Der Ritter, der ein Mädchen war: Studien zum Roman de Silence von Heldris de Cornouailles [1 ed.] 9783737011969, 9783847111962

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Der Ritter, der ein Mädchen war: Studien zum Roman de Silence von Heldris de Cornouailles [1 ed.]
 9783737011969, 9783847111962

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Aventiuren

Band 13

Herausgegeben von Martin Baisch, Johannes Keller, Elke Koch, Florian Kragl, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber

Inci Bozkaya / Britta Bußmann / Katharina Philipowski (Hg.)

Der Ritter, der ein Mädchen war Studien zum Roman de Silence von Heldris de Cornouailles

Mit 23 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Die nackte Silence vor Ebain (fol. 222v). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-7009 ISBN 978-3-7370-1196-9

Inhalt

Danksagung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konzeption und Intention des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausführliche Inhaltsangabe: Der »Roman de Silence« . . . . . . . . . 3. Der »Roman de Silence« als höfischer Roman . . . . . . . . . . . . . . 4. Erzählinstanz und Erzählverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Quellen und Stofftraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Figurenkonzeptionen, Personifikationen und Allegorien . . . . . . . . 7. Geschlecht und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Geschlechterbeziehungen und deren narrative Entfaltung . . . . . . . 9. Herrschaftsproblematik und Ratsszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Schweigen, Sprechen und Schreiben als Mittel von Rat und Verrat . . Zu den Beiträgen des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollständige Literaturliste: Heldris de Cornouailles – »Roman de Silence«

9 9 10 14 21 28 34 41 47 51 53 57 65

Inci Bozkaya Illuminiertes Schweigen. Zur Überlieferung des »Roman de Silence« im Codex WLC/LM/6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Cornelia Logemann Unbestimmte Körper. Travestie als Bildaufgabe im »Roman de Silence« . 115 Eva von Contzen Cum tacet, clamat? Der »Roman de Silence« und der Diskurs des Heiligen 141 Britta Bußmann l’amer amer – »Tristan«-Referenzen und ihre Funktion im »Roman de Silence« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

6

Inhalt

Cordula Kropik Schweigen im Walde. Muster narrativer Identitätskonstruktion im »Roman de Silence« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Regina Toepfer Junge oder Mädchen? Gender Trouble im »Roman de Silence«

. . . . . . 215

Julia Rüthemann Silence als narratives Prinzip und poetologische Figuration. Oder: haben wir es mit einem weiblichen Merlin zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Matthias Meyer Allegorien und Zauberer. Figuren des Dritten im »Roman de Silence«? . . 267 Stefan Seeber Dissimulatio als Überlebensstrategie – Der »Roman de Silence« und das Lachen Merlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Brigitte Burrichter Nature und Noreture. Der »Roman de Silence« als narratives Experiment

299

Danksagung

Vom 04.–06. Oktober 2015 fand im Kloster Bronnbach eine Tagung mit dem Titel Heldris’ de Cornouailles »Roman de Silence« statt. Ihre Ergebnisse dokumentiert der vorliegende Sammelband. Alle Beiträge eint der enge Bezug auf den in der deutschsprachigen Forschung nahezu unbekannten Text, der unikal in einer aufwändig bebilderten Handschrift aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts überliefert ist. Er erzählt die Geschichte eines Ritters, der ein Mädchen war: Silence wird fernab der höfischen Zivilisation als Junge erzogen und übernimmt später eine Reihe konventioneller Männerrollen. Sie wird Spielmann, Krieger und Âventiureritter, womit sie schließlich auch das Begehren der Königin auf sich zieht, die sie aus Rachsucht und Kränkung über die Zurückweisung mit der vermeintlich unmöglichen Mission, Merlin zu finden, in den Wald schickt. Vermeintlich unmöglich ist die Aufgabe, weil Merlin einer von ihm selbst gemachten Prophezeiung zufolge nur von einer Frau aufgespürt werden kann, so dass gerade die Hofintrige zu ihrer eigenen Aufklärung führt: Silence findet Merlin, der dann nicht nur die betrügerischen Ränke der Königin, sondern auch Silences wahres Geschlecht aufdeckt. Silence ist aber außer einem Mädchen in Männerkleidung auch Zankapfel der Personifikationen Nature und Noreture (also Erziehung), die an Silences Geschlechtsidentität ihre Überlegenheit über die jeweils andere demonstrieren wollen. Dabei ist ihre Geschlechtlichkeit nur ein Aspekt der faszinierenden Figur Silence, die – wie der Name sagt – nicht nur eine Figur, sondern auch ›die Stille‹ oder ›das Schweigen‹ ist. Was aber kann es für einen literarischen Text bedeuten, wenn die Stille oder das Schweigen sein Held ist? Ungeachtet der Tatsache, dass der Text weder in der französischen, geschweige denn in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters erkennbare Einflüsse oder Rezeptionsspuren hinterlassen hat,1 soll er durch die hier veröf1 »[T]o the best of our knowledge, the Roman de Silence itself soon fell silent; it seems to have left no trace on subsequent texts.« Newman, Barbara: Did Goddesses Empower Women? The Case of Dame Nature. In: Gendering the Master Narrative. Women and Power in the Middle Ages. Hg. v. Erler, Mary C. u. Kowaleski, Maryanne. Ithaca, London 2003, S. 135–155, hier S. 148.

8

Danksagung

fentlichten Beiträge insbesondere der deutschsprachigen Forschung nähergebracht werden. Wir danken an dieser Stelle der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, die die Tagung großzügig unterstützt hat, sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe »Aventiuren« für die Aufnahme des Bandes in die Reihe. Inci Bozkaya, Britta Bußmann, Katharina Philipowski

Einleitung

1.

Konzeption und Intention des Bandes

Der Band, den wir vorlegen, ist ein Wagnis, weil weder die Herausgeberinnen noch (bis auf Ausnahmen) die Beiträgerinnen und Beiträger dem Fach Romanistik zugehörig sind. Unser Vorhaben begründet sich anders als durch unsere fachliche Zuständigkeit und zugegebenermaßen riskant: Wir lesen den Roman als Erzählforscherinnen und Literaturwissenschaftlerinnen, nicht in unserer Eigenschaft als germanistische Mediävistinnen, da er, anders als die Artusromane Chrétiens, der »Tristan«-Roman, der »Partonopeus«-Roman und viele andere narrative Großformen,2 aber ebenso wie viele andere französische Romane, im deutschen Sprachraum keine Rezeptionsspuren hinterlassen hat. Disqualifiziert er sich damit aber als Erkenntnisgegenstand für die Germanistik? Unsere Antwort auf diese Frage besteht im vorliegenden Sammelband: Wir sind der Auffassung, dass ungeachtet der Tatsache, dass der »Roman de Silence« weder ins Mittelhochdeutsche noch in eine andere Sprache übersetzt wurde und sich auch innerhalb der französischen Literatur keine nennenswerten Einflüsse des Textes nachweisen lassen, eine Auseinandersetzung mit ihm lohnend und erhellend ist. Es geht dem »Roman de Silence« innerhalb der französischen Literaturgeschichte offenbar so wie es dem »Frauendienst«, dem »Friedrich von Schwaben«, der »Kudrun« oder dem »Ring« Heinrich Wittenwilers in der deutschen geht, die allesamt unikal überliefert und ohne erkennbare literarhistorische Einflüsse verhallt sind. Will man sich nun, wenn man sich mit dem »Roman de Silence« beschäftigt, nicht darauf zurückziehen, dass Interesse nie begründungspflichtig ist, auch dann nicht, wenn es einem fachfremden Gegenstand gilt, dann lassen sich im2 Diese sind insbesondere dokumentiert im Handbuch Germania Litteraria Mediaevalis Francigena Germania: Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). Hg. v. Claassens, Geert u. a. Bd. 5: Höfischer Roman in Vers und Prosa. Hg. v. Pérennec, René u. Schmid, Elisabeth. Berlin, Boston 2010.

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Einleitung

merhin noch die Erzählstoffe und Texttypen ins Feld führen, die er mit der mittelhochdeutschen Literatur teilt und in teils expliziten und teils deutlichen Anspielungen verarbeitet wie der Tristan-, Merlin-, Artus- und Grisandolestoff, die Erzähltradition des höfischen und des Âventiureromans und den Texttypus des Streitgedichts. Sie werden von Heldris geschickt mit Erzählmotiven wie dem Drachenkampf und dem Cross-Dressing verknüpft. Wir glauben, dass dieser in der deutschsprachigen Mediävistik noch weitgehend unbekannte Roman über einen Ritter, der ein Mädchen war, aufgrund seiner eigenwilligen Aufnahme europäischer Erzählstoffe und seiner hintersinnigen und originellen Erzählformen ein lohnender Gegenstand für eine Vielzahl von Diskussionen ist, die in der Erzähl- und Literaturtheorie derzeit geführt werden. Dabei handelt es sich beispielsweise um Emotionen und Emotionsdarstellungen, Fragen von Gender und Geschlecht, Personifikation/Allegorie, Stimme/Sprache/Schweigen, Poetologie/ Natur/Kultur sowie Schrift- und Medientheorie. Der Band versteht sich als ein erster Schritt dazu. Er richtet sich auch an interessierte Mediävistinnen und Mediävisten, die bisher mit dem »Roman de Silence« noch nicht in Kontakt gekommen sind. Daher bietet die Einleitung eine ausführliche Inhaltsangabe sowie eine längere Darstellung zentraler Themen und Motive wie Erzählverfahren, Quellen und Stofftraditionen, Figurenkonzeptionen, Personifikationen, Geschlecht und Identität, Herrschaftsproblematik sowie Schweigen, Sprechen und Schreiben als Mittel von Rat und Verrat. Auf eine kurze, hinführende Darstellung der Forschungsbeiträge im zweiten Teil folgt eine ausführliche Bibliographie der bisherigen Forschung zum »Roman de Silence«. Die Forschungsbeiträge im zweiten Teil des Bandes sollen zu Anregungs- und Ausgangspunkten einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem »Roman de Silence« in der deutschsprachigen Mediävistik werden. Mit welchem großen Recht er diese Aufmerksamkeit verdient, zeigen diese Beiträge selbst.

2.

Ausführliche Inhaltsangabe: Der »Roman de Silence«

Im Prolog, der mit einer derben Schelte der lasterhaften und verkommenen Geizkragen bei Hofe beginnt, schildert der Erzähler die Intention, die Meister Heldris beim Verfassen des Werkes verfolgt habe: Das Werk basiere auf den Regeln der Kunst des Schreibens. Unwissende und lasterhafte Personen, denen Geld wichtiger als Ehre erscheint, sollten nicht an diesen Roman herantreten. Besonders am Hof würden sich zu dieser Zeit solche finden, denen das Werk unerschlossen bleiben solle.

Ausführliche Inhaltsangabe: Der »Roman de Silence«

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Silence, die Tochter von Cador dem Tapferen und Eufemie, wird in eine Welt voller Konflikte geboren: In England regiert König Ebain (V. 107),3 der, wie der Erzähler betont, nur von König Artus überragt werde. Ebain zeichnet sich durch königliche milte, Ehrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Weisheit aus. Um den Krieg mit Ebain zu beenden, bietet die norwegische Krone ihm die schöne norwegische Königstochter als Ehefrau an (V. 169f.). Die Ehe kommt zustande, Ebain regiert in Glück und Frieden neben seiner Frau Eufeme. Dann aber kommt es zum erbitterten Streit zweier Grafen um das Erbe ihrer Ehefrauen, die Zwillingsschwestern sind. Die Grafen sterben beim Gerichtskampf um das Erbe und der aufgebrachte König erlässt ein Gesetz, das Frauen das Recht zu erben abspricht (V. 314). Ebain hält sich nach diesem Zwischenfall in seiner Burg in Winchester auf. Auf dem Weg dorthin werden er und seine Gefolgschaft von einem Drachen heimgesucht, der dreißig seiner Leute hinwegrafft. Dem, der den Drachen tötet, verspricht Ebain ein Land und eine Frau (V. 384f.). Diese Gelegenheit ist Cador sehr willkommen. Er ist ein junger, tapferer Höfling, der heimlich eine der Hofdamen der Königin, Eufemie, liebt. Eufemie, die Cador ebenfalls insgeheim liebt, ist jung, schön und in höchstem Maße gebildet. Nach einem langen Gebet (V. 427–472) tötet der unerschrockene Cador den Drachen, wird aber durch dessen Gift krank. Diese Krankheit gibt der heilkundigen Eufemie Gelegenheit, Cador zu pflegen und dadurch ihre eigene Liebe zu vertiefen. Beide, Cador und Eufemie, leiden unter den klassischen Symptomen der Liebeskrankheit, bis Eufemie durch einen Versprecher (V. 882) ihre Liebe verrät und beide sich ihre gegenseitige Liebe gestehen. Cador und Eufemie werden nach einer Beratung, deren Umständlichkeit, Ausführlichkeit und Langatmigkeit in komischem Kontrast zur Eindeutigkeit der Sachlage steht, schließlich miteinander verheiratet (V. 1511). Eufemies Vater stirbt, nachdem er Cador seine Besitztümer vererbt hat (V. 1585–1607) und Eufemie wird schwanger. Das Paar beschließt für den Fall, dass ein Mädchen geboren wird, dieses als einen Jungen auszugeben (V. 1747– 1750). Das Kind, das im Mutterleib heranwächst, ist ein Mädchen (V. 1798), und zwar das schönste, makelloseste, zarteste und vollkommenste, das Natur je geschaffen hat. Die personifizierte Natur tritt hier als Handwerkerin auf (V. 1805– 1957), die unter größtem Aufwand mit dem Kind ihr unübertreffliches Meisterstück schafft. Seine Eltern aber lassen das Mädchen auf den Namen Silentius taufen (V. 2126) und fernab der Zivilisation als Knabe aufziehen, damit es nicht vom Erbe ausgeschlossen wird. Die personifizierte Natur fasst das als Sabotage an ihrem Meisterstück auf und beansprucht Autorität über Noreture, konkret also 3 In dieser Zusammenfassung und in den weiteren Teilen der Einleitung beziehen sich alle Versangaben auf folgende Ausgabe: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 32007 (Medieval Texts and Studies 10). Die weiteren Werktitel in der Einleitung und in den Beiträgen in diesem Band wurden von den Herausgeberinnen stillschweigend vereinheitlicht.

12

Einleitung

die Erziehung Silences zum Knaben (V. 2257–2294). Als das Kind alt genug ist, die Wahrheit zu erfahren, erklärt Cador ihm die Gründe dafür, dass es als Junge erzogen wird und die Notwendigkeit, seinen weiblichen Körper zu verheimlichen (V. 2439–2457). Silence kooperiert, doch als sie zwölf Jahre alt ist, wird sie von Natur heimgesucht, die sie mit Vorwürfen konfrontiert, welche von Noreture zurückgewiesen werden (V. 2500–2656). Diese bestärkt Silence darin, ihr Leben als Junge fortzusetzen. Schließlich mischt sich auch noch Raison, der personifizierte Verstand, ein (V. 2609) und hebt die Vorteile eines Lebens als Mann hervor. Es kommen zwei Spielleute ins Land, mit denen Silence heimlich und in Verkleidung fortzieht (V. 2907), um unter dem Pseudonym Malduit den Beruf des Spielmanns zu erlernen. Das gelingt ihr so schnell und so gut, dass sie die Spielmannskunst nach vier Jahren besser als die beiden Spielleute beherrscht, an den Höfen bevorzugt wird (V. 3138–3147) und von ihnen dafür so beneidet wird, dass sie ihr nach dem Leben trachten. Durch einen prophetischen Traum gewarnt, kehrt Silence ins Land ihres Vaters zurück. Dort werden mittlerweile alle Spielleute verfolgt, weil man glaubt, Silence sei seinerzeit von jongleurs geraubt worden. Silence spielt im Land ihres Vaters, woraufhin ein alter Mann Cador berichtet, sein Sohn sei zurückgekehrt. Silence, die ihre Identität erst abstreitet, wird durch ein Muttermal in Kreuzform identifiziert (V. 3647), von ihren Eltern voller Freude wieder aufgenommen und wird nun wieder als junger Adelsmann ausgebildet. Doch bald beruft König Ebain Silence an seinen Hof. Dort verliebt sich die Königin leidenschaftlich in sie und versucht, sie zu verführen (V. 3728). Nachdem Silence die Königin abgewiesen hat, wandelt sich deren Begehren in Hass (V. 3900). Nach einem weiteren missglückten Verführungsversuch (V. 4037– 4096) inszeniert die Königin in ihrem Wunsch, die Schmach der Zurückweisung zu rächen, einen Vergewaltigungsversuch Silences. Zwar gelingt es ihr nicht, den König dazu zu überreden, Silence hinrichten zu lassen, doch Ebain entfernt den vermeintlichen Mann vom Hof, indem er ihn an den Hof des französischen Königs schickt (V. 4287–4289). Dort soll Silence zum Ritter werden und bis auf Weiteres bleiben. Dies lässt Ebain als briefliche Nachricht an den französischen König durch seinen Schreiber aufsetzen. Doch die Königin vertauscht den Brief gegen einen von ihr verfassten (V. 4359), in dem der französische König dazu aufgefordert wird, Silence umgehend zu töten. Der französische König empfängt Silence herzlich am Hof und ist deshalb zutiefst schockiert über die Aufforderung, die der gefälschte Brief enthält (V. 4457f.). Unterschiedliche Handlungsempfehlungen werden durch die Räte des Königs erteilt, schließlich kommt der Verdacht der Manipulation auf (V. 4840–4847), und der König beschließt, Ebain in dieser Angelegenheit zu schreiben und ihm den gefälschten Brief zu schicken. Zunächst fällt der Verdacht auf den Schreiber (V. 4939), der Ebain gegenüber die Manipulation durch die Königin aufdeckt (V. 5069–5085). Ebain beschließt, den

Ausführliche Inhaltsangabe: Der »Roman de Silence«

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Mantel des Schweigens über die Angelegenheit zu legen und den französischen König mit einer Lüge zu beschwichtigen. Im Alter von 17 Jahren wird Silence zu Pfingsten in Paris zum Ritter gemacht (V. 5132–5136) und genießt das Leben als höfischer Jüngling (V. 5177f.). Als Ebain von dem großen Ruhm hört, den Silence in Frankreich genießt, will er sie wieder an seinen eigenen Hof zurückholen. Silence trägt noch einen letzten Kampf im Dienste des französischen Königs aus (V. 5299–5647), in dem Silence nicht nur beherzt kämpft, sondern auch wie im Blutrausch tötet und zahlreiche Gegner verstümmelt (V. 5641). Währenddessen sehnt die Königin die Rückkehr des vermeintlichen Mannes Silence herbei, von dem sie hofft, ihn nun bereitwilliger zu finden. Doch auch ein dritter Verführungsversuch scheitert (V. 5707– 5742) und die Königin beschuldigt Silence erneut dem König gegenüber, sie bedrängt zu haben. Gemeinsam beschließen sie, sich Silences zu entledigen. Die Königin bringt in diesem Zusammenhang eine Episode aus der Artus-Sage ins Spiel (V. 5784–5803), die u. a. in den Erzählungen von Geoffrey von Monmouth, Wace und Robert de Boron überliefert ist: König Vortigern will einen Turm bauen, der stets wieder einstürzt. Merlin erklärt dem König den Grund dafür: Im Fundament befänden sich kämpfende Drachen. Merlin nimmt eine Deutung des allegorischen Geschehens vor und verbindet es mit Prophezeiungen, zu denen im »Roman de Silence« auch diejenige gehört, dass er selbst, der sich nun in die Wälder zurückziehen werde, nur von einer Frau gefunden und gefangen werden könne. Aus dieser Episode entwickelt die Königin eine Intrige: Silence soll auf die aussichtslose Suche nach Merlin geschickt werden. Der König behauptet Silence gegenüber, einen Traum gehabt zu haben, zu dessen Deutung er der Hilfe Merlins bedürfe (V. 5835–5843), und Silence macht sich auf die Suche nach ihm. Nach einem halben Jahr trifft sie auf einen Mann mit langem weißem Haar (V. 5875), der Silence helfen will, Merlin zu finden und zu fangen (V. 5927f.). Silence soll dazu Fleisch auf offenem Feuer grillen, um ihn anzulocken, und Honig, Milch und Wein bereithalten. Merlin werde der Versuchung durch diese Genussmittel nicht widerstehen können, sich damit übersättigen und dann leicht zu fangen sein. Tatsächlich wird Merlin angelockt (V. 5994) und es entbrennt ein erbitterter Streit zwischen den Personifikationen von Natur und Erziehung um die Vormacht über Merlin. Die Bosheit der Nature, so klagt Noreture, offenbare sich doch schon in der Erbsünde (V. 6030f.). Nature antwortet, dass die Erbsünde Noretures Werk sei und dass sie an Merlin ihre Macht längst verloren habe. Nature trägt den Sieg davon, Merlin isst und trinkt, wird betrunken, von Silence gefangen (V. 6136) und unter den Blicken mehrerer hunderter Schaulustiger an den Hof König Ebains gebracht. Unterwegs dorthin lacht Merlin mehrmals: Einmal beim Anblick eines Bauern mit neuen Schuhen (V. 6191–6193), ein zweites Mal beim Anblick eines bettelnden Leprakranken (V. 6203), ein drittes Mal beim Anblick eines trauernden Mannes, der einem Begräbnis beiwohnt

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Einleitung

(V. 6214f.), und schließlich auch noch am Hof über den König selbst. Doch niemandem, auch dem König nicht, will er den Grund seines Gelächters offenbaren. Er bevorzugt, wie der Erzähler sagt, das Schweigen. Erst unter Todesdrohung deutet er sein Lachen (V. 6305): Über den Bauern lachte er, weil dieser von den neuen Schuhen keinen Nutzen haben, sondern noch auf dem Heimweg umkommen werde. Über den Bettler lachte er, weil dieser keine Ahnung davon hatte, dass direkt unter ihm ein Schatz begraben liegt. Über den Trauernden lachte er, weil dieser nicht wusste, dass das Kind, dessen Tod er beweinte, nicht seines, sondern das des Priesters gewesen war. Merlin offenbart auch den Betrug Eufemes an Ebain (V. 6471) – die Königin versucht das zu verhindert, wird von Ebain aber als Frau zum Schweigen verurteilt, so dass Merlin sprechen kann: Er lachte über den König, weil dieser Opfer des Betruges durch Silence und durch Eufeme sei, denn die Nonne, die die Königin begleitet, sei in Wirklichkeit ihr Liebhaber. Und Merlin lüftet auch Silences Geheimnis. Sie wird gezwungen, ihre Kleider fallen zu lassen und ihr wahres Geschlecht zu offenbaren (V. 6572). Silence beendet daraufhin ihr Schweigen und berichtet von den Umständen, die sie zu der Täuschung führten: Sie erzählt von dem Erbe, dem Eid ihrem Vater gegenüber und über die Zurückweisung der lasterhaften Eufeme. Nachdem alles ans Licht gekommen ist, nimmt Ebain das Gesetz, das Frauen aus dem Erbe ausschließt, zurück, die Nonne wird hingerichtet und Eufeme von Pferden gevierteilt. Silence wird in Frauenkleider gehüllt und Nature löscht in drei Tagen die Spuren der männlichen Tätigkeiten an Silences Körper (V. 6671–6673). König Ebain heiratet sie. Mit allgemeinen Aussagen über die Natur der Frauen endet der Roman.

3.

Der »Roman de Silence« als höfischer Roman

Aussagen über das erst 1911 wiederentdeckte4 als »Silence« oder »Roman de Silence« in der Literaturwissenschaft bekannte Werk sind aufgrund der unikalen Überlieferung in der Sammelhandschrift WLC/LM/6 der Nottingham Library und der fehlenden textexternen, historischen Quellen zum Autor nur anhand von Analysen des Textes und seiner Überlieferung möglich. Maistres Heldris de Cornuälle nennt sich – wie es in mittelalterlichen volkssprachigen Texten häufiger anzutreffen ist, in der dritten Person – als Verfasser im ersten Vers des Prologes sowie im Epilog in V. 6684. Datumsangaben, Hinweise zur Entste4 Vgl. Stevenson, William Henry: Report on the Manuscripts of Lord Middleton Preserved at Wollaton Hall, Nottinghamshire. London 1911 (Historical Manuscripts Commission 69), insbes. S. 221–236, sowie Cowper, Frederick Augustus Grant: Origins and Peregrinations of the Laval-Middleton Manuscript. In: Nottingham Medieval Studies 3 (1959), S. 3–18, hier S. 17.

Der »Roman de Silence« als höfischer Roman

15

hungszeit oder zu Mäzenen sucht man im Text vergebens. Verfasst in altfranzösischer Sprache mit picardischem Einschlag,5 ist der 6706 vierhebige Reimpaarverse umfassende »Roman de Silence« das einzige nachweisbare Werk eines Autors mit diesem Namen. Aus der Selbstbezeichnung Maistre wurde auf dessen Tätigkeit als Kleriker geschlossen.6 Der Informationsmangel gab Raum zu Interpretation und Spekulation. So lässt sich eine Verbindung zwischen dem Autornamen und der Erzählwelt herstellen, da Cornwall die Grafschaft ist, aus welcher die Hauptfigur Silence stammt und welche etwa im Kampfschrei C’est li vallés de Cornuälle! (›Hurrah for the youth of Cornwall!‹; V. 5572) präsent gehalten wird. Heinrich Gelzer hielt ausgehend von seinen quellenkundlichen Untersuchungen von Geoffreys von Monmouth »Historia regum Britanniae«, in welcher ein Anführer der Sachsen namens Cheldricus von Cador, dem Fürsten von Cornwall, besiegt wird, den Autorennamen für »nicht zufällig« und sah darin »ein Moment von cornwallisischem Lokalpatriotismus«.7 So lückenhaft wie das Wissen um den Autor ist auch das um die Entstehungsbedingungen des Textes. Die Entstehungszeit muss kodikologisch sowie kon- und intertextuell eingegrenzt werden. Angaben zu ihr schwanken je nach Forscher und Forschungsinteresse, die Handschrift wird aber zumeist auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts geschätzt.8 Schwierigkeiten bei der Datierung bereitet der Umstand, dass mit Einband, Beginn und Ende der Handschrift Buchbestandteile nicht erhalten sind, welche durch Schreibernotizen, Besitzeinträge oder Ex Libris möglicherweise Auskunft über die Entstehung- oder Rezeptionsgeschichte des Codex hätten liefern können. Die älteste der drei Leserspuren auf fol. 244r, welche auf dem oberen linken Rand der ansonsten leeren Seite eine Zeit und eine Ortsangabe festhält: le ior de mardi / por donpere, wurde

5 Zur picardischen Sprache des Romans siehe die Einschätzung bereits bei Stevenson [Anm. 4], S. 221. Vgl. auch Roche-Mahdi [Anm. 3], S. XI, die Rezension von Félix Lecoy von 1978 zu Thorpes Edition, in welcher er neben Corrigenda auch auf picardische Eigenheiten des Textes eingeht (Lecoy, Félix: Le »Roman de Silence« d’Heldris de Cornualle. In: Romania 99 [1978], S. 109–125), sowie den Beitrag von Bozkaya in diesem Band. 6 Vgl. Ruby, Christine: Art. »Heldris de Cornouailles«. In: Dictionnaire des lettres françaises: le Moyen Âge. Hg. v. Hasenohr, Geneviève u. Zink, Michel. Paris 1992 (Nachdruck 1994), S. 665f. 7 Siehe Gelzer, Heinrich: Der Silenceroman von Heldris de Cornualle. In: Zeitschrift für romanische Philologie 47 (1927), S. 87–99, S. 98f. Roche-Mahdi geht in ihrer Einleitung der Edition so weit, aufgrund dieser Spekulation das Geschlecht des Autors zu hinterfragen: »Is the author, like the heroine, a transvestite she? Or does he just want to make us think so?« (RocheMahdi [Anm. 3], S. XI, Anm. 2). 8 Ausführlich zu den erschlossenen Entstehungsbedingungen und -daten, zur Materialität des Codex und zur Ausstattung des Textes siehe den Beitrag von Bozkaya in diesem Band. Speziell zu den Illuminationen vgl. den Beitrag von Logemann.

16

Einleitung

als Eintrag aus dem 14. Jahrhundert identifiziert.9 Der »Roman de Silence« (fol. 188ra–223rb) ist sorgfältig angelegt im Überlieferungsverbund mit zumeist ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts niedergeschriebenen Werken, darunter Antiken-, Abenteuer-, Alexander- und Artusromane sowie ein Text aus der Chanson de Geste-Tradition. Bei den fünf mitüberlieferten Großepen handelt es sich um den »Roman de Troie« von Benoît de Sainte-Maure (fol. 1ra– 156rb), »Ille et Galeron« von Gautier d’Arras (fol. 157ra–187va), »Le Fuerre de Gadres« (fol. 224ra–243vb) aus dem »Alixandre« von Eustache de Kent, um die anonyme »Chanson d’Aspremont« (fol. 244va–303vb) und die meist Raoul de Houdenc zugeschriebene »Vengeance Raguidel« (fol. 306ra–335vb), einem Teil von »Del roi Artur«. Inhalt und Ausstattung dieses Überlieferungsverbundes mit Rubrikationen und Illuminationen verorten den Codex im Bereich höfischer Auftraggeber und eines höfischen Publikums.10 Der »Roman de Silence« entzieht sich, teilweise bedingt durch den Stoff, teilweise aufgrund der in der Handschrift mitüberlieferten Werke, traditionellen Gattungseinteilungen. Er gilt in der englisch- und französischsprachigen Forschung als ein höfisches Epos, als »roman d’aventures«11, »French romance«12, als »of the Arthurian cycle«13 bzw. als »Arthurian verse-romance«14, »mais il ne s’agit ni de la cour du roi Arthur, ni de la Table Ronde, ni d’une aventure d’amoure et de chevalerie comme dans les romans bretons«.15 Heldris selbst nennt keinen Titel und keine Gattungszuordnung im Text. Er bezeichnet sein Werk in seinem prologhe (V. 103) und in der Schlussformel als uevre bzw. muevre rime (V. 77, 82 und 105), rime (V. 73) sowie conte (V. 7, 81, 102, 6702, 6703 und 6704) und spricht in V. 224 segnor (›lords‹) als direkte Adressaten der Erzählung an. Nach den Maßstäben der germanistischen Mediävistik wäre der Text aufgrund der vermuteten Entstehungszeit, der verwendeten Motive und Handlungsmuster, der 9 Siehe Thorpe, Lewis: Introduction. In: Le Roman de Silence. A Thirteenth-Century Arthurian Verse-Romance by Heldris de Cornuälle. Hg. v. Thorpe, Lewis. Cambridge 1972, S. 1–62, hier S. 10. 10 Vgl. zur Ausstattung des Codex, zum Überlieferungsverbund sowie zu interkodikologischen Verbindungen den Beitrag von Bozkaya in diesem Band. 11 Ruby [Anm. 6], S. 665. 12 So der Untertitel der zweisprachigen Ausgabe von Roche-Mahdi [Anm. 3]. 13 Stevenson [Anm. 4], S. 224. Danièle James-Raoul ordnet den Roman insbesondere aufgrund der Merlin-Episode als »roman arthurien« ein, siehe Danièle James-Raoul: Un curieux avatar de »L’Estoire Merlin«: »Le Roman de Silence«. In: Traduction, transcription, adaptation au Moyen Âge: actes du colloque du Centre d’Etudes Médiévales et Dialectales de Lille III, Université Charles-de-Gaulle – Lille III 22 au 24 septembre 1994. Bd. 1. Villeneuve d’Ascq 1995 (Bien dire et bien aprandre 13), S. 145–157, S. 145. 14 Thorpe [Anm. 9], S. 1. 15 Frappier, Jean: »Le Roman de Silence«. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters IV. Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Bd. 1: Partie historique. Hg. v. Frappier, Jean u. Grimm, Reinhold R. Heidelberg 1978, S. 467–474, hier S. 467.

Der »Roman de Silence« als höfischer Roman

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Erzählweise und der intertextuellen Bezüge am ehesten als nachklassischer höfischer Roman einzuordnen, der ähnlich wie der »Tristan« im arthurischen Kontext verortet wird, ohne den Artushof ins Zentrum zu rücken. Bereits die Anfangsverse sind ein Beispiel für die ambivalente Gestaltung des Romans. So beginnt die Handlung mit einer altfranzösischen Märchenformel: Ebans fu ja rois d’Engletiere (›Once upon a time Evan was king of England‹; V. 107), um sodann im Herrschervergleich an die arthurische Erzählwelt und in einer Referenz an einen realen Handlungsraum angeschlossen zu werden.16 Der Herrscher wird einerseits als vorbildlich dargestellt, trägt jedoch in seiner geschilderten Uneinsichtigkeit auch tyrannische Züge: Si maintint bien en pais la terre. Fors solement le roi Artu N’i ot ainc rien de sa vertu Ens el roiame des Englois. Li siens conmans n’ert pas jenglois, Car n’avoit home ens el roiame, De Wincestre trosqu’a Durame, S’il osast son conmant enfraindre Nel fesist en sa cartre enpaindre, Par tel covant n’a droit n’a tort N’en issist point trosqu’a la mort. (V. 108–118) He maintained peace in his land; / with the sole exception of King Arthur, / there never was his equal / in the land of the English. / His rules were not just idle talk – / there wasn’t a man in his kingdom, / from Winchester to Durham, / whom he wouldn’t have thrown in jail / if he dared to break his law, / on such terms that, right or wrong, / he wouldn’t get out till he was dead.

Die Erzählung ist als Vorzeitengeschichte markiert, wie im Rahmen von Vergangenheitslob – etwa anlässlich der einjährigen Hochzeitsfeier König Ebains17 –, anhand der Entwicklung von realhistorischen Städten wie Winchester18 und der dort angeblich noch erhaltenen Schmieden oder durch die Nennung der Titel von

16 Auch die Reisen als Sänger in die Gascogne (V. 3215), an den Hof des Fürsten von Burgund (V. 3216), weitere mögliche Reiseziele wie Frankreich, Spanien, die Auvergne oder Deutschland (V. 3456–3458), die Nennung des Englischen Kanals (V. 3483) und des französischen Königshofes (V. 4321, 4381) und die Herkunft von Silence aus Cornwall (vgl. den Schlachtruf in V. 5572) markieren den Handlungsraum als realhistorisch. 17 Les noces durent .xii. mois, / Car tels estoit adonc lor lois. / Entiere avoit adonques joie (›The wedding festivities went on for a year: / that was the custom in those days, / they lived life to the fullest then‹; V. 253–255). 18 Hierbei wechselt auch das Tempus der Erzählung: Dont ert castials, or est cités. / Forjes i a d’antiquités (›Winchester was a castle then; now it is a city. / There are smithies there from ancient times‹; V. 339f.).

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Einleitung

vermeintlich noch immer populären Lieder, die die jogleör (V. 2739) singen,19 betont wird. Auch ist die Familiengeschichte der Protagonistin mit der von Artus verknüpft, der auch durch die Merlin-Figur als eine historische Gestalt zitiert wird.20 Handlungsraum und Erzählmuster bewegen sich im Rahmen adliger Handlungsmöglichkeiten. Fantastisches oder Magisches wird nur in Figurenrede marginal erwähnt, als Andeutung auf magische Ereignisse könnte man die Erwähnung von Merlins List um die Zeugung von Artus verstehen.21 Der Zauberer und Teufelssohn Merlin22 tritt im »Roman de Silence« lediglich als ein alter Mann in Erscheinung, der mit gebratenem Fleisch überlistet wird, seine vegetarische Ernährungsweise zu brechen, und der im darauffolgenden Mittagsschlaf gefangen genommen werden kann. Statt Magie bietet Heldris naturphilosophische und theologische Betrachtungen als Begründungen für Verhaltensweisen und den Erfolg bei der Gefangennahme Merlins (V. 6011–6084). Merlins hellseherische Fähigkeiten sind nur mehr Anlass seines eigenen Lachens und dienen erzähltechnisch der Konfliktauflösung am Ende des Romans.23 Schon das kurze Gespräch zwischen dem gefangenen Merlin und Silence, in welchem Merlin lapidar den Vorwurf, er sei für das Verderben eines Familienmitgliedes von Silence 19 Si font ensanble un lai Mabon – / Celui tient on encor a bon (›Together they played the »Lai Mabon« – / this is still a popular piece; V. 2765f.). Laut Gelzer lässt sich ein derartiges Lied nicht nachweisen (Gelzer, Heinrich: Mabon. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 47 [1925], S. 73f.), während das in V. 2762 genannte Lied »Gueron« von RocheMahdi als intertextueller Verweis identifiziert worden ist. Es ist der »Lai pitus d’amur«, den Isolde im thomasschen »Tristan« singt, siehe Kommentar zu V. 2761–2765 in der Edition von Roche-Mahdi (Roche-Mahdi [Anm. 3], S. 324. 20 Silence macht Merlin für den Tod eines Vorfahren verantwortlich. Dieser sei durch den von Merlin herbeigeführten Beischlaf von Uterpandragon mit der Frau des Fürsten verursacht worden: »Ma mort?« dist Merlins. »Tu por quoi?« / »Mes ancestres fu mors par toi, / Gorlains, li dus de Cornuälle« (›»My death?« said Merlin. »Whatever for?« / »You killed my ancestor, / Gorlain, duke of Cornwall«‹; V. 6143–6145). 21 Diese gehört in den Bereich der politischen Prophetie und stammt aus der lateinischen Merlin-Überlieferung. Der Drachenkampf (V. 337–540) ist als Kampf gegen eine Bestie, der der Bewährung des besten Kämpfers dient, und als Teil der Elternvorgeschichte von Silence intertextuell auf den Tristanstoff bezogen. Vgl. zu den intertextuellen Referenzen auf diese Stofftradition die Beiträge von Bussmann und Kropik in diesem Band. 22 Vgl. etwa die Elternvorgeschichte, den Beischlaf der Mutter Merlins mit dem Teufel, die Jugendgeschichte und die Rolle Merlins in der Artusgeschichte in Robert de Boron: »Merlin – der Künder des Grals«. Aus dem Altfranzösischen übersetzt von Konrad Sandkühler. Stuttgart 1980 (Edition Perceval 2) oder in der »Estoire Merlin« (The Vulgate Version of the Arthurian Romances. Hg. v. Sommer, Oskar. Bd. 2: Lestoire de Merlin. Washington 1908), diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Die Bezüge stellt schon Thorpe in seiner Einleitung her (Thorpe [Anm. 9], S. 28–35). Siehe überdies Abschnitt 5. Quellen und Stofftraditionen in dieser Einleitung. Auch die Figuren im »Roman de Silence« wissen, wie der Bericht der Königin Eufeme über den Turm Vortingerns, den nur Merlin zum Stehen bringen kann, zeigt, von Merlins teuflischer Herkunft: Merlin, fil al diäble (›Merlin – son of the devil‹; V. 5792). 23 Vgl. zur Schlussepisode und zur Rolle von Merlin die Beiträge von Meyer, Rüthemann und Seeber in diesem Band.

Der »Roman de Silence« als höfischer Roman

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verantwortlich, zurückweist, da es dem Guten gedient hätte, entbehrt nicht einer gewissen Komik (V. 6143–6160). Das Lachen Merlins über die Verkehrungen, Absurditäten und Täuschungen, die ihm auf dem Weg zum und am Königshof begegnen, und die erst durch die Androhung des Todes von ihm aufgelöst werden, sind Anlass von Untersuchungen zum Thema Komik im »Roman de Silence« geworden.24 Dies begründet sich einerseits gattungstheoretisch, so wirken die schwankhaften Episoden innerhalb des höfischen Epos wie ein Fremdkörper, andererseits inhaltlich. Das Lachen über den Bauer, der neue Schuhe kauft, obwohl er, noch bevor er nach Hause kommt, sterben wird, das Lachen über den Leprakranken, der über einem unentdeckten Schatz um Almosen bittet, und das Lachen über einen trauernden Mann, der am Grab über sein vermeintliches Kind weint, welches seine Frau jedoch mit dem beistehenden Priester gezeugt hatte (V. 6191–6216, 6314–6340, 6355–6370), offenbaren die Hinfälligkeit und Vergeblichkeit menschlichen Planens, Deutens und Denkens. Das Lachen über die ehebrecherische Königin und die als Ritter vorbildliche, männlich gekleidete und erzogene Frau Silence (V. 6239–6256, 6471–6552) deckt den lügnerischen Schein der höfischen Welt auf. Zugleich sorgt es durch die Aufklärung über die Missstände und folgende Behebung derselben für die Wiederherstellung höfischer Normen und Werte. Das Erzählen im »Roman de Silence« ist weitgehend einsträngig. Die einzelnen Episoden mit in der höfischen Literatur bereits etablierten Handlungsmustern sind überwiegend lose miteinander verknüpft. So gehen die erfolgreiche Brautwerbung von König Ebain um die norwegische Königstochter Eufeme (V. 139– 277), der folgende Erbstreit um die Zwillingstöchter und die daraus resultierende Änderung des Erbrechts (V. 278–336),25 der Drachenkampf während einer Reise zum Königshof, die Elternvorgeschichte von Cador und Eufemie (V. 337–1650) usw. recht unvermittelt und unverbunden ineinander über. Auch die folgenden Episoden von der Erziehung des Kindes von Cador und Eufemie im Wald 24 Siehe u. a. Thorpe, Lewis: ›Merlin’s Sardonic Laughter‹. In: Studies in Medieval Literature and Languages in Memory of Frederick Whitehead. Hg. v. Rothwell, William u. a. Manchester 1973, S. 323–339; Clements, Pamela: Shape-Shifting and Gender-Bending: Merlin’s Last Laugh at Silence. In: The Future of the Middle Ages and the Renaissance: Problems, Trends, and Opportunities for Research. Hg. v. Dahood, Roger. Turnhout 1998, S. 43–51, sowie Pratt, Karen: Humour in the »Roman de Silence«. In: Comedy in Arthurian Literature. Hg. v. Busby, Keith u. Dalrymple, Roger. Cambridge 2003 (Arthurian Literature 19), S. 87– 103. 25 Vgl. hierzu Callahan, Christopher: Canon Law, Primogeniture, and the Marriage of Ebain and Silence. In: Romance Quarterly 49 (2002), S. 12–20; Hess, Erika E.: Inheritance Law and Gender Identity in the »Roman de Silence«. In: Law and Sovereignty in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. v. Sturges, Robert Stuart. Turnhout 2011 (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance 28), S. 217–236, sowie Kinoshita, Sharon: Heldris de Cornuälle’s »Roman de Silence« and the Feudal Politics of Lineage. In: PMLA 110 (1995), S. 397–409.

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(V. 1651–2872), dessen Flucht und Ausbildung zum menstrel (V. 2873–3484), die Rückkehr an den elterlichen Adelssitz (V. 3485–3682) und die weitere Ausbildung zum Ritter erst am Hofe Ebains (V. 3683–4379), dann am Pariser Königshof (V. 4380–5190), die Auszeichnung als Ritter im Kampf (V. 5299–5646) sind konventionell bzw. greifen bekannte höfische Handlungsmuster auf. Unkonventionell werden die Episoden erst durch das verborgene Geschlecht der Hauptfigur. Da es sich bei dem erstgeborenen und einzigen Kind von Cador und Eufemie um eine Tochter handelt, wird diese aus rechtlichen und ökonomischen Gründen nach dem Beschluss der Eltern mustergültig als Junge erzogen. Aus diesem Grundkonflikt ergeben sich unkonventionelle Episoden wie die Taufszene, in welcher der nahe Tod des Säuglings vorgetäuscht wird, damit in der inszenierten Eile das Geschlecht verborgen werden kann (V. 2086–2126), oder die abwägende Unterhaltung der zwölfjährigen Silence mit den Personifikationen Nature und Noreture über ihren Zustand und ihre Handlungsmöglichkeiten (V. 2497–2656). Da Silence in der Erzählwelt bis zur finalen Episode am Königshof unentdeckt als Mann agiert,26 sind es nicht Handlungen oder Figurenreaktionen, sondern die Einsicht in das Innenleben Silences durch Monologe bzw. Dialoge der Personifikationen Nature und Noreture (V. 2497–2684), die die Verhüllung und Erziehung als vorbildlicher Mann als Konfliktpotenzial erst sichtbar machen. Die spätere Verleumdung des jungen Ritters durch die Königin Eufeme, deren Begehren von Silence nicht erwidert wird (zuerst V. 4027–4379, erneut V. 5648–5779), und die Verurteilung zur Bewährung (V. 5780–5864) haben wiederum literarische Vorbilder.27 Der zweite Teil der Erzählung, in dem Silence, um sich zu bewähren, Merlin fangen muss (V. 5835–6160), sorgt durch den arthurischen Protagonisten einerseits für eine stärkere Anbindung der Erzählwelt an die Artuswelt. Andererseits bringt die Episode um den scheinbar grundlos lachenden Merlin und dessen Aufdeckung von verdeckten Tatsachen schwankhafte Elemente in die Geschichte ein. Das Ende des Romans ist wiederum konventionell. Nachdem Merlin an den Hof gebracht wurde (V. 6161–6706) und u. a. das ehebrecherische Treiben der 26 Selbst die Figuren, die von Silences wahrem Geschlecht wissen, sprechen sie nicht als Frau an. Der Vater etwa adressiert Silence in einer Art Aufklärungsgespräch über die Hintergründe ihrer Erziehung gehäuft mit der männlichen Anrede als bials fils, bials dols ciers fils und fils (›dear son‹, ›dear sweet precious son‹, ›son‹; V. 2445, 2448, 2453 und 2455). Silence wird auch vom Erzähler als il bezeichnet: Quant l’enfes est de tel doctrine / Qu’il entent bien qu’il est mescine (›When the child was old enough / to understand he was a girl‹; V. 2439f.) oder in V. 2683f.: Li ans dozimes est entrés, / Des qu’il fu primes engenrés (›the twelfth year had begun / since he first came into being‹) u. ö. Vgl. auch den Abschnitt 7. Geschlecht und Identität in dieser Einleitung. 27 Vgl. zu den vielfältigen literarischen Vorbildern die Aufsätze von Burrichter, Bussmann und Kropik. Siehe überdies von Contzen zur Übernahme hagiographischer Erzählmuster aus Legenden von sog. Cross-Dressing-Heiligen.

Erzählinstanz und Erzählverfahren

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Königin Eufeme wie auch Silences wahres Geschlecht aufdeckt, wird in einer letzten Entscheidung Ebains (V. 6553–6706) der Konflikt von Silence durch die erneute Veränderung des Erbrechtes aufgelöst, die Königin zum Tode verurteilt und die nach drei Tagen wieder als Frau erscheinende und gekleidete Silence mit König Ebain verheiratet. Gemäß den Worten Ebains Sens de feme gist en taisir (›A woman’s role is to keep silent‹; V. 6398) folgen auf die Begründung von Silence für ihr Verhalten keine inneren Monologe oder Dialoge mit Personifikationen mehr. Die Erzählung endet mit einer Quellenberufung und einem Frauenlob.

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Erzählinstanz und Erzählverfahren

Die sorgfältige Anlage der Handschrift zeigt sich bereits zu Beginn des Textes in der Art und Weise und Platzierung der ersten Miniatur. Der Zeigefinger der deutenden, als Autor markierten Figur am Schreibpult weist in Verlängerung auf den in den ersten Versen genannten Autornamen. Bild und Text stützen sich gegenseitig. Diese Bild-Text-Komposition könnte, da nicht mit Sicherheit zu sagen ist, ob das Schreibpult tatsächlich nur Indiz für eine Autoren- und nicht auch eine Erzählerdarstellung ist, auch als ein Verständnis von Autorschaft interpretiert werden, welches Autor und Erzähler zusammenführt.28 Die mediale und performative Dimension des conte als erzählte, aufgeschriebene und gehörte Geschichte, bei welcher die Instanzen Erzähler und Autor zu trennen sind und welche als Vortragstext unabhängig vom Autor kursiert, ist aber durchaus in Pround Epilog explizit mitgedacht: Chi voel a fin mon conte traire. / Beneöis soit qui le vos conte, Beneöis soit qui fist le conte. A cials, a celes qui l’oïrent Otroit Jhesus cho qu’il desirent. (V. 6702–6706) I want to bring my story to a close. / God’s blessing on the narrator, / God’s blessing on the author. / And as for those – male and female – who listened to it, / may Jesus grant them their dearest wish.

In diesen Peritexten macht Heldris auf seine Tätigkeit aufmerksam, als Maistres (›Master‹; V. 1) schreibe er seine Verse genau nach Maß.29 Er tritt hier als Sou28 Vgl. Peters, Ursula: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln u. a. 2008 (pictura et poesis 22), vgl. insbes. den Abschnitt Ich-Erzählerrede und Autorschaftsikonographie im Kap. II. Die Visualisierung des Ich-Erzählers (S. 55–74), wobei Peters mit dem Begriff des Ich-Erzählers den Erzähler meint, der durch Selbstthematisierung auf sich selbst verweist. 29 Escrist ces viers trestolt a talle (›is writing these verses strictly to measure‹; V. 2).

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Einleitung

verän seines Werkes auf, der, über die Fertigstellung seines Werkes hinaus, über das Publikum und die Wahrnehmung seines Werkes bestimmten möchte. Dessen künftigen Besitzern gebietet er und bittet sie, das Werk eher zu verbrennen als es mit denjenigen zu teilen, die eine gute Geschichte nicht zu schätzen wüssten (V. 3–9). Über die Koppelung von Wertschätzung bzw. Anerkennung mit Ehre bzw. finanziellem Gut weist er erstens ein Publikum zurück, welches Geld über Ehre stelle, und zweitens Zuhörer, die zwar gerne alles hören, aber nicht einmal einen geringen Lohn dafür zu geben bereit seien. In dieser inhaltlich recht konventionellen Gegenwartsschelte macht er mit dem Hinweis auf die mangelnde Freigebigkeit auf die nun verschlechterten Arbeitsbedingungen und die mangelnde Wertschätzung seines Werkes aufmerksam. Auffallend sind die teils hyperbolischen Ausführungen, mit denen sich Heldris auch direkt an sein Publikum wendet und die sogar eine Publikumsbeschimpfung einschließen: Volés esprover gent avere? Servés le bien, come vo pere: Dont serés vus li bien venus, Bons menestreus bien recheüs. Mais, puis qu’il venra al rover, Savés que i porés trover? Bien laide chiere et une enfrume, Car c’end est tols jors la costume. Avere gent, honi et las, Ja n’est cis siecles c’uns trespas. Vos le paravés desjué Q’or n’i a mais ris ne jué, Que vos en vivrés mains assés Quant vos, caitif, tant amassés. (V. 23–36) Do you want to see how stingy people are? / Serve them well, as if they were your father: / then you will be most welcome, / judged a fine minstrel, well-received. / But when the time comes to ask for something, / do you know what you will find? / Very bad cheer and a sour face, / that’s what you’ll always get from them. / You greedy, nasty, petty people, / this world is but a transitory place: / you have so robbed it of all pleasure / that there is no play or laughter any more. / You’ll profit far less from it / while you pile up riches, you fools.

Der Prolog (V. 1–106) ist performativ gestaltet, das Motiv ›Reden und Schweigen‹ – das zentrale Thema bei der Figurenkonzeption von Silence30 – ist hier in Bezug auf die Kontaktaufnahme mit dem Publikum und dessen Einstimmen auf die Erzählung ausgeführt. In affektiver Rede funktionalisiert der Sprecher den Prolog für seine Selbstdarstellung als Schöpfer:

30 Vgl. die Beiträge von Rüthemann und von Toepfer in diesem Band.

Erzählinstanz und Erzählverfahren

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Ens el prologhe de ma rime Grans volentés me point et lime. Il me prent moult grans maltalens Qu’a force se honist la gens. (V. 73–76) In this prologue to my poem / I feel tremendously compelled, stung, goaded [into talking about this]. / It bothers me terribly / that people are driven to disgrace themselves.

Als Ironiesignal kann der den Ausführungen über die geizigen, ehrlosen Menschen folgende Redegestus der Nichtigkeit des Gegenstandes verstanden werden: Ne sai que dire des haïs Por cui cis siecles est traïs – De honte ont mais lor cort enclose. Chi n’a mestier metre de glose, Car jo n’i fas nule sofime. (V. 65–69) I don’t know what to say of those hateful men / who thus abuse this earthly life – / they have enclosed their courts with shame forever. / There’s no need to supply a gloss for this, / for I don’t deal in sophistry.

Der Prolog dient zugleich als Ventil für den Autor, um sich mental auf die Erzählung einzustimmen, er gibt hierbei Einblick in die Vorbereitung im Schaffensprozess: Ainz que jo m’uevre vus conmence, M’estuet un petit que jo tence Por moi deduire en bien penser, Car jo me voel tost desivrer, Que quant venra al conte dire N’ait en moi rien qui m’uevre enpire. Or dirai donques ma gorgie. (V. 77–83) Before I begin my story for you, / I really have to let it all out a little / in order to get into the proper frame of mind. / I want to get it all out of my system beforehand, / so that when it’s time to tell the tale, / there’ll be nothing left in me to spoil the telling. / So now I’m going to get it off my chest!

Besonders an den Übergangstellen von Prolog bzw. Erzählerkommentar und Handlung markiert der Erzähler, dass er über seine Erzählung verfügt, und nimmt einen Vortragsduktus an: Dé or revenrai a mon conte De mon prologhe faire point, Car moult grans volentés me point De muevre rime et conmencier, Sans noise faire, et sans tenchier. (V. 102–106)

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Einleitung

Now I will return to my tale / and end my prologue at this point, / for I feel a tremendous urge / to begin to tell my story / without a lot of fuss and bother.

In dem verhältnismäßig kurzen Epilog (V. 6684–6701) spielt der Schaffensprozess des Werkes keine Rolle mehr, auch werden Erbstreit, feudale Abhängigkeit oder die Frage nach Identität und Kollektiv vollständig ausgeblendet. Stattdessen tritt der Erzähler als Deutungsinstanz hervor. Es folgt eine vereinfachende, pauschale Wertung der Erzählung, die auf Frauenpreis zielt und eine letzte Rezeptions- und Verstehensanweisung beinhaltet, die seine Darstellung der Frauenfiguren berücksichtigt: Maistre Heldris dist chi endroit C’on doit plus bone feme amer Que haïr malvaise u blasmer. Si mosterroie bien raison […]. Se j’ai jehi blasmee Eufeme Ne s’en doit irier bone feme. Se j’ai Eufeme moult blasmee Jo ai Silence plus loëe. Ne s’en doit irier bone fame, Ne sor li prendre altrui blasme, Mais efforcier plus de bien faire. (V. 6684–6701) Master Heldris says here and now / that one should praise a good woman / more than one should blame a bad one. / And I will tell you why […]. / If I have blamed Eufeme today, / a good woman should not take offense, / for if I have censured Eufeme, / I have praised Silence more. / A good woman should neither take offense / nor blame herself for someone else’s faults, / but simply strive all the harder to do what is right.

Zwischen den Selbstnennungen in der dritten Person im Pro- und Epilog tritt der Erzähler nicht namentlich, aber mit zahlreichen, hyperbolischen Beschreibungen – etwa bei der Schönheit von Silence (V. 1945–1957) – und teils stark wertenden Erzählerkommentaren hervor. So formuliert der Erzähler anlässlich der Festbeschreibung der ein Jahr dauernden Hochzeit Verfluchungen und Todeswünsche gegenüber seinen geizigen Zeitgenossen (V. 256–261).31 Ereignisse der Erzählung sind vermehrt Anlass für Gegenwartsschelten, die sich als Äußerungen über Tugenden und Laster wie Faintise (›Deception‹), Vilonie (›Baseness‹), Lozenge (›Flattery‹), Verités (›Truth‹), Amors et Valors (›Love and Virtue‹), Honors (›Honor‹) oder Honte (›Shame‹) präsentieren (V. 1550– 1574) und höfische Werte in den Mittelpunkt stellen. Raum erhalten sowohl 31 Mais li aver, cui Dex renoie, / Ont enpirie la costume. / Grans maltalens m’art et alume / Qu’il l’ont cangie et remuee. / Car fust la pute gens tuee / Par cui honors est abascie (›But avaricious men – God curse them – / have spoiled the old ways. / I’m really incensed / to think they’ve changed things so! / I’d really like to kill the bastards / who have so abased honor‹).

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Ratsszenen wie auch Schilderungen innerer Vorgänge, die Entscheidungen kausal-logisch nachvollziehbar machen, wie beispielsweise die Namensvergabe und das Abwägen der Erziehung von Silence als Junge durch die Eltern (V. 2037– 2082). Detailwiedergabe und ausführliche Beschreibung wie bei der Erschaffung von Silence durch Nature (V. 1795–1860), der Schilderung der Emotionen und der Rede von Nature, in der sie auf die unangemessene Erziehung von Silence reagiert (V. 2257–2294) oder die Taufe von Silence, bei welcher der Priester über die nature des Säuglings getäuscht werden muss (V. 2086–2126), wirken ebenso spannungssteigernd wie die affektiven Erzählkommentare und Mündlichkeit inszenierenden Interjektionen (z. B. V. 2261) und Anreden des Publikums (V. 224, 2295) sowie Fragen an die Zuhörer32 oder der Anruf Gottes, er solle sich Silences annehmen (V. 4036, 5699–5701). Auf kunstvolle Weise verknüpft Heldris in V. 1651–1669 in einer Art ›Neustart‹ der Erzählung die Episode vom Tod des Grafen Renald li buens (Eufemies Vater) mit der Zeugung und Geburt von Silence sowie mit einer allgemeingültigen Aussage zur Dauer von Trauer, der aktivierenden Funktion von Erzählen mit einer Quellenberufung – die angeblich lateinische Quelle ist nicht nachweisbar – und der Selbstautorisierung als Souverän über die Erzählung. Ungewöhnlicherweise ist es nicht eine schlichte Wahrheitsbeteuerung, sondern die Aufwertung der Geschichte durch fiktionale Elemente wird als Schaffensmoment hervorgehoben. Die Berufung auf die davon unbeeinflusste Wahrheit wird thematisch passend zum Konflikt und zum Namen der Protagonistin mit dem Motiv des ›Schweigens‹ verknüpft: Chi le lairons del mort ester. N’i fait pas trop bon arester: Ki vis est o les vis se tiegne. Deu, se lui plaist, des mors soviegne. Huimais orrés conte aviver, Sans noise faire et estriver. De Cador, de s’engendreüre Comence chi tels aventure C’ainques n’oïstes tele en livre. Si com l’estorie le nos livre, Qu’en latin escrite lizons, En romans si le vos disons. / Jo ne di pas que n’i ajoigne Avoic le voir sovent mençoigne Por le conte miols acesmer: Mais se jel puis a droit esmer 32 Cuidiés que moult biel ne s’atort? / Oïl! (›Do you think he did a good job? / Indeed he did!‹; V. 2222f.).

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Einleitung

N’i metrai rien qui m’uevre enpire Ne del voir nen iert mos a dire Car la verté ne doi taisir. (V. 1651–1669) Let’s stop talking of death now; / it’s not such a good idea to dwell on it. / The live are better off among the living; / let it please God to be mindful of the dead. / From now on you shall hear a lively tale, / without any further fuss or ado. / Of Cador and his offspring / begins such a tale of adventure / as you never heard of it in any book. / Just as it was written / in the Latin version we read, / we will tell it to you in French. / I’m not saying that there isn’t / a good deal of fiction mingled with truth, / in order to improve the tale, / but if I am any judge of things, / I’m not putting in anything that will spoil the work, / nor will there be any less truth in it, / for truth should not be silenced.

Weitere Quellenberufungen finden sich häufiger an Übergangsstellen zwischen Episoden, z. B. V. 2689f.: Oiés mervellose aventure / Si con nos conte l’escriture (›Now you’re going to hear something amazing! / As the manuscript tells us‹) und auch im Epilog als ein den wahrheitsgemäßen Ablauf der Konfliktlösung bestätigenden Einschub: Cho dist l’estorie u jo le truis (›that’s what it said in the book where I found this story‹; V. 6678). Die Art und Weise der Beschreibung vom Finden und Wiedererzählen der matyre (V. 276) ähneln stark den Erzählerkommentaren mittelhochdeutscher höfischer Epen. Auch können in den Aussagen zum literarischen Schaffen und in den poetologischen Aussagen über die Qualitätsansprüche des Erzählers Seitenhiebe auf andere höfische Epen versteckt sein. So kann als Referenztext Chrétiens »Perceval« angedacht werden, wenn in V. 2354–2358 die Erzählung von der Erziehung von Silence im Wald bewertet wird: Onques d’enfant norri en bois Ne vos pot on si grans biens dire. Por cho que tels est li matyre, Si ai m’entente plus penee, La rime assise, et miols menee. No one could ever give a better account / of any child ever raised in the woods. / Since that is the way the story goes, / I have redoubled my efforts, / ordered and improved my rhyming.

In anderen Kommentaren behauptet der Erzähler, kein Wissen über Einzelheiten, etwa von den Kosten der Hochzeit von König Ebain (V. 251), zu haben. Er bedient sich des Unsagbarkeitstopos, wenn er aus Mangel an Worten, etwa bei der Beschreibung des Zornes von König Ebain über die Anklage der Königin (V. 5767f.),33 nichts weiter ausführen kann. Aus Mangel an Interesse verzichtet er darauf, die Geburtsschmerzen von Eufemie in Vers oder Prosa zu beschreiben 33 Li rois l’entent, sin a tel ire / C’on nel vos puet conter ne dire (›When the king heard this, he was so furious / that there are no words to describe it‹).

Erzählinstanz und Erzählverfahren

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(V. 1779–1782). Das Verschweigen wird zum Erzählverfahren, wenn inhaltliches Schweigen und Schweigen des Erzählers zusammengeführt werden. So endet das narrativ in die Länge gezogene und nur vorsichtig über Silben und einzelne Wörter angebahnte Liebesgeständnis zwischen Cador und Eufemie in V. 1099– 1111 als schweigende Übereinstimmung der Küssenden: Sans dire font, si com moi sanble, / De fine amor moult bone ensegne (›It seems to me that, without speaking, / they are giving a fine demonstration of courtly love‹; V. 1094f.). Die Details des Kusses will der Erzähler nicht verraten: Et se vus verté m’en querés, Ja par moi sage n’en serés Se dunques baisierent sovent, Se cho fu uns baisiers, u. c. (V. 1103–1106) And if you want to know the truth, / you’ll never hear it from me – / whether they kissed often then, / or whether it was one kiss or one hundred.

Darüber hinaus werden Vorgänge in der Erzählwelt in den Erzählerexkursen auch auf ihre Bedeutung für die Welt des Rezipienten hin kommentiert. Dies geschieht einerseits, indem Sprachbilder exempelhaft aufgerufen werden, etwa wenn in Bezug auf Erziehung in V. 2334–2338 die Auswirkungen von winzigen Mengen von Honig und Galle gegeneinander abgewogen werden, oder aber indem in diesem Fall direkt anschließend Beobachtungen und Meinungen zu diesem Thema Anlass von allgemeingültigen Aussagen sind, z. B. V. 2339–2342: En un poi de vil noreture Empire plus bone nature Que longhe aprisons de bienfaire Puist amender cuer de pute aire. A little bad nurture / harms a good nature more / than lengthy instruction in doing good / can mend a heart intrinsically evil.34

Der Umfang der Erzählerkommentare variiert stark, in V. 2252–2256 etwa rekapituliert der Erzähler in fünf Versen abschließend die wichtigsten Ereignisse, in V. 2295–2358 nimmt er ausführlich Stellung zur Bedeutung von Natur und Erziehung. Wiederholt tritt der Erzähler hierbei als Deutungsinstanz der erzählten Welt auf, der Positionen als seine sichtbar macht: Or vos ai dit cho que 34 Diese Ratschläge können als solche auch deutlich markiert sein, z. B. V. 131–138 zur Freigiebigkeit: Car cho doit cascuns prodom faire: / Doner et garder cui retraire. / Si violt doner moult liëment, / Car ki done derriänment / Il n’i a gré, ains piert son don / Et plus avoec, son los, son non: / Si venroit il miols escondire, / Mais en prodome n’a que dire (›and that is what every wise man should do: / give and be careful about taking things back. / He must be willing to give gladly, / for he who hesitates to give / receives no thanks; on the contrary, he loses his gift / and more than that – his fame and reputation: / he would do better to refuse. / But a wise man is above reproach‹).

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m’en sanble (›Now I have told you how I see it‹; V. 2400) und der etwa im Streit zwischen Nature und Noreture urteilt: Si com jo puis a droit esmer (›as far as I can rightly judge‹; V. 2419) und sich auf die Seite einer Partei stellt: Et por cho di jo que Nature / Signorist desor Noreture (›And thus I say that Nature / is superior to Nurture‹; V. 2423f.). Diese deutenden Anteile treten aber, als solche markiert, hinter den Erzählanteilen zurück: Ichi a certes trop a dire, / Mais mes cuers tent a ma matyre (›There is certainly much to say about this, / but my heart belongs to my subject matter‹; V. 2343f.).

5.

Quellen und Stofftraditionen

Heldris äußert sich im Prolog des »Roman de Silence« nicht zu einer möglichen Vorlage. Innerhalb des Textes (etwa: Si con nos conte l’escriture [›As the manuscript tells us‹; V. 2690]) und im Epilog (Cho dist l’estorie u jo le truis [›that’s what it said in the book where I found this story‹; V. 6678]) finden sich aber mehrfach Hinweise auf eine schriftliche Quelle. Am detailliertesten sind dabei jene Angaben, die der Erzähler im Übergang von der Elternvorgeschichte zur Geschichte der Titelheldin Silence macht, denn er nutzt den Generationswechsel zu einem prologartigen Neuansatz, in dem er auch auf die vermeintliche Vorlage und seine Bearbeitungstechniken zu sprechen kommt: De Cador, de s’engendreüre Comence chi tels aventure C’ainques n’oïstes tele en livre. Si com l’estorie le nos livre, Qu’en latin escrite lizons, En romans si le vos disons. / Jo ne di pas que n’i ajoigne Avoic le voir sovent mençoigne Por le conte miols acesmer: Mais se jel puis a droit esmer N’i metrai rien qui m’uevre enpire Ne del voir nen iert mos a dire Car la verté ne doi taisir. (V. 1657–1669) Of Cador and his offspring / begins such a tale of adventure / as you never heard of in any book. / Just as it was written / in the Latin version we read, / we will tell it to you in French. / I’m not saying that there isn’t / a good deal of fiction mingled with truth, / in order to improve the tale, / but if I am any judge of things, / I’m not putting in anything that will spoil the work, / nor will there be any less truth in it, / for truth should not be silenced.

Quellen und Stofftraditionen

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Demnach handelt es sich beim »Roman de Silence« um eine variierende Wiedererzählung35 eines in lateinischer Sprache abgefassten Prätextes, der sowohl den Cador- als auch den Silence-Teil enthalten hat. Welcher Gattung dieser Prätext zuzuordnen wäre, bleibt offen, denn die verschiedenen von Heldris zur Benennung der Vorlage gewählten Bezeichnungen tragen differierende Konnotationen: Wie Dahmen anmerkt, deutet die Bezeichnung conte (V. 1665) eher auf eine fiktive Erzählung, estorie (V. 1660) ist hinsichtlich der Gattungsfrage ambivalent, könnte jedoch auf eine chronikartige Vorlage hinweisen.36 Dies würde dazu passen, dass der Erzähler die Vorlage aus dem Lateinischen ins Französische übertragen haben will. Dabei sei er den Vorgaben der Vorlage treu gefolgt (V. 1661); dass er auch öfter eigene freie Erfindungen (sovent mençoigne; V. 1664) eingefügt habe, um die Erzählung zu verbessern, beeinträchtige deren tiefere Wahrheit nicht.37 Die Stilisierung des »Roman de Silence« zur Wiedererzählung läuft freilich ins Leere. Es gibt keine zusammenhängende Vorlage für Heldris’ Text.38 Vielmehr sind die in sich jeweils recht geschlossen konzipierten Einzelepisoden, aus denen sich der Roman aufbaut, verschiedenen Stoff- und Motivtraditionen zuzuordnen, die Heldris durchaus geschickt miteinander verflochten hat.39 So wird etwa die Elternvorgeschichte in der Forschung mit dem Tristanstoff in Verbindung gebracht,40 die Briefintrige des zweiten Teils verarbeitet das Motiv des UriasBriefes, weist aber darüber hinaus auch Ähnlichkeiten zur Brieffälschungs-Episode des europaweit verbreiteten Mädchen-ohne-Hände-Stoffes auf,41 und der Schlussteil mit der Suche nach Merlin, dessen Gefangennahme und der Aufdeckung von Silences biologischem Geschlecht erinnert an die Grisandole-Episode

35 Vgl. zu dem Begriff und dem mit ihm verbundenen Konzept Worstbrock, Franz Josef: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. v. Haug, Walter. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142, sowie ders.: Dilatatio materiae. Zur Poetik des »Erec« Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30. 36 Dahmen, Lynne: The »Roman de Silence« and the Narrative Traditions of the Thirteenth Century. Diss. masch. Indiana University 2000, S. 40f. 37 Vgl. ebd., S. 40–42, zur Verbindung von materia und sens. Zu den poetologischen Partien des Romans siehe überdies den Beitrag von Seeber in diesem Band. 38 Thorpe [Anm. 9], S. 27. 39 Die von Thorpe (ebd., S. 14) mit Blick auf die Grisandole-Episode formulierte Vorstellung einer einzigen ›wirklichen‹ literarischen Quelle (»only real literary source«) für den »Roman de Silence« ist eher abzulehnen. Hinter Heldris’ Roman steht mehr als ein Text. Ähnlich werten auch Roche-Mahdi [Anm. 3], S. XII, und Dahmen [Anm. 36], S. 90. 40 Ebd., S. 93–98. Siehe überdies die Beiträge von Kropik und von Bussmann in diesem Band. 41 Vgl. Merceron, Jacques: Le message et sa fiction. La communication par messager dans la littérature française des XIIe et XIIIe siècles. Berkeley u. a. 1998 (Modern Philology 128), S. 161. Von Contzen weist auf Entsprechungen der Verleumdungsepisode mit Erzählmustern in Heiligenlegenden hin, siehe ihren Beitrag in diesem Band.

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der »Estoire Merlin« (S. 281–292).42 Heldris ist also ein inventor, der gängige Stoffe, Motive und Erzählschemata neu zu einer in dieser Form noch nicht erzählten Geschichte zusammengefügt und die Maske des Wiedererzählers wahrscheinlich primär deswegen bemüht hat, weil die kunstvolle Bearbeitung einer bereits bekannten materia nach zeitgenössischer Einschätzung, z. B. Galfried von Vinsauf zufolge, anspruchsvoller ist als die Erfindung eines neuen und insofern noch ungestalteten Stoffes: quanto difficilius, tanto laudabilius est bene tractare materiam talem, scilicet communem et usitatam, quam materiam aliam, sciliet novam et inusitatam (›And in the degree that it is more difficult so also it is more praiseworthy to treat such material well, namely, common and familiar material, than to treat other material, namely, new and unusual‹; II,3,132).43 Heldris nennt nur wenige seiner Anknüpfungspunkte direkt, etwa wenn er die Größe von Eufemes Liebe zu Silence mit einem intertextuellen Hinweis auf die Tristanliebe absichert (V. 3700–3704) oder im selben Atemzug Silences zukünftiges Leid, das ihr die Königin aus enttäuschter Liebe zufügen wird, mit demjenigen des durch Potiphars Frau verleumdeten Joseph parallelisiert (V. 3705–3709). Die Forschung ist daher auf intertextuelle Vergleiche angewiesen, um mögliche Quellen zu identifizieren. Dabei ist zu bedenken, dass die Art und Weise, wie Heldris die verschiedenen von ihm herangezogenen Stoffe und 42 In der Forschung ist umstritten, in welcher Form Heldris die Geschichte von Grisandole rezipiert hat. Thorpe [Anm. 9], S. 28f., nimmt an, dass Heldris die Grisandole-Episode der »Estoire Merlin« kannte. Die von ihm nicht zitierte stoffgeschichtliche Arbeit von Paton kommt aber zu dem Schluss, dass es eine ältere Version geben muss, in der der Stoff schon mit der Merlin-Geschichte verbunden ist. Diese Version X soll gemäß Paton schon die kausale Verknüpfung zwischen den drei Hauptelementen der Erzählung aufweisen (untreue Königin, verkleidete Protagonistin, Fangen des wilden Mannes), wie sie auch der »Roman de Silence« nutzt, nämlich die Motivierung der Suche als Strafe und Rache für die von der Protagonistin nicht erwiderte Liebe der Königin. Diese Verknüpfung gibt es auch in Märchenversionen des Stoffes, sie wird aber in der Grisandole-Episode der »Estoire Merlin« unterdrückt. Vgl. insgesamt Paton, Lucy A.: The Story of Grisandole: A Study in the Legend of Merlin. In: PMLA 22 (1907), S. 234–276, insbes. S. 247f. und 267f. Lecoy [Anm. 5], S. 109–112, und Gelzer (Gelzer, Heinrich: Der Silenceroman von Heldris de Cornualle. In: ZfrPh 47 [1927], S. 87–99, hier S. 97f.) halten eher X für die Vorlage des »Roman de Silence«. X ist allerdings eine durch Vergleich rekonstruierte, rein hypothetische Fassung – für konkrete komparatistische Studien steht nur die Grisandole-Episode zur Verfügung. Zur Grisandole-Episode vgl. überdies den Beitrag von Burrichter im vorliegenden Band. 43 Galfried von Vinsauf [?]: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi. In: Faral, Edmond: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Age. Paris 1924 (Bibliothèque de l’École des Hautes Études. Sciences Historiques et Philologiques 238), S. 263–320, hier S. 309. Folgende Übersetzung wird zugrunde gelegt: Geoffrey of Vinsauf [?]: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi (Instruction in the Method and Art of Speaking and Versifying). Übers. und mit einer Einleitung vers. v. Parr, Roger P. Milwaukee 1968 (Medieval Philosophical Texts in Translation 17), S. 85. Vgl. Worstbrock: Dilatatio [Anm. 35], S. 10. Auf eine Vorlage verweisen zu können, ist aus dieser Perspektive ein Qualitätsmerkmal, das man im Bedarfsfall fingiert.

Quellen und Stofftraditionen

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Motive verarbeitet, durch die Gesamtanlage des »Roman de Silence« beeinflusst wird. Er folgt den Stoffvorlagen mithin nicht sklavisch.44 Vielmehr lässt sich oftmals eine individuelle Anpassung des Quellenmaterials an die eigene Erzählung und die eigenen narrativen Schwerpunkte beobachten. Dass Grisandole den wilden Mann Merlin in der »Estoire Merlin« mit Nahrungsmitteln anlockt (S. 284), gibt Heldris in seiner Version der Episode beispielsweise die Gelegenheit, ein letztes Mal das von ihm als Leitmotiv gestaltete Thema des Streits von Nature und Noreture aufzugreifen, um schließlich Merlins Verlangen nach dem gebratenen Fleisch als Sieg seiner menschlichen Natur über die tierähnliche Sozialisation im Wald (und daher auch als Sieg der personifizierten Nature über Noreture) darzustellen (V. 5987–6102). Und dass die Briefintrige des »Roman de Silence« das Motiv des gefälschten und vertauschten Briefs des Mädchen-ohneHände-Stoffes mit dem biblischen Motiv des Urias-Briefes kombiniert,45 lässt sich als notwendige Konsequenz daraus erklären, dass die weibliche Hauptfigur nicht (wie im Mädchen-ohne-Hände-Stoff) die Absenderin, sondern die Überbringerin des Briefes ist und in der Fremde umgebracht werden soll, da Ebain eine Verurteilung Silences an seinem Hof ablehnt (V. 4187–4280). Umgekehrt wird man jedoch nicht voraussetzen können, dass alle Ähnlichkeiten, die der »Roman de Silence« zu anderen Texten aufweist, stets schon als Indiz für eine konkrete und bewusst ausgestellte Vorlagenbeziehung zu werten sind. Man kann der »Silence«-Forschung durchaus vorwerfen, hier die Grenzen zu verwischen und nicht immer genau genug zwischen stofflichen und motivlichen Parallelen (d. h. durch intertextuellen Vergleich aufzudeckende Analogien) und bewussten Übernahmen zu unterscheiden. Dass die Camille des »Roman d’Eneas« bestimmte Gemeinsamkeiten (Äußeres, Problematisierung von Kämpfertum im Kontext der Geschlechter-Debatte) mit Silence teilt, erklärt sich z. B. zwanglos aus dem für beide Texte gleichermaßen gültigen Schönheitsideal, welches u. a. in den mittelalterlichen Poetiken vermittelt wird, und den ebenfalls für beide Texte geltenden typischen Rollenerwartungen, die die Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts an Frauen heranträgt und nach denen eine kämpfende Frau ein Paradoxon ist. Eine direkte Quelle für Heldris muss der »Roman d’Eneas« nicht gewesen sein.46 Heldris verknüpft seinen Roman darüber hinaus auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Artusstoff, ohne ihn dadurch freilich zu einem arthurischen Roman

44 Zu diesem Urteil kommt bereits Thorpe [Anm. 9], S. 29, mit Blick auf die GrisandoleEpisode. 45 Merceron [Anm. 41], S. 161. 46 Anders Roche-Mahdi [Anm. 3], S. XIII: »[I]t seems clear that the three female characters in Silence owe a good deal to Dido, Lavine, and Camille«.

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im engeren Sinn des Wortes zu machen.47 Denn Artus oder der Artushof tauchen im »Roman de Silence« nicht auf. Die »Silence«-Welt ist aber dennoch als Teil eines übergeordneten arthurischen Erzähluniversums konzipiert. Heldris verwendet eine Reihe von arthurischen Orts- und Figurennamen, wie Tintaguel (V. 2892) oder auch Cador als Name für Silences Vater. Diese lassen sich letztlich zur chronikalischen Artustradition (Geoffrey von Monmouth: »Historia regum Britanniae«; Wace: »Roman de Brut«) zurückverfolgen und sind von dort in die französischen Artusromane eingedrungen.48 Überdies verknüpft Heldris zwei feste und verbreitete Erzählbestandteile der Artus-Sage mit Begebenheiten des »Roman de Silence« und platziert sie dabei in einer in ihrer Distanz gegenüber der erzählten Gegenwart der »Silence«-Handlung unbestimmt bleibenden Vergangenheit. Erstens begründet Eufeme Merlins Waldleben damit, dass dieser sich, nachdem er noch als Kind König Vortigern bei der Errichtung eines Turms geholfen habe, freiwillig in den Wald zurückgezogen und prophezeit habe, nur mehr durch die List einer Frau herausgelockt werden zu können (V. 5784–5803). Die Sage um König Vortigern und den Turm, unter dessen Fundamenten Drachen liegen und das Gebäude durch ihre Bewegungen immer wieder zum Einsturz bringen, ist seit Geoffreys »Historia regum Britanniae« Teil des arthurischen Erzählguts und führt in die Vorzeit von Artus’ Herrschaft zurück: Vortigern ist der Vorgänger von Uterpandragon, dem Vater von Artus.49 Zweitens rechtfertigt Silence (in einer die Gefangennahme des Zauberers auf einer persönlichen Ebene nachträglich motivierenden Volte) den Groll gegenüber Merlin damit, dass er den Tod ihres Vorfahren Gorlain von Cornwall verschuldet habe. Anzitiert wird hier die ebenfalls weithin bekannte Episode um Artus’ Zeugung: Uter verliebt sich in Gorlains Frau Ygerne und beginnt einen Krieg mit Cornwall, 47 Schmolke-Hasselmann lehnt es ab, den »Roman de Silence« zu den arthurischen Romanen zu rechnen. Vgl. Schmolke-Hasselmann, Beate: Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Zur Geschichte einer Gattung. Tübingen 1980 (Zeitschrift für romanische Philologie. Beihefte 177), S. 3f. 48 Dahmen [Anm. 36], S. 55–59; Thorpe [Anm. 9], S. 22–27. 49 The Historia Regum Britannie of Geoffrey of Monmouth. Hg. v. Wright, Neil. Bd. I: Bern, Burgerbibliothek, MS 568. Cambridge 1985, Bd. II: The First Variant Version: A Critical Edition. Cambridge 1988, Buch VI, Kap. 17–19, und Buch VII, Kap. 3 (mit der Ausdeutung des Drachenkampfes). Zur Vortigern-Episode vgl. Thorpe [Anm. 9], S. 29f.; eine kurze Zusammenfassung bietet auch Roche-Mahdi [Anm. 3], S. 325f. Insgesamt zur Tradition, die von Heldris nur sehr knapp angedeutet wird (er verweist beispielsweise nur auf den immer wieder einstürzenden Turm, ohne die Drachen zu erwähnen), siehe Knight, Stephen: Merlin. Knowledge and Power through the Ages. Ithaca, London 2009, S. 23–26. Wahrscheinlich hat Heldris diese Episode auch ohne eine direkte schriftliche Vorlage kennen können. Die Geschichte um Vortigerns Turmbau und den weißen und roten Drachen, die beide schließlich miteinander kämpfen, ist, wie Knight anmerkt, so verbreitet, dass das walisische Wappentier bis heute der rote Drache ist, der gemäß Merlins Ausdeutung die Briten symbolisiert – der weiße Drache steht für die angelsächsischen Eindringlinge (ebd., S. 26).

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in dessen Verlauf der Herzog umkommt. In Gorlains Todesnacht wird Uter von Merlin, der den König in das Ebenbild des Herzogs verwandelt hat, zu Ygerne geführt und zeugt Artus (V. 6144–6157).50 Dass Heldris zu Beginn des Romans Ebain mit Artus vergleicht – Fors solement le roi Artu / N’i ot ainc rien de sa vertu / Ens el roiame des Englois (›with the sole exception of King Arthur, / there never was his equal / in the land of the English‹; V. 109–111) –, wird man also nicht als einen rein literarischen Vergleich auffassen können, mit dem sich der Erzähler an sein literaturkundiges textexternes Publikum wendet. Die Einschätzung ist vielmehr eine, die auch den Figuren innerhalb der erzählten Welt zugänglich ist. Da der Artushof damit fest in der Vergangenheit der »Silence«-Handlung verankert ist, bleibt Merlin als einziger arthurischer Akteur übrig. Seine von Heldris nicht weiter kommentierte Langlebigkeit könnte man womöglich als Folge seiner übernatürlichen Abstammung (fil al diäble [›son of the devil‹; V. 5792]) erklären, doch fordert der Text eine solche Erklärung nicht notwendig ein. Entscheidender für Merlins Eindringen in den »Roman de Silence« ist daher vielleicht, dass Merlin zwar seit Geoffreys von Monmouth »Historia« mit dem Artusstoff verbunden ist, aber eigentlich über ein von Artus unabhängiges literarisches Leben verfügt und insofern recht umstandslos auch separat und losgelöst von ihm eingesetzt werden kann: Es gibt eine keltische Myrddin-Tradition, die vor Geoffrey und vor Artus zurückreicht und die Geoffrey in einem eigenen Text – der »Vita Merlini« – aufgreift.51 Erst (Pseudo-)Robert de Boron weitet Merlins Rolle so aus, dass er nicht nur, wie dies bei Geoffrey und Wace der Fall ist, Artus’ Herrschaft vorbereitet, sondern tatsächlich auf ihn trifft und als Berater an dessen Hof bleibt, wenn er ihn auch zwischenzeitlich immer wieder verlässt.52 Die 50 Diese Episode findet sich u. a. in Geoffreys »Historia Regum Britanniae«, vgl. Buch VIII, Kap. 19f. Vgl. Roche-Mahdi [Anm. 3], S. 326; Thorpe [Anm. 9], S. 31. Siehe ausführlicher Knight [Anm. 49], S. 29f. – Angesichts der weiten Verbreitung beider Episoden, die in allen literarischen Ausformungen der Artus-Sage wiedererzählt werden, ist die Frage nach der konkret von Heldris herangezogenen Quelle nicht zu klären. Heldris zitiert beide Episoden nur kurz an und verändert sie, um sie in den »Roman de Silence« inserieren zu können: Das Detail, dass Merlin sich nach der Vortigern-Episode in den Wald zurückzieht, findet sich in der Artustradition sonst nicht (Thorpe [Anm. 9], S. 31). Von den erhaltenen Texten überliefert zwar die »Estoire Merlin« als erstes auch die Grisandole-Episode (Knight [Anm. 49], S. 63), wenn aber Patons Vermutung einer älteren Tradition des Stoffes (als Einzelepisode, so wie es dies auch für den Tristanstoff gibt) zutrifft, dann muss die »Estoire Merlin« nicht Heldris’ Vorlage für die arthurischen Elemente des »Roman de Silence« gewesen sein (vgl. Paton [Anm. 42], S. 267f.). 51 Knight [Anm. 49], S. 20. 52 Ebd., S. 49. Aus heutiger Sicht ist die Prosafassung von Roberts de Boron »Merlin« der erste Text, der Merlins Beratertätigkeit auserzählt, da der »Vers-Merlin« nur den Beginn mit der Geburt von Merlin enthält und dann abbricht. Wahrscheinlich hat er im 13. Jahrhundert aber auch in vollständiger Form vorgelegen (ebd., S. 48). Ob Robert de Boron die in der Rezeption wirkmächtigeren Prosaversionen seiner Romane verantwortet hat, ist in der romanistischen Forschung umstritten, doch spricht offenbar mehr dafür, sie als »second-generation trans-

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Grisandole-Episode gehört zu dem Material, das die »Estoire Merlin« der auf Robert zurückgehenden Version des Merlinstoffes neu hinzufügt, wobei dann wohl mit Paton anzunehmen ist, dass die Vorlage Teil der keltischen Erzähltradition gewesen ist.53 In jedem Fall trägt der Merlin der Episode – und demzufolge auch derjenige des »Roman de Silence« – deutlich keltische Züge, weil er als Trickster dargestellt wird.54 Heldris geht offenbar davon aus, dass sein Publikum über so großes Vorwissen über den Artusstoff verfügt, dass es seine knappen Hinweise auf die Artus-Sage entschlüsseln kann. Vor diesem Hintergrund scheint es denkbar, dass die anderen weisen Männer des »Roman de Silence«, d. h. der alte Mann (viellars; V. 3559) an Cadors Hof und der alte Mann, der Silence bei der Gefangennahme von Merlin hilft, als Merlin in Verkleidung angelegt sind. Hierfür könnte sprechen, dass diese Figuren Funktionen ausüben, wie sie sonst typischerweise Merlin ausfüllt – in der Grisandole-Episode assistiert er Grisandole beispielsweise als Hirsch bei seiner eigenen Gefangensetzung. Stimmt man dieser Interpretation zu, verändert sich die Perspektive auf die Figur Merlin erheblich, denn Merlin erschiene dann als Mastermind hinter der Erzählung, der die Ereignisse bis zum Ende steuert.55 Anders als in der literarischen Tradition, in der Merlins Masken zumindest für das Publikum in der Regel gelüftet werden, fehlt eine solche Auflösung im »Roman de Silence« allerdings. Ein unumstößlicher Beweis für die These ist damit nicht zu erbringen.

6.

Figurenkonzeptionen, Personifikationen und Allegorien

Im »Roman de Silence« gibt es Figuren, die sich als Allegorien, beziehungsweise als Personifikationen verstehen lassen, doch auch Prozesse und Handlungen – insbesondere das wiederholte Einkleiden und Verhüllen,56 das Verstellen und Entlarven – haben einen mehr oder weniger deutlich allegorischen Charakter.

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latio« von Roberts Versromanen anzusehen. Vgl. Pickens, Rupert T. u. a.: Perceval and the Grail: The Continuations, Robert de Boron and »Perlesvaus«. In: The Arthur of the French. The Arthurian Legend in Medieval French and Occitan Literature. Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Pratt, Karen. Cardiff 2006 (Arthurian Literature in the Middle Ages 4), S. 215–273, hier S. 257. Paton [Anm. 42], S. 267f. Zur Trickster-Figur als Figur des Dritten vgl. den Beitrag von Meyer in diesem Band. Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 6–21. Zu Merlin siehe überdies die Beiträge von Meyer, Rüthemann und Seeber in diesem Band. Bezner, Frank: Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der »Intellectual History« des 12. Jahrhunderts. Leiden, Boston 2005 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 85).

