nach den Regeln des „demokratischen Zentralismus“ im Innern und die „Breschnew-Doktrin“ für die Staaten des mittel-osteuropäischen Glacis der Sowjetunion den Status quo und beherrschte das Streben nach Sicherheit, Kontrolle und Risikovermeidung das Denken und Handeln der Führung. Die umfassende Reglementierung und Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens schufen im „real existierenden Sozialismus“ ein Klima, das Veränderungen schwer machte und für Initiative und Kreativität des Einzelnen wenig Raum ließ, so dass sich die sowjetische Gesellschaft beim Amtsantritt Gorbatschows weitgehend im Zustande der Erstarrung befand3. Zur gleichen Zeit vollzog sich im Westen mit wachsender Geschwindigkeit ein tiefgreifender Struktur- und Bewusstseinswandel, angetrieben durch den technischen Fortschritt und mit weitreichenden Konsequenzen für die Bedingungen industrieller Produktion und einem Trend zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. So wuchs der Abstand im Leistungsvermögen der rivalisierenden Systeme dramatisch. Durch ihre Unfähigkeit zur Modernisierung sowie die fundamentalen Mängel der Planwirtschaft, Schlendrian und Korruption geriet die Sowjetunion spätestens Anfang der achtziger Jahre im Systemwettbewerb in uneinholbaren Rückstand4. Die Versorgungslage der Bevölkerung verschlechterte sich Jahr für Jahr. Der Niedergang der Volkswirtschaft war begleitet von extremer Umweltverschmutzung mit unübersehbaren Folgen für Natur und Volksgesundheit, omnipräsentem Alkoholmissbrauch, wachsender Kindersterblichkeit und abnehmender Lebenserwartung der Bevölkerung5. Hinzu kam, dass infolge wachsenden Wohlstands die sozialen Verhältnisse im Westen mit dem Weltbild des orthodoxen Marxismus immer weniger zu tun hatten und für Klassenkampf-Visionen wenig hergaben6. Das Ost-West-Verhältnis war Anfang der achtziger Jahre höchst angespannt: Zwar hatte die Entspannungspolitik der frühen siebziger Jahre die Beziehungen zwischen beiden Blöcken nachhaltig verändert, weil die Nachkriegsordnung, die Unverletzlichkeit der Grenzen, der Gewaltverzicht und das Gleichgewicht der Kräfte 2 3 4 5 6

Gaddis, S. 196, 198 f., 226. Vgl. Brown, Gorbachev Factor, S. 17 m.w.N.; zur „Breschnew-Ära“ Westad, S. 407 ff. Kotkin, S. 63 f.; Wirsching, S. 544 ff., 435 ff.; Karner, S. 15 ff., 29. Kotkin, S. 18 f., 25 f.; Karner, S. 18 f., 38. Kotkin, S. 20.

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in den „Ost-Verträgen“ anerkannt worden waren und für die „Deutsche Frage“ im „Brief zur Deutschen Einheit“ zum Moskauer Vertrag (1970) und im Viermächteabkommen über Berlin (1971) ein Modus Vivendi gefunden werden konnte. Am Ende dieser Phase stand die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975), welche nicht nur die Integrität der Nachkriegsordnung sanktionierte, sondern der Sowjetunion erstmals ein politisch einklagbares Bekenntnis zu den Menschenrechten in ihrem Herrschaftsbereich abnötigte. Aber in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verschlechterte sich die Qualität der Beziehungen zwischen den Blöcken zusehends7: Während die westliche Führungsmacht durch die militärisch-moralische Niederlage in Vietnam, enorme wirtschaftliche Probleme infolge des Krieges und der „Ölkrise“ sowie die Demütigung der Geiselnahme von Teheran sichtbar geschwächt war („Malaise“)8, schien die Sowjetunion ihren globalen Einfluss Schritt für Schritt auszuweiten. Ihren ideologischen Rahmen bildeten die Idee des „proletarischen Internationalismus“ und das Prinzip der „friedlichen Koexistenz“, welches den Gewaltverzicht im Verhältnis der Blöcke mit der jederzeitigen Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung im „Klassenkampf“ in allen Teilen der Welt verband9. Die Unterstützung von marxistischen Aufständischen in der Dritten Welt wie in Angola oder Äthiopien und insbesondere der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan provozierten westliche Ängste und führten u. a. zum Boykott der Olympischen Spiele in Moskau (1980), für den sich die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten 1984 in Los Angeles revanchierten. Der Abschuss des koreanischen Verkehrsflugzeugs KAL 007 mit 269 Passagieren durch die sowjetische Luftabwehr (1983) galt im Westen als Ausweis der Skrupellosigkeit eines totalitären Regimes. Besonders die von der Sowjetunion und ihren Verbündeten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre betriebene Aufrüstung machte dem Westen zu schaffen und belastete die Ost-West-Beziehungen schwer10. Die Sowjetunion, die als Ölproduzentin von der Ölkrise der siebziger Jahre erheblich profitierte11, investierte jedes Jahr etwa ein Viertel ihres Bruttosozialprodukts in Rüstung, während gleichzeitig die USA ihr Budget aus ökonomisch-fiskalischen Gründen deutlich reduzieren mussten12. Die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes und die nukleare Bewaffnung der Sowjetunion wurden konsequent ausgebaut. Ihren Tiefpunkt erreichten die Ost-West-Beziehungen mit der Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II in Deutschland (1983), nachdem die Bemühungen gescheitert waren, die Sowjetunion durch den NATO-Doppelbeschluss von 1979 7 Zum „Ende der Entspannung“ Garton Ash, S. 138 ff.; Ploetz, S. 14 ff.; Taubman, S. 170; Westad, S. 529 ff., 559 ff. 8 „Crisis-of-confidence (,Malaise‘)“-Fernsehansprache von US-Präsident Jimmy Carter am 15. 07. 1979, https://www.youtube.com/watch?v=kakFDUeoJKM [21.02.20]; Kotkin, S. 10 ff.; Gaddis, S. 212; Ploetz, S. 86, 94, 124 m.w.N.; Winkler, S. 780 ff. 9 Gaddis, S. 206 ff.; Ploetz, S. 78, 125 f. m.w.N. 10 Gaddis, S. 199 ff.; Ploetz, S. 29 ff., 64 ff. m.w.N. 11 Kotkin, S. 15 ff. 12 Kotkin, S. 61; Gaddis, S. 212 f.; Ploetz, S. 64; Karner, S. 28.

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zum Abbau ihrer modernen Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 zu bewegen, die insbesondere in Europa als eine Bedrohung völlig neuer Qualität angesehen wurden. Veränderungen in der Führung des Westens Anfang der achtziger Jahre verstärkten dort allerdings die Bereitschaft, die Gangart zu ändern und sich der Politik der Sowjetunion mit mehr Nachdruck entgegenzustellen13 : Margaret Thatcher wurde Premierministerin von Großbritannien (1979), Ronald Reagan wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt (1980) und in Bonn kam es nach einem konstruktiven Misstrauensvotum zur Bildung einer Regierung von CDU/CSU und FDP unter Helmut Kohl (1982). Reagan nannte die Sowjetunion ein „Evil Empire“14, steigerte die Rüstungsausgaben und propagierte ein umfassendes Raketenabwehrabwehrsystem im Weltraum (SDI, Stichwort „Star Wars“), das die beiderseitigen Raketenwaffen obsolet machen sollte15. Dies stellte die Sowjetunion, deren ökonomischer und technologischer Rückstand sich seit Anfang der achtziger Jahre durch zunehmende Verschuldung aufgrund von Ölpreisverfall und Afghanistan-Einsatz deutlich verschärfte16, vor unabsehbare Herausforderungen. Hinzu kamen Interventionen der USA in Asien, Afrika und Lateinamerika, die die Sowjets als Teil einer „konterrevolutionären Offensive“ betrachteten17. Bereits 1978 hatte außerdem das Pontifikat des Polen Karol Wojtyla als Papst Johannes Paul II. begonnen, der ein charismatischer Fürsprecher von Religionsfreiheit und Menschenrechten in Osteuropa war und dem Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft spirituellen Rückhalt gab18. Die polnische Streikbewegung und die Gründung von Solidarnosc (1980) wurden durch ihn spürbar beeinflusst. Im Jahr 1981 war er Ziel eines Attentats auf dem Petersplatz in Rom, dessen Täter Verbindungen zum bulgarischen und sowjetischen Geheimdienst nachgesagt wurden19. Nur ein Jahr später wurde in Polen, um die Demokratiebewegung zu stoppen, das Kriegsrecht verhängt. Kritisch war somit die wirtschaftliche Lage seines Landes und vielfach belastet die Beziehungen im Ost-West-Verhältnis, als Michail Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde. 13

Gaddis, S. 214 ff., 222; Winkler, S. 807 ff., 827 ff.; Westad, S. 554 ff. (mit der fragwürdigen Wertung: „letztlich aber wurde der Entspannung der Todesstoß durch die Politik in den Vereinigten Staaten versetzt“, S. 557). 14 „Address to the National Association of Evangelicals“ in Orlando, FL am 08. 03. 1983, https://www.youtube.com/watch?v=FcSm-KAEFFA [21.02.20]; Gaddis, S. 225; fünf entscheidende Jahre später, in einem Interview beim Moskauer Gipfel 1988, wollte auch Reagan nicht länger vom „Evil Empire“ sprechen: „No, I was talking about another time, another era“, s. Brown, Gorbachev Factor, S. 238 m.w.N. 15 Winkler, S. 817 f. 16 Karner, S. 30 f., 32 f., 36 (Öllieferungen standen für ca. 25 % der Einnahmen der SU; der Afghanistan-Einsatz beanspruchte ca. 20 % des Budgetdefizits); Winkler, S. 794 ff.; Westad, S. 592. 17 Westad, S. 596 (Afghanistan, Angola, Kambodscha, Nicaragua). 18 Gaddis, S. 196, 218; Brown, 7 years S. 226 ff.; Winkler, S. 799 f. 19 Gaddis, S. 219.

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„Gorbachev is hard to understand“, so der Beginn von William Taubmans Biographie20. Er verweist auf den Umstand, dass es den Zeitgenossen in der Sowjetunion nicht minder als im Ausland erkennbar schwerfiel, sich ein Bild des Generalsekretärs Gorbatschow zu machen, seine Worte zu interpretieren, seine politischen Initiativen zu bewerten und seine künftigen Schritte vorherzusagen. Niemand rechnete mit dem, was Ergebnis seiner Amtszeit werden sollte: Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Wiedervereinigung Deutschlands, das Ende des Sozialismus‘ in Mittel- und Osteuropa und der Untergang der Sowjetunion. Allein durch sein „jugendliches“ Alter (Jahrgang 1931), Charisma, unkonventionelle Offenheit und eine zupackende Rhetorik stach Gorbatschow vom bisherigen Regime der „steinernen Greise“ ab. Ungewiss war jedoch, ob er sich auch in inhaltlich-politischer Hinsicht von ihnen unterscheiden würde. In den ersten Jahren seiner Regentschaft überwogen im Urteil des Westens Skepsis und Misstrauen, doch gab es von Anfang an große Unterschiede in der Wahrnehmung21: Manche hielten Gorbatschow für einen treuen Diener seiner Partei und überzeugten Sachwalter des Sozialismus, andere sahen in ihm schon bald einen Heils- und Friedensbringer. Die einen trauten ihm so wenig wie seinen Vorgängern, die anderen erkannten Ansatzpunkte für einen konstruktiven Dialog. Viele beobachteten ihn und seine Politik mit großer Aufmerksamkeit, einige zogen ihre Schlüsse und waren bereit, ihre Haltung anzupassen, um zu erwünschten Ergebnissen zu gelangen. Die einen früher, die anderen später. Die Wahrnehmung des „Phänomens“ Gorbatschow in der Gesellschaft wurde aufgrund seiner Omnipräsenz zu einem Faktor der Politik22. Das führt zu der Frage, wie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Person Gorbatschows beurteilte und welche Schlussfolgerungen sie daraus zog. Welche Politik erwartete man vom neuen Generalsekretär: Nur eine Fortsetzung im neuen Gewand oder die Wiederbelebung der Entspannungspolitik oder sogar tiefgreifende Veränderungen der Koordinaten des Ost-West-Konflikts? Inwieweit war man bereit, die Strategie im Umgang mit der Sowjetunion solchen Erwartungen anzupassen und sich auf etwas Neues einzulassen? Zweck dieser Studie ist keine multiperspektivische und um Objektivität bemühte Darstellung und Bewertung der Herrschaft Michail Gorbatschows, sondern die Beschreibung einer bestimmten Wahrnehmung von Person und Politik des Generalsekretärs, ihres Wandels und ihrer Wirkung. Dabei wird der Untersuchungsgegenstand in zweifacher Weise fokussiert: In zeitlicher Hinsicht soll es um die Anfangsphase der Amtszeit Gorbatschows gehen, als die künftige Entwicklung noch unklar war und Gorbatschows Politik sich weitgehend im Stadium der Ankündigung befand. Der Zeitraum erstreckt sich von 20

Taubman, S. 1; ähnlich Falin, S. 432 („Gorbatschow war nicht vorhersehbar; nie konnten wir erkennen, was er im Sinn hatte“). 21 Einen umfassenden Überblick der Wahrnehmung Gorbatschows in der Bundesrepublik und der DDR gibt Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow, 2020. 22 Wentker, ebda. S. 224 ff.

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1985 bis 1987, die deutsch-sowjetischen Beziehungen angehend etwa bis zum Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in Moskau im Juli 1987, der einen schon seit dem Frühjahr jenes Jahres erkennbaren deutlichen Wandel in den bilateralen Beziehungen markierte. Aus dem Blickwinkel der sowjetischen Innenpolitik deckt sich der Betrachtungszeitraum mit der ersten von drei Phasen der Ära Gorbatschow (Archie Brown)23 : 1. Phase: Vorbereitung der Umgestaltung (1985 – 1986). Kennzeichnend waren hier vor allem der neue Stil des Generalsekretärs, gezielte personelle Veränderungen an der Spitze von Partei und Staat und die Proklamation von Glasnost (Offenheit, Transparenz), Perestroika (Umgestaltung, Restrukturierung) und Uskorenie (Beschleunigung) zu dem erklärten Zweck, die Wirtschaftskraft der Sowjetunion und damit ihre Position im Wettbewerb der Systeme deutlich zu steigern24. Die von Gorbatschow unter Berufung auf Lenin für notwendig erachteten Veränderungen betrafen das gesamte Wirtschaftsleben, bewegten sich aber noch vollends innerhalb der Grenzen des politischen Systems. Allerdings blieb es, von der fehlgeleiteten Kampagne gegen den Alkoholismus abgesehen, bei Appellen und Ankündigungen. 2. Phase: Beginn der Umgestaltung des politischen Systems (1987 – 1988). In dieser Phase ging es nun zunehmend auch um Veränderungen des politischen Systems, um damit die Voraussetzung für das Gelingen von Wirtschaftsreformen zu schaffen. Bezeichnend war hier Gorbatschows Forderung nach „Demokratisierung“. Wichtige Meilensteine waren die ZK-Tagungen im Januar und Juni 1987 und die zur Sanktionierung kritischer Weichenstellungen eigens einberufene 19. Parteikonferenz im Sommer 1988 sowie – für die reale Machtausübung des Generalsekretärs von entscheidender Bedeutung – erhebliche strukturelle und personelle Veränderungen der zentralen Führungsorganisation (Politbüro, Sekretariat, ZK). Gorbatschow befand sich jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht. 3. Phase: Fundamentale Umgestaltung des politischen Systems (1989 – 1991). Auftakt waren die eingeschränkt-freien Wahlen und die offenen, zum Teil sogar kontroversen Aussprachen des neuen Volksdeputiertenkongresses mit spürbaren Auswirkungen auf das politische Klima im Land. Die Entwicklung kulminierte in der Aufhebung des in der Verfassung verankerten Machtmonopols der kommunistischen Partei und der Umwandlung der Parteidiktatur in eine Herrschaft staatlicher Organe unter der Führung eines Präsidenten. Danach folgten: August-Putsch, Machtkampf mit Jelzin, Zerfall der Union und politisches Ende. Die Untersuchung widmet sich der Sichtweise des Auswärtigen Amtes, wo seit jeher die Russland-Expertise der deutschen Exekutive konzentriert war und die Grundlagen und langfristigen Perspektiven der Außenpolitik maßgeblich entwickelt und in politisches Handeln übersetzt wurden. Entscheidenden Einfluss hatte Vize23

Brown, Gorbachev Factor, S. 161 ff., 166 ff., 186 ff. Brown, ebda. S. 121 ff. (Gorbatschow verwendete diese Begriffe schon vor seinem Amtsantritt in seiner Rede zur Ideologie-Konferenz am 10. 12. 1984, ebda. S. 78 f., 121 f.); vgl. auch AAPD 1985 Dok. 58 zu Fn. 14 m.w.N. 24

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kanzler und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland schon aufgrund der Dauer seiner Amtszeit in besonderem Maße geprägt hat. Genschers Amtsdauer von 18 Jahren (1974 – 1992) wird nur noch von der seines hartleibigen sowjetischen Widerparts Andrei Andrejewitsch Gromyko (1957 – 1985) übertroffen. Die für die Position der Bundesregierung in den deutsch-sowjetischen Beziehungen mindestens genauso bedeutsame Position des Bundeskanzlers wird in die Betrachtung einbezogen, soweit sie in den Akten des AA dokumentiert ist.

II. Gerontokratie Zum dritten Mal in wenig mehr als zwei Jahren trugen zu den Klängen von Chopins Trauermarsch die alten Männer des Politbüros ihren Führer zu Grabe25: Nach Leonid Iljitsch Breschnew (1982) und Juri Wladimirowitsch Andropow (1984) segnete am 10. März 1985 auch Konstantin Ustinowitsch Tschernenko das Zeitliche. Das Durchschnittsalter der Mitglieder des Politbüros lag schon lange deutlich über 70. Das Amt des Generalsekretärs, auf das im „demokratischen Zentralismus“ alles zulief, befand sich seit Jahren in der Hand von Männern, die aufgrund ihres Gesundheitszustands kaum noch in der Lage waren, ihrer Aufgabe gerecht zu werden: Leonid Breschnew war in den letzten Jahren aufgrund seines Alters, gesundheitlicher Probleme und Tablettenabhängigkeit allenfalls wenige Stunden am Tag arbeitsfähig. Juri Andropow konnte das Amt des Generalsekretärs bis zu seinem Tod nur 15 Monate lang ausüben, war von Anfang an gesundheitlich angeschlagen und verbrachte das letzte Drittel seiner Zeit wegen fortschreitenden Nierenversagens im Krankenhaus. Auch um Konstantin Tschernenko stand es nicht besser: Der jahrzehntelange Weggefährte Breschnews brachte es nur noch auf 13 Monate im Amt, war anfangs schon 72 und mit einem Lungenemphysem ebenfalls schwer krank. Seine öffentlichen Auftritte ließen allen Bemühungen zum Trotz klar erkennen, dass er den Anforderungen des Amtes schon körperlich nicht gewachsen war. Die Situation an der Spitze begünstigte allseitiges Festhalten am Status quo, eine Art Gleichgewichtskonstellation, in der die Angehörigen des Politbüros ihre jeweilige Zuständigkeit gegen Eingriffe abschirmen und ihre Privilegien bewahren konnten. Dies nützte insbesondere den Inhabern „starker Ressorts“ mit hoher Seniorität wie Außenminister Andrei Gromyko und Verteidigungsminister Dimitri Ustinow, letzterer der Sachwalter des mächtigen militärisch-industriellen Komplexes, welcher allerdings im Dezember 1984 mit 76 Jahren verstarb. Eine Gefährdung dieser Konstellation lag innerhalb der Führung in niemandes Interesse. Tschernenkos Frage, drei Tage vor seinem Tod, ob er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht besser zurücktreten solle, beschied angeblich Gromyko: „Kein Grund zur Eile, Konstantin Ustinowitsch!“26 Im Außenverhältnis hatte das zur Folge, dass grundlegende Veränderungen der politischen Linienführung und mutige Einzelfallentscheidungen tunlichst vermieden wurden und im Zweifelsfalle die Risikofurcht der alten Männer jede aufkommende Dynamik im Keim erstickte. Indessen erhielt das Lenin-Mausoleum einen verborgenen Fahrstuhl, damit die gebrechlichen Angehö25 Trauerritual einer erstarrten Ordnung: https://www.youtube.com/watch?v=0k9u9Z83 7K0 [21.02.20]. 26 Taubman, S. 204.

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rigen des Politbüros auch weiterhin Paraden auf dem Roten Platz abnehmen konnten. Die Sowjetunion war zur Gerontokratie geworden. Für die Machtverhältnisse war von entscheidender Bedeutung, wer zuerst verstarb27. Diese Führungssituation war für jedermann offensichtlich und spiegelte sich auch in den Lageberichten des deutschen Botschafters Jörg Kastl28 aus Moskau: So schilderte er im Januar 1984, kurz vor Andropows Tod, die Bemühungen, dessen Abwesenheit während der Wahlkampagne zum Obersten Sowjet durch vermeintliche Prawda-Interviews oder Kreml-Fahrten seiner leeren Wagenkolonne zu kaschieren, und sprach vom „Bild der Gleichrangigkeit und Ausgewogenheit der Kompetenzen entsprechend dem Prinzip der ,kollektiven Führung‘“ bei öffentlichen Auftritten der Führung29. Nach Andropows Tod, zwei Wochen später, resümierte das AA, mit der Wahl Tschernenkos bestätige das System der Sowjetunion seine Neigung zu konservativen und behutsamen Lösungen und stärke zugleich den seit Breschnew auf Konsens ausgerichteten politischen Entscheidungsprozess30. Zur Person des Generalsekretärs bemerkte Kastl: „Das erste öffentliche Auftreten Tschernenkos […] weckte alte Erinnerungen an die letzten Breschnew-Tage: [Er] wirkte so alt wie er tatsächlich ist und schien nicht ganz gesund“31. Jedoch konnte nach Einschätzung des AA von einer Führungskrise oder Führungsschwäche der Sowjetunion keine Rede sein: „Zweifel an außenpolitischer Handlungsfähigkeit und Eignung der SU als internationaler Partner […] waren schon am Ende der Breschnew-Zeit und unter Andropow unbegründet. Sie sind es auch heute, da sie verkennen, wie stark die Politik der SU von personenunabhängigen Grundinteressen und kollektivem Willen der Führung geprägt wird. Einzelne Führungsmitglieder spielen zwar naturgemäß dabei auch eine Rolle (Gromyko, Ustinow!). Insgesamt ist Gewicht einzelner Führungspersönlichkeiten bei Gestaltung der Politik indessen sehr viel geringer als in manchen westlichen Ländern. Auch unter Tschernenko, dessen Tatkraft nicht unterschätzt werden sollte, ist deshalb mit Fortführung einer an sowjetischen Grundinteressen orientierten Politik und Fortbestehen der Möglichkeit zu Übereinkünften auch in schwierigen Bereichen zu rechnen“32.

Zu Spekulationen über eine neue Rangordnung im Politbüro gaben die rituellen Auftritte im Rahmen der Wahlkampagne zum Obersten Sowjet Anlass. So wurde aufmerksam vermerkt, die drittletzte Wahlrede vor dem Ministerpräsidenten und dem Generalsekretär sei von Gorbatschow gehalten worden, „der in der Partei nach Tschernenko die Nummer Zwei ist, weil er nach dem Generalsekretär am längsten 27

Brown, Gorbachev Factor, S. 53 ff., 67; Kotkin, S. 48 ff. Jörg Kastl war zuvor u. a. stellvertretender NATO-Generalsekretär für politische Angelegenheiten und Delegationsleiter beim KSZE-Folgetreffen von Madrid sowie von 1983 bis 1987 Botschafter in Moskau. 29 FS Nr. 398 vom 31. 01. 1984, PA-AA 139284. 30 BM-Vorlage 213 vom 13. 02. 1984, ebda. 31 FS Nr. 706 vom 17. 02. 1984, ebda. 32 Vorlage (Sprechzettel) 213 zur Sitzung des Auswärtigen Ausschusses (BT) vom 17. 02. 1984, PA-AA 139284. 28

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die Doppelfunktion PB-Mitglied und ZK-Sekretär innehat“33. Tatsächlich war in der Führung umstritten, ob Gorbatschow die Nummer Zwei werden sollte. Eine Gruppe im Politbüro um Ministerpräsident Nikolai Tichonow, die sich bereits Andropows Wunsch erfolgreich verweigert hatte, Gorbatschow zu seinem Nachfolger zu machen, stellte sich dem entgegen34. Tschernenko jedoch entschied, dass Gorbatschow in Zukunft die Sitzungen des Sekretariats und im Falle der Abwesenheit des Generalsekretärs auch die Sitzungen des Politbüros leiten solle35. Damit war er jedenfalls de facto die Nummer Zwei und lag das AA im Ergebnis richtig. Wegen seines bedenklichen Gesundheitszustands war die wahrscheinliche Nachfolge Tschernenkos von Anfang an Gegenstand der geschulten Beobachtung der „Kreml-Astrologen“: Im Sommer 1984 äußerte die Botschaft, zwar habe Gorbatschow seit Tschernenkos Wahl an Gewicht gewonnen und zusätzliche Aufgaben übernommen; Gerüchte über eine Kronprinzenrolle seien jedoch verfrüht, da „Nachfolgeregelungen von zahlreichen Imponderabilien abhängig [seien], denen nicht vorgegriffen werden [könne]“36. Einige Monate später stellte Botschafter Kastl fest: „Neun Monate nach Tschernenkos Wahl erscheint Gorbatschows Stellung nach wie vor unklar“37. „Gorbatschow ist, vor allem während des Urlaubs von Tschernenko, immer stärker als dessen Vertreter in der Parteiarbeit und damit als möglicher Nachfolger in Erscheinung getreten“, da aber auch Grigori Romanow stärker sichtbar geworden sei, könnten seine „Chancen, einmal das Generalsekretariat zu übernehmen, nicht als gesichert betrachtet werden“38. Auch Bundeskanzler Kohl war sich Anfang 1985 nicht sicher, wer einmal die Nachfolge von Tschernenko antreten werde, und bemerkte gegenüber Margaret Thatcher, „sein Eindruck sei, dass die Chancen von Gorbatschow in dem Maße wüchsen, je länger Generalsekretär Tschernenko noch im Amt sei. Er sei sich jedoch nicht sicher, ob die ältere Generation im Politbüro bereits bereit sei, einen neuen Generalsekretär aus der jüngeren Generation zu wählen. Dies würde das politische Ende der älteren Generation bedeuten. Der sowjetische Apparat dürfe nicht unterschätzt werden. Dort gebe es viele, die bereit seien, auch an einer Mumie festzuhalten, weil sie beim Nachfolger befürchten müssten, ausgewechselt zu werden und ihre Privilegien zu verlieren.“39 Dem französischen Premierminister Laurent Fabius sagte er wenig später: „Es sehe so aus, als ob sich in Moskau etwas bewege. Man habe den Eindruck, dass Tschernenko bald überhaupt keine Besuche mehr machen könne. Man müsse damit rechnen, dass hier bald ein Wechsel eintreten werde. Er, der Bundeskanzler, sei kein Kremlastrologe. Er sei aber weit davon entfernt, sicher zu sein, dass der Nachfolger Tschernenkos ein 33 34 35 36 37 38 39

StS-Vorlage 213 vom 02. 03. 1984, ebda. Brown, Gorbachev Factor, S. 67 f., 69 f. Brown, ebda. S. 70. FS Botschaft Moskau Nr. 2843 vom 13. 07. 1984, PA-AA 139284. FS Nr. 4360 vom 18. 11. 1984, ebda. Aufzeichnung 213 vom 03. 12. 1984, ebda. Gespräch vom 18. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 13, S. 66.

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jüngerer Mann werde. Eher glaube er, dass es wieder einer der Alten sein werde.“40 Indessen hob die Botschaft hervor, dass sich Gorbatschow durch das Hauptreferat zur Allunions-Konferenz über die „Vervollkommnung des entwickelten Sozialismus und ideologische Parteiarbeit“ und in außenpolitischer Hinsicht durch seinen Besuch bei Margaret Thatcher in Großbritannien „als Mann mit weitgespannter Kompetenz“ hervorgetan habe41. Auch die rituellen Vorbereitungen zur Wahl des Obersten Sowjet der RFSR schienen Anhaltspunkte zu geben: „Gorbatschow hat sich mit seiner Wahlrede am 20.2. als Nachfolge-Kandidat für Posten des GS weiter profiliert. Sein Placement in Reihenfolge der Wahlredner bestätigt seine Stellung als zweiter Mann der Parteihierarchie. […] Er geizte nicht mit Lob für Tschernenko. Preisende Epitheta für den GS liegen über dem Mittelwert voriger Wahlreden, versteigen sich aber nicht zu Lobhudelei. Durch diese geschickte Dosierung empfiehlt sich Gorbatschow als respektvoller Garant der Kontinuität. Trumpf seines jüngeren Alters spielte er geschickt aus durch im Vergleich zu Führungskollegen frischeren Ton der Rede und Aufruf zu kreativem Handeln, verprellte gleichzeitig jedoch misstrauische Alte im Führungskollektiv nicht durch Originalität im Inhalt seiner Aussagen“42. Jetzt galt Gorbatschow „unter formalen wie sachlichen Gesichtspunkten als aussichtsreichster Nachfolge-Kandidat“43. Für Konstantin Tschernenko wurde die Choreographie dieser Wahlen zur beklagenswerten Farce44: Die übliche Wahlrede in seinem Wahlbezirk musste von Politbüromitglied Wiktor Grischin verlesen werden, weil der Generalsekretär dazu nicht mehr in der Lage war. Seine Stimmabgabe fand in Gegenwart einiger Politbürogetreuer und vor Fernsehkameras in einem Krankenhauszimmer statt, das man zu diesem Zweck als Wahllokal ausstaffiert hatte. Dasselbe Zimmer fungierte nach einem Kulissenwechsel vier Tage später als Büro, in dem der Generalsekretär die Glückwünsche Grischins, Gorbatschows und anderer zum Wahlausgang entgegennahm und sich eine kurze Rede zu halten mühte. Wenig danach verstarb er. Am Folgetag schrieb das Sowjetunionreferat an den Minister: „Die Regelung der Nachfolge Tschernenkos erscheint noch nicht sicher. […] Falls das PB sich überhaupt für einen Mann der jüngeren Generation entscheiden sollte, sprechen gegenwärtig alle Anzeichen zugunsten Gorbatschows. Die Alternative scheint gegenwärtig nicht so sehr eine Wahl Romanows, sondern eine Fortsetzung des Modells: alter Generalsekretär, junger ,zweiter Sekretär‘ an der Spitze einer immer stärker kollektiven Führung“45. In Moskau waren jedoch die Würfel zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen: Noch am späten Abend von Tschernenkos Todestag am 10. März 40

Gespräch vom 05. 02. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 29, S. 159. FS B Kastl Nr. 476/477 vom 12. 02. 1984, PA-AA 139284; vgl. zum Inhalt des Vortrags v. Arnim, S. 111; Brown, Gorbachev Factor, S. 78 f., 121 f. 42 FS Nr. 578 vom 21. 02. 1985, ebda. 43 FS Nr. 580 vom 22. 02. 1985, ebda. 44 Taubman, S. 202 ff. 45 BM-Vorlage 213 vom 11. 03. 1985, PA-AA 139413. 41

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hatte Gorbatschow eine Sitzung des Politbüros einberufen, um die Trauerfeierlichkeiten zu besprechen und die Weichen für die Nachfolge zu stellen. Es war Brauch, dass den Vorsitz der Beerdigungskommission der designierte Generalsekretär übernahm. Man einigte sich auf Gorbatschow. Die potentiellen Rivalen Grischin und Romanow hatten sich nicht hervorgewagt und der einflussreiche Gromyko stand jetzt auf Gorbatschows Seite, nachdem dieser ihm zugesagt hatte, ihn hernach zum Staatsoberhaupt zu machen. Am 11. März wurde der erst 54-jährige Michail Gorbatschow auf Vorschlag des Politbüros unter dem Eindruck einer für seine Verhältnisse ungewöhnlich emphatischen Nominierungsrede Gromykos vom ZK der KPdSU zum Generalsekretär gewählt46. Noch am 11. März, sofort nach Bekanntgabe der Bestellung Gorbatschows zum Vorsitzenden der Beerdigungskommission, legte das Sowjetunionreferat dem Minister ein aufschlussreiches Porträt des künftigen Generalsekretärs vor47. Die politische Bewertung Gorbatschows und die Erwartungen an seine Agenda waren nüchtern und ohne Euphorie, man beschrieb ihn als überzeugten und taktisch versierten Vertreter des Systems und seiner Machtinteressen und warnte vor Missverständnissen: „Die Wahl zum Generalsekretär wäre der Gipfelpunkt einer ,Bilderbuchkarriere‘ als Parteifunktionär. […] Gorbatschow hat im Westen viele Vorschusslorbeeren erhalten. Wie vor ihm Andropow geht ihm der Ruf eines potentiellen ,Reformers‘ voraus. Hier dürfte eine Verwechselung von Stil und Substanz vorliegen. Derzeit spricht nichts dafür, dass Gorbatschow das wirtschaftliche und gesellschaftlich-politische System der Sowjetunion in grundlegenden Aspekten und womöglich noch nach westlichen Vorstellungen zu ändern beabsichtigt. Was an Gorbatschow auffällt und ihn in westlichen Augen so anziehend macht, ist die Tatsache, dass er nicht mehr dem traditionellen Bild des sowjetischen Parteiapparatschiks entspricht. Ausländische Beobachter sind sich in der Beurteilung seiner Persönlichkeit einig: Er wirkt kenntnisreich, selbstbewusst und schlagfertig, dabei urban und aufgeschlossen im Umgang mit seinen Gesprächspartnern. […] Insgesamt wirkt Gorbatschow wie ein Mann, der intelligent und vorurteilsfrei genug ist, um sich über die zahlreichen Probleme seines Landes im Klaren zu sein, der sich aber zutraut, diese Probleme im Rahmen des bestehenden Systems zu lösen und dadurch das System als solches effizienter und attraktiver zu machen. Dabei bleibt er in seinen Äußerungen unbestimmt genug, um von vornherein weder Hoffnungen zu enttäuschen, noch Widerstand herauszufordern. Dies entspricht auch seiner objektiven Situation: Zunächst einmal ist er eingebunden in eine Führung, die einen immer stärkeren kollektiven Charakter trägt. […] Immerhin könnten ein ausgeprägterer Realitätssinn und eine schwächere Bindung an spezifische Inhalte der sowjetischen Ideologie zu sichtbaren Änderungen im Stil des Umgangs der Sowjetunion mit ihren Verbündeten und mit dem Westen führen, die sich wohltuend auf die gesamten OstWest-Beziehungen auswirken würden. Auch ist die mittelfristige Entwicklung der Sowjetunion weniger denn je voraussehbar, und bei einer offenkundig so flexiblen Persönlichkeit wie Gorbatschow sind auf längere Sicht auch Überraschungen nicht völlig auszuschließen.“ 46 47

Taubman, S. 205 ff. Aufzeichnung 213 vom 11. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 59.

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Gorbatschows persönlicher Stil hatte bei einem Besuch Großbritanniens wenige Monate zuvor bereits Margaret Thatcher beeindruckt. Der BBC sagte sie: „I am cautiously optimistic. I like Mr. Gorbachev. We can do business together.“48 Im Gespräch mit Helmut Kohl charakterisierte sie Gorbatschow als attraktive Person, natürlich, gewinnend und freimütig im Ausdruck49. In den innenpolitischen Fragen allerdings sei er sehr ideologisch geprägt und bediene sich ideologischer Formeln. Dabei habe er deutlich werden lassen, dass die sowjetische Führung im Prinzip keine Alternative zu den Regierungsmethoden des kommunistischen Systems kenne. Und sie fügte hinzu: „Die Ehefrau von Gorbatschow sei eine sehr charmante Dame, hübsch angezogen, philosophisch gebildet. Aber bekanntlich seien die charmantesten Kommunisten auch die gefährlichsten.“ Auf diesen besonderen „familiären“ Aspekt sollte auch Kohl noch wiederholt zu sprechen kommen, so etwa im Newsweek-Interview, weil es ihm Teil der Erklärung für die große Beliebtheit Gorbatschows bei westlichen Medien zu sein schien50. Im Gespräch mit dem französischen Premierminister nannte er Gorbatschows Besuch bei Thatcher eine „Charme-Offensive“, aber betonte, ihn, Kohl, beeindrucke die sowjetische Propaganda nicht51. Misstrauen und Vorbehalte gegenüber dem neuen Generalsekretär waren unverkennbar. Die erste Begegnung Kohls mit Gorbatschow, der bei dieser Gelegenheit von Außenminister Gromyko begleitet wurde, fand am 14. März 1985 aus Anlass der Trauerfeierlichkeiten in Moskau statt. Der Generalsekretär sprach, wie Botschafter Kastl festhielt52, „frei, zupackend, aber nicht ohne Liebenswürdigkeit“. Nachdem er zunächst das Interesse an der Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen bekräftigt hatte, kritisierte er allerdings vernehmlich die Politik des Bundeskanzlers, insbesondere den Stationierungsbeschluss für amerikanische Mittelstreckenraketen und die angebliche Bereitschaft, sich den US-Plänen zur Raumfahrtrüstung anzuschließen: „Wohin driftet die Politik des Bundeskanzlers?“ Früher habe es im westlichen Bündnis unterschiedliche Auffassungen gegeben, „jetzt steht man 48 Interview vom 17. 12. 1984, https://www.margaretthatcher.org/document/105592 [08.03.20]. 49 Gespräch vom 18. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 13. 50 Newsweek-Interview (Audio-Mitschrift): „Es gibt genug Narren in der westlichen Welt unter Journalisten und Politikern. Die sagen, die Frau Gorbatschow ist eine attraktive Frau, die geht nach Paris und kauft sich ein schönes Kostüm. Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun“, siehe Nachweise zu Fn. 210/212. Auch Francois Mitterand schien von Raissa Gorbatschowa sehr angetan: „Sie sei eine sehr gebildete Frau. Auf den Besuch [in Paris] habe sie sich ausgezeichnet vorbereitet. Sie sei belesen und kenne sich in der Geschichte gut aus. Sie habe auch über alles, was ihr gezeigt worden sei, gut Bescheid gewusst. Zugleich sei sie eine Persönlichkeit, die sich selbst sehr unter Kontrolle habe und eine gute, alte Erziehung genossen habe. Sie greife in jedes Gespräch ein, außer in Gespräche politischer Natur. Sie sei eine angenehme Gesprächspartnerin und scheine großen Einfluss auf den Generalsekretär zu haben“, Gespräch mit BK Kohl am 10. 10. 1985, AAPD 1985 Dok. 277, S. 1430. 51 Gespräch vom 05. 02. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 29. 52 Gespräch vom 14. 03. 1985 in Moskau, AAPD 1985 Dok. 68; Aufzeichnung 213 vom 19. 03. 1985, PA-AA 139384.

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stramm“. Der Bundeskanzler bekannte sich zu Frieden und Abrüstung und wies die Kritik an seiner Politik entschieden zurück. Im anschließenden Gespräch mit dem kanadischen Premierminister Brian Mulroney berichtete Kohl, Gorbatschow habe im Wesentlichen die herkömmlichen sowjetischen Positionen vertreten und werde voraussichtlich ausprobieren, was er im Westen erreichen könne; er werde aber respektieren, wenn ihm entschlossener Widerstand entgegengesetzt werde53. Zum ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak sagte Kohl: „Gorbatschow sei ein vergleichsweise junger Mann. Er habe ihm den Eindruck von Härte, Intelligenz und Bildung vermittelt. Er argumentiere differenziert. Er ergehe sich nicht in einfachen Propagandafloskeln. Er könne durchaus auch gewinnend wirken. Er glaube, Gorbatschow sei ein kühler Rechner.“54 In der Morgenbesprechung im AA am 15. März resümierte schließlich Staatssekretär Andreas Meyer-Landrut, der den Bundeskanzler in Moskau begleitet hatte, seinen Eindruck, das Gespräch Gorbatschows mit dem Kanzler, „sei durch ungewöhnliche Schärfe gekennzeichnet gewesen“. Kohl habe „nur mit Mühe versöhnlichen Ton am Ende herbeiführen können. Insgesamt sei es ,kein Spaß‘ gewesen“.55 Das Verhältnis der beiden Politiker hatte kompliziert begonnen. Das Sowjetunionreferat fasste seine erste Einschätzung der politischen Linie des neuen Generalsekretärs folgendermaßen zusammen: „Innenpolitisch eine gewisse ,Auflockerung‘ des Systems an seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Basis, um dort Initiative und Selbständigkeit zu ermutigen bei gleichzeitiger unvermindert starker Kontrolle von oben und Unterdrückung aller unerwünschten ideologischen und kulturellen Erscheinungen und Abwehr westlicher Einflüsse. In der Außenpolitik noch keine eigenen Konturen Gorbatschows erkennbar […]. Sachlicher aber ggf. durchaus harter Stil im Umgang mit dem Westen zu erwarten. […] Gespräch mit den Sowjets wird also auch in Zukunft nicht ganz einfach bleiben.“56

Auch die Ergebnisse des April-Plenums des ZK der KPdSU weckten in Bonn noch keine Hoffnung auf baldige Entspannung im Ost-West-Verhältnis: Man würdigte zwar Gorbatschows nüchtern-pragmatischen, vorwärtsdrängenden Vortrag und erkannte in der Ankündigung grundlegender Reformen des Wirtschaftssystems in Verbindung mit ersten Veränderungen in der Zusammensetzung des Politbüros (Ligatschow, Ryschkow) Ansätze einer neuen Politik, vermisste aber vergleichbare Anstöße in der Außenpolitik. Trotz eines „moderaten, bisweilen sogar werbenden Tons“ bei der Präsentation der sowjetischen Vorstellungen von der Entwicklung der Beziehungen habe die Schärfe der Kritik an den USA überrascht. Es sei zu erwarten, „dass Moskau massiven publizistischen Druck auf die USA aufrechterhalten wird“,

53

Gespräch vom 14. 03. 1985 in Moskau, AAPD 1985 Dok. 63. Gespräch vom 16. 03. 1985 in Frankfurt/Main, AAPD 1985 Dok. 70. 55 Aufzeichnung vom 15. 03. 1985, PA-AA B 150, Aktenkopien 1985 (s. AAPD 1985 Dok. 68, Fn. 24); Kohl, Erinnerungen, S. 320 f. („frostig“, „scharfe Auseinandersetzung“). 56 Aufzeichnung 213 vom 19. 03. 1985, PA-AA 139284. 54

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weil „offenbar das Potential der westlichen Friedensbewegung immer noch hoch eingeschätzt“ werde57. Somit würden auch die deutsch-sowjetischen Beziehungen schwierig bleiben.

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BM-Vorlage 213 vom 25. 04. 1985, ebda.

III. Nachrüstung Am 28. Oktober 1977 hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt mit einer Rede beim International Institute for Strategic Studies (IISS) in London die Nachrüstungsdebatte eröffnet, welche die Ost-West-Beziehungen ein Jahrzehnt lang beherrschen sollte58. Schmidt sah die Gefahr, dass eine Einigung der beiden Großmächte auf Rüstungsbegrenzung im strategischen Bereich (SALT) die Sicherheit der Europäer beeinträchtigen und die Abschreckungsdoktrin der NATO wirkungslos machen könnte. Das Prinzip der Sicherheit durch Abschreckung, das der konventionellen militärischen Überlegenheit der Sowjetunion Rechnung tragen sollte, beruhte auf der Bereitschaft zum abgestuften Einsatz („flexible response“) von Nuklearwaffen bis zur Ebene der strategischen Interkontinentalraketen („extended nuclear deterrence“). Schmidt befürchtete, dass die strategischen Systeme infolge der getroffenen Vereinbarungen neutralisiert werden könnten, weil die Androhung ihres Einsatzes mit der sicheren Folge der Selbstzerstörung nicht länger glaubwürdig sei. Das hätte nach seiner Ansicht den nuklearen Schutzschirm über der Bundesrepublik Deutschland gefährden und einer „Abkopplung“ der USA von Europa Vorschub leisten können. Anders als Frankreich und Großbritannien verfügte die Bundesrepublik über keine eigenen Nuklearwaffen und war deshalb auf die amerikanische Bereitschaft, für ihre Sicherheit bis zur höchsten Stufe der Eskalationsspirale einzustehen, in Anbetracht der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Pakts voll und ganz angewiesen. Außerdem war Deutschland besonders betroffen und potentiell erpressbar, weil es zwangsläufig Hauptkampfplatz eines Krieges mit der Sowjetunion sein würde. Schmidts Schlussfolgerung lautete, dass ein Gleichgewicht (Parität) nicht nur bei den strategischen Waffen, sondern auch den nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie den konventionellen Waffen hergestellt werden müsse. Damit waren die damaligen Bemühungen um Begrenzung der konventionellen Rüstung (MBFR), vor allem aber die mit Nuklearsprengköpfen bestückten neuen sowjetischen Mittelstreckenraketen (SS-20) angesprochen, denen die NATO noch nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Schmidts Thesen wurden innerhalb der Bundesregierung und im Bündnis kontrovers aufgenommen. Die Amerikaner waren der Ansicht, dass die vorhandenen Waffensysteme unbeschadet eines Modernisierungsbedarfs auf der Mittelstrecke ausreichend Eskalationsmöglichkeiten boten und weder die strategische Verklammerung von Europa mit den USA noch die Abschreckungsdoktrin insgesamt in

58 Politische und wirtschaftliche Aspekte der westlichen Sicherheit, Bulletin der Bundesregierung Nr. 112 vom 08. 11. 1977, S. 1013 ff.

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Gefahr war59. Das Gleichgewichtspostulat für sämtliche Waffenkategorien oder die Prämissen einer strategischen Verklammerung Europas und der USA waren vielfach umstritten. So stand etwa der Annahme, es werde zu einer „Abkopplung“ kommen, wenn die USA einen Angriff sowjetischer Mittelstreckenwaffen nur durch Einsatz ihrer nuklearen Langstreckenraketen kontern könnten, die These gegenüber, gerade die Stationierung moderner amerikanischer Mittelstreckenraketen begünstige eine „Abkopplung“, weil sie den USA ermögliche, einen auf Europa beschränkten Nuklearkrieg zu führen60. Das strategische Denken und die Rüstungspolitik im Kalten Krieg waren zu einem großen Teil mehr Psychologie als streng-logische Deduktion. Zum richtigen Verständnis von Zeit und Politik gehört, dass die Führung eines Nuklearkriegs keineswegs bloße Theorie, sondern in den Augen der führenden Politiker in Ost und West ein unter bestimmten Voraussetzungen durchaus realistisches Szenario war, das in den Stäben von NATO und Warschauer Pakt sehr konkret geplant und geübt wurde und dessen grauenvolle Verheerungen jedermann stets präsent waren. Brenzlige Vorfälle nährten die Furcht: Etwa ein sowjetischer Fehlalarm im September 1983, der den unmittelbar bevorstehenden Anflug amerikanischer Raketen auf Moskau ankündigte, oder die Anordnung „erhöhter Alarmbereitschaft“ der sowjetischen Streitkräfte anlässlich des NATO-Manövers „Able Archer“ wenige Monate später, bei welchem der Ersteinsatz nuklearer Waffen geübt wurde61. Immer ging es, auch innerhalb des eigenen Bündnisses, um ureigene Interessen und existenzielle Ängste aller Beteiligten. So bezeichnete das AA in Konsultationen zur NATO-Übung „Wintex-Cimex 85“ „die unausgewogene Verteilung der Ziele […], insbesondere die starke Konzentration auf die DDR […], die dem deutschen Volk ein Übermaß an Auswirkungen der Eskalation aufbürde, […] als nicht akzeptabel“ und begrüßte die Einbeziehung des UdSSR-Heimatlands mit „signifikanter Größenordnung (rd. 30 % der Ziele)“, weil man eine Beschränkung des Erstschlags auf Deutschland unbedingt verhindern wollte62. Zwei Jahre nach der Londoner Rede des Bundeskanzlers, im Dezember 1979, kam es zum NATO-Doppelbeschluss63. Darin forderte die NATO von der Sowjetunion Verhandlungen über den Abbau ihrer SS-20 und stellte für den Fall des 59 Vgl. dazu v. Arnim, S. 43 ff.; Gassert, APuZ Nr. 18/19 – 2019; Gaddis, S. 202; Winkler, S. 743 f.; Wirsching, S. 81; Weber, S. 824 ff.; zum „nuklearen Dilemma“ der Bundesrepublik Rotte, FAZ vom 10. 03. 2020, Rezension von Lutsch, Westbindung oder Gleichgewicht? 60 Letzteres vertrat z. B. der SPD-Sicherheitspolitiker Egon Bahr als einer der Wortführer der innerparteilichen Opposition gegen Helmut Schmidt. Vgl. v. Arnim, S. 64; Ploetz, S. 217; Wirsching, S. 501, 503 f. 61 Taubman, S. 171; Weber, S. 854 f.; vgl. auch Ploetz, S. 96 f., 104 ff. 62 Aufzeichnung MDgt v. Braunmühl vom 19. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 73. 63 Deutsche Fassung: Europa-Archiv 1980, D 35 – 37; vgl. dazu Gassert/Geiger/Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive, München 2011; Becker-Schaum (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012; Garton Ash, S. 139 ff.; Wirsching, S. 79 ff.; Westad, S. 563 ff.

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III. Nachrüstung

Scheiterns die Stationierung amerikanischer nuklearer Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missiles) in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern in Aussicht. Die Sowjetunion hingegen sah die Nachrüstung als Eingriff in das strategische Gleichgewicht mit den USA und Bedrohung ihrer Sicherheit64. Unverrückbar verweigerte sie den Abbau ihrer SS-20 und versuchte auf allen Ebenen, vor allem durch massive „Öffentlichkeitsarbeit“, die Stationierung zu verhindern. Im Verhältnis zur Bundesrepublik erhöhte sie den Druck durch spürbare Abkühlung der Beziehungen. Mehrere vermeintliche Kompromissvorschläge der Kontrahenten blieben ohne Erfolg65. Auch ein letztes nahezu neunstündiges Ringen der Außenminister Genscher und Gromyko brachte keine Umkehr66. Im November 1983 stimmte der Deutsche Bundestag nach schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen mit den Stimmen der neuen CDU/CSU-FDP-Koalition der Stationierung zu67. Die Sowjets reagierten durch Abbruch der laufenden Verhandlungen mit dem Westen und verschärften die Gangart gegenüber den Westdeutschen weiter. Einmal mehr drehten sie auch an der Schraube der innerdeutschen Beziehungen und untersagten SED-Generalsekretär Erich Honecker seinen für 1984 geplanten Besuch am Rhein68. Auch der bulgarische Staats- und Parteichef Todor Schiwkow sah sich gehalten, seinen Bonn-Besuch abzusagen. Erst im Herbst 1984, vermutlich unter dem Eindruck der wohl unausweichlichen Wiederwahl Ronald Reagans und mit Blick auf seine SDI-Pläne, erklärten die Sowjets sich zur Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen mit den USA bereit, die am 7./8. Januar 1985 mit einem Treffen der Außenminister Gromyko und Shultz in Genf begannen69. Der Streit um die Nachrüstung dominierte jahrelang die Beziehungen der beiden Blöcke und belastete insbesondere das sowjetisch-deutsche Verhältnis. Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Nachrüstungsproblematik zu vertiefen und in allen Verästelungen darzustellen. Sie ist aber insoweit von Bedeutung, als sie die von Ängsten und Ressentiments geprägte innenpolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik nachhaltig beeinflusste, in deren Verlauf Helmut Schmidt zunächst die Unterstützung seiner Partei und dann sein Amt verlor und die auch Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher bei ihrer Ostpolitik zu berücksichtigen hatten. Die Nachrüstungsdiskussion war Abbild gesellschaftlicher Grundströmungen und 64

Ploetz, S. 72 f. v. Arnim, S. 55 ff. 66 Gespräche am 15./16. 10. 1983 in Wien, AAPD 1983 Dok. 303 – 306. 67 Vgl. etwa Schwarz, S. 345 ff. 68 FS G Huber (Moskau) an AA vom 11. 09. 1984, AAPD 1984 Dok. 232; vgl. Ploetz, S. 269 ff., 283 ff., 286; Korte, S. 206 f.; v. Arnim, S. 107 f.; Conze, S. 627; Wirsching, S. 508 ff., 510 f.; Weber, S. 856 ff. 69 Dazu die Gesprächsvermerke von BK Kohl/Paul Nitze und BM Genscher/Paul Nitze vom 10. 01. 1985, AAPD 1985 Dok 7 und Dok 8; ferner FS B Kastl an AA Nr. 476/477 vom 12. 02. 1985, PA-AA 139284 zur erneuten Verhandlungsbereitschaft der SU im Verhältnis zu den USA „– bei gleichzeitigem Bremsen uns gegenüber“. 65

III. Nachrüstung

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Konflikte dieser Zeit sowie Ausdruck eines Ringens um die Intensität der Westbindung der Bundesrepublik und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen70. Unablässig und in vielfältiger Weise versuchte die Sowjetunion, auf diese Auseinandersetzung Einfluss zu nehmen und zwischen Europäer und Amerikaner einen Keil zu treiben. Die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik hielt sie seit dem Stationierungsbeschluss bei niedriger Temperatur. Das Verhältnis der beiden Länder am Beginn der Ära Gorbatschow ist ohne Berücksichtigung der Nachrüstungsproblematik nicht zu verstehen.

70

Gassert, ebda. APuZ Nr. 18/19 – 2019; Wirsching, S. 499 ff.

IV. Gespannte Beziehungen So bilanzierte das AA am Ende des ersten Tschernenko-Jahres eine „erhebliche Verschlechterung des Klimas in den deutsch-sowjetischen Beziehungen“71. Man nahm wahr, dass die Sowjetunion die Bundesrepublik anders und kritischer als die übrigen Staaten des Westens behandelte: „Wir sind weiterhin im Mittelpunkt der sowjetischen Negativreaktion auf den Stationierungsbeschluss, während gegenüber Großbritannien (Gorbatschow-Besuch) und Italien (Gromyko-Visite) längst Rückkehr zur Normalität begonnen hat“72. Besondere Angriffspunkte waren außer der Nachrüstung vor allem die Haltung der Bundesregierung zum SDI-Projekt und zur europäischen Nachkriegsordnung. Beide Themen sollten während der nächsten Jahre das deutsch-sowjetische Verhältnis zusätzlich belasten. Das zeigte sich auch beim Treffen von Genscher und Gromyko in Moskau am 4. März 1985 anlässlich des Beginns der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen in Genf. Gromyko bezeichnete SDI als Teil „offensiver, aggressiver Politik“ und rügte die Haltung der Bundesregierung73 : „Uns versetzt in Erstaunen, mit welcher Leichtigkeit sich manche Verbündete den Plänen der USA materiell, technisch und militärstrategisch anschließen. In erster Reihe solcher Länder steht die Bundesrepublik. Die USA winken, und schon ist sie bereit.“ Auslöser des Vorwurfs war eine Rede des Bundeskanzlers vor der Wehrkundetagung in München im Februar, in der er Anmerkungen zu den deutschen Interessen im Zusammenhang mit dem SDIProgramm machte, ohne sich zu dem Konzept selbst bereits festzulegen74. So hatte Kohl von den Amerikanern unter Hinweis auf die „weitreichenden Folgen für unsere Sicherheit“ die volle Berücksichtigung der strategischen Einheit des Bündnisgebiets, Konsultationen mit der Bundesregierung und der NATO sowie Teilhabe an der auch wirtschaftlich interessanten technologischen Entwicklung gefordert. Der zweite Vorwurf Gromykos betraf die angebliche Förderung des „Revanchismus“ in der Bundesrepublik, worunter die Sowjetunion den Versuch verstand, die Nachkriegsgrenzen in Europa und die Souveränität der DDR in Frage zu stellen75. Im Januar 1985 hatte es in der Bundesrepublik eine innenpolitische Auseinandersetzung um das Motto des im Juni geplanten „Schlesiertreffens“ gegeben, auf dem Bundeskanzler Kohl eine Rede halten sollte: „40 Jahre Vertreibung – Schlesien 71

BM-Vorlage 213 vom 14. 02. 1985, PA-AA 139413. Punktation 213 vom 03. 03. 1985, PA-AA 139306. 73 FS B Kastl an AA Nr. 687 vom 04. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 54, S. 294. 74 Bulletin der Bundesregierung 1985, S. 157 f.; zur kritischen Reaktion der Sowjets berichtete Botschafter Kastl am 20. 02. 1985 (siehe AAPD ebda. Fn. 6). 75 FS B Kastl an AA Nr. 687 vom 04. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 54, S. 297 m.w.N. 72

IV. Gespannte Beziehungen

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bleibt unser“. Erst als Kohl drohte, abzusagen, wurde das Motto entschärft. Die Bundesregierung bekräftigte ostentativ die Unverletzlichkeit der Grenzen, bekannte sich zu den Ostverträgen und distanzierte sich von Äußerungen des Vorsitzenden der Landsmannschaft. Die Sowjetunion protestierte trotzdem heftig76. Medien, Opposition und auch sein Koalitionspartner kritisierten Kohl wegen zu großer Nachsicht mit den Vertriebenenverbänden77, die Kohl zu seiner Stammwählerschaft rechnete und noch mindestens bis zum Abschluss des „2+4-Vertrages“ als eine nicht unwichtige Koordinate seiner Ostpolitik ansah. Der Sowjetunion half der Vorwurf des Revanchismus, durch das Aufgreifen von Befürchtungen der DDR und Polens den eigenen Machtbereich zu konsolidieren und darüber hinaus in Ost und West Misstrauen gegen die Bundesrepublik zu säen. Ein weiterer Anlass für Gromykos Kritik war die Rede des Bundeskanzlers „zur Lage der Nation“ im Februar78, in der er die bekannte Position der Bundesregierung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, den Menschenrechten und zur „Deutschen Frage“ bekräftigt hatte, jedoch ausdrücklich unter der üblichen Versicherung, dass eine Lösung der „Deutschen Frage“ nur gemeinsam mit den Nachbarstaaten in West- und Osteuropa und mit Zustimmung aller Vier Mächte gefunden werden könne. Genscher wies die Vorwürfe Gromykos zurück, begrüßte aber die Wiederaufnahme der Abrüstungsverhandlungen und sprach sich nachdrücklich für eine Verbesserung der bilateralen deutsch-sowjetischen Beziehungen aus. Dabei kam es ihm darauf an, deutlich zu machen, dass Abrüstung kein exklusives Thema der beiden Großmächte war, sondern auch die „kleineren Länder“ etwas anging, und dass die Qualität der sowjetisch-deutschen Beziehungen für das Ost-West-Verhältnis zentrale Bedeutung hatte79. Dies war Ausdruck des elementaren Anliegens bundesdeutscher Außenpolitik, nicht bloßes Objekt der Großen zu sein, sondern eine aktive Rolle in der internationalen Politik zu spielen, um sich dadurch Bewegungsspielraum sowie Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zu verschaffen. Aus Anlass des Ministertreffens nahm das AA eine strategische Standortbestimmung der deutsch-sowjetischen Beziehungen vor80: Ministerialdirigent Gerold v. Braunmühl konstatierte, „dass die Sowjetunion in ihrer Politik uns gegenüber gegenwärtig deutlich zwischen ,innerer Behandlung‘ und äußerer Präsentation unterscheidet. Nach außen wollen die Sowjets offenbar zeigen, dass die Beziehungen noch gestört sind, und zwar hauptsächlich wegen der 76

Vgl. Gesprächsprotokoll StS Blech/SAM-Abteilungsleiter Bondarenko vom 23. 01. 1985, AAPD 1985 Dok. 18 (dort zu Fn. 14); Rede BK Kohl vom 16. 06. 1985, Bulletin 1985, S. 577 ff. 77 Z. B. Die Zeit, 05. 01. 1985 „Unsere Schlesier“, 25. 01. 1985 „Das letzte Aufgebot“; Der Spiegel, 28. 01. 1985 „Breslauer Nachrichten“. 78 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 10/122, Stenographischer Bericht vom 27. 02. 1985, S. 9009 ff. 79 FS B Kastl an AA Nr. 687 vom 04. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 54, S. 293, 298; ähnlich die Rede Genschers am 31. 07. 1985 in Helsinki, Bulletin 1985, S. 753 – 757. 80 Vermerk MDgt v. Braunmühl vom 06. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 55.

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IV. Gespannte Beziehungen Nachrüstung und des Komplexes Deutschland/Territorialfrage. […] Nach innen [wollen sie] uns offenbar zu erkennen geben, dass sie an guten Beziehungen und langfristiger Zusammenarbeit auch im politischen Bereich interessiert sind und es nicht mit uns verderben wollen.“

Zu den Gründen dieser Politik führte er aus: „Wir haben immer angenommen, dass die sowjetische Politik ,der kalten Schulter‘ temporäre Zwecke verfolgte, die mit Gesichtswahrung, Warnung und Druck, Ermunterung der Friedensbewegung und den internen und blockpolitischen Zwecken der Kampagne zum 40. Jahrestag [des Kriegsendes] zusammenhängen, während die Sowjetunion ihr grundsätzliches und langfristiges Interesse an solider wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit mit uns in keinem Zeitpunkt wirklich aufgegeben hat.“

Denn sie sehe die Entwicklung in mehreren Bereichen „mit alptraumartigen Sorgen“, bei denen die Haltung der Bundesrepublik noch eine Rolle spielen könne: Die Weltraumrüstung, ihre technologische Rückständigkeit und die Neuausrichtung von China. Ernst zu nehmen seien außerdem die sowjetischen Sorgen wegen der Entwicklung im Warschauer Pakt, „besonders in der exponierten DDR, bei der jede Linienabweichung durch die Unberechenbarkeit Polens potenziert wird.“ Deshalb plädierte v. Braunmühl für eine „differenzierte Politik, die unsere Rolle als Stabilisator in der Mitte Europas ausfüllt, unseren Wert für die Sowjetunion stärkt und damit unsere langfristigen Gestaltungsmöglichkeiten in der Ostpolitik, auch im Hinblick auf die nationalen Belange, erweitert“. Das spreche gegen eine Festlegung der Bundesregierung zu SDI, nachdem Gromyko keinen Zweifel daran gelassen habe, dass die Sowjetunion der bundesdeutschen Haltung in dieser Frage allergrößte Bedeutung beimisst: Mit einer frühzeitigen Festlegung „würden wir auch im Verhältnis zur Sowjetunion an Wert verlieren: Man bräuchte sich um uns nicht mehr zu bemühen“. Beim Thema „Revanchismus“ warnte v. Braunmühl davor, die Offenheit der „Deutschen Frage“ zu sehr zu strapazieren, um den Eindruck zu vermeiden, dass eine Systemänderung in der DDR oder territoriale Implikationen für Polen und damit eine Gefährdung der Stellung der Sowjetunion in Osteuropa angestrebt würden. Die eher dezente deutschlandpolitische Linie des AA, die sich zumindest in der Akzentsetzung von einflussreichen Strömungen beim Koalitionspartner unterschied, umschrieb er folgendermaßen: „Eine evolutive, auf die stetige verändernde Wirkung des KSZE-Prozesses bauende Ost- und Deutschlandpolitik wirkt ,öffnend‘ im Hinblick auf die deutsche Frage, eine Verbindung der deutsch-deutschen Tagesfragen mit rhetorischer Betonung der Wiedervereinigungsthematik wirkt ,schließend‘“.

IV. Gespannte Beziehungen

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Wenig später legte v. Braunmühl dem Minister eine Stellungnahme zu den Folgen von SDI für die sowjetische Westpolitik und das deutsch-sowjetische Verhältnis vor81: „Die SU sieht sich durch das amerikanische SDI-Programm vor eine der größten Herausforderungen ihrer Nachkriegsgeschichte gestellt. Moskau scheint den Verlust der in den letzten Jahren unter großen Opfern erreichten strategischen Parität und Stabilität zu fürchten, d. h. einen von außen aufgezwungenen Rückfall in eine frühere Entwicklungsetappe der sowjetischen Weltmacht, vergleichbar vielleicht mit dem sowjetischen Unterlegenheitsstatus während der Zeit des amerikanischen Nuklearwaffenmonopols. Diese amerikanische Herausforderung stellt die SU heute vor die äußerst komplexe Entscheidungssituation, gleichzeitig wichtige Weichen sowohl für die innere und wirtschaftliche Entwicklung (Fragen der Systemerneuerung und notwendigen Reformen) als auch für die außen- und sicherheitspolitische Statussicherung (vorrangig: Sicherung der Parität) stellen zu müssen. Selten dürfte der enge Zusammenhang zwischen innerer Leistungsfähigkeit und Wahrung bzw. Ausbau des erreichten Weltmachtstatus der sowjetischen Führung bewusster gewesen sein.“

Aus sowjetischen Äußerungen werde deutlich, dass Moskau das SDI-Programm auch als „Versuch der USA betrachtet, systembedingte amerikanische Leistungsvorteile in SDI-relevanten Hoch- und Spitzentechnologien in einem letztlich ideologisch motivierten ,Wettkampf der Systeme‘ konzentriert und zielgerichtet auszuspielen“.82 Selbstverständlich war Ziel der Sowjetunion, die westeuropäischen Regierungen von einer Unterstützung des amerikanischen SDI-Projekts abzuhalten. Braunmühl aber hoffte, die Sowjets würden dabei stärker als in der Vergangenheit versuchen, „die Europäer eher zu umwerben, wohl einkalkulierend, dass Drohgebärden eher geeignet wären, die Westeuropäer nur umso schneller in die Arme der Amerikaner zu treiben“. Trotzdem, so Braunmühl, zeichne sich speziell gegenüber der Bundesrepublik eine gefährliche Linie ab: „Die Sowjets versuchen, uns Wohlverhalten und Berücksichtigung ihrer Sicherheitsinteressen in der Frage der strategischen Verteidigung zu verordnen als ,Bewährungshilfe‘ nach dem ,Sündenfall‘ der Nachrüstung und als Voraussetzung für die Rückkehr zu besseren Beziehungen.“ Solchen Versuchen müsse man sich unbedingt widersetzen: „Wir müssen ohnehin mit ständigem latenten Misstrauen unserer westlichen Freunde hinsichtlich unserer Erpressbarkeit gegenüber der SU wegen unserer nationalen Belange rechnen. Wenn die Bundesregierung auch nur den leisesten Anschein erregt, als sei ihre Linie bezüglich der strategischen Verteidigung von sowjetischen Drohungen oder Versprechungen beeinflusst, so würde uns dies nicht nur im Westen schaden, sondern es würde auch die SU zu weitergehenden Pressionen ermutigen. Hier müssen wir sehr vorsichtig sein.“

81 Aufzeichnung vom 15. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 66; dazu auch Botschafter Kastl, FS Nr. 1537/1538 an AA vom 21. 05. 1985, AAPD 1985 Dok.131. 82 Ebda. S. 365.

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Andererseits sei im Falle einer positiven Festlegung der Bundesregierung auf SDI, „vor allem wenn wir dabei nicht im westeuropäischen Geleitzug fahren“, mit einschneidenden Erschwerungen in den Beziehungen zur DDR und zum Warschauer Pakt zu rechnen, so dass „die größtmögliche Wahrnehmung eigener – deutscher und westeuropäischer – Interessen in der SDI-Frage auch die unter ost- und deutschlandpolitischen Gesichtspunkten beste Linie“ sei83. Die Haltung der Bundesregierung und ihrer westeuropäischen Verbündeten zu SDI war reserviert. Man war von den Amerikanern nicht konsultiert worden, obwohl das Projekt das Konzept nuklearer Abschreckung in Frage stellte84. Frankreich war ablehnend. Großbritannien war skeptisch. In dieser Konstellation latenter Spannungen im Bündnis legte die Bundesregierung besonders großen Wert auf eine gemeinsame Position der Europäer85. Außenminister Genscher erwartete, dass die Position des Westens zu SDI für die Ausrichtung der zukünftigen Außenpolitik Gorbatschows von entscheidender Bedeutung sein würde, und sah bei ungünstigem Verlauf der SDI-Diskussion die Gefahr einer „Destabilisierung“ im Ost-West-Verhältnis86. Mit Blick auf die Verteidigungsstrategie des Westens bestand bei den Europäern die Sorge, dass die Einführung eines SDI-Schutzschilds gegen Nuklearraketen, seine technische Wirksamkeit unterstellt, die Abschreckungsdoktrin der NATO obsolet machen und anstelle der strategischen Verklammerung der Sicherheit Westeuropas und der USA einem „Bilateralismus“ der beiden Großmächte mit der Gefahr einer auf Europa begrenzten Kriegführung Vorschub leisten könnte. Die NATO-Strategie der Kriegsverhinderung, so Genscher, „sei hochmoralisch und dürfe nicht in Zweifel gezogen werden. Die Strategie der flexiblen Antwort bleibe bis ins nächste Jahrtausend gültig, schon weil wir keine Alternative hätten“87.

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Ebda. S. 369, 370. Vgl. Conze, S. 624 f. 85 Gespräch Genschers mit Präsident Mitterand, PM Fabius und AM Dumas am 22./23. 05. 1985 in Paris, AAPD 1985 Dok. 136, S. 698 ff., 703 ff.; Gespräch Genschers mit AM Tindemanns (Belgien) am 17. 05. 1985, AAPD 1985 Dok. 128; Gespräch BK Kohls mit P Mitterand am 28. 05. 1985 in Konstanz, AAPD 1985 Dok. 137, S. 706 ff.; „Vierertreffen“ anlässlich der NATO-Außenministertagung am 05./06. 06. 1985, FS v. Braunmühl Nr. 80 vom 09. 06. 1985, AAPD 1985 Dok. 153, S. 806 ff. 86 Vgl. ebda. S. 700. 87 Gespräch Genschers mit AM Morán (Spanien) am 28. 05. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 138, S. 723 f.; vgl. ferner Gespräch BK Kohls mit PM Thatcher am 18. 05. 1985 in Chequers, AAPD 1985 Dok. 129; Hinweis Genschers bei NATO-Außenministertagung am 05./ 06. 06. 1985 in Brüssel, FS B Wieck Nr. 11 an AA vom 07. 06. 1985, AAPD 1985 Dok. 150; Aufzeichnung v. Braunmühl vom 13. 06. 1985, AAPD 1985 Dok. 162; Gespräch Genschers mit Seweryn Bialer am 21. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 16, S. 89: Falls die Sowjetunion das Defensivsystem überwinde oder unterlaufe, wäre der „Bilateralismus“ endgültig etabliert. 84

V. Anfänge der neuen Ära Die ersten Monate der Amtszeit Gorbatschows boten kein klares Bild. Einerseits schien Moskau gegenüber der Bundesrepublik eine unverändert kritische und distanzierte Haltung einzunehmen, andererseits ließen sich auch Anhaltspunkte dafür finden, dass man mit Bonn wieder ins Gespräch kommen wollte und sich davon Vorteile in der Auseinandersetzung mit den USA erwartete88. Die Ambivalenz der sowjetischen Außenpolitik, auf die Gromyko weiterhin maßgeblichen Einfluss nahm, korrespondierte auf deutscher Seite mit Akzentunterschieden in der Bewertung sowjetischer Signale durch Botschaft, Zentrale und Kanzleramt. Im Zentrum der sowjetischen Westpolitik standen jetzt die SDI-Pläne der Amerikaner. Die deutsche Haltung zu SDI war Stein des Anstoßes. Da man offenbar in Moskau der Meinung war, die Bundesrepublik spiele in der SDI-Diskussion eine wichtige Rolle, versuchte man es sowohl mit Drohungen als auch Verlockungen und stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen SDI und den künftigen Beziehungen der Bundesrepublik zu den sozialistischen Staaten, insbesondere zur Sowjetunion und – aus deutscher Sicht besonders sensibel – zur DDR her89. Diese Mischung prägte auch die Diskussion beim Treffen der Außenminister Genscher und Gromyko in Wien im Mai 198590: Letzterer verurteilte erneut „sehr scharf das deutsche Verhalten gegenüber den SDI-Plänen der USA“, die „auf Militarisierung des Weltraums“ und „Dominierung der Sowjetunion gerichtet“ seien, warb aber zugleich um gedeihliche Beziehungen, indem er versicherte, die Haltung zu SDI bewirke nicht, dass „die SU die Beziehungen zur Bundesrepublik automatisch abschreibe, weder im politischen noch im wirtschaftlichen Bereich“. Denn, so Gromyko nunmehr in Gorbatschow-Diktion, „wir alle atmeten in Europa dieselbe Luft und lebten in einem großen europäischen Haus. […] Die SU werde ihre Beziehungen zur Bundesrepublik nicht verändern, aus diesem Gespräch dürfe nicht ein solcher Eindruck zurückbleiben, er wäre falsch.“ Genscher hob das große Interesse der Bundesregierung am Erfolg der Abrüstungsverhandlungen hervor und sah darin auch die entscheidende Voraussetzung für die Lösung der Probleme im Weltraum. Er erinnerte Gromyko, „mit allergrößter Sorge erfülle uns die Bedrohung unseres Landes durch sowjetische Mittelstreckenraketen“. Die Bundesregierung wünsche 88 Sachstandsvermerk 213 vom 10. 05. 1985, PA-AA 139309; laut KPdSU-Politbüroprotokoll vom 27. 03. 1986 bekräftigte Gorbatschow den restriktiven Kurs gegenüber der Bundesrepublik, vgl. Ritter, S. 17 m.w.N. 89 FS G Arnot Nr. 1079 an AA vom 09. 04. 1985, PA-AA 139306 zu einem entsprechenden Artikel der Prawda. 90 Gespräch vom 16. Mai 1985, AAPD 1985 Dok. 127; Drahterlass 213 vom 22. 05. 1985, PA-AA 139306.

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die Beendigung des Wettrüstens und die Herstellung eines strategischen Gleichgewichts auf niedrigerem Niveau durch drastische Reduzierungen bei Mittelstreckenund Interkontinentalraketen. Je weniger Offensivwaffen es gebe, desto weniger müsse man sich mit Defensivsystemen wie SDI befassen. Mit Blick auf die einschlägigen Jubiläen des Jahres 1985 – 40 Jahre Kriegsende, 30 Jahre Aufnahme diplomatischer Beziehungen, 15 Jahre Moskauer Vertrag, 10 Jahre KSZE-Schlussakte – sprach sich Genscher abermals für eine Ausweitung und Verbesserung der bilateralen Beziehungen aus und appellierte an die Sowjetunion, in den humanitären Angelegenheiten großzügiger zu sein: „Uns bedrücke besonders die Entwicklung im Bereich von Ausreise und Familienzusammenführung“, ein in der Innenpolitik der Bundesrepublik wichtiges Thema, das die Sowjets schon seit geraumer Zeit als Hebel zu nutzen versuchten (130.000 Ausreisewilligen standen monatlich nur ca. 50 genehmigte Ausreisen gegenüber91). Im Anschluss an das Gespräch verzeichnete Botschafter Kastl, die sowjetische Nachrichtenagentur TASS habe „merklich kühler und distanzierter“ berichtet als über Gromykos Treffen mit anderen westlichen Außenministern und einmal mehr die sowjetische Warnung deutlich gemacht, „dass es nicht ohne Auswirkungen auf unsere bilateralen Beziehungen bleibt, wenn die Bundesregierung von allen westeuropäischen Regierungen die positivste Einstellung zu SDI einnimmt“92. Wenig später aber erblickte das AA (mit zustimmender Paraphe des Ministers) in einem Nowosti-Artikel des Ersten Stellvertretenden Leiters der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU Wadim Sagladin („Die Zukunft gehört der Entspannungspolitik“) Anhaltspunkte für eine veränderte Herangehensweise Gorbatschows gegenüber der Bundesrepublik und Westeuropa93 : „Auffällig ist aber vor allem der positive Grundtenor in der Bewertung der Gestaltungsmöglichkeiten der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Nicht nur, dass der RevanchismusVorwurf als Pflichtübung behandelt wird, setzt sich Sagladin auch für ,normale und gutnachbarliche‘ Beziehungen ein sowie für einen neuen Dialog. Einschränkend weist er auf die politisch-territorialen Realitäten hin. In dem Artikel wird die BR Deutschland als einziges Land namentlich abgehandelt. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber der Beitrag hebt sich von den üblichen sowjetischen Veröffentlichungen über uns ab. Die BR wird in das Werben um Westeuropa einbezogen und nicht ausgeklammert. Das ist zu registrieren.“

Weniger positiv beurteilte Botschafter Kastl die aktuelle Lage: „Gromykos Ausführungen gegenüber BM Genscher am 16.5. in Wien machten mit bemerkenswerter Schärfe deutlich, dass wir mit keinem Abflauen der Angriffe gegen uns rechnen können, vielmehr von einer Fortdauer der kühlen Behandlung ausgehen müssen. 91

Ebda. Fn. 20. FS B Kastl Nr. 1501 an AA vom 17. 05. 1985, PA-AA 139306. 93 BM-Vorlage 213/v. Braunmühl vom 26. 05. 1985, PA-AA ebda. mit „Haken“ des Ministers; Abdruck des Artikels bei BPA-Ostinformationen/25. 06. 1985; Sagladin avancierte zu einem der wichtigsten außenpolitischen Berater Gorbatschows, so Taubman, S. 123. 92

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Die Sowjets lassen sich offenbar von der Überlegung leiten, anhaltende Konzentration publizistischer Angriffe auf uns – neben und zusammen mit den USA, jedoch in singulärer Position in Westeuropa – werde uns im Kreis unserer westeuropäischen Verbündeten isolieren, so unser politisches Gewicht – auch nach Osten – verringern und uns bei der Vertretung unserer deutschland- und sicherheitspolitischen Interessen einschüchtern“94.

Die Bundesregierung einzuschüchtern, gelang der Sowjetunion freilich nicht. Die Quellen belegen statt dessen Selbstvertrauen und eine gewisse Gelassenheit aus der Erkenntnis der wirtschaftlichen und technologischen Überlegenheit des Westens und im Bewusstsein, die Bewährungsprobe der Nachrüstung bestanden und die Einheit des westlichen Bündnisses gegen sowjetische Pressionen und innenpolitischen Gegenwind erfolgreich behauptet zu haben. Hinzu kam, dass die Bonner Regierungskoalition in den Bundestagswahlen 1983 einen überzeugenden Wahlsieg errungen hatte95 und sich Mitte der achtziger Jahre im Zuge eines moderaten Konjunkturaufschwungs die allgemeine Stimmungslage und das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik spürbar aufhellten96. In den USA stand Ronald Reagan, befreit von möglichen Sorgen um seine Wiederwahl, am Beginn seiner zweiten Amtszeit. Darauf nahm Helmut Kohl Bezug, als er gegenüber Margaret Thatcher mit Blick auf die Sowjetunion „die nächsten zwei Jahre [als] eine Art Glücksfall“ bezeichnete: „Er trete deshalb für die Entwicklung der Beziehungen auf allen Ebenen ein, nicht nur auf dem Felde der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Zeit würde für den Westen arbeiten. Dies erfordere jedoch vom Westen Geduld. Er werde am Ende über die besseren Karten verfügen.“97 Ähnlich zuversichtlich war Außenminister Genscher, als er anlässlich des Beginns der Genfer Abrüstungsverhandlungen im Gespräch mit dem US-Abrüstungsbeauftragten Nitze den Zusammenhalt der Allianz lobte und von einer nach dem Stationierungsbeschluss „total geänderten Verhandlungslage“ sprach: Jedenfalls werde die Sowjetunion „im Jahre 1984 gelernt haben, dass es in der Bundesrepublik nicht möglich sei, die Straße gegen die Regierung zu mobilisieren.“98 Ebenso selbstbewusst zeigte er sich einige Monate später gegenüber dem amerikanischen Vizepräsidenten Bush, als er von „starkem Rückenwind“ und „großen Erfolgen“ der Bundesregierung sprach, weil sie gegen große Widerstände wichtige Entscheidungen in der Sicherheitspolitik (Doppelbeschluss) sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgesetzt habe und die wirtschaftliche Entwicklung Anlass zu Optimismus gebe.99

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FS B Kastl Nr. 1747 an AA vom 07. 06. 1985, PA-AA 139306. Wahlen vom 06. 03. 1983: CDU/CSU 48,8 %, SPD 38,2 %, FDP 7,0 %, Grüne 5,6 % (neu), Wahlbeteiligung 89,1 %. 96 Wirsching, S. 433 ff. 97 Gespräch am 18. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 13, S. 67; vgl. Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 4. 98 Gespräch am 10. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 8, S. 33. 99 Gespräch am 22. 10. 1985 in Washington, AAPD 1985 Dok. 288, S. 1483. 95

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V. Anfänge der neuen Ära

Interessante Hinweise auf Genschers Einschätzung der politischen Lage der Sowjetunion enthält das Protokoll eines Gesprächs mit dem US-Politikwissenschaftler und Sowjetunionkenner Seweryn Bialer100 : Die Entwicklung seit Ende der sechziger Jahre sei, so Genscher, nicht zugunsten der Sowjetunion verlaufen. Die innere Dynamik der Entspannungspolitik und des KSZE-Prozesses habe im sowjetischen Machtbereich enorme Auswirkungen gehabt, die sich insbesondere in Polen, aber auch anderswo zeigten und nicht zu unterschätzen seien. Sicherlich habe die Sowjetunion an militärischer Macht dazugewonnen. Ein Grund sei, dass die USA im Gegensatz zur Bundesregierung in der Entspannungszeit zu wenig für die Verteidigung getan hätten. „Die Politik der Festigkeit gegenüber der Sowjetunion [arbeite] in Zeiten der Entspannung für den Westen, Niederlagen müsse er nur hinnehmen, wenn er Schwächen zeige. […] Der Westen müsse vor einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion keine Angst haben, er habe die besseren Karten, [wenn] es mit der Einigung Europas weitergehe und die enge Partnerschaft zwischen Europa und den USA nicht gefährdet werde. Die Nachrüstung sei ein großer Erfolg: der Versuch der politischen Trennung sei vorerst gescheitert.“ Bialer und Genscher stimmten überein, die Sowjetunion stecke in einer wirtschaftlichen und ideologischen Krise („keine Überlebenskrise, sondern eine Krise der Effizienz [und] der Prioritätensetzung“). Dabei waren laut Genscher die Herausforderungen des neuen Informationszeitalters ein wesentlicher Grund für die Schwäche der Sowjetunion. Auf diesen Aspekt kam er verschiedentlich zu sprechen, weil er sich offenbar von einem Zwang der Sowjetunion zur verstärkten wissenschaftlich-technologischen Kooperation zusätzliche politische und sicherheitspolitische Optionen versprach. Der AA-Planungsstab beschäftigte sich eingehend damit, warnte aber davor, die technologische Überlegenheit des Westens zu überschätzen und daran, wie in der Vergangenheit schon geschehen, allzu weitreichende politische Erwartungen zu knüpfen101. Dabei ging es in Genschers Betrachtung nicht nur um technologischen Rückstand, sondern auch die Folgen des gesellschaftlichen Strukturwandels: In seinen Augen hatte die Sowjetunion noch keine Antwort auf die Veränderungen des Informationszeitalters, welches durch die Verwendung von Computern und die Dezentralisierung von Arbeitsverhältnissen die Fähigkeit des Systems verringere, seine Macht wie bisher in der Struktur herkömmlicher Produktionsbetriebe auszuüben. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus biete dazu keine Lösung: „Der Mangel an fundamentalen 100 Gespräch Genschers und AA-Führungskräfte mit Bialer am 21. 01. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 16, S. 89 f. 101 Aufzeichnung vom 05. 07. 1985, AAPD 1985 Dok. 183. Am 28. 11. 1985 führte der Planungsstab ein internationales Experten-Kolloquium zum Thema „Sowjetunion und Informationsgesellschaft“ durch (s. AAPD 1985 Dok. 332, Anmerkung des Ministers: „Sehr interessant!“), bei dem Konsens bestand, „dass der Abbau von Hierarchien entscheidende Voraussetzung für die volle Nutzung der Informationstechnologien ist; die SU in den Informationstechnologien trotz großer Fortschritte aus systembedingten Gründen weiter zurückfallen wird; die Informationstechnologien trotzdem zumindest in den nächsten fünf bis zehn Jahren keine Reform des sowjetischen Systems erzwingen werden.“

V. Anfänge der neuen Ära

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Erklärungen für gesellschaftliche Entwicklungen sei offenbar.“102 Bialer ergänzte, die Sowjetunion lebe geistig im viktorianischen Zeitalter und habe die erste industrielle Revolution noch nicht beendet. Das System müsse radikal verändert werden. Mit Blick auf die aktuelle Auseinandersetzung um SDI merkte Genscher an, die Sowjetunion versuche, gegenüber dem Westen zu differenzieren, „und zwar zur Zeit zu unserem Nachteil“; aber man werde es ertragen, es sei vorübergehend; „die SU kennt die Bedeutung unseres Landes“. Ähnlich selbstbewusst liest sich die Empfehlung von Botschafter Kastl zum Umgang mit der sowjetischen „Einschüchterungstaktik“: „An einem Aufschaukeln von Unfreundlichkeiten kann uns nicht gelegen sein. Im Vertrauen darauf, dass die SU unser Gewicht und den Wert unseres Einflusses im Bündnis und in Europa auf längere Dauer nicht ignorieren kann, können wir die gegenwärtige Phase der Abkühlung im deutsch-sowjetischen Verhältnis mit Gelassenheit ausstehen.“103

Wenig später waren die „Störungen“ im deutsch-sowjetischen Verhältnis Gegenstand einer Besprechung beim Minister104 : Genscher war der Auffassung, „dass wir die sowjetischen Absichten nach militärischer Dominanz in Europa durchkreuzt hätten“ und die Sowjetunion jetzt eine „deutsch-amerikanische Strategie“ zu erkennen meine. Eine Veränderung der sowjetischen Haltung gegenüber der Bundesrepublik hing nach Ansicht des Politischen Direktors v. Braunmühl insbesondere von drei Faktoren ab: Verbesserung der Beziehungen zwischen Sowjetunion und USA; Modifikation der deutschen Politik z. B. im Zusammenhang mit einer Diskussion der Nachkriegsgrenzen; größerer außenpolitischer Freiraum des neuen Generalsekretärs. Aber: „Wir sollten gegenüber Moskau kein starkes Werben an den Tag legen.“ Genschers Resümee: „Wir müssten Fakten im Verhältnis zur SU schaffen, die es einem seriösen Betrachter schwer machten zu sagen, wir wollten nicht. Die Begleitmusik bleibe ohnehin nicht aus.“ Die Sowjets jedoch blieben einstweilen bei ihrer Linie und ließen die Bundesregierung von Zeit zu Zeit spüren, dass andere europäische Staaten höher im Kurs standen. So äußerte sich etwa der sowjetische Vizeaußenminister Michail Kapiza gegenüber dem deutschen Gesandten in Moskau ganz unverblümt105: „[Er] unterbrach mich mit der Behauptung, unser Land verliere an Gewicht. Die Sowjetunion wende sich jetzt Frankreich zu. Ich fragte, was denn die Sowjetunion an Frankreich finde. Kapiza erwiderte, dort gäbe es keinen Revanchismus. Ich replizierte: Bei uns auch nicht. Dass die deutsche Frage offen sei, habe Willy Brandt der sowjetischen Seite bei Abschluss des Moskauer Vertrags gesagt. […] Kapiza warf ein, wenn es mit dem Revanchismus so weitergehe, würden sich unsere Beziehungen zur Sowjetunion verschlechtern 102 Ebda. S. 92; ähnlich Gespräch Genschers mit AM Shultz am 02. 05. 1985, AAPD 1985 Dok. 110, S. 563. 103 FS B Kastl Nr. 1747 an AA vom 07. 06. 1985, PA-AA 139306. 104 Gesprächsvermerk 213 vom 18. 06. 1985, ebda. 105 Aufzeichnung G Arnot vom 29. Juli 1985, AAPD 1985 Dok. 208.

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V. Anfänge der neuen Ära und als Folge auch unsere Beziehungen zur DDR. Er wiederholte: auch zur DDR. […] Kapiza meinte, wir müssten aufpassen. Der Besuch Gorbatschows in Paris würde zu einem Sprung im sowjetisch-französischen Verhältnis führen. Wir würden zurückfallen, obwohl die Sowjetunion eigentlich gute Absichten uns gegenüber habe.“

Das Bild, das man sich in Bonn von Gorbatschow machte, blieb unter diesen Umständen reserviert. Der Außenminister zeigte sich dabei in Nuancen aufgeschlossener als der Bundeskanzler. Zum Hinweis von Margaret Thatcher im Mai 1985, Gorbatschow werde innenpolitisch weiterhin als orthodoxer Kommunist auftreten und vom bisherigen Kurs nur geringfügig abweichen, weil sonst die kommunistische Weltanschauung grundsätzlich berührt würde, merkte Kohl an, die alten Mitglieder des Politbüros seien noch heute in der Lage, ihn zu stürzen. Aber die Zeit arbeite für ihn. Er werde seine Position konsolidieren und versuchen, Zeit zu gewinnen. Er werde sich vor allem durch Personalpolitik Einfluss verschaffen. Wie es weitergehen werde, könne man im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vorhersagen.106 Im Gespräch mit der jugoslawischen Präsidentin Planinc beschrieb er Gorbatschow als schwer durchschaubar: Er könne „einen beträchtlichen Charme entwickeln, was sich ja auch bei Frau Thatcher gezeigt habe. Er könne aber vermutlich auch eiskalt sein und sitze nicht zufällig an seinem Platz. Es werde wohl noch lange dauern, bis wir wüssten, wie er wirklich sei.“107 Genscher wiederum erklärte im NATO-Außenministerrat, „bei der Beurteilung Gorbatschows und seiner politischen Zielsetzung in diesen Verhandlungen dürfe man sich nicht von seinem äußeren Erscheinungsbild täuschen lassen. Er hätte möglicherweise besser als die vorangegangenen Führer erkannt, dass die Sowjetunion wirtschaftlich und technologisch nicht auf der Höhe der Zeit sei und Wege und Mittel entwickeln müsse, um diesem auf die Dauer unerträglichen Nachteil zu begegnen. Auch dürfe aus seinem äußeren Erscheinungsbild nicht auf eine weiche Regierungsführung geschlossen werden. Gleichwohl könne man mit begründeter Hoffnung auf den Weitergang der Verhandlungen schauen.“108 Genscher rechnete mit einer Klärung der Position Gorbatschows zu wesentlichen innenpolitischen und internationalen Fragen bis zum XXVII. Parteitag der KPdSU Anfang 1986109.

106

Gespräch am 18. 05. 1985 in Chequers, AAPD 1985 Dok. 129, S. 657 f. Gespräch vom 04. 06. 1985 in Belgrad, AAPD 1985 Dok. 145, S. 757 f. 108 FS B Wieck Nr. 11 an AA vom 07. 06. 1985, AAPD 1985, Dok. 150. 109 „Vierertreffen“ anlässlich der NATO-Außenministertagung am 05. 06. 1985 in Lissabon, FS v. Braunmühl Nr. 80 vom 09. 06. 1985, AAPD 1985 Dok. 153, S. 805 f. 107

VI. Öffentlichkeitsarbeit und „Propaganda“ Im Strategiepapier zum Einfluss des SDI-Projekts auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen hatte v. Braunmühl auch auf die Gefahren einer gezielten Einwirkung der Sowjets auf die westliche Öffentlichkeit hingewiesen: „Die SU dürfte die Wirksamkeit ihrer antizipierenden Argumente gegen eine breit angelegte amerikanische Raketenabwehr in der westlichen Öffentlichkeit als günstig einschätzen: Im Gegensatz zu der durch die SS-20 provozierten INF-Stationierung kann sich die SU diesmal als der Herausgeforderte präsentieren. Im Gegensatz zur Anfangsphase der INF-Debatte existiert bereits jetzt eine Friedensbewegung; die Fronten der Ablehnung und Befürwortung von SDI verlaufen quer durch die Parteien. Hiermit ist ein erhebliches Potential für eine Mobilisierung der öffentlichen Diskussion im Westen gegeben, mit aussichtsreichen Möglichkeiten für die sowjetische Propaganda. Wir müssen uns auf eine Kampagne einstellen, deren Heftigkeit diejenige des INF-Jahres 1983 erreicht und lang andauert.“110

Das sah auch Außenminister Genscher so: Wie 1983, als die Sowjetunion versucht habe, durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der Nachrüstungsfrage die Bindung zwischen Europa und den USA aufzulösen, werde das nächste Thema der sowjetischen Propaganda SDI sein. Neben ernsthafter sowjetischer Sorge über die SDI-Entwicklung sei zu erkennen, dass hier eine Waffe für die sowjetische Öffentlichkeitsarbeit geschmiedet werde111. „Daher sei es notwendig, zu einer ganz klaren Darstellung der Allianz-Position nach außen zu kommen. Es gehe um die Frage der Einheit im europäisch-amerikanischen Verhältnis, aber auch unter den Europäern.“112 Die Sowjets bauten „eine gewaltige Propagandakulisse“ auf. Als aktuelle Beispiele nannte er eine Anzeige in der „New York Times“ und die gezielte Einführung „bewusstseinsprägender Begriffe“ wie „Sternenkrieg“ und „Sternenfriede“. „Es bedürfe großen taktischen Geschicks auf Seiten der USA, um den Spaltungsbemühungen der Sowjets gegenüber dem Westen entgegenzutreten.“113 Ähnlich äußerte sich Botschafter Kastl: 110

Aufzeichnung vom 15. 03. 1985, AAPD 1985 Dok. 66, S. 369. Gespräch mit Seweryn Bialer am 21. 01. 1985, AAPD 1985 Dok. 16, S. 90. 112 „Vierertreffen“ (Fn. 106) ebda., S. 806. 113 Gespräch mit AM Dumas in Bonn am 21. 08. 1985, AAPD 1985 Dok. 225, S. 1162; Gespräch mit AM Shultz in New York, FS v. Braunmühl Nr. 18 vom 26. 09. 1985, AAPD 1985 Dok. 258, S. 1325; ähnlich der britische AM Howe beim „Vierertreffen“ der NATO-AM in New York: Das jüngste Gorbatschow-Interview in TIME „zeige eines deutlich, und dies verursache bei ihm große Sorge, dass nämlich die sowjetische Seite im Wege der ,open diplomacy‘ die westliche Öffentlichkeit für sich einnehme. Hier komme es darauf an, zu zeigen, dass die sowjetischen Vorschläge im Grunde ohne Substanz seien. Es sei sehr wichtig, dies der Öffentlichkeit im Westen klarzumachen“, AAPD 1985 Dok. 259, S. 1331. 111

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VI. Öffentlichkeitsarbeit und „Propaganda“ „[Gorbatschow] betreibt [seine Außenpolitik] mit einer qualitativ neuen, in durchaus westlichem Stil geführten Propagandaoffensive, die auf die Isolierung der Reagan-Administration von der westlichen Öffentlichkeit abzielt. Es ist sein Verdienst, dass die SU in der Propaganda-Auseinandersetzung mit dem Westen die Initiative zurückgewonnen hat. (…) Noch zu Tschernenkos Zeiten hatte sich Gorbatschow für eine Steigerung der Effektivität sowjetischer Propaganda eingesetzt. In den letzten Monaten ist dies voll gelungen in vermehrten wendigen Pressekonferenzen des sowjetischen Außenministeriums und der sowjetischen Auslandsvertretungen, vor allem aber in dem Auftreten des Generalsekretärs selbst.“114

Mit Sorge registrierte das AA zu dieser Zeit „ungewöhnlich intensive“ Besuchsaktivitäten sowjetischer Vertreter, die auf Einladung von DKP, SPD, Kirchen und anderen die Bundesrepublik bereisten und in zahlreichen Vorträgen und Begegnungen für die sowjetische Sicht der Dinge warben: „Es stellt sich die Frage, ob wir diesen sowjetischen Aktivitäten tatenlos zusehen sollten.“115 Auch Bundeskanzler Kohl rechnete im Zusammenhang mit den Abrüstungsverhandlungen mit massiver Einwirkung der Sowjetunion und ihres Generalsekretärs auf die westliche Öffentlichkeit. Aber, so schränkte er gegenüber Margaret Thatcher ein, er glaube, „dass die sowjetische Angst nicht nur gespielt, sondern echt sei. Die sowjetische Politik sei nur als russische Politik zu begreifen. Hier spielten die geschichtlichen Erfahrungen eine Rolle. Das Schicksal des Krieges habe fast in jede sowjetische Familie eingegriffen.“ Die Europäer müssten auf die Amerikaner einwirken, für das „enorme Sicherheitsbedürfnis“ der Sowjetunion Verständnis aufzubringen. Die USA seien zwar eine Weltmacht, „jedoch nicht immer eine Weltmacht in Bezug auf Psychologie. Amerikanische Äußerungen seien dazu angetan, den Sowjets Anlass zu Befürchtungen zu geben. […] Bedauerlich sei die psychologisch ungeschickte Einführung von SDI“, obwohl doch das Programm „moralisch und sachlich gerechtfertigt“ sei116. So appellierte Kohl mit Blick auf die laufenden Abrüstungsgespräche an Präsident Reagan: Wir sollten „keine Chance versäumen, im umfassenden Sinne auszuloten, wo Möglichkeiten der Verständigung liegen könnten“, und forderte von den Amerikanern nachdrücklich konkrete Gegenvorschläge zu Gorbatschows Initiativen, um den „durch geschickte Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit unternommenen sowjetischen Versuch [zu] vereiteln, den Verhandlungswillen des westlichen Bündnisses und insbesondere der Vereinigten Staaten in Zweifel zu ziehen.“ Denn der Sowjetunion sei es „durch die spektakuläre Unterbreitung ihrer Vorschläge in Washington und Paris gelungen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit einseitig auf die neue sowjetische Initiative zu lenken. Wir dürfen ihr in diesem Kampf um die öffentliche Meinung das Feld nicht überlassen.“117 114

FS B Kastl Nr. 2902/2903 an AA vom 15. 09. 1985, PA-AA 139285. AL-Vorlage 213 vom 06. 11. 1985, PA-AA 139307. 116 Gespräch am 18. 05. 1985 in Chequers, AAPD 1985 Dok. 129, S. 658 f.; vgl. auch Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 9 f., 14. 117 Schreiben vom 16. 10. 1985, AAPD 1985, Dok. 284, S. 1464 f. 115

VI. Öffentlichkeitsarbeit und „Propaganda“

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Die vermeintlichen Gefahren sowjetischer „Propaganda“ spielten also bei der Bewertung von Ankündigungen und Absichten des neuen Generalsekretärs durch die Bundesregierung von Anfang an eine entscheidende Rolle. Die Erwartung, die Sowjetunion werde erneut versuchen, die westliche Öffentlichkeit gegen ihre Regierungen in Stellung zu bringen und die gemeinsame Haltung des Westens aufzubrechen, zieht sich wie ein „roter Faden“ durch die Dokumente der bundesdeutschen Diplomatie. Man misstraute den außenpolitischen Äußerungen und Initiativen Gorbatschows, die in zunehmendem Maße zu verzeichnen waren, und vermutete bloße „Propaganda“, zumal sich Gorbatschow als Meister medialer Kommunikation erwies und im Westen auf breiter Front Sympathien zu wecken verstand.118 Das galt im besonderen Maße für die Bundesregierung, wo die jahrelange Auseinandersetzung um die Nachrüstung den handelnden Personen noch in den Gliedern steckte. Adressaten der sowjetischen „Öffentlichkeitsarbeit“ in der Bundesrepublik waren vor allem die „Friedensbewegung“, die SPD und die Medien: Die Friedensbewegung hatte sich nach dem NATO-Doppelbeschluss formiert und forderte ein Ende der Rüstungsspirale. Wichtige Meilensteine waren der „Krefelder Appell: Der Atomtod bedroht uns alle – keine neuen Atomraketen in Europa!“ im November 1980119 und die Großdemonstration im Bonner Hofgarten im Oktober 1981. In der Friedensbewegung flossen verschiedene außerparlamentarische Strömungen zusammen, die vor allem die Angst vor einem nuklearen Schlagabtausch in der Mitte Europas einte und die entschlossen waren, die Raketenstationierung in Deutschland zu verhindern120. Ihre Bandbreite war weit und umfasste Pazifisten, politisch-autonome Bürgerinitiativen, Umweltgruppen, die Anti-AKW-Bewegung, Vertreter der Evangelischen Kirche, von Gewerkschaften, Jungsozialisten und Jungdemokraten, einzelne Sozialdemokraten, die sich neu formierenden Grünen sowie die mit SED und KPdSU verbundene DKP und ihre Vorfeldorganisationen. Zu den Mitwirkenden gehörten zahlreiche prominente Intellektuelle, die für viele eine Vorbildfunktion erfüllten und maßgeblich zur starken medialen Beachtung beitrugen. In Anbetracht des gemeinsamen Ziels der Friedensbewegung, den NATO-Doppelbeschluss zu Fall zu bringen, sowie ihrer kritischen Grundhaltung gegenüber USA, NATO und nuklearer Abschreckung war naheliegend, dass die Sowjetunion sich erhoffte, die Friedensbewegung instrumentalisieren zu können, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen, die Stationierung zu verhindern und das westliche Bündnis nachhaltig zu schwächen. Die erfolgreiche Verhinderung der „Neutronenbombe“ wenige Jahre 118 Vgl. zum Medienbewusstsein der Gorbatschows, ihrer Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit und zum Schwinden des Bedrohungsgefühls gegenüber der SU laut AllensbachUmfrage Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 10, 13 m.w.N. 119 https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0023_ kre&l=de [03.04.20]. 120 Zur Friedensbewegung und ihren politischen und gesellschaftlichen Ursachen und Zielen Wirsching, S. 79 ff., 86 ff.; Ploetz, S. 156 ff., 192 ff.; Winkler, S. 857 f.; Wentker, Die Grünen und Gorbatschow, S. 483 f.; Weber, S. 840 ff.; vgl. ferner Becker-Schaum (Hrsg.), „Entrüstet Euch!“ Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, 2012.

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VI. Öffentlichkeitsarbeit und „Propaganda“

zuvor erschien ihr als ermutigendes Beispiel121. Allerdings waren die Sympathisanten des „real existierenden Sozialismus“ in der Friedensbewegung eine Minderheit. Einflussreiche Teile, insbesondere führende Repräsentanten der Grünen wie Petra Kelly, standen der Sowjetunion und ihren Verbündeten wegen des Umgangs mit den Menschenrechten, des Kriegs in Afghanistan oder der Umweltpolitik durchaus kritisch gegenüber. Trotzdem traf ihr Protest vor allem die US-Regierung und das westliche Bündnis, während die Initiativen Gorbatschows als „ernstzunehmender Ausdruck des Abrüstungswillens der Sowjetunion“ begrüßt wurden122. Obwohl die Friedensbewegung von einer bedeutenden Grundströmung der Gesellschaft getragen wurde123, spielte auch die finanzielle und organisatorisch-logistische Unterstützung durch die SED und ihre lokalen Handlungsbevollmächtigten von Anfang an eine Rolle124. In jedem Fall fielen die abrüstungspolitischen Vorschläge und Diskussionsbeiträge der Sowjetunion und ihrer Multiplikatoren auf fruchtbaren Boden und beeinflussten die Stimmungslage im Land. Die Friedensbewegung war eine Macht, die die Regierung in Bedrängnis brachte und auf die Politik am Beginn der Gorbatschow-Ära nicht ohne Wirkung blieb. Der andere wichtige Adressat der Sowjetunion war die SPD. Die Partei hatte sich schon zu Zeiten von Helmut Schmidt mit der Nachrüstung schwer getan und ihm schließlich die Gefolgschaft versagt. Ihre Einstellung zur Sowjetunion und zum NATO-Doppelbeschluss beruhte zum einen auf dem Wunsch, die Entspannungspolitik der Ära Willy Brandts wiederzubeleben, zum anderen auf einem verstärkten Hang zum Pazifismus (Erhart Eppler). Hinzu kam das parteistrategische Anliegen, Anschlussfähigkeit zu den Grünen herzustellen, um eine neue politische Mehrheit herbeizuführen. Aus sowjetischer Sicht attraktiv war die Absicht der SPD, in Europa ein System gemeinsamer Sicherheit mit Äquidistanz zwischen Sowjetunion und USA zu schaffen (Egon Bahr). Eine „Militarisierung des Weltraums“ (SDI) lehnte die SPD ab. Auch die Bereitschaft, Menschenrechtsfragen im Interesse der „Stabilität“ in Europa eher zurückzustellen und sich auf einen etatistisch-institutionellen Dialog mit Regierungen und kommunistischen Parteien zu konzentrieren, kam den Sowjets entgegen125. Im Planungsstab des AA befürchtete man von solchen Akti121

Ploetz, S. 130 ff.; vgl. auch Weber, S. 826 f. Vgl. Wentker, ebda., S. 481 ff., 483 f., 486 m.w.N. 123 Zum Zeitgeist der frühen 80er Jahre Wirsching, S. 421 ff. 124 Garton Ash, S. 145; Ploetz, S. 164, 242 ff. m.w.N.; Winkler, S. 857; Weber, S. 840 ff. Vgl. auch die damalige Vermutung des Bundeskanzlers: „Es sei im Übrigen interessant, wie sehr das linke Demonstrationspotential geführt und gelenkt werde, ob nun vom KGB oder Staatssicherheitsdienst, müsse offen bleiben. Es habe im Zusammenhang mit Tschernobyl nicht eine einzige Demonstration gegen die Sowjetunion gegeben“, so BK Kohl zum belgischen MP Martens am 21. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 143, S. 743; Schwarz, S. 351 f. 125 Zur Position der SPD Garton Ash, S. 92 f. (Konzeption der „Ostpolitik“ Brandts aus persönlicher Erfahrung des Mauerbaus); Ploetz, S. 202 ff. m.w.N.; Winkler, S. 858; Weber, S. 844 ff., 872 ff. Am 21. 10. 1986 präsentierten SPD und SED der Öffentlichkeit gemeinsame „Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor“ entlang der innerdeutschen Grenze, vgl. Texte zur Deutschlandpolitik III/4, S. 408 – 410; dazu AAPD 1986 Dok. 297, Fn. 20. 122

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vitäten „weitreichende und sehr kritische Folgen“ und eine „politische Desorientierung von Teilen der Bevölkerung in der Bundesrepublik“ und vermerkte kritisch: „Die Opposition in der Bundesrepublik entwickelt immer nachdrücklicher eine Neben- und Gegenaußenpolitik zur Bundesregierung mit der Tendenz, sich zum Fürsprecher sowjetischer Sicherheitsinteressen in der Bundesrepublik zu machen.“126 Die parteipolitischen Präferenzen der Sowjets zeigten sich besonders im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1983 und 1987127. Auch Michail Gorbatschow blieb dieser Linie zunächst treu: Während er dem Bundeskanzler und seiner Regierung die „kalte Schulter“ zeigte, empfing er als erste westdeutsche Politiker nach seinem Amtsantritt Egon Bahr und Willy Brandt, die sich von ihm außerordentlich beeindruckt zeigten und auf seine Bereitschaft hofften, das SPD-Konzept einer Sicherheitspartnerschaft in Europa zu verwirklichen128.

126 Aufzeichnung PS (Schollwer) vom 27. 12. 1985, AAPD 1985 Dok. 356, S. 1887 f.; vgl. Korte, S. 298 ff., 395 ff.; Conze, S. 651 ff. 127 Ploetz, S. 208 ff.; Wirsching, S. 554. 128 Vgl. dazu Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 42 ff.

VII. Abwarten und Beobachten Bei der Lagebeurteilung der Sowjetologen im AA spielten die Parteitage, Plenartagungen des ZK oder Sitzungen des Obersten Sowjet eine gewichtige Rolle. Strukturelle oder personelle Veränderungen an der Spitze von Partei und Staat, die Choreographie der Abläufe und Rituale sowie die Semantik stundenlanger Grundsatzreferate konnten wichtige Hinweise auf die Machtverhältnisse oder bevorstehende Veränderungen der politischen Linienführung geben. Im Anschluss an die ZKTagung und Sitzung des Obersten Sowjet Anfang Juli 1985 fasste das Sowjetunionreferat zusammen: „Die in ihrem Umfang überraschenden Personalveränderungen haben die Konstellation innerhalb der sowjetischen Führung einschneidend verändert. Sie zeigen, dass Gorbatschow und seine Anhänger (…) die Kaderpolitik fest in den Griff bekommen haben und offenbar auch über eine ausreichende Mehrheit im Politbüro verfügen.“129 Als Belege galten die Entfernung des vermeintlichen Rivalen Grigori Romanow aus dem Politbüro, die Ernennung zweier neuer ZK-Sekretäre, darunter Boris Jelzin, und die Trennung der Ämter von Generalsekretär und Staatsoberhaupt mit der Wahl Andrei Gromykos zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet. Das AA sah in diesen Veränderungen eine Verfestigung von Gorbatschows Machtposition und Stärkung seiner Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der Partei, aber keinen politischen Richtungswechsel. Der Sturz Romanows sei nicht die Folge eines Konflikts zwischen einer „weichen“ Linie Gorbatschows und einer „harten“ Romanows, weil Gorbatschow in der Innen- und Außenpolitik keine substantiell liberalere oder kooperativere Linie vertreten habe als jener. Der Sturz scheine vielmehr durch persönliche Gegensätze und den Umstand hervorgerufen worden zu sein, dass Romanow nicht dem von Gorbatschow verkörperten neuen PolitikerTypus entsprochen habe: „Kompromisslos in der Verteidigung des sowjetischen Systems, aber entgegenkommend im persönlichen Verhalten und in der politischen Alltagspraxis um eine gewisse Sachlichkeit und Offenheit bemüht.“130 An der Einschätzung, dass Gorbatschow sich im Politikstil, nicht aber in der Substanz von früheren sowjetischen Führern unterschied, hatte sich nichts geändert. Für die künftige Außenpolitik waren der Amtswechsel Gromykos und die Ernennung des Georgiers Eduard Schewardnadse zum Vollmitglied des Politbüros und Außenminister von großer Bedeutung. Das AA begriff den Wechsel an der Spitze des sowjetischen Außenministeriums als „tiefen historischen Einschnitt“: „Mit Gromyko tritt ein Mann ab, der fast drei Jahrzehnte die sowjetische Außenpolitik geleitet hat. Noch von Chruschtschow gegenüber Kennedy 1961 als jemand vorgestellt, den 129 130

Aufzeichnung 213 vom 02. 07. 1985, PA-AA 139285. Ebda.

VII. Abwarten und Beobachten

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man auf einen Eisblock setzen könne, hat Gromyko im Laufe der Jahre immer stärker eigene politische Konturen entwickelt und sich zunehmend vom Vollstrecker zum Gestalter der sowjetischen Außenpolitik gewandelt.“131 Aber einen Kurswechsel erwartete man von Gorbatschow auch hier nicht. Dafür, dass Gorbatschow mit der Politik Gromykos in der Substanz nicht einverstanden sei und eine andere Außenpolitik anstrebe, gebe es „kaum Anhaltspunkte“. Seit seiner Antrittsrede habe der Generalsekretär außenpolitisch „in den Hauptfragen ein Programm der Kontinuität“ propagiert und lediglich einige neue Akzente gesetzt, die aber nicht den Schluss auf substantielle Meinungsverschiedenheiten der sowjetischen Führung gegenüber der Gromyko-Linie zuließen.132 Allerdings könne eine Rolle gespielt haben, dass es Gorbatschow „um mehr operative Stoßkraft, um flexiblere Handhabung einer in vielem als zu statisch empfundenen sowjetischen Außenpolitik, vielleicht auch um mehr Kreativität, kurz, um einen neuen Impetus“ gegangen sei. Jedenfalls habe Gorbatschow durch den Abgang Gromykos und seine Ersetzung durch den „außenpolitischen Laien“ Schewardnadse seine zentrale Rolle bei der konzeptionellen Gestaltung der sowjetischen Außenpolitik abgesichert. Die Festlegung der Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik werde allerdings auch weiterhin in die Zuständigkeit des Politbüros insgesamt fallen. Auch Außenminister Genscher betrachtete die Veränderungen nüchtern und wollte noch von keiner Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik sprechen. Er war vielmehr überzeugt, dass die außenpolitische Linie der Sowjetunion systembedingt sehr beständig sei und allein im Kollektiv der Führungsgremien abgesteckt oder verändert würde, zumal Gromyko Mitglied des Politbüros blieb und ein Mitspracherecht behielt. Nur in zwei Punkten zeige sich bisher die Handschrift des neuen Generalsekretärs: In dem Bestreben, das Wirtschaftssystem effektiver zu gestalten, damit der Abstand zwischen Ost und West sich nicht noch weiter zum Nachteil der Sowjetunion verschlechtere, sowie in der Bereitschaft, Westeuropa wieder stärkere Beachtung zu widmen und als Faktor im globalen Kräftespiel zu nutzen133. In einer Halbjahresbilanz des neuen Generalsekretärs bekräftigte einige Wochen später Botschafter Kastl, Gorbatschow habe die „Grundlinien der sowjetischen Politik – Wahrung der Weltmachtstellung, Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit den USA“ fortgesetzt134. Dabei habe er gezeigt, so Kastl warnend,

131

Aufzeichnung 213 vom 03. 07. 1985, AAPD 1985 Dok. 178. Als Beispiele neuer Akzentsetzung werden u. a. genannt: „Erheblich verstärktes Streben nach strikter Blockkohäsion; Festigkeit und erneute Verhärtung gegenüber den USA, insbesondere in sicherheitspolitischen Kernfragen; Umwerbung Westeuropas und Interesse an Europäisierung der Entspannung“, ebda. S. 946. 133 So Genscher zum japanischen AM Abe in Tokio am 05. 07. 1985, AAPD 1985 Dok. 184, S. 973 f.; ähnlich gegenüber dem koreanischen AM Lee Won-kyung am 06./09. 07. 1985 in Seoul, AAPD 1985 Dok. 187, S. 1000 f.; zu „neuen Akzenten in der sowjetischen Westpolitik“ BM-Vorlage 213 vom 27. 06. 1985, AAPD 1985 Dok. 172. 134 FS B Kastl Nr. 2902/2903 an AA vom 15. 09. 1985, PA-AA 139285. 132

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VII. Abwarten und Beobachten „dass er die äußeren und inneren Ziele des Sowjetstaats wirksamer vertreten kann als seine Vorgänger. Das macht ihn für den Westen, insbesondere den amerikanischen Präsidenten, zu einem gewichtigeren und gefährlicheren Gegenüber. (…) Schablonenhafte Erwartungen in der westlichen Öffentlichkeit, ein jüngerer Mann an der Spitze der SU werde gewissermaßen zwangsläufig zu westlichen, kompromissbereiteren Formen des politischen Handelns übergehen, nach Innen ,liberaler‘ sein, haben sich als Wunschdenken erwiesen. (…) Es wäre aber andererseits voreilig, Gorbatschow in seiner potentiellen Gefährlichkeit für uns zu überschätzen. (…) Eine unbeirrte und sachliche, die konkreten Möglichkeiten der Rüstungskontrolle und des Dialogs betonende westliche Politik wird auf die Weltöffentlichkeit und auch auf den Generalsekretär ihre Wirkung letztlich nicht verfehlen.“

Jenseits der Außenpolitik, so bilanzierte Kastl, ergebe sich aus den Reden Gorbatschows ein „Grand Design“, „nämlich das notorisch rückständige Russland von heute, die SU, zu einem auch wirtschaftlich modernen und so machtvollen Staat wie die USA zu machen – wenn auch, versteht sich, ohne deren aus sowjetischer Sicht bestehende ,kapitalistische‘ Unzulänglichkeiten“ und vor allem ohne grundlegende Veränderungen des politischen Systems. Jedoch vermisste der Botschafter greifbare Fortschritte: Zwar habe sich Gorbatschow „mit enormem Engagement […] seinem Hauptanliegen, der Modernisierung, Intensivierung und Effektivitätssteigerung in der Volkswirtschaft“ gewidmet, jedoch hätten die durch seinen „zupackenden Ton im Westen geweckten Erwartungen auf echte Reformen“ sich bisher nicht erfüllt, weil er noch „keine Bereitschaft [habe] erkennen lassen, an den Grundprinzipien der etablierten sowjetischen Wirtschaftsdoktrin zu rütteln.“ Gorbatschow gebe sich überzeugt, dass sein Kurs von der Parteibasis getragen, ja gefordert werde, und versuche, die Bevölkerung durch einen populistischen Führungsstil und Begegnungen mit dem „Mann auf der Straße“ zu mobilisieren. Seine Wortwechsel und Diskussionen mit „allem Anschein nach nicht handverlesenen“ Passanten, Arbeitern und einfachen Parteimitgliedern bei Besuchen in Leningrad, Kiew oder Tjumen hatten nachhaltigen Eindruck gemacht: „Die Reaktion der Sympathie und Zustimmung war anscheinend spontan“; „ein ähnliches Auftreten dürfte es in der SU seit Chruschtschow, vielleicht sogar seit Lenin, vom Parteichef nicht mehr gegeben haben“135. Die von Gorbatschow initiierte und vom Staat rigoros durchgesetzte Kampagne gegen den Alkoholkonsum war demgegenüber zunehmend unpopulär136. Am Ende, so der skeptische Schluss von Kastls Bilanz, bleibe offen, „ob er nicht zu viel auf einmal und zu schnell anpackt und seine Möglichkeiten überzieht“. Am 1. August 1985 gab der neue Außenminister Schewardnadse aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der KSZE-Schlussakte in Helsinki sein Debüt im Kreise der westlichen Kollegen. Substantielle Neuigkeiten gab es keine, Schewardnadses Ausführungen wurden als „Botschaft der Kontinuität“ verstanden; das Schlüsselwort 135

FS B Kastl Nr. 1524 an AAvom 20. 05. 1985; FS GK Berninger Nr. 60 an AAvom 20. 05. 1985; FS B Kastl Nr. 1572 an AA vom 22. 05. 1985, Nr. 1984 vom 28. 06. 1985, Nr. 2793 vom 06. 09. 1985; alle PA-AA 139288. 136 Schreiben B Kastl an AA vom 11. 06. 1985 ebda.; vgl. Schattenberg, bpb Nr. 323/2014.

VII. Abwarten und Beobachten

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sei „wait and see“ (George Shultz)137. Aber schon bald wurde deutlich, dass auch der neue Außenminister mit der westlichen Öffentlichkeit umzugehen verstand. Im Anschluss an seinen ersten Auftritt bei den Vereinten Nationen hielt das AA fest: „Stil und Tenor unterschieden sich deutlich von Gromyko; er verharrte nicht in emotionslos vorgetragenen Anklagen und Beschuldigungen; sein Ton war konziliant mit publikumswirksamer Präsentation sowjetischer Anstrengungen zur Sicherung des Friedens“138. Bundeskanzler Kohl beschrieb in einem Gespräch mit dem argentinischen Präsidenten Alfonsín sein Verständnis der Rolle Gorbatschows vor dem Hintergrund der aktuellen Lage der Sowjetunion: Die Sowjetunion werde ihr Imperium keine 50 Jahre mehr sichern können. Gewiss werde es keinen Krieg geben, denn jeder Einsatz von Gewalt in Europa würde zur Apokalypse führen und die Sowjets seien „eiskalte Rechner“, die ihre Erfolge nach 1945 nicht mit Krieg, sondern der Drohung mit einem gigantischen Waffenpotential erreicht hätten. Aber wirtschaftlich seien sie fast ein Zwerg; Breschnew habe eine katastrophale Lage hinterlassen. Auch ein Problem sei die Nationalitätenfrage, weshalb in einigen Jahren 50 % der Rekruten Nicht-Russen, darunter viele Mohammedaner, sein würden. In Osteuropa gebe es außerdem, wie in Polen, eine religiöse Renaissance. Im Umgang mit diesen Herausforderungen werde es, so Kohl, kein Zurück zu den Methoden Stalins geben können. Politisch sei deshalb besonders wichtig, mit der Sowjetunion zu reden und vernünftige Lösungen zu suchen, ohne jedoch Prinzipien aufzugeben; die Sowjetunion müsse wissen, „bis hierhin und nicht weiter“. Er beurteile die Chancen in den Ost-West-Beziehungen günstig und rechne damit, dass die Gipfelgespräche von Reagan und Gorbatschow Ergebnisse bringen würden. Reagans Frau Nancy „wolle ihn gewissermaßen mit der Friedenspalme in die Geschichte eingehen sehen“. Gorbatschow angehend, so wäre es „ein Fehlurteil, ihn als liberalen Mann einzuschätzen. Ein Generalsekretär der KPdSU müsse ein eiskalter Mann sein. Äußere Eleganz sage nichts über die politische Haltung. Dennoch sei Gorbatschow ein Vertreter der neuen Generation, […] der technokratischen Nachkriegsgeneration. Außerdem sei von ihm eine lange Amtszeit zu erwarten. [Er] sei gewissermaßen gezwungen, jetzt eine Revolution von oben durchzuführen. Er könne seine Ziele erreichen und mehr Effizienz bewirken entweder durch Gewalt oder das Angebot von größeren Anreizen. Gorbatschow müsse die Wirtschaft dezentralisieren, damit würden sich aber die Zügel der Macht lockern. Außerdem fordere auch die jüngere Generation mehr Bewegungsfreiheit. Die Sowjetunion befinde sich deshalb in einer Art Übergangsphase, was besondere Klugheit im Westen erfordere. Jetzt sei beides, Entschiedenheit wie aber auch Gelassenheit, erforderlich.“139 137 Gespräch der AM Andreotti, Dumas, Genscher und Shultz am 01. 08. 1985 in Helsinki, AAPD 1985 Dok. 214, Gespräch der AM Genscher und Schewardnadse am 01. 08. 1985 ebda., AAPD 1985 Dok. 215. 138 StS-Vorlage 2 vom 27. 09. 1985, PA-AA 139307. 139 Gesprächsvermerk des Bundeskanzleramts vom 18. 09. 1985, AAPD 1985 Dok. 247, S. 1267 ff.

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VII. Abwarten und Beobachten

Einige Wochen später berichtete Präsident François Mitterand Kohl von Gorbatschows Paris-Besuch und bezeichnete ihn „als Mann mit politischer Sensibilität, der sehr wohl wisse, was gegen sein Land vorgebracht werde [Afghanistan, Menschenrechte usw.]. Er wisse auch, was in der Welt vorgehe. Er besitze eine gewisse Originalität des Denkens und auch eine gewisse Kultiviertheit, wenngleich diese eher technischer und organisatorischer Natur sei. […] Dennoch sei er kein weicher Mann. Er wolle seine Karriere auf der wirtschaftlichen Entwicklung seines Landes aufbauen.“ Kohl antwortete, „Generalsekretär Gorbatschow habe das gleiche Problem wie die Zaren. Er versuche eine Revolution von oben. Er bekämpfe den Alkoholismus, die Unpünktlichkeit, die Verwahrlosung und die Schlamperei, wie dies auch schon Peter der Große versucht habe. Den Gulag werde er allerdings beibehalten. Die Analyse derjenigen westlichen Kommentatoren, die ihn als Liberalen verstehen, nur weil er eine elegante Frau habe und die Journalisten gut behandle, sei lächerlich. Allerdings könne er nicht wieder zurück zu Stalin. Mit Sicherheit sei er kein weicher Mann, wie auch Präsident Mitterrand bemerkt habe. Er werde keine weiche Linie verfolgen. Aber er werde alles versuchen, die Menschen für sich zu gewinnen und sie zu motivieren, z. B. intensiver zu arbeiten. Es stelle sich die Frage, ob er sich das im außenpolitischen Bereich etwas kosten lassen wolle, d. h. ob er international eine ruhige Lage haben wolle, um nach innen wirken zu können.“140 Mitterand resümierte, der Besuch in Paris sei für Gorbatschow vielleicht kein politischer, aber ein persönlicher Erfolg gewesen: „Er habe es verstanden zu gefallen.“ Er habe ihm übrigens sehr offen gesagt, dass er, Mitterrand, „gegenüber allem, was Gorbatschow sage und mache, sehr misstrauisch sei. Nicht etwa, weil er ihn persönlich verdächtige oder ihm gegenüber persönlich Misstrauen hege. Aber die Sowjetunion sei einfach zu mächtig, und wer die Macht in Händen habe, könne sie benutzen.“ Die Aussage des Machiavellisten Mitterand war vermutlich für die Einstellung der meisten Regierenden im Westen dieser Zeit typisch: Ein sowjetischer Parteichef verdiente als Exponent eines nicht vertrauenswürdigen Systems nach allen bisherigen Erfahrungen gründliches Misstrauen; und Vorsicht schien ihm gegenüber umso mehr geboten, als er sich vor aller Augen als ein charismatischer Meister der „Öffentlichkeitsarbeit“ erwies. Außenminister Genschers Blick richtete sich zusehends auf den XXVII. Parteitag der KPdSU Ende Februar 1986. Bis dahin erwartete er, wie er im Oktober zu USVizepräsident Bush sagte, dass die sowjetische Führung das Verhältnis zu den USA langfristig klären werde, weil dies Voraussetzung für die jetzt angestrebte Modernisierung der Volkswirtschaft sei. Daraus ergäben sich für den Westen Chancen und Möglichkeiten.141 Die laufenden Verhandlungen sollten genutzt werden, so Genscher zu Außenminister Shultz, Gewissheit über die langfristigen Ziele der SU zu ge140 Gesprächsvermerk des Bundeskanzleramts vom 10. 10. 1985, AAPD 1985 Dok. 277, S. 1429. 141 Gespräch am 22. 10. 1985 in Washington, AAPD 1985 Dok. 288, S. 1480.

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winnen: „Er glaube, dass Gorbatschow es ernst meine mit der Modernisierung der SU, was nicht mit ihrer Liberalisierung gleichzusetzen sei. Der Westen eile der SU im technologischen Bereich davon; man müsse Gorbatschow die Option breiter Zusammenarbeit für den Preis drastischer Reduzierungen bei den offensiven Waffen aufzeigen.“142 Bei einer Konferenz der Regierungschefs von USA, Großbritannien, Italien, Kanada, Japan und der Bundesrepublik anlässlich der UN-Generalversammlung in New York diskutierten die Beteiligten die Marschroute des amerikanischen Präsidenten beim bevorstehenden Gipfeltreffen mit Gorbatschow in Genf. Alle hatten den Wunsch, den Westen durch ambitionierte Abrüstungsvorschläge in die Offensive zu bringen. Kohl sagte, die Chancen des Gipfels müssten genutzt werden: „Die USA sollten agieren und nicht reagieren. Der Sowjetunion dürfe nicht die Führung überlassen werden. Gorbatschow sei in einer schwierigen Lage. Er habe wirtschaftliche Probleme und auch seine Macht noch nicht völlig stabilisieren können. Im Februar stehe er dem Parteitag gegenüber.“ Die Sowjetunion würde einen Fehler machen, wenn sie die Chance der Begegnung jetzt nicht ergreife, wobei der Westen derzeit über eine starke Verhandlungsposition verfüge.143 Dabei warb Kohl für Augenmaß und Einfühlung: Gorbatschow habe zwar „keine öffentliche Meinung wie wir“, aber er müsse auf die Meinung „unter den maßgeblichen Leuten seines Landes“ Rücksicht nehmen. „Man dürfe ihn nicht zwingen, das Gesicht zu verlieren. […] Gorbatschow sei abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Er brauche Zeit. Geben und Nehmen sei die richtige Einstellung. Auf eines müsse er hinweisen: Es gebe auch Stimmen, auch in den USA, die sagten, man müsse notfalls die Russen zu Tode rüsten. Er bitte, dass man sich keinen Illusionen hingebe. Bei einer Diktatur sei ein solches Vorgehen sinnlos.“144 Kohl war indes, wie er wenig später zu Mitterand sagte, unsicher über den Ausgang des Genfer Gipfeltreffens, weil er nicht durchschaue, wie fest Gorbatschow wirklich im Sattel sitze145. Unmittelbar im Anschluss an den Genfer Gipfel am 19./20. November 1985 informierten Reagan und – Indiz eines „Stilwandels“ im Warschauer Pakt146 – auch Gorbatschow ihre Verbündeten. Reagan bezeichnete den Gipfel als Erfolg und Schritt vorwärts bei den Bemühungen um ein stabileres und konstruktiveres Verhältnis zur Sowjetunion. Man habe den Verhandlungsführern der Abrüstungsverhandlungen beider Seiten klargemacht, dass man wirkliche Fortschritte wünsche. Substantielle Ergebnisse gab es jedoch nicht. Als Erfolg galt die Wiedereröffnung

142 143 144 145 146

Gespräch am 22. 10. 1985 in Washington, AAPD 1985 Dok. 289, S. 1485. Gespräch am 24. 10. 1985 in New York, AAPD 1985 Dok. 290, S. 1490. Ebda. S. 1495 f. Gespräch am 08. 11. 1985 in Bonn, AAPD 1985 Dok. 307. Drahtbericht G Arnot Nr. 3645 an AA vom 23. 11. 1985, PA-AA 135307.

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eines Dialogs auf höchster Ebene. Das Bild, das man sich in den westlichen Hauptstädten von Gorbatschow machte, blieb noch weitgehend unverändert.147 Zwei Monate danach, am 15. Januar 1986, griff Gorbatschow Reagans Vision einer nuklearwaffenfreien Welt auf und überraschte mit einer neuen Abrüstungsinitiative, einem Drei-Stufen-Plan zur Abschaffung aller Nuklearwaffen bis zum Jahr 2000148. War es nur ein taktischer Zug im Kampf um die öffentliche Meinung oder ein konstruktiver Verhandlungsvorschlag? Im Westen herrschten Zweifel und Skepsis. Für eine neue Propaganda-Offensive nach bekanntem Muster schien zu sprechen, dass Gorbatschow seinen weitreichenden Vorschlag außerhalb des Verhandlungsrahmens und ohne diplomatische Vorbereitung im Fernsehen verkündet hatte und die isolierte Betrachtung der Nuklearwaffen ein altes Anliegen der konventionell überlegenen Sowjetunion war. In der US-Regierung war man sich in der Bewertung uneinig, aber Präsident Reagan und Außenminister Shultz sahen Chancen und wollten verhandeln149. Im AA war man der Meinung, die Vorschläge Gorbatschows wichen „bei näherer Analyse nicht von der traditionellen Linie Moskaus ab, durch Forderung nach Vorleistungen und asymmetrisch wirkenden Maßnahmen einerseits sowie durch Manipulation der Öffentlichkeit und Spaltung des westlichen Lagers andererseits der Hegemonialstellung in Europa näherzukommen.“ Zugleich aber plädierte man dafür, die Initiative „nicht ausschließlich als propagandistisches Manöver zu betrachten und von vornherein abzuwerten“, denn „ein aufrichtiges sowjetisches Interesse an Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen vor allem im nuklearen Bereich kann durchaus vorausgesetzt werden“. Ob die Sowjets am Ende zu einem ausgewogenen Kompromiss bereit sein würden, lasse sich nur im Verhandlungswege herausfinden: „Wir sollten keine Chance für eine Verständigung verpassen und in der öffentlichen Auseinandersetzung nicht in die Defensive geraten“.150 Der Außenminister lobte öffentlich die „neuen konstruktiven Elemente“ der Gorbatschow-Vorschläge151. Die Abrüstungsinitiative vom 15. Januar sollte die Diplomatie in den folgenden Monaten intensiv beschäftigen. Die Stimmung im Ost-West-Verhältnis begann sich zu wandeln: Allmählich wuchs im Westen die Bereitschaft, die nach Jahrzehnten des Kalten Krieges tiefsitzenden Vorbehalte gegenüber Friedensinitiativen und Verhandlungsvorschlägen der Sowjetunion zu überwinden und Gorbatschow einen gewissen „Kredit“ zu geben. 147 Aufzeichnung v. Braunmühl vom 21. 11. 1985, AAPD 1985 Dok. 317, und 22. 11. 1985, AAPD 1985 Dok. 319; vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorabtschow (2020), S. 69 ff. 148 BPA/Ostinformation vom 16. 01. 1986. 149 National Security Archive, 12. 10. 2016, Gorbachev’s Nuclear Initiative of January 1986 and the Road to Reykjavik, https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/nuclear-vault-russia-pro grams/2016 – 10 – 12/gorbachevs-nuclear-initiative-january-1986 [25.03.20] mwN. auf Dokumente der US-Regierung. 150 BM-Vorlage 2 vom 31. 01. 1986, AAPD 1986 Dok. 19. 151 Zitiert nach Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 82, 84 m.w.N., der meint, Genscher habe sich damit von der skeptischeren Haltung der Arbeitsebene des AA und des Botschafters zu distanzieren begonnen.

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Man spürte, dass die Dinge in Bewegung gerieten, hatte selber vitales Interesse am nachhaltigen Abbau der Spannungen zwischen den Blöcken und vertraute auf die Stärke der eigenen Verhandlungsposition aufgrund der wirtschaftlichen und technologischen Überlegenheit des Bündnisses und der erfolgreichen Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses.

VIII. Der XXVII. Parteitag Höhepunkt im Kalender der sozialistischen Staaten war der Parteitag der Kommunistischen Partei. Ein knappes Jahr nach Beginn der Ära Gorbatschow, vom 25. Februar bis 6. März 1986, veranstaltete die KPdSU ihren XXVII. Parteitag, von dem man sich im Westen Aufschluss über die künftige Entwicklung der sowjetischen Politik erhoffte. Schon einige Monate zuvor war der Entwurf eines neuen Parteiprogramms vorgelegt worden, der indes dem AA wenig verheißungsvoll vorkam: Der Entwurf bekräftige die „Gültigkeit und Verbindlichkeit der marxistisch-leninistischen Ideologie sowjetischer Prägung nach innen und außen [und] zeige wieder einmal ganz deutlich, dass nicht die angebliche Feindschaft des Westens gegenüber dem Sozialismus die Hauptquelle der internationalen Spannungen ist, sondern die paranoid-konfrontative Grundstimmung in der Ideologie des sowjetischen Kommunismus.“152 „Wer von Gorbatschow eine neue, realistischere Betrachtung der Welt und eine pragmatischere Politik erwartet, muss sich durch den Text enttäuscht fühlen und seine Handschrift vermissen. (…) Der Programm-Entwurf [ist] Wasser auf die Mühlen derjenigen im Westen, die der Möglichkeit der Verständigung mit der SU grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen.“153 „Mit dem Programm erweckt der neue sowjetische Parteichef denselben Verdacht wie mit seiner Politik: Neuer Stil, alte Inhalte?“154 Trotzdem waren die Erwartungen im AA am Vorabend des Parteitags höhergesteckt: Die politische Atmosphäre in der Sowjetunion sei durch Bewegung gekennzeichnet. Kaum zufällig werde Gorbatschow seinen Bericht „auf den Tag genau 30 Jahre nach der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag“ vortragen. Offenbar wolle er dem Parteitag einen „Epochencharakter“ in der Geschichte der KPdSU geben.155 Umso größer war nach dem ersten Eindruck der fünfstündigen Rede die Enttäuschung: Gorbatschows Vortrag sei „blass und ohne Schwung“ gewesen, keine „rhetorische Glanzleistung“, eher eine „Referentenarbeit“ des ZKApparats ohne „markantes politisches Profil“, „auch dem Inhalt nach kein großer Wurf“156.

152

BM-Vorlage 21 vom 04. 11. 1985, PA-AA 139285. FS B Kastl Nr. 3423 an AA vom 28. 10. 1985, ebda. 154 FS B Kastl Nr. 3424 an AA vom 28. 10. 1985, ebda. 155 BM-Vorlage 213 vom 19. 03. 1986, ebda. 156 FS B Kastl Nr. 519 an AA vom 25. 02. 1986, ebda.; BM-Vorlage vom 25. 02. 1986, ebda.; auch das Medienecho im Westen kennzeichnete Enttäuschung, vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 87 ff. 153

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Das Fehlen einer eigenen Handschrift war allerdings ein Irrtum, denn Gorbatschow hatte die Vorbereitung der Rede an sich gezogen und schon Monate zuvor vertrauten Beratern übertragen, um die ihm wichtigen politischen Aussagen selbst zu formulieren157. Die gewollte Tragweite war aber für westliche Beobachter nicht sofort erkennbar, weil der Generalsekretär in seinem mehr als 200 Seiten langen Bericht zwar deutliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen übte und für Veränderungen eindringlich warb, jedoch kein Lösungskonzept vorweisen konnte und konkrete Aussagen zu Änderungen oder Reformen entweder aus Überzeugung oder mit Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der Traditionalisten vermied und seine Kritik in bewährte ideologische Formeln, langwierige Ausführungen zu Sachthemen und scharfe Angriffe gegen den weltpolitischen Gegner einbettete158. Die Rede war also ambivalent und in hohem Maße auslegungsbedürftig. Botschafter Kastl sprach in seiner ersten Reaktion von einer „defensiven, stark ideologisch gefärbten Standortbestimmung“ ohne außenpolitische Konzeption, aber mit einer „finsteren Präsentation des Westens“159. Erst nachdem man Gelegenheit gehabt hatte, Gorbatschows Parteitagsrede auch zu lesen, fiel das Urteil differenzierter aus und versuchte das AA, konstruktive Ansätze zu identifizieren. Die Rede „erweist sich aber bei der Lektüre – mehr als unter dem unmittelbaren Eindruck des eher schwunglosen Vortrags – als eine sorgfältig durchdachte und streckenweise lebendig, oft auch kämpferisch und offensiv formulierte Darlegung des Standpunkts der sowjetischen Führung“.160 Dabei fiel die Mehrdeutigkeit der Aussagen zur Weltlage sogleich ins Auge: So sei einerseits die „ideologische Standortbestimmung […] durch fundamentale und aus unserer Sicht böswillige Kritik an ,Kapitalismus‘ und ,Imperialismus‘ bestimmt [Anmerkung des Ministers: ,!‘] [und werde] der amerikanische Gegenspieler […] als derart bösartig und unberechenbar beschrieben, dass es dem unbefangenen Leser schwerfällt, sich ihn als Partner für eine neue Phase verbesserter Ost-West-Beziehungen vorzustellen [Anmerkungen des Ministers: ,r‘; ,zeigt dies große ideologische Abhängigkeit subjektiv oder objektiv?‘].“ Andererseits ergebe sich „aus einer fast entschuldigenden Nebenbemerkung Gorbatschows im außenpolitischen Teil, dass […] sich heute in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen Anzeichen eines Wandels zum Besseren bemerkbar machten.“ „Die von einigen Medien herausgestellte harte Reaktion Gorbatschows gegenüber den USA muss im Gesamtkontext der Rede relativiert werden“. Die Westeuropäer angehend, so gebe es zwar keine neuen programmatischen Impulse, wohl aber deutliche Signale einer unverändert starken Bereitschaft zur Zusammenarbeit. „Hier spielen zweifellos taktische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle.“ Die sicherheitspolitischen Ausführungen seien nicht neu und „in den meisten Punkten für uns problematisch“, aber doch Anknüpfungspunkte zum Dialog. 157 158 159 160

Taubman, S. 230 f. Taubman, S. 236. FS B Kastl Nr. 519 an AA vom 25. 02. 1986, ebda. BM-Vorlage v. Braunmühl (213) vom 27. 02. 1986, PA-AA 139285.

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VIII. Der XXVII. Parteitag „Die Präsentation strahlt auf den ersten Blick einen neuen politischen Geist aus. Jedoch ist Skepsis geboten, solange sich die sowjetische Bereitschaft zu einem kooperativen sicherheitspolitischen Verhalten nicht auch am Verhandlungstisch zeigt. Die SU muss durch ihre Taten unter Beweis stellen, ob sie wirklich etwas Neues will oder ob sie hiermit nur eine verstärkte Sympathiewerbung gegenüber bestimmten politischen Strömungen im Westen betreiben möchte, deren Sprache man sich weitgehend bedient, um Interessenidentitäten zu suggerieren.“

Die bekannte Besorgnis wegen der Einwirkung sowjetischer Propaganda bestand unverändert: „Wichtig ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass sich Gorbatschow erneut an mehreren Stellen zur sowjetischen Doppelstrategie bekennt, die Ziele der SU gleichzeitig auf der staatlichen Ebene wie gegenüber der Öffentlichkeit zu verfolgen. Mit einer Fortsetzung der sowjetischen Öffentlichkeitskampagne auf allen zur Verfügung stehenden Ebenen ist somit zu rechnen.“ Im Zentrum der Rede stand der innere Zustand der Sowjetunion, „an dem Gorbatschow kaum ein gutes Haar ließ“.161 Mit großem Nachdruck habe er eine gesellschaftliche „Wende“ mit einer „radikalen Reform des Wirtschaftsmechanismus“ zur Steigerung von Wachstum und Produktivität gefordert162. Dabei sei aber völlig klar, dass sein Ziel nicht die Einführung einer Marktwirtschaft war, sondern die Stärkung des Sozialismus im Wettbewerb der Systeme. „Jeglicher Eindruck einer Annäherung an die ,bürgerliche Ideologie‘ soll offenbar peinlichst vermieden werden. (…) Dabei zeichnet sich Gorbatschows Verhältnis zur Ideologie weder durch dogmatische Verbissenheit noch durch Aggressivität im Sinne traditioneller weltrevolutionärer Ambitionen aus. Aber [er] zieht die Linien der Abgrenzung gegenüber der kapitalistischen Umwelt mindestens ebenso scharf wie seine Vorgänger.“163 Gorbatschows politische Strategie erschien dem AA auch hier ambivalent: Einerseits wolle er durch die „Belebung eines patriotisch eingefärbten Selbstbewusstseins“ und „Veränderungen im Verhältnis von Regierenden und Regierten“ ein „sozialistisches ,Wir-Gefühl‘“ schaffen, das zur „Mobilisierung der Bevölkerung gegenüber den inneren und äußeren Herausforderungen benutzt werden kann“. Andererseits sollten „das Machtmonopol der Partei, die Tätigkeit der staatlichen Sicherheitsorgane und nicht zuletzt die ideologische Arbeit der Massenmedien mögliche systemfeindliche Tendenzen und zentrifugale Entwicklungen schon im Keim ersticken. (…) Innere Opposition, Andersdenkende und Dissidenten sind kein Thema in Gorbatschows Rede. Er sieht sich offenbar vom Erfolg seines harten, repressiven Kurses überzeugt und glaubt, dass die von ihm geforderte Wende die Lösung aller Aufgaben bewirken und damit jeder Opposition den Boden entziehen wird.“164 Der Analyse des Berichts des Generalsekretärs durch das AA lag die zutreffende Annahme zugrunde, dass Gorbatschow überzeugter Verfechter des Sozialismus war 161 162 163 164

FS B Kastl Nr. 519 an AA vom 25. 02. 1986 ebda. BM-Vorlage 421 vom 27. 02. 1986 ebda. BM-Vorlage 213 vom 03. 03. 1986, PA-AA 139285. Ebda.

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und an den grundlegenden Dogmen des Marxismus-Leninismus unbeirrt festhielt. In der Sowjetunion sozialisiert, hatte er sich von Anfang an vorbehaltlos mit Ideologie und Herrschaftssystem identifiziert und verdankte seinen atemberaubenden Aufstieg an die Spitze des Landes, neben seinem Intellekt, taktischem Geschick und einer bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit, vor allem der Förderung durch die kommunistische Partei. Er gehörte zu der Alterskohorte, die in der Chruschtschow-Ära unter dem Eindruck des politischen „Tauwetters“ und der damit einhergehenden Modernisierung der Gesellschaft an die „Gesetzmäßigkeit“ und Überlegenheit des Sozialismus sowjetischer Provenienz zu glauben gelernt hatte.165 Die uneingeschränkte Identifikation mit dem Ideal des Sozialismus und der zuversichtliche Glaube an die Reformfähigkeit der sowjetischen Gesellschaftsordnung bestimmten insbesondere in der Frühphase Gorbatschows Politik und ließen vermuten, dass seine Bekräftigung ideologischer Glaubenssätze und das Bemühen, seine Politik insbesondere auf Lenin zurückzuführen, nicht nur taktische Gründe hatten166. Was die politische Praxis betraf, bediente sich Gorbatschow offenbar bedenkenlos der Instrumente und Methoden, welche die von Stalin geschaffene Ordnung bereithielt. Der Westen lag deshalb nicht falsch, wenn er ihn nicht als „Liberalen“, sondern in erster Linie als energischen Vertreter der Interessen seines Landes verstand. Noch während des Parteitags hob Außenminister Genscher gegenüber seinem französischen Amtskollegen Roland Dumas in einer ersten Bewertung der Rede Gorbatschows den Zusammenhang zwischen den Reformen im Innern und der Außenpolitik hervor: „Die SU werde nicht in der Lage sein, das ehrgeizige Modernisierungsprogramm Gorbatschows unter Abgrenzung vom Westen und unter den Belastungen eines neuen Rüstungswettlaufes durchzuführen. Vielmehr werde die SU wegen der internen Entwicklungsziele ein Interesse an Kooperation mit dem Westen, jedenfalls in bestimmten Grenzen, haben. Darin lägen die Ursachen der von Gorbatschow gezeigten Bereitschaft zur Bewegung in Rüstungskontrolle und Abrüstung.“ Genscher erwartete, die Sowjetunion könne bezüglich der Beziehungen zum Westen nach dem Parteitag etwas flexibler werden, wenn auch im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht so deutlich wie zu anderen westlichen Staaten. Man sehe Anzeichen einer „Auflockerung der Besuchsdiplomatie und des Klimas im OstWest-Verhältnis“ und wolle „diese Bemühungen ebenso wenig wie die sowjetischen Abrüstungsvorschläge als bloße Propaganda abtun.“167 In Anbetracht der mehrdeutigen Sprache des Rechenschaftsberichts zum XXVII. Parteitag ist verständlich, dass man im Westen keinen Wandel im Verständnis zentraler Dogmen der sowjetischen Außenpolitik wahrnahm. Gorbatschow nahm Rücksicht auf die Befindlichkeiten derer, die ihn zum Parteichef gemacht hatten, und ließ keine Absicht erkennen, einen sichtbaren „Bruch“ mit den ideologischen 165

Kotkin, S. 56 f.; Brown, 7 Years, S. 281 f.; Hanson, S. 52 ff. Brown, 7 Years, S. 284 ff.; Kotkin, S. 2 f., 173 ff. („dream of socialism with a human face“); Hanson, S. 49 ff. 167 Gespräch am 27. 02. 1986 in Paris, AAPD 1986 Dok. 57, S. 315 f. 166

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Grundlagen der Außenpolitik zu vollziehen. Sowohl im neuen Parteiprogramm als auch in seiner Rede schienen das Prinzip der „friedlichen Koexistenz“ und die „Breschnew-Doktrin“ bekräftigt worden zu sein168. Das Koexistenz-Prinzip betraf das Verhältnis der Sowjetunion zu den nicht-sozialistischen Staaten und beinhaltete seit Chruschtschow eine Doppelstrategie: Die grundsätzliche Absage an kriegerische Mittel zur Lösung internationaler Streitfragen einerseits und die kompromisslose politische, soziale und ideologische Auseinandersetzung mit dem feindlichen System des Kapitalismus im „internationalen Klassenkampf“ andererseits169. Die Breschnew-Doktrin bezog sich auf die sozialistischen Staaten und postulierte ihre im Verhältnis zur Sowjetunion nur eingeschränkte Souveränität. Ersteres diente der Rechtfertigung der weltweiten Unterstützung kommunistischer Parteien und Aufständischer und galt im Westen als einer der Gründe für das Scheitern der Entspannungspolitik. Letztere war Ausdruck der sowjetischen Hegemonie in Osteuropa und u. a. Grundlage der Niederschlagung des „Prager Frühlings“.170 Während das AA eine Preisgabe dieser Dogmen nicht feststellen konnte, vermerkte es immerhin sprachliche Nuancen und sprach von „behutsameren“ Formulierungen. Vom „neuen Denken“ in der sowjetischen Außenpolitik war zunächst noch nicht die Rede171. In diesem Zusammenhang berichtete der Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR Hans-Otto Bräutigam, anlässlich des Parteitages habe ein „Angehöriger des DDR-Parteiapparats“ von einer „offenen Diskussion“ gesprochen, ob im Nuklearzeitalter ein „Umdenken im Hinblick auf ,friedliche Koexistenz‘ erforderlich sei. Gorbatschows Rede enthalte Passagen, dass sich objektive Bedingungen ergeben hätten, die dazu führten, dass die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus lediglich und ausschließlich in friedlichem Wettbewerb verlaufen könne. Die Begeisterung für den Export der Revolution sei erheblich abgekühlt.“172 Wenige Monate später kam auch der Planungsstab des AA in einer sorgfältigen Analyse mehrerer Verlautbarungen zu dem Schluss, dass Gorbatschow den Begriff der „friedlichen Koexistenz“ neu interpretiert habe. Denn in seinen Formulierungen 168

So ausdrücklich für die Politik der „friedlichen Koexistenz“ Botschafter Semjonow gegenüber BM Genscher am 20. 03. 1986 in Bonn, AAPD 1986 Dok. 79, S. 448; vgl. aber Brown, Gorbachev Factor, S. 222; Hanson, S. 59, 60 f.; Taubman, S. 236 zum „KlassenkampfGedanken“ in der sowjetischen Außenpolitik. 169 FS B Kastl Nr. 3423 an AA vom 28. 10. 1985, PA-AA 139285; BM-Vorlage 21 vom 04. 11. 1985 ebda.; vgl. auch Aufzeichnung MD Seitz vom 07. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 2. 170 FS B Kastl Nr. 3424 an AA vom 28. 10. 1985, ebda.; BM-Vorlage 21 vom 04. 11. 1985 ebda. Beim Treffen der Partei- und Staatschefs des RGW am 10./11. 11. 1986 in Moskau hatte Gorbatschow sich immerhin zum Recht jeder Partei „zur souveränen Entscheidung über die Entwicklungsprobleme ihres Landes“ bekannt, doch eine Außerkraftsetzung der BreschnewDoktrin wurde von den Anwesenden darin nicht gesehen, vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 191 m.w.N.; zur Evolution der Breschnew-Doktrin am Beginn der Ära Gorbatschow Kramer, S. 73 – 80; Kotkin, S. 87, 89 f.; Brown, Gorbachev Factor, S. 224 f. 171 Vgl. dazu Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 210 ff. 172 FS StS Bräutigam an AA/Botschaft Moskau vom 05. 03. 1986, PA-AA 139285.

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sei „der Klassenkampf hinter dem ,brennendsten Problem, das heute vor der Menschheit steht, dem Problem von Krieg und Frieden‘, klar an die zweite Stelle gerückt“. Zwar sei festzuhalten, „dass die sowjetische Führung auch nach dem XXVII. Parteitag grundsätzlich am widersprüchlichen Doppelansatz der friedlichen Koexistenz festhält. Sie bleibt überzeugt von der Überlegenheit des eigenen Modells, dessen Durchsetzung in der geschichtlichen Perspektive sie als sicher ansieht. Sie hat jedoch dabei das offensiv gegen die westliche Gesellschaft gerichtete Element ideologischer und gesellschaftlicher Konfrontation deutlich abgeschwächt.“173 Die im Vergleich zu früheren Parteitagen „grundverschiedene“ Atmosphäre wurde aufmerksam registriert174. Der Ton der Redner sei sachlich und überwiegend kritisch gewesen. Auch die Partei, sogar das ZK und seine Abteilungen, seien von Kritik nicht ausgenommen worden. „Übertriebene Elogen“ wie die des Vorsitzenden des Kinematographen-Verbands, der die „Kürze“ von Gorbatschows fünfstündiger Rede bedauert habe, seien vom Generalsekretär persönlich abgebrochen worden. „Der Applaus war nicht bloß – wie früher üblich – ein ritueller Schlussakkord zu beendeten Rede-Pflichtübungen, sondern zeigte durchaus individuelle, aufmerksame und bewusste Reaktion auf einzelne Redebeiträge [und] ließ ein äußerst nationales, konservativ gestimmtes Publikum erkennen, das häufig dann Beifall spendete, wenn die Heimat gepriesen und die Abfuhr feindlicher Angriffe beschworen wurde.“ Die Debatte sei ein „kalkulierter und abgemessener Versuch der Mobilisierung durch Aktivierung der Kritik“ gewesen und habe „die Grenzen des im Rahmen des demokratischen Zentralismus Erlaubten“ nie überschritten.175 Der Generalsekretär, „nicht geräuschvoll wie Chruschtschow, ohne Breschnews würdiges Gehabe, sondern sachlich höchst engagiert und stets präsent, dabei nicht verkrampft und angespannt“, sei die prägende und auch medial wirksame Figur des Parteitags gewesen. „Die Fernsehkamera hat für eine weltweite Zuschauerschaft festgehalten, wie er das Geschehen stets aufmerksam verfolgte und sich im Gegensatz zu anderen Führungsmitgliedern kaum je ablenken ließ.“176 Ein „historische Ereignis“, so fasste Botschafter Kastl zusammen, sei der Parteitag nicht gewesen. „[Er] markierte keinen wirklichen Aufbruch zu neuen Ufern innerparteilicher Demokratie, geistiger Freiheit, wirtschaftlichen Reformen oder einer den pragmatischen Ausgleich mit dem Westen suchenden und auf unsere Sicherheitsinteressen eingehenden Außenpolitik – neue Impulse für die Entspannungspolitik gab der Parteikongress nicht.“ Doch habe der Parteitag „Gorbatschows führende Stellung gestärkt und ihm in der politischen Resolution ein flexibles Mandat in der Wirtschafts- und Außenpolitik erteilt, das ihm ausreichende Mög-

173 174 175 176

Aufzeichnung MD Seitz vom 07. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 2, S. 8, 11. FS B Kastl Nr. 595 an AA vom 04. 03. 1986, PA-AA 139285. FS B Kastl Nr. 598 an AA vom 04. 03. 1986, ebda. FS B Kastl Nr. 617 an AA vom 06. 03. 1986, ebda.

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lichkeiten für seine künftige politische Gestaltung gibt. Gorbatschow hat damit bekommen, was er braucht.“177 Im Resümee der Zentrale waren die Ergebnisse des Parteitags durch zwei fundamentale Widersprüche gekennzeichnet: „In der Außenpolitik: einerseits Festhalten an einem ideologisch verzerrten, antagonistischen Weltbild, andererseits nachdrückliche Betonung des objektiven Zwangs zu einem friedlichen Zusammenleben und der Notwendigkeit intensiverer internationaler Kooperation. In der Innenpolitik: einerseits zumindest rhetorische Bereitschaft zu ,radikaler Reform‘ und ,revolutionären Umwälzungen‘, andererseits Entschlossenheit, an den bisherigen Traditionen der zentralen Verwaltungswirtschaft, einer alle Lebensbereiche durchdringenden Parteiherrschaft und der geistigen Abgrenzung gegenüber dem Westen festzuhalten.“178

Dabei laute „die zentrale Frage für die Zukunft der UdSSR […], ob es überhaupt möglich sein wird, die gewünschte innergesellschaftliche Dynamik und Effizienz zu erreichen und das Verhältnis zur Umwelt zu normalisieren, ohne diese Widersprüche im Sinne einer grundsätzlichen Neuorientierung im Inneren sowie nach außen zu überwinden.“179 Trotz großer Skepsis war der Wille des AA zum vorsichtigen Optimismus spürbar: Man solle die heftige Polemik gegen den Westen nicht überbewerten, sondern auf diejenigen Ausführungen Gorbatschows setzen, die eine grundsätzliche Kooperations- und Kompromissbereitschaft bekräftigt hätten180. Die Bereitschaft, sich für eine möglicherweise neue Politik Moskaus zu öffnen, war nach dem Parteitag größer geworden.

177

Ebda., ähnlich BM-Vorlage 213 vom 13. 03. 1986, AAPD 1986 Dok. 68, S. 386. Sprechzettel 213 für Auswärtigen BT-Ausschuss vom 10. 03. 1986, PA-AA 139285; ähnlich BM-Vorlage vom 13. 03. 1986, ebda. 179 BM-Vorlage vom 13. 03. 1986, ebda. S. 384 (Anm.7: Nach Feststellung der Botschaft wurden 40 % der Mitglieder und 68 % der Kandidaten des ZK der KPdSU ausgewechselt. „Umfangreich, aber nicht revolutionär“). 180 Sprechzettel ebda. 178

IX. Tschernobyl Ein schwerer Rückschlag für Gorbatschows Ansehen im Westen war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sechs Wochen nach dem XXVII. Parteitag. Aufgrund der Verletzung von Sicherheitsvorschriften und technischer Mängel kam es am 26. April 1986 zur Explosion eines Reaktors mit katastrophalen Auswirkungen in der Sowjetunion und weiten Teilen Europas. Die sowjetische Regierung informierte die Öffentlichkeit zunächst gar nicht, dann verkürzt, teilweise irreführend oder sogar bewusst falsch181. Rettungs- und Evakuierungsmaßnahmen setzten verspätet ein und kosteten zahlreiche Menschenleben. Erst nach Tagen wurde das Ausmaß der Katastrophe auch im Ausland erkennbar. In der Bundesrepublik griffen enorme Verunsicherung und Angst um sich: Kinderspielplätze wurden gesperrt, Feldfrüchte untergepflügt, Milchprodukte aus dem Verkehr gezogen und Einfuhrbeschränkungen für Lebensmittel verhängt. Die ohnehin brisante gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Kernenergie erhielt starken Auftrieb, die Exekutive geriet unter Druck und der Bundeskanzler fürchtete ein innenpolitisches „Syndrom“: „Manche Menschen reagierten nahezu psychopathisch“, man erlebe „beinahe eine Neuauflage der Stationierungsdebatte, zum Teil handele es sich um die gleichen Demonstranten“182. Im AA sammelten sich Anfragen besorgter Bürger und Reiseveranstalter. Das Verlangen der Bundesregierung, von der Sowjetunion mehr zu erfahren, wurde immer dringender183. Der Generalsekretär jedoch schwieg. Jenseits der Bewältigung der unmittelbaren Folgen der Katastrophe begann wie gehabt der Kampf um die öffentliche Meinung: Botschafter Kastl berichtete, die dortige Presse kritisiere eine „antisowjetischen Medienkampagne“ in den „imperialistischen Zentren“ des Westens. Man sehe offenbar, so die Iswestija, eine günstige Gelegenheit, sich an einer Antwort auf die sowjetischen Friedensinitiativen herumzudrücken und diese zu diskreditieren184. Tatsächlich wurde in den westlichen 181 Aufzeichnung 431 vom 30. 04. 1986, AAPD 1986 Dok. 127; FS B Kastl Nr. 129 vom 09. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 136. 182 Gespräch mit dem belgischen MP Martens am 21. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 143, S. 742 f.: „Heute benutzten die Grünen Tschernobyl zur radikalen Forderung eines sofortigen Ausstiegs aus der Atomenergie. Die SPD wolle den Ausstieg ,anstreben‘“. 183 Gespräch StS Ruhfus mit dem einbestellten Gesandten Terechow am 30. 04. 1986, AAPD 1986 Dok. 128. 184 FS B Kastl Nr. 1240 an AAvom 09. 05. 1986, PA-AA 139386, und Nr. 129, ebda., S. 712. Auch SED-Chef Honecker beklagte sich gegenüber seinen SPD-Gästen Johannes Rau und Oskar Lafontaine „bitter“ über die „antisowjetische Kampagne“, mit der „bestimmte westliche Kreise“ von den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows ablenken wollten, wie auch über die Absage von Jugendreisen in die DDR mit Hinweis auf Tschernobyl, so FS StS Bräutigam an AA u. a. vom 09. 05. 1986, ebda.

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Medien das Vorgehen der sowjetischen Führung heftig kritisiert und – auch mit Blick auf die Abrüstungsverhandlungen – von einem schweren Glaubwürdigkeitsverlust der Sowjetunion und ihres Generalsekretärs gesprochen185. In Anbetracht des anhaltenden Schweigens des Generalsekretärs äußerte Kastl, mit jedem Tage mehr stelle sich die Frage, „ob der sonst so öffentlichkeitswirksame Gorbatschow größere Schwierigkeiten hat, sich einer Katastrophe oder Krise des vorliegenden Ausmaßes, in der keiner auswärtigen Macht die Schuld zugeschoben werden kann, zu stellen. (…) Informationspolitik seit dem Unfall machte einen Großteil des Terraingewinns zunichte, den die SU unter dem Eindruck von Gorbatschows neuem Stil, Modernisierungsprogramm und Abrüstungsinitiativen in der westlichen Öffentlichkeit gewonnen hatte. Die Behandlung von Tschernobyl widersprach allen Versprechungen von ,Glasnost‘ und bekräftigte den nach wie vor geschlossenen Charakter der sowjetischen Gesellschaft unter Gorbatschow. (…) Tschernobyl bedeutet einen schweren Rückschlag für die Glaubwürdigkeit der SU in Abrüstungsverhandlungen“.

Eine Schwächung der Sowjetunion im Werben um die öffentliche Meinung im Westen erwartete der Botschafter auch durch ihr Festhalten am Atomenergieprogramm ungeachtet des Reaktorunglücks, weil es die „Vorbehalte gegenüber sowjetischer Abrüstungskampagne bei ökologisch orientierter Friedensbewegung verstärken“ werde186. Andererseits befürchtete die Botschaft aufgrund eines PrawdaArtikels Georgi Arbatows („Bumerang“), die Sowjetunion könne versuchen, die verstärkte Anti-Atomhaltung der westlichen Öffentlichkeit auf die militärische Nutzung zu lenken und so den Druck auf die Position des Westens in den Abrüstungsverhandlungen zu erhöhen.187 Am 13. Mai 1986 richtete Bundeskanzler Kohl an Gorbatschow in einem persönlichen Schreiben die „dringende Bitte“ um „die notwendigen detaillierten Informationen“, um der Besorgnis der Bevölkerung Rechnung zu tragen und eine nachteilige Entwicklung in den bilateralen Beziehungen zu vermeiden. Gleichzeitig erklärte er, wohl auch zur Beruhigung der Gemüter im eigenen Land, seine Bereitschaft, zu einer internationalen Sonderkonferenz zur Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen für Kernenergieanlagen einzuladen.188 Erst am 14. Mai 1986 kam Gorbatschow aus der Deckung und wandte sich über das Fernsehen an die Öffentlichkeit189. Der Botschafter fand ihn „ernst, abgespannt, 185

So Berichte der Botschafter van Well (Washington) und Schoeller (Paris), FS vom 06. 05. bzw. 09. 05. 1986, ebda., wobei letzterer auch die Sorgen französischer Medien vor einer neuen „Psychose“ und dem Wiederaufflackern der Protestbewegung gegen die Kernenergie in der Bundesrepublik hervorhebt. 186 FS B Kastl Nr. 129 an AA vom 09. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 136, S. 711. 187 FS B Kastl Nr. 1254 an AA vom 12. 05. 1986, PA-AA 139386. 188 Schreiben vom 13. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 138 (AA-Entwurf vom 10. 05. vom Kanzleramt z. T. verschärft). 189 Übergabe des Redetexts im AA durch Gesandten Terechow, Gesprächsvermerk 213 vom 15. 05. 1986, ebda.

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leicht nervös und verbittert“ und zeigte sich von der Ansprache enttäuscht190. Auch die Analyse des AA war ernüchternd191: Gorbatschows „langes Schweigen zeigte deutlich, in welchem Maß die Schwerfälligkeit des Apparats, Inkompetenz, Geheimhaltung sowie die Tendenz zu isolierter Binnenbetrachtung und ein daraus resultierender Mangel an politischer Weitsicht auch heute noch die Verhältnisse bestimmen. Zweifel an der Fähigkeit zu Krisenmanagement sind angebracht. Der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf die beharrenden Elemente des sowjetischen Systems, denen Gorbatschow trotz großer Anstrengungen bisher nicht durchgreifend hat begegnen können.“ Auch seine Ansprache sei deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben: Der Versuch, mit dem Vorschlag einer Konferenz zum Stopp von Kernwaffentests ausgerechnet in Hiroshima aus der Defensive zu kommen, werde sich „als eine grobe Fehlkalkulation insofern erweisen, als der propagandistische Charakter der Konferenzidee deutlicher denn je wurde. (…) Gorbatschow bewegte sich hier deutlich unter dem Niveau früherer Versuche, den Westen publizistisch in Schwierigkeiten zu bringen. Seine unqualifizierten Angriffe namentlich an die Adresse der USA und der Bundesrepublik lassen Augenmaß und Einsicht in die internationalen Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl vermissen.“ Die sowjetischen Vorwürfe, der Westen betreibe Panikmache und antisowjetische Propaganda, seien „nichts als ein Rückgriff auf ein traditionelles Verhaltensmuster [und] darüber hinaus deutlicher Ausdruck der Schwäche der sowjetischen Position.“ Die Glaubwürdigkeit der Sowjetunion im Westen sei erheblich beeinträchtigt. Letztlich kam das AA zu zwei wesentlichen konstruktiven Schlussfolgerungen: Zum einen solle man Gorbatschow auch weiterhin ohne Illusionen und mit realistischen Erwartungen gegenübertreten („der neue Stil war bisher nicht mehr als die sorgfältig vorbereitete, genau kalkulierte Präsentation sowjetischer Initiativen“). Zum anderen müsse man jetzt verhindern, „dass beide Seiten in Auseinandersetzungen verharren und neue Irritationen für das Ost-West-Verhältnis eintreten“. Was die Einschätzung des Generalsekretärs betrifft, so scheint man das Krisenversagen weniger Gorbatschow persönlich als der Überforderung des sowjetischen „Systems“ zugerechnet zu haben. Auch der Umgang mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zeigt, in wie starkem Maße die Öffentlichkeitswirkung von Ereignissen und Entscheidungen das Verhalten der Politik in der Spätphase des Kalten Krieges beeinflussten. Die Sowjetunion wollte nicht nur ihr Ansehen als Großmacht und Anführerin des sozialistischen Lagers schützen, sondern zugleich die Glaubwürdigkeit ihrer Abrüstungsinitiativen erhalten, um die Unterstützung in Teilen der westlichen Öffentlichkeit auch in Zukunft noch als Hebel nutzen zu können. Im Westen wiederum scheint man – jenseits der sicherlich ernsthaften Besorgnis um die Volksgesundheit – die Hoffnung gehabt zu haben, dass der Nimbus des sowjetischen Generalsekretärs, 190 191

FS B Kastl Nr. 1288 an AA vom 15. 05. 1986, ebda. BM-Vorlage 213 vom 21. 05. 1986, AAPD 1986 Dok. 144.

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der ihn in den Augen vieler Menschen so vertrauenswürdig und überzeugend machte, seinen Glanz verlieren könnte, so dass die Durchschlagskraft sowjetischer Propaganda nachlassen würde. Ein unliebsamer Kollateralschaden aus Sicht der Bundesregierung war demgegenüber die in der deutschen Öffentlichkeit nun umso mehr um sich greifende Angst vor den Auswirkungen der Katastrophe, weil sie die Akzeptanz der heimischen Kernenergie weiter in Gefahr brachte, eine Sorge, die wiederum die Sowjetunion zum Bestandteil ihrer taktischen Kalkulation machte. Alles in allem führte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl weder zu einer nachhaltigen Belastung der deutsch-sowjetischen Beziehungen noch zu einer Schmälerung des Ansehens des Generalsekretärs in der westdeutschen Öffentlichkeit192. Das politische Interesse an einer grundlegenden Verständigung der beiden Blöcke und die Sehnsucht der Völker nach Frieden und Abrüstung erwiesen sich als die stärkeren Antriebskräfte.

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Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 121.

X. Genscher in Moskau Anlässlich des turnusmäßigen ZK-Plenums im Juni 1986 lieferte die Botschaft eine aktuelle Beurteilung des Generalsekretärs. „Bemerkenswert freimütig und kühn“ habe sich dieser „den Realitäten seines traditionell trägen Landes“ gestellt und „seine hervorragenden Verkäufereigenschaften bei Darbietung magerer Ergebnisse“ bewiesen.193 Das spielte darauf an, dass systematische Lösungskonzepte und konkrete Reformvorhaben nach wie vor ausstanden, weil, wie man vermutete, Gorbatschow sich der Risiken einer „radikalen Wende“ in Wirtschaft und Landwirtschaft sehr bewusst sei und noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müsse194. Die Vorbehalte gegen Gorbatschows Politikstil bestanden unverändert: „Die scheinbare Offenheit, mit der der Generalsekretär heikle Themen (…) anschneidet, wirkt äußerlich ,liberal‘, stellt allerdings vielfach nur eine weniger plumpe, darum im Grunde gefährlichere Form der Manipulation dar. Gorbatschow greift Tabus offen auf, vermittelt dadurch einen aufgeklärten Eindruck, um dem Kern des Problems anschließend auszuweichen oder ihn falsch oder halbfalsch anzusprechen.“

Man nahm ihm mittlerweile zwar ab, dass die Sowjetunion reale Fortschritte in der Rüstungskontrolle wollte, fürchtete aber sein Geschick in der Bearbeitung der westlichen Öffentlichkeit, auf die er „mit Feingespür […] einzugehen versteht“. Seinen Vorschlägen und Initiativen gegenüber blieb man misstrauisch: „Forderungen nach einem ,neuen Denken‘ in der Außenpolitik mit kooperativen Ansätzen, nach Sicherheitspartnerschaft, Interdependenz und Interessenachtung vermitteln den Eindruck eines für Zusammenarbeit und Dialog werbenden Generalsekretärs, was seinen Eindruck im Westen nicht verfehlt, [obwohl er zugleich] keine Bereitschaft erkennen lässt, das alte programmatische Konzept der sowjetischen Außenpolitik (friedliche Koexistenz, ideologischer Kampf, ,aggressiver Imperialismus‘) zu ändern.“195

Im Juli 1986 besuchte Außenminister Genscher Moskau. Zuvor hatte er sich von Präsident Mitterand einstimmen lassen, der ihm von seinem Moskau-Besuch kurz zuvor berichtete196 : Gorbatschow sei ein „anderer Typus“ als die bekannten Sowjets, „wie ein westlicher Führer. […] Er sei sehr gut angezogen; sein Stil, sein Aussehen, die Art, wie er sich gebe, sei offen und einnehmend. Bei der Analyse von Problemen gebe er seinem Gesprächspartner das Gefühl, dass er Dinge anders anfasse als seine Vorgänger.“ Frankreich sei, wie der Präsident hervorhob, Hauptziel der sowjetischen 193 194 195 196

FS B Kastl Nr. 1681 an AA vom 17. 06. 1986, PA-AA 139286. Schreiben B Kastl an AA vom 22. 04. 1986, ebda. FS B Kastl Nr. 1879 an AA vom 05. 07. 1986, ebda. Gespräch am 18. 07. 1986 in Paris, AAPD 1986 Dok. 200, S. 1049 f., 1053.

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X. Genscher in Moskau

Politik. Im Verhältnis zu Deutschland gebe es „eine besondere deutsch-sowjetische Dialektik. Einerseits fühle die SU sich von Deutschland angezogen, andererseits gebe es hier besondere Probleme, weil die Bundesrepublik eng an die USA gebunden sei und es die besondere deutsch-deutsche Problematik gebe. Wegen der Anziehungskraft, die D. auf die SU ausübe, entstehe so eine Art ,Hassliebe‘. Gorbatschow selber scheine in Bezug auf D. etwas starr zu sein [und] sich mit D. schwerzutun.“ Damit schien Mitterand zumindest indirekt die Bedeutung der Bundesrepublik im Ost-West-Verhältnis zu bestätigen, welche die Bundesregierung im Umgang mit den Großmächten in die Waagschale zu legen pflegte, um auf den Gang der Dinge Einfluss nehmen zu können. Bei den Sachfragen, so Mitterand, stehe für Gorbatschow die Frage des „Sternenkriegs“ im Vordergrund; ohne einen SDI-Kompromiss seien nach seinem, Mitterands, Eindruck die Abrüstungsgespräche zum Scheitern verurteilt. Dabei machten die „USA den Fehler, zu glauben, dass eine wirtschaftlich angeschlagene SU bereit sein müsse, nachzugeben.“ Das Treffen mit Gorbatschow am 21. Juli 1986197 war in Genschers Rückschau ein psychologischer Wendepunkt, weil es die sowjetisch-deutschen Beziehungen vom Ballast der jüngeren Vergangenheit befreite und den Weg für eine konstruktive Zusammenarbeit eröffnete: Nachdem Gorbatschow zunächst die bekannten sowjetischen Vorbehalte gegenüber dem Stationierungsbeschluss, der Unterstützung von SDI und der engen Bindung an die USA sowie gegenüber angeblich problematischen Interpretationen der Ostverträge wiederholt und mit Genscher zum Teil kontrovers erörtert hatte, signalisierte er schließlich Versöhnungsbereitschaft: „Die sowjetische Führung [werde] überlegen, was man tun könne, um die Beziehungen aktiv, positiv und dynamisch zu entwickeln. (…) Wenn auch die Bundesregierung sich entsprechend verhalte, werde sie das Verständnis der SU finden. Wir könnten vieles zusammen und parallel tun bezüglich einer Gesundung des Klimas in Europa und in der Welt.“198 In Genschers Erinnerung fügte er hinzu: „Lassen Sie uns eine neue Seite aufschlagen in unseren Beziehungen“.199 Das war im Verständnis des Politischen Direktors v. Braunmühl „ein bedeutsamer qualitativer Schritt“. Die seit dem Stationierungsbeschluss im Verhältnis zur Bundesrepublik praktizierte „Politik der kalten Schulter“ schien beendet: „Hatte die Sowjetunion in letzter Zeit eine Politik ohne uns betrieben, so versucht sie jetzt, eine Politik mit uns zu führen.“ Allerdings, so schränkte v. Braunmühl ein, werde sie „ein harter und schwieriger Gegner bleiben“ und dürfe man an „die Wandlungsfähigkeit der Substanz sowjetischer Innen- und Außenpolitik keine sehr großen Erwartungen

197 Der mehrtägige Besuch beinhaltete außerdem Gespräche mit AM Schewardnadse und die Unterzeichnung bilateraler Abkommen, FS B Kastl Nr. 2078 vom 22. 07. 1986, AAPD 1986 Dok. 210; dazu Weber, S. 858 f. 198 Gespräch am 21. 07. 1986 in Moskau, AAPD Dok. 209, S. 1090 ff., 1101. 199 Genscher, Erinnerungen, S. 501: „Das war der entscheidende Satz – nun war Klarheit geschaffen“, S. 504: „Eine mehr als nur versöhnliche Wendung“.

X. Genscher in Moskau

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hegen.“200 „Gorbatschow wolle nicht liberalisieren, sondern sowjetische Stärke durch Modernisierung wahren und erhöhen. Deshalb einerseits größere Flexibilität in der Form, andererseits große Härte, wo es um substantielle Interessen gehe. Soweit größere sowjetische Flexibilität (etwa durch Abrücken von traditionalistischer Immobilität) Möglichkeiten des Einvernehmens und der Zusammenarbeit mehre, sollte Westen dies nutzen, andererseits aber eigene Interessen ebenso fest verteidigen.“201 Im Rückblick von Außenminister Genscher waren nach dem Gespräch Skepsis und Abwarten gegenüber dem Generalsekretär der Zuversicht gewichen, dass Gorbatschow es ernst meinte und mit ihm grundlegende Änderungen im Ost-West-Verhältnis möglich waren.202 Tatsächlich schienen die Dinge nach Genschers Moskau-Besuch in die gewünschte Richtung zu laufen. Die bilateralen Kontakte nahmen deutlich zu. Auch Bundeskanzler Kohl stellte zwei Monate später in einer persönlichen Mitteilung an Gorbatschow anlässlich des bevorstehenden amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffens in Reykjavik „mit Genugtuung fest, dass in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion eine spürbare Verbesserung eingetreten ist [und] trotz aller bestehenden Schwierigkeiten die West-Ost-Beziehungen und das deutsch-sowjetische Verhältnis sich auf gutem Wege befinden.“203

200 Aufzeichnung vom 25. 07. 1986, AAPD 1986 Dok. 218, S. 1158, 1160; reservierter äußerte sich Botschafter Kastl, der zwar „wesentliche sachliche und atmosphärische Verbesserungen“ verzeichnete, aber zugleich betonte, Moskau habe sich „in den Kernfragen der Weltpolitik bislang um keinen Millimeter“ bewegt, FS an AA vom 23. 07. 1986, zitiert nach Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 146 f. 201 Gespräch mit den Politischen Direktoren von USA, GB und F am 04. 09. 1986 in Bonn, Drahterlass v. Braunmühl vom 08. 09. 1986, AAPD 1986 Dok. 238, S. 1264 f. 202 Genscher, ebda. S. 507, 508: „Unser unumstößlicher Eindruck war, dass Gorbatschow es mit seiner Reformpolitik ernst meinte; sie hatte den Rubikon schon überschritten. Demokratisierung und Wirtschaftsreform, ihre beiden zentralen Punkte, zogen zwangsläufig die neue Außenpolitik nach sich. Sie war keineswegs eine taktische, jederzeit veränderliche Variante, sondern wurde zur berechenbaren, auch durch die innere Entwicklung bestimmten Konstanten.“ 203 „Mündliche Botschaft des Herrn Bundeskanzlers an Generalsekretär Gorbatschow zum vorbereitenden Treffen von Sowjetunion und USA in Reykjavik“, FS AA an B Kastl vom 06. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 270; zur Übergabe der Mitteilung an AM Schewardnadse FS B Kastl vom 09. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 276.

XI. Reykjavik und „Newsweek“ Am 11. und 12. Oktober 1986 trafen sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow zu ihrem zweiten Gipfel in Reykjavik. Nachdem man die von Gorbatschow ins Gespräch gebrachte stufenweise Reduzierung und Begrenzung nuklearer Waffensysteme in mehreren Runden kontrovers erörtert hatte, stand plötzlich Reagans Vorschlag einer Abschaffung sämtlicher Nuklearwaffen binnen zehn Jahren im Raum.204 Damit hatte bei den Sowjets ebenso wie bei den Verbündeten niemand gerechnet.205 Beide Männer schienen zu diesem spektakulären Schritt bereit, doch kam es letztlich zu keiner Einigung. Die beiden scheiterten an SDI, denn Gorbatschow verlangte, dass die Entwicklung von SDI auf das Laborstadium beschränkt bleibe, während Reagan auf einer Erprobung auch im Weltraum bestand, weil die Wirksamkeit der Raketenabwehr für ihn unabdingbare Voraussetzung der Abschaffung aller Nuklearwaffen war. Sogleich im Anschluss und noch vor den Amerikanern, auf einer Pressekonferenz im Opernhaus von Reykjavik, präsentierte Gorbatschow der Weltöffentlichkeit seine Version vom Beinahe-Erfolg des Gipfeltreffens206. Es war der Auftakt intensiver sowjetischer Öffentlichkeitsarbeit. Noch in den frühen Morgenstunden, unmittelbar nachdem er auf Gorbatschows Schiff im Hafen von Reykjavik seine Instruktionen empfangen hatte, traf Deutschland-Experte Valentin Falin zwei „Spiegel“-Reporter in seinem Hotelzimmer, um ihnen die sowjetische Sicht des Gipfels nahezubringen („ungeheuer müde und erschöpft, so kompetent, wie ihn der ,Spiegel‘ seit langem kennt“): Er beschuldigte die Amerikaner, die Russen „nach wie vor totrüsten“ zu wollen, drohte mit sowjetischer „Nachrüstung“, um „im Falle eines Falles SDI zunichte“ zu machen, und schloss doch mit einer „optimistischen Gipfel-Deutung“, denn „zum ersten Male habe Reagan wirklich sachlich verhandelt“207. Anschließend berichtete der „Spiegel“ unter dem Titel „Gorbatschows Triumph in Reykjavik“ von

204

Brown, Gorbachev Factor, S. 232 f., 236; Taubman, S. 300 f. m.w.N.; Westad, S. 603. Vgl. Gespräch BM Genscher mit dem Historiker Michael Stürmer vom 30. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 18, S. 75, zur Darstellung des überraschenden Gesprächsverlaufs durch AM Schewardnadse ihm gegenüber sowie zu Genschers kritischer Reaktion gegenüber AM Shultz („BM hielt fest, dass er […] unser Interesse betont habe, über solche Überlegungen informiert zu werden“); vgl. ferner Aufzeichnung MDgt v. Ploetz vom 24. 10. 1986, Ministerkonferenz der Nuklearen Planungsgruppe in Gleneagles, AAPD 1986 Dok. 302, S. 1560 f. („unbeschadet anklingender Kritik an den plötzlichen Entwicklungen von Reykjavik“). 206 Taubman, S. 302. 207 Der Spiegel Nr. 43 vom 20. 10. 1986, „Hausmitteilung – Betr.: Falin-Gespräch“. 205

XI. Reykjavik und „Newsweek“

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dessen „revolutionärem Abrüstungsplan“ und beschrieb mit unverhohlener Bewunderung das Auftreten eines „Generalsekretärs völlig neuen Typs“208. Weniger erfolgreich war die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Unmittelbar vor seiner Reise in die USA vom 20. bis 23. Oktober gab Bundeskanzler Kohl der Zeitschrift „Newsweek“ ein ausführliches Interview zu den Folgen des Gipfels von Reykjavik. Die Titelseite der Newsweek-Ausgabe lautete „After the Iceland Summit: Where do we go from here?“, die Überschrift des Interviews „Ron, be patient“209. Das Interview richtete sich offenbar in erster Linie an die Amerikaner. Unverkennbar wollte Kohl verhindern, dass die US-Regierung, die nach dem Gipfeltreffen in der Öffentlichkeit in die Defensive geraten war, sich doch noch zu weitreichenden Zugeständnissen bereitfand, die aus Sicht der Europäer höchst problematisch waren. Denn die Abschaffung sämtlicher Nuklearwaffen bei unverändertem konventionellen Übergewicht der Sowjetunion hätte der Verteidigungsstrategie der NATO die Grundlage entzogen und war ein Alptraum vieler Politiker im Westen Europas. Deshalb warnte Kohl mit bemerkenswert kritischem Unterton vor den Folgen von Gipfelgesprächen, bei denen einzelne „Top People“ das Schicksal ganzer Nationen verhandelten – er verwies, wohlgemerkt, auf „Teheran, Yalta and Munich“ – und forderte stattdessen Konsultationen der Verbündeten sowie einen geordneten Verhandlungsprozess in Genf. „I am not an American vassal […] I’m a partner. I hold opinions in some field which differ from the Americans“, so fügte er mit Blick auf Vorwürfe der deutschen Opposition selbstbewusst hinzu. In Richtung der Sowjetunion äußerte sich Kohl durchaus versöhnlich und lobte Anzeichen eines neuen Dialogs: „Over the last two years things have started moving“; „this is new: the Soviets gave us extensive information [sc. vor dem Gipfeltreffen]“; „[they] are making very great efforts to convince us, too, of their willingness to continue negotiating“. Als er allerdings gefragt wurde, wie er Gorbatschow und seine Absichten beurteile, entlud sich Kohls Unmut: Offensichtlich eingedenk der stetig wachsenden Beliebtheit Gorbatschows im Westen und des Medienechos nach Reykjavik versuchte er, dem um sich greifenden Gorbatschow-Enthusiasmus zu begegnen, indem er laut Newsweek-Fassung des Interviews sagte: „I’m not a fool: I don’t consider him to be a liberal. He is a modern communist leader who understands public relations. Goebbels, one of those responsible for the crimes of the Hitler era, was an expert in public relations, too.“ Das Zitat bildete den Abschluss einer längeren Passage, in der sich Kohl mit der Person Gorbatschow und seiner Politik befasste. Dabei unterschied sich die veröffentlichte Fassung von Kohls gesprochenem Wort: 208

Der Spiegel, ebda.; dazu Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2016), S. 121, 145. Newsweek Nr. 43 vom 27. 10. 1986, Facsimile bei Paul, DISS-Journal 34 (2017), S. 25: https://www.researchgate.net/publication/321315478_in_memoriam_Helmut_Kohl_man_ muss_die_Dinge_doch_auf_den_Punkt_bringen_things_must_be_called_as_they_really_are_ In_October_1986_German_Chancellor_Helmut_Kohl_happened_to_make_the_wrong_world_ history_by/link/5cfbeac192851c874c59911 f/download [10.04.20]; Auszug bei AAPD 1986 Dok. 308 Fn. 2; vgl. Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 10 f. 209

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XI. Reykjavik und „Newsweek“ „Ich bin kein Narr, ich halte ihn nicht für einen Liberalen. Es gibt genug Narren in der westlichen Welt unter Journalisten und Politikern. Die sagen, die Frau Gorbatschow ist eine attraktive Frau, die geht nach Paris und kauft sich ein schönes Kostüm. Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun. Das ist ein moderner kommunistischer Führer. Der war nie in Kalifornien, nie in Hollywood, aber der versteht was von PR. Der Goebbels verstand auch was von PR. (Gelächter) Man muss doch die Dinge auf den Punkt bringen.“210

Der bei Newsweek fehlende Stoßseufzer zu Raissa Gorbatschowa zeigt, wie sehr Kohl die mediale Wirkung beider Gorbatschows ein Dorn im Auge war. Die ebenfalls gestrichene Erwähnung von Kalifornien und Hollywood war vermutlich eine Anspielung auf Ronald Reagans Herkunft. Indessen ging die offenbar für Teile des amerikanischen Publikums nachträglich eingefügte Erläuterung der Funktion von Joseph Goebbels („one of those responsible for the crimes of the Hitler era“) auf eine nachträgliche Absprache von Newsweek mit Regierungssprecher Friedhelm Ost zurück, dessen Freigabe des Interviews erkennen lässt, dass man die explosive Wirkung von Kohls Sentenz zunächst völlig verkannte211. Der Versuch, Gorbatschows Wirkung etwas entgegenzusetzen, war vollends gescheitert. Konsequenz des sogenannten Goebbels-Vergleichs waren heftige Reaktionen in der Bundesrepublik mit einem deutlichen Ansehensverlust des Bundeskanzlers sowie eine nachhaltige Belastung des sowjetisch-deutschen Verhältnisses.212 Laut Umfragen hielt die Mehrheit der Bundesbürger den Goebbels-Vergleich für einen Fehler, gleichzeitig nahm Gorbatschows Beliebtheit weiter zu213. Helmut Kohl in seinen Erinnerungen: „Es war dumm von mir, Gorbatschow und Goebbels in einem Atemzug genannt zu haben.“214 Am 30. Oktober empfing der Chef des Bundeskanzleramtes Wolfgang Schäuble den sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski, welcher eine Mitteilung der sowjetischen Führung verlas, in der die Erwartung ausgedrückt wurde, der Bundeskanzler werde sich von der Veröffentlichung persönlich distanzieren. Anderenfalls seien normale Beziehungen zur Regierung der Bundesrepublik Deutschland unmöglich 210 Vgl. Audio-Mitschrift: https://www.swr.de/archiv/diekohlstory/newsweek-interviewmit-folgen-oktober-1986/-/id=6008018/did=6101728/nid=6008018/1fig0jw/index.html [09.04.20]; abgedruckt u. a. in SZ vom 08./09. 11. 1986, „Die Dinge auf den Punkt bringen“; Der Spiegel, Nr. 46 vom 10. 11. 1986, „Kohls peinlicher Gorbatschow-Goebbels-Vergleich“; Paul, DISS-Journal 34 (2017), S. 24. 211 Ebda.; vgl. dazu Version Kohls zum Ablauf der Schlussredaktion, Erinnerungen, S. 450. 212 SPD-Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel fand, Kohls Qualifikation als Kanzler stehe auf dem Spiel, und SPD-Chef Willy Brandt sprach von einem „extremen Maß an Instinktlosigkeit“; die Grünen beantragten eine Aktuelle Stunde des Bundestages, um den Rücktritt des Kanzlers zu verlangen; vgl. Der Spiegel Nr. 44 vom 27. 10. 1986 „Kohl vergleicht Gorbatschow mit Goebbels“; Nr. 45 vom 03. 11. 1986 „Moskau droht Bonn mit ,Konsequenzen‘“; Nr. 46 vom 10. 11. 1986 „Kohls peinlicher Gorbatschow-Goebbels-Vergleich“, „Wortlaut des Sowjetprotests“; vgl. auch Schwarz, S. 383, 457; Weber, S. 859; Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 152 f. 213 Vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 157 m.w.N. 214 Kohl, Erinnerungen, S. 451.

XI. Reykjavik und „Newsweek“

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und werde die sowjetische Führung gezwungen sein, ernsthafte Konsequenzen zu ziehen. Schäuble versicherte Kwizinski, dem Kanzler habe das Protokoll des Interviews nicht mehr vorgelegen und es liege ihm fern, einen Vergleich zwischen Generalsekretär Gorbatschow und Joseph Goebbels herzustellen. Kohls außenpolitischer Berater Teltschik warnte den Bundeskanzler eindringlich vor innenpolitischen Konsequenzen: „Der sowjetischen Seite muss jede Möglichkeit entzogen werden, die sich gut entwickelnden deutsch-sowjetischen Beziehungen im Vorfeld der Bundestagswahlen [sc. am 25. 01. 1987] zu belasten und zu beeinträchtigen. Auch den Oppositionsparteien sollte keine Gelegenheit gegeben werden, die Sache zu ihren Gunsten auszuschlachten. Ich empfehle daher, die Angelegenheit so rasch als möglich durch ein persönliches Schreiben an Generalsekretär Gorbatschow aus der Welt zu schaffen.“215

Kurz darauf berichtete der neue Politische Direktor des AA Hermann v. Richthofen – sein Vorgänger v. Braunmühl war am 10. Oktober von Terroristen ermordet worden – von dem offensichtlich sehr unangenehmen Gespräch („inhaltlich scharf und in der Form provozierend“) mit dem Ersten Stellvertretenden Außenminister Anatoli Kowaljow in Moskau, der das Newsweek-Interview beleidigend, empörend und eines Kanzlers unwürdig nannte und Konsequenzen gegenüber der Bundesrepublik androhte, falls der Kanzler nicht Entschlossenheit und Mut finde, die Sache aus der Welt zu schaffen216. „Mir blieb nichts anderes übrig, als Unterstellungen mit Festigkeit zurückzuweisen und im Übrigen mit Ruhe das Notwendige zu entgegnen“217. Ohne weitere Umstände schickte Kowaljow v. Richthofen zurück in seine Botschaft, auf dass er so schnell wie möglich nach Bonn berichte, und fügte hinzu: „In dieser Situation habe ich kein Bedürfnis, die anderen Fragen zu erörtern, weil diese scharfe Frage im Mittelpunkt steht.“ Anzumerken bleibt, dass Kowaljow neben der Causa Newsweek ein weiteres Gravamen vorbrachte, das die Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnissen von Reykjavik betraf: Während in Reykjavik der Ost-West-Dialog auf „eine bisher unerreichbare Höhe“ gehoben worden sei, komme es seither zu einem „Abrutschen“, wozu die Bundesrepublik auch anlässlich des Besuchs des Bundeskanzlers in Washington einen „schändlichen Beitrag“ geleistet habe und weiter leiste, wie den

215

Aufzeichnung MD Teltschik vom 30. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 308. Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 3. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 313, S. 1618; Gesprächsvermerk vom 31. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 310; FS MD v. Richthofen Nr. 3114 an AA, Aktenkonvolut B150, Band 653 (K. verlangte „aufgrund offenbar während des Gesprächs telefonisch erhaltener Weisung sofortige öffentliche Richtigstellung durch BK der ,beleidigenden Erklärung‘“). Der stellv. Leiter der Internationalen Abteilung des ZK Sagladin sprach gegenüber v. Richthofen das Thema „behutsam“ an, aber äußerte „unter vier Augen“: „Wir möchten die Demarche sehr ernst nehmen; der Fall berühre die persönlichen Beziehungen zwischen dem GS und dem BK. Er würdigte im Übrigen ausdrücklich die Bemühungen des BM“, so Aufzeichnung vom 3. 11. 1986, ebda. 217 Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 3. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 313, S. 1618. 216

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Informationen aus verschiedenen Hauptstädten, auch aus Bonn, zu entnehmen sei.218 Das deutete auf ein weiteres gewichtiges Motiv der sowjetischen Führung, die sowjetisch-deutschen Beziehungen fürs Erste wieder auf Eis zu legen. Für v. Richthofen lagen freilich die Gründe für die Eskalation vor allem im persönlich-psychologischen Bereich, denn es dürfe nicht übersehen werden, „dass die Untaten des Dritten Reiches auch bei jüngeren Sowjetpolitikern nicht vergessen sind und wir in dieser Hinsicht uns gerade gegenüber der SU immer noch auf dünnem Eis bewegen.“219 Am 4. November kam es anlässlich des KSZE-Folgetreffens in Wien zum Gespräch der beiden Außenminister Genscher und Schewardnadse in, wie v. Richthofen vermerkte, „sehr sachlicher, der besonderen Situation entsprechend ernster Atmosphäre“220. Schewardnadse habe den Eindruck einer sehr schwierigen Situation und echter Betroffenheit vermittelt. Das Newsweek-Interview habe nicht nur das Gefühl des Generalsekretärs, sondern auch zahlreicher Familien betroffen, die unter dem Verlust von 20 Millionen Kriegstoten zu leiden gehabt hätten. Öffentlich betonte er, „wir sind bis zur Tiefe unserer Seele empört über diese Entgleisung des Kanzlers“221. Außerdem, so fügte er im Gespräch mit Genscher hinzu, müsse man bedenken, dass die Situation in der Sowjetunion aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen, die sich mit dem Namen Gorbatschow verbänden, nicht einfach sei und die Führung auf die Meinung des Volkes Rücksicht nehmen müsse. Dieser Hinweis, dessen es nicht bedurft hätte, ist interessant, weil er Widerstände im Apparat gegen Gorbatschows Reformagenda andeutet, denn dem einfachen Sowjetvolk war Kohls Interview damals noch gar nicht bekannt222. Außenminister Genscher versicherte, er kenne den Bundeskanzler seit vielen Jahren, um zu wissen, dass seine Einschätzung des Generalsekretärs anders sei, als in dem Interview zum Ausdruck komme. Dazu verlas er eine Erläuterung Kohls in der Zeitung „Die Welt“ und kündigte eine ausdrückliche Klarstellung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag an.223 Allerdings wusste Genscher noch nicht, dass die in dieser Erklärung enthaltene Aussage, die 218

Gesprächsvermerk vom 31. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 310; FS MD v. Richthofen Nr. 3114 an AA vom 31. 10. 1986, Aktenkonvolut B150, Band 653. 219 Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 3. 11. 1986, ebda., S. 1619; dazu Taubman, S. 388: „The remark mortified Gorbachev, and it took him more than a year to get past it.“ 220 FS MD v. Richthofen vom 05. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 316. 221 FS B Moskau (Haak) Nr. 3219 an AA vom 10. 11. 1986, PA-AA 139309. 222 Vgl. FS B Kastl Nr. 3358 an AA vom 22. 11. 1986, PA-AA 139309 („Newsweek-Interview des BK von sowjetischen Medien bis heute mit keinem Wort erwähnt“). 223 BK Kohl erklärte am 6.11. vor dem BT: „Das Interview in ,Newsweek‘ gibt in der entsprechenden Passage Sinn und Inhalt des eineinhalbstündigen Gesprächs nicht korrekt wieder. Dabei ist der falsche Eindruck vermittelt worden, ich hätte Generalsekretär Gorbatschow persönlich mit Goebbels vergleichen wollen. Das war nicht meine Absicht. Ich bedauere es sehr, dass dieser Eindruck entstehen konnte und distanziere mich mit Entschiedenheit davon. Mein Wunsch, meine Damen und Herren, ist, mit dieser Erklärung dazu beizutragen, dass die Beziehungen ungestört weiterentwickelt werden können.“ Stenographische Berichte, 10. WP, 243. Sitzung, S. 18742.

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Wiedergabe des Gesprächs sei „nicht korrekt“, gar nicht zutraf, wie wenig später nach Veröffentlichung der Tonaufzeichnung durch „Newsweek“ deutlich wurde224. Besserung war somit nicht in Sicht: Die Sowjetregierung blieb bei der Absage aller Besuche von Ministern und Regierungsvertretern der Bundesrepublik und fror den offiziellen Besuchsverkehr ein. In Bonn bemühte man sich, keine Irritation zu zeigen und nicht in die Rolle des Bittstellers zu geraten225. Der Minister befürchtete, „die Sowjets [würden] die Angelegenheit nutzen, um Wohlverhalten auf unserer Seite zu erlangen“ und betonte, „es dürfe keine Lage entstehen, die uns in Zugzwang bringe“; die Angelegenheit müsse mit großer Umsicht behandelt werden226. In den folgenden Wochen bestätigte sich, dass die Sowjets mit der „Politik der kalten Schulter“ jenseits ihres Genugtuungsinteresses weitere Ziele verfolgten. Das betraf vor allem die Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnissen des ReaganGorbatschow-Gipfels, weil man in Moskau Kanzler Kohl als „Hauptorganisator des Widerstands gegen Reykjavik“ ausgemacht zu haben schien.227 Tatsächlich waren der Bundeskanzler und Außenminister Genscher nach den Überraschungen von Reykjavik bemüht, Pflöcke einzuschlagen, damit die Abrüstungsverhandlungen der Großmächte die Grundbedingungen der Verteidigungsstrategie der NATO nicht in Gefahr brachten228. Ein vollständiger Verzicht auf Nuklearwaffen kam für sie – wie für die übrigen West-Europäer – nicht in Frage, weil das Prinzip der Abschreckung für die Sicherheit des Westens unverzichtbar schien und die Machbarkeit einer effektiven Raketenabwehr im Weltraum bezweifelt wurde. Bei der Zusammensetzung des nuklearen Waffenarsenals wollten sie einen unterschiedlichen Sicherheitsstandard für „große“ und „kleine“ Länder verhindern, weil es dazu hätte führen können, dass die beiden Großmächte zwar die Unversehrtheit ihrer mit strategischen Waffen gesicherten eigenen Territorien respektieren, einen auf Mitteleuropa begrenzten Konflikt aber in Kauf nehmen könnten, was vor allem aus deutscher Sicht ein Schreckensszenario war229.

224

Vgl. Fußnote 210/212; Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 154 m.w.N. Vgl. AAPD 1986 Dok. 313 Fn. 7; Vermerk 213 vom 18. 11. 1986, PA-AA 139309; BMVorlage MDgt Kastrup vom 25. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 339, S. 1751 ff. 226 Drahterlass 213 an B Moskau vom 12. 11. 1986, PA-AA 139309; Vermerk 213 an D2 vom 18. 11. 1986 („wir sollten nach außen möglichst wenig Irritation zeigen, aber auch nicht als Bittsteller erscheinen“). 227 BM-Vorlage MDgt Kastrup vom 25. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 339, S. 1753, 1755; „die Sicherheitspolitik der Bundesregierung sei die eigentliche Ursache des sowjetischen Grolls“, so sinngemäß der sowjetische Botschaftssekretär Jepischin in Bonn, Gesprächsvermerk 02 vom 10. 12. 1986, PA-AA 139309. 228 Vgl. Schwarz, S. 426. 229 Genscher widersprach regelmäßig dem Prinzip „große Sicherheit für die großen und nur kleine Sicherheit für die kleinen Staaten“, so z. B. in Gesprächen mit AM Shultz am 25.09. und 22. 10. 1985, AAPD 1985 Dok. 258, S. 1325, Dok. 289, S. 1485 oder mit AM Dumas am 07. 11. 1985, AAPD 1985 Dok. 305, S. 1575; zur Besorgnis des „Bilateralismus“ siehe bereits oben zu Fußnote 87. 225

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Während die sich im Anschluss an „Reykjavik“ abzeichnende Halbierung der Langstreckenraketen von USA und Sowjetunion aus Sicht der Europäer eher unkritisch war, lag die Sache bei den Mittel- und Kurzstreckenraketen komplizierter. Für die Meinungsbildung der Bundesregierung nach Reykjavik und im unmittelbaren Vorfeld der Bundestagswahlen spielte dabei die „öffentliche Meinung“ eine maßgebliche Rolle, die von den Nachwirkungen der Nachrüstungsdebatte und der zunehmenden Popularität des sowjetischen Generalsekretärs bei gleichzeitig schwindendem Bedrohungsgefühl im Verhältnis zur Sowjetunion stark beeinflusst war und immer vernehmlicher auf spürbare Abrüstungsschritte drängte. So kam es, dass man sich in den folgenden Monaten zur vollständigen Abschaffung der amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen – gegen Einwände der Franzosen und von Teilen der Bonner Koalition – bereitfand, weil man sich der ursprünglichen Logik des NATO-Doppelbeschlusses nicht mehr entziehen wollte und die Großmächte auf eine Einigung drängten230. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerieten damit die nuklearen Kurzstreckenraketen, bei denen ebenfalls eine deutliche Überlegenheit der Sowjetunion bestand und deren Einsatzradius sich weitgehend auf Deutschland erstreckte. Auch hier strebte die Bundesregierung ein Gleichgewicht an und lehnte den sowjetischen Vorschlag eines bloßen „Freeze“ entschieden ab, ohne allerdings ein Junktim zur Abrüstung der Mittelstreckenraketen herzustellen. Eine „Nachrüstung“ im Bereich der Kurzstreckenraketen wollte insbesondere Außenminister Genscher unbedingt vermeiden („wir wollen keine zweite Stationierungsdebatte“)231. Darin zeigte sich auch ein später Erfolg der Friedensbewegung. Das Schicksal der Kurzstreckenraketen blieb im westlichen Bündnis noch geraume Zeit kontrovers und befeuerte auch einen Konflikt innerhalb der

230

Vgl. Conze, S. 631; Weber, S. 861. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Reagan und Gorbatschow in Washington den INF-Vertrag zur Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kürzerer Reichweite von 500 bis 1000 Kilometern sowie mit einer mittleren Reichweite von 1000 bis 5500 Kilometern, https://www.bmvg.de/de/ aktuelles/erklaert-der-inf-vertrag-30250. 231 Aus der Nachlese zu Reykjavik: Gespräch BM Genscher mit AM Raimond (F) vom 17. 10. 1986 in Bonn, AAPD 1986 Dok. 290, S. 1508 f.; Gespräch BK Kohl mit P Reagan in Washington, FS B van Well vom 23. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 296, S. 1532 f.; Gespräch BK Kohl, BM Genscher, BM Wörner mit VP Bush in Washington, FS MD v. Richthofen vom 23. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 298, S. 1543 ff.; Aufzeichnung MDgt v. Ploetz vom 24. 10. 1986 zur Ministerkonferenz der Nuklearen Planungsgruppe in Gleneagles, AAPD 1986 Dok. 302, S. 1560 f., 1563 f.; Gespräch BM Genscher mit AM Shultz in Washington, FS G Wallau vom 24. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 303, S. 1566: „Es gelte, Diskussion in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten und es nicht dazu kommen zu lassen, dass die amerikanisch-sowjetischen nuklearen Abrüstungsverhandlungen als außerhalb des europäischen Interesses angesehen würden“; Treffen der AM und VM anlässlich des deutsch-französischen Gipfels in Frankfurt, Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 27. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 304, S.1569 f.; zu den Post-Reykjavik-Konsultationen der Europäer (BR Deutschland, F, GB, I) in Bonn, Aufzeichnung MDgt v. Ploetz vom 11. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 322.

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Bonner Koalition über die militärischen Erfordernisse einer glaubwürdigen Abschreckungsstrategie in Mitteleuropa232. Der Koalitionskonflikt reichte über das sicherheitspolitische Problem weit hinaus, weil er letztlich den generellen Umgang mit der Sowjetunion und das Konkurrenzverhältnis der Koalitionsparteien betraf. Das Interesse des Außenministers, das politische Profil seiner Partei zu schärfen und sie als Anwältin der Entspannung zu positionieren, war unverkennbar und beeinflusste auch das Vorgehen des AA gegenüber der Sowjetunion233. Aber auch der Bundeskanzler war auf seine parteipolitischen Interessen ebenso wie sein Ansehen in der Öffentlichkeit bedacht. So kam es selbst im persönlichen Verhältnis von Kohl und Genscher zu Spannungen. Symptom dessen war ein Hintergrundbericht der „Bild am Sonntag“ über eine angeblich ernsthafte Verstimmung des Bundeskanzlers, da es Genscher gelungen sei, sich und seine Partei als Freunde der Entspannung, den Bundeskanzler und die Union jedoch als Gegner der Abrüstung erscheinen zu lassen234. Genscher nahm das offensichtlich ernst und schrieb sogleich an Kohl: „Lieber Helmut, ich weiß nicht, was es mit der ,Bild-Geschichte‘ vom Sonntag auf sich hat. Für mich hat sich nichts geändert, meine Freundschaft zu Dir besteht fort“235 Unterschiede in der außenpolitischen Vorgehensweise im Ost-West-Verhältnis blieben allerdings bestehen. Was nun die Nachwirkungen des Gipfels von Reykjavik anging, verständigte sich die NATO im Dezember 1986 auf eine gemeinsame Position zu den kritischen Abrüstungsthemen, die weitgehend die Vorstellungen der Bundesregierung widerspiegelte236. Damit hatten Westeuropäer und speziell Westdeutsche in dieser Phase der Abrüstungsverhandlungen ihre besonderen Interessen, wie sie Kohl im Newsweek-Interview angedeutet hatte, erfolgreich zur Geltung gebracht und einer rein bilateralen Lösungsfindung der Großmächte entgegengewirkt. Daran nahm aller-

232 Vgl. zur Position der CSU (Junktim INF/SRINF) Aufzeichnung MD Seitz vom 23. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 11; zur Haltung der CDU-Verteidigungspolitiker persönlicher Brief von BM Wörner an BK Kohl vom 19. 04. 1986 mit Kritik an der „Pressepolitik des AA“ und Plädoyer gegen eine Nulllösung bei Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite, AAPD 1987 Dok. 116; vgl. ferner v. Arnim, S. 115 f.; Conze, S. 630 ff.; Schwarz, S. 426, 439 ff.; Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 20 f., ders., Die Deutschen und Gorbatschow (2016), S. 134 f.; Weber, S. 861 ff. 233 Vgl. Garton Ash, S. 149 f.; Conze, S. 603 f. 234 Vgl. AAPD 1987 Dok. 139, Fn. 2. 235 Handschreiben BM Genscher an BK Kohl vom 18. 05. 1987, AAPD 1987 Dok. 139: „Lieber Helmut, […]. In der täglichen Zusammenarbeit wünsche ich mir den engsten Schulterschluss mit Dir, das muss in aller Offenheit und vollem Vertrauen geschehen. Ich will das. Du kannst Dich auch in Zukunft auf mich verlassen, nicht nur wegen unseres persönlichen Verhältnisses, auch wegen der Verantwortung, die wir tragen. Ich wünsche mir, dass wir uns öfter in Ruhe sprechen können. Dein HDG“; vgl. dazu Schwarz, S. 384 f. 236 Kommuniqué der NATO-Ministerratstagung am 12. 12. 1986 in Brüssel, vgl. EuropaArchiv 1987, D 74 – 77; siehe auch FS B Hansen an AA vom 12. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 363, S. 1895 ff., 1899.

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dings die um eine schnelle Lösung bemühte sowjetische Führung Anstoß. In den Worten von Botschafter Kastl237: „Die Lage hat sich mit Reykjavik spürbar verändert: Während sich die Sowjets vorher über zu wenig europäische Einflussnahme auf Washington beklagten, mussten sie jetzt sehen, dass die Europäer aus eigenen, den sowjetischen entgegengesetzten Interessen auf eine Verhärtung der amerikanischen Position hinwirkten.“

Ein weiteres Motiv für die erneute „Politik der kalten Schulter“ der Sowjets gegenüber der Bundesregierung im Anschluss an das Newsweek-Interview waren nach Einschätzung des AA die am 25. Januar 1987 bevorstehenden Bundestagswahlen: Die Sowjetunion habe offenbar Sorge vor einer absoluten Mehrheit der CDU/CSU und sei deshalb bestrebt, CDU/CSU als in Teilen unfähig zum Dialog hinzustellen, um dadurch außenpolitisch motivierte Wähler zu beeinflussen. Die Kritik konzentriere sich auf die CDU/CSU und den Bundeskanzler, spare aber auch die FDP und ihren Außenminister nicht völlig aus. Man registrierte „Polemik gegen das Wahlprogramm der CDU/CSU“, zu der der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums den Startschuss gegeben habe und die von TASS, Prawda und Iswestija u. a. mit dem Vorwurf von „Revanchismus“ weiter zugespitzt worden sei.238 Damit eröffne die Sowjetunion, wie Botschafter Kastl schrieb, „auf niedrigem, aber steigerungsfähigen Niveau eine neue Bühne zur öffentlichen Darstellung ihres Missfallens, um damit den Wahlkampf bei uns über Reaktion auf Newsweek-Interview des Bundeskanzlers hinaus zu beeinflussen.“239 Ende November erschien ein „offiziöser“ Artikel der Prawda, dessen „scharfe und emotionale Angriffe auf die Person des Bundeskanzlers“ nach Meinung des AA „ohne Präzedenz in den bilateralen Beziehungen zumindest seit dem Abschluss der Ostverträge“ waren240. Im Gegensatz dazu, so berichtete die Botschaft, sei eine Delegation von Bundesvorstand und Bundestagsfraktion der Grünen in Moskau „außerordentlich hochrangig“ wahrgenommen und u. a. von Staatsoberhaupt Gromyko und Außenminister Schewardnadse zu längeren Gesprächen empfangen worden: „Da die ,Grünen‘ gerade nach jüngsten Wahlerfolgen auch in hiesiger Sicht als institutionelles Rückgrat der umworbenen westdeutschen Friedensbewegung erscheinen, pflegen die Sowjets mehr denn je den Dialog mit ihnen und sind zu weitgehenden protokollarischen Zugeständnissen bereit, selbst wenn sie im Umgang mit diesem schwierigen Partner mehr ,Kröten schlucken‘ müssen als im diploma237

FS an AA vom 11. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 360, S. 1868 BM-Vorlage MDgt Kastrup vom 25. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 339, S. 1753 f. 239 Ebda. Fn. 18; FS B Kastl Nr. 3317 an AA vom 18.11., Nr. 3358 vom 22.11., Nr. 3375 vom 25. 11. 1986 („wie 1983 […] massive Einmischung in unseren Wahlkampf“), Nr. 3635 vom 19.12., PA-AA 139309. 240 BM-Vorlage MD v. Richthofen vom 27. 11. 1986, PA-AA 139309: „Es wird deshalb vorgeschlagen, dass StS Meyer-Landrut den sowjetischen Botschafter einbestellt und ihm sein Befremden über den Prawda-Artikel [vom 27. 11. 1986] zum Ausdruck bringt“; bei einem Frühstück mit dem sowjetischen Botschafter Kwizinskij in Bonn forderte BM Genscher, „zur Sachlichkeit zurückzukehren“, Gesprächsvermerk vom 15. 12. 1986, PA-AA 139309. 238

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tischen Austausch mit den allermeisten Vertretern des Westens“. Tatsächlich machten die Grünen-Vertreter im Gespräch mit den Gastgebern und bei der abschließenden Pressekonferenz auf zum Teil deutliche Meinungsunterschiede in Menschenrechtsfragen und einigen Abrüstungsaspekten aufmerksam. „Zugleich erlegten [sie] sich auch in Moskau bei Kritik an der Bundesregierung keine Zurückhaltung auf.“241 Die Bundesregierung schloss aus den Wahlkampfbeiträgen der sowjetischen Führung, dass mit einer Auflockerung ihrer Haltung vor den Wahlen kaum mehr zu rechnen sei. Ende 1986 schien dem AA „die sowjetische Verhandlungsoffensive sowohl gegenüber den USAwie gegenüber den Westeuropäern an einem konzeptionellen ,toten Punkt‘ zum Stillstand gekommen.“ Die Bundesrepublik betreffend, so habe man eine „den gegebenen Anlass [sc. das Newsweek-Interview] weit übersteigende, auch eigene sowjetische Sachinteressen opfernde Verschlechterung der Beziehungen [dekretiert] und so zur Stärkung des Zusammenhalts des westlichen Bündnisses noch selbst [beigetragen] – eine Verhaltensweise, die fast an Gromykos grimmig durchgehaltene Verweigerungs- und Junktimpolitik erinnert“.242

241 FS B Kastl an AA vom 13. 11. 1986, AAPD 1986 Dok. 328, S. 1686: Dort Zitat eines Schreibens der „Grünen“ an Gorbatschow: „Die jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers Helmut Kohl in seinem Interview mit der Zeitschrift Newsweek, sein skandalöser und jeder historischen und faktischen Grundlage [entbehrender] Vergleich Ihrer Persönlichkeit mit einer führenden Person des Nazi-Faschismus machen für uns nicht nur deutlich, wie wenig der barbarische Terror der deutschen Faschisten insbesondere auch gegen Millionen von Menschen Ihres Landes verarbeitet wurde, sondern auch, dass die sogenannte Bereitschaft der Bundesregierung zum Dialog und zum Ausbau verbesserter Beziehungen nicht mehr ist als eine diplomatische Floskel“; vgl. auch Wentker, Die Grünen und Gorbatschow, S. 492 f. m.w.N. 242 FS B Kastl an AA vom 11. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 360, S. 1868.

XII. Bundestagswahlen und Davoser Rede Die Einschätzung der Person des Generalsekretärs und seiner politischen Ziele wurde im Laufe der Zeit differenzierter: Zwar stand seine Systemtreue weiterhin außer Zweifel, doch nahm man seine Bereitschaft zu weitreichenden Veränderungen ernst. „Man [müsse] den gegenüber seinen Vorgängern veränderten Stil im öffentlichen Auftreten ernst nehmen; dies sei ein ganz wichtiger Punkt“, so Bundeskanzler Kohl zu US-Vizepräsident George Bush243. In Gorbatschows Forderung nach „Glasnost“ sah man ein „Leitmotiv“ seiner Politik, das Kritik an bestehenden Missständen ermöglichen, Kräfte zu ihrer Überwindung mobilisieren und dadurch die Existenz des Systems sichern sollte. Man war weiterhin überzeugt, dass Gorbatschow den Primat der Partei erhalten und sie zum Motor des Reformprozesses machen wollte. Von einer „qualitativen Änderung des sowjetischen Systems“ zu sprechen, sei deshalb verfehlt. „Ein Übergang aus dem doktrinären Ein-ParteienStaat in eine pluralistische Gesellschaft ist offensichtlich nicht beabsichtigt. (…) Gorbatschow – und mit ihm die ganze sowjetische Führung – [hat] keine klare Vorstellung davon, was Pluralität und Offenheit der Gesellschaft nach westlichem Muster bedeuten“. Zu „Spekulationen darüber, (…) ob die Eigendynamik des eingeleiteten Prozesses zu ganz ungewollten Ergebnissen führen könnte“, war man zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bereit. In der Außenpolitik solle „Glasnost“ der Sowjetunion ermöglichen, sich als glaubwürdigen und seriösen Partner darzustellen. Dabei nutze sie „im Kontext einer offensiveren Politik“ auch „werbewirksame Auftritte geschickter Propagandisten wie nicht zuletzt des Generalsekretärs selbst“. „Reykjavik“ habe gezeigt, „dass es Gorbatschow relativ leicht fällt, die Amerikaner in die propagandistische Defensive zu drängen“. Trotzdem betrachtete das AA Gorbatschows Politik mit einer gewissen Zuversicht: Gerade die Abrüstungsthematik zeige, „dass die Glasnost-Politik dem Westen Möglichkeiten bietet, von der Sowjetunion substantielle Zugeständnisse zu erlangen“.244 Botschafter Kastl warnte, Gorbatschow zu unterschätzen. Er sei mit Chruschtschow trotz „voluntaristischer“ Züge seiner Außenpolitik nicht zu vergleichen. Im Zusammenhang mit „Reykjavik“ habe er „seine Karten überreizt, aber sie sind nicht schlecht, und er ist ein beweglicher Spieler“.245 Im Umgang mit den innenpolitischen Schwierigkeiten vermittele Gorbatschow „ein Bild unermüdlicher Energie und Betriebsamkeit; er ist nicht der Mann, der sich durch Schwierigkeiten entmutigen lässt.“ Die Jahresbilanz für 1986 zeige den Willen der politischen Führung, den Weg 243 244 245

FS MD v. Richthofen vom 23. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 297, S. 1539. Aufzeichnung 213 vom 30. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 309. FS B Kastl an AA vom 11. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 360, S. 1871.

XII. Bundestagswahlen und Davoser Rede

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des Landes mit Energie, Ungeduld, aber auch Flexibilität zu gestalten, und verdeutliche zugleich die Widerstände, die raschen und tiefgreifenden Veränderungen entgegenstehen246. Die eher gemischte Bilanz werde keinen Kurswechsel, sondern verstärktes Engagement hervorrufen. In der Außenpolitik habe es „viel Öffentlichkeitsarbeit“, aber auch bedeutsame Annäherungen in der Sache gegeben. Die Sowjetunion hoffe weiterhin auf Fortschritte, doch dränge die Zeit, wenn sie ein Abkommen mit den USA noch vor dem bevorstehenden Ende der Reagan-Ära ratifiziert sehen wolle. Das deckte sich mit der zuversichtlichen Prognose des Bundeskanzlers nach dem Scheitern von „Reykjavik“: „Er sei von der Verhandlungsbereitschaft Gorbatschows fest überzeugt. Der Westen würde einen Fehler machen, das anders einzuschätzen. Wir müssten weitermachen, ohne Wichtiges preiszugeben. (…) Die sowjetische Wirtschaft befinde sich in einer katastrophalen Lage. (…) Gorbatschow werde deshalb ohne ein internationales Klima, das ihm wirtschaftliche Unterstützung einbringe, nicht vorankommen.“247 Zur „grundlegenden Wende“ in der Wirtschaftspolitik, Gorbatschows erklärtes Ziel von Anbeginn, stellte Kastl fest, es gebe zwar viele Absichtserklärungen und organisatorische Experimente, aber noch keinen Erfolgsnachweis. Im Umgang mit den Menschenrechten bestünden „die Knebelung der Dissidenten und die Drosselung bei Ausreisen“ fort, andererseits zahlten sich „humanitäre Gesten“ wie die zehn Tage zuvor erfolgte Aufhebung der Verbannung Andrei Sacharows im In- und Ausland aus248. Die Kulturszene vor allem in Moskau sei 1986, so der Botschafter, „zur bewegtesten Bühne des ,Umbaus‘ und der Veränderung“ geworden. „Die offizielle Politik will deutlich durch Ermutigung der schöpferischen Tätigkeit die sowjetische Gesellschaft modernisieren und damit Wirtschaft und Staat stärken. Wie auf allen anderen Feldern spielt Gorbatschow ein gewagtes Spiel, dessen Ergebnis noch völlig offen ist.“ Eine Bestätigung der Auffassung von der Ernsthaftigkeit der Absichten Gorbatschows fand das AA bald darauf in den Ergebnissen des Januar-Plenums des ZK der KPdSU249 : Das Plenum sei „ein großes politisches Ereignis von möglicherweise historischer Tragweite“ gewesen. Der Generalsekretär habe „eine seiner eindringlichsten und bedeutsamsten Reden“ gehalten und es bleibe festzuhalten, dass es ihm „nicht um Außenwirkung oder um Stilfragen geht, sondern um eine Neuorientierung in der Sache“. „Wenn es sein Ziel war, der sowjetischen und internationalen Öffentlichkeit die Unwiderruflichkeit und Dynamik des Prozesses der ,Umgestaltung‘ sowie dessen prinzipiell uneingeschränkte Unterstützung durch das höchste reprä246

FS B Kastl an AA vom 30. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 377. Gespräch BK Kohl und VP Bush in Washington, FS MD v. Richthofen vom 23. 10. 1986, AAPD 1986 Dok. 297, S. 1536 f. 248 Dazu AAPD 1986 Dok. 362 Fn. 35. Die Grünen-MdB Petra Kelly und Gerd Bastian berichteten dem Leiter des Sowjetunionreferats im Februar 1987 von ungehinderten Treffen mit Dissidenten in Moskau, deren Stimmung „eine Mischung aus Hoffnung und Angst“ gewesen sei, Vermerk vom 20. 02. 1987, PA-AA 143531. 249 BM-Vorlage 213 vom 30. 01. 1987, PA-AA 143517. 247

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sentative Gremium der Partei zu demonstrieren, so hat er dieses Ziel zweifellos erreicht. Dass damit Schwierigkeiten der praktischen Verwirklichung nicht aus dem Wege geräumt sind, ist auch ihm weiterhin bewusst.“ Gorbatschow sei es darum gegangen, „den in den letzten Monaten spürbaren Widerstand gegen die Politik der ,Umgestaltung‘ frontal anzugreifen“, um die Diskussion über die Notwendigkeit seines Kurses zu beenden. Hauptthema des Plenums war nach dem Eindruck des AA die Vertiefung der „Demokratisierung“. Das betraf vor allem die Praxis der Wahlen und das Unfehlbarkeitsverständnis der Partei, jedoch keinen Umbruch des politischen Systems. Wieder betrachtete die Botschaft in Moskau die Diskussion skeptischer als die Zentrale: „Das ZK-Plenum war kein neuer ,XX. Parteitag‘. (…) Der Gesamtansatz der Vorwärtsbewegung ist – das hat dieses Plenum bei allen schillernden Formulierungen zu Demokratie, Wahlen, Öffentlichkeit und Recht noch einmal deutlich gemacht – letztlich technokratisch begründet. Gorbatschow ist nicht von einer neuen politischen Vision geleitet.“250 Tatsächlich hatte mit der Eröffnung der Demokratisierungsdiskussion im Bestreben, den Widerstand des Apparats gegen grundlegende Reformen zu brechen, die zweite Phase von Gorbatschows Herrschaft begonnen. Der Umstand, dass er erstmals auch gesellschaftspolitische Grundprinzipien zur Diskussion stellte, wurde im Westen vielfach als Zäsur begriffen und verstärkte die Überzeugung von der Ernsthaftigkeit seiner Reformbemühungen deutlich. Mehr und mehr richteten sich Fragen und Zweifel jetzt auf Inhalt und Reichweite der angestrebten Veränderungen und ihr Verhältnis zu den ideologischen Grundlagen sowie auf Gorbatschows Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Gegnern und den sozial-ökonomischen Beharrungskräften seines Landes251. Ein weiteres Thema des ZK-Plenums, das für Gorbatschows politisches Schicksal noch große Bedeutung erlangen sollte, war die Nationalitätenpolitik. Dazu stellte das Sowjetunionreferat fest, trotz Gorbatschows Bemühen um „rhetorische Balance“ habe sein „Misstrauen gegenüber den Gefahren eines allzu ausgeprägten Nationalismus“ überwogen, wobei er die „nationalistische Seuche“ dem „Internationalismus und sowjetischen Patriotismus“ gegenübergestellt habe. Es gab dafür einen brisanten aktuellen Anlass: Wenige Wochen zuvor war es in Alma-Ata (Kasachstan) zu Unruhen gekommen, die sich an der Einsetzung eines Russen als Parteichef entzündet hatten. Das AA sah darin „zweifellos Anzeichen einer tiefen Verstimmung über die Methoden der Moskauer Zentrale unter Gorbatschow, deren Disziplinierungskampagne und Säuberungspolitik sich in besonderem Maße gegen die einheimischen Kader in den zentralasiatischen Republiken richtet“. Die Ereignisse in Alma-Ata zeigten, wie „hochsensibel die Herrschaft über den Vielvölkerstaat in Wahrheit

250

FS G Arnot Nr. 263 an AA vom 30. 01. 1987, ebda. Vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 166 ff., 179 ff., zum Wandel der Einschätzung Helmut Kohls unter dem Eindruck des Januarplenums S. 248. 251

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ist“252. Dessen ungeachtet, so das Referat, habe das ZK-Plenum die Absicht unterstützt, den Personalaustausch zwischen den Republiken und Regionen zu intensivieren, was Minister Genscher zu der handschriftlichen – und weitsichtigen – Anmerkung veranlasste: „Wenn diese Linie eingeschlagen wird, könnte das zur Schwachstelle werden. Lenin und Stalin haben Bedeutung der Nationalitätenfrage höher eingeschätzt.“253 Genscher sah im Bewusstsein einer eigenen Identität der nicht-russischen Völkerschaften ebenso wie im wachsenden europäischen Bewusstsein der „unterworfenen Völker Osteuropas“ wichtige „dynamische Faktoren“254. In seiner Analyse des Wandels von Gorbatschows „Koexistenz-Begriff“ Anfang 1987 stellte der Planungsstab einmal mehr die „Gretchen-Frage“: „Haben wir es mit einer auf die Außenwirkung berechneten Änderung in Stil und Präsentation sowjetischer Außenpolitik zu tun, die unter der Parole ,Friedenskampf statt Klassenkampf‘ die bekannten machtpolitischen Ziele in neuem Gewande verfolgt? Oder handelt es sich um eine tiefergehende Revision, die auch bisherige Inhalte sowjetischer Politik verändern wird?“ Eine eindeutige Antwort falle schwer, zumal die innersowjetische Diskussion offenbar nicht abgeschlossen sei. Es sei nicht auszuschließen, „dass es sich beim sowjetischen Neuansatz um ein taktisch bestimmtes Manöver handelt mit dem Ziel, sich in der gegenwärtigen historischen Phase eigener erkannter Schwäche eine außenpolitische Atempause zu verschaffen.“ Trotzdem sollten die Chancen gesehen und erprobt werden. Man solle die Sowjetunion „an ihren Taten messen“.255 Ermutigt durch Erkenntnisse des AA, dass die Sowjetunion unverändert starkes Interesse an einer Normalisierung und Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen habe256, griff der Minister die Empfehlung auf: Sogleich nach dem Sieg der konservativ-liberalen Koalition bei den Bundestagswahlen am 25. Januar 1987, aus der seine eigene Partei gestärkt hervorging257, hielt Genscher beim Weltwirtschaftsforum seine „Davoser Rede“, mit der er den Westen dazu aufrief, die historische Chance zu nutzen und Gorbatschow zu vertrauen: Es gebe genügend Anhaltspunkte, dass die Außenpolitik der Sowjetunion „die Orthodoxie der Breschnew-Zeit“ hinter sich lasse. „Sitzen wir nicht mit verschränkten Armen da und warten, was uns Gorbatschow bringt! Versuchen wir vielmehr, die Entwicklung von unserer Seite aus zu beeinflussen, voranzutreiben und zu gestalten. Wir brauchen eine aktive politische 252 Aufzeichnung 213 vom 19. 12. 1986, PA-AA 139289; FS B Kastl an AA vom 30. 12. 1986, AAPD 1986 Dok. 377, S. 376 f.; vgl. dazu Kotkin, S. 71 ff., 83, 107; Schattenberg, bpb Nr. 323/2014. 253 BM-Vorlage 213 vom 30. 01. 1987, PA-AA 143517. 254 So im Gespräch mit dem Historiker Michael Stürmer vom 30. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 18, S. 76, 81. 255 Aufzeichnung MD Seitz vom 07. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 2, S. 12. 256 BM-Vorlage MDgt Kastrup vom 23. 01. 1987, PA-AA 143531. 257 Wahlergebnis: CDU/CSU 44,3 %, SPD 37,0 %, FDP 9,1 %, Grüne 8,3 %, Wahlbeteiligung 84,3 %.

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Strategie des Westens. (…) Der Westen hat keinen Anlass, kleinmütig die Zusammenarbeit zu scheuen. Unsere Devise kann nur lauten: Nehmen wir Gorbatschow ernst, nehmen wir ihn beim Wort!“258 Obwohl die Aufforderung weder bei den Verbündeten noch innerhalb der Bonner Koalition auf ungeteilte Zustimmung stieß und einige misstrauisch blieben und weiter für eine abwartende Haltung eintraten, wurde sie zur Handlungsmaxime des AA259.

258 Bulletin der Bundesregierung, 1987, S. 95 ff.; vgl. FAZ vom 21. 03. 2007, „Die Witterung des Kommenden“: „Der wahrscheinlich wichtigste Satz, den Genscher in seinem politischen Leben gesagt hat“; Garton Ash, S. 161; Genscher, Erinnerungen, S. 526 – 528; Genscher hatte den Satz bereits neun Monate zuvor anlässlich eines G7-Gipfels gesagt, damals noch verknüpft mit deutlicher Kritik am Verhandlungsgebaren der Sowjets, vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 144 mit Zitat eines MfS-HVA-Berichts. 259 Vgl. zum Meinungsbild der Verbündeten FS B Eickhoff an AA vom 04. 03. 1987, AAPD 1987 Dok. 65 (Beratungen zum Wiener KSZE-Folgetreffen); FS G Graf Rantzau an AA vom 19. 02. 1987, PA-AA 143517 (NATO-Konsultationen): „Verbündete stimmten weitgehend überein (…), G. sollte beim Wort genommen werden“. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 11.03.87 (Stenographische Berichte, 11. WP) griff Gentschers Appell zumindest verbal auf: „Wir nehmen ihn beim Wort“.

XIII. Die Deutsche Frage Die außenpolitischen Hoffnungen der Bundesregierung richteten sich auf Erfolge in der Abrüstung, mehr wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit sowie „menschliche Erleichterungen“ im innerdeutschen Verhältnis, doch fundamentale Veränderungen im Koordinatensystem der Nachkriegsordnung erwartete man von Gorbatschow nicht. Das betraf vor allem die ungelöste „Deutsche Frage“, die während des Kalten Krieges nicht nur für die Deutschen, sondern das gesamte OstWest-Verhältnis von zentraler Bedeutung war. Die Situation in Deutschland hatte wegen der geographischen „Mittellage“ und des großen ökonomischen und militärischen Gewichts maßgeblichen Einfluss auf die globale Machtposition der beiden Großmächte, den Zusammenhalt der Bündnissysteme, das Sicherheitsgefühl der Nachbarn und die Gestaltungsmöglichkeiten der beiden deutschen Staaten, indem sie Abhängigkeiten schuf und Rücksichtnahmen erzwang. Das Eigentümliche der Teilung Deutschlands lag darin, dass sie einerseits für die Stabilität der europäischen Nachkriegsordnung unabdingbar zu sein schien, andererseits aber nur mit Gewalt aufrechtzuerhalten war. Der „Brief zur Deutschen Einheit“ der Bundesregierung, Bestandteil der „Ostverträge“ von 1970, reflektierte das Spannungsverhältnis von Wiedervereinigungsgebot und Gewaltverzicht und war Richtschnur der Deutschlandpolitik260. Man bekannte sich zur Unverletzlichkeit der Grenzen und einer Wiedervereinigung ausschließlich mit friedlichen Mitteln und im europäischen Rahmen. Um Irritationen in Ost und West gleichermaßen vorzubeugen und Revanchismus-Vorwürfen aus dem Weg zu gehen, übte die offizielle Politik in Sachen Wiedervereinigung verbale Zurückhaltung261. Die Sowjetunion bestand auf der Endgültigkeit der territorialen und politischen Verhältnisse in Deutschland. Anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes wurde die von der Bundesregierung vertretene Rechtsauffassung zur Deutschen Frage von sowjetischen Medien ausführlich zurückgewiesen und als Quelle des Revanchismus und Bedrohung des Friedens gebrandmarkt262. Im Bewusstsein der sowjetischen Vorwürfe versicherte Bundeskanzler Kohl im Gespräch mit Außenminister Schewardnadse einmal mehr, dass die „schlimme Realität“ der Teilung sich „mit Krieg und Gewalt“ nicht ändern lasse, sondern nur „mit Zustimmung aller Beteiligten“. Dies, so fügte er offenbar zur Beruhigung seines Gesprächspartners hinzu, sei jedoch „nicht eine Frage meiner Generation“. Er wolle möglichst gute Kontakte der 260 http://www.chronik-der-mauer.de/material/180318/brief-zur-deutschen-einheit-12-au gust-1970 [21.04.20]. 261 Vgl. etwa Conze, S. 616 ff., 646 ff. 262 BM-Vorlage 213 vom 26. 07. 1985, PA-AA 139306.

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Menschen in Deutschland miteinander, was aber nur mit Unterstützung der Sowjetunion funktionieren könne.263 Auch Außenminister Genscher, seiner Heimat Halle/Saale durch familiäre Beziehungen weiterhin verbunden, ging es darum, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zu stärken und das Bewusstsein einer Nation wachzuhalten. Den Bündnispartnern ebenso wie der Sowjetunion gegenüber warb er dafür, dass die innerdeutschen Beziehungen sich im Ost-West-Verhältnis von einem Risiko zum Stabilitätsfaktor entwickelt hätten, auf dass jeder verstehe, dass ihre Verbesserung im allseitigen Interesse lag. „Aus nationaler Verantwortung“ bekannte er sich im Umgang mit der DDR zu „praktizierter Menschenrechtspolitik“ durch materielle Hilfe und beharrliches Drängen auf mehr Bewegungsfreiheit.264 Beim Treffen Genschers mit Gorbatschow im Sommer 1986 kam die Deutsche Frage nur kurz, aber doch bemerkenswert zur Sprache, als Gorbatschow Stalin zitierte („die Hitlers kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt“) und Genscher das Zitat ergänzte („…aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben“). Gorbatschow bestätigte die Ergänzung, worauf Genscher bemerkte: „Wir sollten diese Frage durch die Geschichte beantworten lassen und durch alle Deutschen.“ Gorbatschow widersprach nicht, sondern ließ es so stehen.265 Aber war das wirklich schon die stillschweigende Hinnahme eines Selbstbestimmungsrechts der Deutschen?266 Zur selben Zeit kam in der Bundesrepublik eine deutschlandpolitische Diskussion auf, ob unter gewissen Voraussetzungen im Zuge der Abrüstungsverhandlungen eine Verständigung mit der Sowjetunion zur Wiedervereinigung möglich werden könnte. Prominente Initiatoren waren der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann und der ehemalige SED-Funktionär und Kieler Professor Wolfgang Seiffert267. Solche Überlegungen waren offenbar Anzeichen des politischen Klimawandels, vielleicht auch ferne Ausläufer einer beginnenden „geistigen Perestroika“ mit Gedankenspielen im Bereich von „Institutschiki“ und Parteiapparat unterhalb der po-

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Gespräch BK Kohl/BM Genscher mit AM Schewardnadse am 25. 10. 1985 in New York, Aufzeichnung BKAmt vom 29. 10. 1985, AAPD 1985 Dok. 296, S. 1528. 264 Vierertreffen der AM über Deutschland-Fragen am 13. 12. 1985 in Brüssel, AAPD 1985 Dok. 344, S. 1799. 265 Gespräch am 21. 07. 1986, FS MD v. Braunmühl vom 22. 07. 1986, AAPD 1986 Dok. 209, S. 1099 f. 266 Genscher, Erinnerungen, S. 500, 507, 510: Durch sein Schweigen habe G. „eine Tür geöffnet“. 267 Vgl. Friedmann, Einheit statt Raketen – Thesen zur Wiedervereinigung Deutschlands als Sicherheitskonzept, 1987; Seiffert, Das ganze Deutschland: Perspektiven der Wiedervereinigung, 1986; vgl. dazu Korte, S. 311 Fn. 57, 400 Fn. 39/40; Wirsching, S. 556 f., 624 f.; Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 250 ff.

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litischen Führungsebene der Sowjetunion268. Denkbar war aber auch, dass sie von sowjetischer Seite gezielt stimuliert wurden, um in der Bundesrepublik eine innenpolitische Diskussion über die Verzichtbarkeit einer NATO-Mitgliedschaft auszulösen. Innerhalb der Bundesregierung jedenfalls fürchtete man – auch eingedenk der Auseinandersetzungen um die Stalin-Note von 1952 – dass Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung und die wachsende Friedenssehnsucht der deutschen Öffentlichkeit neue Neutralitätsgelüste und eine Gefährdung der Westbindung hervorrufen könnten, und reagierte unzweideutig: Der Bundeskanzler sprach angeblich mit Blick auf solche Gedanken von „blühendem Unsinn“ und betonte die Westbindung als „Staatsraison“. Unverrückbar galt das Prinzip: „Freiheit vor Einheit“269. Im AA fand das Sowjetunionreferat eindeutige Worte: Solche Gedanken beruhten „auf völlig unrealistischen Vorstellungen, die von einem Wunschdenken nicht weit entfernt sind.“ Die Erwartung, die DDR könne aus militärischen oder wirtschaftlichen Gründen zur „Verhandlungsmasse“ werden, basiere „auf einer Fehlbeurteilung des Charakters der sozialistischen Staatengemeinschaft und auf einer bedenklichen Unterschätzung des ideologischen Faktors in der sowjetischen Außenpolitik. (…) Die freiwillige Aufgabe einer der stärksten Bastionen des realen Sozialismus durch dessen Vormacht, die SU, wäre eine eklatante Desavouierung all jener Ideen, unter deren Banner die sowjetische Führung in der internationalen Arena antritt und mit denen sie ihre Herrschaft nach innen legitimiert.“ [Die Sowjetunion] „steht nicht vor dem Zusammenbruch und muss deshalb keine einschneidenden Opfer bringen. Gorbatschow selbst scheint fest entschlossen, dem Westen gegenüber keinerlei Zeichen von Schwäche erkennen zu lassen, die dieser zu politischem Druck ausnutzen könnte. (…) Ziel der deutschen Politik muss es daher bleiben, mit Hilfe des KSZE-Prozesses einen Prozess des Wandels innerhalb des sowjetischen Imperiums zu ermutigen. Jeder andere Weg erscheint unter den gegebenen Verhältnissen illusionär.“270

Eher sybillinisch kommentierte etwas später das Deutschland-Referat einen Zeitungsartikel des ZK-Deutschland-Experten Nikolai Portugalow zum Ausgang der Bundestagswahlen, der sich zum „Prozess der nationalen Bewusstwerdung“ in der Bundesrepublik verhielt: „Natürlich bleiben für jeden, darunter auch den progressiv denkenden Westdeutschen, die Bewohner der DDR genauso Deutsche, wie er selber einer ist, und gehören zur selben Nation“271. Dazu das AA: „In der Deutschen Frage

268 Vgl. dazu Brown, 7 Years, S. 157 ff., 172 ff. („heterodox thinking within official institutions“ als Prinzip); ders., Gorbachev Factor, S. 218 f., 244 f.; Garton Ash, S. 164 (zu den Thesen Wjatscheslaw Daschitschews im Jahr 1987). 269 Vgl. zu MdB Friedmann Korte, S. 311 Fn. 57, 400 Fn. 39/40; Wirsching, S. 556 f., 624 f. m.w.N.; zum Prinzip „Freiheit vor Einheit“ und der Ablehnung eines „Sonderwegs“ Korte, S. 310 f., 314, 412 f.; Wirsching, S. 556 ff.; Anmerkung: Bernhard Friedmann wurde 1990 mit der Unterstützung des Bundeskanzlers deutscher Vertreter beim Europäischen Rechnungshof und 1996 – 1999 dessen Präsident. 270 Aufzeichnung 213 vom 14. 11. 1986, PA-AA 139309. 271 Portugalow, Moskowskije Nowosti vom 22. 02. 1987.

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hat Moskau mit dem Portugalow-Artikel einen Akzent gesetzt, dessen Tragweite weder über- noch unterschätzt werden sollte.“272 Einige Monate danach musste sich das AA erneut mit Spekulationen „außerhalb der Bundesregierung“ über Veränderungen der sowjetischen Haltung zur Deutschen Frage befassen: Es kursierten „Gerüchte, dass die Sowjetunion bereit sein könnte, ihre Haltung zu verändern“. Als „Hauptquelle“ dieser Gerüchte vermutete man diesmal den sowjetischen Deutschland-Experten Valentin Falin, der für ein „SpiegelInterview“ Gorbatschows „eine Frage zur Deutschen Frage bestellt“ habe. Man befürchtete, die Sowjetunion gebe solchen Spekulationen nicht ungern Nahrung, „um unsere Außenpolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen und Misstrauen in die Zuverlässigkeit unserer Westbindung zu säen.“ Gorbatschow, „dessen Außenpolitik sich durch besonderen Einfallsreichtum und große Dynamik auszeichnet, [könnte] versucht sein, wieder zu diesem Instrument sowjetischer Außenpolitik zu greifen.“ Es sei jedoch gerade jetzt „unser Interesse, diesen Spekulationen keine Nahrung zu geben und sie – soweit möglich – auszutreten.“273 Der Bundesnachrichtendienst sah es ähnlich: „Wollte Gorbatschow tatsächlich jetzt an das Reizthema deutscher Wiedervereinigung rühren, dann hätte er sich dafür einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgewählt: Vor dem Hintergrund der Widerstände gegen sein innenpolitisches Reformprogramm würde er sich unnötig Zusatzprobleme von bedenklichem Ausmaß schaffen und bei einigen Bündnispartnern heftige Irritationen auslösen. Er könnte auf diesem Wege seiner Position und Politik nur schaden.“274 In Bonn, im AA ebenso wie im Kanzleramt, war man sich sicher: „Mit einer wirklichen Revision der deutschlandpolitischen Grundposition der SU ist jedoch in keiner Weise zu rechnen. [Das ist] unter den gegebenen Verhältnissen illusionär.“275

Auch BK Kohl sah für eine aktive „Wiedervereinigungspolitik“ gegenüber der Sowjetunion keinen Spielraum.276 Diese bemerkenswert apodiktische Einschätzung mag in der Rückschau befremdlich wirken. Sie befand sich jedoch im Einklang mit der im westlichen Bündnis und der Bundesrepublik vorherrschenden Meinung277. Man hielt bewusst zum Status quo und war äußerst sorgsam darauf bedacht, keine Zweifel an den Grundprinzipien der Außen- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 aufkommen zu lassen und eine womöglich nur schwer beherrschbare Diskussion zu beginnen, die auf eine Gefährdung der Westbindung oder ein Scheitern der auf Milderung der Teilungsfolgen ausgerichteten Deutschlandpolitik hätte hinauslaufen können. Die Haltung der Bundesregierung erfährt ihre Berechtigung auch im 272 273 274 275 276 277

BM-Vorlage MD v. Richthofen (210) vom 25. 02. 1987, PA-AA 143531. BM-Vorlage MD Seitz/MD v. Richthofen vom 21. 05. 1987, PA-AA 143531. FS Nr. 1185 an BKAmt, AA vom 22. 05. 1987, ebda. BM-Vorlage MD Seitz/MD v. Richthofen, ebda. Vgl. Korte, S. 314.; Conze, S. 618. Vgl. dazu Weber, S. 880 ff. m.w.N.

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Rückblick, weil frühzeitiges Drängen auf eine Wiedervereinigung sicherlich Gegenkräfte in Ost und West geweckt und dadurch den glücklichen Verlauf der Geschichte zumindest behindert hätte.

XIV. Neustart – Weizsäcker in Moskau Nach den Bundestagswahlen im Januar 1987 begann eine neue Phase der deutschsowjetischen Beziehungen. Zum Auftakt überbrachte Botschafter Juli Kwizinski Außenminister Genscher die Glückwünsche Gorbatschows zum Wahlausgang („wir haben uns gefreut“). Dann besprach man die nächsten Schritte. Immer darauf bedacht, nicht zum Bittsteller zu werden, deutete Genscher an, ein baldiger Besuch Außenminister Schewardnadses in Bonn wäre willkommen, während wiederum Kwizinski vorsichtig erwiderte, er wisse nicht, wie sich die Schachpartie noch entwickele. Doch Genscher ließ keinen Zweifel: „Aus 1987 müsse etwas gemacht werden; das Ost-West-Verhältnis solle neue Qualität bekommen“278. Wenig später war ein Hinweis des „Gorbatschow-Vertrauten“ Gennadi Gerassimow in der „BildZeitung“ zu registrieren: „Vielleicht sollte jetzt der Bundespräsident nach Moskau reisen.“279 Einige Wochen danach bestätigte Botschafter Kwizinski gegenüber Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, die sowjetische Führung wünsche sich einen Besuch des Bundespräsidenten noch vor der Sommerpause, und schlug vor, gleichzeitig diverse Abkommen und Vorhaben einschließlich des leidigen Themas „Familienzusammenführung“ in Angriff zu nehmen280. Die deutsche Seite nahm die Einladung an, wobei kritische Stimmen anmerkten, dass dies nun schon der vierte Moskau-Besuch Genschers ohne Gegenbesuch des sowjetischen Außenministers sein würde281. Derweil nahm Genscher eine wichtige Weichenstellung an der Spitze der Moskauer Botschaft vor, indem er zum 1. April 1987 seinen Vertrauten, Staatssekretär Andreas Meyer-Landrut, einen Russland-Spezialisten, der bereits von 1980 bis 1983 Botschafter in Moskau gewesen war, zum Nachfolger des in den Ruhestand tretenden Jörg Kastl machte und so den besonderen Stellenwert der deutsch-sowjetischen Beziehungen zusätzlich hervorhob. Als Folge des Klimawandels im diplomatischen Umgang meldete die Moskauer Botschaft die „Wiederaufnahme einer früher sehr lebhaft gepflegten Tradition zwangloser außerdienstlicher Begegnungen“ mit Vertretern des sowjetischen Außenministeriums282. 278 Vermerk 213 vom 04. 02. 1987, PA-AA 143531; Drahterlass 213 an B Moskau vom 03. 02. 1987, PA-AA ebda. 279 „Bild“ vom 11. 02. 1987. 280 BM-Vorlage MD v. Richthofen vom 18.03. und Drahterlass MB an B Moskau vom 20. 03. 1987, PA-AA 143531. 281 Botschafter a.D. Kastl, FAZ vom 25. 04. 1987, S. 11: „Ein solches Ungleichgewicht gibt es sonst nur unter Freunden oder zwischen Satelliten und der Hegemonialmacht“. 282 FS G Arnot Nr. 591 an AA vom 26. 02. 1987, PA-AA 143531.

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Der Anbruch einer neuen Phase im deutsch-sowjetischen Verhältnis zeigte sich auch an den innerdeutschen Beziehungen. So lud der sowjetische Botschafter in der DDR Wjatscheslaw Kotschemassow den Ständigen Vertreter der Bundesregierung Bräutigam „erstmals seit Jahren“ in „sehr freundlicher Atmosphäre“ zum Mittagessen und „gab zu verstehen, dass er sich einen Besuch von Generalsekretär Honecker in der Bundesrepublik noch in diesem Jahr vorstellen könne.“ Eine konstruktive Haltung der Bundesregierung zu den Abrüstungsverhandlungen „werde sich auf die Beziehungen zur DDR positiv auswirken.“283 Wie 1984, als die Sowjets nach dem Stationierungsbeschluss des Bundestages Erich Honeckers Besuch in der Bundesrepublik unterbanden, zeigte sich auch jetzt, dass die Qualität der innerdeutschen Beziehungen und der Grad der Wohlgefallens der sowjetischen Führung mit der Politik der Bundesregierung korrelierten. „Moskau macht seit geraumer Zeit die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen weitgehend von einem Wohlverhalten der Bundesregierung in Sicherheitsfragen abhängig“, so die Feststellung des AA-Planungsstabs; Minister Genscher stimmte zu: „Eine wohl richtige Analyse, in der Tat gehört zu einer beständigen West-Ost-Politik ein langer Atem.“284 DDR-Staats- und Parteichef Honecker besuchte die Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987. Auch in die Abrüstungsverhandlungen kam mehr Bewegung, nachdem Gorbatschow am 28. Februar 1987 seine Bereitschaft zur Null-Lösung im Bereich der Mittelstreckenraketen erklärt hatte, ohne weiterhin auf einem Junktim zum SDIVerzicht der Amerikaner zu bestehen. Die Botschaft in Moskau sprach in ihrer ersten Würdigung von „einem kräftigen Anstoß für die Genfer Verhandlungen“ und „einem weiteren öffentlichkeitswirksamen Coup“ des Generalsekretärs285. Außenminister Genscher forderte in einem Schreiben an seinen US-Amtskollegen Shultz „eine geschlossene und konstruktive Reaktion des Westens“. Man müsse „jetzt alles tun“, damit die Lösung, „die insbesondere zu einem vollständigen Abbau der sowjetischen Bedrohung Europas durch die SS-20 führen würde, zügig in ein konkretes Verhandlungsergebnis umgesetzt wird“286. Der INF-Vertrag zur Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kürzerer Reichweite von 500 bis 1000 Kilometern und mittlerer Reichweite von 1000 bis 5500 Kilometern wurde am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet. Während die Abrüstungsthemen die internationale Szenerie beherrschten, widmete sich das AA mit besonderer Aufmerksamkeit der Vorbereitung des MoskauBesuchs des Bundespräsidenten und erarbeitete einen umfangreichen Themenkatalog. Die Aussichten auf den erhofften diplomatischen Erfolg standen gut. Bei 283

FS StS Bräutigam Nr. 680 an BKAmt, AA vom 29. 04. 1987, ebda. Vgl. Aufzeichnung PS (Schollwer) zur sowjetischen Deutschlandpolitik vom 27. 12. 1985, AAPD 1985 Dok. 356, S. 1886; Anmerkung des Ministers in Fn. 1. 285 FS G Arnot Nr. 625 an AA vom 01. 03. 1987, AAPD 1987 Dok. 60, S. 283, 285; vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 215 ff. 286 Schreiben BM Genscher an AM Shultz vom 05. 03. 1987, AAPD 1987 Dok. 67, S. 317. 284

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Übergabe des Beglaubigungsschreibens von Botschafter Meyer-Landrut erinnerte Außenminister Schewardnadse an Gorbatschows Wort zu Genscher, dass man in den bilateralen Beziehungen eine neue Seite aufschlagen wolle, und ergänzte, er hoffe, dass jetzt „ein Durchbruch“ gelinge287. Im AA war man überzeugt, der Besuch des Bundespräsidenten finde „zu einem politisch außerordentlich günstigen Zeitpunkt statt. Der Dialog mit den Sowjets ist so substantiell und so aussichtsreich wie nie zuvor in den vergangenen sechs Jahren.“ Man nahm an, „die Änderung der sowjetischen Haltung uns gegenüber beruhe höchstwahrscheinlich auf einer doppelten Erkenntnis: dass eine aktive Westeuropapolitik nicht um uns herum geführt werden kann und dass der Versuch, an der Bundesregierung vorbei auf die deutsche Öffentlichkeit einzuwirken, nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt hat.“ In der Beurteilung der sowjetischen Interessenlage blieb man ganz realistisch: Sie habe sich grundsätzlich nicht geändert. „Hauptziel bleibt, die Deutschen zu einer uneingeschränkten Anerkennung des territorialen und politischen status quo in Mitteleuropa zu bewegen und die sicherheitspolitischen Bindungen an das westliche Bündnis, insbesondere die USA zu lockern.“288 In dieser Atmosphäre beidseitiger Zuversicht geschah etwas Unerhörtes: Am 28. Mai 1987 flog der 19-jährige Hamburger Matthias Rust mit seinem CessnaSportflugzeug von Finnland aus nach Moskau und landete unbehelligt auf dem Roten Platz. Im Situationsbericht des deutschen Botschafters wird erkennbar, dass sich eine Farce von politischer Tragweite ereignet hatte: „Die Tatsache, dass ein kleines Sportflugzeug, noch dazu ein deutsches, in den sowjetischen Luftraum eindringen konnte und dann auch noch mitten auf dem Heiligtum der Nation, dem Roten Platz, zwischen Kreml, Leninmausoleum und Basiliuskathedrale landete, hat hier wesentlich tiefer getroffen als dies umgekehrt in der sehr viel lockereren Umgebung einer westlichen Gesellschaft vorstellbar ist. (…) Man muss dem Gastland freilich zugutehalten, dass in diesem Fall mehr schiefgegangen ist als der durchaus natürliche Stolz so ohne weiteres hinnehmen kann: Da werden Souveränität und Luftraum verletzt, von einem Sportflugzeug, einem 19-jährigen Piloten, noch dazu einem Deutschen. Das Ganze aus Richtung Norden, von Finnland her, und während der ganzen Strecke von fast 1000 km und vier bis fünf Flugstunden merkt es entweder niemand oder ist nicht in der Lage, irgendetwas Sinnvolles zu unternehmen. Beide Alternativen sind nicht schmeichelhaft. Landung in Moskau, auf dem Roten Platz. Nach Presseberichten hat der Pilot sich dort noch ca. zwei Stunden mehr oder weniger frei bewegt, mit Touristen gesprochen und Autogramme verteilt. Dann dauerte es eine Weile, bis Pinsel und Farbe zur Stelle waren (Operation Feigenblatt), dann wurde der junge Mann immerhin in Gewahrsam genommen, aber das Flugzeug stand bis 4 Uhr früh – fast neun Stunden – als Mahnmal der Vernachlässigung vaterländischer Pflichten unweit des Leninmausoleums. Dies alles zusammen war zu viel. Allerdings nur für die Mentalität, wie sie hier noch immer vorherrscht.“289

287 288 289

FS B Meyer-Landrut Nr. 1495 an AA vom 13. 05. 1987, PA-AA 143531. StS-Vorlage MD v. Richthofen vom 17. 06. 1987, AAPD 1987 Dok. 177, S. 886, 890. FS B Meyer-Landrut an AA vom 31. 05. 1987, AAPD 1987 Dok. 156, S. 782, 784 f.

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Traditionellen Usancen hätte wohl entsprochen, zum Angriff überzugehen und eine Verschwörung im Heimatland des Piloten zu unterstellen, doch Gorbatschow nutzte die Gelegenheit zu einer eindrucksvollen Machtdemonstration gegenüber dem Militär und veranlasste die sofortige Ablösung von Verteidigungsminister und Politbüro-Kandidat Sergei Sokolow sowie des Chefs der Luftverteidigung wegen Pflichtvergessenheit und Inkompetenz. Das harte Vorgehen gegen die Militärs, so das AA, beweise Gorbatschows „Entschlossenheit und Fähigkeit, ein Exempel zu statuieren“ und bedeute eine „weitere Schwächung der früher so einflussreichen Stellung der Roten Armee im sowjetischen Entscheidungsgefüge“. Sein Zorn habe sich über „einer mächtigen, traditionell verschlossenen Kaste [entladen], die unter Breschnew äußerst privilegiert behandelt wurde und in mancher Hinsicht ein Eigenleben auf Kosten der Bevölkerung und der industriellen Entwicklung des Landes führen konnte“; seine Reaktion sei zugleich auch ein Signal an die „überwiegend noch zögernde Bevölkerung“, dass an eine „Restauration der alten Verhältnisse“ nicht mehr zu denken sei.290 Im Hinblick auf das anhaltend lebhafte Medienecho herrschte in Bonn große Sorge, der Fall Rust könne zu einer Belastung für den Besuch des Bundespräsidenten werden.291 Doch daran hatten auch die Sowjets keinerlei Interesse und beließen es bei der Einlegung „entschiedenen Protests“292. Im Übrigen ließ das Aufsehen der Landung von Matthias Rust in Moskau in der Wahrnehmung des Westens ein bedeutendes Ereignis in den Hintergrund treten, das zur gleichen Zeit in Ost-Berlin stattfand: Die Verkündung neuer Grundsätze der Militärdoktrin des Warschauer Paktes. Sie beinhalteten auf Betreiben Gorbatschows eine Neuorientierung, indem sie als zentrale Aufgabe die Verhinderung von Kriegen definierten, dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen abschworen und den Umfang der Streitkräfte auf das zur Verteidigung „Hinlängliche“ begrenzten293. Der Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in Moskau fand vom 6. bis 11. Juli 1987 statt. Erst wenige Tage zuvor beim Plenum des ZK der KPdSU hatte Gorbatschow seinen Kurs in Richtung „Demokratisierung“ des Sozialismus bekräftigt und zu diesem Zweck die Einberufung einer Parteikonferenz angekündigt. Gastgeber des Bundespräsidenten war Andrei Gromyko als Staatsoberhaupt der UdSSR. Weizsäcker und Außenminister Genscher führten mehrere Gespräche mit Gorbatschow, Gromyko und Schewardnadse294. Dabei gewannen die deutschen 290

StS-Vorlage 213 vom 03. 06. 1987, AAPD 1986 Dok. 160; vgl. auch Brown, 7 Years, S. 14, 16; Taubman, S. 397. 291 BM-Vorlage vom 15. 06. 1987, PA-AA 143531; Gespräch BM Genscher mit B Kwizinskij, u. a. mit Kritik K’s an der Rolle der Illustrierten „Stern“ und Frage nach möglichen „Hintermännern“, Vermerk 213 vom 22. 06. 1987, PA-AA 143531. 292 FS B Meyer-Landrut Nr. 1698 vom 30. 05. 1987, PA-AA 139416. 293 Vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 213 m.w.N. 294 Aufzeichnung (Gesamtwürdigung) MD v. Richthofen vom 15. 07. 1987, AAPD 1987 Dok. 212; ferner FS B Meyer-Landrut an AA vom 06. 07. 1987 (Gespräch BP mit Gromyko), AAPD 1987 Dok. 200, und vom 08. 07. 1987, AAPD 1987 Dok. 203 (2. Gespräch BM mit AM

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Gäste den Eindruck, dass „die SU in ein engeres Verhältnis mit uns eintreten will, sich aber über den Weg im Einzelnen noch nicht im Klaren ist“. Sie registrierten „so manche Zwiespältigkeiten und Widersprüche“ und fanden Gorbatschows Aussagen in der Tendenz zwar positiv, aber auch „mahnend, fordernd“ und „von einer gewissen Großmachtattitüde durchsetzt.“295 Der Besuch hatte vor allem Symbol-Charakter und war ein Erfolg, weil beide Seiten einen Erfolg wünschten. Man verständigte sich auf die Formel, Ergebnis des Staatsbesuchs sei „die Entschlossenheit beider Seiten, eine kardinale Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu erreichen“. Auch die „Prawda“ zeichnete ein positives Bild und stellte fest, beide Länder könnten Partner beim Bau des von Gorbatschow apostrophierten „gemeinsamen europäischen Hauses“ sein296. Während es bei Gromyko und Schewardnadse auch um die Abrüstungsverhandlungen, namentlich den Streit um die künftige Behandlung der Kurzstreckenraketen ging, standen bei Gorbatschow die bilateralen Beziehungen im Mittelpunkt. Als seine Kernaussage hielt man fest: „Wir spürten hoffentlich, dass sich die SU ändere, auch in ihrem internationalen Verhalten, wobei er gleich hinzufügte, im eigenen Interesse. ,Wir wollen auch die Beziehungen zur BRD auf ein neues, normales Niveau anheben‘.“297 Als die Rede auf Ostverträge und KSZE-Schlussakte kam, kritisierte Gorbatschow die These von der „Offenheit“ der Deutschen Frage und betonte die Existenz zweier deutscher Staaten, die zwei verschiedenen Systemen angehörten298. Zwar räumte er ein, „dass über die Lage in Europa und der Welt in hundert Jahren die Geschichte entscheiden werde“, machte aber zugleich – unter Hinweis auf Nachbarn wie Polen und die DDR – „ganz deutlich, wie er sich unsere Rolle heute vorstellt: ,Wenn Sie einen anderen Weg einschlagen, dann ist das sehr gefährlich, hier muss volle Klarheit bestehen‘.“299 Dem ersten Teil der Aussage wurde zuweilen historische Bedeutung gegeben, weil darin nicht mehr im Stil der Gromyko-Ära von der Endgültigkeit und Unabänderlichkeit der deutschen Teilung die Rede war, sondern die Offenheit der Geschichte hervorgehoben wurde. Möglicherweise aber kam es Gorbatschow vor allem auf den zweiten Teil seiner Aussage an, weil er aus soSchewardnadse), FS MD v. Richthofen an AA vom 09. 07. 1987, AAPD 1987 Dok. 204 (1. Gespräch BM mit AM Schewardnadse). 295 Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 15. 07. 1987, ebda., S. 1056 f. 296 Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 15. 07. 1987, ebda., S. 1055 f. 297 FS B Meyer-Landrut an AA vom 09. 07. 1987 (Gespräch BP mit Gorbatschow) , AAPD 1987 Dok. 206, S. 1031. 298 Das Aufgreifen der „Deutschen Frage“ durch die Gastgeber war nach Ansicht des AA Reaktion auf die aktuelle deutsche Diskussion neuer Chancen einer Wiedervereinigung, Aufzeichnung MD v. Richthofen, ebda., S. 1059 (Fn. 19: AP-Meldung vom 12. 05. 1987: „Der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann hat am Dienstag an Bundespräsident Richard v. Weizsäcker appelliert, bei seinem bevorstehenden Besuch in der Sowjetunion Parteichef Michail Gorbatschow auf das Thema Wiedervereinigung anzusprechen. […] Die derzeitige Diskussion über Abrüstung von Atomraketen sei dafür eine hervorragende Gelegenheit“; Schreiben Friedmanns an v. Weizsäcker vom 13. 05. 1987; Referat 210, PA-AA 145174). 299 FS B Meyer-Landrut vom 09. 07. 1987 ebda., S. 1033, 1034.

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wjetischer Sicht unproduktive neue Grenz- und Vereinigungsdiskussionen verhindern wollte300. Was die Diplomaten des AA betrifft, scheinen sie jedenfalls dem ersten Teil des Gorbatschow-Zitats keine besondere Signifikanz beigemessen zu haben, während sie im zweiten Teil die eigene Analyse bestätigt sahen, dass mit einer Änderung der sowjetischen Haltung zur Deutschen Frage nicht zu rechnen sei; so sprach mit einem Anschein von Genugtuung der Politische Direktor von einer „durch Einsichtige erwarteten Zurückweisung“301. Der Minister hingegen warb für mehr Zuversicht: Im Grunde habe Gorbatschow gesagt, die Deutsche Frage sei offen; das sei die eigentliche Botschaft302. Am Ende kam Gorbatschow noch auf den Bundeskanzler zu sprechen, dessen Interview für so große Verstimmung gesorgt hatte: Man möge ihm einen „herzlichen Gruß“ übermitteln. „Er lade den Kanzler und die Führung der Bundesrepublik Deutschland ein, die Beziehungen neu zu überlegen – die sowjetische Seite sei hierzu bereit. (…) Hierüber könne gesprochen werden, wenn er in der Bundesrepublik oder Herr Kohl in Moskau sei. (…) Wir könnten einen großen Schritt aufeinander zugehen – auch unter Beibehaltung unserer Werte und Ideologien. Dies könnte ein historischer Schritt sein.“303 Für einen umfassenden Ausbau der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit bestand nach Weizsäckers Besuch „freie Bahn“, so dass der bürokratieerfahrene Politische Direktor für die anstehenden Arbeiten sogleich „erhebliche zusätzliche Mittel und auch personelle Ressourcen“ beanspruchte304. Meinungsumfragen in der Bundesrepublik im Sommer 1987 zeigten, dass die Angst vor einer militärischen Bedrohung aus dem Osten weiter abnahm, die große Mehrheit auf einen Erfolg der nuklearen Abrüstung hoffte und die Beliebtheit des sowjetischen Generalsekretärs spektakuläre Höhen erreichte305. Die Dinge waren in Bewegung und auch die Besuchsdiplomatie zog Kreise: Ende 1987 steuerte der Bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß im vollen Einverständnis der sowjetischen Luftabwehr eine Cessna im Schneetreiben nach

300 Gorbatschows Vertrauter Anatoli Tschernjajew schrieb 1995: „Deep down G. realized – then if not even earlier – that without solving the German problem […] we could not expect any major improvement in international relations“, zitiert nach Taubman, S. 388. 301 Aufzeichnung MD v. Richthofen vom 15. 07. 1987, AAPD 1987 Dok. 212, S. 1056. 302 So Genscher, Erinnerungen, S. 544: „Während der BP über die Bemerkung des GS enttäuscht schien, wandte ich bei der gemeinsamen Nachbetrachtung ein: Gorbatschows Äußerungen sähen zwar einen langen Zeitraum vor, im Grunde habe er damit aber gesagt, die Deutsche Frage sei offen. Das sei die eigentliche Botschaft“; vgl. auch Garton Ash, S. 162 f.; Brown, Gorbachev Factor, S. 244 f.; Ritter, S. 21 f. m.w.N.; Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 241 f. 303 FS B Meyer-Landrut vom 09. 07. 1987 ebda., S. 1034. 304 MD v. Richthofen, „Punktation über die Weiterentwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen“ vom 17. 07. 1987, AAPD 1987 Dok. 212, Fn. 35. 305 Vgl. Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 220 f. m.w.N.

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Moskau, um Gorbatschow seine Aufwartung zu machen.306 Die Moskau-Reise von Bundeskanzler Kohl ließ noch einige Monate auf sich warten und fand vom 24. bis 27. Oktober 1988 statt. Kohl war es wichtig, die deutsch-sowjetischen Beziehungen von nun an ohne Mittelsmänner im persönlichen Gespräch mit dem Generalsekretär selbst verhandeln zu können. Die Teilnahme von Außenminister Genscher an den „Vier-Augen-Gesprächen“ Kohls mit Gorbatschow sei vom Kanzleramt ausdrücklich nicht erwünscht gewesen, wie die Sowjets hinterher ihren ostdeutschen Genossen berichteten307. Die beiden Politiker fanden in ihren Gesprächen zueinander und Gorbatschow nannte Kohls Besuch ein „wirklich großes Ereignis“.308 Nun schien das sowjetisch-deutsche Verhältnis gänzlich vom Eise befreit.

306 Der Spiegel Nr. 1 vom 04. 01. 1988, „Strauß: Weltbild-Wandel in Moskau“; SZ vom 17. 05. 2010, „Fliegergrüße aus Moskau“; FS B Meyer-Landrut vom 29. 12. 1987, AAPD 1987 Dok. 381. 307 Aktennotiz über Gespräch Erich Honeckers mit dem Leiter der 3. Europa-Abteilung des sowjetischen Außenministeriums Alexander Bondarenko vom 30. 10. 1988, https://www.chro nik-der-mauer.de/material/178879/aktennotiz-ueber-ein-gespraech-erich-honeckers-mit-demleiter-der-3-europa-abteilung-des-sowjetischen-aussenministeriums-alexander-bondarenko-30oktober-1988 [04. 02. 2021]. 308 Gesprächsaufzeichnung MD Teltschik vom 24. 10. 1988, AAPD 1988 Dok. 300, ferner Dok. 301, 303, 304; Der Spiegel Nr. 44 vom 31. 10. 1988, „Kohls Mitbringsel aus Moskau“; Schwarz, S. 457 f.; Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 17 ff.; Weber, S. 860.

XV. Resümee Niemand ahnte zu Beginn der Ära Gorbatschow, was der Sowjetunion, Europa und der Welt bevorstand, auch er selbst nicht. In den Jahren 1985 und 1986 stand das Ost-West-Verhältnis im Zeichen eines Phasenwechsels. Mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows hatte ein neuer Abschnitt des Kalten Krieges begonnen: In der Sowjetunion wurde die Phase der Erstarrung durch eine Phase geistiger und politischer Öffnung abgelöst. Der Übergang war kein revolutionärer Akt, sondern vollzog sich schrittweise über einen längeren Zeitraum und nicht immer konsequent. Beide Phasen überlappten sich, die Begriffe, Institutionen und Rituale politischen Handelns blieben weitgehend unverändert und verhüllten das wahre Geschehen, das geprägt war vom Spannungsverhältnis zwischen Traditionalisten und Reformern, die ihre gegenläufigen Ziele und Motive meist nicht offenlegten. Das schuf eine Ambivalenz, die für die Außenwelt nur schwer zu interpretieren war. Mehrdeutigkeit zeigte sich bereits in der Person des Generalsekretärs. Gorbatschow forderte nachdrücklich Reformen, aber bekannte sich voller Überzeugung zur Ideologie des Marxismus-Leninismus und stützte seine Politik auf Lenins Schriften. Er war entschiedener Verfechter des „demokratischen Sozialismus“, den er für die überlegene Gesellschaftsordnung hielt. Im Wettbewerb der Systeme wollte er dem Sozialismus durch ungeschminkte Kritik und entschlossene Beseitigung der zahlreichen Missstände zum Sieg verhelfen. Dabei war sein Vorgehen taktisch versiert: Er vermied die offene Konfrontation mit den Vertretern des Ancien Régime, das ihm ins Amt verholfen hatte, beließ es gerade in der Frühzeit häufig bei bloßen Reformankündigungen und Appellen und machte inhaltliche und personelle Konzessionen, die für Außenstehende keine klare Marschrichtung erkennen ließen. Aber er schuf doch Voraussetzungen, damit sich innerhalb der bestehenden Strukturen von Partei und Wissenschaft „neues Denken“ entwickeln und zumindest subkutan wirksam werden konnte („Institutional Amphibiousness“)309. Gorbatschow hatte zwar die Vision eines von Mängeln befreiten „demokratischen Sozialismus“, aber keinen „Masterplan“, den man in westlichen Hauptstädten hätte entschlüsseln können. Seine Absichten zu erkennen und sein künftiges Verhalten einzuschätzen, fiel auch deshalb schwer, weil seine politischen Zielvorstellungen sich wandelten und im Laufe der Zeit wagemutiger und radikaler wurden. Dieser Wandel vollzog sich als iterativer Prozess aufgrund zunehmender Ungeduld und Unduldsamkeit Gorbatschows in Anbetracht ausbleibender Erfolge seiner Appelle und Reformanstöße, der Kampagne gegen den Alkoholismus, in Afghanistan oder bei den Abrüstungsverhandlungen. Der Widerwille des Apparats gegenüber Re309

Brown, 7 Years, S. 157 ff., 188.

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formen jeglicher Art und die Einigkeit des Westens waren Herausforderungen, auf die Gorbatschow mit immer neuen Initiativen und Positionswechseln reagierte und damit nicht selten Freund und Feind überraschte. In der Außenpolitik bekannte sich Gorbatschow zumindest anfangs zu den überkommenen Grundprinzipien der sowjetischen Politik und verfolgte das alte Ziel, die Großmachtstellung der Sowjetunion zu festigen und das Imperium zu bewahren. Durch Verringerung der Rüstungslasten und Erweiterung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Westen wollte er den ökonomischen Spielraum seiner Reformpolitik erweitern. In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Westen nutzte er sein bemerkenswertes Kommunikationstalent, um den Westen in die Defensive zu bringen. Gorbatschow war nicht der typische Sowjetführer, wie man ihn im Westen bisher kannte. Seine in jeder Hinsicht facettenreiche Charakteristik, seine konzeptionelle Beweglichkeit und sein vielfach ambivalentes, teils vorwärtsdrängendes, teils vorsichtiges Agieren machen verständlich, dass er als „Mann mit vielen Gesichtern“310 wahrgenommen wurde. Während er für manche im Westen schon bald zum Hoffnungsträger wurde, weil seine interpretationsfähige Rhetorik dazu einlud, ihn als Gesinnungsgenossen zu vereinnahmen, begegnete man ihm insbesondere in der Anfangszeit zumindest auf Regierungsebene mit Zweifeln, Vorbehalten oder Misstrauen311. So verhielt es sich auch mit der Bundesregierung: Man sah in Gorbatschow zunächst vor allem einen überzeugten Exponenten des sowjetischen Machtapparats, der unbeschadet eines anderen persönlichen Stils in der Kontinuität seiner Vorgänger stand und an den Grundlagen des Systems selbstverständlich festhielt. Nach allem, was man in Jahrzehnten über die Sowjetunion, dortige Funktionärskarrieren und das Prinzip der kollektiven Führung gelernt hatte, konnte es sich bei dem neuen Generalsekretär nur um jemanden handeln, der in Treue fest zum System stand und auch weiterhin stehen würde und nach denselben Maßstäben zu beurteilen war wie jeder andere an seiner Stelle. Mangels besserer Erkenntnis blieb einstweilen nur die Projektion eines vertrauten Stereotyps, wofür die zwischen Reformankündigungen und traditioneller Parteirhetorik changierenden Äußerungen des neuen Generalsekretärs noch genügend Anhaltspunkte boten. Die Brisanz von Gorbatschows durchaus schonungsloser Kritik gesellschaftlicher Missstände wurde keineswegs verkannt, jedoch sah man darin keinen Aufbruch zu einer Liberalisierung im westlichen Sinne, sondern allein den Versuch, die Schlagkraft des Systems zu erhöhen. Gorbatschows Auftritte und Initiativen auf internationaler Bühne erschienen zunächst als eine Fortsetzung der gewohnten Propaganda-Aktivitäten der „friedliebenden Sowjetunion“, allerdings aufgrund des „Stilwandels“ nun ungleich wirksamer und damit aus Sicht westlicher Regierungen schwieriger zu bewältigen.

310 Der Spiegel, Nr. 43 vom 20. 10. 1986, Titelblatt („Die vielen Gesichter des Michail Gorbatschow“). S. o. Fn. 20. 311 Brown, Gorbachev Factor, S. 4 ff., 212 ff.

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Ein „Vertrauensvorschuss“ kam zunächst nicht in Betracht, im Westen blieb man skeptisch und wartete ab. Mit Zeitablauf und zunehmender Erfahrung fiel das Urteil differenzierter aus. In dem Maße, in dem Gorbatschow die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Land und den internationalen Beziehungen immer stärker in Frage stellte, nahm man seinen Reformwillen ernst. Die öffentliche Meinung im Westen war ihm zunehmend gewogen, von ihm eingeführte Begriffe wie „neues Denken“ und „gemeinsames europäisches Haus“ prägten den Diskurs. Dabei hing das Ausmaß der Bereitschaft, auf einen besseren Umgang im Ost-West-Verhältnis zu vertrauen, vom institutionellen oder persönlichen Standpunkt des Betrachters ab. Im AA war von Anfang an die Bonner Zentrale eher bemüht, in sowjetischen Äußerungen Ansatzpunkte für eine Wiederbelebung des bilateralen Dialogs zu finden, als die Botschaft in Moskau, die lange noch eine betont kritische Sicht auf das Gastland und seine Führung bewahrte und darin der Einschätzung des Kanzleramtes näher kam. Gorbatschows Festhalten an der von Stalin geprägten Ordnung setzten auch die Sowjetologen im AA voraus; die Aufgabe fundamentaler Grundsätze der sowjetischen Außenpolitik – etwa zur Deutschen Frage – erwartete man nicht. Selbst als das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit von Gorbatschows Reformbemühungen und neue Ansätze seiner Außenpolitik allmählich zunahm, blieben starke Zweifel an seinen Erfolgsaussichten. Denn im AA betrachtete man die offensichtlichen Widersprüche zwischen den weitreichenden Reformzielen in Wirtschaft und Gesellschaft und Gorbatschows nachdrücklichem Bekenntnis zu den politisch-ideologischen Grundlagen der Sowjetunion als letztlich unauflöslich. Auch seinen Umgang mit der brisanten Nationalitätenproblematik hielt man dort schon frühzeitig für unsensibel und gefährlich. Die Position der Bundesregierung zu Gorbatschows Politik wurde von Gesichtspunkten der Außenpolitik, der Innenpolitik und der Parteipolitik bestimmt, wobei die drei Dimensionen untrennbar miteinander verbunden und überdies mit persönlichen Zielen und Erfahrungen der handelnden Personen verwoben waren: Grundprinzipien der bundesdeutschen Außenpolitik und Staatsraison waren seit Konrad Adenauers Zeiten die Westbindung, die transatlantische Freundschaft, die europäische Integration und die Überwindung der Teilung Deutschlands. Hinzu kam das aufgrund der geopolitischen Lage Deutschlands seit jeher elementare Anliegen gedeihlicher Beziehungen auch zur östlichen Führungsmacht, um den Frieden in Europa zu erhalten, die Folgen der Teilung Deutschlands und Berlins zu lindern und die Beziehungen zu den mittel-osteuropäischen Staaten fortentwickeln zu können. Als Grundpfeiler einer erfolgreichen Sowjetunionpolitik galten einerseits die uneingeschränkte Verteidigungsfähigkeit des westlichen Bündnisses auf der Grundlage nuklearer Abschreckung sowie andererseits das stete Bemühen um Entspannung durch Abrüstung und Ausweitung insbesondere der wirtschaftlichen Zusammenarbeit312. Im Umgang mit der „Deutschen Frage“ vermied man tunlichst jede „Wie312 Vgl. Garton Ash, S. 76, 79, 126 ff., 151, 153 (Doppelstrategie des sog. „Harmel-Berichts“); Wirsching, S. 499 ff., 512 f.; Wentker, Vom Gegner zum Partner, S. 3 f.

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dervereinigungsrhetorik“ und verwies zur Beruhigung aller Beteiligten grundlegende Veränderungen der Zweistaatlichkeit in eine ferne, noch ungewisse Zukunft. Im Interesse der vier Grundprinzipien achtete die Bundesregierung mit größter Umsicht auf ihre Verlässlichkeit und Standhaftigkeit als Bündnispartner und gab Einigkeit und Gemeinsamkeit im westlichen Bündnis höchste Priorität, um die wiederkehrenden Versuche der Sowjetunion, Keile zu treiben und das westliche Bündnis zu schwächen, von vornherein zu vereiteln. Deshalb behandelte man Gorbatschows zahlreiche Abrüstungsinitiativen und seine Öffentlichkeitsarbeit mit besonderer Vorsicht. Ebenfalls elementar war das Anliegen, die aus der geopolitischen Mittellage und ihrem ökonomischen und militärischen Gewicht resultierende Schlüsselstellung der Bundesrepublik im Ost-West-Verhältnis zu nutzen, um einem „Bilateralismus“ der Großmächte entgegenzuwirken und sich Einflussmöglichkeiten im internationalen Zusammenspiel zu schaffen. Im Hinblick auf die sich „im Übergang“ Mitte der achtziger Jahre abzeichnenden Veränderungen in Europa sah es Außenminister Genscher als Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, „denkend und treibend eine herausragende Rolle zu spielen“313. Deshalb war das Interesse der Bundesrepublik an einem konstruktiven Dialog und dem Ausbau der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion so vital und von strategischer Bedeutung. Hier liegt die Wurzel der „Davoser Rede“ mit Genschers Aufforderung, Gorbatschow „beim Wort“ zu nehmen. Allerdings war man nicht bereit, für die „Normalisierung“ der zeitweise angespannten Beziehungen einen politischen Preis zu bezahlen, und blieb bestrebt, die „Demandeur-Position“ zu vermeiden. Dabei half, dass man sich, nach erfolgreicher Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, der relativen Stärke des westlichen Bündnisses bewusst war und die Bedingungen für eine Verständigung in der damaligen Konstellation als besonders günstig ansah. Die vermeintliche Überlegenheit des Westens zu nutzen, um die Sowjetunion in die Ecke zu treiben oder gar „totzurüsten“, war jedoch weder die Position des Bundeskanzlers noch des Außenministers. Die Innenpolitik kam ins Spiel, wenn es um die Auswirkungen außenpolitischer Entscheidungen im Inland und die Rückwirkungen innenpolitischer Konflikte auf außenpolitische Handlungsspielräume ging. Die Quellen zeigen in eindrucksvoller Weise, welch‘ hohen Stellenwert die Entscheidungsträger der innenpolitischen Stimmungslage und den zu erwartenden Reaktionen von Medien und Öffentlichkeit gaben. Das Ende der Entspannung im deutsch-sowjetischen Verhältnis, die Beschleunigung der Rüstungsspirale, die Raketenstationierung und schließlich „Tschernobyl“ hatten in Teilen der Bevölkerung Ängste geweckt, die in der Außenpolitik zu berücksichtigen waren, weil sie Mehrheiten gefährden und vom sowjetischen Gegner instrumentalisiert werden konnten. So versteht sich, warum man 313 Gespräch mit dem Historiker Michael Stürmer vom 30. 01. 1987, AAPD 1987 Dok. 18, S. 77, mit dem nachgeschobenen Hinweis auf die Notwendigkeit „engster deutsch-französischer Abstimmung“, S. 79.

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in der wachsenden Beliebtheit des sowjetischen Generalsekretärs hohes Störpotential sah und vor den Wirkungen sowjetischer „Propaganda“ mehr denn je auf der Hut war, und warum man im Umgang mit den Konsequenzen von „Reykjavik“, als es erneut um die Kräfteverhältnisse bei nuklearen Systemen unterschiedlicher Reichweite ging, eine „zweite Stationierungsdebatte“ (Genscher) unbedingt vermeiden wollte und vom strengen Paritätsprinzip, immerhin Ratio der Nachrüstung, allmählich abrückte. So macht das „Gorbatschow-Phänomen“ die Bedeutung der „öffentlichen Meinung“ für die Außenpolitik der Bonner Koalition besonders deutlich. Die parteipolitische Dimension kommt in den Akten des AA nur sehr sporadisch zum Vorschein, was der traditionellen Aktenführung und dem Selbstverständnis der Diplomaten entsprechen mag, aber der tatsächlichen Bedeutung von Parteiinteressen wohl kaum gerecht wird. Denn bekanntlich sind der Bundeskanzler und seine Minister zugleich Vertreter von Koalitionsparteien und von deren politischem Erfolg unmittelbar abhängig. Wahltermine wie die Bundestagswahlen im Januar 1987 ebenso wie die jeweiligen Parteitage sind kritische Orientierungspunkte. Deshalb werden sich sowohl Kohl als auch Genscher der parteipolitischen Konsequenzen ihrer außenpolitischen Entscheidungen jederzeit bewusst gewesen sein und im Falle von Auseinandersetzungen zu Sachfragen auch das politische Gewicht ihrer Partei als Hebel genutzt haben. So ließ etwa der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende Kohl in Fragen der deutsch-sowjetischen Beziehungen die Befindlichkeiten seines konservativen Flügels oder der Vertriebenen nicht außer Acht, weil sie einen wesentlichen Teil seiner Wählerschaft ausmachten. Auch die ausgeprägte Dialogbereitschaft gegenüber der Sowjetunion und die größere Vorsicht in der Nachrüstungsdiskussion nach „Reykjavik“ auf Seiten von Außenminister Genscher hingen damit zusammen, weil ihm daran gelegen war, das Profil der FDP als Partei der Entspannungspolitik zu schärfen, woraus sich im Streit um die Kurzstreckenraketen sogar ein Koalitionskonflikt entwickelte. Der Blick von Bundeskanzleramt und AA auf Gorbatschow und die Sowjetunion war somit zwangsläufig auch von der parteipolitischen Bindung des Kanzlers und seines Außenministers beeinflusst. Anders als am Ende der sozialliberalen Regierung stimmten jetzt freilich die Koalitionsparteien in den Grundüberzeugungen der Außenpolitik überein. Die in der Davoser Rede zum Ausdruck gekommene Einstellung Genschers zum Umgang mit der Sowjetunion und seine Bereitschaft, im Interesse einer Vorwärtsbewegung in den Ost-West-Beziehungen prinzipielle Meinungsverschiedenheiten zurückzustellen und jede Art offener Konfrontation möglichst zu vermeiden, sowie seine charakteristische Geschmeidigkeit führten bisweilen nicht nur in der Regierungskoalition, sondern auch bei Verbündeten zu Vorbehalten oder Misstrauen und zum Vorwurf des „Genscherismus“314. Der sowjetische Vizeaußenminister Kapiza beschrieb Gentscher dem deutschen Gesandten Arnot folgendermaßen: „Unser Minister sei ein sehr flexibler Mann (dabei machte er mit vorgestreckter flacher Hand 314

Vgl. Conze, S.633 („Verdacht, einer tendenziell neutral-nationalistischen Politik“).

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Schlangenlinien in die Luft). Ich erwiderte, unser Minister sei ein Mann prinzipieller Positionen und flexibel in der Methode. Dies schiene mir eine nützliche Haltung für alle zu sein. K. stimmte dieser Formel zu unter Betonung des Prinzipiellen.“315 Tatsächlich war Genschers Einstellung zur Sowjetunion wie zum „real existierenden Sozialismus“ schon aus biographischen Gründen frei von Illusionen, seine kritische Sicht ist in den Akten hinlänglich dokumentiert. Seine taktische Beweglichkeit verbunden mit einer multivalenten Ausdruckweise erwiesen sich als hilfreich, um in Zeiten des Paradigmenwechsels im Ost-West-Verhältnis Blockaden zu lösen, eingefahrene Gleise zu verlassen und der Außenpolitik mit Sensibilität für das Neue unerwartet weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Jedoch war Gentschers Linie gegenüber Gorbatschow auch im AA nicht jedermanns Sache und befürchteten manche nach „Reykjavik“ die leichtfertige Preisgabe der Abschreckungsdoktrin durch eine voreilige Beseitigung aller Nuklearwaffen. Botschafter Kastl etwa machte seinem Unmut über die vermeintlich allzu große Nachgiebigkeit des Ministers unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Luft316 : Genscher mache sich „beim westdeutschen Publikum beliebt, das durch die Aussicht auf eine entspanntere, konfliktärmere Welt leicht zu entflammen“ sei. Trotzdem wird man nicht davon sprechen können, dass sich Genscher in einem Gegensatz zu seinem Haus befand. Auch die Aussage, „seine zwar optimistische, aber keineswegs blauäugige Sicht auf Gorbatschow und die sowjetische Entwicklung [war] nicht repräsentativ für das Auswärtige Amt“317, dürfte die Verhältnisse überzeichnen. Die beiden Jahre des „Phasenwechsels“ (1985 – 1987) zeigen, wie sehr die Entwicklung von der Wechselwirkung personaler und struktureller Faktoren angetrieben wurde. Die handelnden Personen – Gorbatschow, aber auch Reagan, Thatcher, Kohl, Genscher u. a. – spielten eine maßgebliche Rolle, aber sie agierten nicht frei und ungebunden, sondern im Zusammenhang miteinander und in Abhängigkeit von den sozio-ökonomischen Verhältnissen in ihrem Land. Solche Wirkungszusammenhänge kennzeichnen geschichtliche Prozesse. Am Anfang von Gorbatschows Regentschaft hatte die Sowjetunion mit gewaltigen inneren Problemen und zentrifugalen Kräften zu kämpfen, aber dem nahen Untergang geweiht war sie noch nicht318. Gorbatschow war entschlossen, keine Zeit zu verlieren und reagierte auf Stillstand mit wachsender Risikobereitschaft, der Ausweitung seiner Reformagenda und immer wieder neuen Abrüstungsinitiativen. Das blieb auch im Westen nicht ohne Wirkung: Seine Popularität wuchs, das Bedrohungsgefühl gegenüber der Sowjetunion schwand und die Bereitschaft von Po315

Aufzeichnung vom 29. 07. 1985, AAPD 1985 Dok. 208. FAZ vom 25. 04. 1987, S. 11 „Einen Schritt zurück, um zwei tun zu können“; ähnlich v. Arnim, S. 115 und S. 95 („je länger er Minister war, desto virtuoser in der Kunst, mit vielen Worten nichts zu sagen“). 317 Wentker, Die Deutschen und Gorbatschow (2020), S. 244 f. 318 Brown, 7 Years, S. 3 ff., 247; Kotkin, S. 2 f., 27, 171 f.; Schattenberg, bpb Nr. 323/2014. 316

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litik und Gesellschaft zum Entgegenkommen nahm stetig zu. Auch Reagan und die West-Europäer wollten abrüsten und, namentlich in Deutschland, schwierige innenpolitische Konflikte vermeiden. So machte Gorbatschow die psychologisch bedeutsame Erfahrung, dass während im Innern alle Reformbemühungen am Widerstand des Apparates scheiterten, auf internationaler Bühne infolge einer zunehmenden Öffnung des Westens persönliche Anerkennung und außenpolitische Erfolge winkten. Nach und nach wurden von Gorbatschow langjährige Konstanten der Politik zur Disposition gestellt, wodurch eine für alle Beteiligten überraschende und sich selbst verstärkende Dynamik entstand. So gerieten die Dinge im globalen Ost-WestVerhältnis immer mehr in Bewegung und in der Sowjetunion letztlich außer Kontrolle. Gorbatschow hatte die immensen Schwierigkeiten einer Reform des sowjetischen Systems offensichtlich unterschätzt. Unter dem Druck der Verhältnisse war er zu Schritten bereit, die er nicht geplant hatte und die niemand vorhersehen konnte. Was sich am Ende bestätigte, war die Ahnung der Russlandkenner im Auswärtigen Amt, dass Gorbatschows Reformagenda mit den konstituierenden Merkmalen des „demokratischen Sozialismus“ ebenso wie mit den charakteristischen Bedingungen und Traditionen seines Landes unvereinbar und daher letztlich zum Scheitern verurteilt war. Mit dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende der Nachkriegsordnung rechnete jedoch auch im Auswärtigen Amt niemand.

Quellen und Literatur Quellen Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD), herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, Berlin Bulletin der Bundesregierung Plenarprotokolle/Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA-AA), Berlin

Literatur Arnim, Joachim von: Zeitnot – Moskau, Deutschland und der weltpolitische Umbruch, Bonn 2012. Brown, Archie: The Gorbachev Factor, Oxford/New York 1996/1997. Brown, Archie: Seven Years that changed the World, Oxford/New York 2007. Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit, München 2009. Falin, Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993. Gaddis, John Lewis: The Cold War, London 2005. Garton Ash, Timothy: Im Namen Europas, München/Wien 1993. Gassert, Philipp: Rüstung, Bündnissolidarität und Kampf um Frieden, APuZ 18/19 – 2019. Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995. Hanson, Stephen E.: Ideology and the End of the Cold War, in: Küsters (Hrsg.), Der Zerfall des Sowjetimperiums und Deutschlands Wiedervereinigung, Köln 2016. Karner, Stefan: Von der Stagnation zum Verfall, in: Küsters (Hrsg.), Der Zerfall des Sowjetimperiums und Deutschlands Wiedervereinigung, Köln 2016. Kohl, Helmut: Erinnerungen, 1982 – 1990, München 2005. Korte, Karl-Rudolph: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft, Stuttgart 1998. Kotkin, Stephen: Armageddon Averted, Oxford/New York 2008. Kramer, Mark: The Warsaw Pact Alliance 1985 – 91, in: Küsters (Hrsg.), Der Zerfall des Sowjetimperiums und Deutschlands Wiedervereinigung, Köln 2016.

Literatur

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Sachwortverzeichnis Able Archer 25 Abrüstungsinitiativen 50, 61, 66, 87 Abrüstungsverhandlungen 26, 29, 35, 50, 55, 61 f., 66 ff., 71 ff., 87 Abschreckungsdoktrin 9 f., 24 f., 32, 67, 71, 72 f. Alkoholismus-Kampagne (SU) 14, 46 Außenpolitik (BR Deutschland) 95 ff. Bilateralismus 32, 71 Bonner Hofgarten 41 Breschnew-Doktrin 10, 56 Brief zur Deutschen Einheit 11, 81 Bundestagswahlen 35, 43, 74, 79, 86 CDU 26, 73, 74, 79, 97 Davoser Rede (BM Genscher) 79 f., 96 Demokratisierung (SU) 14, 78, 89 Deutsche Frage 11, 29 ff., 37, 82 ff., 90 f., 95 f. Dissidenten 54 f., 77 DKP 40, 41 Entspannungspolitik 10, 36 Familienzusammenführung 34, 86 FDP 26, 73, 74, 79, 97 Friedensbewegung 22 f., 39, 41 f., 60, 72, 74 Friedliche Koexistenz 11, 55 ff., 79 Genf (Gipfel) 49 f. Genscherismus 97 f. Glasnost 14, 60, 76 Grüne 41 f., 68 (Fn.), 74, 75 (Fn.) IISS-Rede (BK Schmidt) 24 INF-Vertrag 72, 86 Informationszeitalter 10, 36 f.

Innerdeutsche Beziehungen 26, 32, 56, 59 (Fn.), 87 Institutional Amphibiousness 82 f., 93 Jalta 9, 67 Kirchen 40, 41 Kollektive Führung 17, 19, 45 KPdSU-Parteiprogramm 52 KPdSU-Parteitag 38, 48, 52 ff. Krefelder Appell 41 KSZE-Schlussakte 11, 36, 90 Lage der Nation (Rede BK Kohl) 29 Landung Matthias Rust 87 f. Machtmonopol (KPdSU) 14, 54, 76, 78 MBFR 24 Moskau-Reise BK Kohl 91 f. Nationalitätenfrage 47, 78 f. NATO-Doppelbeschluss 11 f., 25 f., 35, 36, 41, 42, 51, 72 Neutronenbombe 42 Newsweek-Interview 9, 67 ff., 73 Ölkrise 11 Ostverträge 11, 29, 34, 64, 81, 90 Parteipolitik (Bonner Koalition) 73, 96 Perestroika 14, 77 f. Planwirtschaft 10, 58 Politbüro 16 ff., 38, 44 f. Revanchismus 28 f., 30, 34, 81 Reykjavik (Gipfel) 9, 66 ff., 76 f., 97 Rote Armee 88 Schlesiertreffen 28 f. SDI 12, 26, 28, 30 ff., 33 f., 39, 40, 42, 64, 87 SED 26, 41 f., 87

Sachwortverzeichnis SPD 26, 40, 42 f., 68 (Fn.) SS20 12, 24, 26, 33 f., 39, 72, 87 Stationierungsbeschluss 26 f., 35, 64 Trauerfeier Tschernenko 21 f. Tschernobyl 59 ff. UN-Generalversammlung 47, 49 Vertriebene 28 f., 97 Viermächteabkommen (Berlin) 11

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Warschauer Pakt 49, 89 Wehrkundetagung (BK Kohl) 28 Westbindung (BR Deutschland) 24 f., 27, 39, 83, 88, 95 Wiedervereinigung 81, 82 ff., 90 f., 95 f. Wintex-Cimex 25 Wirtschaftsreformen (SU) 22, 46, 54, 58, 77 ZK-Plenum 14, 22, 44, 63, 77, 89