Der böse Blick des Mondes: Zehn Erzählungen aus der Karibik 9783968690100

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Der böse Blick des Mondes: Zehn Erzählungen aus der Karibik
 9783968690100

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Der böse Blick des Mondes

Vervuert

Dieter Masuhr, dem Compa de los Compañeros

Der böse Blick des Mondes Zehn Erzählungen aus der Karibik Herausgegeben von Peter Schultze-Kraft

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

CIP-Titebufnahme der Deutschen Bibliothek Der böse Blick des Mondes: 10 Erzählungen aus d. Karibik / Peter Schultze-Kraft (Hrsg.). - Frankfurt (Main) :Vervuert, 1988 ISBN 3-89354-314-7 NE: Schultze-Kraft, Peter [Hrsg.] Umschlaggestaltung: Michael Konrad unter Verwendung des Gemäldes Façade Sud de la maison de Philomé Obin (1949) von Philomé Obin (Haiti) © bei den Autoren, bzw. ihren Rechtsnachfolgern; Abdruck des Textes von G. García Márquez mit freundlicher Geneh migung des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Köln ® dieser Ausgabe: Vervuert Verlag Frankfurt am Main 1988 Alle Rechte vorbehalten Printed in West Germany

Peter Schultze-Kraft Einführung 7 José Luis Gonzalez Der Blackout 15 John Heame Eine Dorftragödie 29 V. S. Naipaul Der größte Dichter der Welt 45 Dimas Lidio Pitty Pferde niesen im Regen 53 Gabriel Garcia Marquez Baltazars wundervoller Nachmittag 73 Alejo Carpentier Der böse Blick des Mondes 83 José Ijezama Lima Der lila Hof 99 Wilson Harris Donnes zweite Fahrt 113 Frankétienne Clodonis, der Zombie 117 Julian Egea Martinez Patient 315 123 Die Autoren 140

Einführung Der erste, der mir etwas über die Karibik gesagt hat, war mein Freund Mario in Bogotá. Das ist dreißig Jahre her, und Kolumbien hatte gerade die Violencia hinter sich, einen anachronistischen Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der beiden traditionellen Parteien, der über 200000 Menschenleben gekostet hat. Bemerkenswerterweise hatte die Violencia in dem hauptsächlich von Weißen und Mestizen bewohnten Inland Kolumbiens gewütet und nicht an seinen Küsten, wo die Bevölkerung überwiegend schwarz ist. Mario hatte auf seiner Farm bei Santa Marta, am Karibischen Meer, Ferien gemacht. Als die Hündin auf der Farm Junge bekam, befahl Mario den Arbeitern, die Welpen zu töten. Die Arbeiter sagten zu, den Befehl auszuführen. Am nächsten Tag tummelten sich die Welpen auf der Veranda. Mario wiederholte seine Anweisung, und die Arbeiter versicherten, ja, wir ertränken sie gleich. Als die Ferien zu Ende waren, waren die jungen Hunde immer noch am Leben. Mario erzählte die Geschichte später in Bogotá, tief beeindruckt — nicht vom Ungehorsam der Leute an der Küste, sondern von ihrem »respeto a la vida«, der Achtung vor dem Leben, die sie ihm diskret vorexerziert hatten. Die Liebe zum Leben ist sicher das hervorstechende Merkmal der Menschen der Karibik, und von der Liebe zum Leben sind alle ihre sozialen und künstlerischen Äußerungen geprägt. »Ich habe eine unbezähmbare Leidenschaft für das Leben«, sagt Gabriel García Márquez, »ich lebe begeistert. Es ist das Beste, was je erfunden wurde. Und ich glaube nicht, daß es mehr als ein Leben gibt. In diesem Sinn erscheint mir der Tod als ein schlimmer Bubenstreich. Für mich ist der Tod das Ende, der Abschluß von allem, die größte Falle überhaupt. Ich hasse den Tod.« Vielleicht zeigt dieses Zitat am besten, welche Welten zwischen dem Karibier García Márquez und dem Argentinier Jorge Luis Bor7

ges liegen: Borges antwortete auf Liliane Hekers Frage, was ihm der Tod bedeute: »Eine große Hoffnung. Die Hoffnung, daß ich aufhöre zu sein.« Liebe zum Leben heißt aber nicht überschäumende Lebenslust und ekstatischer Glücksgenuß, Calypso, Rum und Sex, wie das Karibik-Klischee behauptet. Die karibische Liebe zum Leben kommt aus der »Traurigkeit der Tropen«, aus jahrhundertelangem Leiden und Kampf ums Uberleben, aus der Vertrautheit mit dem Tod, der allezeit gegenwärtig ist. Pablo Neruda hat ein schönes Gedicht über die Neger der Karibik geschrieben, in dem es heißt: »Und nach all dem Leid, das ihr erduldet, — nachdem ihr bis zum Grab Zuckerrohr geschnitten und im Wald die Schweine gehütet und die schwersten Steine geschleppt und Pyramiden von Wäsche gewaschen und schwerbeladen die Stufen hinaufgestiegen und ohne eine Menschenseele am Wegrand geboren und nie einen Teller oder Löffel besessen und mehr Prügel als Lohn bezogen und den Verkauf der Schwester erlitten und ein Jahrhundert lang Mehl gemahlen und nur einmal pro Woche richtig gegessen und immer wie ein Pferd gelaufen, Kartons mit Sandalen ausgetragen, den Besen und die Säge geführt und Wege geschlagen und Berge gehöhlt und erschöpft, mit dem Tod, auf euer Lager gesunken und jeden Morgen wieder zu leben angefangen —, nach all dem habt ihr gesungen, gesungen, wie sonst keiner singen kann, mit dem Leib und der Seele gesungen.« Doch wie es möglich ist, daß die Menschen der Karibik nach so viel Leid zu den höchsten Äußerungen der Lebensfreude, der Musik und dem Tanz, fähig sind, kann uns der Chilene Neruda 8

nicht, das kann uns nur ein Dichter der Karibik sagen: »Bailar es encontrar la unidad que formati los vivientes y los muertos« —»Tanzen heißt, die Einheit finden, die Lebende und Tote bilden« (José Lezama Lima). Die Fähigkeit, die Einheit zu finden, ist eine weitere karibische Qualität. In der Karibik haben sich die Völker, Rassen und Sprachen aller Kontinente gemischt. Hier fließen das geistige und ethnische Erbe der Eroberer und Siedler aus Europa (Spanier, Engländer, Franzosen, Portugiesen, Holländer, Dänen), der aus Afrika eingeführten Negersklaven, der indischen und chinesischen Kulis und — an den Küsten des Festlands — der indianischen Stämme zusammen. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze bilden die etwa 40 Millionen Menschen, die rund um das »Mittelmeer der Neuen Welt« leben, so etwas wie eine Kultur- und Schicksalsgemeinschaft. Alle haben sie jahrhundertelang unter Gewalt und Unrecht gelitten, alle sind sie geprägt vom erdrückenden System der Plantagenwirtschaft, allen steckt die Sklaverei noch in den Knochen; und gemeinsam ist ihnen die Kraft zur Selbstbehauptung, ihr schöpferisches Talent und ihre Humanität oder, wie Edward Brathwaite aus Barbados gesagt hat, die »Unschuld der Seele, eine moralische Integrität und innere Ausgeglichenheit, über die wir bloß staunen können«. Viele ihrer Kenner und Liebhaber sind überzeugt, daß die Karibik die Wiege einer neuen universalen Kultur ist, eine Vision, die sich in der Literatur schon selbstbewußt manifestiert: »Die Herrschaft des Weißen geht zu Ende, und die Herrschaft des Menschen fängt an.« (Paul Laraque, Haiti) In der vorliegenden Auswahl habe ich die zehn Texte zusammengefaßt, die meiner Ansicht nach das Wesen der Karibik und das Genie ihrer Menschen am besten ausdrücken. Als Einstieg bot sich José Luis Gonzalez' Portorikaner-Geschichte aus New York an, weil sie den Unterschied zwischen einer von Technik und Materialismus dominierten Welt und der »emotionalen Ordnung«, in der die Menschen der Karibik zu Hause sind, 9

besonders deutlich macht. Ferner durften die Altmeister Alejo Carpentier, V. S. Naipaul und Gabriel Garcia Marquez nicht fehlen, die nach drei lyrischen Höhepunkten — José Marti (Kuba), Ruben Dario (Nicaragua), St.-John Perse (Guadeloupe) — der karibischen Prosa-Literatur zu Weltgeltung verholfen haben. Die bei uns unbekannte Erzählung »Der böse Blick des Mondes« ist eine echte trouvaille; Carpentier hat sie Anfang der dreißiger Jahre, als er sich mit Kubas afrikanischen Wurzeln beschäftigte, auf Französisch geschrieben und in einer Pariser Zeitschrift veröffentlicht. Der Text ist ein besonders schönes Beispiel für die Symbiose der Kulturen in der Karibik, von der ich oben gesprochen haben. Etwas weniger bekannt, doch nicht weniger faszinierend sind John Hearne und José Lezama Lima. Lezama scheint etwas aus dem Rahmen zu fallen, da seine Literatur einem nicht emotional unter die Haut geht, sondern wegen der Virtuosität der Sprache und der ungewöhnlichen Bilder den Atem verschlägt. Manche lehnen ihn als rhetorisch ab; andere sehen in ihm ein Phänomen, bei dem sich ein Höhepunkt der barocken spanischen Literatur, wie sie zur Zeit Góngoras (1561 — 1627) geschrieben wurde, ohne Kausalzusammenhang 400 Jahre später als tropische Variante wiederholt. Ich finde Lezama in höchstem Maße erfrischend, weil er uns durch das Feuerwerk seiner Phantasie und seine abenteuerliche Metaphorik das schönste geistige Erlebnis — Staunen — beschert und uns beweist, daß man mit Sprache wirklich zaubern kann. Kein größerer Gegensatz ist denkbar als der zwischen Lezama Lima und Frankétienne, von der Nachbarinsel. Frankétienne hat seine ersten Werke auf Französisch geschrieben, bevorzugt aber seit seinem siebten Buch das Créole, die Volkssprache Haitis und der Französischen Antillen, weil er, wie er sagt, in dieser Sprache die Tragödie seines Volkes besser ausdrücken kann. In der Ubersetzung geht viel von der Eckigkeit, Kraft und Plastizität des Créole verloren. An Frankétiennes Text liegt mir besonders viel, weil er gegenüber den Zombie-Perversionen, die unsere Kinos bieten und in denen sich nur die Abartigkeit unse10

res eigenen Geschmacks spiegelt, zeigt, was ein Zombie wirklich ist: ein ausgebeuteter, bedauernswerter Mensch. Es gibt zum Schicksal des haitianischen Volkes keine treffendere Analogie als das Zombie-Thema. Meine persönliche Lieblingsgeschichte in diesem Buch ist »Pferde niesen im Regen«, mein Lieblingsautor Wilson Harris. Harris kommt aus Guyana und ist bei uns unbekannt, obwohl er seit einigen Jahren auf der Vorschlagliste für den Literatur-Nobelpreis steht. Dieser Schriftsteller wirkt auf den Leser durch Bewußtmachung von innen heraus, nicht durch Überredung; er geht nicht nach einem logischen, ausgeklügelten Plan vor, sondern erfaßt die Welt intuitiv und in ihrer Ganzheit, das Koexistieren und einander Bedingen von Fossil und Fruchtbarkeit, von Flut und Dürre, von Alter und Jugend, von Vergänglichem und Ewigem. Wenn die Felsen im Strom in der Sonne blinken, wird die vordergründige Sensation von Licht überlagert von Düsternis, von der Ahnung eines Unheils. »(Mein Bruder) war ich selbst und stand außerhalb von mir, während ich innerhalb von ihm stand« — mit diesem Satz wird die schwarzweiß Abstempelung des Menschen überwunden und die Integrität seines Wesens, das sich aus verschiedenen, auch widersprüchlichen Elementen zusammensetzt, wiederhergestellt. Oft ist es ein Nichts (zum Beispiel eine Muschel im tobenden Wasser, ein Traum oder eine Erinnerung), das als Schwelle zu einer nicht faßbaren, nicht strukturierbaren Realität dient, ganz im Sinne von Goethes Wort: »Die Töne verhallen, aber die Harmonie bleibt.« Diese wenigen, ganz und gar unvollständigen und ungenügenden Kommentare lassen ahnen, mit was für einem komplexen und weiten Geist wir es bei Wilson Harris zu tun haben. Er ist ein Genie Kein Wort steht bei ihm zufällig an seinem Platz. Ob sein Werk bei uns ankommen wird, wird im wesentlichen von der Qualität der Ubersetzung abhängen. Mit den hier vertretenen zweieinhalb Seiten aus seinem ersten Roman habe ich versucht, einen Maßstab zu setzen. Eine literarische Erkundung der Karibik ist nicht denkbar ohne einen Beitrag aus dem Land der Dichter par e x c e l l e n c e , 11