Figurenkonzeptionen, Personifikationen und Allegorien

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Beginnen wir mit den allegorischen Figuren, die für den »Roman de Silence« eine zentrale Rolle spielen und einen großen Raum darin einnehmen, nämlich Nature und Noreture, die in der ersten Hälfte konkurrierende Ansprüche auf die junge Silence geltend machen und sich gegen Ende um ihre jeweiligen Rechte an Merlin streiten. Dass es einmal um ein junges Mädchen und einmal um einen wohl alten Mann geht, dürfte kaum Zufall sein. In beiden Fällen werden allgemeine Fragen nach der wahren Natur des Menschen, dem Ursprung der Sünde und dem Wesen des Geschlechtlichen verhandelt. Überhaupt ist der »Roman de Silence« auch darin mit dem »Roman de la Rose« vergleichbar (den Heldris mit Sicherheit kannte und auf den er mit dem »Roman de Silence« womöglich sogar antwortete57), dass er sich mit akademischen und scholastischen Fragen wie solchen des Seelenheils, der Sünde und der Natur des Weiblichen auseinandersetzt. Nature ist die erste allegorische Figur, die eingeführt wird.58 Der Erzähler beschreibt, wie sie an der Schöpfung von Silence ihre Meisterschaft beweist und sie ganz bewusst als ›ihr Mädchen‹ schafft: Nature qui moult grant force a / Vint a l’enfant, si s’esforça. / Dist: »Or voel faire ouvre forcible« (›Nature, who has great powers, / came to the child and took hold of it / and said, »Now I’m going to create a masterpiece«‹; V. 1805–1807). Alles Weitere ist auch auf dem Hintergrund zu verstehen, dass Silence von Natur dazu ausersehen ist, ihre Fähigkeiten zu offenbaren, und das heißt in der Logik der Natur, die fraulichste aller Frauen zu sein. Ob es sich bei Nature um eine Allegorie oder um eine bloße Personifikation handelt, ist eine Definitionssache und hängt davon ab, welcher Begriff von Allegorie zugrunde gelegt wird. Einigen Allegorie-Bestimmungen zufolge reicht »allein das Auftreten eines personifizierten Abstraktums […] nicht aus, um die Personifikation schon zur Allegorie zu machen, solange die notwendige ›allegorische Differenz zwischen Gestalt und Bedeutung‹, die Doppelheit von Literal- und allegorischem Sinn, fehlt. Die Personifikation selbst sagt mit ihrem Namen bereits, was sie ist. Die allegorische Bedeutung wird erst durch Beziehungen der Personifikation(en) innerhalb ihres Kontextes, insbesondere durch Handlungen und Situationen von bestimmter Verweisabsicht des Autors, konstituiert, deren allegorischer Sinn also auf einer zweiten Ebene liegt.«59 57 Newman legt sogar nahe, dass der »Roman de Silence« aus der Äußerung einer Figur des »Roman de la Rose« entwickelt worden sein könnte, nämlich der Sentenz Nature passe norreture (›Nature surpass Nurture‹ [14,038], vgl. Newman [Anm. 1], S. 141). 58 In diesem Band setzen sich mit der Darstellung von Nature und Noreture die Beiträge von Burrichter und Meyer auseinander, mit der Umsetzung der Problematik ins Bild beschäftigt sich Logemann. 59 Meier, Christel: Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen. In: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 1– 69, hier S. 61 mit Zitat aus Jauss, Hans-Robert: Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der »Psychomachia« (von Prudentius zum ersten »Romanz de la Rose«). In: Me-

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Allegorizität, also die Eigenschaft, allegorisch zu sein, entsteht dieser Bestimmung nach im Falle der Nature im »Roman de Silence« allein durch das, was diese tut, durch ihr Handeln, nicht bereits dadurch, dass ein Abstraktum personifiziert wird.60 Denn eine ganz wesentliche Besonderheit der Allegorie Nature im »Roman de Silence« ist, dass sie gänzlich unanschaulich ist und folglich durch ihre Erscheinung, ihre Gestalt, ihr Äußeres keine allegorische Verschlüsselung erfolgt. Damit stellt sie sich sehr deutlich und auffällig gegen die literarische Tradition.61 Denn mag es auch keine so klare Darstellungskonvention für die Gestaltung der Natura geben wie für Cupido oder Fortuna, so verbindet doch die mittelalterlichen Darstellungen der Natura vor dem »Roman de Silence«, dass ihre Autoren ihnen in aller Regel eine bildgewaltige Erscheinung verleihen62 dium Aevum Vivum. FS für Walther Bulst. Hg. v. Jauss, Hans-Robert u. Schaller, Dieter. Heidelberg 1960, S. 179–206, hier S. 180, S. 185f. Für Knapp stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Allegorizität von Personifikationen – wie für viele andere – nicht. Für ihn sind Personifikationen ohne jede weitere Differenzierung die »verbreitetste[ ] Art der Allegorie«. Knapp, Fritz Peter: Allegorie. In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). Hg. v. Claassens, Geert H. M. u. a. Bd. 1: Die Rezeption lateinischer Wissenschaft, Spiritualität, Bildung und Dichtung aus Frankreich. Hg. v. Knapp, Fritz Peter. Berlin, Boston 2014, S. 281–305, hier S. 281. 60 »Figuren, deren Name sagt, wer sie sind, offenbaren ihre Bedeutung schon vor jeder expliziten Allegorese und machen eine solche meist unnötig. Darauf reagiert auch die gelegentliche Einschätzung der Forschung, es handle sich bei diesen Personifikationsdichtungen gar nicht um Allegorie im eigentlichen Sinn, weil hier ein Literalsinn und eine übertragene Bedeutung kaum auseinanderzudividieren seien. Bei Personifikationen wie Frau Minne oder Frau Welt ist die Wegstrecke der Übertragung vom Konkreten zum Abstrakten extrem kurz, und diese Übertragung ist keine Entschlüsselung, sondern ein Automatismus« (Glauch, Sonja: Grenzüberschreitender Verkehr oder uneigentliche Rede? Allegorische Assistenzfiguren des Erzählers und ihr diegetischer Standort, in: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 [2018], S. 86–107, S. 87, verfügbar unter: https://ojs.uni-oldenburg.de/ojs/index.php/bme/arti cle/view/1/1 [20. 11. 2019]). Dass der eine Bedeutung tragende Name jedoch durchaus keinen Entschlüsselungs-Automatismus auslösen muss, dafür ist gerade die Figur Silence ein Beispiel. In ihrem Fall herrscht nicht einmal Übereinstimmung hinsichtlich der Frage, ob sie überhaupt eine Allegorie oder Personifikation ist oder nicht, von der Frage, was das für die nähere Bestimmung ihrer Rolle im Roman bedeuten würde, ganz zu schweigen. Vgl. zu dieser Frage den Beitrag von Rüthemann in diesem Band, zum Problem der Darstellbarkeit von Personifikationen im Bild vgl. den Beitrag von Logemann. 61 Vgl. u. a. Economou, George D.: The Goddess Natura in Medieval Literature. Cambridge 1972 und Huber, Christoph: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl. Zürich, München 1988 (MTU 89). 62 Im »Tesoretto« ändert sie, wie die Philosophia in Boethius’ »Consolatio«, beständig ihre Gestalt, sie reicht hier bis in den Himmel hinauf, sie wirkt jugendlich und doch alt: Haec dum mecum tacitus ipse reputarem querimoniamque lacrimabilem stili officio signarem, asti-

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– und ihre Anzahl ist durchaus stattlich, blickt die Allegorie der Natur im 13. Jahrhundert doch bereits auf eine reiche und ehrwürdige Tradition zurück, die in der Volkssprache maßgeblich geprägt wird vom zweiten »Roman de la Rose«. Auch dort spielt Natura, die darüber klagt, dass die Menschen ihr die Gefolgschaft verweigern, eine wesentliche Rolle.63 Mit ihrer Klage knüpft Jean de Meun erkennbar an »De planctu Naturae« (ca. 1170) von Alanus ab Insulis an (den Knapp als einen »der einstmals berühmtesten und meistgelesenen mittelalterlichen Autoren«64 bezeichnet), und auch für Heldris selbst ist ein Anschluss an Alanus in der Forschung bereits diskutiert worden.65 Das Motiv der Klage der Natur ist allerdings noch viel älter und lässt sich, wie Modersohn unterstreicht, »über Bernardus Silvestris und Claudian bis zu Lukrez« zurückverfolgen.66 Mit dem 13. Jahrhundert ist die Tradition aber noch längst nicht an ihr Ende gelangt, Natura wird als Allegorie oder Personifikation auch die Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts noch in starkem Maße prägen – man denke an so populäre und einflussreiche Texte wie Guillaumes de Deguileville »Pèlerinage de la Vie hu-

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tissemihisupra verticemvisa est mulier reverendi admodum vultus oculis ardentibus et ultra communem hominum valentiam perspicacibus, colore vivido atque inexhausti vigoris, quamvis ita aevi plena foret, ut nullo modo nostrae crederetur aetatis, statura discretionis ambiguae. Nam nunc quidem ad communem sese hominum mensuram cohibebat, nunc vero pulsare caelum summi verticis cacumine videbatur (›Während ich solches schweigend bei mir selbst erwog und meine tränenvolle Klage mit Hilfe des Griffels aufzeichnete, schien es mir, als ob zu meinen Häupten ein Weib hinträte von höchst ehrwürdigem Antlitz, mit funkelnden und über das gewöhnliche Vermögen der Menschen durchdringenden Augen, von frischer Farbe und unerschöpfter Jugendkraft, obwohl sie so bejahrt war, daß sie in keiner Weise unserem Zeitalter anzugehören schien. Ihr Wuchs war von wechselnder Größe; denn bald zog sie sich zum gewöhnlichen Maß der Menschen zusammen, bald schien sie mit dem Scheitel den Himmel zu berühren‹). Boethius: Trost der Philosophie/Consolatio Philosophiae. Lateinisch und deutsch. Hg. u. übers. v. Gegenschatz, Ernst u. Gigon, Olof. München, Zürich 1990 (Sammlung Tusculum), Liber Primus, Prosa 1, 1–10. Vgl. u. a. Morton, Jonathan: The »Roman de la Rose« in its Philosophical Context: Art, Nature, and Ethics. Oxford 2018. Knapp [Anm. 59], S. 286. Köhler nennt in seiner Edition des »Planctus« 133 Handschriften des Textes. Alanus ab Insulis/Alain de Lille: De planctu Naturae/Die Klage der Natur. Lateinischer Text, Übersetzung und philologisch-philosophischer Kommentar v. Köhler, Johannes B. Münster 2013 (Texte und Studien zur europa¨ischen Geistesgeschichte A2), S. 20. »The Roman de Silence reads in many places like a vernacular version of Alain’s De Planctus Naturae which its author most certainly knew; Heldris’s relation to Jean is, because of the uncertainty of the date of the manuscript, much less certain« (Bloch, R. Howard: Silence and Holes: The »Roman de Silence« and the Art of the Trouvère. In: Yale French Studies 70 [1986], S. 81–99, hier 84). Modersohn, Mechthild: Natura als Göttin – eine Personifikation zwischen Mythos und Aufklärung, in: Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001. Hg. v. Dilg, Peter. Berlin 2003, S. 84–110, hier S. 86. Vgl. auch Modersohn, Mechthild: Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur. Berlin 1997 (Acta humaniora).

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maine« (in mehrere Volkssprachen übersetzt, ins Mittelhochdeutsche als »Pilgerfahrt des träumenden Mönchs«), an den »Tesoretto« Brunetto Latinis, der Dantes »Divina Commedia« maßgeblich anregt und prägt, oder »Le Livre de la mutation de Fortune« von Christine de Pizan, in dem Natura als eine gekrönte Königin alterslos, weise, mächtig, in Gottes Auftrag schaffend die wahre und fürsorgliche Mutter Christines ist. Dieser Seitenblick auf die Tradition der Allegorie Natura sollte für die Ausnahme sensibilisieren, die es darstellt, dass ihr im »Roman de Silence« jegliche Anschaulichkeit fehlt – wir erfahren nichts über ihre Erscheinung. »[L]iterarische […] Bildrede«67 ist sie, mag sie auch allegorisch sein, also nicht. Dass der Autor ihr und uns die Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung vorenthält, beziehungsweise ihr keine verleiht, obwohl der Rezipient im Zusammenhang mit Natura eine solche Beschreibung wohl erwartet haben dürfte, muss angesichts der Tradition der Natura in Philosophie68 und Dichtung als regelrecht ironische Distanzierung verstanden werden. Zwar verzichten Autoren volkssprachiger höfischer Romane nicht selten darauf, den Personifikationen, die sie verwenden, Anschaulichkeit zu verleihen – man denke an die Personifikation der Armut in Hartmanns »Erec«, der Frau Minne in seinem »Iwein«-Roman und der Frau Âventiure, oder an Frau Minne und Frau Liebe in Wolframs »Parzival«. Aber so verfahren höfische Autoren mit Abstrakta, zu denen es keine Darstellungstraditionen gibt – was auf Noreture69 und Ratio, gerade nicht aber auf die Natura zutrifft. Offenbar lag es nicht im Interesse von Heldris, im Falle der Natura das Ungegenständliche gegenständlich zu schildern, dem Unkörperlichen einen Körper zu geben, das Unanschauliche anschaulich zu machen, obwohl er es leicht vermocht hätte. Vielmehr sollte die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf dasjenige gelenkt werden, was Natura schafft, beziehungsweise auf das, worum sie sich mit Noreture streitet: Silence. Doch ist nicht auch Silence selbst allegorisch, ist nicht auch sie, was ihr Name sagt, eine Personifikation des Schweigens, der Stille? Mehrfach ist sie in der Forschung dafür gehalten worden.70 Doch letztlich bleibt ihre Allegorizität den ganzen Text über uneindeutig. Denn anders als im 67 Huber, Christoph: Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. Hg. v. Harms, Wolfgang u. a. Tübingen 1992, S. 151–172, hier S. 152. 68 Speer, Andreas: Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer »scientia naturalis« im 12. Jahrhundert. Leiden u. a. 1995 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 45). 69 Newman bestätigt, dass Heldris der erste Autor ist, der Noreture personifiziert, vgl. Newman [Anm. 1], S. 141. 70 »As a character she is the allegory of woman’s exclusion from having (her inheritance, all that males inherit, all male privileges), and from being (the self-generation of self-expression and

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Falle von explikativen71 Personifikationen oder Allegorien stellt sich Silence nicht einem erlebenden Ich-Erzähler vor und sie wird auch nicht vom Erzähler als Personifikation vorgestellt, vielmehr wird der Rezipient Zeuge ihrer – wie Toepfer in diesem Band zeigt, performativen – Namensfindung und -gebung. Silence ist nicht der Neid, der Reichtum oder die Fortuna, deren zeichenhafte Attribute sukzessive einer Allegorese unterzogen werden, sondern sie wird nach und nach durch das ihr auferlegte Schweigen über ihr wahres Geschlecht zu Silence gemacht und aus Gründen ›Silence‹ genannt, die ihr selbst und dem Rezipienten ausführlich erklärt werden. Das unterscheidet sie von allen (oder von allen anderen) Personifikationen. Denn dadurch besitzt das Abstraktum Silence, mit dem das Kind bezeichnet wird, Merkmale eines Personifikations- ebenso wie die eines Eigennamens, und das Schwanken zwischen beidem charakterisiert den Text fortan. Wie aber ließe sich der Text verstehen unter der Maßgabe einer allegorischen Protagonistin? Sollte der Name Silence nicht als Eigenname einer Figur fungieren wie Merlin oder Artus, sondern als Abstraktum zu verstehen sein, dann w ä r e Silence das Schweigen und die Stille, die Voraussetzung des Sprechens der anderen ist, und zwar jener, die Silence zum Knaben und damit zum Erben, zum Liebhaber, zum Vergewaltiger, zum Ritter und dann zur Ehefrau machen wollen oder machen. In die schriftliche Kommunikation gewendet wäre dieses Schweigen die Weiße des Pergaments, das sich beliebig beschreiben lässt, mit dem Unterschied, dass Silence sich mit den Zuweisungen und Zuschreibungen an sie auseinandersetzt und sich an ihnen auch aktiv beteiligt, zum Beispiel, indem sie über die jeweiligen Vor- und Nachteile der Geschlechter reflektiert und durch Kräuter ihre Gestalt verändert, heimlich ihre Heimat verlässt, Spielmann wird und sich selbst den Namen Malduit gibt oder ihren Namen verheimlicht. Der Körper der Silence ist zwar eine Verfügungsmasse, aber auch Silence selbst verfügt über ihn. Ihr Körper oszilliert nicht nur zwischen dem eines Mädchens und dem eines Knaben, sondern auch zwischen dem ›Körper‹ einer Figur und naming)« (Gilmore, Gloria Thomas: »Le Roman de Silence«: Allegory in Ruin or Womb of Irony? In: Arthuriana 7:2 [1997], S. 111–128, hier S. 113). Gilmore ist allerdings wenig konsistent mit ihren Zuordnungen; an anderer Stelle ist Silence (die sie allerdings Silentius nennt) »the personification of aphasia, the absence of speech, the silent place-holder, [that] functions only by metonymy« (ebd., S. 117). Dann wieder heißt es, dass »Silence, as a trope, functions as a non-articulation that nevertheless delivers a meaning, a signified without a signifier« (ebd., S. 114). 71 Eine Allegorese macht eine Allegorie zu einer explikativen, ihre Benennung, die gleichermaßen ihre Deutung ist, macht eine Personifikation zu einer explikativen. Allerdings kann Eindeutigkeit nicht allein durch Allegorese oder Benennung herbeigeführt werden, sondern auch durch Konventionalität oder die Offenkundigkeit von Allegorizität oder Personifikationalität – dieser Begriff bezeichnet die Eigenschaft einer Figur, eine Personifikation zu sein, ungeachtet ihrer möglichen Allegorizität.

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dem einer Personifikation. Doch mit Silence wird von Heldris nicht nur eine Figur geschaffen, die potenziell allegorisch ist, der Text erzählt auch mehrfach von allegorischen Handlungen – dies ist die zweite Ebene, auf der Allegorizität in diesem Text liegt. Gemeint sind Handlungselemente von geradezu leitmotivischer Relevanz, die um Sinnbezirke wie das Textile, das Sprachliche, das Dichterische oder das Nutritive kreisen. Im Folgenden soll stichwortartig auf Textiles und Sprachliches eingegangen werden. Zu ersterem, also zum Verhüllen, Verkleiden, Verbergen und Vertuschen: Nur kurz nach ihrer Geburt wird das Geschlecht Silences enthüllt und mitgeteilt, von da an bleibt es bis zum Zeitpunkt seiner Wieder-Entdeckung durch Merlin verborgen und sogar den Blicken des Priesters, der das Kind als Knaben tauft, unter Vorwänden entzogen. Fortan steckt in den Männerkleidern und in der Ritterrüstung ein Mädchen. Doch diese Maske ist nur eine von vielen, von denen im Text erzählt wird, denn nicht nur versteckt sich in Silence eigentlich Silentia, auch in Malduit versteckt sich in Wirklichkeit Silence, die fromme Begleiterin der Königin erweist sich als ihr Liebhaber und in wie vielen Larven sich Merlin verbirgt, ist Gegenstand eines eigenen wissenschaftlichen Streites.72 Besonders Vorgänge aus dem Sinnbezirk des Sprechens, Schreibens und Dichtens strukturieren den Text. Ein gutes Beispiel dafür ist der Versprecher, der zwischen den Liebenden, die später die Eltern Silences sein werden, deren gegenseitige Liebe aufdeckt. Durch ihn ›spricht‹ oder besser drückt Eufemie versehentlich aus, was sie verschweigen, aber insgeheim eben doch mitteilen will: Sie ersetzt das geplante Pronomen mi in »Parlés a mi« (›»Speak to me«‹; V. 885) durch den Stoßseufzer »Parlés, haymmi« (›»Speak, ah me«‹; V. 886).73 »Parlés, haymmi« wird so gewissermaßen zum Programm, umfasst diese Äußerung doch in seinem artikulierten Teil – als Sprechaufforderung – den Bereich des sprachlich Kontrollierten und im Seufzer das Unartikulierte, Unausgesprochene und Verschwiegene oder zu Verschweigende. Nur beides zusammen allerdings führt, wie Bussmann in ihrem Beitrag zeigt, Cador zur Einsicht in Eufemies Liebe. Überhaupt hat das Stimmliche und Klangliche in diesem Roman eine besondere Bedeutung: Silence ist durch ihr Geheimnis zur ständigen Wachsamkeit und teils auch zur Lüge verdammt. In diesem Zusammenhang kommt ihrem Gesang besondere Signifikanz zu, den sie als Malduit vorträgt. Der Text nimmt nicht auf die Poesie der Liedtexte, sondern auf die Klanglichkeit und Musikalität

72 Vgl. hierzu zuletzt Roche-Mahdi [Anm. 55] sowie den Beitrag von Rüthemann in diesem Band und den Abschnitt 5. Quellen und Stofftraditionen in der Einleitung. 73 Vgl. zu dieser Szene ausführlicher Bussmann, Kropik und Rüthemann in diesem Band.

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Bezug.74 Ihr betörender Gesang macht Silence zwar berühmt, zieht aber im gleichen Maße auch den fast tödlichen Neid der Spielleute auf sie. Schwer zu beantworten ist die Frage nach der Allegorik der Handlungsverläufe, mit der sich auch Meyer in seinem Beitrag auseinandersetzt. Einerseits könnte sich diese Allegorik aus der Allegorik der Figur Silence ergeben: Wenn sie die Stille oder das Schweigen ist, dann kann oder muss jede Handlung, die sie vollzieht, eine bedeutsame, ja, sogar eine allegorische sein, eine, die außer der literalen Bedeutung noch eine weitere besitzt. Doch obwohl sich durch den ganzen »Roman de Silence« Sinnbereiche hindurchziehen, die um das Textile, das Sprachliche, das Dichterische, Erotische oder das Nutritive kreisen, verdichten diese sich kaum je zu einer übergreifenden Sinnstruktur, die sich decodieren ließe. Der Rezipient fühlt sich wie die Begleiter von Merlin, die spüren, dass sein Lachen einen konkreten Anlass haben muss und diesen schließlich auch erfahren und verstehen. Ohne seine Allegorese allerdings wäre ihnen die Auflösung nicht gelungen. So ist auch der Leser unentwegt zur Deutung, zur Verknüpfung und Allegorese eingeladen, die jedoch stets nur in neue Allegoresen hineinführt.

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Der »Roman de Silence« erzählt die Geschichte eines Mädchens, das, um sein Erbe nicht zu verlieren, sofort nach seiner Geburt als Junge ausgegeben, getauft und erzogen wird und im Erwachsenenalter in verschiedenen Männerrollen (Künstler, Höfling, Ritter) reüssiert, bis schließlich – in einer relativ krude erzählten Enthüllungsszene – doch seine wahre Identität aufgedeckt wird: In der finalen Szene des Romans lässt König Ebain Silence vor dem gesamten Hofstaat entkleiden und findet dann ›alles am richtigen Platz‹ (Tolt issi l’a trové par tolt; V. 6574). Der Roman endet mit der im Text kaum vorbereiteten Hochzeit zwischen dem König und Silence. Die Unterscheidung zwischen der Natur der Hauptfigur und dem Einfluss der Erziehung auf das Ausagieren bestimmter sozial festgelegter Geschlechterrollen, die hier als zentrales Problem des Romans aufscheint, erinnert an die moderne Differenzierung zwischen biologischem (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) und hat auch aus diesem Grund das Interesse einer nicht ausschließlich mediävistischen Forschung auf sich gezogen: 74 Der Text ist hinsichtlich der Tätigkeit als menestrel nicht eindeutig und thematisiert vor allem das Instrumentenspiel. Es gibt allerdings auch Andeutungen der Komposition von ›Geschichten‹: Paint d’acesmer sa volenté, / De faire honor, et a plenté / Ait vials bials dis sor tolte rien, / Ki plus ne fait [cha ju] bien (›whether he strove to achieve greater self-discipline, / or to refine his performance, or whether he knew / plenty of beautiful stories on any subject, / no one could outdo him [?]‹; V. 3229–3232).

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Der »Roman de Silence« ist ein beliebter Gegenstand der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender-Forschung.75 Auch in dem vorliegenden Band ist die Frage nach dem Umgang mit dem Problem der geschlechtlichen und sozialen Identität der Hauptfigur einer der zentralen Ansatzpunkte für die Interpretation des »Roman de Silence«. Die Beiträge von Burrichter, von Contzen, Kropik, Logemann, Meyer, Rüthemann, Seeber und Toepfer widmen sich diesem Thema. Die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung von Natur oder Erziehung für die Entwicklung eines Menschen wird freilich nicht nur am Beispiel der geschlechtlichen Identität der Heldin verhandelt (obwohl diesem Problem der meiste Raum zugestanden wird): Zusätzlich verlässt Silence als Heranwachsende heimlich ihre Heimat, schließt sich zwei Spielmännern an, dient ihnen und erlernt ihre Kunst (V. 2690–3682). Merlin wird in der Schlussepisode im Zwiespalt zwischen seiner Menschennatur und dem mit ihr verbundenen Verlangen nach zubereiteter und daher menschengemäßer Nahrung und der tiernahen Existenz als wilder Mann im Wald gezeigt (V. 5987–6135). Als potenziell gestaltbar erweist sich damit nicht nur die Geschlechtsidentität, sondern ebenso der Stand und sogar das Menschsein der Figuren.76 Die Frage nach dem Einfluss von Natur und Erziehung wird im Text zudem auf einer theoretischen Ebene reflektiert. Heldris nutzt, wie oben bereits erwähnt, hierzu die Strategie, Nature und Noreture als Personifikationen auftreten zu lassen, die in zwei großen Streitgesprächen ihren Anspruch auf die jeweils verhandelten Figuren diskutieren, wobei einerseits Silence, andererseits Merlin der Gegenstand ihrer Auseinandersetzung ist. Das Streitgespräch um die Identität der Heldin findet statt, als Silence zwölf Jahre alt ist, nach mittelalterlicher Auffassung also erwachsen und insofern fähig ist, selbstbestimmt zu handeln (V. 2496–2688). Hatten zuvor ihre Eltern beschlossen, Silence als Jungen auszugeben, muss sie jetzt selbst entscheiden, ob sie die männliche Lebensweise aufrechterhalten will oder nicht. Ausgangspunkt ist Natures Vorwurf, dass Silence ihre Geschenke – d. h. ihre von Nature selbst geschaffene außerordentliche Schönheit77 – ungerechtfertigterweise zurückweise, ihre Umgebung böswillig täusche und dadurch potenziell Leid verursache (V. 2502–2524). Silence ist zu75 Einen guten Überblick über die Forschung und die verschiedenen Forschungsrichtungen zu diesem Punkt bietet der Forschungsbericht von Psaki. Vgl. Psaki, F. Regina: Un coup de foudre: la recherche anglo-saxonne sur le »Roman de Silence«. In: Cahiers de recherches médiévales 13 (2006), S. 287–303. 76 Das Problem wird auch anhand von Nebenfiguren thematisiert. Verkleidet ist z. B. auch der Liebhaber der Königin, der als Nonne Teil ihres Hofstaats ist (V. 6511–6581). 77 Die Erzählung von Silences Geburt wird von einer umfänglichen descriptio begleitet (V. 1795– 1974), in der Heldris Silence als Natures Schöpfung beschreibt. In ihrer ganzen körperlichen Substanz ist Silence ein Mädchen und nur als solches ein niemals übertroffenes Meisterwerk: Ainc n’ovra mais si bien Nature / A rien ki morir doive vivre (›Nature will never work so well / on any mortal being again; V. 1956f.).

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nächst geneigt, Natures Argumenten zuzustimmen: Ihr Gewissen sträubt sich gegen den Betrug (couverture, V. 2499), der auch aus ihrer Perspektive mit ihrem Leben als Junge untrennbar verbunden ist; gegenüber Noreture beschreibt sie zudem die Angst vor der Aufdeckung, in der sie sich immerfort befindet: Se me desful par aventure / Dont ai paor de ma nature (›Whenever I happen to get undressed, / I am afraid my sex will be discovered‹; V. 2571f.). In ihren Gesprächen mit Nature und Noreture wird zudem deutlich, dass die Konfrontation mit der Differenz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht Silence in eine Identitätskrise stürzt. Ähnlich wie Hartmanns Iwein, der, nachdem er durch die Heilsalbe von seinem Wahnsinn kuriert worden ist, seinen verwahrlosten körperlichen Zustand nicht mit den Erinnerungen an sein Ritterleben in Einklang bringen kann und dieses deswegen zunächst für einen Traum hält (bistûz Îwein, ode wer / hân ich geslâfen unze her / […] ist mir getroumet mîn leben [›Bist du Iwein oder wer sonst? / Habe ich bis jetzt geschlafen? […] Habe ich mein Leben geträumt‹; V. 3509–3577]),78 sieht Silence durch Natures kategorische Erklärung Tu nen es pas Scilentius! (›You are not Silentius!‹; V. 2530) ihre gesamte Existenz in Frage gestellt. Wenn sie kein Junge ist, wer ist sie dann? – Silencius! qui sui jo donques? (›Not Silentius? Who am I then?‹; V. 2532). Obwohl Silence die Diskrepanzen zwischen ihrem biologischen und sozialen Geschlecht wahrnimmt und von ihrem Vater über die Notwendigkeit der Verkleidung belehrt worden ist, hat sie sich demzufolge bislang über ihre soziale Rolle definiert und verliert das Fundament ihres Seins, wenn sie sich als Mädchen sieht. Überraschenderweise trägt Noreture in dieser Auseinandersetzung den Sieg gegenüber Nature davon, ohne selbst wirkliche Argumente vorbringen zu müssen. Sie vertreibt Nature durch Erpressung, indem sie Silence als perfektes Beispiel für eine geglückte Denaturierung, d. h. eine komplette Abkehr von der wahren Natur eines Menschen, präsentiert,79 und androht, dies auch noch mit weiteren tausend Leuten (.m. gens; V. 2600) machen zu können. Letztlich ist es daher Raison, die Silence davon überzeugt, an ihrem männlichen Leben festzuhalten, weil dieses ihr sehr viel größere Freiheiten als ein Leben als Frau bietet: Donques li prent a sovenir Des jus c’on siolt es cambres faire Dont a oï sovent retraire, Et poise dont en son corage Tolt l’us de feme a son usage, Et voit que miols valt li us d’ome Que l’us de feme, c’est la some. (V. 2632–2638)

78 Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausg. v. Benecke, Georg Friedrich u. a. Übersetzung und Nachwort v. Cramer, Thomas. Berlin, New York 42001 (De Gruyter Texte). 79 Jo l’ai tolte desnaturee (›I have completely dis-natured her‹; V. 2595).

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Then he began to consider / the pastimes of a woman’s chamber – / which he had often heard about – / and weighed in his heart of hearts / all female customs against his current way of life, / and saw, in short, that a man’s life / was much better than that of a woman.

Noretures Sieg ist freilich temporär und wird im zweiten, diesmal am Beispiel von Merlin geführten Streitgespräch (V. 5994–6101), wieder kassiert. Hier zeigt sich nämlich, dass die von Nature schon anfänglich, unmittelbar nach ihrer Entdeckung von Silences Erziehung zum Jungen, geäußerte Überzeugung, dass nichts sich seiner Natur für immer entziehen könne (Il n’a en tiere nule rien, / Ki par nature ait a durer, / Ki puist al loing desnaturer [›There is nothing on this earth / created by Nature / that can be dis-natured in the long run‹; V. 2270–2272]), tatsächlich wahr ist: Merlin wird durch den Geruch des gebratenen Fleisches, d. h. durch den Geruch menschengemäßer, zubereiteter Nahrung, angelockt (V. 5994f.). Noretures Vermutung, dass Merlin schon so lange im Wald sozialisiert (noris; V. 6003) worden sei, dass er seine Menschennatur vollkommen hinter sich gelassen habe und mit Kräutern zufrieden sei (V. 6003–6006), erweist sich demnach als falsch.80 Natures entscheidendes Argument, um Noretures Machtanspruch abzuwehren, ist freilich ihre plakativ herausgestellte moralische Überlegenheit: Da Nature den Sündenfall nicht als Anzeichen für eine mögliche Schwäche des als Gottes Ebenbild perfekt geschaffenen Menschen versteht, sondern allein als Folge der Einflüsterungen des Teufels, d. h. als Folge von noreture, kann sie Noreture als Ursache sämtlicher Fehler und Sünden anklagen. Diesem Vorwurf vermag Noreture nichts mehr entgegenzusetzen (V. 6035–6089). Die Gefangennahme von Merlin und der mit ihr verbundene Sieg von Nature über Noreture bilden den Auftakt dafür, dass in der Schlussszene des Romans alle noch bestehenden Täuschungen aufgedeckt werden. Merlin entlarvt die Untreue der Königin, indem er die Identität ihres als Nonne verkleideten Liebhabers enthüllt, und legt Silences wahres Geschlecht offen (V. 6471–6552). Dieses Ende ist durchaus ambivalent und hat in der Forschung unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Auf der einen Seite kann man Silences Re-Installierung als Frau und die Heirat als literarisch folgerichtig ansehen, so unpassend der 80 Dass hier Merlin das Beispiel ist, anhand dessen Nature und Noreture ihren Streit austragen, ist durch die Vorlage für die Episode bedingt, denn Heldris inseriert das Gespräch von Nature und Noreture in die Partie des Romans, die sich auf die Grisandole-Episode stützt. Dennoch kann man hierin auch eine rhetorische Strategie sehen, um das Publikum für die Argumentation der Nature zu gewinnen: Dass es für Merlin positiv ist, sich seiner Menschlichkeit wieder bewusst zu werden und seine tierähnliche Waldexistenz aufzugeben, ist zumindest auf den ersten Blick unstrittig (zu möglichen damit verbundenen Ironisierungsstrategien vgl. die sich anschließende Argumentation). Für Silence ist die Entscheidung zwischen Natur und Erziehung hingegen – wie der Text bereits vorgeführt hat – schwieriger: Das Leben als Frau bedeutet immer schon einen Verzicht auf Privilegien und Freiheiten, die in der mittelalterlichen Gesellschaft nur Männern offenstehen.

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dazu auserwählte Partner, König Ebain, aus moderner Perspektive auch erscheinen mag: Mit der Hochzeit legt der Text Silence auf ihr Frausein fest und schiebt so jeglichen Spekulationen über ihre Identität einen Riegel vor; den mit der Ehe verbundenen ständischen Aufstieg zur Königin könnte man als literarischen Auszeichnungsmechanismus auffassen.81 Wie Burrichter in ihrem Beitrag argumentiert, kann man aus dieser Perspektive Natures bereits oben zitierten Anspruch, dass niemand sich ihr auf Dauer zu entziehen vermag, gewissermaßen als Motto des ganzen Textes interpretieren. Tatsächlich liefert der »Roman de Silence« einige Indizien dafür, dass die Position von Nature gegenüber derjenigen Noretures zu privilegieren ist. So wird etwa Nature von Anfang an mehr Raum zugestanden, da sie als Schöpferin von Silence agiert (V. 1795– 1974). Anders als Noreture tritt sie zudem im Schluss ein weiteres Mal auf, weil sie vor der Hochzeit Silences Schönheit restituiert und alle Spuren ihres männlichen Lebens tilgt: D’illuec al tierc jor que Nature Ot recovree sa droiture Si prist Nature a repolir Par tolt le cors et a tolir Tolt quanque ot sor le cors de malle. Ainc n’i lassa nes point de halle: Remariä lués en son vis Assisement le roze al lis. (V. 6669–6676) After Nature / had recovered her rights, / she spent the next three days refinishing / Silence’s entire body, removing every trace / of anything that being a man had left there. / She removed all traces of sunburn: / rose and lily were once again / joined in conjugal harmony on her face.

Dadurch, dass Heldris sowohl den Schöpfungsprozess als auch den vorausschauend gefassten Plan der Eltern, angesichts des problematischen Erbrechts das Geschlecht ihres Kindes nötigenfalls zu fingieren, für das Publikum offenlegt, besteht das Verwirrspiel um die Identität der Figur zwar innerhalb der erzählten Welt, nicht aber für die immer schon aufgeklärten Rezipientinnen und Rezipienten. Für diese tritt Silence als Mädchen in die Geschichte ein und handelt – eingedenk dieses Wissens – in der Folge als verkleidetes Mädchen, nicht als Junge.82 Daran kann auch der Umstand, dass der Text häufig das männliche 81 So z. B. die Position von Brahney, Kathleen J.: When Silence Was Golden: Female Personae in the »Roman de Silence«. In: The Spirit of the Court: Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society (Toronto, 1983). Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Taylor, Robert A. Cambridge 1985, S. 52–61, hier S. 60. Siehe auch: Callahan [Anm. 25], S. 12–20. 82 Grundsätzlich wird die Verkleidung zunächst als zeitlich begrenzte Lösung vereinbart. Die Eltern planen, Silence so lange als Junge auszugeben, bis sie ein zweites, diesmal männliches

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Pronomen für Silence gebraucht, wenig ändern, zumal Heldris in den Partien, in denen es wirklich darauf ankommt, das biologische Geschlecht seiner Protagonistin ostentativ betont.83 In den Verführungsszenen, in denen Silences Frausein der Grund ist, warum das ehebrecherische Verlangen der Königin niemals gestillt werden kann, tritt gehäuft die von Heldris sonst nicht gebrauchte Benennung seiner Heldin als ›Junge, der eigentlich ein Mädchen ist‹ auf (etwa V. 3763: li vallés mescine; V. 3785: li vallés qui est mescine). Auf der anderen Seite lassen vor allem jene Stellen, in denen Silences bewusste Abkehr von einer weiblichen Existenz mit der Unattraktivität typisch weiblicher Lebensentwürfe gerechtfertigt wird, das subversive Potenzial des »Roman de Silence« aufblitzen. Angesichts des Umstands, dass Silence selbst ein mögliches Leben als Frau in seinen Beschränkungen als Knechtschaft (bastonage; V. 2871) bezeichnet, wirkt das Ende wenig erstrebenswert, zumal der schwache König Ebain kaum ein gleichwertiger Partner für die in jeder Hinsicht als ideal gezeichnete Heldin ist. Hier ergeben sich also Irritationsmomente, obwohl im Text weder von den Figuren noch vom Erzähler direkte Vorbehalte gegen die Eheschließung geäußert werden.84 Auch in Bezug auf Merlin ist bei genauerer Betrachtung fraglich, ob die Rückkehr zur Menschennatur durchgängig positiv zu bewerten ist. Für Merlin bedeutet das nämlich primär, in niederen menschlichen Gelüsten gefangen zu sein: Er wird zum gierigen Fresssack (V. 6100–6135).85 Inwieweit solche Irritationsmomente Ansatzpunkte für eine dann durch die Rezipienten und Rezipientinnen zu leistende Dekonstruktion des Romanendes liefern sollten, ist gerade aus der Perspektive der modernen Leserin, des modernen Lesers nur schwer abzuschätzen. Womöglich fällt heute das subversive Potenzial des Romans stärker ins Auge, als dies aus zeitgenössischer Sicht der Kind haben (V. 2045–2050). Das bleibt freilich ein blindes Motiv – weitere Kinder werden nie wieder erwähnt. Auch Silence rechnet damit, dass die Verkleidung überflüssig werden könnte und sie dann als Frau leben wird. Dies ist einer der Gründe, warum sie sich den Spielmännern anschließt und Instrumente lernen möchte, um sich in der Kemenate im Zweifelsfall beschäftigen zu können (V. 2831–2872). 83 Zum Pronomengebrauch vgl. insbes. den Beitrag von von Contzen in diesem Band. 84 Die Kürze des Endes, der Verzicht auf eine ausführliche Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten und der Umstand, dass Heldris sich bei der Schilderung auf seine fingierte Vorlage zurückbezieht und die Verantwortung gleichsam an diese abgibt (V. 6678), hat in der Forschung allerdings auch dazu geführt, dies als Indizien dafür zu werten, dass der Autor das Ende insgeheim ablehnt und lediglich Konventionen bedient. Vgl. etwa Kinoshita, Sharon: Male-Order Brides: Marriage, Patriarchy, and Monarchy in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 64–75, hier S. 71f. 85 Als wie problematisch man diese Entwicklung wertet, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, ob man den weisen Mann, der Silence hilft (V. 5873–5986), als verkleideten Merlin interpretiert, der dann als Mastermind hinter seiner eigenen Gefangennahme stünde. Heldris verzichtet aber darauf, die Identität des Helfers ausdrücklich zu klären (siehe die Diskussion unter Abschnitt 5. Quellen und Stofftraditionen).

Geschlechterbeziehungen und deren narrative Entfaltung

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Fall gewesen ist.86 Mit Blick auf die Protagonistin ist jedenfalls zu bedenken, dass der Text die anfangs durch das Cross-Dressing und die Erziehungsinhalte geschürte Erwartung, von einer selbstbestimmten, aktiven und ritterlich kämpfenden Frau zu erzählen, nur bedingt erfüllt. Sicherlich gibt es Textpartien, in denen man Silence alle diese Attribute zusprechen kann: Sie entscheidet sich mit zwölf Jahren bewusst und aufgrund der damit verbundenen Privilegien dafür, weiterhin ein Leben als Mann zu führen, sie verlässt absichtlich ihre Heimat, um sich den Spielleuten anzuschließen, und sie kämpft als Kommandant über dreißig französische Ritter äußerst erfolgreich in einer Schlacht (V. 5299–5656). In der langwierigen Intrigenhandlung, die die zweite Hälfte des Romans dominiert, ist die Figur allerdings zur Passivität verdammt. Da Silence das Begehren der Königin weder erwidern noch sich gegen ihre falschen Anschuldigungen wehren kann, weil sie dazu ihr wahres Geschlecht enthüllen müsste, ist sie sowohl den unerwünschten Nachstellungen wie dem dann in die Tat umgesetzten Racheplan der Königin hilflos ausgeliefert. Paradoxerweise ist es die böse Eufeme, die – ganz im Unterschied zu Silence – als ehebrecherische und intrigante Königin ein für weibliche Figuren stereotypes literarisches Rollenmuster ausfüllt, die hier aktiv und selbstbestimmt (wenngleich letztlich erfolglos) agiert.

8.

Geschlechterbeziehungen und deren narrative Entfaltung

Geschlechterbeziehungen und die narrative Entfaltung von Männer- und Frauenrollen, von Hass, Liebe, Begehren und Betrug variiert der »Roman de Silence« in verschiedenen Paarkonstellationen, jedoch immer nur anhand adliger Figuren. Die Darstellung der Figurenkonstellationen zwischen Mann und Frau unterscheiden sich – auch bedingt durch das zugrunde liegende Erzählschema oder intertextuelle Anspielungen und Aufnahmen von Motiven – im Umfang sowie Art und Weise. Die Schilderung der ersten Paarkonstellation – König Ebain von England und Eufeme, die Tochter von Begon, des Königs von Norwegen – nimmt Elemente des Brautwerbungsschemas auf, doch geht die Werbung hier untypischerweise vom Brautvater aus. Ausgangspunkt ist eine Fehde zwischen den Königen. Auf den Ratschlag weiser Männer bietet Begon seine Tochter als Bedingung für den Friedensschluss an. Eufeme ist zwar schemagerecht die schönste Frau der Welt: El mont n’avoit plus biele gemme (›the world never held such a beautiful gem‹; V. 166), doch ist klar, dass die Ehe primär politisch motiviert ist, 86 Seeber beispielsweise sieht eine solche Lesart als moderne lectio difficilior, die ihre Berechtigung habe, aber wohl nicht dem zeitgenössischen Verständnis entspreche; vgl. seinen Beitrag in diesem Band. Zur Bandbreite des Interpretationsspielraums siehe auch den Beitrag von Toepfer in diesem Band.

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Einleitung

selbst wenn die Rede Ebains nachträglich die Fehde mit dem Frauenerwerb zusätzlich legitimiert (V. 180–190). Auf die Ratsszene am Hofe Ebains folgt die erneute Aussendung von Boten, die Fahrt über das Meer ins Reich des Brautvaters, die Übergabe der Braut, die Begrüßung der Braut im Lande des Bräutigams und eine einjährige Hochzeitsfeier. Der Umgang des Paares entspricht höfischen Umgangsformen (V. 238–242), doch weist die Aufzählung der im Hafen von Norwegen ebenfalls übergebenen Tiere – schwarze Pferde, Bären, Geflügel und Löwen – (V. 228–233) auf die Degradierung der Königstochter zur Kriegstrophäe hin. Die Beziehung stellt sich nach außen dennoch als vorbildliche Beziehung eines Herrscherpaares da. Ebain ist Eufeme wohlgesonnen, Klagen und Vorwürfe werden ernst genommen, die Ehrverletzung der Königin wird als Ehrverletzung des Königs gesehen (V. 4100–4251, 4149–4151, 4221–4227). Doch ist es keine Beziehung, die von Liebe geprägt ist. Die Paarkonstellation bildet damit einen Kontrast zur darauffolgenden Liebesgeschichte von Cador und Eufemie, den Eltern von Silence. Bereits deutlich umfangreicher, ist auch die Schwerpunktsetzung eine andere. Höfische Liebe (fine amor [›courtly love‹; V. 1102]) und gegenseitiges Begehren stehen im Vordergrund. Die Elternvorgeschichte von Tristan und insbesondere das Liebesgeständnis von Blancheflor und Riwalin variierend aufgreifend (V. 839–1098)87 werden ausführlich die Liebesqualen, der Zweifel und das Begehren der beiden Liebenden dargestellt. Bereits bei der Schilderung von Cador als vorbildlicher Ritter und von Eufemie als in den Künsten gebildete, schönste Frau der Welt wird die gegenseitige, doch voreinander verschwiegene Liebe der beiden aufgeführt (V. 391–405). Die Liebesbeziehung wird über die fine amor hinaus durch die dem Geständnis (V. 882– 912) folgende Beratung und königliche Anordnung zur Heirat (V. 1199–1650) durch die Ehe politisch legitimiert und durch den Nachwuchs genealogisch bestätigt. Als Hinweis, dass die beiden Beziehungen im Bezug aufeinander zu verstehen sind, mag schon die starke Namensähnlichkeit der Frauenfiguren dienen. Im Laufe der Erzählung zeigt sich, dass die Figuren als Gegensätze konzipiert sind. Eufemie ist vorbildlich in ihrer Liebe und in ihrem Verhalten. Nach der Geburt von Silence sind sie und Cador nur mehr als positives Eltern- und Grafenpaar von Bedeutung. Eufeme wird hingegen, nachdem Silence zur Ritterausbildung an den Königshof von Ebain geschickt wurde, als Beispiel der wollüstigen, ehebrecherischen Frau geschildert: Or oiés quel desloialté Avint et ques mesaventure,

87 Vgl. zu intertextuellen Referenzen auf den Tristanstoff die Beiträge von Bussmann und Kropik.

Geschlechterbeziehungen und deren narrative Entfaltung

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Con faite rage et quele ardure Cis Sathanas en soi aquelt (V. 3696–3699). Now you shall hear what treachery / and evil deeds transpired, / what deceitful madness and burning lust / lurked in this female Satan!

Dies geschieht, ohne dass zuvor negative Charakterzüge oder Verhaltensweisen genannt oder dargestellt worden wären. Erst beim Versuch Eufemes, Silence zu verführen, erfährt der Zuhörer, dass Eufeme derartige Eigenschaften besitzt (V. 3713). In dieser Konstellation werden zwei weibliche Figuren zusammengeführt, die beide den Königshof täuschen, Silence über ihr Geschlecht, die Königin über ihren bösen Charakter. In der letzten Episode des Romans, in welcher Merlin die Gründe seines Gelächters aufdecken muss, zeigt sich, dass Eufeme systematisch Ehebruch begeht. Eine vermeintliche Nonne ihres Hofstaates entpuppt sich als verkleideter Kleriker und Geliebter der Königin. Silence nun kann aufgrund ihrer Natur dem Verlangen der Königin nicht nachgeben, so dass dieses in Hass und Zorn umschlägt (V. 3900f.). Wie in der Erzählung von Potiphars Frau88 plant Eufeme als Rache die Vortäuschung eines Vergewaltigungsversuches, um den Tod Silences herbeizuführen. Die mit Verstellung, Tränen und Klagen gespickte Verleumdung geht vorerst auf, doch entkommt Silence aufgrund der Beratschlagung von weisen Ratgebern am französischen Königshof dem Anschlag auf ihr Leben. Der Erzähler schildert das Begehren und die Verstellung Eufemes in drastischen Worten und nimmt sie zum Anlass allgemeiner Frauenschelte. Die Zusammenführung von amer als ›Liebe‹ und als ›bitter‹ erinnert wiederum an das Sprachspiel im Liebesgeständnis von Cador und Eufemie (V. 882–912): Einsi amer est moult amer, Ensi amer est amertume, Maldehait ait hui sa costume. / Ensi amer est bien haïr Et home mordrir, et traïr. Faintice feme paltoniere, Quant violt d’ome estre parçoniere, Pasmer et plorer est sa guise. Mais ja n’iert d’ome si soprise, Por cho qu’il n’ait de s’amor cure, Ne voelle sa male aventure. Feme faintice n’ainme mie, Ains faint pur furnir sa folie. Moult a a dire en fainte feme. (V. 5228–5241) 88 In V. 3705–3709 ist auf den Stoff direkt hingewiesen, so wird in einem intertextuellen Verweis die Versuchung und Drangsal, die Silence erleiden muss, mit der von Joseph am Hofe des Pharaos verglichen und für größer befunden.

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This kind of love is very bitter; / this love is bitterness itself. / A curse on the queen’s behaviour! / This kind of love is really hatred, / betraying a man and killing him. / When a treacherous whore of a woman / wants to get her claws into a man / she gets her way by weeping and swooning. / Yet she’s never so taken with a man / that she doesn’t want to destroy him / if he rejects her advances. / A deceitful woman never loves, / she only deceives to feed her lust. / There is much that could be said on the subject of woman’s deceitfulness.

Begehren, Nichterwiderung, Hass, Racheplan und Verleumdung wiederholen sich nach der Rehabilitation und Rückkehr von Silence und münden diesmal in den königlichen Auftrag, Merlin zu fangen. Anhand dieser Aufgabe wird das Dilemma der weiblich Geborenen, doch männlich Erzogenen zugespitzt. Anhand der Figur Silence wurden bereits in der Jugenddarstellung mit ihrem Konflikt zwischen weiblicher Natur und männlicher Erziehung Handlungsmöglichkeiten der Geschlechter durchgespielt. So wägt Silence die durch Ebain erst beschränkte finanzielle Versorgung der Frau, Männer- gegen Frauenkleider, weibliche Tätigkeiten wie das Sticken in der Kemenate gegen das Männern vorbehaltene Tjostieren, Jagen und Bogenschießen im Freien ab. Die Ausbildung zum jongleur und die Aussicht, selbst wenn sie als Frau leben müsste, noch eine Kunst in der Kammer praktizieren zu können, scheint vorerst eine Zwischenlösung zu sein (V. 2497–2872). Mit der Rückkehr an den elterlichen Hof erfolgt auch die Rückkehr in die männliche Rolle des Ritters, die Silence vorbildlich erfüllt. Die Aufgabe, Merlin zu fangen, ist Folge des Dilemmas zwischen Natur und Erziehung, da nun der Spagat zwischen der Natur als Frau und der Erziehung zum höfischen Ritter nicht mehr ausgehalten werden kann. So macht der Erzähler die weibliche Natur dafür verantwortlich, dass Silence das Begehren der Königin nicht erwidern kann (V. 3822–3824). Die Aufgabe ist als Falle gedacht, Silence soll durch eine unlösbare Aufgabe vom Hof ferngehalten werden, da nur eine Frau Merlin fangen könne (V. 5780–5803). Die Lösung der Aufgabe ist aber zugleich die Auflösung von Silences Geheimnis und Aufdeckung ihrer geschlechtlichen Natur. Silence und Merlin sind durch Silences Familiengeschichte miteinander verbunden. Silence behauptet, Merlin habe ihren Vorfahren derart getäuscht, dass dadurch die Zeugung von Artus ermöglicht worden sei. Auch weisen die Figuren Gemeinsamkeiten auf, auf die besonders Rüthemann in ihrem Beitrag eingeht. Silence ist im Wald vorbildlich höfisch erzogen worden, Merlin hat sich in den Wald zurückgezogen, lebt dort aber als wilder Mann. So wie Silence ist auch Merlin ungeküsst (V. 5845–5848). Zeichnet sich Silence durch das Schweigen über ihr Geschlecht aus, schweigt sich Merlin mehr als drei Tage über sein Lachen aus. Silence und Merlin sind die einzigen Figuren, in deren Schilderung Nature und Noreture sich über die Herrschaft über die Figur streiten (V. 5994–6099). Siegt im Falle von Silence vorerst Noreture, ist bei Merlin Nature die Siegerin. Die erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe sorgt letztendlich für das

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Ende des Ritters Silence, wie Silence, bevor Merlin sein Schweigen bricht, selbst bedenkt: Jo cuidai Merlin engignier, / Si m’ai engignié (›I thought I was tricking Merlin, / but I tricked myself‹; V. 6457f.).

9.

Herrschaftsproblematik und Ratsszenen

Die Normen und Werte in der Erzählwelt, wie auch die für das angesprochene Publikum, sind die der höfischen Adelskultur. Doch ist der Blick nicht nur auf die adlige Bevölkerung gerichtet, wenn etwa vom Leiden der Bevölkerung anlässlich der Fehde zwischen König Ebain und dem König von Norwegen berichtet wird (V. 149–155) oder Freigebigkeit und Krieg miteinander verschränkt werden (V. 125–138). Abhängigkeiten im Feudalsystem und die Auswirkungen von herrschaftlichem Wohlwollen oder Zorn zeigt schon der Grundkonflikt von Silences verhülltem wahren Geschlecht, der die Folge einer im Zorn getroffenen Entscheidung des Alleinherrschers anlässlich eines rechtlichen Sonderfalls ist. Aber auch die Intrigen der abgewiesenen und im Stolz verletzten Königin oder das Verbot von menestrel in Cornwall durch die Eltern von Silence (V. 3490–3682) sind für die Betroffenen die problematischen Folgen von feudalherrschaftlichen Entscheidungen. Als Kritik an den Machtstrukturen könnte etwa V. 149–160 verstanden werden, wenn sich der Krieg gegen Norwegen, der den Tod der gens menue (›lower classes‹; V. 159) nach sich zieht, aus einem nie genannten, geringen Anlass (par petite oquoison [›over something trivial‹; V. 149]) entwickelt. Die Grausamkeit des Tötens im Krieg ist deutlich formuliert. Zynisch ist die Kampfbeschreibung in V. 5465–5474: Li brant de l’acier poitevin Sont a tels .m. si mal voisin, Ja ne rediront en lor tierre A cui estait pis de la guerre. Mais bien vos puis par verté dire C’ainc mais n’oï gregnor martyre. / Gregnor! Ba, Dex! comment gregnor? .m. per de castials et d’onor I sont ochis, fust drois u tors, Dont i a moult des altres mors. The blade of a Poitevin sword / was an unwelcome intruder to some thousand men / who would never tell stories at home / about who had won or lost the war. / I can tell you in all honesty, however, / that I have never heard of a greater slaughter. / Greater? Bah, how can I say greater, / when a thousand men with castles and fiefdoms / were killed, whether they deserved it or not, / along with many others.

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Einleitung

Herrschaft, die Entscheidungen des Herrschers und deren Folgen für den Adel und der Einbezug des Hofstaates durch die Einberufung eines Rates sind zentrale Themen im »Roman de Silence«. Fehden bzw. Krieg mit anderen Königreichen (V. 144–164), die Bedrohung durch einen Drachen im Wald (V. 345–390), die Verteidigung des Reiches gegen feindliche Invasoren (V. 5256–5647), die dem Herrscher vorbehaltene Rechtsprechung und Rechtsgebung (V. 278–336), die Beziehung zwischen Herrscher und Vasallen und dem eigenen Hofstaat wie zu anderen Königshöfen (V. 4288–4292) werden anhand des über England herrschenden Ebain thematisiert. Die Herrscherdarstellung schwankt hierbei zwischen Idealisierung, etwa im Vergleich mit Artus (V. 109–111), und Herrscherbeschreibungen, die als implizite Herrschaftskritik verstanden werden könnten – etwa Ebains Furcht vor dem Drachen (V. 356, 364 und 372). Neben dem Kommentieren und Benennen von Zuständen durch den Erzähler sind es aber gerade die umfangreichen Ratsszenen, mit deren Hilfe feudalpolitische Abläufe in die Erzählung eingebettet werden. Besonders anschaulich geschieht dies bei der Beratung der Grafen von Blois, Nevers und Clermont am Pariser Königshof, wie mit dem Konflikt zwischen Brauch (Silence hat den Kuss des Gastgebers empfangen und steht daher unter seinem Schutz) und königlicher Anweisung (in einem heimlich von der Königin Eufeme gefälschten Brief wird angeordnet, Silence solle umgebracht werden) umgegangen werden soll (V. 4417–4879). Unter Ausschluss des Königs und Berufung auf Ehre und Verpflichtung werden die beiden Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Die Reihenfolge der Wortbeiträge richtet sich nach Alter (V. 4534–4536), falsche Argumente und Positionen sollen verbessert werden, nicht die eigene Meinung, sondern die Lösungsfindung stehe im Vordergrund (V. 4539–4544). Affekte, wie Zorn über eine abweichende Meinung, werden unterdrückt, um wie ein weiser Mann sprechen zu können, ebenso wird die Einleitung des Wortbeitrages und dessen Wirkung bedacht (V. 4585–4590). Die Beratung wird durch einen Erzählerkommentar, der rhetorische Taktiken benennt, zum lehrhaften Exempel, wie man Gegnern verbal begegnen soll (V. 4591–4602). Sachverhalt, Gründe desselben und weitere legitime Handlungsmöglichkeiten wie finanzielle Kompensation (V. 4659–4664) kommen zur Sprache. Dem König wird schließlich eine Lösung präsentiert, die von den offensichtlichen Lösungsmöglichkeiten abweicht und eine Alternative eröffnet, die den Konflikt friedlich löst (V. 4752–4874). Die öffentliche Kollektivberatung ergänzt und kontrastiert den Streit zwischen Nature und Noreture, der den inneren Konflikt einer einzelnen Figur sichtbar macht. Während das Gespräch der Personifikationen nur als Erzählverfahren möglich ist, muten die Auseinandersetzungen der königlichen Ratgeber wie eine Abbildung realhistorischer Vorgänge an. Diese sind in Erzählschemata wie der Brautwerbung zur Entstehungszeit des Romans zwar konventioneller Teil von Erzählungen und als solcher auch Teil des »Roman de

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Silence«, doch ist die durch die Einhaltung höfischer Umgangsformen und Affektkontrolle idealisierte, im Ablauf jedoch real anmutende Ausgestaltung der Positionen am Pariser Königshof, die den Zuhörer wie einen Ohrenzeugen Anteil haben lässt, auffällig und führt die Möglichkeit des Sprechens über Konflikte vor, wie es Silence selbst verweigert ist.

10.

Schweigen, Sprechen und Schreiben als Mittel von Rat und Verrat

Wie sich bereits im sprechenden Namen der Titelheldin andeutet, ist das Verhältnis von Reden und Schweigen eines der zentralen Themen des »Roman de Silence«. Interpretatorisch relevant ist dabei einerseits die Frage, welche Figur wann spricht, andererseits die Frage nach der Manipulierbarkeit von und durch Sprache. Beide Themen fallen bei Silence in einer für diese Figur spezifischen Art und Weise in eins, die letztlich schon mit ihrer Namensgebung durch den Vater zusammenhängt. Cador begründet die Wahl des Namens gegenüber seiner Frau Eufemie folgendermaßen: Sel faisons apieler Scilense El non de Sainte Paciensce, Por cho que silensce tolt ance. Que Jhesus Cris par sa poissance Le nos doinst celer et taisir, Ensi com lui est a plaizir! Mellor consel trover n’i puis. Il iert només Scilenscius; Et s’il avient par aventure Al descovrir de sa nature Nos muerons cest -us en -a, S’avra a non Scilencia. (V. 2067–2078) We shall call her Silence, / after Saint Patience, / for silence relieves anxiety. / May Jesus Christ through his power / keep her hidden and silent for us, / according to his pleasure. / I can’t think of a better plan. / He will be called Silentius. / And if by any chance / his real nature is discovered, / we shall change this -us to -a, / and she’ll be called Silentia.

Ausschlaggebend für die Namenswahl sind zunächst Praktikabilitätsgründe. Durch eine einfache Veränderung der Endung kann man den männlichen (Silentius) in einen weiblichen Namen (Silentia) umwandeln. Sollte also die wahre Identität des Kindes jemals entdeckt werden, müsste man nicht den gesamten Namen austauschen. Noch wichtiger freilich ist der Umstand, dass nicht nur auf der Erzählebene, sondern auch innerhalb der erzählten Welt der Name explizit wegen seiner sprechenden Bedeutung ausgesucht worden ist. Der Name ist

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letztlich eine Mahnung zum Schweigen, das die Tochter in Zukunft wird aufrechterhalten müssen, um sich und ihre Eltern zu schützen und ihr Geschlecht zu verbergen.89 Für die Figur hat das zur Konsequenz, dass sie sich während der Intrigenhandlung niemals mit letzter Konsequenz gegen die unerwünschten Nachstellungen durch die Königin und die falschen Vergewaltigungs-Vorwürfe wehren kann, weil sie durch die Notwendigkeit, ihre geschlechtliche Identität zu verschweigen, immer schon daran gehindert wird.90 Erst nachdem Silences wahres Geschlecht in der Schlussszene enthüllt worden ist, kann sie sich gegenüber dem König erklären:91 A .xv. ans vig a cort, bials sire. Si m’enama lués la roïne. Ne li vol dire men covine Ne m’encusast par aventure Et mostrast avant ma nature. / Ele cuida que jel lassasce Por orguel, qu’amer nel degnasce. Venistes en la cambre o nos: Ele se clama lués a vos Que jo le vol a force amer. Vos m’envoiastes dela mer. Cuidastes le, par verité. Jo me celai por m’ireté; Ne vos vol pas le verté dire. (V. 6602–6615) When I was fifteen and came to live at court, Sire, / the queen immediately fell in love with me. / I didn’t want to reveal my secret to her, / for I feared she might denounce me / and reveal my true nature. / She thought I was resisting her / out of arrogance, that I 89 Zur Namensgebung und der mit ihr verknüpften performativen Dimension von Geschlechtlichkeit vgl. den Beitrag von Toepfer in diesem Band. Durch den sprechenden Namen gewinnt die Figur unter Umständen allegorische Züge. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Rüthemann im vorliegenden Band sowie den Abschnitt 6. Figurenkonzeptionen, Personifikationen und Allegorien in dieser Einleitung. 90 Die Kombination des Cross-Dressing-Motivs mit dem Motiv von Potiphars Frau, d. h. mit dem Motiv der fälschlich erhobenen Vergewaltigungs-Vorwürfe, ist auch in der hagiographischen Tradition typisch. Zahlreiche der Cross-Dressing-Heiligen werden mit Vergewaltigungs-Vorwürfen oder zumindest dem Vorwurf einer heimlichen sexuellen Beziehung konfrontiert. Vgl. hierzu im Detail Dahmen [Anm. 36], S. 124–138. Grundsätzlich zur Evozierung hagiographischer Erzählmuster im »Roman de Silence« siehe den Beitrag von von Contzen in diesem Band. 91 Wenn man das Ende des Romans mit der Hochzeit zwischen Ebain und Silence als negativ versteht, kann man hier eine ironische Wendung sehen. Zuvor hat Ebain nämlich erklärt, dass eine Frau am besten schweigen solle: Sens de feme gist en taisir (›A woman’s role is to keep silent‹; V. 6398). Silence gewinnt ihre Stimme also nur zurück, um durch die dann erfolgende ›Belohnung‹, die Hochzeit mit Ebain, wieder zum Schweigen verdammt zu sein. Andererseits wird Eufeme in der Intrigenhandlung durchaus als Frau mit Stimme gezeigt, ohne dass der König bis zur Schlussepisode negativ darauf reagiert hätte.

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scorned to love her. / And so, when you came into the chamber where we were, / she immediately claimed / that I was trying to take her by force. / You sent me abroad. / You believed that she was telling the truth, / but I was disguising myself for my inheritance, / and didn’t want to tell you the truth.

Das heißt zwar nicht, dass Silence während der gesamten Verführungs- und Intrigenhandlung komplett verstummt. Sie unternimmt in der direkten Auseinandersetzung mit der Königin immer wieder Versuche, diese von ihrem Begehren abzubringen, ohne sich als Frau zu offenbaren (etwa: V. 3757–3790). Zur wirklich auf der Textoberfläche fast durchgängig schweigenden Figur wird Silence erst nach der Vergewaltigungs-Anklage. Ihre Seite der Geschichte wird nämlich niemals auch nur erfragt: So ist Silence zwar bei der ersten Anklage durch die Königin zunächst noch anwesend, Ebain beschließt aber über ihr Schicksal, ohne Silence die Chance einer Rechtfertigung zu geben.92 Auch die von der Königin angezettelte Brief-Intrige wird ohne Silences Beitrag gelöst: Von der Existenz des gefälschten Briefs erfährt sie nichts (V. 4974f.).93 Letztlich wird man sagen können, dass Silence hier – gerade weil sie nicht als Frau, sondern als vorgeblicher Mann agieren muss – zum selbstbestimmten Handeln unfähig und gleichsam zum Spielball der Mächtigen wird: Ebain und der französische König entscheiden über ihr Leben. Silences Verpflichtung zum Schweigen und ihr über den Romanverlauf zu beobachtendes graduelles Verstummen werden dadurch kontrastiert, dass alle diejenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Verfügungsgewalt über sie besitzen – von ihrem Vater bis hin zu Eufeme, Ebain, dem französischen König und Merlin –, Sprache virtuos für ihre Zwecke einsetzen können. Nicht alle Figuren sind dabei ihre Feinde und nicht alle Figuren nutzen Sprache zum Zweck der Täuschung. Merlin und der französische König sowie seine drei Ratgeber reden z. B. mit dem Ziel der Wahrheitsfindung oder der Problemlösung. Eufeme als Hauptgegnerin der Protagonistin setzt Sprache aber gezielt ein, um Silence ins Verderben zu stürzen, indem sie Silence der Vergewaltigung (efforcier; V. 4092) 92 Silence wird erst unmittelbar vor der endgültigen Entscheidung aus dem Raum entfernt (V. 4224), ist während der Anklage durch die Königin daher noch anwesend. In dieser Zeit beteuert sie ihre Unschuld allerdings nur in einer geflüsterten Seitenbemerkung, die sich letztlich an das Publikum richtet. So wird deutlich, dass sie sich nicht verteidigt, weil sie die Ehre der Königin nicht verletzen will und weil sie Angst vor den Folgen hat, wenn der König ihr wahres Geschlecht erfährt (V. 4166–4182). Zum Verstummen der Figur auf der Textoberfläche vgl. auch den Beitrag von Rüthemann in diesem Band. 93 In ihrer Funktion als Bote spricht Silence, doch reduziert der Text die Wiedergabe ihrer wörtlichen Rede. Er zitiert zwar Silences formvollendete Begrüßungsworte gegenüber dem französischen König (V. 4385–4388) und auch ihre Antwort, als der König sich nach ihrer Herkunft erkundigt (V. 4421f.). Das sich dann entspinnende längere Gespräch zwischen dem König und Silence übergeht der Text aber in einem extrem raffenden, lediglich drei Verse umfassenden Erzählerbericht (V. 4425–4427).

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Einleitung

bezichtigt. Der falsche Vorwurf funktioniert freilich nicht allein auf sprachlicher Ebene. Vielmehr unterstützt ihn Eufeme damit, dass sie körperliche Anzeichen eines Angriffs fingiert: Commence ses cevials detraire Si com diäbles le fait faire. Fiert soi el nés de puign a ente: Del sanc se solle et ensanglente. (V. 4075–4078) Prompted by the Devil, / she began to tear her hair. / She gave herself a punch in the nose, / so that she was covered with blood.

Eufeme lügt und betrügt also auf mehreren Ebenen und setzt verschiedene Zeichenformen (sprachliche und körperliche) ein.94 Als sie ihr Ziel nicht erreicht, Silence sofort töten zu lassen, weil Ebain vor einem öffentlichen Skandal zurückschreckt und Silence an den französischen Hof sendet, wählt Eufeme ein neues Medium der Diffamierung. Sie tauscht den Begleitbrief ihres Mannes durch ein eigenes Schreiben aus und richtet es trickreich so ein, dass der untergeschobene Brief mit dem richtigen Siegel beglaubigt wird (V. 4315–4364). Scheinbar im Namen des Königs fordert der Brief die Hinrichtung des Boten (V. 4320–4326). In der Form, wie das Motiv der BriefIntrige im »Roman de Silence« realisiert wird, begründet sich der Medienwechsel primär durch den Handlungszusammenhang und ist wohl nicht als konkrete Medienkritik zu verstehen,95 zumal die Rede in dem intrigenreichen Text ebenso der Lüge dienen kann. Die Briefform gibt der Königin jedoch die Möglichkeit, nicht nur den Inhalt, sondern auch den Absender der Nachricht zu fälschen. Das wäre in einer face-to-face-Kommunikation nicht möglich gewesen. Die Doppelung der Verleumdung führt deswegen in dieser Hinsicht zu einer Eskalation der Lüge.

94 Das ist allerdings kein Charakteristikum dieser einen Intrige. Vielmehr spielt die Unterstützung der sprachlichen durch andere Formen der Lüge bei vielen Täuschungshandlungen des Romans eine Rolle. So setzen auch Silences Eltern auf die Beweiskraft des manipulierten Körpers, wenn sie die Geschlechtsteile ihrer Tochter während der Taufe mithilfe eines Tuchs verbergen und die Amme den Kopf des Säuglings absichtlich nicht stützt, sondern ihn herabhängen lässt, um Silence als dem Tode nah ausgeben zu können und damit die Nottaufe zu rechtfertigen (V. 2086–2126). Silence färbt ihr Gesicht, um gegenüber den Spielleuten eine neue Identität annehmen zu können (V. 2908–2913). Umgekehrt ist der körperliche (oder materielle) Beweis in den Enthüllungs-Szenen ebenfalls wichtig. Namentlich in der Schlussepisode lässt der König den Wahrheitsgehalt von Merlins Prophezeiungen stets sofort überprüfen (V. 6305–6340). Silence wird deswegen vor dem gesamten Hofstaat entblößt, um ihr wahres Geschlecht herauszufinden, nachdem Merlin ihre Verkleidung aufgedeckt hat (V. 6569–6574). 95 Anders die Argumentation von Bloch [Anm. 65], S. 96–98. Bloch räumt allerdings auch ein, dass der gesamte Roman »is in fact all about misreading« (ebd., S. 98).

Zu den Beiträgen des Bandes

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Handlungstechnisch ist die Brieffälschungs-Episode darüber hinaus deswegen interessant, weil sie – indem der Erzähler jeweils den hin- und herreisenden Boten an den englischen und französischen Hof folgt – die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Formen des Herrschaftshandelns einander gegenüberzustellen.96 Die tödliche Logik des Urias-Briefes scheitert, weil der ideale französische König sich durch die Regeln der Gastfreundschaft gebunden sieht. Die Erörterung seiner drei Ratgeber darüber, wie dieses Dilemma zu lösen ist, führt schließlich zur Erkenntnis der Fälschung. Ebain sei zu weise (si sage; V. 4837), um einen solchen Brief zu verfassen: Jo ne cuic mie, par mon cief, / Qu’il onques envoiast tel brief (›In fact, Sire, I would swear to it / that he never sent such a letter‹; V. 4841f.).

Zu den Beiträgen des Bandes Inci Bozkaya: Illuminiertes Schweigen. Zur Überlieferung des »Roman de Silence« im Codex WLC/LM/6 Inci Bozkaya widmet sich in ihrem Beitrag der unikalen Überlieferung des »Roman de Silence«. Im Mittelpunkt stehen die Materialität und der Überlieferungsverbund des in Nottingham aufbewahrten Codex WLC/LM/6. Unter Berücksichtigung inhaltlicher und kodikologischer Gesichtspunkte wie Gattungszuordnung und Umfang der 18 im Codex überlieferten Texte, der bei der Niederschrift verwendeten Tinte, der Qualität des Pergaments, der Schriftart und Ausstattung vertritt Bozkaya die Auffassung, dass der Überlieferungsverbund in einen später hinzugebundenen Fabliaux-Teil und einen Epen-Teil aufzuteilen ist. Nur der Epen-Teil ist als enger Überlieferungsverbund von sechs höfischen Großerzählungen zusammen mit dem »Roman de Silence« in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts angelegt worden. Wiewohl kein klares Sammlungsprogramm oder -konzept auszumachen ist, so sind durch die sechs ausgewählten Texte Gattungen wie der Antikenroman (Troja- und Alexanderroman), höfischer Roman, Artusroman und eine Chanson de geste zusammen überliefert, die auf einen höfischen Rezipientenkreis schließen lassen. Bei der sorgfältigen Ausstattung mit heute noch 83 Miniaturen lassen sich drei unterschiedliche Illustrationstendenzen ausmachen, die das Bild-Text-Verhältnis betreffen. Neben standardisierten, sich wiederholenden Darstellungen, wie dem thronenden Herrscher oder dem zum Ausritt gewappneten Ritter, setzen manche Miniaturen Textstellen explizit um, indem sie für den Text spezifische Eigenheiten visualisieren. Manche Miniaturen zeigen Grotesken, Tiere oder Mischwesen, die keinen direkten Text-Bild-Bezug erlauben. Diese drei Tendenzen finden sich auch in den 96 Vgl. hierzu auch Abschnitt 9. Herrschaftsproblematik und Ratsszenen der Einleitung.

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Miniaturen des »Roman de Silence« wieder, die neben der Entwicklung von Silence vom Säugling zur heiratsfähigen Frau die Themen ›Schweigen‹ und ›Sprechen‹ auch bildlich umsetzen. Überlieferungsverbund und Ausstattung erlauben die Einordnung des »Roman de Silence« als nachklassischer höfischer Roman mit der Funktion adliger Selbstvergewisserung.

Cornelia Logemann: Unbestimmte Körper. Travestie als Bildaufgabe im »Roman de Silence« Cornelia Logemann untersucht in ihrem Beitrag die Serie von elf einspaltigen Miniaturen, die in der in Nottingham aufbewahrten Sammelhandschrift WLC/ LM/6 dem Text des »Roman de Silence« beigegeben ist. Dabei interessiert sie das Verhältnis von Text und Bild aus einer doppelten, wechselseitigen Perspektive. Einerseits fragt sie danach, welche Aufgabe eine derart komplexe Geschichte wie die von Silence an die Bilder stellt, die mit Nature und Noreture sowohl allegorisches Personal enthält als auch eine Handlung erzählt, in der die Verkleidung der Hauptfigur und ihre schlussendliche Enthüllung als Frau eine wesentliche Rolle spielen. Logemann betont den engen Bezug der Bilder zum Text, welcher zu ihrer Dechiffrierung auch deswegen benötigt werde, weil sich im 13. Jahrhundert noch keine ikonographische Tradition für den Umgang mit CrossDressing oder für die Darstellung von Allegorien herausgefiltert habe. Viele der kleinformatigen Bilder sind deswegen mehrdeutig. Logemann führt dies insbesondere an zwei Miniaturen vor: Das Bild des Säuglings Silence zwischen zwei Frauen, die in der Forschung bislang als Verkörperung der Mutter und der Amme verstanden worden sind, von Logemann aber versuchsweise als Nature und Noreture gedeutet werden. Bei der Schlussminiatur mit der von Merlin in ihrer Nacktheit enthüllten und vor dem König als Frau entlarvten Silence zieht Logemann eine Verbindung zur Darstellung der reinen Seele als nackte Figur, wie sie sich etwa im 14. Jahrhundert in den Illustrationszyklen zu Guillaumes de Deguileville »Pèlerinage de la Vie humaine« etabliert. Sie nimmt an, dass auch hier nicht einfach nur die entblößte Silence, sondern abstrakter die ›nackte Wahrheit‹ über Silence gezeigt werde, die durch das Abwerfen der verhüllenden Kleider wieder ganz als Werk der Natur dastehe.

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Eva von Contzen: Cum tacet, clamat? Der »Roman de Silence« und der Diskurs des Heiligen Ähnlich wie die Titelheldin im »Roman de Silence« verheimlichen auch die im angelsächsischen Raum am weitesten verbreiteten Heiligen Pelagia, Theodora, Athanasia und Euphrosyne in der zeitgenössischen »Schottischen Legendensammlung« ihr biologisches Geschlecht und geben sich als Mann aus. Im Vergleich mit diesen sogenannten Cross-Dressing- oder Transvestiten-Heiligen zeigt Eva von Contzen auf, wo und in welchem Maße der Roman hagiographische Erzählstrukturen und -motive übernimmt bzw. sie evoziert, hierbei aber auch verändert. So sind Buße, Schutz der Jungfräulichkeit oder die Ausübung des christlichen Glaubens die Hauptfunktionen der Verkleidung im Falle der CrossDressing-Heiligen. Demgegenüber ist Silences Erziehung und Leben als Mann einem weltlichen Motiv geschuldet: dem Rechtsanspruch auf das elterliche Erbe. Auch die linguistische Markierung bzw. Perspektivierung der simultan präsenten doppelten Geschlechter weist Ähnlichkeiten auf. In den Viten der Cross-Dressing-Heiligen in der »Schottischen Legendensammlung« ist die Heilige, je nachdem durch welche Figur bzw. Instanz sie fokalisiert wird, grammatisch als Frau oder Mann markiert. Im »Roman de Silence« ist der Text ebenfalls in den meisten Episoden geschlechterreferenziell eindeutig. Zusätzlich meidet der Erzähler jedoch eine eindeutige Zuschreibung, indem er sich auf grammatikalisch unbedenkliche Worte wie enfes (›Kind‹) beruft oder die stets uneindeutige altfranzösische Schreibweise Silence benutzt. Weitere Korrespondenzen, die als hagiographische Einflüsse gewertet werden können, sind etwa Motive des Verlusts beim Verlassen des Elternhauses und der daraus für die Familie resultierende Schmerz, Momente der inneren Zerrissenheit, Züge der Figur Merlin, die moralische Unterweisung des Publikums in Kernthesen der kirchlichen Doktrin sowie Referenzen auf geistliche bzw. biblische Diskurse. Zugleich unterminiert Silence die hagiographische Konvention, indem sie zwar Elemente von Heiligkeit inkludiert, letztlich aber nicht-hagiographisch agiert. Aufgrund dieser Phänomene kann der »Roman de Silence« als Metaerzählung über das Erzählen in säkularen Kontexten gelesen werden. Das Spiel mit Männlichkeit und Weiblichkeit ist auf metapoetischer Ebene eine Auseinandersetzung mit der Appropriation von Erzählungen durch einen maskulinen Diskurs.

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Britta Bußmann: l’amer amer – »Tristan«-Referenzen und ihre Funktion im »Roman de Silence« Britta Bussmann stellt den Bezug zum Tristanstoff in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Dabei geht es ihr um eine Auseinandersetzung mit der von Lynne Dahmen vertretenen These, dass Heldris de Cornouailles den Tristanstoff zwar grundsätzlich kannte, aber keine identifizierbare Fassung des Stoffes benutzte. Demgegenüber kann Bussmann zeigen, dass Heldris an entscheidenden Stellen direkt auf die »Tristan«-Version des Thomas zugreift: Insbesondere das nur mehr im Carlisle-Fragment tradierte verrätselte Liebesgeständnis von Tristan und Isolde mit seinem Wortspiel um die Homonyme l’amer (das Bittere) – l’amer (die Liebe) – la mer (das Meer) wird Heldris zum Vorbild und von ihm auf gleich zweifache Weise in den »Roman de Silence« inkorporiert. Einerseits nämlich wiederholt Heldris es variierend, wenn er als Auslöser des in der Vorgeschichte geschilderten Liebesgeständnisses zwischen Cador und Eufemie ebenfalls ein Wortspiel um drei Homonyme einführt (ami – a mi – haymmi). Andererseits nutzt er die Homonyme des ursprünglichen thomasschen Liebesgeständnisses in solchen Passagen als Reimwörter, in denen er die Liebe der verschiedenen Paare des »Roman de Silence« beschreibt. Als Ziel dieser intertextuellen Anspielungen vermutet Bussmann, dass Heldris die von ihm als ideal verstandene Liebe zwischen Tristan und Isolde als Konzept verfügbar machen wollte, um sie als Maßstab für die im »Roman de Silence« dargestellten Liebesbeziehungen nutzen zu können. Als ideal in diesem Sinne erweist sich dann freilich nur die Liebe zwischen Cador und Eufemie, nicht aber die Beziehungen zwischen Ebain und Eufeme oder Eufeme und Silence. Für die Schlussszene hat Heldris schließlich ein neues Liebeskonzept entwickelt, indem er amor umcodiert und sie nun vor allem durch Loyalität geprägt gesehen hat.

Cordula Kropik: Schweigen im Walde. Muster narrativer Identitätskonstruktion im »Roman de Silence« Cordula Kropik verbindet in ihrem Aufsatz Ansätze des Queer Readings mit einer Analyse der im Text verarbeiteten narrativen Muster. Zentral ist dabei für sie der Befund, dass Heldris de Cornouailles die von ihm aufgegriffenen narrativen Muster stets variierend einsetzt und dass diese Variationen dazu dienen, den mit den Mustern eigentlich konzeptionell verbundenen Sinn in sein Gegenteil zu verkehren. Die Muster werden demzufolge anzitiert, um gebrochen zu werden und damit konzeptionelle Sicherheiten aufzulösen. Kropik führt dies an verschiedenen Beispielen (Wald als Krisenort, Modell der Heldenjugend), insbesondere aber daran vor, wie Heldris die Darstellung seiner Protagonistin als

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Spiegelbild der Tristan-Figur narrativ nutzt. Wenn Silence nämlich gleichsam zum zweiten Tristan stilisiert wird, dann überträgt sich auch die der Figur Tristan eigene Vorbestimmung zur Liebe zumindest als Erwartung auf Silence. Silence kann diese Erwartung aber nicht realisieren, weil sie als Frau das falsche Geschlecht hat, um wirklich ein Doppelgänger Tristans zu sein: Sie kann die Liebe der die Isolde-Position besetzenden Eufeme nicht erwidern. Gemäß Kropik wird allerdings nicht nur Silences Mann-Werdung durch ihr Frau-Sein verhindert, umgekehrt scheitert auch ihre in der Schlussepisode angelegte Frau-Werdung daran, dass sie durch die narrativen Muster als Mann gekennzeichnet ist. An diesem unauflösbaren Widerspruch setzt abschließend Kropiks queere Lesung des »Roman de Silence« an, wobei für sie Silences Queerness freilich »eine sexuelle allein als eine textuelle« ist (S. 204). Für das literaturwissenschaftlich nicht auflösbare Rätsel des »Roman de Silence«, dass die Identitätsbildung der Figur an ihrer Geschlechtlichkeit scheitert, offeriert Kropik so eine ausdrücklich als hypothetisch markierte psychoanalytische Lösung. Aufbauend auf Lacans Spiegeltheorie liest sie dabei Silence, die kein Mann werden kann, als Spiegelfigur für einen Mann, der keine Frau sein kann.

Regina Toepfer: Junge oder Mädchen? Gender Trouble im »Roman de Silence« Ausgehend von im Text inszeniertem Gender Trouble und den divergierenden Forschungspositionen stellt Regina Toepfer in ihrem Beitrag die Frage nach den Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechtsidentität im »Roman de Silence«. Indem sie an Judith Butlers dekonstruktivistische Gender und Queer Theory anknüpft, zeigt sie auf, dass das biologische, vermeintlich natürliche Geschlecht der Heldin nicht essentialistisch, sondern als kulturelle Kategorie verstanden werden muss. Die handlungsmotivierende Veränderung des Erbrechts offenbart eine generative Genderhierarchie als diskursive, autoritative und willkürliche Setzung und wird Teil der Ursprungsgeschichte für Silences Identitätsbildung, bei welcher eine binäre Geschlechtskonstruktion aufgehoben wird. Bei performativen Geschlechtszuschreibungen wie in der Geburtsszene, bei der Bekanntgabe des Geschlechtes an den Ehemann oder der Namensgebung zeigt sich die Macht der Sprache, deren performative Geltung durchgehend Bestand hat. Zugleich entwickelt der Erzähler eine ausgefeilte Strategie, Geschlechtsentwürfe zu naturalisieren und Differenzen zu zementieren. Teil dieser Strategie ist die Allianz mit der personifizierten Natur. Die diskursive Naturalisierung von Silences Geschlechtsidentität findet sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Ebene der Narration statt. Zweifel an der Identität löst der Konflikt von Geschlechtsidentität und heteronormativem Begehren aus. Silence wird von der Natur, die sie geschaffen hat, zum Objekt sexuellen Begehrens stilisiert, das die

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heteronormativen Ansprüche seiner Umgebung nicht befriedigen kann. Der Körper der Protagonistin bleibt im Roman trotz aller Fokussierung in sexueller Hinsicht durchgehend auffällig unbestimmt und entspricht darin der Substanzlosigkeit geschlechtlicher Entwürfe. Das Ende des Romans dient der Vereindeutigung und Stabilisierung etablierter Geschlechterverhältnisse.

Julia Rüthemann: Silence als narratives Prinzip und poetologische Figuration. Oder: haben wir es mit einem weiblichen Merlin zu tun? Julia Rüthemann zeigt im Rahmen ihres Beitrages, dass der Themenkomplex um Schweigen und Reden nicht nur anhand der Figur Silence verhandelt wird, sondern geradezu leitmotivisch und topisch den gesamten Text durchzieht und strukturiert. Und nicht nur das – er bestimmt auch Formung und Gestaltung der Figur Silentia, die auf den Namen Silentius getauft, von ihren Eltern durch Sprache, genauer: durch Bezeichnung, als Silence geschaffen wird und auch sich selbst durch die Benennung als Malduit erschafft. Silences gesamte Biographie ist mit Sprache und ihren vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten verwoben, vom Verschweigen, Verleumden, Verführen, Manipulieren, Vertuschen und dem Sprechen in Rätseln geprägt und abhängig. Der Roman illustriert am Beispiel der Silence, was Sprache zu bewirken vermag, zeigt Silence dabei aber nicht nur als Opfer oder als Meister von Sprache, sondern macht ihren Namen in seinen vielfältigen Ableitungen und sie selbst zum Subjekt von Sprache: Mittels ihrer sprachlich-körperlichen Verformungen wird an ihr die Schöpfung und Gestaltung einer Figur, d. h. der literarische Gestaltungsprozess, beobachtbar. Diese Gestaltungsprozesse werden dann ihrerseits der Allegorisierung unterworfen, z. B., wenn Nature Silence formt oder zeichnet. Auf dem Hintergrund der Hervorbringung von Silence durch Sprache wirft Rüthemann die Frage auf, ob nicht die Beziehung zwischen ihr und Merlin, der als Trickster und Gestaltwandler, als Magier und Prophet, vor allem aber auch als derjenige, der durch sein Schweigen und sein Sprechen die Handlung maßgeblich lenkt, viel enger zu denken ist, als es in der Forschung bisher getan wird.

Matthias Meyer: Allegorien und Zauberer. Figuren des Dritten im »Roman de Silence«? Matthias Meyer untersucht in seiner Analyse einer Reihe von allegorischen Szenen des »Roman de Silence« das spannungsvolle Verhältnis von Allegorie und Erzählung: Während die Narration Bedeutung entfaltet und entwickelt, ist diese in der Allegorie still gestellt. Darauf reagieren nicht wenige der Allegorien und

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Personifikationen in höfischen Romanen, die (wie die der bösen Schwester der Saelde in der »Crône«) offenbar darauf ausgelegt sind, Handlung anzutreiben. Sie sind jedoch nicht nur Handlungsmotoren, sondern reichern den Text auch um eine zusätzliche Bedeutungsdimension an, die verbindliche dichotomische Zuschreibungen immer wieder destabilisiert. Das scheint auch für die Personifikation der Natur im »Roman de Silence« zu gelten, die immer wieder wortreich ihre Ansprüche gegenüber dem Mädchen anmeldet, so dass dessen wahres Geschlecht nicht dauerhaft verborgen bleiben kann. Wo genau der Streit zwischen Natur und Noreture stattfindet, ist allerdings unklar, es gehört zur ambivalenzverstärkenden Erzählweise des Romans, dass er hinsichtlich der Auftritte allegorischer Figuren jede szenische und proxemische Klarheit vermeidet. These des Beitrages ist es, dass durch die Destabilisierung verbindlicher Zuschreibungen, die durch Figurationen des Dritten herbeigeführt wird, ein Erzählen möglich wird, das sich zumindest temporär von den damit verbundenen SinnOrdnungen freimachen kann und damit einen eigenen (Unterhaltungs-)Wert darstellt.

Stefan Seeber: Dissimulatio als Überlebensstrategie – Der »Roman de Silence« und das Lachen Merlins Stefan Seeber liest den »Roman de Silence« als einen metapoetischen Schlüsselroman, der sich als Patchwork aus Reminiszenzen und Versatzstücken literarischer Prätexte und Traditionen darstellt. Er betont in seiner Lektüre Topik, Figurenschemata und Muster, die von Heldris zum Teil holzschnittartig kombiniert werden. Zentral für die Interpretation des Romans (als Metadichtung) scheint Seeber der Aspekt der dissimulatio zu sein, die ironische Auseinandersetzung mit Gattungstraditionen und Topoi, die in der nachklassischen Literatur vielfach anzutreffen ist und für den »Roman de Silence« die Verortung innerhalb der zeitgenössischen Literatur erschwert. Literarische Formen der Ironie nehmen im Text mit Scherzhaftigkeit und Komik, aber auch den Motiven von Verbergen und Verheimlichung unterschiedliche Formen an, die im Rahmen des Beitrages in dissimulatio und simulatio sowie in permutatio und contrarium differenziert werden. Es wird sichtbar, dass Heldris zentrale Konzepte der zeitgenössischen höfischen Literatur wie Ritterschaft (die von einer Frau besser ausgefüllt werden kann als von einem Mann), Königtum und das Spielmännische ironisiert und seine ironische Verkehrung immer wieder durch teils derbe, komische oder auch anzügliche Einsprengsel ergänzt. Ordnung scheint in dieser unübersichtlichen Welt ausgerechnet Merlin zu stiften, der einer anderen Erzählwelt entspringt und angehört und Silence Anweisungen zu seiner eigenen Überlistung erteilt, damit er von ihr an den Hof gebracht werden, das Verhüllte

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enthüllen und so die metapoetische Konstruiertheit der Erzählung als depotenzierte dissimulatio offenlegen kann.

Brigitte Burrichter: Nature und Noreture. Der »Roman de Silence« als narratives Experiment ›Natur‹ und ›Erziehung‹ sind von konzeptioneller Bedeutung für den »Roman de Silence« und wurden in der Forschung insbesondere unter dem Aspekt Gender ausführlich besprochen. Brigitte Burrichter analysiert das Zusammenspiel der beiden Kräfte nun aus narratologischer Perspektive als narratives Experiment innerhalb eines Romans, den sie als im Gegensatz zur vorherrschenden Forschungsmeinung als sehr geschlossen konzipierten Roman ohne Leerstellen oder offene Erzählstränge versteht. Sie berücksichtigt hierbei verschiedene mögliche Prätexte, wie etwa die Grisandole-Episode aus der »Estoire Merlin«. Im Vergleich zeigt sich eine Amplifizierung der Ausgangssituation im »Roman de Silence«. Heldris radikalisiert die Versuchsanordnung, statt des als Mann verkleideten Knappen wie Grisandole wird Silence als Mann erzogen. Die Eingangsteile des Romans, die Erzählungen von König Ebains erster Ehe und von Silences Eltern, folgen inhaltlich traditionellen Mustern. Von diesem unspektakulären Eingang setzt sich der Hauptteil des Romans erzähltechnisch ab. Konzeptionell baut der Roman auf einer Folge von Störungen der natürlichen und politischen Ordnung wie dem Verbot der weiblichen Erblinie durch König Ebain und dem Konflikt von Nature und Noreture auf. Eingebettet in diese zentralen Probleme sind das Verbot der jongleurs durch Cador, die unstandesgemäße Spielmannstätigkeit von Silence sowie der Ehebruch der Königin. Diese Störungen sind – mit Ausnahme des Ehebruchs – alle ursächlich miteinander verbunden. Der Roman ist so aufgebaut, dass die Störungen in der Reihenfolge, in der sie auftreten, auch wieder bereinigt werden. Die sorgfältige Anlage des Romans belegt, dass Heldris die Grundlinien seiner Erzählung sehr genau komponiert hat. Der Autor scheint geradezu auszuloten, wie komplex die Schachtelung der Ordnungsstörungen werden kann und wie sie geordnet aufgelöst werden können.

Vollständige Literaturliste: Heldris de Cornouailles – »Roman de Silence«

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Vollständige Literaturliste: Heldris de Cornouailles – »Roman de Silence« Überlieferung Nottingham, University Library, WLC/LM/6, fol. 188ra–223rb.

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Inci Bozkaya

Illuminiertes Schweigen. Zur Überlieferung des »Roman de Silence« im Codex WLC/LM/6

Entdeckungen und zumal Wiederentdeckungen werden im Erzählen davon gerne mit Anekdoten verbunden, so auch im Fall des altfranzösischen »Roman de Silence«. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird William Henry Stevenson von dem Besitzer Lord Middleton mit der Durchsicht seines Privatbesitzes in der Wollaton Library in Nottinghamshire beauftragt, welcher seit 1835 in etwas mehr als 300 durchnummerierten Kartons auf Regalen gelagert wurde. Unter den »older papers«, welche zuletzt 1784 und 1794 durchsehen wurden und in früheren Katalogen als »bundles of old deeds, illegible« und als »of no value« eingeschätzt wurden,1 entdeckt Stevenson in einem Pappkarton neben Briefen aus 1 Stevenson, William Henry: Historical Manuscript Commission. Report on the Manuscripts of Lord Middleton Preserved at Wollaton Hall, Nottinghamshire. London 1911 (Historical Manuscripts Commission 69), S. Vf. Stevensons Bericht über den Buchbestand der Bibliothek stellt auf den S. 221–236 erstmals die Handschrift der Fachöffentlichkeit vor. Seit dieser Zeit kursieren in den Forschungsbeiträgen verschiedene Bezeichnungen für den Codex. Aufgrund des ursprünglichen Aufbewahrungsortes war er als ›Wollaton Manuscript‹ bekannt, so auch als »ms. de Wollaton Hall (W)« bzw. »m. W« im Rahmen der Überlieferung von »La Chanson d’Aspremont« (La Chanson d’Aspremont. Chanson de geste du XIIe siècle. Texte du Manuscrit de Wollaton Hall. Hg. v. Brandin, Louis. 2 Bde. 2. Aufl. Paris 1923–1924 [1. Aufl.: 1919–1920, unveränderter Nachdruck der zweiten Aufl.: 1970], Bd. 1, S. III). Nach dem Verkauf der Wollaton Hall im Jahr 1926 lagerte die Handschrift in Malton, bis sie als Teil der Middleton Collection der Universitätsbibliothek von Nottingham als Leihgabe zur Aufbewahrung übergeben wurde. Bereits zuvor kursieren Bezeichnungen, die auf den Besitzer hinweisen, so nennt etwa Matthias Friedwagner 1919 bei der Untersuchung des Codex als damals neuem Überlieferungszeugen der »Vengeance Raguidel« die Handschrift »Middleton-Handschrift«, siehe Friedwagner, Matthias: Die »Vengeance Raguidel« nach der Middleton-Handschrift. In: Zeitschrift für romanische Philologie 39 (1919), S. 584–607, S. 584. Dem folgen spätere Editionen, etwa »manuscrit Middleton« in: The Medieval French Roman d’Alexandre. Hg. v. Armstrong, Edward C. u. a. 6. Bde. Princeton 1937–1942 (SATF and Elliott Monographs in the Romance Languages and Literatures 36–41), Bd. 4: Le Roman du Fuerre de Gadres d’Eustache, S. 29, Anm. 3. Frederick Augustus Grant Cowper, der sich mit der Geschichte des Codex beschäftigt, schlug 1959, die Besitzgeschichte berücksichtigend, ›Laval-Middleton Manuscript‹ bzw. ›Laval-Bertram-Wollaton-Middleton manuscript‹ als Unterscheidung von anderen Handschriften aus der ehemaligen Middletonbibliothek vor, siehe Cowper, Frederick Augustus Grant: Origins and Peregrinations of the Laval-Middleton Manuscript. In: Nottingham

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der Zeit Heinrichs VIII. den Hauptgegenstand dieses Beitrages, eine mittelalterliche Handschrift, die mehrere altfranzösische Werke überliefert, darunter auch unikal den »Roman de Silence« von Heldris de Cornouailles. Die folgende Untersuchung widmet sich der Überlieferungsgeschichte, der Materialität und der editorischen Bedeutung des Codex. Da der Roman unikal überliefert ist und von dem sich selbst im Prolog nennenden Autor keine weiteren Werke oder auch nur Hinweise auf seine Lebens- und Schaffenszeit existieren, verfolgt der Beitrag die Frage, welche Hinweise die kodikologische Ausstattung, der Sammlungsverbund des »Roman de Silence« und die Miniaturen für die literarhistorische Einordnung des Textes geben. Bei dem Codex, der heute unter der Signatur WLC/LM/6 in der Manuscript and Special Collections an der University of Nottingham aufbewahrt wird,2 handelt es sich um eine Pergamenthandschrift, die von Stevenson zu Recht als »[a] stout volume« bezeichnet wurde.3 Sie umfasst heute 351 Blätter, Beginn und Ende sind unvollständig, die ursprünglichen Buchdeckel sind abgelöst bzw. nicht Medieval Studies 3 (1959), S. 3–18, die ausführliche Bezeichnung auf S. 17. Wiewohl von Mandach, André de: A Royal Wedding-Present in the Making. Talbot’s Chivalric Anthology (Royal 15 E VI) for Queen Margaret of Anjou, and the »Laval-Middleton« Anthology of Nottingham. In: Nottingham Medieval Studies 18 (1974), S. 56–76, S. 56, als »›Laval-Middleton‹ Anthology of Nottingham« bei seinen weiteren Ausführungen über die mögliche Entstehungsgeschichte benannt, hat sich die Bezeichnung nicht durchgesetzt. In Beiträgen aus den 1970ern wie etwa in der ersten Edition des »Roman de Silence« von Thorpe, Lewis: Introduction. In: Le Roman de Silence. A Thirteenth-Century Arthurian Verse-Romance by Heldris de Cornuälle. Hg. v. Thorpe, Lewis. Cambridge 1972, S. 1–62, wird noch die ältere Signatur Mi.LM.6 verwendet, siehe etwa S. 1f., so auch im Bereich der Fabliaux-Überlieferung etwa ›Middleton L.M. 6‹ in: Fabliaux érotiques. Textes de jongleurs des XIIe et XIIIe siècles. Hg. und übers. v. Rossi, Luciano unter Mitarbeit von Straub, Richard. Nachwort von Bloch, Howard. Paris 1992 (Lettres gothiques), S. 60. Heute orientiert man sich am aktuellen Aufbewahrungsort wie Burrichter, Brigitte: Raouls de Houdenc »La Vengeance Raguidel«. Komik und Parodie. In: Ironie, Polemik und Provokation. Hg. v. Dietl, Cora u. a. Berlin, Boston 2014 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 10), S. 287–302, S. 296, Anm. 12: »Nottingham-Handschrift«, sowie Jung, Marc-René: La légende de Troie en France au moyen âge. Analyse des versions françaises et bibliographie raisonnée des manuscrits. Basel, Tübingen 1996 (Romanica Helvetica 114), S. 133: »manuscrit de Nottingham«, oder man benennt die Handschrift nach der aktuellen Sigle der Universitätsbibliothek: WLC/LM/6. 2 Bereits vor ihrer Kuration als Bestandteil der seit 2007 als Wollaton Library Collection geführten Sammlung war die Handschrift 1996 Gegenstand der Ausstellung »Image and Text«, vgl. den Ausstellungskatalog: Petre-Turville, Thorlac: Image & Text. Medieval Manuscripts at the University of Nottingham. Nottingham 1996. Der Handschrift im Sammlungskontext der Wollaton Library widmet sich der Band The Wollaton Medieval Manuscripts. Texts, Owners and Readers. Hg. v. Hanna, Ralph u. Turville-Petre, Thorlac. Woodbridge 2010. Zur Geschichte der Sammlung im Familienbesitz der Willoughbys siehe den Beitrag von Hanna, Ralph u. Turville-Petre, Thorlac: The History of a Family Collection. In: ebd., S. 3– 19, insbes. S. 12f. Zu einer vergleichenden Analyse der Codices WLC/LM/6 und WLC/LM/7 siehe Stones, Alison: Two French Manuscripts: WLC/LM/6 and WLC/LM/7. In: ebd., S. 41–56. 3 Stevenson [Anm. 1], S. 221, die Beschreibung der Handschrift sowie Wiedergabe der Anfangs- und Schlussverse der überlieferten Texte auf S. 221–234.

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mehr vorhanden, die ursprünglich ersten und letzten Blätter sind ebenfalls nicht mehr vorhanden. Die Seiten messen 297 x 200 mm, der Schriftspiegel, der in zwei Spalten aufgeteilt ist, umfasst 212 x 130 mm.4 Aufgrund der im Codex neben dem »Roman de Silence« überlieferten Werke ist die Handschrift schon bald nach ihrer Entdeckung Gegenstand mehrerer Editionen geworden. Heutzutage setzt sich der Codex WLC/LM/6 aus folgenden 18 Texten zusammen: fol. a–f, früher fol. 346ra–351vb: Fabliaux, Kleinerzählungen I fol. ara–dva (ursprünglich fol. 346ra–349va): Anonym: »La Dame escoillee«.5 fol. dva–era (ursprünglich fol. 349va–350ra): Anonym: »Les Putains et les Pecheors«, auch bekannt als »Des iij. Commandemens«.6 fol. era–evb (ursprünglich fol. 350vb–350vb): Raoul de Houdenc: »Li Dis Raoul de Hosdaing«.7 fol. era–fvb (ursprünglich fol. 350vb–351vb): Anonym: »Le Vilain qui conquist Paradis par Plait«, der Titel in der Handschrift: »De l’Arme ki guangna Paradis par Plait« ist von späterer Hand eingetragen worden.8 4 Eine schematische Darstellung des Schriftspiegels gibt Gaggero, Massimiliano u. Lunardi, Serena: Lire en contexte. Nouvelles recherches sur le ms. Nottingham, UL, WLC/LM/6. In: Critica del testo 16:2 (2013), S. 155–205, S. 157. Siehe auch den Katalogeintrag von Hanna, Ralph u. Turville-Petre, Thorlac: The Catalogue MS WLC/LM/6. In: Hanna u. TurvillePetre: Wollaton Medieval Manuscripts [Anm. 2], S. 95–98, S. 95. Es war mir selbst möglich, am 17.09./18. 09. 2015 bei einem Forschungsaufenthalt an der University of Nottingham den Codex WLC/LM/6 einzusehen. 5 In der Fabliaux-Forschung hat der Codex die Sigle G zugeteilt bekommen. Das Fabliau ist als Nr. 83 ediert in: Nouveau Recueil complet des fabliaux (NRCF). 10 Bde. Hg. v. Noomen, Willem u. van den Boogaard, Nico. Assen 1983–1998, Bd. 8, S. 3–125. Auf diese Fabliaux-Ausgabe wird im Folgenden mit der Abkürzung NRCF verwiesen. Es handelt sich um eine synoptische Edition, die auch die Fassung im Codex WLC/LM/6 (Sigle G) berücksichtigt. Für frühere Editionen des Fabliaus siehe NRCF, Bd. 8, S. 7. Es ist in insgesamt sechs Handschriften überliefert, der Textzustand in WLC/LM/6 ist zu Beginn schlecht, da das Blatt mit dem Textanfang als Deckblatt diente: »Le manuscrit G, dont le premier feuillet est gravement endommagé, est d’une exécution soigneuse: relativement peu de lapsus et de négligences, un vers trop long et deux vers trop courts mis à part« (NRCF, Bd. 8, S. 4). Hier und im Folgenden wird die Schreibung der französischen Werktitel stillschweigend vereinheitlicht. 6 In der Edition von Willem Noomen ist WLC/LM/6 nicht als Überlieferungsträger für dieses Fabliau bekannt, seine Edition des Fabliau unter der Nr. 64 basiert auf einer anderen Fassung, siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 6, S. 147–153. Für eine Edition der Fassung in WLC/LM/6 und einen Kommentar siehe Straub, Richard E. F.: Des Putains et des Lecheors: la version oubliée du manuscript G. In: Vox Romanica 52 (1993), S. 164–179. Straub folgt in seiner Einschätzung des Manuskriptes früheren Herausgebern, insbes. Thorpe [Anm. 1] und Ménard, Philippe: Une nouvelle version du dit Des putains et des lecheors. In: Zeitschrift für romanische Philologie 113 (1997), S. 30–38. 7 Edition und Kommentar in Thorpe, Lewis: Raoul de Houdenc: A possible new poem. In: The Modern Language Review 47 (1952), S. 512–515. 8 Das Fabliau ist in vier weiteren Handschriften überliefert, die neueste Edition im Rahmen einer Synopse unter der Nr. 39 findet sich in NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 3–38, für weitere Editionen siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 6f. Der Textzustand der Fassung im Codex WLC/LM/6 ist von Noomen wie folgt beurteilt worden: »Le texte du manuscrit G a généra-

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fol. fvb (ursprünglich fol. 351vb): Marie de France: »De le Cugnie« (fragmentarisch).9 fol. 1–335vb: Epen: fol. 1ra–156rb: Benoît de Sainte-Maure: »Roman de Troie«, ohne Titel in der Handschrift. Der Roman ist fragmentarisch überliefert, so fehlen die Anfangsverse aufgrund von Blattverlust. Die ersten Blätter des »Roman de Troie« wurden im 14. Jahrhundert durch Verse aus einem anderen Überlieferungszweig als die ursprünglichere Fassung ersetzt, es kam dabei auch zu einem Verlust von Miniaturen.10 fol. 157ra–187va: Gautier d’Arras: »Ille et Galeron«, ohne Titel in der Handschrift.11 fol. 188ra–223rb: Heldris de Cornouailles: »Le Roman de Silence«, ohne Titel in der Handschrift.12 fol. 224ra–243vb: Eustache de Kent: »Le Fuerre de Gadres«, in der Handschrift mit dem Titel »C’est d’Alixandre«.13

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lement été transcrit soigneusement: il ne contient qu’un petit nombre de négligences. Quant au contenu il est fort satisfaisant: non seulement il partage un grand nombre de bonnes leçons offertes par d’autres manuscrits, mais il a quelques leçons individuelles qui paraissent excellentes« (NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 4). Die 15 Verse sind ediert und kommentiert in Thorpe, Lewis: Les Fables de Marie de France: Un noveau fragment de manuscrit. In: Scriptorium 4 (1950), S. 102–104. Der »Roman de Troie« ist in über 50 Handschriften (30 vollständig und 28 fragmentarisch) überliefert. Der im Codex WLC/LM/6 überlieferte Text ist in keiner Edition grundlegend berücksichtigt worden, als Überlieferungszeuge wurde das »manuscrit de Nottingham« von Marc-René Jung als N4 beachtet und als einer der Handschriften markiert, die zum Zeitpunkt der Edition von Léopold Constans »étaient inconnus«, siehe Jung [Anm. 1], S. 20f. u. S. 124– 133. »Ille et Galeron« von Gautier d’Arras ist lediglich in zwei Handschriften überliefert, neben dem WLC/LM/6 (Sigle W) überliefert der Codex fr. 375 (Paris, BNF) eine über 700 Verse längere Fassung. Cowper nutzt den WLC/LM/6 als Leithandschrift, vgl. Cowper, Frederick Augustus Grant: Introduction. In: Gautier d’Arras: »Ille et Galeron«. Hg. v. Cowper, Frederick Augustus Grant. Paris 1956, S. IX–LIII. Die neuere Edition von Penny Eley stützt sich auf das Pariser Manuskript, siehe Gautier d’Arras: Ille et Galeron. Hg. u. übers. v. Eley, Penny. London 1996 (King’s College London Medieval Studies XIII), S. XLVIII. Cowper war auch der erste, der einen längeren Vergleich der Pariser und der Fassung im WLC/LM/6 vorgenommen hatte (Cowper, Frederick Augustus Grant: The New Manuscript of Ille et Galeron. In: Modern Philology 18 [1921], S. 145–152). Lewis Thorpe veröffentlichte den Text des »Roman de Silence« erstmals 1961–1967 als Reihe in den Nottingham Medieval Studies. 1972 erschien die Gesamtedition mit einer ausführlichen, bis heute gültigen Handschriften- und Inhaltsanalyse, vgl. Thorpe [Anm. 1]. Es folgten weitere Übersetzungen, wie Le Roman de Silence. Übers. v. Psaki, F. Regina. New York, London 1991 (Garland Library of Medieval Literature 63B), sowie Editionen mit Übersetzungen: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 32007 (Medieval Texts and Studies 10) (1. Aufl.: 1992). Die Textzitate aus dem »Roman de Silence« in diesem Beitrag stammen aus der Edition von Roche-Mahdi. Für weitere Übersetzungen, darunter auch ins Italienische (2005) und Spanische (1986), siehe die Bibliographie in der Einleitung zu diesem Band. Der Auszug »Fuerre de Gadres« aus dem »Roman d’Alexandre« gehört zur zweiten Branche des in 32 Handschriften überlieferten Werkes. Armstrong vergibt in seiner Edition für den Codex WLC/LM/6 aufgrund dessen Nähe zur Fassung C und seiner Zugehörigkeit zur Middleton Library die Sigle Cm. In der Textedition wurde der Codex WLC/LM/6 nicht be-

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fol. 244va–303vb: Anonym: »La Chanson d’Aspremont«, in der Handschrift mit dem Titel »C’est d’iaumont et d’agoulant«.14 fol. 304ra–335vb: Raoul de Houdenc (zugeschrieben): »Vengeance Raguidel«, in der Handschrift mit dem Titel »De roi artut«, dieses Werk ist aufgrund des Blattverlustes am Ende fragmentarisch.15 fol. 336ra–351vb: Fabliaux, Kleinerzählungen II fol. 336ra–337ra: Gautier le Leu (zugeschrieben): »Les Sohais«, der Text ist unvollständig, es fehlen die ersten Verse.16 fol. 337ra–338vb: Gautier le Leu: »Le fol Vilain«. Titel in der Handschrift, von späterer Hand: »Del fol vilain«.17 fol. 338vb–341va: Gautier le Leu: »La Veuve«, Titel in der Handschrift von späterer Hand: »Li provance de fame«.18

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rücksichtigt: Armstrong [Anm. 1], Bd. 5: Version of Alexandre de Paris: Variants and Notes to Branch II, S. 125. Die Chanson de geste ist in acht weiteren Handschriften überliefert. Der Codex WLC/LM/6 hat in der »La Chanson d’Aspremont«-Forschung die Sigle W, siehe: Aspremont. Chanson de geste du XIIe siècle. Présentation, édition et traduction par François Suard d’après le manuscrit 25529 de la BNF. Paris 2008 (Champion Classiques. Moyen Âge 23), S. 39, und gilt als guter Überlieferungsträger, siehe Louis Brandin, der die im Codex WLC/LM/6 überlieferte Fassung in seiner Edition in zwei Bänden als Leithandschrift benutzt, die Korrekturen nach anderen Handschriften siehe Brandin [Anm. 1], S. 172–180, 200–203. Der Artusroman mit Gauvain als Protagonist ist in zwei Handschriften und zwei Fragmenten erhalten, dem Codex WLC/LM/6 ist in der »La Vengeance Raguidel«-Forschung die Sigle M zugeteilt. Er gilt als bester Überlieferungszeuge und dient daher als Leithandschrift für Roussineaus Edition, siehe Raoul de Houdenc: La Vengeance Raguidel. Hg. v. Roussineau, Gilles. Genf 2004 (Textes littéraires français 561), S. 64–97. Matthias Friedwagner konnte den Codex WLC/LM/6 in seiner Edition von 1909 (Raoul de Houdenc: Sämtliche Werke. Bd. 2: La Vengeance Raguidel. Altfranzösischer Abenteuerroman. Hg. v. Friedwagner, Matthias. Halle 1909) noch nicht berücksichtigen und bietet 1919 einen kritischen Vergleich mit einem Variantenapparat, siehe Friedwagner [Anm. 1]. Livingston hält den Codex WLC/LM/6 generell für den wichtigsten und besten Überlieferungszeugen für die Fabliaux und Dits von Gautier le Leu: »Comme nous le verrons, c’est le manuscrit le plus important, et, lorsqu’il existe d’autres copies, le meilleur, des poésies de Gautier le Leu« (Livingston, Charles H.: Le jongleur Gautier le Leu. Étude sur les fabliaux. Cambridge 1951 [Harvard Studies in Romance Languages 24], S. 14). Der Codex ist die Leithandschrift für seine Edition von »Les Sohais« (S. 139–146), »Del fol Vilain« (S. 147–158), »La Veuve« (S. 159–183), »Del sot Chevalier« (S. 185–197), »De deus Vilains« (S. 199–206), »De Dieu et dou Pescour« (S. 207–217) und »De Connebert« (S. 219–222). Die neueste Edition von »Les Sohais« ist diejenige unter der Nr. 105 in NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 137–148, weitere Editionen siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 138f. Das Fabliau ist unikal überliefert, der Text im Codex WLC/LM/6 (Sigle G) wird folgendermaßen beurteilt: »La copie a été faite avec soin: elle ne contient guère de lapsus. Aussi a-t-elle pu servir de base à l’édition critique presque sans retouches« (NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 137). Die neueste Edition unter der Nr. 106 in NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 151–168, weitere Editionen siehe ebd., S. 153. Der Codex WLC/LM/6 (Sigle G) ist der einzige bekannte Überlieferungszeuge. »La Veuve« ist auf der Grundlage des Textes im Codex WLC/LM/6 (Sigle G) ediert in: Rossi u. Straub [Anm. 1], S. 297–343. Wiewohl mehrfach überliefert, ist G die einzige nahezu vollständige Fassung, siehe ebd., S. 297, sowie Livingston [Anm. 16], S. 159–183.

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fol. 341va–343rb: Gautier le Leu: »Le sot Chevalier«, Titel in der Handschrift von späterer Hand: »De l’avanture d’Ardane«.19 fol. 343rb–344ra: Gautier le Leu: »Les deus Vilains«, Titel in der Handschrift von späterer Hand: »De deus vilains«.20 fol. 344ra–345va: Gautier le Leu: »De Dieu et dou Pescour«, Titel in der Handschrift von späterer Hand: »De Dieu et dou pescour«.21 fol. 345va–345rb: Gautier le Leu: »Connebert«, fragmentarisch, es sind nur die Verse 1–84 vorhanden. Titel in der Handschrift von späterer Hand: »Li prestre ki perdi les coilles«.22

Die Handschrift im heutigen Zustand muss aufgrund inhaltlicher Gesichtspunkte wie Gattungszuordnung und Umfang der 18 überlieferten Texte (Epen vs. Fabliaux und Kurzerzählungen) und kodikologischer Aspekte wie der bei der Niederschrift verwendeten Tinte, der Qualität des Pergaments, der Schriftart und Ausstattung wie Miniaturen in drei Bereiche unterschieden werden: einem ersten Fabliaux-Teil auf fol. a–f, einen Epen-Teil auf fol. 1r–335v und einen zweiten Fabliaux-Teil auf fol. 336r–351v. Die heutige Bindung entspricht nicht dem Zustand, wie er bei der Herstellung des Codex vorgesehen gewesen sein wird. So sind die Blätter a–f, die seit dem Spätmittelalter vorne angeordnet waren, ursprünglich am Ende auf fol. 345 folgend als fol. 346ra–351vb angeordnet gewesen. Die Lagenaufteilung bestätigt diese Trennung. Die Fabliaux wurden später als die Epen von mindestens einem anderen Schreiber auf separaten Lagen geschrieben. Die mittelalterliche Lagenzählung auf fol. 1r–335v, die als Lagen I– XXIX markiert sind, ist nicht fortgeführt. Die Qualität des Pergaments der Fabliauxblätter ist schlechter. Das Layout unterscheidet sich, so weicht die peritextuelle Ausstattung der Fabliaux augenfällig von der der Großerzählungen ab (vgl. Abb. 1). Es gibt keine Majuskeln, diese waren auch nicht vorgesehen, und es wurde auf Miniaturen verzichtet. Zu diesem Schluss kommt auch Charles Livingston im Rahmen seiner Untersuchung des Fabliaux-Teils: »Mais le scribe qui a copié les fabliaux est certainement autre que ceux qui ont exécuté le reste du 19 Die neueste Edition unter der Nr. 53 in NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 315–335, weitere Editionen siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 317. Das Fabliau ist nur in einer weiteren Handschrift überliefert. Die Beurteilung des Textzustandes von G lautet wie folgt: »Les deux manuscrits dans lequels a été conservé le fabliau du Sot Chevalier sont très proches l’un de l’autre: ils offrent un récit identique et ne diffèrent guère en longueur«, »Le manuscrit G a également été copié avec soin; il n’y a que quelques négligences à signaler, parmi lesquelles un vers hypométrique. Il a une coloration dialectale assez prononcée« (NRCF [Anm. 5], Bd. 5, S. 315). 20 Die neueste Edition unter der Nr. 107 in NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 171–181, für weitere Editionen wie Livingston [Anm. 16], S. 199–206, siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 172. Das Fabliau ist unikal überliefert, bei der Edition waren nahezu keine Eingriffe in den Text notwendig, siehe NRCF [Anm. 5], Bd. 9, S. 171. 21 Das Fabliau ist unikal in WLC/LM/6 (Sigle G) überliefert. Für Edition und Kommentar siehe Livingston [Anm. 16], S. 207–217. 22 Edition des Textfragmentes und Kommentar in NRCF [Anm. 5], Bd. 7, S. 217–223, sowie Livingston [Anm. 16], S. 137f., 219–222.

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manuscrit. De plus le vélin sur lequel les fabliaux sont écrits est de qualité différente et inférieure et ces feuillets pourraient fort bien avoir été ajoutés au manuscrit principal«.23 Der enge Überlieferungsverbund, der für die literaturgeschichtliche Einordnung des »Roman de Silence« von Bedeutung ist, betrifft somit lediglich fünf weitere zumeist höfische Großerzählungen.

Abb. 1: Gegenüberstellung von Epen-Teil (fol. 221r [»Roman de Silence«]) und Fabliaux-Teil (fol. 339v [Gautier le Leu: »La Veuve«]). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

23 Livingston [Anm. 16], S. 13. Diesem Urteil folgt Roussineau [Anm. 15], S. 68: »Il nous semble pourtant que la partie qui ne comporte pas de miniatures (f. 336–345d et f. a–f) doit être distinguée du reste du volume. Gautier le Leu ayant vécu dans la deuxième moitié du XIIIe siècle, la copie qui a conservé ses fabliaux est vraisemblablement de la fin du XIIIe siècle. Le vélin sur lequel sont copiées ses œuvres est d’une qualité distincte de celui correspondant aux 335 premiers feuillets. En revanche, pour les f. 1–335d, le manuscrit semble plus ancien«. Interpretationen des »Roman de Silence« aufgrund des Überlieferungsverbundes sollten daher von vermeintlichen intertextuellen Referenzen absehen, wie es gerade in Bezug auf das Verhalten der weiblichen Hauptfigur getan worden ist. So sieht etwa Danièle James-Raoul den Überlieferungsverbund als eine Art ›Resonanzraum‹ (»comme caisse de résonance«) für den »Roman de Silence«, sie geht jedoch nur auf das anonyme Fabliaux »La Dame escoillee« etwas ausführlicher ein (James-Raoul, Danièle: Le »Roman de Silence« de Heldris de Cornuälle comme paradigme fictionnel de la transgression ou de l’inversion des genres. In: Féminité et masculinité altérées: transgression et inversion des genres au Moyen Âge. Hg. v. Pibiri, Eva u. Abbott, Fanny. Florenz 2017 (Micrologus Library 78), S. 323–346, insbes. S. 342–346, das Zitat auf S. 342).

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Der »Roman de Silence«, der sich im Epen-Teil auf fol. 188r–223r befindet, ist sorgfältig geschrieben. Selten findet sich eine Glosse, die einen korrigierenden Einschub wiedergibt. Mit Sorgfalt angelegt beginnen auch die anderen in der Handschrift überlieferten vollständigen Großerzählungen jeweils auf einer neuen Lage. Sie weisen alle – mit Ausnahme des »Roman de Troie«, dessen ursprünglicher Anfang nicht überliefert ist – zu Beginn des Textes eine Miniatur auf und enden mit einem Explicit. Mehrere Hände sind nachweisbar, die Anzahl der »several copyists«24 ist umstritten. So reichen die Einschätzungen von vier bis sechs Schreibern.25 Einigkeit herrscht immerhin darin, dass der »Roman de Silence« von nur einem Schreiber geschrieben wurde.26 Peritextuell ist der Codex sparsam, aber aufwändig ausgestattet. Vorhanden sind sowohl bei der Anlage der Handschrift geplante Peritexte als auch nach Vollendung der Handschrift hinzugefügte wie Werktitel oder Besitzeinträge. Unter den konventionellen Peritexten sind sowohl solche zu finden, die – wie die Explicits – während des Textgebrauchs zur Orientierung von Bedeutung sind, als auch solche, die im Herstellungsprozess ihre vornehmliche Funktion hatten, wie die Lagenzählung. Diese, anfänglich in brauner, dann in roter Tinte eingetragen, bestätigt, dass der mittelalterliche Überlieferungsverbund der ersten 30 Lagen als gemeinsamer angelegt war. Die Majuskeln auf fol. 1–335v in abwechselnd blauer und roter Farbe sind alternierend mit rotem und blauem schlichten Fleuronné verziert.27 Alison Stones identifiziert zwei Fleuronnémaler, deren Qualität sich unter-

24 Thorpe [Anm. 1], S. 8. 25 Für das Zitat vgl. ebd., S. 8. Hanna und Turville-Petre gehen von vier Händen aus, wobei der erste Schreiber die Lagen I–III und VIII–IX (fol. 6–7, 12–36 und 85–108), der zweite Schreiber die Lagen IV–VII (fol. 37–84), der dritte Schreiber die zehnte Lage (fol. 109–120) und der vierte Schreiber die Lagen XI–XIII sowie die übrigen (ab fol. 121) geschrieben haben soll (Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 95). Thorpe [Anm. 1], S. 8f., identifiziert einen Schreiberwechsel von fol. 156 zu 157 und von fol. 187 zu 188. Er stimmt Brandin [Anm. 1], S. VII, in seiner Beobachtung zu, dass fol. 224–303, auf welchen »La Chanson d’Aspremont« geschrieben wurde, von zwei Schreibern, die Seiten mit den Fabliaux von einem weiteren Schreiber angefertigt worden sind. Auch berücksichtigt Thorpe bei seinen Überlegungen, dass die jeweils auf neuen Lagen begonnenen Werke wie »Ille et Galeron« auf dem ersten Blatt der Lage XIV, der »Roman de Silence« auf dem ersten Blatt der Lage XVII, »C’est d’Alixandre« auf dem ersten Blatt der Lage XX und die Fabliaux auf dem ersten Blatt der Lage XXX auf weitere Schreiberwechsel hinweisen könnten. Cowper kommt bei seiner Analyse des »Ille et Galeron« auf fol. 157r–187v auf mehrere Schreiber: »L’écriture, et peut-être certains traits de graphie, permettent de supposer deux ou trois scribes différents« (Cowper: Introduction [Anm. 11], S. XVII). Eine ausführliche Lagenbeschreibung mit Schwerpunkt auf Schreiberwechsel und Untersuchung der Schrift bieten Gaggero u. Lunardi [Anm. 4], S. 158, Anm. 10, und 167–193, siehe auch die Übersicht auf S. 196. 26 Thorpe [Anm. 1], S. 3. 27 Zu den Majuskeln und ihrer Verteilung im Manuskript siehe James-Raoul, Danièle: La poétique de la lettrine dans Le Roman de Silence. In: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 12 (2005), S. 227–245.

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scheidet und mag auch einen dritten nicht ausschließen.28 Die gelegentliche Einarbeitung von Fleuronnéverzierungen in die vom Schreiber verwendete Tinte lässt Stones vermuten, dass der Schreiber auch die ersten Fleuronnéverzierungen vorgenommen haben wird.29 Vorhanden sind weder Rubrizierungen, Reklamanten noch Kapitelüberschriften. Von späterer Hand eingetragen sind – wie aus der Übersicht oben hervorgeht – zu Beginn einiger Werke Titelangaben, die, da sie nachträglich eingetragen wurden, als Gebrauchs- bzw. Leserspuren gewertet werden können. Kunsthistorische Bedeutung wird dem Codex aufgrund seiner im heutigen Zustand 83 erhaltenen Miniaturen im Epen-Teil zugesprochen, auf welche weiter unten genauer eingegangen wird. Verschiedene Gebrauchsspuren weisen auf eine nicht ganz ereignislose Vergangenheit des Codex hin. Von den ursprünglichen Buchdeckeln ist nur noch der hintere vorhanden. Vom ursprünglich dunkelroten Ledereinband zeugen nur noch winzige Spuren an einem erhaltenen Buckel. Der vordere Buchdeckel ist nicht mehr erhalten. In diesem Zustand muss, das lässt sich anhand der ersten Blätter rekonstruieren, der Codex schon seit dem Spätmittelalter gewesen sein. Der erste Fabliaux-Teil (fol. a–e) war ursprünglich nicht vorne angeordnet, wurde aber wohl, nachdem der vordere Buchdeckel vermutlich mit Gewalt entfernt wurde, zum Schutz auf den Epen-Teil gelegt.30 Die damit neugeschaffene erste Seite ist aufgrund ihrer jahrhundertelangen Exponiertheit speckig und ziemlich abgenutzt. Wasserschäden finden sich auf den ersten fünf Blättern. Deren Ränder sind dermaßen stark dezimiert und abgenutzt, dass es zu Textverlust gekommen ist. So sind beispielsweise auf dem ersten Blatt, fol. a, von den oberen 20 Versen die Vershälften in der oberen Ecke nicht mehr vorhanden. Ab fol. d ist nur noch der unbeschriebene Rand von der Abnutzung betroffen. Ernsthaften Schaden muss der Codex bereits im Spätmittelalter genommen haben, sei es durch Abnutzung durch den Gebrauch, durch die Aufbewahrung oder durch Gewalteinwirkung. Zeugnis davon geben auch spätmittelalterliche Reparaturen am Codex. So wurden die Blätter 1–5 und 8–11 vermutlich im 14. Jahrhundert

28 »[I]n WLC/LM/6 there are two flourishers at work, a major decorator who uses a light shade of blue and does extremely neat if exuberant flourishing, and a second decorator who uses a darker shade of blue and whose flourishing might be described as sloppy (in the Ille et Galeron section, quires Q, R, S, fols 157–187v; and half-way through the Aspremont section to the end of Raguidel, quires AA–GG, fols 313–335v, with the exception of fols 306 and 314 […] which may be the work of a third pen-flourisher« (Stones [Anm. 2], S. 43). 29 Stones [Anm. 2], S. 43. 30 Der Codex wurde im Rahmen einer neuzeitlichen Restaurierung 1991 von Nicholas Pickwoad mit einem neuen Bucheinband und schützenden Deckblättern ausgestattet, die Reste des hinteren Buchdeckels sind noch erhalten und werden mit dem Codex zusammen gelagert, zur Restaurierung siehe Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 97.

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ersetzt,31 der Text wurde aus einer anderen Quelle als der ursprünglichen übernommen. Bei den ersetzten Blättern wurde das originale Layout nicht imitiert. Es fehlen Majuskeln und statt der üblichen 47 oder 48 Zeilen finden sich 49–51 Zeilen. Fol. 150 ist hingegen das Zeugnis einer sorgsamen mittelalterlichen Reparatur, bei der die Hälfte in der unteren Diagonale noch aus der ursprünglichen Niederschrift stammt, die obere Hälfte aber sorgsam an das untere Pergamentblatt angeklebt und beschriftet wurde. Einige Schäden wie bei fol. 251, von welchem die obere Hälfte fehlt, wurden nicht mehr repariert. Von größeren Schäden, die einen Textverlust nach sich zögen, ist der »Roman de Silence« nicht betroffen. Die konservatorischen Eingriffe am Codex aus dem 14. Jahrhundert zeugen davon, dass die Handschrift geschätzt wurde und ein Interesse daran bestand, diese auch gebrauchen oder zumindest potentiell nutzen oder präsentieren zu können. Ein Ausstattungsphänomen, das auf die der Handschrift entgegengebrachte Wertschätzung schließen lässt, kann heutzutage nur noch aufgrund seiner Spuren in der Handschrift rekonstruiert werden. Stones hat darauf aufmerksam gemacht, dass die heute noch erkennbaren Einstiche an der Oberseite mancher Miniaturen wie etwa auf fol. 84r (Abb. 2) erkennen lassen, dass zu einem ungewissen Zeitpunkt die Buchmalereien mit Textilien, vermutlich Seide, geschützt wurden.32 Stoffe, insbesondere Seidenstoffe, die zum Schutz von Miniaturen in Pergamenthandschriften genäht wurden, sind kein seltenes Phänomen in mittelalterlichen Handschriften. Derartige Codices sind seit dem 9. Jahrhundert an zahlreichen Orten wie Byzanz, Deutschland, England, Flandern und Spanien nachweisbar. Oftmals sind die Stoffe, die nicht immer schon zum Zeitpunkt der Entstehung des Codex eingenäht wurden, verloren gegangen. Hauptgrund für die Schutzvorhänge könnte der kostbare und anfällige Goldgrund der Miniaturen gewesen sein.33 31 Die zeitliche Einschätzung geht auf Thorpe [Anm. 1], S. 1, zurück, siehe zu den ersetzten Versen ausführlich Jung [Anm. 1], S. 126–128. 32 »The miniatures in WLC/LM/6 were considered (at an uncertain date) precious enough to be protected with silk, of which the sewing holes may still be seen on many folios (e. g. fol 244v)« (Stones [Anm. 2], S. 45). 33 So Sciacca, Christine: Raising the Curtain on the Use of Textiles in Manuscripts. In: Weaving, Veiling, and Dressing. Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages. Hg. v. Rudy, Kathryn M. u. Baert, Barbara. Turnhout 2007 (Medieval Church Studies 12), S. 161–190, insbes. S. 169–172. Auffälligerweise sind es überwiegend sakrale Texte, die auf eine solche Weise ausgestattet sind oder waren (ebd., S. 190) und selten Codices mit einem Überlieferungsverbund wie der WLC/LM/6, der aufgrund dieses ehemaligen Ausstattungsphänomens in die Nähe geistlicher Codices rückt. Siehe zu der für mich nicht offensichtlichen Verortung des Codex WLC/LM/6 in die Nähe zweier Psalter aufgrund des Miniaturenstils Stones [Anm. 2], S. 45f., und die Anm. 94 in diesem Beitrag. Siehe neben Sciacca zum Phänomen des Seidenvorhangs in mittelalterlichen Codices die exemplarische Untersuchung eines Codex der Pierpont Morgan Library von Schorta, Regula: Les rideaux du lectionnaire G. 44

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Abb. 2: Mutmaßliche Einstichstellen zur Anbringung von Schutzseide auf fol. 84r (Detail). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Mutmaßliche Einstichstellen sind bei Miniaturen im gesamten Codex zu finden. Auf den Seiten des »Roman de Silence« bekommen schützende Seidenstoffe in Bezug auf den Inhalt des Werkes eine zusätzliche Funktion. Es mag reizvoll sein, sich das ›Auf- und Entdecken‹ der durch Seidenstoffe verhüllten Miniaturen als Teil des Leseprozesses oder der Performanz des »Roman de Silence« mitzudenken. Was primär dem Schutz der Miniaturen gedient haben wird, ist zugleich eine Erweiterung der bei der vollständigen medialen Erfassung des »Roman de Silence« benötigten Sinne. Neben dem Hören des Klangs des gesprochenen Textes muss, um die Miniaturen zu sehen, der Stoff berührt und beiseite geschoben werden. So würde das im »Roman de Silence« für die Titelfigur zentrale Thema von Verhüllen und potentiellem Aufdecken auch Teil der Materialität des Textes sein. Neben den für mittelalterliche Handschriften typischen Abnutzungsspuren wie speckige Deckblätter geben fol. 116v, 119r und besonders fol. 124v sowie 125r einen Hinweis auf eine konkrete Gebrauchssituation. So wurde der »Roman de Troie« im Kerzenschein gelesen, vorgelesen oder zumindest aufgeschlagen ausgelegt. Dabei wurde nicht sorgfältig auf eine brennende Kerze geachtet, so dass de la Pierpont Morgan Library, New York. In: CIETA Bulletin 73 (1995/1996), S. 54–62, mit einer Abbildung des Seidenstoffes auf S. 54, der Hinweis auf Schutzstoffe im Clm 15713, dem Salzburger Perikopenbuch (Evangelistar), mit Abbildungen in Pfändtner, Karl-Georg: Nr. 17 Salzburger Perikopenbuch (Evangelistar). In: Pracht auf Pergament. Schätze der Buchmalerei von 780–1180. Hg. v. Fabian, Claudia und Lange, Christiane. München 2012 (Bayerische Staatsbibliothek Ausstellungskataloge 86), S. 106–111, sowie übergreifend Anna Bücheler zu echten und gemalten Stoffmustern und -seiten in frühmittelalterlichen Codices mit religiösen Texten: Bücheler, Anna: Ornament as Argument. Textile Pages and Textile Metaphors in Early Medieval Manuscripts (Zurich Studies in the History of Art 22). Berlin, Boston 2019, insbes. S. 74–78.

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einige Wachstropfen auf den Pergamentseiten überdauert haben. Ob und wie der Codex benutzt wurde, als das Wachs in An- oder Abwesenheit eines Einzelnen oder einer Gruppe, aufgrund eines unachtsamen Kerzenträgers oder einer schief stehenden tropfenden Kerze in einem Halter seinen Weg auf die Tierhaut fand, bleibt im Dunkeln. Doch war das Ereignis nicht einmalig und scheint keinen Leser oder Betrachter so stark gestört zu haben, als dass die Tropfen durch Abkratzen hätten entfernt werden müssen. Was sich durch die Form und den Verlauf der Tropfen noch erahnen lässt, ist, dass der Codex in einem Winkel von etwa 45 Grad gehalten worden oder gelegen haben muss. Wann der Codex hergestellt wurde, ist unsicher, der Herstellungszeitraum muss rekonstruiert werden. Es fehlen konkrete Hinweise wie Schreiberkommentare oder genau datierbare Besitzeinträge. Der Verlust des vorderen Buchdeckels und des Ledereinbandes ist in diesem Kontext besonders beklagenswert, ist dies nicht selten der Ort für Datierungshilfen wie Besitzeinträge, Ex Libris oder etwa ins Leder eingestanzte Familienwappen. Man ist daher bei der Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen auf die Schrift, die Schreibsprache und die Analyse der bildlichen Ausstattung angewiesen. Die Datierungen des Codex in den Editionen und wichtigsten Forschungsbeiträgen seit dem Bericht von Stevenson variieren um einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahrhundert.34 Von der Einschätzung Stevensons, aufgrund der Schrift und der in den Miniaturen dargestellten Ausstattung der Ritter die Entstehungszeit auf das frühe 13. Jahrhundert zu legen,35 sind die darauffolgenden Forschungsbeiträge im 20. Jahrhundert abgerückt. Die späteste Einschätzung findet sich 1925 bei Charles Victor Langlois, der aufgrund der Sprache zum Ende des 13. Jahrhunderts sogar zum Anfang des 14. Jahrhunderts tendiert.36 Unklar ist jedoch, ob er sich auf den gesamten Codex inklusive des Epen-Teils oder nur auf die Fabliaux bezieht. Die meisten Herausgeber der im Codex überlieferten Werke, so Livingston,37 Louis Brandin,38 Lewis Thorpe39 und Sarah Roche-Mahdi,40 34 Einzig Cowper möchte sich nicht genauer festlegen und bleibt bei der vagen Datierung auf das 13. Jahrhundert: »en écriture française du XIIIe siècle« (Cowper: Introduction [Anm. 11], S. XV). Eine Zusammenfassung der Datierungsgeschichte findet sich auch bei Thorpe [Anm. 1], S. 9f. 35 Der Codex sei »written in an early thirteenth century French hand« und »with illuminated initials containing figures of knights, etc., in the costume of the time« (Stevenson [Anm. 1], S. 221). 36 »Il est français de la fin du XIIIe siècle ou des premières années du XIVe« (Langlois, CharlesVictor: La vie en France au moyen âge d’après des moralistes du temps. Paris 1925, S. 376), ebenso François Suard: »fin XIIIe« (Suard [Anm. 14], S. 39). 37 Livingstons Überlegungen in seiner Fabliaux-Edition sind nur auf diesen Teil (fol. a–f sowie fol. 337r–345v) zu beziehen. Er stützt sich auf die paläographische Analyse von Charles Samaran und folgt dessen zeitlicher Einschätzung: »M. Charles Samaran a bien voulu étudier avec nous la paléographie de cette portion du manuscrit. II est difficile de la dater à cause de l’absence de miniatures et de majuscules; au début de chaque poème le copiste a laissé un

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tendieren aufgrund der Schrift und der Sprache zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ebenso entscheidet sich Marc-René Jung, der die Handschrift und die Miniaturen im Rahmen der »Roman de Troie«-Überlieferung beschreibt.41 Erst die Untersuchung des Wollaton-Bibliotheksbestandes von Ralph Hanna und Thorlac Turville-Petre42 folgt dem Urteil von Stones im gleichen Band, die den Schwerpunkt der Analyse auf die Miniaturen in der Handschrift legt und den Codex als deutlich älter als die frühere Forschung einstuft: »It has received attention mostly from the various text editors, and has usually been dated late in the 13th century. However, its codicological and decorative features allow this opinion to be radically modified, returning to the date in the first quarter of the 13th century«.43 Die Konsequenz, die sie daraus zieht, ist spektakulär. Der Codex

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espace pour une lettre ornée qui n’a jamais été exécutée et même au début de chaque vers les majuscules manquent. On trouve certains archaȉsmes, par exemple un e inscrit dans la boucle supérieure d’un d, trait caractéristique de certains manuscrits du XIIe siècle; par contre on voit aussi certains traits plus récents, par exemple un h avec une longue queue arrondie. Dans l’ensemble M. Samaran placerait le texte dans le dernier quart du XIIIe siècle et certainement pas après la première décade du XIVe siècle« (Livingston [Anm. 16], S. 13f.). Brandin [Anm. 1], S. VII, äußert sich im Rahmen seiner Edition von »La Chanson d’Aspremont« nur in Bezug auf diesen Text – somit in Bezug auf fol. 244v–303r des Codex – und aufgrund der Miniaturen: »Toutes sont certainement de la même main et leur style est du troisième quart du XIIIe siècle« und der Schrift: »L’écriture est de la même époque«. Thorpe [Anm. 1], S. 10: »For the most part the works […] can be assigned with some safety to the second half of the twelfth century or the first decade of the thirteenth«. Roche-Mahdi [Anm. 12], S. XI: »The language, Old French with many Picard features, is of the second half of the thirteenth century«. Auch die Schreibsprache der beiden Schreiber von »La Chanson d’Aspremont« gilt als picardisch: »Elle est due à deux scribes différents. Le premier s’est arrêté au dernier vers de la laisse 177; le second commence au premier vers de la laisse 178 (fol. 261 d). Tous deux écrivent en picard; mais le dialecte du premier est le picardwallon, tandis que celui du second est le picard aux limites de la Normandie« (Brandin [Anm. 1], S. VII, auf S. VIIf. sind zahlreiche Beispiele beigegeben). Jung begründet seine Einschätzung nicht näher, siehe Jung [Anm. 1], S. 124: »deuxième moitié du XIIIe siècle«. Demgegenüber spricht sich Roussineau aufgrund des Malstils der Miniaturen dafür aus, die Entstehung des Codex auf nicht später als 1250 anzusetzen: »Le style des miniatures comme la mode des vêtements représentés nous inclinent à penser qu’il n’est pas postérieur au milieu du XIIIe siècle« (Roussineau [Anm. 15], S. 68). Siehe Hanna u. Turville-Petre: Family Collection [Anm. 2]. Stones [Anm. 2], S. 41. Die paläographische Untersuchung von Gaggero u. Lunardi, die auch die Beiträge von Stones berücksichtigt, tendiert wiederum dazu, den Entstehungszeitraum nicht genauer festzulegen: »dans la première moitié du XIIIe siècle« (Gaggero u. Lunardi [Anm. 4], S. 196). Vgl. auch den Datierungsversuch von James-Raoul anhand der sorgfältig gesetzten, mittelalterlichen Zeichensetzung in James-Raoul, Danièle: La ponctuation dans le manuscrit du »Roman de Silence« (Nottingham, WLC/LM/6). In: Ponctuer l’œuvre médiévale. Des signes au sens. Hg. v. Fasseur, Valérie u. Rochelois, Cécile. Genf 2016 (Publications romanes et françaises 267), S. 249–265. Sie tendiert zu »du début du XIIIe siècle«, möchte aber eine absichtlich archaisierende Form der Zeichensetzung nicht ausschließen: »à moins qu’il ne faille y voir la volonté archaïsante de ponctuer à l’ancienne un texte copié plus tardivement« (ebd., S. 264).

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würde mit dieser chronologischen Verortung zur »earliest fully illustrated romance collection«.44 Grundlage für diese Einordnung ist die Rüstung der Ritter in den Miniaturen im »Roman de Troie« und in »Fuerre de Gadres«.45 Die Varianz der Datierung deutet es schon an: Viele Eckdaten aus der Geschichte des Codex liegen im Dunkeln oder bleiben spekulativ. Hergestellt wurde der Codex in Frankreich, aufgrund des picardischen Dialekts der Schreibsprache schließt man auf den Norden Frankreichs.46 In der Handschrift selbst finden sich drei spätmittelalterliche Hinweise auf die Provenienz in Form von Besitzeinträgen. Auf fol. 244r ist am oberen linken Rand der ansonsten leeren Seite eine Zeitund eine Ortsangabe festgehalten worden: »le ior de mardi / por donpere«. Eingeordnet wird die Hand zumeist als nordfranzösisch aus dem 14. Jahrhun-

44 Stones [Anm. 2], S. 41. Stones stützt sich bei dieser Einschätzung auf Omont, Henri: Manuscrits de Lord Middleton conservés à Wollaton Hall, Nottinghamshire. In: Bibliothèque de l’École des Chartes 73 (1912), S. 200–206, bei welchem auf S. 203 jedoch nur die Angabe »ms. du XIIIe siècle« zu finden ist, sowie auf die Dissertation von Nixon, Terry Lynn: The Role of Audience in the Development of French Vernacular Literature in the Twelfth and Early Thirteenth Century: With a Descriptive Catalogue of Manuscripts. Diss. masch. University of California. Los Angeles 1989, S. 447. Laut der Anm. 1 in Ross, D. J. A.: Illustrated Medieval Alexander-Books in French Verse. Hg. v. Pérez-Simon, Maud u. Stones, Alison. Turnhout 2019 (Manuscripta Illuminata 4), S. 181, datiert Nixon den Codex auf ca. 1220–1230. Die Untersuchung von Terry Nixon ist lediglich an drei nordamerikanischen Universitäten einsehbar und lag mir nicht vor. 45 Sie vergleicht die Ritterdarstellungen mit der in Rennes aufbewahrten »Lancelot-Graal«Handschrift und mit der Berliner Handschrift des »Eneasromans« (Berlin, SB, Ms. germ. fol. 282). Der für diese Handschriften vorgeschlagene Herstellungszeitraum von 1220– 1230 überträgt sie auf den WLC/LM/6, siehe Stones, Alison: Les manuscrits du Roman d’Alexandre en vers français et leurs contextes artistiques. In: Alexandre le Grand à la lumière des manuscrits et des premiers imprimés en Europe (XIIe–XVIe siècle). Matérialité des textes, contextes et paratextes: des lectures originales. Hg. v. Gaullier-Bougassas, Catherine. Turnhout 2015, S. 269–284, S. 281–283. Gaullier-Bougassas folgt dieser Einschätzung, so dass der WLC/LM/6 mit dieser Datierung auch unter den illuminierten Handschriften des »Roman d’Alexandre« eine Vorreiterrolle erhält, er ist somit »sans doute le plus ancien témoin illustré du Roman d’Alexandre en vers et même d’une œuvre en langue vernaculaire française« (Gaullier-Bougassas, Catherine: Les livres d’Alexandre. In: ebd., S. 5–29, S. 24). Die Datierung »premier quart du XIIIe siècle, ou peu après« auch in Stones, Alison: Notes sur le contexte artistique de quelques manuscrits de fabliaux. In: Les Centres de production des manuscrits vernaculaires au Moyen Âge. Hg. v. Giannini, Gabriele u. Gingras, Francis. Paris 2015 (Rencontres 136), S. 217–235, S. 219. 46 Die Einschätzung bereits bei Stevenson [Anm. 1], S. 221, vgl. auch Roche-Mahdi [Anm. 12], S. XI: »The language, Old French with many Picard features, is of the second half of the thirteenth century«, und ebd., S. XXIII: »The language, a mixture of francien and picard, includes several unusual vocabulary items«. Vgl. auch die Rezension von Félix Lecoy von 1978 zu Thorpes Edition, in welcher er neben Corrigenda auch auf picardische Eigenheiten des Textes eingeht: Lecoy, Félix: Le »Roman de Silence« d’Heldris de Cornualle. In: Romania 99 (1978), S. 109–125, sowie den Abschnitt zu »Formes et graphies dialectales du manuscrit de Wollaton« in: Cowper: Introduction [Anm. 11], S. XVII–XXIV.

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dert,47 Hanna und Turville-Petre tendieren zu einer englischen Hand.48 Fünf Blätter weiter hat eine Frau links oben auf fol. 249v ihren Besitzanspruch schriftlich festgehalten: »cest liure est Madame de la / Val«. Es handelt sich um eine französische Hand aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert.49 Am Ende der Handschrift findet sich auf fol. 345v als Randnotiz auf der linken Seite, mittig, der Vermerk: »Iohn¯ Bertrem de Thorp Kilton«. Es handelt sich um eine englische Hand aus dem 15. Jahrhundert. Diese drei Notizen sind auch noch in aktuellen Forschungsbeiträgen Grundlagen von Diskussionen geworden, die das Verständnis der Herkunftsgeschichte des Codex betreffen.50 Gewiss ist, dass die Handschrift zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt von Frankreich nach England kam. Der Besitzeintrag der Madame de Laval zeugt davon, dass die Handschrift, bis zu welchem Zeitpunkt ist wiederum unklar, im Besitz der französischen Adelsfamilie Laval war.51 Deren Schloss steht in Mayenne im Nordwesten Frankreichs. Bei der Marginalie auf fol. 244r, welche erst von Thorpe zur Kenntnis genommen wurde, handelt es sich neben der Zeitangabe ›an einem Dienstag‹ um eine Ortsangabe. Diese identifiziert Thorpe als Dompierre-duChemin im Département Ille-et-Vilaine »on the main road from Laval to Fougères and only 37 kilometres from Laval itself«.52 Was sich an diesem Ort an einem Dienstag zugetragen hat, ist nicht zu erschließen. Der Besitzeintrag der Madame de Laval war für Frederick Augustus Grant Cowper Ausgangspunkt für seine Rekonstruktion möglicher Entstehungs- und Tradierungsbedingungen. Ob, wovon Cowper überzeugt ist, die Handschrift als Mitgift anlässlich der Hochzeit von Béatrix de Gâvre mit Guy de Laval im Jahre 1286 hergestellt wurde, ist unsicher.53 Unbewiesen ist auch die Vermutung, der spätere Besitzeintrag stamme von Anne de Laval, deren Tod im Jahr 1466 nachweisbar ist und die mit Jean de Montfort, später Guy XIII. de Laval, ver47 Thorpe [Anm. 1], S. 10. 48 Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 97: »although we suspect the hand might be English, of s. xiv2/4«. Von Bedeutung ist die Einschätzung für die Rekonstruktion, wie und wann der Codex nach England gelangt sein könnte. 49 Geschrieben in »a French hand of the late fourteenth or early fifteenth century« (de Mandach [Anm. 1], S. 57). 50 Vgl. Thorpe [Anm. 1], S. 10–12; Stones [Anm. 2], S. 45. 51 Brandin [Anm. 1], Bd. 1, S. III, geht vom Verbleib des Codex in Frankreich bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts aus: »à en juger par l’écriture, que le manuscrit était encore en France au début du XVe siècle«. Zur Familiengeschichte der Lavals ausführlich Cowper [Anm. 1] und darauf aufbauend Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 97f. 52 Thorpe [Anm. 1], S. 11. 53 Hinweise sind für ihn etwa die realistische Darstellung des Lammes der Anfangsminiatur von »Ille et Galeron« auf fol. 157r, die auf die Wollproduktion in Flandern hinweise, sowie die Änderung der Route des Titelhelden, der statt durch Northumberland durch Brocéliande reist, einem Teil eines Waldstückes, welches der Lavalfamilie gehörte, siehe Cowper [Anm. 1], S. 9–11.

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heiratet war.54 Ebenso gibt es keine Beweise, dass die Handschrift bis zur Einnahme des Schlosses Laval durch John Talbot, dem späteren Earl of Shrewsbury, im März 1428 im Besitz der Familie verblieb und nach der Plünderung des Stammsitzes als Kriegsbeute nach England kam.55 Die letzte Randnotiz hat am meisten Kopfzerbrechen verursacht, denn eine Persönlichkeit mit genau diesem Namen konnte nicht nachgewiesen werden. Cowper identifiziert Sir John Bertram, Baron of Bothal, mit dem lateinischen Besitzeintrag. Dieser Baron könne sogar an der Einnahme und Plünderung Lavals teilgenommen haben.56 Zweifel an dieser Herkunftsthese sind bereits mehrfach geäußert worden:57 »What is more certain is that Bertrams married Willoughbys and that Willoughbys married Middletons, and so by sale, inheritance or gift Ms. Mi.LM. 6 came to Wollaton Hall, where it remained unnoticed until it was discovered and described by W. H. Stevenson in 1911«.58 Die Ereignisse nach der Katalogisierung von Stevenson sind hingegen gut dokumentiert. 1926 wird die Handschrift durch Lord Middleton nach Yorkshire, Birdsall House, Malton gegeben59 und übersteht so den Verkauf zahlreicher Werke aus der Wollaton-Bibliothek. 1947 gibt der elfte Baron Middleton den Bestand, der von den Verkäufen noch übrig ist und als Middleton Collection bezeichnet wird, an das University College Nottingham ab.60 1991 restauriert Nicholas Pickwoad den Codex. Dieser wird in weißes Schweinsleder eingebunden und mit Deckblättern versehen.61 Diese Neubindung belässt die Blätter a–f, die ursprünglich auf fol. 346 folgten, am Beginn des Codex und sorgt daher für die 54 Ebd., S. 13. 55 Ebd., S. 11–13. Cowper nimmt an, dass es sich bei der Plünderung um den Zeitpunkt handelt, bei dem die Handschrift absichtlich von dem vorderen Buchdeckel und dem Ledereinband getrennt worden sei, um vermeintliche Familienwappen der Familie Laval zu entfernen. 56 Siehe ebd., S. 13–17. Thorpe [Anm. 1], S. 11f., widerspricht dem deutlich. 57 So etwa Brandin [Anm. 1], S. III: »Rien ne permet d’indiquer la date d’acquisition du manuscrit par la famille de Lord Middleton. Il doit se trouver dans cette famille depuis des siècles; et c’est probablement Sir Henry Willoughby, membre de la cour de Henry VIII«. Einzig de Mandach sieht die Ergebnisse von Cowpers Recherchen und Überlegungen angepasst an neuere Ergebnisse als »fully confirmed« an (de Mandach [Anm. 1], S. 74). 58 Thorpe [Anm. 1], S. 12. Zu den neuesten Betrachtungen der Familiengeschichte und der Bibliothek siehe Hanna u. Turville-Petre: Family Collection [Anm. 2], S. 12f. Diese folgen den Überlegungen von Cowper [Anm. 1] und de Mandach [Anm. 1] zumeist, räumen aber im Bezug auf die Möglichkeit, dass der Codex WLC/LM/6 die Inspiration oder eine Quelle für John Talbot für das Hochzeitsgeschenk von Margarete von Anjou gewesen sein könnte, ein: »there is no evidence for any connection between Talbot and Bertram« (ebd., S. 13). Vgl. auch die Handschriftenbeschreibung in dem gleichen Band (Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 97f.). 59 Siehe Cowper: Introduction [Anm. 11], S. XV. 60 Siehe Hanna, Ralph u. Turville-Petre, Thorlac: Preface. In: Hanna u. Turville-Petre: Wollaton Medieval Manuscripts [Anm. 2], S. IX–XI, S. XI. 61 Siehe Hanna u. Turville-Petre [Anm. 4], S. 97.

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Weitertradierung der auseinandergerissenen Überlieferung. 2007 wurden u. a. die mittelalterlichen Zeugnisse zu einer eigenen Sammlung ausgegliedert und seitdem als Wollaton Library Collection (WLC) eigenständig von der Universität verwaltet.62 Versucht man nun, eine literarhistorische Einschätzung des »Roman de Silence« auf Grundlage des historischen Überlieferungsverbundes vorzunehmen,63 der die Vermutung zulässt, dass er als solcher im 13. Jahrhundert angelegt wurde, so sind, wie oben bereits dargelegt, nur fünf weitere im Codex enthaltene Werke relevant. Mit dem »Roman de Troie« von Benoît de Sainte-Maure, »Ille et Galeron« von Gautier d’Arras, »Le Fuerre de Gadres« von Eustache de Kent, der anonym überlieferten »Chanson d’Aspremont« und der Raoul de Houdenc zugeschriebenen »Vengeance Raguidel« sind zwei Antikenromane (Troja- und Alexanderroman), ein höfischer Abenteuerroman, ein später Artusroman64 und eine Chanson de geste als Kontexte im Codex versammelt. Als Abfassungszeitraum dieser Werke wird in der Forschung in der Regel die Spanne zwischen 1160 und 1190 vermutet.65 Allein die »Vengeance Raguidel« wird etwas später, auf den 62 Der Codex ist seitdem Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden. So stammen die neuesten Publikationen zum Bestand der Wollaton Library Collection aus einem universitätseigenen Forschungsprojekt, an dem Mitarbeiter der Manuscripts and Special Collections, gefördert vom Heritage Lottery Fund, eine Neuaufnahme der hausinternen Schätze vorgenommen haben, siehe Hanna u. Turville-Petre, [Anm. 60], S. XI. 63 Einzig Keith Busby hat den gesamten Codex ausführlicher in Bezug auf »thematic links and intertextual references« (Busby, Keith: Codex and Context. Reading Old French Verse Narrative in Manuscript. 2. Bde. Amsterdam, New York 2002 [Faux Titre 221/222], Bd. 1, S. 418) hin gelesen. Ich folge seinen Ausführungen hierbei nur bedingt, da ich zwei seiner Vorannahmen für den Codex ablehne. Für rein spekulativ halte ich die Annahme, dass der Codex für Béatrix de Laval hergestellt wurde. Für Busby ist diese Annahme »one of the keys to understanding its function and composition« (ebd., S. 416). Zweitens stellt er die Verbindung des Epen-Teils und des später entstandenen Fabliaux-Teils nicht in Frage, sondern bezieht ihn in seine Interpretation der Anlage der Handschrift ein, siehe ebd., S. 419f. Eine Verbindung zwischen Fabliaux-Teil und dem »Roman de Silence« zieht auch James-Raoul [Anm. 23] aufgrund der weiblichen Hauptfigur, sie geht in diesem Beitrag nicht auf die Problematik der Überlieferung ein. 64 Vgl. Busby [Anm. 63], Bd. 1, S. 414. 65 Für den »Roman de Troie« geht man von einer Abfassung gegen 1165 aus (siehe Flutre, Louis-Fernard u. Mora, Francine: Art. »Benoît de Sainte-Maure«. In: Dictionnaire des lettres françaises: le Moyen Âge. Hg. v. Hasenohr, Geneviève u. Zink, Michel. Paris 1992 [Nachdruck 1994], S. 139–141, S. 139), für »Ille et Galleron« von Gautier d’Arras von zwischen 1176– 1184 (Micha, Alexandre u. Ruby, Christine: Art. »Gautier d’Arras«. In: Hasenohr u. Zink [Anm. 65], S. 487–489, S. 487), für »Le Fuerre de Gadres« um 1175 (Ruby, Christine: Art. »Thomas de Kent«. In: Hasenohr u. Zink [Anm. 65], S. 1439), für »La Chanson d’Aspremont« am Ende des 12. Jahrhunderts, vor 1190 (Labie-Leurquin, Anne-Françoise: Art. »Aspremont«. In: Hasenohr u. Zink [Anm. 65], S. 106f., S. 106). Der Überblicksartikel im Dictionnaire des lettres françaises ordnet den »Roman de Silence« in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts ein, begründet diese Angabe jedoch nicht, siehe Ruby, Christine: Art.

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Anfang des 13. Jahrhunderts, datiert.66 Es ist weniger der Sammlungsverbund, in dem sich der »Roman de Silence« befindet, denn die Verarbeitung von Stofftraditionen wie die freie Adaption der »L’Estoire Merlin«, die Thorpe zu einer Datierung der Abfassung des Textes nach 1230 veranlassen.67 Aufgrund der historischen Lagenzählung ist die heute noch erhaltene Abfolge der Epen als ursprünglich intendierte gesichert.68 Nicht auszumachen ist eine Programmatik oder eine Konzeption der Sammlung, die darüber hinausginge, eine Handschrift zu schaffen, welche aufgrund der literarischen Gattungen in Versform, dem Motiv der Herrschaft, des adligen Figurenpersonals und Herkunfts- bzw. Vorzeitengeschichten als Medium höfischer Selbstvergewisserung dienen kann. Die die Sammlung eröffnende Erzählung vom Krieg um Troja von der Argonautenfahrt bis zum Tod von Odysseus ist zugleich die Erzählung im Codex, deren erzählte Ereignisse am weitesten in die Vergangenheit zurückreichen und deren Handlungsraum geographisch am weitesten von einem französischen Rezipienten entfernt liegt. So findet sich am Anfang des Codex die Erzählung von den Ereignissen, deren Konsequenzen mit dem Fall Trojas und der translatio imperii das genealogische Selbstverständnis des west- und mitteleuropäischen Adels und den daraus resultierenden Machtanspruch literarisch legitimierten.69

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»Heldris de Cornouailles«. In: Hasenohr u. Zink [Anm. 65], S. 665f., S. 665. Vgl. auch die Einleitungen in den oben erwähnten Editionen der im Codex überlieferten Werke. Siehe Bar, Francis u. Micha, Alexandre: Art. »Raoul de Houdenc«. In: Hasenohr u. Zink [Anm. 65], S. 1235–1238, S. 1235, sowie Micha, Alexandre u. Ruby, Christine: Art. »Vengeance de Raguidel«. In: ebd., S. 1472. »The date of composition is hard to determine. If lines 5779–6706 are a rather free adaptation of part of L’Estoire Merlin, which seems without doubt, then one can accept 1230, the approximate date of that prose work, as the terminus a quo. No other internal evidence is there to help us« (Thorpe [Anm. 1], S. 16). Vgl. zu den Referenzen auf den Tristanstoff und die »Tristan«-Version des Thomas den Aufsatz von Britta Bussmann in diesem Band. Es gibt kaum Untersuchungen zum Abfassungszeitraum des Romans. Die Reimanalyse von Göring versucht dies aufgrund von sprachlichen Kriterien, siehe Göring, Werner: Untersuchung der Sprache des »Roman de Silence« von Heldris de Cornuälle. Halle 1930. Er kommt, wiewohl er selbst einräumt, dass es keine inhaltlichen Hinweise gibt und die sprachliche Datierung nur schwer zu begründen ist, zu dem Ergebnis, die Abfassung des Romans auf »kurz nach 1200 datieren zu können« (ebd., S. 114). Ist der beschädigte Anfang des »Roman de Troie« im 14. Jahrhundert noch repariert worden, so fehlt das Ende der »Vengeance Raguidel«. Die historische Lagenzählung garantiert, dass der »Roman de Troie« als Anfangswerk geplant war. Ob die »Vengeance Raguidel« den engen Überlieferungsverbund auch ursprünglich abgeschlossen hat, ist nicht gesichert, doch wird hiervon aufgrund fehlender anderer Hinweise ausgegangen. Busby macht darauf aufmerksam, dass die Erststellung des Romans in mehreren Sammelhandschriften nachweisbar sei, nennt aber keine Beispiele: »The codex opens with Le roman de Troie (ff. 1roa–156rob), a text frequently found at the beginning of anthology manuscripts, where its general function is to anchor all texts which follow in a cultural tradition which begins with the Greeks. It is often followed by Le roman d’Eneas and/or Wace’s Brut in a westward movement of translatio studii et imperii« (Busby [Anm. 63], Bd. 1, S. 415).

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Busby verbindet auch die Geographie der Erzählwelt mit dem politischen Adelsanspruch und sieht mit Rom als Handlungsort und dem Tod der griechischen Krieger Gadifer und Eumenidus durch Ille in dem darauffolgenden »Ille et Galeron« eine Bestätigung der westwärts orientierten translatio imperii.70 Mit dem direkt anschließenden »Roman de Silence« teilt sich der vorhergehende Abenteuerroman die Themen der männlichen Ausbildung zum Ritter, des Erbens – Ille wird als Jugendlicher von seinem Erbe vertrieben und muss dieses zurückerobern – oder auch das Thema der Verkleidung (Galeron, Illes spätere Ehefrau, kann sich nur in Verkleidung Zugang zum verwundeten Ille verschaffen).71 Eroberung und ritterlicher Kampf sind auch in »Fuerre de Gadres« von zentraler Bedeutung. Die Episode aus dem »Roman d’Alexandre« erzählt von den Raubzügen und Schlachten Alexanders des Großen in Gaza und der Belagerung der Stadt Tyros. Auch »La Chanson d’Aspremont« wird von den Darstellungen blutiger Kämpfe dominiert. So wird erzählt, wie sich der junge Roland trotz des Teilnahmeverbots von Karl in der Schlacht mit dem Sarazenenkönig Agolant und dessen Sohn Helmont in Kalabrien bewährt. In diesem Kindheitsbericht über Roland erfährt man, wie und warum Roland das Pferd Veillantif und sein Schwert Durandal erhalten hat. Die post-chrétiensche »Vengeance de Raguidel« schließt den Sammlungsverbund ab und kehrt in Bezug auf die erzählte Zeit vor den »Roman de Silence« zurück. Darin macht sich Gauvain auf, um einen toten Ritter zu rächen. Der Artusroman weist nicht wenige komische Szenen auf, die zuletzt unter dem Stichwort der Parodie näher beleuchtet wurden. So wird etwa der Frauenheld Gauvain in diesem Roman selbst zum betrogenen Liebhaber.72 Zwischen den einzelnen Epen lassen sich immer wieder Verbindungen zwischen Figuren, Handlung, Motiven oder den Erzählwelten herstellen. So wird etwa Eumenides, einer der Gefolgsmänner von Alexander, der in »Fuerre de Gadres« in Gaza mit dabei ist, in »Ille et Galeron« von Ille getötet. König Ebain, dessen Erbrechtsänderung Ordnungsbrüche nach sich zieht, hat ebenso ambi70 »While the sequence in Mi LM 6 is not a straightforward chronological and geographical one, it does, I believe, show a concern with demonstrating the political and cultural unity of Europe from Greece to the British Isles; in that sense, Le roman de Troie does represent the easternmost part of the terra cognita of the manuscript« (Busby [Anm. 63], Bd. 1, S. 415). 71 »Ille et Galeron« handelt von Ille, dessen Vater Eliduc stirbt, als Ille zehn Jahre alt ist. Von seinem Erbe in der Bretagne vertrieben, kann er dieses erst nach seiner Ausbildung zum Ritter am französischen Königshof zurückerobern und heiratet Galeron, die Tochter des Fürsten. Als Ille im Kampf ein Auge verliert, zweifelt er daran, ob seine standeshöhere Ehefrau Galeron ihn noch lieben kann. Er flieht daher nach Rom, wo er im Heer des Kaisers von Rom die Truppen des Kaisers von Konstantinopel besiegt. Als Dank soll Ille die römische Kaisertochter Ganor zur Ehefrau bekommen. Währenddessen hat sich Galeron auf die Suche nach Ille gemacht und findet ihn am Tag seiner Hochzeit. Ille kehrt daraufhin mit Galeron nach Hause zurück. Nach der traumatischen Geburt des dritten Kindes wird Galeron jedoch Nonne und nach erneuten Abenteuern heiratet Ille schlussendlich doch noch Ganor. 72 Vgl. Burrichter [Anm. 1] sowie die Inhaltsübersicht bei Eley [Anm. 11], S. VIII–XI.

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valente Herrscherzüge an sich wie König Artus, der laut dem Beginn des »Roman de Silence« als einziger Ebain überlegen ist, und der mit seinem Essensgebot zu Beginn der »Vengeance Raguidel« die festliche Ordnung am Artushof durcheinander bringt. Wie Silence ist auch Ille ein im Exil am französischen Königshof erzogener junger Ritter, der sich bei seiner Heimkehr als Kämpfer bewährt. Ist Silence mit einer intriganten Königin konfrontiert, bringt eine solche im »Roman de Troie« Achill den Tod. Das Fehlen höfischer Liebesbeziehungen lässt sich für Silence ebenso konstantieren wie für die Abenteuer des jungen Rolands und den Kämpfen von Alexander. Die Genealogie von Silence stellt einen Bezug zum Artushof her, der in »Vengeance Raguidel« von Bedeutung ist.73 Derlei Ähnlichkeiten sollten jedoch nicht interpretatorisch überstrapaziert werden. Gemeinsamkeiten aller Großerzählungen, die über weitverbreitete Merkmale und Motive von Epen hinausgehen, sind nicht signifikant nachweisbar. So kann etwa die Parallele, die Busby zwischen dem »Roman de Silence« sowie dem »Roman de Troie« und »Ille et Galeron« in der Bedeutung von Frauenfiguren sieht – sei es im ersten Fall als Mangel, im zweiten als Überschuss – als weitverbreiteter Bestandteil höfischer Romane eingeordnet werden, der zudem nicht in allen Werken des engen Überlieferungsverbundes von Bedeutung ist. Aus der Zusammenstellung des engen Überlieferungsverbundes sticht der »Roman de Silence« somit nicht hervor, sondern fügt sich in ein formales und thematisches Profil ein, das vage als höfisch oder adlig umschrieben werden kann. Dieser Befund gilt in ähnlicher Weise auch für die bildliche Ausstattung. Es ist davon auszugehen, dass der Codex ursprünglich mit mehr als den heute noch 83 erhaltenen Miniaturen ausgestattet war.74 Wie viele Miniaturen mit dem Verlust des ursprünglichen Textanfangs des »Roman de Troie« und dem Ende von »Vengeance Raguidel« verloren gingen, ist nicht mehr rekonstruierbar, da die Bilder im ungleichen Abstand in der Handschrift verteilt sind. Da jeder erhaltene Textanfang mit einer Miniatur ausgestattet ist, ist mindestens eine Miniatur nach der Restaurierung des Textanfangs des »Roman de Troie« im 73 Vgl. Busby [Anm. 63], Bd. 1, S. 416–419. 74 Für eine vollständige Übersicht mit Kurzbeschreibungen aller Miniaturen im WLC/LM/6 siehe den Anhang in Stones [Anm. 2], S. 49–56, die Miniaturen des »Roman de Silence« auf S. 52–54. Für eine Beschreibung der 15 Miniaturen in »La Chanson d’Aspremont« siehe Brandin [Anm. 1], Bd. 1, S. V–VII, auf S. VII die zeitliche Einschätzung: »Toutes sont certainement de la même main et leur style est du troisième quart du XIIIe siècle«. Für eine Beschreibung der 33 Miniaturen im »Roman de Troie« und Einordnung in der Überlieferung des Werkes siehe Jung [Anm. 1], S. 128–133. Die vier Miniaturen in »La Vengeance Raguidel« sind in schwarz-weiß reproduziert in Roussineau [Anm. 15], S. 137–141, die Kurzbeschreibung auf S. 66f. Die Beschreibung des Codex WLC/LM/6 und der zehn Miniaturen in »Le Fuerre de Gadres« bei Ross [Anm. 44], die Beschreibung auf S. 177–180, der Abdruck der Miniaturen in Farbe ebd., S. 560–564, zu diesen Miniaturen siehe auch Stones [Anm. 45], S. 281–283.

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14. Jahrhundert verloren und nicht mehr rekonstruierbar. Die Miniaturen des »Roman de Silence« sind vollständig erhalten. Es handelt sich um die folgenden 14:75 fol. 188r: auf der Höhe von V. 1: [M]aistres Heldris de Cornuälle76 (›Master Heldris of Cornwall‹): Prolog. Rot-oranger Rahmen. Eine männliche Figur, die mit ihrer rechten Hand vorne in ihren roten Umhang greift, sitzt vor einem Schreibpult und hat ihre linke Hand deutend in ein offenes Buch gelegt. Bild-Text-Zuordnung: Autor- bzw. Erzählerdarstellung.77 fol. 195v: auf der Höhe von V. 1433: Li cuens i vint. Dist: »Dex vus salt!« (›The count approached them. He said, »God greet you.«‹): der Graf von Chester spricht Cador an, der sich mit Eufemie unterhalten hat. Rot-oranger Rahmen. Eine männliche Figur (rechts) mit einem Zepter in der Hand steht gegenüber einer in weiß gekleideten Dame mit blauem Umhang und deutet mit der linken Hand. Bild-Text-Zuordnung: Der Graf von Chester spricht mit Eufemie.78 fol. 199r: auf der Höhe von V. 2127: [P]artolt tresvole la noviele (›The news spread rapidly everywhere‹): nach der Taufe von Silence verbreitet sich die Nachricht, sie würde sterben, worüber im Land geklagt wird. Rot-oranger Rahmen. Zwei weibliche Figuren in langen Gewändern stehen sich gegenüber. Die linke hält ein gewickeltes Kleinkind auf dem Arm, die rechte Figur zeigt mit dem Finger auf das Kind. Bild-Text-Zuordnung: Eufemie spricht mit der Amme, die Silence trägt.79 fol. 201r: auf der Höhe von V. 2497: [S]ilences forment s’enasprist (›Silence was deeply disturbed about this‹): Silence ist über ihre männliche Erziehung beunruhigt, Nature erscheint, als Silence 12 Jahre alt ist. Blauer Rahmen. Eine grün-rot gewandete Figur steht vor einer als thronender Herrscher dargestellten Figur, die mit der rechten Hand eine Zeigegeste auf die linke Figur macht. Die linke Figur hält wie in der Abwehrgeste die rechte Hand mit der Handinnenfläche nach außen auf Brusthöhe. Das Gesicht der rechten Figur ist aufgrund von Schäden nicht mehr erkennbar. Bild-Text-Bezug: unklar: Cador spricht mit dem Seneschall80 oder die Personifikationen Nature und Noreture im Gespräch oder Cador spricht mit Silence, die als Junge gekleidet ist.81 fol. 203r: auf der Höhe von V. 2921: [A]nchois qu’il fuscent arivé (›Before they arrived‹): Die vom Hof abgereisten jongleurs unterhalten sich auf dem Schiff über Silence. Blauer Rahmen. Zwei sich gegenüberstehende Figuren in rotblauen Gewändern sehen sich an. Ein

75 Für eine längere Beschreibung mit Zuordnung der abgebildeten Szenen zu Textstellen siehe Thorpe [Anm. 1], S. 6–9. 76 Die in eckigen Klammern eingefügten Anfangsbuchstaben weisen darauf hin, dass die Miniaturen einen Buchstaben ersetzen. 77 Thorpe [Anm. 1], S. 6, sieht es als Autorenporträt, Psaki sieht hier den »narrator« ins Bild gesetzt (Psaki, F. Regina: The Modern Editor and Medieval »Misogyny«: Text Editing and »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 78–86, S. 84f.). 78 So Thorpe [Anm. 1], S. 6, sowie Stones [Anm. 2], S. 53. 79 Cornelia Logemann interpretiert die beiden Frauengestalten als Nature und Noreture, siehe den Beitrag von Logemann in diesem Band. 80 Thorpe [Anm. 1], S. 7. 81 Stones [Anm. 2], S. 53.

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Kind steht in der Mitte und hält die linke Figur an der Hand. Bild-Text-Bezug: Silence steht zwischen den jongleurs.82 fol. 206v: auf der Höhe von V. 3593: [Q]ue que li viellars die u face (›Whatever the old man said or did‹): Silence ignoriert die Worte des alten weisen Mannes, der ihn als zurückgekehrten Sohn am Hof von Cador erkennt. Rot-oranger Rahmen. Zwei männliche Figuren mit Zeigegesten, die linke trägt eine Krone. Bild-Text-Bezug: Der alte Mann im Gespräch mit Cador83 oder Silence im Gespräch mit Cador.84 fol. 209r: auf der Höhe von V. 4027: [O]r a la roïne oquoison (›Now the queen would have ample opportunity‹): Als Ebain auf die Jagd reitet, schließt die Königin Eufeme Silence in ihrem Schlafzimmer ein. Ein rot-oranger Torbogen ist über den blauen Miniaturrahmen gemalt. Zwei Figuren sitzen sich gegenüber. Die rechte Figur ist als thronender Herrscher dargestellt, der seine rechte Hand zeigend erhoben hat. Die Miniatur ist stark beschädigt. Bild-Text-Bezug: Silence und Eufeme im Schlafzimmer.85 fol. 211r: auf der Höhe von V. 4459: Cho dist li rois: »J’ai grant anguissce« (The king said, »I am in a dreadful dilemma«): Der König von Frankreich ist bestürzt über den vermeintlichen Auftrag, Silence umzubringen. Blauer Rahmen. Ein Mann kniet vor einem rechts thronenden Herrscher und übergibt ihm einen Brief. Die Farbe der Gesichter und der Hände ist nicht erhalten. Bild-Text-Bezug: Silence überbringt bei Ankunft am Pariser Königshof dem König von Frankreich den Brief von König Ebain.86 fol. 213r: auf der Höhe von V. 4781: [S]e jo ai un mien buen ami (›If I have a good friend‹): Der Graf von Clermont antwortet unter Bezugnahme auf die Eigenschaften von Freundschaft dem König von Frankreich auf die Frage, wie mit dem brieflichen Mordauftrag umgegangen werden soll. Rot-oranger-Rahmen. Ein grauer Löwe mit geblümten Schwanz.87 Kein direkter Bild-Text-Bezug durch figürliche Umsetzung von Erzählepisoden. fol. 214v: auf der Höhe von V. 5069: [S]ire, ma dame vint a moi (›»Sire, my lady came to see me«‹): Ebains Kanzler berichtet ihm, dass die Königin, als er den Brief verfasste, in der Nähe war und die Möglichkeit zur Täuschung hatte. Blauer Rahmen. Eine männliche Figur mit einem Fleur-de-Lis-Zeichen auf dem Gürtel und einem weißen Stock in der Hand vollzieht einen Kniefall vor einer thronenden Figur und zeigt mit dem rechten Zeigefinger auf sie. Bild-Text-Bezug: Ebains Kanzler und Ebain im Gespräch.88 fol. 217r: auf der Höhe von V. 5557: [U]ns des Franchois, Gui de Calmont (›One of the Frenchmen, Guy de Calmont‹): Drei französische Ritter helfen dem König in der Schlacht, wieder aufzusteigen. Blauer Rahmen. Ein roter Vogel mit blauen, geschlossenen Schwingen 82 83 84 85 86 87

Thorpe [Anm. 1], S. 7; Stones [Anm. 2], S. 53. Thorpe [Anm. 1], S. 7. Stones [Anm. 2], S. 53. Thorpe [Anm. 1], S. 7; Stones [Anm. 2], S. 53. Thorpe [Anm. 1], S. 7; Stones [Anm. 2], S. 53. So Stones [Anm. 2], S. 53; Thorpe [Anm. 1], S. 7, erkennt hier einen Hund. Dies würde zur literarischen Bedeutungszuschreibung des Hundes als ›treu‹ passen. Zur Interpretation als Löwe, dessen Bedeutung in der Heraldik und zugeschriebenen Tugenden wie Wachsamkeit und Gnade und daher naheliegende Bezug auf den König von Frankreich siehe Bolduc, Michelle: Silence’s Beasts. In: The Mark of the Beast. The Medieval Bestiary in Art, Life, and Literature. Hg. v. Hassig, Debra. New York, London 1999 (Garland Reference Library of the Humanities 2076), S. 185–209, S. 188–190. 88 Thorpe [Anm. 1], S. 7f.; Stones [Anm. 2], S. 53.

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und Greifenkopf, der in seinen langen, grünen Schwanz beißt.89 Kein direkter Bild-TextBezug durch figürliche Umsetzung von Erzählepisoden. fol. 218v: auf der Höhe von V. 5879: »[C]il qui fait son solel luisir« (›»May he who makes the sun shine«‹): Der alte Mann mit weißen, langen Haaren, dem Silence im Wald begegnet, segnet sie zur Begrüßung. Rot-oranger Rahmen: ein blauer Vogel mit roten geschlossenen Schwingen, vermutlich ein Pelikan, der den Schnabel auf die Brust gelegt hat.90 Kein direkter Bild-Text-Bezug durch figürliche Umsetzung von Erzählepisoden. fol. 221r: auf der Höhe von V. 6299: [M]erlins est menés en la place (›Merlin was brought to the place of judgment‹): Merlin wird zum Gerichtsplatz gebracht, wo ihm Ebain mit einem gezogenen Schwert droht, er nehme ihm das Leben, falls er nicht sein Lachen erkläre. Blauer Rahmen. Ein Mann in einem grünen Gewand sitzt, sich leicht zurücklehnend mit bloßen Füßen auf einer kleinen, roten Erhöhung und blickt neben oder hinter sich. Die Farbe des Gesichtes hat sich nicht erhalten. Bild-Text-Bezug: Merlin denkt nach.91 fol. 222v: auf der Höhe von V. 6582: [O]r te conjur jo par le foi (›Now I conjure you, by the faith‹): Nachdem Ebain die entblößte Silence geprüft hat, fragt Ebain nach den Hintergründen ihrer Verhüllung und dem Vergewaltigungsvorwurf der Königin. Rot-oranger Rahmen. Eine nackte Figur steht mit erhobenen Händen vor einem König, der mit dem linken Zeigefinger auf sie zeigt. Die Miniatur ist stark beschädigt, da die weiße Farbe des entblößten Körpers und der Gesichter wie Hände abgelöst ist. Bild-Text-Relation: Die entblößte Silence steht vor Ebain.92

Aufgrund der sich wiederholenden Ausstattung der Figuren und der gleichmäßigen Darstellung geht man zumindest für elf Miniaturen von einem einzigen Maler aus.93 Die Miniaturen sind durchschnittlich acht Zeilen hoch und nehmen etwa zwei Drittel der Zeilenlänge ein. Sie sind stets gerahmt – in rot oder blau, jeweils drei Farbabstufungen pro Rahmen – und zeigen Figuren, zumeist menschliche, aber auch hybride Grotesken auf Goldgrund »in a brightly coloured North Eastern style«.94 Die Miniaturen stehen am linken Zeilenrand. Der Zei89 Thorpe [Anm. 1], S. 8; Stones [Anm. 2], S. 53. 90 Thorpe [Anm. 1], S. 8, sieht einen Vogel mit Schlangenhals. Stones [Anm. 2], S. 53, sieht eine Verbindung zwischen dem Pelikan und dem Segensspruch. 91 Thorpe [Anm. 1], S. 8; Stones [Anm. 2], S. 53. Die These von Bolduc, in welcher sie die Miniatur aufgrund der statischen Abbildung und der Isolation von den Erzählereignissen als vierte Groteske einordnet, ist abzulehnen, vgl. Bolduc, Michelle: Images of Romance: The Miniatures of »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 101–112, S. 112, Anm. 6. Eine Zuordnung zu Erzählepisoden ist möglich, naheliegend ist die Darstellung Merlins, sei es in Gefangenschaft am Königshof oder an früherer Stelle etwa nach der Mahlzeit von Honig und gebratenem Fleisch im Wald. 92 Thorpe [Anm. 1], S. 8; Stones [Anm. 2], S. 54. 93 Für Thorpe sind die Grotesken vom Rest der 14 Miniaturen so abweichend, dass er von mehr als einem Maler ausgeht: »In the folios containing Le roman de Silence there are fourteen miniatures, all but three of them probably by the same artist. The three exceptions are numbers (9), (11) and (12) in the following list, these being stock decorations which bear no relationship to the story at all« (Thorpe [Anm. 1], S. 6). 94 So Ross in seiner Analyse der Miniaturen auf den Seiten von »Fuerre de Gadres« (Ross [Anm. 44], S. 178). Die Farbpalette ist für Stones [Anm. 2], S. 45f., ein Hinweis auf eine

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lenraum, der nicht von der jeweiligen Miniatur eingenommen wird, ist beschrieben, so dass jede Miniatur von drei Seiten von Text umgeben ist. Mitunter steht, wie etwa auf fol. 199r oder 203r, die linke Seite der Miniatur über den linken Textrand hinaus, aber nicht mehr als etwa die Fleuronnébögen. Häufig ragen wie auf fol. 195v, 199r, 201r, 206v oder auch 222v Füße oder Teile der Gewänder in den Rahmen hinein oder wie auf fol. 211r, 214v und 221r über diesen hinaus. Bildüber- oder Bildunterschriften sind nicht vorhanden, auch keine Bezeichnungen der Figuren in den Bildern. Das Fehlen von Peritexten, die für eine Rahmung des Bildes, einen Bild-Text-Bezug und somit ein konkretes Deutungsangebot des Bildlichen sorgen würden, eröffnet hier Interpretationsmöglichkeiten, insofern ein Rezipient den Bild-Text-Bezug mit dem direkten Kontext oder früheren bzw. später im Text folgenden Episoden bzw. Miniaturen knüpfen kann. Als Beispiel sei hier näher auf die Miniatur auf fol. 203r (Abb. 3) eingegangen.

Abb. 3: fol. 203r (Detail). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Die Darstellung der zwei erwachsenen Figuren mit einem Kind in der Mitte ist neben und oberhalb der Verse ab V. 2921 angeordnet. Die Miniatur ist anstelle einer A-Majuskel angeordnet, die Anordnung der Figuren lässt sich als Andeutung des Buchstaben lesen. So stehen die beiden äußeren Figuren als Andeutung auf die linke und rechte Rundung des As, das Kind in der Innenfläche des As. verwandte Handschriftengruppe aus klerikalen Kreisen, die u. a. den sog. Fécamp Psalter enthält: »I suggest that WLC/LM/6 may be related to a cluster of very distinguished psalters made in monastic circles in northern France at the end of the 12th century, not in Champagne but further north, on the border of Artois and Flanders. Two manuscripts in particular offer a similar palette of light bright colours on gold in which an orange/light green palette is prominent«. Dem folgt Ross [Anm. 44], S. 181, Anm. 14, mit Hinweis auf die unpublizierte Dissertation von Nixon [Anm. 44]. Für mich ist die Ähnlichkeit zwischen den Miniaturen im WLC/LM/6 und im Fécamp Psalter nicht derart augenfällig.

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Nimmt man die Ersatzfunktion der Miniatur als Hinweis auf die Nähe zum direkt links angeordneten Text, so kann man – wie es Thorpe getan hat95 – die beiden erwachsenen Figuren mit den beiden jongleurs identifizieren, denen Silence in der danebenstehenden Textstelle gefolgt ist.96 Hierbei dient der unmittelbare Kontext ab V. 2921, in den die Miniatur hinein gemalt ist, als Bezugspunkt. Eine im Text beschriebene Szene – Silence wird an der Hand gehalten – ist dies nicht, Silence wird im Text von den beiden jongleurs erst am nächsten Abend erkannt, als sie sie so höflich bedient wie auf dem Adelssitz im Wald. Ins Bild gesetzt scheint vielmehr eine Auseinandersetzung, sei es im Disput über eine Wahrnehmung oder eine Entscheidungsfindung. In V. 2921–2926 überlegen die beiden jongleurs auf dem Schiff, ob es sich bei dem Knaben in Sichtweite – Silence hat ihr Gesicht mithilfe von Kräutern unkenntlich gemacht – überhaupt um Silence handeln könnte: [A]nchois qu’il fuscent arivé Ont de l’enfant moult estrivé. Li uns a dit: »Dex, est cho il?« Li altres dist: »Par foi! nenil! Mal sanble la color celui A la color quist en cestui.« Before they arrived, / they talked a great deal about the youth. / One of them said, »Good lord, is that he?« / The other said, »Heavens, no. Certainly not. / This boy has a very bad complexion, / compared to the other.«

Das nach unten geneigte Gesicht des vermeintlichen Knaben, welches Bolduc als Anzeichen für Scham interpretiert,97 würde dann in Bezug auf die direkt folgenden Verse die Verschwiegenheit des Jungen auf dem Schiff anzeigen: L’enfes ot tele ententiön Qu’onques ne lor fist mentiön Qui il fust ne que la fesist, Ne que en Bertagne fesist, Qu’il ne desiscent a la gent. (V. 2927–2931) The youth intended / not to say a thing to them / about who he was or what he was doing there / or what he intended to do in Brittany, / so they wouldn’t tell anyone.

Da es sich nicht eindeutig um die Umsetzung der an dieser Stelle im Text geschilderten Episode handelt, lässt es die Miniatur auch zu, in ihr die Verbildlichung einer früheren Episode zu sehen. Bolduc interpretiert die unterschied95 Thorpe [Anm. 1], S. 7. 96 Auch Stones [Anm. 2], S. 53, sieht hier die jongleurs umgesetzt, gibt aber zu bedenken, dass es sich auch um weibliche Figuren handeln könnte. 97 Bolduc [Anm. 91], S. 109.

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liche Gewandung der beiden Figuren – so trägt die rechte Figur ein sackähnliches Gewand, das die Geschlechts- und Standeszuordnung erschwert, die linke Figur einen langen, goldenen und höfisch geknoteten Gürtel, der die Taille betont – als Hinweis auf die Gegenüberstellung eines Mannes (links), der die Hand des Kindes hoch hält, und einer Frau, die auf das Gesicht des Kindes deutet, »the image represents instead the seneschal and the nursemaid who have raised Silence«.98 Die damit entstandene falsche Platzierung wird von Bolduc als Strategie der Verwirrung verstanden, die somit von der Erzählwelt in die Welt des Rezipienten übergreifen würde: »The misplacement of this image visually distracts the reader from the portrait created within the text of Silence as an accomplished jongleur and, I would argue, continues the conservative ideological program, here in terms of class as well as of gender, of the rest of the images«.99 Bolduc gibt nicht an, ob sie sich auf eine konkrete Episode im Text bezieht, so dass diese Interpretation die Wahrnehmung der beiden Autoritätspersonen bzw. Erziehungsberechtigten als abstrakte Kräfte in Silences Jugend vorauszusetzen scheint, wie sie etwa in V. 2463–2466 thematisiert ist: Moult le castie biel li pere Et alsi fait sovent la mere, Li senescals et la norice. De faire bien cascuns l’entice. The father gave him much good advice, / as did the mother often, / and the seneschal and the nurse; / they all urged him to be good.

Das Zusammenwirken der beiden in der Erziehung wird in den V. 2235–2251 und 2359–2381 geschildert. Man müsste davon ausgehen, dass der Bezug von einem Rezipienten über mehrere hundert Verse und einer dazwischen angeordneten Miniatur hergestellt wird. Zwischen der Schilderung von Silences Erziehung und der Miniatur auf fol. 203r ist das Heranwachsen Silences, der Streit von Nature und Noreture, die Einkehr der jongleurs am Hof von Silences Eltern im Wald und die Flucht von ihr beschrieben. Folgt man der Überlegung, das Bild aus dem direkten Textumfeld zu lösen, erlaubte es die dargestellte Szene diese auch als Auseinandersetzung zwischen den Personifikationen Nature und Noreture (V. 2497–2624) zu interpretieren.100 Links stünde Noreture, die in dem losen, langen Gewand männlicher wirkt als die rechte Figur mit Umhang und geschnürter Taille.101 Dass in dieser Deutung Noreture Silence an der Hand halten 98 Ebd., S. 108. 99 Ebd., S. 108f. 100 Diese Deutung hat schon Bolduc [Anm. 91], S. 112, Anm. 8, mit Verweis auf Psaki formuliert. 101 Die Darstellung mancher Figuren lässt sich aufgrund des Gewandes, der Haltung, der offenen Haare und der Gestik sowie der abgeblätterten Farbe nicht immer eindeutig einem

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würde, passt zum Ausgang der Diskussion der beiden Personifikationen, in welcher sich Silence am Ende für die Fortführung eines männlichen Lebens entscheidet. Ein Indiz, dass hier Noreture und Nature in der Unterhaltung über Silence und nicht die nach dem Verschwinden von Nature erscheinende Raison im Gespräch mit Silence, die diese letztlich durch ihre Worte überzeugt, dargestellt sind, könnte die Kopfhaltung des Kindes sein. Es hat diesen nach unten abgewandt, scheint an einer Unterhaltung unbeteiligt. Mit einem so weiten Rückbezug ist ein Bezug zu einer Textstelle hergestellt, die auf fol. 201r neben V. 2497 selbst von einer Miniatur begleitet und vielleicht auch eingeleitet wird. Man könnte bei einer solchen Interpretation einen direkten Bild-Bild-Bezug zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Miniaturen erkennen. Die Miniatur auf fol. 201r ist in ähnlicher Weise mehrdeutig interpretiert worden wie diejenige auf fol. 203r. Dort steht eine grün-rot gewandete Figur vor einem thronenden Herrscher, der mit der rechten Hand auf die linke Figur deutet. Diese hält abwehrend die rechte Hand mit der Handinnenfläche nach außen auf Brusthöhe. Das Gesicht der rechten Figur ist aufgrund von Schäden nicht mehr erkennbar. Der direkte Bildkontext ist V. 2497, in welchem geschildert wird, wie Silence im Alter von 12 Jahren über ihre männliche Erziehung beunruhigt ist und Nature erscheint. Der Bild-Text-Bezug ist unklar, da die unmittelbare Textstelle nicht passt. Thorpe schlägt vor, dass hier Cador mit dem Seneschall spricht;102 Stones erweitert den Bild-Text-Bezug, es könnten in ungewöhnlicher Weise abgebildet die Personifikationen Nature und Noreture im Gespräch sein oder Cador spricht mit Silence, die als Junge gekleidet ist.103 Ein Hinweis auf die letzte Deutung kann in dem Gewand der linken Figur gesehen werden. Es ähnelt stark dem Gewand von dem Kind in der darauffolgenden Miniatur. Zwar stimmen dann die Proportionen von Kind und Erwachsenen nicht, doch könnte dies der Darstellung von Silence als Gesprächspartner auf Augenhöhe mit dem Vater geschuldet sein. Silence soll in dem Gespräch selbst die Gründe für die männliche Erziehung nachvollziehen und akzeptieren. Setzt man die Bilder auf fol. 201r und 203r in Bezug zueinander, so ist hier die sich durch wechselnde und steigernde Anzahl an Gesprächsteilnehmern vermehrte Rede über Silences Geschlecht ins Bild gesetzt. Die bildliche Ausstattung des Codex orientiert sich nicht – so zeigt der Vergleich mit weiteren illuminierten Handschriften von »Fuerre de Gadres« oder des »Roman de Troie« – an anderen bekannten Bildzyklen der im Codex überliebestimmten Geschlecht zuordnen, so dass die Geschlechtszuordnung mancher Figuren in den Interpretationen wechselt. Auch fehlen mitunter einfach eindeutige Anzeichen, etwa gibt es in meinen Augen keinen klaren Hinweis darauf, dass die thronende Herrscherfigur in fol. 209r als weiblich zu interpretieren ist. Erst der Textbezug vereindeutigt das Geschlecht der Herrscherfigur. 102 Thorpe [Anm. 1], S. 7. 103 Stones [Anm. 2], S. 53.

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ferten Epen.104 Zugleich gibt es weder einen den Epen-Teil überspannendes noch ein nur im »Roman de Silence« vorherrschendes spefizisches Bildprogramm.105 In Bezug auf die Wahl des Bildgegenstandes lassen sich aber drei Tendenzen ausmachen, die für die Miniaturen im gesamten Codex gelten. Die Darstellungen variieren zwischen erstens konventionellen und daher unspezifischen Darstellungen von häufigen Ereignissen wie Gespräche von Adligen oder dem Ausritt von bewaffneten Rittern, zweitens von sehr genau umgesetzten Darstellungen ungewöhnlicher oder für den jeweiligen Text spefizischen Szenen und drittens nicht mehr menschlicher, aber noch figürlicher Miniaturen in Form von Grotesken, die keinen literalen Textbezug aufweisen.106 Die Miniaturen können, selbst wenn sie konventionell sind, einen literalen oder zumindest engen Bezug zum daneben befindlichen Text aufweisen, dies zeigt sich schon an den fünf noch erhaltenen Anfangsillustrationen der Texte im Epen-Teil.

104 So Ross zu den Miniaturen in »Fuerre de Gadres«: »None of the miniatures corresponds to any picture in any other illustrated version of Branch II of the Roman d’Alexandre, and there is clearly no iconographic connection of this small group of pictures with the picture-cycle preserved in a greater or less degree in all the other illustrated manuscripts of this part of the Roman. Presumably that picture-cycle was unknown to the illustrator of Cm« (Ross [Anm. 44], S. 180), und Jung [Anm. 1], S. 132 zum »Roman de Troie«: »C’est par l’emplacement des lettrines que le manuscrit de Nottingham se singularise à l’intérieur de la traduction manuscrite du Roman de Troie«. 105 So auch das Fazit von Jung zu einem Bildprogramm der Miniaturen des »Roman de Troie« im WLC/LM/6: »Mais on ne saurait parler d’un véritable programme iconographique. Les lettrines 2, 6, 11, et 15 n’ont aucune relation avec le texte; à l’exception de la seconde lettrine, au vers 2601, leur emplacement correspond à celui qui est aussi marqué dans d’autres manuscrits du Roman de Troie« (Jung [Anm. 1], S. 131). 106 Eine ähnliche Unterscheidung von »virtually identical pictures«, einer Miniatur, die »really illustrates an episode« sowie »non-illustrative«, sogar »theriomorphic capitals« wie die Miniatur eines Adlers auf fol. 227r bei Ross [Anm. 44], S. 180.

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Abb. 4 von links nach rechts: agnus Dei (fol. 157r), Alexander der Große (fol. 224r), Karl der Große mit Schwert und Reichsapfel (fol. 244v), Artus mit zwei Figuren (fol. 304r). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Die eröffnende Miniatur der »Vengeance Raguidel« zeigt auf fol. 304r (Abb. 4) Artus im Gespräch mit zwei seiner Ritter. Mit der Wahl dieser Figur entsteht ein direkter Bezug zum zweiten Vers des Anfangs, in dem li rois Artus107 genannt wird. Ein direkter Bezug besteht auch zwischen dem auf fol. 224r (Abb. 4) auf einem mit Drachenköpfen und Löwenfüßen antikisierten, tragbaren Thron dargestellten Herrscher, der durch die ersten Verse von »Fuerre de Gadres« Alexander der Große sein muss. In V. 1f. wird einleitend von der Belagerung von Tyros durch den König von Makedonien – Li rois de Macedonie (V. 2) – berichtet.108 Diese enge Verknüpfung von Miniatur und Text bestätigt sich auch beim Anfang der Chanson de geste um Karl den Großen. Auf fol. 244v (Abb. 4) thront Karl, der zwar in konventioneller Herrscherpose dargestellt ist, aber aufgrund seiner Herrschaftsinsignien Schwert und Reichsapfel in seiner Position als Kaiser erkennbar ist. Auch in den Anfangsversen der Chanson de geste wird der Herrscher im zweiten Vers beim Namen genannt und dann als reicher und mächtiger König vorgestellt: De Carlemainne le rice roi poiscant.109 Ungewöhnlich mag auf den ersten Blick die Anfangsinitiale von »Ille et Galleron« auf fol. 157r (Abb. 4) erscheinen. Hier ist kein Protagonist abgebildet, sondern agnus Dei, das Lamm Gottes. Das Bild steht dennoch, diesmal jedoch in Übertragung, in Bezug zum ersten Vers des Romans, in dem Gott und der Heilige Geist angerufen werden und um Segen für den Dienst und den Geist gebeten wird:

107 Zitiert nach Stevenson [Anm. 1], S. 227. 108 Zitiert nach ebd., S. 225. 109 Zitiert nach ebd., S. 226.

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[A]ïe Dex, Sains Esperis! Qu’a la mellor emperre[r]is Qui onques fust, si con jo pins, Otroi mon service et mon sens. (V. 1–4)110

Die Anfangsinitiale des »Roman de Silence« auf fol. 188 (Abb. 5) zeigt ebenfalls keine Figur der Erzählwelt, sondern eine dritte Möglichkeit des Bildbezugs. Dargestellt wird je nach Deutung eine textexterne Instanz bzw. eine Instanz außerhalb der Erzählwelt, die sich im Text artikuliert bzw. von der in den ersten Versen gesprochen wird. Zu sehen ist eine männliche Gestalt mit einer blauen Kappe, die vor einem aufgeschlagenen Buch auf einer Bank sitzt, mit ihrer rechten Hand vor dem Bauch ins rote Gewand greift und mit der linken Hand eine Buchseite am inneren Seitenrand festhält oder auf eine Stelle im Buch deutet. Der Körper ist dem Betrachter frontal zugewandt.

Abb. 5: Autoren-/Erzählerporträt zu Beginn des »Roman de Silence« (fol. 188r). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Es ist auffällig, dass fast der gesamte linke Rahmen unterbrochen ist, um Buchstütze und Buch darzustellen. Die Miniatur ist an dieser Stelle somit zum geschriebenen Text des Manuskriptes geöffnet. Während die Figur durch ihre für Autordarstellungen ungewöhnlich frontale Körperhaltung ein direktes Gegenüber für den Betrachter bildet, leiten die von unten links nach rechts oben schräg verlaufenden Linien des Oberschenkels, des Gewandes, des ausgestreckten rechten Armes, die ins Buch geführte Hand den Blick über die Miniatur

110 Zitiert nach ebd., S. 223. Dass die Bezeichnung agnus Dei, das Lamm Gottes, wie auch das Wort, dessen Erstbuchstabe die Abbildung ersetzt, mit einem a beginnen, mag ein sekundärer Effekt sein.

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hinaus. Folgt man den Linien, so führen sie zum Autornamen in der ersten Zeile: [M]aistres Heldris de Cornuälle / Escrist ces viers trestolt a talle (›Master Heldris of Cornwall / is writing these verses strictly to measure‹; V. 1f.).111 Anders als die Figuren von Anfangsminiaturen wie Alexander und Artus wird hier im Bild eine Verbindung zur schriftlichen Manifestation des Textes hergestellt. So deutet die Figur auf die Worte des Erzählers Heldris, mit denen er in den ersten 106 Versen zu Wort kommt und an dessen Anfang der Autor genannt wird. Es ist umstritten, ob hier der Autor Heldris oder der Erzähler bildlich dargestellt ist. Falls es eine Autordarstellung sein soll, so ist es der Autor vor seinem vollendeten Werk, der Schreibprozess ist in dieser Miniatur nicht dargestellt. Eine solche Darstellung gibt es aber durchaus im Codex WLC/LM/6, nämlich im »Roman de Troie«.

Abb. 6: Der schreibende Autor Dictys Cretensis auf fol. 126v. In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Die Autordarstellung auf fol. 126v (Abb. 6) unterscheidet sich von der auf fol. 188r zu Beginn des »Roman des Silence«. Nicht der Autor des vorliegenden Textes ist hier zu sehen, sondern der Autor Dictys Cretensis, der die Ereignisse aus griechischer Sicht aufschreibt und auf den sich Benoît im »Roman de Troie« im Anschluss an den Bericht von Dares Phrygius als Quelle beruft. Neben der Textproduktion rückt in der Miniatur auf fol. 137v (Abb. 7) im »Roman de Troie« aber auch dezidiert die textvermittelnde Instanz des Erzählers ins Bild. Anders als Stones erkenne ich auf fol. 137v nicht den Autor, sondern den Erzähler, der sitzend mit seinem linken ausgestreckten Zeigefinger auf die 111 Nicht in allen Fällen, in denen eine so direkte oder sogar literale Umsetzung von Textauszügen nachweisbar ist, steht der Text rechts neben der Miniatur. Im Falle der Miniaturen auf fol. 211r und 222v sind die Miniaturen rückbezüglich auf die in den vorangegangenen Versen geschilderten Episoden.

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Abb. 7: Erzählerfigur im »Roman de Troie« (fol. 137v). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Versstelle im Manuskript deutet, an der im Text ein Rückverweis des Erzählers formuliert ist.112 Die Autor- und Erzählerposition, die im »Roman de Troie« an den Stellen zu den schriftlichen Quellen getrennt ist, fällt in der Anfangsinitiale im »Roman de Silence« bildlich zusammen und geht mit einem Prolog einher, in dem sich der Autor Heldris als Schöpfer seines Werkes präsentiert und der wie später auch in den Erzählereinschüben sein Werk, die Ereignisse und das Publikum kommentiert und somit auch im Text zwei Positionen, die des Schreibenden und die des Erzählenden, zusammenführt. Die weitaus größere Anzahl an Miniaturen zeigt jedoch Figuren und Ereignisse aus der Erzählwelt. Sie lassen sich darin unterscheiden, ob die Darstellung auf individuelle Details der Szenen eingeht oder ob es sich um eine konventionelle, wenn nicht sogar typenhafte Art und Weise der Darstellung handelt. Letzteres ist etwa der Fall beim Ausritt bewaffneter Ritter (Abb. 8).

Abb. 8: Ausreitende Ritter: Hector (fol. 73r, 84r) und Gadifer (fol. 237r). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

112 Stones [Anm. 2], S. 51.

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Doch selbst in der konventionellen Darstellung sind die Schabracken und Rüstungen der Kämpfer sorgfältig und mit verschiedenen Details ausgeführt. Deutlich wird, dass werkübergreifend besonders in den schlachtenreichen Epen auf diesen Darstellungstypus zurückgegriffen wird, so finden sich weitere Ausrittszenen dieser Art im »Roman de Troie« auf fol. 44r, 66v, 68v, 88v, 100v, 118r, 124r und 144r, in »Ille et Galeron« auf fol. 160r, in »Le Fuerre de Gadres« auf fol. 229v und 231r und in »La Chanson d’Aspremont« auf fol. 253r, 260v, 270v und 294r. Wiewohl im WLC/LM/6 mit den ausreitenden Rittern häufig ein Darstellungstypus für Ritterlichkeit und Kampfkraft ausgeführt ist, wird dieser für den »Roman de Silence« nicht ausgewählt. Aus seiner im Codex umgesetzten Palette an konventionellen Darstellungstypen stimmt der Maler der Miniaturen im »Roman de Silence« die Auswahl auf den Inhalt des »Roman de Silence« ab. Der Fokus liegt nicht auf der Ritterlichkeit und der vorbildlichen Kampfkraft von Silence als Ritter, auch die Tätigkeit als jongleur oder die Gefangennahme Merlins ist nicht ins Bild gesetzt. Stattdessen gilt für den »Roman de Silence«, dass die Miniaturen »mostly depict verbal interactions«.113 Von den 14 Miniaturen stellen acht in der Gegenüberstellung von Figuren Gesprächsszenen dar (fol. 195v, 199r, 201r, 203v, 206v, 209r, 211r und 214v); neun, sofern man die nackte Silence vor Ebain (fol. 222v) als Gesprächsszene werten will. Auf Spruchbänder, Umsetzung von Gesprächsinhalten durch textuelle Elemente oder auch nur Andeutung etwa durch leere Schriftrollen verzichtet der Maler im Codex. Nur die äußerlichen Anzeichen von ›Reden‹ in Form von Körperhaltung und Gesten, insbesondere von Zeigegesten, deuten auf Gespräche hin. Das Hauptthema ›Schweigen‹ und ›Sprechen‹ ist damit vermehrt auch bildlich umgesetzt. Dies ist etwa auch der Fall bei der Miniatur auf fol. 214v (Abb. 9), die das Gespräch von Ebain und dem aus dem Gefängnis gebrachten Kanzler, dem die Brieffälschung vorgeworfen wird, zeigt. Dem Kanzler fehlen zuerst aus Angst die Worte: Et quant il vient devant le roi / Ne l’aparole par derroi (›And when he came before the king, / he was so distraught he couldn’t speak‹; V. 5051f.). Die Miniatur lässt sich hinsichtlich der knienden Körperhaltung der rechten Figur in direkten Bezug zur Körperhaltung des Kanzlers im Text setzen. Seine Körperhaltung eines Bittenden ist im Text im Vergleich mit einem Betenden beschrieben: Chiet li as piés et s’umelie: / Com cil ki a mestier si prie (›He fell at his feet and prostrated himself, / like a churchgoer saying his prayers‹; V. 5053f.). Die Miniatur auf fol. 214v ist nicht die einzige Miniatur, in deren direkten Kontext, sei es in den Versen direkt oberhalb oder neben der Miniatur, ›Sprechen‹ bzw. ›Schweigen‹ in verschiedenen Kontexten thematisiert werden. Auf fol. 195v ist die Miniatur neben der Textstelle angeordnet, in welcher der Graf von Chester die zuvor in ein intimes Gespräch 113 Bolduc [Anm. 91], S. 101.

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vertieften Cador und Eufemie höflich anspricht.114 Auf fol. 199r wird neben der Miniatur in V. 2127–2130 von der Verbreitung des Gerüchts, Silence liege im Sterben, und von der daraus resultierenden Klage der Bevölkerung erzählt,115 über der Miniatur auf fol. 217r ist der Kriegsruf von Silence auf dem Schlachtfeld wiedergegeben.116 Häufig wird eine Redepartie eingeleitet, wie auf fol. 201r, wo in der Textstelle unter der Miniatur Nature erscheint und Silence anklagt,117 oder auf fol. 203, wo neben der Miniatur in der Textstelle die jongleurs über Silence sprechen.118 Es werden im Kontext der Miniaturen aber auch Redeakte abgeschlossen, wie in der Textstelle oberhalb der Miniatur auf fol. 209r, in welcher sich Silence in Sicherheit vor der Intrige der Königin wähnt und sich bei ihr bedankt.119 In drei Textstellen direkt neben oder unter Miniaturen wird vom Schweigen von Figuren erzählt, so etwa auf fol. 206v, wo Silence die Worte des alten Mannes ignoriert und ihn anschweigt.120 Der Darstellungstypus ›Gespräch‹ ist der bildlichen Ausstattung des »Roman de Silence« nun nicht allein vorbehalten. Figuren interagieren in Ratsszenen, 114 Li cuens i vint. Dist: »Dex vus salt! / Ciertes, mes consals ne vus falt.« / Puis a parlé com hom senés (›The count approached them. He said, »God greet you. / You certainly don’t need my advice.« / Then he spoke like the politician he was‹; V. 1433–1435). 115 [P]artolt tresvole la noviele / Que l’enfes muert: ne lor fu biele, / Car il orent bien oí dire / Que moult l’ot fait bel nostre Sire (›The news spread rapidly everywhere / that the child was dying. No one was pleased, / for they had heard it said / that our Lord had made the child very beautiful‹; V. 2127–2130). 116 »Monjoie!« escrient. »Dex i valle! / C’est li vallés de Cornuälle!« (,«Montjoie!« they cried. »May God prevail! / Hurrah for the youth of Cornwall!«‹; V. 5555f.). 117 Apriés .xii. ans si vint Nature / Ki le blasme forment et coze (›In her twelfth year, Nature appeared, / grumbling and complaining and blaming her‹; V. 2500f.). 118 [A]nchois qu’il fuscent arivé / Ont de l’enfant moult estrivé (›Before they arrived, / they talked a great deal about the youth‹; V. 2921f.). Ähnlich auch auf fol. 214v, wo im Kontext der König den Kanzler auffordert, laut zu sprechen: Li rois respont: »Di tost! di! di!« (›The king replied, »Speak up! Out with it!«‹; V. 5068), auf fol. 218v, wo der alte Mann Silence anspricht und über der Miniatur die Rede eingeleitet wird: Or escoltés confaitement (›This is what he said‹; V. 5878) und auf fol. 222v, wo neben der Miniatur im Text Ebain Silence zum Reden auffordert: [O]r te conjur jo par le foi / Que tu dois Dameldeu et moi, / Por quoi tu t’as si contenu (›Now I conjure you, by the faith / you owe God and myself, to tell / why you have conducted yourself in this manner‹; V. 6582–6584). 119 Cil l’en merchie, si encline (›The youth thanked her and bowed deeply‹; V. 4026). 120 [Q]ue que li viellars die u face, / Silence fait que mot ne sace / De quanque il onques li devise (›Whatever the old man said or did, / Silence acted as if he hadn’t understood a word / of what he was telling him‹; V. 3593–3595). In der Textstelle auf fol. 211r löst die Nachricht am Hof beim König schockiertes Schweigen aus: Tel dol a qu’il ne puet mot dire (›He felt such grief he could not utter a word‹; V. 4457) und in den Versen neben und unter fol. 221r schweigt Merlin: [M]erlins est menés en la place. / Jo ne cuit pas que tant se hace / Qu’il ne parolt ains c’on le tue. / Li rois tient une espee nue. / Dist li: »U tu diras, dant fol, / U jo te trencerai le col« (›Merlin was brought to the place of judgment. / I don’t think he is so selfdestructive / that he won’t talk to save his own life. / The king held a naked sword. / He said to him, »Either you shall speak, Sir Fool, / or I will cut your head off«‹; V. 6299–6304).

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Botenszenen und weiteren Gesprächsszenen in weiteren Werken des Überlieferungsverbundes. So finden sich Darstellungen von Gesprächsszenen im »Roman de Troie« auf fol. 20v, 106v, 109r, 121v, 128v, 136r und 153v, in »Ille et Galeron« auf fol. 175v, in »La Chanson d’Aspremont« auf fol. 257r, 259r und 288r sowie in »La Vengeance Raguidel« auf fol. 304r und 333v.

Abb. 9 von links nach rechts: Achilles im Gespräch (fol. 109r), Ille spricht mit dem Herrscher von Rom (fol. 164r), der Graf von Chester im Gespräch mit Eufemie (fol. 195v), Cador im Gespräch (fol. 206v), der Kanzler vor dem König (fol. 214v), Gauvain und Greviloine (fol. 333v). In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Dennoch sind die Miniaturen des »Roman de Silence« insofern spezifisch, als dass sich im Rahmen dieses Darstellungstypuses die Entwickung von Silence in verschiedenen Stadien ihrer Kindheit, als Säugling (fol. 199r), als Kind (fol. 203r) und als junger Mann im Botendienst (fol. 211r) und schließlich als Frau kurz vor ihrer Verheiratung mit Ebain (fol. 222v) auch visuell nachvollziehen lässt. Sie ist hierbei entweder als in Hinblick auf das Geschlecht nicht kategorisierbarer Säugling oder Kind dargestellt (fol. 199r, 201r und 203r) oder als junger Mann (fol. 209r und 211r). Die gekleidete Silence ist nicht mit weiblich codierter

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Gewandung, Attributen, Haartracht o. ä. dargestellt. Doch werden auch ihre im Text mehrfach betonte und narrativ umgesetzte Kampfkraft und Auszeichnung im Krieg nicht ins Bild gesetzt. Auf Ritterdarstellungen wie in den anderen Epen wird komplett verzichtet. Stattdessen steht in der ungewöhnlichsten und am genauesten mit Erzählvorgängen abgestimmten Darstellung auf fol. 222v (Abb. 10) die Enthüllung von Silences weiblicher Natur im Mittelpunkt.121 Die Szene konzentriert sich auf den Moment, in dem die Intrigen am Hof entdeckt werden, die Nonne im Hofstaat der Königin entpuppt sich als klerikaler Geliebter, das Schweigen breitet sich im Saal aus. Silence wird gezwungen, sich auszuziehen und offenbart in ihrer Nacktheit ihr Geheimnis. Das Bild beschränkt sich auf die Gegenüberstellung von Silence und Ebain und schließt die Öffentlichkeit des Adelshofes aus.

Abb. 10: Die nackte Silence vor Ebain (fol. 222v). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Die Miniatur ist an den hautfarbenen Stellen stark beschädigt. Dies sollte aber nicht als Leserspur im Sinne einer mutwilligen Ausradierung überbewertet werden.122 Die Farbe für Hände, Gesicht, bloße Körperteile und Flächen mit 121 Vgl. zu dieser Miniatur den Beitrag von Cornelia Logemann in diesem Band, die auf die Ähnlichkeit zur Bildtradition der nackten Seele eingeht. Eine ähnlich ungewöhnliche und spezifische Darstellung ist auf fol. 240v Emenidus, der Gefolgsmann von Alexander, der sitzend seine Rüstung richtet, was eine direkte Umsetzung des daneben stehenden Verses ist, in dem Emenidus abgestiegen ist, um seine festgebundenen Rüstungsteile zu richten: A terre est descendus pour ses cauces lachier. 122 Der Verlust oder auch Abrieb von Farbe in Illuminationen in mittelalterlichen Codices ist häufiger zu sehen. Nicht immer ist zu klären, ob die Materialität – etwa eine ungünstige Zusammensetzung der Farbmischung – für das Phänomen ursächlich ist. Häufig ist es schlicht das Alter oder der Gebrauch der Handschrift, die der Farbe geschadet haben, so etwa im Falle der Berliner Bilderhandschrift des »Eneasromans«. Mitunter lassen sich aber auch Bildinhalte festmachen, die für die punktuelle Entfernung von Farbe ursächlich ge-

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einem hohen Weißanteil sind auch bei anderen Miniaturen im »Roman de Silence« und weiteren Werken im Codex häufiger beschädigt.123 Dafür, dass es sich in diesem Codex um Zeichen der Zeit handelt, spricht erstens, dass nicht nur Gesichter betroffen sind, also nicht nur Figuren anonymisiert oder unkenntlich sind, sondern auch Füße, Hände, Couverturen und Teile des Rahmens, bei denen eine vermeintliche Entfernung nicht inhaltlich zu begründen ist. Zweitens weisen die noch erhaltenen Farbreste – wie etwa bei der Miniatur auf fol. 84r (Abb. 11) – darauf hin, dass die Farbe eher abgeplatzt bzw. etwa beim Umblättern bzw. Bewegen des Blattes abgebrochen ist, denn dass die Farbe manuell entfernt worden wäre. Drittens ist der Schaden auf manchen Miniaturen wie etwa auf fol. 195v (Abb. 11) nur punktuell. Im Gesicht der männlichen Figur fehlen nur kleine Stücke des Gesichtes etwa über der Wange, das helle Kleid der weiblichen Figur weist als größere Fläche zwar insgesamt auch mehr Schäden auf, doch kann man erkennen, dass immer wieder nur kleine Stücke herausgebrochen sind.

wesen sein könnten. So könnte etwa Schamempfinden als Anlass angenommen werden für die Ausradierung der männlichen Geschlechts- bzw. Schamteile zweier nackter Schiffbrüchiger auf fol. 172v und für die komplette Entfernung der nackten und vermutlich eng umschlungenen Oberkörper von Jason und Medea im Bett auf fol. 11r im Wiener Codex 2571 auf den Seiten des »Roman de la Troie« von Benoît de Saint-Maure. Der durch mutmaßlich mutwillige Zerstörung ausgelöste Farbverlust kann insbes. die Gesichter ›böser‹ oder ›bösartiger‹ Figuren betreffen, wie etwa in der illustrierten Fassung von Priester Wernhers »Driu liet von der maget« im Krakauer Codex Ms. Germ. Oct. 109 bei der Darstellung des Bethlehemitischen Kindermords auf fol. 87r und der als irrtümlich verstandenen Radierung des Henkers auf fol. 77r. Farbverlust kann aber auch durch die manuelle Einwirkung im Gebrauch entstehen, etwa als Folge des Berührens einer Darstellung als devotionale oder heilsversprechende Geste, wovon Hans-Joachim Ziegeler bei den vom Abrieb betroffenen Bäuchen der sich umarmenden, schwangeren Maria und Elisabeth in der gleichen Handschrift auf fol. 47 ausgeht, vgl. Ziegeler, Hans-Joachim: Das Urteil Salomos. Reflexion von Geschichte in Text und Bild der illustrierten Handschrift von Priester Wernhers »Driu liet von der maget« (Berlin/Krakau mgo 109). In: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Quast, Bruno u. Spreckelmeier, Susanne. Berlin, Boston 2017 (Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 12), S. 109–152, insbes. S. 113f. 123 Im »Roman de Silence« ist dies der Fall für fol. 199r, 201r, 206v, 209r, 211r, 214v, 221r und 222v. Im »Roman de Troie« ist dies u. a. auf fol. 84r, auf fol. 115v bei Achills Gesicht oder auf fol. 133v zu sehen. Für den Auszug aus dem »Roman d’Alexandre« finden sich Beschädigungen auf der Initialminiatur auf fol. 224v, bei Saladins Ausritt auf fol. 231r, bei dem auch die Couverture davon betroffen ist, auf fol. 234, beim Gesicht von Emenidus auf fol. 240v und auf fol. 243r.

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Abb. 11 von links nach rechts: Farbschäden auf fol. 84r und fol. 195v. In: University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Die Miniatur auf fol. 84r, bei welcher neben der weißen Couverture auch die linke obere Ecke des Rahmens beschädigt ist, lässt eine Vermutung zu, welche die fehlende bzw. beschädigende Farbe mit den entfernten Schutzstoffen in Verbindung bringt. So könnten bei der jahrhundertelangen Lagerung die Farbe mit einem hohen Weißanteil und die darüberliegenden Stoffe durch den Druck auf den Seiten im geschlossenen Codex ›verbacken‹ sein. In einem solchen Fall hätte die Entfernung der Schutzstoffe bei den Miniaturen, bei denen die Farbe mit hohem Weißanteil an dem darüberliegenden Stoff klebte, bei einer unvorsichtigen Entfernung des Stoffes auch die daran haftende Farbe entfernt. So planvoll angelegt die Bildausstattung auch wirkt, so wirft sie doch auch Fragen auf. Im Ganzen betrachtet entzieht sie sich, besonders aufgrund des zuletzt zu nennenden Darstellungstyps, dem Verständnis des modernen Betrachters. Es handelt sich um die Darstellungen von heraldischen Tieren, grotesken Mischwesen und Phantasiegestalten. Drei davon finden sich im »Roman de Silence«: ein Löwe, ein vermuteter Greif und ein Vogel, der als Pelikan (Abb. 12) gedeutet werden kann.124

124 Bolduc rechnet auch die Miniatur mit Merlin zu den Grotesken, siehe Bolduc [Anm. 87], S. 195f.

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Abb. 12: Löwe (fol. 213r), Greif (fol. 217r), Pelikan (fol. 218v). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Grotesken sind über den gesamten Epen-Teil im Codex verteilt.125 Stones sieht in der Menge von drei Grotesken bei 14 Miniaturen im »Roman de Silence« eine signifikante Häufigkeit und deutet diese als Ersatzdarstellungen aus Mangel.126 Wie stark die den Tieren in mittelalterlichen Bestiarien zugeschriebenen Eigenschaften auf Ereignisse in der Erzählwelt übertragen werden können, ist fraglich. Bolduc etwa, die lediglich auf die Grotesken im »Roman de Silence« eingeht, sieht die Eigenschaften ›Wachsamkeit‹ und ›Gnade‹ des Löwen in Zusammenhang mit dem König von Frankreich, der an dieser Stelle den Rat seiner Gefolgsleute einholt. Doch ist schon die tierische Zuschreibung nicht sicher, sähe man in dem Löwen nämlich einen pardus, einen hybriden Nachwuchs eines männlichen Leoparden und einer Löwin, dann gelte, »it may signify the double and thus inverted nature of Silence«.127 Eine solche Lesart, die allegorisches Wissen und Ereignisse des Textes zusammenführt, ist reizvoll, muss aber spekulativ bleiben, denn so gibt Bolduc selbst zu bedenken, hängt ein solcher Bezug 125 Weitere Grotesken sind etwa ein Drache auf fol. 14v, ein blauer Bär auf fol. 55v, eine dreiköpfige Hybridgestalt auf fol. 78v, eine geflügelte Meerjungfrau auf fol. 92r im »Roman de Troie«, ein männlicher Hybrid mit Tierkörper und Gesicht auf dem Schwanz mit einem Bogen in der Hand auf fol. 158r in »Ille et Galeron«, in »Fuerre de Gadres« auf fol. 227r ein Adler, auf fol. 232v eine hundeähnliche Gestalt, auf fol. 239r eine groteske zweibeinige Gestalt, in »La Chanson d’Aspremont« ein Greif mit geflügeltem Schwanz auf fol. 269r sowie auf fol. 274r ein hybrider Mann, der eine Axt schwingt, und in »La Vengeance Raguidel« eine männliche Hybridgestalt mit Flügeln und einem langen Schwanz auf fol. 328r, siehe auch die Übersicht bei Stones [Anm. 2], S. 49–56. 126 »In WLC/LM/6 these initials are distributed across all the texts, according to a rationale that is now difficult to reconstruct. Some are hybrid creatures, not derived from the bestiary, but others depict an eagle […], a griffon biting its tail […]; a lion with flowering tail […]. There are more of these motifs in the Roman de Silence than in the other texts, suggesting that textual markers were needed but subjects from the text had not been planned for that section« (Stones [Anm. 2], S. 44). 127 Bolduc [Anm. 87], S. 190. Den Greifen identifiziert Bolduc als Drachen, der auf die drohenden Gefahren für Silence vorausdeute, der Pelikan stehe aufgrund seiner Opferbereitschaft mit Merlin in Verbindung, siehe ebd., S. 192–194.

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Inci Bozkaya

stark von dem Wissen eines Rezipienten ab und ist aus heutiger Sicht nicht mit Sicherheit zu belegen. Die kodikologische Untersuchung des Codex WLC/LM/6 ergab Hinweise, die eine literargeschichtliche Einordnung des »Roman de Silence« erleichtern. Einiges wie der Zeitpunkt der Abfassung des »Roman de Silence« und der genaue Herstellungskontext der im 13. Jahrhundert geschaffenen Handschrift bleiben auch nach ausführlicher Untersuchung des Codex im Dunkeln. Unumstritten ist seine editorische Bedeutung als teils unikaler Überlieferungszeuge für die Epen und die später beigebundenen Fabliaux von Gautier le Leu. Als enger Überlieferungsverbund können aufgrund der kodikologischen Ausstattung nur die fünf nach der Schaffenszeit von Chrétien entstandenen Epen auf fol. 1–335v gelten. In deren Verbund fügt sich der »Roman de Silence« mit den im Text vorherrschenden höfischen Werten aufgrund des höfischen Personals und als Medium höfischer Selbstvergewisserung problemlos ein. Leserspuren bezeugen, dass dem Codex im Mittelalter eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde, die auch für den »Roman de Silence« gegolten haben wird. Ein übergreifendes Sammlungsprinzip, welches über häufig verbreitete Themen wie Ritterschaft, Bewährung oder die Bedeutung von Frauenfiguren hinausginge, ist nicht erkennbar. Die Ungewöhnlichkeit des Sujets einer als Mann erzogenen Frau erzeigt sich in der bildlichen Ausstattung mehr als im Überlieferungsverbund, in welchem das Thema eher hervorsticht. Die Miniaturen sind geprägt von Gesprächsszenen, ›Schweigen‹ und ›Sprechen‹ sind neben der Entwicklung von Silence vom Säugling zur heiratsfähigen Frau Bildgegenstand, auf teils konventionelle Weise, teils auf ungewöhnliche, nah am im Text Geschilderten. Doch auch in der Bildausstattung ist das Gezeigte nicht immer eindeutig, kann das Sichtbare unterschiedlich interpretiert werden und es bleibt so manche Bedeutung wie die der Grotesken – sofern überhaupt angelegt – verborgen.

Cornelia Logemann

Unbestimmte Körper. Travestie als Bildaufgabe im »Roman de Silence« Li matere est et biele et pure. Ainc de mellor n’ovra Nature.1

Einem Kunstwerk gleich schuf Nature den Körper der Silence, der Hauptfigur einer Erzählung des Heldris de Cornouailles. Aus reinstem Material und mit notwendigem ingenium formte und gestaltete sie den Körper der Protagonistin, der am Ende der Erzählung nicht nur dem Leser, sondern auch dem Betrachter nackt präsentiert wird (Abb. 3).2 Ausgiebig wird dieser Prozess der Schöpfung der schönen und vollkommenen Silence durch die personifizierte Natur im »Roman de Silence« dargelegt. Umso größer ist die Empörung der Natur, als ihr wunderbares Kunstwerk zerstört wird durch die Verwandlung von Silence in den Mann Silentius – sowohl durch Verkleidung als auch durch die Annahme einer männlichen Rolle in der Gesellschaft. Der Schaffensprozess wird über viele Verse ausgeführt und erlaubt dem Leser einen nuancierten Einblick in die körperliche Verfasstheit der Hauptfigur. Die Miniaturen, die den »Roman de Silence« illustrieren, lassen auf den ersten Blick von diesen Subtilitäten des Textes nur wenig erkennen. Dies mag einerseits der Komplexität der Handlung geschuldet sein. Andererseits scheinen die Miniaturen hier andere Kontexte zu erzeugen, die dem Text wiederum entscheidende Akzente verleihen. Im Folgenden soll es daher nicht um die Körperlichkeit von Silentius/Silence gehen, wie sie im Text des Heldris de Cornouailles entworfen wird. Im Mittelpunkt der hier vorgestellten Überlegungen steht die Frage, welche Aufgabe diese Geschichte an die Bilder der

1 Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 2007 (Medieval Texts and Studies 10), V. 1865f. Aus dieser Edition wird im Folgenden zitiert. Die erste Edition des Textes erfolgte durch Lewis Thorpe, Le Roman de Silence: A Thirteenth-Century Arthurian Verse Romance by Heldris de Cornuälle. Hg. v. Thorpe, Lewis. Cambridge 1972. 2 Combes, Annie: Comme un rêve de pierre: l’imaginaire de la sculpture dans le portrait médiéval. In: Façonner son personnage au Moyen Âge. Hg. v. Connochie-Bourgne, Chantal. Aix-en-Provence 2007, S. 123–134, hier S. 126, verweist darauf, dass der Autor nicht das Kind Silence selbst, sondern vor allem das Werk der Nature als Kunstwerk beschreibt: »C’est ce paradoxe qu’explore Heldris de Cornouailles, dans le »Roman de Silence«, en poussant à un point extrême la personnification de Nature«.

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einzigen erhaltenen Handschrift stellt – und welchen Beitrag die Miniaturen zur Wahrnehmung der Hauptfigur im Text leisten. Die heute in Nottingham aufbewahrte Sammelhandschrift WLC/LM/6, die bisher nur marginal in das Blickfeld der Forschung geraten ist, weist 68 textbegleitende Miniaturen und einige figürliche Verzierungen auf. Es handelt sich um einen durchgehend profanen Buchmalereizyklus, der wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist.3 Die illuminierte Handschrift zählt damit möglicherweise zu den frühesten erhaltenen Beispielen bebilderter volkssprachlicher Literatur im französischen Sprachraum.4 Die in den Miniaturen der einzelnen Texte präsentierten Figuren sind teilweise sehr genau eingepasst und geradezu textaffin – mit auffälliger Geste weisen einige der dargestellten Figuren etwa auf den nebenstehenden Text.5 Die Serie von 11 einspaltigen Miniaturen, die den »Roman de Silence« begleitet, fokussiert im Wesentlichen zentrale Kommunikationssituationen des Textes um die Hauptfigur Silence, die als Säugling, als Kind, als Mann und schließlich als entkleidete Frau gezeigt wird (Abb. 1–3). Doch neben dieser Verzahnung von Text und Bild sind auch andere Zusammenhänge von Interesse. Denn wenngleich die komplexe Entwicklung der Figur im Text anschaulich geschildert wird, entsteht durch die in der Handschrift eingefügten Bilder auch ein übergreifender bildhafter Kontext. Obwohl nämlich Erzählungen existieren, die wie der »Roman de Silence« vorherrschende GenderZuweisungen in Frage stellen und Travestie-Elemente enthalten, gibt es kaum Bilder zu diesem Themenbereich. Beispiele profaner Ikonographie sind zu diesem Zeitpunkt ohnehin rar – einige wenige Bilder sollen im Folgenden in den Blick genommen werden, um das grundsätzliche Problem zu verdeutlichen, das Travestie im Bild erzeugt.6 3 Stones, Alison: Two French Manuscripts: WLC/LM/6 and WLC/LM/7. In: The Wollaton Medieval Manuscripts. Texts, Owners, and Readers. Hg. v. Hanna, Ralph u. Turville-Petre, Thorlac. Woodbridge 2010, S. 41–56. Stones datiert die Handschrift auf den Beginn des 13. Jahrhunderts, während der überwiegende Teil der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen bereits den Text des »Roman de Silence« in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts einordnet. Vgl. zum Miniaturenzyklus ebenso Bolduc, Michelle: Images of Romance: The Miniatures of »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 101–112, die keine genauere zeitliche Einordnung vornimmt. Im Zuge seiner Textedition widmet sich auch Thorpe dem Entstehungszeitpunkt der Handschrift, vgl. Thorpe, Lewis: Le »Roman de Silence« by Heldris de Cornuäille. In: Nottingham Medieval Studies 5 (1961), S. 33–74. 4 Das betont Stones [Anm. 3], S. 41f. Für vergleichbar hält sie nur zwei weitere Handschriften, Modena, Bibl. Estense, Ms. E 39, und Rennes, Bibl. mun., Ms. 255 – in beiden Werken findet zumindest der Merlinstoff Erwähnung, der auch in den »Roman de Silence« eingeflossen ist. 5 Stones [Anm. 3], S. 45, nennt hier neben Autorenporträts und anderen Standarddarstellungen ein Beispiel auf fol. 137v, in dem der in der Miniatur dargestellte Autor einen Fingerzeig auf seinen Text richtet. 6 Literarisch ist dieses Thema bereits mehrfach in den Blick genommen worden. Zimmermann, Margarete: Salon der Autorinnen: Französische »dames de lettres« vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Berlin 2005, S. 31f. verweist auf »Aucassin et Nicolette«; vgl. auch Brown-

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Abb. 1: Silence als Säugling (fol. 199r). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Abb. 2: Silence als Heranwachsende (fol. 203r). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Grant, Rosalind: French Romance of the Later Middle Ages: Gender, Morality, and Desire. Oxford 2008, S. 116 und 151–153 und Davidson, Roberta: Cross-Dressing in Medieval Romance. In: Textual Bodies: Changing Boundaries of Literary Representation. Hg. v. Lefkovitz, Lori Hope. New York 1997, S. 59–74.

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Abb. 3: Die entkleidete Silence (fol. 222v). In: Heldris de Cornouailles: Roman de Silence, University of Nottingham, Manuscripts and Special Collections, WLC/LM/6

Travestien Zunächst muss geklärt werden, in welchen Kontexten verkleidete Frauen zu diesem Zeitpunkt in der mittelalterlichen Bildwelt auftraten. Das Moment des Cross-Dressings, das die Forschung zum »Roman de Silence« vor allem interessiert, verfolgten in kunsthistorischer Perspektive zuletzt Kirk Ambrose und Silke Tammen, die hier einen Vergleich zu hagiographischer Bildtradition zogen. Ambrose stellt den Bildzyklus des »Roman de Silence« neben Sequenzen aus dem Leben der hl. Eugenia, wie sie beispielsweise in einem Kapitell in Vézelay dargestellt werden, und Tammen beschäftigt sich mit einer Altartafel des frühen 13. Jahrhunderts, auf der die Vita derselben Heiligen erzählt wird.7 Dass die

7 Ambrose, Kirk: Two Cases of Female Cross-Undressing in Medieval Art and Literature. In: Notes in the History of Art 23:3 (2004), S. 7–14, hier S. 8. Vgl. auch Tammen, Silke: Nuda veritas im Mönchsgewand. Die Ver- und Entwicklung einer gemalten Heiligenlegende. In: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien. Hg. v. Simonis, Annette. Bielefeld 2009, S. 43–68; Anson, John: The Female Transvestite in Early Monasticism: The Origin and Development of a Motif. In: Viator 5 (1974), S. 1–32. Ogden, Amy V.: The Centrality of Margins: Medieval French Genders and Genres Reconfigured. In: French Forum 30:1 (2005), S. 1–23, betont den Einfluss hagiographischer Literatur auf die profanen Erzählzyklen der Zeit, womit Heiligenviten mit Cross-Dressing-Motiven durchaus vorbildhaft für den »Roman de Silence« und andere Stoffe gewesen sein könnten. Vgl. auch Bouchet, Florence: L’écriture androgyne: le travestissement dans le »Roman de Silence«. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge (XIIe–XIIIe siècles). Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 47–58.

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zahlreichen Heiligenfiguren, die derlei Maskeraden in ihren Viten vorweisen können, auf der inhaltlichen Ebene vorbildhaft sein können, stellte bereits Valerie R. Hotchkiss fest.8 Die Enttarnung verkleideter weiblicher Heiliger steht zweifelsohne in einem positiven Kontext, wenngleich auch hier nur wenige Bildformeln bekannt sind. Doch blendet der Blick auf die Hagiographie entscheidende Aspekte aus – nämlich zum einen die Frage, ob der Bildzyklus in der Handschrift auf den Moment der Ver- bzw. Entkleidung zu reduzieren ist. Meine Hypothese ist, dass in den Miniaturen des »Roman de Silence« nicht der Prozess der Ver- und Enthüllung im Sinne einer Travestie, sondern eine allegorische Entschleierung des Textes im Vordergrund steht. Denn auf der rein visuellen Ebene können Frauen in männlichem Habitus – ohne den Schutz eines Heiligenscheins – offenbar eindeutig negative Konnotationen aufrufen. Im Zusammenhang mit dem Text allerdings wird hier offenbar eine abstraktere Dimension aufgerufen. Zu negativen Bewertungen von Travestie führt in erster Linie die Angst vor weiblicher Herrschaft. Dies scheint ein zentrales Motiv des »Roman de Silence« zu bilden: Die Tarnung eines Mädchens als Knabe erfolgt in der Geschichte, um Land und Thron für die Erbin zu retten.9 Es fällt schwer, für die Vermischung männlicher und weiblicher Eigenschaften positive Parallelen in der Bildwelt zu finden. Zunächst bleibt festzustellen, dass jenseits hagiographischer Traditionen der Frau als Mann vor allem negative Eigenschaften zugewiesen werden. Gerard of Wales zeigt in seiner Geschichte Irlands die monströsen und wilden Eigenschaften einer Frau am Hofe des Duvenaldus, König von Limerick, die sowohl männliche als auch weibliche Körpermerkmale in sich vereinigt (Abb. 4).10 Zu erkennen ist in dieser illustrierten Variante aus der British Library ein weiblicher nackter Körper mit Brüsten, der auf einem Felsen sitzt und spinnt – 8 Hotchkiss, Valerie R.: Clothes Make the Man. Female Cross Dressing in Medieval Europe. New York, London 1996 (New Middle Ages [New York] 1/Garland Reference Library of the Humanities). Auch Tammen [Anm. 7], S. 60, verweist auf die Vermischung hagiographischer Traditionen mit den profanen Erzählungen der Jongleurs. Easton, Martha: Why Can’t a Woman Be More Like a Man? Transforming and Transcending Gender in the Lives of Female Saints. In: The Four Modes of Seeing. Approaches to Medieval Imagery in Honor of Madeline Harrison Caviness. Hg. v. Staudinger Lane, Evelyn u. a. Farnham 2009, S. 333–347. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Eva von Contzen in diesem Band. 9 Kinoshita, Sharon: Heldris de Cornuälle’s »Roman de Silence« and the Feudal Politics of Lineage. In: PMLA 110 (1995), S. 397–409, bes. S. 400. 10 Mittman, Asa Simon: The Other Close at Hand: Gerald of Wales and the ›Marvels of the West‹. In: The Monstrous Middle Ages. Hg. v. Bildhauer, Bettina u. Mills, Robert. Toronto, Buffalo 2003, S. 97–112. Beschrieben wird, wie sie dem Hof folgte und dabei Gelächter und Staunen anzog – die Haare wuchsen ihr am Rücken, und es wird vermerkt, dass sie in der Haartracht der Tradition ihres Vaterlandes und nicht der ihres Geschlechts folgte. Vgl. auch Knight, Rhonda: Werewolves, Monstres, and Miracles: Representing Colonial Fantasies in Gerald of Wales’s »Topographia Hibernica«. In: Studies in Iconography 22 (2001), S. 55–86.

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Abb. 4: Bärtige Frau (fol. 19r). In: Gerard of Wales: Topographia Hibernica, London, British Library, Royal MS 13 B VIII

eine andere Handschrift desselben Textes in Dublin interpretierte diese Figur in einer Miniatur mit androgynem Körper.11 Das Londoner Beispiel, das zwischen 1196–1223 datiert, arbeitet jedoch die widersprüchlichen Elemente dieser Frauengestalt sorgfältig heraus: Das lange gewellte Haupthaar und der üppige Bart korrespondieren auffällig mit der Wolle und dem Spinnrocken in den Händen der Figur. Auch ist diese als typisch weiblich assoziierte Tätigkeit der Figur bedeutsam für die Interpretation der Miniatur: Eine bärtige Gestalt mit Brüsten, die am Spinnrocken sitzt, dürfte von Zeitgenossen als Inbegriff negativer Körperlichkeit gelesen werden, und so ist die bärtige Frau auf dem Folio auch mit einer weiteren monströsen Figur mit affenähnlicher Physiognomie kombiniert.12 Der emporgehaltene Spinnrocken, den noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine – diesmal bekleidete – Frauengestalt einer illustrierten spätmittelalterlichen Handschrift emporhält, kündet diesmal nicht vom aufopfernden Fleiß der Frau in ihrer Sorge um das Wohl der Familie, sondern ist eher das Omen sittlichen Verfalls. Tomber en quenouille, also unter den Spinnrocken fallen, ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein geflügeltes Wort für (männlichen) Macht- und Statusverlust (Abb. 5).13 11 Vgl. zu den verschiedenen Miniaturen, die sich zu diesem Text erhalten haben, den Beitrag von Mittman [Anm. 10], S. 99f. 12 »Topographia Hibernica«. In: London, British Library, Royal 13, B. viii, fol. 19r. 13 Paris, BNF, Ms. fr. 12480, fol. 1r. Denken ließe sich auch an einen spätmittelalterlichen Text, der dieses Thema ausdifferenziert, die »Evangiles des Quenouilles«. Der Spinnrocken als klassisch weibliche Tätigkeit dient offenbar auch schon im 13. Jahrhundert als Motiv in Travestien, vgl. Ménard, Philippe: Le Rire et le Sourire dans le Roman Courtois en France au Moyen Âge, 1150–1250. Genf 1969, S. 351, mit Verweis auf Wistasse le Moine.

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Abb. 5: Frau am Spinnrocken (fol. 1r). In: Jean Lefebvre de Thérouanne: Livre de Matheolus, Paris, BNF, Ms. fr. 12480

Im Falle der Londoner Handschrift wird der negative Kontext des Spinnens durch den ›monströsen‹ Körper hergestellt, die Miniatur des 15. Jahrhunderts hingegen ist einem Text vorangestellt, dessen Ziel es ist, das Wesen der Frau als negativ und defizitär zu charakterisieren. Wenn Königreiche unter den Spinnrocken fallen, dann ist das ihr Niedergang – wodurch die Frauengestalt am Spinnrocken zugleich eine negative Signatur erhält, denn die umgebende Schrift konzentriert sich auf die negative Darstellung jeglicher weiblichen Machtausübung. Es ist eine der bekanntesten ›misogynen‹ Schriften des Mittelalters, die »Lamentationes« des Matheolus oder Matthäus von Boulogne. Dieser schürte schon am Ende des 13. Jahrhunderts diverse Ängste vor dem weiblichen Geschlecht – und operiert, als Verstärkung des Travestie-Elements, mit dem Motiv monströser Zweigeschlechtlichkeit. Es wird bei Matheolus behauptet, dass die Frau ohne die Zustimmung der Natur geschaffen wurde. In einer Passage konkretisiert der Autor diesen Aspekt, denn ein Philosoph bestätige dies (nach Ansicht des Matheolus) ganz klar in seinem Werk. Er behauptet gar, dass Natur, nachdem sie die Schöpfung begann, geschockt war, als sie ihren Fehler bemerkte und verlegen ward: Die Frau sei ein monströser Hermaphrodit, eine Chimäre mit Hörnern und einem Schwanz größer als ein Pfau, sie trage also die Züge eines

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Monsters.14 Diese monströse und sündige Verfasstheit der Frau, die der Abhandlung des Matthäus von Boulogne zu entnehmen, und die als Kritik weiblicher Machtaneignung zu verstehen ist, hat dann bekanntermaßen Christine de Pizan als Antibild der Frau in ihrer allegorischen Schrift der »Cité des Dames« gedient, indem sie in Widerspruch zu den »Lamentationes« die Frau als prädestiniert erachtete, Tugenden zuverkörpern.15 Christine resümiert für sich, dass personifizierte Tugenden weiblich darzustellen seien – da diese keine defizitären Männer, sondern im Gegenteil zu denselben Leistungen und Abbildungen von Tugendidealen fähig seien.16

14 Que chascune femme est droit monstre / Et qu’elle seuffre en soy deffault: / A ce point de preuve n’y fault / Que pour monstre ne soyt monstrée. / L’en dit que femme est enpendrée / Sans consentement de nature / Le philosophe en l’Escripture / Le tesmoigne assez clerement / En son livre et dit vrayement / Lors que nature s’envahist / A ouvrez, elle s’esbahyst / Forment quant son erreur regarde, / Et rougit quant elle y prent garde. / Femme est hermaphrodite monstre; / Et pour chimère se démonstre / Par ses cornes et par sa quoe / Plus grandes que paon ne poe / Dont de monstre porte l’enseigne / Sy comme cest dictié l’enseigne (›Dass jede Frau ein tatsächliches Monstrum ist und dass sie von sich aus an Fehlern leidet, dazu bedarf es an dieser Stelle keines Beweises, dass sie als Monster gezeigt wird. Man sagt, dass die Frau geschaffen wurde ohne Zustimmung der Natur. Der Philosoph bestätigt das in seiner Schrift sehr klar und sagt in seinem Buch wahrheitsgemäß, dass die Natur erschrak vor dem Werk, das sie erschuf, als sie ihren Fehler besah und errötete, als sie es bemerkte. Die Frau ist ein monströser Hermaphrodit und zeigt sich als Chimäre durch ihre Hörner und ihren Schwanz, der größer als jener des Fasans oder des Pfaus war, also trägt sie Zeichen eines Monstrums, wie das Gesagte hier unterrichtet‹); zit. nach: Les lamentations de Matheolus et Le livre de Leesce, de Jehan le Fèvre, de Ressons [poèmes français du XIV siècle]. Hg. v. van Hamel, Anton Gerard. Paris 1892–1895, V. 4215–4232). Vgl. auch Astell, Anne W.: Chaucer and the Universe of Learning. Ithaca, London 1996, hier S. 159, mit dem Verweis auf Alanus ab Insulis, der sich in »De Planctu Naturae« ebenfalls thematisch dem Hermaphroditen zuwendet. Dazu auch Rollo, David: Kiss My Relics: Hermaphroditic Fictions of the Middle Ages. Chicago. London 2011, und Nederman, Cary J. u. True, Jacqui: The Third Sex: The Idea of the Hermaphrodite in Twelfth-Century Europe. In: Journal of the History of Sexuality 6 (1996), S. 497–517, hier S. 509. 15 Vgl. zusammenfassend Zimmermann [Anm. 6], S. 30. Peters, Ursula: Das Ich im Bild: Die Figur des Autors in volkssprachlichen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln u. a. 2008, S. 217, verweist darauf, dass Christine diesen Text vermutlich in der Übersetzung durch Jean le Fèvre konsultierte, der wiederum diese als misogyn wahrgenommenen Inhalte mit seinem »Livre de Leesce« aus den 1380er Jahren kontrastierte. Vgl. The Book of Gladness/ Le Livre de Leesce. A 14th Century Defense of Women, in English and French. Translated, annotated and with an Introduction by Jehan Le Fèvre. Hg. u. übers. v. Burke, Linda. Jefferson 2013. 16 In Auseinandersetzung mit den genannten »Lamentationes« des Matheolus, den sie im »Livre de la cité des dames« aufgreift, entsteht das Fundament der Stadt der Frauen. Die These dieses für Christine provokanten Textes ist, dass weibliche Tugenden weniger Wert haben als die Tugenden des Mannes, was Christine sowohl durch die Vorstellung berühmter tugendhafter Frauen – in Anlehnung an Boccaccio – als auch durch die Verwendung der personifizierten Tugenden widerlegen will. Analog dazu auch Allen, Prudence: The Concept of Woman: The Early Humanist Reformation, 1250–1500. Cambridge 2005, S. 615.

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Diese Argumente werden bekanntermaßen um 1400 in der Debatte um den »Roman de la Rose« zusammengetragen. Der zentrale Vorwurf an diesen Text besteht darin, dass seine Autoren Personifikationen für sich sprechen lassen. Jean le Meun hätte sich nach Ansicht von Jean Gerson schämen sollen, sich am helllichten Tag mit solchen verrückten Frauen zu zeigen, wie sie der Text beschreibt – und der »Roman de la Rose« hätte zudem abertausende Menschen durch diverse Sünden vergiftet und getötet.17 Doch folgt man den Ausführungen des Matheolus und stellt sie in einen größeren Kontext, so erweisen sich die Grenzen zwischen Frau, abstrakter Personifikation und monströser Gestalt stets als fließend.18 Denn aus all den genannten Textquellen geht nicht hervor, ob diese Monstrosität durch physiologische Eigenheiten oder durch die Übertretung vorherrschender Gender-Vorstellungen, wie sie sich in Kleidung und Verhalten manifestieren, hervorgerufen wird. Patricia Victorin spricht in Bezug auf den »Roman de Silence« von der Erfindung einer ›monströsen‹ Literatur, die durch 17 Gerson, Jean: Traité contre le »Roman de la Rose«. In: Débat sur le »Roman de la Rose«. Christine de Pisan, Jean Gerson, Jean de Montrueil, Gontier et Pierre Col. Hg. v. Hicks, Eric. Genf 1996, S. 218–226, S. 67: »Tu eusse eu honte, je ne doubte mie, d’avoir esté trové en plain jour publiquement en lieu de foles fames qui se vendent et de parler a elles come tu escrips. Et tu fais pis; tu enhortes a pis: tu as par ta folie – quant en toy est – mis a mort et murtri ou empoisonné mil et mil personnes par divers pechiés, et encores fais de jour en jour par ton fol livre. Et ja n’en yés a excusser sur la maniere de ton parler par personnaiges, come je proveray cy apprés clerement: mais je ne puis mie tout dire a une fois.« (›Du solltest Dich schämen, zweifelsohne, Dich am hellichten Tage öffentlich in Gesellschaft jener Frauen befunden zu haben, die sich verkaufen, und mit ihnen zu sprechen, so wie Du schreibst. Und Du verschlimmerst es: Durch Deinen Wahnsinn, der Dir innewohnt, hast Du tausende und tausende von Menschen durch Dein wahnsinniges Buch dem Tode ausgesetzt, sie vergiftet durch diverse Sünden, und Du tust es immer noch. Und es ist nicht zu entschuldigen, weil Du durch Figuren [personnaiges] sprichst, wie ich Dir hiernach klar beweisen werde, aber ich kann Dir nicht alles auf einmal sagen‹). 18 Auf vielfältige Weise wird dies in allegorischen Texten und auch in Aufführungen (vor allem im aufkommenden Moraltheater) ausgespielt: In der »Moralité de Bien advisé, Mal advisé« noch vom Ende des 14. Jahrhunderts wird die Personifikation Male Fin, also das ›schlechte Ende‹, als eine Teufelsgestalt mit männlichen und weiblichen Eigenschaften charakterisiert – als hermofrodite im überlieferten Text gehandelt, verweist diese Figur selbst auf ihren Zwischenstatus: Je suis masle et je suys fumelle – wobei masle – ›männlich‹ – hier zugleich als Wortspiel auf male – ›schlecht‹ – zu verstehen ist, jedoch auch dem Handlungscharakter der Personifikation gerecht werden soll, da es mit der Enthauptung des Mal Advisé die männlich konnotierte Tätigkeit des Henkers ausführt. Bordier, Jean-Pierre: Personnification et personnage dans le théâtre du Moyen Âge. In: La personnification du Moyen Âge au XVIIIe siècle. Hg. v. Demaules, Mireille. Paris 2014, S. 165–182, hier S. 174, zitiert dieses Beispiel mit dem Hinweis, dass die Aufgabe des Henkers männlich konnotiert ist. Dass gerade im Moraltheater Travestien verschiedener Art an der Tagesordnung sind, ist mehrfach betont worden – obgleich nur wenig bekannt ist über die tatsächlichen Praktiken. Vgl. zum unsicheren Status der Figur Silence zwischen Personifikation und Figur auch den Beitrag von Julia Rüthemann in diesem Band.

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die Transgressionen wider die Natur ausgelöst werde.19 Es existiert dabei eine ganze Reihe von Texten, in denen das Motiv des Cross-Dressings ausdifferenziert wird.20 In den Bildmedien sind all diese Elemente ebenso enthalten – ihre Decodierung erscheint allerdings ungleich schwieriger. Wenn also in der Illustration der Klageschrift des Matheolus der Spinnrocken auftaucht, so ist dieser visuelle Code nicht im Text angelegt, sondern erfolgte sowohl über sprichwörtliche als auch bildliche Traditionen. Den Spinnrocken kennen wir längst als Attribut in positiven als auch negativen Zusammenhängen – die Reduktion dieser Formel auf das Negativbild der machthungrigen und streitlustigen Ehefrau fasst in diesem spätmittelalterlichen Beispiel nun visuell Diskussionen zusammen, in denen allegorische, mythologische und soziale Bilder des weiblichen Körpers miteinander verschmelzen. Anders, aber nicht weniger negativ, wird in einer Handschrift des Watriquet de Couvin die Angst vor sprichwörtlicher ›Weibermacht‹ visualisiert: In seinem »Tournoiement des Dames« packen die Frauen ihre als Ritter gekleideten Männer in expliziter Grobheit – und stellen die Ordnung damit sprichwörtlich auf den Kopf, wenn einer der Ritter im Vordergrund kopfüber hängen muss, weil er von einer der kämpfenden Frauen unversehens überrumpelt wurde (Abb. 6).21 Das Wissen um diese Wertungen des Cross-Dressings in Bildern führt zu der Frage, wie die Miniaturen des »Roman de Silence« den Körper der Hauptfigur inszenieren.

19 Victorin, Patricia: Le nu et le vêtu dans le »Roman de Silence«: métaphore de l’opposition entre »nature« et »norreture«. In: Le Nu et le Vêtu [Anm. 7], S. 365–382, hier S. 366: »Ce travestissement physique pour être opérant doit s’accompagner d’un mutisme ou au moins d’une parole celée, ›coverte‹, qui induit aussi un travail sur l’écriture, l’inventio d’une écriture ›monstrueuse‹ par certains aspects, mêlant les catégories du masculin et du féminin, ou neutralisant toute référence à une identité sexuelle«. Und auch Bouchet [Anm. 7], bes. S. 39, arbeitet in ihrem Beitrag heraus, wie der Status der Figur Silence bis zum Ende hin unklar bleibt, spricht doch der Vater seinen nun als Frau enttarnten Nachkommen immer noch so an, als handele es sich um einen Mann, obgleich ja Natur den Körper der Protagonistin zurückverwandelt hat. 20 James-Raoul, Danièle: Le »Roman de Silence« de Heldris de Cournäille comme paradigme fictionnel de la transgression ou de l’inversion des genres. In: Féminité et masculinité altérées: transgression et inversion des genres au Moyen Âge (Micrologus 78). Hg. v. Pibiri, Eva u. Abbott, Fanny. Florenz 2017, S. 323–346; Conflicted Identities and Multiple Masculinities: Men in the Medieval West. Hg. v. Murray, Jacqueline. New York 1999; Putter, Ad: Transvestite Knights in Medieval Life and Literature. In: Becoming Male in the Middle Ages, Hg. v. Cohen, Jeffrey Jerome u. Wheeler, Bonnie. New York, London 1997, S. 279–302; Abdalla, Laila: Man, Woman or Monster: Some Themes of Female Masculinity and Transvestism in the Middle Ages and Renaissance. Diss. masch. Montreal 1996; Perret, Michèle: Travesties et transsexuelles: Yde, Silence, Grisandole, Blanchadine. In: Romance Notes 25 (1984), S. 328–340. 21 Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3525, fol. 7v.

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Abb. 6: Frauenturnier (fol. 7v). In: Watriquet de Couvin: Tournoiement des Dames, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3525

Nature und Noreture: Der Streit um Silence Der Miniaturen-Zyklus im »Roman de Silence« geht anders vor als die bisher genannten Bildbeispiele, um die gesellschaftliche Transgression von Silence/Silentius herauszuarbeiten. Zum Entstehungszeitpunkt der Handschrift in Nottingham sind Konnotationen, wie sie etwa durch die Frau mit männlichen Eigenschaften am Spinnrocken dargestellt werden oder durch die Turnierreiterin in der Illustration zu Watriquet de Couvin, noch ungleich schwieriger herzustellen, denn es mangelt an profanen Darstellungstraditionen. Die Bilder sind überhaupt nur aus der Kenntnis des Textes heraus zu dechiffrieren und entziehen sich dennoch eindeutiger Zuweisung – Silence als Säugling zwischen zwei Figuren ist hier ein zentrales Beispiel (Abb. 1). Ausgiebig werden im Text zunächst die körperlichen Vorzüge von Silence hervorgehoben – als Natures Werk ist sie mit Lilien und Rosen bemalt. Silence ist gleichsam das Meisterwerk von Nature.22 Die Beschreibung nimmt natürlich alle gängigen Metaphern weiblicher Schönheit auf, doch beziehen sich die Topoi der 22 »Or voel faire ouvre forcible« (›»Now I’m going to create a masterpiece«‹; V. 1807). Siehe auch V. 1827: Que voelle ovrer par majestyre (›that she wants to be a masterpiece‹).

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Beschreibung ohne Frage auf einen erwachsenen weiblichen Idealkörper. Die Miniatur auf fol. 199r zeigt, soweit ist es offensichtlich, den Säugling Silence zwischen zwei Figuren. Doch sind hier beiderseits des Kindes wirklich die Amme und Eufemie zu erkennen – und in welcher Reihenfolge stehen sie im Bild?23 Oder handelt es sich möglicherweise um Nature in grünem Gewand auf der rechten Seite, wie es sich von der Bildtradition her fügen könnte, und um Noreture in weißem Kleid, und schließlich in der Mitte den Anlass ihres Streits, nämlich Silence als Säugling? Die Positionierung der Miniatur könnte auch eine allegorische Interpretation nahelegen, denn bereits hier deutet sich der Streit zwischen Nature und Noreture an, obgleich die zweite Personifikation zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetreten ist: »Quel gret qu’aient nature et li us / S’est apielés Scilentius« (›However nature and costum may have felt about it, / the child was named Silentius‹; V. 2125f.) heißt es unmittelbar vor diesem Abschnitt, der sich bis zur nächsten Miniatur um den Konflikt von Nature mit Noreture drehen wird. Denn die Amme, die diese Verschleierung des Geschlechts mitträgt (coverture), steht zugleich für noreture und präfiguriert im Text die personifizierte Figur Noreture, die als Widerpart zu Nature eingeführt wird.24 Hinsichtlich der Aufteilung des Textes auf den Seiten wäre diese Sichtweise ebenso möglich wie die Einschätzung von Thorpe und Stones, hier die Amme und die Mutter zu sehen, denn die Miniaturen scheinen im gesamten Codex wie eine Zusammenfassung den betreffenden Textabschnitten vorangestellt.25 Ist die Miniatur auf fol. 199r tatsächlich als Vorausdeutung auf das Kapitel zu verstehen, könnte der Zeigegestus der grüngewandeten Gestalt rechts auf den Moment weisen, an dem Nature den Betrug an ihrer Schöpfung bemerkt (V. 2257f.). Doch welche Figuren des Textes den Säugling auch flankieren, kennzeichnet die Miniatur zweifelsohne den zentralen Konflikt der Handlung, so dass die Darstellung möglicherweise auch mehrere Lesarten erlaubt.26 23 Eufemie hätte in diesem Fall ihr Gewand gewechselt – oftmals versucht man in Bildzyklen, Protagonisten durch wiederkehrende Kleidung zu kennzeichnen. 24 Qu’ele fera tel coverture / En cele soie noreture (›that she would do such an axcellent job / of concealing things, in her role as nursemaid‹; V. 2179f.). 25 Je le voel, biele, desguiser, / Si com m’oïstes deviser. / Faire en voel malle de femiele (›Dearest, I want to disguise her, / as you heard me say before. / I want to make a male of a female‹; V. 2039–2041). So deuten es Thorpe [Anm. 3], S. 38, und Stones [Anm. 3], S. 53. Die textile Metaphorik der Erzählung arbeitet auch Fontaine, Audray: Moult mal tissu. Le travestissement romanesque dans le »Roman de Silence« d’Heldris de Cornouailles. In: Cultures courtoises en mouvement. Hg. v. Arseneau, Isabelle u. Gingras, Francis. Montréal 2011, S. 116–131, heraus. 26 Auch die folgende Miniatur auf fol. 201r ist auf mehreren Ebenen zu interpretieren. So können hier einerseits der Seneschall und Cador gezeigt werden als auch das Gegensatzpaar Nature und Noreture – Alison Stones [Anm. 3], S. 53, bringt diese Interpretationsmöglichkeit ins Spiel, da die Auseinandersetzung zwischen den beiden Personifikationen nach den ersten zwölf Lebensjahren von Silentius/Silence einen Höhepunkt erreicht. Allerdings

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Eine Visualisierung der Personifikationen Noreture und Nature wäre auch in übergreifender Perspektive möglich. Die Sammelhandschrift mit dem »Roman de Silence« entsteht zu einem Zeitpunkt, an dem nicht nur volkssprachliche Erzählungen erstmals ausführlicher illustriert werden, sondern möglicherweise auch übergeordnete, allegorische Lesarten in Texten, Bildern und Aufführungen solcher Stoffe verhandelt werden. Die mittlerweile kanonischen Tugenden und Laster, wie sie in Portalplastik und auch der Buchmalerei, in Goldschmiedewerken und Ähnlichem begegnen, bekommen Gesellschaft: Das Spektrum von personifizierten Begrifflichkeiten wird im Verlaufe des 13. Jahrhunderts maßgeblich erweitert und die Hilfsarbeiterinnen des Heilsplanes, die sich bisher durch bedeutungsschwer gehaltene Attribute in das Bildgedächtnis der Zeitgenossen eingeprägt haben, werden nun durch Figuren ergänzt, die zunächst nur in genuin literarischem Kontext existieren können. Die konträren Figuren Nature und Noreture im »Roman de Silence«, die den zentralen Moment des Textes verkörpern, werden nämlich nicht durch beschreibende Elemente vorgestellt – möglichweise substituiert die Miniatur die Beschreibung der Verkörperungen des Abstrakten.27 Die Frage ist, wie dieser Prozess der Bedeutungszuweisung in den Bildern stattfinden könnte – wie verhalten sich die Miniaturen zur allegorischen Bedeutungsebene eines Textes? Und was passiert darüber hinaus, wenn die Bilder als integrative Bestandteile des Textes verstanden und in die allegorische Dimension des Textes einbezogen werden müssen? Im Folgenden sollen die verschiedenen Körperbilder von Silence/Silentius, die im »Roman de Silence« zwischen Text und Bild entworfen werden, dargelegt werden.28 Hält man an der Überlegung fest, dass die Miniatur auf fol. 199r als Gegenüberstellung der allegorischen Figuren Noreture und Nature zu deuten ist, nachdem unmittelbar zuvor auf den fol. 198v und 199r das Werk der Natur und die vollendete Schönheit des Kinds gelobt wird, dann könnte dies für die Wahrnehmung des Textes im Überlieferungsträger entscheidend sein: Die allegibt Stones zu bedenken, dass beide Figuren hier männlich gewandet scheinen – außerdem fehlt der Anlass des Streites im Bild, da Silence selbst hier abwesend ist. 27 Raoul-James [Anm. 20], S. 340, Anm. 38, verweist allerdings darauf, dass die Gegenüberstellung von Nature und Noreture bereits im 13. Jahrhundert sprichwörtlich war und auch als Motiv im »Roman de la Rose« zu finden ist. Zu den beiden Figuren vgl. auch Newman, Barbara: God and the Goddesses: Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages. Philadelphia 2003, S. 122–134. 28 Auch die frühen Varianten des »Roman de la Rose« sind ohne Bildzyklen ausgekommen, Bewegung kommt hier vor allem erst Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts in die Bildwelt – dafür jedoch mit exponentieller Vermehrung. Jung, Marc-René: Études sur le poème allégorique en France au moyen âge. Bern 1971 (Romanica Helvetica 82), S. 228, argumentiert in seiner materialreichen Studie zur allegorischen Dichtung des Mittelalters, dass die Personifikationen erst mit dem Erscheinen des »Roman de la Rose« zu ›Personen‹ werden durch ihre Ablösung von religiöser Literatur: »Les personnifications deviendront des personnes«.

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gorische Ebene des »Roman de Silence« und der Moment der Verhüllung, coverture, würde durch die gemalte Gegenüberstellung der beiden Personifikationen eine starke Akzentuierung erfahren.29 Keine der personifizierten Figuren, weder Noreture, noch Nature, oder die innere Stimme der Raison, werden vom Dichter in irgendeiner Form anschaulich gestaltet. Sie werden ohne Beschreibung in den Text eingeführt – im Gegensatz zum »Roman de la Rose«, der etwa gleich eine visuelle Oberfläche mitliefert, an der sich die Illustrationszyklen orientierten.30 Allein durch eine Illustration würde den beiden zentralen Gegenspielerinnen hier wesentlich prägnanter Gestalt und Macht verliehen werden, und sie gewönnen beim Durchblättern des Manuskripts ein Eigenleben. Denn für illustrierte Handschriften allegorischer Texte gilt: In dem Moment, in dem die allegorischen Figuren des Textes im Illustrationszyklus Erwähnung finden, verändert sich ihr Status für den Leser und Betrachter des Überlieferungsträgers.31 Sie sind nicht mehr nur Stilmittel innerhalb des Textzusammenhangs, sondern vermitteln sich als Personifikationen – mit allem visuellen Ballast, den diese gemalten Figuren per se mit sich tragen: Als Hilfsgöttinnen oder Hilfsengel oder gar als monströse Geburten aus dem Text, als eigenständige Figuren, die nun in Form und Farbe erscheinen. Der Streit von Nature und Noreture um die Figur Silence ist in der Tat ein singuläres Beispiel, denn durch den Illustrationszyklus erhält das Schweigen zumindest für den Betrachter Gestalt. Dabei ist die Geschichte weit mehr als ein Kostümwechsel, denn der »Maskerade«, die erfolgt, um den weiblichen zu einem männlichen Körper zu machen, haftet etwas Monströses an, da er hier als ein Akt gegen die Schöpfung beschrieben wird – ein Akt, den Nature am Ende durch Rückformung über einen Zeitraum von drei Tagen rückgängig machen kann. Die nächste Miniatur, die Silence/Silentius zwischen den beiden Jongleuren zeigt, betont die Jugendlichkeit der Hauptfigur – und, in Kenntnis des Tex29 Zur Bedeutung der allegorischen Lesart im »Roman de Silence« vgl. auch Dahmen, Lynne: The »Roman de Silence« and the Narrative Traditions of Thirteenth Century. Diss. masch. Indiana University 2000, hier S. 149–152. Sie beschreibt hier die Verwendung von Personifikationen als kompositorisches Mittel im »Roman de Silence«. Die allegorische Lesart des Textes arbeitet auch Haidu, Peter: The Subject Medieval/Modern. Text and Governance in the Middle Ages. Stanford 2004, bes. S. 253f., heraus. 30 Vgl. Fleming, John: The »Roman de la Rose«: A Study in Allegory and Iconography. Princeton 1969. Fleming beschreibt die integrierten Illustrationen des »Roman de la Rose« als Glossen (S. 13–53), die den Text inhaltlich erklären bzw. akzentuieren – die Bilder sind demnach vor allem als Stützen für das allegorische Argumentationssystem des Textes zu interpretieren. 31 Kelly, Douglas: Medieval Imagination. Rhetoric and the Poetry of Courtly Love. Madison, London 1978, S. 58, unterscheidet etwa im »Roman de la Rose« mehrere Ebenen von Personifikationen: Solche, die agieren, und solche, die wie die negativen Verkörperungen an der Mauer des Gartens als Bilder eingeführt werden. Hier wäre dann eine weitere Ebene einzuführen, nämlich solche Figuren, die in den Überlieferungsträgern visualisiert werden.

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tes – die daran bemessene intellektuelle Überlegenheit der verkleideten Silence (Abb. 2). Auch die weiteren Miniaturen, die die Abenteuer des erwachsenen Silentius/Silence zeigen, sind nur mithilfe des Textes zu verstehen – dabei sind die Miniaturen offenbar als eine Art Zusammenfassung den Kapiteln vorangeschaltet. Erst durch Lektüre des Textes wird deutlich, dass hier jeweils eine verkleidete Frau vor einem Mann steht (fol. 209r und 211r) – und so sind auch die Miniaturen möglicherweise erst im Nachhinein zu verstehen.32 Während der Text im »Roman de Silence« die Metamorphosen des Körpers Silentius/Silence sukzessive entwickelt, wird auf der Bildebene scheinbar nach Mitteln gesucht, den Konflikt der Hauptfigur und die allegorische Dimension der Erzählung zum Ausdruck bringen zu können. Natura selbst inkorporiert bekanntermaßen Männliches und Weibliches, denn als Natura parens omnium rerum ist sie Plinius zufolge zugleich Mutter und Vater aller Dinge.33 Während Raison im »Roman de Silence« als internalisierte Seelenkraft kaum hervortritt und damit offenbar auf der Ebene verharrt, die als abstractum agens definiert würde, werden die Positionen der Gegenspielerinnen Nature und Noreture ausgeführt.34

Der enthüllte Körper Am Ende des Bildzyklus steht Silence als weißer, vollkommen entkleideter Körper (Abb. 3). Die coverture, mit der ihr wahres Geschlecht verhüllt wurde, ist hier fortgenommen, und der Akt der Enthüllung wird auf verschiedenen Ebenen in dieser einspaltigen Miniatur inszeniert.35 Die emporgerissenen Arme versuchen nicht, den Körper zu bedecken, sondern verstärken diesen Moment der Nacktheit entschieden. Zudem ist der Kontrast zur in ordentlichem Herrschergewand bekleideten Figur des Ebain so augenfällig, dass nicht nur die ungewöhnliche Körperhaltung, sondern auch das helle Inkarnat der enttarnten Silence hervortritt. Diese Darstellung des enthüllten hellen Frauenkörpers scheint 32 Wobei auch überlegt werden kann, inwiefern der aus dem Bildfeld herausragende Fuß der Silence auf fol. 211r als Transgression im doppelten Sinne gedeutet werden kann – dass solche einfachen Mittel funktionieren, dafür gibt es wenige Jahrzehnte später eine Bildtradition, vgl. dazu Logemann, Cornelia: Heilige Ordnungen. Die Bild-Räume der »Vie de Saint Denis« und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts. Köln, Wien 2009 (pictura et poesis 24), bes. S. 304–311. 33 Modersohn, Mechthild: Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur. Berlin 1997, S. 17. Zugleich ist sie nach Prudentius auch die Ernährerin des Menschen, Natura altrix hominum, S. 18. 34 Glasser, Richard: Abstractum agens und Allegorie im älteren Französisch. In: Zeitschrift für romanische Philologie 69 (1953), S. 43–122. Die personifizierte Raison wird erst im Laufe des 14. Jahrhunderts in den Illustrationszyklen zu einer wichtigen und zentralen Gestalt. 35 Zur Bedeutung der Verhüllung aus der Perspektive des Textes vgl. Fontaine [Anm. 25].

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zugleich auf eine Passage am Ende dieses Abschnitts zu verweisen, der beschreibt, wie der Körper von Nature wieder soweit wiederhergestellt wurde, wie er ursprünglich vorgesehen war: Ohne den irreführenden Habit des Silentius und darüber hinaus, wie bereits vermerkt, von Nature über drei Tage gereinigt, erscheint der idealschöne Frauenkörper mit lilienweißer Haut. Das Bild auf fol. 222v nimmt diesen Zustand vorweg und visualisiert zugleich das Endergebnis der Geschichte. Mag einerseits die etwas grobschlächtige Figur, die hier zu erkennen ist, den Fähigkeiten der Miniatoren geschuldet sein, wird andererseits deutlich, dass der im Sinne von Nature zurückverwandelte Körper formbares Naturprodukt ist.36 Am Beginn des Textes widmet sich eine lange Passage der Formung von Silence – detailliert wird beschrieben, wie Nature der Materie Gestalt gibt und ein Kunstwerk schafft. Das Schlussbild nimmt diesen Akt der Schöpfung wieder in sich auf, denn nicht die anthropomorphe Gestalt, sondern der statuarische Charakter der Silence steht hier im Vordergrund. Silence ist keine Akteurin in diesem Bild, sondern wird enthüllt – ihre Passivität in dieser Szenerie scheint zugleich ein Hinweis auf den abstrakten Status dieser Figur zu sein. Die Fügung der Gliedmaßen, sonst in den übrigen Miniaturen durch das Gewand verschleiert, erinnert nicht zufällig an seltsame Automaten oder Skulpturen, die in anderen Bilderzählungen die Grenzen des Wundersamen überschreiten – zu ungewöhnlich erscheint in dieser Zeit das Bild einer lebensgroßen weiblichen Figur ohne auch nur eine Andeutung von Verhüllung.37 Silence ist (wieder) jenes (unverhüllte) Meisterwerk, ouvre forcible (V. 1807), das einst von Nature aus reinstem Material gefertigt wurde. In übergreifendem Kontext gibt es für entkleidete Protagonisten in den Bildzyklen keine positive Bildtradition. Der enthüllte Körper – gar im Zusammenhang mit einer Travestie – kennt nur negative Assoziationen.38 In einer wohl Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Miniatur in der »Estoire de Merlin« wird der enthüllte Körper eines Mannes, der sich als Frau gekleidet hat, visualisiert. Der entblößte Mann steht hier in einer eindeutig negativen Position (Abb. 7).39 Das korreliert in diesem Fall mit der Erzählung. Im »Roman de Silence« hingegen würde eine solche Lesart der Miniaturen dem Text widersprechen. Die einzige Möglichkeit eine entkleidete menschliche Figur positiv darzustellen, wäre 36 Die statuarische Dimension dieser Malerei bemerkte auch Combes [Anm. 2]. 37 Zum Aspekt der Verhüllung im literarischen Kontext vgl. Philipowski, Katharina: Die Gestalt des Unsichtbaren: Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur. Berlin, Boston 2013 (Hermaea 131), hier bes. S. 157. 38 Nichols, John A.: Female Nudity and Sexuality in Medieval Art. Essays Towards a cultural Anthropology. In: New Images of Medieval Woman. Hg. v. DuBruck, Edelgard E. Lampeter u. a. 1989 (Medieval Studies 1), S. 165–206. 39 Paris, BNF, Ms. fr. 24394, fol. 214r, zwischen 1280–1290.

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Abb. 7: Nackter, zuvor als Frau verkleideter Mann (fol. 214r). In: Estoire Merlin, Paris, BNF, Ms. fr. 24394

in einem abstrakten Kontext: Der solcherart enthüllte Körper verweist auf eine übergeordnete Deutung der Figur. Michelle Bolduc betont hinsichtlich der Miniatur, dass der Bildzyklus des »Roman de Silence« vor allem auf die Verletzlichkeit des Körpers der Protagonistin abzielt, doch muss die nackte Gestalt mit erhobenen Armen in einem übergreifenden Zusammenhang gelesen werden.40 Das Verführungspotential des weiblichen Körpers wird – gerade in der arthurischen Literatur der Zeit und demzufolge auch in den Illustrationszyklen – durch angemessene Kleidung und Haartracht vermittelt. Benito de la Fuente beschreibt, wie diese Komponenten zu Symbolen weiblicher Sexualität werden, die im Gegensatz zur negativ konnotierten Nacktheit des weiblichen Körpers, der als aggressiv und betrügerisch wahrgenommen wird, zum Standardrepertoire von hochmittelalterlichen Bildzyklen gehört.41 Die Darstellung eines unverhüllten Körpers, wie er im »Roman de Silence« vorgestellt wird, impliziert vor allem eine allegorische Deutungsebene: Die ungewöhnliche visuelle Exposition der Hauptfigur ist weniger als wörtliche Umsetzung einer Textpassage sondern eher als Enthüllung der allegorischen Lesart 40 Bolduc [Anm. 3], S. 110. 41 Benito de la Fuente, Javier: Le nu et le vêtu dans les romans arthuriens du XIIIe siècle (Lancelot en prose). In: Le Nu et le Vêtu [Anm. 7], S. 127–138, hier S. 136: »Dans une société qui prône d’abord les valeurs viriles de la guerre, et après les valeurs religieuses de la chevalerie mystique, entre la première et la deuxième fonction, si fortement entremêlées, la Femme, richement habillée ou dangereusement nue, ne peut que trahir, enfermer, porter malheur, empêcher de triompher, mourir d’amour«.

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des »Roman de Silence« zu verstehen.42 Dass im Zuge einer allegorischen Interpretation in den Miniaturen auf eine monströse Dimension des Körpers hingewiesen werden kann, lässt sich häufiger beobachten. Hybride Daseinsformen, wie etwa das miteinander verschmolzene und zu einem Körper geformte Liebespaar aus einer illustrierten Handschrift des »Livre d’Amour de vertu et de Boneurté« zeugen von dieser visuellen Ausdrucksmöglichkeit (Abb. 8).43

Abb. 8: Liebespaar (fol. 22v). In: Li Livre d’Amour de vertu et de Boneurté, Brüssel, BR, Ms. 9543 (abgeb. nach Camille: Art of Love [Anm. 43], S. 145)

Hier wird die mehr oder weniger subtil vorgetragene Andersartigkeit der Figuren zum Indikator für die allegorische Deutungsebene. Blickt man nochmals auf die letzte Miniatur des »Roman de Silence«, so erkennt man, dass die entkleidete Figur neben der bekleideten Herrscherfigur mehrfach akzentuiert ist: der wei42 Vgl. zum allgemeinen Kontext The Meanings of Nudity in Medieval Art. Hg. v. Lindquist, Sherry C. M. Farnham u. a. 2012. Zur Bewertung weiblicher Sexualität in mittelalterlichen Bildkünsten vgl. den Forschungsbericht von Lindquist, Sherry C. M.: Visualizing Female Sexuality in Medieval Cultures. In: Different Visions: A Journal of New Perspectives on Medieval Art 5 (2014), S. 1–24, verfügbar unter: http://differentvisions.org/articles-pdf/five/ lindquist-final.pdf [05. 03. 2018]. 43 »Li Livre d’Amour de vertu et de Boneurté«, Brüssel, BR, Ms. 9543, fol. 22v. Auf dieses Beispiel vom Ende des 13. Jahrhunderts verweist Camille, Michael: The Image and the Self – Unwriting Late Medieval Bodies. In: Framing Medieval Bodies. Hg. v. Kay, Sarah u. Rubin, Miri. Manchester 1994, S. 62–99, hier S. 72f., ebenso Camille, Michael: The Medieval Art of Love. Objects and Subjects of Desire. London 1998, S. 145.

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sende Finger des Königs auf den nackten Körper und der Kontrast zwischen königlichem Habitus und bleichem Inkarnat indizieren die Nacktheit in dieser Miniatur gleich doppelt. Es ist dies die Auflösung der Person Silentius in die von Nature selbst geschaffene Silence.

Allegorische Nacktheit Die Ambiguität der Figur Silence bleibt ein in den Bildkünsten schwierig zu gestaltendes Merkmal. In der Handschrift in Nottingham wird die Verwandlung von Silence zu Silentius und zurück zu Silence sukzessive in den Bildern entwickelt, die mit dem Text untrennbar verzahnt sind. Doch der hier vorgestellte Versuch, männliche und weibliche Hülle der Hauptfigur zu gestalten, nimmt abstrakte Figuren vorweg, die wenige Jahrzehnte später ambigue Eigenschaften darstellen sollen. Watriquet de Couvin hat sich in seinem Werk »Mireoir aus dames« mit der personifizierten Gestalt der Aventure an einem solchen Problem abgearbeitet. Die Schönheit zum einen und die abstoßende Gestalt zum anderen werden vom Autor ausführlich entwickelt. Der Bildzyklus akzentuiert dies mit einer einzigen Miniatur, die die Figur der Aventure in einer schlichten Dichotomie von schwarz und weiß umsetzt (Abb. 9).44 Literarische Kippfiguren wie Aventure oder Fortuna erweisen sich zugleich als Herausforderung an die Maler, die Binarität und zuweilen auch monströse Dimension dieser Wesen für den Betrachter überzeugend darzustellen. Sichtbare Transgressionen des natürlichen Körpers verbindet man wenige Jahre später, im 14. Jahrhundert, vor allem mit der Ikonographie der Laster – und 44 Der Autor beschreibt, wie er an einer Weggabelung gelangt, auf der ihm das schönste Geschöpf begegnete, das Natur je formen konnte. Es erscheint in strahlendstem Weiß auf der rechten Seite, nichts habe die Natur ihr vorenthalten, alles sei von vollkommener Schönheit. Grässlich und furchterregend, hässlich und Schwarz hingegen sei selbiges Geschöpf auf der linken Seite, dass man erschrocken sein mag, voll von großem Wehgeschrei – furchterregender als der Antichrist wirkt die Figur, die nicht von einer Mutter geboren wurde. Diese hässliche und teuflische Seite der Figur wird ausgiebig charakterisiert, die zu alledem in ein Gewand gehüllt erscheint, das wie ein Bärenfell aussieht. Vgl. Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3525, fol. 54v. Watriquet de Couvin: Dits. Publiée pour la première fois d’après les manuscrits de Paris et de Bruxelles et accompagnés de variantes et de notes explicatives. Hg. v. Scheler, Auguste. Brüssel 1868, V. 56–91: Si com je passoie parmi / Une grant voie en .ij. croisie, / Ai devant moi de près choisie / La très plus belle creature / C’onques peüst fourmer Nature, / Et la plus blanche au droit costé; / Rien n’en avoit Nature osté, / Toute y estoit biautez entiere. / Mais tant estoit hideuse et fiere, / Laide, noire, au costé senestre, / C’on en peüst esbahis estre; / Plaine de grans plours et de cris, / Plus iert crieuse qu’antecris; / Onques chose de mere née / Ne fu en tel point figurée / Ne de si hideuse façon / Qu’elle iert à l’esclenche parçon. / D’enfer sembloit estre partie, / Qui esgardoit celle partie; / Plus qu’arremens noire y estoit, / Et ce dont elle se vestoit / Sembloit aussi con de pel d’oursse.

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Abb. 9: Aventure begegnet dem Erzähler (fol. 54v). In: Watriquet de Couvin: Dits, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, Ms. 3525

hier vor allem, um durch Hässlichkeit der Gestalt auf die Bedeutung zu verweisen. Im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entwickelt Guillaume de Deguileville nicht nur eine ausgeklügelte Theorie eines personifizierenden Darstellungsverfahrens, sondern entwirft auch einen Kanon erschreckender Laster, die sich in den verschiedensten Kontexten wiederfinden lassen.45 Dies ist eine dezidierte Weiterentwicklung der Lasterikonographie: Während beispielsweise im »Roman de Fauvel« die dargestellten Laster sich dezent mit ihren Attributen schmücken (und für weitere Beschreibungen der Laster auf den »Roman de la Rose« verwiesen wird),46 entwickelt Guillaume de Deguileville in seinen allegorischen 45 Bei Guillaume de Deguileville ist das Laster alt, hässlich und monströs. Schon auf den ersten Blick offenbaren diese Figuren dem Betrachter ihre niedere Wesensart und fordern die Abscheu ebenso heraus wie die Einprägsamkeit der ungewöhnlichen Bildformen. Die Laster scheinen dabei durchweg höheren Alters, alte gebeugte Frauen zu sein – synonym zur Lasterhaftigkeit wird hier das hohe Lebensalter (und die damit einhergehende schwindende Attraktivität) als negative Eigenschaft bemüht, während nach dem Parcours der Laster die personifizierte Jeunesse mit geflügelten Füssen dem Pilger in größter Not zur Hilfe eilt. Zum Aspekt des Alters bei Personifikationen, insbesondere mit Hinblick auf Guillaume de Deguileville vgl. Lallouette, Anne-Laure: La vieillesse dans le »Pèlerinage de Vie Humaine«. In: Guillaume de Digulleville. »Les Pèlerinages allégoriques«. Hg. v. Duval, Fréderic u. Pomel, Fabienne. Rennes 2008, S. 215–228. 46 Le Roman de Fauvel. Hg. v. Strubel, Armand. Paris 2012, V. 1633: Et qui en vault savoir la glose / Si voist au romans de la rose (›Und wer die Deutung wissen will, der muss im »Roman de la Rose« nachschauen‹).

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Pilgerfahrten wesentlich komplexere Porträts, die ob ihrer monströsen Komponenten eine neue Wirkung erzielen: Die absurd erscheinenden Lasterwesen mit externalisierten Sinnesorganen und weiteren körperlichen Deformationen bedienen zugleich die Neugier des Rezipienten.47 Die Verunstaltung jener Figuren, die bei Guillaume de Deguileville in erster Linie den Pilger vom rechten Pfad abringen sollen, führt letzten Endes auch dazu, dass die Laster weniger anthropomorph erscheinen als die Tugenden, deren primäres Auftreten in den Texten immer mit einem Verweis auf ungewöhnliche Schönheit und Wohlgestalt einhergeht. Ungewöhnliche Körper werden behutsam erklärt, und so kann schließlich der Schrecken, den die von der personifizierten Gottesgnade an den Pilger herangeführte gesichtslose Memoria zuerst auslöst, durch die nachfolgende Beschreibung zurückgenommen werden: Mais quant pres de moy fu venue, Et je l’oc bien appercüe, En son haterel par derriere Vic qu’estoit mise sa lumiere: Ou haterel les iex avoit, Et par devant point ne vëoit. Ce estoit chose moult hideuse, Yce me sambloit et moustreuse; Et de ce fui je esbahis, Quant si hideuse je la vis. Aber als sie an mich herangekommen war / und ich sie richtig wahrgenommen hatte, / sah ich, dass ihr Augenlicht / hinten auf ihren Nacken gesetzt war: / Im Nacken hatte sie die Augen / und nach vorne sah sie nichts. / Das war eine überaus scheußliche und monströse Sache, so schien mir das, / und darüber war ich sehr erstaunt, / als ich sie so scheußlich sah.48

Darauf wird ihm geantwortet, dass diese Monstrosität der Figur notwendig sei, da es sich um die personifizierte Erinnerung handele (ebd., V. 4893–4895).49

47 Mühlethaler, Jean-Claude: Fauvel au pouvoir: Lire la satire médiévale. Paris 1994 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 26), S. 96–100. 48 Zit. nach Guillaume de Digulleville: Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem, 2 Bde. Bd. 1. Hg. v. Probst, Veit. Darmstadt 2013, V. 4821–4830. Gnadegottes beschwichtigt: Et si n’est pas chose moustreuse, / Si com tu guides, ne hideuse, / Anchois est chose necessaire (V. 4893–4895), Übers. ebd. S. 189: ›Und es ist keine monströse Sache und keine scheußliche, wie Du meinst, vielmehr ist es eine notwendige Sache‹. 49 Die Einführung dieser monströsen Bestandteile im Kanon der Laster (und teils auch der positiv konnotierten Personifikationen wie Mémoire) scheint hierbei ein Novum zu sein, sah doch die Attribuierung von Tugenden und Lastern in den Bildmedien zunächst wesentlich reduzierter, homogener aus. Schon bei Gilles de Rome werden in einer illustrierten Handschrift im 13. Jahrhundert die Tugenden mit beschrifteten Medaillons ausgestattet, ebenso wie in der »Somme le Roi« des Frère Laurent teilweise auf diese Form der Attribuierung und

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Den Moment des Erstaunens (vielleicht auch des Erschreckens) fordert zweifelsohne die nackte Figur der Silence in dieser letzten Miniatur ein. Doch wie konnte eine entblößte weibliche Gestalt als positiver Wert erkannt werden? Die Enthüllung des nackten Frauenkörpers, dessen Tugend im Text betont wird (V. 6633–6635) führt möglicherweise neue Implikationen mit sich, denn der Hauptanwendungsort von nackten Leibern in Bildzyklen ist die menschliche Seele, die von ihrer irdischen Hülle befreit ist. Die Auseinandersetzung zwischen allegorischem Körper und irdischem Leib gehört mit Aufkommen allegorischer Literatur schon im 13. Jahrhundert zu den wiederkehrenden Themen in der Buchmalerei. Im »Roman de la Poire« des Thibaut wird illustriert, wie Doux Regard, der personifizierte sanfte Blick, der Dame das Herz des Liebenden reicht.50 Das Bild ist wohl hinlänglich bekannt – als eine der ersten Visualisierungen der Herzmetapher. Zugleich wird damit die Leib-Seele-Dualität an ihre Grenze geführt, da hier der somatische und der metaphorische Kontext sich überlagern. Doch gerade diese für allegorische (Bild-)Erzählungen zentrale Dichotomie von Leib und Seele anschaulich zu machen, ist offenbar eine der schwierigsten Aufgaben – im »Roman de la Rose« wird dieser Schritt übersprungen, indem der Prozess der Trennung von Autor-Figur und Traumseele visuell nicht explizit gemacht wird.51 In Guillaumes de Deguileville »Pilgerreisen« des 14. Jahrhunderts wird diese Schnittstelle durch die Darstellung des Träumenden am Anfang und die Installation eines Traum-Egos in mehreren Stufen verdeutlicht. Der Mönch verwandelt sich im Laufe der Aktionen zunächst in einen Pilger, um im zweiten Teil der Trilogie, in der Pilgerfahrt der Seele, dann als entkleidete kindergroße Seele durch den allegorischen Parcours geführt zu werden. Doch auch in der »Pèlerinage de la Vie humaine« wird die Dualität von Körper und Seele ausführlich mit der personifizierten Vernunft besprochen und das temporäre Entweichen der Seele durch den Mund des schlafenden Körpers veranschaulicht (Abb. 10). Die Nacktheit ist dabei das Attribut der reinen Seele, die allen irdischen Ballast abgeworfen hat – und allein diese Figur ist in der Lage, mit den anderen Personifikationen dieser Traumallegorie zu kommunizieren. Eine Unterhaltung mit einem nackten Seelenkörper zeigt auch eine italienische Handschrift, die einen Dialog von Körper und Seele visualisiert: Der mit schlichtem Gewand verhüllte die Charakterisierung von Eigenschaften qua Exemplum zurückgegriffen wird. Vgl. Paris, BNF, Ms. lat. 6191, fol. VIIv, um 1200. 50 Der reichgestaltete Bildzyklus des »Roman de la Poire« in Paris, BNF, Ms. fr. 2186, fol. 41v, zeigt hier die kniende Personifikation, die der Dame das Herz reicht – die Szenerie wird sehr präzise im Text formuliert und in der historisierten Initiale ausgeführt. 51 Für weitere Differenzierungen dieser Problematik vgl. Philipowski, Katharina: Der geformte und der ungeformte Körper. Zur »Seele« literarischer Figuren im Mittelalter. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 67–86.

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Abb. 10: Vernunft lässt die Seele des Pilgers in den Körper zurückkehren (fol. 39v). In: Guillaume de Deguileville: »Pèlerinage de la Vie humaine«, Heidelberg, UB, Cod. Pal. lat. 1969

Körper links verweist auf die nebenstehende nackte Seele, die in kindlicher Gestalt illustriert wird, und neben diesen beiden Figuren thront Ratio, während die segnende Hand Gottes aus dem Himmel herabzeigt (Abb. 11).52 Fließend bleiben hier die Grenzen zwischen Visualisierungen von Seele und Personifikation, denn durch die Wahl eines weiblichen Körpers zur Darstellung der Seele kann diese in anderen Beispielen gleichsam als Personifikation der reinen Seele aufgefasst werden.53 Die sexuelle Attraktion dieser in weiblicher Form dargestellten Projektionen scheint nicht zwingend im Vordergrund zu stehen – obwohl das erotische Potential dieser entkleideten Seelenfiguren unübersehbar ist, bleibt es durch den Topos der nackten Seele legitimiert. Selbst Matheolus hebt übrigens in seinen »Lamentationes« bei allen monströsen Zügen der Frau eben ihre Schönheit unter dem Gewand hervor.54

52 So setzt dies die Handschrift Paris, BNF, Ms. lat. 7732, fol. 76r um, die am Beginn des 13. Jahrhunderts den »Liber de amicitia« von Buoncompagno illustriert. Vgl. auch die Darstellung von Anima, Corpus und Ratio in Paris, BNF, Ms. NAL 1905, fol. 65v, einer Sammelhandschrift mit theologischen und philosophischen Traktaten. 53 Später wird Jean Gerson dieses Motiv in seiner »Mendicité spirituelle« aufnehmen, und in einer außergewöhnlichen Miniatur des späteren 15. Jahrhunderts wird dieser innere Dialog zwischen Körper und Seele visualisiert: Der bekleidete Mensch spricht mit der nackten Seele, die hinter einem Gitter in seiner Brust wohnt, vgl. Paris, BNF, Ms. fr. 1847, fol. 1r. Auch andere ungewöhnliche Bildfindungen, wie sie etwa in einem anderen illustrierten Traktat Jean Gersons (Paris, BNF, Ms. Fr. 190), mit einer Darstellung einer nackten geflügelten Seele in weiblicher Gestalt dargeboten werden, fügen sich in diesen Diskurs. 54 Les lamentations de Matheolus [Anm. 14], V. 611–616.

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Abb. 11: Die Seele vor Ratio (fol. 76r). In: Liber de Amicitia, Paris, BNF, Ms. lat. 7732

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Doch sind dies Bildformen, die sich erst Jahrzehnte nach Entstehen des »Roman de Silence« entwickeln – zu einem Zeitpunkt, an dem allegorische Schriften in großer Variabilität produziert werden. Möglicherweise markiert der Text des Heldris de Cornouailles mit den wenigen kleinformatigen Bildern, die in die Erzählung verankert sind, den Auftakt solcher Entwicklungen. Die enthüllte Silence, die weniger dem Leser oder Zuhörer als vor allem dem Betrachter die nackte Wahrheit, nuda veritas, präsentiert, liest sich wie eine semantische Umkehr dessen, was in vielen anderen allegorischen Bild-Text-Erzählungen den Anfang bildet55: Statt der Einkleidung der Figur für den allegorischen Parcours steht hier am Ende des »Roman de Silence« die reine, von Nature geschaffene Gestalt.56 Die Miniatur in der Handschrift in Nottingham erweist sich hier als ein zentraler Kommentar zum Text: Silence lässt hier alle ihre Hüllen fallen, die ihren artifiziellen, von Noreture gestützten Körper geformt haben und steht am Ende wieder ganz als Werk der Natur da: Die nackte Wahrheit enthüllt sich schweigend – durch visuelle Evidenz. Die zentrale Figur der Erzählung hat die Kleider abgeworfen, mit denen sie überhaupt nur die Figur des Silentius bilden konnte. Die Miniaturen, die dem »Roman de Silence« beigegeben sind, entziehen sich einer eindeutigen Zuweisung. Vergleicht man die Visualisierungen der Silence mit annähernd zeitgleichen travestierten Körpern, tritt eine besondere Problematik hervor: Interpretiert man die Miniaturen auf der Ebene des Literalsinns, dann ergeben sich ausschließlich abwertende Kontexte für den verkleideten und schließlich entblößten Körper. Tragen jedoch auch die Miniaturen zu einer allegorischen Ausdrucksebene des »Roman de Silence« bei, dann erscheint die Travestie der Hauptfigur als allegorische Entschleierung des Textes. Abgesehen von diesen Diskussionen, die vor allem spätere Entwicklungen allegorischer Bildsprache betreffen, ist die hier gewählte Bildformel in der Handschrift des »Roman de Silence« einzigartig, und es scheint, als offenbare sich am Ende der

55 Dinshaw, Carolyn: Chaucer’s Sexual Poetics. Madison 1989, S. 21, verweist hier auf Macrobius bzw. auf Richard of Bury, der den verborgenen Körper der Natur als nuda veritas bestimmt. Vgl. auch Tammen [Anm. 7], sowie Spreitzer, Brigitte: Geschlecht als Maskerade. Weiblicher Transvestismus im Mittelalter. In: durch aubenteuer muess man wagen vil. Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag. Hg. v. Hofmeister, Werner u. Steinbauer, Bernd. Innsbruck 1997, S. 477–487. 56 Viel später lässt Christine de Pizan ihre Musen der Poesie entkleiden, um ihre vérité nu zu offenbaren, und auch in den dazugehörigen Illuminationen frohlockt die nackte Haut zur Wahrheitsfindung durch den Beschauer. Vgl. dazu Desmond, Marilynn: Christine de Pizan and the Categories of Difference. Minneapolis 1998 (Medieval Cultures 14), S. 137. Pomel, Fabienne: Revêtir la lettre nue. In: Le Nu et le Vêtu [Anm. 7], S. 299–312, hier S. 307, spitzt die Ambivalenz der Nacktheit, wie sie virtuos Jean de Meun vorführt, zu: »On se demande alors si le vêtement allégorique ne serait pas une enveloppe vide, tout en véhiculant subrepticement une double critique de l’esthétique courtoise et de l’ascétisme chrétien«.

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Cornelia Logemann

Erzählung der verborgene Körper der Natur selbst als nackte Wahrheit.57 Zuletzt kann für diese letzte und zentrale Bildformel mit dem Körper der nackten Silence überlegt werden, ob damit auf einer weiteren Verständnisebene auch die Vorstellung der nackten Natur abgebildet wird, wie sie Alanus ab Insulis ausformuliert hat.58

57 Himmelmann, Nicolas: Ideale Nacktheit. Opladen 1985, S. 52. Vgl. auch Kemp, Wolfgang: Natura: Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie. Diss. masch. Tübingen 1973, S. 19f. Vgl. zur Codierung von Nacktheit Jütte, Robert: Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit. In: Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Hg. v. Schnitzler, Norbert u. Schreiner, Klaus. München 1992, S. 109–129. 58 Raby, F. T. J.: Nuda Natura and Twelth-Century Cosmology. In: Speculum 43 (1968), S. 72–77; Rollo [Anm. 14], S. 91 und 94. Für den »Roman de Silence« verweisen auch Terrell, Katherine: Competing Gender Ideologies and the Limitations of Language in »Le Roman de Silence«. In: Romance Quarterly 55 (2008), S. 35–48, hier S. 36f., Barbara Newman [Anm. 27], S. 123, und Bloch, R. Howard: Silence and Holes: The »Roman de Silence« and the Art of the Trouvère. In: Yale French Studies 70 (1986), S. 81–99, hier S. 84, auf die Bedeutung von Alanus ab Insulis und seinem Werk »De planctu naturae«.

Eva von Contzen

Cum tacet, clamat? Der »Roman de Silence« und der Diskurs des Heiligen

Kann Silence eine Heilige sein? Auf den ersten Blick mag diese Frage abwegig erscheinen, ist der Roman doch in seiner Gesamtheit keinesfalls eine hagiographische Erzählung, sondern folgt säkularen Handlungsmustern. Wie aber bereits mehrfach gezeigt wurde, bedient sich der »Roman de Silence« einer Reihe von Motiven zeitgenössischer Heiligenviten. Die einflussreiche Legendensammlung des Dominikanermönches Jacobus de Voragine, die »Legenda aurea«, entstand etwa zur gleichen Zeit wie »Silence« und sorgte binnen kurzer Zeit für eine weite Verbreitung auch bis dato wenig bekannter Heiliger.1 Insbesondere die sogenannten Cross-Dressing- oder Transvestiten-Heiligen, also solche Heilige, die wie Silence ihr biologisches Geschlecht verheimlichen und sich als Mann ausgeben, weisen aufschlussreiche Parallelen auf. Im Folgenden soll es zunächst um diese Parallelen gehen: Ausgehend von der Leitfrage, welche Funktionen dem Diskurs des Heiligen im »Roman de Silence« zukommen, werde ich aufzeigen, wo und in welchem Maße der Roman hagiographische Erzählstrukturen und -motive übernimmt bzw. sie evoziert. »Silence«, so meine These, unterminiert durch die konsequente Evozierung hagiographischer Erzählmuster die etablierten Parameter von Heiligkeit. Sowohl die Motivation des Cross-Dressing als auch Silences Selbstverständnis als Frau bzw. Mann stehen den Motivationen und Funktionen der Heiligen, die sich als Mann ausgeben, diametral entgegen. Für Silence als säkulare Figur gelten andere Regeln als für die Heiligen. Indem Heldris’ Roman einen Vergleich zu hagiographischen Diskursen anbietet, wird offenkundig, dass säkulares Erzählen und Erzählen über Heiligkeit grundsätzlich anders funktionieren und ihre Protagonistinnen jeweils anders funktionalisiert werden. Ich möchte zeigen, dass »Silence« sich als Metaisierung über volks1 Jacobus de Voragine (1230–1298) verfasste die »Legenda aurea« etwa um 1260. Siehe im Detail: Rhein, Reglinde: Die »Legenda Aurea« des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in »Historia« und »Doctrina«. Köln 1995; »Legenda Aurea«. Sept Siècles de Diffusion. Actes du Colloque International sur la »Legenda Aurea«: Texte Latin et Branches Vernaculaires. Hg. v. Dunn-Lardeau, Brenda. Montréal, Paris 1986; sowie die Textausgabe Iacopo da Varazze: Legenda Aurea. Edizione Critica. 2 Bde. Hg. v. Maggioni, G. P. Florenz 1998.

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sprachliches Erzählen im Mittelalter lesen lässt: Das Spiel mit Männlichkeit und Weiblichkeit ist auf metapoetischer Ebene eine Auseinandersetzung mit der Appropriation von Erzählungen durch einen maskulinen Diskurs. Geschlecht und Geschlechterrollen sind den Erwartungen und Ansprüchen an das Erzählen im »Roman de Silence« untergeordnet.

Silence und Cross-Dressing in mittelalterlichen Heiligenlegenden Dass heilige Frauen aus bestimmten Gründen in die Rolle eines Mannes schlüpfen, ist ein häufiges Motiv in der hagiographischen Literatur. Bekannte Beispiele sind Eugenia, Euphemia, Pelagia, Marina, Theodora, Athanasia und Euphrosyne. Die Gründe für die Verkleidung sind entweder die bewusste Denunzierung des weiblichen Geschlechts als Akt der Buße, zumeist in unmittelbarer Folge eines begangenen Ehebruchs oder der Prostitution, in jedem Fall einer Sünde des Fleisches. Ein zweiter Grund ist die Inanspruchnahme eines Vorteils, der sich aus der Rolle als Mann ergibt, wie der Eintritt in einen (männlichen) Orden und die daraus resultierenden Möglichkeiten der intensiven Ausübung des Glaubens. Dass Heldris sich hagiographischer Motive der sogenannten Cross-Dressing-Heiligen bedient, haben vor allem die Studien von Valerie Hotchkiss und Lynne Dahmen detailliert gezeigt.2 Zudem lassen sich in »Silence« auch Einflüsse aus hagiographischen Texten nachweisen, die nicht oder nicht nur spezifisch für die Cross-Dressing-Heiligen sind, sondern sich auch in den Legenden anderer sowohl männlicher als auch weiblicher Heiligen finden. Bei genauerer Betrachtung sind die gattungsspezifischen Überschneidungen und Anleihen insgesamt eher allgemeiner Natur, so dass sinnvollerweise generisch von einem hagiographischen Diskurs zu sprechen ist, auf den der Roman zurückgreift. 2 Dahmen, Lynne: Sacred Romance: »Silence« and the Hagiographical Tradition. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 113–122; Dahmen, Lynne: The »Roman de Silence« and the Narrative Traditions of the Thirteenth Century. Diss. masch. Indiana University 2000; Hotchkiss, Valerie R.: Clothes Make the Man. Female Cross Dressing in Medieval Europe. New York, London 1996. Siehe auch Grayson, Saisha: Disruptive Disguises: The Problem of Transvestite Saints for Medieval Art, Identity, and Identification. In: Medieval Feminist Forum 45:2 (2009), S. 138– 174; Lowerre, Sandra: The Cross-Dressing Female Saints in Wynkyn de Worde’s 1495 Edition of the »Vitas Patrum«. Frankfurt a. M. 2006 (Europäische Hochschulschriften XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur 428); und Bullough, Vern L. u. Bullough, Bonnie: Cross Dressing, Sex, and Gender. Philadelphia 1993, zum Phänomen des Cross-Dressing in Heiligenlegenden. Robert S. Sturges liefert eine soziologische Erläuterung des Motivs in »Silence«, nämlich dass es eine große Zahl junger Männer gab, die als zweitälteste Söhne nicht erben konnten (The Crossdresser and the »Juventus«: Category Crises in »Silence«. In: Arthuriana 12:1 [2002], S. 37–49).

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Die im angelsächsischen Raum am weitesten verbreiteten Cross-DressingHeiligen sind Euphrosyne, Marina, Theodora, Pelagia und Eugenia. Die Kernelemente ihrer Legenden und ihres Geschlechterwechsels sind jeweils die folgenden: Marina wird von ihrem Vater als Mann verkleidet, damit sie mit ihm als Mönch in einen männlichen Orden eintreten kann. Euphrosyne dagegen strebt selbst an, als Mann im Kloster zu leben, um ihre Jungfräulichkeit zu behalten und ihr Leben ihrem Glauben zu widmen. Während Marinas und Euphrosynes Väter Christen sind und beide – ähnlich wie Cador – letztlich das Beste für ihre Töchter wollen, ist Eugenias Cross-Dressing dadurch motiviert, dass sie sich von ihren nicht-christlichen Eltern abwendet. Eugenias Rolle als Mann ist anders als bei Marina, Euphrosyne und auch Theodora zudem eine zeitlich begrenzte: Sie gibt ihre Verkleidung auf, sobald ihre Eltern ihre Religion akzeptieren und selbst zum Christentum konvertieren. Pelagias und Theodoras Cross-Dressing dient der Buße: Pelagia war vor ihrer Bekehrung eine Tänzerin und Prostituierte; ihr Rückzug als Eremit in eine abgelegene Hütte symbolisiert den drastischen Bruch mit ihrem früheren Leben. Theodora tritt als Theodorus in ein Kloster ein, nachdem sie Ehebruch begangen hat und sich ihrer Sünde bewusst wird. In diesen beiden Fällen ist das Cross-Dressing also eine Abwendung vom sündigen Frauenkörper, dessen Verfehlungen erst in der männlichen Rolle vollständig abgebüßt werden können. Eine weitere Übereinstimmung mit »Silence« ist das Motiv von Potiphars Frau, das sich bei Eugenia findet. Wie Silence wird auch Eugenia der Vergewaltigung bezichtigt: Die matrona Melanthia verliebt sich in Eugenia und klagt sie an, als diese ihre Avancen nicht erwidert. Auf ähnliche Weise werden auch Marina und Theodora in ihren Rollen als Mann beschuldigt, allerdings dahingehend, ein Kind gezeugt zu haben. Beide nehmen die Anschuldigung auf sich und halten damit das Versteckspiel um ihr weibliches Geschlecht, das die Unterstellung als ebensolche entlarvt hätte, im Sinne der Prüfung Gottes aufrecht. Während bei den Cross-Dressing-Heiligen stets eine enge Verzahnung zwischen Heiligkeit und Cross-Dressing besteht, sind Silences Erziehung und Leben als Mann bekanntlich einem äußerst weltlichen Motiv geschuldet: dem Rechtsanspruch auf das elterliche Erbe. Hier einen Vergleich zum Anspruch auf Heiligkeit zu ziehen scheint unangebracht. Dennoch legt der »Roman de Silence« genau dies nahe. Die offenkundige Diskrepanz, die aus einem solchen Vergleich resultiert, soll uns noch näher beschäftigen. Zunächst möchte ich aber auf einen Aspekt hinweisen, der in der Diskussion um hagiographische Einflüsse auf »Silence« bisher keine Beachtung gefunden hat: welche Rolle die Cross-DressingHeiligen im Kontext der Heiligenverehrung spielen. Für England und Schottland ist nämlich ihre Verehrung praktisch nicht belegt. Laut den umfangreichen Datenbanken »Survey of Dedications to Saints in Medieval Scotland« der Universität Edinburgh und »The Transnational Database and Atlas of Saints’ Cults« der

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Universität Leicester ist für keine der oben genannten Heiligen auch nur eine Widmung oder ein Weihegeschenk überliefert.3 Dies legt nahe, dass es sich rein um ›Text-Heilige‹ handelt, deren vitae und passiones zwar Teil der schriftlichen und, so ist anzunehmen, liturgischen Memorialkultur waren, nicht aber aktiv verehrt wurden. Gerade diese Distanz der Legenden zur religiösen Alltagspraxis des Publikums erleichtert die Übernahme ihrer Motive in säkulare Erzählkontexte. Hier ist eine weitere Kautel angebracht: Inwieweit die Legenden der CrossDressing-Heiligen im 13. Jahrhundert überhaupt jenseits der lateinischen Tradition bekannt waren, ist fraglich. Unter den altenglischen Heiligenlegenden finden sich zwar Eugenia und Euphrosyne, in der »Südenglischen Legendensammlung« (spätes 13. Jahrhundert) ist jedoch keine einzige vertreten.4 Auch im 15. Jahrhundert werden die Heiligen mit Ausnahme von Übersetzungen der »Legenda aurea« (»Gilte Legende«, 1438; William Caxton, »The Golden Legend«, 1483) nicht inkludiert, beispielweise bei John Lydgate oder Osbern Bokenham.5 Die einzige, allerdings signifikante, Ausnahme ist die »Schottische Legendensammlung« (spätes 14. Jahrhundert); hier finden sich die Legenden von Pelagia, Theodora, Eugenia und Euphrosyne. Die »Schottische Legendensammlung« ist vor allem deshalb ein bemerkenswerter Vergleichstext, weil sie die beiden Rollen der Cross-Dressing-Heiligen linguistisch markiert bzw. perspektiviert.6 Die Unterschiede in der Erzählstrategie werfen ein anderes Licht auf Heldris’ Roman, insbesondere auf die narrativen Funktionen der allegorischen Passagen. In den Viten der Cross-DressingHeiligen in der »Schottischen Legendensammlung« ist die Heilige, je nachdem durch welche Figur bzw. Instanz sie fokalisiert wird, grammatisch als Frau oder Mann markiert. Die Quelle, die der anonyme Dichter verwendet hat, ist die »Legenda aurea«; dort liegen Pronominalwechsel wie in der folgenden Passage jedoch nicht vor: [Theodora] askit [the abbot] parcheryte þat scho mycht þare resawit be, 3 Survey of Dedications to Saints in Medieval Scotland. Hg. v. Boardman, Steve u. a. Edinburgh ab 2007, verfügbar unter: http://www.shca.ed.ac.uk/Research/saints/ [07. 07. 2016]; TASC – Transnational Database and Atlas of Saints’ Cults. Hg. v. Jones, Graham. Leicester ab 1999, verfügbar unter: http://www.le.ac.uk/users/grj1/tascintro.html [07. 07. 2016]. 4 Siehe The South English Legendary. 2 Bde. Hg. v. D’Evelyn, Charlotte u. Mill, Anna J. London 1956 (Early English Text Society 235, 236). 5 Siehe den Überblick über hagiographische Texte in England und Schottland in D’Evelyn, Charlotte u. Foster, Frances: Saints’ Legends. In: A Manual of the Writings in Middle English c. 1050–c. 1500. Bd. 3. Hg. v. Hartung, Albert E. New Haven 1970, S. 410–457 und 553–649, sowie die rezente Bibliographie Middle English Saints’ Legends. Hg. v. Scahill, John. Woodbridge 2005 (Annotated Bibliographies of Old and Middle English Literature 8). 6 Siehe zur »Schottischen Legendensammlung« von Contzen, Eva: The Scottish Legendary. Towards a Poetics of Hagiographic Narration. Manchester 2016, insbes. S. 169–172.

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& tak þe habyt, & as vythre rendryt be to þame as bruthyre. ›quhat is þi nam, tel þu ws!‹ ›sir,‹ scho sad, ›theodorus.‹ þane sad he: ›welcum mot þu be for godis sak & cheryte.‹ þane wes he tane & mad nowis & leryt sa, for he was wyse, al þat til a monk suld fere in-to schort tyme wele perquere. & al þai þat has hyr sene, wend þat a man scho had bene. (XXX, V. 403–416) 7 Theodora bat den Abt, / aus Nächstenliebe dort aufgenommen zu werden / und das Klostergewand zu erhalten / und ihr Bruder zu werden. / ›Wie lautet Ihr Name, sagt es uns!‹ / ›Sir,‹ sagte sie, ›Theodorus.‹ / Dann sagte [der Abt]: ›Seid willkommen / in Gottes Namen und aus Nächstenliebe.‹ / Dann wurde er aufgenommen als Novize / und lernte – denn er war klug – / alles, was einem Mönch zuträglich war, / in kurzer Zeit auf hervorragende Weise. / Und alle, die sie sahen, / hielten sie für einen Mann. [Hervorhebung E. v. C.]

Nachdem sich Theodora als Theodorus vorgestellt hat, wechselt die Perspektive zu der innerhalb des Klosters, wo sie nun als Mönch gilt und entsprechend als ›er‹ wahrgenommen wird. Zum Ende der Passage kehrt der Erzähler zu seiner allwissenden Perspektive zurück und nennt Theodora ihrem biologischen Geschlecht gemäß wieder ›sie‹. Ein ähnlicher Wechsel der Pronomina liegt vor, wenn Theodora – als Theodorus – zum Objekt der Begierde für eine junge Frau wird, die ihr später vorwirft, ein Kind mit ihr gezeugt zu haben. Die Episode ereignet sich, während Theodora als Mönch unterwegs ist, um für das Kloster Lebensmittel zu erwerben, und in einem Gasthof Rast macht: & wes as ware þe mydde way be-twene þe ton & þe abbay he restit & tuk bydyng ful oft, quhen he com with sik thing. þar hapnyt hym to tak herbry in a nycht, þare as sad I a ȝung maydine wes in þe in, þat with hyme had sic wil to syne þat, quhen mirkest wes þe nycht, scho come on til his bed rycht, 7 Die Legende ist die dreißigste der Sammlung. Alle Zitate aus der »Schottischen Legendensammlung« sind der folgenden Ausgabe entnommen: Legends of the Saints in the Scottish Dialect of the Fourteenth Century. Bd. 2. Hg. v. Metcalfe, W. M. Edinburgh 1896 (Scottish Text Society 23, 25) [Übersetzung E. v. C.].

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& sad: ›theoder, I pray þe þu wald lat me ly by þe; for sene þu firste here tuk gestning, I haf þe lufit atoure althing, sa þat I mon but delay get grant of þe with me to play.‹ & fra theodorus wist þat scho ȝarnit sic foly with hyme do, he sad: ›ga hyne be-lyf þi way, & lat me rest til it be day! or mony man sal one þe wondyr þat wald bring me in sik blondyr.‹ (XXX, V. 521–542) Und als er auf halbem Wege / zwischen der Stadt und dem Kloster war, / kehrte er zur Rast ein, / wie so oft, wenn er unterwegs war, / in einem Gasthof / für eine Nacht. Dort, wie ich erzähle, / war ein junges Mädchen zu Gast, / die mit ihm sündigen wollte, / so dass sie, wenn die Nacht am dunkelsten war, / an sein Bett kam / und sagte: ›Theodor, ich bitte dich, / dass du mich bei dir schlafen lässt; / denn seit du hier angekommen bist, / habe ich dich mehr als alles andere geliebt. / Deshalb möchte ich unverzüglich, / dass du mir gestattest, mit dir zu spielen.‹ / Weil Theodorus wusste, dass sie / danach verlangte, mit ihm eine Dummheit zu begehen, / sagte er: ›Geh fort / und lass mich schlafen bis morgen! / Sonst werden sich viele Leute darüber wundern, / dass du mich in solche Schwierigkeiten gebracht hast.‹ [Hervorhebung E. v. C.]

Wieder haben wir zunächst die Außenperspektive der Nicht-Eingeweihten, für die Theodora als Mönch und damit als Mann gilt. Interessant ist hier insbesondere die Passage, in der Theodora der jungen Frau ihre Absage erteilt: & fra t h e o d o r u s wist þat scho / ȝarnit sic foly with h y m e do (›weil Theodorus wusste, dass sie danach verlangte, / mit ihm eine Dummheit zu begehen‹; V. 537– 538) [Hervorhebung E. v. C.]. Erzähltechnisch ist dies ein Beispiel für eine auktoriale Perspektive, obgleich eine im Modell von Stanzel ›personale‹ Erzählsituation zu erwarten wäre. Wir erhalten Einblick in Theodoras Gedanken – allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass Theodora hier als Theodorus denkt und sogar sich selbst als maskulin wahrnimmt. Ähnliche Passagen lassen sich auch aus den Legenden von Pelagia, Euphrosyne und Eugenia anführen. Im »Roman de Silence« ist das Phänomen der simultan präsenten doppelten Geschlechter im Prinzip dasselbe, so dass die linguistischen Möglichkeiten auf vergleichbare Weise ausgeschöpft werden könnten.8 Bemerkenswerterweise ist aber trotz des insgesamt hohen Grades an Unsicherheit, die Silences Männlichkeit mit sich bringt, der Text in den meisten Episoden geschlechterreferenziell eindeutig: Wenn Silence als Mann agiert und von allen Beteiligten als Mann 8 Siehe dazu Terrell, Katherine H.: Competing Gender Ideologies and the Limitations of Language in »Le Roman de Silence«. In: Romance Quarterly 55:1 (2008), S. 35–48.

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gesehen und akzeptiert wird – ob als Begleiter der Spielmänner, als Soldat im Kampf oder als Objekt der Begierde für Eufeme –, ist sie konstant als Mann fokalisiert. Dies gilt sogar für Passagen, in denen Silence mit ihrer Situation hadert und in denen der Erzähler ihre Situation reflektiert: Moult li remort sa consiënce. Ses cuers li dist: ›Diva! Silence, Ti drap qu’as vestut, et li halles, Font croire as gens que tu iés malles. Mais el a sos la vesteüre Ki de tolt cho n’a mie cure.‹ (V. 2825–2830)9 His conscience brought about severe torment. / His heart said, ›Hey, Silence! / those clothes you’re wearing and that sunburnt face / make people believe that you’re a boy. / But what that boy has under his clothes / has nothing to do with being male!‹ [Hervorhebung E. v. C.]

Nur zu Beginn des Versteckspiels, als Silence zum Jungen erzogen wird, und am Ende des Romans, als ihr biologisches Geschlecht enthüllt wird, dominieren die femininen Pronomina und Endungen. Der Erzähler vermeidet zum Teil eine eindeutige Zuschreibung, indem er sich auf grammatikalisch geschlechtsneutrale Begriffe wie enfes (›Kind‹) beruft. Dies ist beispielsweise der Fall in der Taufszene zu Beginn des Romans und den daran anschließenden Vorkehrungen zur Erziehung von Silence.10 Im Gegensatz zu den Heiligenlegenden ist der Roman deutlich weniger geschlechterperspektivisch aufgeladen. Heldris vermeidet eine klare Bezugnahme, indem er die altfranzösische Schreibweise Silence, die stets uneindeutig ist, den eindeutigen lateinischen Formen Silentius/Silentia vorzieht. Zudem kommt Heldris zugute, dass in dem von ihm verwendeten picardischen Dialekt Objektpronomina in beiden Geschlechtern durch le ausgedrückt werden und nicht wie im modernen Französisch oder auch in anderen altfranzösischen Dialekten zwischen le (mask.) und la (fem.) unterschieden wird.11 Dass Silentius auch immer gleichzeitig Silentia ist, wird daher weder auf linguistischer noch auf erzähltechnischer Ebene, im Sinne der Fokalisierung oder Perspektivierung, thematisiert. Stattdessen ist die Problematik ausgelagert: Die Nature-NoretureDebatte scheint mir genau diese Funktion einer solchen Problematisierung der Gleichzeitigkeit zweier Geschlechter (eines äußerlich sichtbaren, eines versteckten) innezuhaben. Bei Heldris übernimmt die Allegorie die linguistisch 9 Alle Zitate aus dem «Roman de Silence» sind der folgenden Ausgabe entnommen: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 1992 (Medieval Texts and Studies 10). Die Übersetzung habe ich z. T. angepasst. Siehe auch die erste Ausgabe des Textes: Le Roman de Silence. A Thirteenth-Century Arthurian VerseRomance by Heldris de Cornuälle. Hg. v. Thorpe, Lewis. Cambridge 1972. 10 Siehe V. 2085–2256. 11 Siehe Terrell [Anm. 8], S. 44.

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markierte Instabilität der Geschlechter je nach Perspektivierung. Der Erzähler gibt die Verantwortung für perspektivische und grammatische Irritationen und Überlagerungen ab und diskutiert sie in extenso auf der Ebene der allegorischen Figuren. Auch der Effekt dieser Verlagerung ist ein anderer: Während in den Legenden die Wechsel der Pronomina zwar stets klar signalisieren, in welcher Rolle die Heilige gerade wahrgenommen wird, ist die Problemstellung, die sich aus dem Geschlechterwechsel für Silence ergibt, eine ungleich größere, da sie eine psychologische Dimension erfährt. Die Cross-Dressing-Heiligen instrumentalisieren ihre Männerrolle aus den oben genannten Motiven und stehen letztlich über ihr; Silence wird in die Rolle gedrängt und von dieser vereinnahmt, ohne dies je bewusst gewollt oder entschieden zu haben. Für die Heiligen ist der Rollenwechsel eine Chance, ein Instrument der Gnade, und als solches auf der Ebene der Erzählung lediglich ein Perspektiven-Problem (das die »Schottische Legendensammlung« ausnutzt). Für Silence dagegen ist der Wechsel ein Identitätsproblem, das sich nicht auf erzählerische Mittel reduzieren lässt, da es in ihre Person eingeschrieben ist.

Hagiographisches Erzählen jenseits des Cross-Dressing-Motivs Über die Ähnlichkeiten zu den Cross-Dressing-Heiligen hinaus gibt es eine Reihe von weiteren hagiographischen Einflüssen auf den »Roman de Silence«. Die Korrespondenzen betreffen allen voran die Motive des Verlusts: das Verlassen des Elternhauses und der Schmerz, den der heimliche Weggang für die Familie bedeutet. Zentrales Vorbild ist hier die Legende von Alexis. Lynne Dahmen hat einen detaillierten Vergleich vorgelegt.12 Während aber bei Alexis das Verlassen der Familie (seiner Eltern und seiner Frau) die bewusste und drastische Abkehr von den Familienstrukturen darstellt, die notwendig ist, damit seine Selbstverwirklichung als Christ gelingt, ist bei Silence ein normales Familienleben schon seit ihrer Geburt nicht möglich. Ihr Weggehen setzt vielmehr ein äußeres Zeichen ihrer inneren Zerrissenheit. Alexis geht, um seine heilige Mission zu erfüllen, zu der er bestimmt ist; seine innere Motivation geht einher mit der ihm auferlegten göttlichen. Bei Silence steht die Auseinandersetzung mit ihrer Identität im Zentrum; ihre ›Mission‹ ist nur metaphorisch ein Auftrag und ihr Weggang letztlich intrinsisch motiviert. Momente der inneren Zerrissenheit, wie sie die Figur der Silence kennzeichnen, sind auch ein Merkmal von Heiligenlegenden, dort stets im Kontext von moralischen Konfliktsituationen. Bei Silence sind sie persönlich: Die Protagonistin hadert mit ihren zwei Identitäten und stellt in Frage, ob ihr biologisches 12 Dahmen: Roman [Anm. 2], S. 139–141.

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Geschlecht ihrer zugeschriebenen bzw. angenommenen männlichen Identität im Wege steht und sie sich damit selbst verleugnet. Dies ist besonders markant in der Nature-Noreture-Auseinandersetzung, aber auch im Zuge von Silences Entscheidung, mit den beiden Spielmännern zu ziehen.13 Ähnliche Passagen finden sich in Heiligenlegenden – wenn auch deutlich knapper – im Nachgang oder in der Bewusstwerdung von sündigem Verhalten. Die »Schottische Legendensammlung« markiert diese Passagen in besonderem Maße: Theodora stellt sich und ihr Selbst in Frage, nachdem ihr bewusst wird, dass sie allen Ausreden zum Trotz (›Gott sieht bei Nacht nicht‹) Ehebruch begangen hat. Judas – obgleich kein Heiliger, so doch hagiographisch relevant, insofern als seine Geschichte Teil der Legendentradition des Matthias ist – wird sich seiner Sündhaftigkeit bewusst, als sich herausstellt, dass seine neue Frau seine Mutter ist.14 Ein Element aus der Tradition des Legendenerzählens, das der »Roman de Silence« ebenfalls verwendet, ist die moralische Unterweisung des Publikums in Kernthesen der kirchlichen Doktrin. Lynne Dahmen hat überzeugend gezeigt, dass gerade die langen Passagen, in denen Cador zu Beginn des Romans das Glaubensbekenntnis rezitiert, sowie die Ausführungen zur Schöpfung in der Debatte zwischen Nature und Noreture auf Dogmen des Vierten Laterankonzils eingehen.15 Ähnliche didaktische Explikationen finden sich zuhauf in Heiligenlegenden, in denen sich nicht selten das Gebet eines Heiligen oder einer anderen Figur an das Publikum wendet, um es in zentralen Glaubensfragen zu instruieren. Auch die Betonung des Taufsakraments im Kontext der Taufe Silences kann als Publikumsunterweisung gelten.16 Darüber hinaus betont der Erzähler den Einfluss Gottes auf die Welt im Allgemeinen und auf Silences Schicksal im Besonderen und betet für ihren Schutz: Mais nostre sire Jhesu Crist Le set tres bien qu’il les feroit Quant il et liu et tans verroit, Por cho que faire li leüst Et que il lassor en eüst; Mais ains qu’il ait le plait basti Le retrait Dex par son casti. (V. 5688–5694) This is because our lord Jesus Christ / knows very well that a man might commit / such crimes if he saw the proper time and place / and occasion to do so, / and felt the urge; / so before he even decides to sin, / God deters him by chastizing him. 13 Siehe die entsprechenden Passagen V. 2467–2681 und 2825–2872. 14 Siehe dazu im Detail von Contzen [Anm. 6], S. 153–160. Siehe auch die Versionen in der »Legenda aurea«: Theodora, cap. XCII; Matthias, cap. XLV. 15 Dahmen: Roman [Anm. 2], S. 141–147. Die entsprechenden Passagen sind V. 427–472, 1695– 1724 und 6030–6087. 16 Siehe V. 2063–2069.

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Piuls Dex, et plains de pasience, Or Te soviegne de Silence! Car il ne se set preu gaitier. (V. 5699–5701) Merciful, patient God, / may you now be mindful of Silence, / because he’s defenseless in this situation.

Darüber hinaus evoziert der alte Mann, der Silence unterweist, wie sie Merlin ergreifen kann, die Figur eines inkognito auftretenden Heiligen, wie sie häufig im Kontext von post mortem-Wundererzählungen zu finden sind. Seine Begrüßungsworte heben seine religiöse Bedeutung hervor: ›[C]il qui fait son solel luisir, Doinst que riens ne vos puist nuisir. Et vos otroit si bien ovrer Que vos puissciés Deu recovrer.‹ (V. 5879–5882) ›May he who makes the sun shine / protect you from all harm, / and may you succeed in your undertaking, / with the help of God.‹

Der gesamte Erzählkomplex über Merlin, insbesondere sein dreifaches Lachen und die rückblickend erzählten Erläuterungen der für den uneingeweihten Beobachter nicht komischen Szenen, erinnert in Aufbau und Motivstruktur an Exempla-Sammlungen, die nicht selten Überschneidungen mit Wundererzählungen aufweisen. Darüber hinaus gibt es schließlich einige Referenzen auf geistliche bzw. biblische Diskurse. Königin Eufemes Verlangen nach Silence wird beispielweise mit der Geschichte von Joseph und Potiphars Frau verglichen17 und Eufemies Liebesleid mit einem Martyrium: »Aimmi!« demostre le martyre, / Le paine d’amor qu’a sofierte (›»Ah me« is proof of martyrdom, / the pain of love that she has suffered‹; V. 906–907). Hin und wieder werden Heilige evoziert, oftmals im Kontext von Interjektionen, wie König Ebains Anruf an Petrus: Mais, par le foi que doi Saint Pere (›But by the faith I owe Saint Peter‹; V. 313). Solche Ausrufe oder Schwüre sind in der Regel topisch und in ihrer Auswahl der Heiligen beliebig. Eine Erwähnung fällt jedoch besonders ins Auge: Cador erklärt die Namenswahl von Silence mit einem Hinweis auf Sainte Paciensce: Sel faisons apieler Scilense El non de Sainte Paciensce, Por cho que silensce tolt ance. (V. 2067–2069) We shall call her Silence, / after Saint Patience, / for silence relieves anxiety.

Es gibt eine Heilige Patientia (4. Jahrhundert), der Legende nach die Mutter des Heiligen Laurentius, allerdings ist über ihr Leben mit Ausnahme ihres Todes als 17 Siehe Gen 39 und V. 3705–3709 in »Silence«.

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Märtyrerin praktisch nichts bekannt. Ihre Verehrung ist auf ihr spanisches Herkunftsgebiet begrenzt (Huesca in der Provinz Aragon).18 Auch die beiden Heiligen mit dem Namen Patiens sind eher obskur: Der eine war im 5. Jahrhundert Erzbischof von Lyon, wo er asketisch lebte und christliche Nächstenliebe praktizierte; der zweite war bereits im 2. Jahrhundert Bischof von Metz, nachdem er sich dem Evangelisten Johannes angeschlossen haben soll. Weder diese beiden noch Patientia haben einen Bezug zum Schweigen oder führten ein besonders duldsames Leben, das einen unmittelbaren Bezug zu Silence herstellen würde. Die scheinbare Referenz zu Sainte Paciensce entpuppt sich also als Platzhalter und vornehmliche Legitimation von Silences Namen. Auch dass der Teufel mehrfach explizit als Ursprung bzw. Auslöser für Untaten genannt wird, erinnert an hagiographische Texte, in denen nicht selten der Teufel aus Neid auf die beispiellose Heiligkeit der Protagonistin eingreift oder Mittelmänner einsetzt: So werden die Spielmänner vom Teufel angestiftet, Silences Tod zu planen,19 und auch die Boshaftigkeit der Königin ist vom Teufel motiviert: Si com diäbles le fait faire (›Prompted by the Devil‹; V. 4076). Der Erzähler bezeichnet sie gar selbst als Teuflin: Or oiés quel desloialté Avint et ques mesaventure, Con faite rage et quele ardure Cis Sathanas en soi aquelt (V. 3696–3699). Now you shall hear what treachery / and evil deeds transpired, / what deceitful madness and burning lust / lurked in this female Satan!

Silence dagegen bleibt in allen widrigen Situationen standhaft; sie akzeptiert, auch unter der Bedrohung ihres Lebens, das Missverhalten anderer und erträgt ihr Leid schweigend. Sie untersteht dabei dem besonderen Schutz Gottes.20 Ein solches Verhalten ist jedoch nur bedingt vergleichbar mit Heiligenlegenden. Standhaftigkeit und Duldsamkeit sind zwar entscheidende Tugenden der Heiligkeit, allerdings sind heilige Frauen oftmals gerade nicht schweigsam und zurückhaltend, sondern agieren – legitimiert durch den hagiographischen Rahmen – selbstbewusst und äußern frei ihre Meinung, nicht selten in längeren Predigten bzw. Unterweisungen. Dies trifft auch, in unterschiedlichem Maße, auf die CrossDressing-Heiligen zu. Auch in dieser Hinsicht ist Silence nur eingeschränkt mit

18 Siehe die Einträge »Patiens von Metz« und »Orentius und Patientia«: Ökumenisches Heiligenlexikon. Hg. v. Schäfer, Joachim, verfügbar unter: https://www.heiligenlexikon.de/ [07. 07. 2016]. Siehe zu Patiens von Lyon: Le Diocèse de Lyon. Hg. v. Gadille, Jacques. Paris 1983, S. 23 und passim. 19 Siehe V. 3211–3214, 3339–3342 und 3427f. 20 Die entsprechenden Passagen sind die folgenden: V. 3430, 5646 und 5026–5028.

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den Heiligen vergleichbar. Stattdessen liegen andere Vorbilder näher. Diesen widme ich mich im letzten Teil.

Genre und der »Roman de Silence«: Cross-Dressing als Diskurskritik Hagiographisches Erzählen erweist sich als eine Folie für den »Roman de Silence«, die zwar nicht omnipräsent ist, aber immer wieder durchscheint und klar als ein erzählerischer wie inhaltlicher Bezugspunkt angeboten wird. Wie aber bereits angedeutet, sind gerade die scheinbar so offensichtlichen Übereinstimmungen zwischen Silence und heiligen Frauen problematisch. Deren Heiligkeit ist eng verknüpft mit Akten der Glaubensbezeugung durch Worte und Taten, also gerade nicht mit Schweigen und Ertragen. Silences Verhalten, insbesondere das stille Ertragen ihres auferlegten Versteckspiels, sowie die Geduld, mit der sie die Anschuldigungen und Avancen erträgt, evozieren andere ebenso duldsame Frauenfiguren, die zwar auch oft mit Heiligen verglichen werden, aber als Romanheldinnen gerade keine Heiligen sind: so beispielsweise Constance (Custance), wie sie bei Nicolas Trivet, in Geoffrey Chaucers »Man of Law’s Tale« oder als Emaré in der gleichnamigen anonymen mittelenglischen Romanze auftreten. Auch in diesen Romanen stehen weltliche Belange im Zentrum: Constance und Emaré finden schließlich ihren Platz als Ehefrauen von Königen und Mütter zukünftiger Könige und werden so Teil des patriarchalischen Systems. In diesen Traditionen findet sich auch das Motiv der gefälschten Briefe, die in der Regel von einer missgünstigen Stiefmutter geschrieben und gegen die wohlwollenden ihrer Söhne ausgetauscht werden, um der Protagonistin zu schaden.21 Im Gegensatz zu Constance und ihr vergleichbaren Frauenfiguren ist Silence deutlich aktiver. Dies liegt an ihrer Rolle als Mann: Als Ritter kann sie die Handlung in einem Maße dominieren, das anderen Frauen in weltlichen Texten zumeist nicht zur Verfügung steht. Hier schließlich scheint mir der Schlüssel zur Bedeutung des hagiographischen Diskurses im »Roman de Silence« zu liegen: Indem Silence zwar Elemente von Heiligkeit inkludiert (Duldsamkeit, Standhaftigkeit), letztlich aber nicht-hagiographisch agiert (Schweigen über ihre Situation, fehlende eigene Motivation zum Geschlechterwechsel), unterminiert sie die hagiographische Konvention: Heilige Frauen können bemerkenswert aktive Figuren sein, weil sie motiviert und gerechtfertigt durch ihre Heiligkeit einen weitaus aktiveren Part einnehmen können als Frauenfiguren in anderen Rollen. Diese Selbstbestimmung finden wir auch bei Heldris, allerdings hier nur in Si21 Zur Motivgeschichte siehe Schlauch, Margaret: Chaucer’s Constance and Accused Queens. New York 1927.

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lences Verkleidung als Mann. Als Frau in einem weltlichen Text kann Silence nur schweigen angesichts der misogynen Vorurteile, mit denen sie immer wieder konfrontiert wird.22 In der Verkleidung als Mann dagegen wird Silence auch zum erzählerisch Dominanten und approbiert den Diskurs des Männlichen als deutlich aktiver handelnde und handlungsweisende Figur. Sie bedingt nicht nur die Aktionen anderer Figuren, sondern treibt selbst die Handlung voran.23 Damit zeigt Silence in ihrer Doppelrolle – sowohl in Bezug auf ihr Geschlecht als auch in Bezug auf ihre Erzählfunktionen – die maskulinen Hegemonialansprüche an den Text auf und stellt sie in Frage. Silence kann demnach als Metaerzählung über das Erzählen gelesen werden, und zwar in Hinblick auf das Erzählen in säkularen Kontexten: Die Zweckgebundenheit ihres Geschlechterwechsels deutet auf die Intentionalität mittelalterlichen Erzählens hin, das nie Selbstzweck ist. Als Frau ist Silence in diskursiver Verschränkung (assoziativ und kontrastiv) eine Heilige, allerdings ohne deren Privileg der predigthaften Rede oder den Garant der Gnade; als Mann partizipiert sie in maskulinen Diskursen und darf agieren: Ihre Weiblichkeit evoziert die Hagiographie, ihre Männlichkeit die Epik und den Roman, in denen ein Held sich auf eine queste begibt. Aber die Metaisierung verläuft keinesfalls in solch klaren binären Paaren,24 sondern wird überlagert und begleitet von einer Vielzahl weiterer Einflüsse, die sowohl männlich als auch weiblich sein können und, indem sie Silence in eine Krise stürzen, auf das krisenhafte Potenzial von Erzählen deuten. Der »Roman de Silence« ist ein generisches Hybrid,25 in dem Silences Identitätssuche als Chiffre der widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen an die Figuren und ihre narrativen Rollen fungiert. Silence eignet sich den maskulinen Diskurs an, indem sie nicht nur zum Mann wird, sondern zu einem herausragenden Mann, der als Ritter heldenhaft auftritt. Die Analogie zu der zentral gestellten Spielmannsepisode liegt nahe: Die Ängste, die die Spielmänner sogar zu einem Mordversuch treiben – dass Silence besser ist als sie selbst und sie damit redundant macht –, sind möglicherweise auch die, die der Dichter angesichts der Protagonistin haben muss. Silence, die Frau, ist in ihrer 22 Siehe z. B. V. 2632–2644, 3901–3924 und 5001–5022. 23 Dies hat Caroline A. Jewers treffend formuliert: »As Heldris’s other women characters show, the customary place for women in medieval fiction leaves no space for development, and little access to the aventures necessary for conveying an impression of spiritual or individual growth. If only temporarily, Silence is freed from her stereotypical bonds and the interior world of heroines, and allowed into the narrative light« (Jewers, Caroline A.: The NonExistent Knight: Adventure in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 87–110, hier S. 108–109). 24 Siehe in diesem Kontext auch Tolmie, Jane: Silence in the Sewing Chamber: »Le Roman de Silence«. In: French Studies 63 (2009), S. 14–26, hier S. 16, die ebenfalls den Kollaps binärer Systeme für »Silence« konstatiert. 25 Dahmen: Sacred Romance [Anm. 2], S. 113.

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Verkleidung der bessere Mann. Silence entzieht sich damit einer maskulinen Inanspruchnahme des Textes, die der Erzähler am Schluss wiederherzustellen sucht. Als Silences wahres Geschlecht offenbart wird, wird dieses zu einem Textbzw. Grammatikphänomen reduziert: von »Silentius« zu »Silentia«: Segnor, que vos diroie plus? Ains ot a non Scilensiüs: Ostés est -us, mis i est -a Si est només Scilentiä. (V. 6665–6668) Lords, what more can I say? / Once he was called Silentius: / they removed the -us, added an -a, / and so he was called Silentia.

Eine besondere Rolle kommt dabei dem Publikum zu: Silences Schweigen über ihr Geschlecht ist zwar innerhalb der Erzählung relevant, aber nicht für die Leserbzw. Zuhörerschaft, die von Beginn an um Silences doppeltes Spiel weiß. Das Publikum wird somit zum Mitzeugen und Mitwisser der GeschlechterrollenUmwandlung. Erzähltechnisch baut Silences Schweigen einen Spannungsbogen auf, der die gesamte Erzählung umfasst und durch die Diskrepanz zwischen dem Wissen des Publikums und dem der Figuren maximiert wird. Fast möchte man an den vielen Stellen, an denen eine Figur ahnt, dass Silence eine Frau ist, eingreifen und sie schütteln: So sprich doch!26 Indem Silence über ihr Geschlecht schweigt, ermöglicht sie es, von verschiedenen Diskursen vereinnahmt zu werden und sich letztlich maskuline Erzählmuster zu eigen zu machen: Sie kann ›beschrieben‹ bzw. in einem oralen Kontext ›be-sprochen‹ werden. Ihr Schweigen kann mit den Worten anderer gefüllt werden; sie lässt sich in Rollen einfügen, die, würde sie ihr wahres Geschlecht verraten, nicht möglich wären. Der Diskurs des Heiligen ist vielleicht der offensichtlichste, an dem »Silence« partizipiert. Er ist aber nur einer von vielen: Silence ist eine erzählerische Leerstelle, die als solche von verschiedenen Diskursen – weltlich-höfischen ebenso wie hagiographischen – vereinnahmt und mit Bedeutung gefüllt werden kann. Damit kann Silence als eine Metapher für die Möglichkeiten des Erzählens gelesen werden, das sich solcher Leerstellen bedient und daraus ihre Handlungsmuster schöpft. Zugleich ist Silence nämlich Motor der Handlung; ihr Schweigen erst treibt das Erzählen voran und verleiht dem Roman Tiefe und einen Körper, der sich einer klaren Beschreibbarkeit entzieht. Indem Silence also schweigt, schreit sie: gegen die maskulinen Ansprüche auf Textkonstitution, gegen die Rollen der Frauen in weltlicher Literatur, gegen ein binäres Verständnis von Erzählen und Weiblichkeit, von Erzählen und Heiligkeit und letztlich von Erzählen und Macht.

26 Siehe zu Silences Schweigen auch Gilmore, Gloria Thomas: »Le Roman de Silence«: Allegory in Ruin or Womb of Irony? In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 111–128, hier S. 114.

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l’amer amer – »Tristan«-Referenzen und ihre Funktion im »Roman de Silence«

Im Anschluss an Lewis Thorpes Thesen zur Genese des »Roman de Silence« spricht die romanistische Forschung der Schlussepisode des Textes mit der Suche der als Mann verkleideten Protagonistin nach dem arthurischen Zauberer Merlin, der nach seiner Gefangennahme Silences wahres Geschlecht enthüllt, vielfach eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der von Heldris de Cornouailles erzählten Geschichte zu.1 Denn die mutmaßliche Vorlage für diese finale Partie, die Grisandole-Episode der »Estoire Merlin«, ist nach dieser Lesart regelrecht als Keimzelle des Gesamtromans zu deuten. Heldris habe, so sieht es jedenfalls Thorpe, aus der Grisandole-Episode seine zentrale Inspiration bezogen und den »Roman de Silence« in der Folge als Vorgeschichte und Erläuterung der Schlussepisode gestaltet. Für Thorpe stellt sich der »Roman de Silence« damit gleichsam als »Enfances Grisandoles-Silence« dar; er vergleicht ihn ausdrücklich mit anderen nachträglich gedichteten Kindheitserzählungen, wie sie etwa aus der französischen Chanson-de-geste-Tradition bekannt sind, namentlich mit den »Enfances Roland« oder den »Enfances Vivien«.2

1 Thorpe, Lewis: Introduction. In: Le Roman de Silence. A Thirteenth-Century Arthurian Verse Romance by Heldris de Conuälle. Hg. v. Thorpe, Lewis. Cambridge 1972, S. 1–62, hier S. 28–32; zur Benennung des »Roman de Silence« als »Enfances Grisandoles-Silence« siehe insbes. S. 32. Vgl. auch Psaki, Regina: Introduction. In: Le Roman de Silence. Übers. v. Psaki, Regina. New York, London 1991 (Garland Library of Medieval Literature 63B), S. IX–XXXVIII, hier S. XXXV. In ihrer derzeit kanonischen, in erster Auflage 1992 erschienenen Edition greift Roche-Mahdi Thorpes These relativierend auf – die Grisandole-Episode ist in ihren Augen nicht Heldris᾽ einzige Quelle (Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 32007 [Medieval Texts and Studies 10], S. XII). Andererseits unterstreicht sie die Bedeutung der Episode als Vorlage für die »Silence«, weil sie ihrer Edition eine Nacherzählung beifügt (S. 317). In jüngerer Zeit scheint Roche-Mahdi ihre Zustimmung zu Thorpe noch stärker zu relativieren (Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 [2002], S. 6–21, hier S. 8). Im Folgenden zitiere ich den »Roman de Silence« nach der genannten Ausgabe Roche-Mahdis und übernehme deren Übersetzungen, soweit es nicht anders vermerkt ist. 2 Thorpe [Anm. 1], S. 32.

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Tatsächlich teilt die Schlusspartie des »Roman de Silence« eine Reihe konstitutiver Elemente mit der Grisandole-Episode, vor allem die grundsätzliche Figurenkonstellation (die verkleidete Protagonistin, der König, die ehebrecherische Königin, der Zauberer Merlin) und das zentrale Handlungsmoment der erfolgreichen queste nach Merlin, durch die die Heldin unwissentlich sowohl die Aufdeckung der Untreue der Königin wie die Preisgabe ihrer eigenen Identität einleitet. Doch selbst wenn Thorpe Heldris’ Vorlage korrekt identifiziert hat, klärt dies nicht alle Eigenheiten des »Roman de Silence«. Denn der französische Dichter spekuliert nicht einfach das aus, was ihm seine mögliche Quelle als Anhaltspunkte für die Entwicklung einer vollständigeren Vita der Protagonistin bietet.3 Seine weibliche Hauptfigur hat eine eigene Vorgeschichte mit einer im Vergleich zur Grisandole-Episode veränderten Problematik, nämlich der Aufhebung der weiblichen Erbfolge, die im weiteren Verlauf Silences Maskierung als Mann motiviert.4 Auch die Begründung für die queste ist eine andere als im »Merlin«, weil die Âventiure in der »Silence« unmittelbar aus der erfolglosen Werbung der Königin um den angeblichen Jüngling Silence resultiert. In ihrem sexuellen Begehren abgewiesen, verleumdet Eufeme Silence beim König als vermeintlichen Vergewaltiger und überträgt ihr mit der Suche nach dem Zauberer absichtsvoll eine Aufgabe, die aus der begrenzten Wissensperspektive der Königin heraus unerfüllbar erscheinen muss, da Merlin einzig durch weibliche List (engien de feme; V. 5803) gefangen genommen werden kann. Indem sie solcherart Silences Scheitern herbeizuführen trachtet,5 führt Eufeme allerdings ironischerweise ihren eigenen Untergang herbei: Silence bringt mit Merlin schließlich die Person an den Hof, die den Ehebruch der Königin allererst offenbart. Die direkte kausale Verknüpfung zwischen der als Strafe initiierten queste, der enttäuschten Liebe der Königin und Silences verborgener weiblicher Identität, die zwar der »Roman de Silence« und diverse frühneuzeitliche und moderne Märchenversionen des Stoffes kennen, die aber der Grisandole-Episode fehlt, 3 Dies erkennt Thorpe auch an: »A textual comparison of the two stories shows that, while Heldris uses much of the minor detail of L’Estoire Merlin, he does not follow his original slavishly. Lines 5778–6704 of the poem are far from being merely a rhymed version of the Vulgate prose text« (Thorpe [Anm. 1], S. 29). 4 Gemäß Paton ist für den Stoff typisch, dass die Motivierungen für die Verkleidung unterschiedlich sind: »The inductions to the stories differ widely«. Siehe Paton, Lucy A.: The Story of Grisandole: A Study in the Legend of Merlin. In: PMLA 22 (1907), S. 234–276, hier S. 237, Anm. 1. 5 Et, se il Merlin ne puet prendre / Faites li, sire, bien entendre / Mar renterra en ceste tierre. / Mais il le pora .m. ans quierre / Anchois que il le prenge mie. / U cho n’est mie prophezie / Icho que Merlins dist adonques, / U cis ne revenra mais onques (›And make it very clear to him, Sire, / that if he can’t capture Merlin, / he will return to this land at his peril. / But he could search a thousand years / without ever being able to capture him. / Either Merlin is no prophet, / or Silence will never come back‹; V. 5811–5818).

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beurteilt Paton als ursprüngliches Element einer Stofftradition, die vor die »Estoire Merlin« zurückreicht. Die von ihr partiell rekonstruierte vorgängige Version X wird von Teilen der »Silence«-Forschung daher als Heldris’ eigentliche Vorlage angesehen.6 Wahrscheinlich weicht der »Roman de Silence« allerdings auch von diesem ohnehin nur hypothetisch fassbaren Prätext ab. Gegenüber den sonst bekannten Kurzfassungen weitet Heldris den Stoff schließlich auf Romanlänge aus und nutzt hierzu Motive und Episoden, die er unter Rückgriff auf andere Erzähltraditionen entwickelt hat, wie etwa die jongleurs-Episode, die der eigentlichen Heldinnen-Vita vorangestellte Elternvorgeschichte oder die umständlich erzählte Briefintrige.7 Unabhängig davon, ob man sich im Fall der durch die unklare Datierung der »Silence« erschwerten Frage nach der Quelle für die Schlusspartie für die Grisandole-Episode oder für Patons Fassung X entscheidet,8 bleibt deswegen mit Roche-Mahdi und weiteren jüngeren »Silence«Forschern festzuhalten, dass andere Prätexte für die Genese des »Roman de Silence« eine ebenso wichtige Rolle spielen: Roche-Mahdi verweist in diesem Zusammenhang etwa auf den »Roman d’Eneas« oder den »Roman des sept Sages de Rome«.9 6 Vgl. insgesamt Paton [Anm. 4], insbes. S. 247f.; Lecoy (Lecoy, Félix: »Le Roman de Silence« d’Heldris de Cornualle. In: Romania 99 [1978], S. 109–125, hier insbes. S. 109–112) und Gelzer (Gelzer, Heinrich: Der Silenceroman von Heldris de Cornualle. In: ZfrPh 47 [1927], S. 87–99, hier S. 97f.) halten eher X für die Vorlage des »Roman de Silence«. Zur Diskussion um die Quelle vgl. zusammenfassend Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. XIIf. 7 Das Element der Elternvorgeschichte ist beispielsweise aus dem Tristan- und Gregoriusstoff bekannt; die jongleurs-Episode wird von Dahmen (Dahmen, Lynne: The »Roman de Silence« and the Narrative Traditions of the Thirteenth Century. Diss. masch. Indiana University 2000, S. 97f.) auf den »Tristan«, von Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. XVII, und von Psaki [Anm. 1], S. XXXV, auf die Chantefable »Aucassin et Nicolete« zurückgeführt. Zum Motiv der Brieffälschung bzw. des ausgetauschten Briefes vgl. Merceron, Jacques: Le message et sa fiction. La communication par messager dans la littérature française des XIIe et XIIIe siècles. Berkeley u. a. 1998 (Modern Philology 128). Siehe hier insbes. Kap. XI: Falsifications et médiations problématiques du message écrit, S. 155–169. Heldris kombiniere zwei typische Motivausprägungen – den ersetzten Brief (wie im Mädchen ohne Hände-Stoff) und den UriasBrief (S. 161). 8 Zur Unsicherheit der Datierung vgl. bereits Thorpe [Anm. 1], S. 16f. Auch die neuere Forschung schwankt immer noch zwischen einer Einordnung des Textes in die erste oder zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts, ohne dass sich ein Konsens abzeichnen würde. Eine knappe Übersicht über die Diskussion und die vorgebrachten Argumente bietet Keene, Katie: »Cherchez Eufeme«: The Evil Queen in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 14:3 (2004), S. 3– 22, hier S. 10f. 9 Roche-Mahdi: Silence, S. XII; siehe überdies S. XIII–XVII. Vgl. ähnlich auch Dahmen, die der Schlussepisode auf Grundlage dieses Befundes eine spezifische Bedeutung als Heldris’ Startpunkt für die Arbeit am »Roman de Silence« nicht zuerkennen möchte: »the Grisandole episode served as one source among many« (Dahmen [Anm. 7], S. 90. Kritisch anzufügen bleibt, dass nicht alle der angeführten Quellen-Identifizierungen gleichermaßen zu überzeugen vermögen. Ebenso wie andere »Silence«-Forscher lässt Roche-Mahdi in ihrer Aufzählung in Teilen eine präzise Trennung zwischen stofflichen bzw. motivlichen Parallelen ohne einen

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Zugleich betont die jüngere Forscher-Generation, dass sich die Bedeutung der Quellentexte nicht allein darauf beschränkt, als ›Bausteine‹ der histoire zur Entwicklung des Romans beigetragen zu haben. Da Heldris nicht als Wiedererzähler die Neufassung eines bestimmten Stoffes schafft und damit ältere, womöglich anderssprachige Versionen dieses Stoffes überschreibt, sondern als inventor Elemente verschiedenster Stoffe und konkreter Vorlagen miteinander kombiniert, bleibt sein Text potenziell auf seine Quellen hin durchsichtig. Die aus den Vorlagen übernommenen Elemente können so (abhängig von der Art ihrer Inserierung) Ansatzstellen für Verweise auf die herangezogenen Prätexte bilden. Mit seinen multiplen Quellen präsentiert sich der »Roman de Silence« mithin als Schnittpunkt eines verdichteten, in ihm eng geführten Geflechts potenzieller intertextueller Beziehungen.10 Nur am Rande sei vermerkt, dass der Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit den Prätextbezügen mit einer neuen Sicht auf den Roman als Ganzes einhergeht. Die »Silence« als Mittelpunkt eines intertextuellen Diskursraumes zu verstehen, setzt schließlich immer schon voraus, sie als komplexes Textgefüge wahrzunehmen und ihrem Autor wenigstens ein gewisses Maß an literarischer Raffinesse zuzuerkennen.11 Letztlich entscheidender für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman ist allerdings, dass die Neuperspektivierung der Quellen den Blick auf ihren eigentlichen Funktionsrahmen schärft. Sie sind als literarischer Dialogpartner des auf sie anspielenden Textes stets wesentlich in den Prozess seiner Sinnkonstitution eingebunden, weil sie ihn als narrative Folie hinterfangen und semantisch auffüllen.12 Dies macht gleichzeitig deutlich, dass der mit Prätextverweisen operierende Text implizit direkten Bezug zu etwaigen Vorgängertexten und bewussten Übernahmen eines konkreten Modells vermissen. Dass sie die Quellenfrage unter der vagen Überschrift »Major Sources and Analogues« verhandelt, ist insofern durchaus signifikant (Roche-Mahdi: Silence, S. XII). 10 Die vermuteten intertextuellen Beziehungen sind der Ausgangspunkt für Roche-Mahdis (Roche-Mahdi: Merlin [Anm. 1]) und Dahmens (Dahmen [Anm. 7]) Interpretationen des »Roman de Silence«. Zum Konzept der Intertextualität allgemein vgl.: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. v. Broich, Ulrich u. Pfister, Manfred unter Mitarbeit von Schulte-Middelich, Bernd. Tübingen 1982; Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Frz. v. Bayer, Wolfram u. Hornig, Dieter. Frankfurt a. M. 1993 (Original: 1982) (edition suhrkamp 1683/N. F. 683/Aesthetica), insbes. S. 9–21. Speziell zur Intertextualität in mittelalterlichen Texten vgl. Draesner, Ulrike: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs »Parzival«. Frankfurt a. M. 1993 (Mikrokosmos 36), insbes. S. 13–68. Speziell zum Paradigmenwechsel von der Einfluss- zur Intertextualitätsforschung siehe ebd., S. 29–31. 11 Explizit wird dies vor allem bei Roche-Mahdi. Sie vergleicht Heldris’ intertextuelle Verweistechnik mit derjenigen Chrétiens oder Jeans de Meun. Vgl. Roche-Mahdi: Merlin [Anm. 1], S. 7. Zur Komplexität von intertextuellen Verfahrensweisen siehe überdies Draesner [Anm. 10], S. 21f. 12 Vgl. Roche-Mahdi: Merlin [Anm. 1], S. 7; siehe aus allgemeiner Perspektive zudem Draesner [Anm. 10], S. 14f. und 24.

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eine spezifische Erwartungshaltung gegenüber dem Zielpublikum (und mittelbar auch gegenüber den modernen Interpreten) formuliert: Zwar muss – wie Draesner am Beispiel des »Parzival« zeigen konnte – die individuelle Rezeption nicht notwendig scheitern, wenn die Anspielungen nicht oder nur partiell aufgelöst werden, die erfolgreiche Decodierung der Referenzen erweist sich aber als Vorbedingung für ein alle Bedeutungsebenen erfassendes und in diesem Sinn angemessenes Verständnis. Dies gilt selbstverständlich ebenfalls für den »Roman de Silence«.13 Ziel dieses Beitrags ist es, das semantische Potenzial der intertextuellen Verweise näher zu untersuchen. Dies kann auch insofern dazu beitragen, eine der Lücken der »Silence«-Forschung zu schließen, als Studien zur Materialität des Textes immer noch ein Desiderat sind.14 Die bereits diskutierte Vielzahl der möglichen intertextuellen Bezugnahmen macht dabei ein exemplarisches Vorgehen unumgänglich, so dass sich der Beitrag im Folgenden auf eine Analyse der »Tristan«-Reminiszenzen beschränken wird. Der Tristanstoff zählt zu denjenigen Quellen und Paralleltexten, deren Bedeutung für den »Roman de Silence« Roche-Mahdi im Vorwort ihrer Edition eigens hervorhebt: »Alain de Lille is everywhere, as is the matter of Tristan«. Auf eine genauere Erörterung des Befundes verzichtet sie aber, so dass letztlich offen bleibt, für welche Partien der »Silence« sie Ähnlichkeiten zum Tristanstoff annimmt und welche Funktion sie den »Tristan«-Referenzen zuschreibt.15

Der Tristanstoff als narrative Folie des »Roman de Silence« Dass Heldris de Cornouaille grundsätzlich mit Erzählungen über die unglückliche Liebe zwischen Tristan und Isolt vertraut gewesen ist, wird in der »Silence«Forschung in der Regel nicht bezweifelt. Heldris spielt schließlich direkt auf den Stoff an, wenn er die Liebe der Königin Eufeme zu dem vermeintlichen Jüngling Silence in ihrer Intensität mit derjenigen des berühmten Paares vergleicht und

13 Draesner [Anm. 10], S. 58–60. Siehe auch Roche-Mahdi: Merlin [Anm. 1], S. 7. Der Autor rechne damit, dass die Bezugnahmen erkannt und decodiert werden: »Similarly, the Silence poet delights in turning and twisting a word, in lifting a phrase, passage, motif, plot from its context, reversing, expanding or purposefully suppressing it, and expects the reader to react«. 14 Dahmen weist in ihrem Literaturbericht ausdrücklich darauf hin, dass es nur wenige komparatistische Studien gebe (Dahmen [Anm. 7], S. 15). Es fehlen also vor allem solche Beiträge, die den Forschungsbefund der Quellenvielfalt des »Roman de Silence« zum Ausgangspunkt für ihre Interpretation machen und danach fragen, wie und zu welchem Zweck Heldris diese Quellen nutzt. 15 Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. XII. Allerdings wird dieser Befund von ihr in der Einleitung nicht weiter diskutiert.

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Eufemes durch die Liebe ausgelöstes Leid (angoisse) als größer als dasjenige ihres literarischen Vorbilds darstellt:16 Car onques Tristrans por Izelt, Ne dame Izeuls por dant Tristran N’ot tele angoisse ne ahan Com eult Eufeme la roïne Por le vallet ki ert meschine (V. 3700–3704). Tristan never suffered / such anguished yearning for Isolde / nor Lady Isolde for Lord Tristan / as did Queen Eufeme / for this young man who was a girl.

Mit seiner konventionellen Bezugnahme auf die sprichwörtlich leidvolle Tristanliebe mutet der Vergleich allerdings zunächst wenig spektakulär an. Es überrascht daher nicht, dass die ältere Forschung kein interpretatorisches Kapital aus ihm geschlagen hat.17 Tatsächlich kann sich die interpretatorische Relevanz des Vergleichs immer erst dann vollständig zeigen, wenn man ihn nicht als separaten Hinweis auf den Tristanstoff liest, sondern als einzelnes Glied einer ganzen Kette von »Tristan«-Analogien, die sich – folgt man den Beobachtungen der jüngeren Forschung – über den gesamten »Roman de Silence« erstrecken, insbesondere aber die Elternvorgeschichte prägen.18 Am detailliertesten fasst 16 Vgl. etwa Dahmen [Anm. 7], S. 95. Anders hingegen Thorpe: Zwar verweist er auf diese Anspielung und zitiert sie als Beispiel für Passagen, die die literarische Bildung des Autors verifizieren könnten. Bezüglich ihrer Aussagekraft ist er aber unsicher: Die Konventionalität der Anspielung beeinträchtige ihren Beweiswert (Thorpe [Anm. 1], S. 14f.). Hier und im Folgenden verwende ich in Bezug auf den Tristanstoff und konkrete französische Romanfassungen die normalisierten französischen Namensformen Tristan, Isolt, Marke, Blancheflor und Rivalen. Für die zu Vergleichszwecken herangezogene deutsche Fassung und die Saga-Version verwende ich demgegenüber die ihnen eigentümlichen Benennungen der Figuren. 17 Dies wird gerade in Thorpes in der obigen Anm. 16 referierten Argumentation deutlich: Thorpe [Anm. 1], S. 15, beurteilt die Anspielung als unspezifisch und misst ihr in der Folge keine weitere Relevanz zu. In seiner Diskussion der Quellen (vgl. ebd., S. 27–35) wird der Tristanstoff nicht erwähnt. 18 Die Parallelen zum Tristanstoff sind bereits in Veröffentlichungen der 1980er Jahre ein Thema, doch nimmt die Auseinandersetzung mit ihnen seit Mitte der 1990er Jahre zu. Die »Tristan«-Parallelen stehen dabei jedoch nicht immer im Fokus der hier erwähnten Beiträge, sondern werden oftmals eher nebenbei erwähnt. Hinweise und Interpretationsansätze finden sich bei Doggett, Laine E.: Love Cures. Healing and Love Magic in Old French Romance. University Park 2009 (Penn State Romance Studies), hier insbes. Kap. 5: Love and Medicine in the »Roman de Silence«, S. 178–220 (Motivübernahmen, Parallelen zwischen Eufemie und Isolt sowie Tristan und Silence, Übernahme von Leitwörtern); Keene [Anm. 8], S. 4 (Parallelen zwischen Eufeme und Isolt); Kinoshita, Sharon: Male-Order Brides: Marriage, Patriarchy, and Monarchy in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 64–75, hier S. 66 (Übernahmen von Erzählmustern und Figurenkonstellationen); Dahmen [Anm. 7], insbes. S. 93–98 (Übernahmen von Erzählmustern und Figurenkonstellationen); Stock, Lorraine Kochanske: The Importance of Being Gender ›Stable‹: Masculinity and Feminine Empowerment in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 7–34, hier S. 9 (Mo-

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Lynne Dahmen den Befund zusammen. Sie nimmt an, dass Heldris die tristansche Dreieckskonstellation Marke – Isolt – Tristan zweimal variierend adaptiert: ein erstes Mal in der Elternvorgeschichte, wobei die Isolt-Position mit Eufeme und Eufemie freilich doppelt besetzt ist, so dass Ebain und sein Neffe Cador keine Rivalen werden; ein zweites Mal in dem letztlich nicht realisierten Liebesdreieck Ebain – Eufeme – Silence. Dem Tristanstoff entlehnt sind dabei neben der grundsätzlichen Figurenkonstellation sowohl Figurenprofile als auch Handlungsmuster, da Heldris (Teil-)Aspekte der narrativen Vita seiner Modelle auf das eigene fiktive Personal überträgt. So ist der englische König Ebain, wie Marke, ein schwacher, auf die Kampfkraft seines Neffen angewiesener König; die norwegische Prinzessin Eufeme kommt, wie Isolt, übers Meer und aus einem mit England verfeindeten Reich; Cador tötet, wie Tristan, einen Drachen und wird dabei durch dessen giftigen Atem verletzt; Eufemie ist, wie Isolt, heilkundig und Silence, die im Hauptteil des Romans die Tristan-Rolle anstelle ihres Vaters Cador ausfüllt, ist in ihrer Männerverkleidung ein idealer Höfling, Ritter und Spielmann und gleicht hierin ihrem literarischen Vorbild.19 Der »Tristan«-Verweis übernimmt in diesem Szenario eine wichtige Funktion. Als »most explicit«20 der von der Forschung bislang zusammengetragenen Referenzen auf den Tristanstoff fungiert er als intertextueller Marker und sichert auf diese Weise die Erkennbarkeit und Rückführbarkeit der überwiegend implizit bleibenden Anspielungen auf den zugrundeliegenden Prätext. Paradoxerweise ist der Signalwert der »Tristan«-Allusion dennoch in zweifacher Weise minimiert. Zum einen bildet sie nur den ersten Teil eines in seiner Gesamtheit zweigliedrigen

tivübernahmen in der Elternvorgeschichte); Kinoshita, Sharon: Heldris de Cornuälle’s »Roman de Silence« and the Feudal Politics of Lineage. In: PMLA 110 (1995), S. 397–409, insbes. S. 389f. und 404 (Übernahmen von Erzählmustern und Figurenkonstellationen); Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. XII und 323f. (motivliche Parallelen und intertextuelle Verweise); Lloyd, Heather: The Triumph of Pragmatism – Reward and Punishment in »Le Roman de Silence«. In: Rewards and Punishments in the Arthurian Romances and Lyric Poetry of Medieval France: Essays Presented to Kenneth Varty on the Occasion of his Sixtieth Birthday. Hg. v. Davies, Peter V. u. Kennedy, Angus J. Cambridge 1987 (Arthurian Studies 17), S. 77–88, hier S. 78 (Motivübernahmen in der Elternvorgeschichte); Brahney, Kathleen J.: When Silence Was Golden: Female Personae in the »Roman de Silence«. In: The Spirit of the Court: Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society (Toronto, 1983). Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Taylor, Robert A. Cambridge 1985, S. 52–61, hier S. 55, Anm. 11 (Motivübernahmen in der Elternvorgeschichte). Vgl. überdies den Beitrag von Cordula Kropik in diesem Band. 19 Dahmen [Anm. 7], S. 93–98. Speziell zu den Ähnlichkeiten zwischen Silence und Tristan vgl. den Aufsatz von Kropik in diesem Band: Sie liest die gesamte Jugenderzählung des »Roman de Silence« als Spiegel der Heldenjugend Tristans. Siehe auch Kinoshita: Male-Order Brides [Anm. 18], S. 66, die allerdings nur in einer Nebenbemerkung eine Parallele zwischen Tristan und Silence aufgrund der Verkleidung als Sänger konstatiert. 20 Dahmen [Anm. 7], S. 95.

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Vergleichs, dessen zweiter Teil Silences weiteres Los mit demjenigen des durch Potiphars Frau verleumdeten Josef (Gn 39, 7–20) parallelisiert:21 N’onques Jozeph, ki fu prisons Rois Pharaöns, si le lisons, N’ot tele angoisse ne tel mal Par la mollier al senescal, Comme ut icis par la roïne. Si l’orés, ains que l’uevre fine. (V. 3705–3710) [N]or did Joseph, who was imprisoned / by King Pharaoh, as the story goes, / suffer such trials and tribulations / at the hands of the captain’s wife / as did Silence because of the queen. / You shall hear all about it before the end of this work.

Für ein Verständnis des »Roman de Silence« scheint der Josef-Vergleich auf den ersten Blick erheblich mehr beizutragen als die »Tristan«-Reminiszenz, nutzt Heldris die Anspielung auf die biblische Geschichte doch nicht nur, um Silences zukünftiges Leid (angoisse, mal) zu quantifizieren und damit für das Publikum nachvollziehbar zu machen, sondern ebenso als Vorausdeutung für das nachfolgende Geschehen. Mit dem scheiternden Verführungsversuch und dem daraufhin erhobenen Vergewaltigungsvorwurf folgt er genauestens den Handlungsvorgaben der Josef-Geschichte.22 Zum anderen kommt der »Tristan«Vergleich, wenn man ihn wirklich als einzigen direkten Hinweis auf den herangezogenen Stoff zu verstehen hat, relativ spät.23 Die »Tristan«-Analogien der Elternvorgeschichte werden auf diese Weise für die Rezipienten immer erst nachträglich als solche verifiziert und können daher – gerade weil einzelne der fraglichen Motive und Handlungsmuster in der zeitgenössischen Literatur auch außerhalb des »Tristan« zu finden sind24 – gegebenenfalls anders aufgelöst 21 Beide Vergleiche sind dadurch verbunden, dass sie dazu dienen, das Leid der Figuren Eufeme und Silence herauszustellen: Eufeme leidet an der Liebe, Silence wird durch die Verfolgung durch die Königin leiden. Der Hinweis auf Tristan und Isolt bzw. auf Josef hat den Zweck, diese Leiderfahrung zu quantifizieren. Zu diesem Vergleich siehe auch Dahmen [Anm. 7], S. 95–97. Sie betont, dass das Leiden von Eufeme und Silence durch den zweigliedrigen Vergleich kontrastiert werde (S. 95). 22 Vgl. ebd., S. 97. Grundsätzlich bleibt anzumerken, dass die Einschätzung der vorausdeutenden Funktion der Vergleiche auch abhängig davon ist, wie man die Interpunktion interpretiert. Die Vorausdeutung im letzten Vers des zitierten Abschnitts könnte sich womöglich als abschließende Bemerkung auf beide Vergleiche beziehen. Dahmen jedenfalls sieht eine vorausdeutende Kapazität auch bei der »Tristan«-Anspielung (ebd.). 23 Bezogen auf diese Funktion ist der Vergleich freilich zunächst einmal nicht ungeschickt platziert, da hier die beiden Dreieckskonstellationen miteinander verzahnt werden und Silence in die Tristan-Rolle schlüpft (vgl. Dahmen [Anm. 7], S. 95–98). Heldris hat den Vergleich also genau an der Scharnierstelle positioniert, an der der Verweis sowohl als rückwärts gerichtete Verifizierung als auch als Vorausdeutung gelesen werden kann. 24 So benennt Gelzer [Anm. 6] zwar richtigerweise den »Drachenkampf […] sowie [die] Heilung des kranken Siegers durch die Geliebte« als zentrale Elemente der Vorgeschichte

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werden. Selbst die Befürworter der These, dass Heldris den »Tristan« rezipiert, sind uneinig in ihrer Einschätzung darüber, wie weit der Einfluss des Stoffes reicht und welche Elemente als tristanscher Import angesehen werden sollten. Roche-Mahdi beispielsweise betont einerseits die Omnipräsenz des Stoffes im »Roman de Silence«, führt aber andererseits für einen Teil der zur Diskussion stehenden Episoden andere Quellen als den »Tristan« an: etwa die Chantefable »Aucassin et Nicolete«, deren Darstellung der getarnt als fahrender Sänger reisenden Nicolete sie als »closest parallel« zu Silences Spielmann-Verkleidung beurteilt,25 oder die Flualis-Episode der »Estoire Merlin«, deren Schilderung eines den König Flualis und seine Frau angreifenden Drachen sie als Vorlage für die Drachenkampf-Episode der Elternvorgeschichte in Erwägung zieht.26 Diese, wenn man so will, geringe Strahlkraft des Markers als Argument gegen die »Tristan«-These funktionalisieren zu können, setzt allerdings voraus, dass es sich bei dem »Tristan«-Vergleich tatsächlich um den einzigen direkten Hinweis auf den Tristanstoff und damit um die einzige explizite Markierung für den Status des »Tristan« als Prätext für den »Roman de Silence« handelt. Gerade dies ist aber zu bezweifeln. Immerhin merkt Roche-Mahdi bereits im Kommentar zu ihrer Textausgabe an, dass im Liebesgeständnis der Elternvorgeschichte mit seinem Wortspiel um die drei Homonyme amis – haymmi – a mi (V. 882–900) eine konkrete Bezugnahme auf den thomasschen »Tristan« auszumachen sei, genauer: auf das berühmte Liebesgeständnis zwischen Tristan und Isolt. »The belabored punning«, so postuliert sie, »is a parody of the famous mer/amer/amor of Thomas de Bretagne’s Tristan«.27 Diese These ist auch deswegen beachtenswert, weil Roche-Mahdi hier nicht mehr den Tristanstoff in seiner Gesamtheit, sondern einen bestimmten Vertreter des Stoffes als Quelle des »Roman de Silence« benennt. Dass sie selbst ihre Entdeckung nicht weiter verfolgt und beispielsweise nicht fragt, ob mit der Strukturimitation des Wortspiels die Inserierung von Zitatwörtern einhergeht, mag primär der Entstehungszeit ihrer Ausgabe geschuldet sein: 1992, als Roche-Mahdi ihre Vermutung äußert, fehlt mit dem 1994 entdeckten und 1995 erstmals publizierten Carlisle-Fragment

(S. 94), führt diese aber nicht auf den »Tristan« oder eine andere konkrete Vorlage zurück, sondern deutet die »Tristan«-Analogien als »Verwertung beliebter zeitgenössischer Motive« (ebd.). Ähnlich auch Dahmen [Anm. 7], S. 68. 25 Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. XII und S. XVII (Zitat); ebenso: Psaki [Anm. 1], S. XXXV. 26 Roche-Mahdi: Merlin [Anm. 1], S. 8f. 27 Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. 323. Unklar ist an dieser Stelle die Semantik von »parody«. Falls Roche-Mahdi Heldris’ Imitation des tristanschen Liebesgeständnisses im Liebesdialog von Cador und Eufemie so bezeichnet, um eine satirische Bezugnahme auf das Original zu unterstellen (was im Englischen vom Bedeutungsrahmen möglich wäre), schiene mir diese Aussage das Verhältnis zwischen Vorlage und Reprodukt allerdings nicht zu treffen.

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schließlich noch die Grundlage für einen Vergleich.28 Doch dass in der Folge keiner der Befürworter der »Tristan«-These ihre Beobachtung aufgreift oder zumindest erwähnt, erscheint kaum nachvollziehbar, zumal die meisten Veröffentlichungen, die die »Tristan«-Ähnlichkeit des »Roman de Silence« hervorheben, sowohl deutlich nach 1995 erschienen sind als auch Roche-Mahdis Edition nutzen. Ihre hier formulierte Einschätzung des Liebesgeständnisses hätte also immer eine Auseinandersetzung anregen können.29 Besonders unverständlich bleibt diese Zurückhaltung im Fall Dahmens, weil sie der von ihr angenommenen engen Bindung zwischen Tristanstoff und »Roman de Silence« sonst im Detail nachspürt. Dahmen negiert freilich nicht allein die Möglichkeit einer intertextuellen Beziehung zwischen den beiden Liebesgeständnissen, sie erteilt vielmehr jeglichen Spekulationen, dass Heldris mithilfe von Zitaten oder zitatnahen Formulierungen auf eine bestimmte Textfassung anspielen könnte, eine klare Absage. In ihrem Fazit kommt sie insgesamt zu dem Schluss, dass es überhaupt kein Anzeichen dafür gebe, dass Heldris eine konkrete Version des »Tristan« benutzt habe: Clearly, Heldris assumes his audience is familiar with the various legends associated with Tristan and Iseult, even if he did not rely on any one written source. There is no evidence that he worked from a written version, which leads me to believe he drew on previous knowledge and general sources available to him.30

Damit verneint sie nicht nur, dass Heldris den Tristanstoff in einer identifizierbaren, heute zumindest noch fragmentarisch überlieferten Fassung kannte; sie geht zudem davon aus, dass es keine weiteren direkten intertextuellen Markierungen vor der Anspielung im Zusammenhang mit Eufemes Verführungsversuchen gibt. Hier soll mein Beitrag ansetzen, indem er im Folgenden ausgehend von Roche-Mahdis Beobachtung fragen wird, ob und wie Cadors und Eufemies 28 Eine erste Edition des Textes bietet: Benskin, Michael u. a.: Un nouveau fragment du »Tristan« de Thomas. In: Romania 113 (1995), S. 289–319. Zur Auffindungsgeschichte vgl. ebd., S. 291, Anm. 5, sowie Zotz, Nicola: Programmatische Vieldeutigkeit und verschlüsselte Eindeutigkeit. Das Liebesbekenntnis bei Thomas und Gottfried von Straßburg (mit einer neuen Übersetzung des Carlisle-Fragments). In: GRM N. F. 50 (2000), S. 1–19, hier S. 1. 29 Vgl. die in Anm. 18 genannte Literatur. Einzig der Beitrag von Lloyd [Anm. 18] ist älter als Roche-Mahdis Edition, argumentiert also ohne die Kenntnis ihrer Thesen. Das Dilemma der Forschungsdiskussion zeigt sich gut bei Kinoshita: Feudal Politics [Anm. 18], S. 399 und 407, Anm. 10. Sie verweist zwar ausdrücklich auf die Nähe zwischen der Elternvorgeschichte und dem »Tristan«, geht aber paradoxerweise dennoch davon aus, dass die Darstellung der Entwicklung der Liebe und das Liebesgeständnis durch den »Cligés« beeinflusst sind, der ja seinerseits Elemente des thomasschen »Tristan« aufgreift (etwa das lamer-Wortspiel). Die Parallelen zwischen »Cligés« und »Silence« sind also wahrscheinlich eher sekundär, weil beide vom »Tristan« abhängig sind. 30 Dahmen [Anm. 7], S. 98.

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Liebesgeständnis im Zusammenhang mit dem Carlisle-Fragment steht und was dies für den »Roman de Silence« bedeutet.

Cadors und Eufemies Liebesgeständnis und das Carlisle-Fragment Das Liebesgeständnis zwischen Cador und Eufemie bildet den Kulminationspunkt eines vergleichsweise umständlich in Szene gesetzten Annäherungsprozesses, dessen Ausgestaltung ein Großteil der Elternvorgeschichte gewidmet ist. Cador und Eufemie lieben einander schon vor Einsetzen der Handlung, doch wagen sie nicht, einander ihre Gefühle zu gestehen. Dass der je andere diese erwidert, bleibt ihnen so verborgen (V. 395–407). Das doppelte Versprechen des Königs, beiden ihren Wunschpartner als Ehemann bzw. Ehefrau zu garantieren (V. 378–388 und 599–610), das als natürliche Lösung für diese Problematik hätte fungieren können, wirkt in der Situation überraschenderweise nicht unmittelbar als Katalysator für die Eheanbahnung.31 Cador und Eufemie kommen vielmehr unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass der erhoffte Partner freiwillig der Verbindung zustimmen und seinen Konsens signalisieren müsse, bevor sie die Initiative ergreifen und die Einlösung des Versprechens fordern können. Ansonsten hätte die Verbindung, wie vor allem Cador ausführlich reflektiert, den Charakter einer lediglich durch das königliche Gebot gestifteten Zwangsheirat, der Eufemie in seinen Augen niemals zustimmen würde:32 Rover al roi? Ainme donc si? La u se siet dejoste li, Pense en son cuer que par halsage Ne venra ja a mariäge; Mais s’il s’aperçoit qu’el l’ait chier, Et que son cuer n’ait viers lui fier, Et que l’amor i quist trover, Dont le volra al roi rover. (V. 563–570) Ask her of the king? Is this how he loves her? / There, seated beside her, / he thought in his heart that such haughty behavior / would never persuade her to marry him. / But if he perceives that she likes him, / and that her heart is not proud toward him, / and that he might find love in there, / he will ask her of the king.

Dem Liebesgeständnis kommt in dieser Konzeption eine hohe Bedeutung zu, weil nur das offene Gespräch die Gegenseitigkeit der Gefühle zweifelsfrei zu verifizieren vermag. Für die Figuren ist es aber sehr schwer, ihre Ängste zu überwinden und in den Kommunikationsprozess einzutreten. Als entscheiden31 Lloyd [Anm. 18], S. 78. 32 Kinoshita: Feudal Politics [Anm. 18], S. 398f. Vgl. für Eufemie: V. 804–808.

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der Faktor erweist sich hier die körperliche Nähe, die sich dadurch ergibt, dass Eufemie als kundige Ärztin die Pflege des durch den Drachenatem erkrankten Cador übernimmt (V. 593–629). Durch die fast täglichen Besuche steigert sich die situationsadäquat als Krankheit metaphorisierte Liebe beider Figuren in einem Maß (V. 626–838), dass Eufemie sie schließlich nicht mehr unterdrücken kann. Unentwegt ihr verräterisches Herz (Fel cuers; V. 847) tadelnd und zweimal in Ohnmacht fallend (.ii. fois se pasme en un tenant; V. 867), schleicht sie sich in Cadors Krankenzimmer und spricht ihn an: »Amis, parlés, haymmi!« Dire li dut: »Parlés a moi,« Mais l’Amors li fist tel anoi Que dire dut: »Parlés a mi,« Se li a dit: »Parlés, haymmi!« »Parlés a mi« dire li dut, Mais »haymmi!« sor le cuer li jut. (V. 882–888) »Ami, speak, ah me!« / She should have said, »Speak to me,« / but Love has tricked her: / she should have said, »Speak to me,« / but she says, »Speak, ah me.« / »Speak to me,« she should have said, / but »ah me!« is in her heart.

Eufemie initiiert damit einen längeren, mit Erzählerberichten durchsetzten Dialog (V. 882–1154), in dessen Verlauf die Protagonisten sowohl die Symptome ihres von ihnen zunächst rein körperlich verstandenen Unwohlseins als auch die beiden Blankoversprechen des Königs diskutieren (V. 937–1038). Dabei markiert die Einsicht, nicht an einer Krankheit, sondern an der Liebe (amors; V. 1048) zu leiden, den entscheidenden Erkenntnisschritt, der es Cador und Eufemie in der Folge ermöglicht, sich als Liebende und ihr Gegenüber als Objekt ihrer Liebe zu offenbaren (V. 1071–1089). Der Dialog endet mit einem ausführlich geschilderten Kuss (V. 1090–1144) und der Versicherung der Figuren, amis bzw. amie des je anderen zu sein:33 Il l’aparole, ele respont, Et lor error illuec deffunt. »Amie, jo sui vostre amis. […].« »Amis, cho saciés vos sans falle, Qu’ai[n]si sui jo l[a] vostre amie« (V. 1145–1151).

33 Die Übersetzung des V. 1151 habe ich stärker an den tatsächlichen Wortlaut angepasst, als Roche-Mahdi es in ihrer Übertragung tut. Sie übersetzt den Vers mit ›that I love you truly‹ (vgl. Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. 55). Aufgenommen habe ich zudem die Benennungen amie bzw. amis, um die Wiederholungsstruktur anzuzeigen.

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He spoke to her, and she replied, / and any misunderstandings vanished on the spot. / »Beloved/amie, I am your lover/amis. / […].« / »Beloved/amis, I want you to know / [that I am your lover/amie]«.

Schon dieser äußerst kursorische Überblick macht deutlich, dass der Liebesdialog des »Roman de Silence« wesentlich vom Gesprächsverlauf des CarlisleFragments abweicht.34 Im thomasschen »Tristan« nutzt Isolt den Gleichklang von lamer (›die Liebe‹), lamer (›das Meer‹) und lamer (›das Bittere‹) geschickt aus, um ihre Liebe in verklausulierter Form offenzulegen. Tristan wiederum zeigt seine Ebenbürtigkeit, indem er das Wortspiel entschlüsselt und seine Antwort dann selbst nach dessen Vorgaben verrätselt. In diesem Prozess wird gleichzeitig sichtbar, dass Thomas keine einsinnige Lösung für das Wortspiel vorsieht (lamer = ›die Liebe‹), dass er die Bedeutungen der drei Homonyme stattdessen immer stärker miteinander verschmelzen lässt. Isolt und später auch Tristan können so ihre gesamte Situation in dem einen Wort lamer engführen, indem sie sich als liebend beschreiben, das Leid der Liebe betonen und das Meer als Ort kennzeichnen, an dem die Liebe begann:35 L’anguisse mon quer amer fait, Si ne sent pas le mal amer; Ne il ne revient pas de la mer; Mes d’amer ay ceste dolur; E en la mer m’est pris l’amur. (Thomas, Car, V. 66–70) Mein Übel ist dem Euren gleich, / die Qual macht mein Herz amer, / und doch empfinde ich mein Leid nicht als amer, / und es kommt nicht von la mer, / sondern der Schmerz kommt von amer. / Und es geschah auf dem Meer, daß mich die Liebe ergriffen hat.

Wichtig für Thomas’ Konzeption sind demzufolge vor allem drei Punkte: Das Wortspiel ist bewusst kreiert und strategisch eingesetzt, seine Auflösung ist das zentrale Thema des Dialogs und die Lösung selbst erweist die Gleichwertigkeit und Untrennbarkeit der drei Homonyme. All das ist im »Roman de Silence« verändert, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt. Zunächst einmal ist es gar nicht Eufemies Absicht, das lange herausge34 Den Text des Thomas einschließlich des Carlisle-Fragments sowie Gottfrieds später vergleichend herangezogenen »Tristan« zitiere ich nach der folgenden Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hg. v. Haug, Walter u. Scholz, Manfred Günter. Mit dem Text des Thomas, hg., übers. und komm. v. Haug, Walter, Berlin 2011, 2 Bde. (Bibliothek des Mittelalters 10 u. 11). Als Sigle verwende ich dabei den Namen des jeweiligen Autors (Thomas bzw. Gottfried). Zitate aus dem Carlisle-Fragment sind – wie in der verwendeten Edition – zusätzlich mit dem Kürzel ›Car‹ versehen, da das Fragment nicht in die Gesamtzählung des Thomas-Textes integriert ist. Vgl. für den Liebesdialog: Thomas, Car, V. 1–77. Ich übernehme auch die Übersetzungen dieser Ausgabe, die noch in alter Rechtschreibung gehalten sind. 35 Meine obige Kurzinterpretation folgt der Interpretation des Carlisle-Fragments durch Zotz [Anm. 28].

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schobene klärende Gespräch durch eine Verrätselung ihrer Aussage zusätzlich zu erschweren. Allein ihr Liebesschmerz verursacht das Eindringen des Wehlauts haymmi in die eigentlich ohne Hintersinn formulierte Aufforderung an Cador, ein Gespräch zu beginnen. »Parlés, haymmi« (›»Speak, ah me‹«; V. 886) ersetzt so die eigentliche geplante Anrede »Parlés a mi« (›»Speak to me‹«; V. 885). Dass auf der Textoberfläche der Eindruck eines Spiels mit den Homonymen entsteht, ist lediglich der mehrfach wiederholten Erklärung dieser unwillkürlichen Substitution durch den Erzähler geschuldet. Er kreiert damit gewissermaßen künstlich den Eindruck einer virtuosen Auswechslung phonetisch (fast) äquivalenter Wörter durch die Protagonistin, weil er die intendierte Äußerung – ebenso wie die tatsächlich gewählte Formulierung – als direkte Rede formuliert (vgl. V. 882– 892). Für die Figuren der Erzählwelt zugänglich ist allerdings ausschließlich der in V. 882 wiedergegebene Satz »Amis, parlés, haymmi!« (›»Ami, speak, ah me!«‹). Anders als im »Tristan« spielt die Dreigliedrigkeit des Wortspiels deswegen für seine Ausdeutung keine Rolle. Cador konzentriert sich in seiner Reflexion einzig auf die Anrede amis und den Stoßseufzer haymmi, d. h. die Teile des Wortspiels, die er hören konnte. Beide liest er zunächst wie selbstverständlich als Ausdruck der Liebe (V. 896–907), nur um dann an seiner Interpretation der Anrede zu zweifeln: amis sei semantisch uneindeutig und müsse nicht den Geliebten bezeichnen (Car tels hom est »amis« clamés / Ki de fin cuer n’est pas amés; V. 911f.). Auffällig ist zudem, dass Cador zwar wie Tristan über die Bedeutung des Gehörten nachdenkt, der Dialog aber – abweichend zum »Tristan« – nicht unmittelbar der Klärung dieses Verständnisproblems dient. Erst ganz am Ende schließt sich der Kreis und das Gespräch kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück, wenn Cador und Eufemie ihre gegenseitige Liebe bekennen, indem sie sich als amis und amie des je anderen bezeichnen (V. 1147–1154). Durch die vorangegangene Offenlegung ihrer Gefühle und den ausgetauschten Kuss ist das Wort amis semantisch vereindeutigt; es kann daher die Argumentationslast des Liebesgeständnisses tragen. Mit Blick auf den »Tristan« als möglichem Prätext bleibt so festzuhalten, dass der Eindruck einer rezeptionslenkend eingesetzten Ähnlichkeit beider Liebesdialoge im Wesentlichen durch den ähnlich gestalteten Gesprächsansatz entsteht: Das Fundament für die Unterhaltungen bildet jeweils ein dreigliedriges, auf Homonymen beruhendes Wortspiel.36 Die Signalwirkung beruht also vordringlich auf der formalen Imitation des anzitierten Vorbildes, nicht aber auf inhaltlichen Parallelen, die weder für das Wortspiel selbst noch für den Verlauf der 36 Womöglich soll man auch in der Binnengliederung Übereinstimmungen zwischen dem »Tristan«- und dem »Silence«-Wortspiel entdecken: Beide Texte stellen die Bedeutungen von drei Begriffen gegenüber, von denen sich einer auf die Liebe (l’amer bzw. amis), einer auf den Schmerz (amer bzw. haymmi) und einer auf die konkrete Situation (la mer bzw. a mi) bezieht.

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Wechselreden festzustellen sind. Dies könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass Heldris in seinem Dialog womöglich noch ein zweites Liebesgeständnis des thomasschen »Tristan« anzitiert, nämlich dasjenige von Rivalen und Blancheflor in der Elternvorgeschichte. Eine Beweisführung für diese These ist allerdings nur bedingt möglich, weil die Elternvorgeschichte zu den verlorenen Partien des »Tristan« gehört. Um überhaupt eine Vorstellung über die Handlungsfolge bei Thomas zu gewinnen, hat es sich in solchen Fällen in der Forschung eingebürgert, Gottfrieds mittelhochdeutschen »Tristan« und Bruder Roberts norwegische Saga-Fassung als nächste Repräsentanten des Thomas-Textes zu vergleichen. Übereinstimmende Elemente in beiden Versionen gelten als Eigentum des französischen Autors.37 Geht man auf diese Weise vor, so zeigt sich, dass beide Adaptationen gerade hinsichtlich der Reihenfolge von Liebeserkenntnis und Gesprächssituation, aber auch bezüglich der Darstellung des Liebesleids der Figuren, erheblich voneinander abweichen.38 Gemeinsam ist ihnen freilich, dass Blanscheflur/Blensinbil verschlüsselt über ihre Gefühle spricht. Sie wirft Riwalin/ Kanelangres einen Schaden vor, den er ihr zugefügt habe und verlangt eine Bußleistung. Riwalin/Kanelangres versteht diesen Vorwurf nicht.39 Wenn Blanscheflur/Blensinbil dann das Gespräch enttäuscht beendet, leitet sie ihren Ab37 Bereits Bédiers Rekonstruktionsversuch des Thomas-Textes beruht auf diesem Vorgehen, wobei er neben Bruder Roberts Übertragung noch weitere Versionen des Tristanstoffes vergleichend hinzugezogen hat, wie etwa die auf Thomas zurückgehende englische Fassung des Tristanstoffes (»Sir Tristrem«): Le Roman de Tristan par Thomas. Poème du XIIe siècle. Hg. v. Bédier, Joseph. 2 Bde. Paris 1902 u. 1905. Bédiers Optimismus, den verlorenen Text so zurückgewinnen zu können, wird in der neueren Forschung eher kritisch beurteilt: Im Detail unterscheiden sich die Handlungsverläufe der verschiedenen Fassungen recht stark. Ein solcher Abgleich kann daher immer nur einen ungefähren Eindruck vom thomasschen »Tristan« geben. Siehe zu dieser Problematik zusammenfassend Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 251f. Schwierigkeiten entstehen zumal dann, wenn die Übertragungen des Thomas-Textes voneinander abweichen und Bédier sich für seine Rekonstruktion für eine von ihnen entscheiden musste. Das Carlisle-Fragment widerlegt einige seiner Vermutungen. Vgl. hierzu Benskin u. a. [Anm. 28], S. 316–318. 38 Vgl. zu den Unterschieden Bédier [Anm. 37], Bd. I, S. 11–15; Kölbing, Eugen: Zur Überlieferung der Tristan-Sage. In: Tristrams Saga ok Ìsondar. Mit einer literarhistorischen Einleitung, deutscher Übersetzung und Anmerkungen zum ersten Mal hg. v. Kölbing, Eugen. Heilbronn 1878 (Die nordische und englische Version der Tristan-Sage 1), S. XI–CXLVIII, hier S. XXI–XXIII. Im Folgenden stütze ich mich für Zitate auf diese Ausgabe und kennzeichne sie mit der Sigle ›Saga‹. Ich nutze auch die hier verfügbare Übersetzung. 39 In Gottfrieds Fassung wird der Vorwurf näher erklärt. Blanscheflur beklagt, dass Riwalin einen Freund verletzt habe. Der Erzähler löst ›Freund‹ als metaphorische Bezeichnung für Blanscheflurs Herz auf (Gottfried, V. 745–771). Bruder Robert hingegen beschränkt sich weitestgehend auf die Wiedergabe des Dialogs, ohne dabei die Gedanken der Figuren mitzuteilen (Saga, Cap. VIII, S. 10, Z. 27–S. 11, Z. 10). Lediglich einmal durchbricht die Erzählerstimme die direkte Rede und verweist darauf, dass Blensinbil Kanelangres zurückruft, weil sie fühlt, þvíat hun kendi af hans ást sínn hug ákafliga stefndan (›dass ihr herz gewaltig durch seine liebe beeinflusst sei‹; Saga, Cap. VIII, S. 11, Z. 3). Dass dies der von Blensinbil beklagte Schaden ist, wird nicht weiter expliziert, kann aber von den Rezipienten ergänzt werden.

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schiedsgruß in beiden Versionen mit einem Seufzer ein, der Riwalin/Kanelangres später die Erkenntnis ihrer Liebe ermöglichen wird. So heißt es in der Saga: En mærin andvarpaði af o˛llu hjarta ok mælti til hans: »Guð himneskr verndi yðr ok varðveiti!« Nú ríðr Kanelangres fullr af nýri íhugan, […]. Hann íhugar ok merkir andvarp hennar (Saga, Cap. VIII, S. 11, Z. 10–15). Das mädchen aber seufzte tief auf und sprach zu ihm: »Gott im himmel beschütze und behüte euch!« Nun ritt Kanelangres fort, erfüllt von dem ihm neuen gedanken, […]. Er erwägt dies und denkt an ihren seufzer.

Bei Gottfried liest sich die Szene folgendermaßen: Sus neic er ir und wolte dan, und si diu schœne ersûfte in an vil tougenlîchen unde sprach ûz inneclîchem herzen: »ach, vriunt lieber, got gesegen dich!« dô alêrste huop ez sich mit gedanken under in. (Gottfried, V. 785–791) Er verneigte sich und wollte wegreiten, / doch sie, die Schöne, wandte sich / mit einem sehr leisen Seufzer ihm zu und sagte / herzinniglich: »Ach, lieber Freund, / Gott segne Dich!« / Und das war der Augenblick, von dem an sie begannen, / übereinander nachzusinnen.

Heldris hätte demzufolge wahrscheinlich den Seufzer haymmi und die Idee, dass dieser Wehlaut eine Liebesreflexion anstößt, einem ihm vollständig vorliegenden »Tristan« entnehmen können. Zusätzlich ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass auch die Anrede amis ihren Ursprung in Heldris’ Vorlage hat. Da allerdings nur der gottfriedsche »Tristan« sie aufweist, lassen sich keine sicheren Aussagen darüber treffen, ob sie für den Text des Thomas an dieser Stelle ebenfalls vorauszusetzen ist.40 Die Zusammenschau beider Wiedererzählungen gibt zudem einen möglichen Ansatzpunkt für Heldris’ Überblendung der beiden Liebesgespräche zu erkennen: Schon Thomas hat offenbar beide Redeszenen miteinander verknüpft, indem er sowohl Blancheflor als auch Isolt ihre Liebe in Rätseln gestehen lässt und durch diesen Wiederholungseffekt beide Dialogszenen als

40 Bédier, Bd. I, S. 15, rekonstruiert den Wortlaut des Abschiedsgrußes stärker gemäß der Saga, weil er die Anrede ›Freund‹ (amis) fallen lässt: »›Ah! que le roi céleste vous protège!‹«. Wie Brault festhält, ist amis allerdings eines der Leitwörter der Tristan-Isolt-Handlung, das in den meisten Fällen als Anrede für den Geliebten gewählt wird (Brault, Gérard J.: l’amer, l’amer, la mer: La scène des aveux dans le »Tristan« de Thomas à la lumière du fragment de Carlise. In: Miscellanea mediaevalia. Mélanges offerts à Philippe Ménard. Hg. v. Faucon, J. Claude u. a. Paris 1998 [Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 46], Bd. 1, S. 215–226, hier S. 218). Es wäre also durchaus vorstellbar, dass es in dieser ähnlich gelagerten Situation der Elternvorgeschichte ebenfalls zum Einsatz gekommen ist.

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aufeinander bezogen ausgewiesen hat. Heldris muss sie nur noch in eins fallen lassen.41 Auf Basis dieser Argumente scheint es durchaus möglich, den Liebesdialog des »Roman de Silence« zumindest versuchsweise als Kombination beider Liebesgeständnisse des thomasschen »Tristan« zu lesen, wobei das Gespräch zwischen Blancheflor und Rivalen das Material und das Gespräch zwischen Tristan und Isolt die Formvorlage geliefert hat. Heldris hätte, akzeptiert man diese These, mit dem Beginn des Liebesgesprächs zwischen Eufemie und Cador einen äußerst komplexen intertextuellen Marker geschaffen, der in seiner Mehrdimensionalität vielleicht immer nur einer kleinen Gruppe von literarisch versierteren Rezipienten verständlich war. Heldris belässt es allerdings nicht bei diesem einen direkten Rückgriff auf den Text des Thomas. Vielmehr inseriert er vor allem in der Elternvorgeschichte Schlüsselwörter des thomasschen Liebeskonzepts wie anguisse/angoisse (›Not‹/›Leid‹), confort (›Trost‹), delit (›Vergnügen‹) oder auch die von Thomas zumeist als Reimpaar verwendete Fügung dolur – amur (›Schmerz‹ – ›Liebe‹), die für die Liebessprache des Carlisle-Fragments zentral sind (aber auch für den »Tristan« in seiner Gesamtheit als Leitbegriffe gelten können),42 in jene Sequenzen, in denen die Liebe thematisiert wird.43 Aus Rezi41 Von ihrer Struktur her sind beide Liebesgeständnisse insofern vergleichbar, als in beiden die Liebe zuerst verschlüsselt von der Frau thematisiert wird; daraus erwächst dann die Auflösung und die Erkenntnis der wechselseitigen Liebe. Eifler betont die Ähnlichkeit beider Bekenntnisse bei Gottfried: Eifler, Günter: Das Carlisle-Fragment und Gottfried von Straßburg. Unterschiedliche Liebeskonzepte? In: Vox Sermo Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Festschrift Uwe Ruberg. Hg. v. Haubrichs, Wolfgang u. a. Stuttgart, Leipzig 2001, S. 113–130, hier S. 115, Anm. 10; ebenso Zotz [Anm. 28], S. 17. Die Zusammenschau des in der Saga tradierten Liebesgeständnisses der Elternvorgeschichte und des Carlisle-Fragments legt nahe, dass diese Schlussfolgerung auch für den Text des Thomas gegolten haben könnte. 42 Dass es sich bei diesen Wörtern um zentrale Begriffe für die Liebesdarstellung des ThomasTextes handelt, verifiziert bereits das Carlisle-Fragment eindeutig. Folgende Belegstellen sind relevant: anguisse/angoisse: Thomas, Car, V. 43, 61 und 66; confort: Thomas, Car, V. 4, 13 und 86; dolur – amur: Thomas, Car, V. 14f., 49f., 69f. und 87f. delit findet sich im CarlisleFragment nur in Ableitungen: [d]elitier (Thomas, Car, V. 32) und [D]elitablë (Thomas, Car, V. 85). Zur Funktion dieser Wörter als Leitbegriffe des gesamten »Tristan« vgl. Schmitz, Silvia: Omnia vincit Amor. Gottfrieds »Tristan« im Vergleich mit dem Fragment von Carlisle. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hg. v. Bürkle, Susanne u. Peters, Ursula (ZfdPh 128 [2009]), S. 247–267, hier 262f.; Brault [Anm. 40], S. 217; Haug, Walter: Erzählen als Suche nach personaler Identität. Oder: Gottfrieds von Straßburg Liebeskonzept im Spiegel des neuen »Tristan«-Fragments von Carlisle. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Haferland, Harald u. Mecklenburg, Michael. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 177–187, hier S. 185; Bonath, Gesa: Einleitung. In: Thomas: Tristan. Eingel., textkrit. bearb. u. übers. v. Bonath, Gesa. München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 21), S. 9– 48, hier S. 30f. Doggett [Anm. 18], S. 194–198, weist zudem darauf hin, dass Cador und

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pientensicht am auffälligsten – und interpretatorisch insofern am belastbarsten – ist wohl, dass auch das lamer-Wortspiel zu den aus dem »Tristan« übernommenen Zitaten gehört. So nutzt Heldris die drei Homonyme in der Elternvorgeschichte, und zwar schon bevor der Fokus zu Cador und Eufemie umschwenkt, in wechselnder Zusammenstellung in intrikaten Reimen, die die Emotionalität der je gemeinten Figuren beschreiben. Zum ersten Mal setzt er die Homonyme ein, um Eufemes Seekrankheit bei ihrer Ankunft in England auszudrücken: Car son cuer ot un poi amer / De la lasté et de la mer (›for her heart was a little bitter / from the tiring journey [and the sea]‹; V. 245f.).44 Die beiden weiteren Belege der Elternvorgeschichte beziehen sich hingegen auf Cador und Eufemie und zielen darauf ab, ihr Liebesleid hervorzuheben: Sent il son cuer forment amer. / »E las!« fait il. »Vient cho d’amer« (›he felt his heart grow very bitter. / »Alas!« he said. »Is that what comes of love?«‹; V. 639f.) bzw. S’ele a delit en son amer / En la sofrance a tant d’amer / Que jo nen os nomer delit (›If she finds happiness in loving, / she finds such bitterness in suffering / that I dare not call this happiness‹; V. 771– 773). In seiner Darstellung profitiert Heldris dabei ganz offensichtlich davon, dass bereits das Liebesgeständnis des Carlisle-Fragments die Möglichkeit einer binären Auflösung des Rätsels eruiert, gemäß der Isolts Schmerz entweder durch das Meer oder die Liebe verursacht worden ist, bevor Tristan die Zusammengehörigkeit aller drei Partikel des Wortspiels versteht: Que ne set si cele dolur Ad de la mer ou de l’amur, Ou s’ele dit ›amer‹ de ›la mer‹. Ou pur ›l’amur‹ diet ›amer‹. (Thomas, Car, V. 49–52) Eufemie den Effekt ihrer Liebe jeweils als eine Art von Trunkenheit oder Vergiftung beschreiben (vgl. etwa V. 659–662, 939–944) – auch dies stiftet eine Verbindung zu der durch den Liebestrank ausgelösten Liebe zwischen Tristan und Isolt. 43 Damit soll keineswegs gesagt werden, dass die Begriffe nicht auch an anderen Stellen mit anderer Bedeutung verwendet werden. Wenn Heldris aber z. B. beim »Tristan«-Vergleich, der Eufemes Schmerz mit demjenigen von Tristan und Isolt gleichsetzt, als Wort für ›Leid‹ eines der Schlüsselwörter des Thomas-Textes, nämlich angoisse, wählt, dann scheint mir diese Wahl sehr bewusst getroffen und kann von kundigen Rezipienten wahrscheinlich auch nachvollzogen werden (vgl. V. 3700–3704). Vgl. für Heldris: angoisse: V. 412, 1128, 3703, 3707, 3789 und 3955; confort: V. 678 und 898; delit: V. 753, 767 und 773, dolor – amor: V. 775f., 831/837, 902 und 1119/1123. Bei Heldris ist das Paar dolor – amor nie ein Reim, wird aber in einen argumentativen, oft sogar in einen syntaktischen Zusammenhang gestellt. Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Schlüsselwörter mit besonderer Dichte in der Elternvorgeschichte im Umfeld des Liebesgeständnisses eingesetzt werden. Für die Intrigenhandlung, gerade für deren Einleitung durch den »Tristan«-Vergleich, wird vor allem angoisse wichtig. Es beschreibt dann nicht nur das durch die Liebe ausgelöste Leid, sondern ebenso Silences durch die Verfolgung und Verleumdung ausgelöste Leiderfahrung. 44 Auch an dieser Stelle habe ich Roche-Mahdis Übersetzungsvorschlag verändert, um die Übertragung stärker an den Wortlaut des Originals anzugleichen. Roche-Mahdi: Silence [Anm. 1], S. 13, übersetzt V. 246 mit: ›from the tiring journey across the sea‹.

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[…], daß er nicht weiß, ob sie ihr Leiden / vom Meer hat oder von der Liebe, / ob sie sagen will, das Meer sei bitter / oder die Liebe sei bitter.

Anders als im »Tristan«, in dem der Titelheld schließlich erkennt, dass Isolts Leid wie sein eigenes von der Liebe herrührt, die sie auf dem Meer überwältigt hat (Thomas, Car, V. 64–71), greift Heldris die beiden potenziellen Begründungen für lamer (›die Bitterkeit‹) – das Meer und die Liebe – ausschließlich als voneinander getrennte Alternativen auf und weist sie jeweils in suggestiver Form Mitgliedern der beiden Paarbindungen der Elternvorgeschichte zu: Eufemes Leid stammt von der Seekrankheit, ist also eher ein Indikator für ihre fehlenden Gefühle gegenüber Ebain; Cadors und Eufemies Bitterkeit aber resultiert aus ihrer gegenseitigen, noch unartikulierten und daher unerfüllten Liebe.45 Überdies finden sich auch im Hauptteil des »Roman de Silence« zwei Stellen, an denen Heldris das lamer-Wortspiel verwendet. Beide Passagen stehen im Kontext von Silences Rückkehr aus dem französischen Exil nach England und sind daher deutlich nach dem oben zitierten »Tristan«-Vergleich (V. 3700–3704) platziert, der den Intrigen-Teil einleitet. Der erste Beleg betrifft wiederum Eufeme. Der Erzähler charakterisiert die Art ihrer Gefühle gegenüber Silence und kommt zu dem Schluss, dass die Liebe der Königin bitter und eigentlich als Hass zu qualifizieren sei, weil sie sich für die Zurückweisung rächen wolle: […], Por cho qu’il ne le voelle amer. Einsi amer est moult amer, Ensi amer est amertume, Maldehait ait hui sa costume. Ensi amer est bien haïr Et home mordrir, et traïr. (V. 5227–5232) […], because he refuses to be her lover. / This kind of love is very bitter; / this love is bitterness itself. / A curse on the queen’s behavior! / This kind of love is really hatred, / betraying a man and killing him.

Kurz danach setzt Heldris das Wortspiel ein letztes Mal als Reim ein, um Silences Überfahrt über den Kanal zu beschreiben: Der vermeintliche Jüngling stoppe nicht [n]e por haïr ne por amer / Entros qu’il a passé la mer (›for love or hate / until he had crossed the sea‹; V. 5285f.). Beide Belege sind demnach offenbar als Variation der Verwendung in der Elternvorgeschichte gestaltet und offerieren jeweils eine neue Idee bezüglich des Wortspiels. Mit Blick auf die Königin stellt der Erzähler heraus, dass eine Figur nicht nur Bitterkeit aufgrund einer bislang unerfüllten Liebe empfinden, sondern dass ihre Liebe selbst bitter (amer) – d. h. in sich falsch – sein könne. Und Silence ist die erste und einzige Figur, für die das Spiel mit den Homonymen nicht zu dem Zweck genutzt wird, ihre emotionale 45 Vgl. Doggett [Anm. 18], S. 219.

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oder körperliche Situation herauszuarbeiten. Nur für sie reimt amer (›die Liebe‹) in einer Weise auf la mer (›das Meer‹), dass das Wort nicht ihre Befindlichkeit qualifiziert; nur für sie fehlt mit amer (›bitter‹) zudem jenes der drei Homonyme, das stets und unwiderruflich eine tiefe gefühlsmäßige Beteiligung der Figur, ihr Leiden an der gegenwärtigen Situation, anzeigt.

Zur Funktion der »Tristan«-Referenzen Fasst man die Beobachtungen des vorangegangenen Teils zusammen, kristallisieren sich zwei Ergebnisse heraus: Einerseits zeigt sich, dass Heldris – unabhängig davon, ob er womöglich noch andere Versionen kannte – für seine Arbeit am »Roman de Silence« zumindest eine konkrete Textfassung des Tristanstoffes benutzt hat, nämlich diejenige des Thomas. Die dokumentierten Rückgriffe auf diese Fassung sind zu zahlreich, als dass es sich bei ihnen um bloßen Zufall handeln könnte. Dahmens These, Heldris habe keine der schriftlich überlieferten Romanversionen des »Tristan« verwendet und stütze sich für seine Reminiszenzen lediglich auf eine generelle Kenntnis des Stoffes und auf umlaufendes Erzählgut, ist folglich entschieden zu korrigieren.46 Die Dichte des auf den »Tristan« bezogenen Verweissystems belegt andererseits, dass der zu Beginn der Intrigenhandlung um Eufeme und Silence positionierte »Tristan«-Vergleich keinesfalls als ein unikales und dann verspätetes Indiz für den Prätext, sondern eher als Aufgipfelung und Engführung einer Verweisstruktur zu deuten ist, die dem gesamten Roman eingeschrieben ist. Durch die Übernahme des thomasschen Liebesvokabulars, vor allem aber durch die Verwendung des lamerWortspiels, ist der »Roman de Silence« schon in der Elternvorgeschichte mit einem ganzen Netz von intertextuellen Markern durchzogen, die ihn beständig mit dem »Tristan« in Verbindung setzen; diese Technik findet in der Intrigenhandlung des Hauptteils ihre Fortführung. Mit Blick auf die bereits in der Forschung verfolgten Erklärungsoptionen zur Übernahme tristanscher Erzählmuster und Figurenkonstellationen im »Roman de Silence« bleibt daher zu konstatieren, dass der Befund diese Interpretationsansätze stärkt: Es scheint nunmehr äußerst wahrscheinlich, dass die triangulär organisierten Figurenkonstellationen des »Roman de Silence« als Adaptationen des tristanschen Liebesdreiecks gedacht sind, wie es Dahmen bereits vermutet hat, zumal die lamerReime des Textes sich ja gerade auf die an den Dreieckskonstellationen beteiligten Figuren beziehen.47 In diesem Punkt bestätigt sich Dahmens These also. 46 Dahmen [Anm. 7], S. 98. 47 Die Überblendungsstruktur des Liebesgeständnisses offenbart dabei, dass Cador und Eufemie tatsächlich sowohl als Tristan-Isolt-Spiegelung als auch als Rivalen-Blancheflor-Spie-

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Unbeantwortet ist damit aber immer noch die Frage nach der Funktion der »Tristan«-Referenzen. Dahmen arbeitet in ihrer Auseinandersetzung mit ihnen insbesondere die Einflussnahme des »Roman de Silence« auf den intertextuell anzitierten Text heraus und verweist darauf, dass Heldris das »Tristan«-Modell primär deswegen aufgreife, um es zu korrigieren. Das Gefahrenpotenzial der »Tristan«-Konstellation werde eingedämmt, indem streng zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Liebe unterschieden und nur letzterer (Eufemes Liebe zu Silence) die Problematik von sexuellem Begehren und Ehebruch auferlegt werde.48 Zu einem hier potenziell ablesbaren didaktischen Gesamtkonzept des »Roman de Silence«, dem in Dahmens Augen alle intertextuellen Bezugnahmen untergeordnet sind,49 fügt sich beispielsweise ebenfalls, dass Silence in der Verführungsepisode als eine Art ›besserer Tristan‹ agiert, da sie Eufemes Nachstellungen explizit mit dem Hinweis ablehnt, nicht gegen die Ebain als ihrem König und Blutsverwandten geschuldete Treue verstoßen zu wollen: Car jo sui hom vostre segnor, / Et ses parens ne sai con priés (›for I am your lord’s vassal, / and his blood relation, I don’t know to what degree‹; V. 3806f.).50 In dieser Kommentarfunktion muss sich der Sinn der »Tristan«-Referenzen freilich nicht erschöpfen. Als, wie in der Einleitung formuliert, ›literarischer Dialogpartner‹ des auf ihn anspielenden Textes wird der Vorlagentext schließlich nicht nur durch dessen Blickwinkel neu perspektiviert, er ist vielmehr umgekehrt stets in dessen Sinnkonstitution eingebunden. Ergänzend zu Dahmens Erläuterungen stellt sich folglich immer schon die Frage, welche semantischen Ebenen der »Tristan« dem »Roman de Silence« potenziell hinzufügt. Eine erste Antwort auf diese Frage könnte sein, dass Heldris mit dem »Tristan« auf einen Text anspielt, in dem es wie im »Roman de Silence« um die Auflösung von Rätseln geht,51 von denen nicht wenige die Identität des Protagonisten betreffen. Ähnlich wie Silence verbringt Tristan einen guten Teil seiner narrativen Vita in Verkleidung. Die »Tristan«-Referenzen könnte man daher als eine Art Leseanweisung verstehen, die die Rezipienten von vornherein auf den weiteren Verlauf der Erzählung vorbereiten sollen. Insgesamt betrachtet scheint mir Heldris jedoch mit einer spezifischeren Absicht auf den »Tristan« zuzugreifen, denn er spielt mithilfe der Adaptation der Leitwörter und des lamer-Wortspiels hauptsächlich auf einen bestimmten Typ von Szenen an: jenen nämlich, in denen

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gelung fungieren, wie es so konkret erst Kropik in ihrem Beitrag in diesem Band herausgestellt hat. Dahmen [Anm. 7], S. 93–95. Ebd., S. V. Vgl. auch Kinoshita: Feudal Politics [Anm. 18], S. 404. Sie sieht allerdings hier keine Korrektur des »Tristan«, sondern rückt Silences Verhalten in die Nähe desjenigen des Titelhelden im »Lai de Lanval«. Zotz [Anm. 28], S. 17, betont dies für Gottfried, doch gilt das sicher auch für Thomas.

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Thomas sein Liebeskonzept verhandelt. Sicherlich wird man im Vergleich mit dem Carlisle-Fragment im Sinne Dahmens zu dem Schluss kommen können, dass die Aufteilung in eine ›gute‹, nicht-ehebrecherische (Eufemie) und eine ›böse‹, ehebrecherische Isolt (Eufeme) als Vereinfachung der Tristanliebe zu deuten ist. Was Dahmen in ihren Ausführungen allerdings übersieht ist, dass Heldris nicht nur gewisse Elemente der Liebesdarstellung abwehrt, sondern umgekehrt andere Aspekte der Tristanliebe als Merkmale eines bejahend applizierten Liebesideals in seinen Text übernimmt. Dies sind vor allem die Gleichrangigkeit und Gemäßheit der Partner, wie sie sich im Carlisle-Fragment etwa darin zeigt, dass Tristan Isolts Rätsel entschlüsseln und fortführen kann, und die Gegenseitigkeit ihrer Liebe.52 Auf Grundlage dieser Beobachtung ist die Beurteilung von Heldris’ Umgang mit dem »Tristan« gegenüber der älteren Forschung zu präzisieren. Der Autor neutralisiert die problematischen Aspekte der Tristanliebe offenbar vordringlich aus strategischen Erwägungen: Nur weil er mit der Verdoppelung der Isolt-Position eine Figurenkonstellation schafft, in der durch die Aufteilung auf zwei verschiedene Paare die Ehebruch-Liebe effektiv verurteilt werden kann, ohne dass diese Abwertung notwendig schon alle Aspekte der Tristanliebe betrifft, gewinnt er die Freiheit, diese von ihm als positiv wahrgenommenen Merkmale zum Liebesideal des »Roman de Silence« zu erheben. Für die Darstellung von Emotionalität im »Roman de Silence« heißt das, dass der Rückgriff auf den »Tristan« gewissermaßen die Möglichkeit einer ›narrativen Abkürzung‹ offeriert. Ideale Liebe steht nicht im thematischen Zentrum des Romans, dessen Heldin sich schließlich niemals selbst verliebt, wird aber gleichwohl als Konzept benötigt und wird deswegen durch den Rückgriff auf den »Tristan« herbeizitiert. Die Ausgestaltung der Liebesgeschichte von Cador und Eufemie verdeutlicht dabei, dass dieses Paar als Träger des mithilfe der »Tristan«-Referenzen etablierten Liebesideals konzeptioniert ist, zielt die umständlich erzählte Werbungsphase doch gerade darauf, die Wechselseitigkeit der Gefühle als die aus Sicht beider Figuren unabdingbare Voraussetzung für ihre Liebe festzuschreiben. Die Gleichgesinntheit von Cador und Eufemie unterstreicht auch das lamer-Wortspiel. Beide leiden im Vorfeld des Liebesgeständnisses an der Bitterkeit (amer) ihrer noch unerfüllten Liebe (amer) (vgl. V. 639f. und 771– 773); für beide verkehrt sich diese Bitterkeit durch die Erkenntnis der Gegenseitigkeit ihrer Gefühle in Süße:

52 Dahmen scheint hingegen eher zu suggerieren, dass die Liebe von Cador und Eufemie gar nichts mit der Tristanliebe zu tun hat. Sie betont vor allem, wie unproblematisch sie im Gegensatz zu derjenigen von Tristan und Isolt sei (Dahmen [Anm. 7], S. 94f.).

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Tant com li savors est plus dolce Del baisier ki lor cuer atolce, Tant croist lor amors plus adés. (V. 1117–1119) Just as the savor of the kiss / that touched their hearts grew sweeter, / just so their love grew after that.

Den anderen Paaren fehlt hingegen dieses Element der Übereinstimmung. Die Ungleichheit der Gefühle zeichnet die Ehe zwischen Ebain und Eufeme bereits seit ihren Anfängen aus. Während Ebain im Sinne der in der Episode anzitierten Brautwerbungserzählungen die Werbung um Eufeme schemagemäß mit seiner schon lange bestehenden Fernminne begründet – Piece a l’amors de li me poinst (›I have suffered long for love of her‹; V. 185) –,53 erwidert Eufeme diese Gefühle nicht. Die Bitterkeit ihres Herzens (Car son cuer ot un poi amer; V. 245) bei der Ankunft in England resultiert aus der Seekrankheit, ist also ausdrücklich Folge des Meeres (de la mer; V. 246), nicht der Liebe.54 Lange bevor der Text die Untreue der Königin narrativ aktualisiert, werden damit Zweifel an der Beständigkeit der Beziehung geweckt.55 Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass Heldris Ebain eine Mitschuld an dieser Entwicklung zuspricht. Seiner Liebeserklärung fehlt jedenfalls, so sehr der König sein Leiden (poinst; V. 185) hervorhebt, das Bekenntnis, aufgrund der bislang unerfüllten Liebe Bitterkeit (amer) gefühlt zu haben. Der Signalreim amer – amer (›bitter – Liebe‹), der in der Systematik des »Roman de Silence« die Tiefe der Liebe verifiziert, ist für ihn, anders als für Cador und Eufemie, nicht realisiert. Insgesamt scheint die Verantwortung für das Scheitern der Ehe trotzdem eher auf Seiten der Königin zu liegen, die sich offenbar niemals auf ihren Mann eingelassen hat. Dies bestätigt nicht zuletzt der weitere Handlungsverlauf, denn an der Unangemessenheit, Boshaftigkeit und Verdammungswürdigkeit von Eufemes Verhalten lässt der Text schließlich keinen 53 Das Liebesbekenntnis des Königs wird in der Forschung z. T. sehr kritisch gesehen; vgl. etwa Keene [Anm. 8], S. 6. Für den mittelalterlichen Rezipienten, für den die Erzählmuster eine unmittelbarere Wirkung entfalten, wirkt diese Aussage vor der Folie des anzitierten Schemas aber womöglich weit weniger unvermittelt und deswegen auch glaubwürdiger als für den modernen Leser. 54 Vgl. ähnlich Doggett [Anm. 18], S. 219. Siehe überdies Keene [Anm. 8], S. 6f., und Brahney [Anm. 18], S. 54f. Anders als Doggett erkennen diese beiden Autorinnen die Abhängigkeit des Verspaares vom »Tristan« freilich nicht – Brahney kann so die Seekrankheit sogar positiv werten, da sie in ihren Augen Eufemes Menschlichkeit zeigt (ebd., S. 55). 55 Keene [Anm. 8] zählt noch weitere textuelle Signale dafür auf, dass Eufeme bereits von Anfang an nicht ungebrochen positiv dargestellt wird. So verzichte der Text auf ein Lob der Tugendhaftigkeit der Figur bei ihrer Einführung (S. 5). Womöglich sei bereits die Herkunft der Königin als negatives Zeichen installiert: Der norwegische Adel war im 13. Jahrhundert in England schlecht angesehen, weil er nicht dem Erbsystem der Primogenitur folgte (S. 8–10). Stimmt dies, dann scheint es nicht gerechtfertigt, wenn Kinoshita von einer Veränderung der Figur im Hauptteil des Romans spricht (Kinoshita: Male-Order Brides [Anm. 18], S. 65).

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Zweifel, wenn die Königin im Zuge des ersten Verführungsversuchs plakativ als Teuflin (Sathanas; V. 3699) tituliert wird.56 Selbst wenn man die Problematik der Ehebruch-Liebe zunächst beiseitelässt, wird überdies schon zu Beginn der Intrigenhandlung klar, dass Eufemes Liebe zu Silence den aus dem »Tristan« gewonnenen Maßstäben ebenfalls nicht genügt. Der Konsens des Partners scheint für die Königin keine Rolle zu spielen. In ihren Gemächern überschüttet sie den vermeintlichen Jüngling vielmehr mit Küssen, ohne eine positive Reaktion abzuwarten, bis Silence verstört zu fliehen versucht: Et a itant l’acole et baise […] Et ot les .ii. baisiers promis Li a des altres tant tramis Que il en est tols anuiés. Dist la dame: »Por Deu, fuiés?« (V. 3757–3776) And then, right away, she embraced him and kissed him / […] / Besides the two kisses she had promised, / she gave him so many others / that he was extremely upset. The lady said, »My God! are you running away?«

Hier und später, wenn sie Silences Argumente für ihre Ablehnung der Beziehung nicht akzeptiert (V. 3791–3894), übt die Königin genau jenen Zwang auf den Partner aus, den Cador und Eufemie für sich ausgeschlossen haben. Es kann daher nicht überraschen, dass – wie in der Elternvorgeschichte – sprachliche Signale dafür existieren, dass Eufemes Liebe nicht ideal ist. So qualifiziert der Text ähnlich wie bei Ebain Eufemes Gefühle zu Beginn der Verführungsversuche zwar als amor (V. 3756) und beschreibt ihre Qual (V. 3700–3704), vermeidet aber eine direkte Benennung dieses Leidens als bitter (amer). Und als er dieses Adjektiv als Teil eines der amer-amer-Reime schließlich doch für die Darstellung von Eufemes Befindlichkeit verwendet (V. 5227f.), ist der Bezugspunkt gegenüber den auf Cador und Eufemie bezogenen Aussagen in bezeichnender Weise verändert: Nicht Eufemes Herz ist bitter aufgrund der Liebesqualen, sondern ihre Liebe selbst ist bitter geworden – Einsi amer est moult amer (›This kind of love is very bitter‹; V. 5228) – und in Hass (haïr; V. 5231) umgeschlagen. Die Liebe von Cador und Eufemie dient allerdings nicht allein als Maßstab, um die Paare Ebain – Eufeme und Eufeme – Silence zu beurteilen. Sie ist auch die Folie, vor der die Rezipienten den relativ knapp erzählten Schluss des Romans (V. 6629–6706) mit der Hochzeit von Ebain und Silence wahrnehmen. Auffälligerweise verzichtet Heldris in dieser Situation darauf, auch nur eine der Figuren als verliebt zu charakterisieren; weder für Silence noch für den König findet sich eines der lamer-Wortspiele. Man könnte dies durchaus als subtil inszeniertes 56 Dahmen [Anm. 7], S. 97.

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Irritationsmoment lesen, das das konventionelle Ende, das die stolze Protagonistin traditionellen Geschlechtererwartungen unterwirft, in seiner Brüchigkeit entlarvt.57 Ich glaube freilich, dass dies ein Missverständnis wäre. Betrachtet man nämlich das Romanende im Detail, zeigt sich, dass es in dem kurzen Stück drei sehr interessante Belege für das Wortfeld amor gibt, die eine andere Bewertung der Schlusswendung nahelegen könnten. Zunächst einmal versichert Ebain, nachdem er Silences Geschlecht erfahren und ihre Geschichte gehört hat, sie zukünftig lieben und schützen zu wollen (Amer te voel et manaidier; V. 6639). Die dann in Aussicht gestellte Aufhebung des Verbots der weiblichen Erbfolge begründet der König ebenfalls mit seiner Liebe zu Silence (por t’amor; V. 6641). Und schließlich heiratet er sie, weil ihm dies diejenigen seiner Großen (princhiers; V. 6679) geraten haben, die er am meisten liebt (Qu’il plus ama; V. 6680). Gerade dieser letzte Beleg verdeutlicht, dass Heldris amor in der Schlusssequenz umcodiert. Benannt wird zwar immer noch ein tiefes Gefühl, aber eben dasjenige zwischen Lehnsherr und Vasall, nicht mehr dasjenige zwischen zwei Liebenden. Rückhalt dieser Art von amor ist die wechselseitige Loyalität beider Beteiligten. Diese bietet Ebain Silence an, wenn er ihr Liebe und Schutz verspricht; dass Silence selbst ihre Treue bereits unter Beweis gestellt hat, hat Ebain vor seiner Zusicherung ausdrücklich anerkannt: Silence, moult estes loials (›Silence, you are very loyal‹; V. 6630).58 Insgesamt wird man deswegen folgern müssen, dass Heldris für die Schlussepisode eine neue Vorstellung von amor entwickelt hat, die sich den Wertungskriterien des mithilfe der »Tristan«-Referenzen etablierten Liebeskonzepts der Elternvorgeschichte entzieht und diese durch die Idee einer auf Loyalität beruhenden Verbindung ersetzt. Die zweite Ehe des Königs wird daher zwar ebenso wenig aus Liebe geschlossen wie die erste, dass sie deswegen ebenfalls scheitern muss und Silence als Frau des Königs unglücklich wird, ist jedoch keineswegs gesagt.59 Im Text deutet sich vielmehr gerade das Gegenteil an, denn Ebain bietet Silence eine Verbindung an, die dazu geeignet ist, den zentralen nature-noreture57 Kinoshita nennt andere Charakteristika der Schlussepisode, die für sie nahelegen, dass der Erzähler sich von dem Ende distanziert. So verweist sie beispielsweise darauf, dass gerade in den Bericht über die Hochzeit eine Quellenberufung eingeschoben ist (vgl. V. 6677–6680), so dass die Vorlage, nicht etwa der Erzähler Heldris, die Verantwortung für diese Schlusswendung trägt. Vgl. Kinoshita: Male-Order Brides [Anm. 18], S. 72. 58 Zur Bedeutung von Silences Loyalität siehe auch Doggett [Anm. 18], S. 214–217. 59 Eine prononciert negative Lesart der Schlussepisode bietet Stock. Sie versteht die Ehe zwischen Ebain und der deutlich jüngeren Silence als Anspielung auf bekannte fabliau-Motive, die für sie offenbar nahelegen, dass Silences Treue als Ehefrau nicht sicher sei (Stock [Anm. 18], S. 17f.). Das scheint mir der Charakterisierung der Figur zu widersprechen: Für eine potenzielle Ehebruchshandlung benötigt man schließlich eine illoyale Ehefrau, und gerade diese Eigenschaft wird man Silence nicht zuerkennen können. Für eine Interpretation des Endes als positiv vgl. hingegen Brahney [Anm. 18], S. 60.

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Konflikt, der Silences Leben bislang geprägt hat, erfolgreich zu befrieden: Während die Art der Verbindung, nämlich die Ehe, Silences weiblicher Natur entspricht, greift das Fundament der Verbindung, die nach dem Muster der Lehnstreue gestaltete Loyalität der Partner, Silences ritterlich-männliche Sozialisierung auf. Die Heirat, die Ebain Silence anträgt, ist daher die einzige Silence und ihrem außergewöhnlichen Lebensweg tatsächlich gerecht werdende Beziehungsform, weil nur sie Silences nature und ihre noreture miteinander verbinden kann. Im Rahmen der Erzählmuster, die einem mittelalterlichen Autor zur Verfügung stehen, hat Heldris daher das denkbar glücklichste Ende für seine Protagonistin gewählt.60

Fazit Heldris de Cornouaille hat den »Tristan« auf mehreren Ebenen als intertextuellen Bezugspunkt für seinen Roman installiert. Einerseits übernimmt er gerade für die Ausgestaltung der Elternvorgeschichte und der Intrigenhandlung des Hauptteils Handlungsmuster, Figurenkonstellationen und Figurenprofile, die kundige Rezipienten als »Tristan«-Referenzen entschlüsseln können. Andererseits findet sich in den angesprochenen Passagen des »Roman de Silence« außerdem eine ganze Reihe von direkten Zitaten, etwa durch die Inserierung von Leitwörtern wie anguisse/angoisse, amur, delit, dolur oder confort, durch die Imitation des Liebesgesprächs von Tristan und Isolt (und von Rivalen und Blancheflor) oder durch die Adaptation des lamer-Wortspiels als Reimwörter zur Charakterisierung der Hauptfiguren des Textes. Vor allem diese Zitate verifizieren zweifelsfrei, dass Heldris nicht allein auf Grundlage von durch die orale Tradition vermittelten Kenntnissen des Tristanstoffes gearbeitet hat, sondern auf Basis einer schriftlich fixierten Vorlage, dem »Tristan« des Thomas. Ob dies seine einzige Quelle für den Tristanstoff gewesen ist, ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden; dass Thomas für Heldris in jedem Fall ein überaus prominenter Bezugspunkt gewesen ist, belegen die zahlreichen auf seine Stofffassung verweisenden intertextuellen Marker indes mit hinreichender Deutlichkeit. Diese als Direktzitate gestalteten Referenzen spielen primär auf solche Ausschnitte des »Tristan« an, in denen Thomas den Liebesbegriff seiner Erzählung verhandelt. Eine der primären Funktionen der Verweise scheint es demnach zu sein, mit dem thomasschen »Tristan« einen Roman als intertextuellen Bezugspunkt zu etablieren, dessen Liebeskonzept als Leitbild für den »Roman de Silence« wirken kann. Indem Heldris das tristansche Liebesdreieck Tristan – Isolt – Marke mehrfach variierend nachbildet, gelingt es ihm, die problematischen 60 Für dieses Argument danke ich Inci Bozkaya.

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Aspekte der Tristanliebe abzuwehren, ohne damit immer schon die als positiv empfundenen Merkmale – die Gleichrangigkeit und die Gleichgesinntheit des Paares – verwerfen zu müssen. Diese Elemente werden vielmehr anhand des Paares Cador – Eufemie als wesentliche Charakteristika des Liebesideals des »Roman de Silence« installiert. In der Folge wird dieses Paar zum Maßstab, mit dessen Hilfe die anderen Paare des Romans beurteilt werden können, wobei nicht zuletzt die Art der auf die Figuren bezogenen lamer-Reime Rückschlüsse darüber zulässt, in welchem Grad sie diesem Ideal entsprechen. Dass die Auseinandersetzung mit dem Liebesideal des »Tristan« das einzige Motiv ist, warum Heldris den Roman des Thomas (oder auch den Tristanstoff) als Prätext für den »Roman de Silence« gewählt hat, soll damit keineswegs behauptet werden. Immerhin kann Kropik in ihrem Beitrag in diesem Band überzeugende Argumente dafür anführen, dass Heldris das Modell der Heldenjugend, wie es für die Tristan-Figur aktualisiert wird, als Folie für die Darstellung von Silences Kindheit nutzt. Sie zeigt dabei, dass die Differenzen zwischen den durch das Modell geschürten Erwartungen und dem tatsächlichen Handlungsverlauf interpretatorisch ebenso relevant sind wie die Abweichungen einiger der Paare des »Roman de Silence« vom tristanschen Liebesideal.61 Schon an diesem Beispiel wird damit sichtbar, dass Heldris an anderen Stellen des »Roman de Silence« als den hier diskutierten auf andere Elemente bzw. Passagen des »Tristan« zugreift und dass er dies mit einer eigenen Zielsetzung verbindet. Ob er in diesen Fällen die Übernahme der tristanschen Erzählmuster ebenfalls um die Inserierung direkter Zitate aus dem Text des Thomas ergänzt oder ob dieses Instrument der Auseinandersetzung mit dem Liebeskonzept vorbehalten bleibt und ihr dann ein besonderes Gewicht verleiht, ist auf Basis des derzeit zugänglichen Textbestands nicht zu entscheiden. Der überlieferungsbedingten Fragmentarisierung des Thomas-Textes sind bekanntlich vor allem die Anfangsteile zum Opfer gefallen; mit der Elternvorgeschichte, der Jugenderzählung und dem ersten Teil der Liebeshandlung bis zur Trennung des Paares fehlen mithin gerade jene Partien, die aus Sicht der »Silence«-Forschung für einen Vergleich interessant wären. Gänzlich unvorstellbar ist es nicht, dass in den an den Handlungsverlauf des »Tristan« angelehnten Teilen des »Roman de Silence« noch weitere »Tristan«-Spolien eingearbeitet sind. Der Drachenkampf oder die jongleurs-Episode böten sich hier durchaus als Untersuchungsgegenstand an.62 61 Vgl. den Aufsatz von Kropik in diesem Band. 62 In der jongleurs-Episode gibt es zumindest gewisse Elemente, die eine Nähe zum »Tristan« andeuten könnten. Als die Spielleute an den Hof des Seneschalls kommen, an dem Silence erzogen wird, führen sie mehrere Lais auf, u. a. das Lai »Gueron« (V. 2762). Dies ist – folgt man der Rekonstruktion Bédiers – genau jenes Stück, das Tristan am Markehof hört, bevor er sich selbst als der beste Spielmann erweist (vgl. Bédier [Anm. 37], S. 52). Vielleicht ist dieses Element also als intertextueller Marker konstruiert, der (eventuell zusammen mit

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Ohne einen Neufund müssen aber alle Überlegungen zu diesem Punkt bloße Spekulation bleiben.

anderen Übernahmen aus den Musizier-Passagen, die ohne das Original als Vergleichstext freilich unbeweisbar sind) die Übertragung der Tristan-Rolle auf Silence anzeigen soll.

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Schweigen im Walde. Muster narrativer Identitätskonstruktion im »Roman de Silence« Où est le fond? Est-ce l’absence? Non pas. La rupture, la fente, le trait de l’ouverture fait surgir l’absence – comme le cri non pas se profile sur fond de silence, mais au contraire le fait surgir comme silence.1

Wald, Natur, Identität: Ein Prolog In der Literatur des Mittelalters ist der Wald der Ort der Krise. In den Wald geht, wer mit sich und seinen Mitmenschen nicht mehr zurechtkommt – sei es, weil ihm etwas fehlt oder weil er einen Fehler gemacht hat –, und wer darum aus dem Umfeld, in dem er sich zuvor bewegte, in irgendeiner Weise herausfällt. Die Krise, deren Ort der Wald ist, ist damit für das Verständnis des Mittelalters zuerst und vor allem eine Krise der Identität. Denn wer aus seinem Umfeld herausfällt, wer sich seines Namens, seiner Herkunft oder seiner sozialen Rolle nicht sicher ist, der kann in einer Gesellschaft, die den Einzelnen über genau diese Kriterien definiert, nicht wirklich wissen, wer er ist. In den Wald zu gehen, bedeutet folglich das Eingeständnis eines Defizits ebenso wie das Auf-sich-Nehmen einer Aufgabe – einer Aufgabe, die darin besteht, die Krise zu überwinden und in der eigenen Identität gefestigt zurückzukehren.2 Dass sich der Wald in dieser Bestimmung in erster Linie als Negativum, als Ort der Nicht-Kultur, ja des Nicht-Menschlichen, 1 Lacan, Jacques: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse 1964. Le séminaire de Jacques Lacan. Hg. v. Miller, Jacques-Alain. Buch XI. Paris 1973, S. 28. 2 Ich formuliere dies allein im Blick auf die adlig-ritterlichen Protagonisten des höfischen Romans, den ich an dieser Stelle als Bezugsgröße annehme. Das Identitätskonzept, dem ich dabei folge, ist ein narratives: also eines, das das Selbst über seine (Lebens-)Geschichte definiert. Diese Geschichte dürfte zwar im Mittelalter stärker sozial geprägt gewesen sein als in der ( jüngeren) Neuzeit, gleichwohl geht die Identität des Einzelnen auch hier nicht in der Gruppe auf, sondern leitet sich aus ihr her. Zu diesem Konzept der narrativen Identität bes.: MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt a. M., New York 1987 (Theorie und Gesellschaft 5), S. 273–300. Vgl. auch Ricœur, Paul: Narrative Identität (1987). In: Ricœur, Paul: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze 1970–1999. Übers. u. hg. v. Welsen, Peter. Hamburg 2005 (Philosophische Bibliothek 570), S. 209–249.

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definiert, ist evident; oder, wie man vielleicht genauer sagen sollte: Er ist einem Konzept von ›Wildnis‹ zugeordnet, das vornehmlich die Abwesenheit menschlicher Zivilisation, menschlicher Vernunft und menschlicher Kultur bezeichnet.3 Der Wald, das ist der Ort, an dem wie im »Erec« die Räuber hausen, an dem man wie Iwein dem Wahnsinn verfällt oder wie Tristan und Isolde seinen sexuellen Begierden freien Lauf lässt; ein Ort, an dem man von Kräutern lebt, das Fleisch roh verschlingt und früher oder später nackt herumläuft. Im »Roman de Silence« des Heldris de Cornouailles4 scheint sich auf den ersten Blick alles ganz genauso zu verhalten. Der Fall ist zwar hier insofern ein besonderer, als die Titelheldin eine als Ritter verkleidete Frau und ihre in Frage stehende Identität speziell eine des Geschlechts ist. Von dieser Prämisse ausgehend kommt dem_der Leser_in die Situation, in der sich die Protagonistin am Ende des Textes befindet, jedoch zunächst durchaus konventionell vor. Nachdem die Frage seines ›richtigen‹ Geschlechts ›den jungen Mann, der ein Mädchen war‹5 schon im Verlauf der Handlung immer wieder mit sich selbst und anderen in Konflikt gebracht hatte, wird ihm nun eine Âventiure auferlegt, die ebenso Ausdruck seiner Krise ist, wie sie sein ›wahres Selbst‹ im Wortsinn hervortreibt. Dabei spielt der Wald als der dem Gesellschaftlichen entgegengesetzte Pol insofern eine wichtige Rolle, als er für die Abweichung von der Geschlechterordnung steht, die es zu korrigieren gilt, damit Silence ins feudalherrschaftliche Gefüge des englischen Königreichs (wieder-)eingegliedert werden kann. Der Zauberer Merlin, der den Wald als wilder Mann durchstreift, erfüllt in diesem 3 Diese Semantik bleibt dem Wald auch (und gerade) dann erhalten, wenn man eine klare räumliche Unterscheidung im Sinne von ›Hof als Ort der Zivilisation‹ vs. ›Wald als Ort des Chaos und der Wildnis‹ zurückweist. Denn indem man sagt, dass der Wald und seine Bewohner immer auch etwas ›Höfisches‹, der Hof und seine Bewohner hingegen auch immer etwas ›Wildes‹ an sich haben, setzt man den Gegensatz der Konzepte auch da voraus, wo sie sich in den Phänomenen mischen. Vgl. dazu allgemein: Suter, Robert: Art. »Wald«. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Butzer, Günter u. Jacob, Joachim. Stuttgart ²2012, S. 470f. Zum Bedeutungsspektrum des Waldes in der Literatur des Mittelalters: Schnyder, Mireille: Der Wald in der höfischen Literatur: Raum des Mythos und des Erzählens. In: Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung. Hg. v. Vavra, Elisabeth (Das Mittelalter 13:2 [2008]), S. 122–135. Zum Verhältnis von ›Wald‹ und ›Wildnis‹ auch: SchmidCadalbert, Christian: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hg. v. Schnell, Rüdiger. Bern 1989, S. 24–47; zusammenfassend zuletzt: Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. »Parzival«, »Busant« und »Wolfdietrich D«. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 7), S. 26–30. 4 Ich berufe mich im Folgenden auf die Ausgabe: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 1992 (Medieval Texts and Studies 10). 5 Die Bezeichnung li vallés ki est mescine (›the youth who is a girl‹; V. 3871 u. ö.) durchzieht den Text geradezu leitmotivisch.

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Zusammenhang die Funktion eines Katalysators: Indem es Silence gelingt, den halb wahnsinnigen und fast unmöglich zu fangenden Magier zu überlisten, besiegt sie letztlich nichts anderes als das ›wilde‹, d. h. das von der sozialen Norm abweichende Moment ihrer eigenen Existenz.6 Dass ihre Verkleidung von Merlin durchschaut und sie selbst vor dem versammelten Hof enthüllt und bloßgestellt wird, erscheint danach nur plausibel. Die Devestitur vollzieht die Wiederherstellung einer Ordnung, die mit Silences Erhebung zur Königin besiegelt wird – und zwar scheinbar ganz zu ihrem Vorteil: Die Hochzeit mit Ebain setzt sie an die Stelle ihrer Widersacherin, der sexuell aggressiven Königin Eufeme; hinzu kommt der Widerruf jenes Verbots der weiblichen Erbfolge, das ihre Verkleidung ursprünglich veranlasst hatte. Dass sich so am Ende alles aufs Schönste fügen und Silences Erhebung zur Königin den krönenden Abschluss einer erfolgreichen Identitätsfindung markieren würde, kann man gleichwohl nicht ohne weiteres behaupten. Dagegen spricht zunächst einmal die von der Protagonistin selbst erklärte und bis zum Schluss all ihr Handeln bestimmende Absicht, nichts anderes als ein Mann sein und bleiben zu wollen.7 Dagegen spricht aber vor allem auch die Waldszene selbst, in der diese Absicht in einer Weise untergraben und zerschlagen wird, die für die Frage nach Silences Geschlechtsidentität ebenso verwirrend wie bezeichnend ist. Die Begegnung mit Merlin ist nämlich als doppelte Intrige angelegt, die mit Silences Vorhaben auch den Geltungsanspruch jener Geschlechterordnung ins Zwielicht rückt, der sie sich am Ende unterwerfen muss. Die Szenerie ist ohne weiteres als mehrfache mise en abyme lesbar. Ihren Rahmen bildet der Lapsus, den Silence begeht, als sie sich darauf einlässt, ihre männliche Identität dadurch zu retten, dass sie den zu fangen versucht, der nur von einer 6 In diesem Teil der Waldepisode verbindet sich das v. a. aus »Erec« und »Iwein« bekannte Motiv der Transformation durch Transgression mit der Konnotation ungezügelter Sexualität, die der Figur des wilden Mannes anhaftet. Die Figur Merlins verweist ebenfalls in Richtung des Artusromans. Zum (deutschen) »Iwein« exemplarisch: Quast, Bruno: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns »Iwein«. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hg. v. Kellner, Beate u. Lieb, Ludger. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–128. Zum wilden Mann etwa Schuler-Lang [Anm. 3], S. 18–26. Zum Auftreten Merlins im »Roman de Silence« und seinen stoffgeschichtlichen Hintergründen bes. Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 6–21; Thorpe, Lewis: Merlin’s sardonic laughter. In: Studies in medieval literature and languages in memory of Frederick Whitehead. Hg. v. Rothwell, W. u. a. New York 1973, S. 323–339. 7 Der Entschluss, als Mann leben zu wollen, ist das Ergebnis des Streitgesprächs zwischen Nature, Noreture und Raison (V. 2497–2656), das mit Silences Aussage endet: Car vallés sui et nient mescine (›for I’m a young man, not a girl‹; V. 2650). Ihre Einstellung wird rückblickend noch einmal von dem Einblick bestätigt, den der Leser kurz vor ihrer Demaskierung in ihre Gedanken erhält (V. 6442–6470).

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Frau gefangen werden kann.8 Das gedankliche Prinzip des Manövers wiederholt sich in dessen Durchführung. Ebenso wie Silence, wenn sie Merlin ergreift, sich selbst festsetzt, stellt sich auch Merlin seine Falle selbst, wobei er Silences Vorhaben zugleich spiegelt und konterkariert. Wenn er Silence in Gestalt eines alten Mannes darüber unterrichtet, wie sein Alter Ego, der ›wilde‹ Merlin, überlistet werden kann, wenn er gar die Utensilien, die benötigt werden, um seinen Plan durchzuführen, noch selbst herbeiträgt, dann ›reflektiert‹ er Silences Tun nicht nur als einen Akt der Selbsttäuschung, sondern er wendet es auch flugs gegen seine Urheberin: Während sie noch glaubt, ihn zu fangen, fängt er tatsächlich bereits sie.9 Vor diesem Hintergrund findet eine weitere Spiegelung statt: Sie verbindet das Umschlagen von Fangen in Gefangenwerden mit den Prinzipien von Natur und Kultur und transponiert das Geschehen der Handlung so ins Konzeptuelle. Dabei wirken Natur und Kultur, vermittelt durch die allegorischen Figuren Nature und Noreture, bei der Gefangennahme Merlins aktiv mit. Als dieser den Duft des gegrillten Fleisches wahrnimmt, das Silence (auf seine Anweisung hin) zubereitet hat, schleppt Nature ihn zur Feuerstelle, während Noreture ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht, ihn mit Verweis auf seinen anerzogenen Veganismus zurückzuhalten (V. 5987–6034). Dass Merlin gefasst und in die Zivilisation zurückgeführt werden kann, ist also nicht Noreture – Erziehung/Kultivation – zu verdanken, sondern der (menschlichen) Natur; umgekehrt ist nicht Nature für seine asoziale Verwilderung verantwortlich, sondern eine (falsche) Erziehung. Der Sinn dieser letzten Spiegelung ist insofern nicht ganz leicht zu fassen, als die Gleichsetzung von Wildnis/Natur auf der einen und Zivilisation/Kultur auf der anderen Seite für das Mittelalter bei weitem nicht so selbstverständlich ist wie für die ( jüngere) Neuzeit. Dass gerade Nature die Sache der Zivilisation vertritt, muss den mittelalterlichen Rezipienten – anders als den modernen – deshalb an 8 Es ist nicht ganz klar, ob Silence über diese Klausel im Bilde ist. Als Eufeme ihren Gatten auf ihre Intrige einschwört (V. 5779–5834), ist Silence nicht zugegen; sie weiß aber immerhin, dass es bis dahin niemandem gelungen ist, Merlin zu fangen (V. 5844–5848). Da Eufeme im Gegenzug völlig ahnungslos ist, dass nur Silence die vermeintlich unlösbare Aufgabe lösen kann (sie meint, entweder habe Merlin gelogen oder Silence komme nie zurück; V. 5816–5920), könnte gerade im partiellen Nichtwissen beider Figuren der Witz liegen: Sie glauben, Merlins Prophezeiung für ihre Zwecke instrumentalisieren bzw. brechen zu können und sorgen genau dadurch für deren Erfüllung. 9 So Silences Fazit: Jo cuidai Merlin engignier, / Si m’ai engignié (›I thought I was tricking Merlin, / but I tricked myself‹; V. 6457f.). Die Szene variiert eine Episode der »Estoire Merlin«, wo die Intrige freilich etwas anders geknüpft ist. Vgl. dazu etwa Thorpe [Anm. 6], S. 331f. Zur Deutung der Szene im Intertext auch Menegaldo, Silvère: Merlin et la scolastique. De la coincidentia oppositorum à la quaestio disputata dans »Le Roman de Silence«. In: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 12 (2005), S. 2–12; Stock, Lorraine Kochanske: Civilization and Its Discontents: Cultural Primitivism and Merlin as a Wild Man in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 22–36.

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sich noch nicht überraschen.10 Er kann Nature ohne weiteres als Ausdruck eines Strebens nach kultureller und gesellschaftlicher Ordnung begreifen, das dem Menschen durch Gott ›natürlich‹ gegeben ist.11 Wenn er die Handlung bis hierher aufmerksam verfolgt hat, dürfte gleichwohl auch er irritiert sein: deshalb nämlich, weil er Nature zuvor als ein artifiziell schaffendes und in seinem – höchst verfeinerten – Tun vom (erziehenden) Eingreifen des Menschen in erster Linie negativ beeinflusstes Prinzip kennengelernt hat.12 Dass Silences ›Rückkehr zur Natur‹ nun just als menschliche Veredelung eines von Natur aus ›wilden‹ (und damit imperfekten) Gegenstandes inszeniert wird, verkehrt diese Darstellung geradezu in ihr Gegenteil und lässt die zuvor klar definierten Konturen von Nature und Noreture zusehends verschwimmen.13 Dadurch ändert sich nicht zuletzt der Blick auf Silence. Dass die vor ihrer Geburt von Nature aus besten Zutaten ›gebackene‹ Protagonistin (V. 1807–1839) jetzt als (noch zu schleifender) ›Rohdiamant‹14 in dieselbe soziale Ordnung zurückgeschickt wird, die ihre 10 Dies wird in der Forschung, die in diesem Zusammenhang gern auf Lévi-Strauss’ Dichotomie ›roh‹ vs. ›gekocht‹ verweist, nicht immer deutlich genug gesehen. Wenn man nicht davon ausgehen kann, dass das mittelalterliche Publikum ›Zivilisation/Kultur‹ und ›Natur‹ als Gegensätze begriff, ist Heldris’ Darstellung freilich in gewisser Weise noch interessanter: weil er den Gegensatz durch die Verbindung mit dem Antagonismus zwischen Nature und Noreture zugleich suggeriert und subvertiert. Zur Darstellung der Gegensätze im »Roman de Silence« etwa Tolmie, Jane: Silence in the Sewing Chamber: »Le Roman de Silence«. In: French Studies 63 (2009), S. 14–26, bes. S. 25f.; Victorin, Patricia: Le nu et le vêtu dans le »Roman de Silence«. Metaphore de l’opposition entre nature et norreture. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge. XIIe–XIIIe siècles. Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 365–382. Vgl. auch Stock [Anm. 9], S. 28f., und Menegaldo [Anm. 9], S. 7. 11 Dazu grundlegend Grubmüller, Klaus: Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hg. v. Robertshaw, Alan u. Wolf, Gerhard. Tübingen 1999, S. 3–17. 12 Die Schilderung von Silences Schöpfung durch Nature betont ausführlich die Perfektion des Kindes (V. 1794–1957). Später ist Nature zornig, weil ihr Werk durch Noreture verdorben worden sei, wobei sie ihre Superiorität betont (V. 2257–2355), die der Erzähler bestätigt (V. 2422f.). 13 Die Verwirrung wird dadurch noch verstärkt, dass Wort- und Bildebene der Szene einander widersprechen. Während im Streit zwischen Nature und Noreture weiterhin die Vorstellung einer ›denaturierenden‹ Erziehung dominant ist (Merlin ist zum ›unnatürlichen‹ Veganismus ›erzogen‹ worden [V. 6003–6006]), steht die Konstruktion der Falle für die Idee einer ›kultivierenden‹ Verbesserung eines ›naturbelassenen‹ Gegenstandes. Letzteres ist hier insofern dominierend, als das gebratene Fleisch, das Merlin anlockt, ergänzt wird durch Honig, Milch und Wein, die ihn sukzessive außer Gefecht setzen. Er wird also durch zunehmend von Menschenhand verarbeitete Naturprodukte ›domestiziert‹ (V. 6116–6135). Die Vorstellung einer durch Erziehung ›verdorbenen‹ Natur wird damit durch die Idee einer durch Erziehung zu verbessernden Natur ersetzt – was zugleich heißt, dass Nature siegt, indem sie sich Noreture unterwirft (weil ihr Werk offenbar doch der perfektionierenden ›Nacharbeitung‹ bedarf). Dass hier zwei verschiedene Konzepte von ›Natur‹ als göttlicher Schöpfung und ›Kultur‹ als menschlichem Beiwerk gegeneinander montiert werden, ist evident. 14 Die Metapher rekurriert (korrigierend) auf die Bezeichnung der (öffentlich entkleideten) Silence als preciose gemme (›precious gem‹; V. 6633). Dass der Vergleich der nackten Silence

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›meisterhafte‹ (weibliche) Natur zuvor (vermännlichend) ›denaturiert‹ (vgl. V. 2595) hatte, wirkt dabei nicht nur ironisch. Es evoziert vielmehr auch die Frage, welche der beiden Perspektiven auf Nature, Silence und das englische Königreich nun eigentlich die richtige ist – und weiter, ob Silences neues Leben am Hof Ebains ihrer ›Natur‹ tatsächlich besser gerecht zu werden vermag als das alte. Am Ende steht deshalb zwar die Erkenntnis, dass Silence sich mit ihrem Rollentausch selbst betrogen hat. Was daraus folgt, bleibt jedoch offen. Man vermutet nur: Die Wahrheit einer ›natürlichen‹ Geschlechterordnung ist es wohl eher nicht. Was auf den ersten Blick bloß wie die routinierte Umsetzung einer literarischen Formel wirkte, das entpuppt sich so bei näherem Hinsehen als eine Variation, die den Zweck, zu dem diese Formel geschaffen wurde, geradezu ins Gegenteil verkehrt. Die in der Waldszene codierte Überwindung des asozialen Teils ihrer selbst bedeutet de facto keine Bewältigung, sondern eine Verschärfung von Silences Identitätskrise. Insofern kann es nicht verwundern, wenn am Ende alles falsch anmutet. Silence ist zwar Königin, doch wirkt sie als solche irgendwie deplatziert.15 Und wer sie ›eigentlich ist‹, ist unklarer als je zuvor, am meisten wohl ihr selbst. Gegen ihren Willen in Frauenkleider gesteckt und mit einem despotischen, offenkundig sehr viel älteren Mann verheiratet, hat sie keinen Grund zum Triumphieren.16 Dass der Erzähler sich gar nicht erst die Mühe gibt, von Liebe und Glück zu reden, ist bezeichnend: Silence siegt nicht über Königin Eufeme, sie unterliegt nur weniger spektakulär. Sie unterwirft sich,17 verstummt und verschwindet in der Pracht ihres weiblichen Aufzugs. Der Rest ist Schweigen.

Brechende Muster und das Unbewusste des Textes: Methode und Vorgehen Meine Deutung der Waldszene ist nicht neu: Sie entspricht im Wesentlichen dem, was die Forschung schon seit Jahrzehnten immer wieder hervorgehoben hat. Die Tendenz zur Auflösung begrifflicher und konzeptueller Sicherheiten prägt den »Roman de Silence« auf allen Ebenen. Er nivelliert die Unterscheidung zwischen mit einem bereits bearbeiteten (Natur-)stein die Aussage der Waldszene schon wieder ironisch konterkariert, sei lediglich angemerkt. 15 Dieser Eindruck wird in der Forschung unterschiedlich und nicht immer sehr überzeugend begründet, u. a. mit Silences fehlender weiblicher Sozialisation und dem Altersunterschied zu Ebain. Ich versuche ihn im Folgenden nicht inhaltlich, sondern formal zu begründen, als Folge eines Erzählens gegen die in der Geschichte verarbeiteten Muster. 16 In diesem Sinne besonders deutlich Roche-Mahdi [Anm. 6], S. 15–18. 17 Ihre (beinahe) letzten Worte sind das an Ebain gerichtete ›Faites de moi vostre plaisir‹ (›Do with me what you will‹; V. 6628).

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Natur und Erziehung, verweigert sich den Regeln des sozialen wie des grammatischen Geschlechts und verwirrt seine Leser durch axiologisch unklare Figurenzeichnungen.18 Dass er die Frage nach seinem Sinn dergestalt ebenso evoziert wie er sich einer Antwort verweigert, ist unschwer zu sehen, und entsprechend sind die Möglichkeiten seiner Auslegung ebenso vielschichtig und widersprüchlich wie er selbst. So hat man ihn mit guten Gründen als feministisches Manifest gefeiert und nicht weniger begründet als misogynes Pamphlet bezeichnet; man hat ihn als Subversion der mittelalterlichen Geschlechterordnung beschrieben, und genauso einleuchtend als narratives Experiment dargestellt, das sich im virtuosen Jonglieren mit rhetorischen Prinzipien und literarischen Traditionen erschöpft.19 Angesichts dieses Befunds kann die Interpretation, die ich im Folgenden vorlegen möchte, kaum mehr sein als eine weitere Stimme im Chor der wissenschaftlichen Leser. Als solche sucht sie freilich insofern einen neuen Ton anzuschlagen, als sie den – in der »Silence«-Forschung inzwischen etablierten – Ansatz des Queer Readings mit einer Analyse der im Text verarbeiteten narrativen Muster verbindet.20 Zu diesem Zweck beruft sie sich auf einen Gedanken aus dem psychoanalytischen Werk Jacques Lacans, der besagt, dass sich im Diskurs ein Unbewusstes manifestiert, das durch die Brüche und Spalten der Rede hindurch aufscheint.21 Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass ich hier die Psyche des Autors oder gar die seiner Figuren zum Gegenstand der Beobachtung zu machen ge18 Grundlegend Bloch, R. Howard: Silence and Holes: The »Roman de Silence« and the Art of the Trouvère. In: Yale French Studies 70 (1986), S. 81–99. Dazu neben den in Anm. 10 und 20 genannten Studien zum »Roman de Silence« bes. auch Terrell, Katherine H.: Competing Gender Ideologies and the Limitations of Language in »Le Roman de Silence«. In: Romance Quarterly 55 (2008), S. 35–48; Stock, Lorraine Kochanske: The Importance of Being Gender ›Stable‹: Masculinity and Feminine Empowerment in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 7–34. 19 Vgl. dazu den Überblick über die ältere angelsächsische Forschung bei Psaki, F. Regina: Un coup de foudre. La recherche anglo-saxonne sur le »Roman de Silence«. In: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 13 (2006), S. 287–303. Die Tendenzen der jüngeren Forschung werden von den Beiträgen des vorliegenden Bandes repräsentiert. 20 Programmatisch queere Lektüren unternehmen bes. Clark, Robert L. A.: Queering Gender and Naturalizing Class in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 50–63; Waters, Elizabeth A.: The Third Path. Alternative Sex, Alternative Gender in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 35–46; McCracken, Peggy: ›The Boy Who Was a Girl‹: Reading Gender in the »Roman de Silence«. In: Romanic Review 85 (1994), S. 517–536. Sie alle argumentieren (ebenso wie, wenn ich recht sehe, der Großteil der thematisch einschlägigen Forschung) fast ausschließlich auf der Ebene des erzählten Geschehens und der Erzählerrede. 21 Vgl. etwa Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964). Textherstellung durch Miller, Jacques-Alain, übers. v. Haas, Norbert. Weinheim, Berlin 41996, bes. S. 23–47; Lacan, Jacques: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Lacan, Jacques: Schriften II. Ausgewählt u. hg. v. Haas, Norbert. Übers. v. Creusot, Chantal u. a. Weinheim, Berlin 31991, S. 165–204.

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denke. Es besagt nur, dass ich das ›Unbewusste‹ des »Roman de Silence« als Analogon einer psychischen Struktur in den Blick nehmen möchte, mit der es in seiner sprachlichen Verfasstheit übereinkommt.22 Warum dieser Ansatz zu einem besseren Verständnis des Textes beitragen kann, wird in der Waldszene exemplarisch deutlich. Er erlaubt es nämlich, das Muster der arthurischen Selbst(wieder-)findung, dem die Darstellung folgt, als eine literarisch vorgeformte sprachliche Struktur zu beschreiben, die durch die Diskontinuitäten des Diskurses, sprich: die aporetische Komplexion der konkret erzählten Handlung, ›unterredet‹ wird.23 Der Vorgang, in dem der Text die Identität seiner Protagonistin im trügerisch spiegelnden Abgrund einer missratenen Selbstreflexion versinken lässt, wird so als literarisches Pendant zu jenem Phänomen erkennbar, das Lacan ein »Flimmern […] in einem Schnitt des Subjekts« nennt.24 Das heißt: Der Bruch, den die Realisation des narrativen Musters aufweist, bringt etwas hervor, das dessen erzähltraditionell vorgeprägten Sinn subvertiert und andeutungsweise ersetzt – etwas, das man in Anlehnung an Lacan als die Rede des Anderen bezeichnen könnte.25 Um diese Rede hörbar zu machen, kehre ich wieder zur Frage nach Silences Identität zurück, die ich in den nächsten Abschnitten etwas umfassender untersuchen möchte. Dafür wende ich mich zunächst vom Schluss des Textes ab und richte den Blick auf zwei weitere, für den Aufbau des Ganzen noch bedeutsamere Muster. Dabei wird sich zeigen, dass der »Roman de Silence« nicht nur auf der 22 Die These, dass »das Unbewußte […] strukturiert [ist] wie eine Sprache«, steht im Zentrum von Lacans Theorie, hier zit. nach Lacan: Grundbegriffe [Anm. 21], S. 26. Dass Lacans Psychoanalyse der Literaturwissenschaft aufgrund ihres linguistischen Ansatzes besonders gute Anschlussmöglichkeiten eröffnet, wurde in der Altgermanistik zuletzt mehrfach umfassend begründet und eindrücklich belegt. Zur theoretischen Basis bes. Marshall, Sophie: Unterlaufenes Erzählen. Psychoanalytische Lektüren zum höfischen Roman, Berlin, Boston 2018 (MTU 146), S. 19–44. Vgl. außerdem Marshall, Sophie: Gespiegelte Helden: Vivianz und Lanzelet in psychoanalytischer Perspektive. In: PBB 135 (2013), S. 206–243; Ackermann, Christiane: Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den »Armen Heinrich« Hartmanns von Aue). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F. 48 (2007), S. 9–44. 23 Eine Signifikantenkette (und die ihr entsprechende symbolische Ordnung) wird also durch eine andere subvertiert, wobei die zweite, nur im (oder als) Bruch aufscheinende, als Analogon des Unbewussten operiert. Vgl. Lacan: Subversion [Anm. 21], bes. S. 172–174. Dass das Unbewusste auch in Form von Geschichten auftreten kann, führt Lacan in einer früheren Studie aus: Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Lacan, Jacques: Schriften I. Ausgewählt u. hg. v. Haas, Norbert. Übers. v. Gasché, Rodolphe u. a. Weinheim, Berlin 31991, S. 71–169, bes. S. 92–105. 24 Lacan: Grundbegriffe [Anm. 21], S. 33. 25 Der bzw. das Andere ist bei Lacan das Subjekt des Unbewussten: das, was ›hinter‹ oder ›unter‹ dem ›Ich‹ ist (also das freudsche ›Es‹) und es in einem Akt der spiegelnden Imagination (als Ideal-Ich) hervorbringt. Vgl. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Lacan: Schriften I [Anm. 23], S. 61–70.

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Ebene seiner Makrostrukturen in ganz ähnlicher Weise ›unterredend‹ vorgeht wie auf dem begrenzteren Feld der Waldepisode. Vielmehr bleibt auch der Effekt immer der gleiche: Er zielt darauf ab, die dem Erzählen zugrunde liegenden Muster so zu brechen, dass das ›Selbst‹, das aufzubauen ihr eigentlicher Zweck wäre, nicht zustande kommt, oder besser gesagt: so, dass es erkennbar wird, kurz vor seiner Vollendung aber wieder kollabiert. In der Terminologie Lacans könnte man in diesem Sinne formulieren, dass der »Roman de Silence« ›unbewusst‹ zerstört, was er ›bewusst‹ aufzubauen vorgibt – woraus unweigerlich die Frage resultiert, welches Problem die Identitätsfindung seiner Hauptfigur dergestalt zum Scheitern verurteilt. Dass dieses Problem in irgendeiner Weise mit der Kategorie des Geschlechts, und näherhin mit Silences ›natürlichem‹ Geschlecht zusammenhängt, scheint im Brechen der Muster zwar immer wieder auf. Ganz wie Lacans Unbewusstes erweist es sich aber bei näherem Hinsehen als ein »Ausweichende[s]«, das sich entzieht, und in der Analyse zunächst einmal »eingekreist werden« muss.26 Dieses Einkreisen bestimmt die Bewegung der folgenden Beobachtungen.

Literarische Leben I: Die Jugend des Helden Mit dem zweiten der Muster, von denen hier die Rede sein soll, verlagert sich der Fokus meiner Untersuchung für einen Augenblick vom Gebiet des mittelalterlich-höfischen Romans auf das der narrativen Universalien. Dass er zugleich einen der von C. G. Jung beschriebenen Archetypen des kollektiven Unbewussten streift, hat (vorerst) keine weitergehenden psychologischen Implikationen: Das Schema von der Jugend des Helden, das dem Archetyp des ›Kindes‹ entspricht, interessiert im vorliegenden Zusammenhang allein als ein allgemeingültiges Verfahren des narrativen Identitätsaufbaus.27 Als solches dient es durchweg dazu, ein in seiner Identität bereits feststehendes ›Selbst‹ im Nachhinein zu begründen, und zwar konkret so, dass diesem eine Vorgeschichte ›anerzählt‹ wird, in der sich seine charakteristischen Züge (quasi-entelechetisch) 26 Lacan: Grundbegriffe [Anm. 21], S. 38. 27 Jung, Carl Gustav: Zur Psychologie des Kind-Archetypus. In: Jung, Carl Gustav u. Kerenyi, Karl: Das göttliche Kind in mythologischer und psychologischer Beleuchtung. Amsterdam o. J. (1940), S. 83–124. Der bisher elaborierteste Versuch einer literaturwissenschaftlichen Adaption lässt in mehrfacher Hinsicht zu wünschen übrig: Pörksen, Gunhild u. Pörksen, Uwe: Die ›Geburt‹ des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters. In: Euphorion 74 (1980), S. 257–286. Er bleibt in der Diskussion seiner psychoanalytischen Grundlagen unklar, v. a. aber versäumt er es, das schematische Erzählen von der Jugend des Helden auf seine narratologischen Prinzipien hin durchsichtig zu machen. In diesem letzten Punkt gibt Jung einige Hinweise, die deutlich brauchbarer sind; ich berufe mich daher im Folgenden auch diesbezüglich auf ihn.

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entfalten.28 Der Verweis auf den ›rückwärts‹ begründenden Gestus des Erzählens ist an dieser Stelle deshalb besonders wichtig, weil sich die Universalität des Schemas durch ihn ebenso zwanglos aufklärt wie seine ›mythische‹ Anmutung.29 Um zu verstehen, warum sich die Biographien ›besonderer‹ Menschen epochenund kulturübergreifend so sehr ähneln, muss man demnach nicht (religions-) psychologisch vorgehen: Es genügt die Reflexion auf die Grundlagen eines Erzählens, das aufgrund der ihm eignenden Nachzeitigkeit notwendig final ist.30 Von diesem Punkt aus ist das, was man über das Wirken des Schemas von der Jugend des Helden wissen muss, rasch erläutert: Es setzt den ›Helden‹, wie schon gesagt, als einen ›fertig Daseienden‹ voraus und fügt ihn (anschließend) – in der Gestalt, die ihn ›am Ende‹ ausmachen wird – im Rahmen seiner (Vor-)Geschichte (noch einmal) zusammen. Im Zuge dessen folgt es einem relativ konstanten Ablauf, der stets mehrere der folgenden Stationen umfasst: (1) Die besondere, vorwiegend hohe, wenn auch meist in irgendeiner Weise problematische Abkunft, (2) die ungewöhnliche Zeugung, (3) die Prophezeiung, (4) die verborgene Geburt, (5) den Verlust der Eltern, (6) das Aufwachsen in einer ungemäßen Umgebung, (7) das Bestehen von Gefahren, (8) das Aufzeigen bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten und schließlich (9) das Hervortreten.31 Dass sich der Sinn des Erzählten hier eher im Besonderen als im Allgemeinen konstituiert, ist deutlich: Während die bloße Stationenfolge nichts repräsentiert als die Grundparabel eines durchschnittlichen (›Helden‹-)Lebens, erhellt das, was den ›Helden‹ wiedererkennbar – und damit zu ›ihm selbst‹ – werden lässt, allein aus der Art, in der die einzelnen Stationen realisiert werden. Das Prinzip des Ent28 Man kann sich diesen Prozess als einen autobiographischen vorstellen – Jung spricht von einer »Selbstschau«: »man sieht sich selbst als Kind« (Jung [Anm. 27], S. 99) –, ebenso gut aber als einen historischen: Die Kindheitsgeschichte einer Person, die in irgendeiner Weise besonders erscheint, wird so gestaltet, dass sie sie in dieser Besonderheit ›zusammensetzt‹. Dabei entsteht, was Jung als den »Zukunftscharakter« des Kindes bezeichnet: »Es antizipiert im Individuationsprozeß jene Gestalt, die aus der Synthese der […] Persönlichkeitselemente hervorgeht. […] Diese Beobachtung spricht für ein apriorisches Vorhandensein der Ganzheitspotentialität, infolgedessen sich der Begriff der Entelechie empfiehlt. […] [Es] sieht […] aus, als ob ein schon Vorhandenes paradoxerweise noch zusammengesetzt würde« (ebd., S. 102f.). 29 Es handelt sich in gewisser Weise um eine Form der mythischen ›Unbefragbarmachung‹. Die schematische Jugendgeschichte ›erfindet‹ den Helden, um die Frage nach dem Grund seines Wesens zum Schweigen zu bringen, bevor sie (mit seinem Hervortreten) entstehen kann. Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos (1979). Frankfurt a. M. 41986, bes. S. 142f., 219. 30 Oder genauer: Aufgrund des Umstands, dass das Wissen um das Ergebnis des geschilderten Vorgangs so an dessen Anfang gestellt wird, als würde es ihn erklären. Die Retrospektive des Erzählers (der das Geschehen immer schon als ein Vergangenes begreift) wird also mit der Agentenperspektive kurzgeschlossen bzw. an deren Stelle gesetzt. 31 Ich wandle die von Pörksen u. Pörksen [Anm. 27], S. 261, aufgeführten Stationen hier leicht ab: Sie treten in den einzelnen Realisationen des Schemas oft variiert und in unterschiedlicher Reihenfolge auf.

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faltens wird dabei am klarsten darin erkennbar, dass das Erzählen für gewöhnlich unter Wiederholungszwang steht: Das ›Selbst‹ des Helden wird in die Geschichte seiner Jugend hineinprojiziert, um ihm sein ›Wesen‹ zum ›Schicksal‹ zu machen. So wird (um nur auf das Beispiel zu verweisen, auf das ich gleich noch einmal zurückkomme) etwa Tristan zum passioniert Liebenden, weil seine wichtigste Eigenschaft (sein wichtigstes Merkmal) – die passionierte Liebe – in allen Stationen seiner Biographie präsent ist und er daher als zu dieser Liebe prädestiniert erscheint.32 Beim Leser entsteht hier der Eindruck, als sei Tristans Leben von einer Liebe durchdrungen, die ihn wie eine höhere Macht leitet und ihn mit jedem Schritt etwas mehr zum Liebenden prägt: Sie scheint ihn zu prägen, als sie schon seinen Eltern zum Verhängnis wird, sie scheint ihn zu prägen, indem sie ihn mit Schönheit, Intellekt und künstlerischem Talent begabt, und sie scheint ihn nicht zuletzt zu prägen, wenn sie ihn in der Maske des Zufalls zu Marke und weiter zu Isolde führt.33 Auf diese Weise wird der ›Held‹ am Ende zu dem, der er von vornherein war – seine Jugend ist nichts als die Funktion seiner selbst. Und wessen Funktion ist Silence? Zu welchem Selbst wird sie durch ihre Jugend geprägt? Wie direkt diese Fragen die Problematik ihrer Identität betreffen, wird erkennbar, wenn man ihre Biographie vom Ende her in den Blick nimmt. Was diese nämlich ganz bestimmt nicht erzählt, ist die Geschichte einer Königin. Verantwortlich dafür ist der Umstand, dass die Handlung des »Roman de Silence« dem Schema von der Jugend des Helden zwar in weiten Teilen folgt, es aber so realisiert, dass es sein Ziel vollständig verfehlt. Das biographische Muster, dessen Quintessenz darin besteht, den Helden zu sich selbst zu bringen, läuft also ins Leere. Doch damit noch nicht genug: Ein genauerer Blick in den Text zeigt, dass die Protagonistin hier nicht nur nicht zu der aufgebaut wird, als die sie am Ende hervortritt, sondern dass sie überdies eigentlich ein ganz anderes Schicksal erhält: Anstatt zur Frau und Königin bestimmt der Verlauf ihres Lebens sie zum Mann und Ritter. Bereits in der Geschichte ihrer Herkunft (1) weist alles in diese Richtung. Am Anfang steht ein Verbot der weiblichen Erbfolge, das mit der Verbindung zwischen Cador und Eufemie auch die Zeugung Silences erschwert (2) und das, da sich das Problem der Eltern schemagemäß in die nächste Generation fortsetzt, 32 Analog wäre z. B. auf (Hartmanns) Gregorius zu verweisen, der durch die Geschichte seiner Zeugung von Anfang an ist, was er später (erneut) wird, nämlich ›unschuldig schuldig‹, oder auch auf (Ulrichs) Lanzelet, der spätestens ab dem Zeitpunkt seiner Rettung durch die Meerfee das Zeichen des wîpsæligen trägt (Ulrich von Zazikhoven: Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausgabe. Hg. v. Kragl, Florian, 2., rev. Aufl. Berlin, Boston 2013, V. 5529). 33 Dass er dergestalt nicht nur durch seine (›persönlichen‹) Eigenschaften, sondern seine ganze Geschichte charakterisiert wird, entspricht dem in Anm. 2 angeführten Konzept der narrativen Identität.

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die Geburt einer Tochter garantiert, die ein Sohn sein muss. Derselbe Zwang bestimmt die Realisation aller weiteren Schemapunkte bis fast zum Schluss: Weil das Geschlecht des Kindes geheim bleiben muss, findet seine Geburt im Verborgenen statt (4). Man entfernt es vom elterlichen Hof (5), weshalb es, wie bei jungen Helden üblich, in ungemäßer Umgebung aufwachsen muss (6). Ungemäß sind nicht nur der Ort, das soziale Umfeld und die Ausbildung – Silence wird im Wald [!]34 von einer einzigen Verwandten als Junge erzogen –, ungemäß ist vielmehr auch der Stand, in den sie sich etwas später begibt. Sobald sie sich ihrer Lage bewusst wird, flieht sie, um Spielmann zu werden: Sie wählt also eine Existenz, die zwar, wenn man so will, geschlechtsneutral ist, in der sie sich aber auch weit unter ihre hochadlige Geburt erniedrigt. Wenn sie einige Jahre später in die Heimat zurückkehrt und von ihren Eltern als verloren geglaubter Sohn begrüßt wird, scheint es deshalb, als hätte sie endlich die ihr gemäße Umgebung gefunden und könnte nun ihren Charakter als Held entfalten. Genau das geschieht auch im Folgenden, wobei sich die Offenbarung bestimmter sie auszeichnender Eigenschaften (8) schemagemäß mit bestimmten Gefahren (7) verbindet: Der junge ›Mann‹ Silence beweist seine Sittlichkeit gegenüber der liebestollen Königin,35 wird verbannt, vor der Hinrichtung gerettet, vom französischen König zum Ritter geschlagen und geht schließlich aus dem Kriegseinsatz für König Ebain als glänzender Sieger hervor. Wie man gelegentlich bemerkt hat, ist bis hierher alles so sehr auf die Konstruktion einer männlichen Identität ausgerichtet, dass man versucht ist, Silences Weiblichkeit mehr und mehr zu vergessen.36 Umso größer die Überraschung, wenn die Protagonistin in der letzten und entscheidenden Episode von einem Los ereilt wird, auf das bis hierher rein gar nichts hinauszulaufen schien. Gewiss wird man an dieser Stelle einwenden dürfen, dass das Hervortreten als Ritter insofern keine echte Alternative darstellt, als Silence dafür tatsächlich zum Mann werden müsste – was eine Geschlechtsumwandlung voraussetzen würde, die in ihrer Romanwelt nicht möglich ist.37 Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die 34 Der Wald steht bereits hier für Silences sexuelle Abweichung. Ich komme unten noch einmal darauf zurück. 35 Ich formuliere dies aus der Perspektive der (schematisch geprägten) Geschichte, die vorliegen würde, wenn Silence ein (heterosexueller) Mann wäre. Für die weibliche Silence resultiert das, was dort als Sittlichkeit erschiene, freilich aus dem bloßen Fakt, dass sie die Forderung der Königin nicht erfüllen kann. 36 So explizit Hess, Erika: Inheritance Law and Gender Identity in the »Roman de Silence«. In: Law and Sovereignity in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. v. Sturges, R. S. Turnhout 2011 (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance 28), S. 217–235, hier S. 228. Ähnlich etwa auch Terrell [Anm. 18], S. 38; Waters [Anm. 20], S. 37f. 37 Anders als in einigen ähnlich gelagerten hagiographischen Erzählungen, in denen das Geschlecht der Protagonistinnen durch ein göttliches Wunder ihrem männlichen Auftreten ›angepasst‹ wird. Einen Vergleich der einschlägigen altfranzösischen Erzählungen unter-

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abschließende Exponierung ihres weiblichen Geschlechts einen Schemabruch darstellt, wie er schärfer kaum denkbar ist. Man könnte deshalb wohl mit einigem Recht sagen, dass Merlin in der Logik des Schemas genau die Transformation vollzieht, die innerhalb der erzählten Welt nicht erfolgt, nur in umgekehrter Richtung: Anstatt Silence auf der Ebene der Geschichte in den Ritter zu verwandeln, zu dem sie auf der Ebene der Erzählung aufgebaut wird, ersetzt er den narrativ konstruierten Ritter kurzerhand durch eine erzählweltliche Königin. Auf diese Weise lässt er die erzählte Welt zwar in ihrem immanenten Gesetz intakt (es geschieht also kein Wunder), ihre transzendentale Begründung aber zerbirst – und an der Abbruchkante des Schemas entgleitet mit dem Ritter Silentius auch seine Identität. Zurück bleibt eine Silentia, die sich durch nicht sehr viel mehr als ihren schweigenden Namen auszeichnet. Der Augenblick, der im Schema eigentlich der seines Hervortretens hätte sein sollen, wird deshalb zu dem ihres Verschwindens. Silentius hätte als siegreicher Held die Herrschaft über sich selbst, das elterliche Erbe und vielleicht das ganze Königreich für sich beanspruchen können. Silentia wird stattdessen verheiratet – und mehr gibt es dazu offenbar nicht zu sagen.38 An die Stelle des Ritters, der um sein Schicksal betrogen wird, tritt eine Frau ohne Geschichte: eine Frau, als deren Identität man bestenfalls den Schatten jenes männlichen Selbst ansprechen kann, das zu werden ihr nicht vergönnt war.

Literarische Leben II: Tristan Was ich oben dem »Flimmern […] in einem Schnitt des Subjekts« gleichgesetzt habe,39 zeichnet sich hier bereits recht deutlich ab. Noch besser erkennbar dürfte es werden, wenn ich im nächsten Schritt das dritte und für den »Roman de Silence« wohl prägendste narrative Muster ins Auge fasse. Dass es in ganz ähnlicher Weise verarbeitet wird wie die beiden anderen, ist leicht zu sehen: Auch dieses Muster wird an entscheidender Stelle gebrochen, und auch in seiner nimmt Perret, Michèle: Travesties et transsexuelles. Yde, Silence, Grisandole, Blanchadine. In: Romance Notes 25 (1984), S. 328–340. 38 Die Wiedereinführung des weiblichen Erbrechts (V. 6641–6643) vermag am Eindruck, dass Silence durch die Hochzeit nur verliert, nur bedingt etwas zu ändern. Denn zum einen ist die Ent-Enterbung ebenso ein Akt affektiv gesteuerter Willkür wie die Enterbung, die sie ersetzt (V. 308–318) – um das in beiden Vorgängen aufscheinende Prinzip schlechter Herrschaft zu brechen, müsste also vor allem die mit ihm verbundene Figur, Ebain selbst, verschwinden, was aber nicht geschieht. Zum andern ist Ebains Zugeständnis insofern gratis, als Silences Erbe durch die Hochzeit ja ihm zufällt: Der mit ihm verbundene Autonomiegewinn, der zugleich der eigentliche Sinn des im Schema konfigurierten Individuationsprozesses wäre, wird mithin für Silence gleich wieder kassiert. 39 Lacan: Grundbegriffe [Anm. 21], S. 33.

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Realisation scheint die Identität, die deshalb nicht zustande kommt, unverkennbar als eine verhinderte und zerstörte auf. Eine weitere, bisher nicht eigens thematisierte Parallele ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch stärker hervorzuheben. Wie bei den beiden anderen Mustern, so wird die Identität der Protagonistin nämlich auch bei diesem durch einen Akt der scheiternden Identifikation in die Krise geführt: dadurch, dass Silence im Prozess des Erzählens zum Spiegelbild einer Figur gemacht (und dann negiert) wird, die in gewisser Weise das (oder den) Andere(n) ihrer selbst repräsentiert. Zu den beiden Projektionsfiguren, von denen bereits die Rede war, kommt also nun eine dritte – eine, die den Hergang ihrer Geschichte, die Rolle, die sie in ihr spielt und die Verwicklung, in die sie im Zuge dessen gerät, wieder in einer anderen Weise bestimmt: Tristan.40 Mit der Projektionsfigur wechselt auch der Aspekt, unter dem Silences Geschlechtsidentität als problematisch erscheint. Während die Identifikation mit Silentius die für sie richtige Genderrolle und die mit Merlin deren durch Natur und Gesellschaft vorgegebene Rahmenbedingungen hinterfragt, rührt die mit Tristan an ein Problem, das Silences Geschlechtsidentität vielleicht noch grundlegender in Zweifel zieht: an das Problem der erotischen Liebe. Was hier genau vor sich geht, sollte unbedingt vor dem Hintergrund der voranstehenden Überlegungen zur Heldenjugend gesehen werden. Denn auch Tristans Geschichte folgt diesem Schema, weshalb Silences Jugend, wenn sie (über die allgemeine Stationenfolge hinaus) in die Tristans hineingespiegelt wird, dasselbe Telos erhält. Die Identifikation mit Tristan macht Silence mithin zuerst und vor allem zu dessen Schicksalsgefährtin: Sie wird nicht nur nach dem Gesetz ihrer Heldenjugend zum Ritter, sondern nach dem Modell des Tristanstoffs auch zur Liebe bestimmt. Da beide Muster gebrochen werden, sollte man freilich wohl genauer so formulieren: Die Identifikation macht Silence zu einer Doppelgängerin, die dazu verurteilt ist, das Schicksal, das sie mit ihren Alter Egos teilt, zu

40 Konkret scheint Heldris den Tristanstoff sowohl in der version commune als auch der version courtoise vorauszusetzen, wobei freilich letztere weit deutlicher hervortritt. Genaueres zu sagen, ist hier naturgemäß schwierig, weil die französischen Versromane nur fragmentarisch überliefert sind und die deutschen bestenfalls einen indirekten Referenzpunkt herstellen. Für meine Untersuchung stellt das insofern kein Problem dar, als vorausgesetzt werden darf, dass der »Tristan«-Bezug insgesamt in derselben Weise zu fassen ist wie der auf das Schema von der Jugend des Helden und der auf die arthurische Identitätskrise: als Bezug nämlich auf ein literarisches Muster, und das heißt, nicht auf einen bestimmten Text, sondern auf eine textübergreifend realisierte narrative Konfiguration. Nur nebenbei sei bemerkt, dass der »Roman de Silence« auch einige interessante Parallelen zum »Prosa-Tristan« aufweist, v. a. hinsichtlich der Rolle, die Merlin und der Wald dort bei Tristans Geburt spielen. Wie diese genau zu deuten sind, wird allerdings sowohl wegen der Datierung der Texte als auch der allgemeinen Vermischungstendenz von Artus- und Tristanstoff im 13. Jahrhundert kaum auszumachen sein.

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verfehlen – und zwar ganz einfach deshalb, weil sie dafür das falsche Geschlecht hat. Der Verweis auf die ›schicksalhafte‹ Finalität des Erzählens ist in Bezug auf Tristan nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie in diesem Zusammenhang bisher nicht beachtet wurde. Die Forschung hat den Verweis des »Roman de Silence« auf den Tristanstoff zwar vermerkt, ihn jedoch allein wertend gedeutet.41 Heldris’ zahlreiche Anspielungen zielten demnach vor allem darauf, die Liebe zwischen Tristan und Isolde in ihre beiden Aspekte aufzuspalten, wobei die Namensähnlichkeit von (Silences Mutter) Eufemie und (Ebains Gattin) Eufeme zur Markierung diene. Auf diese Weise, so das Urteil, werde die Liebe Eufemies positiv, Eufemes sexuelle Leidenschaft hingehen negativ gekennzeichnet; mit beiden sei außerdem eine Illustration guten und schlechten weiblichen Verhaltens verbunden.42 Dass Silence nicht nur vom Erzähler in die Nähe Tristans gerückt wird, sondern diesem auch sonst auffällig gleicht, wurde zwar festgestellt, aber nicht interpretativ verwertet: Man begnügte sich damit, die gemeinsamen Züge von Schönheit und Kunstfertigkeit auf das Konzept eines androgynen Rollenverhaltens zu beziehen, das sich vornehmlich im Auftreten als Spielmann realisiere.43 Die Situation erscheint in einem anderen Licht, wenn man bedenkt, dass die Vorgeschichte einer schematisch erzählten Heldenjugend vor allem dazu dient, dem Schicksal des Protagonisten auf den Weg zu helfen – und dass die Weichen dabei nicht allein vom Handeln seiner Eltern, sondern durch die gesamte Anlage des Geschehens gestellt werden. Unter dieser Prämisse fallen die weit über die Liebesgeschichte der Eltern hinausgehenden Parallelen zur Tristanfabel sofort ins Auge. Denn diese kommen keineswegs erst mit Cadors Drachenkampf, seiner Vergiftung durch die Ausdünstungen des Tiers und die Pflege durch die heilkundige Eufemie ins Spiel.44 Vielmehr ist schon die Eheschließung zwischen dem 41 Generell ist der Tristanstoff für die Interpretation des »Roman de Silence« bisher nur zurückhaltend herangezogen worden. Die Forschung beschränkt sich meist auf beiläufige Bemerkungen zu offenkundigen Parallelen; eine zusammenhängende Darstellung der wichtigsten Referenzen findet sich, soweit ich sehe, nur bei Dahmen, Lynne: The »Roman de Silence« and the Narrative Traditions of the Thirteenth Century. Diss. masch. Indiana University (Bloomington) 2000, S. 93–99. Roche-Mahdi vermerkt einige Bezüge in den Anmerkungen zu ihrer Übersetzung [Anm. 4], S. 323–326. 42 So Dahmen [Anm. 41], S. 93–97. Keene stellt die Verbindung zwischen Isolde und Eufeme über die Erzähltradition der ehebrecherischen Königin her: Keene, Katie: ›Cherchez Eufeme‹: The Evil Queen in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 14:3 (2004), S. 3–22. 43 Dahmen [Anm. 41], S. 97f. 44 Hinzuzufügen ist, dass Tristan der Neffe Markes und Cador Ebains Neffe ist. Vgl. Dahmen ebd., S. 94, sowie Brahney, Kathleen J.: When Silence Was Golden. Female Personae in the »Roman de Silence«. In: The Spirit of the Court. Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society (Toronto 1983). Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Taylor, Robert A. Cambridge 1985, S. 52–61, hier S. 55.

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englischen König Ebain und der norwegischen Prinzessin Eufeme ganz zu Beginn des Textes von der Konstellation des Tristanstoffs beeinflusst: Die geographische Verortung – England/Norwegen vs. Cornwall/Irland –, die Entstehung der Ehe aus einem langen und grundlosen Konflikt der beiden Reiche sowie die etwas unvermittelt eingeführte Fernliebe Ebains zur Tochter seines Widersachers lassen gleich in mehrfacher Hinsicht an Markes Brautwerbung um Isolde denken.45 Die Namensähnlichkeit der beiden Frauen setzt auch an dieser Stelle das entscheidende Signal. Ihre Suggestion: Eufeme agiert bereits hier in der Rolle Isoldes; vorerst jedoch nicht als Tristans, sondern als Markes Partnerin. Wenn sie als solche neben Eufemie tritt, dann wird die Beziehungskonstellation des Tristanromans mithin schon an dieser Stelle in ihre Bestandteile aufgespalten. Voneinander geschieden werden jedoch nicht die von der Forschung apostrophierten Formen ›guter‹ und ›schlechter‹ Liebe, sondern Liebe und Herrschaft – und damit jene zwei Beziehungstypen, die das Problem der Tristanliebe noch um einiges grundlegender bestimmen.46 Als Effekt der Operation kann deshalb zwar durchaus festgehalten werden, dass Heldris die Verbindung zwischen Cador und Eufemie als eine unproblematische Version der Tristanliebe reformuliert.47 Da er sie aber in den Rahmen eines Herrschaftshandelns stellt, von dem sie ganz offensichtlich hochgradig abhängig bleibt, kann insgesamt von einer Entproblematisierung keine Rede sein. Die Umständlichkeit, mit der die Liebesehe von Silences Eltern den Großen des englischen Reichs abgerungen werden muss (V. 1155–1497), spricht eine deutliche Sprache. Sie weist darauf hin, dass die Übereinkunft, die erzielt wird, keine Lösung, sondern nur ein Aufschub ist: eine Vorausdeutung auf das Problem, dem sich die Protagonistin der Geschichte dereinst wird stellen müssen. Wie es sich auf sie ›vererbt‹, ist ebenfalls am besten aus dem Gesetz des Schemas heraus zu verstehen. Mit ihm könnte man formulieren, dass Silence von der Geschichte ihrer Eltern gleich doppelt nach dem Vorbild Tristans geformt wird. Das geschieht zum ersten und am augenscheinlichsten dadurch, dass Cador und Eufemie ihr die Liebe Tristans ›vorleben‹. Wenn sie als Drachenkämpfer und 45 Man könnte die Darstellung des »Roman de Silence« hier als einen abstrahierten und zugleich invertierten Abriss des Tristanromans bezeichnen. Denn nicht nur, dass sich Norwegen geographisch gesehen auf der ›anderen Seite‹ von England/Cornwall befindet. Der Konflikt spielt sich auch, statt wie beim »Tristan« auf cornischem (Morolt-Episode), auf norwegischem Boden ab (V. 139–155). Dass Ebain in dem Moment behauptet, die norwegische Prinzessin schon immer geliebt zu haben, als Beghes ihm die Ehe anträgt (V. 173–185), mag man als Entsprechung der Schwalbenhaarepisode ansehen. 46 Vgl. Kuhn, Hugo: »Tristan«, »Nibelungenlied«, Artusstruktur. In: Kuhn, Hugo: Liebe und Gesellschaft. Kleine Schriften. Bd. 3. Hg. v. Walliczek, Wolfgang. Stuttgart 1980, S. 12–35; Strohschneider, Peter: Herrschaft und Liebe. Strukturprobleme des Tristanromans bei Eilhart von Oberg. In: ZfdA 122 (1993), S. 36–61. 47 So Dahmen [Anm. 41], S. 95.

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Ärztin agieren, wenn sie von der Liebeskrankheit erfasst werden, mit ihren Gefühlen ringen und im Zuge dessen ein Gespräch (V. 882–915) führen, das unverkennbar auf die Minnetrankszene bei Thomas von Britannien anspielt,48 dann lassen sie ihre Tochter – als Kind einer Passion, die der von Tristan und Isolde in nichts nachsteht – fast zwangsläufig als ›tristangleich‹ zur Liebe bestimmt erscheinen.49 Diese Suggestion wird zweitens noch einmal dadurch intensiviert, dass Cador und Eufemie nicht nur die Liebe von Tristan und Isolde, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die von Tristans Eltern wiederholen. Die Beweislage ist zwar insofern schwierig, als die entsprechende Passage von Thomas’ Tristanroman nicht überliefert ist. Jedoch erinnern einige Details des »Roman de Silence« so stark an Gottfrieds Darstellung der Liebe Riwalins und Blanscheflurs, dass es nicht schwerfällt, eine Verbindung zwischen den Texten anzunehmen:50 Wie Tristans Vater, so wird auch Cador im Reich seines Königs gepflegt, wie Tristans Mutter ist Eufemie dessen Schutzbefohlene, und wie diese wirft sie alle Rücksichten von sich, um sich heimlich mit ihrem Geliebten zu vereinigen.51 Wenn es stimmt, dass die Handlung hier außer auf die Liebe Tristans auch auf die seiner Eltern verweist, dann ist der Effekt wohl der, dass Silence nicht nur auf das gleiche Schicksal festgelegt wird wie Tristan, sondern dass sie – da sie ja aus derselben Verbindung hervorgeht – in gewisser Weise zu Tristan selbst zu werden scheint. Ja mehr noch: Es scheint, als wäre sie nicht nur ein zweiter (wenn auch weiblicher), sondern ein potenzierter Tristan. Als die Frucht nicht nur einer, sondern gleich dreier passionierter Liebesbeziehungen – der ihrer eigenen Eltern, der von Tristans Eltern und der von Tristan und Isolde selbst – ist sie dreifach zur Liebe bestimmt. Inwiefern die Allusionen des Textes tatsächlich auf genau diesen Schluss zielen, sei dahingestellt. Festzuhalten ist, dass sie Silence ihrem literarischen Vorbild schon vor ihrer Geburt so weit angleichen, dass ihr eigentlich gar nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu folgen. Ihre ersten eigenen Schritte in der 48 Vgl. dazu die Anm. von Roche-Mahdi [Anm. 4], S. 323. Vgl. dazu den Beitrag von Britta Bussmann in diesem Band. 49 Hier greift das Gesetz der Heldenjugend, das besagt, dass die Geschichte des ›Helden‹ in der seiner Eltern vorbereitet bzw. vorweggenommen wird. 50 Die Parallelen zu Gottfried verweisen also auf den Text der gemeinsamen Quelle. 51 Die Liebe zwischen Tristan und Isolde dagegen wird durch Tristans Drachenkampf, Verwundung und Heilung in Irland vorbereitet, sie entsteht auf dem Meer und wird erstmals sexuell vollzogen, als Tristan zu Isolde schleicht. Der Bezug des »Roman de Silence«, V. 735– 878, auf die Geschichte von Tristans Eltern scheint mir im Punkt der Liebesvereinigung besonders stark: hier wie da gibt es die Fokussierung auf das Handeln der Frau, die aus eigenem Entschluss zu ihrem Geliebten geht, und beide tun dies ganz konkret im Gewand der bzw. als Ärztin. Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hg. v. Haug, Walter u. Scholz, Manfred Günter. Mit dem Text des Thomas. Hg., übers. u. komm. v. Haug, Walter. Bd. I. Frankfurt a. M. 2011 (Bibliothek des Mittelalters 10), V. 1163–1330 (Eltern), dagegen V. 12157–12170 (Tristan und Isolde).

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Handlung erfüllen diese Erwartung, indem sie dafür sorgen, dass sie ihrem Alter Ego noch ähnlicher wird. Das beginnt schon mit der Taufe, die ihr nicht nur ebenfalls einen genauso sprechenden wie verbergenden Namen verleiht,52 sondern die darüber hinaus auch ein Versteckspiel mit der eigenen Identität initiiert, das ihr Leben in ganz ähnlicher Weise begleitet wie das Tristans. An Tristan denkt man deshalb auch zuallererst, wenn Silence ihre Liebe zur Musik entdeckt und den beiden Spielleuten folgt, um deren Kunst zu erlernen (V. 2689–3009).53 Und an Tristan denkt man weiter, wenn sie inkognito ins Land ihres Vaters zurückkehrt, wo sie mit ihren Fähigkeiten, ihrer Schönheit und ihrem Charme alle in ihren Bann zieht (V. 3477–3538). Die Wirkung ist bis hierher durchaus der vergleichbar, die schon im Zusammenhang des Schemas der Heldenjugend zu beobachten war: Man ›vergisst‹, dass Silence ein Mädchen ist, und sieht sie in ihrer Maske als liebenswürdiger Spielmann mehr und mehr als einen Doppelgänger Tristans. Dass ihr Vater sie bei ihrer Rückkehr nach Cornwall umstandslos als seinen verloren geglaubten ›Sohn‹ begrüßt (V. 3621–3654), lässt bestenfalls noch kurz aufmerken; und wenn sie wenig später zu Ebain gerufen wird, scheint das nur der nächste notwendige Schritt – denn der Spielmann Tristan gehört ›natürlich‹ an den Hof seines (Groß-)Onkels Marke/Ebain. Wo Marke ist, da ist freilich auch Isolde nicht weit. Und genau hier wird es schwierig: Erneut wird das literarische Muster so eingesetzt, dass es Silence eine männliche Identität verleiht, die kollabiert, sobald sie mit ihrem Frau-Sein konfrontiert wird. Das geht zwar an dieser Stelle nicht mit der Aufhebung ihrer Verkleidung einher; das Muster aber, das mit der Handlung ihr Leben und ihre Identität bestimmt, wird abermals massiv beeinträchtigt.54 Sein Bruch realisiert sich in diesem Fall als eine Umkehrung, die sich sowohl auf das Thema als auch auf den Verlauf der Handlung auswirkt. Das heißt: Die Erzählung, die eigentlich darauf aus sein sollte, Liebe zu entwickeln, generiert stattdessen Hass. Dieser Hass richtet sich gegen die, die eigentlich zur Liebe bestimmt worden war und wendet ihr Geschick so, dass sie von nun an nicht mehr als Ab- sondern als Gegenbild Tristans erscheint. 52 Die Parallele ist dadurch markiert, dass die Taufe Silences mit einer Reflexion ihres Vaters über Sinn und Bedeutung ihres Namens einhergeht (V. 2067–2085), die der Reflexion Ruals über den Namen ›Tristan‹ bei Gottfried, V. 1983–1998, entspricht. 53 Auf den Tristanstoff verweisen hier außerdem die Motive der Entführung – Gottfrieds Tristan wird tatsächlich entführt, bei Silence vermutet man es (V. 2995f.) – und des Banns mit Todesdrohung, der im »Tristan« alle Bewohner von Cornwall (Gottfried, V. 7204–7220), im »Roman de Silence« alle Spielleute (und damit auch Silence selbst) trifft (V. 3118–3126). Dass die beiden Motive bei Heldris weitgehend blind sind, verstärkt nur ihren Signalcharakter. 54 Während das Tristanmodell bereits hier gebrochen wird, läuft das Schema der Heldenjugend vorerst normal weiter. In seinem Kontext firmiert Eufemes Anschlag als eine der Gefahren, denen der junge ›Held‹ typischerweise ausgesetzt ist. Es scheitert also nur ›Tristan‹, der ›Ritter‹ bleibt intakt.

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Aus diesem Grund verläuft Silences Leben dem Tristans zwar weiterhin auffällig parallel; das Motiv, von dem es getrieben wird, ist aber nicht die Liebe Isoldes, sondern der Hass Eufemes. Ausgangspunkt der Entwicklung – und zugleich Wende in der Realisation des Musters – ist naheliegenderweise die erste Begegnung Silences mit der Königin, deren besondere Bedeutung sich auch daraus ergibt, dass der Referenztext an dieser Stelle direkt zitiert wird. Die Liebe, von der Eufeme beim Anblick des jungen Spielmanns ergriffen wird, so der Erzähler, ist nicht weniger leidenschaftlich als die, die Tristan für Isolde und Isolde für Tristan empfunden hat.55 Die Gleichung, die bis zu diesem Punkt nur suggeriert worden war, ist damit explizit benannt – und wirft ein Licht auf die Figurenkonstellation, die das folgende Geschehen um einiges verständlicher erscheinen lässt. Wenn Eufeme die Isolde ist, auf die Silences Bestimmung hinausläuft,56 dann ist vor allem ihr Handlungspart sehr viel besser nachvollziehbar: Wie Isolde, so nutzt auch sie die Abwesenheit ihres Gatten, um den jungen ›Spielmann‹ unter einem Vorwand in ihre Kemenate zu locken (V. 3711–3736). Als ›der‹ auf ihre Annäherung nicht so reagiert wie erwartet, ist sie – in Bezug auf den Prätext, der diese Erwartung begründet, begreiflicherweise – zuerst irritiert, dann enttäuscht und schließlich zornig (V. 3776–3894). Aus diesem Grund richtet sie all ihr Tun von nun an gegen den unwilligen ›Geliebten‹, wobei sie ›ihn‹ interessanterweise durchweg in Situationen bringt, die man von Tristan kennt – nur unter umgekehrtem Vorzeichen. So sorgt sie dafür, dass Silence in ihrer Kemenate aufgegriffen und der unehelichen Liebe bezichtigt wird (V. 4027–4148), sie ist für ihre Verbannung nach Frankreich verantwortlich (V. 4149–4272), und als sie ihre Rückkehr nicht verhindern kann, verleumdet sie sie erneut (V. 5648–5778) – mit dem Ergebnis, dass sie schließlich wie Tristan (denn auch so kann man die Episode lesen!) in den Wald fliehen muss.57 Alles in allem kann man in diesem Sinne sagen, dass Silence den Weg Tristans zwar formell bis zum Ende abschreitet, die gemeinsame Bestimmung zur Liebe 55 Car onques Tristrans por Izelt, / Ne dame Izeuls por dant Tristran / N’ot tele angoisse ne ahan / Com eult Eufeme la roїne / Por le vallet ki ert meschine (›Tristan never suffered / such anguished yearning for Isolde / nor Lady Isolde for Lord Tristan / as did Queen Eufeme / for this young man who was a girl‹; V. 3700–3704). 56 Diese Deutung ergibt sich insofern auch aus der Geschichte der Elterngeneration, als sich Eufemie und Eufeme dort ja gleichsam zu Isolde ›addieren‹. Während allerdings Eufemie in diesem Kontext als eine Isolde auftritt, die, weil sie ›ihren‹ Tristan heiraten darf, keinen Marke mehr braucht, erscheint Eufeme ohne Tristan ›unvollständig‹. In diesem Sinne könnte man sagen, dass sie, damit sich ihre Geschichte erfüllen kann, warten muss: bis Tristan ihr in Gestalt Silences endlich begegnet. 57 Die Möglichkeit der (gemeinsamen) Flucht in den Wald war in der Vorgeschichte schon einmal von Eufemie erwogen, aber nicht realisiert worden (V. 1360–1367). Das Motiv des Waldlebens ist mithin nicht nur präsent, sondern sogar vorbereitet.

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aber schon auf der Hälfte verliert. Die Ursache dafür ist zumindest von der Warte des literarischen Musters her weniger bei Königin Eufeme als bei Silence selbst zu suchen. Denn das Problem besteht ja nicht darin, dass Eufemes Liebe etwa die falsche wäre – der Erzähler lässt bei aller Verachtung für die Königin keinen Zweifel daran, dass es exakt diese Liebe ist, die Tristan und Isolde füreinander empfinden –; das Problem ist vielmehr, dass Silence nicht die Richtige für diese Liebe ist, denn: Sie ist kein Mann.58 Dabei ist der Handlungspunkt, an dem ihr dieser ›Fehler‹ zum Verhängnis wird, ebenso bezeichnend wie dieser selbst: Silences Unfähigkeit, sexuell als Mann zu agieren, bringt ihre Identifikation mit Tristan just in dem Moment zu Fall, da sie sich im narrativen Muster hätte vollenden sollen – also im Moment der (hier ausbleibenden) Liebesvereinigung. Die Konsequenzen sind nicht weniger radikal, als sie es später beim ›Zurücktreten‹ des Ritters Silentius sein werden: Wie dieser, so verschwindet auch Tristan und lässt in Gestalt seines ins Negative gewendeten Lebenslaufs bestenfalls den Schatten seiner selbst zurück. Was Silence ›wesenhaft‹ mit ihm verband, spielt von nun an keine Rolle mehr. Der ›Spielmann‹ tritt ab,59 und an die Liebe wird kein einziger Gedanke mehr verschwendet – nicht einmal ganz am Ende bei der Hochzeit mit Ebain. Dieser letzte Punkt verdient insofern noch einen genaueren Blick, als er die Frage aufwirft, wie Silences Scheitern in der Liebe eigentlich genau mit ihrem Geschlecht zusammenhängt. Wenn nämlich, so könnte man immerhin mit einigem Recht einwenden, das Problem nur darin besteht, dass sie ihr (an ihr biologisches Geschlecht gebundenes) sexuelles Handeln nicht mit ihrer sozialen Rolle in Übereinstimmung zu bringen vermag, dann würde ein Wechsel ihrer sozialen Rolle ja eine ganz einfache Lösung darstellen; sprich: Um ihre Bestimmung zu erfüllen, müsste Silence, statt mit Tristan, einfach mit Isolde identifiziert werden. Von ihrer Geschichte wäre dieser Schritt durchaus gedeckt, da die erotische Prägung hier prinzipiell geschlechtsneutral formuliert wird: Als Kind ihrer Eltern wäre Silentia ebenso zur Liebe bestimmt wie Silentius, und in ihrer Eigenschaft als androgyner Jongleur könnte sie sich genauso gut zu Isolde mausern wie ihr imaginärer Bruder zu Tristan. Wie um eine Probe aufs Exempel zu statuieren, setzt Merlin am Ende genau diesen Lösungsvorschlag ins Werk – und beweist in seinem Fehlschlagen, dass er auf einem Denkfehler beruht. Denn zwar ist es, wie seine Aktion belegt, ohne weiteres möglich, Silence durch ihre 58 Man mag sagen, dass auch Eufeme nicht die Richtige für diese Liebe wäre, denn anders als Isolde ist sie ja ein Sathanas (›Satan‹; V. 3699). Als ein solcher erweist sie sich freilich erst nach Silences Zurückweisung, also in dem Moment, da sie eben nicht mehr ›Tristans Isolde‹ sein kann und deshalb zu einer anderen wird. 59 Nachdem Silence die Königin zurückgewiesen hat, finden weder die Harfe noch die Musik mehr Erwähnung. Fast scheint es, als habe die Protagonistin ihr künstlerisches Talent in diesem Moment verloren.

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›Rückverwandlung‹ in Silentia von der Position eines ›falschen‹ Tristan auf die einer ›richtigen‹ Isolde zu verschieben (mit dem willkommenen Nebeneffekt, dabei auch die ›pervertierte Isolde‹ Eufeme loszuwerden), für die Realisation ihrer Bestimmung zur Tristanliebe ist damit aber nichts gewonnen, im Gegenteil: Da Marke/Ebain schlecht die Rolle Tristans übernehmen kann und Silence selbst ja nun Isolde ›ist‹, fehlt wieder (und endgültig) der richtige Partner. Wie man es demnach auch dreht und wendet: Vor dem Hintergrund der Konstellation des Tristanromans – die zugleich die Konstellation ihrer Geschichte ist – steht Silence immer falsch. Sie passt als Tristan nicht zu Isolde, und sie hat als Isolde keinen Tristan. Die erotische Liebe bleibt ihr verwehrt.

Zwischenfazit: Die Rede des_der Anderen Als Ergebnis ist mithin festzuhalten, dass der Versuch, Silence eine männliche Identität zu verschaffen, auf der ganzen Linie scheitert. Hinzugefügt werden sollte, dass ihr im Zuge dessen auch die Aneignung einer weiblichen Identität mehr und mehr unmöglich wird. Insgesamt wird also nicht nur Silences MannWerdung durch ihr (biologisches) Frau-Sein, sondern auch umgekehrt ihre FrauWerdung durch ihr (narratives) Mann-Sein verhindert: Während jene in Ermangelung der biologischen ›Realien‹ nicht abgeschlossen werden kann, erscheint diese im Angesicht der durchweg männlichen Vor- und Gegenbilder ihrer Geschichte zwangsläufig leer. Silences Geschlechtsidentität erweist sich so als eine, die immer entweder unerfüllt oder undefiniert bleibt. Es ist eine Identität, die sich sowohl von ihrer männlichen als auch von ihrer weiblichen Seite her als konstitutiv krisenhaft darstellt. Zurückzuführen ist all dies auf einen Vorgang, in dem sich Erzählung und erzählte Welt fast schon komplotthaft gegen Silence zu verschwören scheinen. Dirigiert werden sie von einem Merlin, dessen magische Kraft sich im Vermögen realisiert, die Handlungsmuster und -rollen des Geschehens fast beliebig umzubesetzen.60 Im Zusammenspiel der Instanzen verwandelt sich Silences Welt so gleichsam in eine Falle: Die höhere Macht, die hier die Rolle des Schicksals spielt, scheint sie auf den Weg des gesellschaftlichen Erfolgs und des Liebesglücks nur zu geleiten, damit ihr beides am Ende umso entschiedener vorenthalten werden kann. Warum die Protagonistin dergestalt in die Irre geführt wird – bzw. was es zu bedeuten haben könnte, dass dies geschieht –, bleibt dabei weitgehend unklar. 60 Dass er hier als erzählweltliche Manifestation des Autors fungiert, wurde in der Forschung mehrfach festgestellt. So bes. Menegaldo [Anm. 9], S. 8; Gilmore, Gloria Thomas: »Le Roman de Silence«. Allegory in Ruin or Womb of Irony? In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 111–128; vgl. auch Bloch [Anm. 18], S. 88f.

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Deutlich ist nur, dass die Krise ihres Selbst in irgendeiner Weise mit ihrer Geschlechtlichkeit zusammenhängt – was freilich zunächst einmal nur heißt, dass die Ebenen des Erzählens in diesem Punkt gegeneinander konstruiert sind. Silences Geschlecht erscheint mithin immer wieder problembehaftet, ja ›falsch‹, weil (1) ihre erzählweltlich-reale Geburt als Frau nicht zu ihrer schematischkompositorischen Bestimmung zum Ritter passt, weil (2) die Handlungsrollen, die ihr in ihrer eigenen Geschichte zugeschrieben werden, in der beigeordneten erotischen Konstellation des Tristanromans unerfüllt bleiben und weil (3) sogar mit der Baumeisterin ihres geschlechtlichen Wesens – nämlich Nature selbst – irgendetwas nicht zu stimmen scheint. Silences Geschlechtlichkeit als ›queer‹ zu bezeichnen liegt damit durchaus nahe; diese Charakterisierung betrifft indes weniger die Figur, die uns in der erzählten Welt entgegentritt, als vielmehr ein unbestimmtes Etwas, das im Akt des Erzählens konstruiert wird.61 Silences Queerness ist mithin eine sexuelle allein als eine textuelle: Es ist der Text, der das Geschlecht seiner Protagonistin so konfiguriert, dass sie einen angemessenen Platz in der Gesellschaft ebenso wenig zu finden vermag wie ein geliebtes Gegenüber. Und es ist es auch der Text, der ihr Dasein in eine Aporie münden lässt, die den Glauben an die Existenz einer ›natürlichen‹ Geschlechterordnung erschüttert. Dass es sich bei dem so umrissenen Phänomen ausschließlich um eines des narrativen Diskurses handelt, liegt damit offen zutage. Und auch an seinem Äquivalenzverhältnis zum Lacanschen Unbewussten kann kaum noch gezweifelt werden: Was es mit diesem verbindet, das ist demnach außer der Eigenschaft, sich nur ›flimmernd‹ bemerkbar zu machen, auch der Umstand, dass das, was dieses Flimmern verursacht, nirgends mit Sicherheit erkennbar wird. Deshalb stößt die Kreisbewegung der literaturwissenschaftlichen Analyse zwar immer wieder auf den Befund, dass die Identitätsbildung der Protagonistin an ihrer abweichenden Geschlechtlichkeit scheitert. Die Art dieser Abweichung kann jedoch nirgends konkret benannt werden. Dass die Analyse sich dem Problem des Textes dergestalt nur nähert, um am Ende vor einem Rätsel zu stehen, entspricht durchaus ihrem Ansatz: Auch Lacan will das Unbewusste ja zuallererst nicht entschlüsseln, sondern in seinen Äußerungen hörbar machen.62 Der Mehrwert meiner erzählstrukturell-psychoanalytischen Lektüre besteht ganz in diesem 61 Man mag an dieser Stelle mit einigem Recht einwenden, dass Silence auch erzählweltlich in gewisser Weise queer ist bzw. handelt. Da sie dort unzweifelhaft eine Frau ist und bleibt, reichen die von der Forschung (vgl. [Anm. 20]) herausgearbeiteten Aspekte der männlichen gender performance und des mit dieser (vermeintlich) verbundenen homoerotischen Begehrens freilich kaum aus, um das Scheitern von Silences Identitätsfindung verständlich zu machen: Ihr Problem liegt auf einer anderen (›tieferen‹) Ebene der Erzählung. 62 Vgl. etwa: »Die Deutung geht nicht so sehr auf den Sinn als vielmehr darauf, die Signifikanten auf ihren Nicht-Sinn zurückzuführen«; Lacan: Grundbegriffe [Anm. 21], S. 222.

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Sinne zunächst einmal darin, dass sie den schwer greifbaren Eindruck, der besagt, dass Silences Geschichte trotz ihrer konventionellen Anlage und formalen Geschlossenheit ›irgendwie nicht aufgeht‹, literaturwissenschaftlich bestätigt und begründet. Das ist aber keineswegs alles: Indem sie zeigt, dass das Brechen der im Text realisierten Muster offenbar gezielt darauf aus ist, alle geschlechtlichen Identitäten der Protagonistin konsequent auszustreichen, lässt sie vor allem jenes Andere, das sich Lacan zufolge in den Wirkungen des Sprechens entfaltet, aufscheinen. Als das (lacansche) Subjekt des »Roman de Silence« wäre demzufolge nicht die junge Frau anzusprechen, die die mittelalterliche Geschlechterordnung mehr oder weniger freiwillig verlässt und eine Zeit lang als Mann agiert, um dann wieder in ihre ›natürliche‹ Rolle zurückzukehren, sondern ein_e Andere_s: eine_s, von der_dem nicht einmal zu sagen ist, ob sie_es überhaupt eine Figur oder nur ein Effekt des Diskurses ist, und von der_dem wir bisher nichts wissen, als das, was wir nicht wissen: nämlich, ob sie_es männlich oder weiblich ist.63 Diesem Nichtwissen weiter nachzuforschen – und ihm möglichst Abhilfe zu verschaffen –, ist natürlich reizvoll. Dafür weiterhin mit Lacan zu operieren, bietet sich insofern an, als die Spiegelungen, durch die Silences Identität zugleich hervorgebracht und getilgt wird, mit der von ihm entwickelten Spiegeltheorie in besonders aufschlussreicher Weise erfasst und gedeutet werden können.64 Auszugehen wäre dabei vom Gegensatz der erzählweltlich-weiblichen Silence zu ihren durchweg männlichen Identifikationsfiguren, sowie weiter von der Frage, welches Andere sich in einer Frau spiegeln könnte, die schon innerhalb der erzählten Welt als Mann agiert; oder genauer: in einer Frau, die explizit in einen Konflikt zwischen (emotionalem) Frau-sein- und (rationalem) Mann-seinMüssen gerät.65 Wenn man bedenkt, dass als Spiegelachse auch hier nicht Silence selbst, sondern der Diskurs fungiert, schließt sich ein ganzer Katalog weiterer Fragen an: Wer oder was spricht aus einem Erzähler, der offenbar Schwierigkeiten hat, seiner Protagonistin das ›richtige‹ geschlechtliche Fürwort zuzuordnen?66 Wer oder was spricht aus der wie nebenbei geschürten Ungewissheit, wo die Grenze zwischen Silences weiblichem ›Innen‹ und ihrem männlichen ›Außen‹ eigentlich genau verläuft?67 Und was ist in diesem Zusammenhang davon zu 63 Das Unbewusste, das bei Lacan Ort des Subjekts ist, zeigt sich bekanntlich vornehmlich als eine Diskontinuität oder Leerstelle: als etwas, das nur da ist, indem es fehlt. Vgl. ebd., S. 31f. 64 Grundlegend: Lacan [Anm. 25]. 65 Auf den – von Raison geschlichteten – Disput zwischen Nature und Noreture (V. 2497–2656) komme ich gleich noch zurück. 66 Dazu bes. Bloch [Anm. 18], S. 87f.; Roche-Mahdi [Anm. 4], S. XXIf. 67 Wenn die mehrfach wiederholte Versicherung, dass Silence ›unter ihren Kleidern‹ eine Frau ist (V. 2826–2830, 3644–3646 u. ö.), von der Aussage begleitet wird, dass auch der Körper nur ein Kleid sei (V. 1845, 3641–3643) stellt sich unweigerlich die Frage, wo Silences Weiblichkeit eigentlich genau zu verorten ist.

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halten, dass das Geschlecht der Protagonistin zwar immer wieder ausdrücklich benannt, aber nie unverhüllt gezeigt wird?68

Diesseits des Spiegels. Ein psychoanalytisches Experiment Der Versuch, all diese Fragen zu beantworten, hat indes einen Haken. Sobald man sich nämlich nicht mehr damit begnügt, den Brüchen des narrativen Diskurses in ihren Auswirkungen auf das Verständnis des Textes nachzuspüren und stattdessen beginnt zu fragen, was sich ›dahinter‹ verbirgt, tritt unweigerlich ein Subjekt auf den Plan, das nicht mehr nur das des »Roman de Silence« ist. Es geradezu mit dem Autor gleichzusetzen, wäre sicher zu viel, es kategorisch von ihm zu trennen, geht aber auch nicht an. Denn wenn man den gesamten Text als Projektionsfläche eines dunklen Unbewussten betrachtet: Wer, wenn nicht der Autor, sollte es dann sein, der es in ihn hineinprojiziert? Und was läge näher als die Annahme, dass dieser Projektionsvorgang etwas mit ihm selbst, mit seinem Unbewussten oder einem Fragment desselben zu tun haben muss (denn was wäre die Alternative)? Für den Psychoanalytiker mögen sich hier glänzende Perspektiven eröffnen – die Literaturwissenschaftlerin dagegen betritt Glatteis, und das nicht nur in einer Hinsicht. So kommt mit dem Subjekt des Autors vor allem ein Faktor ins Spiel, der von der sprachlichen Ebene des Textes abgehoben und damit literaturwissenschaftlich nicht kontrollierbar ist. Das heißt: Alles, was analytisch auf ihn zurückschließen lässt, und sei es auch noch so sehr von den Indizien des Textes gedeckt, bleibt zwangsläufig Spekulation. Deshalb sind von diesem Punkt an alle Bedenken ins Recht zu setzen, die man psychoanalytischen Zugriffen gerade auf historische Texte mit (mehr oder weniger) guten Gründen entgegengehalten hat.69 Man darf also daran zweifeln, ob die Psyche des mittelalterlichen Autors 68 Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die Taufe, bei der Silences Geschlecht nur als ein verdecktes erscheint (V. 2086–2125), und die Devestitur, die ausschließlich durch die Wahrnehmung der Figuren vermittelt wird (V. 6572–6589). Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird auf diese Weise, so könnte man sagen, zwar auf Silences Geschlecht gelenkt: aber eben als etwas, das er selbst nicht sieht. Vgl. hierzu den Beitrag von Regina Toepfer in diesem Band. 69 Vgl. hierzu die umfassenden Diskussionen bei Beutin, Wolfgang: Ältere deutsche Literatur und Psychoanalyse. In: Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984. Bd. II. Hg. v. Stötzel, Georg. Berlin, New York 1985, S. 199–222, hier bes. S. 203–210; Eming, Jutta: Mediävistik und Psychoanalyse. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hg. v. Jaeger, C. Stephen u. Kasten, Ingrid. Berlin, New York 2009 (Trends in Medieval Philology 1), S. 31–44; Schnell, Rüdiger: Psychoanalyse, historische Emotionsforschung, Literaturwissenschaft: Ein schwieriges Verhältnis. Überlegungen eines Mediävisten. In: ZfdPh 130 (2011), S. 388–417, bes. S. 406–414. Zuletzt: Wolfzettel, Friedrich: Psychoanalytische Literaturwissenschaft. In: Literatur- und Kul-

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mit den Instrumenten einer am modernen Individuum entwickelten Analysemethode adäquat erfasst werden kann. Und noch entschiedener muss man wohl fragen, wie sich das im Text artikulierte Unbewusste zum bewussten ästhetischen Schaffen des Autors verhält. Wenn ich diese Bedenken in den folgenden Absätzen zurückstelle, dann tue ich das also nicht deshalb, weil ich meine, damit so etwas wie historische Erkenntnis über den Autor des »Roman de Silence« zutage fördern zu können. Meine Überlegungen verstehen sich vielmehr als Experiment: Indem ich annehme, dass das, was ich auf den letzten Seiten herausgearbeitet habe, in irgendeiner Weise auf das reale Unbewusste einer realen Person zurückgeht, schaffe ich eine Versuchsanordnung, die es erlaubt, seinen Inhalt nicht nur verständlicher zu fassen, sondern auch explizit zu benennen. Ich gebe dem literaturwissenschaftlich nicht auflösbaren Rätsel des »Roman de Silence« also eine (hypothetische) psychoanalytische Lösung, in der Hoffnung, dass diese trotz ihres fehlenden Geltungsanspruchs ein erhellendes Licht auf die merkwürdige Anlage des Textes zurückzuwerfen vermag. Lacans Spiegeltheorie dient mir hierbei als Impulsgeber. Der Grundgedanke einer ihr folgenden Interpretation ist wie bereits angedeutet die Idee, den »Roman de Silence« als Funktionsäquivalent jenes Spiegels zu begreifen, mit dessen Hilfe das Subjekt sich selbst als ein (narzisstisches) Ideal-Ich neu erschafft.70 Dieses Ideal-Ich manifestiert sich im Text naheliegenderweise in Silence selbst,71 womit die auffälligen (und durchaus untypischen) Brüche ihrer Figur in ganz neuer Weise signifikant werden.72 Dass sie im imaginären Raum des Textes kein einheitliches und stabiles Selbst konstituiert, würde demnach auf ein Identifikationsproblem hindeuten, das notwendig auf das in ihr sich spiegelnde Subjekt zurückfiele und zwar – wiederum naheliegenderweise – seitenverkehrt. Da ihre Identitätsbildung daran scheitert, dass ihr die vollständige Identifikation mit ihren männlichen Vor- und Gegenbildern verwehrt bleibt, würde das also heißen, dass die Identifikation mit ihr (denn auf dieser Ebene fungiert ja sie als Imago) umgekehrt ihr Gegenbild (in seiner Realität) unter entgegengesetztem Vorzeichen vor dieselbe Schwierigkeit stellen würde, sprich: Es wäre reziprok zu der kein-Mann-werden-könnenden Frau als ein keine-Frau-sein-könnender Mann zu konkretisieren. Diese Deutung betrifft zwar zunächst einmal nur das, was ich bisher das Unbewusste des Textes genannt habe; dass dieses sich aber turtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hg. v. Ackermann, Christiane u. Egerding, Michael. Berlin, Boston 2015, S. 453–480, bes. S. 458–461. 70 Vgl. Lacan [Anm. 25], S. 64. 71 Oder genauer: in dem sie konstituierenden Diskurs des Erzählers – denn nur da greifen wir ja jene Silence, die ich in den letzten Kapiteln herausgearbeitet habe. 72 Das Ideal-Ich zeichnet sich eigentlich durch seine bruchlose Einheitlichkeit aus: In ihm imaginiert sich das Subjekt als ein Ganzes. Vgl. Lacan [Anm. 25], S. 66f.

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zufällig in dieser Weise gestaltet, wird man kaum für wahrscheinlich halten wollen. Wenn man sich auf die Argumentation der Psychoanalyse einlässt, kommt man also zumindest beim »Roman de Silence« um den Autor wohl nicht herum. Akzeptiert man diese Konsequenz und fragt von ihr ausgehend weiter, so lässt sich der Befund problemlos noch genauer ausbuchstabieren. Das gilt vor allem dann, wenn man dafür über Lacan hinaus auf Sigmund Freud rekurriert – was sich übrigens nicht zuletzt deshalb anbietet, weil dieser sich, flankiert von seinem Schüler Otto Rank, eingehend mit dem Identitätsnarrativ der Heldenjugend beschäftigt hat.73 Wenn sich der analytische Fokus mit diesem Schritt endgültig auf die Psyche des Verfassers richtet, so hat das wohlgemerkt keineswegs zur Folge, dass die literarische Beschaffenheit des Textes nun nicht mehr wichtig wäre. Im Gegenteil: Diese bleibt Hauptgegenstand der Betrachtung, sie steht jetzt nur nicht mehr für sich selbst, sondern für eine Lebenserfahrung, die mit den Mitteln von Verschiebung, Verdichtung und (archetypischer) Symbolisierung zum Ausdruck gebracht wird.74 Anzusetzen ist in dieser Perspektive sinnvollerweise bei der Verwandtschaftsstruktur, die die Grundform des Schemas von der Jugend des Helden bei Rank und Freud im Kern ausmacht. Zum »Familienroman[ ] de[s] Neurotiker[s]«75 avanciert es dort unter anderem deshalb, weil es die Eltern des Protagonisten in einer Weise verdoppelt, die die Veränderung jener Gefühlsbeziehung repräsentiert, die jedes Kind im Verlauf seines Aufwachsens zu seinen Eltern aufbaut. Dass der junge Held meist verwaist und in einer ungemäßen Umgebung von Adoptiveltern aufgezogen wird, ist in den Worten Freuds darauf zurückzuführen, dass »[d]ie ersten Kinderjahre […] von einer großartigen Überschätzung des Vaters beherrscht [werden], […] während später unter dem Einfluss von Rivalität und realer Enttäuschung die Ablösung von den Eltern und die kritische Einstellung gegenüber dem Vater einsetzt. Die beiden Familien des Mythus […] sind demnach beide Spiegelungen der eigenen Familie, wie sie dem Kind in aufeinander folgenden Lebenszeiten erscheinen« – und die deshalb, wie

73 Rank, Otto: Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung (21922). Wien 2000. Freud beschäftigt sich in seinen Schriften mehrfach mit dem ›Mythos‹ der Heldenjugend; ich beziehe mich hier auf: Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen (1939). Hg. v. Assmann, Jan. Stuttgart 2010 (RUB 18721). 74 Grundlegend zu diesen »Generalmechanismen alles […] seelischen Geschehens: Leuschner, Wolfgang: Verschiebung, Verdichtung. In: Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. Hg. v. Mertens, Wolfgang u. Waldvogel, Bruno. Stuttgart 32008, S. 826–829, hier S. 826. 75 Rank [Anm. 73], S. 81.

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hinzuzufügen ist, im Rückblick als zwei verschiedene wahrgenommen und erzählt werden.76 Für den »Roman de Silence« ist diese Formulierung insofern ein wenig abzuwandeln, als hier statt einer Verdoppelung offenbar gleich eine Verdreifachung der Eltern vorliegt. Denn Silence verfügt neben ihren ›eigentlichen‹ Eltern zum einen über den Beschützer und die Gouvernante, die ihre Erziehung nach der Taufe übernehmen (V. 2142–2217). Hinzu kommen zum andern Ebain und Eufeme, die zwar auf den ersten Blick nicht viel mit Cador und Eufemie gemein haben, aber in einer freudianischen Deutung – abgesehen von der auch in diesem Kontext verräterischen Homonymie der beiden Frauen – schon in ihrer Rolle als König und Königin auf diese verweisen.77 Analytisch ist deshalb zu unterscheiden zwischen der familiären Konstellation der Waldkindheit und der, in die die heranwachsende Silence am Hof von Ebain und Eufeme gerät.78 In welcher Weise beide auf das Problem der Geschlechtlichkeit ihrer Protagonistin verweisen, ist von hier ausgehend zu erschließen. Am Beginn der im »Roman de Silence« codierten Lebenserfahrung steht eine frühe Kindheit, die geprägt ist von der Entscheidung des Vaters, das neugeborene Mädchen zum Jungen zu ›machen‹. Dass es dafür aus der Gesellschaft entfernt und isoliert im Wald aufwachsen muss, könnte in diesem Zusammenhang auf die daraus resultierende Entfremdung von den Eltern hindeuten.79 Kennzeichnend ist in jedem Fall das mit dem Ortswechsel verbundene Moment des äußeren Zwangs, das aus psychoanalytischer Sicht eindeutig auf den Vater verweist.80 Die Ver76 Freud [Anm. 73], S. 15. 77 Dass »König und Königin in Traum und Märchen immer nur die Eltern bedeuten« ist nach Freud auf deren Idealisierung durch das Kleinkind zurückzuführen (ebd.). 78 Es ist nicht schwer, diese beiden Konstellationen den von Rank beschriebenen Stadien des Familienromans zuzuordnen. Das erste, asexuelle Stadium ist demnach vom Wunsch des Kindes geprägt, »die jetzt gering geschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höherstehende zu ersetzen« – hier würden also Silences Zieheltern die aktuelle Wahrnehmung des (vorpubertären) Kindes repräsentieren, Cador und Eufemie hingegen die Erinnerung an »die verlorene[ ] glückliche[ ] Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ist.« Beim zweiten, sexuellen Stadium kommt die »Neigung [hinzu], sich erotische Situationen und Beziehungen auszumalen.« Warum hier bei Silence nicht nur die ›Mutter‹ Eufeme, sondern auch der ›Vater‹ Ebain eine tragende Rolle spielt, wird gleich noch zu erörtern sein. Alle Zitate Rank [Anm. 73], S. 81–83. 79 Dass die Ersatzeltern durchweg auf ihre nährende, schützende und erziehende Funktion reduziert sind, fällt zumindest auf: Sie sind reine Befehlsempfänger, allein konzentriert auf den Wunsch des Vaters, das Kind zum perfekten Ritter zu machen (vgl. etwa V. 2239–2251, 2359–2400). Dass von einer affektiven Bindung hier nichts zu spüren ist, unterscheidet Silences Waldjugend übrigens grundsätzlich von der Parzivals, auf die in diesem Zusammenhang gern hingewiesen wird. So Roche-Mahdi [Anm. 4], S. 324. 80 Interessant ist, dass sich Cador bei der Unterredung, die er bei seinem einzigen Besuch in der Waldfestung mit Silence führt, explizit auf das von Ebain ausgesprochene Erbverbot beruft

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mutung, dass es sein Wille ist, der sich in der sorgfältig verbarrikadierten Festung (V. 2220–2256), die für Silences Ausbildung eigens errichtet wird,81 gleichsam materialisiert, liegt dabei nicht zuletzt deshalb nahe, weil die Symbolik des Waldes auch in diesem Kontext eine entscheidende Rolle spielt: Der Wald steht für eine Wildnis, die, da Silence erst in sie entlassen wird, als sie gelernt hat, das vom Vater ungewollte Geschlecht sorgfältig zu verbergen (V. 2485–2491), sowohl eine äußere (die Wildnis des gesellschaftlichen Lebens, in der Silence als Mann ›funktionieren‹ muss), als auch eine innere (die Wildnis ungezügelter Geschlechtlichkeit) sein kann.82 So oder so weist alles auf eine Konditionierung hin, deren Ziel darin besteht, der (inneren) Gefühlsrealität des Kindes buchstäblich ein Bollwerk zu errichten, das es nach außen hin abschließt. In diesem Sinne als (symbolische) Verdichtung gelesen, wäre der ganze Vorgang in etwa so zu paraphrasieren: Silences isoliertes Aufwachsen in der Waldfestung steht für eine Erziehung, die das Kind in eine Rolle zwingt, die seinem Wesen zutiefst fremd ist. Dabei erscheint der Vater als Vertreter einer geschlechtlichen Verhaltensnorm, die vom Kind fordert, sich nach außen hin anders zu geben, ja anders zu werden, als es ist. Das heißt mit anderen Worten: Die Schilderung bezeichnet nicht einfach die Erziehung eines Mädchens zum Jungen, sondern die Erfahrung, die ein Kind macht, wenn es zum Jungen erzogen wird, obwohl es sich als Mädchen fühlt.83 Diese Deutung wird vom Auftreten der allegorischen Figuren Nature und Noreture in nur leicht verhüllter Form bestätigt. Schon der Moment ihres Erscheinens in Silences zwölftem Lebensjahr (V. 2500) weist unmissverständlich auf den Konflikt hin, dem sich das ›widernatürlich‹ erzogene Kind spätestens zu (V. 2444–2457): An dieser Stelle wird der Zusammenhang der drei (durch Verschiebung auseinander hergeleiteten) Vaterfiguren direkt greifbar. 81 Lacan weist darauf hin, dass sich die Ich-Bildung in Träumen oft als ein befestigtes Lager symbolisiert: »Wir finden diese Strukturen einer Befestigungsanlage – deren Metaphorik spontan auftaucht, als würde sie unmittelbar aus den Symptomen des Subjekts hervorgehen – in ähnlicher Weise auf mentaler Ebene realisiert; sie markieren dort Mechanismen der Inversion, Isolation, Verdoppelung, Annulierung, Verschiebung, die der Zwangsneurose zugeschrieben werden«; Lacan [Anm. 25], S. 67f. 82 Die Verse 2369–2373 können in beide Richtungen gelesen werden: Car por icho le violt destraindre / Et faire entor ostel remaindre, / Qu’en tel liu le portaist enfance / U li enfes par ignorance / Descovrist as gens sa nature, / Se fust falsee Noreture (›for he wanted to restrain him by this means / and make him stay inside the lodging / rather than spend his childhood somewhere / where, not knowing any better, / he might reveal his nature to people, / thus contradicting nurture‹). Auch hier ist die Wildnis offenbar wieder nicht eindeutig der ›Natur‹ zuzuordnen! – Die beiden Optionen korrespondieren weitgehend mit denen, die ich eingangs für die Symbolik des Waldes in der Schlussepisode herausgearbeitet habe. Auf die Parallelen zwischen den beiden Szenen verweist auch Brahney [Anm. 44], S. 59f. 83 Dass Silence als Mädchen geboren wird, wäre in diesem Sinne nicht nur als epische Wirklichkeit aufzufassen, sondern als Erinnerung an jenen vor- oder halbbewussten Zustand, in dem das Kleinkind noch nicht zwischen Wirklichkeit und Wunschvorstellung unterscheiden kann. Vgl. dazu etwa Jung [Anm. 27], S. 88–92.

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Beginn der Pubertät stellen muss. Interessant ist, dass der Aufstand von Nature gegen Noreture nicht von dieser selbst, sondern erst von der später hinzukommenden Raison niedergeschlagen werden kann. Wie überzeugend deren Argumente tatsächlich sind, ist vielleicht sogar nebensächlich;84 worauf es ankommt, ist, dass ihr Machtwort eine Entscheidung herbeiführt, die die soziale Konditionierung, die bis dahin als eine von außen auferlegte erschien, sozusagen internalisiert. Silence kann ihre Isolation wohl nicht zufällig genau in dem Moment überwinden, da sie den Willen des Vaters zu ihrem eigenen macht:85 Indem sie, so könnte man sagen, das ›Bollwerk‹ ihrer Erziehung nach ›innen‹ verlegt, wird sie nach außen hin frei. Die Tore der Festung öffnen sich, und sie kann gehen, wohin sie will. Von ihren Erziehern ist entsprechend von jetzt an keine Rede mehr. An deren Stelle treten Ebain und Eufeme – und mit letzterer kommt zugleich jene sexuelle Rivalität ins Spiel, die nach Rank und Freud typisch für die Beziehung des (männlichen) Heranwachsenden zu seinen Eltern ist.86 Dass sich diese Rivalität bei Silence nicht wie in der klassischen Ausprägung des Ödipuskomplexes gegen den ›Vater‹, sondern gegen die ›Mutter‹ richtet, ist freilich abermals symptomatisch: In ihr manifestiert sich eine geschlechtliche Abweichung, deren Art spätestens an diesem Punkt deutlich hervortritt. Wie sie sich definiert, erhellt wohl am klarsten aus der Art und Weise, in der sich die Konfrontation mit Eufeme vollzieht, bzw. genauer: aus dem Umstand, dass diese Silences Zurückweisung ihres Begehrens mit dem Vorwurf der Homosexualität quittiert (V. 3817, 3934–3936).87 Die globale Richtung wird dem Verständnis dabei von Ranks Hinweis gegeben, dass das Potipharmotiv für eine »urzeitliche Besitzergreifung der Mutter« steht, deren sich der (männliche!) Held im Zuge seiner Individuation 84 Raison hält dem von Nature in Silence geweckten Wunsch, als Frau zu leben (V. 2539–2546), allein die materiellen Vorteile des Mann-Seins entgegen (V. 2609–2624). Dass ihr Rat vielleicht der pragmatischste, aber kaum der richtige ist, wird spätestens deutlich, wenn Silence ergänzt: On me poroit tost afoler / Al giu c’on fait desos gordine, / Car vallés sui et nient mescine (›One could easily make a fool of me / in any game played under the covers, / for I’m a young man, not a girl‹; V. 2648–2650). Denn darauf, dass sie desos gordine eben auch nicht als Mann agieren kann, hatte ja eben erst Nature hingewiesen (V. 2514–2524); und dass ihr Nicht-FrauSein Silence ebenso wenig zum Mann werden lässt, wie ihr Nicht-Mann-Sein sie zur Frau macht, liegt auf der Hand. In dieser Diskussion kann also schon allein deshalb keiner recht haben, weil für Silence jede Entscheidung die falsche ist. 85 In ihrer Argumentation hat bezeichnenderweise der Gedanke an den Vater das letzte Wort: Ne voel mon pere desmentir (›and I don’t want to prove my father a liar‹; V. 2653). 86 Vgl. etwa Rank [Anm. 73], S. 82, 109f. Rank geht davon aus, dass »die Phantasietätigkeit der Mädchen […] in diesem Punkte viel schwächer« sein dürfte (ebd., S. 81). 87 Die Szene steht aus gutem Grund im Zentrum mehrerer Queer Readings des »Roman de Silence«. Für diese lässt sie je nach Ansatz und Perspektive entweder auf Silences bzw. Eufemes Homosexualität oder auf Silences ›drittes Geschlecht‹ schließen. Vgl. Blumreich, Kathleen M.: Lesbian Desire in the Old French »Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 47–62; Waters [Anm. 20], S. 42f.; Clark [Anm. 20], S. 55.

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erwehren muss.88 Dass daraus an dieser Stelle der Verdacht ›falscher‹ Sexualität resultiert, ergibt daran anschließend nur Sinn, wenn man den ganzen Vorgang, statt mit Rank auf die Inzestscheu des adoleszenten Sohnes,89 auf die instinktive Abwehr eines Heranwachsenden hin deutet, der die mütterliche ›Besitzergreifung‹ als unpassend empfindet und den daraus folgenden Schluss auf seine Homosexualität zugleich empört zurückweist: weil er sich der Mutter gegenüber nicht als Sohn, sondern als Tochter fühlt.90 Dass seine Geschichte damit endet, dass er, anstatt den Vater zu töten, um die Mutter zu heiraten, umgekehrt die ›Mutter‹ tötet, um den ›Vater‹ zu heiraten, erscheint danach nur konsequent. Auch dies ist allerdings im Kontext der Handlung sehr viel weniger als Wunsch- denn als Angstvorstellung zu fassen. Denn anders als Ödipus, dem der Vatermord zur Macht über die Mutter verhilft, ist ja bei Silence eher davon zu reden, dass sie durch den ›Muttermord‹ unter die Gewalt des ›Vaters‹ zurückfällt. Die Hochzeit mit Ebain ist mithin ganz offensichtlich nicht die Emanzipation von der Autorität des Vaters, die den Helden des Freudschen Familienromans erst zum Helden macht.91 Sie erscheint vielmehr genau im Gegenteil Ausdruck einer Niederlage, die den Grund von Silences Scheitern aus psychoanalytischer Sicht erklärt. Dass sie den Nachstellungen des Muttersurrogats Eufeme letztlich nur durch die Enthüllung jener Wahrheit entkommen kann, die sie auf Geheiß ihres ›ersten‹ Vaters Cador bis dahin sorgfältig verborgen hatte, ist in diesem Sinne kaum anders zu deuten, als dass soziale und sexuelle Handlungsnorm für sie unvereinbar sind. Sie kann nur 88 Rank [Anm. 73], S. 114. Dass die hier geschilderte Situation auch dann nur auf einen männlichen Helden passt, wenn es gegen Ranks Annahme (vgl. Anm. 86) eine weibliche Form des Familienromans gibt (wovon ich überzeugt bin), hat mehrere Gründe. Erstens kann das Potipharmotiv schon allein deshalb nicht auf ein Mädchen verweisen, weil sich bei ihm das Begehren auf den Vater richten und die Rivalität zur Mutter entsprechend asexuell äußern müsste (das würde auf ein Tochter-Stiefmutter-Verhältnis hinauslaufen, wie man es aus dem Märchen kennt). Das gilt natürlich nur, wenn das Mädchen heterosexuell ist. Wenn es nicht heterosexuell wäre, würde es sich jedoch zweitens im Begehren der Mutter (die dann freilich wohl auch homosexuell sein müsste) kaum, wie es Silence tut, verkannt fühlen. Dass sich der Übergriff Eufemes ›eigentlich‹ auf eine Tochter richtet, ist davon abgesehen aber drittens auch deshalb auszuschließen, weil der Familienroman des Neurotikers ja das Erleben seines Protagonisten codiert. Und dieses berichtet hier eben vom Besitzanspruch der Mutter auf einen Sohn, nicht auf eine Tochter: Dass eine weibliche Silence für Eufeme uninteressant gewesen wäre, steht außer Frage. 89 Ebd. Rank geht vom Normalfall eines heterosexuellen ›Helden‹ aus. 90 Der Umstand, dass Silence in der erzählten Welt ein Mädchen ist, unterscheidet ihren Fall denn auch grundlegend etwa von dem im »Lanval« geschilderten, wo sich das Begehren der Königin und der Vorwurf der Homosexualität gegen einen Mann richten. Dass Silences ›Argument‹ unschlagbar ist, liegt auf der Hand. Ihr (erzählweltlich) weibliches Geschlecht setzt Eufeme derart ins Unrecht, dass jedem sofort klar sein muss: Wenn Silence irgendetwas nicht ist, dann ein homosexueller Mann. Vgl. Waters [Anm. 20], S. 42. 91 Rank [Anm. 73], S. 79, 109f.; Freud [Anm. 73], S. 14f.

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entweder nach dem Willen des Vaters ein Mann oder nach dem der Mutter heterosexuell sein: beides zugleich ist für sie unmöglich. Aus diesem Grund bedeutet der Akt, mit dem sie sich gegen die (mütterliche) Anschuldigung sexueller Abweichung verwehrt, zwangsläufig das Ende ihres (väterlich verordneten) Daseins als vorbildlicher Ritter – wenn der Sohn, der nicht homosexuell zu sein glaubt, weil er eine Tochter sein will, am Ende tatsächlich als Tochter dasteht, dann erweist er sich deshalb als ein siegender Verlierer: Ein Held, der, indem er sich behauptet, untergeht.

Und zum Schluss: Eine unlösbare Aufgabe Man mag die im letzten Abschnitt vorgeführte Lektüre des »Roman de Silence« für plausibel und sinnvoll halten oder auch nicht – darüber zu streiten, ist angesichts der Anfechtbarkeit ihrer Methode ohnehin müßig. Die Frage, die sie aufwirft, richtet sich dementsprechend weniger auf ihre Wahrheit und Belegbarkeit als vielmehr darauf, wie sie, wenn sie tatsächlich etwas Richtiges trifft, literaturwissenschaftlich zu behandeln ist. Denn die psychoanalytische Anamnese des »Roman de Silence« betrifft ja nicht seine ästhetische Wirkung. Aus diesem Grund erklärt sie ihn auch nicht in seiner Eigenschaft als literarischen Text, im Gegenteil: Sie liefert eine Hypothese, von der aus er neu bewertet zu werden verlangt. Während die Arbeit des Psychoanalytikers hier endet, hebt die der Literaturwissenschaftlerin darum eigentlich erst an. Das gilt umso mehr, als davon auszugehen ist, dass der mittelalterliche Autor kaum beabsichtigt haben dürfte, das_den_die ›Andere_n‹ seines narrativen Diskurses auch nur annähernd so deutlich hervortreten zu lassen, wie ich es auf den letzten Seiten getan habe. Aus literaturhistorischer Perspektive wäre demnach davon auszugehen, dass wir einen Text vor uns haben, der in vielleicht einmaliger, jedenfalls aber höchst bemerkenswerter Weise danach strebt, seinen Rezipienten das, was er illustriert, zugleich vorzuenthalten. Er würde zeigen, ja verständlich machen wollen, was (explizit) nicht gesagt werden konnte; wobei der Umstand, dass sein Gegenstand unsagbar war, wohlgemerkt nicht (nur) in dem Sinne zu verstehen ist, dass er nicht benannt werden durfte, sondern (auch) so, dass es für ihn keinen Begriff gab.92 Obwohl die Erfahrung, sich im falschen Körper gefangen zu fühlen, im

92 Das konnte, wenn ich es recht sehe, schon deshalb nicht anders sein, weil man das Geschlecht im Mittelalter allein über die äußerlichen Gegebenheiten definierte. Eine ›Wirklichkeit des Gefühls‹ kam daher (zumindest als eine von den äußerlichen Gegebenheiten unabhängige) gar nicht erst in den Blick. So beschreibt etwa Alanus ab Insulis sexuelle Perversion ganz selbstverständlich allein als ›Fehlgebrauch‹ der sexuellen ›Werkzeuge‹. Alani ab Insulis: De planctu Naturae. Lat. Text, Übers. u. philologisch-philosophiegeschichtlicher Komm. v.

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Mittelalter zweifellos gemacht worden sein muss, war sie gleichsam dazu verurteilt, stumm zu bleiben: gefangen jenseits eines Diskurses, für den sie schlicht nicht existierte. Meine Überlegungen führen damit zu dem Schluss, dass das zentrale Motiv des »Roman de Silence« nicht zuletzt in poetologischer Hinsicht höchst bedeutsam sein könnte. Redend zu schweigen – und schweigend zu reden –, das wäre in ihrem Sinne die Aufgabe gewesen, die Heldris de Cornouailles sich selbst auferlegte, als er sein Werk in Angriff nahm. In welchem Maße er sich dessen tatsächlich bewusst gewesen sein muss, wird in der Szene, in der er seine Protagonistin endgültig an sich selbst scheitern lässt, insofern zumindest erahnbar, als man die hier sich vollziehende figurale auch als einen Akt der auktorialen Selbstreflexion lesen kann.93 Dass Merlin Silence fängt, indem er sich selbst eine Falle stellt und damit als Alter Ego der sich selbst überlistenden Silence figuriert, heißt ja nichts anderes, als dass er vom Autor, dessen konstruierendes Tun in seiner Intrige unverkennbar aufscheint, zu genau diesem Zweck bestimmt wird – was wiederum darauf schließen lässt, dass dieser sich, wenn er sich in den mit sich selbst auch Silence ausmanövrierenden Merlin hineinprojiziert, fast notwendig derselben Gefahr aussetzt. Dass er der einzige ist, der ihr nicht erliegt, begründet sich dabei darin, dass er, wenn man so will, schlauer ist. Während Silence nämlich, wenn sie Merlin fängt, der trügerischen Hoffnung erliegt, dass Eufemes unlösbare Aufgabe lösbar sein könnte, und Merlin ihr, indem er sie dazu anhält, in ihm sich selbst zu überlisten, genau dies vor Augen führt, beweist der Autor, wenn er Merlin an Silence ein Exempel statuieren lässt, nicht mehr und nicht weniger, als dass er der Versuchung zu entgehen weiß. Indem er das weibliche Geschlecht seiner Protagonistin als eine Wahrheit präsentiert, die zugleich falsch ist, entzieht er sich der Offenbarung, die dieser zum Verhängnis wird, ja er benutzt sie gar, um die Offenbarung seiner eigenen Wahrheit zu verhindern. Er gewährt Silence den Wunsch, dessen Erfüllung ihre größte Angst war, um die Frage, die er damit nicht beantwortet, im Echoraum des Textes verhallen zu lassen. Ob er die Aufgabe, an der seine Protagonistin so erfolgreich scheitert, damit besser bewältigt als sie? Mir scheint: durchaus. Denn immerhin gelingt es ihm ja, dem Unbenennbaren einen Namen zu geben: Silence.

Köhler, Johannes B. Münster 2013 (Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte A2), Prosa 5. 93 Vgl. dazu die in Anm. 60 genannte Forschung.

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Junge oder Mädchen? Gender Trouble im »Roman de Silence«

Die Genderkonzeption des »Roman de Silence« ruft Faszination, aber auch Unbehagen hervor. Während manche Wissenschaftler_innen Heldris de Cornouailles aufgrund der starken weiblichen Hauptfigur als großen Frauenfreund würdigen, halten ihn andere aufgrund der Subordination von Frauen für ausgesprochen misogyn.1 Der Gender Trouble in und um den Roman beschränkt sich freilich nicht auf die Diskussion um die Haltung des Autors oder gegebenenfalls auch einer Autorin gegenüber Frauen,2 vielmehr geht es um eine wesentlichere Frage: Welche Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechtsidentität werden in dem altfranzösischen Werk entworfen? Veranschaulichen lässt sich diese Problematik an der letzten Miniatur, die der Illustrator dem unikal überlieferten Werk beigegeben hat.3 Zwei menschliche Figuren, Frau und (oder?) Mann, stehen einander gegenüber. Die linke, vom Kopf bis zu den Füßen unbekleidet, hebt wehrlos ihre Hände und eröffnet so einen ungeschützten Blick auf ihren nackten Körper. Die rechte Figur dagegen trägt ein herrschaftliches blaues Obergewand, hält möglicherweise ein Zepter in 1 Zu den unterschiedlichen Forschungspositionen vgl. Waters, Elizabeth A.: The Third Path: Alternative Sex, Alternative Gender in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 35– 46, hier 37; Krueger, Roberta L.: Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance. Cambridge 1993 (Cambridge Studies in French 43), S. 126. 2 Ein Indiz für die Autorschaft einer Frau meint z. B. Stock in Heldris’ kundiger Darstellung der Geburtsszene zu finden, vgl. Stock, Lorraine Kochanske: The Importance of Being Gender ›Stable‹: Masculinity and Feminine Empowerment in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 7–34, hier 28f. 3 Vgl. Nottingham, UB, WLC/LM/6, fol. 222v. Zur Handschrift vgl. Busby, Keith: Codex and Context. Reading Old French Verse Narrative in Manuscript. 2 Bde. Amsterdam, New York 2002 (Faux Titre 221–222), hier Bd. 1, S. 415–420; Cowper, Frederick A. G.: Origins and Peregrinations of the Laval-Middleton Manuscript. In: Nottingham Medieval Studies 3 (1959), S. 3–18, sowie die Beiträge von Inci Bozkaya und Cornelia Logemann in diesem Band. Zu den Miniaturen vgl. Bolduc, Michelle: Images of Romance: The Miniatures of »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 101–112. – Als Textgrundlage verwende ich folgende zweisprachige Ausgabe: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 1992 (Medieval Texts and Studies 10).

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der linken Hand und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf ihr Gegenüber. Die Gesichter der beiden Figuren sind – mit Ausnahme der Nasen – fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auf welche Romanszene sich die Miniatur bezieht, ist leicht zu entschlüsseln: Nachdem die Protagonistin lange Jahre als Mann lebte und sich als höfischer Ritter auszeichnete, wird ihre Travestie aufgedeckt. Der englische König Ebain befiehlt, Silence öffentlich zu entkleiden, und heiratet anschließend die demaskierte Ritterin. Erzählt der »Roman de Silence« etwa davon, dass sich die ›wahre‹ Geschlechtsidentität nicht dauerhaft verbergen lässt und Gendergrenzen unüberwindlich sind? Diese Schlussfolgerung ließe sich aus dem altfranzösischen Werk ziehen, zumal der Erzähler diese Deutung favorisiert. Wieder und wieder betont er, dass Silence mit ihrer Verhaltensweise gegen die Natur verstoße. Die erfolgreiche Maskerade der Protagonistin und die Spannungen in der Genderkonzeption ermöglichen aber auch eine andere Deutung; die Widersprüche des »Roman de Silence« legen nahe, dass das biologische, vermeintlich natürliche Geschlecht der Heldin nicht essentialistisch, sondern als kulturelle Kategorie verstanden werden muss.4 Mit dieser Auffassung knüpfe ich an die dekonstruktivistische Gender und Queer Theory Judith Butlers an und nutze ihren Ansatz für die narrative Analyse.5 Der Gender Trouble, der im Roman inszeniert wird und sich in den divergierenden Forschungspositionen spiegelt,6 ist meines Erachtens mit Butlers Thesen überzeugend zu deuten. Wie Gendervorstellungen, Geschlechtsidentitäten und Körperkonzepte im »Roman de Silence« performativ konstruiert werden, möchte ich in fünf Schritten untersuchen.

4 Terrell vertritt die Ansicht, dass sich im »Roman de Silence« zwei Geschlechterideologien unversöhnlich gegenüber stünden; Gender werde mal als grundlegend und unveränderlich, mal als völlig instabil dargestellt. Im Unterschied zu Terrell betrachte ich diese Vorstellungen nicht als gleichwertig. Auch wenn Gendergrenzen nur phasenweise überschritten werden, demonstriert dies meines Erachtens doch ihre grundsätzliche Veränderlichkeit. Vgl. Terrell, Katherine H.: Competing Gender Ideologies and the Limitations of Language in »Le Roman de Silence«. In: Romance Quarterly 55 (2008), S. 35–48, hier S. 36. 5 Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt a. M. 1991 (edition suhrkamp 722). Im Original: Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York u. a. 1990. 6 Seit den 1980er Jahren legten angloamerikanische Literaturwissenschaftler_innen zahlreiche Beiträge vor, die sich aus poststrukturalistischer, dekonstruktivistischer, feministischer und queerer Perspektive mit dem Werk beschäftigten. Zum Forschungsdiskurs vgl. v. a. die beiden dem Roman gewidmeten Hefte der Zeitschrift Arthuriana 12:1 (2002) und 7:2 (1997). In der deutschsprachigen Forschung wurde der »Roman de Silence« bislang kaum rezipiert. Zu den wenigen Ausnahmen gehört: Scholz Williams, Gerhild: Konstruierte Männlichkeit. Genealogie, Geschlecht und ein Briefwechsel in Heldris von Cornwalls »Roman de Silence«. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hg. v. Wenzel, Horst. Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 193–211.

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Generative Genderhierarchie Die Kategorie ›Geschlecht‹ wird im »Roman de Silence« früh als ein Differenzkriterium eingeführt, das über familiären Besitz und generative Herrschaft entscheidet. Nachdem sich zwei Ritter nicht friedlich über das Erbe ihrer Ehefrauen einigen konnten und im Kampf um den Vorrang der Zwillingsschwestern gefallen sind, werden alle Frauen bestraft. Um weitere Verluste ausgezeichneter Ritter zu verhindern, verordnet der englische König Ebain, dass Frauen künftig vom Erbe ausgeschlossen sein sollen:7 Mais, par le foi que doi Saint Pere, Ja feme n’iert mais iretere Ens el roiame s’Engletiere, Por tant com j’aie a tenir tiere. Et c’en iert ore la venjance De ceste nostre mesestance. (V. 313–318) But by the faith I owe Saint Peter, / no woman shall ever inherit again / in the kingdom of England / as long as I reign over the land. / And this will be the penalty / for the loss we have suffered.

Die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen wird im »Roman de Silence« also nicht einfach vorausgesetzt, sondern durch einen Erbkonflikt begründet. Fassbar wird so eine Genealogie der Genderhierarchie, die legitimiert ist, doch zugleich einen Ansatzpunkt zur Kritik bietet.8 Denn die Benachteiligung von Frauen ist eine diskursive, autoritative und willkürliche Setzung, nicht etwa eine logische Folge oder eine naturgegebene Tatsache. Mit rationalen Argumenten ist kaum zu erklären, warum Zwillingstöchter als erbrechtlicher Normalfall gelten und weshalb die Katastrophe nicht ihren kampfwütigen Ehemännern angelastet wird. Der Ausschluss von Frauen sorgt in der erzählten Welt jedenfalls für einen gewissen Unmut, ohne dass betroffene Familien öffentlich zu protestieren wagen. Das Feld der Macht wird vom englischen König abgesteckt,9 der Gesetze erlässt und die Genderhierarchie verstärkt.

7 Zum Enterbungsmotiv vgl. Hess, Erika E.: Inheritance Law and Gender Identity in the »Roman de Silence«. In: Law and Sovereignty in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. v. Sturges, Robert S. Turnhout 2011 (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance 28), S. 217– 235. 8 Butler [Anm. 5], S. 21, hält es für »die Aufgabe einer feministischen Genealogie der Kategorie ›Frau(en)‹« jene »politischen Verfahrensweisen nachzuzeichnen, die das produzieren und verschleiern, was als Rechtssubjekt des Feminismus bezeichnet werden kann« [Hervorhebung im Zitat]. 9 Zur Präsenz von Normen, die einen Schauplatz der Macht darstellen, den man nicht zurückweisen kann, vgl. ebd., S. 184.

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Die Sorge vor einer erbrechtlichen Diskriminierung ist das zentrale Thema der Geburtsgeschichte der Protagonistin. Schon während der Schwangerschaft überlegt sich Graf Cador eine Strategie, um die Deprivilegierung einer Tochter zu verhindern. Sollte sein ungeborenes Kind ein Mädchen werden, will er es als Junge ausgeben. Gegenüber seiner Frau Eufemie begründet Cador dieses Vorhaben ausdrücklich mit der Exklusion einer Tochter vom Familienbesitz: Car se nos avons une fille / N’avra al montant d’une tille / De quanque nos sos ciel avons (›For if we have a daughter, / she won’t get a single shred / of our earthly possessions‹; V. 1751–1753). Vorausschauend schränkt Cador den Zugang zu der Gebärenden ein, um das Geschlecht des Kindes geheim halten zu können. Nur eine ausgewählte Verwandte darf Eufemie als Hebamme beistehen, und diese hilft ihr, ein wunderschönes Mädchen auf die Welt zu bringen. Als der glückliche Vater die Tochter in den Armen hält, scheint ihr Geschlecht für einen kurzen Moment gleichgültig. Der Graf möchte sein Mädchen keineswegs für einen Jungen eintauschen, hält aber an seinem ursprünglichen Plan fest. Um das Erbe zu sichern, will er seine Tochter zu einem Mann machen: Faire en voel malle de femiele (›I want to make a male of a female‹; V. 2041). Eindringlich warnt er Eufemie davor, dass ihr Kind andernfalls allen Besitz verlieren werde und obdachlos umherirren müsse. Durch seine Umsicht gelingt es Cador, seine Tochter Silence als männlichen Erben zu präsentieren und als Jungen aufzuziehen. Wie die Protagonistin eine Geschlechtsidentität erhält, lässt sich mit Butlers Theorie einsichtig erklären. Butler stellt klar, dass »Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind« [Hervorhebung im Original].10 Im »Roman de Silence« übernimmt der Vater die Aufgabe, gesellschaftliche Normen zu vermitteln. Als das Mädchen alt genug ist, klärt Cador es darüber auf, weshalb es nach dem Wunsch der Eltern sein Geschlecht verbergen soll. Der Erbschaftsstreit fungiert als Ursprungsgeschichte für Silences Identitätsbildung. Die Protagonistin erfährt von der Benachteiligung von Frauen, orientiert sich an dieser Gendernorm und macht sich den Wunsch des Vaters zu eigen. Sie will als Mann leben, damit ihrer Familie das Erbe erhalten bleibt. Als Silence kurzzeitig an ihrer Entscheidung zweifelt, bestärkt sie die Vernunft. Weil das männliche Geschlecht viel mehr Vorteile genießt, hält Silence an der privilegierten Lebensform fest.11

10 Ebd., S. 9. 11 Vgl. V. 2608–2656. Scholz Williams [Anm. 6], S. 202, kommentiert die Szene: »Der dynastische Imperativ tritt vor dem ganz persönlich formulierten Gefallen am ›Mannsein‹ in den Hintergrund.« – Dass Silence auch im weiteren Handlungsverlauf Zweifel plagen, zeigt die Spielmannsepisode. Die Protagonistin folgt Musikanten nach Frankreich, um Harfe und

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In der Forschung ist umstritten, wie Silences Travestie zu beurteilen ist. Einige feministische Beiträge werten ihr männliches Leben als einen von außen auferlegten Zwang, bei dem die Heldin ihre natürliche weibliche Identität unterdrücken muss.12 Wie problematisch solche Lektüren sind, legt Judith Butler offen. Ältere feministische Theorien gehen von einer einheitlichen Kategorie ›Frau‹ aus und legen Menschen damit auf eine konstruierte Geschlechtsidentität fest, statt solche Zuschreibungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Butler versteht die Travestie dagegen nicht als Herabsetzung von Frauen oder als unkritische Aneignung einer stereotypen Geschlechterrolle, vielmehr stehen Imitation und Original ihres Erachtens in einem weit komplexeren Verhältnis. Die Performanz der Travestie spiele mit der Unterscheidung zwischen der Anatomie des Darstellers und der dargestellten Geschlechtsidentität. Indem die Travestie die Imitation einer Geschlechtsidentität zur Schau stelle, offenbare sie implizit die Imitationsstruktur und die Kontingenz der Geschlechtsidentität als solcher.13 Butlers Thesen haben angloamerikanische Literaturwissenschaftler_innen wie Elizabeth Waters, Erika E. Hess und Robert L. A. Clark bereits mit Gewinn auf den »Roman de Silence« bezogen. Sie betonen zu Recht, dass Silences Travestie auf die grundlegende Instabilität von Genderrollen hindeutet. Durch den Entwurf einer Heldin, die traditionelle Grenzen überschreitet, werde die binäre Geschlechtskonstruktion aufgehoben. Nach Waters Ansicht lässt Silences Cross-Dressing die Imitationsstruktur von Geschlechtskonzepten sichtbar werden, wodurch essentialistische Vorstellungen widerlegt würden.14 Clark interpretiert Silence nicht als Figur, die ihre ›wahre‹ Identität als Frau verhüllen muss, sondern als eine queere Protagonistin, die sich nicht in das binäre Schema Mann/ Frau pressen lässt.15 In ähnlicher Weise argumentiert Hess, dass die fehlende Übereinstimmung von sex und gender im »Roman de Silence« gängige Geschlechterideologien in Frage stelle und ihren Konstruktionscharakter offenlege.

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Fidel spielen zu lernen. In der Musik sieht sie eine Möglichkeit, sich unabhängig von ihrem geschlechtlichen Status zu betätigen. Vgl. Stock [Anm. 2], S. 23; Burns, E. Jane: Bodytalk. When Women Speak in Old French Literature. Philadelphia 1993 (New Cultural Studies), S. 243–245. Zur Travestie vgl. v. a. Hess [Anm. 7], S. 228; Hess, Erika E.: Literary Hybrids. Cross-dressing, Shapeshifting, and Indeterminacy in Medieval and Modern French Narrative. New York, London 2004 (Studies in Medieval History and Culture 21), S. 51. Vgl. Butler [Anm. 5], S. 202. Vgl. Waters [Anm. 1], S. 44. Vgl. Clark, Robert L. A.: Queering Gender and Naturalizing Class in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 50–63, hier S. 55. Auch Tolmie vertritt die Ansicht, dass der Roman die binären Systeme »male/female, in/out, language/silence, learned/natural« in Frage stelle. Vgl. Tolmie, Jane: Silence in the Sewing Chamber: »Le Roman de Silence«. In: French Studies 63 (2009), S. 14–26, hier S. 14.

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Die Protagonistin besitze weder eine weibliche noch eine männliche, sondern eine multiple bzw. hybride Geschlechtsidentität.16

Performative Geschlechtszuschreibungen Nach Butlers Auffassung ist Geschlechtsidentität performativ zu verstehen. Sie ist kein Sein, sondern ein Tun und wird durch Äußerungen konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind. Im »Roman de Silence« werden die entscheidenden Weichen für die Geschlechtsidentität der Protagonistin bereits vor ihrer Geburt gestellt. Die Frage, ob das Kind im Mutterleib ein Junge oder ein Mädchen wird, beschäftigt Cador sehr. Butlers Kritik an der Unterscheidung zwischen sex und gender, anatomischem Geschlecht und Geschlechtsidentität, setzt genau an dieser Stelle an. Sie diskutiert, wie und wann ein Mensch in ein geschlechtlich bestimmtes Wesen verwandelt wird. Gibt es überhaupt Phasen im Leben, die nicht geschlechtlich bestimmt sind, fragt Butler rhetorisch und macht darauf aufmerksam, dass Menschen von Anfang an eine Geschlechtsidentität zugewiesen bekommen: »Ein Kind […] wird in dem Augenblick zum menschlichen Wesen, wenn die Frage ›Ist es ein Junge oder ein Mädchen?‹ beantwortet ist«.17 Daher sei das anatomische Geschlecht, argumentiert Butler, aufs engste mit der Geschlechtsidentität verwoben.18 Körper dagegen, die keinem Geschlecht eindeutig zuzuordnen seien, fielen aus dem Bereich des Menschlichen hinaus. Vom körperlichen Zeugungsakt erzählt der »Roman de Silence« nicht, wohl aber von dem vor der Geburt gefällten Entschluss, das Kind als Jungen aufzuziehen.19 Das Gespräch der werdenden Eltern demonstriert, wie bedeutsam die Sprache für die Ausbildung einer Geschlechtsidentität ist. Der unmittelbare Zusammenhang von Menschwerdung und Geschlechtlichkeit kommt im altfranzösischen Verb engendreüre (V. 1687) – im Unterschied zum deutschen Wort ›zeugen‹ – auch sprachlich zum Ausdruck. Im »Roman de Silence« wird freilich 16 Vgl. Hess [Anm. 12], S. 44–51, 66. Zum hybriden bzw. androgynen Status der Heldin vgl. auch Hess [Anm. 7]; Bouchet, Florence: L’écriture androgyne: le travestissement dans le »Roman de Silence«. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge (XIIe–XIIIe siècles). Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 47–58, verfügbar unter: http://books.openedition.org/pup/2523 [22. 08. 2016]; Victorin, Patricia: Le nu et le vêtu dans le »Roman de Silence«: métaphore de l’opposition entre nature et norreture. In: ebd., S. 365–382, verfügbar unter: http://books. openedition.org/pup/2558 [22. 08. 2016], hier Abschnitt 31. 17 Butler [Anm. 5], S. 165f. 18 Vgl. ebd., S. 169. 19 White stellt den Einfluss des Vaters heraus; er entscheide nicht nur über den Namen, sondern auch über die Geschlechtsidentität des Kindes. Vgl. White, Catherine L.: Not so Dutiful Daughters: Women and their Fathers in Three French Medieval Literary Works: »Le Roman de Silence«, »Erec et Enide« and »Le Livre de la cité des dames«. In: Cincinnati Romance Review 18 (1999), S. 189–199, hier S. 192.

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nicht nur ein Mädchen entgegen seiner anatomischen Anlagen zum Jungen gemacht, was eine Unterscheidung zwischen sex und gender, Biologie und Erziehung, rechtfertigen könnte. Vielmehr muss Silence zunächst zu einem weiblichen Wesen gemacht werden, was der Erzähler genüsslich inszeniert: Während Ehemann und Hofgesellschaft ausgeschlossen bleiben, darf das textexterne Publikum an der Geburt teilnehmen. Der Erzähler lenkt den Blick erst auf die Gebärende, beschreibt ihren großen Schmerz und fokussiert dann das Neugeborene. Die Spannung steigert sich, als er die Sensation vorbereitet und die Rezipienten zu einer genauen Betrachtung auffordert: Or voel a l’enfant repairier / Et demonstrer et esclairier / Liquels cho fu, masle u femiele (›Now let us turn to the child / and clear things up and reveal / whether it was a boy or a girl‹; V. 1795– 1797). Der Erzähler gibt vor, gemeinsam mit seinen Adressaten einen vorgängigen Sachverhalt aufklären und das Geschlecht des Kindes enthüllen zu wollen, obwohl er doch selbst der Urheber dieser Geschlechtszuordnung ist. Sein Appell mündet in eine Exklamation, mit der er Silences Geschlechtsidentität festlegt: Segnor, cho fu une puchiele (›My lords, it was a girl!‹; V. 1798).20 Die Rezipienten kennen nun das ›wahre‹ Geschlecht des Kindes, wohingegen in der erzählten Welt ein gegenteiliges Bild entworfen wird. Die Hebamme befolgt Cadors Anweisung getreu und verkündet am Hof, dass Gott dem Grafen einen wunderschönen Sohn geschenkt habe. Während sich die Hofleute über die Ankündigung freuen, plagen Cador Zweifel. Da er den Sprechakt selbst vorgegeben hat, besitzt er für ihn keine Verbindlichkeit. Signifikat und Signifikant können, aber müssen nicht übereinstimmen. Der Graf weiß nicht, ob sein Kind ein Mädchen oder ein Junge (femiele u malle; V. 1980) ist. Mehrfach operiert der Erzähler mit den Alternativen Junge oder Mädchen (malle u femiele; V. 1992) und stellt so das Zweifeln des jungen Grafen dar. Weil Cador diese Ungewissheit nicht länger ertragen kann, eilt er – entgegen aller Gepflogenheiten – ins Zimmer der Wöchnerin. Seiner bestürzten Frau stellt er die Schicksalsfrage, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen geboren habe: ›Biele, de vostre engendreüre Voldroie savoir l’aventure, Lequel cho est, malle u femiele, Oïr en voel certe noviele.‹ (V. 2013–2016) ›Sweet love, I wanted to know how things turned out, / whether you gave birth / to a boy or a girl, / I would like to know for certain.‹

20 Die binäre Genderkonzeption ist der Geburtsankündigung eingeschrieben, insofern der Erzähler ein männliches Publikum anspricht und es auf das weibliche Objekt blicken lässt.

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Als die Gräfin von der Geburt einer Tochter erzählt, steht die Geschlechtsidentität auch für Cador fest, woraufhin er die männliche Sozialisation des Kindes einleitet. Um Silence als Jungen erziehen zu können, ist eine passende Namensgebung unerlässlich. Erneut zeigt sich die Macht der Sprache, die performative Geltung besitzt und für klare Verhältnisse sorgt. Dem Namen eines Kindes kommt eine Signalfunktion zu, gilt doch die simple Regel: Wer einen männlichen Vornamen besitzt, muss auch ein Mann sein bzw. ein Mann werden. Bei dem Namen achtet Cador daher auf eine maskuline Endung, aber ebenso auf eine Modifizierbarkeit. Er will sich offen halten, die nominelle Geschlechtsidentität einer veränderten Situation anpassen zu können.21 Der eigentliche Name des Kindes, ›Silence‹, ist geschlechtlich unbestimmt. In der Namensgebung drückt sich Cadors Wunsch aus, dass Gott das Geschlecht des Mädchens verbergen möge. Gerufen werden soll das Kind Silentius, was sich durch ein anderes Suffix leicht in einen weiblichen Vornamen verwandeln ließe: Werde das -us durch ein -a ersetzt, könne das Kind als Silentia weiterleben. Cador wählt nicht nur mit Bedacht einen Namen, sondern inszeniert auch eine Situation, in der dieser möglichst schnell verliehen wird. Er täuscht ein Sterben des Kindes vor, treibt den Priester zur Eile an und lässt ihn die Nottaufe vollziehen. Silences Namensgebung wird durch den Taufakt besiegelt und ihre christlich-höfische Erziehung als Mann ermöglicht. Die performative Dimension von Geschlechtszuschreibungen wird erneut relevant, als Cador die zwölfjährige Silence über seine Handlungsmotive aufklärt. Durch dieses Vater-Tochter-Gespräch will er erreichen, dass das Kind sein Handeln versteht und akzeptiert. Wieder und wieder apostrophiert er Silence als Sohn und trichtert ihr so seinen Wunsch gleichsam ein (bials fils – ›dear son‹; V. 2445 u. 2448; [b]ials dols ciers fils – ›Dear sweet precious son‹; V. 2453; fils – ›son‹; V. 2455).22 Die Protagonistin übernimmt die ihr zugedachte Geschlechterrolle sehr bereitwillig und verspricht, den familiären Erbanspruch durch Travestie aufrechtzuerhalten. Wie stark die Sprache Sein und Bewusstsein bestimmt, zeigt sich erneut, als Silence ihre männliche Identität in ihrer Adoleszenz verteidigen muss.23 Die personifizierte Natur wirft ihr vor, nicht der zu sein, als der sie sich ausgebe (Tu nen es pas Scilentius!; V. 2530). Silence lässt sich jedoch nicht verunsichern, begründet ihr Selbstverständnis mit ihrem Namen und entgegnet: Silencius! qui sui jo donques? / Silencius ai non, jo cui, / U jo sui altres que ne fui (›Not Silentius? Who am I then? / Silentius is my name, I think, / or I am 21 Vgl. V. 2067–2082. Zu den Namen vgl. auch Terrell [Anm. 4], S. 43f.; Hess [Anm. 12], S. 55– 58, 83–86; Cooper, Kate Mason: Elle and L. Sexualized Textuality in »Le Roman de Silence«. In: Romance Notes 25 (1985), S. 341–360, hier S. 347. 22 Zur Beziehung von Cador und Silence allgemein vgl. White [Anm. 19], S. 192–195. 23 Butler [Anm. 5], S. 212, versteht Identität als Bezeichnungspraxis und begreift »kulturell intelligible[ ] Subjekte als Effekte eines regelgebundenen Diskurses«.

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other than who I was‹; V. 2532–2534).24 Die Protagonistin definiert ihre Identität dadurch, dass sie das andere Geschlecht nicht ist bzw. nicht sein will.25 Mit diesem relationalen Genderverständnis gelangt sie zu dem Schluss: Car vallés sui et nient mescine (›for I’m a young man, not a girl‹; V. 2650).

Naturalisierte Genderkonzepte Die gängige Unterscheidung zwischen sex und gender hebt Judith Butler auf, indem sie das Verhältnis von anatomischem Geschlecht und Geschlechtsidentität geradezu umkehrt. Ihrer Auffassung nach gibt es kein natürliches weibliches Wesen, das sich später in eine gesellschaftlich untergeordnete Frau verwandelt.26 Vielmehr basieren alle anatomischen und biologischen Beschreibungen auf kulturellen Interpretationsmustern. Auch die Sprachen der Naturwissenschaften haben an anderen Sprachformen Anteil und deuten die Objekte, die sie angeblich neutral beobachten, gemäß tradierten Vorstellungen.27 Genderdifferenzen sind folglich nicht naturgeben, sondern werden nur als natürlich ausgegeben. Diese diskursive Naturalisierung ist ein hoch wirksames Verfahren, um den Konstruktionscharakter von Genderkonzepten zu verschleiern. Im »Roman de Silence« entwickelt der Erzähler eine ausgefeilte Strategie, Geschlechtsentwürfe zu naturalisieren und Differenzen zu zementieren. Nachdem er das Geschlecht der Protagonistin durch einen Sprechakt festgelegt hat, schmiedet er eine Allianz mit der personifizierten Natur. Dieser Versuch, das performative als das natürliche Geschlecht darzustellen, lässt sich dekonstruieren. Die ganze Argumentation zeugt weniger von dem Primat der Natur als von der Ununterscheidbarkeit von Natur und Kultur. So erklärt die personifizierte Natur das neugeborene Kind zu ihrem Meisterstück (ouvre forcible; V. 1807), an dem sie ihre Kunst unter Beweis stellen will. Der Erzähler vergleicht die Modellierung des Mädchens gar mit dem Backen von feinem Weißbrot und zieht so eine Parallele zur Herstellung einer aufwändigen herrschaftlichen Speise (vgl. V. 1808–1827).28 Silences Entstehung ist nicht etwa das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, sondern die Protagonistin wird mittels anspruchsvoller Kulturtechniken erschaffen. 24 Gegenüber Merlin stellt sie sich später mit ihrem geschlechtsunspezifischen Namen vor: Silences ai non (V. 6140). 25 Butler [Anm. 5], S. 45, erläutert, dass Mann oder Frau die eigene Geschlechtsidentität genau in dem Maße sind, wie er oder sie nicht die andere sind. 26 Vgl. ebd., S. 65. 27 Vgl. ebd., S. 163. 28 Zur Bedeutung und Produktionsweise von hellem Brot im Mittelalter vgl. Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter. Darmstadt 22010, S. 71–95, bes. S. 84.

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Nach dem Erzählerlob beschreibt die Natur ihr Tun mit eigenen Worten. Mit dem besten Material, das sie bislang aufgespart habe, wolle sie ein wundervolles Mädchen formen und ihm mehr Schönheit als allen anderen verleihen (vgl. V. 1881–1884). Die Natur orientiert sich bei ihrer Schöpfung demnach an Leitbildern; die schönsten Frauen sollen einerseits als Modelle dienen, andererseits übertroffen werden. Dieser Überbietungswunsch legt implizit offen, dass das ›natürliche‹ Geschlecht des Mädchens imitativ hergestellt wird. Ein Mensch wird bzw. ist eine Frau, wenn sein Aussehen und Verhalten anderen Frauen entspricht. Aus vielen verschiedenen Formen wählt die Natur die schönste aus und sichert das Ergebnis ihrer Bemühungen zuletzt sprachlich ab: ›C’iert ma fille‹ (››This will be my girl!‹‹; V. 1927). Mit diesen Aussagen formuliert die Natur nicht nur einen Besitzanspruch, sondern stärkt auch die Geschlechtszuordnung. Die diskursive Naturalisierung von Silences Geschlechtsidentität wird sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Ebene der Narration fortgesetzt. So betont Eufemie, dass ihre Tochter das schönste Geschöpf sei, das die Natur je gebildet habe. Oder Cador problematisiert, dass der männliche Name seiner Tochter der Natur widerspreche. Dass die Differenzen zwischen Junge und Mädchen, dargestelltem und anatomischem Geschlecht, nicht in Vergessenheit geraten, liegt besonders dem Erzähler am Herzen. Er erklärt, dass das Kind in der Einöde aufwachsen muss, damit sa nature (V. 2248) nicht zufällig enthüllt werde. Wiederholt thematisiert er, dass Silence contre Nature erzogen wird (V. 2254) und ihre Natur verleugnet (vgl. V. 2360). Zwar verwendet der Erzähler zeitweilig nur männliche Pronomen für die Protagonistin,29 doch erinnert er immer wieder daran, dass der junge Mann von Natur aus eine Frau ist.30 Niemals, so beteuert er, habe eine Frau größere Siege errungen. Das Lob singulärer Heldinnentaten ist mit einer generalisierenden Abwertung des weiblichen Geschlechts verbunden, dem Silence zugeordnet wird.31 Die naturalisierenden Bemerkungen, die der Erzähler kontinuierlich einstreut, werden von der personifizierten Natur entfaltet. In einem ausführlichen Klagemonolog bedauert sie, dass ihr Werk ins Gegenteil verkehrt und ihre Tochter in einen Sohn verwandelt ist. Vehement verlangt die Natur, Silence möge

29 Zur Problematik, dass Sprache stets genderspezifisch formuliert und sich Erzähler wie Interpreten für ein Geschlecht entscheiden müssen, vgl. Terrell [Anm. 4], S. 45f. Als Silence im Alter von zwölf Jahren in einen Identitätskonflikt gerät, operiert der Erzähler im Unterschied zu seiner sonstigen Bezeichnungspraxis mit femininen Pronomen. – In meinem Beitrag verwende ich der Verständlichkeit halber durchgängig weibliche Formen, statt die Bezeichnungen zu wechseln, den Gender-Gap durch einen Unterstrich zu markieren oder ein Gendersternchen zu setzen. 30 Vgl. z. B. V. 3785f., 4972. 31 Vgl. V. 5147f. Diese Sicht macht sich Silence zu eigen, als sie im englischen Bürgerkrieg bittet, Gott möge ihre ›natürliche‹ Schwäche stärken (V. 5607f.).

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sich wie eine Frau verhalten; sie solle im Haus bleiben und nähen lernen.32 Ihrer Warnung, dass das ›wahre‹ Geschlecht der Protagonistin noch entdeckt werde, gibt der Erzähler ausdrücklich Recht: Car nus hom tel pooir n’aroit / Qu’il peüst vaintre et engignier / Nature al loig, ne forlignier (›No man has the power, in the long run, / that he can vanquish and outwit / Nature, or betray heredity‹; V. 2296– 2298).33 Durch die kritischen Erzählerkommentare und die Reden der Natur entsteht der Eindruck, Silence verfüge jenseits allen männlichen Gebarens über eine körperlich-weibliche Substanz. Auf diese Weise wird verschleiert, dass die Geschlechtsidentität performativ und diskursiv erzeugt wird. Die Bemerkungen des Erzählers tragen entscheidend dazu bei, das Geschlecht seiner Hauptfigur zu essentialisieren.

Heteronormatives Begehren Der neuralgische Punkt, an dem Silence selbst an ihrer Identität zweifelt, ist die sexuelle Praxis. Als die Protagonistin zwölf Jahre alt ist, wird sie mit ihrem vermeintlichen Fehlverhalten konfrontiert. Die personifizierte Natur wirft ihr vor, wie ein Mann zu leben, obwohl sie als Frau erschaffen worden sei. Dass Silence ihre Natur pervertiert, macht ihre Gesprächspartnerin am Begehren fest. Sie beschreibt die erotische Anziehungskraft, die Silence als attraktiver junger Mann auf zahllose Frauen ausübt: .m. femes a en ceste vie Ki de toi ont moult grant envie Por le bialté qu’eles i voient, Car puet scel estre eles i croient Tel cose qu’en toi nen a mie. Et tels est ore moult t’amie 32 Vgl. V. 2528f.: Va en la cambre a la costure, / Cho violt de nature li us (›Go to a chamber and learn to sew! / That’s what Nature’s usage wants of you!‹). In der Forschung wurde hervorgehoben, dass der Nähappell keine biologische, sondern eine soziale Forderung darstellt. Vgl. Terrell [Anm. 4], S. 39; Krueger [Anm. 1], S. 118. Zur Bedeutung der Szene vgl. Tolmie [Anm. 15]. – Die Mehrdeutigkeit der Natur im »Roman de Silence« arbeitet Krueger heraus. Sie weist darauf hin, dass unter Natur mal das biologische Geschlecht, mal die moralische Anlage, die Klasse oder der Status quo von Genderrollen verstanden werde. Der Konflikt zwischen nature und noreture basiere nicht auf der Opposition von sex und gender, sondern auf zwei Gendermodellen, von denen das eine als ›natürlich‹ gelte, weil es sozial akzeptiert sei, das andere nicht. Krueger [Anm. 1], S. 117, konstatiert: »›nature‹ is the justification of how ›culture‹ constructs women«. 33 Der Auftritt der Natur verunsichert Silence so, dass sie ihr Leben kurzzeitig ändern und eine weibliche Handlungsrolle übernehmen will. Der Imitationscharakter einer Geschlechtsidentität wird auch hier ersichtlich: Was als weiblich gilt, bestimmen geschlechtstypische Vorbilder.

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Qui te haroit de tolt le cuer, Se il de toi savoit le fuer (V. 2513–2520). And there are a thousand women in this world / who are madly in love with you / because of the beauty they see in you – / you don’t suppose they think something’s there / that was never part of your equipment at all? / There are those who love you now / who would hate you with all their hearts / if they knew what you really are!

Die Natur stilisiert Silence also zum Objekt sexuellen Begehrens, das die heteronormativen Ansprüche seiner Umgebung niemals befriedigen kann. Wüssten ihre Verehrerinnen, dass ihr ein entscheidendes Körperglied fehle, würde ihre Liebe sofort ins Gegenteil umschlagen. Mit dieser Argumentation setzt die Natur die Protagonistin unter Druck, sich gemäß ihrem ›natürlichen‹ Geschlecht zu verhalten. Welche zentrale Bedeutung dem Begehren für die Geschlechtskonzeption zukommt, stellt Judith Butler heraus. Geschlechtsidentität und Begehren sind vom Verhältnis zum anderen Geschlecht abhängig und werden heterosexuell strukturiert.34 Butler betont, dass weder die Genderdifferenz noch die Unterscheidung zwischen Homo- und Heterosexualität durch die Natur vorgegeben ist. Vielmehr werden Geschlecht und Begehren mittels gesellschaftlicher Normen klassifiziert, wobei sie in einem engen Begründungszusammenhang stehen. Wird das binäre Gendermodell nicht mehr als Ursprung, sondern als Effekt vielfältiger Diskurse betrachtet, ändert sich auch die Beurteilung der Sexualität: Homosexualität kann nur als ›widernatürlich‹ gelten, sofern das Verhältnis von Mann und Frau ein ›natürliches‹ ist. Der Zwang zur Heterosexualität ist daher das entscheidende Instrument, so Butler, um eine Genderdifferenz zu erzeugen und aufrecht zu erhalten.35 Weil sich das sexuelle Begehren stets auf einen Vertreter des anderen Geschlechts richten soll, ist eine binäre Genderkonzeption unverzichtbar. Dieser kulturelle Mechanismus liegt dem Appell der Natur im »Roman de Silence« zugrunde. Die Heteronormativität dient als wichtigstes Argument, weshalb die Protagonistin keine Gendergrenzen überschreiten soll.36 Silence kann nicht dauerhaft als Mann leben, weil sie das Begehren von Frauen nicht erfüllen darf. Die Heldin wird durch die Warnung vor enttäuschten Liebenden zwar verunsichert, beugt sich den heteronormativen Forderungen aber nicht. Ihr 34 Vgl. Butler [Anm. 5], S. 45. 35 Vgl. ebd., S. 58. 36 Zur Rezeption der Queer Theory in der Älteren deutschen Literaturwissenschaft vgl. Krass, Andreas: Kritische Heteronormativitätsforschung. Der queer turn in der germanistischen Mediävistik. In: ZfdPh 128 (2009), S. 95–106. Zum Zusammenhang von Queer Theory und Mediävistik vgl. auch Michaelis, Beatrice: (Dis-)Artikulationen von Begehren. Schweigeeffekte in wissenschaftlichen und literarischen Texten. Berlin, New York 2011 (Trends in Medieval Philology 25), S. 40–47.

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Entschluss, an der Maskerade festzuhalten, wird am englischen Königshof auf eine harte Probe gestellt. Der vorbildliche junge Ritter erregt die Aufmerksamkeit der Königin Eufeme, die Silence nachstellt und sie zu ihrem Liebhaber machen will. Für die Gesamtkonzeption des Romans ist diese Episode in doppelter Hinsicht von Belang: Zum einen wertet der Erzähler die erste Frau des Königs ab, indem er sie als liebeshungrig, ehebrecherisch und rachsüchtig charakterisiert. Zum anderen wird die Binarität von Geschlechtsidentität und Begehren durch die missglückten Verführungsversuche bestätigt. Durch Verstellung gelingt es Eufeme mehrfach, Silence zu isolieren und in die Enge zu treiben. Offensiv preist sie ihre sexuellen Reize an und wird schließlich sogar übergriffig. Silence reflektiert in ihrer Bedrängnis, dass sie ihr Geheimnis nur aufdecken müsste, um dem Werben der Königin ein Ende zu setzen. Doch enthüllt sie die homosoziale Konstellation nicht, weil sie ihren Erbanspruch wahren will.37 Statt die Heteronormativität zum Maßstab ihres Handelns zu machen, versucht Silence, sich durch passives und asexuelles Verhalten zu entziehen. Eufeme kann diese Zurückhaltung nicht verstehen, müsste der attraktive Ritter doch nur zugreifen, um sich in ein Subjekt des Begehrens zu verwandeln. Mit Nachdruck appelliert sie, Silence möge sich wie ein Mann verhalten (vgl. V. 3817–3821). Dass der Geliebte ihre sexuellen Ansprüche nicht erfüllt, lässt die Königin gar an seiner Geschlechtsidentität zweifeln. Sie konfrontiert ihn mit dem Vorwurf, kein normaler Mann zu sein. Während der Erzähler Silences fehlendes Interesse mit ihrer ›wahren‹ Natur begründet (sa nature, V. 3824), verdächtigt die Königin den Ritter der Sodomie.38 Eufemes Rachewunsch führt nicht nur zur Demaskierung der Heldin, sondern auch zu ihrer eigenen Deklassierung und Hinrichtung. Damit wird der Platz an der Seite des englischen Königs für Silence frei. Die Genderkonfusion wird durch die Änderung des Namens schnell ins Lot gebracht. Gemäß dem ursprünglichen Wunsch des Vaters wird Silence in Silentia umbenannt und anschließend von Ebain geheiratet. Silences Akzeptanz einer weiblichen Handlungsrolle hängt auch mit der juristischen Aufwertung der Frauen zusammen; nach ihrer Devestitur nimmt der König das diskriminierende 37 Vgl. V. 3871–3874. Die Protagonistin hält an ihrem Schweigen sogar noch fest, als Eufeme sie gegenüber dem König des versuchten Ehebruchs und der Vergewaltigung bezichtigt, vgl. V. 4169–4182. Zum generellen Spannungsverhältnis von Reden und Schweigen bezogen auf das Begehren vgl. Michaelis [Anm. 36]. 38 Vgl. V. 3935f. Zum mittelalterlichen Sodomiediskurs vgl. Krass, Andreas: Sprechen von der stummen Sünde. Das Dispositiv der Sodomie in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts (Berthold von Regensburg/Der Stricker). In: Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. v. Limbeck, Sven u. Thoma, Lev Mordechai. Ostfildern 2009, S. 123–136; Reinle, Christine: Das mittelalterliche Sodomiedelikt im Spannungsfeld von rechtlicher Norm, theologischer Deutung und gesellschaftlicher Praxis. In: ebd., S. 13–42.

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Erbgesetz zurück. Damit verliert der Ursprungsmythos, aus dem Silence ihre männliche Identität ableitete, seine Bedeutung. Wie bei der Erschaffung des kleinen Mädchens tritt bei der Eheschließung der jungen Frau noch einmal die Natur auf den Plan, behauptet ihre alten Rechte und tilgt innerhalb weniger Tage alle Spuren der Männlichkeit. Die Heirat der Heldin trägt entscheidend zur Vereindeutigung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse bei. Silences Geschlecht, ihre Geschlechtsidentität und die sexuelle Praxis stimmen zuletzt überein, die Heteronormativität ist bestätigt und wird allgemein anerkannt. Werden im »Roman de Silence« also Genderdifferenzen verstärkt, binäre Modelle neu etabliert und Hierarchien endgültig festgeschrieben? Gegen diese Annahme spricht nicht nur, dass Silences Geschlechtsidentität performativ hergestellt und erst nachträglich naturalisiert wird. Vor allem bleibt der Körper der Protagonistin trotz aller Fokussierung in sexueller Hinsicht auffällig unbestimmt.

Illusionäre Körper Schon bei der Schöpfungsfiktion ist die materielle Geschlechtlichkeit ausgeblendet. Detailliert beschreibt der Erzähler, wie die Natur ein wunderschönes Mädchen formt. Gemäß den Regeln der antiken Rhetorik beginnt die descriptio corporis beim Kopf und endet bei den Füßen. Haare, Ohren, Augen, Gesicht, Mund, Zähne, Kinn, Hals, Arme, Finger und Beine werden eigens erwähnt und sorgfältig gestaltet. Ausgespart bleiben hingegen jene Körperteile, die geschlechtsspezifisch markiert und mit sexueller Bedeutung aufgeladen sind. Der Genitalbereich des Kindes gerät – im Unterschied etwa zur Geburtsszene in Wolframs »Parzival« – nicht in den Blick.39 Der Erzähler versichert nur, dass mit dem Mädchen – mit Ausnahme seiner einzigartigen Schönheit – absolut alles in Ordnung sei.40 Er setzt dabei auf das Vorstellungsvermögen seiner Rezipienten; diese wissen schon, was zu einem perfekten kleinen Mädchen gehört. Silences geschlechtlich bestimmter Körper bleibt eine Leerstelle, die imaginär gefüllt werden muss. Eine solche lückenhafte Beschreibung ist keine dichterische Fehlleistung, sondern entspricht der Substanzlosigkeit geschlechtlicher Entwürfe, auf die Judith Butler hingewiesen hat. Der geschlechtlich bestimmte Körper besitze 39 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe v. Lachmann, Karl. Rev. u. kommentiert v. Nellmann, Eberhard, übers. v. Kühn, Dieter. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2006 (Deutscher Klassikerverlag im Taschenbuch 7), 112, 23–27: si und ander frouwen / begunden in allenthalben schouwen, / zwischen beinn sîn visellîn. / er muose vil getriutet sîn, / do er hete manlîchiu lit. 40 Vgl. V. 1950f.: En li n’a niënt a blasmer / Fors solement qu’ele est trop biele (›there is absolutely nothing wrong with this girl – except that she’s too beautiful‹).

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keinen eigenen ontologischen Status. Durch eine wiederholte Stilisierung, die rigide reguliert werde und mit der Zeit erstarre, entstehe nur der Schein einer Substanz.41 Jeder Versuch, sich dem Ideal eines körperlichen Grundes anzunähern, offenbare dessen substantielle Grundlosigkeit. Obwohl die Unterscheidung zwischen sex und gender real erscheine, erläutert Butler, handle es sich um eine phantasmatische Konstruktion.42 Ontologie sei keine Grundlage, sondern eine normative Anweisung; jenseits diskursiver Verfahren gebe es keine materielle Realität.43 Butlers These, dass ›der Körper‹ ein Konstrukt von fragwürdiger Allgemeinheit sei,44 ist für die Interpretation des »Roman de Silence« erhellend. Wenngleich sich die gesamte Handlung um das Geschlecht und die Geschlechtsidentität der Hauptfigur dreht, wird deren konkrete Leiblichkeit nie in Szene gesetzt. In allen Episoden, in denen Silences weibliche Identität an ihrem Körper festgemacht wird, bleibt der materielle Grund der Geschlechtlichkeit unzugänglich. Nach demselben Muster wie Silences Schöpfung funktionieren alle Ent- und Verhüllungsszenen. Das weibliche Geschlecht wird behauptet, ohne je greifbar zu sein. So stürzt der frisch gebackene Vater nicht ins Frauengemach, um das Kind mit eigenen Augen zu betrachten. Vielmehr erkundigt er sich bei seiner Gemahlin, was für ein Kind sie geboren habe. Diese wiederum ordnet das Neugeborene zuerst verbal dem weiblichen Geschlecht zu und zeigt es dann Cador, woraufhin er das Kind als seine Tochter annimmt (vgl. V. 2009–2023). Was der Graf nicht selbst in Augenschein genommen hat, bleibt auch anderen verborgen. Cador macht so das Nicht-Gesehene unsichtbar. Er bedeckt die Hüftgegend des Kindes mit einem Tuch, damit der Priester nicht zufällig das ›wahre‹ Geschlecht bemerkt (sa nature, V. 2090). Der Erzähler verschweigt im Kontext der Taufe ebenfalls, inwiefern Silences Geschlechtsidentität ihrem Körper eingeschrieben ist. Die Verhüllung des kleinen Mädchens ruft Imaginationen hervor, ohne das Verhüllte je preiszugeben. Butler beschreibt dieses Verfahren treffend: Akte, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren Substanz; doch erzeugen sie ihn auf der Oberfläche des Körpers, und zwar durch das Spiel der bezeichnenden Abwesenheiten, die zwar auf das organisierende Identitätsprinzip hinweisen, aber es niemals enthüllen. Diese im allgemeinen konstruierten Akte, Gesten und Inszenierungen erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen

41 Vgl. Butler [Anm. 5], S. 60. 42 Vgl. ebd., S. 214f. Butler betont, dass dies für die Identität keineswegs bedeute, dass sie völlig künstlich und arbiträr sei. Vgl. auch ebd., S. 60. 43 Vgl. ebd., S. 217. 44 Vgl. ebd., S. 191.

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und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind. [Hervorhebung im Original]45

Die Geschlechtsidentität basiert also, so ist zu folgern, auf einer Fiktion von körperlicher Geschlechtlichkeit, kurz: einer Körperphantasie. Das Spiel mit der Ver- und Enthüllung von Silences Körper wird innerhalb wie außerhalb der erzählten Welt fortgesetzt. Im Handlungsverlauf ruft der Erzähler immer wieder ins Gedächtnis, dass er bzw. die Natur die Hauptfigur als Frau erschaffen hat. Daher erinnert er bei Silences ritterlichen Erfolgen daran: Il est desos les dras mescine (›the he’s a she beneath the clothes‹; V. 2480). Was sich unter dem Gewand des vermeintlichen Ritters genau befindet, wird nicht ausgeführt und bleibt der Phantasie der Rezipienten überlassen. In ähnlicher Weise äußert sich Silence selbst, als sie nach mehrjährigem Vagantenleben an den väterlichen Hof zurückkehrt. Ihr Aussehen, ihr Verhalten und ihre Kleidung entsprächen zwar einem Mann, doch liege darunter ihre ›wahre‹ Natur verborgen.46 Metaphorisch beschreibt sich Silence als ein aufgeputztes Kleidungsstück, das nur äußerlich einen vorteilhaften Eindruck erwecke. Dieses literarische Bild könnte Judith Butler gefallen und ließe sich gut in ihre Gendertheorie integrieren. Silence vergleicht sowohl das performative als auch das körperliche Geschlecht mit einem Gewand, statt zwischen einer äußeren Hülle und einem inneren Kern ihrer Identität zu unterscheiden. Eine körperliche Substanz von Silences Geschlechtsidentität gelangt nicht einmal bei ihrer öffentlichen Devestitur ans Licht.47 Silence wird am Ende des Romans nicht demaskiert, weil die Anatomie ihres Körpers sie verraten hat, sondern wegen eines kulturellen Vorwissens. Weil Merlin weiß, dass er nur durch die List einer Frau gefangen werden kann (vgl. V. 6159f.), schließt er auf das Geschlecht der Protagonistin.48 Wie bei der Identitätszuweisung im Kontext der Geburt erfolgt auch der Gendertransfer zur Frau zuerst über einen Sprachakt. Merlin teilt dem König mit, dass Silence sich zwar wie ein junger Mann verhalte, unter seinen Kleidern aber eine Frau sei (vgl. V. 6534–6537). Weil der König dies kaum glauben kann, befiehlt er, den vermeintlichen Ritter zu entkleiden.

45 Ebd., S. 200. 46 Vgl. V. 3640–3646. Das Travestiegeständnis genügt allein noch nicht zur Identifizierung der verlorenen Tochter, vielmehr gibt sich Silence dem Vater durch ein Muttermal auf der rechten Schulter zu erkennen. 47 Zur Semiotik der Kleidung in der mittelalterlichen Literatur allgemein und der Aussetzung höfischer Identität durch Devestitur und Nacktheit vgl. Krass, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 209–229. 48 Cooper [Anm. 21], S. 359, deutet Merlin nicht nur als Emblem des Wissens, sondern auch als Verkörperung des wissenden Lesers.

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Nun endlich, so könnte man meinen, wird der weibliche Körper mit seinen sexuellen Attributen sichtbar. Der »Roman de Silence« aber enthüllt, indem er erneut verschiebt. Was der König erblickt, nachdem Silence alle Hüllen fallen gelassen hat, müssen die Rezipienten selbst imaginieren. Statt den Geschlechtsbereich auszuleuchten, wird nur die vorherige Behauptung bestätigt: Tost si com Merlins dist les trueve. / Tolt issi l’a trové par tolt (›It was just as Merlin had said: / he found everything in its proper place‹; V. 6573f.). Wie in der Miniatur der Handschrift bleibt Silences Körper auch im Text bis zuletzt ein blinder Fleck. Von ihrem Geschlecht ist nur das zu erkennen, was man schon weiß. Die fehlende geschlechtliche Substanz wird durch performative Zuschreibungen, Suggestionen und Imaginationen kompensiert. Silences Körper ist zwar entblößt, bleibt aber unbestimmt und kreist um das kulturelle Phantasma, was es bedeutet, eine Frau zu sein.

Julia Rüthemann

Silence als narratives Prinzip und poetologische Figuration. Oder: haben wir es mit einem weiblichen Merlin zu tun?

Einleitung Der »Roman de Silence« handelt vom Schweigen, vom Schweigen seiner Protagonistin, die für die erzählte Zeit das Geheimnis ihrer weiblichen Identität verhüllt, aber auch vom Reden und Erzählen, die gleichsam als Hülle des Schweigens fungieren.1 Drei Aspekten möchte ich mich in diesem Beitrag widmen, der sich auch auf Erkenntnisse eines Kapitels meiner Doktorarbeit stützt und sie erweitert. Silence habe ich dort als in erster Linie poetologische Figur gelesen, die Elemente einer Personifikation aufweist.2 Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse ist daran anknüpfend erstens die Feststellung, dass der poetologische Themenkomplex Schweigen/Reden nicht nur anhand der Figur der Silence verhandelt wird, sondern sich geradezu topisch durch den gesamten Text zieht. Dabei ist auf der Mikroebene des »Roman de Silence« zu erkennen, dass die 1 Vgl. zum Komplex Reden/Schweigen im »Roman de Silence« insb. Séguy, Mireille: La parole est d’argent. Transmission lignagère et transmission discursive dans le »Roman de Silence« d’Heldris de Cornuälle. In: Lignes et lignages dans la littérature arthurienne. Actes du 3e colloque arthurien organisé à l’université de Haute-Bretagne, 13–14 octobre 2005. Hg. v. Ferlampin-Acher, Christine u. Hüe, Denis. Rennes 2007, S. 187–204; Bouchet, Florence: Le silence de la travestie: un extrait du »Roman de Silence« (XIIIe siècle). In: Clio. Histoire, Femmes et Sociétés 10 (1999), S. 137–144; James-Raoul, Danièle: La parole empêchée dans la littérature arthurienne. Paris 1997 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge 40); James-Raoul, Danièle: Un curieux avatar de l’»Estoire Merlin«: le »Roman de Silence«. In: Bien dire et bien aprandre 13 (1996), S. 145–157; Burns, E. Jane: Bodytalk: When Women Speak in Old French Literature. Philadelphia 1993 (New Cultural Studies), S. 243–245, 249; Gaunt, Simon: The Significance of Silence. In: Paragraph 13:2 (1990), S. 202–216; Brahney, Kathleen J.: When Silence Was Golden: Female Personae in the »Roman de Silence«. In: The Spirit of the Court: Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society (Toronto 1983). Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Taylor, Robert A. Cambridge 1985, S. 52–61; Bloch, R. Howard: Silence and Holes: The »Roman de Silence« and the Art of the Trouvère. In: Yale French Studies 70 (1986), S. 81–99. 2 Vgl. Rüthemann, Julia: Die Geburt der Dichtung im Herzen. Untersuchungen zu Autorschaft, Personifikation und Geschlecht im Minnesang, im »Parzival«, in »Der Welt Lohn« und im »Roman de Silence«, hier Kap. V. 2.

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Protagonistin Silence als Akteurin und hinsichtlich ihrer Redeanteile im Vergleich zu anderen Figuren wiederholt in den Hintergrund tritt. Inwiefern dies mit dem Status von Silence korreliert werden kann, erörtere ich im zweiten Teil des Beitrags. Dass sich Poetologie und Narratologie des Textes offenbar durchdringen und die beiden Fragestellungen zusammengeführt werden können, zeigt nicht zuletzt die Figur Merlin, die mit Silences Schicksal auf enigmatische Weise verbunden ist. Dem Verhältnis von Merlin und Silence an dieser Schnittstelle von Narratologie und Poetologie widme ich mich daher im letzten Teil.

Silence als narratives Prinzip Bereits in der ausgedehnten Vorgeschichte, die die schwierige Annäherung zwischen den Eltern der Silence erzählt und die immerhin ein Drittel des Textes einnimmt (die Tochter von Cador und Eufemie tritt erst ab V. 2439 aktiv ins Geschehen ein), spielt der Komplex von Reden und Schweigen eine wesentliche Rolle. So werden vorab Motive und Erzählprinzipien entwickelt, die sich anschließend nicht nur mit der Geburt der Silence auf diese übertragen, sich in ihr materialisieren, sondern das Geschehen immer wieder bis in kleinste Details prägen werden. Die Annäherung zwischen Cador, der sich als kühner Drachentöter erwiesen und so das Anrecht auf Frau und Land erworben hat, und seiner Auserwählten, der Heilerin Eufemie, gestaltet sich deshalb so schwierig, weil beide es nicht schaffen, sich ein Herz zu fassen und einander ihre Liebe zu gestehen (V. 555– 558, 765f.). Der Text schildert ausführlich alle Merkmale der Liebeskrankheit, unter der beide leiden und die ihr Schweigen mitbedingt. In Cadors Anwesenheit verspricht sich Eufemie eines Tages und sagt die Worte, die in ihrem Herzen liegen: Mais ›haymmi!‹ sor le cuer li jut (›Aber ›Oh weh‹ ist in ihrem Herzen‹; V. 888).3 Statt Parles a mi, ›Sprich zu mir‹, zu sagen, bricht laut Erzähler aus ihr die Formulierung Parles haymmi hervor, das wie ami klingt und somit ›Sprich Geliebter‹ meinen könnte.4 Cador und Eufemie kommen auf diese Weise ins

3 Verwendet wird folgende Edition: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 21999 (Medieval Texts and Studies 10). Die deutschen Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 4 Zum Liebesgeständnis in der Elternvorgeschichte und zur motivlichen Korrespondenz zum Tristan-Roman vgl. den Beitrag von Britta Bussmann in diesem Band. So wie das Zwiegespräch mit ihrem Herzen bzw. nun das Herzenswort handlungsauslösend wirkt, wird auch das Herz für Silence eine wesentliche Rolle spielen, und zwar als sie sich für ein Leben als Spielmann entscheidet (s. u.). Eufemies Herzenswort könnte hier auf das augustinische innere Wort anspielen, an den Gedanken, der zunächst im Herzen erzeugt wird und hier ungefiltert gesprochen zu werden scheint. Vgl. zu diesem Motiv meine Dissertation Rüthemann [Anm. 2],

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Gespräch über Liebe und beschließen mit einem Pakt (den sie bald brechen werden), niemandem außer einander gestehen zu wollen, wer die geliebte Person sei (V. 1079–1082). Darüber nähern sie sich an und besiegeln ihre Liebe bald mit Küssen, die der Erzähler als wortlosen Beweis ihrer Liebe deutet: Qu’il ne se pueënt abstenir Ne mecent les boces ensanble. Sans dire font, si com moi sanble, De fine amor moult bone ensegne, Car li baisiers bien lor ensegne (V. 1092–1096). Sie konnten es nicht unterlassen, / ihre Münder zusammenzutun. / Ohne etwas zu sagen, so scheint es mir, / erfahren sie viel über die höfische Liebe, / denn das Küssen unterweist sie gut darin.

Sie küssen und umarmen sich, bis sie wieder sprechen können: Longement baisent et acolent; / Quant pueënt parler, si parrolent (›Lange küssen und umarmen sie sich; als sie wieder sprechen können, sprechen sie‹, V. 1143f.).5 Von Anfang an, wie hier nur anskizziert, konstituieren das Schweigen und die Wortlosigkeit, das Verformen der Worte bis hin zu ihrer Auflösung, die Beziehung von Silences Eltern. Damit werden zentrale Motive der Geschichte der Silence vorweggenommen. Silence lässt sich vor diesem Hintergrund wortwörtlich als Kind des elterlichen Umgangs mit Sprache bzw. Schweigen begreifen. Der Text etabliert in der Folge einen deutlichen Bezug zwischen der Nachkommenschaft Cadors und der aventure: De Cador, de s’engendreüre / Comence chi tels aventure (›Von Cador, von seiner Nachkommenschaft, beginnt hier eine solche Geschichte‹; V. 1657–1658). Die Nachkommenschaft lässt sich auf das ›Sprachverhalten‹ beziehen, in dem die künftige Korrelierung des Schweigens und seiner Narrativierung bzw. seiner Sujetfunktion angelegt ist. Silence wird, um die Ländereien erben zu können, als Junge aufwachsen und über ihr weibliches Geschlecht Schweigen bewahren, und genau damit die sujetbildende Funktion des elterlichen Schweigens übernehmen und fortführen. Silence taucht in Person erstmals auf, als ihr Vater ihr erklärt, dass sie als Junge aufgezogen werde, damit der Anspruch auf das Erbe nicht verloren gehe. Silence zeigt sich gehorsam und antwortet kurz: Kap. V. 2. Der Absatz zur Vorgeschichte der Silence ist in Teilen meiner Dissertation entnommen, vgl. ebd. 5 Weitere Textstellen weisen auf die Bedeutung der Stille hin. So überlegen die beiden zwischenzeitlich, ob sie, falls ihnen die Ehe nicht erlaubt werden sollte, in aller Stille, sans faire noise (V. 1350), fliehen sollen. Nach der Verkündung der Geburt eines Jungen begründet der Graf, der die Wahrheit noch nicht kennt, das Ende der Feier damit, dass seine Dame Lärm nicht gebrauchen könne: »Ma dame n’a mestier de noise!« (V. 1998). Vgl. zu dieser Szene Séguy [Anm. 1], S. 197f., sowie Bloch [Anm. 1], S. 90, der hinsichtlich der Suche nach Worten eine Parallele zwischen dem Dichter und seinen Figuren ausmacht.

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Et cil respont moult dolcement, Briément, al fuer de sage enfant: »Ne vos cremés, ne tant ne quant, Car, se Deu plaist, bien le ferai, Viers tolte gent me coverai.« (V. 2458–2462) Und dieser antwortete ganz leise / und kurz, wie ein braves Kind es tut: / »Fürchtet euch ganz und gar nicht, / denn wenn es Gott gefällt, werde ich es gerne tun, / vor allen Menschen werde ich mich bedecken.«

Dieses erste kurze Auftreten der Hauptfigur möchte ich als Ausgangspunkt dafür nehmen, auch für den weiteren Verlauf des Geschehens zu analysieren, wann und wie Silence überhaupt spricht und handelt bzw. wie das Motiv des Schweigens und der Stille die Ereignisse prägt und damit gleichsam narrativ entfaltet wird. Fahren wir mit Silences erster Begegnung mit der personifizierten Nature fort. War die Schilderung ihrer Geburt bereits von einem langen Monolog von Nature begleitet, und hatte sich Nature bereits vor dem Vater-Tochter-Gespräch über die Erziehung Silences und die Deformierung ihrer Natur echauffiert, tritt Nature erneut auf den Plan, als Silence im Alter der Geschlechtsreife ist und innerlich (ses corages) bemerkt, dass ihr Verhalten nicht ›natürlich‹ ist: [S]ilences forment s’enasprist, Car ses corages li aprist Ke si fesist par couverture. Apriés .xii. ans si vint Nature, Ki le blasme forment et coze (V. 2497–2501). Silence war äußerst verstört, / denn er spürte [sein Inneres gab ihm zu verstehen], / dass er es durch Verhüllung/Täuschung tat. / Nach zwölf Jahren kommt nun Nature, / die ihn laut beschuldigt.

Nature hält eine längere Rede, die sie damit beschließt, dass sie Silence mit deren eigentlichem Namen konfrontiert, woraufhin Silence schließlich selbst zu Wort kommt: »[…] Tu nen es pas Scilentius!« Et cil respont: »Tel n’oï onques! Silencius! qui sui jo donques? […] Donques sui jo Silentius Cho m’est avis, u jo suis nus.« (V. 2530–2538) »Du bist nicht Silentius!« / Und dieser antwortet: »So etwas habe ich noch nie gehört! / Silentius! Wer bin ich dann? […] Daher bin ich Silentius, / wie ich meine, oder ich bin niemand [nackt]6.« 6 Vgl. zum in nus enthaltenen Wortspiel Bouchet, Florence: L’écriture androgyne: Le traves-

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Silence schlägt sich in einer längeren Rede gegenüber Noreture, die jetzt auftaucht, auf die Seite Natures, bis Noreture sich wutentbrannt direkt an Nature wendet und sie verdrängt. Als Nature verschwindet, taucht zudem sogleich Raison auf, welche Silence ebenfalls ermahnend zuspricht und solange über die Vorteile des männlichen Lebens aufklärt, bis Silence ernsthaft darüber nachsinnt, die Vorteile für sich erkennt und schließlich auch ausspricht. Diese Form der Rückbesinnung ist erneut mit ihrer corage verknüpft: Et poise dont en son corage Tolt l’us de feme a son usage. Et voit que miols valt li us d’ome Que l’us de feme, c’est la some. (V. 2635–2638) Und er wägte in seinem Inneren ab / all die weiblichen Lebensweisen gegenüber seiner eigenen. / Und er sah, dass, alles in allem, die Lebensweise eines Mannes besser war / als diejenige einer Frau.

Der Erzähler bringt schließlich das Motiv des Herzens ins Spiel, um die Zerrissenheit von Silence zu veranschaulichen: Silences ot le cuer diviers (›Silence hat ein zerrissenes Herz‹; V. 2681). Abgesehen von der kurzen Antwort Silences ihrem Vater gegenüber befindet sich die Rede von Silence bis zu diesem Zeitpunkt auf einer inneren Ebene bzw. einer Ebene, auf der Personifikationen den inneren Konflikt der Silence allegorisch ausstellen.7 Die Passage, mit der Silence stärker in den Fokus rückt, stellt zugleich den Übergang zur Spielmannsepisode dar, in der Silence vermehrt selbst zu Wort kommt und die Handlung erstmals von ihr ausgeht. Silence kümmert sich um die Spielmänner, und danach tritt ihr nun erstmals personifiziertes Herz in Erscheinung (V. 2826–2872), das ihr dazu rät, mit den Spielmännern in die Bretagne zu ziehen. Um unerkannt zu reisen, verändert sie mit Hilfe einer Pflanze ihr Aussehen (D’une herbe qu’ens el bos a prise / Desconoist sa face et deguise [›Mit einem Blatt, das er im Wald gefunden hatte, / verfärbte er sein Gesicht und verfremdete sich‹; V. 2909f.]). Bald jedoch wendet sich die Geschichte zunächst der zurückgelassenen Hofgesellschaft zu, die in stummes Trauern verfällt. Silence hat nicht nur Auswirkungen auf deren Verhältnis zu Spielmännern, die aus dem Reich verbannt werden, sondern auch auf Lärm und Geräusche insgesamt. Das als natürliches dargestellte Bedürfnis nach mitgeteilter Trauer wird aus Rücksicht auf die lärmempfindlichen Eltern der tissement dans le »Roman de Silence«. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge (XIIe–XIIIe siècles). Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 47–58, hier S. 55. 7 Séguy weist auf die Tendenz zum inneren Monolog des Romans insgesamt hin: »Le roman se caractérise d’abord par la fréquence et la longeur des monologues intérieurs, où la voix du narrateur porte au jour, à la première personne, les débats de conscience de personnages dont la parole se voit retenue ou interdite« (Séguy [Anm. 1], S. 190).

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Silence unterdrückt.8 Als es den Eltern etwas besser geht, schreien sie den Namen dessen (En halt crient: »Bials fils Scilence«; V. 3053), der für sie der Spiegel der Welt war: Ki mireöirs estoit del mont (V. 3063). Und tatsächlich trauert das ganze Land um ›ihn‹– die Erzählerstimme verwendet in der Regel das männliche Pronomen:9 Trestols li païs plaint Scilence (V. 3087). Diejenigen, die sich nicht beherrschen können, ziehen sich zurück, um im Verborgenen laut trauern zu können (V. 3091f.). Der für Silence verantwortliche Seneschall dagegen muss den Eltern die Wahrheit über das Verschwinden von Silence enthüllen, was dazu führt, dass der Graf alle Spielmänner verbannen lässt: Voelle u non, se li conmande Que il le verté li descuevre, Tolt si com est alee l’uevre, Et cil nen oze mot celer. (V. 3108–3111) Ob er wollte oder nicht, ihm wurde befohlen, / die ganze Wahrheit zu enthüllen, / ganz wie sie am Werke war, / Und dieser wagte es nicht, auch nur ein Wort zu verbergen.

Das Verschwinden von Silence, ihre Absenz, löst somit eine Dynamik des Verhüllens und Enthüllens, des Schweigens und Sprechens bzw. des Unterdrückens und Veräußerlichens der Trauer aus. Sie führt zum Kern der Geschichte der Silence, die sich nun gleichsam wieder spiegelartig auf die Eltern und die Hofgesellschaft (zurück)verlagert und sich in deren Verhalten übersetzt, fast räumliches Ausmaß gewinnt. Die Bewegung zwischen den zwei Polen der Stille und dem hörbaren Ausdruck prägt gleichfalls das Miteinander der Spielmänner: Silence übertrumpft bald ihre Lehrer, und es entwickelt sich eine Dynamik, in der Silence vom Publikum derart bevorzugt wird, dass die beiden Spielmänner nicht mehr spielen, sondern vielmehr leise bleiben sollen: Cuidiés qu’es cuers n’aient grant rage, […] Quant il sunt devant roi et conte, Qu’il harpe et viiele a plaisir Et c’on les fait por lui taisir? (V. 3154–3158) Glaubt ihr nicht, dass ihre Herzen voller Rage sind, / […] / dass er, als sie bei dem König und Grafen sind, / zu seinem Vergnügen Harfe und Laute spielt / und man sie für ihn [um ihn zu hören] zum Schweigen bringt?10 8 Der Text problematisiert dies: Zunächst erörtert er in einer längeren Passage, welche Vorteile es hat, wenn man sich mitteilen kann, wenn man ›enthüllt‹, was man auf dem Herzen hat, um dann das gegenteilige Verhalten der Gesellschaft zu beschreiben, die ihre Trauer aus Angst, der Dame zu schaden, nicht ausdrückt und verschweigt (V. 3027–3048). 9 Vgl. Bouchet [Anm. 1], S. 143. 10 Vgl. zur Korrelation von plaisir und taisir Anm. 29.

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Beim Duc de Bourgogne, der einen großen Empfang gibt, beginnen die Spielmänner ihr Konzert, doch wünscht der Duc nur Silence zu hören, während dessen Lehrer es nicht wagen, auch nur ein Wort zu sprechen: Li menestrel i ont joé Mais il i sont si desjoé Que il n’osent un mot tentir, Car li dus ne violt consentir, Ne mais Scilence solement. Celui voelent oïr la gent: Et cil en ont angoisse et honte, Moult plus que ne vos di el conte. (V. 3237–3244) Die Spielmänner haben dort gespielt / aber sie wurden dort so ›ausgespielt‹, / dass sie es nicht wagen, auch nur ein Wort von sich zu geben, / denn der Graf würde ihnen nicht zustimmen, / sondern nur Silence. / Diesen wollen die Leute hören: / Und jene haben davor Angst und schämen sich, / mehr als ich euch in der Geschichte erzähle.

Voller Neid, und weil sie fürchten, dass niemand sie mehr anhören möchte und sie somit zum Schweigen gezwungen würden, sollte Silence sich mit den Gewinnen davon machen (V. 3277–3282), planen die Spielmänner schließlich, sich der Silence, und im übertragenen Sinne ihrem eigenen, von außen erzwungenen Schweigen, zu entledigen. Indem sie sich einen neuen Namen verleiht, beweist Silence neben ihrer ausgestellten Handlungs- und Sujetfähigkeit sowie ihrem neu erworbenen musikalischen Können nicht nur eine dezidiert sprachschöpferische Kraft:11 Car cil a fait de son non cange, Si l’a mué por plus estrange. A cort se fait nomer Malduit, Car il se tient moult por mal duit, Moult mal apris lonc sa nature. Et sil refait par coverture. (V. 3175–3180) Denn dieser hat seinen Namen geändert, / und hat ihn noch stärker verfremdet. / Am Hof lässt er sich Malduit nennen, / denn er hält sich für vom Wege abgekommen, / für sehr schlecht erzogen in Bezug auf seine Natur, / und so ist er durch eine Hülle/Maske erneuert.

Außerdem vermag sie sich nun, als die Spielmänner gegen sie intrigieren, auch selbst zu retten. Silence wacht nach einem Albtraum auf und lauscht daraufhin schweigsam und aufmerksam in die Nacht hinein (V. 3409–3412). So erfährt sie von den Plänen der Spielmänner, die sie schließlich auffordert weiterzuziehen 11 Womit sie sich noch weiter oder erneut verhüllt. Dies ließe sich als Argument im Sinne einer Offenlegung ihrer Figurierung anführen, vgl. den nächsten Unterpunkt sowie Rüthemann [Anm. 2], Kap. V. 2.

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(V. 3461–3476). Sie selbst entscheidet sich, zu ihren Eltern nach Cornwall zurückzukehren, wo sie sich, in einer Herberge angekommen, über das Verbot zu musizieren hinwegsetzt und zu spielen und – wie der Text erstmals erwähnt – zu singen beginnt: Dont prent sa harpe et sa viiele, / Si note avoec a sa vois biele. (›Also nahm er seine Harfe und seine Laute, / und erzählte mit seiner schönen Stimme‹, V. 3521f.). Der Text betont, dass die Leute schon lange keine Musik mehr gehört haben: Moult i a borjois assanblés, Car puis que l’enfes fu enblés N’i ot oï harpe ne rote, Viiele nule, cant ne note. (V. 3525–3528) Viele Einwohner waren dort versammelt, / denn sie hatten, seitdem das Kind entführt worden war, / keine Harfe, keine Fidel, keine Laute, keinen Gesang oder eine Note gehört.

Später musiziert Silence auf dem Weg zum Grafen, ihrem Vater, und berührt mit ihrem Spiel diesen schließlich derart, dass er kein Wort zu sprechen vermag: Li cuens l’entent, parfont sospire. / Or [ot] tel dol ne pot mot dire. (›Der Graf hörte ihn und seufzte tief. / Er spürte einen solchen Schmerz, dass er kein Wort sagen konnte‹, V. 3549f.) Mit der Episode kehrt sich Silences Verhältnis zum Sprechen und Handeln folglich um oder genauer, dynamisiert sich: Anders als zuvor und auch wieder nach dieser Spielmannsepisode verschwindet sie nicht lediglich hinter den Handlungen der anderen Figuren oder folgt bloß reaktiv deren Handlungsanweisungen und Vorgaben. Durch ihre Verwandlung, mit der sie sich eine neue Identität verleiht, schließlich durch die Musik und den Gesang vermag sie sich selbst als Ursprung ihrer (Sprach-)Handlungen zu setzen, die die ihr inhärente Binarität von Sprechen und Schweigen für diesen Moment auflösen, gleichsam in Gesang und Musik transponieren.12 Auf diese Weise erscheint erstmals Silences eigeninitiierte Kommunikation mit dem Außen möglich, was sich auch räumlich übersetzt: Zum einen erschließt sie sich in der Ferne selbst einen neuen Raum, zum anderen kehrt sie trotz des Bannes nach Hause und erobert sich diesen Raum zurück. Das Verstummen des Vaters nimmt die Enthüllung ihrer Identität voraus – es spiegelt gewissermaßen ihr Schweigen – und zeigt dabei gleichwohl erneut – wie im Falle der Annäherung an Eufemie – die Relevanz des Klangs für die Möglichkeit einer das Schweigen überwindenden Kommunikation, die gleichzeitig ein Geheimnis zu bewahren vermag.

12 Vgl. etwa Victorin, Patricia: Le nu et le vêtu dans »Le Roman de Silence«. Métaphore de l’opposition entre nature et norreture. In: Le Nu et le Vêtu [Anm. 5], S. 365–382. Vgl. Rüthemann [Anm. 2], Kap. V. 2.

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Die Episode endet damit, dass ein alter Mann Silence als Sohn des Grafen erkennt (V. 3559–3592). Auch hier, im direkten Zusammenhang mit dem Auftauchen von Silence, entfaltet sich wieder ein subtiles Spiel mit der Opposition Reden und Schweigen. Der alte Mann wirft einen genauen Blick auf Silence (V. 3559f.) und fragt ›ihn‹ nach ›seinem‹ Namen, den Silence ihm nicht verbergen (celer, V. 3575) möchte und den der alte Mann dann auch gleich deutet: Et li viellars dont li respont: »Bien sai que vostres nons despont, Car malduis cho est mal apris, Si estes vos, qu’il n’i a pris Ne los a vos n’a vo parage D’avoir mené si fait usage.« (V. 3577–3582) Und der Alte antwortete ihm: »Ich weiß, was euer Name bedeutet, / denn malduis meint, was schlecht gelernt wurde; / dies seid ihr, so dass es kein Lob weder für euch noch für eure Eltern gibt, / solch ein gefälschtes Leben geführt zu haben.«

Silence tut so, als ob ›er‹ ihn nicht verstünde: [Q]ue que li viellars die u face, / Silence fait que mot ne sace / De quanque il onques li devise / Mais cil s’en a bien garde prise / Que cho est il (›Was auch der Alte sagte und tat, / Silence tat so, als ob er nicht wisse, / wovon er überhaupt sprach / aber dieser konnte gut erkennen, / dass er es war‹; V. 3593–3595). In der privaten Kammer des Grafen kommt es dann zu einer Enthüllungsszene: Silence gibt ›seinem‹ Vater zu verstehen, dass ›er‹ nur durch seine Kleidung und seinen Teint ein Mann sei und dass der Vater um ›seine‹ wahre Natur wisse (V. 3640–3646). Der Text berichtet dann, wie der Graf seinen S o h n wiedererkennt. Die Rückkehrepisode beinhaltet somit einige Unklarheiten: Wen erkennt der Alte: die verkleidete Silence? Denn darauf spielt seine Deutung des Namen Malduit an. Doch wie auch der Erzähler bezieht der Alte das Wiedererkennen allein auf Silences männliche Identität.13 Einmal mehr wird betont, wie schließlich der Hof kollektiv auf das Erscheinen von Silence reagiert. Die Rückkehr von Silence löst allerseits große Freude aus – die Menschen strömen herbei, um das Kind zu sehen und zu hören: Grant joie en mainne donc li pere, Tolt cil de la terre et la mere. Ki donc veïst gens esjoïr L’enfant vont veoir et oïr. (V. 3655–3658) 13 Roche-Mahdi sieht in ihm Merlin, der die Verkleidung sehr wohl durchschaue: »But just as she did not understand that the words of Cador’s anonymous elderly courtier had a double meaning, that he had seen through both disguises, she is unable to decode the hermit’s message here«. Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 6–21, hier S. 13. Sie hält neben der GrisandoleGeschichte auch die Flualis-Geschichte für ein Vorbild für den »Roman de Silence« (vgl. ebd., S. 8–12).

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Große Freude zeigten darüber somit der Vater, / die ganze Erde und die Mutter. / Dort sah man die Leute feiern, / sie kamen, um das Kind zu sehen und zu hören.

Am königlichen Hof wird sie jedoch fortan erneut für die Intrigen und Handlungen anderer Figuren, zunächst der Königin, dann des Grafen des Königs von Frankreich, vereinnahmt; sie rückt wieder stärker in den Hintergrund. Gleichwohl scheint sie die Handlungen anderer Figuren durch ihre Präsenz überhaupt erst zu generieren. Die nun folgenden Episoden sind dabei ebenfalls von zahlreichen Anspielungen auf Motive des Redens und Schweigens, des Verbergens und Enthüllens durchdrungen, und es wirkt auch hier ganz so, als ob sich die der Silence eigene Dynamik zwischen Reden und Schweigen auf die sie umgebenden Figuren und Situationen verlagert. Diese Dynamik lässt sich natürlich zunächst für Silence selbst beobachten. So erfahren wir beispielsweise: Ne violt pas dire son covine, / De sa nature verité / Qu’il perdroit donques s’ireté (›Er wollte nicht seine Gedanken aussprechen, / von seiner wahren Natur sprechen, / denn er würde sein Erbe verlieren‹; V. 3872– 3874). Im weiteren Verlauf der Handlung fleht Silence die ihr nachstellende Königin an, von ihr abzulassen und beruft sich dabei auf Gott, der sie cria habe – in diesem Verb klingt neben der Bedeutung ›geschaffen‹ ein Hinweis auf das sprachbezogene Partizip ›geschrien‹ an. Diese poetologische Mehrdeutigkeit setzt sich im Folgevers fort, in dem Silence behauptet ›alles‹, hier gleichbedeutend mit ›nichts‹, gesagt zu haben:14 »Non! non! Par Deu l’esperitable!« »Comment?« fait ele. »Est cho estable?« »Oïl, par Deu, qui me cria! Jo vos ai dit quanqu’il i a.« (V. 4067–4070) »Nein! Nein! Beim allmächtigen Gott!« »Wie bitte?« sagte sie. »Ist das ernst gemeint?« / »Ja, bei Gott, der mich geschaffen hat! / Ich habe euch alles gesagt.«

Doch auch die sie umgebenden Figuren partizipieren an dieser Dynamik. So fragt die Königin bei ihren Annäherungsversuchen: »Qui vos cache?« (V. 3827), was ›»Wer jagt Euch?«‹, aber auch ›»Wer versteckt Euch?«‹ meinen kann. Die Königin hat die Absicht, eine Vergewaltigung vorzutäuschen und verletzt sich in der Folge selbst, und zwar ohne einen Laut von sich zu geben: Plore sans noise et sans criër 14 Ähnliche poetologische Mehrdeutigkeiten bzw. lautliche Verschiebungen verschiedener Signalwörter haben auch andere Studien bereits hervorgehoben, vgl. etwa Cooper, Kate M.: Elle and L: Sexualized textuality in »Le Roman de Silence«. In: Romance Notes 25 (1985), S. 341–360. »Read at the level of the letter, the Roman de Silence can be said to be based upon a series of graphemic displacements – of prefixes (Nature/Noreture, ozer/glozer, medecine/ mescine); of suffixes (Eufeme/Eufemie, Silentius/Silentia); of accents (conte/conte); of accents and letters (oire/oirre/oir/oїr), etc. And it can be said to be about a series of stolen letters« (Bloch [Anm. 1], S. 96).

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(V. 4079). Vor dem König beschuldigt sie Silence, was dem König die Sprache verschlägt: Li rois en a si gros le cuer: / Ne desist .i. mot a nul fuer (›Dem König wurde das Herz so schwer, / dass er kein Wort sprach‹ V. 4149f.). Silence hat große Angst und vermag sich lediglich selbst leise zuzureden: Entre ses dens dist bielement: »[…] Il ne m’en poroit mie croire Se il ne seüst ma nature: Adonc perdroie ma droiture, L’onor mon pere et m’ireté.« (V. 4165–4173) Zwischen seinen Zähnen sagt er leise: »[…] / Er könnte mir nie glauben, / außer er wüsste um meine Natur: / Dann würde ich mein Recht, / die Ehre meines Vaters und mein Erbe verlieren.«

Der König will schließlich so tun, als ob nichts gewesen wäre, bzw. Silence zum König von Frankreich schicken, weil sonst zu viel Lärm durch seine wütende Frau entstünde – laut Erzähler immer eine Gefahr bei Frauen, die man zum Schweigen bringen wolle: Mais ne volt son dit blastengier, Car feme quant se violt vengier En tel maniere est moult trençans, […] […]. Quant on le roeve taire Dont s’esforce de noise faire. (V. 4265–4270) Aber er will sie mit seiner Rede nicht beleidigen, / denn wenn eine Frau sich rächen will, / hat sie auf diese Weise eine scharfe Zunge. / […] Wenn man ihr befiehlt zu schweigen, / dann strengt sie sich an, Lärm zu machen.

Die Königin wird den Brief des Königs an den König von Frankreich austauschen und Silences Tod fordern. Der Erzähler verweist darauf, dass nur noch Gott ihm helfen könne (V. 4370–4376). Als Silence beim König von Frankreich ankommt, sichtet zuerst der Kanzler den Brief und will nicht, dass der Brief laut gelesen wird: Jo ne volroie por Monmartre / Qu’il m’esteüst lire la cartre (›Ich will bei Montmartre nicht, / dass er mich den Brief vorlesen lässt‹, V. 4403f.). Dem König offenbart er die Absicht Ebains, Silence töten zu lassen aufgrund einer Tat, die verschwiegen bleiben müsse und die auch der Brief nicht berichte (V. 4444). Der König ist derart betroffen, dass er sprachlos bleibt: Tel dol a qu’il ne puet mot dire: / Puis que fu nés n’ot mais tel ir (›Er verspürte einen solchen Schmerz, dass er kein Wort sagen konnte: / Denn noch nie in seinem Leben hatte er solche Wut‹; V. 4457f.). Im Rat der Grafen spielt das semantische Feld des Sprechens ebenfalls eine hervorgehobene Rolle: Zuerst bittet der Graf von Blois förmlich um das Rederecht: »volés le vos / Que jo parole?« (›»Wollt ihr es, / dass ich spreche?«‹;

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V. 4537f.). Sein Vorschlag, Silence vierzig Tage Aufschub zu geben, macht den Grafen von Clermont so wütend, dass dieser kaum zu sprechen vermag (V. 4585). Weitere Argumente werden ausgetauscht, bis der Graf von Clermont fragt: »Mais puis que dit li averai Al miols que dire li sarai, Puet il faire tolt son plaisir. Doi li jo donc por cho taisir Consel de droit, s’il le demande?« (V. 4695–4699) »Selbst wenn ich ihm den besten Rat gebe, / den ich ihm zu sagen wüsste, / könnte er ganz nach seinem Belieben handeln. / Muss ich ihm daher verschweigen / einen guten Ratschlag, wenn er ihn doch erbittet?«

Als die Antwortbriefe König Ebain erreichen, stellt dieser seinen Kanzler zur Rede, der nicht weiß, was er sagen soll: Li canceliers ne sot que dire Car il ne puet nul bien eslire Ne el dire ne el taisir Por quoi il puist al roi plaisir. (V. 4927–4930) Der Kanzler weiß nicht, was er sagen kann, / denn er kann keine gute Entscheidung treffen, / zwischen dem Aussprechen und dem Verschweigen, / um dem König zu gefallen.15

Im Gefängnis über die Affaire nachsinnend überlegt er schließlich, ob die Königin Silence möglicherweise Avancen gemacht haben könnte (V. 5009f.), lässt den König rufen und traut sich dennoch zuerst nicht zu sprechen (V. 5052), bis der König ihn schließlich deutlich auffordert, sich mitzuteilen: Li rois respont: »Di tost! Di! di!« (›Der König antwortete: ›»Sprich sofort! Sprich! Sprich!«‹; V. 5068). Ein Bote kehrt zum König von Frankreich zurück, und Silence wird endgültig Teil des Hofes und erfolgreicher Ritter (V. 5119).16 Silence ist bald in aller Munde: De Silence vait la noviele / En maintes terres bone et biele. (›Über Silence verbreitete sich die gute und schöne Neuigkeit / in viele Länder.‹ V. 5191f.), was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wenn man Silence als Schweigen wörtlich liest. Entsprechend – und noch dazu mit explizitem Bezug zur vom Hof geleisteten Erziehung (noreture) – bricht der Hof in lautes Klagen aus, als König Ebain sie zur Unterstützung seiner Armee gegen die Rebellion von Grafen zurückfordert, Silence also verschwindet: 15 Vgl. auch V. 4951: Et cil n’en set sos ciel que dire (›Und dieser weiß nicht, was zum Himmel er sagen soll‹). 16 Er wird zum Ritter geschlagen und ist aus Sicht des Erzählers so erfolgreich, dass man [d]ire peüst que Noreture / Puet moult ovrer contre Nature (›sagen kann, dass Noreture / vielfach gegen Nature handeln kann‹; V. 5153f.).

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Tolte la cors en est dolente; Plorent Silence a desmesure: »Ahi!« font il, »quel noreture Et quels atrais est d’estrange home! Quant on l’a norri, c’est la some, Et miols apris, sil pert on donques.« (V. 5278–5283) Der ganze Hof war darüber bestürzt; / sie beklagten [den Abschied von] Silence über alles Maß: / »Ah!« sagten sie, »welch’ Erziehung / und welch’ Ausrüstung für einen fremden Mann! / Kurz, nachdem man ihn erzogen hat / und besser ausgebildet, verliert man ihn am Ende.«

Silence führt eine Gruppe von Franzosen an und hält vor ihnen eine Schlachtrede, die ihre Verbundenheit betont und bestärkt: »Segnor, jo vos ai amenés Par vos mercis en ceste tiere. Or si vos voel jo moult requierre Que vos soiés ensi par vos Que nus ne puist dire de nos Orguel, oltrage, ne folie, Se il nel dist par droite envie. Jo sui a vos et vos a mi.« Et cil respondent com ami: »Sire«, funt il, »tolt somes un, Et bien et mal avrons commun.« (V. 5376–5386) »Ihr Herren, ich habe euch / mit eurer Zustimmung in dieses Land geführt. / Doch nun möchte ich euch eindringlich bitten, / dass ihr so mit den anderen seid, / dass niemand uns / Hochmut, Missachtung oder Wahn unterstellen kann, / außer aus purem Neid. / Ich bin der Eure, und ihr seid die Meinigen.« / Und diese antworteten als Freunde: / »Herr«, sagten sie, »wir sind alle einer / und das Gute wie das Schlechte werden wir teilen.«

Es folgt eine lange Schilderung der Kämpfe zwischen dem König und den vier abtrünnigen Grafen, während die Handlung um Silence in den Hintergrund gerät. Erst als er rettend einschreitet, tritt Silence wieder in das Geschehen ein (V. 5536f.). Sein Kampf inspiriert die Franzosen dazu, laut »Montjoie!« (V. 5555) schreiend weiterzukämpfen. »Montjoie« ist schließlich der Schlachtruf auch von Silence, auf den, wie betont wird, jeder reagiert: A »Montjoie!« que il escrie / N’i a un seul qui se detrie, (›Es gibt niemanden, der zögerte zu antworten / auf »Montjoie!«, das er schrie‹; V. 5643f.). Die stimmliche Verknüpfung mit ihrem Umfeld wird besonders offenkundig, als Silence am Ende vor dem Hof König Ebains enthüllt wird. Statt wie bislang wiederholt eine Tendenz zum Gegenteil des Schweigens unter Beweis zu stellen

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– im Ausdruck von Freude oder Trauer oder im Erzählen von Silence –, verstummt diesmal der Hof im Angesicht der ›echten‹ Silence: Et Silence despollier roeve. Tost si com Merlins dist les trueve. Tolt issi l’a trové par tolt. En la sale ot moult grant escolt: Nus n’i parla se li rois non, U s’il nel conmanda par non. (V. 6572–6577) Und er befahl, Silence zu entkleiden. / Er fand die Dinge bald, wie Merlin gesagt hatte. / Alles fand er dort vollständig. / In dem Saal hörten alle genau zu: / niemand sprach dort außer der König / oder nur auf seinen namentlichen Befehl hin.

Stattdessen kommt nun Silence selbst, vom König namentlich dazu aufgefordert, sich zu erklären, öffentlich zu Wort (V. 6579–6589). Ihre Rede schließt Silence, die ihre Motive darlegt, mit den Worten: »Ne jo n’ai soig mais de taisir. / Faites de moi vostre plaisir« (›»Ich sorge mich nicht mehr darum zu schweigen. / Macht mit mir, was euch beliebt«‹; V. 6627f.). In augenfälliger Weise, über den Motivkomplex des Redens bzw. Schweigens, korrespondiert die Präsenz bzw. Absenz von Silence mit den sie umgebenden Figuren, und begreift man die Höfe als solche, mit den sie umgebenden Räumen. Sie ruft insbesondere das Sprachhandeln anderer Figuren auf den Plan, wobei sie einerseits hinter den Reden und Handlungen dieser Figuren verschwindet und andererseits in der sich dann einstellenden und gleichwohl weiter um sie kreisenden Dynamik von Reden und Schweigen absent-präsent bleibt. Auch werden oftmals unterdrückte Emotionen wie Trauer oder Wut anderer Figuren thematisiert, die diese durch Sprachlosigkeit bzw. in lautlichen Gebärden jenseits von Sprache ausdrücken (müssen) oder in Handlungen übersetzen (wie im Fall der Spielmänner bzw. der Königin). Vergleicht man Silence mit den Protagonisten anderer höfischer Romane, sticht sie durch eine Handlungsgenerierung hervor, die sie abgesehen von der Malduit- sowie der Merlin-Passage, auf die ich gleich noch weiter zu sprechen komme, außerordentlich passiv erscheinen lässt und tatsächlich ihr Schweigen, Verhüllen und Verschwinden voraussetzt. Vor allem sprachbezogene Handlungen, aber auch der Fokus der Erzählung überhaupt, verschieben sich wiederholt auf andere Figuren, die Silence gleichwohl in der Dynamik von Reden und Schweigen, in Form einer sprechenden Absenz, gewissermaßen ›mitsprechen‹, ›miterzählen‹.

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Silence als Figuration Die Erzählfunktion, die Silence erfüllt, unterscheidet sich somit von Protagonisten anderer höfischer Romane: Oftmals steht sie nur indirekt im Mittelpunkt des Geschehens und verschwindet beinahe hinter den Intrigen, Debatten, Briefen und Ratsszenen und den daran beteiligten Figuren. Die wenigsten Episoden werden hauptsächlich von ihr getragen und gleichwohl bringt sie, bringt der in ihr angelegte Urkonflikt, diese Intrigen bzw. Figuren erst auf den Plan und generiert das Geschehen. Während also vordergründig immer wieder andere Figuren handeln und im Fokus stehen, hat sich außerdem auf Mikroebene gezeigt, dass sich die (Sprach-)Handlung der anderen Figuren nicht einfach nur um die Figur Silence und um das Schweigen als solches dreht, sondern sich die in Silence angelegte Dynamik zwischen Reden und Schweigen auf diese anderen Figuren überträgt. Besonders auffällig sind in diesem Kontext ferner die zahlreichen Korrespondenzen zwischen Silence und dem sie umgebenden Raum, wie er sich in der jeweiligen Gesellschaft reflektiert. Mit anderen Worten, die Dynamik zwischen Schweigen und Reden, zwischen Verbergen und Enthüllen spielt der Text bis in die kleinste, vor allem auch klangliche Ebene durch. Silence kann daher als ›narratives Prinzip‹ des gesamten Romans begriffen werden, als topisches Phänomen, das den gesamten Text durchdringt. Dass die Figur Silence dabei immer wieder in ihren Rede- und Handlungsanteilen marginalisiert wird, erscheint somit nur folgerichtig. Dieser Befund könnte mit ihrem figurativen Status korrelieren, mit dem sie von den ›echt‹ männlichen Protagonisten abweicht. Denn tatsächlich nähert sie sich in mehrfacher Hinsicht einer Personifikation an, wie ich in meiner Doktorarbeit ausführlich nachgewiesen habe und wie ich es hier daher nur zusammenfassend erläutere. Darauf, dass sich Silence einer Personifikation annähert, deutet zunächst ihr Name hin, der nicht nur ein Abstraktum darstellt, sondern einen stark poetologischen Impetus aufweist:17 Silence als stumm-sprechender Name bezeichnet das Gegenteil von Sprache, ex negativo also das, was sie ausmacht.18 Bedingt durch ihren Namen stellt Silence somit eine sprachreflexive Figur dar, die einen Hinweis auf ihre Gemachtheit in sich trägt. Potenziert erscheint diese Reflexivität durch die diversen im Text 17 Vgl. Rüthemann [Anm. 2], Kap. V. 2. »As a character she is the allegory of woman’s exclusion from having (her inheritance, all that males inherit, all male privileges), and from being (the self-generation of self-expression and naming)«. Gilmore, Gloria Thomas: »Le Roman de Silence«: Allegory in Ruin or Womb of Irony? In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 111–128, hier S. 113. 18 »In conclusion, the Roman de Silence symptomizes the paradox of the poet who speaks the impossibility both of silence and of an always already dislocated speech. Its heroine, by her own account, represents the specular image of that which poetry cannot say, which is that to speak the truth is to be disinherited« (Bloch [Anm. 1], S. 99).

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thematisierten Verformungsprozesse ihres Namens und, verschränkt damit, der als geschlechtsspezifisch gedeuteten Merkmale ihres Körpers. Anders formuliert: mittels dieser sprachlich-körperlichen Verformungen wird an ihr die Erzeugung bzw. Gestaltung einer Figur, d. h. der literarische Figurationsprozess, ausgestellt. Besonders anschaulich wird dies bei der Kreation von Silence durch Nature, die den Körper Silences formt. In der Schilderung ihres Vorgehens erinnern Natures Handgriffe wiederholt an Schreibbewegungen, und es wird mit der Mehrdeutigkeit des Begriffes faire (,machen‹, ›erzählen‹ und ›schreiben‹) gespielt. Der Aspekt der bedeutungstragenden Verhüllung zeichnet in besonderer Weise Personifikationen aus, deren Kleidung oder Körperoberfläche als im Schleier versinnbildlichter Text zur Allegorese einlädt und somit eine poetologische Selbstbezüglichkeit implizieren kann. Nicht ungewöhnlich ist die Ausstattung der Personifikationen dabei mit männlichen Attributen, einer Rüstung etwa, was mit der »Unverletzlichkeit der allegorischen Gestalt« korrespondiert:19 Ihre Kleidung bzw. ihre undurchlässigen Körper umschließen die Wahrheit bzw. Tugend und interferieren dabei mit dem ›Ideal der männlichen Frau‹.20 Das hermetisch Abgeschlossene ihres weiblichen Körpers deutet gleichfalls auf Silences Nähe zum personifikatorischen Prinzip.21 So bleibt Silence für die Dauer der Geschichte keusch und kann in ihrer Rolle als Mann keine Sexualität ausleben, auch wenn sich viele von ihr angezogen zeigen.22 Als Frau zumindest, so lässt sich daraus schließen, vermag sie in der Ritterwelt nur als Mann verkleidet und damit einhergehend, entsexualisiert handlungsfähig (und textproduktiv) zu sein. Silence oszilliert folglich zwischen männlichem 19 Warner, Marina: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen. Reinbek bei Hamburg 1989 [Orig.: Monuments and Maidens. The Allegory of the Female Form. London 1985], S. 329, vgl. auch S. 339f. 20 Vgl. Haag, Christine: Das Ideal der männlichen Frau in der Literatur des Mittelalters und seine theoretischen Grundlagen. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man: zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Internationales Kolloquium der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft u. d. Gerhard-Mercator-Univ. Duisburg, Xanten 1997). Hg. v. Bennewitz, Ingrid (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 9 [1999]), S. 228–248. Coopers Analyse zielt auf die Rolle des weiblichen Körpers für die Dichtung und kommt zu einem möglicherweise vergleichbaren Schluss, dem Oszillieren Silences zwischen Abstraktion und Frau. Sie zeigt einerseits, dass der weibliche Körper trotz der Figur Silence abwesend sei, und andererseits, dass der Roman dessen Rekonstituierung versuche: »For her name simultaneously incorporates the impossibilities of a totalizing linguistic form (to speak of silence is to betray the very principle), and a graphic reinstatement of the most basic question of the romance: ›l‹ (elle), the ineffable and unattainable feminine body« (Cooper [Anm. 14], S. 360). »Silence as a linguistic phenomenon and as a textual figure is at once the representation of that object of desire which stimulates the poet’s speech, and the subject – ineffable, unattainable, irreducible – of his verse« (ebd., S. 344). 21 Warner [Anm. 19], hier v. a. S. 328–361. 22 Die Intrige der Königin entspinnt sich gerade aufgrund der sexuellen Zurückhaltung Silences ihr gegenüber.

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Romanheld, mit dem eine aventure verknüpft wird, und weiblicher Personifikation bzw. Figuration. Dies wiederum könnte damit korrespondieren, dass sie, wie oben festgestellt, auf histoire-Ebene immer wieder in den Hintergrund gerät bzw. eher implizit präsent ist und teilweise sogar räumlich wirkt, eine weitere Eigenschaft, die ebenfalls auf ihren besonderen figurativen Status hindeutet.23 Für die Handlungsebene kann Silence somit als text- und handlungsgeneratives Prinzip verstanden werden, als poetologisch sowie narratologisch wirksames Prinzip, das eine Reflexion über die Konstitution des Textes selber sowie über Erzählmuster in sich integriert.

Silence – Malduit – Merlin Weiter Aufschluss darüber gibt womöglich der inhärente Erzählzusammenhang zwischen Silence und Merlin, mit dem eine für poetologische Belange äußerst relevante Figur in Erscheinung tritt. Dieser nun folgende dritte Teil versucht über die Beziehung zwischen Silence und Merlin die vorangegangenen Abschnitte miteinander zu verknüpfen und zu zeigen, wie sich narrative Gestaltung und poetologische Reflexion ineinander verschränken. Die Merlin-Episode ist auffallend stark von Bezügen auf den Komplex von Reden und Schweigen durchzogen. Ausgang nimmt sie darin, dass sich die Königin beim König über erneute angebliche Avancen von Silence beschwert. Silence erhält in der Folge den Auftrag, Merlin gefangen zu nehmen, eine für einen Mann unmögliche Aufgabe: Merlin prophezeite über sich selbst, dass er nur durch die List einer Frau zu fangen sei (engien de feme; V. 5803). Silence wird unter dem Vorwand, Merlin für die Deutung eines Traumes des Königs finden zu sollen, also losgeschickt; verzweifelt irrt sie zu Gott betend umher, bis sie auf einen alten Mann trifft: Li vient uns hom tols blans al dos, / Tolt droit a l’oriere d’un bos. / Salue le moult gentement (›Zu ihm kam ein Mann, der auf dem Rücken ganz weiß war, / direkt am Rand eines Waldes. / Er grüßt ihn sehr freundlich‹; V. 5875–5877). Silence erklärt sich, und wie schon der alte Mann nach ihrer Rückkehr an ihren elterlichen Hof es getan hatte, betrachtet sie auch dieser alte Mann: Cil voit celui, si l’enorta / D’esleechier, sel conforta (›Dieser betrachtet jenen und riet ihm, / sich zu freuen, und beruhigte ihn‹; V. 5913f.) Er verspricht, ihr zu verraten, wie Merlin zu ergreifen ist (V. 5925–5928). Damit führt der Text

23 Den Zusammenhang von Raum und Figur, wie er sich in der Personifikation vermittelt, habe ich am Beispiel des »Parzival« in meiner Dissertation analysiert, vgl. