Der Ritter von Lang und seine Memoiren [Reprint 2019 ed.]
 9783486749564, 9783486749557

Table of contents :
Vorwort
Inhalts - Übersicht
Adalbert von Raumer
Einleitung des Verfassers
Abkürzungen
Berichtigungen
Erster Teil: Der Ritter von Lang
Zweiter Teil: Die Memoiren
Anhang

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Der Ritter von Lang und seine Memoiren Von

Adalbert von Raumer

Aus dem Nachlaß herausgegeben von

Karl Alexander von Müller und Kurt von Raumer

München und Berlin 1923 Druck und Verlag von R.Oldenbourg

Gedruckt mit Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft

Alle Rechte, einschließlich de- Übersetzung-rechte-, vorbehalten

Vorwort. Das folgende Buch ist das Vermächtnis eines Toten: Malbert von Raumer ist am 4. September 1914 vor Luaeville in Frankreich gefallen. Wenige Wochen vorher hatte er sein Werk über den Ritter von Lang und dessen Memoiren in der Gestalt abgeschlossen, wie es die folgenden Seiten enthalten. Cs war seine Erstlings, und seine Doktorarbeit; die Universität München hatte ihm eben dafür das große König,Ludwig, Stipendium für Geschichte zuerkannt.

Angehörige, Lehrer und Freunde empfanden die Pflicht, dieses nach, gelassene Werk, das selten reiche Probestück nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch der künstlerischen und menschlichen Reift eines früh Doll, endeten, der Hffentlichkeit zu übergeben. Krieg und Umsturz, die Schwierig, keilen, die seit Jahren auf dem wissenschaftlichen Leben Deutschlands lasten, haben die Verwirklichung dieser Msicht lange Zeit verzögert. Nun ist sie, dank der tatkräftigen Unterstützung der Notgemeinschast der deutschen Wissen, schäft und dem hochherzigen Entgegenkommen des Verlags R. Oldenbourg, dennoch ermöglicht worden. Noch einmal dürfen wir, über die Kluft all dieser gewaltigen und furchtbaren Jahre hinweg, die klare, warme, tapfere Stimme unseres Freundes erklingen lassen, dem Flug seines hochstrebenden, schönheitsfrohen Geistes die Schwingen lösen. Allen, die ihn kannten, das wissen wir, wird es Trost und Freude sein; und wir hoffen, daß viele andre ihn wenigstens noch aus diesem Nachhall kennen und lieben lernen und mit uns der hohen Hoffnungen gedenken, die sein Tod zerstörte. Beinahe zehn Jahre sind seit der Niederschrift des Buches verflossen; es «ar nach der ursprünglichen Absicht des Verfassers noch nicht vollständig abgeschlossen. In seinem ersten Teil, dem Lebenslauf Langs, sollte noch ein, fteilich knapp zusammengedrängtes Kapitel „Manuesjahre und Mer" folgen, in seinem zweiten Teil, der Kritik der Memoiren, sollte eia Schluß, kapitel die „Vorbilder und Gegenbtlder der Memoiren" von Rabelais, Fischart, Abraham a Santa Clara über die französischen Memoiren, schreiber bis zu Goethe, Wekhrlin, Jean Paul, A. Bucher und Zacharias Werner behandeln und den Ausblick des Ganzen nach der eindringenden, nach, schürfenden Einzelkritik zum Schluß noch einmal auf eine freie, beherrschende,

IV letzte Höhe führen: Ausbauten und Ergänzungen, die dem Geist des Der, fassers deutlich vor Augen standen, und die seiner Arbeit erst die volle wissenschastliche wie künstlerische Abrundung geben würden. Trotzdem he ben die Herausgeber flch, nach wiederholter Überlegung, schließlich entschlossen, dem, was von dem Verstorbenen selbst für deu Druck hergerichtet vorlag, nichts Wesentliches mehr hiazuzufügen. Es schien ihnen unmöglich, ohne deu Aufbau und die stilistische Einheit des Nachgelassenen tief zu verletz«», wie es denn das Kennzeichen des organisch Erwachsenen ist, daß ihm auch an sich wünschenswerte Zutaten nicht angefügt werden können, ohne das schwebende Gleichgewicht der Teile zu zerstören, in dem das Rätsel seiner Schön, heil und ost seines Lebens beruht. Nach diesen Richtungen ist das Werk also ein Torso geblieben, — freilich, wenn wir nicht irren, einer von jenen, deren innere Lebenskraft die Vollendung geheimnisooll in fich schließt und durch äußere Ergänzung von fremder Hand, und sei ste noch so treu und geschickt, nur verlieren und nicht gewinnen kann. Oer leitende Grundsatz der Herausgeber war deshalb, den Text Adal, bett von Räumers soweit als irgend möglich im reinen Wortlaut zu er­ hallen, sogar wo er selbst stilist.sch vielleicht noch eine letzte Feile angelegt hätte, oder wo er weitere Arbei en ankündigte, an deren Abschluß der Tod ihn verhinderte; die Herausgeber hoffen in der Lage zu sein, auch die Ergebnisse dieser Arbeiten und Pläne noch zu veröffentlichen. Don den Herausgebern stammt die Auswahl und Zusammenstellung der beiden Brief­ anlagen 11 und 111 sowie die Anlage IV. Die Briefbeilagen muß en der äußeren Verhältnisse wegen auf das Wichtigste eingeschränkt werden; so ist z. B. von den 23 Briefen an Jak. Grimm nur ein einziger, mehr als Probe, denn um seiner besonderen Einzelbedeutung willen, ausgenommen worden; auch in den Anmerkungen dazu schien uns, aus dem gleichen Grund, die größte Sparsamkeit nicht nur gerechtfertigt, sondem geboten; ste ent­ halten lediglich erste Hinw ist, nicht mehr. Auch der „Chronologische Über­ blick über Langs Leben" (Anlage IV) soll nur die Möglichkeit bieten, stch rasch zu unterrichten und insbesondere diejenigen äußeren Angaben beifügen, welche das vom Verfasser a cht mehr geschriebene letzte Kapitel des Lebens­ laufes gegeben hätte. Im übrigen sind alle Anmerkungen der HrrauSgeber stets als solche kenntlich gemacht; nur Änderungen von reinen Äußerlichkeiten, wie die Anführung neuer Auflagen zitierter Werke, wurden stillschweigend vorgevommen. Noch bleibt den Herausgebern der Dank an alle diejenigen abzu­ statten, welche dazu beigetragen haben, die Veröffentlichung trotz der Schwere der Zeit zu ermöglichen: an die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und ihre beiden Vorsitzenden, Staatsminister a. D. Dr. Schmidt-Ott und Geheimrat Wal:er v. Dyck, der in treuer Erinnerung an den Verfasser immer wieder mit Rat und Tat hilfreich zur Seite stand; an die beiden Lehrer des Verstorbenen, den unvergeßlichen Karl Theodor v. Heigel, der zuerst den Gedanken der Herausgabe ergriff, bis der Tod ihm selber die Feder aus der Hand nahm, und Sigmund v. Riezler, der ihn bis zuletzt

nachdrücklich förderte; an Geheimrat Dr. Erich Marcks, der wiederholt seine warmherzige Unterstützung lieh, und au den Verleger Herrn Wilhelm Oldenbourg, dessen hochsinnige Entscheidung schließlich den Ausschlag gab. Ihnen allen sei auch an dieser Stelle noch einmal der wärmste Dank ausgesprochen. Insbesondere aber sei an dieser Stelle noch des Mannes gedacht, der von Anfang an der Arbeit wie ihrem Verfasser der nächste, verttauteste Freund war, und der deshalb auch jetzt die Herausgabe wie kein andrer mit Rat und Tat unterstützen konnte — und unterstützt hat: Konrektor Sigmund v. Raumer, der Vater des Verstorbenen. München, Osteru 1923.

Karl Alexander v. Müller.

Kurt v. Raumer.

Inhalts - Übersicht. Gelte

Adalbert von Raumer (von K. A. v. Müller)............................................................ VIII Einleitung des Verfassers........................................................................................... XXVII

Erster Teil: Der Ritter von Lang. I. Kapitel: Heimat und Kindheit...............................................

i

Oie Landschaft: Schwaben; RteS; Einfluß auf Phautafle und Charakter.............................................................................................................

2

Staat und Gesellschaft: Httingen-Wallerstein; Enge und Ab­ geschlossenheit nach außen — Regierung und Verwaltung — So, tiale Gliederung: der Hof (Fürst und Beamte); die Untertanen (Bauern und Handwerker); die „Jngelegenen" (Bürger der Reichs­ städte) — Geistiges Leben: die fürstliche Familie; die Hofgesellschaft; die Landgeistltchea; die junge Generation................................................

3

Die Familie: der Großvater: öttingischer Kammerdirektor — der Vater: Landgeistltcher — die Brüder deS VaterS: Superintendent G. H. Lang und Hoftat I. P. Lang — die Mutter — Karl Heiur. Laug: Kräfte und Gegensätze; Kindheit und Schule; Zusammenstoß mit dem Rettor: Flucht auS dem Gymuaflum.......................................... 10

II. Kapitel: Lehrjahre........................................................................ 22 Studeut in Altdorf (1782—1785): Fränkische Einflüsse — studen­ tische Freiheit — Hochflut der Aufklärung: Malblane und SiebenkeeS u. a.......................................................................................................................22 Ottingen (1785—1788): Rückkehr — Erste Beamtentätigkeit — Auf, klärung und Empfindsamkeit: Sailer, Ruoesch, Karl Theodor Beck — Erste schriftstellerische Tätigkeit: „Beiträge zur Kenntnis... des öttingischen Vaterlands" (1786) und „HttingischeS Wochenblatt" (1786/87) — Möser und Wekhrltn — Entscheidende Stelle der in­ neren Entwicklung: Gewordenes und Werdendes in seinem Charatter — Anfänge zur Satire — Zusammenstoß mit dem Fürsten: Flucht auS Ottingen......................................................................................

25

Seite III. Kapitel Wanderjahre.................................................................... 50

Wien unt) Ungarn (1788—1790): Eintritt in die große Welt — Phantasie und Gemüt — Stellung zur Politik — Wiener Einflüsse — „Votum über den Wucher Anfänge des Historikers — Privat­ sekretär des Württembergischen Gesandten v. Bühler......................... 50 Wallerstein (1790 —1792): Frankfurter Kaiserkrönung — Alte Formen und nene Mächte; Stellung jur stanz. Revolution — Hof, sekretär des Fürsten v. Wallerstein — archivalische Tätigkeit — Zu­ sammenstoß mit dem Fürsten: Flucht aus Wallerstein..................... 55 Göttingen (1792—1795): die Universität Göttingen: persönl. Be, ziehungen und geistiges Leben; englischer und protestantischer Cha, ratter; Aufklärung in ihrer reifsten Form — der fertige Mann: jusammenfassende Charatteristik........................................................ 59

Zweiter Teil: Die Memoiren. 73 Entstehungsgeschichte: Erste Andeutungen — erster Plan — Hemmungen — Vollendung — Veröffentlichung............................ 73 Charakteristik.................................................................................... 78 II. Kapitel: Die historische Wahrheit der Memoiren .... 87 Voruntersuchung: Zuverlässigkeit der Daten, der Zitate, des Ge, samtbildes....................................................................................... 87 Einzeluntersuchung: 1. Wallerstein und Frankfurt............................................. 90 Personen und Zustände in Wallerstein — Kaiserttönung — Per, flnl. Erlebnisse in Wallerstein — Zusammenfassung I. Kapitel: Entstehung und allgemeine Charakteristik ....

2. Der Rastatter Kongreß....................................................... 109

Die Berichte Langs aus Rastatt an Hardenberg Die Darstellung der Memoiren 3. Bayern 1806-1817.............................................................. xeshetm zurück. Fast überall hatte er Verwandte, die ihn gastfteundlich emp­ fingen. Seine Berichte nachhause zeigen ihn beinahe betäubt von der Fülle des Neuen, vom „Schauen und Hören und Aufnehmen und Verarbeiten und Wiederschauea und Wiederhören". Aber es fällt auf, wie sicher dieser Zwanzigjährige bei aller raschen Aufnahme- und Degeisteruagsfähigkeit in seinem Wesen und in seiner Richtung ist. Don allen Seiten saugt er bas Neue in sich hinein. Er schwelgt in Berlin nicht nur im Kaiser Friedrich-Museum, vor Menzel in der Kupferstichsammlung, vor Döcklin in der Nationalgalerie; er fühlt nicht nur die größten künstlerischen Überlieferungen aus der Vergangen­ heit sofort sicher heraus — Schloß und Zeughaus, den Großen Kurfürsten von Schlüter und Rauchs Friedrich den Großen; er ist nicht nur in Charlotten-

bürg und im Tiergarten, am Wannsee und im Dölkerkuademuseum, bei Harden «ad bet Reinhardt, wo er jum erstenmal einen Shakespeare und die Penthesilea seines Lieblings Kleist steht. Was ihn von der ersten Stunde an, fast vor allem andern, fesselt und beschäftigt, ist bas Leben und Atmen, die Bedürfnisse und die Schbpftingen einer solchen riesenhaften Menschenan­ sammlung, die tausend und abertausend hin und wider zitternde«, tastenden Fäden, die das moderne Leben weben, die Frage, „wie diese gewaltige Masse sich selbst regiert, wie diese Millionen sich geordnet und doch stet umeinander, schieben, ohne sich gegenseitig zu Staub zu zermahlen, wie durch Arbeits­ teilung und Arbeitsaffoziation dieses Chaos zu einem Kosmos wird". Er war den größten Teil seiner Jugend in kleinen Städten, in streng konservative« Anschauungen ausgewachsen. Nun drängen sich ihm die Bedürfnisse, die Bedeutung dieser Großstädte und ihrer Erscheinungen auf und er sucht sie dem Vater zuhause zu entwickel», zu verteidigen. Er begeistert sich für das Wertheimsche Warenhaus — „das ich mich nicht scheue, für den bedeutendsten aller Monumentalbauten Neuberlius zu erklären — einschließlich Dom und Reichstagsgebäude; weil es allein ganz der Ausdruck seiner Zeit ist, weil es allein eine Schöpfung ist, die der Geist der Millionenstadt neu geschaffen hat und nur er allein schaffen konnte ... der künstlerische Ausdruck der nüch­ ternen, einer herben Großzügigkeit nicht entbehrenden Welt, aus der es erwuchs". Im Grund seiner Seele liebt dieser Süddeussche, noch im ländlichen Deusschland Erwachsene nicht, was er hier sieht; seine innerste Sehnsucht ist «ach anderem gerichtet. Aber „es hat etwas Imponierendes, dies mit allen Mitteln menschlicher Intelligenz ausgestaltete Getriebe! So nachts zwischen ii und i an der Spree beim Bahnhof Friedrichstraße! Eia Meer von Licht. Nur drunten im Schatten der Brücke zwischen den hohen Steinmauern liegt's schwarz und düster. Eia leises Plätschern und Knistern: da liegen die schweren alten Spreekähne, hochbepackt mit Holz oder Steinen oder Obst­ körben; da und dort ein paar dunkle Gestalten darauf, die zur Weilerfahrt im grauen Morgen fertigmachen. Daneben spielen tausend Lichter und Reflexe auf dem trüben Wasser; an den Wänden und Dächern der Häuser blitzen und flackern elektrische Firmenschllder und Plakate; auf den Uferkais rasseln Wagen und Autos zwischen der sausenden Elektrischen; auf der Brücke, in grellem Licht, schiebt flch langsam der endlose Menschenstrom vorwärts, die eine» in atlasgefütterten Mänteln und weißen Handschuhen: sie kommen aus einem der vierzig Theater, die andern im blauen Kittel: sie gehen zur Arbeit. Unter den Füßen bebt leis der Boden: die Untergrundbahn. Über dem mächtigen schwarzen Bogen der Eisenbahnbrücke, in der Höhe der Dächer, wie eine bewegliche, endlose Kette aus leuchtenden Steinen die fast ununter­ brochen kommenden, gehenden Züge der Ringbahn. Und hoch in der Lust eia Surren und Brummen: der .Lenkbare' fliegt am nächtlichen Himmel «ad verkündet den nur ftüchtig Emporschauenden, wo man die besten Zi­ garren und die schönsten Dillen kauft". Bei allem ftohen, jugendlichen Optimismus fühlt er die unmeßbare Menge von Elend und Jammer, welche

XVI diese schimmernde, sprühende Oberfläche tragen, die innere Einsamkeit, welche diese hastende Überfülle dem fühlenden einielnen bringt, das ausschließlich Intellektuelle, die nüchterne, berechnende Kälte, die ste aufgetürmt haben, bas Bodenlose dieser schwindelnden rein technischen und wirtschaftlichen Riesenbauten. Was ist der Geist der sie trägt? Er wirst die Frage auf, ob das Ganze nicht doch „im wesentlichen ein Ergebnis der Addition, der puren Addition ist, das darum nichts wesenhast Neues erschafft, kein körperhaftes, weithinragendes Denkmal menschlichen Geistes". Do» allen Seiten drängte» sich in diesen Jahren dem Heranreifenden die Zweifel und inneren Widersprüche des zerrissenen modernen Lebens auf. Immer noch ging sein innerster Wunsch auf eine literarische, künstlerische Laufbahn. Er begann seinen Gaius Gracchus umzuarbeiten, entwarf den Plan eines Heinrich IV., schrieb ein episches Gedicht „Der Fährmann". Er suchte, was an inneren Kämpfen in ihm vorging, in zwei Novellen im Gewand vergangener Zeiten aus sich herauszustellen und sich fernzurücken: zarte Erlebnisse jugendlicher Herzensneigung in der „Anne", den Widerstreit der Generationen, den „Kampf im Innern der neuen Generation, die mit allen Fasern des Herzens noch an die alte gebunden ist und kraft ihrer Geburt schon in der neuen steht, und den Kampf im Innern der alten Generation, die in die neue hineinragt und an ihr zugrundegeht," in der Erzählung „Die Heilige". Er sammelte seine „Gedichte eines Werdenden". Er empfand, daß er von Jahr zu Jahr fortschritt, daß jeder neue Versuch selbständiger, kräftiger, lebensgesättigter war als der vorhergehende. Aber er blieb doch unbestiedigt. War er ein Dichter? Er vermochte es, das innere Leben in sich ahnungsvoll zu belauschen und in seinen zarten Schwingungen wiederzugeben — wie jenen Glockenton

„der leise schwebt, Dann mächtig schallt und schwingt Und zwischen Freud' und Trauern schwebt. Und zitternd leis verklingt."

Er zweifelte nicht daran, daß die Welt in ihm reich und stark genug sei, um aus ihr heraus Leben gestalten zu könne» — „aber wer ein wahres Bild vom Leben um ihn, vom Leben seiner Zeit zeichnen will, der muß über seiner Zeit stehen, und ich stehe noch viel zu sehr mitten inne". Immer wachsende Freude empfand er in diesen Jahren an seiner Musik — wie sie mit ihm wuchs und er mit ihr. „Für mich selbst ist sie eine Flucht in die Einsamkeit, in der das Herz einmal, aller Bande ledig, sich ausströmen und ausschwelgen und ausruhen kann, ohne daß einem dabei die kalten Glasaugen der Welt über die Schulter schauen. Das Größte ist aber doch, wenn wir fühlen, daß die Musik zur Sprache der Seele wird, mit der wir andre Seelen uns nahebringen und ihnen geben und sagen können, was wir mit Worten niemals vermöchten." Schumann trat ihm in dieser Periode all­ mählich nahe mit seinem durch keine Form gebändigten tzinttäumen, dann

auch Brahms mit seinem „weltvergessenen Schwelgen in reiner Harmonie". Aber am liebsten flüchtete er sich immer wieder „in die dunkle, erdnahe Tannenwaldtiefe meines Bach und Beethoven, wo die lebendigen Quellen rauschen und der Himmel hoch hereinschaut und die gewaltigen Stürme durch die Wipfel brausen". Don alle» Seiten sammelt er auch hier Neues ein und er­ probt, wie es zu seinem eigenen Wesen stimmt. Er hört eine junge Nor­ wegerin Grieg spielen und sieht „aus seinen durchsichtigen Harmonien mit den weiten Akkorden und den offnen Quinten und den schwebenden leichten Me­ lodien drüber... den nordischen Frühling, wo die starren, schneeglLnzenden Berge aus dem blauklaren Meere tauchen und in den lichtblauen Himmel steigen, und wie auf den warmen Felsen die Sonne spielt, ob ihnen gleich die grünen Matten unsrer deutschen Landschaft fehlen". Immer von neuem schlägt er sich mit dem Rosenkavalier herum. „Die Frühstücksmustk und der Aufzug des Rosenkavaliers sind ganz entzückend, die Monologe der Mar­ schallin und das Schlußterzett sogar wirklich edle, tiefe Musik. Aber was sollen doch nur die entsetzlichen, mißlautenden Harfen- und Glasharmontkaakkorde (es können auch andere Instrumente dabei sein), die gerade an den Stellen des schwellendsten, fast mozartischen Wohllauts... in halben und übermäßigen Sekundenschritten durchs Orchester kriechen wie gleißende giftige Schlangen .... Das ist nicht germanisch." Er fühlte in diesem Schwel­ gen in ekstatischer, sinnlicher Schönheit, worein sich, wie leise prickelnd, schon die ersten giftigen Akkorde der Unlust mischen, „das immer tiefer ins germanische Blut eindringende orientalische Inkrement", ein Hinuntersteigea in sump­ fige Niederungen. Oder ist es am Ende, ftagt er sich, ,choch nur die Seele unsrer Zeit, die aus Richard Strauß' zwiespältiger Musik spricht? Unsrer Zeit, die kein ruhig harmonisches, aus dem wahren Gefühl geborenes, ganzes Kunstwerk mehr reifen läßt mit ihrer Unrast und Derstandesherrschast, mit ihren tausend dissonierenden und dissoziierenden Elementen ... Grinst nicht auch aus den reinen Augen unsrer Kunst die Unwahrheit und die Trivialität und das Elend unsres ganzen Lebens?" Ganz anders wirkte Hans Pfihner auf ihn ein, dessen Armer Heinrich ihn von der ganzen nachwagnerischen Musik am innerlichsten ergriff — „was für eine glühende Künstlerseele lebt in seiner Musik; er ist durchaus nicht nur ein Wagnerepigone, manches vielleicht etwas verständliche Filigranarbeit, aber im Affekt von hinreißendem Schwung der Empfindung und von einer Feinheit und Echtheit des ästhetischen und sittlichen Gefühls, die jedem Schein und Haschen nach Effekt feind ist — schon darum versteht ihn die Gegenwart nicht. — Der letzte Akt des Armen Heinrich mit dem Dies irae-Chor der Mönche, der wie ein Weltgerichtsuhrwerk im mächtigen alla breve-Takt die furchtbare Handlung begleitet, ist von über­ wältigender Größe, gesteigert noch durch den Kontrast zur schlichten Tiefe des zweiten Aktes. Manchmal findet er Harmonien, die eine ganze Welt aufleuchten lassen." Manchmal in diesen Jahren hat es den Anschein, als drohe die Vielheit seiner Talente ihn zu zersplittern. Denn neben alledem läuft auch die wissen­ schaftliche Arbeit an der Universität im ganzen doch in regelmäßigem Fleiß e. Raumer, Der Rittet von Lang.

II

XVIII fort. Er hält ausgezeichnete SeminarvorttLge über Kleist und Henri de Catt, den Vorleser Friedrichs des Großen. Er schreibt Beiträge über das moderne Theater und Berliner Kleistfeiern in die Dnrschenschastlichea Blätter, fängt eine Serie Stimmungsbilder aus deutschen Städten an, hat immer noch Zeit für Kneipzeiwngen und frohe Allotria. Er hat, scheint es, eia unerschöpfliches Bedürfnis, sein Inneres „nach außen zu projizieren", was er begeistert für sich gewonnen hat, sogleich auch andern begeisternd mitzuteilea. Aber er hat daneben auch noch innere Kämpfe, die er in männlichem Schweigen bei sich verschließt. In einer strenggläubigen Familie aufgewachsen, selbst tiefiaaer, lich fromm angelegt — wie hätten die faustischen Zweifel und Qualen des ernsten Gottsucheas ihm erspart bleiben (tarnen? Er kannte die Dämonen, die in der Brust jedes ganzen, kraftvollen Menschen schlummern. „Uns Räumers hetzt außer der klaffenden Meute, die flch Welt und Mensch nennt, noch ein ganz besonderer Hetzhund mit lechzender Zunge und glühenden Augen, der uns die Zähne ins Fleisch schlägt, wo es am empfindlichsten ist: unser eignes Herz mit seinem Übermaß an Empfindung und Leidenschaftlichkeit." Aber er war Manns genug, das Steuer nicht zu verlieren. empfand mit sicherm Kraftgefühl doch auch diese Kämpfe alle vielmehr als einen Reich, tum denn als eine Last, „als ein Glück, um das mich andre beneiden könnten, und das ich nicht missen möchte, wenn es mir auch tausend Schmerzen macht, die andern erspart — ober versagt sind". Er rang wie wir alle mit der Fülle und Völle dieses modernen Lebens, mit dieser „Masse von Eindrücken und Gedanken, die einen ständig in tollem Wirbel umschwärmen und überschütten, daß man immer erst mit beiden Armen den erstickenden Schutt wegräumea muß, damit das eigne Wesen Lust kriegt und aas Licht kommt", und klagte, daß es ihm so unendlich schwer werde, die Welt um flch und die Welt in flch zu einem lebendigen Ganzen zusammenzuschmelzen. „Aber der Wille dazu ist da, «ad solange ich Atem habe, will ich von dieser Schmelz, und Schmiede, arbeit nicht lassen." Immer wieder bricht das Sonnige, Sieghafte seiner Natur wie ein frischer, reiner, gesunder Frühlingswtad durch alle Hindernisse hindurch, die ihm entgegeatreten, der tapfere Frohmut, flch nicht unterkriegen zu lassen, die Lust am Kampf, zu dem er flch geboren fühlt, die jubelnde und dankbare Wonne an der reichen, hellen Schönheit der Welt, deren innerstes Wesen ihm die Freude scheint, ein Klang des Willens und der Zuversicht, die flch stark genug fühlen, auch die großen Nöte der Zett zu bestehen. Dena „wer in flch selbst den Mut zur Zukunft hat, der verzweifelt auch nicht an der Zu, tunst seiner Zeit." Er gehörte einer Generation an, welche ganz und gar im Zeitalter Wil, Helms II. aufwuchs; seine lebendige Empfänglichkeit wurde, wie wir sahen, von all dessen widerspruchsvollen Strömungen berührt. Aber wenn man flch ftagt, was ihm die Kraft gab, flch in ihnen so frohmutig zu behaupten, so waren es jahrhundertealte, sittliche Mächte des christlich,deutschen Lebens, die ihm in seiner Familie selten rein und stark überliefert waren: tiefe, inner, liche Frömmigkeit und strenger Ernst des Pflichtgefühls, die beide nicht für

die Zeit als solche kennzeichnend genannt werden dürfen. Er war gründe deutsch in seinem ganzen Wesen; gewissenhaft gründlich in aller lebhaften Beweglichkeit, ehrfürchtig in aller übersprudeladen Laune, streng und rein in aller menschlichen Duldsamkeit. Alles Gemeine fiel von ihm ab, ohne ihn zu berühren; mit ihm kannte er kein Pattieren. So hatte er einen untrüg, lichen Kompaß für seinen Weg. Auch seine Vielseitigkeit konnte ihn deshalb nicht auf die Dauer beirren. Er ließ das Leben wohl eine Weile so für flch „weiterkreiseln", wie er gern sagte, „vom Morgen zum Abend und vom Abend zum Morgen zwischen Lachen und Weinen und Schaffen und Ruhen." Aber er hatte, sowie er nur wollte, die Kraft fich zusammenzuhalten, „daß die Wagschalea immer schön im Gleich, gewicht bleiben, daß die Fülle nicht der Tiefe und Dauer schadet, daß eS a cht auf einmal ausgekreiselt ist und nur eia Tanzen und Spielen war, das keine Spur hinterläßt". Seit 1913 begann er, sich mit all seinem Feuer auf eine größere wissenschaftliche Arbeit zu werfen. „Es ist eine in der Mitte zwischen reiner Historie und Literargeschichte stehende Arbeit, die mir viel Freude macht," schrieb er nach einigen Monaten an eine Freuadin, „über einen um die Weude des Jahrhunderts lebenden Mann, Ritter von Lang, der in den Kanzleien Hardenbergs und Montgelas' eine Rolle spielte und durch geistvolle, bissige Satiren und Memoiren flch verhaßt und berühmt gemacht hat." Bald lag er ganz in ihrem Bann. Mit leidenschaftlichem Eifer und umsichtig, stem Spürsinn ttug er das weitverstreute Material zusammen, aus großen und kleinen Bibliotheken, Archiven, dutzeadfach zersplitterten Privatnach, läffea, jeder Fährte eite er nach, unermüdlich, wenn noch soviel« Wege sich ergebnislos im Sande verliefen. Mit nachbohrender Schärfe unterzog er alles Aufgefuadeae der Prüfung. Bisher hatte man die Erzählungen und Sittenbilder Langs überwiegend als Klatsch und Karikatur eingeschätzt, ihren geschichtlichen Wert bestritten. Noch sein Lehrer Heigel, der ihm die Anregung zu dieser Arbeit gab, hatte dies Urteil »ertreten. Raumer kam, auf Grund einer peinlich jeder E nzelheit uachgehendea Untersuchung, zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Es ist nach seiner Arbeit nicht mehr möglich, seine» Autor als bloßen Lügner und Verleumder abzutun, seine oft grotesken und grausam bitteren Bilder mit einer einfachen Handbewegung beiseite, zuschieben. Es ist nicht mehr möglich zu zweifeln, daß Langs Angaben in allem Tatsächlichen zuverlässig sind, nur in der Beleuchtung, Zusammen, dräagung, Anordnung durch Spott und Bissigkeit gefärbt, jedoch nie erfunden ober gefälscht. Aber Raumer konnte nicht bei einer solchen bloß krttische» Arbeit stehen bleiben. Mit Frohlocken entdeckte er io diesen vergilbten Papieren, Akten, Briefen, die er dafür durchmusterte, die „Quellen unermeßlich reichen und lebendigen Lebens, das ... nur auf die Berührung mit dem Zauberstab wartet, um zu erwachen, und mitten hioeiazuströmen ins Leben der Hellen, rauschenden Gegenwart". Er konnte nicht kritisieren, ohne zugleich aufzu, Muco. Indem er nachprüfte, w i e Lang darstellte, erstand ihm zugleich ein selbständiges, durchaus auf ursprüngliche Quellen begründetes Bild dessen, 11*

XX was er darstellte, — der öffentliche« Zustände im adsterbendea alten Reich, in dem seltsam jusammeagewürfeltea, noch nicht ausgeglichenen Bayern der napoleonischen Zeit. Und über das Sachliche hinaus drängte sein künstlerischer Sinn in die Tiefe jum Seelische». Indem er die Memoiren untersuchte, erwuchs ihm jugleich ihr Schreiber; indem er die Zustände kritisch erkundete, lernte er zugleich Fühlen, Denken und Wollen dessen verstehen, der unter ihnen lebte. Alle seine vielseitigen Kräfte strömten hier befruchtend jusammen, die Schärfe des Geistes, der Reichtum der Phautaste, die Tiefe und Wärme des Gemütes. Wie sich hinter der Untersuchung der Memoiren durch die Fülle neuer Ausschlüsse unversehens ein neues selbständiges Bild ihres Inhaltes spiegelt, so wird die einleitende Lebensgeschichte ihres Autors, soweit er ste vollendet hat, zu dessen erster wissenschaftlicher Biographie. Und indem er sich scheinbar ganz der Wissenschaft hingab, fand er sich selbst als Künstler. Was ihm in der reinen Dichtung noch nicht gelungen war, einen ganzen, runden, blutdurchströmten Menschen vor den Leser hinzustellen, das gelang ihm hier im geschichtlichen Bild. Man erkennt darin das klare, schönheitsstohe Auge seiner malerischen Skizzen, das empfängliche Ohr des »achbildenden Musikers, die zarte Seelenkunde und den hohen idealen Schwung des Poeten. Niemand wird ohne Ergriffenheit dies Charakterbild lesen, das hinter den bissigen, hohnvollen und vergrämten Zügen eines Satirikers plötzlich ein weiches, empfängliches, unter Tränen lächelndes Kinderautlitz erkennen läßt, und zeigt, wie Leben, Schuld und Enttäuschungen allmählich ihre Fur­ chen und Verzerrungen hineingraben — diese edle Ehrenrettung eines Dielverleumdeten, die über allem warmherzigen Mitverstehen und Mitfühleu doch nie die unbeirrbare Strenge des sittlichen Urteils vergißt. Die beiden eignen Kiuderbilder Räumers, die wir oben erwähnten, kommen uns wieder in den Sinn: das gütige, liebevoll verstehende und das unerbittlich forschende: in dieser Arbeit des werdenden Mannes erkennen wir sie beide wieder. Vielleicht kann man sagen, daß er über dieser Arbeit selbst zum volle» Manne wurde. Die Wogen der ersten jugendlichen Stürme begannen sich zu glätten, die Wege auch seines künftigen Lebens zu klären. Er fühlte, daß er vor allem doch der Wissenschaft zugehöre — „nicht einer erstarrten, .exakten' Wissenschaft — das brauche ich kaum zu sagen —", wie er am Sylvestertag 1913 schrieb, „sondern einer, die unablässig die Fäden hinüber ins Leben und herüber aus der Menschenwelt spinnt und deren aufbauende Kräfte darum immer Phantasie und lebendiges Gefühl sind". Sein Verhältnis zur Natur war um nichts kühler geworden. Wie genoß er gerade in jenem letzten Jahre der Arbeit im Maximilianeum den freien Ausblick seines turm­ hohen südlichen Eckzimmers über Stadt, Fluß und Berge, wie stieg er immer wieder auf das Dach des beherrschenden Gebäudes, wo das Auge an Hellen Tagen unbehindert vom hohen Domberg in Freising bis zum weiten Kranz der Alpen schweift. Nach wie vor begleiteten ihn seine Skizzenbücher, seine Musik, seine Liebe zu heiteren Geselligkeit. Sein Verhältnis zu seinen Lehrern Riezler und Heigel war in diesen Jahren immer enger und fruchtbarer ge­ worden, manche neue, geistig und menschlich reiche Kreise, von denen hier

nur die Häuser v. Dyck und Stundet genannt feien, schlossen sich ihm auf. Er hatte alte Freunde mit steter Treue festgehalten, nun traten ihm neue aus den Kreisen jüngerer Fachgenoffen entgegen, jugleich von dem Menschen wie von dem Forscher angezogen. Und auch im engsten Kreis der Seinen begann er, wenn man so sagen darf, schon die ersten Früchte seines Lebens einzuernten. Unverändert war durch alle diese Jahre auch der Universitätszeit das makellos schöne Familienleben im elterlichen Haus erhalten geblieben. Die schweren, zerreißenden Auseinandersetzungen zwischen älterer und jüngerer Generation, die er in einer seiner Novellen zu schildern versuchte, blieben ihm selbst erspart. Wenn er die Zweifel und Kämpfe, die ihn zutiefst bewegten, auch in der Stille mit sich selber ausfocht — was er an künstlerischen Gaben und Bekenntnissen daraus gewann, teilte er in offenem Vertrauen immer vor allen andern den ©einigen mit. Den Eltern brachte er die erste Samm­ lung seiner Verse, seine Novellen, seine Zeichnungen. Schon die Briefe des Zwanzigjährigen zeigen, wie er mit ihnen die Fürsorge für die jüngeren Ge­ schwister teilt, mit wie reizend heiterem, niemals anmaßendem oder verletzen­ dem Frohmut er sie selber gelegentlich aufmuntert, berät, beeinflußt. Wie innig hing er an der einzigen Schwester, seinem „guten Kameraden", wie liebenswürdig verstand er es, in jeder Kleinigkeit seiner Liebe Ausdruck zu geben. Auch in diesen täglichen Fragen gewann alles unter seinen Händen einen erquickenden künstlerischen Anhauch. Insbesondere das geistige und menschliche Derhäünis von Vater und Sohn war nach wie vor von dem selten­ sten Einklang. Aus dem Erzieher und Leiter war Schritt um Schritt der beste, sorglichste Freund geworden. Fast wie Altersgenossen tauschten beide jetzt unter­ einander ihre Verse und ihre Gedanken aus, nur daß die väterliche Sorglich­ keil auf der einen Seite, die pietätvolle Liebe auf der andern dem Derhäünis einen eigenen, oft rührenden Charakter aufprägt. Wie einst der Vater den Sohn in Denken und Kunst eingeführt hatte, so ließ dieser nun jenen teil­ nehmen an seinen Arbeiten, Plänen und Erfolgen und gab ihm die Sorge und Mühe von einst in jugendlicher Sonne und Zuversicht zurück. Bis dahin hatte seine Entwicklung im Sommer 1914 geführt, als er die Arbeü am „SRitter vom Lang und seinen Memoiren" soweit vollendet hatte, wie sie auf den folgenden Blättern vorliegt, und mit ihr den Doktorgrad summa cum laude erwarb. Auf Antrag seiner Lehrer erkannte ihm die Universität dafür das große König Ludwig-Stipendium für Geschichte zu. Die noch fehlenden Kapitel der Arbeit dachte er in den Sommerferien vollends abzuschließen. Schon waren aus dieser neue, weitere Pläne und Entwürfe in ihm aufgetaucht. In diesem Zeitpunk überfiel ihn wie ganz Deutschland der Krieg. Schon am 4. August war er als Dizefeldwebel der 1. Kompanie des Ersatzbataillons des in. bayerischen Reserve-Infanterieregiments unter den Waffen. Wenige Tage später stand er vor dem Feind.

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XXII Wen» man seine Briefe und Karten aus diesen Kriegswochen nach, einander liest, so erscheint als das Kennzeichnende, was daran auffällt, ihr tiefer männlicher Ernst. Er war tapfer an Seele und ieib, ohne einen Schatten von Furcht, im Grund seines Wesens kampflustig, von sonniger Kraft; er liebte sein Vaterland mit allem Feuer seiner leidenschaftlichen Empfindung, glaubte an sein Recht und seinen Sieg; wie die alten Fahnen beim Sonnen, aufgang vor der ersten Schlacht entrollt wurden, wie die ersten Kugeln um ihn pfiffen, genoß er ein Hochgefühl jauchzender Männlichkeit. Aber trotzdem: In all diesen Briefen und Karten, fast Tag für Tag, mitten aus den Ereig, nisten selbst, wenige Minuten vor den Kämpfen, in der Erschöpfung der Märsche und Nachtwachen, mitten in jenen Wochen des ersten überwälti, genden deutschen Dorstürmens geschrieben, findet sich kein Laut des Übermuts oder der Roheit der entfesselten Kraft, kein Haßwort gegen die Feinde, kein Preis des Krieges um seiner selbst willen. Im Gegenteil, ein erschüttertes Miterleben seiner Not und seiner Leiben, eine tiefe, immer gleiche Sehnsucht nach dem Frieden der Heimat, die wie ein Orgelton durch alle andern wech, selnden Stimmungen hindurchklingt. So war die Seele des edelsten und des tapfersten Teils der deutschen Jugend in dem deustchen Volksheer von 1914. Es hat etwas Ergreifendes, immer wieder in diesen Karten zu lesen, — gerade weil fle darin Millionen von andern gleichen — wie sie überschwäng, lich für jeden Gruß aus der Heimat danken, wie sie sehnend um Nachrichten von zuhause bitten, wie der Schreiber in jeder ruhigen Minute sich an den Bildern seiner Lieben erquickt, ihre Briefe genießt „wie eine Rückkehr zu allem, was Friede und Menschlichkeit und Liebe heißt. Und das tut unsäg, lich wohl". Sein empfängliches, der Welt so dankbar aufgeschlossenes Künstlerauge blieb ihm auch in diesen Tagen der äußersten Anspannungen treu. Das letzte Blatt seines Skizzenbuches zeigt „Alte Weiden" bei Hellimer in Lothringen. Nach seinen Karten kann man seine Erlebnisse mit hundert anschaulichen Zügen begleiten von den ersten kurzen Tagen der Vorbereitung in Neu,Ulm an, wie die ganze Kompanie, meist Rieser und Altbayern, die in kurzer Wichs, den Gamsbart auf dem Hut und die Pfeife im Mund eingerückt waren, junge Reservisten und bärtige Familienväter nebeneinander, auf einer Donau, Insel im Gras um ihren Hauptmann sitzen, der von einem Bierfaß aus seine Instruktion gibt, während jenseits des alten Flusses die behäbigen Giebel und das hohe Münster von Alt,Ulm heruntersehen und junge Buben, stimmen im höchsten Diskant der Begeisterung herüberjauchzen. Man verfolgt den Jubel des Ausmarsches von Stadt zn Stadt, bei herrlichem Sonnen, schein über den Rhein, durch die Pfalz ins Elsaß; die ersten Schützengraben, tage und Biwacknächte in Lehm und strömendem Regen; den Marsch durch die „herrlichen, verdammten lothringischen Eichen, und Buchenwälder" mit ihrem mannshohen dornichten Unterholz, bas voll ist von ftanzösischen Patrouillen und vorgeschobenen Abteilungen; den dumpfen Nachtmarsch durch Wald und Sumpf zur ersten Schlacht, „der Orion lag tief am Horizont über der dunklen Erde wie ein erschlagener Riese", und jeder weiß: jetzt gilt's;

und bann diese selbst, die erste große Lothriugerschlacht am 20. August mit ihrem Enthusiasmus und ihren furchtbaren Verlusten. Wieder folgen Märsche hinter den flüchtenden Franjosen drein, jetzt Bayern, Preußen, Württemberger in drei Kolonnen auf der breiten Heer, straße nebeneinander, „eins im Bewußtsein der gleichen großen Sache zu dienen... mitten im Strom der Zeit". Bei Avricourt wirb am ri., unter den ersten AbteUungen der Armee, die Grenze überschritten, am 22. folgt ein zweites Gefecht bei Jgney, «ährend ein furchtbares Gewitter am Himmel tobt — „bad war schauerlich schön." Man erlebt den Stolz, an den glänzenden Anfangserfolgen in vorderster Linie teilzunehmen und die Müdigkeit der Reservetruppe, die mitten aus dem Frieden in zwölf ununterbrochne, heiße Kriegslage geworfen wird. Schon am 24. beginnt wieder der neue Angriff gegen Fort Manonviller vor Lüneville. Wieder Feldwachen und Märsche bei stockfinsterer Nacht, bei strömendem Regen, „ewig und ewig lautlos im Schritt durch die zwei geraden schwarzen Baumreihen der endlosen Wäldes oder langsames Dorrücken durch tropfende Ahrenfeld er und kniehohes Grad und Sumpf, während die feindlichen Scheinwerfer gespenstisch durch die Land, schäft suchen. „Tausendmal schöner ist's doch, in den grauenden Morgen hineinzuwandern, wo da ein fröhlicher Zuruf, dort ein helles Gesicht den ein, förmigen Ernst unterbricht und mit dem kommenden Tag alle starken und großen und frohen Gedanken erwachen." Da genießt er auch hier noch den bunten, unendlichen Wechsel der Bilder, die blitzenden Kolonnen, die flüch, tenden Einwohner auf Ochsenwagen mit Sqzk und Pack, „bott an der Straße im Morgennebel an einer Brücke eine Kavalleriepatrouille, ihre Rosse trän, kend, dort vorm Haus ein Gärtlein mit roten und gelben Georginen und hängenden Nelken am Fenster, in denen noch der Morgentau glänzt, und alle die blühende Pracht schaut so fremd und verirrt in das kriegerische Treiben und zaubert alle wonnige Schönheit der Erde uns vor die Seele — da, dumpf und wuchtig die ersten Schüsse der schweren Artillerie, und das sonnige Bild ist mit einem Schlag zerrissen, und es beginnt wieder die alte gewaltige fürchterliche Schlachtmelobie, und wir marschieren wieder hinein in Ernst und Schrecken". Am 27. August ergibt sich Manonviller nach dreitägiger Beschießung ohne Sturm. Ungeheuer ist die Freude und der Stolz und die Begeisterung, „das lebendigste Gefühl der unlöslichen Zusammengehörigkeit aller unsrer Krieger und aller unsrer Krieger mit der ganzen Nation, für die wir stehen". Wer die junge Truppe erliegt doch fast unter den gehäuften Strapazen. Die Kompanie ist schon auf zwei Drittel ihres Bestandes zusammengeschmolzen, die Hälfte von diesen ist zeitweise von Kolik befallen. Der Hauptmann muß erschöpft in die Heimat zurück, der erste aktive Zugführer ist verwundet, der zweite im Lazarett. Raumer muß kurze Zeit schon selbst den Befehl der Kom, panie übernehmen. Er hat bereits in der ersten Schlacht durch kaltblütige Unerschrockenheit und Umsicht beim Sturm das unbedingte Vertrauen und die Zuneigung der Soldaten gewonnen, alle Anstrengungen, Aufregungen, Märsche bis jetzt glänzend überstanden. Nur einmal hat ihm der Tod eine

XXIV mahnende Botschaft gesandt: in der letzten Nacht vor Manonviller hat ihn „ein Granatsprengstück beinahe erwischt, ist aber wenige Meter hinter mir in den Boden geschlagen". Noch einmal vergönnt ihm das Geschick fünf ruhige, sonnige Tage auf der weiten Höhe von Champel über Lüneville. Da rastet er mir seinen Soldaten zwischen rotem Klee und bunten Wiesenblumen unter dem leuchtendblauen Epätsommerhimmel. Noch einmal blickt er zurück auf die vier Kriegswochen, die nun bereits hinter ihm liegen mit ihrem „übermäßig reichen Leben, an Freude und Gefahr, an Schrecken und Not und Segen." Er schreibt an einem stiedlichen Sonntagmorgen ausführlich an seine Lieben zuhause unter dem frohen Motto „die Helle Sonne, voll Freud und Wonne", er pflückt „ein paar bescheidene Dlümel" auf den Wiesen und schickt sie den Eltern, die am Ser danstag ihre Silberhochzeit feiern, daß sie ihnen sagen, daß die Gedanken ihres Ältesten in inniger Dankbarkeit bei ihnen sind. Untertags treffen in dieser Zeit die Siegesnachrichten aus Norbftankreich und aus dem Osten ein und erwecken stürmischen Jubel. Nachts, in den herrlichen klaren August­ nächten schaut er ,chis mir die Augen zufallen, in den unendlichen schweigen­ den Nachthimmel, der die Gedanken emporführt zu dem, der über den Sternen und unsrer kleinen reichen Erde waltet, und in die Heimat zu den Lieben, die mit uns in gleichen Gedanken und gleichem Glauben und Beten aufbltcken. Ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit überkommt einen da nach alle der Unruhe und dem Toben des Tages und unsäglich wohl tut das Gefühl allseitig umhegender Liebe, die aus den Briefen von Euch und andern einem entgegenschlägt". Aber schon sehnt er sich wieder vorwärts. „Im Krieg muß man vorwärts­ stürmen, um im großen Zug zu bleiben. Denn allein das Gefühl der Größe macht ihn erträglich." Mit Begeisterung begrüßt er den Befehl, wieder in die vorderste Linie einzurücken, den Aufbruch hinein „in den leuchtend roten Abendhimmel". In dieser Nacht liegt Lüneville in lohenden Flammen vor ihnen, rundum am Himmel brennt wilder Feuerschein, die Ortschaften, durch die sie kommen, sind nur mehr grauenhafte Trümmerhaufen. Und dann empfängt sie der Schützengraben, „wo wir Tag und Nacht... zu­ sammengepfercht bei glühender Hitze mit zerschlagenen Gliedern beisammen­ hocken," und wo die Stunden so träg schleichen, weil „man die seelischen und körperlichen Strapazen in Dumpfheit ertragen muß". Am 3. September liegen sie unter schwerem Granatfeuer, und er erzählt seinen Leuten vom Krieg 1870: „da merkten wir von den Granaten nichts mehr," und schreibt den Seinen dankerfüllt für eine Sendung, die eben jetzt bei ihm eintrifft: „Ich bin doch im Keinen wie im Großen gesegnet mit einem besonders gnädi­ gen Geschick." Am 4. September mittags erhält er den Befehl, sofort festzustellen, wie stark der vor der Front liegende Wald von Maixe vom Feind besetzt sei. Er ruft Freiwillige auf, um die bei Tag nahezu unmögliche Aufgabe zu lösen. Acht Mann melden sich, unter ihnen sein treuer Bursche Dabl, ein schwäbischer Bauernsohn. Er teilt sie in zwei Abteilungen und kommt

mit der feine» bis auf 50 Meter an den Rand -es Waldes. Da tritt einer seiner Leute*) unvorsichtig auf ein abgemähtes Kleefeld hinaus. Ein wütendes Feuer prasselt auf sie nieder. Ein einziger von ihnen kommt zurück,uachdem er sich stundenlang in einem Granatloch verborgen gehalten hat: Er hat noch gesehen, wie Raumer und Dabl sich deckten; weiter weiß er nichts. Die vier andern, die Raumer nach der entgegengesetzten Seite des Waldes abgeordnet hatte, werden, wie sich später herausstellt, am folgenden Tag von einer andern Truppe tot aufgefunden und unerkannt begraben. Ein weiterer Mann der Patrouille stirbt am 5. im Lazarett in Eiuville, ohne daß man ihn verhört hätte. Noch am Abend des 4. September wird der Wald von Maixe vom 3. bayerischen Reserve-Infanterieregiment gestürmt, der Smrm geht über das Gebiet, das die Patrouille mittags durchschritten hatte; tagelang bleibt es in der Hand der deutschen Truppen; man findet nichts von den Vermißten. Auch die eigne Kompanie kommt wiederholt ganz nahe an dem Haberfeld vorbei, in dem Raumer sich zuletzt gedeckt hatte. Der einzige Zurückgekommene bittet, nach dem „lieben Herrn Dizefeldwebel" suchen zu dürfen, aber die Ditte wird ihm abgeschlagen. Auch ihn deckt nun längst der Rasen. Oie übrigen bleiben spurlos verschollen. Auch diese Bruchstücke gelangten erst nach endlosen, qualvollen Erkundi­ gungen, eines nach dem andern, tropfenweise zu seinen Angehörigen. Monate­ lang waren ste in völliger, grausamster Ungewißheit. Hätte man ihn nicht auffinden müssen, wenn er dort gefallen wäre? War es nicht doch bas Wahr­ scheinlichste, daß er verwundet in einem Lazarett lag? Mußte nicht eines Tages noch eine Nachricht aus der Gefangenschaft kommen? Er konnte schwer verwundet sein, vielleicht nach Astika überführt, am Schreiben ver­ hindert. Immer von neuem erwachte die Hoffnung, immer wieder erneute sich der Schmerz des Verlustes. Aber Woche um Woche verrann; Monat um Monat, schließlich Jahr um Jahr. Er blieb spurlos verschollen. Erst 1922 gelangte, wie ein letzter persönlicher Gruß, seine Konfirmationsuhr nebst Kette und Bleistift aus England auf seltsamen Umwegen an seine Eltern zurück; sie soll sich im Besitz eines deutschen Kriegsgefangenen befunden haben, der schon 1918 dort verstarb. Alle weiteren Nachforschungen blieben auch hier ohne Ergebnis. Er ist für sein Vaterland gefallen: den schönsten Tod, den er sich selbst gewünscht hätte. Er ist gefallen noch im ungebrochnen Sturm des ersten Vordringens unsrer Waffen, im sichern Glauben an den deutschen Sieg; mitten aus einer großen Gegenwart, aus reichen Entwürfen für die Zukunft; in der vollen Blüte seiner jugendlichen Kraft. So ist sein Dlld vor uns ge­ blieben, wie er geheimnisvoll entschwand, hellen Mut und gläubige Tapfer­ keit in seinen Zügen: einer der geistigen Vorkämpfer, die uns auch heute gebieten, nicht an der Sache zu verzweifeln, der sie ihr helliges Opfer ge­ bracht haben. *) Richt, wie im Bubenreuther Ehrenbuch a. a. O. S. 60 irrtümlich ange­ geben ist, Raumer selbst. Im übrigen schließe ich mich hier dieser Schilderung, die ans die zuverläsilgsten Zeugnisse gestützt ist, j. T. wörtlich an.

XXVI Denen, die zurückbliebeu, sind viele Hoffnungen mit ihm iss Grab ge, funken. Ihn selbst aber darf man preise» mit den Wort« des Dichters:

„Köstliches hast du erwählt. Wer jung die Erde verlasse». Wandelt auch ewig jung im Reiche PersephonetaS, Ewig erscheint er jung den Künftige», ewig ersehnet. Stirbt mein Vater dereinst, der graue reisige Nestor, Wer beklagt ihn alsdann? und selbst von dem Auge deS Sohnes Wälzet die Träne sich kaum, die gelinde. Dölllg vollendet Liegt der ruhende Greis, der Sterblichen herrliches Muster. Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht Allen künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue. Der die rühmliche Tat mit rühmlichen Taten gekrönt wünscht." Karl Alexander v. Müller.

Einleitung des Verfassers ). Die vorliegende Schrift ist, ohne es zu «ollen, eine Art Jubiläumsschrist geworden. Ls find gerade 150 Jahre, daß zu Balgheim im Ries Karl Heinrich Lang geboren wurde, der Historiker «ad Satiriker, der preußische Gesandtschaftssekretär und bayrische Derwaltungsbeamte, der Archivar und „Cultivateur" — „t>er berüchtigte Ritter von Lang" wie er noch heute meist kurzweg genannt wird - „eia gediegener Opposttionsmann" nach dem Urteil Zschokkes — „eine bitterböse, hämische, verwegene Canaille" nennt ihn der Freiherr von Hormayr - „einer der reichhaltigsten Menschen, den ich kenne, weich, verschlossen, und aus diesem Widerstreit goguenard und bourru", so schildert ihn die Frau, der er in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wohl am rückhaltlosesten sein bittres Herz ausschloß, Therese Huber. Eine charakteristische, seltsam widerspruchsvolle Persönlichkeit, geeignet, unser rein menschliches und unser historisches Interesse zu erregen. Aber nicht aus diesem Interesse für die Persönlichkeit ist diese Schrift eigentlich er­ wachsen, es war vielmehr ein rein sachliches: die Frage nach der historischen Bewertung seiner Memoiren, des Buches, das seinen Namen am lebendigsten bis in unsre Tage getragen hat, das den einen das Machwerk eines skandal­ süchtigen Verleumders, den andern die Tat eines aufrechten und aufrichtigen Mannes war, den einen als Geschichtsquelle, den andern als Kampfmittel diente und dient. MS die Memoiren des Ritters von Lang 1842 erschienen, wurde ihre Verbreitung sofort von den staatlichen Behörden untersagt, wegen der darin enthaltenen „Schmähungen gegen Kirche und Staat, gegen die Verfassung und selbst gegen den Monarchen"*2).3 1845 folgte ein Angriff von klerikaler Seite, der Lang wegen seiner Jesuitengeschichtschreibung der Fälschung und Verleumdung bezichtigtes. Dies konnte natürlich alles nicht verhindern, daß die Memoiren im ganzen Land von hoch und niedrig gelesen wurden, zumal das wirssamste Gegenmittel, eine Widerlegung der Laagschen Be­ hauptungen, unterblieb. Das Jahr 48 brachte ihm dann eine beredte :) Niedergeschrieben im Juli 1914. (Anmerk. d. Herausgeber.) 2) K.A.M., M.A. 1095, Nr. rr. 3) Franz M. Wittmann, Die Jesuiten »ad der Ritter Heinrich ». Laag, (Augsburg 1845).

XXVIII Verteidigung aus dem Kreis seiner Ansbacher Freunde'), einen kurjen Lebevsabriß, in dem ihm das Zeugnis eines Ehrenmannes ausgestellt wurde, wenn man es auch nicht wagte, den zweiten Tell seiner Memoiren gutzuheißen. Das Schriftchen enthält neben manchen feinen Bemer­ kungen über Lang viel schiefe Urtelle, bleibt aber für den Langbiographen immer von Wert, da es noch auf eine persönliche Bekanntschaft mit Lang zurückgeht. Da die Angegriffenen, die ja -um großen Tell beim Erscheinen der Memoiren noch lebten, j« den Angriffen schwiegen oder, wie der alte Reigersberg, sich begnügten, herzlich darüber zu lachen, so verlor das Buch rasch an unmittelbarem Tagesintereffe und ging sehr bald in die historische Literatur über, ohne daß sein historischer Wert klargestellt gewesen wäre. So ent­ wickeln sich von Anfang an zwei Reihen in der Beurtelluug des Buches, eine zustimmende und eine abweisende, die nebeneinander herlaufen. Schlosser hat es am schärfsten kritisiert und benützte es trotzdem; Perthes hat es am eifrigsten benützt, ohne es zu kritisieren. 1881 veranstaltete das Artistische Institut in München eine Neuausgab« der Memoiren und belebte damit von neuem das Interesse für Lang. Noch im gleichen Jahr erschien ein Aufsatz K. Th. v. Heigels*2),3 * der 5 die Memoiren und ihren Verfasser von historischem und moralischem Standpunkt aus aufs schärfste verurtellt, 1883 der Artikel „Lang" in der Allg. deutschen Biographie von Muncker2), der in der historischen Wertung der Memoiren dem Urteil Heigels folgt und ihnen „den Reiz der Wahrheit" abspricht. Wie tief das Urteil Heigels nach­ wirkte, beweist die Tassache, daß noch 1899 Ludw. Geiger, als er Briefe Langs an Therese Huber publizierte'), die Lang in einem wesentlich gün­ stigeren Licht zeigten, sich ausdrücklich dagegen verwahren zu müssen glaubte, daß er eine „Rettung" Langs beabsichtige. Eine Wendung zu Langs Gunsten bahnte sich erst an, als sich da und dort bei Spezialforschungen einzelne Angaben Langs bestätigten und seine Eigenart sich schärfer charakterisierte. So zeichnete ihn 1908 Fr. Hartungs) als ftänkischen Reformationsgeschicht­ schreiber ungemein scharf, aber treffend und mit dem Bemühen, ihn aus seiner Zeit heraus zu verstehen; einzelne Angaben der Memoiren wurden als richtig nachgewiesen durch Amira bezüglich der bayrischen Verhältnisse (i9io)ti), bezüglich der ftänkischen Verhältnisse durch Tarrasch') (1912); auch Heigels Urteil über Lang im zweiten Band seiner Deutschen Geschichte ist 1) Lang, Geschichte der vorletzten Markgrafen von Ansbach, hrg. v. Hist. Ver. f. Mittelftanken, (Ansbach 1848), Dorbericht. 2) Heigel, Aus drei Jahrhunderten, (Wien 1881), S. 214 ff. 3) Allg. deutsche Biogr. XVII (1883), 606 ff. *) Forschungen zur Geschichte Bayerns, VII (1899), 67ff. 5) Kolbes Beiträge z. bayr. Kirchengeschichte, XIV (1908), 82 ff. 0) K. v. Amira, Montgelas über seine innere Politik, in: Südb. Monats­ hefte, Jahrg. VI I, Nr. I (Januar 1910), roS ff. ') F. Tarrasch, Der Übergang des Fürstentums Ansbach an Bayern, (1912).

milder als im erste» Baad »ad in seinem Dortrag von 18811). Gleich­ zeitig wurde das Iatereffe an de« Werken Langs selber durch Neuausgaben seiner Memoiren (1910, durch D. Petersens) und seiner Bayreuther Geschichte (1911, durch A. Bayer?) neu belebt, wobei aber die angebahnte gerechtere Beurteilung Langs sofort wieder ins andre Extrem umschlug. Die Ein­ leitung zur Neuausgabe der Memoireu von Petersen ist eine in jeder Be­ ziehung übertriebene Verhimmelung Langs, auch Bayer, der mit Recht den Unterschieb zwischen dem alten und dem jungen Lang betont, hält sich nicht frei von Überschätzungen und gerät dadurch zum Teil auf falsche Wege. Der Rückstoß gegen diese Übertreibungen blieb nicht aus: Wenn Hartung in seiner Kritik der Bayerschen Neuausgabe schreibt*), Lang sei überhaupt kein ernsthafter Gelehrter, sondern ein amüsanter, gelegentlich etwas bos­ hafter Feuilletonist, so geht er seinerseits wieder zu weit. Das gesteigerte Interesse an Lang und seinen Werken machte von neuem deu Wunsch rege, zu einem Kare«, abschließenden Urteil über beu historischen Wert der Langschen Memoiren zu kommen. Tiner Anregung meines Lehrers Ä. Th. v. Heigel folgend, suchte ich diese Aufgabe zu lösen. Dazu war vor allem nötig: eine systematische Durchprüfung der ganzen Memoiren auf die Zuverlässigkeit ihrer objektiven Angaben. Das genügte aber nicht bei dem durch und durch subjektiven Charakter des Werkes. Die ganze Unter­ suchung bleibt an der Oberfläche hasten, wenn wir die Memoiren nicht aus dem Wesen des Verfassers heraus verstehen, über den Ritter v. Lang selber zur Klar­ heit zu Kommen, war also uotwendige Vorbedingung. Dabei durften aber natürlich die eiozeluen Züge nicht wieder aus den Memoiren genommen werden. W galt, ein Bild von Langs Werben und Wesen zu gewinnen auf Grund von Quellen, die außerhalb der Memoiren liegen. Das ist der Zweck des ersten Teiles dieses Buches; eine allseitig ausgebaute Biographie zu geben, liegt nicht in seiner Absicht. Er baut auf breiter Basis auf, da nur aus einer genauen Kenntnis der Eigenart dieser Verhältnisse Langs Charakter ver­ ständlich wird; er kann um so rascher in die Höhe bauen, je klarer im Lauf der Erzählung das Wesen Langs sich herausschält; er kann sich endlich auf eine Anführung der wichtigsten Ereignisse beschränken von dem Augenblick an, wo der Charakter des Lang, der die Memoiren schrieb, voll entwickelt ist. Der zweite Tell bringt die Kritik der Memoiren selber und bedarf keiner besonderen Rechtfertigung. Um die Untersuchung in dieser Weise durchführen zu können, mußten vor allem umfangreiche neue Quellen erschlossen werden. Dabei mußten x) Heigel, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs d. Gr. bis zur Auf­ lösung des alten Reiches, I (1899), 362 ff., II (1911), 297 ff. 2) Aus der bösen alten Zeit, Lebenserinnerungen des Ritters von Lang; (gekürzt; Lutzsche Memoirenbibliothek 1910). ’) Geschichte des Fürstentums Ansbach-Bayreuth von K. H. Lang, neu hrg. von Dr. A. Bayer (Ansbach 1911). *) Forschungen z. brand, u. preuß. Geschichte, XXIV (1911), 606 f.

XXX die Nachforschungen von vornherein in zweifacher Richtung erfolgen: i. Quellen, die sich auf Lang persönlich beziehen, und 2. Quellen zur Kritik der Memoiren. In der ersten Kategorie käme in erster Linie natürlich Langs Nachlaß in Betracht. Leiber ist es mir, aller Mühen ungeachtet, nicht gelungen, denselben aufjnfindea. Nach Langs eigenhändigem Testament aus dem Jahr i8zr>) kam die Hauptmasse seines Nachlasses an seinen einzigen über­ lebenden Bruder, den Fürsil. Taxischen Hofchirurgus und „Besitzer einer Dadstubeu" in Regensburg Konstantin Lang, eia kleiner Teil an Heinrich Lang, den 20-jährigen Sohn eines außerehelichen, 1829 als Landrichter gestorbenen Sohnes des Ritters v. Lang. Oie Spuren des in ganz ärm­ lichen Verhältnissen lebenden Heinrich Lang ließen sich nicht weiter verfolgen; Konstantin Lang starb 1853 kinderlos, ebenfalls in bescheidenen Verhältnißen, in Regensburg; Nachkommen von Langs Oheim G. H. Lang, zu denen der Schlachtenmaler Lang gehörte, ist über den Verbleib des Langschen Nach, lasses auch nichts bekannt. Rach all dem muß als sicher angenommen «erden, daß der Nachlaß noch bei Lebzeiten der beiden Erben, spätestens aber bei ihrem Tode, verschleudert «urde. Einen kleinen Teil—Kollektaneen und Manu, skripte, die sich auf den Rezatkreis beziehen - besitzt der Historische Verein von Mittelstaaken, einen andern Teil — ebenfalls Manuskripte zu historischen und literarischen Arbeiten der letzten Jahre, Kollektaneen, keine Briefe—die Kgl. Hof- und Staatsbibliothek in München. In diesem letztgenannten Teil befinden sich als sehr wichtige Quelle zur Biographie des spätern Lang fünf Hefte, von Laag selber als „Funkenbuch" bezeichnet, in denen Lang über seine gesamte Lektüre von 1806 bis zu seinem Tod 1835 genau Buch führt, aus, führliche Exzerpte macht und zum Teil das Gelesene glossiert und kritisiert, anter genauer Angabe des Beginns und der Beendigung der Lektüre nach Tagen und Monaten, in den späteren Heften wenigstens nach Jahren. — Mit dem Langschen Nachlaß sind auch fast alle Briefe an ihn verloren, einige wenige besitzt die Hof- und Staatsbibliothek München, ein oder der andere fand sich in Münchner Archiven. Briefe von Lang konnte ich aus Bibliotheken und Archiven sowie aus Privatbesitz doch etwa 80 zu­ sammenbringen, leider sind darunter keine Jugendbriest und keine Familienbriefe; im einzelnen gibt hierüber der beigegebene Driefanhang Ausschluß. Weiteres Material zum biographischen Teil boten Pfarrakten, die Akten des Gymnasiums Ottiogen, die Personalakten Langs in den fürstl. Archiven zu Ottingen und zu Wallerstein, im Kgl. Kreisarchiv und im Allgem. Reichs­ archiv zu München, die Akten der Württembergischen Gesandtschaft in Wien (Bühler) im dortigen Haus-, Hof- und Staatsarchiv, die Rastatter Akten und der Nachlaß Hardenbergs im Geh. Staatsarchiv zu Berlin und anderes. J) In LangS Nachlaßakten, K. A. N. Rep. 193= Nr. 1372. Ich verdanke die Kenntnis dieser Akten Herrn Dr. A. Bayer, der mich darauf aufmerksam machte, daß dieselben 1912 vom Amtsgericht Ansbach ans Kreisarchiv Nürnberg kamen.

Für den memoirenkritischen Teil fand sich außer dem genannten reiches, größtenteils völlig uubenütztes Material in den Archiven ju Ottinger» und Wallerstein, im Geh. Staatsarchiv, Allgem. Reichsarchiv und Kgl. Kreis­ archiv ;u München, im Kgl. Kreisarchiv ju Nürnberg, im Geh. Staatsarchiv |U Berlin und im Haus,, Hof, und Staatsarchiv zu Wien. Den Vorständen und Beamten all dieser Archive bin ich für das mannigfache Entgegen, kommen, mit dem sie meine Forschungen unterstützten, ttt aufrichtigem Dank verpflichtet. Danken möchte ich aber vor allem auch den Oberhäuptern der Familie Ottinger», die in vorbildlicher Liberalität mir die unbeschränkte Benutzung ihrer Archive gestatteten: Ihr. Durchlaucht de» Fürsten Karl von OttingenMallerstein und Emil von Otlingen,Spielberg. Oie genaueren Angaben über die einjelnea Quellen und über die benützte Literatur befinden sich an der Spitze der einjeluen Abschnitte im zweiten Teil der Schrift. Aus diesem Grund glaubte ich auch im ersten Teil die Quellennachweise auf das nötigste beschränken zu können. Zitiert wurden die Memoiren immer nach der Originalausgabe von 1842. Dies mußte trotz der Seltenheit des Buches geschehe», da bereits die Ausgabe von 1881 kein unveränderter Abdruck ist.

Abkürzungen. A — Archiv des Hist. Der. v. Mittelftauken, Ansbach

B — Kgl. Geheimes Staatsarchiv Berlin

BB — Kgl. Bibliothek Berlin

K.A.M. — Kreisarchiv München

R.A.M. — Allgem. Reichsarchiv München St.A.M. — Geh. Staatsarchiv München

BM — Kgl. Hof/ u. Staatsbibliothek München

K.A.N. = Kretsarchiv Nürnberg St.A.N. — Stadtarchiv Nördlingen A Oe — Fürst!. Üttingen,Spielberg. Archiv Üttingen AW =





Wallerstein. Archiv Wallerstein

W — Haus/, Hof/, und Staatsarchiv Wien.

Berichtigungen. S. 29, Z. 5 v. u. statt „1973" lies „1793"

S. 60,

3* 15 v. u. statt „1794" lies „1792"

S. 60,

Anm. i zu „Gött. gelehrte Anzeigen" ergänze

S. 66,

Z. 22 v. u. streiche die Klammer vor „d. i."

„10. Juni 1793, S. 923"

S. 69, Z. 2 v. u. statt „welches" lies „welche"

S. 87, Anm. 2 statt „Lecersre“ lies „Lecestre“ S. 103, 3.18 v. 0. statt „Daterthanen" lies „Unterthanen" S. 145, 3. 21 v. u. statt „Aktien" lies „Akten"

Passim statt „Weckhrlin" lies „Wekhrlin".

1. Teil

Der Ritter von Lang

I. Kapitel.

Heimat und Kindheit. Sari Heimich Laag ist geboren zu Balgheim in Schwaben am 7. Juli 1764, also in jenem Halbjahrhundert europäischer Geschichte, das trunken von der Überfülle innere» und äußeren Lebens dem blutigen Taumel der großen Revolution entgegenstürmte, und in jenem Zentrum süddeutschen Geisteslebens, das, die Mitte haltend zwischen der leichten Entzündlichkeit der Rheinländer und dem beschaulichen Sonservativismus der Bajuvareu, von jeher die Frage» der Zeit besonders klar und scharf durchdacht hatte: etwas Gärendes, Kritisches, Unbefttedigtes lag im Blut seiner Zeit und seiner Heimat. I» Perioden so lebhafter geistiger und politischer Entwicklung, in denen die einzelnen Wellen sich überstürzen und Überholen, werbe» Geburts, ort und Geburtsjahr in ganz anderem Maße richtunggebend für die Entwick, lung des einzelne», als in Zeiten der Ruhe und Reife. Der Historiker, der ein solches Leben zu schildern hat, wirb daher gleich diesen Ausgangs, punkt möglichst klar fixiere» müssen. Langs Geburtsjahr liegt auf der Mitte einer Linie, die vom Regierungsantritt Friedrichs des Großen, des Schöpfers des ersten „aufgeklärten Staates" großen Stils, zum Aus, bruch der Französischen Revolution führt, die der Umbildung von oben her die Umwälzung von unten her entgegensetzte — und feine Heimat war der politisch zerrissene schwäbischffräakische Südwesten des Reiches, in dem am üppigsten jener Duodezabsolutismus wucherte, der de» Glanz des Roi Soleil nicht vergessen konnte, auch wen» er, ehrlich oder zum Schein, »ach dem Lor, beer des Roi lclair£ rang; der eine lachende Kultur des Rokoko erblühen ließ, die im Grunde doch nur ein baroque en miniature war, ohne die Derfeine, rung und Durchgeistiguag, die das Rokoko von Sa»s,Souci charakterisiere»; und der umso jäher von den Sturmglocken der Revolution aus dem Traum gerüttelt wurde, je tiefer er de» Gang der Geschichte verschlafe» hatte. Eine zweite Linie mag den Punkt noch klarer bestimmen, von dem das Leben Karl Heinrich Langs seinen Ausgang nimmt: Fünf Jahre vor seiner Geburt war Ehristia» Wolff gestorben, der erste, der spezifisch deutsche Aufllärung in die weitesten Kreise des Volkes getragen hatte, aber sein exklusiver Rationalismus wurde bereits überflutet von einem mächtigen Strom sensualistischer Aufllärung, der von England herüber kam; v. Säumer, Oer Sitter von Laug.

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der Patriarch der französischen Aufklärung, Voltaire, lebte noch als der gefeiertste Schriftsteller seiner Zeit, aber zwei Jahre vor Langs Geburt waren bereits die beiden Bücher in die Welt gegangen, die Höhe und End­ punkt der Aufklärung zugleich bedeuten, weil sie auf dem Boden, den die Aufklärung frei gemacht, den Grund zu einem neuen Geistesleben legten und, aus glühendem Gefühl geboren, der Alleinherrschaft des kritische» Verstandes wieder den ganzen Menschen, der Vernunft wieder das Individuum evtgegeastellten: Rousseaus ,,Emile“ und der „Contrat social“; und schon wandelte, seiner selbst noch unbewußt, der Genius unter den Lebenden, der, von einem Gefolge von Königen umgeben, auf diesem Grund den Bau eines neuen, freien Voll-Menschentums errichtete, in dessen Seele das flackernde, verzehrende Feuer der Aufklärung zur lebenspendenden Flamme harmonischer Abgeklärtheit wurde: Goethe. In der Heimat Karl Heinrich Langs aber erschien zwanzig Jahre später das erste Wochen­ blatt, das dem öttingischen Untertan die Ideen der populären Aufklärung vermittelte. ... Ein Mann mehr des Verstandes als des Herzens, stärker im Erkennen und Etnreißen des Schadhaften, Morsche», Überlebten, als im warmherzigen Erfassen und Erschaffen neuen Lebens, war Lang ei» Zuspätgekommener beim ersten Schritt, den er aus der Enge der heimischen Verhältnisse in die Weite des Lebens tat.

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Lang war noch keine fünf Monate alt, als sein Vater, ei» protestantischer Pfarrer im Dienste des katholischen Fürsten Kraft Ernst von ÖttingenWallerstein, nach der eine Stunde entfernten Pfarrei Mönchsdeggingen versetzt wurde. Noch heute schaut der breite Giebel des Degginger Pfarr­ hauses von seiner Höhe weit hinaus auf die fruchtbare Ebene des Rieses, über wogende Kornfelder und behagliche Dörflein weg nach dem stolzen Wahrzeichen ftühmächtigen Bürgertums, dem trotzigen Turm der Nördliuger Stadtkirche, und nach dem Kalkfelsen von Wallerstein, dem Herrschersttz fürstlicher Macht, die drohend vor den Toren der Reichsstadt lag, stets wachend, daß nicht zuviel Reichtum und nicht zuviel Freisinn sich in ihren Mauern sammeln; noch heute steht, wie damals, bas kleine protestantische Kirchlein friedlich neben der mächtigen Benediktinerabtei, von hohen Laub­ bäume» überschattet; und heute »och wie damals führt dort ein eigenwllliges, stolzes, verschlagenes Bauerageschlecht, kernhaft und in Tracht und Gesin­ nung am Alten hangend, den Pflug durch die schweren Schollen der dunklen Riefer Erde. Noch im späten Mannesalter, als Lang längst ein verbitterter Welt- und Menschenhasser geworden war, geht ihm das Herz auf, wenn er an dieses sein verlorenes Jugevdparadies denkt: die Schilderung dieser Zeit gehört zu den sonnigsten Stellen seiner Memoiren, und wir fühlen kaum die leise Wehmut, die aus seinen Worten klingt, wenn er am Ende eines enttäuschten Lebens so ruhig sagen kann, jene Umgebung habe gewiß für die früheste Entwicklung eines jungen Geschöpfes das günstigste Äußere

bargeboten1). Dem, der uvr das Bild des alten Lang kennt, will es scheinen, als seien jene lieblichen Farben und Formen ganz ohne Einfluß auf seine spätere Entwicklung gewesen. Und doch ist dies irrig. Lang hat dies sehr wohl gefühlt, wenn er gerade im Anschluß an den eben angeführten Satz davon erzählt, welche Freude ihm die lustigen Dogelbeerbäume im Garten und der tönerne, rotschnablige Pelikan auf dem Ofen machten und welch eilende Züge von Riesen, Teufeln, Reitern und ganzen Schlössern vor seinen Augen vorüberflogen, wenn er unterm Birnbaum liegend in die Wolken schaute. Hier liegen die Wurzeln für eine der Grundkräfte seines ganzen Wesens: die ewig unerschöpfliche, heiter spielende Phantasie. Und vielleicht können wir gleich noch einen Schritt weiter gehen: es war eine helle, offene, ich möchte sagen kleinbürgerlich-hausbackene Schönheit, die da sein jugendliches Auge faßte; nichts von verschwiegenen Heimlichkeiten, die zwischen dunklen Wäldern und Felsschluchten träumen, keine gewaltigen Formen und Fernen, die den Blick in «ngemeffene Höhen und Weiten ziehen — so wie fie war, war diese Welt schön, in ihrer Behaglichkeit, in ihrer Begrenztheit, in ihrer satten Erdhaftigkeit. Niemand, der diese lachenden Saatfelder sah, konnte stch ihrer freuen, ohne zugleich der reichen Ernte zu denken, die da reifte. Wer aus der Schönheit dieser Landschaft trank, der sog aus ihr auch jenen Sinn starker Diesseitigkeit, dem mit dem Schönen immer das Nützliche stch verbindet. Seine Liebe zur Natur war immer die Liebe zur stuchtbringenden und zur kultivierten Natur. So sehen wir hier auch einen der sympathischsten besondern Charakterzüge Langs verankert, seine hohe Achtung vor dem Bauernstand, die bei ihm etwas durchaus Persönliches war und über die Grenzen jener modischen „Sympathie" seiner Zeit weit hinausging. Seine Stellung zum Bauernstand war eine durchaus eigenartige. Er selbst gehörte nicht zu diesem harten, eigenwilligen Geschlecht: seine Dorfahren waren durch Generationen Diener und Beamte des Fürsten von OttingenWallerstein; von diesem satten, schönen Ackerboden hatten sie nie eine Scholle besessen. Und wenn er dann wieder auf jene zähen Dauerngestalten sah, so fuhren auch ste die vollen Erntewagen nicht in ihre eignen Scheuern: auch ste waren nicht freie Herren auf ihrem Eigen und bauten das Land für einen fremden Herrn; und „der Herr", dem alles gehörte, das Land und, die es bauten, und, was es trug — das war wieder der Fürst von OttingenWallerstein. In Langs Liebe zur Scholle und zum Bauernstand mischte sich immer Neid und Mitleid zugleich: Weit weniger günstig als die Eindrücke der Natur, in der er aufwuchs, wirkten die staatlichen und sozialen Verhältnisse, unter denen er groß wurde, auf ihn ein. Das ganze „öttingische Vaterland" war ein geographisch eng zusammen­ gehöriges Gebiet von etwa zwanzig Quadratmeilen, das weite Einbruch­ becken des Rieses mit den umgrenzenden Randhöhen des Jura. Weit

*) Mem. I, 13.

4 schärfer aber als diese schieden die öttiugische» Schlagbäume und Zoll­ schranken das nach de» Grundsätzen des strengen Merkantilismus ver­ waltete Laad von den Nachbargebieten. Es war eine enge Welt, die neben -ttingischev Untertanen nur „Ausländer" kannte und zwischen Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht auf Erde» und dem Herrgott im Himmel eigentlich nur noch den Kaiser in Wie» — und den nur vom Hörensagen. Eine stille, verträumte Welt, fern vom lebendigen Strom der Zeit und seitab vom großen Verkehr — als 1785 eia „öttingisches Wochenblatt" eiogeführt «erden soll, trägt die Regierung Bedenken, die Rubrik der „angekom­ menen und durchpaffierenden Fremden" zu genehmigen, „da sie immer etwas mager ausfallen und größtenteils Anzeigen von Fremden aus der Nach­ barschaft enthalten würde'") — die einzigen Städte des Gebietes von einiger Bedeutung, Nördlingen und Dinkelsbühl, waren Reichsstädte und galten als gefährlichste Konkurrenten und bittere Feinde. Und nicht einmal das „ganze" Fürstentum Httingen stand unter einheitlicher Regierung. Es zerfiel in drei Teilgebiete (Httingen-Wallerstein, Httingen-Spielberg und Balder»), die zwar eine gemeinsame „Senioratsregierung" zur Verwaltung der Zölle usw. besaßen, im übrigen aber sich gegenseitig die Apotheke und die Regierungsregistratur zusperrten?) und sich belleibe nichts dreivreden ließen, was der Scheffel Weizen im Waller­ stetnischen kosten dürfe und wie die Forstfrevler im Spielbergischen zu be­ strafen seien. Jede der drei Linien hatte ihre eigne Regierung, daneben eine Rentkammer und einen Justizsenat und acht besondere „Departements", und jedes Departement wieder seinen Direktor, seine Räte und Aktuare. Dabei s ßen freilich die meisten dieser hohen Beamten in mehreren Departe­ ments und in der Regierung zugleich und ratifizierten als Regieruagsmitglieder gnädigst eigenhändig die Protokolle und Berichte, die sie als Departe­ mentvorstände verfaßten. Über dem allem aber stand als höchste Stelle das Kabinett des Fürsten, ohne den kein Daum im Land gefallt und kein Haus gebaut werden darf, aus dessen Hand aber auch der letzte Dorfarme sein Almosen und der erste Beamte seine goldene Tabaksdose mit gleicher Ehrfurcht zu empfangen gewohnt ist. Langs Landesherr, Kraft Ernst, gehörte nicht zu den schlechtesten Ver­ tretern dieses Miniaturabsolutismus. Kein hochfliegender Geist, mehr viel­ seitig als gründlich gebildet, mehr kunstliebend als kunstverständig, aber voll Leben und unermüdlich tätig, selbständig in seinem Urteil, eigenwillig und eigensinnig in seinem Handeln, launisch, herrisch, leichten Blutes und *) AOe, R. iit.PLXXII. Nr. n. *) W, Reichshofratsprotokolle, öttingen contra Qttingen. — Die ganze fol­ gend« Schilderung stützt sich auf bisher unbenutzte archivalische Quellen in den Archiven zu Qttingen und Wallerstein, die mir in ihrem ganzen Umfang — von den Derwaltungsakten bis zu den Privatkorrespondenzen des Fürsten — zugänglich gemacht wurden. Auf Anführung von Belegstellen in jedem einzelnen Fall glaubte ich um so mehr verzichten zu können, als gerade für diesen Abschnitt der zweite Tell dieser Schrift (Kap. II, 1) ausführlichste Quellennachweise bringt.

unruhige» Geistes — „coltrique et irritä mortel" nennt chn einmal sein Bruders — Autokrat durch und durch, aber nicht unberührt vom Seist der Zeit und von ehrlichstem Stteben für das Wohl seines Landes erfüllt — alles in allem eine etwas schrullige, doch nicht unbedeutende und nicht unsympathische Erscheinung. Aber was war mit all dem Herrscherbewußtsein und aller Herrscherbefähigung anjufangen in einem Land von fünfjehn Quadratmellen? Das eiujige Verbrechen der kleinen Despoten des aus­ gehenden 18. Jahrhunderts war oft ihre Existenz. Der Fürst konnte Schulen gründen — eine oder zwei; den» für mehr waren keine Schüler da —; Manufakturen anlegen — auf die Gefahr, weder Arbeiter noch Käufer zu finden —; seine Residenz verschönern — ein Dorf von 400 Häusern —; und bann — konnte er bestimmen, wie teuer der Bäcker sein Brot verkaufen dürfe und wieviel Strafe zwei Weiber zu zahlen haben, die sich in den Straßen der Residenzstadt geprügelt habens. Gerade tätige und das Gute wollende Naturen wie Kraft Ernst mußten da zu einer selbstherrlichen Kabinettsregierung getrieben werden, die den schwerfälligen und unnützen Apparat der Kollegien und Departements möglichst auszuschalten strebte. Aber diese Ministerien und Exzellenzen ließen sich nicht einfach beiseite­ schieben. Sie waren nötig als Zwischenstufen zwischen den Untertanen und dem künstlich in die Höhe geschraubten Thron, sie waren Schemel und Krönungsornat, der dieser selbstherrlichen fürstlichen Gewalt erst Glanz und Ansehen verlieh. Aber auch, wenn er gewollt hätte, hätte Kraft Ernst daran nichts ändern können. Denn dieses fürstliche Beamtentum, vom Präsidenten beider Kammern bis zum letzten Kastenamtsgehllfen, war von der angestammten Würbe und Herrlichkeit seiner Stellung nicht minder überzeugt als der Fürst von der seinigen. Die Vorfahren des Karl Heinrich Lang hielten sich ebenso für die erbberechtigten, rechtmäßigen Inhaber der hochfürstlichen Forsthäuser zu Rohrbach und Thurneck, wie die Herren von Stubenrauch, Belli, Marschall die besondere Gnade von Gott hatten, fürstlich wallersteinische Hofräte und Exzellenzen zu sein. So waren diese ungesunden, innerlich unwahren Verhältnisse zur Unverbefferlichkeit verdammt und steigerten stetig die Finanznot des Fürsten, der »eben diesem Deamtenheer im Innern noch einen Troß von Agenten in aller Welt besolden mußte und außer seiner eigenen Famllie noch jüngere Brüder und Schwestern zu unterhalten hatte. Anderseits war aber gerade die sichere Aussicht auf Anstellung von Kindern und Kindeskindern im fürstlichen Dienst der einzige Trost, der die Beamte» das häufige Ausbleiben des Gehaltes ertragen ließ. So waren Fürst und Beamtentum unlöslich miteinander verbunden. Wie das Räderwerk einer alten, verrosteten Uhr griff dies alles ineinander. Man konnte die ganze Maschine zum alten Eisen werfen, wenn man die starken Hände eines Napoleon hatte; aber einzelne Zähne ausbrechen und Gewichte aushängen, das war unmöglich. *) AW, Personalakten Kraft Ernsts, Korresp. mit seinem Drnber Fritz, 84. ’) Eigenhändige Verfügungen Kraft Ernsts, AW, III 18, 37b.

6 Fürstliches Haus und fürstliches Beamtentum bildeten zusammen den „Hof", nach einer Volkszählung vom Jahr 1780 etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung'). Dem Hof steht gegenüber die breite Masse der Untertanen, die wieder ihrerseits in zwei sehr ungleiche Hälften zerfällt: Handwerker und Dauern. Eine Zählung aus |t>« Mitte der 80er Jahres zählt im öttivgeu-spielbergischen Landesteil bei einer Gesamtbevölkerung von über 20000 Seelen 1391 „Herren und Meister" (d. i. Handwerksmeister und Besitzer eines Gewerbebetriebs). Aber auch diese waren in ihrer weitaus überwiegende» Mehrheit zugleich Ackerbauer, so daß wir von einer fast ausschließlich bäurischen Bevölkerung reden können. Die Lage der öttiagischen und wallersteinischen Dauern war im ganzen und im Vergleich mit den benachbarten fränkischen und schwäbischen Bauern nicht übermäßig drückend. Bei dem Reichtum des Rieser Bodens konnten sie die schweren Lasten der Steuern, Abgaben, Frohnden leichter tragen als andere Bauern­ schaften, besonders soweit sie direkt unter öttingischer Herrschaft standen, vnd so ließen sie sich auch durch die revolutionäre Bewegung der 90er Jahre, die ja gerade im deutschen Südwesten stark zu spüren war, nicht im geringsten aus der Ruhe ihres schwäbischen Gleichgewichts bringens, während z. B. die Bauern des benachbarten Klosters Neresheim revoltierten. Unange­ nehmer fast als der Druck der Gutsherrschaft wurde die große Zahl der Juden — ca. 1000 — empfunden, die schon damals fast den ganzen Güter­ nab Diehhaadel in Händen hatten. Als dritte wichtige Gruppe tritt neben den Hof und die Untertanen die Bürgerschaft der „ingelegenen" freien Reichsstädte Nördlingen, Dinkelsbühl und Bopfingen. Besonders Nördlingen, Sitz einer alten bürger­ lichen Kultur, freilich von der Höhe seiner Bedeutung längst herabgestiegea, doch wirsschaftlich regsam, auch geistiges Leben noch in seinen Mauern bergend, spezifisch reichsstädtisch, realistisch, bürgerlich oligarchisch — und eben deshalb nicht nur politisch für jeden überzeugungstreuen fürstlich -ttiagischen Untertan verfehmter Boden. Wir hören zwar von Zusammen­ künften öttingischer Beamter mit den Nördlinger „Honoratioren", wobei wahrscheinlich die hochfürstlichen Hofsekretäre und Kammerassessoren über die Schrullen ihres Herrn Fürsten nicht minder geschmählt haben werden wie die Nördlinger Stadtschreiber und Apotheker über das selbstherrliche Regiment ihres Bürgermeisters; im Grunde aber sah jeder, der sich zur fürstlichen Hofgesellschaft rechnete, auf die Nördlinger „Mehlsäcke" ebenso herab wie auf das ungebildete Volk der Bauern''). ') Die'genaue Zählung erstreckte sich nur auf den öttingischen Landesteil, doch gelten für Wallerstein annähernd die gleichen Verhältnisse. a) Beitr. zur Kenntnis... des öttingischen Vaterlands, Httingeu 1786, S. 22ff. *) AW, 118/138 Polizeisachen, Revolution betr.; Berichte der Ämter Deggingen «ad Marktoffingen. 4) Dgl. die Äußerungen öttingischer Juristen in den wallersteinischen Akten bett. Streitigkeiten mit Nördlingen, und Weckhrlins Spöttereien im „Grauen Ungeheuer".

Aber nicht nur die drei großen Klaffen der Bevölkerung waren aafs schärfste voneinander geschieden; auch innerhalb der Hofgesellschaft selbst blickte jeder mit respektvoller Ehrfurcht auf die Inhaber der nächsthöhere« Rangstufen und mit dem entsprechende« Gefühl der Erhabenheit auf die­ jenigen, die nach ihm kamen. Nichts vermag diesen tiefeingewurzeltea Rang- und Klassengeist köstlicher zu illustrieren als die Erzählung Langs, wie sein Großvater, der JSgerssohn aus Rohrbach und bisherige Kammerrat Johannes Laag, plötzlich zum „Direktor beider Kammer» zu Oettiuge«Oettingea und Oettingev-Wallersteiu" ernannt wird und dabei in solche« Schrecken gerät, „seine Herren Bettern und Gevattern in solcher Art zu überspringen", daß er mit aller Beredsamkeit sich diese Auszeichnung ver­ bitten möchte und bei der Tafel sich scheu an den untersten Platz drückt*). Diese schroffe Gliederung allein erklärt uns auch die gänzliche Unblldung, ja Unkultur der großen Masse der Bevölkerung trotz dem engen Zu­ sammenleben mit dem Hof auf so kleinem Raum. Träger des geistige« Lebens war ausschließlich der Hof, und dementsprechend ist der ganze Charakter dieses Lebens ein ftanzöstsch-höfischer. Bei aller Gemeinsamkeit des Gruvdcharakters aber ist dieses geistige und gesellschaftliche Leben im einzelnen au« doch mannigfaltig nuanciert, je nach den engeren oder loseren Beziehungen der einzelnen Kreise zur fürstlichen Familie. Diese selbst bildet zusammen mit den Geschwistern und Verwandten des Fürsten und mit seinen zahlreichen adligen Gästen aus der Nachbarschaft den innersten Kreis, der regierende Fürst dessen Spitze und Mittelpunkt. Trotz der eleganten Rouffeauausgabe, die in Rotsaffian gebunden zwischen leichten französischen Romanen in der Bibliothek Kraft Ernsts prangt und trotz dem leichten Anflug von „Aufklärung", der der Regierung Kraft Ernsts nicht abzuspreche» ist, war dieser Kreis im innersten Grund seines Herzens doch noch völlig in Tradition und Autorität festgewurzelt, durchaus noch der Welt des Barock und reinen Absolutismus «»gehörend. Macht, Glanz, Erhabenheit, formale Gebundenheit bei innerer Zügellosigkeit — das waren die innersten Potenzen, die auf dem seelsschen Grund dieses Kreises wirkten, eia zentral ltstisch-merkantilistisches System ihre sichtbarste Ausprägung nach außen. Kraft Ernst hielt sich für den Angelpunkt, um den das ganze Getriebe seines „Staates" sich drehte, wie je Ludwig XIV.; er hielt sich nie für den ersten Diener seines Staates, sondern für dessen Verkörperung; er repräsentierte in seiner Person Glück und Ehre, Wohl und Wehe seines Volkes; er hielt sich für unverletzlich und unverantwortlich, zu einer Art höherer Menschen­ gattung gehörend, erhaben über die Gesetze und Alltäglichkeit der großen Masse, Herr über Zeit und Behaglichkeit, Gut und Leben seiner Untertanen. Das war ein Macht- und Autoritätsgefühl, das sich dem der katholischen Kirche im tiefsten Innern verschwistert fühlte und mit Notwendigkeit dazu führte, diese zu stützen und zu begünstigen — hier zeigt sich vielleicht am klarsten die Kluft, die diese« innerste« Kreis von dem der aufgeklärte« Hofleute

Mem 1, 6f.

8 trennt, der ihn konzentrisch umschließt. Und wenn noch einiger Zweifel übrigbleibt, so brauchen wir nur einen Blick in die Briefe zu werfen, die die junge Marie Sophie von Otlingen ihrem Bruder Kraft Ernst nach Straß­ burg und Paris schreibt'). Nichts vermag vielleicht das innerste Leben dieses Kreises reiner, unverfälschter widerzuspiegeln als die Briefe dieser Sieb­ zehnjährigen, die stch kein größeres Vergnügen weiß, als auf ihrem Lieb­ lingsroß über Bäche und Gräben zu setzen, mit ihrem köstlichen, urwüchsigen Humor und ihrem leidenschaftlich pathetischen Schwung, mit ihrer Mischung aus derber, leichtfertiger Sinnlichkeit und tiefeingewurzeltem Gefühl für die Würde und Gebundenheit der fürstlichen Person. Das balgt und neckt sich wie junge, ungeschlachte Bären, das nennt sich „Esel" und „herzaller­ liebster Schatz", alle Schranken der französischen Etikette mit derberDeutschheit durchbrechend, bas spricht von Liebeleien und Maitreffen wie von Selbst­ verständlichkeiten, aber das kennt als Menschen eigentlich doch nur Fürsten und Prinzessinnen samt den dazugehörigen Lakaien und Kammerzofen, und das bebt tiefinnerlich verletzt zurück vor jeder Entwürdigung der eigenen Person, vor jeder Preisgabe des fürstlichen Namens an das profanum volgus, und nicht der leiseste Schimmer fällt in diese Welt von dem Leben, das draußen stürmt und täglich stirbt und neu geboren wird, von dem Neuen, das draußen wächst und drohend reift... Hier scheinen die letzten Brücken abgebrochen, die hiuüberführeu in die Welt kühler, tändelnder Grazie und pedantischer Vernünftigkeit, in die Welt des Rokoko und der Aufklärung, die den Kreis der eigentlichen Hofleute charakterisiert. Und doch stehen diese beiden Welten in unmittelbarem, engstem Zusammenhang und strömen unaufhörlich ineinander über. Sichtbar schreitet die fürstliche Welt in die umgebenden Kreise hinüber. Da werden, den Glanz des fürstlichen Hofes zu erhöhen, ganze Straßen­ züge und Häuserkomplexe erbaut, die in ihrem einfach-vornehmen französi­ schen Barock seltsam genug mit den deutschen Giebeldächern des Städtleins kontrastieren; da werden Künstler und Musiker, wie Beecke, der Schüler Glucks, berufen, etruskische Vasen und wertvolle Gemälde angekauft und eine Bibliothek gegründet, die noch heute ein Prunkstück des fürstlichen Hauses ist; da kommen fürstliche Gäste zu großen Jagden, da rollen vierspännige Karossen durch die Reihen der dienernden, knixenden Hofgesellschaft, da schweben die Klänge italienischer Kantilenen und Gluckischer Arien durch seidenrauschende, prunkende Gemächer, und da staunen Dauern und Pfar­ rersbuben am Gartengitter mit großen Augen in die verglimmende Pracht italienffcher Nächte, bis hinter dunkelnden Taxushecken das letzte silberne Lachen der Kammerzofen verklingt. Diese leuchtende Freude der Sinne, diese glühende Pracht der Farben — das ist Barock, ttotz des fehlenden großen Schwunges Barock, hineinragend in die Gegenwart und in seiner

*) AW, Personalakten Kraft Ernsts 8z, Korresp. mit seiner Schwester Marie Sophie; ich hoffe, an anderer Stelle eine Auswahl aus diesen Briefen publizieren zu können.

rauschenden Tonfülle erstickend die feine», silberne» Stimme» des Rokoko n»t> den herben, verständigen Ruf der Aufklärung. Und doch sind für das feinere Ohr auch diese Stimmen vernehmbar genug. Sie klingen aus der Srajie Mozartscher Menuette und aus den zierlich gedrechselten französischen Versen, mit denen die Hofkavaliere die neue Fürstin begrüße«, sie schimmern aus der „wehmütigen Träne im Aug' der getreuen Untertanen" beim Tod des Erbprinzen Karl, und sie sprechen bald vernehmlicher und gewichtiger von den Kanzeln protestantischer und katholischer Theologen, die in Wort und Schrift Toleranz und Menschenliebe predigen. Hiemit treten wir bereits in einen Kreis, der nach seiner Eigenart and seiner Bedeutung im allgemeinen und für Lang im besonderen vom vorigen geschieben werden muß: es ist der Kreis des protestantischen Pfarrhauses. Es waren dies — der Hof selber war katholisch — durchweg Land Pfarrhäuser, auch wo sie einen „Spezial" oder „Superintendenten" beherbergten. Aber die Distanzen waren freilich zu gering und die Zahl der Gebildeten im Lande zu klein, als daß nicht auch in ihre Mauern etwas von der französischen Hofluft gedrungen wäre. Aber stärker war in ihnen die Macht der Tradition, die lebendige Tradition einer spezifisch bürger­ lichen Bildung, eines bürgerlichen Familienlebens, dessen fast einzige Vertreter sie waren inmitten einer straff zentralistisch um den Fürstenthron gescharten Hofgesellschaft, und eines bürgerlichen Geisteslebens, das stets neue Kräfte sog aus den lebendigen, unverbrauchten Schichten des Volkes. Und stärker schlugen in sie hinein die Wogen des große» Lebens, das draußen flutete und brandete. Diese Pfarrherr» waren fast alle in Altdorf und Erlangen, in Halle, Jena Studenten gewesen, sie waren zu den Füßen von Baumgarten und Ernesti gesessen und hatten etwas gespürt von dem mächtigen Lebensstrom, der damals von England und Frankreich her nach Deutschland strömte, sie hatten die Fesseln dumpfer Gebundenheit In sich zerbrochen und die Gedanken von Geistesbefreiung und Menschen­ verbrüderung in sich getrunken und waren zurückgekehrt als „Aufgeklärte" — im Geist oder in der Wahrheit —: sie waren Rationalisten. Aber dieser süddeutsche Rationalismus hatte von vornherein eine etwas andere Färbung als die schroff iatellektualistische Aufklärung Berliner Richtung^). Utili­ taristisch war auch er: auch ihm war, was er Religion nannte, nur der sicherste Weg, um zur Glückseligkeit zu gelangen. Aber er stellte nicht so sehr die aggresswen Tendenzen der Aufklärung, den Kampf gegen Mittelalter, Papismus, Schwärmerei, gegen alles historisch Gewordene in den Vorder­ grund, als vielmehr die befreienden und versöhnenden: Toleranz, Menschen­ liebe, Loslösung vom Dogma, ewiger Fortschritt der Menschheit. Er war weniger abstrakt und hatte von vornherein einen starken Einschlag

*) Neuerdings hat X. Arier in seinem Buch „Der Aufklärer Fr. Nicolai" (Gießen 1912) den Versuch gemacht, diese iatellektualistische Grundrichtung zn leugnen, m. €. ein aussichtsloses Unternehmen. Ein gemütvolles Wort macht noch keinen Gemütsmenschen. Es ist schabe, baß Aner durch die ausgesprochen apologetische Tendenz seiner klaren nnd gründlichen Arbeit den vollen Ertrag geschmälert hat.

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süddeutscher Sinnenfrische und süddeutschen Gemütslebeas in seine nüch­ terne Welt sich hinübergerettet und unterlag infolgedessen nicht ganz so stark der Gefahr der Verflachung und Versandung. Das war der Punkt, von dem aus dann später die Sailer und Lavater und die protestantischen Auf­ klärer dieser Gegend fich die Hand reichen konnten, während sie Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek" mit Feuer und Schwert verfolgte. Es ist ungemein charakteristisch und entspricht ganz dem seelischen Habitus dieses Kreises, wenn unter den Büchern, die in der Famllie des wallersteiuischen Superintendenten Georg Heinrich Lang gemeinsam gelesen werden, nach Langs Erzählung*) „Lavater, Claudius, Stilling, Niemeyer, der Don Quixote, die Brüder Gerundio, Siegwart und Sebaldius Nothan­ ker" friedlich nebeneinander erscheinen. Und noch ein vierter Kreis ist endlich zu nennen, der auch jur Hofge­ sellschaft im weiteren Sinn gehörte und doch bewußt aus ihr hinauswuchs, vom Dann ihrer Denk- und Handlungsweise sich loslöste: die junge Ge­ neration. Nicht die ganje. Aber ein paar junge Assessoren und Kandidaten, eia paar Söhne hochfürstlicher Amtmänner und Präsidenten: sie waren nicht mehr so steif und zahm wie ihre Väter in Zopf und Perrücke, stür­ mischer und heißer rollte in ihnen das Blut ihrer Zeit, sie nahmen die Auf­ klärung mit Haut und Haar, mit allen ihren Konsequenten und nicht aus zweiter und dritter Hand, in langen Leitungsröhren gebändigt und erkaltet, sondern von den heißen, sprudelnden Quellen selbst: Gibbon und Voltaire waren ihre Lektüre, Schubart in seinen wildesten und stürmischsten Gedichten war ihr Führer; und bald genügte auch der nicht mehr; dann kam Helvetius und — Wekhrlin. Das war die geistige Welt, in der Karl Heinrich Lang geboren wurde und heranwuchs, die seine ganze Jugend umschloß bis ins achtzehnte Jahr. In all die geschilderten Lebenskreise hat er von frühester Kindheit au hinein­ gesehen, sie von innen her kennengelernt und ihren Einfluß an sich selber erfahren infolge der eigenartigen FaMilieuverhältnisse, unter denen er groß wurde. Da war zunächst der alte Großvater in Qttivgea, Johannes Lang*), der Förstersohn und gewesene „fürstliche Kammerjuag", der sich „des Qttiogischen Herr» Secretarius Greiner einzige Jungfer Tochter" zur Frau geholt hatte und dann über die erstaunten Herrn Detter» weg mit *) Wem. l, 40. 2) AW, Personalakt des Johann Lang; fürstl. ött. Bibl. zu Maihingen: „Lebenslauf weiland G. Johann Lang, ... Kammerdirektors ..., von des wohl, seligen hinterlassenen zween Söhnen I. P. Lang und G. H. Lang" (bis 1763 nach eigenhändigen Aufzeichnungen des Verstorbenen). Im Stadtarchiv zn Nördlingen: Gedrucktes Letchengebicht und Lebensabriß: „Auf dem Grabe weyland Herrn Joh. Lang etc."; Qttingischer GeschichtSalmanach 1783: Lebensabriß des Joh. Lang (im wesentlichen Auszug aus dem erstgenannten „Lebenslauf"). Diese Quellen bestätigen die Notizen der Memoiren über Johann Lang.

so unerhörter Kühnheit die Stufen bis dicht unter den Thron hinaufgespruugen war und nun als fürstlicher Kammerdirektor geachtet und geehrt in Httingea lebte und noch als Siebziger elegante untertänigste Dank­ schreiben in vollendetem französtschem Hofstil verfaßte, ein Jahr bevor ihn ein Schlagfluß der Sprache beraubte. Wie mag der junge Karl Heinrich gestaunt haben, als er zum erstenmal das stattliche Eckhaus am Marktplatz in Httingen betrat, in dem die Großeltern wohnten, und all die vornehmen Herrschaften sah, die da zusammenkame», und zum erstenmal etwas ver­ spürte von dem stolzen Bewußtsein, Enkel eines fürstlich öttingischen Kammer­ präsidenten zu sein! Aber das Entscheidende war: die Herren Vettern und Verwandten lebten noch als fürstliche Jäger und Forstmeister! Die Familie wußte: wir sind von unten her; aber nun sind wie groß geworden, nun gehören wir zu den Ersten im Laad — aus Gnade, durch Fürstengunst! Es war doch etwas Erhabenes um diese fürstliche Majestät, die einen so aus dem Dunkel ins helle Licht versetzen konnte! Und es war so schön, sich von dieser fürstliche» Sonne bescheinen zu lassen und etwas von ihrem Glanz auf der eigenen Person zu spüren, und es war nicht anders als recht und billig, diese Sonne dafür anzustaunen und zu preisen, ebenso, wie man sich selber anstaunen und preisen ließ von denen, die nicht so hell beschienen wurden. Aber das war nicht das Einzige: man stand auch nah genug am Thron, um etwas hinter den Purpur schauen zu können, um zu sehen, wie viel Morsch­ heit und Uawahrhaftigkeit unter dieser glänzenden Hülle steckte. Der alte Johannes Lang spürte das wohl noch nicht so. Aber als er starb, da wußte die Frau Kammerdirektorin nicht, wovon sie sich und ihre Familie ernähre» sollte und erhielt auf ei» untertäniges Bittgesuch für sich und ihre acht ver­ waisten Enkel eia Gnadengehalt von jährlich —150 fL1). Und Lang war einer dieser Enkel und erfuhr es am eigenen Leib, wie rasch Fürstengunst ver­ weht! Und ein Drittes kam noch hinzu: ganz heran an den Thron konnte man doch nicht; da stand immer als unverrückbare Mauer der Adel noch dazwischen, der alles das ohne Mühe kraft alter Rechte besaß, was man mit aller Tüchtigkeit und aller Devotion nicht erreichen konnte. All das sind Dinge, deren Spuren ein ganzes Leben nicht in Lang verwischen konnte. Nicht eigentlich das Leben hat sie erst seiner jungen Seele etogegraben: er trug sie in sich, in jedem Tropfen Blut, der von seinen Vätern her in ihm kreiste. Der bittre Haß gegen allen eitlen Fürstenprunk, gegen den Adel und die DuodezfürstenÄmer des alten Reichs, und auf der anderen Seite doch immer wieder diese Devotion, dieser unüberwindliche Respekt vor Fürsten­ throne», den Lang bei aller scheinbaren Unverfrorenheit zeit seines Lebens nicht los wurde — hier liegen ihre tiefsten Wurzeln. Der Sohn der Auf­ klärung bäumte sich auf gegen jede Verletzung seiner Menschenwürde durch Fürsten und Regierungen und warf ihnen in zornigen Sätzen sein Amt vor die Füße — aber der Enkel des Präsidenten verneigte sich und machte eine Bittschrift draus.

*) AW, III6/7a Persooalakt des Johann Lang.

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Das wäre» die Eindrücke, die Lang gewissermaßen schon ins Leben milbrachte; erst spätere Jahre knüpften wieder da an. Die Welt, die sich dem ersten verwunderten Ausschlagen seiner Kinderaugen öffnete, war eine andere: Eine sonnige Welt, Felder und ziehende Wolken, weidende Herden und stille Dörfer — wir haben sie bereits eingangs geschildert. Und diese Welt wirkte nicht nur als Landschaft auf seine Phantasie. Langs Vater war Landpfarrer, also zum Kreise der Gebildeten gehörend; aber zu der Gruppe «ater ihnen, die die lebendige Drücke schlug zu den untere» Schichten der Bevölkerung, zu den Kleinen im Lande, den Bauern, dem „Volk". Karl Heinrich wurde als das vierte von neun Geschwistern*) geboren; aber sein nächstälterer Bruder starb schon als Kind, der nächstjüngere, Christian, scheint ftühzeitig nach Ottiagen zu den Großeltern gekommen zu sein. Am nächsten, wohl auch innerlich, stand ihm seine Schwester Magdalena; aber das war nicht genug Gesellschaft für einen Knaben vom Schlag Karl Heinrichs; seine Gespiele» waren die Bauernbuben aus dem Dorf. Mit ihnen mag er manchen Nachmittag zwischen Scheunen und Ställen, im Pfarrgarten und zwischen Kornfeldern vertollt haben, von ihnen hörte er manch alten Aberglauben und manch derbes Wort, von ihnen lernte er, wie das Volk denkt und fühlt und redet, und wurde selber einer wie sie. Das Leben hat sich später viele Mühe gegeben, die Spuren dieser stützen Jugendzeit auszulöschen; ganz sind sie nie in ihm erstorben. Sie gehörten zum Besten, was er durchs Leben trug, und ließen ihn in späten Tagen noch einen Weg finden in eine neue Zeit, die er sonst nicht mehr verstand. Noch ein Jahr vor seinem Tod erzählt er Jakob Grimm von all den feinen bunten Schlangeamärlein, die in seiner Heimat zu Hause waren; „jedes Dorf wußte da von seinen eigenen Schlangen zu erzählen"; es waren „die liebsten Erzählungen unter uns Kindern, besonders den Dauernkindera"?).

Das Glück dieser Jugendtage sollte ein jähes Ende finden: Im Früh­ jahr 1770 — Lang war noch nicht sechs Jahre alt — riß der Tod den Vater im besten Mannesalter aus der Mitte der lachenden Kiaderschar. Kon­ stantin Laag war ein schlichter Biedermann gewesen, der still seine Pflicht tat, ein Schüler von Thilo und Ernesii, freigesinnt, doch zu wenig original und selbständig, um in entschiedenen Widerspruch zur herrschenden Kirchen­ lehre zu treten, vorurteilsfrei und tolerant, von einer gewissen trockenen Leb, Hastigkeit, leidenschaftlich, wo er Torheit sah — die „schwärmerischen Herrn­ huter" erschienen ihm „kindisch"^), aber mit den Mönchen des benachbarten Klosters Deggingen verkehrte er freundschaftlich und unterrichtete sie in der Mathematik — ein vorzüglicher Lateiner, des Griechischen und Orientalischen *) Tauf- und Sterberegister der Protest. Gemeiudea Balgheim und MönchsDeggingen.

z) Lang an Jak. Grimm, 20. SÄug. 1834; s. Briefanhang! 3) „Rhapsodien über die Leiden des Erlösers" von Konstantin Lang in @. tz. Langs „Landprediger", Dd. 1, S. 53 (Nördlingen 1774).

kundig, immer aber mehr nach praktischer Verständlichkeit, nach Popularität, als nach geistreicher Gelehrsamkeit strebeud; vor allem aubero eio warmer Freund der Jugend, seinen Dorfkmder» eia guter, verstehender Lehrer, seiner ausgelassenen Schar daheim mehr Freund und Spielkamerad als gestrenger Iuchtmeister. Da konnte er sich mitten unter die kleine Gesellschaft auf den Erdboden setzen und ihnen Menschlein und Tierlein aus Wachs und weichem Brot kneten, oder er lehrte sie unter Lachen und Scherzen das ABC, daS er mit großen Buchstaben an die Stubentür gemalt hatte*). Aber Karl Heinrich verdankt ihm mehr als die Erziehung dieser erste» Jugeadjahre — er verdankt ihm alles, was er als seine Eigenart der Um­ welt entgegenzusetzen hat. Karl Heinrich Lang ist in seiner Charakterentwick­ lung ungewöhnlich stark von den umgebenden Menschen und Dingen ab­ hängig; die Eigenart und die seltsame Zusammenführung und Verquickung dieser Einflüsse trägt bereits so individuelle Züge, daß man versucht sei» könnte, de« ganzen Lang aus ihnen zu konstruieren. Da ist es denn eine ganz heilsame Lehre, an einem Porträt des frühverstorbenen Vaters zu sehen, was er als Erbstück und Eigentum bereits in diese Welt mitgebracht hat. Es hat etwas fast Erschreckendes, das geistige Antlitz eines Menschen so bis in einzelne Falten und Züge hinein in dem des Vaters vorgebildet zu sehen wie bei Karl Heinrich Lang. Das Nördlinger Stadtarchiv besitzt einen Lebenslauf Konstantin Langs, unmittelbar nach seinem Tod in der frischen Erinnerung an den Dahingegangenen geschrieben von seinem Bruder Georg Heinrich Lang, zu einer Zeit also, da der junge Karl Heinrich noch als ein Menschlein von sechs Jahren ins Leben schaute, nichts ahnend von allem Licht und allen Bitternissen, die es ihm bringen sollte — und alles Wesentliche, ganze Reihen von Sätzen daraus, können wir, ohne ein Wort zu ändern, auf Karl Heinrich anwenden, wie er im Lauf der Jahre geworden ist. Da erscheint vor allem als seelische Grundkraft jene lebendige Phantasie, die unruhig von einem zum andern schweift und jede leere Fläche mit Bildern und Gestalten füllt: „Er schien zu den übrigen Thelle» der Gelehrsamkeit ebensogut aufgelegt zu seyn als zur Theologie ... Zuweilen machte er sich bas Vergnügen, Luftschlösser vor meinen Augen zu erbauen, und auch hier zeigte sich in der Anlage, Aufführung «ad Aus­ schmückung dieser Gebäude sein Helles, die Gegenstände auf allen Seiten betrachtendes Auge und sein erfindungsreicher Geist, wodurch er ... allen allerley werden konnte" (S. 9) — die Phantasie erscheint aber auch *) Quellen zur Charakteristik und Lebensgeschichte Konstantin Langs: die von ihm geführten Pfarrbücher in Balgheim und Mönchs,Deggingen; von ihm verfaßt: „Rhapsodien über die Leiden des Erlösers" in seines Bruders G. H. Laag theologischer Zeitschrift „Der Landprediger" 1. Bb., 1774, und „Beantwortung der Lavaterischea Fragen", ebenda, 2. Bd. 1775; über ihn: „Bemerkungen zur Lebensgeschichte «eyl. Herrn Constantia Laag, gewesten ... Pfarrers zu Mönchs, Deggingen", Üttingen, bei Lohe, 1770, verf. von seinem Bruder @. H. Lang (Stadt­ archiv Nördlingen, Druckschriften); „Nachrichten von dem Charakter und der Amts, führung rechtschaffener Prediger und Seelsorger" V, 28 ff. (Halle 1777).

i4 schon als die das ganze Temperament beherrschende Macht: „Die kebHastigkeit seines Geistes «ar ans seinem heitern Angesichte abgemahlt und über seinen ganzen Körper ausgebreitet. Wenn er in Gesellschaft guter Freunde etwas interessantes zu sprechen oder zu erzählen hatte, so fiel es ihm schwer, ruhig sitzen zu bleiben, er sprang auf und ging über dem Erzählen hin und her" (S. 26) — neben der Phantasie aber und oft genug mit ihr in Kon­ flikt steht auch beim Vater jener Drang nach nackter, nüchterner Wahrheit, der allen Aberglauben und allen leeren Prunk haßt und verfolgt: . stritt gegen eingewurzelte DorurtheUe und verjährten Aberglauben", eia treuer Seelsorger, „doch gefiel ihm das Gepränge mancher dabey vorkommenden Moden wenig" (S. 20) — und auch den Vater schon führt dieser Wahrheits­ fanatismus im Verein mit der Lebhaftigkeit seines Temperaments und seiner Phantasie zu Konflikten mit seiner Umgebung und gelegentlich zu deren Verspottung: „da er von so vielen allgemein herrschenden Vorurtheilen befreyet war und sich zuweilen freymütig als ihren Gegensachwalter zeigte, da er, so sehr er ... die Stimme der Medisance ... in den Schranken zu halten suchte, doch über Thorheiten, besonders des sich brüstenden Stolzes, lache» konnte und sie die Geißel der Satyre fühlen ließ, so ist nicht zu hoffen, daß er sich überall angenehm gemacht haben sollte" (S. 26) — und die Schuld lag wohl nicht immer auf Seite der Verspotteten: Sein Fehler war „eine gewisse Hitze, die ihn zuweilen überfiel und ... mehr in Bewegung setzte, als das, was sie erregte, zu erfordern schien". Wenn innerer Groll sich bei ihm angehäuft hatte, „war eine Kleinigkeit hinreichend, ihr zum Ausbruch zu verhelfen ... Vielleicht ... eine Frucht seines lebhaften Geistes und vielleicht, in manche» Fällen, seines guten, menschenfreundlichen und patrio­ tischen Herzens selbst" (S. 27). Das sind Sätze, die uns geradezu für die Psychologie Karl Heinrich Langs unmittelbare Dienste leisten können. Und sogar den Lang der letzten Jahre sehen wir schon vorgezeichnet: „So lebhaft und gesellig er aber war, so wenig liebte er das Geräusche solcher Gesell­ schaften, aus denen gesunder Menschenverstand und Vergnügen geflohen zu sein schienen, weil Eitelkeit, Stolz, Verleumdung und Falschheit den Ton darinnen angaben." So „zog er sich immer mehr in seine Einsamkeit ... zurück, ohne deswegen ein menschenscheues, finsteres Leben zu führen" (S. 27). Lang hatte noch manche grade und krumme Wege zu gehen, bis er diese heitere Einsamkeit des Alters fand. Die beiden Menschen, die zunächst Einfluß auf sein Inneres gewannen und diesem bildsamen, reichen Stoff ihre Züge eiaprägten, waren die beiden Brüder des Vaters, Jakob Paul und Georg Heinrich Lang, bei manchem Gemeinsamem doch zwei grund­ verschiedene Naturen. Nach dem Tod des Vaters war die ganze Familie an die zahlreiche Verwandtschaft verteilt worden, um wenigstens der ersten Not zu steuern1). Karl Heinrich scheint zunächst zum jüngsten Bruder des *) Beim Tod des Großvaters Johannes Lang (1773) bittet dessen Witwe um ein Gnadengehalt, da sie „den aus 8 unversorgten Kindern bestehenden Waisenhaufen"

Vaters, Georg Heinrich, gekommen zu fein1),2 3damals Pfarrer in Hohen­ altheim, der fürstlichen Sommerrefldent, vier Jahre später als Super­ intendent nach Trochtelfingen versetzt, „wieder einem neuen Fleck des «uvderbarliche« Schwabealaades, etwa vier Stunden vom alten Wohnsitz entlegen". Den Geist, der in diesem Hause herrschte, haben wir bereits oben (S.yf.) in allgemeinen Zügen geschildert, es gilt, hier nur noch das Per­ sönliche, Unterscheidende hiazujufügen. G. H. Laag war der Stimmführer dieser aufgeklärten Laadgeistlichen und ihr hervorragendster Vertreter, nur etwas höfischer, weltmännischer dabei, unstreitig der begabteste der drei Brüder, eia gewandter Schriftsteller und Gesellschafter, und stets sich dessen sehr bewußt, auch in seinem Charakter lang nicht so schlicht-eindeutig wie der Vater KarlHeiarichs—er nannte sich einen „innigen Verehrt Lavaters^) und Ludwig Weckhrlin, der fteigeistige Spötter, ihn seinen „Busenfreund^); er schrieb „aszetische Betrachtungen"^) über Bibeltexte und Predigten über „die Pflicht des christlichen Menschenfreundes, Anderen gern einen vergnügte» Abend ju machen"^) — sehr charakteristisch ist, daß die „Allgemeine deutsche Bibliothek" ihn immer nur unter starken Vorbehalten lobt; so rühmt sie einmal sein gesundes Urteil und seine Unparteilichkeit, „soweit sie sich bei des Verfassers Vorliebe »ur symbolischen Theologie nur immer erwarten ließ"°) — den Berliner Aufklärern war dieser Mann, der nicht schlechtweg alles verdammte, was von Rom kam, und der noch so etwas wie ein Gemüt hatte, ei» unbehaglicher Bundesgenosse «ad vor allem — er war ihnen nicht konventionell genug! Georg Heinrich Laag ließ sich nie binden, weder von den Orthodoxen noch von den Aufgeklärten, die ihre Dogmen für nicht minder unfehlbar hielten, er folgte immer seinem eigenen Kopf und spottete Über die „Regelmäaaer" und machte sich eine Freude daraus, seine Geringschätzung an­ erkannter Autoritäten zu teigen und gegen die Trägen zu Felde zu ziehen, die ihre Unlust ;u reformieren hinter die Furcht vor Volksverwirrung und

ihres verstorbenen Sohnes samt deren Mutter mitversorgen müsse, die „samt und sonders meiner täglichen kostbaren Unterstützung und Verpflegung bedürfen" (AW, Personalakt des Johann Lang). *) Oer andere Bruder heiratete erst Nov. 1770 (Nörblinger Archiv, Druckschr.)

2) „Der Landprediger" von G. H. Lang, 2. Bb., Nördlingen 1775, Dorbericht. 3) Gottfr. Böhm, Weckhrlin (München 1893) S. 234; sehr amüsant ist die Erjählung Weckhrlins, wie er G. H. Lang als Hofprediger bei der Fürstin v. Thuru nnd Taxis in Regensburg „installiert" habe (1789): „Jnstalliren! Warum nicht? Am Taxischen Hofgiebt's kein Konsistorium: es waren sonst keine Lutheraner beim Akt zugegen als er und ich. Wer installierte den Hofprediger im Paradies? Vermut­ lich der Nächstbeste. So bei Freund Lang ... Ich legte ihm die Hand aufs Haupt und sprach da»»: Duldet, die Euch dulden! Hier war Litanei und Segen." (BriefW/s, io. Oez. 1789; Böhm, 6.233 f.)

*) „Musestunben des Landpredigers" von G. H. Lang, 1. Bd., Nördlingen 1787. ‘) Otlingen 1791.

•) Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 69, S. 41 f. (1786).

i6 Zwietracht »etf($«nienI). Das war eine Aussaat, die bei dem jungen Karl Heinrich auf empfänglichen Boden fiel, schlummernde Kräfte weckend und alte Bindungen lösend: Stets nach seinem eigenen Kopf zu leben, nichtzu fragen nach Konvention und Autorität, dieser Drang blieb ihm ebenso lebendig wie die Lust am Kritisieren und Reformieren. Gleichzeitig bot das freie, ungezwungene Landleben und die Nähe des fürstlichen Hose­ während der Sommermonate, mit seinen Festen und Herrlichkeiten, mit seinem Troß von Musikanten und allerhand französisch parlierendem Gelichter, bald auch die Bibliothek des Oheims, der Phantasie des Knaben neue Nahrung, seinem jugendlichen Genius nicht immer die beste Gesellschaft. In etwas festere Hände kam er erst in seinem 12. Jahr, als 1776 ein Vetter, Konrad Lang — einer aus der waidmännischen Nebenlinie — von der Universität Tübingen kommend den Kreis der FamUie erweiterte2). Recht viel Autorität hat wohl der milde, kränkliche, junge Mann2) von Anfang an nicht gehabt bei dem „wilbgewachsenen" Pfarrersbuben. Er konnte sie auch nicht gewinnen, als er bald darauf als „Rektor" an das lateinische Seminar zu Ottingen berufen wurde und Lang ihm dorthin folgte. Das Ottingische Seminar2) hatte einst einen guten Namen gehabt; nun war es völlig veraltet und verstaubt und erlebte unter dem Rektorat Konrad Langs einen Tiefstand an Schülerzahl und innerer Tüchtigkeit. Die Regierung macht wiederholte Reformvorschläge, aber die Lehrer antworten mit Beschwerden über schlechte Bezahlung und lassen sich nicht aus ihrem alten Trott bringen, und der arme, schwer nervenleidende Rektor vermag nichts als in langen Eingaben über die greuliche Unwissenheit der Schüler zu jammern und ihre himmelschreienden Fehler in grammatica in langen Reihen verbaliter aufzuzählen. Man trieb Lateinisch und Griechisch, auch Mathematik, man hielt auch wohl Schulfeiern, wobei die Schüler lateinische Reden hielten — 1779 sollte zum erstenmal ein Schüler auch „in teutscher Sprache die Dichtkunst loben"3) — Gellerts Fabeln waren der einzige Hauch der „neuen" Zeit, der in dieser erstorbenen Luft zu verspüren war; der Katalog der Semmarbibliothek enthielt noch 1793 außer Gottsched und einigen geschichtlichen Werken der 80 er Jahre fast nur antike Schrift, steller und theologica — nur „das 4. poetische Buch von Hans Sachsen" ragt einsam aus dieser Umgebung*). War es ein Wunder, daß es dem an die Freiheit gewöhnten Karl Heinrich in dieser Luft nicht behagte, zumal dort außer dem Detter und *) „Katechetisches Magazin" von G. H. Lang, 1. 95b., ®. 83 (1781). 2) AOe, Akten des lateinischen Seminars (Konststorialakten); die verdienstvolle Arbeit von Fischer über das Otting. Seminar (Gymn.-Programm 1913) reicht leider »och nicht bis in unsere Zeit; doch verdanke ich persönlichen Mitteilungen des Verfassers manchen interessanten Hinweis. s) Nördlinger Stadtarchiv, Druckschriften, „Einladung zu einer am 8. April 1779 ... anzustellenden Redehaadluag" des Semioariums zu Ottingen. *) AOe, Kons.,Akten, „Katalog der in d. Btbl. des Ott. Sem. enthaltenen Bücher" von Rektor Lotzbeck in den Jahren 1788—94 gefertigt.

Rektor auch »och die stete Nähe von Mutter und Großmutter, Bruder und Oheim ihu voa alle» Seiten sorgend und beobachtend umgab? Der ältere Bruder des Vaters, Jakob Paul Lang, lebte iu iOttiage» als fürstlicher Hof­ rats und trat damals jum erstenmal in nähere Berührung mit ihm; sein Ein­ fluß wurde von entscheidender Bedeutung für Laug — »ach der guten und »ach der schlechten Seite. Er war eia tüchtiger Jurist und Historiker aus der Schlözersche» Schule, besonders der älteren deutschen Rechtsgeschichte mit wahrer Liebe zugewaadt, äußerst geschickt im Sammeln und Systemati­ sieren, ein hervorragender Diplomatiker «ad zugleich auch für Fragen der deutschen Sprache und Literatur lebhaft interessiert-) — er war Langs Führer bei seinen ersten historischen und archivalischen Arbeiten in praxi, er war aber auch das unmittelbare lebendige Vorbild für seine ersten literari­ schen Versuche und ist es auf dem Gebiet der Diplomatik und der Regesten bis io Langs letzte Werke hinein geblieben. Zugleich aber war er auch der Typus des platten, aufgeklärten Höflings jener Tage, der für Horaz und die Franzosen schwärmte-), der als Mitglied der Altdorfer „deutschen Ge­ sellschaft" eine „Schuhschrift für die Vernunft" schrieb, die mit den Cicerooianischea Worten schließt: „Nihil est ratione melius, et in homine et in Deo. Oarbey soll und wird es auch bleiben ... Es lebe die Derauaft!"4 * )* — 36 und der zugleich als Hofpoet schwülstig-empfindsame Hymnen dichtete, deren eine, auf den Tod eines Ottiagischen Grafens, die Strophe enthält: „Er todt? der göttliche Graf! Er — werth Äonen zu leben, Er Herr — Er Vater — Er Ehgemal — todt? Versprach sein Antlitz denn nicht. Ihm silberne Schläfen zu geben? Und bat nicht jeder um diese zu Gott?" Nichts vermag vielleicht drastischer darzutuv, wie tief diese Herolde der Aufklärung und Measchenbefretuag noch in den Engnissen einer alten Zett wurzelten, als die Tatsache, daß Jakob Paul Lang das — Persooenverzeichots seines Hauptwerks nach dem Schema gliedert: „i. Geistl. Standes: A. Päbste, B. Kardinäle etc. ... 2. Weltl. Standes: A. Kaiser und Könige, B. Churfürsten, C. Fürsten ..." und bann ganz schüchtern als „Anhang": 0 AW, Personalakt Jak. Paul LangS.

’) Uster seines zahlreiches Schriften vor allem zo oessea seine „Materialien zur Otting. Geschichte", 5 Bände, 1773; im 1. Bande druckt er unter anderem z. B. aoch Stücke auS einem mittelhochdeutschen Fabelbuch ab, das die Otting. Bibliothek im Manuskript besitzt und das er für die in der Gellertscheo Dorrebe erwähntes „Fabeln eines Ungenannten" hält.

3) Dgl. die zahlreichen Zitate in den „Materialien"! *) Unter den im Besitz der Erlanger Univ.,Bibi, befindlichen Papieren der Alt­ dorfer „deutschen Ges." (Haodschr. Rr. 1402) diese Abhandlung I. P. Langs (Hand, schreiben), begleitet voa einem Brief vom 1. Juni 1767, worin er sich als Mitglied der Ges. bezeichaet. 6) Nördlinger Stadtarchiv, Oruckschr.: „Empfindungen beim Eintritt des ... Grafen ... Philipp Carls zu Vettiagea" von I. P. Laug, Nördlingen 1766. v. Sasmer, ver Sitter voa Laag.

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i8 K u. k. Beamte und „Ottingische Gelehrte"^). Zu dieser an sich schon uner­ quicklichen Mischung aus unwürdiger Fürsieadienerei und pathetischem Derauaftkultus gesellte sich aber bereits als letzte Konsequent dieser utilitari­ stisch-egoistischen Weltanschauung Eitelkeit und ein rücksichtsloser Geschäfts­ geist: in den Personalakten Jakob Paul Langs stoßen wir zum erstenmal aufbie Selbstanpreisungen und Beschwerden über ju wenig erhaltene Bezahlung, die der Biograph Karl Heinrich Langs in tausend Variationen wiederfindet. So stark aber jeder dieser verschiedenen Einflüsse im einzelnen war und so unverkennbare Spuren sie in Langs Charakter hinterlassen haben: das eigentlich Entscheidende war ihr Jneiaanderwirken oder vielmehr ihr gegen­ seitiges Sich-Kreuzen und Sich-Defehben. Daß er so von einer Hand in die andere wanderte, daß er in so buntem Wechsel verachtet und verspottet sah, was ihm eben noch hellige Autorität gewesen war, schon in den Jahren, die so gern glauben und vertrauen möchten — das machte ihn bald an Menschen und Dingen irre und ließ ihn mit skeptischem Zweifel an alles Bestehende und an alles Hohe herantreten. Noch entschiedener negativ aber wirkte ein Zweites: das völlige Zurücktreten des weiblichen, vor allem des mütterliche» Einflusses. Wir konnten Lang bis an die Schwelle der Jüng­ lingsjahre begleiten, ohne die Mu tter mehr als vorübergehend zu erwähnen. Ihre Bedeutung für die psychische Entwicklung Langs reicht nicht entfernt an die des frühverstorbenen Vaters. Vielleicht dürfen wir aus einer Bemer­ kung des Oheims Georg Heinrichs den Schluß ziehen, daß das Verhältnis der beiden Eltern nicht ganz ungetrübt gewesen sei. Von seinem sechsten Jahr an sah sie Lang nur noch vorübergehend, nur noch die Gymnasialzeit in Otlingen brachte ein tägliches Zusammentreffen. Sie war eine Tochter deS Württembergischen Oberamtmanns Buttersack in Weiltingen, ihr Bruder der Stadtsyndicus Buttersack in Bopfingen, den Weckhrlin seinen Freund und einen „biedern Schwaben" nannte3* ).2 Lang nennt sie in den Memoiren „ihrem ganzen Wesen und Bilde nach eine echte Französin"4); viel besser stimmt zur Charakteristik ihrer Brüder und zu dem, was Lang sonst in den Memoiren — spärlich genug — an kleinen Zügen über sie einstreut, das Bild, das Lang 1819 in einem Brief an Therese Huber3) von ihr entwirft: Therese hat ihm ihr „herrliches Goldkäferleben in Stuttgart" geschildert; Lang antwortet, er kenne das sehr gut aus vielem gastlichen Aufenthalt und näher noch, da seine Mutter selbst eine Württembergerin gewesen sei, „aber keine dichtende, ober nachher deklamirende, sondern eine spinnende, gesprä­ chige, gern gebende, ober vielmehr wegwerfende Schwäbin". Das leicht*) „Materialien", 5. Dd., Register. 2) Er weiß zum Preis der „ehelichen Liebe" Konst. Langs nur zu sagen: „Die Gattin liebte er in seinen Kindern" („Bemerkungen zur Lebensgeschichte des ... Konstantin Lang"). 3) G. Böhm, Weckhrlin. 4) Mem. I, 17; über Langs Hypothese betr. die Herkunft der Buttersacks aus Podensac vgl. „Beiträge z. Gesch. der Familie Duttersack", Heilbronn 1914. ") 17. Juli 1819.

gesinnte, mitteilsame Gemüt war wohl der köstlichste Schatz, den Lang aus dem Herzen der Mutter empfangen hatte. Aber er wurde tief und tiefer verschüttet von klugen, nüchternen Männern und von den harten, unerbitt, lichen Händen des Lebens: Mit dem Schwinden des mütterlichen Ein­ flusses verlor Lang die notwendige innere Ergänzung seiner reichen Verstandesund Geistesgaben: ein wirklich lebendiges, tiefes Gemüt. So sehen wir das ganze Konglomerat von Gegensätzen, das den eigenartigen Mann charakteristert, schon eingebettet in die Seele des Knaben: mit der naiven Derbheit des wildgewachsenen Bauernbuben und mit der glatten Gewandtheit des Höflings; mit dem Dünkel der herrschenden Klasse und doch immer arm und einer von unten her; nah genug am Thron, um ihn zu verachten, und doch immer sein bedürfend; mit dem Wahrheits­ fanatismus, der keine Autorität scheut, und doch innerlich mit tausend Fäden noch an Überlebtes gebunden; zukunftsttunken, wie die ganze Auf­ klärung, und doch schon an der Wurzel berührt von ihrem Skeptizismus; und auch der letzte, tiefste Gegensatz seines Wesens steht schon drohend über ihm: mit dem hellen, kritischen Verstand, mit der Lust und dem Drang zur Wissenschaft, aber mit einer überströmenden Phantasie, die eines Dichters ist — und mit dieser lebendigen Phantasie, doch ohne den Urgrund, aus dem alle echte Poesie quillt: ein tiefes Gemüt. Manch gute Gabe im einzelnen; viel Stoff, ein reiches Leben und einen tüchtigen Mann daraus zu zimmern, wenn sich ein starker Wille fand, diese Gegensätze zusammenzuraffen und umzuschmieden zu schaffender Kraft. Dieser starke Wille fehlte Lang. Und so zerbrach er an den inneren Gegensätzen. Die erste direkte Nachricht über Lang, die uns einen Blick in sein Inneres tun läßt, zeigt diese Gegensätze bereits scharf ausgeprägt und läßt uns im kleinen schon die zerstörende Gewalt erkennen, die diese Gegensätze in seiner Seele gewinnen sollten: sie meldet uns von einem ersten Zusammenstoß mit der Außenwelt, in dem der latente innere Gegensatz zum Ausbruch kam. Am 29. Januar 1780 meldet der Rektor Konrad Lang dem „hoch­ preislichen Konsistorio", sein Vetter und Schüler, Karl Heinrich Lang, habe sich „am letzten Dienstag Nachts in Gesellschaft des Stipendiaten Kammerers, wider das ausdrückliche Verbot der Gesetze des hiesigen Seminariums, in dem allhiesigen goldenen Ochsenwirtshause bei einer Hochzeit eingefunden, wobei zwar er nicht, aber doch der Stipendiat Kammerer in gefärbter Kleidung öffentlich mitzutanzen wagte". Zur Sttafe dafür sollten beide „auf einige Stunden incarcerirt" werden, aber auf Jnterzeffion der Eltern des Kammerer sei wegen der großen Kälte die Strafe dahin „ge­ mildert und erleichtert" worden, daß jeder nur zwei Stunden im Schul­ karzer und dann noch zwei Stunden über das Mittagessen auf der Stube des Rektors Arrest haben sollte. Immerhin eine etwas eigenartige „Erleich­ terung" und geeignet, dem Rechtsgefühl des Knaben Lang als Ungerechtig­ keit zu erscheinen, zumal er an und für sich in geringerem Maße schuldig war. Und er tat — was der andere vielleicht auch getan hätte, wenn er sich's getraut hätte: er stahl sich bei der nächsten Gelegenheit aus der Stube und 2*

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ging nach Haus zum Essen. Dauo kam er wieder, als wäre nichts gewesen. Der Rektor will ihm natürlich darüber Vorhalte machen; aber nun braust Lang auf: seine ganze Bestrafung sei ungerecht und unangemessen, und die Entziehung des Mittagessens sei überhaupt „eine blose Kinder strafe". Da reißt dem Rektor die Geduld und er will dem 15jährigen Buben eine Ohrfeige geben — mag sein, daß es Lang bei diesem Zornausbruch des gereizten kranken Mannes wirklich etwas angst wurde (der Rektor spricht tu seiner Eingabe selbst von seinem „Eindringen" auf den Frechling) — kurz, er setzte sich zur Wehr, und die Sache endete damit, daß der Rektor einen Schlag an den Kopf erhielt, ob „mit Fleiß oder von ungefähr", wagt er nicht zu entscheiden. Das Ganze ist nicht viel mehr als eine Lausbubengeschichte. Charak­ teristisch dabei ist nur zweierlei: das übertriebene passive Ehrgefühl des Knaben, seine Reizbarkeit, sobald er seine Person angetastet glaubt: er will sich keine „Kinderstrafe" gefallen lassen! — und das mangelnde Autoritätsgefühl, sobald er das Recht auf seiner Seite glaubt: es gibt keine Autorität, die Unrecht tun dürfte, und jedes Mittel ist recht, sie zu brechen — das waren Gedanken aus dem Garten des Herrn Super­ intendenten von Trochtelfingen, mit der kindischen Leidenschaft einer jüngeren, ungestümeren Generation in die Wirklichkeit umgesetzt: um des Rechtes willen sich selbst ins Unrecht zu setzen, ist zeitlebens sein Fehler und sein Fluch geblieben. Der „Fall" versetzte natürlich das hochpreisliche Konsistorium in nicht geringe Erregung. Es werden Gutachten eingefordert und noch am gleichen Tag an den Oberinspektor des Seminars verfügt: Eigentlich verdiene der Schüler Verweisung von der Anstalt; da aber der Rektor selbst „der Familie wegen keine schimpfliche Strafe wünschet", so sollte Lang in Gegenwart sämtlicher Schüler des Seminarii eine derbe Rüge erhalten und daun „dem Herrn Rektor öffentlich abbitten und Besserung versprechen"^ Darauf­ hin erfolgt ein zweiwochenlanges Stillschweigen, und dann eine Mittellung vom Rektor: die Exekution könne leider nicht ausgeführt werden, „da der gedachte Lang sich ohne Dorwiffen der Schulinspektion ... von hier entfernt und nach Hohenaltheim zu seinem Onkle begeben hat, auch von daher die Nachricht gekommen ist, daß er nicht eher wieder hierher käme, als bis seine Strafe gemildert worden seyn würde". Eine öffentliche Demütigung, erkauft durch die Lüge, daß er sein Unrecht einsehe und künftig anders handeln wolle — das mußte man von einem andern fordern als von einem Knaben, aus dem der „Ritter von Lang" werden sollte! Sein ganzes Ehr- und Wahrhaftigkeitsgefühl bäumte sich dagegen auf, und nun kam noch eia Drittes dazu und steifte ihm den Nacken: der Stolz der Familie. Der Neffe und Enkel der ersten Männer im Land, der durfte sich nicht in den Staub werfen vor dieser Menge von Namenlosen — und der brauchte das auch nicht: es wird sich doch niemand an ihn hiawagen. Die letzten Worte des Schreibens zeigen, wie richtig das gerechnet war und wie ihn der Herr Onkel in Hohenaltheim empfing.

Die Konflstorial- und Kanzleifedern setzen sich von neuem in Bewegung. Man beschließt, den „boshafter Weise entwichenen" Lang nicht eher wieder aufzuuehmeu, als bis er sich auf irgendeine Art „jum Ziel gelegt". Aber Lang tat den Herren den Gefallen nicht. Er verschwindet wieder auf zwei Jahre im Dunkeln; zuerst beim Oheim Georg Heinrich, der wieder nach Hohenaltheim zurückgekehrt war und zugleich die Aufsicht der fürstlichen Bibliothek übernommen hatte — mit ihrem unendlichen Reichtum sowohl an alter als auch an neuester, besonders französischer Literatur eine unschätz­ bare Wissens- und Bildungsquelle für den jungen Karl Heinrich — und dann bei einem Bruder der Mutter, dem Spezialsuperintendent Buttersack in dem Württembergischen Städtchen Heidenheim an der Brenz. Noch einmal wurde Lang in die engste Enge geführt, ehe er den Weg ins Leben und in die Welt hinaus antrat. Ein echtes, rechtes süddeutsches Kleinstädtchen, voll kleinbürgerlicher Stille und Behaglichkeit, wo Nacht für Nacht der Wächter durch die verträumten Gassen zog, die ehrsamen Bürger vor Spuk und Gespenstern zu warnen, wo keiner Lust und Verlangen trug, über die Türme und Zinnen weg hinaus in die wachende wilde Welt zu schauen, weil es so ttaulich und engumfriebet war in den durchsonnten Winkeln und Gassen. Laag hat später, in dem schon ofcett1) zitierten Brief an Therese Huber eine Schilderung seiner dortigen Eindrücke gegeben, schon leise gettübt von den Schatten der dazwischenliegenden Jahre: es sei wohl wahr, es sei ein ergötzliches „herrliches Goldkäferleben" in Württemberg. „Aber dieser Würtemberger kleinliche und doch kriegerische Familiengeist, diese bewun­ dernde Anbetung und Hingebung in alles was von Stuakert und vom Herzig kam, und die abscheuliche Gelehrsamkeit, die aus den Klostermauern von Dlaubeuern hindurch bis in meine Dorfhecken bließ, machten wir ein solches gastliches Walten daselbst sehr ungemüthlich. Als nun der Oheim nach angestellter Prüfung über meine rohe Unwissenheit in Philosophicis mit aufgehobenen Händen ein trostloses, Schwester, Eltern und Groß­ eltern anklagendes, mir ein zeitliches und ewiges Verderben ankündtgendes Wehgeschrey erhob und sich anschickte, mir von morgen Früh bis zum Bet­ geläute Bilfingers Logik einzutrichtern, nahm ich bereits am dritten Tag dieser Katastrophe auf einem Färbergaul die Flucht aus diesen allemannischen Gauen, und glaubte immer noch, mit berganstehenben Haaren, alle Syllogis­ men in Barbara und Cellarent hinter mir her trotten zu hören. Solches davon laufen ohne weiters, wo es einem durchaus nicht gefiel, ist mir nach der Hand noch einigemal sehr gut bekommen." In den Memoiren erzählt Lang eine ergötzliche Geschichte, wie er sich das Studium der Logik durch eine lustige Liebelei versüßt habe, im Erkerfenster am Nähtisch, während der geistliche Herr in der weißen Baumwollenmütze des Amtsschlafs pflegte — es war die letzte Idylle, die er lebte: die Tragikomödien und Narrenspiele ließen nicht lang auf sich warten. *) Lang an Th. Huber, 17. Juli 1819.

II. Kapitel.

Lehrjahre. Im Frühling 1782, fast achtzehnjährig, trat Lang seine erste Reise an, die ihn für längere Zeit über die Grenzen des öttingischen Vaterlandes hiaausführte. Nicht weit; kaum zwei Tagereisen. Aber doch weit genug, daß die letzten Kirchtürme der Heimat hinter blauen Waldrücken versanken «nd die Stimmen, die in ihren engen Gassen und um ihre klaren Berge webten, längst verklungen waren, als er auf holperigem Pflaster in das Städtlein einfuhr, das ihn drei Jahre beherbergen sollte, mit neuen Menschen, neuer Lebenslust ihn umgebend. Altdorf, die Universität der Reichsstadt Nürnberg, war sein Reiseziel; am 26. April 1782 nahm ihn der Rektor Hoffer als Rechtsbefliffenen in die Schar der akademischen Bürger auf1). Es war keine große Welt, in die er da eintrat, die fränkische Universität^ stadt mit ihren paar tausend Einwohnern, wo die Professoren mehr galten als die ersten Beamten, und der Student mehr als beide zusammen; aber eine neue Welt war es und eine freiere Luft wehte dort als in Otlingen. In seiner Heimat hatten schwäbische und fränkische Elemente sich nachbarlich berührt und, unter starkem Überwiegen des Schwäbischen, sich wechselseitig durchdrungen; die Universitäten Altdorf und Tübingen waren von dort aus ungefähr gleichmäßig besucht. Langs Oheim Jakob Paul, der als Mit­ glied der kurz zuvor erloschenen Altdorfer deutschen Gesellschaft zu den dor­ tigen Professoren Will und Siebenkees Beziehungen hatte, entschied für Altdorf und damit für das Überwiegen des fränkischen Einflusses auf Lang. Ein fränkisches Landstädtchen mit steilen engzusammengedrängten Ziegel­ dächern und ragenden Türmen und Toren, inmitten einer sanften Wiesen­ landschaft, die schwarze Föhrenwälder säume» und Hopfengärten, wie Landsknechtsfähnlein in Reih' und Glied mit starrenden Spießen, durch­ ziehen — das ganze Bild mehr ernste Anmut atmend als die lachenden Fluren des Rieses; mit seinen langgestreckten, einförmigen Waldhöhen und weiten Sand- und Heideflächen mehr an die nüchterne Gedanklichkeit Ost­ preußens und der Mark erinnernd als an die Sinnlichkeit der Farben- und Formenfülle der schwäbischen Alb. Wir können nicht im Zweifel sein, wohin Lang, der Bewegliche, Nüchtern-Vernünftige, gehört. Nicht umsonst hat er in seinen späteren Tagen gerade in diesem Mittelfranken sich seinen „Heimweg" gegründet: die Heimat Fr. Rückerts hatte mehr Eigentum an ihm als die der Uhland und Mörike. *) Matrikel der Universität Altdorf, ed. €. Steinmeyer 1912.

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Die Empfehlung an die Altdorfer Professoren war der letzte Dienst, den Jakob Paul Lang seinem Neffen erweisen konnte: im Frühsommer 1783 starb er „nach langwieriger Krankheit"*). Die Mutter war äußerlich und innerlich fern gerückt, der Vater lange tot, das Verhältnis zum Oheim Georg Heinrich hatte mit einem scharfen Bruchs) geendigt — nun löste der Tod die letzte Kette, die den Jüngling an seine eigene Jugend band. Aller Fesseln lebig zog er in die neue Welt, wo der Student des 18. Jahrhunderts mit all seiner Brutalität und Leichtfertigkeit, mit feiner Haltlosigkeit und mit der gärenden Unruhe in Köpfen und Herzen, das Regiment führte — und Lang war nicht der Mann, sich selber zu binden. Das ganze Wirrsal unge­ nutzter, widerstreitender Kräfte, halbverstandener Ideen und hochgespannter Erwartungen mußte in ungestümer, toller Zügellosigkeit sich entladen. Leider versagen die Quellen hier völlig^). Daß er nicht zu den Studierenden gehörte, die sich damals um den jungen Siebenkees scharten, um die „deutsche Gesellschaft zu erneuern und ein reges geistiges Zusammenleben zu pflegen*), und daß ihm nach seiner Abreise eine Altdorfer Bürgerstochter einen außerehelichen Sohn gebar*) — das ist außer der Tatsache der Imma­ trikulation das einzige, was wir mit Sicherheit von Lang aus den Altdorfer Jahren sagen können. Aber die tüchtigen Kenntnisse auf dem Gebiet der Geschichte und Jurisprudenz, die Lang unmittelbar nach seiner Altdorfer Zeit besitzt, und die Art dieser Kenntnisse zeigen doch, daß seine Altdorfer Studienzeit nicht ohne positiven Ertrag geblieben ist, und seine Betelliguog an den von Siebenkees herausgegebenen „Beiwagen zum teutschen Recht" in den folgenden Jahren, daß er auch direkte Beziehungen zu Altdorfer Professoren angeknüpft hatte. Es waren also nicht nur die äußern Eindrücke, die fränkische und die studentische Atmosphäre im allgemeinen, die dort auf ihn einwirkteu, sondern die Universttät als solche und ihre Professoren übten auf ihn ihre» Einfluß. Da war es denn wieder von großer Bedeutung, daß er zunächst nicht in eines der großen Zentren des deutschen Geisteslebens geführt wurde, *) AW, Personalakt I. P. Langs. 8) Bet der Rückkehr von der Universität tritt Lang nicht, wie es das Nächst­ liegende gewesen wäre, in Wallersteioische, sondern la Ottingische Dienste und be­ gründet dies später mit „unglücklichen Familiea-Coacussionen" (Brief an den »allersteinischen Sekr. Ludwig, vom 17. Juni 1788); da I. P. Lang bereits tot «ar, kann es sich nur um G. H. Lang handeln; da also die Tatsache des Konflikts und dessen Folgen sich bestätigen, wird wohl auch die Ursache, die Lang angibt, seine Liebschaft mit der Jungfer Däbi, ihre Richtigkeit haben; nur war die Sache vermutlich nicht ganz so harmlos; denn Georg Heinrich Lang «ar nicht der Mann, der seinen Neffen um einer unschuldigen Liebelei willen verstoßen hätte. 3) Weder Jaskriptionslisten noch Strafakten der Universität Altdorf aus jener Zeit sind vorhanden; auch Nachforschungen in Erlangen (Bibliothek und Archiv) «nd Nürnberg (Kreisarchiv) blieben erfolglos. 4) Will, Geschichte . . der Universität Altdorf, 179$. ") Heinrich Laag, geboren zu Altdorf 2. Febrnar 1786, verheiratet 23. März 1819, gestorben als bayer. Landrichter 1829.

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sondern in das stille, abgelegene Altdorf. Damals lehrte in Halle F. A. Wolf und Crnesti in Leipzig, auf dem Gebiete des Staatsrechts und der Geschichte hatte das junge Göttingen allen andern de» Rang abgelaufea «ab stand mit seinen Pütter, Schlözer und Heeren immer noch an erster Stelle, und in nächster Nähe war Erlangen, die neue Gründung des Mark­ grafen Friedrich von Bayreuth, zu rascher Blüte emporgestiegen, unter seinem Rektor Daniel de Superville inmitten einer Kolonie französischer Emigranten von Anfang an eine Pflanzstätte des neuen, ftanzösischen Geistes. Demgegenüber gehörte Altdorf durchaus zur Reche der alten und altmodischen Universitäten. Sogar seine jewellige „Stubententracht" erhielt es, nach dem Zeugnis seines einen Geschichtsschreibers und Lobredners*), von den sächsische» Universitäten auf dem Umweg über Er­ langen. Und Ideen und Geistesströmungen wandern langsamer als Klechermoden. Im Jahre 1729 hatte man zwar versucht, durch eine zeitgemäße „Verbesserung" der Universität die sinkende Frequenz zu heben; daß es aber noch andere Reformen gebe als Einführung halbjähriger Vorlesungen und Gehaltsaufbesserung der Professoren, das war weder den Nürnberger Ratsherren noch den Altdorfer Professoren gekommen. Unter diesen waren zur Zett, als Lang dort studierte, manche tüchtige Ver­ treter ihres Faches, auch manche, die wenigstens vorübergehend an einer der führenden Universitäten gewellt hatten: so vor allem Malblanc, Professor der Rechte für das Fach der Institutionen, ein Landsmann Langs, aus Tübingen kommend, dessen biederes breites Schwabengesicht fast drollig aus der Rokokoeleganz der Haarbeutelperücke und Spitzenkrause schaut, ein gründlicher Kenner des deutschen Humanismus und stolz auf die von Frankreich und Italien kommende Vermenschlichung der Rechtspflege, der Thomasius und Michaelis die Wege geebnet und Friedrich der Große und Joseph II. zum Siege verhalfen habens; Siebenkees, ein Nürnberger, der über Natur-, Staats- und Lehensrecht las und Vorbereitungen zur juristischen Praxis abhielt, vorher Z Jahre in Göttingen; Georg Andreas Will, von Halle kommend, „Kaiser!. Hof- und Pfalzgraf, ort». Professor der Geschichte, Politik und Soglf", der „bisweilen" auch deutsche Literatur und schöne Wissenschaften lehrte. Wie weit aber auch diese Männer von einem wirklichen Verständnis der neuen Zeit noch entfernt waren, erhellt daraus, daß eben dieser Will noch 1795 den Altdorfer Juristen Heumanv als „den *) Will, a. a. O. E. 270. S. auch „Schattenrisse der jetzt lebenden Alt­ dorfischen Professoren", Altdorf 1790.

2) Für die Behauptung LangS, Malblanc habe ihm seine „Gesch. der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V." in die Feder diktiert und die Anfertigung des Registers übertragen, konnte ich keine Bestätigung finden, doch scheint es mir nach der ganzen Art und Anlage des Registers sehr wohl möglich. Dies wäre insofern nicht ohne Interesse, als gerade in dieser Schrift Malblancs sich zahlreiche Hinweise auf die Satiriker des FrühhumaoiSmus und Humanismus, Seb. Brant, Geiler v. Kaisersberg, Ulrich v. Hutten, finden.

AUdorfischea Leibnitz «ad de« deutschen Montesquiou" (!) preist „wegen feiner großen Rechts, «ad Staatswissenschaft, vereint mit der philosophi, schea, mathematische«, philologischen, historischen «ad diplomatischen Gelahrtheit, der Epracheakenntaiß, kurz, einer wahren Polyhistorie"*); und Wolfgang Jäger, Langs englischer Sprachmeister, „lehrt" Dichtkunst und Redekunst, griechische und römische Literatur, Universal, und Staaten, geschichte, auch andere Teile der Historie und die Geographie?). Alles wissen und alles lehren — bas war die Devise, unter der fich all diese Männer jusammenfanden. Aller Sinn für das eigentlich Historische ging ihnen ab (so sehr ste sich mit Universal, und Staatengeschichte herum, schlugen), und von dem neuen Humanismus, der in Heyne und Winckel, mann zur Welt gekommen war und in Kant und Goethe seine reifen Mannes, jähre erlebte, hatten sie keinen Hauch verspürt. Es war eine Reinkultur der frühesten Aufklärung, die der Sohn des Ottingischen Fürstentums hier antraf, und seine junge, ungestüme Seele sog sich bis zum Überfließen voll mit all den „neuen", kühnen Gedanken — und als er nach drei Jahren in die Heimat zurückkehrte, da war er ein gelernter Jurist nach Fug und Regel und ein Apostel der Aufklärung von ganzer Seele und ganzem Gemüte.

An Ostern 1785 verließ er die fränkische Universitätsstadt, ohne durch ein Examen seinem Studium den konventionell^egelrechten Abschluß gegeben z« haben, und zog ohne Geld und ohne Sorgen wieder in der öttingischea Heimat eia, just auch als der Frühling in das helle, sonnige Land gezogen war und ein Kranz funkelnder Dlütenbäume das alte schüchterne Städtleia zum Willkomm schmückte. Mit überlegenen Blicken mochte der Altdorfer Student nun in die Enge und Kleinheit dieser Welt schauen, und doch wieder mächtig angezogen von ihrer stillen Schönheit und von all den hellen Jugeadgedanken, die dort überall unter lauschigen Torwegen und ziehenden Wolken schliefen. Und es war doch so manches anders geworben in den stillen Gaffen! Langsam und leise war Sandkorn um Sandkorn zur Tiefe gerollt, während draußen im Wirbelsturm Altes zerstieb und neue Gedanken «ad neue Welten emporgefegt wurden. Der Oheim Jakob Paul war ge, storbea; im großelterlichen Haus am Markt gingen neue, fremde Menschen ans und ein; noch hämmerte der Schmied auf der Straße und trieb der Hirt allabendlich die Rinder und Schafe durchs enge Stadttor; daneben aber begann auf einmal ein ganz neues Wesen sich in diese alte Welt hineinzu, recken: eine Augsburger Firma hatte Anfang 1785 eine Baumwollspinnerei in Ottingen gegründet; anfangs fanden sich keine Arbeiter, und die Regie, rung mußte zwangsweise Bettler und Landstreicher dazu verwenden; nach einem Jahr aber waren bereits über 500 Menschen in der Spinnerei beschäftigt: die ersten Anfänge eines besitzlosen Proletariats neben den *) Will, a. a. O. 6. 87. a) Ebenda, S. 119.

26 alten Schichten der Bürger nnb Dauern. Und auch sonst begann sich allerhand Neues jn regen. Aus dem reichen geistigen Leben des benachbarten Württem­ berg klangen nun Heller und lauter die Stimmen herüber; 1783 waren Johann Ludwig Hubers „vermischte Gedichte" erschienen mit ihrer rücksichts­ losen Satire gegen Tyrannen und Fürstenknechte*); in der nächsten Nach­ barschaft, vor den Toren Nördlingens, lebte Ludwig Wekhrlin und begann seit 1784 mit seinem „Grauen Ungeheuer" die Geister mächtig zu bewegen; im gleichen Jahr war Saller Professor im nahen Dillingen geworden; 1786 war der zweite Band der Gedichte des auf dem Hohenasperg gefangen sitzenden Schubart erschienen, und aus dem kleinen Otting en meldeten sich allein fünf Subskribenten. Und das waren nicht die einzigen Stimmen ans der Welt Wielands und Klopstocks. Hier in der Enge der Heimat schlugen zum erstenmal aus der mächtigen Unter- und Gegenströmung der Auf­ klärung, aus der Welt des Gefühls, die Wellen mitten hinein in die verstandesstolze, kluge Welt des jungen Lang. Am 12. Mai 1785 hatte er ein Schreiben an Aloys II., den Fürsten von Ottingen-Spielberg, gerichtet), das erste erhaltene Zeugnis von seiner Hand, devot und anspruchsvoll, egoistisch und von Tugend und Menschenliebe überfließend, durchaus ein Abbild der Anschauungen, die er von Altdorf mitgebracht hatte. Er hat das „sehnliche Verlangen", unter dem Schutze des Fürsten, sich „zu einem tauglichen Manne zu bilden" und dem Wohl seiner Nebenbürger dienen zu können — aber, wenn möglich, gleich mit dem vollen Gehalt als ordentlicher Advokat, da sein „geringer Dermögensfond durch die Kosten der Akademischen Studien gänzlich er­ schöpfet worden ist". Zwei Tage später war er ernannt, zwar nicht als Advokat, doch als Akzessist, ohne Gehalt und mit der Erlaubnis, allen Sitzungen der Regierung „beiwohnen zu dürfen"?). So begann also seine erste amtliche Tätigkeit und mit ihr der Alltag seines Lebens, mit Akten­ schleppen und Protokollschreiben, in den Sitzungen der „hochfürstlich öttingenöttingischen Regierung, im Justizsenat, im Landwirtschaftsdepartement"*) — und er hat seinen Posten getreulich ausgefüllt: nach einem Jahr (i. Mai 1786)5) wird er zum „Regierungsprotokollisten" ernannt, „in gnädigster Rücksicht auf den bisherigen Fleiß, Eifer und Betriebsamkeit", durch welche er sich „zu besonderem Wohlgefallen" des Fürsten ausgezeichnet hat; der Präsident der öttingischen Regierung, von Ruoesch, hatte sein Gesuch in einem Gutachten befürwortet): „daß Supplikant diese Gnade verdient, *) Vgl. E. Seidel, Politik und Literatur in Württemberg von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu Schillers Jugenddramen, Tübingen 1910. 2) AOe, Regierungs-Registr. Rep. K IX, Nr. 431. 3) Ebenda. 4) A Oe, Protocollum Regimentale, Justizprotokolle, Laodwirtsch. Prot., Prot. rer. exhibit. 1785—88. 3) AOe, Reg.-Registr., Rep. K VII, Nr. 90. ’) Ebenda.

ist keinem Zweifel unterworfen: und daß er selber bedarf, ist ebenso gewiß: aus dieser Ursache habe ich iHv schon seit 3/4 Jahren aus meinem eigenen Beutel unterhalten, weU er sonst, aus Abgang eigener Mitteln, andre Dienste zu suchen bemüssigt gewesen wäre: ich aber mich aus Liebe zum gemeinen Besten angetrieben fand, einen jungen Menschen von so vieler guter Anlage dem Dienst des Vaterlandes nicht zu entziehen. Übrigens hat Lang alle Ursache, sehr zufrieden zu seyn, wenn Serenissimus ihm die... Regierungsprorocollisten Stelle mit dem damit verbundenen Besoldungs- und Taxantheils emolument in Gnaden konferirea wollen." Aus dem Schluß­ satz spricht deutlich genug der geheime Unwille über die hohen Prätensioaea des jungen Mannes, dessen stark ausgeprägtes Selbstgefühl der Aufenthalt an der aufgeklärten Universität nur noch gesteigert hat, ebenso deutlich aber aus dem Vorhergehenden herzliches Wohlwollen und Achtung vor seiner Tüchtigkeit, und aus beidem zusammen eine gründliche, persönliche Kenntnis: er hatte Lang nicht nur durch Geld unterstützt, sondern ihn in sein eigenes Haus ausgenommen — und in diesem Haus traf Lang einen Kreis feiner, gebildeter Menschen, dem der spätere Bischof SaUer und der Dichter Karl Theodor Beck aagehörtev, in Wort und Schrift auch Lavater und Claudius, ein Kreis, der aus der Aufklärung herausgewachsen war mittenhinein in die Welt stiller, schwärmender Empfindsamkeit. Es ist ja keine neue Erkenntnis, daß die Empfindsamkeit nicht nur die sieghafte Gegenströmung der Aufklärung ist, sondern gleichzeitig mit dieser als eine komplementäre Parallelströmung einsetzt und durchs ganze 18. Jahr­ hundert sie begleitet. Nur eine gewisse Mittelklasse begabter Führer im Tageskampf der Meinungen, nur die Nicolai und Miller, können als einseitig ausgeprägte Typen einer Richtung gelten. Die ganz Großen, die über dem Strom der Zeiten stehen, und die breite Masse, die von ihm getragen wird, die werden von allen Wellen und Wogen ihrer Zeit geschwemmt, die nehmen von allem ihr Tell mit hinauf in ihre Höhe. Aber es hat doch immer wieder seinen eigenen Reiz, an einem kleinen, abgeschlossenen Kreis zu verfolgen, wie die Fäden aus den beiden Welten herüber und hinüber weben, wo sie sich lösen von der einen, wo sie ergriffen werden von der andern, wie sie sich fest und unentwirrbar durchschliageo, eia buntes, lebendiges Gewebe — und wo die Quellen so reich und ungenutzt fließen wie für den Qttingischen Kreis3), da mag aus solcher Betrachtung wohl auch manch neues, flüchtiges Streiflicht fallen auf die große Bewegung, die ihn umschließt. *) Das reiche, interessante Material zur Charakteristik des Kreises, das mir zugänglich wurde, befindet sich teils in Privatbesitz, teils im Besitz des fürstl. ötting. Archivs zu Httingea, der fürstl. ötting.-wallersteinschen Bibliothek zu Maihingen und der K. Staatsbibliothek zu München. Im «inzelnea find zu nennen: Archiv £>t# ringen: Akten über Ruoesch; Mai hinge«: Druckschriften, Huldigungsgedichte «st», von Ruoesch, seltene Drucke von K. Th. Beck (z. T. mit gleichzeitigen handschr. Rotizen): „Die liebe, kleine Familie inCngelhatm" (Augsburg 178z); „Gefühl, Ernst und Laune" (1784); „Gedichte" (1789); Texte zu Kantaten und Singspielen; Bibliothek München: Briefnachlaß K. Th. Becks, darunter kein Brief Langs,

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Die Aufklärung, die in ihren Anfänge» den Pietismus, den Vorläufer der Empfindsamkeit, so heftig bekämpft hatte, barg in fich selbst schon eine Fülle von Elementen, die ju dieser hinüberführten. Sie zerbrach die Herr­ schaft einer formalen theologischen Orthodoxie und machte damit den Weg frei zum Unglauben wie zu einer neuen subjektive» Frömmigkeit: ste befreite das Individuum von all den Fesseln der Autorität und der Tradition, mit nüchternem, sezierendem Verstand, aber fie schuf damit einen Subjektivismus, der von vornherein den Drang in sich trug, sich auszu­ strömen, sich hinzugeben an die Umwelt, an Menschen und Erde, die sik geadelt hatte: „Mitleiden" wurde einer der charakteristischen Affekte der Zeit; aber mit ihrem Kampf gegen allen Supranaturalismus hatte sie auch alles zerstört, was aus einer höhern Welt ins Menschenleben Herein­ klang, versöhnend und befreiend: haltlos und trostlos sah der Mensch ins Leere, in ein dürres Diesseits, hinter dem kein Jenseits lag — und Weli­ sch merz ward das Los gerade der tiefen und stürmischen Naturen, Welt­ seligkeit das der stillen, die sich dem Kleinen und Unscheinbaren Hingaben und sich am Diesseits genügen ließen, und Gottseligkeit und Schwär­ merei das Ende, wenn die Woge sich überschlug und das entrechtete Gefühl sich Dahn brach, alle Dämme und Schranken überflutend. Eine vorwiegend intellektualistische Zeitströmung wie die Aufklärung kann ja wohl einer ganzen Generation ihr charakteristisches Gepräge aufdrücken und wird auch das Gefühlsleben dieser Zeit modifizieren; deswegen wird es aber doch immer Gefühlsmenschen und Verstandesmenschen nebeneinander geben: „Empfind­ samkeit" ist die spezifische Form des Gefühlslebens unter dem Überdruck einer intellektualistisch gerichteten Zeit. Aber sie ist nicht nur dies. Auch der ausgesprochene Verstandesmensch brauchr und besitzt ein Komplement gegen die nüchterne, gedankliche Einseitigkeit seines Wesens: ein leichtes Sich-auflösen in „Stimmungen", eine Sentimentalität, die in Tränen zerfließt, ehe ste wirklich tiefe Gefühle und Leidenschaften aufwühlen kann — und auch dieses Surrogat echten Gefühls ist „Empfindsamkeit. All diese Forme» und Übergänge nun, diese Wandlungen und Mi­ schungen finden wir in dem Ottingischen Kreis um Ruoesch. Ruoesch selbst, ein tüchtiger Beamter und gewandter Hofmann, eine harmlose, nicht gerade tiefe Natur, von einer gewissen hausbackenen Alltagsklugheit und mit mancherlei schöngeistigen Neigungen, halte als junger Mensch an der neue» Uaiverfität Göttingen studiert und war von dort zurückgekehrt „ziemlich rationalistisch ausgewässert, wie der greise wunder- und kirchengläubige Katholik Ringseis sich ausdrückt; nun begann die farbensatte, sinnliche Luft aus den 8oer Jahren nur zwei Briefe eines Engländers Mr. Geddes aus Würzburg, aus den folgenden Jahren zahlreiche Briefe von Ruoesch, Sailer u. v. a.; durch die Liebenswürdigkeit einer Enkelin Becks, Frl. A. Beck, wurde mir endlich ein bis 1797 zurückreichendes Tagebuch Becks zugänglich, das ebenfalls zahlreiche Einträge Sailers, auch Briefe von ihm und Ruoesch eingenäht enthält, den Pfarrer Gabler u. a. erwähnt.

der süddeutsche» Heimat wieder zu wirke» »ad vicht miader die eage Behag­ lichkeit des öttingischen Hofes »ad die Atmosphäre gläubiger Katholizität, die iha charakterisierte; »ad gleichzeitig kam Ruoesch hier i» Derühruag mit einer Reihe katholischer Geistlicher, die sich wichtige Tendenzen der Aufklä­ rung, wie Toleranz und Humanität, zum Teil auch ihren Utilitarismus angeeignet hatten, ohne von ihrem Katholizismus etwas aufzugebeu, und Ruoesch kam ihnen nahe durchaus von feiten des moralisierenden Ver­ standes; den Umschwung aber mußte bei ihm, der das, was er an Gefühl besaß, leicht erregbar an der Oberfläche trug, ein plötzlicher, von außen kommender Stimmungswechsel herbeiführen: im nahen Ellwangen voll­ führte damals der Pfarrer Gaßner seine Teufelaustteibungeu und Wunder­ kuren — Ruoesch sah ihn und gehörte fortan zu den „Erweckten". Sein innerstes Wesen war dabei durchaus dasselbe geblieben: er schrieb nach wie vor pathetisch-empfindsame Hymnen zu fürstlichen Hochzeiten und Namens­ tagen, gutgemeinte, schwunglose Hofpoesie, und dazwischen demütige, moralisch-sentimentale Briefe an seine Freunde, und er verfaßte noch 1812 ein Huldigungsgedicht an die „Edle Frau des ersten Ministers Bayerns" und pries darin den „erhabenen Gatten, dem unsre Herzen glüh'»" — Montgelas! Sein Haus aber wurde ein Sammelpunkt stillfröhlicher, in sich zufriedener Geselligkeit. Da wurde musiziert und Karten gespielt, da wurden Kupferstiche betrachtet und Zirkelbriefe Lavaters gelesen; da fand sich ein Kreis gleichgestimmter Menschen zusammen, von denen doch wieder jeder seinen besondern, eigenartigen Typus darstellte: Gabler, Stadt­ pfarrer von Wemding, der als echter Sohn der Aufklärung vorurteilsfrei und ohne theologische Bindung und Tendenz sich der Erforschung der Erde und ihrer verborgenen Kräfte zugewendet hatte und eben auf diesem Weg, beim Studium des Magnetismus, unvermerkt in die Bahnen eines mysti­ schen Supraaaturalismus zurückgelenkt war; Jos. v. Weber, Benediktiner­ schüler und Professor in Dillingen, ein kluger Kopf, der sich mit Enthusiasmus und Verständnis in die Tiefen Kantischer Philosophie versenkte — 1793 ließ er einen „Versuch, die harten Urteile über Kantische Philosophie zu mildern" im Druck erscheinen —, aber ohne die Kraft, den Kampf zu wagen und gegenüber äußeren Dindungsversuchen durchzuhalten: als durch ein fürstbischöfliches Regulativ die Kantische Philosophie von der Univer­ sität Dillingen verbannt wurde, erklärte er sich (Januar 1794!) in einem Promemoria an den Fürstbischof bereit, das Kantsche System zu wider­ legen; an Bedeutung und Charakter hoch über diesen beide» stehend Sailer, der milde, aufrichtige Gefühlskatholik, aber auch er durchsättigt mit Ideen der „nüchternen" Aufklärung: unter den „verfänglichen Lehrsätzen", die er und seine Anhänger in Dillinge» verbreitet haben sollen, steht im Bericht der Untersuchungskommission von 1973 auch der: „Vernunft und Bibel genügen uns; was brauchen wir mehr?" Mit Saller zusammen kam auch der junge Christoph von Schmid nach Otlingen, der später so bekannt gewordene treuherzige Jugendschriftsteller, gerade in den Jahren, als auch Laug im Haus des Präsidenten verkehrte; eine der eigenartigsten und charak-

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teristischsten Erscheinungen des Kreises war endlich der Jngendfteund Langs, Karl Theodor Beck. Er war der Sohn eines öttiagischen Ober­ amtmanns, zwei Jahre jünger als Lang, und hatte mit ihm zugleich das Gymnasium in Otlingen besucht und dann in Augsburg und Würzburg studiert; ein Gefühlsmensch von schwärmerischer Weichheit; schon als Sech­ zehnjähriger hatte er eine Schrift herausgegeben „Oie liebe, kleine Familie in Engelhaim. Taschenbüchlein für Kinder. Don einem ihrer Freunde" *). Das Ganze über fließend von Empfindsamkeit und Gottseligkeit, das ur­ sprüngliche, echte Gefühlsleben überall modifiziert unter dem Druck der geistigen Atmosphäre der Aufklärungszeit. Das Religiöse erscheint durchaus „in der Form des Menschlichen, Erhabenen, Schönen"(Paulsen); die Ehrfurcht vor Gott durchaus gepaart mit einer Ehrfurcht vor der Natur, mit einer innigen Hingabe an das Kleine und Unscheinbare, nicht weltflüchtig, sondern weltfreudig: „Bete, arbeite und ergötze dich!" ist der „Lieblingsspruch" der Familie in Engelhaim; die naive Empfindung aber überall zerfasert von moralisierender Reflexion: jeder in der Familie muß über seine Erlebnisse und Empfindungen Tagebuch führen, eines trägt die Überschrift: „... Ge­ schichte meines Geistes und Herzens. Lies nicht — Bist du nicht meiner Seele Vertrauter!"; die Bibliothek der Familie enthält unter dem Titel „Quellen der Tugend und Weisheit" das Neue Testament und „einige Schriften von Cicero", Lavater, Gellert und Claudius, Raffs Natur­ geschichte und Campes Robinson. Die ganze Engelhaimsche Familie ist das Idealbild der Deckschen Welt. Und in dieser Welt sind die Fäden aus dem Reich der Aufklärung und Empfindsamkeit so fest und unentwirrbar verschlungen, daß sie durchaus einheitlich und selbstverständlich erscheint, einheitlich auch, wenn der gleiche religiöse Schwärmer ein Jahr später düstere Phantasten und freiheitsttunkene Hymnen im Stile Poungs und Klopstocks schreibt, wenn er mit einem jungen Engländer korrespondiert und für Milton und die englische Aufklärungsliteratur schwärmt?), und wenn er in einem Gedicht, das bis ins einzelne Schubarts „Fürstengruft" nach­ gebildet ist und eines Wekhrlin Helle Begeisterung weckte, der Menschheit fürchterlichsten Fluch gegen den Fürsten schleudert,

„... Der nur des Thieres niedre Triebe Thatlos im weichen Arm der Wollust fühlt, Indeß ein Schwarm in Gold gehüllter Diebe Im Eingeweid des armen Staates wühlt." Später freilich verstummen solch kühne Klänge, und Decks Welt zer­ fließt immer mehr in Gefühl. In dem Tagebuch, das er ein Jahrzehnt später schrieb, zu der Zeit, als er den von der katholischen Orthodoxie verfolgten Sailer bei sich beherbergte, und das auch zahlreiche Briefe und Einträge Sailers enthält, erscheint er innig und demütig-zitternd in Gott versenkt, *) Augsburg 1783, Maihingen. -) Dgl. oben S. 27, Aam. 1.

seine religiöse Empfindsamkeit bis zur Schwärmerei gesteigert, er sieht Gesichte und hört Gottes Stimme, liest Tauler und Thomas von Kempen, ist von religiösen Zweifeln und Kämpfen geängstet, selten dazwischen zu Claudiusscher naiver fröhlicher Frömmigkeit sich durchringend — Sailer erscheint ihm gegenüber immer als der tröstende, auftichtende, der mit Hellern Augen in die Welt sieht und fester auf der Erde steht, und weiß oft Worte schönsten, edelsten Christentums zu finden. Nur manchmal bricht auch bei Deck wieder ganz die Stimmung der Ottinger Zeit durch, so wenn er „mit lieb Weibl und den Kindern" über Land fährt (7. Mai 1797): „.... Frühling um und um, mit Blüthen beschneite Bäume, dunkle Tannenwälder mit hellgrünen, frischausgeschlagenen Buchen beleuchtet, beblumte Wiesen — und zwei frisch aufblühende muntre Kinder bei uns im Wagen! ... Halleluja, daß ich ein Mensch auf Gottes schöner Erde bin und ein Christ zu werden hoffen darf!" In solchen Momenten findet dann Beck auch für die Aufklärung noch entgegenkommende Worte, die für die Stellung des ganzen Kreises zu ihr bezeichnend find: „Aufklärung — Handlaterne, die auf wenige Schritte nur leuchtet, nur das einzelne Fleckchen hell macht, wo man sie hinträgt? — Nein! sondern Mondschein vom blauen Himmel, der über die ganze Gegend sich verbreitet, vieles zwar im Schatten läßt, aber jedem soviel Klarheit gibt, als er braucht, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Sonnenlicht? ist freilich noch sicherer; allein unser Leben hier ist eine nächtliche Reise, und den vollen Glanz zu ertragen, unser Auge noch zu schwach." (Dezember 1797.) Was band nun Karl Heinrich Lang an diesen Kreis? Nur die materielle Unterstützung, die er durch Ruoesch fand? Sicherlich nicht! Einmal fand er hier von außen her eine Ergänzung seines eigenen Wesens: eine ruhige Ausgeglichenheit, die er von innen her nie erringen konnte. Das wichtigste Einigungsband aber war jene allgemeine Grundstimmung reiner Menschlich­ keit und Natürlichkeit, das allem Scheinwesen und äußern Druck feind war, das sich der Erde freute und zum Kleinen niederbeugte — das war das Positive, was Lang in diesem Kreise fand als Geist von seinem Geiste. Ebenso klar ist aber, daß dieser Kreis Lang nicht auf die Dauer halten konnte, sobald die weitere Entwicklung die tiefe, innere Kluft offenbarte, und so erklärt es sich auch, daß in dem Kreise selbst jede Spur Langs verschwunden ist. Lang ist auch durch diese Welle der großen, vom Gefühl getragenen Bewegung, die vom Pietismus zur Romantik führte, nur hindurchgegangen — es war die einzige, die sein Innerstes berührte und tiefere Spuren in ihm hinterließ. Auch wenn wir nichts besäßen, als die in allen Einzelheiten zutreffende Schilderung des Kreises in Langs Memoiren, könnten wir dies getrost behaupten. Kann irgend etwas das seltsam schillernde Fluidum dieses Lebens unmittelbarer und wahrer veranschaulichen, als der Satz, in dem Lang nach mehr als dreißig Jahren') sein Zusammensein mit Karl Theodor Deck in jenen „goldnen Tagen" schildert? Die beiden schwärmenden *) Mem. I, 96s. (1842).

32 Jünglinge „in den Nachtigalleahaiuen des Hofgarteas auf den Rase« hingestreckt" — bis in die einielnen Worte taucht die ganze Welt der Emp­ findsamkeit auf! — und begeistert von „den Wohllauten" ihres — nicht ihres Ossian oder Werther, sondern ihres Gibbon!

Doch es find noch deutlichere Spure» vorhanden. Leider nicht in Briefen — trotz aller Mühe konnte ich keiner Jugendbriefe Langs habhaft werden — auch nicht in den um so zahlreicheren Dokumenten seiner amt­ lichen Tätigkeit von damals. Kein Satz, keine Silbe der von Lang ge­ schriebenen Protokolle läßt einen Blick in die Seele des Schreibers tun, verrät auch nur eine Spur persönlicher Eigenart. Die korrekte, ebenmäßige Schrift ist das einzige, wodurch sie sich von den Arbeiten anderer hochfürst­ licher Regier» ngsakzessisten und -protokollisten unterscheiden. Und doch fallen in diese Jahre normaler Beamtentätigkeit schon die ersten Anzeichen, daß er hinausstrebt aus den alltäglichen Geleisen und fich herzhaft nach seinem eignen Kopf den Weg suchen will, etwas wie ein erstes Schwingenregev. Es war freilich kein Flug in Sonnenhöhen, zu dem er flch da anschickte; aber er trug ihn doch hinaus über die Masse der Indolenten und der Büro­ kraten, über die gepuderten Perückenköpfe von Diplomaten und Skribenten, und gab ihm ein Recht, auf sie herabzusehen und sich über sie lustig zu machen. Noch vor seiner Ernennung zum Reg.-Protokollisten begann er am i. Januar 1786 seine literarische Tätigkeit mit der Herausgabe eines Ottingischen Wochenblattes, dem noch im Sommer des gleichen Jahres seine erste selbständige Schrift „Beiträge zur Kenntnis der natürlichen und politischen Verfassung des Httingischen Vaterlands" folgte. Beide Schriften sind literarisch bedeutungslos, eminent wichtig aber für die Erkenntnis von Langs Werden und Wesen. Zum erstenmal erschließt sich uns hier sein Inneres mit allen Falten und Fasern, zum ersten­ mal spüren wir seinen eignen Herzschlag pochen. Dies allein rechtfertigt den breiten Raum, der der Besprechung der beiden Werke hier eingeräumt ist: es ist zugleich die erste Darstellung seiner gesamten Gedanken- und Empfindungswelt in einem der wichtigsten Momente seiner Entwicklung. Oie „Beiträge zur Kenntnis ... des Httingischen Vater­ lands" sind anonym erschienen*); doch nennt sich Lang als Verfasser außer in den Memoiren (1, 100) auch in der Vorrede zu seiner nächsten Schrift*); das Werklein selbst läßt über die Autorschaft Langs keinen Zweifel. Das zierliche Büchlein ist, wie die Einleitung sagt, vorzüglich der Ottingischen „Normaljugenb" gewidmet und durch die dortige Schulkommission veranlaßt — nach einer Notiz in den Memoiren sollte es als Preis bet Schulprüfungen verteilt werden — sein Zweck ist, „der Jugend und auch dem *) Beiträge zur Kenntnis der natürlichen und politischen Verfassung des Httiagi, schen Vaterlands. Ium Unterricht «ad Dergaügeu der Jugend. Httiagen, gedr. und verl. in der Lohsisch-, izt Oesterletatschea Buchdruckerei. 1786. 8°. ’) Votum über den Wucher, 1791.

wißbegierigen Bürger, welcher die vorhandenen ... Quellen zu gebrauche« nicht Gelegenheit hat, ... einen deutlichen Begriff von der Beschaffenheit und Verfassung seines Vaterlandes" beijubringen. Schon das ist beieichvend für Lang, daß seine erste selbständige Schrift nicht eine wissenschaftliche, gelehrte Abhandlung ist, sondern ein Buch jur Belehrung und Untere Haltung, für den Mann aus dem Volk und für die Kleine», die noch eia blldsamer Stoff find in der Hand des Unterweisenden, noch nicht erstarrt in gelehrter Tradition und konventioneller Gebundenheit. Alles Fertige, jur bloßen Form Gewordene ist ihm von Anfang an zuwider, und streng zunftgerechte Geschichtschreibung, die sich nur an einen engen Zirkel speziell Interessierter wendet, ohne praktisch auf breite Schichten wirken zu könne», ist von Anfang an nicht seine Sache. Nicht als sei ihm die Welt des abstrakten Denkens fremd gewesen — in klarem Forschen, in klugem Ordnen und nüchternem Kalkulieren kommt das Erbe seiner Zeit und seiner Väter zum Ausdruck — aber stärker war von Anbeginn in ihm das Erbe seiner Heimat, die Phantasie — und zum erstenmal sehen wir hier nun ihre besondere Eigenart: eine eigenwillige, sprunghafte, spielende Phantasie, die überall ihre Grenzen überschreitet und wie eia üppiges Schlinggewächs sein ganzes Wesen und Wirken umspielt. Beide Grundkräfte seines Wesens aber, Intellekt und Phantasie, sind ohne eigentlich gestaltende, schöpferische Fähigkeit. So bringt sein Intellekt wenig eigene, große Ideen hervor, seine Stärke ruht vielmehr im Zusammentragen, Gruppieren, Verbreiten und Verarbeiten fremder Gedanken — so vermag seine Phantasie nie plastisch, organisch zu gestalten, sondern sie malt, „phantasiert", wetterleuchtet. Der Kampf dieser beiden Welten in ihm ist das eigentliche Problem seines Wesens. „Auf meinen Tischen muß immer alles in einer Euklidischen Winkelrichtigkeit liegen" sagt er als reifer Mann*) — und nicht nur auf seinen Tischen, sondern auch in seinem Kopf und in seinem ganzen Weltbild — aber die launenhafte Phantasie in ihm treibt Schabernack mit dem steifen pedantischen Verstand und wirft alles wieder durcheinander. In der Seele des Kindes schon sahen wir diese Gegensätze schlummern, durchs ganze Leben können wir das wogende Auf und Ab ihres Kampfes verfolgen, in den „Beiträgen zur Kenntnis des Ott. Vaterlands" sehen wir seine Anfänge vor uns. Rein äußerlich prägen sich diese zwei Welten seines Innern aus: Lang schreibt von Anfang an zwei völlig verschiedene Stlle, die er unver­ mittelt nebeneinander stellt: einen papiernen, nüchternen Derstandesstll, wo er „wissenschaftlich" sein will, in statistischen, volkswirtschaftlichen, rein historischen Abschnitten — und da folgt er getreulich den Spuren des Oheims Jakob Paul Lang — dazwischen aber bricht unaufhörlich siegreich die Phanta, sie durch in einem lebendigen, urwüchsigen Stil voller Lachen und Laune, Frische und Natürlichkeit, der aus dem dampfenden Ackerboden und den sonnigen Kornfeldern des Rieses seine Kräfte gesogen und an der lebendigen *) Wem. II, 305. v. Keemer, Oer Kitter von Lang.

34 Sprache des Volkes sich gebildet hat. Maa höre aar, wie er die ernsthafte Unterweisung des kleinen Volkes et6ffnct1): „Meine lieben jungen Freunde und Freundinneu! Wenn ihr mich hören wollt, ich will euch was erzählen. Sestern Abends ging ich spatzieren, da kam auf einer Wiese der Storch mit seinen langen Füßen heraogestiegea. Ah! guten Abend, schöner Herr Storch! auch schon wieder hier. Freut mich, daß er sich wohl befindt. Wo ist er denn die Zeit gewesen? Nicht wahr in Italien? Ist doch gewiß eia großes Land. Was gibts denn da für Vögel, und läßt stchs dort auf jenen alten Schlössern bequeme Nester bauen? So frag ich immer, aber immer frag ich umsonst. Der gute Storch sah mich nur immer an, und sein Schweigen brachte mich jur Ungedult. Ey! Ey! wie thut er doch so hoch, müthig, daß er mit den Leuten gar nicht mehr reden mag. Ich glaube er ist wohl gar am schwarzen Meer gewesen und versteht kein teutsch — Er einfältiger Storch! Er bringt mich noch in Zorn. — Ihr lacht, daß ich mich über den Storchen so erzürnen mag, und ihr habt recht. Was kann das arme Thier dafür, daß es von einem Land in das andre fliegt und doch davon nichts zu erzählen weiß! — Aber wie? Wann ihr einst in die Fremde kömmt und man wird Euch fragen: Wo seid ihr her, wie groß ist Euer Land, wie viele Menschen wohnen da ... ? Was wollt ihr nun auf dies alles antworten? O nehmt Euch ja in Acht! damit es Euch nicht geht, wie dem armen Storche. — Nun wißt ihr was? Gleich morgen will ich Euch zu Liebe anfangen, im ganzen Land herumzureisen und was ich da erfahr und seh, das will ich Euch im nächsten Briefe schreiben." Jede Zeile sagt uns hier, daß dieser Stil nicht nach bestimmten literarischen Vorbildern gebildet, sondern lebendig gewachsen ist; es ist die Sprache eines Menschen, der ein offnes Auge für die Welt hat und, selber jung, ein offnes Herz für die Jugend und ein feines Verständnis für ihr Wesen, und der niederschreibt, wie er mit ihr plaudern würbe, was und wie es ihm in die Feder kommt. Bald in behaglicher Breite beim Kleinen verweilend, bald im Eifer des Gesprächs Worte und Sätze verkürzend, Erzählung und direkte Rede, Fragen und Aus, rufe mengend, wechselnd in Rhythmus und Stimmung — so weiß er, ohne eigentliche Vulgär, oder Dialektausdrücke zu verwenden, in einem ungezwungenen Plauderton zu schreiben, in dem sich Leichtigkeit und heitres Behagen aufs glücklichste mischen. Oder man höre, wie er die Schilderung der verschiedenen Erwerbs, zweige im Ottingischen eröffnet. „O! ihr glücklichen Leute, in einem so reizenden Land! Nicht wahr, ihr dürft nur immer auf das Gras gestreckt, die schöne Sonne untergehen sehen? — Nein! Nein! rief mir vom nächsten Kornfeld ein braver Bauersmann entgegen. Sieh, dieses Feld, wo izt der Wind in meinem Korn spielt, hab ich mit saurem Schweiß gepflügt. Doch reut mich meine Mühe nicht. Denn ohne Arbeit ist der Mensch nicht gesund und nicht vergnügt ... — Siehst du, rief ein anderer, dort mein

x) Beitr., 6. if.; die Seltenheit des Schriftcheas rechtfertigt wohl das ausführ, liche Zitat.

Vieh im Grase weiden, «ad aas jener Haide meine Echaafe springen? Ich pflege sie und meine Pflege zahlt mir der Fremde theuer. ... Und ich, rief mir aus einer nieder» Hütte, eia fleißiges Weib entgegen, ich spinne hier den Flachs ... und voa meiner Hände Arbeit kleidet sich der Fremde. Am frühen Morgen steh ich zu meiner Arbeit auf und sing mein ftöhlichs Lied ..." Unverhüllt sehen mir hier die Freude an der heimischen Natur, die so schSn und nützlich zugleich ist; das ist noch ganz jene Lebensauffassung voll Matthias Claudiusscher Heiterkeit, wie sie im Sailer-Beckischen Kreis zu Haus war und wie sie Saller sich zeitlebens bewahrte: „Hier zu Land ist über mir ein blauer Himmel, unter meinem Fuß geht das fruchtbare Erdreich an; und zwischen beiden soll lauter Lust sein" (Sailer an Beck, in Decks Tagebuch 2. Sept. 1797). Das ganze Büchlein ist noch durchzogen vom Geist dieses Kreises, in dem sich die besten Ideen der Aufklärung mit schlichter Herzensstömmigkeit und stiller Lebensfreude verbanden: Freude an der Natur und an den Menschen; Liebe zur Scholle — das „Vater­ land" hört bei den öttingischen Greuzpfählen auf; aber nur um so enger ist der Bewohner mit seinen Dörfern und Feldern verwachsen —; auf religiösem Gebiet Toleranz und Humanität, demgegenüber Zurück­ drängen der konfessionellen und dogmatischen Fragen — nach Langs Er­ zählung in den Memoiren ist dieser Abschnitt unter der persönlichen Ein­ wirkung Sailers entstanden — auf sozialem Gebiet Hebung der unter­ drückten Dolksklasseu, besonders des Bauernstandes; auf wirtschaft, lichem und politischem Gebiet noch ganz auf dem Boden der frühen Auf­ klärung stehend und rückhaltlos für bas System des Merkantilismus und eines aufgeklärten Absolutismus eintretend — es hieße den Geist deS ganzen Büchleins verkennen, diese Stellen etwa nur auf äußere Rücksichten zurückzuführen —; als allgemeine Grundlage der ganzen Schrift endlich ein unbedingter Glaube an die Menschheit, an ihre ursprüngliche Güte und ihren ewigen Fortschritt zur Glückseligkeit und Vollkommenheit. Oer ganze Ideengehalt des Büchleins ist also durchaus dem Geist der Zeit und der Umgebung entnommen. Und mit dem Enthusiasmus des Jweiundzwanzigjährigen ging Lang ans Werk, sein Teil beizutragen, die Menschheit — wenigstens die öttingische — dieser Glückseligkeit entgegenzuführen. Der Traum zerstob rascher und gründlicher bei ihm als bei anderen, weil er ihn stürmischer geträumt hatte, weil er ihn mit der Leb­ haftigkeit seiner Phantasie für Wirklichkeit genommen hatte und weil er auch dann der Wirklichkeit keine Konzessionen machen wollte, als sie ihm längst die Binde von den Augen genommen hatte. Es war kein jähes Aufwachen aus dem Traum, wo auf ein kurzes Gefühl der Enttäuschung ein klares, Helles Anschaun der Wirklichkeit folgt — langsam zerbrach ihm bas Leben eine Hoffnung um die andere, nahmen seine Idealmenschen, seine „geliebten Fürsten" und „wackern Bürger", einer um den andern die Maske ab und zeigten sich in ihrer ganzen Unvollkommenheit, Kleinheit und Er­ bärmlichkeit — und wie ein schleichendes Gift goß sich in seine Seele ein tief­ innerer Haß gegen die Menschheit, die den Traum seiner Jugend zerstört

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36 hatte, den er ttotz alledem nicht vergessen konnte, und den er als sei» Allerheiligstes in die Einsamkeit seiner Seele trug, als er den Glauben an die Mensch­ heit, an Glückseligkeit im Diesseits oder Jenseits längst begraben hatte. Bon dieser Enttäuschung ahnen die Ottinger Beiträge noch nichts, sie find noch vor dem Erwachen geschrieben; aber wie das Blut des Zweiundzwauzigjährigen, von den Ideen der Aufklärung berauscht, in gant andere Wallungen gerät als das der milden Ruoesch und Sailer, das zeigt schon in seiner Erstlingsschrift das „Mährchen von dem großen König ohne Leute", mit dem er das Kapitel über die Bevölkerung des öttingischeu Landes einleitet. Für die Erkenntnis des Seelenlebens, der Phantafie und der Darstellungsart des jungen Lang ist die Erzählung gleich wichtig. „Es war einmal ein großer König, dessen Land war hundert Meilen lang und hundert Meilen breit. Die Wälder standen voller langen Eichen und Hirsch und Rehe liefen herdenweis im Feld herum. Die grünen Wiesen waren ganz mit Blumen überstreut, und die muntern Lercheii stiegen allenthalben singend in die Lüfte auf. Allein wenn man auch hundert Mellen ging, so sah man doch nicht einen Menschen. Im Wald, im Feld, auf Berge» und im Thal — nirgend war ein lebendiger Mensch anzutreffen." So beginnt er seine Erzählung; behaglich, fast unbeholfen naiv schildernd, ein Bild ans andere reihend, ohne eine Situation ruhig und ganz zu er­ fassen; und er erzählt weiter vom großen König, der allein im riesigen Schloß mit seinen hundert Fenstern wohnt und den ganzen Tag in den langen, leeren Sälen umhergeht „blos von einem ungestalten Zwerg begleitet, der ihm den Schlepp nachtrug." Ganz leis und unvermerkt fallen hier schon die ersten Schatten der Wirklichkeit in den Traum; aber harmlos schwatzend, bis ins Einzelne des Satzgefüges den ungezwungenen Plauderton nach­ bildend, fährt er fort: „Gleich neben diesem Schloß, doch über der Grenze schon, da stand ein kleines Hüttchen, worin ein Dauer wohnte, der im sauern Schweiß sein väterliches Erbteil baute..." Und deutlicher schon greift die Wirklichkeit herein und leiht den Traumgestalten Leben und grelle Farbe: „Ihm sah der König in seinem Garten zu und sprach dann zu sich selbst: O, du guter Bauer, was bist du für ein armer Schuft! du hast nur wenig Morgen Land, und ich viel hundert Meilen. Meinetwegen geht die Sonne auf und mir zu lieb wirds dunkel, damit ich schlafen kann. Mir zu gut fließt Wasser aus den Quellen, und nur von dem, was ich nicht brauchen mag, kannst du und deine Ochsen saufen ... Geh Zwerg und schreib mit goldner Schrift an alle meine Thore: Hier wohnt der große König!" Seht ihr die hohle Pracht des öttingischen Duodezabsolutismus hinter den Phantasien des Träumers aufsieigen? Hört ihr die Despoten des 18. Jahr­ hunderts aus dem Mund des großen Königs rede»? Seht ihr tief drunten die ersten Keime sich regen, die aus dem Zusammenfluß und Widerstreit von Traum und Wirklichkeit die Satire gebären werden? Aber weiter noch reißt den Berauschten Phantasie und Leidenschaft: die Söhne des Bauern hören die Worte des Königs und ärgern sich. „Was prahlt er denn, riefen sie. der vermeinte große König und sein Zwerg! Wie leicht könnten

wir sie beide aus dem Schlosse jagen!..." Das ist geschrieben drei Jahre vor der Revolution, in dem absoluten Fürstentum Ottingen, von einem angehenden Regierungsakzefflsten, in einem Buch, das im Auftrag der „hochpreislichen Schulkommifflon" an die Schuljugend des öttingischen Vaterlandes verteilt werden soll! Wir ahnen, wie unsanft die Wirklichkeit den Träumer aufwecken wird! Aber dann wird er sich laut entrüsten, und er wird sich auf den Schluß seiner Ertählung berufen: die Dauern verjagen den König nicht, und wie es Winter wird und der König frieren und hungern muß, weil ihm niemand die Eichen fällt und Feuer macht, da ruft er den Dauern: „O lieber Bauer, komm, ja komm und pflüge in meinem weiten Land, wo du willst. Dir und deinen Söhnen will ich mein Land vertellen und nur das Vierteil deiner Früchte nehmen. Und der Bauer »og herüber und ... nach mehreren hundert Jahren war das Land voll Menschen. Sie spönnen, sie webte», sie bauten bas Land ... da pflegte der junge König öfters zu sagen: Nicht mein Land, sondern meine geliebte Unterthanen sind mein Schatz..." Dieser junge König ist Aloys lI.! wird Karl Heinrich Lang sagen. (Weh euch und mir, wenn's anders ist!) Und er wird weiter von Aufklärung und ewigem Fortschritt der Menschheit träumen — und heimlich bei sich selber erschrecken: oder haben die andern am Ende recht? Ist der Glaube an die Menschen, mein Glaube, nur Selbst­ betrug? Und er wird sich mit Gewalt aus dem Traum reißen und mit unerbittlichen, feindlichen Augen in die Wirklichkeit schauen und all ihre Flecken und Schwächen erspähen, und bittter hassen und verachten, als andre. So fallen die Schatten des zukünftigen Lang schon voraus in dies sein sonnigstes Jugeudwerk. Nur wie ein flüchtiges Augenausschlagea der Zukunft ist dies in den Ottinger Beiträgen, klar ausgebreitet sehen wir die Anfänge dieser Umwand­ lung im „Ottingischen Wochenblatt"*). Am 5. Oktober 1785 richtete der Ottingische Hofbuchdrucker Oesterlein ein Gesuch an die Regierung, „ein Wochenblatt nach dem Muster des Ansbachischen, Nördlinger etc. heraus­ geben zu dürfen"?), und auf den Einwand der Regierung, er sei der Mann nicht, „der dasselbe in gehöriger Orbaung zusammenschreiben ... und die bei Mangel der Materien zuweilen vorkommende leere Seiten mit Excerptis aus ökonomischen und andern gemeinnützlichen Schriften oder eigenen kleinen Aufsätzen anfüllen könnte", erwiderte er, „daß er sein Ver­ trauen diesfalls auf den Herrn Kandidat Lang gesetzt, und dieser ihm auch das Versprechen dazu bereits gethan habe". Daraufhin erteilte die Re­ gierung die Genehmigung, und am 4. Januar 1786 erschien die erste Nummer des neuen Blattes. *) Das mir zur Verfügung stehende Exemplar gehört dem fürstl. ötting. Archiv zu Ottingen und ist das einzige mir bekaunte; ich Mo also auch hier wieder zu umfang­ reichen Zitaten gezwungen. 2) AOe, Reg.-Regisir. P LXXII, Nr. n: die Einführung eines Jotelligen Mattes betr. 1785/86.

38 Das „Ottingische Wochenblatt erhob sich in keiner Weise über das Niveau eines kleinen Lokalblattes, wie sie damals zu Dutzenden aus dem Boden schossen, halb Intelligenz-Blätter, halb dürftige Ausläufer der „moralischen Wochenschriften". Die Regierung führte es bei alle» Ämtern und Gemeinden ein1) und verwendete es als offizielles Organ für Be­ kanntmachungen, Ausschreibungen usw.; nebenher gingen regelmäßige Notizen über Geburten und Sterbefälle, durchreisende Fremde, Viktualienpreise usw.; den ersten Platz aber nahmen die von der Regierung nur als Lückenbüßer gedachten Artikel „gemeinnützlichen" Inhalts ein, die fast alle — soweit nicht ausdrücklich eine fremde Quelle genannt ist — von Lang selbst herzurühren scheinen. Die fremden sind dem „Journal von und für Deutsch­ land", der Jenaer Literaturzeitung, der Berliner Monatschrift und andern Blättern entnommen — auch ein Gedicht Schubarts ist darunter?) — die eigenen spiegeln die Aufklärung in allen Schattierungen, von Voltaire bis Gibbon, von Nicolai bis Rousseau — kaum ein einziger selbständiger, in die Zukunft weisender Gedanke findet sich darunter. Nicht als hätte Lang etwa nur die Gedanken andrer abgeschrieben — aber auch seine eignen Gedanken waren immer nur die Gedanken seiner Zeit. Außerdem legte natürlich der offizielle Charakter des Blattes der freien Äußerung persön­ licher Anschauungen bedeutende Schranken auf. Trotzdem sehen wir den echten Lang aus allen Ritzen Hervorschauen, und wir sehen eine bedeutsame Wandlung sich in ihm vollziehen: Aufklärer bleibt er, aber er wird vom Enthusiasten der Aufklärung zum Skeptiker der Aufklärung, an Stelle des Humoristen beginnt der Satiriker zu treten.

Lang eröffnete die Zeitschrift mit einem poetischen Prolog an den erhabnen, aufgeklärten Fürsten Aloys 11. — nach Form und Inhalt könnte er wohl von Karl Theodor Beck herrühren — in den folgenden Nummern sichert er durch korrekte, loyale Artikel seinem Blatt zunächst die Stellung «nd dann beginnt er seine Arbeit, die Arbeit, die er leisten will zur Befteiung und Beglückung der Menschen, durchaus als Optimist, durchaus als Enthusiast. Aufklärung auf allen Gebieten, praktisch-landwirtschaftliche, soziale, geistige, ethische, pädagogische ist das Ziel, das er verfolgt. Anfangs vorsichtig, versteckt hinter trockenen Statistiken und alten Geschichten — hin und wieder bricht dabei der harmlos-schalkhafte Humor der Ottinger Dei-

l) 6. 6. 37, Anm. 2. *) In Nr. 43 (25. Okt. 1786) das bekannte Gedicht auf den Tod Friedrichs des Großen „Preußens Genius an Friedrich Wilhelm", überschrieben „Hoheoasperg, am 15. Sept. 1786"; das Gedicht hat hier eine Strophe mehr, die in den andern Ausgaben fehlt und die wie eine Ottingische Abschwächung der glühenden Begeisterung für den „großen Allbekannten" klingt: „König! willst du groß sein auf der Erde, Größer noch im Himmel — 0 so werde — Was der Inhalt aller Größe ist — Friedrich Wilhelm — werd ein Christ —"

träge durch*) — bald aber kühner, weit über die Grenze» des Sailerschea Kreises hiaausgehevd und keine Schranken mehr achtend. Schon in der 15. Nummer (April 1786) wagt er den Satz voll Rousseauschen Geistes und Glaubens: „Vielleicht erblickt diese alte Welt auch noch einmal jene goldae Tage, wo die Menschheit alle Fesseln und Baude zerbricht, wo die Unschuld allenthalben in der Freie ist, und sich ver­ theidigen darf, und wo der Übertreter, von tausend Augen bewacht und dennoch frei, durch seine Wiederverbesserung die Menschheit noch versöhnen kann." Nach diesem Artikel wird er zurückhaltender. Mag sein, daß er einen Wink erhielt, sich zu mäßigen; nötig ist diese Annahme nicht. Denn schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1786 beginnt ganz allmählich der Um­ schwung, die Ernüchterung. Die Gründe dieser Wandlung lagen in ihm «nd um ihn, besondere Gestalt und Richtung erhielt sie durch den Einfluß von zwei Männern, wie wenig andere verschieden nach Wesen und Wirken im langen Zuge der Aufklärung: Justus Möser und Ludwig Wekhrliu. Möser — der deutsche Mann, der durch die Schule Englands gegangen, einer der letzten im Zug, mehr rückwärts als vorwärts blickend, und doch der Mann der tagfrohen Tat, der unterm schlichten Bürgerrock das Herz der Zukunft trug — und Wekhrlin, der voltaireschwärmende Publizist, der in der einen Hand die Glocke, in der andern die Geißel schwang, Kraftgenie und bei esprit zugleich, der Stürmer und Dränger der Aufklärung. Der Einfluß Mösers auf Lang war ein rein literarischer, im ersten Jahre des „Wochenblattes" durchaus der vorherrschende. Er läßt sich zum ersten­ mal unzweideutig nachweisen in einem Artikel der Nr. 11 des Wochen­ blattes (15. März 1786), der die typisch Möserische Überschrift trägt: „Also soll man die abgebrannten Dörfer nicht mehr aufbaueo?" Zwei Monate später (Nr. 20) sehen wir diesen Möserschen Stll bereits völlig ausgeprägt in der Erzählung „Der glückliche Hans". Die ersten paar Sätze genüge«, um die unbedingte Abhängigkeit von Möser zu erkennen: „Sind wir Bauern nicht recht geplagte Leute? rief Hans und warf sich voller Unmuth auf sein Lotterbette hin. Don wem anders ißt der Amtmann und der Edelmann sein Brod, als von Uns? ... Sieht man denn, daß diese nur einen Finger krümmen, außer wann sie den Löffel ins Maul hineinschiebeu! Wahrhaftig! hundert blanke Thaler hab ich heute auf dem Markt erlößt. Aber wie? Dreysig — vierzig — wahrhaftig fünfzig Thaler sollst du izt Steuer geben. Für was? Für nichts, um nichts und wieder für nichts ... D was könnt ich mir um das schöne Geld für eine Wohlthat thun? ... Ha ha ha! ich glaube wohl, ich könnte meine Hüaer und Gänse selber essen — ,Und ich wünsche dir guten Appetit dazu', sprach der Amtmann, der eben zu der Thüre herein trat usw." Möserisch ist im Stil dieser Erzählungen Langs vor allem die bewußte Verwendung derb-volkstümlicher und altertümlicher *) So wenn er eine ernsthafte, nüchterne GebnrtS- und Sterbestatistik mit der variierte« Bibelfrage schließt: „Unter 116 Gebohrnen waren 18 Mädchen mehr als Knabe». — WaS will aus diese» Mägdlein «erde»?" (Nr. 2; 11. Ja». 86).

40 Ausdrücke, der kindlich sonnige Humor und die naive Art, mit der die Persoueu ihren Gefühlen Ausdruck verleihen („O Hans, nun hast du übrig Geld. Nun wird man dich wohl gar den Herr von Hansen heißen!"), möserisch vor allem der gante Tenor der Erzählung, die bald unter Weglassung alles Nebensächlichen in kurzen, präsentischen Hauptsätzen spricht, bald behaglich plaudernd wie die Alte im Lehnstuhl mit inniger Freude beim Kleinen verweilt — kurz, alle die Züge, die Möser stilistisch als einen der wichtigsten Borläufer der Brüder Grimm erscheinen lassen. Stärker als bei Möser erscheint bereits ausgeprägt die Lust am Fabulieren an sich; bei Möser steht doch immer das praktische Interesse im Vordergrund, der nüchterne staatsund kaufmännische Verstand ist's, der ihm die Feber führt; bei Lang regiert die Phantasie und umspinnt und verdrängt oft die klare „Tendenz", sie ver­ leiht seiner Erzählung schärfere Charakterisierung der Personen, mehr dramatische Bewegung und wechselnden Rhythmus. Damit kommen wir von den Symptomen des Möserschen Einflusses auf Lang bereits zu dessen Gründen und innerm Wesen. Nahe gekommen war Möser Lang wohl zuerst als Historiker. Von dem weitgehenden Ein­ fluß, den er als solcher auf Lang übte, wird später zu handeln sein. Hier haben wir es mit dem Publizisten Möser zu tun. In den ersten zehn Nummern des Wochenblattes hatte Lang den unpersönlichen, papiernen, trockenen Etil geschrieben, den er von Jak. Paul Lang gelernt hatte und den wir in den Ottinger Beiträgen und durchs ganze Wochenblatt wiederfinden. Aber wir sahen schon, daß ihm der innerlich zuwider war: mit dieser trockenen Lehrhaftigkeit konnte er den Ottinger Bauern gegenüber nichts anfangen, und seine Phantasie sträubte sich ebenso dagegen. Er brauchte einen Stil, wo er belehren und unterhalten zugleich, sein Wissen anbringen und zugleich seine Phantasie spielen lassen konnte. Und das fand er beim Publizisten Möser. Darum nahm er von ihm die Volkstümlichkeit der Rede, die der gemeine Manu verstand, und den Archaismus der Sprache, der der Er­ zählung etwas Patriarchalisch-Ernsthaftes verlieh, die Redeweise der „Deklamation", die es nach Mösers eignen SBocten1) ermöglichte, kleine alltägliche Wahrheiten interessant „aufzustutzen" und hinter dem Spiegel der Phantasie die eigene Meinung vor unberufenen Blicken zu verstecken, und schließlich bis ins Einzelne den ganzen Aufbau der Erzählungen. Er kommt also im wesentlichen von außen her an Möser heran und er bleibt — das finden wir auch später immer wieder — bei diesem Äußeren stehe». Er amalgamiert sich das Fremde nicht, er kopiert es nur. Das innerste Wesen Mösers und seines Stils blieb ihm fremd. Die köstliche Geschlossen­ heit der Stimmung in den Möserschen Erzählungen, der feine Duft sommer­ licher Behaglichkeit, der über ihnen ruht, und die frische, klare Seeluft, die vom offenen Ozean hereinweht — das fehlt den Langschen Erzählungen durchaus. Möser war bei allem Sinn fürs Reale ein tiefinniger Gemüts­ mensch, aber auch in seinen Anschauungen war er durch Berge von Laug *) Patr. Phantasien II, 430.

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getrennt: selbst wo ste sich am nächsten zu stehen scheinen, in der Liebe zum bodenständigen Bauerntum und im Sweben, diese Bauern „für das öffent­ liche Leben ju interessieren", tritt der Gegensatz zwischen ihnen schroff zutage: Möser will seinem Dauern „eine klare Einsicht von seiner Bedeutung im Staate und von seinen Pflichten geben" und ihn dadurch stark machen, den zerstörenden Jeitgewalten zu trotzen — Lang erhofft alles von intellektueller Aufklärung; Mösers Bauern sollen das feste Rückgrat des Staates werden, Stütze und zugleich wichtiges Aktionszentrum des ganzen Staatsorganis­ mus — die Bauern Langs sollen nur dazu erzogen werden, die „Anordnung einer weisen und aufgeklärten Regierung" zu verstehen und zu befolgen. Die gleiche Gegensätzlichkeit auf allen Gebieten: Möser verfolgte die Auf­ rechterhaltung scharfer ständischer Gliederung und der Zunftschranken, er bekämpfte die pädagogischen Manieren der Aufklärung, ihre Humanitäts­ duselei und ihren Kosmopolitismus, er glaubte nicht an den praktischen Nutzen ihrer land- und volkswirtschaftlichen Doktrinen — wir sehen: wenn Möser überhaupt eine tiefgehende Wirkung auf Lang üben sollte, mußte sein aufklärerischer Enthusiasmus bedenklich erschüttert werden. Und Lang war ja selbst aus dem starken bäuerlichen Boden aufgewachsen und hatte offene Augen für die Wirklichkeit! Sollte es ihm auf die Dauer verborgen bleiben, wo die Aufklärung anfing, Utopie und Unsinn zu werden? Die ersten Anzeichen dieser erwachenden Erkenntnis sehen wir in einem Artikel vom ii. Oktober 1786 (über die Verhütung der Feldfrevel), der den Doktrinen des Physiokraten Schlettwein die platte Wirklichkeit und das lebendige Leben gegenüberstellt. Gleichzeitig versucht Lang seinen Stil aus der sklavi­ schen Möserimitation zu lösen und frei nach dem Leben und nach seiner eignen Eigenart zu bilden; er wird derber, realistischer, sprunghaft, lässig, leicht bewegt. Cs tauchen plötzlich zahlreiche schwäbische Provinzialismen auf, scherzhaft vulgäre Wendungen, dem lebhaften Gespräch entlehnte lockere Satzbildungen — es ist die gleiche Zeit, in der die „Ott. Beiträge" entstanden. Inhaltlich enthält der Artikel bereits das weitgehende Zuge­ ständnis, es sei gut, gewisse Vorurteile „niemals gänzlich auszurotten", rückhaltlose geistige Auftlärung des Volkes könne mehr zerstören als nützen. Das waren Gedanken, von denen aus Möser entscheidenden Einfluß auf Lang gewinnen konnte. Lang brauchte nur den Schritt ins Positive hinein Möser nachzutun: also nicht intellektuelle Aufklärung, sondern ethische und praktische Erziehung des Volks; also nicht predigen von den Höhen einer idealen Philosophie, sondern handeln auf dem Boden der Wirklichkeit! Aber dazu gehörte freilich ein starker Glaube an sittliche Kräfte und der Wille zum Kampf nicht mit Worten, sondern mit der Tat — diesen Schritt hinein in die Zukunft, ins 19. Jahrhundert, hat Lang nie getan, damals nicht und später nicht. Ein andrer hatte ihm bereits einen andern Weg gezeigt, der mehr seiner Art entsprach und leichter zu gehen war: Ludwig Wekhrlin. Der Einfluß Wekhrlins auf Lang war von ganz andrer Art als der Mösers: es war der unmittelbare Einfluß der lebendigen Persönlichkeit; einer

42 Persönlichkeit, die, geistreich, witzig, phantastisch, exzentrisch, in ganz anderm Maße Fleisch von seinem Fleische war als der biedre, nüchterne Möser. Die persönlichen Beziehungen waren schon durch die Familie gegeben: Langs beide Oheime, Georg Heinrich Laag und der Syndikus Duttersak, gehörten zu Wekhrlins nächsten Freunden; Wekhrlin selbst lebte seit 1778 in der nächsten Nachbarschaft Otlingens, in dem Dorfe Baldingen, nachdem ihn die Nördlinger aus ihren Mauern vertrieben hatten, und stand damals auf der Höhe seines Ruhms und seines Schaffens; Lang gehörte zu den Lesern des „Grauen Ungeheuers", im August schrieb er ins Wochen­ blatt einen Artikel über den Tod des Grafen Joachim von Waller­ stein „als ein Gegenstück" zu einer Erzählung des Grauen Ungeheuers, am 20. und 29. November 1786 konnte er zwei Originalbeiträge Wekhrlins bringe» — von stch aus hatte Wekhrlin, dessen „Ungeheuer" da­ mals gelesen wurde, „soweit die deutsche Zunge reichte" (Ebeling), keine Veranlassung, Artikel für das unbedeutende Oettingische Wochenblatt zu schreiben; sie sind also persönliche Gefälligkeiten gegen Lang — und als im Aprll 1787 der Nördlinger Rat wegen eines Pasquills Wekhrlins Aus­ lieferung verlangte und 100 Dukaten auf seine Einbringung setzte*), da brachte Lang an ungewohnter Stelle im Wochenblatt einen geharnischten Artikel „über die Preßfreiheit, der die Spuren eiliger Hast an stch trägt und vielleicht von Wekhrlin selbst herrührt, in jedem Falle aber ein persönlicher Freundschaftsdienst Langs gegen Wekhrlin war. Und gleichzeitig sehen wir in Langs eigenen Artikeln den Einfluß Mösers auf Stil und Inhalt Schritt für Schritt von Wekhrlin verdrängt. Hatte Möser wesentlich dazu bei­ getragen, die Ernüchterung in Lang anzubahnen, so setzt Wekhrlin erst eia, nachdem diese zu wirken begonnen. Ein interessantes Zeugnis aus dieser Übergangszeit ist eine Erzählung Langs in Nr. 42 des Wochenblattes (18. Oktober 1786): „Selim, ein Märchen": Ein arabischer Prinz Selim baut eine prächtige Stadt für alle, „die im Ernste mit ihrem Schicksal unzufrieden wären". Die ganze Welt durchwandert er und überall trifft er unzufriedene Menschen, die über ihr Schicksal jammern, aber in seine Stadt will ihm keiner folgen: der Bettler, der Bauer, der Kaufmann, jeder will bleiben, was er ist. Traurig und verbittert gibt Selim sein Beginnen auf. Da klopft eines Abends ein Mana aus dem wüsten Arabien an seine Türe und begehrt Aufnahme in der herrlichen Stadt — aber „den neunten Tag starb er mitten im Überfluß am Heimweh". Kurz vorher?) hatte Wekhrlin im „Grauen Ungeheuer" eine Fabel von Jupiter erzählt, der mit Merkur über die Erde wandert, da die Menschen, „wenn man ihnen glauben soll", alle am unrechten Platz seien. Überall Klagen und glänzendes Elend. Nur der Schäfer in seiner Hütte ist zufrieden und erklärt, mit keinem Fürsten tauschen zu wollen. Jupiter will ihn für seine Tugend belohnen, aber „er fand, daß derjenige, dem an

*) Goltfr. Böhm, Weckhrlin. a) Im Juliheft des Grauen Ungeheuers (Heft 8, @. 68 ff.).

allem genügt, io der That »immer glücklicher gemacht werden kann". — Die Gemeinsamkeit des Grundgedankens mit seiner unverkennbaren Herkunft von $occti1) sowie Anklänge in einzelne» Worten und Ausdrücke» lassen es mir unjweifelhaft erscheinen, daß Wekhrlias Fabel die Anregung j« Langs Märchen gegeben hat. Um so instruktiver find die Abweichungen nach Form und Inhalt. Beide formen die Erjähluag um im Geist ihrer Zeit und ihres Leserkreises. Wekhrlin schreibt für ein gebildetes Publikum im ganten Reich: sein „Allvater" ist der galante Jupiter Moliöres — Lang für fürstl. öttingische Erbuntertanen: er hüllt das Ganje in orientalische Gewänder, die wohl der Rüstkammer Wielands entlehnt sind, und der Gott, den er dahinter versteckt, ist Seine Durchlaucht, der Herr Fürst, und letzten Endes Laag selber. Lang erzählt in ungezwungenem Plauderton, dem heitern Spiele seiner Phantasie folgend; ein leiser Einfluß von Wekhrlins flüssiger Leichtigkeit beginnt schon die Mösersche Breite zu verdrängen; eigen ist ihm eine derb-gemütliche Realistik, die besonders der Schilderung des Bettlers und Bauern zugute kommt (Wekhrlins Bauer ist ein empfind­ samer „Schäft — Langs Bettler trotzt den Prinzen an: „Was brauch ich eine ewige Verpflegung! Ich bin kein solcher gemeiner Bettler, der sich in die Spitäler stecken läßt!"). Immer noch aber ist bei Lang Aufzählung und Beschreibung, wo bei Wekhrlin alles Anschauung, alles Leben ist. Wie ganz anders vermag Wekhrlin einen prächtigen Palast vor uns hinzu­ zaubern als Lang! Diese individuell gestaltende Phantasie fehlt Lang und damit schon formal die Möglichkeit zu der köstlichen Zeitsatire, mit der WekhrII» seine Fabel durchsticht. Sein Jupiter wird erst zu allen Torheiten der Welt geführt, ehe er den genügsamen Schäfer findet: an den Wiener Hof, zur „Mutterloge zu den drei Weltkugeln", nach Dessau ins Philanthropin: „Herr Basedow war nimmer da. Magister Reich klopfte soeben seine Perücke aus, um sie vom Staub, den er in einer Balgerei mit den übrigen Professoren daraia brachte, zu reinigen" — das war freilich nichts für die Leser des Httingischea Wochenblattes. Aber daß Lang von dieser übersprudelndea Fülle von Satire so ganz und gar nichts übernahm, beweist doch, wie wenig er im Grund seiner Seele eine satirische Natur war. Zum Humoristeu war er geboren — die fessellose Phantasie und die liebevolle Hingabe an das Kleine, die muntere Laune und das Deisammeawohnen schroffer Gegensätze in einer Seele waren ihm eigen — zum Satiriker machte ihn erst bas Leben, von außen her. Die echte Tiefe großer Satire blieb ihm zeit­ lebens versagt. l) Bei Wekhrlin spielen offensichtlich auch Ovidische Erinnerungen herein. Lang kannte de» Horaz von der Schule her und zitierte ihn immer gern. Zudem hatte die Jenaer Allg. Lit.,Zeitung, die Lang damals las, im Mai 1786 eine Besprechung von WielanbS Übersetzung der Horazischen Satiren gebracht und dabei gerade die beiden hier in Betracht kommenden Satiren („Stadtmaus und Feldmaus" und „Qui fit Maecenas ausführlich behandelt. Daß Lang auch direkt von Horaz beeinflußt ist, ergibt sich aus der Verwendung der Horazischen Typen „Der Bauer", „Der Bettler", „Der Kaufmann", für die W. kein Vorbild bot.

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Und noch tiefer schauen wir dem Lang jener Tage in die Seele, wenn wir den Gedankengang der beiden Erzählungen vergleichen. Wekhrlins Mensche» sind wirklich unglücklich, ihr Reichtum nur Schein, unter ihrer Kultursattheit „stöhnen heimliche Seufzer". Kehrt zurück zur Natur und laßt euch genügen, so sei- ihr glücklich, ruft er ihnen zu. Ganz anders Lang! Sein Selim ruft in bitterm Grimm: „Sind doch die Menschen alle Heuchler! Sie murren über ihr Schicksal öffentlich, mit dem ste heimlich ganz zuftieden sind. Sie sind Gefangene, die über ihren Kerker klagen, und doch bei offenen Türen nicht herausgehen wollen!" Er sagt nicht: Sei- zuftieden, so seid ihr glücklich, sondern er rüttelt sie heimlich auf: ihr braucht nur zu wollen, so seid ihr frei! Er glaubt noch an die Möglichkeit einer Weltverbesserung und Weltbeglückung; aber die Menschen sind zu feig, zu träg, sie verstehen die neue Zeit nicht in ihrem engen Sinn, der ewig am Alten und an der Scholle klebt! Und darüber beginnt sein eigener Glaube zu wanken: als ganz neue, durchaus seiner Erfindung angehörende Gestalt erscheint am Schluß der Flüchtling aus Arabien, der einzige, der sein bittres Los mit dem Leben in der Stadt Selims vertauschen will. Hunger, Hitze, wilde Tiere verfolgen ihn in der fernen Heimat — aber mitten im Überfluß stirbt er am Heimweh. Und Prinz Selim läßt die Tore seiner Stadt versperren und ihre Straßen zerstören — und niemand hat sie mehr gesehen. Wie ver­ haltene Resignation liegt es über dem Schluß — die Resignation eines Menschen, der die ganze Welt, die er sich aufbaut, in Trümmer stürzen steht, der andere zu beglücken dachte und nun, verschmäht, gewahr wird, daß er unglücklicher ist wie sie, der erfaßt ist vom Wirbel neuer, zerstörender, gärender Gedanken und der doch jenes Heimweh nicht verlernen kann nach der Enge und nach der Stille, die auch ihn einst umschloß. Die ganze Gewalt der Gegensätze in ihm tritt hier zum erstenmal ans grelle Tageslicht. Das war die Stimmung, in der Wekhrlin so ungeheuren Einfluß auf ihn ge­ winnen konnte. „Wozu sich weiter um diese Welt kümmern, für sie arbeiten und um sie sich aufregen? Sie bleibt doch immer dumpf und träg und ver­ logen — Verachte den Pöbel und mache dich über ihn lustig! Aufklärung ist gut, aber nicht für jene! Sei ,Philosoph' und — Egoist!" das war der Weg, den Wekhrlin wies und den Laug ging. Und er schritt auf diesem Weg rasch vorwärts, seiner rasch empfäng­ lichen Art entsprechend in engem Anschluß an Wekhrlin. Im Oktober 1786 hatte er den „Selim" geschrieben; der November brachte die Origiualbeiträge Wekhrlins; im Dezember (Nr. 49) bringt er bereits einen eigenen Artikel („Kann man es allen Menschen recht machen ?"), in dem er zum ersten­ mal selber die Geißel Wekhrlinscher Satire übers Publikum schwingt. Noch liegt eine Art Möserscher Behaglichkeit über der Erzählung, wie Deukalion einen neuen Menschen schaffe» will und alle Tiere um ihre Meinung fragt; aber das ganze Tempo und der ganze seelische Charakter ist ein anderer geworben. Die größere Knappheit und Anschaulichkeit, der Versuch einer individualisierenden Satire, mit der er die verschiedene» Gruppen seiner Leser unter der Maske von Stier und Fledermaus, Frosch und Bär lächerlich

macht, und endlich die Unverftorenheit der verblüffenden „Nutzanwendung": ich kana's auch nicht allen recht machen, nehme aber „Erinnerungen ein­ sichtsvoller Leser" gern entgegen, und hoffe auf ein zahlreiches Abonnement —das alles verrät deutlich das Erbe Wekhrlins. Der erste Artikel des neuen Jahrs*) zeigt ihn bereits einen Schritt weiter: der Tropfen satirischen Blutes, den er aus Wekhrlin getrunken, hat sich mit seinem eigenen Blute gemischt und beginnt seinen StU von innen heraus umzugestalten. Nun erzählt er nicht mehr einzelne satirische Einfälle; Satzbau und Wortwahl, Aus­ druck und Stimmung wird satirisch; das Schweben zwischen Scherz und Ernst, das Zusammenstellen paradoxer Empfindungen und Stile — das sind die Mittel, mit denen er nun seine Satire von innen her gestaltet?). Im September 1787 sehen wir ihn nocheinmal in äußerlicher Mösernachahmung, um seinen Lesern zu sagen: Aufklärung in juristischen Dingen ist nichts für euch; da werdet ihr zu anmaßend. Im übrigen aber bildete sich im Lauf des JahreS sein Stll auch außerhalb der Satire mehr und mehr nach Wekhr­ lins Vorbild?). Die Sucht nach überraschenden Paradoxen und originellen Bildern (vor allem kühne Personifikationen!), ein Aneinanderreihen un­ vermittelter Aphorismen, die einen Gedanken, meist mehr blendend als klärend, von verschiedenen Seiten beleuchten, und eine Vorliebe für ab­ sichtlich derb-drastische, aus dem Gebiet des Vulgären entnommene, manch­ mal ans Frivole streifende Vergleiche sind die Hauptmerkmale dieses Stils. In geringem Maß nur sind die Gallizismen Wekhrlins auf Langs Stil übergegangen4* ),2 3von seiner Fremdwbrtermanie und seinen gewaltsamen Neubildungen hat er sich ziemlich frei gehalten. Lang wahrt also Wekhrlin gegenüber bereits kräftig seine Eigenart — auch später ist es ungeheuer schwer, im einzelnen ihm Anklänge an Wekhrlin nachzuweisen — Wekhrlin ist eines der ganz wenigen Vorbilder, die Lang nicht in Einzelheiten kopiert, sondern innerlich in sich angenommen und verarbeitet hat. Und nicht nur stilistisch: die ganze Ideenwelt Wekhrlins ist die seine geworden. Und diese Ideenwelt war trotz ihrer inneren Freiheit und vieler in die Zukunft weisender Gedanken nicht die, der die Zukunft gehörte. Mit ihr ') 1787, Nr. i: „Nachbar, ich wünsch Such einen Stiefel." 2) Vgl. z. D. den Satz: „Seid glücklich und tragt Stiefel, waren die letzten Worte der sterbenden Väter zu ihren weinenden Söhnen!" 3) Besonders charakteristisch der Artikel über die Schulprüfung in Nr. 31. 4) Vor allem kommen hier Reflerivkonstruktionen nach franz. Muster in Betracht, wie „es wird sich darüber verwundert" (1787, Nr. 2) oder „bei Eröffnung des Sarges entdeckte sich in der Asche ein goldener Ring" (1787, Nr. 24); doch hält sich Lang auch hier von solchen Ungeheuerlichkeiten frei, wie Graues Ungeheuer 12, 28: „Unlängst fiel ein Kind ins Wasser. Sieh da: es reuttet sich, es fährt flch, es rennt sich, es läuft sich." Auch die von Wekhrlin sehr beliebte Satzkonstruktion: Subjekt des Haupt­ satzes — Konjunktionalsatz — Prädikat des Hauptsatzes, findet sich von dieser Zeit au bei Lang ziemlich häufig (z. D. 1786, Nr. 41: „Die Griechen, um ihre Eichenwälder zu schonen, prägten dem Landmann ein, daß Doch ist dies mehr oder weniger der ganzen Zeit gemeinsam.

46 gewann in Lang die spezifisch französische Aufklärung und noch spezieller die Aufklärung im Sinne Voltaires die Herrschaft. Tausend Gemeinsam, feiten des gesamten Denkens und Fühlens waren die Grundlage, auf die sich die innige Durchdringung und Durchtränkung seines Geistes mit Wekhrlinschen Ideen gründete. Wekhrlin kämpfte für die Humanität und „Erleuchtung der Geister" wie er, stritt für das Recht der Armen und De, drängten, war der erklärte Feind des Mittelalters und aller deutschen Bardenbegeisteruag, der Kirche und aller äußern Autorität, alles hohlen Scheins und alles konventionellen Zwangs. Aufklärung im Gewand kraftgenialischer Fessellosigkeit — das «ar es, was Lang brauchte und bei Wekhrlin fand. Wekhrlin besaß Phantasie und Temperament — er haßte die Schulmeisterei und Regelmacherei der Berliner Aufklärung; aber er haßte auch alles, was ihn irgendwie einengte und belästigte. Als Philosoph das Leben genießen, dem Unangenehmen ausweichen und über die Torheit der Menschen lachen, schien ihm die höchste Weisheit. Alles was an Selbstgefühl und Schwäche, an Frohsinn und Leichtsinn und die Tiefen überspringender Lebhaftigkeit in Lang war, mußte nach der gleichen Lebens, auffassung hindrängen. Aber Wekhrlin haßte noch mehr. Er zweifelte an allem und spottete über alles, aber drang nirgends in die Tiefe: er haßte Gründlichkeit und innere Kämpfe. Er schwärmte für die Fran, losen — nicht weil sie Franzosen waren, sondern weil sie sich über den deutschen „Krämergeist" zur Höhe kosmopolitischer Weltbettachtung er, hoben: er haßte das national Beschränkte. Er stritt für Menschen, recht und Freiheit, aber die tiefsten Nöte seines Volkes blieben ihm fremd, und das „odi profanum volgus“ spricht aus jeder Zeile, die er geschrieben; er wollte wohl Aufklärung, aber nur für sich und einige Auserwählte die Philosophen, nicht für die Massen: er haßte das Volk; einen „Staat von Häringsfischern, Tabaksbaizern und Wollkrämplern" nennt er die Republik; „wie sollte die vielköpfige Bestie, das Volk, richtig denken lernen!" (Graues Ungeheuer 8, 264). Und er haßte die kleinkrämerlichen Händel des Volks und seine höchsten Ziele: er haßte den Staat und die Politik. Wer Deutschland regiert, ob Bayern an Österreich kommt, ob das Gleichgewicht Deutschlands gestört wird, ist ihm ganz gleichgültig — „aber meine Grundsätze aufzuklären, mich in meinen Einsichten zu üben, ist ein Beginnen, das mir als Philosoph ... ansteht" (Graues Ungeheuer 7, 11)1). Das war der Wekhrlin, der damals in Lang über Möser siegte — es war der Sieg des 18. Jahrhunderts über das 19., nicht nur über das 19. Jahrhundert im Bismarckischen Sinn sondern auch über das 19. Jahr­ hundert von dreizehn bis achtundvierzig. ’) Diese Analyse der Ideenwelt Wekhrlins gründet sich natürlich durchwegs auf Komplexe von Äußerungen in seinen publizistischen Schriften und Briefen, die im Text eingefügtea Zitate sind nur besonders charakteristische Illustrationen. Über Wekhrlins Auffassung von Staat und Politik vgl. besonders noch „Gr. Ung.", 5,. 220ff., 6, 345 ff. u- a.

Es war die wichtigste Entscheidung in Langs innertn Leben, fast möchten wir sagen: die einzige. Der einzige sichtbare Bruch in seiner Ent­ wicklung. Der geistesverwandte, geistig überlegene Mann wies ihr die neue Richtung, nach der Langs eigenes Wesen hindrängte. Einen einzigen Gegner fand er in Lang selber: seinen Ehrgeiz. Der trieb ihn noch dreißig Jahre hinein in Kampf und Irre, in die Unrast und Enttäuschung des öffentlichen Lebens — die innere Entwicklung lief daneben ruhig weiter. Aber eigentlich «ar es überhaupt keine Entwicklung mehr, nur noch ein Erstarren, Ab­ sterben. Das Leben konnte fortan nur noch ihr Tempo und ihre Intensität beeinflussen, nicht ihre Richtung. Don dem Lang des Jahres 1787 zu dem der Memoiren führt eine gerade Linie — unsere Erzählung kann sich fortan knapper fassen. Die Tage des geruhigen Httinger Lebens fanden ein rasches Ende. Daß Lang bei seinen Anschauungen und der Art, sie zu äußern, den streng katholischen Fürsten und dessen hochmögende Räte sich nicht besonders befreundete, ist natürlich*). Den Anlaß zum offenen Bruch gab er selber. Im Juni 1788 beschwerte sich der Hofrat Preu beim Fürsten über Langs Wegbleiben von den Sitzungen des Justizsenats sowie über seinen Mangel an Privatfleiß und Diensteifer. Das eigenmächtige Wegbleiben aus den Sitzungen war auch nach Langs Erklärung in den Memoiren fraglos eine Ungehörigkeit, der Vorwurf des Unfleißes ebenso sicher eine Un­ gerechtigkeit^). Es kam zu einer heftigen Szene zwischen ihm und dem Fürsten, in deren Verlauf Lang seine Entlassung forderte. Unterm 16. Juni wiederholte er seine Bitte in einem schriftlichen Gesuch, das zum ersten­ mal ganz den Lang der späteren Jahre jcigt3). Er war mißkannt und beleidigt worden von Männern, denen er sich an Freiheit der Gesinnung und Weite des Blicks hochüberlegen fühlte; „ich verzichte darauf, mich vor euch zu verteidigen", sagt er in einem Anlauf vornehmen Stolzes, „und ich ver­ zeihe euch obendrein." Aber er hat nicht die Kraft, dabei stehen zu bleiben. Das Gefühl der äußeren Abhängigkeit, das Gefühl vom Wert dieser äußeren Dinge überhaupt, ist zu mächtig in ihm, als daß er sich nicht auch nach außen rehabilitieren müßte: „Übrigens verlasse ich dieses Land mit dem Be­ wußtsein, baß ich, sollt es auch nur durch ein wirksames Vorwort bei meinen Vorgesetzten geschehen seyn, daß ich manchem schüchternen Bittenden Muth und Eingang verschafft, baß ich manches Bedrängten Sache zum Ausgang *) Der Befehl des Fürsten, alle seine Diener müßten in der Charwoche kommu­ nizieren, den Lang selbst nur als einen mündlichen erwähnt (Mem. I, 107), läßt flch aktenmäßig natürlich nicht nachweisen. 2) OaS letzte Justizprotokoll von Langs Hand ist vom Oktober 1787; dagegen führt er die Regierungsprotokolle und bieProtoc. rer.exhibitarum bis in den Juni 1788 mit peinlicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit; daneben redigiert er das Ott. Wochenblatt, seit Ende 1787 allerdings mit abnehmendem Interesse; aber gerade die historischen und statistischen Artikel des Wochenblattes sind der beste Beweis seines Privatfleißes und bezeugen zur Genüge, wie gründlich er sich in Archiv und Kanzlei zu Ottingen auskannte.

3) AOe, K IX, zu.

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befördert, daß ich manches Armen geheime Noth entdeckt, daß ich manches Gefangenen ftühere Entlassung bewirkt, und bei dem Gott, von dessen Leitung ich izt mein anderweites Glück erwarte, bei diesem kann ich betheuern, daß ich mir in meinem ganzen Dienst keiner andern Handlungen bewußt bin, als die der strengsten Treue, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit gemäß waren"1). Aber auch dabei begnügt er sich nicht. Oie gleiche mächtige Tradition der Unfreiheit, die ihn, den Präsidentenenkel, zwingt, dem Fürsten die Hand zu küssen, den er verachtet — die gleiche Tradition hat in ihm den Ehrgeiz geboren, der nur einen denkbaren Lebensweg sieht: im Herrendieast Stufe um Stufe höher zu klimmen. Und dazu bedarf er jener Menschen, ihrer Protektion und ihrer pekuniären Unterstützung, und er muß ihnen sagen: Seht, was ich wert bin! Und er sagt es mit wachsender Bitterkeit und einem Gefühl innerer Genugtuung, je mehr er seiner Ohnmacht und des Unwerts der anderen sich bewußt wird. So wird auch diesmal schon seine Selbstverteidigung zu einer widerlichen Selbstanpreisung. In einem „unterthänigsten Supplicats-Nachtrag" verteidigt er sich doch noch gegen den Dorwurf des Unfleißes und überreicht dem Fürsten eine Privatarbeit, „dergleichen sowohl in Rücksicht ihrer Wichtigkeit, als ihrer unendlichen Brauch­ barkeit in den nächsten Tagen so bald nicht wieder wird verfertiget werden. Wollten €.t>. Hochfürstl. Durchlaucht mir hierfür eine angemessene Beloh­ nung mit auf die Reise zu geben geruhen, so werde ich solches mit unter# thänigstem Dank erkennen". Tags darauf erhielt er die Arbeit zurück, zusammen mit einem kurzen, schroffen Cntlassungsschreiben?). Es war eine kräftige Absage nach der Selbst­ demütigung und Selbstüberhebung des Entlassungsgesuchs. Sie zerschnitt, was ihn noch an Ottingen band; wenig Tage später zog er, der neuen Freiheit froh, zum zweitenmal aus der Ottingischen Heimat. Diesmal aber gedachte er seine Kreise weiter zu spannen. Noch ehe das Entlassungs­ dekret in seinen Händen war, schrieb er am 17. Juni 1788 an den Wallerstetnschen Kabinetssekretär Ludwigs): „... Stündlich erwarte ich die Ent­ lassung aus meinen hießigen Diensten, die ich selbst erbetten habe, und meine Gedanken rathen mir, mich ohne langen Aufenthalt dahier nach Wien zu wenden, und dort vorerst einiges Verdienst und mit der Zeit mein Unterkommen zu suchen." Wien, die Kaiserstadt und die Stadt der Walzer, die Stadt der großen Weltbegebenheiten und die Stadt Josephs 11.— *) Der letzte Passus scheint darauf hinzudeuten, daß auch Langs Redlichkeit an# gegriffen worden war, vermutlich aus Anlaß der Advokatengeschäfte, die er Mem. I, 91 erzählt, und die ihm Heigel so sehr verübelt. Die Beteuerung hier ist natürlich kein Beweis seiner Ehrlichkeit; denn der Gott, bei dem er schwört, existiert zwar für den Fürsten, nicht aber für ihn. Ebensowenig aber ist die Erzählung der Memoiren ein Beweis seiner Unehrlichkeit; denn Lang liebt es in den Mem. Schandtaten und Schlechtigkeiten von sich zu „bekennen", die in Wahrheit nur lose Stretche waren.

2) AOe, K IX, 514. 3) AW, 111, 6/7b-

tonnte irgend etwas seine abenteuerlustige Phantasie und seinen aufgeklärten Verstand mehr anlocken? Den Ausschlag gab aber doch wohl das Wien der Diplomaten und Agenten, wo man viel Geld verdienen und große Karriere machen konnte! Oer Kampf in ihm, zwischen Verstand und Phan­ tasie, trat nun zurück; er hatte keine Zeit, ihn auszukämpfen und innerlich zu überwinden; sein Ehrgeiz trieb ihn in einen lauteren Kampf, der sein ganzes Wesen nach außen kehrte, den Kampf mit der großen Welt, den Kampf zwischen Charakter und Leben. Innerlich unfertig trat er in diesen Kampf — der Charakter blieb nicht immer Sieger dabei.

v. Räumet, Oer Rittet voa Laag.

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HL Kapitel. Wanderjahre. Im heißen Sommer des Jahres 1788, der dem Ausbruch der Franjöfischen Revolution voranging, bestieg Lang im bayerischen Landstädtchen Donauwörth das Schiff, bas ihn aus der anmutigen Schönheit seiner schwäbisch-fränkischen Heimat zum erstenmal in eine Landschaft von gewal­ tiger Größe, aus der behäbigen Enge des öttingischen Vaterlands ins brausende Leben trug. Frei tu sein von den unerträglichen Fesseln und For­ men und Formeln, die ihn dort gebunden, — was konnte sich mit diesem Hochgefühl messen? Die Phantasie war wieder einmal Königin in seinem Herjen; und was an verborgenem Gefühl und drängendem Leben in ihm schlummerte, das brach nun mit aller Macht hervor. Wie ein Schimmer jugendlicher Poesie liegt es noch über dieser Reise, und nie mehr hat ein Enthusiasmus wie damals seine Seele erfüllt. Sein ganjes Leben lang vergaß er die Eindrücke dieser Fahrt nicht, und die Donau hat er immer höher gepriesen als den Rhein. Wie unmittelbar lebendig schildert er noch nach 30 Jahren in den Memoiren die stille Sommernacht, in der das Schiff sanft und ohne Ruderschlag im nächtlichen Schatten dahinglitt, während der Schiffsknecht ihnen die Bilder des leuchtenden Sternhimmels erklärte und der Wundarzt Heinecke ihre Gesänge mit der Flöte begleitete, die ganje empfindsame Gefühlsseligkeit des Beckischen Kreises klingt dabei wieder! Wie fein hat er die Schönheit von Linz empfunden: „gleichsam mit silberner Pracht in die blauen Berge und Lüfte hineingejaubert"! Wien selber konnte er sein Lebtag nicht vergessen. So oft er sich nach einer neuen Heimat umsah, stand Wien in erster Linie auf der Liste, noch 1820 findet et es eben so schön wie vor 30 Jahren und nennt es seine „alte ©eliefcte"1). Doch selber Wien mit dem bunten funkelnden Schmuck seiner Glacis konnte ihn nicht halten. Kaum angekommen, folgt er einem Ruf des Augenblicks nach Ungarn und entschwindet unseren Blicken in den fernen Waldgebirgen Siebenbürgens, die er als Gesellschafter eines ungarischen Grafen durch­ schweift. Don einsamen Bergeshöhen aus sieht er dem Rauch des Feuers nach, an dem sein Herr, auf der Erde hingelagert, sich eine Speckschwarte brät: „da stand ich denn schweigend stundenlang hinter ihm und träumte *) Lang an Therese tznber, 31. Aug. 1820.

mich in die weite Welt hinein"!). Es ist derselbe Lang, der viele Jahre später, als er sich in München am wildesten mit dem Leben herumschlug, beim Sonnenuntergang „mit Kinderheiterkeit" den Möven zusieht, die zu vielen Hundert über die Isar flattern2); der gleiche, der Menschen, deren Seelen mit der seinen zusammenstimmen, wenn er mit ihnen allein ist, „wie ein guter Vater" belehrt und der bis in sein einsames Alter ein warmes Herz für die „lieben Kleinen" bewahrte2). War er wirklich ein Mensch ohne Gemüt? Die glühende Tiefe, aus der neue Welten geboren werden, fehlte ihm freilich. Aber ein inniges, heiteres Kindergemüt verbarg sich unter der unerfteulichen Schale, weich, verschlossen, mit naiver, kindhaft unbekümmerter Phantasie eine eigne, innre Welt sich bauend, vor jeder Berührung mit der äußern sich scheu zurückzieheud, passiver Natur, und oft nur als Traum und Sehnsucht gefühlt — und aus all dem zur Unfruchtbarkeit verdammt und überall an der Wirklichkeit sich stoßend und eine tiefe, innere Unruhe erzeugend, so oft Ehrgeiz und äußere Not ihn in den lärmenden Kampf der rohen, unreinen Wirklichkeit treiben. Wir sehen es immer wieder über­ rascht mit seltsam feinen Zügen aus den Plattheiten und Boshaftigkeiten seiner Satiren Hervorschauen; wir sehen es liebend zu den Kleinen und Ver­ achteten sich niederbeugen; wir sehen es immer wieder in plötzlichem Auf­ bäumen die Herrschaft in ihm gewinnen und ihn aus dem Schlamm und Wogenprall des Kampfes jagen; es schafft im Verein mit seinem Tempera­ ment, gerade durch den fortwährenden innern Widerspruch, das Sprung­ hafte seines Wesens, das seinem Leben und seinem Schaffen, seiner poli­ tischen Laufbahn und seinem Stil gemeinsam ist. Es sind wohl die edelsten, reinsten Kräfte seines Wesens, die sich in diesen Momenten Bahn brechen, und doch iffs jedesmal eine Flucht, eine Flucht aus Kampf und Pflicht — eben weil diese Kräfte im Grund unftuchtbar sind. Auch schon seine erste Reise in die Welt ist eine solche Flucht, aus der gebundenen, begrenzten Enge des Httingischen Dienstes in die rauschende Freiheit der Welt und in die weite Einsamkeit der Natur, wie er nach dreißig­ jährigem Kampf in die enge Einsamkeit seines „Heimwegs" und seiner Seele floh. 1785 war er in öttiugische Dienste getreten, mit dem Willen zu einer bestimmten geregelten Laufbahn, er hatte einen Grund dazu gelegt und einflußreiche Gönner gefunden, die ihm den Weg in die Höhe ebneten, er hatte Wohltaten empfangen und Verpflichtungen übernommen — und beim ersten peinlichen Zusammenstoß mit den ihn umgebenden Mächten wird er fahnenflüchtig und läuft aufs Gradewohl in die Welt hinaus. Daun bricht die Französische Revolution aus, alle Geister aufrüttelnd, allen Bann des Schlummers lösend — er, der sich als Apostel der Ideen geriert hatte, die die Revolution von 1789 verwirklichen will, denkt gar nicht daran, irgendwie Anteil zu nehmen; ja er konnte von Wien aus wenigsten- an *) Mem. 1, 132. *) Therese Huber an Paul Usteri, 18. März 1816. ’) Ebenda.

52 einem der interessantesten und interessiertesten Plätze Europas die Dinge be­ obachten — statt dessen hat er sich „als ein glücklicher Mensch drei Jahre bald am Schwarten Meer, bald am ©Übersee umhergetrieben""). Wie fern lag ihm doch von Anfang an die Politik, vollends die politische Tat! Rein menschlich, im Sinne des 18. Jahrhunderts, haben ihn diese Reisen natürlich mannigfach bereichert, sein Wissen und sein Erleben — tu seinen slawischen Sprachkenntnissen legte er damals den Grund, und noch in seiner letzten „Hammelburger Reise" weiß er scherzend von einem ungarischen Fräulein ju erzählen, die behauptet, er habe ihr vor 50 Jahren die Ehe versprochen?). Ebenso waren natürlich die mancherlei Einblicke in die große Welt, die ihm Wien ermöglichte, für ihn von unermeßlichem Wert. Aber im ganzen hat er doch damals in die Welt der Kaunitze und van Swieten nur recht von außen hineingesehen; sie war ihm von Anfang an nicht Betätigungsfeld, sondern Beobachtungsobjekt, beobachtet allerdings mit offenen, scharfen Augen für alles einzelne, vor allem sofern es schadhaft und lächerlich ist — ein Bericht aus Wien vom 26. Mai 1790 an den Fürsten von Wallerstein?) zeigt ihn bereits ganz in dieser Gestalt. Etwas tiefer wurde er vom geistigen Leben des Josephinischen Wien berührt und dabei in manchem in der Richtung seiner Entwicklung weiter geführt: die Auf­ klärung in ihrer spezifisch wienerischen Ausprägung blieb nicht ohne Einwir­ kung auf ihn, mit ihrer Beimischung frivoler Sinnlichkeit, wie sie in den Blumauerschen Musenalmanachen erscheint, und mit ihrer besonderen Betonung staatsrechtlicher und staatswissenschaftlicher Fragen, wie sie Sonnenfels vertritt. Als 1789 Joseph II. eine Preisaufgabe stellte über das damals in Österreich sehr aktuelle Thema: Was ist Wucher?, da wagte sich neben Sonnenfels auch Lang an eine Bearbeitung der Frage**). Die Schrift zeigt vor allem in einem Punkt einen wichtigen Schritt vorwärts von der frühen zur jüngeren Aufklärung in den Anschauungen Langs: vom Anhänger des MerkantUismus ist er im Anschluß an Sonnenfels und Adam Smith ein ausgesprochener Verteidiger des physiokratischen Systems geworden. Im übrigen aber geht er nicht weit mit Sonnenfels zusammen. Während dieser das Hell in der Gründung einer staatlichen Bank und der Ausgabe von Papiergeld sieht, sagt Lang: „Gegen den Wucher helfen nicht Strafgesetz, nicht Papiergeld, nicht Banken, nicht Kreditsystem, sondern man suche den gesunkenen Länderpreiß zu heben"; denn „der Preis der liegenden Güter ist es, welcher ... den höhern oder niedern Lauf der Zinsen ... bestimmt"", und in einem selbständigen, kräftigen, ackerbautreibenden Grundbesttzertum sieht er die sicherste Stütze der Staatswirtschaft. Wir sehen, wie kräftig Möser noch in ihm nachwirkt! Und nicht nur hierin. *) Lang an Weltmann, 6. Oft. 1816. •) tzammelb. Reise, Stifte Fahrt, 1833, S. 101. *) AW, 111 6/7b (Langs Personalakt). *) Die Schrift erschien erst 1791 im Druck: „Ein Votum über den Wucher von einem Manne sine Voto", Nördl. bei Beck. Unter der Vorrede nennt sich Lang als Verfasser.

Oer grundlegende Unterschied von der Betrachtungsweise Eonnenfels' ist: Eonnenfels tritt an die Frage ausschließlich vom Gegenwartsstanbpuakt aus als Volkswirtschaft!« heran. Laug betrachtet sie als Historiker. Die Schrift über den Wucher ist die erste selbständige wissenschaftliche historische Arbeit Langs — mit ihr als solcher haben wir uns noch kurz zu befassen. Die ersten historischen Versuche Langs, die kurzen Artikel im Öttingischen Wochenblatt, waren durchaus populär gehalten; ste sollten teils der Auf, klärung, teils der bloßen Raumfüllung dienen. Bald spricht aber deutlich das persönliche Interesse am Stoff aus ihnen, das sich von Anfang an den mannigfaltigsten Gebieten der Geschichte, vor allem aber Rechts, und Wirt, schaftsgeschichte, zuwendet. Die einzelnen Gebiete untereinander stehen io gar keinem Zusammenhang, selbst innerhalb der einzelnen Artikel fehlen —abgesehen von der aufklärerischen Tendenz — durchgehende, zusammen, fassende Ideen. Es ist ein Aneinanderreihen archivalischer und statistischer Notizen, ohne eigentliche Verarbeitung des Stoffes, kunstlos nüchtern erzählt im Stil Jakob Paul Langs, das einzig durch eine Vorliebe für kleine, anek, dotenhafte Züge eine etwas persönliche Färbung erhält. Etwas höher erhebt sich allein der durch vier Nummern führende Aufsatz über den Dauern, krieg von 1525 am Schluß des zweiten Jahrgangs*), der in der Erzählung der speziell OttingerDorgänge eine respektable, auf selbständiger Quellen, forschung beruhende Leistung darstellt und in der scharfen Herausarbettung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Aufstandes deutlich den Einfluß des Historikers Möser verrät. In der Schrift über den Wucher ist die Nachwirkung Mösers mehr in den Anschauungen, die Lang vertritt, und in der Verbindung historischer und staatswirtschaftlicher Betrachtungsweise ganz im allgemeinen zu spüren als in der historischen Methode, die ganz auf der Geschichtschreibung Voltaires und seiner Schüler ruht. Ein großer historischer Denker ist Lang nie gewesen. Soweit die Ideen, die er in der Schrift ausspricht, nicht von Möser herstam, men, liegen sie durchaus im allgemeinen Zug der Aufklärung. Das Cha, rakteristische ist auch hier die Art, wie er sie vorträgt, und die unleugbare Geschicklichkeit, eine Unsumme statistischen und historischen Materials zu sammeln und klar und übersichtlich zu gruppieren. Zu betonen ist dabei, wie weit er seine Kreise zieht: um das Wesen der Erscheinung zu erfassen, untersucht er die entsprechenden Verhältnisse in ganz Europa, vom alten Rom bis zum modernen Dänemark, ja er zieht Ostindien, China und Nordamerika zum Vergleich bei. Trotzdem aber deckt er eigentlich uir, gends die tieferliegenden inneren Beziehungen auf, gibt nirgends eine Entwicklung, eine Darstellung des lebendigen Hinüber, und Herüberwir, kens. Er geht von einer aus Detailerscheinungen gewonnenen, manchmal von seiner aufklärerischen Tendenz mitbestimmten These aus und trägt nun mit unendlichem Fleiß aus Literatur und Urkunden und Leben alles zu, sammen, was diese These stützen kann, und setzt dies dann wie Bausteine

*) Ott. Wochenblatt 1787, Nr. 43—46.

54 nebeneinander. So hat seine ganze Behaadluagsweise einen ausgesprochen horizontalen Charakter, ohne in die Tiefe und in die Höhe zu bauen. Seine Belesenheit ist erstaunlich, und er weiß geschickt damit zu paradieren — Cicero und Tacitus, Luthers Tischreden und Schlözers Staatsanzeigeu, Montesquieu und Mirabeau, Hume und Adam Smith marschieren in Zitaten und Anmerkungen auf. Seine Quellenkritik aber erreicht kaum den Durchschnitt der Aufkläruugshistoriker: wie alle, die von einer niedri­ geren Bildungsstufe als Autodidakten zur Wissenschaft kommen, hat er zunächst einen ungemeinen Respekt vor allem, was gedruckt ist; zwischen primären und sekundären Quellen macht er fast keinen Unterschied: eine Äußerung von Livius, Reckers compte rendu und die amtlichen Ver­ ordnungen der österreichischen Regierung gelten ihm ungefähr gleich viel, und wenn er irgend einen Satz mit einem Zitat aus Martial bekräftigen kann, läßt er sich"s nicht entgehen. Lang ist auch darin Eklektiker. Er kennt ungeheuer viel. Nirgends aber verarbeitet er das Fremde wirklich innerlich; sondern wo er etwas findet, was in seinen Garten paßt, da nimmt er es, wie es ist, und pflanzt es zu sich herüber. So bekommt er einen ganz bunten, reichen Garten mit mancherlei Kräutern und schön abgezirkelten Beeten und Wegen — aber es fehlt ein starker, einheitlicher Geist, der das Ganze durchzieht und ihm ein eigenes Gepräge verleiht. Denn die einzige Kraft in ihm, die etwas Eigenes, Lebendiges schaffen könnte, die Phantasie, hält er damals noch mit Gewalt nieder, wenn er wissenschaftlich arbeiten will. Erst später hat er von Möser gelernt, auch sie in den Dienst der Historie zu stellen und mit ihrer HUfe lebendiges Leben über dem toten Gestein erblühen zu lassen. Da entstanden dann seine stärksten und eigensten Werke: die Geschichte der Steuerverfassungen als Vorläufer (1793), die Bayreuther Geschichte (1798—1811) und die Memoiren (1817—1829). Aber er hatte sehr wohl gewußt — oder er hat es instinktiv gefühlt — warum er aus seinen ersten wissenschaftlichen Werken die Phantasie so völlig verbannte: nur so konnte er sie meistern. Sobald er sie überhaupt hereinließ, verlor er die Herrschaft über sie, und sie überwucherte all die sauber abgesteckten Beete und Wege, die der Verstand gezogen hatte, und verhüllte mit ihren üppigen Ranken und Blüten die klaren Linien des festen historischen Bodens, aus dem sie erwachsen war. Die farblose Nüchternheit der ersten historischen Arbeiten Langs und das ängstliche Rubrizieren und Systematisieren, das Gliedern in tausend Abteilungen und Unterabteilungen, das wir in seinen wissenschaftlichen Arbeiten ebenso wie in seinen juristischen Deduktionen und amtliche» Berichten finden, ist nur eine Reaktionsbewegung des ordnenden Ver­ standes gegen die übermächtige Phantasie. So sehen wir doch auch hier wieder in der Tiefe den Kampf zwischen Ver­ stand und Phantasie liegen, und wir sehen zugleich, welch starke Position immer noch Möser ür. unbewußten Ringen seines Innern eiauimmt. Unterdessen tat die Welt um ihn alles, ihn Schritt für Schritt weiter in der Richtung zu führen, die Wekhrlin in ihm angeschlagen hatte. Cr hatte

versucht, sich seiaea Schlingen zu entziehen. Als die Kleinlichkeit «ad Dumpf­ heit der Menschen und Dinge in Httingen den Glauben an seine Ideale ins Wanken brachte, ihn zum tatunfähigen Verächter und Spötter zu machen drohte, da hatte er in letzter Stunde sich aufgerafft und aus der sicheren Enge de» Sprung in die große, weite Welt gewagt. Und sie hat ihn aufs neue gelehrt, zu handeln und sich des Großen und Schönen zu freuen — es ist kein Zufall, daß gerade damals bei ihm der Einfluß Mösers wieder zunimmt und eine Periode ernsten Arbeitens einsetzt — aber der erste von den „Großen" dieser großen, weiten Welt, den er nun näher, Aug' in Auge, kennen lernte, der sagte ihm, die Menschen dieser Welt seien überall gleich klein und jämmerlich. Im Frühjahr 1789 wurde er Privatsekretär beim Württembergischen Gesandten in Wien, Baron von Bühler*), einem eitlen, übergeschäftigen Pseudodiplomaten der alten Schule, der sich darin gefiel, in den Konzepten seiner Sekretäre „Derzeichniß" in „Derzeichnuß" ändern zu lassen und auf feinem Goldschnittpapier dem Fürsten Kaunitz mit untertänigsten, verschnörkelten Eingangs- und Schlußformeln lächerliche Nichtigkeiten mitzuteilen. Es war zunächst nur ein einzelner, der von neuem Langs Spott und Verachtung herausforderte — aber Lang sah nun einmal nicht mehr mit der sonnigen Unbefangenheit seiner Kiaberaugen in die Welt; er war wie ein GlaS, das einmal zersprungen ist: sobald der kleinste, heiße Tropfen die alte Wunde berührt, klirren wieder die Scherben. Seine Augen hatten nun einmal die Schärfe, die überall die Flecken und Unwahrheiten fleht, der Bericht vom 26. Mai 1790 zeigt deutlich, wie auch in der neue» Welt bereits das Ergötzliche ihn mehr reizt als das Bedeutende, und wie er lieber über kleine Torheiten lacht als große Schönheiten bewundert. Er hatte wieder einmal geglaubt und war enttäuscht worden — das war das Endergebnis der Wiener Jahre. Aber er hatte doch neue Kräfte, seelische und geistige, gesammelt, und er war nicht gesonnen, den Kampf mit dem Lebe» so schnell aufzugeben. Im Herbst 1790 folgte er einem Ruf aus der alte» Heimat, um als Sekretär des Fürsten Kraft Ernst von Httingen-Wallerstein seine diplomatische Laufbahn fortzusetzen.

Schon im Mai 1790 hatte er, durch einen persönlichen Gnadenbeweis des Fürsten ermutigt, in einem ausführlichen Bericht3) sich „zu einem recht baldigen gnädigsten Angedenken" empfohlen; am 5. September3) erhielt er durch den Bruder des Fürsten die Aufforderung, in wallersteivische Dienste zu treten; am Abend des 6.3) verließ er in einem fürstlichen Reise­ wagen die geliebte Stadt. *) W, St.K Württemberg fasz. 2, Promemoriea Bühlers 1788—179a Einem Promemoria vom 21. März 1789 liegt ein von Langs Hand geschriebenes „Derzeich n i ß der in de»... Landen befiobl. Realitäten..." bei, im nächsten Promemo­ ria, von Langs Nachfolger geschrieben, heißt es „Derzeichnuß"! *) AW, III 6/7b (Langs Personalakt). 3) AW, Alte Cab.-Reg. IIA 10/5 Nr. 39: Berichte des wallerst. Agenten von Stubenranch.

56 So war er denn glücklich wieder im Land seiner Jugend — zunächk nur für ein paar Tage. Der erste Auftrag, den ihm sein neuer Gebiete erteilte, führte ihn zur Wahl und Krönung Kaiser Leopolds II. nach Franifurt a. M. Er sollte die dortigen Vorgänge beobachten, namentli, was sich Wichtiges bei den Beratungen des reichsgräflichen Kollegium ereignete, und darüber fortlaufend Bericht erstatten. Die erhaltene Berichte**) zeigen Lang als gewandten Beobachter, der auch Ding, die nicht jedermann zugänglich waren, zu erfahren wußte, und als zu verläfftger Berichterstatter — fast alle seine Mittellungen finden in de offiziellen Protokollen ihre Bestätigung. Tief ins Herz lassen uns dier offiziellen Berichte ihm begreiflicherweise nicht schauen. Nur bisweile blitzt es in einer heiteren Anekdote auf, daß ihm diese prunkvollen Aufzüg und wichtigen Beratungen bei weitem nicht so ernsthaft erscheinen wr den Herrn Reichsgrafen und kurfürstlichen Wahlbotschaftern, so wen: er z. D. erzählt, jüngsthin habe der Prälat von Ochsenhausen zum Ganbiur des Wahlkonvents „als ein allgemeines Reichsgravamen vorgebracht, da ihm ei» Ochs weggekommen, der ihm von dem Churfürstlichen Collegiur wieder herbeigeschafft oder 5 kl dafür bezahlt werden sollen". Doch lasse: uns diese harmlosen Anekdoten kaum ahnen, daß sie die Anfänge eine neuen, bittreren Satire sind, die sich nicht mehr gegen das Publikum und di Torheiten der Menschen im allgemeinen richtet, sondern gegen die Großer „die Obern", die, bewundert und geachtet, die ersten Stellen im öffentliche: Leben (und besonders in der Diplomatie) innehaben, ohne es zu Verdiener Als Jünger Wekhrlins war Lang natürlich schon als ein kühl Ablehnende nach Frankfurt gekommen; nun wurde er dort Sekretär des Direktorialrat Pietsch, der das Protokoll in der Konferenz der Reichsgrafen zu führe: hatte, und sah zum erstenmal wirklich etwas hinter die Vorhänge der diplo malischen Welt. Da hatte er nun einmal die ganzen Herrn beisammer die daheim in ihren angestammten Ccblanden als Halbgötter throntet: vor deren Glanz der Untertan in Ehrfurcht erstarb, und sah sie sich tagelau herumstreiten, wer von ihnen dem Kaiser beim Krönungsmahl die Schüssel: auftragen dürfe und ob sie sich mit dem Pluralis maiestaticus „Wir nennen dürften-); und das alles zu einer Zeit, als jenseits des Rheins de Dämon der Revolution bereits mit dem Beil in der Hand den Fürsten uu Königen das „Freiheit und Gleichheit" in die Ohren brüllte! Der Baro: Bühler konnte eine Ausnahme gewesen sein — nun stand es ihm fest die ganze „große Welt" des helligen römischen Reichs mit ihren Fürste: und Diplomaten, mit ihrem Prunk und ihrer Altehrwürdigkeit war un wahr, erstarrte Form und hohler Schein, dem Untergang verfallev Daraus aber nun etwa die Folgerung zu ziehen: also stelle dich mit deine ganzen Kraft in den Dienst der neuen Mächte, verlasse die Welt, der du bishe gedient, und hllf sie stürzen und auf ihre» Trümmern eine neue bauen *) AW, a. C.»R. 11A 10/2, Nr. 130, Nr. 510. *) AW, III 15/23C, Reichsgräfl. Konfereuzprotokoll.

— das fiel ihm nicht ein. Das forderte viel zu viel Energie des Willens nad der Tat. Und das hätte ihn vor allem viel ;u sehr gebunden. Das lag gar nicht im Bereich der Möglichkeiten seiner Wekhrlinschen Weltanschauung. Sondern er sagte: also kehre dieser Welt der Lüge und der Lächerlichkeit den Rücken, kümmere dich nicht um sie und arbeite in deiner kleinen Welt, was in deinen Kräften steht. Und er kehrte zurück in den Dienst seines durch, lauchtigsten Reichsfürsten nach Wallerstein, und er arbeitete tatsächlich in den folgenden Jahren, was er in dieser kleinen Welt leisten konnte — bis ihm der Kreis doch wieder zu eng wurde und sein unruhiger, schaffens, durstiger Geist ihn von neuem hinaustrieb in den Kampf. Unterm 15. Oktober 1790, also wenige Tage nach der Kaiserkrönung, überreichte er dem Fürsten einen selbstgefertigten Entwurf für seine künftige 3o|trufttoti1), mit der Bitte, ihn doch endlich „nunmehr in Tätigkeit zu versetzen". Das Entscheidende dabei ist, daß er nun bereits den ihm eigenen Beruf klar erfaßt und mit Energie erstrebt: die eigentlich juristische und diplo­ matische Laufbahn haben ihm die Erfahrungen in Ottingen, Wien und Frank, furt verleidet; die Archive und Registraturen sollen ihm rückhaltlos geöffnet werden, er soll freien Zutritt zur Regierungskanzlei bekommen, um alle Protokolle, amtlichen Korrespondenzen und kurrente Aktenstücke einsehe» zu können, er will überall die Originale selber in Händen halten und selber sich Einblick und Überblick verschaffen können — offiziell zu dem Zwecke, alle reichsgerichtlichen und staatsrechtlichen Angelegenheiten des Fürsten, tums archivalisch vorzubereiten: aber der Historiker, der Forscher steht dahinter. Er legt sich eine Sammlung historischer Miszellaneen an, er arbeitet eifrig an den Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Steuerverfaffungen, er trägt alles zusammen, was zur Verteidigung wallersteinischer vergessener oder angefochtener Gerechtsame dienen kann, und liefert an Hand des Urkunbenmaterials umfassende juristische Deduktionen — so vergräbt er fich ein Jahr lang hinter den Akten und Faszikeln des wallersteinischea Archives, als gäbe es die Welt der großen Politik und der lebendigen Ge, schichte nicht mehr, als tobte nicht draußen das Meeresbrausen der großen Revolution. Kaum hörbar klingt es in die stille Welt des kleinen Wallerstein, nur der Fürst vernimmt es zitternd, und ein Schwall von Erlassen gegen Umsturz, Freiheitsstnn und verdächtige Umtriebe ergießt sich über das erstaunte, schlafende Ländlein, in dem „von einem französtschen Revolu, tionsfeuer kein Funken gloste, sondern vielmehr die größte Abneigung gegen dergleichen Empörungen allen Unterthanen gemein" war?) So sah Lang nur die Furcht des Fürsten und die Dumpfheit der Masse — und beides schien ihm gleich verächtlich. Er glaubte nicht mehr an Völker, besteiuag und Measchheitsbeglückung — was sollte er sich in ihre Händel mischen? Aber die ruhige Forscherarbeit genügte seinem lebhaften Geist *) AW, III 6/7b (Langs Personal«»). ’) AW, I 18/138, III 17/43; Politeierlasse, Revolution bett. 1791—94; Bericht beS Amtes Kloster,Deggingen, ebenso Der. des Amtes Marktoffingen.

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nicht. Er wollte wirken, greifbaren Erfolg sehen, seine gründlichen Kenntnisse sollten auch genützt werden. Aber da stieß er nun natürlich sofort wieder auf die unerträgliche Dumpfheit und Kleinlichkeit der wallersteinischen Ver­ hältnisse. Der ganze Mechanismus war zu schwerfällig, seine besten Arbeiten waren umsonst, da man in Wetzlar und Wien nie zu einem Ziel kam, überall sah er Phrase und Formel statt kräftigen Handelns. Zuletzt suchte er mit Gewalt einen größeren Wirkungskreis zu erringen: in einem neuen, aus­ führlichen Jnstruktionsentwurs*) bittet er, selber nach Wetzlar ans Reichs­ kammergericht geschickt zu werden, um dort die beiden wallersteinischen Prokuratoren zu inspizieren, ihnen die Deduktionen, Rezesse, Berichte usw. zu entwerfen und zugleich sich selber weiter zu bilden. Durch eine äußerst übersichtliche, klare Darstellung aller wallersteinischen Prozesse zeigt er zu­ gleich, wie gründlich er das ganze Gebiet beherrscht; um alle die bemerkten Gegenstände ins reine zu bringen, sagt er'im letzten Paragraphen des Jnstruktionsentwurfes, würde eine ganze Lebenszeit und ein herkulischer Achselbau erforderlich sein; der Zweck der Sendung solle daher nur sein, „baß Unser Hofsekretär Lang der ganzen izt unbeweglich liegenden Masse wieder einen treibenden Stoß gebe". Wir spüren die innere Ungeduld, mit der er aus der Enge seines Wirkungskreises hinausdrängt, er kann diesem trägen, eingerosteten Wesen nicht einfach ruhig zusehen. Und auch später hat er das nie gekonnt. Wo er hinkam, hat er die trägen Massen in Bewe­ gung versetzt und neues Leben, wo nicht selbst geschaffen, so doch angeregt. Wenn ihm nichts anderes bleibt, diesen Ruhm wird ihm niemand rauben können. Ein bequemer Nachbar für die Trägen wurde er damit freilich nicht, aber die beiden Meister der Verwaltungskunst, unter denen er diente, Hardenberg und Montgelas, wußten, warum ste ihn schätzten. Als Hand­ langer, sagte einmal Hardenberg nach Langs Erzählung?) zu ihm, könne ein Minister einen genialen Kopf nicht brauchen, aber in jedes Kollegium müsse er einen solchen bringen; „der eine soll mir die faulen Wasser etwas umrühren, er soll mir brav den Kontradiktor und Opponenten machen, und wenn er's da nur nicht allzu bunt treibt, halt' ich ihn immer oben gegen alle seine Kollegen". Das war Langs Stellung, solang er in öffentlichen Diensten stand. Es war der Weg, auf dem er zum Opposttionsmaun wurde, aus dem Gegensatz heraus, mit dem alles Lebendige dem Toten gegen­ über steht. Das Gefühl moralischer und geistiger Überlegenheit aber, das ihm diese Stellung gab, und das Gefühl intellektueller Überlegenheit, das ihn nie verließ, steigerte zugleich immer seinen Ehrgeiz und seine Prä­ tension. Schon in dem vorliegenden Instruktionsentwurf fordert er einen Wirkungskreis für sich, den ein einzelner gar nicht ausfüllen konnte, und gar der Gedanke, durch einen jungen Sekretär die alteingesessenen Herren Prokuratoren und Hoftäte inspizieren und vielleicht gar aus ihren Wetzlarer Sinekuren vertreiben zu lassen, war io dem korrekten, patriarchalischen Waller­ stein eine Ungeheuerlichkeit; schon daß sich Lang seine Überlegenheit so

*) AW, IIA 10/2 3k. 98 und 111A 7 Nr. 2 und 75. *) Wem. II, 54 f.

merken ließ, hat wohl Kraft Ernst verstimmt — und Lang wurde nicht nach Wetzlar geschickt. Mit dieser Ablehnung war das Ende des Wallersteiner Dienstverhält­ nisses entschieden. Zu dem inneren Unbehagen über die ganzen Zustände fügte sie für Langs empfindlichen Ehrgeiz eine Kränkung; freie Äußerungen Langs über die Revolutionsfurcht des Fürsten mochten die Spannung noch vergrößern; das Ausbleiben des Gehaltes brachte den Becher zum Überlaufen: am 13. April 1792 erbat Lang seine Entlassung. Das Ent­ lassungsdekret vom 16. Aprll4) zeigt, daß Kraft Ernst nur ungern den fleißigen und fähigen Diener verlor und daß er wohl der Mann gewesen wäre, über Langs tüchtigen Eigenschaften die Extravaganzen seiner Laune und seines Ehrgeizes zu übersehen, wenn Lang selbst nur etwas hätte dazutun wollen, sich und die inneren und äußeren Widerstände zu über­ winden. Auch das Verlassen des wallersteinischen Dienstes war eine Flucht, ein „Davonlaufen ohne weiters, wo es einem durchaus nicht ge­ fiel", wie er es Therese Huber gegenüber einmal selber bezeichnete?). Einen „Aufschrei zur natürlichen Freiheit" nennt er's etwas klangvoller an einer anderen Stelle?), der sich in seinem Leben von einer Zeit zur andern laut aus der Brust hervorgedrängt habe. Auch das ist wahr. Es war der Aus­ fluß eines übermäßigen zügellosen Freiheitsdranges, im vorliegenden Fall wenigstens noch bis zu einem gewissen Grade innerlich gerechtfertigt, später je mehr und mehr zu einer fast krankhaften Manie ausartend. Überall fleht er sich beengt, gefesselt, jede neue Ferne lockt ihn auf neue Wege. Es ist eines der sinnfälligsten Symptome, wie die unüberbrückbare Kluft der innern Gegensätze, allen voran die fessellose Phantasie und der maßlose Ehrgeiz, durch keinen starken Willen und durch kein tiefes sittliches Gefühl gebändigt, auch sein äußeres Leben wie seinen Charakter langsam zerstören.

So stand er also wieder einmal vor der Frage: wohin nun? Daß diesmal neben Wien auch Göttingen auf der Liste stand, die Hochburg der Geschichts- und Rechtswissenschaft der Aufklärung, ist bezeichnend genug. Daß er die letzte Entscheidung dem Kutscher überlassen habe, und die ganze Schilderung seines Abschieds von Wallerstein ist nicht nur eine der nettesten Episoden seiner Memoiren, sondern wir können es ihm auch ruhig glauben. Es stimmt durchaus zu seinem ganzen Wesen, das ja immer „mehr durch Fantasie und Laune, als durch Vernunft und Grundsätze regiert" wat4). Am 2i. Mai 17925) wurde er an der Universität Göttingen immatrikuliert. So war er also endlich doch einmal in ein Zentrum des deutschen Geistes­ lebens jener Tage gekommen? Auf literarisch-wissenschaftlichem Gebiet *) *) *) ')

Den genauen Wortlaut s. unten I I. Teil, 2. Kap., 1. Brief an Th. Huber, 17. Juli 1819. Mem. II, 59. Th. Huber an Usteri, 18. März 1816. Matrikel der Univ. Göttingen.

6o ohne Frage. Eine solche Reihe glänzender Namen wie Göttingen konnte damals keine zweite deutsche Universität aufweisen. Neben Kästner und Lichtenberg, den zwei geistreichsten Spöttern der deutschen Aufklärung, gehörte Joh. Gottft. Bürger, der Lenorendichter, zu ihren Dozenten, DaterHeyne, der Begründer des Neuhumanismus, und Bouterweck, der eifrige Verfechter der ästhetischen Anschauungen Kants; Pütter, der alte, las »och immer (Staatsrecht und deutsche Geschichte); neben ihm Schlözer, Spittler und Heeren, aufder Höhe ihres Ruhmes; und in ihrem Schatten und in ihrem Geiste wuchs ein kräftiges, neues Gelehrtengeschlecht heran: Woltmann und Sartorius, die Historiker, der Orientalist Hartmann und der Germanist Benecke. Auch Lang gesellte sich zu ihnen, nicht eigentlich als kolleghörender Student, sondern als Mitstrebender. Der Geist dieser Männer war ihm ja nichts Fremdes — Pütter und Schlözer waren schon seines Oheims Jakob Paul Lehrer gewesen. Neu war ihm wohl vor allem, was Spittler hinzubrachte — er und Woltmann hätten ihn damals geradezu „elektrisiert, schreibt er 1816 — und neu überhaupt dies enge geistige Zusammenleben und ruhig-bewegte Zusammenarbeiten. Damals in Göt­ tingen knüpften sich die Freundschaften, die ihn durchs ganze Leben be­ gleiteten: Hartmann, Woltmann, Benecke standen bis in die letzten Lebens­ jahre mit ihm in Korrespondenz, und der Geist, den er damals in Göt­ tingen einatmete, blieb bestimmend für seine ganze spätere Geschicht­ schreibung. Trug dieser Geist ihn nun lebendig hinein in die Zukunft? In der Wissenschaft ihrer Zeit waren diese Männer Führer. Wenn wir aber über den engsten Kreis des rein Wissenschaftlichen hinaus das allgemein Geistes­ geschichtliche ins Auge fassen — waren sie nicht etwas den alternden Re­ genten gleich, die noch im Herrschermantel auf dem Thron sitzen, während zu ihren Füßen, fremd und unverstanden, ein neues Geschlecht heranwächst? Es ist ein bedenkliches Symptom, daß der Berichterstatter über die Tätig, feit der Göttinger Akademie der Wissenschaften 1794 die Meinung zurück­ weisen muß, als habe Göttingen zwar „noch" hervorragende Dozenten, aber keine lebendig und vielseitig schaffenden Forscher*). Die Schiller und Fichte dozierten in Jena; die unermeßlich reiche Aussaat auf eine neue Zukunft, die Herder ausstreute, fraßen in Göttingen die Vögel, und selbst von den Gedanken Kants fiel in der aufgeklärten Gelehrtenrepublik etliches aufsteinigen Boden und vieles unter die Dornen. Richtig hineingewachsen in die neue Welt des deutschen Idealismus ist von den Göttingern keiner, selbst Heyne führte nur bis an die Schwelle und sah von ferne ins gelobte Land. Und zudem war gerade der alte Heyne für Nichtphilologen wie Lang am aller­ wenigste» zugänglich. So war also auch das reiche geistige Leben Göttingens nicht gemacht. Lang, den Zuspätgekommenen, in die neue Zeit hinüberzutragen, es hielt ihn im Gegenteil nur noch mehr fest, wo er stand. Wichtig wurde die Über-

*) Gött. gelehrte Anzeigen.

6i siedelung nach Göttingen für Lang in anderer Beziehung: Einmal kam er damit ans einem vorwiegend katholischen in ein rein protestantisches Land — wie sehr chm diese aufgeklärt-protestantische Luft Lebensbediugung wurde, zeigt zwanzig Jahre später seine absolute Unfähigkeit, flch in die Münchner Verhältnisse zu finden — und zum andern kam er aus der süddeutschwekhrlinschen Atmosphäre französischer Aufklärung in ein Gebiet aus­ gesprochen englischen Einflusses. Wie eng und unmittelbar wirksam diese Beziehungen zu England waren, zeigt ein einziger Blick in die Göttinger gelehrten Anzeigen oder auf die Lebensgeschichte der Göttinger Professoren — gerade während Langs Göttinger Jahren begann u. a. auch Lichtenberg seine Erläuterungen zu den Hogarthschen Zeichnungen erscheinen zu lassen; es ist sehr wahrscheinlich, daß flch über Göttingen die Brücke von Lang zu Jonathan Swift schlagen läßt —; besonders bedeutsam aber waren diese Beziehungen zu England für die Entwicklung des politischen Denkens. Da wehte der frische Seewind, der auch Mösers Patriotische Phantasten durch­ zieht. Die Göttinger waren nicht wenig stolz auf ihre „englische Freiheit; und das waren nicht nur gewisse äußere Freiheiten, wie das Privilegium der Zensurfreiheit für die Göttinger Professoren, sondern man dachte und sprach dort wirklich unbefangener und freier in politischen Dingen als im übrigen Deutschland; mit Verwunderung lesen wir im Göttinger Vorlesungsver­ zeichnis für den Sommer 1793 angekündigt ein Kolleg über „Geschichte der ftanzöstschen Revolution und Darstellung der neuen Constitution" und eia „Ieitungskollegium, mit besonderer Rücksicht auf das jetzige Kriegs­ theater", Schlözers „Staatsanzeigen" waren eine politische Macht fast wie später der Rheinische Merkur, und Spittler schrieb 1796 in der Vorrede zu einer Geschichte der dänischen Revolution, selbstverständlich schreibe man jetzt Revolutionsgeschichte anders als früher: „wir haben aufmerken gelernt". Aufmerken, ja — aber handeln? das wollten fle gar nicht. Selbst Lichten­ berg, der freieste unter ihnen, blieb zeitlebens der Stubengelehrte alter Schule. Ja, wenn jemand ihre Professorenherrlichkeit antastete, dann gerieten fle in Harnisch: als man ihre Briefe erbricht, entrüsten fle sich gewaltig, daß „jetzt auf eine ganz römische Art" der Postmeister „den Geistes­ vormund über die Professoren spiele"1). Im übrigen aber sahen sie auf den französischen „Revolutionstaumel" mit der gleichen überlegenen Ruhe herab wie auf die ängstlichen „Aufruhrsschreier" in Deutschland^). Nicht, ob die Revollttion nach Deutschland überspringen könne, macht ihnen Sorge — dazu sei das deutsche Volk, und vor allem die Göttinger Pro­ fessoren, viel zu „vernünftig" — sondern: „ob denn die Zeiten schon da seyen, da jeder gute Bürger seine Meinung nicht mehr «Hellen, sondern mit einer Energie, die nicht sowohl auf philosophische Präzision, als auf mächtige Gegenwirkung berechnet ist, durchaus zu einer Parthie sich bekennen

*) Laug an Nicolai, 5. Jan. 1793. ’) Dgl. „Staatsanzeigen", Jnli 1793, S. 315fr.

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muß?"*) Da habe» wir das ganze i8. Jahrhundert, in dem die Göttinger noch mitten drin stecken. Auch in seinem politischen Denken hat Göttingen Lang nicht weitergeführt, sondern nur potenziert, was er bereits mit­ brachte: es gab ihm einen schärferen und freieren Blick für politische Beob­ achtung, aber es entfremdete ihn noch mehr politischer Betätigung. Das reichere und gründlichere Wissen, das er sich dort aneignete, steigerte das Überlegenheitsgefühl seines nüchterne» Verstandes; sein unruhiges Temperament trieb es wohl noch bis zu einem Pereat auf den Herzog von Braunschweig, aber die Georg Forster und Wedekind, die aus dem Spiel der Phantasie den Ernst der Tat machten, waren ihm schwärmende Phan­ tasten. In Ottingen hatte er die Dumpfheit der Massen verachten gelernt; in Frankfurt und Wallerstein waren ihm die Großen der Welt, die herrschen­ den alten Mächte lächerlich geworden; nun sah er den Ansturm der neuen Mächte kläglich zerschellen, von deutschen Gelehrten mit vornehmem Lächeln begleitet; da war nun einmal ein Volk aus der Dumpfheit aufgewacht, hatte das Große gewagt, zu dem die Deutschen immer zu träg und klein waren, und hatte in wildem Freiheitsverlangen die Verbände von seinen brennenden Wunden gerissen — und nun wütete es in wahnsinnigem Taumel gegen die eigene Brust und verblutete an seiner Freiheit — ein Hohnlachen der Welt­ geschichte über menschheitsbeglückende Philosophen und freiheitsschwärmende Enthusiasten! Was blieb nun noch Großes übrig an der Menschheit? Nachdem da sein Skeptizismus recht behalten hatte, was war alles Welt­ geschehen anders als eine Farce, wert verspottet und verlacht zu werden? Wir fühlen: hätte er die Kühnheit und den Ernst und die unerbittliche Ein­ seitigkeit des echten Satirikers gehabt, so hätte hier die Satire großen Stils in ihm geboren werden müssen. Aber dazu war er viel zu schillernd viel­ seitig; irgend eine Seite seines Wesens fand immer den Weg zu einem Kompromiß mit dem Leben: sein kalter, klarer Verstand sah mit tiefer Verachtung von seiner hohen Stirne auf die Welt herab und sagte: die Welt ist erbärmlich und verlogen — aber seine lebensheitere, dem Augenblick ergebene Laune lachte und tollte, daß die Leute sagten „de Kerl hat den Düwel im Nacken" und sagte: die Welt ist schön und geschaffen, in ihr fröhlich zu sein; sein enttäuschtes Gefühl sagte: hasse die Menschen; sie zerstören und beschmutzen das Reinste, was du ihnen geben kannst — aber das Blut seiner Jugend sprach: Beuge dich zu den Kleinen und Armen nieder, sie sind Brüder und sind verfolgt und verachtet; Phantasie und Neigung sagten: baue dir deine eigne Welt und schließe dich in deinen Mauern ein und mache dich über die Welt lustig — aber Ehrgeiz und Schaf­ fensdrang sagten: nütze die Erbärmlichkeit der andern aus und bring dich selber in die Höhe! So fand er auch hier den Ausweg, einen doppelten Aus­ weg sogar. Und da es ihm dabei gelang, wenigstens einen Teil der in ihm *) Rezension von Rehbergs „Untersuchungen über die franz. Rev." in Gött. gel. «nz., 5. Jan. 1793«

6z liegenden Gegensätze zu binden, so wurde das Zerstörungswerk dieser inneren Gegensätze und der Außenwelt an ihm »och einmal um zwei Jahrzehnte hiaausgeschoben. Das eine war die wissenschaftliche Tätigkeit als Historiker, zu der ihn eigentlich erst Göttingen recht befähigte; indem er fortan bei seiner Geschichtschreibung neben dem trocknen Verstand auch seiner Phantasie und seinem Herzen lebendigen Anteil gestattete, waren die stärksten Kräfte und Gegensätze in ihm zu gemeinsamer, wenn auch nicht immer harmonischer Arbeit vereinigt. Das andere war die organisatorische und administrative Tätigkeit als Derwaltungsbeamter, die dem egoistischen Streben seines Ehrgeizes und zugleich den altruistischen Tendenzen der Lebensauffassung, die seine Zeit ihm gab, gerecht wurde; und auch zu dieser wurde damals in Göttingen der Grund gelegt durch die Anknüpfung der Beziehungen zu Har­ denberg. Erst mußte auch da sein Glauben und Wollen an der Erbärm­ lichkeit der Menschen scheitern, Enttäuschung und Undank ihn lohnen, persönliche Verbitterung, persönliches Leid dazukommen, dann — ja, bann blieb imnzer noch er, und er ging nicht den furchtbaren Weg Swifts, der sich und die Menschheit verhöhnte, weil er sie verachtete und ihrer Nichtig­ keit auf den Grund sah; und nicht den Fischarts, der ihr den Spiegel ihrer Torheit vorhielt, well er sie liebte und retten wollte; sondern er nahm den feigen Ausweg, den Wekhrlin gelehrt und sein leichtes Blut leicht gelernt hatte: er lachte über alles. Großes und Kleines, weil er nicht mehr die Kraft hatte, Schönes zu sehen, und nicht den Mut, das Häßliche zu glauben. Schon in Göttingen, schreibt er, habe er sich durch das Talent hervorgetan, „aus jedem Buche in wenigen Miauten eine» Schwank herauszufinden"*). Don vornherein alles von der lächerlichen Seite nehmen — das war das bequemste, das ersparte unnützen Enthusiasmus und unnütze Enttäu­ schungen; aber das stumpfte auch ab, das nahm ihm die Fähigkeit, sich überhaupt noch tiefiunerlich erfassen zu lassen von großem Leid und hohem Glück, vom tiefsten Sehnen und Ringen seines Volks, es nahm ihm die Möglichkeit, lebendig weiter zu wachsen und zu reifen an der Zeit. Er wird zum tändelnden Spaßmacher und frivolen Spötter statt zum strafenden Prediger, zum Witzbold statt zum Satiriker. „Ich bin wahrhaftig wie der Teufel in der Hölle", schreibt er dann wohl?), „ich lach über die Verdammten, ohne daran zu denken, sie erlösen zu wollen"; aber im nächsten Augenblick sagt er: „dabei bin ich allen Narren herzlich gut, besonders denen, die sich etwas von mir hänseln lassens". Dann rückt er die ganze Welt der Wirk­ lichkeit weit von sich «eg, und daun holt er seinen Jugendtraum wieder hervor und umgibt sich mit den heitern, guten, glücklichen Gestalten und Bil­ dern seiner Phantasie, und dann geht ein seltsam goldenes Lachen durch seine Satiren und Briefe und ein leises, wehmütiges Tränenrianen — die Tränen des Bettlers, der zerrissen und zerbrochen in die Heimat zurückkehrt und ’) Mew. i, 242. 2) Brief an Th. Huber, 30. Sept. 1819. 3) Brief an Th. Huber, s. a. (1824).

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plötzlich vor seinem eigenen Bild erschrickt und die Hände vors Gesicht schlägt: „Was hast du ans dir gemacht?!" So steigt zum zweitenmal das Bill» des Lang der Memoiren und der Hammelburger Reisen vor uns auf, hier am Eingang der zwei Jahrzehnte, die sein reichstes und ersprießlichstes Mannesschaffen umspannen; aber um wieviel klarer, schärfer Umrissen, plastischer schon als in den Ottingischen Beiträgen und dem Ottinger Wochenblatt! Dort war es wie ein schreck, Hafter Schatten aufgetaucht hinter der frischen, lebens, und tatenfrohen jungen Menschengestalt, wie wenn ein Wolkenschatten über eine Früh, lingslandschaft zieht, und plötzlich fahl und kalt erscheint, was eben noch Lachen und Sonnenschein war. Nun schaut es schon aus seinen eigenen klugen, kalten, blinzelnden Augen und aus den wechselnden und doch schon tief gegrabenen, harten Zügen seines Gesichts, und um den Mund des Dreißig, jährigen spielt schon das skeptische Lächeln und der bittre Spott des Alten. Das Bild des Mannes ist fertig. Er ist ein Vertreter der Aufklärung mit all ihren schlechten und all ihren guten Seiten. Aus ihr ist er gekommen, in sie ist er hineingewachsen; in Göttingen hat er sie nocheinmal in ihrer reifsten und reichsten Form in sich ausgenommen; ihr gehörte und gehört all sein Werden und Wirken, sein Glauben und Verachten, sein Entsagen und Besitzen. Und in ihr ist er auch noch lebendig weitergewachsen. Was aus ihr noch geboren wurde, das erfaßte und verfocht er mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Geistes und das setzte er auch in die Tat um mit dem unzerstörbaren Drang nach lebendigem, sichtbaren Wirken auf die Außenwelt, der ihn von Anfang an charakterisiert. Auch in die Welt deS Klassizismus, der ja zum Teil direkt aus der Aufklärung aufsteigt, ist er noch ein Stück hineingewachsen. Was aber dann kam, die ganze Welt der geistigen, künstlerischen und politischen Romantik im weitesten Sinn, die blieb ihm fremd. Nicht nur, weil er den Mut verloren hatte, neue Hoff, nungen und neue Enttäuschungen zu wagen, sondern es fehlten ihm über, Haupt die Organe, um die innere Beziehung zu dem werdenden Neuen herzu, stellen, es in seiner Tiefe zu fassen. In dem Wahn, als Verfechter von Auf, klärung und Fortschritt gegen alle Götzenbilder anzukämpfen, zog er gegen den lebendigen Genius der Gegenwart zu Feld und verfolgte mit Feuer und Schwert, was nicht von seiner Welt war. In dem Wahn, über seiner Zeit zu stehen, gehörte er in Wahrheit fortan einer absterbenden Unter, strömung an, die vergebens gegen den Wellenschlag der Zeit ankämpfte, die über sie hinwegstürmte, und deren letzte Wellen erst mit dem erwachenden Li, beralismus der dreißiger Jahre wieder an die Oberfläche traten. So bleibt seine Seele Kampfplatz, es wechseln nur die Kämpfende« und neue rücken nach, und der Kampfplatz wächst über ihn hinaus zum Schlachtfeld, auf dem zwei Zeitalter miteinander ringen. Die alten Gegen, sätze, die im Knaben lagen, sind alle noch in der Tiefe lebendig, nur viel schärfer individualisiert, trotz äußerer Bindung viel schroffer gegeneinander, stehend: der nüchterne, Helle Verstand, klar, beweglich, schlagfertig, vieles umfassend und doch einseitig, scharf kritisch, mit einem Zug zum Pedan,

tischen »ad vor allem durchaus rezeptiv, außer tu plötzlichen Einfällen durchaus ohne schöpferische Kraft; und die Phantasie, farbig, schillernd, eigensinnig und eigenkräftig, oft von einem Schimmer feiner Poesie um, leuchtet, öfter hinabgezogen in die Niederungen derber Frivolität; eia Frei, geist und doch gebunden; ein Verächter zugleich und Genießer des Lebens, enttäuscht und doch mit allen Fasern an der Erbe und am lieben Sonnen, schein, am wohligen Behagen des Augenblicks hangend und immer bereit, jeden einen Tropfen zu nennen, der ihm dies Behagen störte, und immer in Gefahr, darüber selber einer zu werden; die Moral der Welt verachtend und der Welt gegenüber ohne Moral; im engsten Kreis gleichgestimmter Menschen, wo er seine Seele vor roher, verletzender Berührung sicher weiß, ein feines, weiches Gemüt offenbarend, besonders gegen die Kleinen, gegen Arme und Verfolgte, gegen Kinder, ja gegen Tiere; den Großen der Welt, der Masse gegenüber mit rücksichtsloser Brutalität und maßlosem Ehrgeiz bloß sich selber durchzusetzen bedacht; ein unerschrockener Kämpfer für das Recht der Unterdrückten, für Freiheit und Wahrheit, aber mit einem ver, dämmt guten Blick dafür, wann „das Interesse der Wahrheit" mit dem Interesse seines lieben Ich zusammenfällt; und mit steigender Klarheit er, kennt er, daß seine „Dotation" die Zunge, seine Waffe Witz und Spott ist; und so spitz und scharfgeschliffen sind diese Waffen, daß sie alles um ihn her zerschneiden und zerstören und auch vor dem Höchsten nicht Haltmachen und zuletzt die Spitze gegen ihn selber kehren. Die letzten Fragen nach Gott und Welt und nach dem Sinn des Lebens hat er nie gestellt; denn ehe sein Blick in die Tiefen des Rätselbrunnens hinabtauchen konnte, hat immer Skepsis und Spottlust und Laune den reinen Spiegel der dunklen Flut getrübt und verzerrt, und auch Gott wurde ihm eine Puppe in dem Marionettentheater Welt, mit dessen Narrenspielen er sich und die andern unterhielt. Wir meinen das selbstgefällige, schalkhafte, halb skeptisch,spöttische, halb gutmütige Lächeln seiner lebhaften Äuglein zu sehen, wenn er der Freundin Therese Huber schreibt, er habe dem Geistlichen Herrn Rat K. die Zukunft aus den Zügen seiner Hand geweissagt: „Alles dieses wird und muß so kommen — ich Habs gedacht und dem lieben alten Herr Gott als meinem Agenten, Amanuensts und Schriftsetzer zugesandt, daß er es izt also lenken und ins Reine setzen soll." Wir spüren den Stachel feiner Selbsttronisierung in de« Worten, aber wir wissen doch nicht ganz genau, ob er nicht im Grunde halb und halb selber glaubt, eigentlich und von Rechtswegen sollte sich doch auch der alte und etwas überlebte Herrgott nach den weisen und neue« Gedanken des Herrn Karl Heinrich Laag richten! All dieses bunte Spiel von Gegensätzen führt in der Tiefe den Zer, störungskampf weiter. An der Oberfläche gelingt es ihm, sie eine Zeitlang zu positiver Arbeit zusammenzuschließen. Aber sie vereinigen sich nur, um ihre geschloffene Phalanx den neuen geistigen und realen Mächten entgegenzu, kehren, die von außen heranstürmen. Seine ganze Anlage wie seine Ent, Wicklung treiben ihn in diesen Kampf, am meisten vielleicht die Enge der öttingischen Welt, aus der er herausgewachsen ist und die ihm überall anhaftet. v. Äa em er, Oer Ritter vor» Laag.

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66 Was hatte er für einen Weg zurückgelegt von dort bis nach Göttingen! Wie hatteder in die Höhe und in die Weite geführt! Und doch hatte er nirgends ans der Welt herausgeführt, die ihn dort umgab. Oer Beweglichkeit, Sprunghaftigkeit seiner Phantasie, seiner einzelnen Gedanken und Einfälle, steht eine unglaubliche Persistenz des Gesamtinhalts seiner Gedankenwelt gegenüber. So engumgrenzt ist diese Welt wie der Spiegel eines klaren, flachen Bergsees; seine Phantasie aber flattert drüber, ruhelos, ewig wechselnd, untertauchend, aufblitzend, wie ein Flug kreisender Möwen. Damit ist bereits gesagt, daß sich ein detailliertes, streng logisches, scharf präzi­ siertes System seiner gesamten Lebensanschauungen und Lebensäußerunge» überhaupt nicht aufstellen läßt. Das Charakteristische seines Denkens und Lebens ist Systemlosigkeit. Um so klarer lassen sich die großen, allgemeinen Grundlagen bestimmen, auf denen seine Welt sich aufbaut, um so unmittel­ barer erhellt aus ihnen die Unmöglichkeit, in die neue Zeit hineiuzuwachsen. Als Allgemeinstes, gewissermaßen die Atmosphäre seines ganzen Fühlens und Denkens bildend, ist da zu nennen: er gehört durchaus der Welt reiner Geistig­ keit an, die fortschreitend Aufklärung und Klassizismus umspannt, und deren Gegenseite eine Verachtung der derben Wirklichkeit ist. Sie führt unmittel­ bar, bei Lang durch persönliche Enttäuschungen an der Wirklichkeit gesteigert, zum politischen Quietismus, der sich nicht nur als Abneigung gegen poli­ tische Betätigung, sondern überhaupt als politischer Jndifferentismus äußert. Noch 1821 preist er die preußische Politik von 1795 bis 1806, die Ansbach zu einer Oase reiner Menschlichkeit inmitten kriegerischer und politischer Stürme gemacht habe; nur was den „Menschen an sich" (d. i. also nicht das einzelne Individuum und nicht eine Gesamtheit von Individuen, sondern den „idealischen Menschen" angeht, ist der Beachtung und der Betäti­ gung wert: Kunst, Wissenschaft, Humanität, Kultur im weitesten Sinn. Oer Staat hat nur die Aufgabe, dem Individuum die nötige Ruhe und Freiheit für diese seiner höchsten Bestimmung enisprechende Betätigung zu sichern; weitere staatliche Probleme gibt es nicht. Mit dieser Konstatierung haben wir bereits einen wichtigen Gesichtspunkt für die politische Wertung der Langschen Memoiren gewonnen, und wir sehen zugleich von einem zweiten Jdeenkreis der Aufklärung Langs Denken grundlegend bestimmt: von ihrem Universalismus, aufs Staatliche gewendet von ihrem Kosmo­ politismus. Jene Aufgaben, die Lang als höchste Menschenpflicht erschienen, konnten in Paris oder jenseits des Ozeans ebensogut erfüllt werden wie in Wien oder in Göttingen, und wenn er der Ansicht war, daß er sie in Ansbach besser als anderswo erfüllen konnte, war es ihm völlig gleichgültig, ob dieses Ansbach unter preußischer, bayerischer oder französischer Herrschaft stand; sein Wirken blieb immer im engsten lokalen Kreis, sein Denken zerflatterte in allgemeinsten Universalismen; um das Mittelglied, den Begriff der lebendigen Nation, zu erfassen oder auch nur in seinem Welt­ bild zu vermissen, dazu ging sein Denken zu wenig aufs Reale, sein Wirken zu wenig ins Allgemeine. Damit fehlte ihm die wichtigste Grundlage, um die nationale Bewegung zu Anfang des neuen Jahrhunderts zu verstehen.

Wir sehen auch schon von da aas, daß sich seine Sympathie dem Manne zuweuden mußte, der über territoriale, ständische, wirtschaftliche Schranken hinweg eine gewaltige Universalmonarchie aufzurichten versuchte. Noch entschiedener geschah dies von seilen seines Individualismus ans. An der Menschheit als Masse, als Kollektivbegriff, hatte er verzweifelt. Wenn irgend etwas noch einmal innere AnteUnahme, großes Hoffen in ihm wecken konnte, so war es der Aufstieg eines gewaltigen Individuums, das diese erbärm­ liche Masse knechtete und mit RtesenhLnben formte und umbildete. Nicht mit Enthusiasmus — dazu hatte er nicht mehr die Schwungkraft und das ließ seine Skepsis nicht zu — verfolgte er das Emporsteigen Napoleons, aber mit Bewunderung und mit einer Sympathie, lebhaft genug, um die Kleinen bitter zu hassen, die sich dem Gewaltigen in den Weg stellten, und «m alles für klein zu halten, was nicht auf seiner Seite stand. Und als auch dieses letzte große Hoffen seiner Seele mit einer Enttäuschung endete, da zuckte er scheinbar gleichgültig die Achseln: das Schicksal habe in Bonaparte, dem närrisch gewordenen Nebukadnezar, ein großes Experiment verunglücken lassen, und solche kostbare Präparate gebe man nicht alle Tag*), aber vor dem „toten Löwen" zog er den Hut?), und als nach dem Verrauschen des Siegestaumels die ganze alte Enge «nd Erbärmlichkeit wiederkehrte, da schlug er ein Hohnlachen auf, aus dem wir zwischen Schadenfreude und bittrer Resignation die zersprungenen Saiten seines Herzens beben hören: „So ist sie nun mit Gottes Hülfe «nd um den Preis unsres vielen Blutes wieder da, die alte schöne Zeit der Patrimonialgerichte, der Landes­ sperren, der Siegelmäßigkeit und Steuerprivilegien, ... der geheiligten Gemeindeordnungen, der Wallfahrten, des Kapuzinerbettels!"3) Der letzte Satz zeigt uns gleich, was Lang insbesondere von Napoleon erwartet hatte: er erschien ihm als der Zerstörer veralteter Anschauungen und Einrichtungen, der Befreier der Geister und Völker von der Herrschaft überlebter Mächte und überwundener Autoritäten, als der Erfüllet also von Ideen, die wieder durchaus der Aufklärung angehören, einem dritten Kreis, der abermals Langs ganzes Oenken und Fühlen umspannt und enger als die vorigen umschließt: ihrem Intellektualismus. In ihm treffen sich die Grundkräfte seines Wesens und seiner Zeit, er zieht zugleich am engste» und entschiedensten die Grenzen seiner Welt. Oer Lang, der ohne die Autori­ tät eines Vaters, ohne die Liebe einer Mutter aufgewachsen war, dessen zartes ohnmächtiges Gemüt sich vor den scharfen Augen seines Verstandes in die innersten Falten des Herzens verkroch wie ein zitterndes Täubchen vor den Krallen des Habichts, dessen Verstand durch allen schönen Schein hindurch die Unwahrheit, an allem Leuchtenden die Flecken, an allem Bestehenden das Morsche und Schadhafte sah, für den es keine Gemütswerte gab, da aller Dinge Maßstab ihm die Vernunft war, der wohl Moral, aber keine ") Lang an Th. Huber, 30. Sept. 1819. 2) Lang an Th. Huber, 26. Mai 1817. ’) Mem. II, 196.

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68 Religion, Fanatismus aber keine Leidenschaft, Ideale aber keinen Enthusias­ mus kannte — diesem Lang waren alle Pforten in die Welt der Humboldt »ad Fichte, Arndt und Schleiermacher verschlossen, dem mußte das innerste Wesen einer Bewegung fremd bleiben, die durchaus auf Glauben gestellt, tief rÄigiös und tief leidenschaftlich war. Er sah in der nationale» Bewegung o»r die phrasenhafte, unklare Begeisterung einer kleinen Zeit für eine vergangene Größe, die nie existiert hatte, in ihren politische» Tendenzen nur eia Wtederauftichten alter Schranken, die niederzureißen ihm Lebens­ aufgabe gewesen war, in ihren geistigen und künstlerischen nur das Wieder­ aufleben einer christlich-mittelalterlichen Weltanschauung, die er mit seiner »ob der Vernunft Hilfe endgültig überwunden glaubte. Denn nicht etwa als Protestant trat er dem Katholizismus entgegen — auch vom Protestan­ tismus hat er immer nur die negative Seite erfaßt und erlebt — sondern als Freigeist. Seinem Universalismus erschienen konfessionelle Schranken und Kämpfe ebenso überflüssig und verwerflich wie nationale; aber sein zer­ störender Intellektualismus witterte bald genug im Katholizismus de» stärksten Gegner und weckte in ihm den Haß, der blind macht für die Wirk­ lichkeit. So versperrt sein Intellektualismus ihm auch da die Wege, wo die universalistischen und allgemein geistigen Elemente seiner Welt ihn sehr wohl weiter führen könnten: nach aller fernen, leidenschaftslosen Schönheit sehnt er sich, für den es keine gegenwärtige Schönheit gibt, weil der un­ barmherzig kritische Verstand sie immer zerstört; in alle klassische Kunst, von Homer bis zu Ariost und bis zu Goethes Iphigenie, versenkt er sich mit tiefer Liebe; Mozarts Zauberflöte ist ihm innerlich lebendiger Besitz, aber den Freischütz macht er lächerlich; die universalhistorischen wie die germani­ stischen Bestrebungen der Frühromantik lagen sehr wohl im Bereich seiner Gedankenwelt, aber er sieht in den Schlegel und Schelling und Görres nnr Schwärmer und Reaktionäre, beklagenswerte Verirrte oder hassenswerte Überläufer, auf jeden Fall Todfeinde seiner Welt. Unter diesem Ansturm von allen Seiten schließen sich die Gegensätze in ihm zusammen, seine bereits wankenden Ideale gewinnen wieder Kraft »nd Wert. Unvermerkt wächst er vom Nachzügler der Aufklärung zum libe­ ralen Opposttionsmann hinüber; und er stellt sich in die vorderste Reihe der Kämpfenden, da wo der Ansturm am heftigsten schien: in Bayern; er leistet einer kommenden Welt Kriegsdienste, indem er für seine untergehende kämpft. Er selber aber sieht nur das Untergehen der seinen, er sieht de» ganzen Kampf, den er und mit ihm ein Jahrhundert gekämpft hatte, ver­ geblich, er ahnt wohl dunkel, daß da auch etwas Neues mitheraufkommt, aber er kann es nicht fassen, es zerrinnt ihm immer in den Händen, und was er greifen kann, ist immer nur: die alten Mächte, die Toten und Trägen, kommen wieder herauf und erringen den Sieg; und was er am eigenen Leibe erfährt, sagt ihm weiter: nicht nur die Trägen, sondern die Schlechten, die Charakterlosen kommen obenan, die Tüchtigen und die unerschrockene» Kämpfer für Wahrheit und Recht werden von der Welt mit Füßen getreten «vd vom Schicksal in die tiefsten Abgründe persönlichen Leides hinabge-

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stoßen — «vd da brechen alle innern Gegensätze wieder auf, und alles am ihn her gerät ins Wanken. Das Leben und sein Inhalt, Wollen und Können, Verdienst und Schicksal, Ideal und Wirklichkeit, er und die Welt, die Mächte seines eignen Innern — nichts stimmte mehr zusammen. War denn nicht alles Leben eine schreiende Dissonanz, eine groteske Tragikomödie? Und als durch den Sturz Montgelas^ der Sieg der alten und das Ende seiner Welt besiegelt schien — war es da nicht Mut und Seelenstärke, mit stoischem Gleichmut und ohne ein Wort der Klage die Kelle aus der Hand zu legen und fortan fern allem Lärm der Welt als ftiedsamer Landbauer zu lebe» und im stillen Gutes zu wirken und über die ganze Tragikomödie zu lachen, über Haß und Bitterkeit hinweg so herzhaft zu lachen, daß die andere« mitlachen müssen? Auch seine Ethik ist die Ethik der Aufklärung! — und er baute seinen „Heimweg" und schrieb die Hammelburger Reisen und die Memoiren. Wir sind der Erzählung der äußeren Lebensschicksale Langs weit voraus, geeilt. Indem wir versuchten, das Bild des Mannes zu zeichnen, habe« wir zugleich den geistigen Inhalt seiner Maauesjahre zusammenfassead charakterisiert und alle Linien gezogen, die zum Verständnis des alten Lang, des Memotrenschreibers, notwendig sind. Die zwei Jahrzehnte von 1795 bis 1815 haben dem Bild keine wesentlichen neuen Züge mehr hinzugefügt, sondern nur die vorhandenen tiefer gegraben. Es kann daher nicht «usere Aufgabe sein, ihn weiterhin Schritt für Schritt zu begleiten; es gilt nur «och, den vielfach abstrakten Sätzen der Charakteristik mehr Lebensfarbe zu »er# leihen, indem wir bas Bild in die wechselnde Beleuchtung des Augenblicks stellen und die Hellen Lichter «ad immer dunkleren Schatten zeigen, welches die wichtigsten Ereignisse des äußeren Lebens auf das Bild werft«.

2. Teil

Die Memoiren

I. Kapitel.

Entstehung und allgemeine Charakteristik. Oie Memoiren des Ritter voa Lang erschiene» 184», siebe« Jahre »ach dem Tod des Verfassers. Wer die Herausgabe veranlaßte und leitete, siaad nicht auf dem Titel. Auch der Verlag Fr. Vieweg in Braunschweig, bet dem das Buch erschien, kann keine Auskunft darüber geben: weder das Manuskript noch diesbezügliche Korrespondenzen sind erhalten. Wir wissen aus den Langschen Nachlaßakten**) nur soviel, daß bas Manuskript nicht der Haupterbe, Langs einziger überlebender Bruder, erhielt, sondern ein «och nicht volljähriger, in ärmlichen Verhältnissen lebender Enkel Langst, und zwar mit Langs ausdrücklicher Erlaubnis, das Manuskript dem Druck za übergeben.

Sogleich bei seinem Erscheinen erregte das Buch allgemeines Auf, sehen und bet denen, die sich getroffen fühlten, einen Sturm der Entrüstung. Es wurde von den Behörden verboten und vom Publikum nur desto eifriger gelesen, von Historikern als Quelle und von Politikern als Waffe benützt, hoch gepriesen und laut geschmäht. Wir haben in der Einleitung den Wechsel »ad Widerstreit der verschiedenen Beurtellungen geschildert, die die 9Re# motrea gefunden haben. Es ist dasjenige Buch Langs, das seinen Namen am lebendigsten in die Gegenwart hiaeiagetragen hat. Während seine meisten wissenschaftlichen Werke heute vergessen, seine Hammelburger Reisen fast vergessen sind, erlebten die Memoiren 1881 eine zweite, 1910 eine abermalige, gekürzte Auflage^) und sind auch heute noch nicht nur vom Für und Wider wissenschaftlicher Meinungen, sondern auch von den Wogen des Tageskampfes umbrandet (vgl. Bayr. Kurier 1912, Nr. 249 contra Münch. R. Rachr. 1912, Nr. 439). *) Dieselben kamen 1912 vom Amtsgericht Ansbach aas Kreisarchiv Nürn­ berg; ich verdanke diese Mitteilung Herrn Dr. B. Bayer in Aasbach.

*) Heinrich Lang, Sohn des 1829 verstorbenen Landrichters Heinr. Lang, des unehelichen Sohnes Karl Heinrich Langs aus seiner Altdorfer Studenteutett. •) Nach Mitteilung des Verlags Robert Lotz steht eine abermalig« Neuauflage der Memoiren unmittelbar vor dem Abschluß. (Anmerk. d. Herausgeber.)

74 Die Memoiren stad eia Alterswerk Langs; (le gehören ausschließlich den zwei Jahrzehnten nach seiner Pensionierung an. Die erste Erwähnung des Plans zu ihrer Abfassung geschieht in einem Brief Langs an den Historiker Woltmaaa vom 6. Oktober 18161). Laag schreibt darin, er sei gegenwärtig mit der Anlage seines „Heimwegs" beschäftigt; wenn in eia paar Jahren alles eingerichtet sei, wolle er dort, frei von Geschäfte», sein Leben beschließen, im Winter manchmal Reisen machen und seine letzten Mußestunden Studie» und Arbeiten widmen. „Eine Hauptarbeit soll alsdann sein eine freimüthige Beschreibung meines Lebens, des damaligen Seins und Treibens im Vaterlande and meiner Schicksale im preußischen und bairischen Dienste." Und nun wirft er in einigen knappen Sätzen einen kurzen Abriß seines Lebens anfs Papier, der bereits bis ins Jahr 1811 führt und völlig mit der tat­ sächlichen Ausführung der Memoiren übereinstimmt. Die Art, wie Lang dabei in scheinbar wahllosem Zulaagen einzelne charakteristische Episoden und Situationen herausgretft, auf die sich die Erinnerung konzentriert, und die Art, wie diese durch die wiederholte Beschäftigung der Phantasie mit ihnen bereits eine ganz bestimmt« Form angenommen haben, die sich bis zum Abschluß der Memoiren nicht mehr änderte — dies beides setzt unbedingt voraus, daß Laag sich schon seit geraumer Zeit in Gedanken mit dem Plan des Werkes getragen haben muß. Im Dezember 1810 hatte er sich bereits aus Herders Briefen zur Förderung der Humanität die Worte in sein „Funkenbuch" geschrieben: „Dor alle» Dingen wünschte ich eigene Biogra­ phien erlesener merkwürdiger Menschen. Wie «eit stehen wir Deussche hierin andern Rationen, Franzosen, Engländern, Italienern, nach! Wir lebten, dachten, mühten uns; aber wir konnten nicht schreiben." Auf «ine Beschäftigung mit der eignen Jugendgeschichte scheint bereits eine Be, merkung Langs aus dem nächsten Jahr hiazuwetsea: Ja einem Brief vom 20. Oktober 1811 bittet er den Adressaten (wahrscheinlich Archivdtrektor Samet?): „den Lebenslauf meines Großvaters schicken Sie mir gelegeaheitlich." Die Fassung der Ditte zeigt aber zugleich, daß Lang an eine Aus, führuag damals noch nicht dachte. Erst die Rückkehr nach Ansbach 1815, die zugleich ein allmähliches Zurückziehen aus dem Staatsdienst bedeutete, rückte den Gedanken in greifbare Nähe. Und als nun 1817 seine Pensionierung erfolgte, die ihm „Erlösung" und doch zugleich eine bittre Kränkung war, als er nach einem Leben voll von Arbeit «ad Kampf und von Enttäuschung und nach tausend Irrwegen, die ihn durch Schmutz und Dornen und Son, aeaschein, aber nie so recht in Tiefen und Höhen führten, einsam am Feasierpfetler seines selbsterbautea Hauses lehnte und in die traurigen Schnee, gestöber und pfeifenden Winde schaute — was war da natürlicher, als sich im Geiste in die Zeit zurückzuversetzea, da sein Leben „auch einmal et» Frühling und auch einmal ein Sommer gewesen", und rückschauend sich selber die Anerkennung zu zollen, die ihm die Welt versagte, «ad in der

*) K. v. Weltmann, Deutsche Briefe (1834), 6.98. >) R.A.M., Pers.,Akt. Langs Nr. 20.

Stille der Studierstube, wo keine Wirklichkeit iha mehr störte, Gerichtstag ju halten über die anderen und als summus iudex wenigstens in einsamen Stunden am Schreibtisch die vermeintliche Gerechtigkeit walten t» lassen, die die Welt nicht kannte, die Gerechtigkeit, die vor Karl Heinrich Laag gilt? Immer war sein Leben Kampf gewesen; immer aber war seiner Weisheit letzter Schluß der Satz gewesen, dessen Frivolität er noch 18261) mit anmu­ tiger Poeste und praktischer Moralität verkleidet: „die Kunst des Lebens ist die Kunst, dem Unglück auszuweichen". Don einem Ort jum andern war er durchs Leben geflohen, arbeitend und nach allen Seiten um fich schlagend, nun war er am Ende und hatte keine andre Zuflucht mehr als die eigne, zer­ rissene, liebes- und lobeshuagrige Seele und ihre ungebrochene Kraft, Vergan­ genes lebendig erstehen zu lassen und mit Lachen und Leben zu umkleiden. Es lag also schon im Wesen dieses Werkes, daß es nicht in rascher, einheit­ licher Arbeit zum Abschluß drängte. Hemmnisse aller Art schoben die Voll­ endung um volle zwölf Jahre hinaus. Einmal «ar seine Lebensenergie noch viel zu groß, um in einer solchen rückschaueaden Altersbeschäftiguvg sich erschöpfen zu können. Das große wissenschaftliche Unternehmen der Regesten war erst vor wenig Jahren begonnen; es glücklich zu Ende zu führen, war fortan seine erste Sorge, die ihn bis 1828 in Atem hielt. Kleinere Arbeiten, germanistische und slawistische Studien gingen nebenher. Auf der andern Seite aber hatte er doch nicht mehr die Kraft, die innern Gegen­ sätze, die am Leben und aneinander sich immer schärfer geschliffen hatten, länger als zur Abfassung einer Hammelburger Reise nötig «ar, zu gemein­ samer Arbeit zusammenzuschließen. Sein heller Verstand wurde zum Sklaven seiner Laune und jagte nach Kuriositäten und Paradoxen; dafür rächte er sich und verdarb die beste» Einfälle seines frischen Witzes durch altbackene Pedaatereien; immer wieder brach dazwischen der alte Ehrgeiz hervor und trieb iha von der ernsten «isseaschafütchen Arbeit weg zu abenteuerlichen Versuchen, von neuem staatliche Anstellungen zu erlangen; immer mehr gewann die absolute Phantasie und rücksichtslose Menschenverachtung in ihm schrankenlose Herrschaft und trieb ihn aus den geregelten Kreisen mensch­ lichen Tuas und menschlicher Gesellschaft: 1817 beginnen seine seltsamen einsamen Reisen und Fußwanderungen, nicht viel später sein Herumtreiben in schlechten Wirtshäusern und Gassenscheaken. Über all dem konnte die

Arbeit an den Memoiren natürlich nur langsam und nur stückweise fort­ schreiten. Anfangs mit Eifer begonnen, von Freunden wie Woltmavn und Zschokke mit lebhafter Zustimmung begrüßt, geriet die Arbeit bald ins Stocken, blieb liegen, wurde wieder ausgenommen, und über dem allem erlahmte natürlich das eigene Interesse an der Arbeit. Ein anderes trug dazu »och mehr bei: die Beschäftigung mit der eigenen Jugendzeit war ihm nicht nur eine Befriedigung, sondern eine Art Befreiung von der Wirk­ lichkeit; je näher er der Gegenwart kam, desto weniger war dies der Fall, desto frischer brannten die Wunden, und desto weniger konnte es ihm eine

*) tzammelb. Reise, VIII. Fahrt. S. 90 ff.

76 Befriedigung gewähren, die jüngst durchlebten Bitternisse noch einmal mit allen Einzelheiten sich vor die Seele zu rufen. So führte er die organische Darstellung, die nach dem ersten Plan bis etwa 1811 geführt hatte, allmählich bis ins Jahr seiner Pensionierung, 1817, weiter. Für die folgenden Jahre hatte er sich bereits in den Hammelburger Reisen ziemlich ausgegeben, 1818 kam die Schilderung des unerfreulichen Streites mit Drechsel, der ihm uoch tief in der Seele brannte — von da ab hängt er nur noch Jahr für Jahr an, was ihm oder dem Land „Curioses" begegnete und noch nicht in den Hammelburger Reisen stand. Bis ins Jahr 1826. Ende 1825 muß er Zschokke von der nahenden Vollendung des Werks gesprochen haben; Zschokke antwortet unterm 27. Januar 18261): ..Ihre Biographie wird eine der anziehendsten und belehrendsten durch Mannigfaltigkeit des Stoffs und Behandlung desselben, durch einen Geist wie den Ihrigen. Ich kenne den Umriß Ihres reichen Lebens nur aus dem Conversationslexikon. Gönnen Sie mir auch das kleine Vorrecht, es im Mspt lesen zu dürfen. Denn was von Ihnen kömmt, zieht sich immer wunderbar an. Es ist darin nichts aus fremder Form und Schule, immer Eigenes, Selbständiges, das auch mich erhebt." Daß es sich bereits bei dem in diesem Brief erwähnten Langschen Manuskript und den darauf bezüglichen Verhandlungen mit dem Derlagsbuchhändler Sauerländer um einen Teil der Memoiren gehan­ delt habe, scheint mir durch den Wortlaut der eben zitierten Briefstelle nicht erwiesen3). Möglich ist es immerhin, daß Zschokke von Lang etwa die ersten Bogen der Memoiren erhalten hatte und um Mitteilung des ganzen Manuskripts vor dem Druck bittet. Daß aber Lang tatsächlich — und zwar bereits im Sommer 1827 — versuchte, die Memoiren bei Sauerländer uuterzubringen, ergibt sich mit Bestimmtheit aus einem Brief Langs an Zschokke vom 1. März 18283), wo er schreibt: „Die Unterhandlungen mit Herrn Sauerlänber lasse ich itzt nach seinem Schreiben vom 30. Aug. vorläufig noch auf sich beruhen. Im nächsten Jahr wird die ganze Bio­ graphie fertig; bann wollen wir erst auf weitere Mittel u. Wege denken." Ein Brief vom 27. Juli 18284) äußert sich in gleichem Sinne; 1829/30 unterzieht Lang das ganze Manuskript noch einmal einer Revision3) — da zerschlagen sich die Unterhandlungen mit Sauerländer. Aus welchem Grund ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, da der Verlag die Korrespon­ denzen nicht mehr besitzt und auch aus dem Briefwechsel Zschokke-Lang, der unsere einzige Quelle bildet, keine wetteren Briefe aufzufinben sind. Vermutlich trug Sauerlänber doch Bedenken, das gefährliche Buch zu *) BM, Sutogr. VIIIA Zschokke; s. Driefanhang! ’) Unklar bleibt dann allerdings, was mit dem Manuskript sonst gemeint sein sollte. 3) BB, Nachlaß Varn Hagen; s. Brtefanhaug. *) Zschokkenachlaß, Aarau; s. Briefanhang. 6) Oie wichtigsten Anhaltspunkte, um die Zeit der Abfassung einzelner Stellen and späterer Revisionen zu bestimmen, stad die zahlreichen Bemerkuugen Langs im Text, wie 1,98: „dem Sohn, jetzt Landrichter zu Hilpoltstein" und dazu die Anm. „Gestorben Juli 1829".

übernehme». Don da an bis zu seinem Tod hat Lang mit keinem Finger mehr an das Werk gerührt; so wie er es fünf Jahre vor seinem Tod liegen ließ, ging es in seinen Nachlaß über, aus dem es sein (intet Heinrich Lang erhielt. Aus dem von Lang eigenhändig geschriebenen Testament*) vom 16. Oktober 1831 geht hervor, daß Lang, auch nachdem die Verhandlungen mit Sauerländer gescheitert waren, den Gedanken noch nicht aufgegeben hatte, die Memoiren noch selber zu veröffentlichen; es heißt darin: Dem H. L. soll die Veröffentlichung der Lebensbeschreibung zustehen, „soweit es nicht schon vor meinem Tod durch mich selbst geschehen ist". Von dem Vorwurf, er habe aus Feigheit die Memoiren erst nach seinem Tod erscheinen lassen, ist Lang also freizusprechen. Die Spuren der Entstehungsgeschichte der Memoiren, wie wir ste eben gezeichnet haben, sind an dem fertigen Werk überall sichtbar. Zunächst grob äußerlich: in der großen Menge der Druckfehler, die zum größten Teil — besonders die vielen verstümmelten Eigennamen — durch die schlechte Handschrift des alten Lang veranlaßt sind und die zugleich verraten, daß dem Herausgeber der Memoiren nähere lokale Orts- und Personenkenntnis fehlte; dann in der Diskordanz zwischen dem wirklichen Inhalt der Memoiren und der vorausgeschickten Inhaltsübersicht, die wiederholt Dinge ankündigt, die im Text fehlen, und die in ihrer gedrängten Kürze und im ganzen Ton viel schärfer ist als die Memoiren selber. Sie ist nach 1826*2),3 offenbar aber vor dem Abschluß des ganzen Werkes, jedenfalls vor der letzten Redaktion verfaßt. Wir können uns vorstellen, daß sie Lang in einer jener Stunden, wo die Verbitterung sich in Rachedurst und Galgenhumor auslöste, in einem Zug hingeschrieben hat, nicht Seite für Seite sein Manuskript dabei durchblätternd, sondern nach dem Bild seines Lebens und seines Werkes, wie es lebendig, in der Beleuchtung der momentanen Stimmung, vor seinem Geiste stand; bestimmt war sie wohl, für eine Ankündigung des Werkes verwendet zu werden und durch die geschickte Andeutung der in dem Buch zu erwartenden „Enthüllungen" und Seltsamkeiten die Neugierde eines sensationslustigen Publikums zu wecken. Infolge des Scheiterns der Unter­ handlungen mit Sauerlänber blieb dann auch sie unverändert liegen und wurde 1842 mit abgedruckt, wie sie war, ohne daß man sie mit der letzten Fassung des Werkes in Einklang brachte2). Auch sonst hätte Lang wohl noch manche Nachlässigkeiten in historischen Details und in der Darstellung getilgt und das Ganze mehr ausgeglichen, wenn er das Werk selber bis zum Druck geführt hätte. ') Nachlaßakten, K A N., Rep. 193 a Nr. 1372. 2) Max I. wird „der vorige König" genannt! 3) Die Erklärung, die im Text fehlenden Stellen seien erst von den Heraus­ gebern 1842 gestrichen worden, reicht nicht auS; denn erstens sind diese Stellen zum Teil völlig harmlos, boten also keinen Anlaß zu nachträglicher Tilgung; und zweitens bleiben dann immer noch andere Dinge, die überhaupt nicht gestrichen sind, aber im Text an einer ganz andern Stelle stehen als in der Inhaltsübersicht, z. B. der Brief Napoleons an Wrede.

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Damit dringen wir bereits eia Stück tiefer in das innere Leben der Memoiren ein. Nicht nur an der Oberfläche tragen sie die Spuren ihrer Entsiehungsgeschichte, sie bestimmt ihr innerstes Wesen. Als Lang an die Ausführung ging, stand der Plan bereits für nahezu Dreiviertel des Werkes fest, und diese Ausführung beschäftigte ihn über zwölf Jahre! Dies war um so nachteiliger für einen Geist wie den seinigen, der nur impulsiv schaffen konnte, der lebendig, sprühend, witzig war, wo er unmittelbar und unbe­ wußt wirkte, und erstarrte, sowie bewußtes und gewolltes Denken, nüchterne Überlegung ihn anrührte — „nicht einen witzigen Gedanken kann ich her­ vorbringen, sobald ich mich darauf besinne", schreibt er einmal an Th. Huber. Aber auch die Vorteile, die dieses Schaffen nach einem fertigen Plan hätte bringen können, fehlten. Denn dieser Plan, wie er in dem Brief an Woltmann angedeutet ist, war nicht nach künstlerischen Gesetzen aufgebaut, sondern er reihte einfach kettenförmig einzelne charakteristische Episoden und Situationen aneinander, die ihm besonders lebendig vor Augen standen, zum Teil auch solche, die besonders lustig und närrisch waren, daß die Leute sagen sollten: „Er ist doch ein Teufelskerl, der Lang!" Im ganzen ersten Teil hat sich Lang an diesen Plan gehalten. Die eigentliche künst­ lerische Arbeit der zwölf Jahre erstreckte sich also nicht auf den Aufbau des Ganzen, auf das Ausmaß und Abwägen der einzelnen Teile gegeneinander und im Verhältnis zum Ganzen, auf die Architektonik und Harmonie des Ganzen, sondern auf die künstlerische Gestaltung des einzelnen, auf das lebendige tzerausarbeiten dieser einzelnen von Anfang an als Richtpunkte aufgestellten Episoden, auf das „sorgfältige Ausmalen" (Woltmann) und das Herstellen der Verbindung zwischen diesen Kernszenen. In ihnen liegt auch der eigentliche Reiz und Wert des Buches (nach der künstlerischen wie nach der historischen Seite); sie sind lebendig geschaut und lebendig wiedergegeben, einige von ihnen mit ganz köstlichem Humor und ungemeiner Frische und Anschaulichkeit gezeichnet. Sie sind gewissermaßen die Sprung­ steine, über die seine Phantasie in die Welt vergessener Erinnerungen vor­ dringt. An jede von ihnen kristallisiert sich eine ganze Reihe anderer Episoden und Erinnerungen an, die zu breiten, anschaulichen Sitten- und Zustands­ schilderungen zusammenwachsen, so daß nur geringe Lücken für historische Ex­ kursionen und antiquarische Gelehrsamkeit übrig bleiben. Manchmal gelang es ihm dabei, einen ganzen solchen Erinnerungskomplex künstlerisch aufzu­ bauen und lebendig zu gestalten, wie bei der Schilderung der Ottinger und der Wallersteiner Jahre; bei größeren Gruppen versagte seine ge­ staltende Kraft: der vielgerühmte „Jahrmarkt der Eitelkeiten", der Rastatter Kongreß ist bereits ein Sammelsurium zahlloser, z. T. scharf und lebendig gezeichneter Einzelbilder, bei dem wir von einem künstlerischen Aufbau so wenig wie bei den Memoiren im ganzen reden können. Bei dieser Schil­ derung des Rastatter Kongresses, die den ersten Teil der Memoiren be­ schließt, sehen wir bereits deutlich eines der Momente hervortreten, die im zweiten Teil zur völligen Zerstörung der an sich lockern künstlerischen Form führen: seine zerflatternde Phantasie folgt jedem auftauchenden Bild, jeder

»enanfsteigeadea Erinnerung, und das Ganze verliert sich In uferlose Breite. Dies mußte sich natürlich steigern beim zweiten Teil der Memoiren, der viel weniger markante Einschnitte «ad Episoden aufzuweisen hatte als die be# wegte Jugendgeschichte, dem der fest vorgezeichnete Plan des ersten Teiles fehlte, und der — dies ist das Entscheidende — von einer ganz andern Srundsttmmung getragen ist als der erste Teil. Begonnen hatte Laag die Memoiren als einer, „der Vieles für Schatten­ spiele hält und dessen frohen Muth noch nichts in dieser Welt gebeugt hat" (Lang an Woltmana, io. Nov. 1815). Wohl stand schon in dem ersten Ent­ wurf auch die Schilderung „des damaligen Seins und Treibens im Vater­ lande", aber das eigentlich Politische, der Gedanke an eine politische Kampf«ad Anklageschrift, lag ihm fern. Ihn trieb überhaupt nicht so sehr der Gedanke an die anderen als vielmehr das Bedürfnis des eigenen Herzens. Dem Treiben der großen Welt entronnen, wollte er als Kultivator einer einsamen, wüsten Strecke Landes den Glauben an edle Menschen und an sich selber wiederfinden, den er in München fast verloren hatte*). Nicht die Stärke religiöser Überzeugungen, nicht der hohe Gedankenflug eines freien sittlichen Geistes konnte ihm diesen Glauben wiedergewinnen; er blieb schön auf der Erde und versetzte sich aus der Welt der Wirklichkeit in die sonnigen Fernen seiner eigenen Jugend und freute sich an ihrem Sonnen­ schein und ihrem Lachen, an ihrer Enge und ihrer Torheit, und daß er auch über ihre Torheit und ihre Bitternisse lachen kann, ist seine einzige Stärke. Der Entwurf von 1816 weiß noch nichts von Rache und Verbitterung; alle sonnige Heiterkeit, allen ausgelassenen Humor seiner Jugendgeschichte will er heraufbeschwören und lebendig werden lassen, sich und andern zum Ergötzen. Durch weite Strecken des ersten Teils ist dies der Grundzug geblieben, aus ihnen weht uns eine behagliche Wärme entgegen, die wir sonst bei Lang vergeblich suchen. Aber schon über der Ausführung gesellt sich dazu die Wehmut und bald die Bitterkeit, die sich aus dem Vergleich seiner Jugend mit der Wirklichkeit seines jetzigen Lebens ergibt, und die Freude wird zur geheimen Schadenfteude, daß er nun über die Männer, die seine Herren waren, die sein Leben bestimmten und verdarben, lachen kann. Und dies steigert sich, je näher er der Gegenwart kommt; je mehr auch aus dem Leben, das er darstellt, die Sonne weicht, je mehr einzelne, bestimmte Gestalten als Feinde seiner Welt und Zerstörer seines Lebens hervortraten, je ftischer die Wunden brannten, desto mehr wurde der Haß in ihm lebendig, desto mehr wurde in seiner Darstellung der Humor durch Satire verdrängt. Je mehr seine Darstellung aus der idealen Ferne in die harte Wirklichkeit hereinrückt, desto mehr überträgt er auch auf sie das Mißtrauen und die Verachtung, die er allem Wirklichen entgegenbringt. Und je weiter er in der Schilderung seines Lebens heraufkam, desto mehr mußte er seinen Kampf mit der Welt schildern, desto öfter mußte er seinen Charakter und seine Handlungsweise verteidigen. So rückt immer mehr er selber, die Der-

') An Woltmann, 10. Nov. 1815.

8o teidigung seiner selbst und die Rache an den andern in den Vordergrund. Die Leidenschaft des Kampfes drängt die künstlerischen Momente in der Gestaltung des einzelnen und im Aufbau des Ganzen beiseite. In dem Streben, seiner Stimme mehr Gehör und Gewicht zu verschaffen, schreit er lauter und derber und häuft aufeinander, was irgend die Position seiner Gegner schwächen kann, auch Dinge, die er selbst nicht erlebt, sondern nur von andern gehört hat — so wird die stärkste aufbauende Kraft im erste» Teil der Memoiren, die Phantasie, die Selbsterlebtes gestaltet, vom sam­ melnden Verstand beiseite gedrängt, das politische Moment, dem ersten Plan der Memoiren fremd und dem ganzen Wesen Langs fernliegend, dringt immer stärker herein, an Stelle des Humors und der künstlerisch gestalteten Satire tritt Verspottung und persönliche Gehässigkeit, die oft genug die spitze Klinge mit dem Dreschflegel vertauscht und mehr durch die Masse als durch das Gewicht ihrer Dokumente zu wirken sucht, der Zauber von Poesie, der stellenweise noch über dem ersten Teil liegt, ist völlig abge­ streift, die künstlerische Form, die Stimmung, die Geschlossenheit des Ganzen zersprengt. Schon von hier aus erscheint aber auch die historische Gleich­ wertigkeit des zweiten Teils der Memoiren, nach Zuverlässigkeit und objek­ tiver Richtigkeit des Gesamtbildes, in Frage gestellt. Und ein Außerper­ sönliches kommt dazu: in der Lebensperiode, die Lang im ersten Teil der Memoiren schildert, war er wirklich der Vorkämpfer einer aufgeklärteren, fort­ geschritteneren Zeit gegenüber überlebten, innerlich unwahren und darum dem Untergang geweihten Einrichtungen und Anschauungen, er stand wirklich über der Welt und der Zeit, die er schildert, und darum ist die lachende Über­ legenheit und der beißende Spott, mit der er sie behandelt, auch ästhetisch erträglich. Im zweiten Teil aber wird seine Satire nicht nur gehässiger und künstlerisch wertloser sondern auch innerlich unberechtigter. Da steht er nicht über seiner Zeit und gießt von oben her die Schale seines Spottes über sie aus, sondern er steht unten, ganz unten am Boden, und wirft mit Steinen nach den Baumeistern der neuen Zeit, weil sie manches eingerissen haben, was er mit Mühe aufgebaut, und weil er den neuen Bau, den er nur unfertig und in der Verzerrung von unten sieht, nicht versteht und nicht für schön halten kann nach den Regeln, die er in der Schule gelernt und im Leben bewährt hat. Erfreulich ist dieses Schauspiel nicht, und wird auch dadurch nicht erfreulicher, daß mancher der Getroffenen den Steinwurf verdient; und wer nicht eine besondere Freude daran hat, daß dabei manch­ mal der Schmutz so schön aufspritzt und auch große Herren dabei nicht immer sauber bleiben, der wird bald nach andern Bildern verlangen und wird bedauern, daß auch hier wieder die inneren Mängel und Gegensätze in ihrer schroffsten Form das reiche Leben und den reinen Genuß des ganzen Werkes zerstören. Nur dann und wann gelingt es auch im zweiten Teil noch einmal seiner Phantasie und Laune, alle Ketten abzustreifen und uns ein echtes, helles Lachen abzugewinnen durch die in ihrer Art meisterhafte Gestaltung einer kleinen Episode: die Szene zwischen der Frau General­ kommissär Dörnberg und dem Fürsten Wrede (S. 2$2ff.) und die Schtl-

8i deruag des Besuches bei Goethe (S. 342 ff.) flud hier in erster Linie zu neunen. Die sich widersprechenden Beurteilungen des Buches erscheinen nach dem Gesagten nicht mehr verwunderlich, bei der Fülle von Widersprüchen und Gegensätzen, von Vorzügen und Mängeln, die das Buch umschließt. Jedes einheitliche Urteil über das ganze Buch ist ungerecht, nach der lobenden oder nach der tadelnden Seite hin. Um mit Petersen, dem Heraus­ geber der neuesten Ausgabe, die ganzen Memoiren — also auch den zweiten Teil! — ein „höchst erquickliches Buch" zu nennen, dazu gehört schon eia unglaubliches Maß von Genügsamkeit in ästhetischer und ethischer Beziehung. Daß aber auch diejenigen übers Ziel schießen, die die ganzen Memoiren nach Form und Inhalt in Bausch und Dogen verdammen, geht ebenfalls schon aus dem Gesagten hervor. Der erste Teil ist in der Tat von einem sonnigen und oft erquickenden Humor durchleuchtet, und auch künstlerische Werte hat bas Buch im einzelnen aufzuweisen. Wie aber ist das Buch zu bewerten vom historischen Standpunkt aus? Da ist zunächst zu sagen: die Memoiren als Ganzes werden immer ihren Wert behaupten als ein interessantes Geistesprodukt ihrer Zeit, als ein wich, tiges Dokument der Anschauungen der absterbenden Aufklärung. Nicht in erster Linie, weil Lang diese Welt besonders anschaulich schildert, sondern weil er selbst aus dieser Welt herkommt und all ihre Vorzüge und Schwächen an flch trägt. Nicht auf die freien Höhen, wo die geistigen Führer der Zeit standen, führt er uns, nicht in die tiefsten und ernstesten Probleme seiner Zeit—sein Leben kannte ja fast keine! — aber in das Denke» und Fühlen der breiten Masse, in die kleinbürgerliche und gelehrte Alltagswelt jener Tage. Die ganze kleinstädtische, verträumte Behaglichkeit und die ganze Neinstaatliche Enge und Beschränktheit, der Philanthropismus und Utili, tarismus, die nüchterne Verständigkeit und die platte Selbstzufriedenheit der popularisierten Aufklärung, die kulturelle Überreife und die staatliche Ohnmacht und politische Indifferenz der letzten Jahrzehnte des 18. Jahr­ hunderts steigen im ersten Teil der Memoiren vor uns auf; und das lang­ same Absterben dieser Welt, die unentwegt nach Aufklärung schreit und dar­ über gar nicht sieht, daß eine ganz neue Zeit heranwächst, die überall Reak­ tion wittert und gleichsam unterirdisch die Brücke schlägt zum bürgerliche» Liberalismus, das tritt uns mit unmittelbarer Schärfe im zweiten Teil der Memoiren entgegen — wieder nicht in erster Linie in dem, was Lang sagt, als vielmehr indem, was er nicht sagt und was er nicht sieht im le, bendigen Bild seiner Zeit, ohne sich des Mangels überhaupt bewußt zu werden. Und der zweite Teil hat noch einen besonderen spezialgeschichtlichen Wert: er zeigt uns die bayerischen Verhältnisse im ersten Drittel des 19. Jahr­ hunderts von den neuerworbenen fränkischen Provinzen aus, er führt uns mitten hinein in die Anschauungen der fränkischen Opposition, wie sie in den ersten Landtagen des neuen Bayern zum Ausdruck kam und in den Verhandlungen des mittelfränkische« Lavdrats von 1829, dessen Präsident Lang war. v. Ravmer, Oer Ritter von Laag.

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82 Zeitgeschichtlich bleibe» die Memoirea also interessant bis zum Schluß. Dazu kommen nun die rein menschlich-biographischen Werte. Und die halten sich freilich durchaus nicht auf der gleichen Höhe, schon weil ihnen Langs Selbsthilfe und Selbstüberhebung immer im Wege steht. Lang beobachtet stch selbst sehr aufmerksam, und die Geschichte seiner Entwicklung im ersten Teil der Memoiren bietet manchen menschlich interessanten Zug — aber am Anfang des zweiten Teiles ist diese Entwicklung bereits abgeschlossen; wir hören fast nur noch von den Ereignissen seines äußeren Lebens, und nur unter ihrer Decke sehen wir das Bild eines Menschen, der nicht mehr weiter­ wächst, sondern abstirbt und in sich zerfällt. Und wo er einmal in seiner kühl beobachtenden, äußerlich unbewegten Weise gleichsam sich selbst sezierend von einem ernsteren Erlebnis seines Innern spricht, da stehen wir verwun­ dert und glaubend ihm nicht — es will sogar nicht zu dem lachenden Leicht­ sinn passen, mit dem er sonst über Hohes und Niederes hinwegspringt. Zu jedem Quell des Lachens in seinem Leben führt er uns hin und gibt und draus zu trinken und steht uns wie ein gutmütig-pfiffiger Faun mit schelmischem Behagen zu, wenn wir an manchem frischen Trunk aus seiner hellen Schale uns laben — aber bald zerstört er uns selber die unbe­ fangene, harmlose Freude: denn zu oft mischt er uns heimlich bittern Wermut und Gift und Unrat in den Trank, und wenn wir uns zornig gegen ihn wenden wollen, dann lacht er uns so unverfroren ins Gesicht, daß wir merken: er fühlt gar nicht, wie roh und frivol seine Späße oft sind, er hat gar kein Empfinden dafür, daß es auch Dinge gibt, die uns zu hoch und heilig sind, um dem Witz und Spott als Zielscheibe zu dienen; er sieht ja auch an dem Hohen und Schönen nur die Flecken und Lächerlichkeiten, er verachtet die Wirklichkeit, weil er sie in der Verzerrung sieht, in der ein enttäuschtes Leben und ein in stch zerfallener Geist sie ihm erscheinen lassen. Damit stehen wir bereits vor den Toren der letzten, entscheidenden Frage: war dieser Mann überhaupt noch fähig, ein Bild der Wirklichkeit zu zeichnen, das irgend einen Anspruch auf objektive Gültigkeit machen kann? Mit anderen Worten: wie steht es, abgesehen vom geistesgeschichtlichen und biographischen Wert der Memoiren, mit der historischen Wahrheit dessen, was Lang erzählt? Wie sind die Memoiren als direkte Geschichtsquelle zu werten? Es ist die wichtigste, am meisten um­ strittene Frage unserer Abhandlung. Memoiren sind keine Geschichte. So selbstverständlich und bis zur Trivialität abgebraucht der Satz ist — er gehört an den Anfang jeder Me­ moirenkritik vom historischen Standpunkt aus. Denn er besagt, daß jede Memoirenkritik grundsätzlich unterschieden sein muß von der Kritik eines reinen Geschichtswerks, auch wenn dieses Zeitgeschichte behandelt. Restlose Scheidung der subjektiven und objektiven Elemente in Memoiren ist unmöglich und unzulässig. Denn ste zerstört ihr Wesen. In der sub­ jektiven Spiegelung objektiver Vorgänge liegt der Wert und die Grenzen des Wertes von Memoiren für den Historiker. Selbständige Bedeutung für die

Geschichtschreibung haben Memoiren nur dann, wenn ihr Verfasser entweder selber als ein Arbeiter und Werkmeister am großen Räderwerk der Geschichte gestanden hat, so daß sein Lebensbild schon sachlich historisches Interesse bietet, ober wenn er eine so starke, bedeutende Persönlichkeit ist, daß sich in seinem Leben die Geschichte seiner Zeit in charakteristischem oder in neuem, eigen­ artigem Lichte spiegelt. Beides ist für Lang in beschränktem Maße jutreffend. Daß Lang nach seinem äußeren Lebensgang in der Lage war, eine Geschichte seines Lebens tu schreiben, die schon rein sachlich zugleich ei» wichtiges Dokument für die Geschichte seiner Zeit war, steht außer Frage. Schon der Reichtum der Beziehungen, die ihn mit Männern wie Harden­ berg und Montgelas auf der einen, Wekhrlin, Nicolai, Jakob Grimm auf der andern Seite in nahe Berührung brachten, die ihn nach Wien und München, Frankfurt und Rastatt führten, schon diese Mannigfaltigkeit der äußern Erlebnisse verleiht seiner Lebensgeschichte allgemein historisches Interesse. Und diese Beziehungen waren keineswegs nur äußerlich-ober­ flächliche; wenn er auch überall nur Handlanger war, so hat er doch die Großen bei der Arbeit und überall die Getriebe im Gang gesehen. Die Wallersteiner Jahre waren geradezu eine hohe Schule, um den Duodezabsolutismus von innen her — und keineswegs in seiner schlechtesten Form — kennen zu lernen; dem Minister Hardenberg war er Vertrauter und die rechte Hand in seiner fränkischen Politik; Montgelas verwendete ihn zu sehr intimen Geschäften und brachte ihn in die Derfassuagskommission von 1814. Gerade dieser häufige Wechsel der Stellung, der ihn nacheinander mit reichsständi­ schen, preußischen und bayerischen Archiven und Derwaltungsmaximen vertraut machte, und seine Stellung zwischen Archivar und Geschäftsmann, Forscher und Publizist, verliehen ihm einen so gründlichen Einblick und viel­ seitigen Überblick über seine Zeit, daß er literarischer und wissenschaftlicher Bei­ hilfen für die Zeichnung seines Bildes fast gänzlich entraten konnte. Nur bei der Jugendgeschichte ergänzt er die eigenen Kindheitserinnerungen durch Mitteilungen aus gedruckten Lebensläufen seiner Vorfahren, später prüft er nur noch historische Einzelheiten, Daten, Namen, an wissenschaftlichen Werken nach. Auch im zweiten Teil, wo er den Rahmen weiter spannt und in der Erzählung da und dort über seine persönlichen Erlebnisse hinaus­ greift, schöpft er seine Kenntnisse nicht aus Büchern und nicht aus dritter Hand: da ist er der berühmte und gefürchtete Verfasser der Hammelburger Reisen geworden, dem man von allen Orten her törichte Vorfälle und Verfügungen einsenbete*), so daß er zuletzt kaum mehr wußte, wie er die „tausenderlei Fratzen" wieder absetzen sollte, die man ihm zu seinen Fahrten auf den Wagen packte?), einer der ersten Vertreter des in der Gegenwart so mannigfaltig ausgebildeten Typus des opposttionellen Publizisten, der als Werkzeug hervorragender Staatsmänner intime Einblicke gewonnen und fich bann unabhängig gemacht hat und nun als Sammelpunkt aller

*) Mem. I I, 282. *) Hammelb. R., IX, 4 (1828).

84 malkontente« Elemente im ganzen Land eine gefürchtete Macht wird, von den einen als ein unerschrockener Kämpfer für Wahrheit und Recht, von den andern als ein sensationssüchtiger Verleumder und zweifelhafter Charakter apostrophiert. Aber er hat sichrere Bürgschaften als die meisten dieser Herren heute: gerade die krassesten „Fälle", die er in den Memoiren erzählt, hat er lang vorher, zum Teil in direktem Auftrag Montgelas, auf Grund urkundlichen Materials dargestellt und an die Öffentlichkeit gebracht. Daß also die Memoiren Langs rein objektiv für den Historiker von Wert sind, kann nach dem Gesagten nicht zweifelhaft sein. Daß auch die subjektive Spiegelung dieses reichen Lebens historisch bedeutsam ist als typisch für die Anschauungen der absterbendeu Aufklärung im allgemeinen und der antibayrischen Opposition in Franken im speziellen, haben wir bereits dargelegt. Aber auch abgesehen von dieser typischen Bedeutung ist ihre individuelle Eigenart, ganz für sich genommen, stark genug, um das Inter­ esse des Historikers zu beanspruchen — und das ist für die Art der historische» Kritik der Memoiren das Wichtigere: sie geben uns das lokal be­ schränkte Bild der Zeit, gesehen mit den Augen des Sa­ tirikers. Sowie wir darangehen, die Memoiren im einzelnen Seite für Seite und Zeile für Zeile kritisch zu prüfen, sehen wir, daß dieser Sah die Grund­ lage unserer ganzen Untersuchung bilden muß. Kein Mensch wird im Ernst glauben, daß der dritte österreichische Gesandte vor dem versammelten Rastatter Kongreß buchstäblich „in bittere Thränen ausgebrochen" sei (I, 331), oder daß Jakob Grimm deshalb nicht nach München ging, weil er „ein abgesagter Feind des in Baiern allgemein eingeführten Dpsilons war" (II, 341), aber jeder Verständige lächelt und weiß, wie das gemeint ist; kein Mensch wird Lang mit ernstlichen Gründen widerlegen wollen, wenn er fragt, warum Bayern mit seinen Spitzbuben nicht einen Handel nach Brasilien anfange (II, 88); kein Vernünftiger wird ihn beim Wort nehmen, wenn er erzählt, nach den Nürnberger Straßentumulten im Jahr 1809 seien an die Aufrührer goldene und silberne Ehrenmünzen ausgeteilt worden, und wer aus den Akten erfährt, daß das mit großem Pomp ein­ gesetzte Spezialgericht zur Untersuchung der Vorfälle nach mehrmonatiger Tätigkeit mit einem großen Freisprechungsfest endigte, bei dem „nur ein paar aus der untersten Hefe aufgegriffene Elende zum Gefängnis verurtheilt wurden", der wird ihn um dieser Hyperbel willen nicht einen Lügner nennen. Aber die Satire in den Memoiren ist nicht nur so derb äußerlich. Bis ins feinste Geäder seines Stils, seiner Wortwahl und Satzbildungen erstreckt sie sich. Oder ist es vielleicht Zufall, daß das Sofa, das der närrische Graf Bühler von einem Zimmer ins andere schleppen läßt (I, 143), gerade ein „pappelgrünes Kanapee" sei» muß? Und welch komische Wirkungen erzielt er in der Szene zwischen Wrede und der Gräfin Dörnberg (II, 252) allein durch die Verwendung des Wortes „Katzenhochstadt"! Ja, wir müssen noch weiter gehen: der Urgrund der ganzen Memoiren ist Satire. Bereits oben haben wir darauf hingewieseu, das eigentlich treibende Moment

bei der Abfaffuag der Memoiren sei ein Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit gewesen; also eine Grnndstimmung, die sowohl zum Hu­ mor als zur Satire ausschlagen konnte. Das Ideal in einer kleinen, engen, von der Gegenwart verachteten Welt suchen und lachend schlldern, das war sein Wollen beim Beginn der Memoiren. Aber die humoristische Wendung behielt nicht lang die Oberhand. Das von der Welt als groß und herrlich Geachtete als wertlos und niedrig entlarven — das war das Tun derselben Seele, nur nach der entgegengesetzten Seite gewandt. Don da aus schließt sich also doch das Ganze zur Einheit zusammen: der zweite Teil der Memoiren wird die Gegenseite, die innerlich notwendige Ergänzung des ersten. Damit wissen wir nun auch, wo bei den Memoiren Längs die Trennung des Subjektiven und Objektiven unmöglich ist, ohne ihr Wesen zu zerstören. Lang will sein Leben heiter und wahrheitsgetreu beschreiben; aber was er anfaßt, wird zur Satire. Seine Memoiren sind Satire — es handelt sich nur darum, welcher Art diese Satire ist. Dor allem: Richtet sie sich aufs Ganze ober nur auf Einzelheiten? Trifft sie das Wesen der Dinge, den Geist der Zeit, die sie schildert? Der echte Satiriker muß über seiner Zeit stehen; er fleht alle Mängel und alle ungeborene Torheit seiner Zeit; er führt die Pointen aus, die das Leben immer nur halb gibt, er stellt kontrastierend zusammen, was das Leben zerstreut; er faßt alle Dinge wie in einem gewaltigen Hohlspiegel einseitig, verzerrt, aber aus dem Spiegelbild muß sich immer die Wirklichkeit rekonstruieren lassen; er tut der Wirklichkeit Gewalt an — um der Wahrheit willen. Gilt dies alles von Lang? Und dann: Wie verhält sich seine Satire im einzelnen zur Wirklichkeit? Verschweigt, steigert, kombiniert er bloß ober erfindet er aus freier Phantasie Dinge ohne irgendwelchen historischen Untergrund? Verschiebt und gestaltet er bloß kleine Nebenzüge ober fälscht er historische Tatsachen? Und endlich: Ist seine Satire, wie jede echte Satire, geboren aus der Sehnsucht nach einem unerfüllten Ideal oder ist sie von kleinlichen, persönlichen Motiven diktiert? Die inneren Voraussetzungen für die Beantwortung all dieser Fragen find im ersten Teil unserer Schrift gegeben. Die endgültige Antwort kann nur nach umfassenden und gründlichen Detalluntersuchungen der Memoiren selber erfolgen. Wir fassen ihre Ergebnisse in den Hauptzügen zusammen und stellen fle als Thesen an den Anfang unserer Untersuchungen:

I. In allen tatsächlichen Angaben ist Lang ungemein sorgfältig und sowohl im ersten, als auch im zweiten Teil der Memoiren in hohem Grabe zuverlässig. II. Überall, wo ihm die feste Stütze unverrückbarer Tatsachen fehlt, bet der Zeichnung der Charaktere, Angabe der Motive, eigenen Raisonnements k., ist die Sicherheit seines Urteils durch seine rasche Phantafle und überscharfe Kritik gefährdet und vom Beginn des zweiten Telles an in steigendem Maß durch Spottlust, Mißtrauen und Verbitte, rung getrübt.

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Hl. Satirisch ist die Darstellung und die Gestaltung des historischen Materials. Seine Satire arbeitet mit Dramatisierung und Zusammenziehuag, mit Häufung, Steigerung, Pointierung, nicht aber mit Fälschungen und freien Erfindungen. IV. Bewußte Lügen sind ihm nirgends nachzuweisen.

V. i. Das Gesamtbild des ersten Teiles ist humoristisch-satirisch ge­ färbt, aber im große» und ganzen zutreffend. 2. Auch das Gesamtbild des zweiten Teils ist als Bild der tatsächlich vorhandenen innerpolitische» Zustände Bayerns im wesentlichen richtig, als BUd des gesamten kulturellen Lebens ist es falsch. Schon bei der Schilderung der innerpolitischen Verhältnisse fehlt ihm der Blick für das historisch Be­ dingte dieses Zustandes und für die Kräfte persönlicher, geistiger und poli­ tischer Art, die aus dem Bestehenden hinausstreben; für das reiche Leben, das auf allen Gebieten in der Romantik erblühte, fehlt ihm jegliches Verständnis. VI. Die Motive seiner Satire sind von Anfang an ethisch-ästhetische und persönliche nebeneinander. Im letzten Grund ist auch seine Satire aus einem unlösbaren Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit entsprungen, aber dies Ideal ist selber von der Satire zerfressen, es fehlt ihm an Klarheit «nd Kraft, und so erscheint im zweiten Teil als das bestimmende Moment im einzelnen fast durchaus die persönliche Verbitterung und Gehässigkeit.

II. Kapitel.

Die historische Wahrheit der Memoiren. Ehe wir in die kritische Untersuchung einzelner Abschnitte der Memoiren ium Beweis der am Schluffe des vorigen Kapitels aufgestellten Thesen eiatreten, konstatieren wir bezüglich der Memoiren im ganzen: 1. Von sämtlichen in den Memoiren enthaltenen genauen Date» (Tages-, Monats- und Jahresdaten) konnten 105, d. i. ca. zwei Drittel auf Grund authentischen Materials (Pfarrbücher, Akten, Originalbriefe ic.) nachgeprüft werden. Don diesen 105 kontrollierbaren Daten ergaben sich87 als genau richtig, die übrigen 18 als annähernd richtig. Unter den annähernd richtigen 18 sind 6 nicht genauer zu kontroll lieren, also möglicherweise auch noch genau richtig; in 4 Fällen hanbetes sich um Druckfehler; in 7 Fällen um Irrtümer um einige Tage; in einem einzigen Fall ist die Möglichkeit einer absichtlichen Änderung um ein paar Tage gegeben*). 2. Don sämtlichen in den Memoiren enthaltenen wörtlichen Zitate« oder genauen Inhaltsangaben aus Büchern, amtlichen Schriftstücken und Privatbriefen konnten ebenfalls zirka zwei Drittel, nämlich 45, authentisch nachgeprüft werden. Dabei ergab sich bei allen kontrollierbare» wörtlichen Zitaten (21) wörtliche Richtigkeit?) bei allen andere» (24) sachliche Richtigkeit. 3. Die Erzählung unseres ersten Teils, die sich durchweg auf äußere halb der Langschen Memoiren liegende Quellen stützt, bestätigt bereits die Richtigkeit des in den Memoiren entworfenen Lebensbllbes in großen Züge». 4. Sie hat aber auch bereits für eine Unzahl kleiner Züge, darunter auch ausgesprochen anekdotenhafter und satirisch verwendeter Züge, de» Beweis ihrer objektiven Wahrheit erbracht. Es seien nur die Eiuzelheite»

*) Lang schreibt Mem. 11, 29, er habe seine Abreise anö Rastatt absichtlich auf den 4. b. Mts. verlegt, um einen vollen Monat heranSbezahlt zu bekommen; tat­ sächlich traf die Ministerialordre, die ihm die Erlaubnis zur Abreise gab, erst am z. Rov. in Rastatt ein, und Langs letzter Bericht aus Rastatt ist vom 8. Nov.l *) Die geringen und unwesentlichen Abweichungen im Wortlaut des Napoleon­ briefes bei Lang (II, 110) und Lecersre erklären sich daraus, daß letzterem das Konzept, rang bas Original des Briefes Vorgelegen hat.

88 aus dem Leben des Großvaters Johannes Lang (s. o. erster Teil, S. iof.), die Ohrfeigenaffäre aus Langs Schulzeit (s. o. S. 19 ff.), das „Derzeichnuß" des Herrn von Bühler (s. 0. S. 55, Anm. 1) genannt. 5. Für eine Menge anderer Einzelzüge findet flch die subjektive Wahr­ heit der Langschen Erzählung gestützt durch Parallelstellen in seinen Briefen, die die gleiche Episode, z. T. wiederholt, bis ins Detail übereinstimmend erzählen, z. B. die Rieser Dolksbräuche und -sagen (Mem. I, 33s. — Briefe an Jak. Grimm vom 1. Februar 1829 und 20. August 1834), der Aufent­ halt beim Oheim Duttersack (1, 64 ff. — an Ther. Huber 17. Juli 1819), das Brieferbrechen in Güttingen und der Plan, eine Geschichte von Danzig zu schreiben (I, 246s. — an Nicolai 5. Januar 1793), die Unterredung mit dem alten Metternich in Rastatt (I. 343s. — an I. Grimm 16. Oktober 1824), der Besuch bei Dobrowsky und der Frau von Woltman» in Prag (ll, 312s. — an Th. Huber 31. August 1820 und an I. Grimm 16. Oktober 1824). Der für Memoiren außerordentlich niedrige Fehlerprozeatsatz bei der Angabe der Daten beweist zunächst nur die Sorgfalt, mit der die Memoiren in äußeren, leicht kontrollierbaren Dingen gearbeitet find. Gerade diese Sorgfalt konnte aber den Zweck haben, nur eine um so größere Leichtfertig­ keit im Innern zu verschleiern. Viel tiefer führt bereits die unter 2. konsta­ tierte Gewissenhaftigkeit Langs bei der Wiedergabe amtlicher und privater Schriftstücke, bei denen Lang eine Kontrolle für unmöglich halten mußte. In ihrer Gesamtheit weisen diese Konstatierungen unserer Einzeluntersuchung bereits ziemlich entschieden die Richtung. Die Einzeluntersuchung darf sich nicht darauf beschränken, mehr oder minder wahllos, mehr oder minder tendenziös eine Reihe von Einzelfällen herauszugretfen, für die fich gerade Beweise oder Gegenbeweise vorfindeu. Sie muß zusammenhängende Abschnitte hernehmen und nun mit alle» nur möglichen Mitteln aus Akte» und Urkunden, aus zeitgenössischen Berichten, Briefen, Memoiren k. alles zusammentragen, um der Wahrheit oder Unwahrheit jeder einzelnen Be­ hauptung in dem betreffenden Abschnitt auf den Grund zu kommen. Oie Wahrheit oder Unwahrheit des Gesamtbildes wird fich bei einem derartigen Eindringen in den Stoff von selbst ergeben. Es ist von vornherein nicht zu erwarten, daß fich bei dieser Art der Untersuchung auf alle Fragen ein glattes Ja oder Nein finden lassen werde — vieles in den Memoiren ist seiner ganzen Natur nach unkontrollierbar, viele Belegstücke find unwiederbringlich ver, loren — aber nur eine derartig systematische Untersuchung kann der Uaflcherheit in der DeurteUung der Langschen Memoiren ein Ende machen. Gewählt wurden folgende Abschnitte: 1. Als charakteristisch für den ersten Teil der Memoiren die Schilderung seiner Wallersteiner Jahre (1790—92) S. 196—230, zugleich als ein Abschnitt, über den bisher jede Art einer quellenmäßigen Darstellung fehlte, und von allgemeinem Interesse wegen der io ihn eingeschloffeneu Schilderung der Frankfurter Katserkröuuug. 2. Als charakteristisch für den Übergang vom ersten zum

89 zweiten Teil der berühmte Abschnitt über den Rastatter Kongreß (1798 99) E. 298—348, besonders instruktiv wegen der Möglichkeit genauer sub­ jektiver und objektiver Kritik an der Hand deS ungemein reichen gedruckten «ad ungedruckten Quellenmaterials und der in ihrer Gesamtheit erhaltenen eigenen Berichte Langs aus Rastatt, z. Die Schilderung der bayrischen Zustände von 1806—1817, also die ganze Hauptmasse des zweiten Teils der Memoiren von S. 83—270, als der am meisten angegriffene und für uns vom spezialgeschichtlichea Standpunkt aus interessanteste Tell der Memoiren.

1. Wallerstein und Frankfurt 1790—1792. Memoiren 1842, I. Band, Seite 196—230.

Quellen: AW = Fürstl. Oettingen-Wallersteinsches Archiv zu Wallerstein:

Personalakten des Fürsten Kraft Ernst Nr. 1—156: Gesamte private und politische Korrespondenz; Berichte und politische Nachrichten an ihn; Privat­ rechnungspapiere; Meldungen und Crinnerungszettel der Hofsekretäre mit dem Repliken von Kraft Ernsts Hand und eigene Notizen betr. Geschäftssachen, Diener­ besoldungen, Einkäufe, Audienzen, Konzertprogramme, Speisezettel, Festlichkeiten ic. Personalakten Langs und der meisten Räte und Beamten aus den Jahren 1790—1792.

Polizeiakten, Generalien, Instruktionen und Verordnungen 1790 bis 1792. Reichsgerichtliche Angelegenheiten: Akten betr. den Streit mit Nörd­ lingen wegen der Fruchtsperre; Akten betr. den Streit mit Neresheim; Akten betr. den Dachstuhler Prozeß; Instruktionen für die Wallersteinschen Agenten in Wien und Wetzlar, und Berichte derselben. W = Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien: Reichshofrats-Protokolle 1789—1791: Dachstuhler Prozeß.

Oettingana: Gesuche der Fürsten an den Kaiser; Schuldenwesen; Streitig­ keiten der Linien untereinander rc.

Zur Frankfurter Kaiserkrönung: Berichte des nach Frankfurt zur Kaiser­ krönung abgesandten Karl Heinr. Langs (AW, a. C. R. 11A 10/2); Retchsgräfltches Conferenz-Protocoll bei der Kaiserl. Krönung de anno 1790 (Haudschr., AW, III 15/23C); Jäger, Wahl- und Krönungsdiarium Kaiser Leopolds II. (gedr.; Frank­ furt 1791); Protokolle der Conferenz der kurfürstl. Wahlbotschafter (St.A.M., K schw. 620, Nr. 376); M&noires du Comte de Bray (Paris 1911) I, 96—130.

S. 196—205: Allgemeine Schilderung der Personen und Zustände in Wallersteiu. S. 196: Ankunft in Wallerstein: Zwischen 6. und 19. Sept. 1790; am 6. September fuhr Laug in Wien ab (AW a. C. R. IIA, 10/5 Nr. 39: Berichte Stubenrauchs), am 19. traf er bereits in Frankfurt ein (AW, Berichte Langs aus Frankfurt).

Der neue Herr: Nicht Aloys II. von Oettingen, dessen Dienste Lang vor drei Jahren verlassen hatte, wie Heigel irrtümlich »nnimmt1), sondern dessen Vetter Kraft Ernst von Oettingen-Wallerstein, Langs erster Landest Herr, den wir in unserm ersten Teil (Kap. I, S. 4f., 7f.) ausführlich charakteri­ sierten. Persönlich hatte ihn Lang von ferne kennen gelernt als Bibliotheks­ gehilfe seines Oheims in der fürstlichen Bibliothek zu Hohenaltheim 1780,81. Sein „Umhertreiben in den Stunden der Nacht", seine Gewohnheit, nachts zu arbeiten und Audienzen zu geben, findet sich in den Akten durchaus be­ stätigt. So notiert sich z. D. einer seiner Sekretäre: „Geldaktea ins SchlofZimmer" (Pers.-Akten Kraft Ernsts 154), und der Hofkassier schreibt am 30. Nov. 1791 an den Hofrat Marschall v. Diberstein: „daß Ew. Hochwohl­ geboren nicht gestern schon eine Antwort ... erhalten haben, war meine Abwesenheit schuld, und daß ich früher nicht als in verwichener Nacht bey Serenissimo Audienz suchen konnte." (AW, III 6/13c.) ©. 197: Regierungssystem Kraft Ernsts: Patriarchalischer Abso­ lutismus; die Kollegien mit ihrer schwerfälligen Umständlichkeit sind zu bloßen beratenden Mittelstellen herabgesunken, die eigentliche Regierung ist durchaus der Fürst selber, von einigen Räten und Sekretären beraten, die gerade sein Vertrauen genießen; er dirigiert persönlich alles selber vom Schulwesen bis zum Hammelkaufen: er bestimmt von seinem Kabinett aus die Lebensmittelpreise und die gerichtlichen Strafen (AW, Polizei­ akten 1790 ff.; die Regierung hat nur zu berichten, er bestimmt dann persönlich die Strafe, z. B. für zwei streitsüchtige Weiber: „die Strafe soll 100 fl. seyn, davon die Schwägerin 50 fl. ..., die andre 50 fl.; gar keine Vorstellungen annehmen, alles executieren; die Schwägerin spürts ihr Lebtag; wenn eine Vorstellung: Neherin 2 jähre schanzen", AW, III 14/5b); er bestimmt persönlich die Verfügungen an die Hofkasse (als sich Lang beim Hofkassier Linsenmaier über unregelmäßige Bezahlung beschwert, wendet sich dieser an den Fürsten, da „ohne Serenissimi schriftlich oder mündlich gnädigsten Spezial Befehl bey der Hofkasse mit versagtem Lang nicht ab­ gerechnet werden kann", AW, III 6,7b); er bestimmt persönlich die Dienst­ besetzungen und Entlassungen, z. D. „notificetur ad Collegia die dimission des Petersen, dann von ihm der revcrs, daß er weder gegen mich processiren, noch je gegen hier dienen, dann Linsenmaier ihm all sein Gut­ haben ... mir alles vorlegen u. wenn er nit's geld hat, mirs sagen, damit ichs ihm gebe" (AW, Pers.-Akten Kr. Ernsts 155) oder Replik auf eine Beschwerde der Regierung über den Sekretär Haus: „dem Secr. Haus eine Kopie, sich rechtfertigen, wenn er will; dabei aber die Dimission, daß er wohl fühlt, daß einer, der so schnöde über seine Pflichten hinausgeht, nit mehr dableiben und ich ihn nit mehr behalten kann..." (AW, III 5/262). Bestimmt waren all diese Notizen für einige wenige Räte, die sich im DerH Aus drei Jahrhunderten, Wien 1881, S. 219; die Bezeichnung Langs als „Glücksjäger ohne moralisch-ästhetische Prinzipien" ist als» wenigstens an dieser Stelle nicht gerechtfertigt.

92 trauen des Fürsten über die Kollegien zu einer Art Sonderstellung zu er­ heben wußten, wie der Finanzkammerdirektor Strelin oder der Hofrat von Belli, noch häufiger aber für S. 198: die vier Kabinetts- und Hofsekretäre des Fürsten, die, gänzlich unabhängig von den Kollegien, die eigentlichen Ausführungs­ organe seiner selbstherrlichen Entschlüsse, seine Berater und Handlanger in den täglichen Geschäften waren. Der älteste unter ihnen war Chamot, der in langjährigem Zusammenarbeiten mit dem Fürsten sich dessen persön­ liches Vertrauen erworben hatte (seine sehr intime Korrespondenz mit dem Fürsten 1778—1792: AW, Pers.-Akten Kr. Ernsts 107); fraglos der tüchtigste war Ludwig, ein fähiger Kopf, geschäftsgewandt und von gesundem, selbständigem Urteil; er hatte dem Fürsten eine Menge kleiner, persönlicher Dienste zu leisten, besorgte den größten Teil der französischen und politischen Korrespondenz, erhielt alle besondern, schnell auszuführenden Arbeiten, Geschäftsaufträge, Anfertigung von fürstlichen Erlassen ic. und wurde auch zu wichtigeren Missionen nach auswärts verwandt (AW, Pers.-Akten Kr. Ernsts: polit. Korrespondenz, Rechnungen, Geschäftssachen ic.); der dritte der Hofsekretäre, Häuf, verdient vollständig die Geringschätzung, mit der Lang von ihm spricht: er war tatsächlich nur auf „höhere Emp­ fehlung" — durch den badischen Ministerresidenten zu Wien, Herrn v. Stock­ meyer — nach langen Verhandlungen mit seinem Vater in den fürstlichen Dienst gekommen (1784), mit dem Auftrag, einen Teil der deutschen und französischen Korrespondenz, sowie Arbeiten in der Regierungskanzlei zu übernehmen; vorher aber sollte er erst ein Jahr nach Frankreich gehen, um besser Französisch zu lernen; 1787 bat er im persönlichen Dienst des Fürsten verwendet zu werden, da er in der Registratur wieder vergesse, was er gelernt habe; Anfang 1790 fiel er in Ungnade, da er sich an einem gesetzwidrigen Getreidehandel beteiligte; in ebenso albernen wie servilen Entschuldigungsschreiben sucht er sich zu rechtfertigen, der Fürst vermerkt auf einem derselben: „... ich hätte ihn doch fortgeschickt, wenn ich nit Rück­ sicht auf meine Schwiegereltern, die ihn gebrauchen, genommen hätte"; als dann im September 1790 die Regierung sich über ihn beschwerte, daß er trotz energischer Monierung ihm übertragene Registraturarbeiten nicht anfertige, replizierte Kraft Ernst, daß „einer, der so schnöde über seine Pflichten hinausgeht, nit mehr dableiben" könne, und forderte die Regierung auf, einen Ersatz vorzuschlagen; es scheint aber, daß die Regierung mit ihren Vorschlägen kein Glück hatte: Häuf blieb noch fast drei Jahre; im Juni 1793 wurde er entlassen (Pers.-Akt des Hofsekr. Häuf, AW III 5/262). — Der vierte und jüngste Hofsekretär war Lang selber. S. 199: Der Hofsekretär Lang und seine Tätigkeit: Auch seine eigene Tätigkeit gibt Lang durchaus richtig an. Ernennungsdekret als Hofsekretär vom 27. Jan. 1791 (AW, Pers.-Akt Langs III 6/7b): „Von Gottes Gnaden, Wir Kraft Ernst ... demnach wir auf die uns aagerühmte Fähigkeit und andre gute Eigenschaften des Candidati Juris K H. Lang gnädigst geruhet, denselben einsweilen als Unsern Hof Sekretair mit einem

jährlichen von dem emgetretteuen Jahr an als Termine a quo anfangenden Gehalt von 400 fl., worunter jedoch Kost, Hausmieth und andere sonst hin und wieder gewöhnliche Naturalien mit inbegriffen sind, anzustellen, demselben neben denen übrigen Geschäften, die Wir ihm aufzutragen für gut finden werden, besonders die Besorgung Unserer bey den höchsten Reichsgerichten theils wirklich anhängigen, theils in der Folge noch in Gang kommenden Rechtsangelegenheiten übergeben, in Ansehung der zu sammeln­ den Materialien, Aktenstücke, Urkunden, Extrahirung aus den Akten ic. auf Unsern jedesmaligen gnädigsten Befehl... anweisen; als lassen Euch alles diess zur Wissenschaft ... Decretum, Wallerstein den 27. Jänner 1791." (Mit Kraft Ernsts Unterschrift und Siegel.) — Die wichtigsten staatsrechtlichen und reichsgerichtlichen Angelegenheiten dieser Jahre: i. Der Dachstuhler Prozeß: Lang schreibt irrtümlich Oachstadt; siegreich für Wallersiein ent­ schieden am 15. Juli 1791; Näheres s. unten zu ©. 216—218! — 2. Der Streit um die Fleckensteinischen Lehen: Bestätigt Löffelholz, Oettingana, ©. LVf. und AW, Prozeßakten. — 3. Der Streit mit Neresheim: Be­ stätigt Löffelholz, Oettingana, S. XL, AW, zahlreiche Akten über den beim Reichskammergericht in Wetzlar anhängigen Prozeß. — 4. Der Streit mit Nördlingen: Den jahrhundertealten Streit mit Nördlingen hatte Kraft Ernst 1789 durch eine Getreideverkaufssperre verschärft; AW, I 6/4 und a. C. R. Il A 10/11 Akten betr. die Nörblinger Fruchtsperre (Verord­ nungen, Kammerprotokolle, Kastenamtsberichte, Berichte über die Ver­ handlungen in Wetzlar samt dem aktenmäßigen Beweismaterial für den Prozeß). — Lang hatte bei all diesen Angelegenheiten nicht die gerichtliche Vertretung Wallersteins, sondern er hatte aus den Akten das Beweis­ material beizuschleppen und die juristischen Deduktionen vorzubereiten oder zu entwerfen; seine, zu allen vier Prozessen vorhandenen, klaren und um­ fassenden Arbeiten beweisen zugleich, daß er die Schätze des Archivs in vollem Umfang benutzen durfte.— Ernennung zum „Substitutus Fisci“ am 19. Nov. 1791 (Pers.-Akt.). — Der Auftrag zur Beobachtung der Nördlinger Schranne wurde natürlich nur mündlich erteilt und ist aktenmäßig nicht nachweisbar. Die Personalangaben der Teilnehmer am „Kränzchen" sind zutreffend. S. 200—202: Lebensweise Kraft Ernsts: Über die nächtlichen Audienzen s. oben die Ausführungen zu S. 196! Besser als alles andere illu­ striert die seltsame Lebensweise Kraft Ernsts eine humoristische Bittschrift der Hofkavaliere in französischen Reimen um Abänderung seiner Lebensart (AW, Pers.-Akten Kr. Ernsts 2od); »Douter on ne peut pas Prince SMnissime, L’heur de vos repas est par trop tardissime. Du paisible Morphöe goutons-nous les bienfaits?

La nuit en jour changöe Pour vous a des attraits; et quand I’astre du jour embellit la nature Vous vous couchez toujours dessous la Couverture.

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ä Theure du diner Faut-il manger la soupe? alors du döjeuner Vous demandez la coupe. est il temps de dormir? Vous vous mettez ä tadle et ce cruel martir Pour vous est agrdable . . . Docile ä ces remords accordez, je vous prie,

ä votre cour en corps Un changement de vie ... Le plus charmant de coloris Lette couleur qu’a le jeune äge Accompagn£ de doux souris Animera votre visage. L’embonpoint d’un chanoine Sürement vous aurez et gras tout comme un moine Bientöt vous deviendrez . .

Die Hofkavaliere führen dann als ihre fingierte Fürsprecherin »la charmante Sainte« ein, offenbar die Tochter des Fürsten, »la chere Fritzerle« wie er sie selber nennt, und schildern humoristisch die entsetzliche» Folgen der verkehrten Tageseinteilung am Hof. Infolge des späten Essens bekomme das sonst so brave Kind einen Hunger, daß es Ortolane, Poularden und Indiane wie Krammetsvögel verschlinge, und infolge dieser voracite werde sie unfehlbar noch der Schlag treffen.

. Prince, arretez ce grand scandale, mais arretez le coup sur coup, faites qu‘ä midi Ton avale et qu’on n’ait plus boyaux de loup . . . Veuillez, Prince, notre avantage et de changer ayez courage; Sengez que vous etes chretien, On ne prend le ciel pour rien . . .“ Das Gedicht mag wohl bei einem der rauschenden Hoffeste im engsten Kreis vorgetragen worden sein, wo ausgelassene Laune auch dem Fürsten gegenüber einmal ein freieres Wort wagen durfte. Es ist für den ganzen Ton, auf den dieses kleinfürstliche Hofleben abgestimmt war, ebenso cha­ rakteristisch, wie für die speziellen Sonderbarkeiten Kraft Ernsts und — für das klassische Französisch der Hofkavaliere. ©.203—205: Arbeitsweise Kraft Ernsts: Auch die Schilderung der Audienzen und der ganzen Arbeitsweise Kraft Ernsts — die erste un­ verkennbar satirisch zugespitzte Stelle in dem hier behandelten Abschnitte — finden ihre Bestätigung in den Aktenbeständen des Wallersteiner Archivs: die hohen Papierstüße vom Schreibtisch Kraft Ernsts sind noch in mehreren Exemplaren erhalten (Pers.-Akten Kr. Ernsts 154, 155 ic.), redende Zeug­ nisse von der eminenten persönlichen Arbeitsleistung des klugen und selbst­ herrlichen Fürsten und von der Systemlosigkeit und Flatterhaftigkeit dieser Arbeit zugleich. In toller Buntscheckigkeit liegen da noch die Zettel und Berichte übereinander, von Disitenkartengröße bis zu Folioformat, Rech­ nungen und Geschäftssachen, Entwürfe zu Korrespondenzen und Erlassen, Gesuche Untergebener und vor allem Anfragen und Antworten, die sich die Hofsekretäre für die Audienzen notieren, amtliche und geschäftliche Gegen

stände dicht neben irgendwelchen fernliegenden Dingen, die den Fürsten gerade interessiere» — fast auf allen aber in irgendeiner Ecke die kleinen, spitzig-steilen Schriftzüge, mit Tinte oder Silberstift: „in wenigen treffenden Worten" die Entschließungen des Fürsten, deutsch und französisch und, wenn es auch die Sekretäre nicht verstehen sollen, mit englischen Brocken untermengt, in­ haltlich immer klar und bestimmt, zuweilen barsche Zurechtweisungen an die Kollegien (»ad collegia: nach dem ... von Kaiser und reichshofr. bestättigten Hauptvergleich gibt's kein ä parte oett.-oett. und ä parte oettWallerst., sondern alles oett.-oett. und oett.-wallerst, welches allen aemtern zu notifiziren", auf einem Bericht der Regierung, III 5/263), zuweilen Äußerungen ernster Regentensorge, aus denen die ganze Rot jenes Duodezfürstentums spricht, wie aus den trocknen Sätzen: „Die Furcht, nach u. nach immer tiefer in Schulden zu verfallen, die daraus zu be­ fürchtende u. für das Haus, für das Land u. für meine eigne persoa höchst nachtheiligea folgen, haben mich ... bewogen, selbst ausführlich in das innerste meiner revenuen sowohl als meiner ausgaben ... hineinzugehen", und daneben wieder halbfertige Drieflein von Kammerzofen, mitten im Satz abbrechend, auf der Rückseite die Notiz Kraft Ernsts: ,,moi ad acta: I've taken these [!] Paper to the fair Cunegunde.“ S. 205: Irgendwelche „Controle der Geschäfte" war bei dieser Art zu arbeiten natürlich unmöglich. Es war auch gar nicht Kraft Ernsts Art, sich kontrollieren zu lassen. Er entschied, und er teilte die Arbeiten aus, und wenn es etwas Besonderes zu tun gab, so bekam's „der Ludwig" oder „der Chamot", und die andern erfuhren nichts davon. Und der ehrliche Kanzlist Weichselbaum, dessen Name fast unter allen offiziellen Schriftstücken jener Jahre steht, wußte wohl, warum er die Herrn Hofsekretäre nicht gern in seine Kanzlei ließ. — Lang verstand es schon damals, vertrauliche Schriftstücke zu erspähen (Dgl. Der. Langs aus Frankfurt vom 5. Okt. 1790, AW, a. C. R. HA 10'2 Nr. 510). Daß Kraft Ernst keinem der Diener in irgendeinem Geschäft eine vollständige Übersicht oder auch nur Einsicht in die Tätigkeit des andern gestattet habe, um dadurch alles selber in der Hand zu behalten, behauptet Lang schon bei der Schilderung seiner Dibliothekstätigkeit als Gehilfe des Oheims in Hohenaltheim (I, 57 s.) und führt darauf die Unregelmäßigkeiten in den Bücherbestellungen zurück, infolge deren manche Werke „nicht doppelt, sondern achtfach" vorhanden gewesen seien. Man ist geneigt, dies für eine der Langschen Übertreibungen zu halten — ein Promemoria vom 29. April 1785, laut dessen die fürstl. Bibliothek damals nicht weniger als 3446 Doubletten enthielt, belehrt uns auch hier eines Besseren (Personalakten Kraft Ernsts 71: Verkauf von Bücherdoubletten). — Für die Geschichte von dem armen Teufel im Kerker von Harburg ließ sich ei» Beweis in den Akten nicht finden, widerlegt ist sie damit natürlich nicht. Eie mag bei der Auswahl der Strafen, zwischen denen die Regierung ge­ schwankt habe, etwas übertrieben sein — möglich ist sie durchaus. Ganz «nangängig ist es, die Verhandlungen bei der Gefangennahme Wekhrlins gegen Laag ins Feld zu führen, wie das Gottfried Böhm in seiner gründ-

96 lichen und für die Wallersteiasche» Verhältnisse aufschlußreichen Schrift über Wekhrlin tut1). Daß die Wallersteiner Regierung in einem Prozeß, der jeden Augenblick zu einem offenen Konflikt mit dem alten „Erbfeind" Nördliagen führen konnte, nicht lässig war, ist selbstverständlich. Und abgesehen davon: ein Prozeß, bei dem fortwährend der Fürst persönlich in den Gang der Verhandlungen eingreift, bei dem „die Untersuchung im Sand ver­ laufen zu sein scheint (Böhm) und der doch damit endet, daß der Delinquent ohne ein eigentliches Urteil vier Jahre lang gefangen gehalten wird — der ist doch wahrlich nicht geeignet, die Langsche Darstellung zu widerlegen! Langs Schilderung der Personen und Zustände in Wallerstein läßt sich fast in allen Einzelheiten kontrollieren und gibt ein durchaus richtiges, nur ganz zuletzt leise satirisch gefärbtes Gesamtbild.

S. 206—214: Die Frankfurter Kaiserkrönung.

S. 206: Langs Ankunft und Auftrag in Frankfurt: Kraft Ernst war 1774 Fürst geworden, ohne damit eine Virilstimme im Fürstenrat zu erhalten. Er gehörte als Vorsitzender der „Schwäbischen Dank" dem Grafentag an, der insgesamt nur vier Stimmen (Kuriatstimmen) im Fürstenrat hatte. — Lang wurde nicht etwa als Vertreter Kraft Ernsts im Grafentag nach Frankfurt geschickt, sondern nur als Agent und Bericht­ erstatter. Am 19. September kam er in Frankfurt an, mit Empfehlungs­ schreiben Kraft Ernsts an seinen Bruder, den Grafen zu Qttingen-Daldern, an den Reichserbmarschall Grafen von Pappenheim, den Grafen von Solms und den „Fürstl. Jsenbnrgischen Regiernngs- und Wetterauischen Direktorial­ rath Pietsch, der bei den Conferenzen und sonst überall die Feder führt" (Bericht Langs vom 21. Sept. 1790; AW). Der letztere machte Lang zu seinem Sekretär, der infolgedessen immer frühzeitig authentische Nach­ richten über die Vorgänge am Grafentag erhielt (ebenda). Das Archiv zu Wallerstein besitzt ein handschriftliches Exemplar jenes „Reichsgräflichen Conferenzprotokolls bei der Kaiser!. Krönung de anno 1790" (AW, III 15/23C), das in einem ersten Teil die Protokolle aller Sitzungen (durchwegs von Pietsch gezeichnet), in einem zweiten Teil offizielle Beilagen (Rech­ nungen, Berichte etc.) enthält und wegen seines offiziellen und intimen Charakters eine Quelle ersten Ranges ist. Wir bezeichnen es im folgenden kurz mit Pr. — Über die Beteiligung Langs am Krönungszug ließ sich nichts Authentisches feststellen; ein Bericht Langs über den Krönungstag selber ist nicht mehr vorhanden (vermutlich hat er ihn mündlich erstattet), die offiziellen Zugslisten nennen nur die dii maiores mit Namen. — Daß Lang im „Weidenhof" wohnte, berichtet er im ersten Bericht vom 21. Sept. 1790. S. 206—209: Die Verhandlungen beim Grafentag: „Wegen des Präbicat Wir wollen die Herren Churfürsten ein Collegial-Vorschreiben

*) G. Böhm, L. Wekhrlin (München 1893) ®-187.

au den Neuerwählten Kaiser erlassen" (Der. Längs, 21. Sept. 1790). Die Grafen hatten sich mit der Ditte, dieses Prädikat führen ju dürfen, au die Churfürsten gewandt in einem 4% Foliodruckseiten langen Schreiben, dessen urkundliche Degründung 19 Foliodruckselten füllt (Jäger, Diarium S. 208 ff.). @. 206/07: Das Pappeaheimsche Gesuch. ?r., 4. Sitzung, 26. September 1790: „... Sodann brachten tzochdieselben sGraf Reuß-Lobensteinl das Gesuch des Herrn Erbmarschalls Grafen von Pappenheim um Zu­ lassung derer hier anwesenden Herren Sohns Neveu zu der bevorstehenden gräfl. Reichs Funktion in conferentia vor. Nach darüber angestellter Deliberation wurde beschlossen, dem H. Grafen von Pappenheim die Antwort dahin ertheilen zu lassen, daß man zwar für seine Person u. Haus alle schuldige Achtung hege, weilen aber die begehrte admission alleinig die Folge der statutenmäßig geschehenen Reception in irgend ein retchsgräfliches Collegium seyn könne, die dermalig versammelten Herren Grafen hierzu nicht ermächtiget und denen Collegiis hierinnen vorzugreifen nicht im Stande seyen, so glaubte» sie hiedurch hinlänglich entschuldiget zu seyn, wenn sie sich dermalen für gedachtes sein Gesuch nicht willfährig erklären konnten." Richtig ist also die Tatsache, die Lang berichtet. Richtig ist der wesentliche Zwar-aber-inhalt des Antwortschreibens wiedergegeben, richtig ist seine wortreiche, lächerliche Form charakterisiert. Satirisch ist nur die Darstellung der ganzen Episode. Indem Lang deren Lächerlichkeit gleichsam pointiert, indem er z. B. die Dezeigung „aller schuldigen Achtung für das Haus Pappenheim" para­ phrasiert „selbst in dem Fall, daß der Herr Erbmarschall zum römischen Kaiser u. König von Germanien gewählt werden wollte", bleibt er zwar dem Buchstaben der Wirklichkeit nicht treu, aber er erweckt damit erst zu vollem Leben, was an Komik und Satire gleichsam ungeboren in dem ganzen Vorgang ruht — und er salvtert dazu sein historisches Gewissen durch ein vorangestelltes „Ungefähr". Genau so liegen die Dinge beim zweiten Verhandlungsgegenstand, über den Lang berichtet, beim S. 208/209: Streit ums Schüsseltragen. Über den satirischen Charakter der Darstellung läßt Lang keinen Augenblick im Zweifel — vom einleitenden Bild des „gräßlichen Sturms" bis zu den „Küchenzetteln von Kaiser Rubolphus her" am Schluß bekennt er sich ja mit jedem Wort alö Satiriker! — und sobald er eine bestimmte Zahl nennt, fügt er hinzu „wenn ich nicht irre". Die angeführte Zahl ist übrigens richtig. Über die historischen Grundlagen der Langschen Erzählung unterrichtet uns eingehend das reichsgr. Conferenzprotokoll: In der Sitzung vom 26. September wird von den anwesenden Grafen beschlossen, daß bei der „Reichslunction des Speisen­ tragens keiner der Herren Reichsgrafen anderst als in reicher Hofkleidung erscheinen solle", und bann eingehend über die Reihenfolge beim Speisen­ tragen verhandelt: „... Nachdem nemlich der Herr Erbtruchseß Graf zu Zeil-Trauchburg, welcher vi officii jedesmal die erste Schüssel trägt, auch in der Liste zum Speisentragen vorangesetzet worben, so sollen sodann sowohl in diesem als in der Contucts (sic!) Liste nach der damaligen Ordv. Raumer, Oer Ritter von Laag.

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98 mmg deren Collegien Wetterau, Schwaben, Franke« und Westphalen tuerst sämtlichen regierenden Herrn, hernach aber in gleicher Ordnung den nicht regierenden Herrn Grafen, und zwar beyderseits übereinkunftsweise u. mit der Vermahnung secundum senium physicum gesagt werden, daß sothaae fteiwillige Übereinkunft ohne Folge und jedem einzelnen Herrn u. dessen

Haus an seinen sonstig kompetirenden Rechten ganz unnachtheilig seyn soll. ... Nach diesen Beschlüssen wurde mir aufgegeben, die Listen dem, nächst zu fertigen, zu solchem Behuf aber die Zahl der Speisen auf der Keyserl. Krönungstafel bey der Behörde zu erkundigen, u. hernach die fungierenden Herrn, wann «. wie viel selbige Schüsseln zu tragen haben, nach Nummern zu bemerken..." In der nächsten Sitzung (vom 6. Oktober) wird dann die Sache weiter verhandelt und schließlich dahin geregelt, daß „die einzelnen Herrn nach den Collegiis alterniern, bis keine andern als aus dem nemlichen Collegio vorhanden sind, welche sodann ohne weiters mögliche Ab­ wechselung nach dem Alter auf einander folgen". Aber neue Schwierigkeiten ergeben sich, da man von der Hofküche die Zahl der Dessertteller nicht genau erfahren kann und fürchtet, es möchten schließlich „weniger Herren als zu tragende Schüsseln und asietten vorfinblich seyn". Man beschließt daher, „die jüngsten acht apanagirte Herren Grafen en reserve" aufzustellen. Das dem Protokoll als Beilage 7 angefügte Verzeichnis (Pr., 2. Teil) zählt bann tatsächlich 36 „große Schüsseln" auf, aber 37 Grafen, von Nr. 31 an lauter Schwaben, „maßen ... keine andere ... vorhanden gewesen", und als Anhang für die kleinen Dessertteller acht „apanagirte Herren", nach den Kollegien wechselnd, so daß richtig wieder ein Westphälinger am Schluß ist. Lang unterlaufen also bei seiner Schilderung mancherlei Irr­ tümer (z. B. Reihenfolge der Kollegien), das Wesentliche der ganzen Episode gibt er durchaus richtig wieder. 6.209—212: Die Vorgänge am Krönungstag: Die sachliche Kritik dieses ganzen Abschnitts ist sehr einfach durchzuführen an der Hand des 1791 gedruckten, von Jäger verfaßten offiziellen Wahl- und Krönungs­ diariums Kaiser Leopolds I I., das von Seite 315—322 eine wörtlich dem Protokoll des knrfürstl. Wahlkonvents entnommene Schilderung des Krönungsaktes enthält und für alle und jede Einzelheit der Langschen Darstellung die historischen Grundlagen aufweist, von den „herabwürdigenden Ceremonien", denen sich der Kaiser unterwerfen mußte, bis zum drei­ maligen Fiat, vom theatralischen Kostüm des Kämmerers Dalberg („so in einem völligen Ritter- und Tournierharnisch erschienen") bis zur Ge­ brechlichkeit der Kaiserkrone (bei welcher „der Dogen ... losginge, wenn man dieselbe dabey anfassen wollte"; S. 317), vom Streit des Pöbels um die Bretter und Tücher, über die der Kaiser gegangen war, bis zum eigen­ händigen Servierdienst des Herrn Erbtruchseß. Dabei ist noch zu konstatieren, daß das Jägersche Diarium die Tendenz hat, Unerfreuliches zu übergehen und das Ganze möglichst feierlich und würdig erscheinen zu lassen. Es ver­ schweigt zum Beispiel völlig das geradezu heillose Durcheinander bei der Rückkehr des Zuges aus der Kirche, von dem das reichsgräfl. Konferenz-

Protokoll ausführlich berichtet (Sessio VIta und Bell. 14) und demgegen­ über der Langsche Ausdruck „in etwas eilig drängender, daher auch krummer und verwirrter Prozession" fast ein Euphemismus ju nennen ist. Den vor, nehmen, etwas schöngeistig angehauchten Grafen Bray erinnerte daS Geraufe von Gardisten, Männern und Frauen um die Bretter der einflürzenden Küche an die wüstesten Auftritte während der Pariser Straßenkrawalle und an bas Wüten jener „schauderhaften Weiber, die Frankreich vor der Welt entehrt haben" (Memoires du Comte de Bray I, 118); dieser französische Aristokrat sah die Vorgänge natürlich von einem ganz andern Standpunkt aus als Lang, um so schwerer wiegt es, daß auch seine Schilderung in allem Tatsächlichen mit der Langs übereinstimmt. S. 2i2 bis 214: Auch für die Ereignisse der folgenden Tage bieten Diarium, Protokolle, Berichte und Brays Memoiren überall die Belege: „Moatagsden 11. besuchten sämtl. Höchste Herrschaften... das Hessische Lager bey Bergen... Das Abenbmahlwarb auf dem prächtigen churfürstl. trierischea Jachtschiffe eingenommen. Dom Ufer des Mainsiromes bis zu dieser Jacht war ein mit Laubwerk bedeckter, herrlichst erleuchteter Gang angebracht. Fünf andre große Jachten ... waren sowie die Leibjacht selbst auf das vor­ trefflichste illuminiert" (Jäger, 333 f.). — Huldigung der Judenschaft am 10. Oktober (Jäger, 332). — Don dem gewaltigen Fremdenstrom in Frank­ furt gibt Bray eine anschauliche Schilderung. — Don der Furcht der Herren Churfürsten vor Revolution und französischen „Emissarien" wußte Lang schon in seinem ersten Bericht dem Fürsten zu erzählen; die anwesenden Emigranten zählt Bray dem französischen Gesandten in Regensburg nament­ lich auf und berichtet wiederholt ärgeklich über das Gebühren dieser Herren, die ein so gewaltiges Geschrei machen über ihre ioo Meilen entfernten Feinde. — Auch das große Gefolge des Kurfürsten von Mainz erregte schon damals Langs Aufmerksamkeit (Ber. vom 5. Oktober); Jäger zählt ein Gefolge von ca. 230 Menschen, ohne die Mannschaften der Schweizer- und Leibgarde; die Zahl 1500 ist auf alle Fälle zu hoch gegriffen. — Über die „Beschwörun­ gen" des Reichsprofossen ist in den Akten natürlich nichts zu finden. S. 214: Langs Rückkehr: Am y. Oktober war die Krönung, am 15. Oktober unterzeichnet Lang bereits wieder in Hohenaltheim bei Waller­ stein ein Gesuch an den Fürsten (AW, Pers.-Akt Langs). — Unter den Pers.Akten Kraft Ernsts 132 finden sich zwei Blätter, geschrieben und unter­ zeichnet von Kr. Ernsts Kammerdiener Rau, das eine vom Januar 1791, überschrieben „Rechnung über daß von Cassel hierhergekommene und mir übergebene Geld. Ausgab laut Quittungen", das andre verrechnet un­ mittelbar anschließend Ausgaben vom Januar bis Juni 1791 und ist über­ schrieben „Ausgab von dem durch den H. Secretair an mich übergebenes Geld". Unter den Ausgaben befindet sich der Posten „An de» Secretair Lang 61 fl. 33 kr." — das war der Rückstand seiner Frankfurter Reisekosten (Pers.-Akt Langs). Oie beiden Schriftstücke sind nicht nur als Bestätigung dieser einzelnen Notiz Langs von Interesse, sondern sie werfen ein neues Schlaglicht auf die ganze Regierungsweise des Fürsten, der eine derartige

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Summe seinem Kammerdiener überläßt, der bann über die Verwendung derselben ju privaten und öffentlichen Zwecken verfügt. Und daß es sich wirklich um Hunderttausende handelte, ergibt sich daraus, daß Rau bis zum Juni 1791 bereits 165 598 fl. als verausgabt verrechnet. Auch die Schilderung der Frankfurter Kaiserkrönung also erweist sich in allem Tatsächlichen, was Lang berichtet, als richtig. Ihre Eigenart aber beruht auf der subjektiven Gestaltung dieseTatsachenmaterials, über deren Art und Berechtigung unten bei der Zu­ sammenfassung noch zu reden ist. —

E. 215—291: Persönliche Erlebnisse in Wallerstein.

Es ist natürlich nicht tu erwarten, daß für alle diese persönlichen Er­ lebnisse, Anekdoten, Gespräche k. aktenmäßige Beweise sich erbringen lassenEs handelt sich vielmehr darum, nachzuprüfen: 1. sind die Tatsachen, an die sich diese Anekdoten knüpfen, richtig? und 2. entspricht das in ihnen gegebene Gesamtbild dem, was wir sonst von den Personen und Zuständen in Wallerstein wissen? S. 215: Ernennung zum Hofsekretär und Gehaltsverhält­ nisse: Ernennungsdekret am 27. Jan. 1791 s. 0. Bemerkungen zu S. 199 der Memoiren! — Am 8. April 1792 meldet der Hofkassier Linsenmeyer (gelegentlich der Entlassung Langs), die 400 fl. für das Jahr 1791 habe Lang „laut seiner vier Quittungen" erhalten; daß er sie nicht rechtzeitig erhielt ergibt sich aus der Bemerkung Linsenmeyers, von dem Gehalt für das Jahr 1792 habe er bereits „vor einigen Monathen" 10 fl. „ab­ schlägig erhalten, und zwar um deswillen, weilen er seinem Vorgeben nach anfänglich 5 monath lang keine Besoldung erhalten habe". Wäre das „Dor­ geben" unrichtig gewesen, so hätte die bedrängte Hofkasse daraufhin kaum die Abschlagszahlung erfolgen lassen! Außer diesen 10 fl. hatte Lang vom 1. Jan. bis 8. April 1792 noch keine Besoldung erhalten! (Langs Pers.-Akt). S. 216—218: Entsendung nach Wien: Die Darstellung der Dachstuhler Angelegenheit, welche die Entsendung veranlaßte, ist richtig (Löffel­ holz, Oettingana; W, Reichshofratsprotokolle 1791); über die Entsendung Langs ist in den Akten nichts zu ersehen, die Berichte der Wallersteinischen Agenten in Wien, v. Hiesberg und v. Stubenrauch (AW, a. C. R. IIA 10'5 Nr. 38 u. Z9, AW, III15/150) setzen gerade in der einschlägigen Zeit (1791) aus, die Korrespondenz tzinsbergs mit Kraft Ernst (Pers.-Akten 115) beschränkt sich auf die Jahre 1794 95. Einem Brief Hinsbergs vom 10. Juli 1790, worin er bittet, die Sollizitgtion der beim Reichshofrat anhängigen Dachstuhler Sache möge ihm übertragen werden, ist ein nicht näher datierter, von Langs Hand geschriebener Antwortentwurf des Fürsten beigeheftet, der die Stelle enthält: „da ich noch gar nicht entschlossen bin, ob und wann ich jemand von meinen Leuten irgends abschicken werde..." (AW, a. C. R. IIIA7). Entschieden wurde der Prozeß zugunsten Oett.-Wallersteins am 15. Juli 1791 (Reichshofratsakten). Die drastische Komik in der Schilderung von Langs Rückkehr aus Wien ist viel zu vollendet, um in jedem Wort und

jedem Strich »historisch" zu fein. Aber sie verzerrt nicht. Eie verlebendigt uns das ganze Milieu dieser Neinfürstlichen Welt mit ihrer Enge und Behag, lichkeit und die Person des Fürsten mit seiner Lebhaftigkeit und Leutseligkeit und seiner Art gutmütig,schalkhafter Verschlagenheit — besser als alle Aktenexzepte und nüchtern „objektive" Deduktionen. 6.218/219: Privatbeschäftigungen: Die „Sammlung archivari, scher Alterthümer und historischer Schnurren", die sich Laag anlegte, fand so sehr das Interesse des Fürsten, daß er sie Lang bei seinem Abgang um i2 Carolins (= 132 fl.) abkaufte (Pers.,Akt Langs; Promemoria Linsen, meyers vom 17. April 1792). — Langs wissenschaftliches Interesse konzentrierte sich damals auf die ältere deutsche Rechts, und Steuergeschichte; 1791 gab er zunächst seine schon in Wien entstandene Arbeit über den Wucher heraus, seine 1793 erschienene Geschichte der deutschen Steuerverfassungen fußt großenteils auf Arbeiten der Wallersteiner Zeit und verrät vor allem auch gründliche Kenntnis des Wallersieiner Archivs, die Forschungen über die Gaue blieben bis an sein Ende seine besondere Liebe. S. 219—223: Der Besuch des Archivars Spieß findet sich in der, eigene Aufzeichnungen desselben benutzenden, kurzen Lebensbeschreibung („Lebensumstände des weil. Wohlgeb. Herrn Philipp Ernst Spieß", Bay, reuth 1794) erwähnt: „Nach meiner im Monath März 1791 erfolgten Wiederkunft von Berlin wurde ich von des Herrn Fürstens von Wallerstein hochfürstliche Durchlaucht berufen, um einen Plan zur Einrichtung deS dasigen Archivs zu fertigen, bey welcher Gelegenheit ich abermahls sowohl allda als an andern Orten viel merkwürdiges und nützliches zu sehen bekam" (S. 10). Das Wallersteiner Archiv enthält als Zeugnis des Besuches einen eigenhändigen Brief des Spieß an Kraft Ernst vom 11. Aug. 1791, worin er sich für „das nachgesandte gnädigste Geschenk bedankt (Pers.,Akten Kr. Ernsts 131) und den noch heute wertvollen Spießschen Archivplan. Oie Charakteristik des „sechs Fuß hohen geheimen Archivarius" — der Markgraf Karl Alexander von Ansbach hatte ihn einst für seine „langen Kerls" anwerben lassen — ist in jeder Beziehung, auch was seine wissen, schaftlichen Leistungen anlangt, zutreffend. Über seine musikalischen Lieb, habereien vgl. Lebensbeschreibung S. 11: „Seine glücklichen Compositionen der vorzüglichsten Lieber ... beweisen hinlänglich, daß er es auch in dieser Wissenschaft weit gebracht hatte. Man durfte nur einmal von ihm sein so schön gesetztes „Ruhe sanft ic." oder eine andre von ihm componirte Arie haben spiele» oder singen hören, so erkannte man gleich an ihm den Musikverständigen, der bei einer jeden seiner Compositionen die empfindsamste und harmonischste Seite der menschlichen Herzen zu be, rühren wußte." — Über die treffliche wallersteinsche Hofkapelle unter Beeckes Leitung ist eine Schrift im Erscheinen begriffen?). *) BiS jetzt (1922) noch nicht erschienen; vgl. aber L. Schiedermair „Die Blüte, zeit der Otting. Wallerst. Hofkapelle", Sammelbände der Internat. Mustkgesellschaft IX, Heft 1, 106 ff. (Anmerk d. tzeraasgeber.)

102 Für den Besuch in Kaisersheim lassen sich nur die Worte „sowohl allda als an andern Orten" der oben zitierte» Stelle aus der Spießschen Lebensbeschreibung auführen. S. 223—229: In Ungnade: In dem Driefan Weltmann vom 6. Ok­ tober 1816 charakterisiert Lang die Wallersieiner Jahre mit dem kurzen Satz: „... wie ich, nach Schwaben zurückgelockt, eia halbes Jahr ein Fürsiengünstliog und dann ein Beuagnadeter ward (Deutsche Briefe, Leipzig 1834, S. 98). — S. 223: Für die Zurückweisung reichsgerichtlicher Arbeiten Langs lasse» sich in den Akten zwar keine direkten Beweise, aber mancherlei Anhalts­ punkte auffinden: er hatte die aktenmäßige Vorbereitung des beim Reichs­ kammergericht anhängigen Prozesses gegen Nördlingen; da ihm der Waller­ steinische „Prokurator" in Wetzlar, Zwierlein, die Sache nicht energisch genug betrieb, verfaßte er selbst eine ausführliche „Exzeptionsschrift" und über­ sandte sie unterm 27. April 1791 mit dem dazugehörigen Beweismaterial dem Fürsten; es komme nicht darauf an, schreibt er dazu, „daß dem Gegen­ teil blos mit vielen juristischen Phrasen widersprochen ... sondern daß die Obreptionen specifice dargethan und alles mit Beilagen erwiesen werde"; ob seine Arbeit diesen Regeln entspreche, überlasse er der kompetenten Be­ urtheilung des Fürsten (AW, a. C. R. 11A 10/11 Nr. 17). Eine Antwort auf dieses Schreiben ist nicht vorhanden; seine Arbeit aber ging tatsächlich »ach Wetzlar und wurde am 20. Juni 1791 dort präsentiert, ein umständ­ licher „Nachtrag" zur Langschen Arbeit dagegen, vom 31. Oktober 1791, ist wieder von Zwierlein verfaßt (AW, I 6/4). Ebenso hatte Lang die Vor­ bereitung des Prozesses gegen Neresheim; ein Befehl an die Regierung vom Oktober 1791 aber bestimmt, daß bei allen Neresheimer Sachen „jederzeit der Hoftat und O. Amtmann Köberlin zu vernehmen, auch ihm ...die Verfassung der Schriften zu überlassen" sei (AW, 111A 7 Nr. 564). Endlich ist zweifellos in dieselbe Zeit auch noch der selbstverfaßte Instruktions­ entwurf Langs zu setze», dem der Fürst die Genehmigung versagte (Dgl. dar­ über ausführlich 1. Teil, S. 58 f.). — S. 223—225: Die beiden Tatsachen, zwischen die das Gespräch über die erledigte Hofratstelle eingespaont ist, sind richtig: 1. Der Wallersteinsche Hofrat von Bellt trat im Januar 1792 als „erster Rat und Konsulent" in den Dienst des Reichsprälaten von Weißenau, O.-Amt Ravensburg, über (Diemand, Jahrb. d. hist. Der. villingen 1911, S. 140, Aum. 3) und 2. Lang erhielt die erledigte Hoftat­ stelle nicht. Don der Ausgestaltung des Gesprächs im einzelnen gilt das­ selbe wie oben von der Darstellung der Rückkehr aus Wien. Schon die lachende Selbstironisteruag Langs und die psychologisch feine Zeichnung des Fürsten, der bei all seiner biedern Gutmütigkeit den durchtriebenen Speku­ lanten doch im entscheidende« Augenblick durchschaut und ihn im Moment, «0 er sich am Ziele glaubt, mit einem ungefährlichen, aber kräftigen Kalt­ wasserstrahl überrascht, ließe es als eine Torheit erscheinen, hier von „ge­ hässiger Entstellung" zu reden. Aber fast scheint es, als habe Lang hier seinem verbitterten Herze» schon mehr zugemutet, als eS auf die Dauer ver­ tragen kaun: die folgende Bemerkung über die „unverletzte Kraft der inner»

Stimme" bei gewissen „hohen Herrn" ist die erste des gaujea Abschnitts, bet der die verletzende Schärfe des alten Laag zum Durchbruch kommt, und er vermag auch im folgenden den Ton harmloser Heiterkeit nicht mehr ganz wieberzufiaden. — S. 225—227: Über den Jagdzug »ach Ziemets­ hausen geben die Akten keine Auskunft. Der Satz „nichts sei gleichgültig, was dem Unterthan durch äußerliche Zeichen die Hoheit seines Herrn an­ schaulich machen könne" gehört durchaus in die Gedankenwelt Kraft Ernsts, wie er noch heute zu den Grundsätzen jedes starken monarchischen Selbst­ bewußtseins gehört. — ©. 227—229: Die wachsende Besorgnis deS Fürsten über die Vorgänge in Frankreich und seine Revo, lutionsfurcht läßt sich in Briefen und Akten sehr deutlich verfolgen. Die Briefe seines Bruders Friedrich (Domherr zu Augsburg; Pers.-A. St. Ernsts 84) sprechen zuerst noch halb scherzhaft über „illos Canaillosos Gallos“, an Stelle des Scherzes tritt aber sehr rasch bange Sorge und geheimes Grauen vor der Zukunft. Schon unterm 15. Sept. 1791 ergeht ein „Spezial­ befehl" Kraft Ernsts, betreffend „Aufmerksamkeit auf verdächtige Zusammen­ künfte und das geringste Murren mehrerer Bereinigter oder auch einzelner Daterthanen" (AW, III17/43); 1792—1794 folgen dann in ängstlicher Hast strengste Erlasse an alle Oberämter, Ämter, Bürgermeister x., gegen „geheime Zusammenkünfte, Verbreitung falscher Gerüchte oder Aus­ streuung verderblicher Grundsätze", gegen „was immer für eine Art zweybeutige Aufführung und Reden", gegen „Leute, die sich nicht gehörig legi­ timieren können oder Freiheitsflnn zu verbreiten suchen", gegen unsichere Fremde, „besonders Franzosen". Don vier zu vier Wochen müssen die Ämter darüber Berichte einseadeu, die dann regelmäßig besagen, daß „von dergleichen verderblichen Dingen nicht das geringste" im Ottingischea Vaterland zu verspüren sei (AW, I 18/138 Polizeisachea, Revolution betr.). 1792 fordert schon der Augsburger Bruder Kraft Ernst auf, mit seiner ganzen Familie zu ihm nach Augsburg zu kommen, da dies sicherer sei (Pers.-A. 84); sogar der von Lang erwähnte abenteuerliche Plan einer Auswanderung nach Amerika findet einen Beleg in den Akten: Unter de» Pers.-Akten Kraft Ernsts 120 findet sich der Entwurf eines Schreibens an de» Wallersteinschen Leg.-Rat Plitt in Franffurt, vom 4. Dez. 1795, mit dem Vermerk »expediren«. Der Fürst habe erfahren, es sei eine Strecke Landes in der Grafschaft Camden in den vereinigten Provinzen von Amerika und über fünfzigtausend Acker Landes in Virginia am Fluß Conorway zu verkaufen; Plitt möge bei einer angegebenen Adresse in Hamburg Erkundi­ gungen etnziehen, da der Fürst zu wissen wünsche, „wie hoch der Kaufschilling «ud welche Formalitäten in Amerika zu observiren seyen, wenn mau diese« Strich Landes zu kaufen sich entschließen wollte". Unter AW, a. C. R. IIA 10/5 Nr. 199 ein weiteres Schreiben in der gleichen Sache vom Februar 1796, erkundigt sich näher nach den „Zahlungsterminen und übrigen Be­ dingungen". — Don einem Bischof von Speier finden sich in der erhaltene» Korrespondenz Kraft Ernsts keine Briefe. — Oer Schneider St. LouiS aus Straßburg ist historisch. 3» den Schuetderrechnuugen Kraft Ernsts

io4 (Pers.-Akten 132, 142) ist er wiederholt genannt, er erhält Beträge bis zu 5500 st., auch eine eigenhändige Quittung von ihm (Wallerstein, Februar 1791) ist vorhanden. Näheres über seine Persönlichkeit und seine politische Tätigkeit ließ sich nicht erfahren. Doch liegt es durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit, daß der Maitre tailleur das geringe Interesse, das mau seinen Schneiderrechaungen entgegenbrachte, durch die Erzählung von Echauermären über die Talen des Eulogius Schneider und seiner Ge­ nossen zu heben suchte. Auch von dem Zusammenstoß mit dem Kammerrat von Marschall konnte in den — allerdings unvollständigen — Polizeiakten und Jnjuriensachen dieser Jahre nichts entdeckt werden. Dagegen stimmt zu dem, was Lang erzählt, ein Schreiben Marschalls an den Fürsten vom 2». März 1791 (Pers.-Akt Marschalls AW, 111 6/13c): Seit längerem habe er eine Mißstimmung des Fürsten gegen seine Person bemerkt und dies auf ein Mißverständnis zurückgeführt. „Die Äußerungen aber, welche Höchstdieselben kurzhin gegen meinen Vater wegen meiner gethan haben, haben mich freylich auf andre Gedanken gebracht." Es sei ihm sehr schmerzlich, den „unschuldigen Anlaß" zu diesen Äußerungen gegeben zu haben, und es bleibe ihm nichts anderes übrig, als diesen Anlaß hinwegzuränmeo, indem er um seine Entlassung bitte. S. 229—231: Langs Entlassung: Lang forderte seine Entlassung offenbar mündlich; ein Gesuch ist nicht vorhanden; unterm 13. April 1792 gibt er der fürstl. Reatkammer fiskalische Akten zurück: „Auf meine wegen ermangelnder Besoldungszahlung bet Serenissimo ehrerbietigst nachgesuchte «ad vorläufig zugesicherteDienstentlassung will ich nicht unterlassen..." (Pers.Akt). In der Vorrede zu seiner Geschichte der deutschen Steuerverfassungen (1793) sagt er, er sei willens gewesen, seine „politische Laufbahn" in Waller­ stein zu eröffnen, habe dies aber „wegen der dortigen zerrütteten Staats­ finanzen" verlassen. Beide Äußerungen schließen natürlich nicht aus, daß die politischen und persönlichen Gründe, die Lang in den Memoiren nennt, die tieferliegenbe Ursache waren. Die Behauptung „ohne während meines ganzen Hierseins die wirkliche Zahlung meines Gehaltes erlangen zu können" ist nur zum Teil richtig: Lang hatte bis zum 8. April 1792 die 400 fl. für das Jahr 1791 erhalten, doch erst nachträglich; seit dem 1. Jan. 1792 war der Gehalt ganz ausgeblieben (Pers.-Akt Langs; Promemoria Linsenmeyers). — Langs Bruder Christian, 1787—1792 Konrektor des Gymnasiums zu Qttingeu. — Langs Entlassungsbekret, 16. April 1792 (Entwurf): „Nachdem unser bisheriger Secretair H. Lang um die Entlassung aus seinen bis hinzu bei uns aufgehabten Diensten unterthänigst angesucht, wir auch dem­ selben hierin, nachdem er allenthalben, was ihm oblag, geleistet hat, zu will­ fahren geruht haben, ohneracht wir gewünscht hätten, denselben, in An­ sehung seines Fleißes, Diensteifers u. Fähigkeit, mit welcher er sich während seiner Dienstzeit ausgezeichnet hatte, länger beizubehalten; als haben wir ihm hiemit die gebetene Entlassung ertheilen u. ... gegenwärtiges, mit unsrer eignen Namens Unterschrift u. ... Jasigel versehenes Dekret zu­ stellen lassen." Das wörtliche Zitat läßt mit Bestimmtheit aanehmev.

daß Lang bei Abfassung der Memoiren dieses Dekret (wie übrigens auch schon das Sttingische Evtlassungsdekret von 1788) noch in Händen hatte und benutzte. — Lang erhielt bei seinem Abgang seine „guthabende Be, soldung" bis zum 18. April, ein „gnädigstes Geschenk" von 50 st. und 132 st. „für seine an Serenissimtim verkäuflich überlassenen Miscellanea" (Promemoria Linsenmeyers). — über einen nachfolgenden Ausweisungsbefehl enthält Langs Personalakt nichts. — Auch die Erzählung der persön­ lichen Erlebnisse und kleiner Anekdoten, bei der Lang seiner Laune und seiner Phantasie einen größeren Spielraum läßt, schließt sich fast durchweg an aktenmäßig kontrollierbare Tatsachen an und erweist sich bis in kleinste Züge der Zustandsschilderung hinein als richtig.

Das Gesamtergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich dahin zusammenfassen: Alles Tatsächliche der Langschen Darstellung ist richtig. Dieses Tatsachenmaterial ist lebendig gestaltet unter der Einwirkung sub­ jektiver Momente: einer künstlerisch schaffenden Phantasie, einer bestimmten politischen Überzeugung und — aus beidem resultierend — einer humo­ ristisch-satirischen Grundstimmung. Der ganze Abschnitt ist, trotz der scheinbar nur kettenartigen Aneinander­ reihung, als ein lebendiges Ganzes gestaltet. Lang beginnt, obwohl er vor der Frankfurter Reise nur ein paar Tage in Wallerstein war, mit einer breit ausladenden Schiwerung der dortigen Personen und Zustände, bei der Licht und Schatten richtig verteilt ist und nur da und dort die satirische Grundstimmung burchklingt, und gewinnt damit einen gewissen Ruhepunkt nach dem bunten Wechsel der vorangegangenen Reisebilder und einen festen Untergrund für die folgenden Ausführungen. Don da hebt er die Erzählung rasch auf den Höhepunkt des Interesses und der Darstellung durch die Schil­ derung der Frankfurter Kaiserkrönung, anfangs noch humoristisch gehalten, bald aber der Bedeutung und dem Charakter des Gegenstandes entsprechend in herbe, höhnende Satire umschlagend. Nun hat er die Instrumente ge­ stimmt und durch einleitenden Akkord und Kontrast den Boden bereitet für die Erzählung seiner eigenen Erlebnisse in dem stillen, engen Waller­ stein: kleine, abgerundete Bilder, durchaus auf dem Boden der historischen Wahrheit aufgebaut, aber mit der Meisterschaft seiner sprudelnden Laune and seiner lebhaften Phantasie gestaltet, nicht in bitterer Satire, sondern voll lachender Ausgelassenheit, eine Welt drückender Enge und Kleinlichkeit mit einem Schimmer behaglichen, sonnigen Humors umkleidend. Was er da schilderte, war ja die weltferne Stille, in die er damals zum erstenmal aus der großen Welt des verhaßten Diplomatentreibens zurückgekehrt war, ie die er jetzt, während er dies schrieb, sich zurücksehnte und zurückversenkte, nachdem er dem öffentlichen Leben endgültig den Rücken gekehrt. So findet Laag gerade in seinem starken Subjektivismus den rechten Ton für die Schilderung dieser kleinen Welt, die in sich selber etngesponnea in heiterem Lebensgenuß dahinträumt und in die nur wie ein seltsam ferner

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Ton die Sturmglocke» der Revolution hineiuklingea, kaum veruomme» von der harmlos dumpfe» Menge der Bevölkerung, ängstlich erspäht vom Ohr des Fürsten, der fast als einziger ihre Bedeutung erkennt. Daß Laag diese Besorgnis des Fürsten, die er selbst S. 228 eine Folge seines „nicht gemeinen Scharfsinnes" nennt,