Nicaragua, und ein solcher Beitrag muß heute, im Jahr 1988, einen politischen Bezug haben. Ich habe deshalb ein testimonio, das Zeugnis eines sandinistischen Soldaten vom Krieg der Contras gegen das nicaraguanische Volk, ausgewählt. Es ist der schmerzhafteste Text dieses Buches, weil er über die Literatur hinausgeht und weil das Opfer, der Autor, noch lebt. Die Lektüre führt zu einer Frage: Wer ist für die Verbrechen der Contras verantwortlich? Wer hat sie ausgebildet, ihnen Lager und Flugplätze im Nachbarland gebaut, wer gibt ihnen Waffen, Ausrüstung, Sold. Die Nation Abraham Lincolns und Theodore Roosevelts, die am Scheideweg zwischen ihren ältesten Traditionen — Nächstenliebe (helfen) und Imperialismus (töten) — stand, hat sich in ihrer pragmatischen Art für beides entschieden: lethal aid, Tötungshilfe. Liebe zum Leben, Nähe zum Tod — wäre dies ein Motto, mit dem die karibische Literatur sich fassen ließe? Immer spielen die Toten eine wichtige Rolle. Im ersten Roman von Patrick Chamoiseau (Martinique) bittet ein Totengräber seinen Sohn, ihm bei der Arbeit zu helfen. Im Friedhofswärterhäuschen »lauschte das Kind nachts dem lebhaften Treiben in den Grüften. Die Erdhügel und Grabplatten bebten vom Leid und vom Lieben. Wenn der Junge sich darüber wunderte, blickte ihn sein Vater mit den Augen des abnehmenden Mondes an und murmelte, bevor er wieder in langes Schweigen fiel: ,Ach, Kleiner, was du nicht weißt, ist noch viel größer als du.'« Später müssen sie einen Mann beerdigen, der aus Schreck über die Erscheinung seiner sechsten Tochter, die ihm seine verstorbene Frau im Jenseits geschenkt hatte, gestorben war. »Vater und Sohn besprachen wie gewöhnlich, wo sie den Neuankömmling unterbringen könnten. ,Am besten, wir begraben ihn an der Friedhofsmauer, Papa. Da er Maurer war, wird er sie uns von Zeit zu Zeit reparieren können.'« Eine andere gespenstische Geschichte erzählt Roy Heath (Guyana) von einem Landsmann, der in London arbeitet und jeden Abend mit der Underground nach Hause fährt: »Eines Abends stand ich wie immer auf dem überfüllten Bahnsteig und 12

wartete auf die U-Bahn. Sobald der Zug eingefahren war, bildete sich vor jeder Tür ein Menschenkeil, der ins Wageninnere vorstieß. Ich war mitten in so einem Keil drin und arbeitete mich mit den Ellbogen langsam nach vorn — da bleibe ich plötzlich wie vom Schlag getroffen stehn, denn was sehe ich in dem Wagen? Der Wagen war vollgestopft mit Geistern. Mit toten Menschen, verstehen Sie? Sie saßen still und steif nebeneinander, ohne die geringste Bewegung. Den Leuten um mich herum schien das nichts auszumachen. Sie drängten und schoben weiter, um in den Wagen reinzukommen. Doch ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen, ich schloß meine Augen und ließ den Zug sausen.« Der Erzähler geht zum Arzt, läßt sich ein Medikament verschreiben, spannt ein paar Tage aus und geht am nächsten Montag frisch und erholt wieder zur Arbeit. Doch am Abend passiert ihm dasselbe: »Während der Zug langsam zum Halten kam, kurz bevor die Türen aufgingen und das Geschubse anfing, sah ich sie wieder in dem Wagen vor mir, ein ganzer Wagen voll mit Toten, Tote, denen die Augen ausgemeißelt waren. Ich konnte nicht anders, ich mußte sie anstarren, bis der Zug sie fortgetragen hatte, wer weiß, wohin. Am nächsten Tag buchte ich den Flug nach Guyana zurück.« Diese zwei Texte könnten der Schlüssel sein: In der Karibik leben sogar die Toten, und bei uns sind sogar die Lebenden tot. Wien, im Herbst 1988

Peter Schultze-Kraft

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José Luis González

Der Blackout O b ich mich daran erinnere? Also wenn du's genau wissen willst, das ganze Viertel erinnert sich daran, so was vergißt selbst Trompoloco nicht, der dir nicht mehr sagen kann, wo er vor zwei Wochen seine Mutter beerdigt hat. Ich kann dir das besser erzählen als sonst jemand, weil es nicht die einzige Aufregung für mich war an jenem Tag. Aber erst bestellen wir uns ein schönes Kühles, denn bei dieser Affenhitze trocknet einem glatt das Hirn ein. So, dann also Prost! Glück und Gesundheit! Und Kraft auch, na du weißt schon, wofür. Also, das liegt jetzt vier Jahre zurück, ich kann's dir sogar auf den Monat und Tag genau sagen, denn ich brauche bloß den kleinen Dickwanst anzuschaun, den du heute morgen erlebt hast. Ja, der größere natürlich, der genauso heißt wie ich und den wir Estrella oder Luz Maria oder so ähnlich hätten taufen müssen, wenn er ein Mädchen geworden wäre. Oder sogar Milagros, denn das war wirkl i c h . . . Aber wenn ich weiterrede, erzähle ich dir die Geschichte von hinten rum. Also schön der Reihe nach. Das Datum weißt du sowieso, und außerdem interessiert dich ja was anderes. An diesem Tag also sage ich zum Foreman, einem Juden, netter Kerl, der ein bißchen Spanisch konnte, er soll mir einen Overtime geben, weil ich die Moneten für die Entbindung meiner Frau brauche, die schon im neunten Monat war und gar nicht mehr aufhörte, mir vorzurechnen, was das alles kosten würde: die Wiege, die Hebamme und so weiter. Sie wollte das Kind nämlich unbedingt zu Hause kriegen und nicht in der Klinik, wo die Arzte und Schwestern kein Spanisch können und wo es außerdem teurer kommt. U m vier Uhr war ich mit meiner ersten Schicht fertig und ging einen Sprung zu dem Fast-Food-Italiener vor der Fabrik, schließlich brauche ich was im Magen, bis meine Frau mir am Abend das Essen aufwärmt. Also, ich schlinge ein Paar H o t 15

Dogs runter und gieße ein Bier hinterher, und dabei werfe ich einen Blick in die spanische Zeitung, die ich am Morgen gekauft hatte, und da lese ich das von dem Mexikaner, der sein Mädchen in Stücke gehauen hat, weil sie was mit einem Chinesen hatte, und in dem Moment, ich weiß ja nicht, ob du darauf was gibst, aber in dem Moment hatte ich plötzlich so ein komisches Gefühl. Das heißt, ich spürte, daß in dieser Nacht noch was Besonderes passieren würde, obwohl ich nicht hätte sagen können, was. An so was glaubt man eben oder nicht. Du wirst vielleicht sagen, was hat denn das mit dem Mexikaner und dem Mädchen und dem Chinesen zu tun, daß ich was zu ahnen begann. Ahnen, das ist das richtige Wort, denn gedacht hab ich's nicht, denken geht anders. Ich legte also die Zeitung weg und flitzte in die Fabrik zurück, um mit dem Overtime anzufangen. Da sagt der andere Foreman, der erste war schon gegangen, zu mir: Du willst wohl Millionär werden und in Puerto Rico ein Kasino aufmachen! Damit wollte er mich natürlich aufziehen, verstehst du, aber ich ging darauf ein: Nein, ein Kasino hab ich schon, jetzt will ich mir 'ne Fabrik zulegen. Und er: Was für eine Fabrik denn? Und ich: Eine Rauchfabrik. Da fragt er: Und was machst du mit dem Rauch? Und ich, ohne eine Miene zu verziehen: Was ich damit mache? In Dosen abfüllen natürlich! Für so einen Jux war dieser Foreman immer zu haben, er war noch umgänglicher als der andere Aber natürlich nur, weil sich das für ihn bezahlt macht, verstehst du. Wenn er uns bei Laune hält, kann er doppelt so viel aus uns rausholen. Er glaubt, ich merk das nicht, aber irgendwann werd ich's ihm aufs Butterbrot schmieren, damit er nicht denkt, ich laß mich für dumm verkaufen. Die Leute hier glauben manchmal, unsereiner ist auf der Nudelsuppe dahergeschwommen und kann Sandpapier nicht von Klopapier unterscheiden, besonders wenn er dunkle Haut und einen Krauskopf hat. Aber das kennst du ja, und eigentlich will ich was ganz anderes erzählen. Wenn es bloß nicht so heiß wäre, und Bier haben wir auch keins mehr. Nochmal dasselbe, okay? Also, wie gesagt, nachdem der Foreman mich auf die Schippe nehmen 16

wollte und ich ihm den Gefallen nicht getan habe, fing die Arbeit an. Denn das sind hier zwei Paar Stiefel: Spaß ist Spaß, und Arbeit ist Arbeit. Time is money, du weißt ja. Auf dem Fließband kamen die Radios vorbei, und ich mußte die Röhren montieren. Zwei in jedes Gerät, in jeder Hand eine. Klack, klack. Am Anfang, als ich noch nicht eingearbeitet war, fuhr mir so ein Ding glatt davon, und ich mußte ihm wie ein Irrer nachlaufen und gleichzeitig auf das nächste aufpassen, das schon angesaust kam. Wenn ich mit der Arbeit fertig war, hat mein Körper gezuckt, als hätte ich den Veitstanz. Das ist bestimmt der Grund dafür, warum in diesem Land so arg gesoffen wird und warum es so viele Verbrechen gibt. Denn wenn einer total abgewirtschaftet ist, braucht er einen kräftigen Schluck, egal, was, Hauptsache, es betäubt dich etwas, und so wirst du im N u zum Säufer. Deshalb werden die Frauen besser mit der Arbeit in der Fabrik fertig, weil die reagieren sich mit ihrem dauernden Klatschen und Tratschen ab, verstehst du. Nun, ich hatte also schon eine Zeitlang Röhren montiert und dachte an nichts weiter, als plötzlich der Foreman kommt und sagt: H e , da ist jemand für dich. Und ich sage: Für mich? N a klar, sagt er, oder gibt's hier noch einen, der so heißt? Sie stellten also einen anderen auf meinen Platz, damit die Arbeit nicht darunter litt, und ich ging nachsehen, wer da was von mir wollte. Es war Trompoloco. E r redet nicht lange herum, sondern kommt gleich zur Sache: D u sollst sofort nach Hause kommen, deine Frau kriegt 'n Kind. Glaub mir, genau so hat er's gesagt. Der arme Teufel ist nämlich in Puerto Rico aus der Hängematte gefallen, als er noch klein war, und zwar auf den Kopf, wenn man seiner Mutter, Gott hab sie selig, glauben darf, und seitdem ist bei ihm 'ne Schraube locker. Es gab eine Zeit, da fing er plötzlich an, sich wie verrückt im Kreis zu drehen, und hörte nicht auf, bis ihm schwindelig wurde und er zu Boden fiel. Daher sein Spitzname Trotzdem behandelt ihn keiner schlecht, weil seine Mutter eine hochangesehene Frau war, ein spiritistisches Medium, weißt du, sie hat vielen geholfen und nichts dafür verlangt. Man gab ihr, was man konnte, ja?, und wenn 17

man nichts hatte, war's auch recht. Darum kümmern sich jetzt so viele Leute um Trompoloco. Er hat nämlich keinen Vater und keine Geschwister und steht, wie man sagt, allein auf der Welt. Wie Trompoloco also so unerwartet auftaucht und sagt, ich soll mitkommen, sage ich: Mensch Mama, was mache ich jetzt? Der Foreman, der alles mitgekriegt hatte, denn diese Luchse lassen einen bei der Arbeit keine Sekunde aus den Augen, er kommt also und fragt mich: Was hast du für Trouble? Und ich sage: Der will mich abholen, weil meine Frau ein Baby bekommt. Da sagt der Foreman: Na und worauf wartest du noch? Du mußt nämlich wissen, dieser Foreman war auch Jude, und bei den Juden kommt die Familie immer zuerst. In diesem Punkt sind sie nicht wie die anderen Amerikaner, bei denen sich Kinder und Eltern und die Geschwister untereinander die schlimmsten Schimpfwörter und sonst was an den Kopf schmeißen. Ich weiß nicht, ob das wegen dem Leben ist, das die Leute in diesem Land führen. Immer hinter dem Dollar her, wie die Hunde auf der Rennbahn hinter dem Stoffhasen. Hast du das schon mal gesehn? Sie rennen, bis ihnen die Lunge raushängt, aber den Hasen erwischen sie nicht. Natürlich kriegen sie zu fressen und werden ordentlich behandelt, damit sie am nächsten Tag wieder rennen: Genauso wird's mit den Menschen gemacht, oder etwa nicht? Wie mich der Foreman also fragt, worauf ich noch warte, sage ich: Auf nichts, ich bin ja schon weg, damit mein Kind nicht früher ankommt als ich. Ich war ganz aus dem Häuschen vor Glück, denn es war mein erstes Kind, du weißt ja, wie das ist. Der Foreman sagt zu mir: Vergiß nicht, deine Karte zu punchen, damit du die halbe Stunde kassierst, die du gearbeitet hast, denn von jetzt an brauchst du jeden Cent. Und ich sage zu ihm: Na und ob, nehme meinen Coat, punche die Karte und sage zu Trompoloco, der dasteht und die Stechuhren anglotzt: Vorwärts, Trompo, sonst kommen wir zu spät! Wir rennen die Stufen runter, ohne auf den Aufzug zu warten, und kommen auf die Straße, die ganz schön crowded war, denn um diese Zeit kamen immer noch Leute von der Arbeit. Ich sage: Verdammt 18

nochmal, jetzt komm ich auch noch in den Rush hinein! Aber Trompoloco zieht nicht: Warte einen Moment, ich will mir nur schnell ein Doughnut kaufen. Das ist typisch Trompoloco, siehst du, er ist wie ein Kind. Man kann ihn eine Besorgung machen lassen, wenn es nichts Kompliziertes ist, oder Treppenwischen in einem Building oder sonst was, wo er nicht denken muß. Aber wenn man das Hirn dazu braucht, dann such dir lieber einen andern. Ich sage also zu ihm: Trompo, zum Teufel mit deinem Doughnut! Das kannst du doch in unserm Viertel kaufen, wenn wir da sind. Darauf er: Nein, nein, die in unserm Viertel schmecken mir nicht. Die ich will, die kriegt man nur in Brooklyn. Und ich: Du bist ja verrückt - aber im selben Moment tut's mir schon leid, weil das das einzige ist, was man nicht zu Trompoloco sagen darf. Er bleibt mitten auf der Straße stehen, ernster als eine Anschlagsäule, und sagt: Nein, nein, nicht verrückt. Und ich: Nein, Mensch, das hab ich doch gar nicht gesagt, ich hab albern gesagt. Du hast schlecht verstanden. Komm schon, das Doughnut bring ich dir morgen! Aber er läßt nicht locker: Hast du auch bestimmt nicht verrückt zu mir gesagt? Und ich: Ganz bestimmt nicht! Darauf er: Und morgen bringst du mir zwei Doughnuts? Siehst du, verrückt hin und verrückt her, aber auf seine Rechnung kommt er. Ich kann mir das Lachen kaum verbeißen und sage: Klar, Alter, sogar drei, wenn du willst. Wir tauchten also in die Subway-Station hinunter und ließen uns in der Menschenmenge auf den Bahnsteig spülen. Ich paßte auf, daß Trompoloco nicht zurückblieb, denn bei diesem Geschubse und Geschiebe bekam er womöglich Angst und konnte irgend eine Dummheit machen. Wie der Zug einfährt, packe ich ihn am Arm und sage zu ihm: So, jetzt los! Drück dich mit aller Kraft vorwärts, sonst kommen wir nicht mit. Und er sagt: Nur keine Sorge, und wie die Tür aufgeht und alles herausströmt, drängen wir so lange nach vorn, bis wir völlig eingekeilt im Wagen standen, nicht mal die Arme konnten wir bewegen. Das hatte auch sein Gutes, denn so brauchten wir uns nicht festzuhalten. Trompoloco war etwas verstört, ich glaube, es war das 19

erstemal, daß er um diese Zeit mit der Subway fuhr, aber schließlich war ich dabei. Wir fuhren bis zum Columbus Circle, und dort stiegen wir um, denn wir wollten ja zur Ecke Hundertzehnte/Fünfte und von dort zu Fuß nach Hause. Ich zählte die Minuten und fragte mich, ob mein Sohn wohl schon da war und wie es meiner Frau geht. Und plötzlich fährt es mir durch den Kopf: Ich rechne so fest mit einem Jungen, und was, wenn es ein Mädchen wird? Du weißt ja, man wünscht sich als erstes immer einen Jungen. Eigentlich egoistisch, denn für die Mutter ist es besser, wenn das Alteste ein Mädchen ist, das ihr später bei der Hausarbeit und mit den jüngeren Geschwistern helfen kann. Ich fühlte mich schon ganz als Familienvater, siehst du, als plötzlich... Und jetzt fängt die Geschichte an! Das Licht geht aus, und der Zug wird langsamer, bis er mitten im Tunnel zwischen zwei Stationen stehen bleibt. Das war noch kein Grund zur Beunruhigung. Du weißt ja, das ist normal, daß die Lichter in der Subway manchmal ausgehn. Sie gehen ja gleich wieder an, und die Leute zucken nicht mal mit der Wimper. Und auch, daß der Zug langsamer wird, bevor er in eine Station einfährt, ist nichts Besonderes. Daher dachte sich zunächst auch keiner etwas. Das Notlicht wurde eingeschaltet, und alles schien in Ordnung. Aber die Zeit verging, und der Zug rührte sich nicht von der Stelle. Ich dachte: Verdammtes Pech, grad jetzt, wo ich's eilig habe. Doch ich glaubte immer noch, es würde gleich weitergehen, verstehst du? So vergingen vielleicht noch drei Minuten, als eine Frau zu husten anfing. Eine Amerikanerin, schon ein bißchen älter, die direkt neben mir stand. Ich schaute sie an und sah, daß sie hustete, obwohl sie eigentlich gar nicht mußte, und dachte: Das ist kein Husten, das ist Angst. Es verging noch eine Minute, und der Zug stand immer noch, da sagte die Frau zu dem Burschen vor ihr, einem großen blonden Kerl, mit einem Gesicht wie ein Ire, zu dem sagte die Frau: Hören Sie, junger Mann, kommt Ihnen das nicht komisch vor? Und er sagt zu ihr: Nein, machen Sie sich keine Sorgen, das hat nichts zu bedeuten. Aber die Frau gab sich damit nicht zufrieden und hüstelte weiter, und jetzt versuchten andere Fahrgäste, 20

aus dem Fenster zu schauen, aber weil sie sich kaum rühren konnten und weil es draußen dunkel war, sahen sie nichts. Nun, die Zeit verging, und ich bekam einen Krampf in einem Bein und wurde jetzt auch nervös. Nein, nicht wegen dem Krampf, sondern weil ich dachte, daß ich nicht mehr rechtzeitig nach Hause komme. Ich sagte mir: Da muß doch etwas passiert sein, das dauert schon zu lange, daß wir hier stehen. Und weil ich sonst nichts zu tun hatte, setzte ich mein Hirn in Bewegung, und da war mir sofort klar: Selbstmord. Das war schließlich das Nächstliegende, oder? Du weißt ja, hier gibt's haufenweise Leute, die sich selbst nicht ausstehen können, und dann steigen sie aufs Empire State und springen runter. Ich glaube, die sind schon tot, bevor sie unten ankommen, wegen der langen Zeit, die sie fallen. Andere wieder werfen sich vor die Subway, und was von ihnen übrigbleibt, muß man mit einer Schaufel aufsammeln. Die anderen, die vom Empire State springen, die saugt man wohl mit Löschpapier auf. Aber im Ernst, denn darüber soll man keine Witze machen, ich stellte mir vor, daß sich einer vor den Zug geworfen hatte, der vor uns fuhr, und ich dachte sogar: Er möge in Frieden ruhen, aber in die Quere gekommen ist er mir trotzdem, denn jetzt schaffe ich es bestimmt nicht mehr. Meine Frau mußte glauben, Trompoloco hat sich verlaufen oder ich kurve irgendwo besoffen herum und es ist mir völlig gleich, was zu Hause passiert. Ich bin zwar kein Trinker, aber hin und wieder, na, du verstehst schon... Und da wir gerade beim Thema sind, wie war's, wenn wir jetzt mal 'ne andere Marke nehmen, aber schön kalt muß es sein, sonst ist die' Hitze nicht auszuhalten. Aaah! Das tut g u t . . . Wo bin ich stehengeblieben? Ach ja, wie ich also an den Selbstmord und den anderen Quatsch denke, da öffnen sich plötzlich - zack! - die Türen des Zuges. Ja, stell dir vor, mitten im Tunnel. Und weil ich so was noch nie erlebt hatte, dachte ich: Jetzt brennt der Hut. Und dann sehe ich, daß da unten ein paar Inspektoren standen oder so was Ähnliches, weil sie Uniformen anhatten und solche Laternen trugen. Einer von ihnen sagt zu uns: Take it easy, kein Grund 21

zur Aufregung. Steigen Sie langsam aus, ohne zu drängeln. Die Leute fingen an rauszuklettern und fragten diesen Mister: Was ist los, was ist los? Und er: Wenn alle unten sind, werd ich's Ihnen sagen. Ich faßte Trompoloco am Arm und sagte: Hast du gehört? Keine Gefahr. Aber bleib ganz dicht bei mir. Er nickte bloß, ich glaube, der Schrecken hatte ihm die Sprache verschlagen. Er sah aus, als würden ihm die Augen jeden Moment aus den Höhlen fallen. Sie waren groß wie Teller und leuchteten richtig in der Dunkelheit, wie bei einer Katze. Wir stiegen also aus, bis keiner mehr drin war. Als wir alle unten standen, gingen die Inspektoren die Reihe ab und erklärten uns, immer einer Gruppe nach der andern, verstehst du, daß es einen Blackout gegeben hat, das heißt, daß in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen sei und daß man nicht wußte, wann er wiederkäme. Da fragte die Frau mit dem Husten, die in meiner Nähe stand, den Inspektor: Hören Sie, warum gehen wir nicht weg von hier? Und er sagte: Wir müssen etwas warten. Es sind ein paar Züge vor uns, und wir können nicht alle gleichzeitig raus. Da saßen wir also fest. Ich dachte: Verdammtes Pech, ausgerechnet heute muß das passieren, als ich spüre, wie Trompoloco mich am Ärmel von meinem Coat zupft und ganz leise, als war's ein Geheimnis, zu mir sagt: Du, ich muß mal. Stell dir das vor! Das hatte gerade noch gefehlt. Ich sage zu ihm: Du, Trompo, sei gut und halt's aus, siehst du nicht, daß das hier nicht geht? Darauf er: Aber ich muß schon die ganze Zeit, und jetzt kann ich nicht mehr. Ich schalte mein Hirn also auf Schnellgang, denn das war schließlich eine Emergency, oder? Aber das einzige, was mir einfällt, ist, den Inspektor zu fragen. Ich sage zu Trompoloco: Na gut, warte einen Moment, aber rühr dich nicht vom Fleck. Und ich trete aus der Reihe raus und geh zum Inspektor und sage: Listen, mister, my friend wanna take a leak, das heißt: Mein Freund will mal 'ne Stange Wasser in die Ecke stellen. Der Inspektor sagt: Goddamit to hell, can't he hold it in a while? Ich sage, das hab ich ihm auch gesagt, aber er hält's nicht mehr aus. Darauf sagt er, er soll in Gottes Namen pinkeln, wo er kann, aber möglichst weit weg. Ich gehe zu 22

Trompoloco zurück und sage: Komm mit, vielleicht finden wir da hinten ein Plätzchen. Wir ziehen also los, aber die Schlange nimmt einfach kein Ende. Plötzlich zieht er mich wieder am Ärmel und sagt: Jetzt geht's nicht mehr, Brother. Darauf ich: Also meinetwegen, stell dich hinter mich, dicht an die Wand und paß auf, daß du mir nicht auf die Schuhe spritzt. Und mach langsam, damit man's nicht so hört. Ich hatte noch nicht ausgesprochen, da ging's schon l o s . . . Weißt du, wie sich das bei Pferden anhört? Ich sage dir, das war, als wären es zwei Pferde, nicht bloß eins. Ich versteh nicht, wieso seine Blase nicht geplatzt ist. Ich dachte: Du liebe Muttergottes, der macht mir sogar noch den Coat naß. Das war einer von diesen kurzen, die nicht einmal bis zum Knie reichen, ich geh gern mit der Mode, weißt du? Natürlich haben die Leute, die da standen, etwas gemerkt, denn ich hörte, wie sie anfingen zu tuscheln. Ich dachte: Zum Glück ist es dunkel, da kann keiner sehen, daß wir Portorikaner sind. Du weißt ja, wie das hier ist. Das alles geht mir durch den Kopf, und Trompoloco hört und hört nicht auf. Du lieber Himmel, Sachen passieren einem in diesem Land! Wenn man das später erzählt, glaubt's einem kein Mensch. Endlich ist Trompoloco fertig, oder ich glaubte wenigstens, daß er fertig war, weil es nicht mehr rauschte, aber die Zeit verging, und er rührte sich nicht von der Stelle. Ich sage zu ihm: He, bist du endlich fertig? Und er sagt: Ja. Darauf ich: Dann komm schon. Da sagte der Kerl: Warte, ich muß erst noch ausschütteln. Also weißt du, da reichte es mir aber. Ich sagte: Ja Menschenskind, ist das ein Gartenschlauch oder was? Los jetzt, wenn du nicht willst, daß uns die Leute auf den Leib rücken nach der Überschwemmung, die du gemacht hast! Da hat er endlich kapiert. Wir gingen also an die Stelle zurück, wo wir vorher gestanden hatten, und warteten vielleicht noch eine halbe Stunde. Die Leute um mich herum sprachen alle Englisch; sie sagten, was für ein Skandal, das darf doch nicht wahr sein, und schimpften auf den Bürgermeister und auf wer weiß wen alles. Und plötzlich höre ich, wie irgend wer dazwischen auf Spanisch sagt: Ist doch egal, ob man hier drinnen oder da draußen krepiert, besser noch 23

hier, dann muß die Regierung das Begräbnis zahlen. Es klang nach einem Portorikaner, der witzig sein wollte. Ich drehte mich um, um ihm zu sagen, keine Sorge, für dein Begräbnis kommt bestimmt der Tierschutzverein auf, aber in der Dunkelheit konnte ich ihn nicht erkennen. Das Dumme war, daß mir dieser Witz unter die Haut ging, glaub mir. Wenn man da rumsteht und nichts zu tun hat, ich mit meinen Sorgen und dann dieses Schlamassel: Weißt du, was mir da durch den Kopf gegangen ist? Stell dir vor, ich dachte, der Inspektor hat uns ein Märchen erzählt, und in Wirklichkeit ist der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Lach nicht, ich wette, ich war nicht der einzige, der das dachte. Ist ja auch kein Wunder bei allem, was die Zeitungen hier schreiben, über die Russen und die Chinesen und jetzt sogar die Marsmenschen mit ihren fliegenden UntertassenKlar. Was glaubst du, warum es in diesem Land so viele Verrückte gibt? Im Bellevue ist schon kein Platz mehr frei, bald werden sie noch ein Irrenhaus bauen müssen. Wie ich also diesen Blödsinn denke, da kommen die Inspektoren und sagen, daß wir jetzt an der Reihe sind, aber immer schön hintereinander und ohne zu drängeln. Wir setzen uns also in Bewegung und kommen schließlich zur Station, das war die von der Sechsundneunzigsten. Du siehst, wir waren gar nicht so weit von zu Haus, aber ein Katzensprung war's auch gerade nicht, denn es fehlten noch ein paar Straßen. Stell dir vor, das wäre uns in der Achtundzwanzigsten oder so passiert. Das wäre echt Scheiße gewesen. Sobald wir die Station erreichen, sage ich zu Trompoloco: Los, jetzt nichts wie raus. Wir rannten mit all den Menschen die Stufen hoch; es war wie in einem Ameisenhaufen, wenn du heißes Wasser drübergießt. Und wie wir auf die Straße kommen, Jesus Maria! Nein, stockfinster war es nicht, weil ja die Lichter von den Autos brannten und so. Aber dunkel war's schon, denn die Straßenbeleuchtung war aus und auch in den Häusern gab es kein einziges Licht. Jemand hatte sein Kofferradio angedreht, und weil er dieselbe Richtung hatte wie ich, ging ich neben ihm her und hörte, was das Radio sagte. Es war das gleiche, was uns der Inspektor unten im Tunnel 24

gesagt hatte Da wurde ich die Angst vor dem Krieg los. Aber dafür kam jetzt die andere wieder, die wegen der Entbindung meiner Frau, verstehst du? Ich sage zu Trompoloco: Also, Alter, jetzt heißt es, den zweiten Gang einschalten. Mal sehn, wer zuerst da ist! Und er sagt: Na ich! und lacht dabei, verstehst du, daß man richtig merkte, wie erleichtert er war. Wir gingen ziemlich flott los, weil es außerdem kalt war. Als wir durch die 103. oder so kamen, denke ich: Und ohne Licht zu Haus, wie haben sie das bloß mit der Entbindung gemacht? Womöglich mußten sie die Ambulanz rufen, dann erfahre ich nicht einmal, wo meine Frau hingekommen ist. Ein Unglück kommt selten allein. Ich glaube, wir haben keine fünf Minuten für den Endspurt von der 103. nach Hause gebraucht. Ich nichts wie rein und die dunkle Treppe rauf, nicht mal die Stufen hab ich gesehn... Und jetzt komme ich langsam zur Sache, die du hören willst, weil du an diesem Tag nicht in New York warst, stimmt's? Okay. Also bestellen wir noch zwei Bier, meine Kehle ist trockener als die Dünen von Sahnas, wo ich aufgewachsen bin. Also ich sage dir, in dieser Nacht hab ich den Weltrekord im Treppensteigen bei Dunkelheit gebrochen. Ich hab nicht mal darauf geachtet, ob Trompoloco mir nachkam. Als ich die Wohnungstür erreichte, hatte ich den Schlüssel schon in der Hand und steckte ihn auf Anhieb ins Schlüsselloch, als hätte ich es sehen können. Das erste, was ich sah, als ich die Tür aufmachte, waren vier Kerzen im Wohnzimmer und ein paar Nachbarinnen, die dort in aller Ruhe saßen und ihr Mundwerk auf Hochtouren laufen ließen. Heilige Jungfrau, das ist wirklich der Lieblingssport der Frauen! Ich glaube, wenn denen das Tratschen einmal verboten wird, gibt's eine größere Revolution als die von Fidel Castro. Aber wie die mich reinkommen sehen, kriegten sie einen solchen Schreck, daß sie auf der Stelle still waren. Noch dazu, wo ich nicht mal guten Abend sagte, sondern gleich lossprudelte: Sagen Sie, was ist mit meiner Frau? Wo ist sie? Hat die Ambulanz sie abgeholt? Da sagte eine von ihnen: Aber nein, sie ist da drin, und es geht ihr prima. Wir haben gerade gesagt, 25

für die erste Entbindung... Und in dem Moment hörte ich das Gequake, das aus dem Zimmer nebenan kam. Ich wußte zwar immer noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber eins kann ich dir sagen, es schrie lauter als Daniel Santos in seiner besten Zeit. Da sage ich zu der Frau: Entschuldigung, und reiße die Tür auf. Zuerst sah ich nichts als einen Haufen Kerzen, wie ein Kirchenaltar kam mir das ganze vor. Die Hebamme hantierte mit Waschschüsseln und Tüchern und solchen Sachen, und meine Frau liegt seelenruhig im Bett, aber die Augen hatte sie weit auf. Wie sie mich sieht, sagt sie mit schwacher Stimme: Ah, gut, daß du da bist. Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Stell dir vor, sie hat gerade eine Geburt hinter sich und macht sich Sorgen um mich! Ja, so sind die Frauen manchmal. Ich glaube, darum können wir auch ihr Gewäsch und Gezeter aushalten, und darum hängen wir so an ihnen, meinst du nicht? Ich wollte ihr das Schlamassel mit der Subway und so weiter erklären, da sagt die Hebamme zu mir: Also dieser Bursche ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Schauen Sie ihn doch an. Da lag er im Bett neben meiner Frau, so klein, daß er kaum zu sehen war, und mehr eingewickelt als ein Apfelstrudel. Und wie ich ihn mir so anschaue, sagt meine Frau: Na, findst du nicht auch, daß er dir ähnlich sieht? Ich sage: Ja, ziemlich. Aber ich dachte: Nein, Alter, der sieht weder dir noch sonst wem ähnlich, am ehesten noch einer frisch geborenen Maus. Aber so sehen wir wohl alle aus, wenn wir auf die Welt kommen, nicht? Und meine Frau sagt: Es ist ein Junge, so wie du dir's gewünscht hast. Und ich, nur um etwas zu sagen: Dann bestellen wir nächstes Mal ein Mädchen. Ich versuchte, mir meinen Stolz und mein Glück nicht anmerken zu lassen, verstehst du? Da sagt die Hebamme: Wie soll er denn heißen? Meine Frau sagt: Na, so wie der Vater, damit er nicht vergißt, daß er einen hat. Das sagt sie natürlich im Scherz, aber mit so einem Unterton... Und ich sage: Ganz wie du willst, meine Liebe. Inzwischen hatte sich mein Sohn ausgeschrien, und da höre ich die Musik, die von oben kam, aber keine Radiomusik oder Schallplatten, verstehst du, sondern als würde da eine Gruppe spielen, denn zusammen 26

mit der Musik war Lachen und Reden von vielen Leuten zu hören. Ich sage zu meiner Frau: Was ist denn das für ein Spektakel? Und sie: Ich weiß nicht, das geht schon eine ganze Weile: Vielleicht eine Geburtstagsparty. Ich sage: Aber so, ohne Licht? Da sagt die Hebamme: Vielleicht haben die's wie wir gemacht und Kerzen gekauft. Und da höre ich, wie mich Trompoloco aus dem Wohnzimmer ruft: He du, komm doch mal! Ja, Trompoloco war nach mir gekommen und hatte schon alles ausgekundschaftet. Ich gehe also raus und frage: Was ist los? Und er sagt: Mensch, da oben auf dem Dach ist der Bär los. Ich sage: Gehn wir mal nachsehen. Ich hatte nämlich immer noch keine Ahnung, verstehst du? Wir also die Treppe hinauf, und wie ich ins Freie komme, sehe ich, daß da oben fast das ganze Building versammelt war. Doña Lula, die Witwe aus dem ersten Stock, der Cheo aus Aguadilla, der sein Café geschlossen hatte, als das Licht ausging, die Mädchen vom zweiten Stock, die weder zur Arbeit gehen noch von der Weifare leben, wie böse Zungen behaupten, Don Leo, der Prediger bei den Pfingstlern ist und hier vier Kinder hat und in Puerto Rico sieben, und Pipo und die Söhne von Doña Lula und einer von Don Leo, die hatten ihre Instrumente mitgebracht, eine Gitarre, ein Güiro, Rumbakugeln und sogar Bongos. Ein richtiges Quartett. Und wie das klang! In dem Moment spielten sie gerade >PreciosaPreciosa, Preciosa, die Söhne der Freiheit rufen dich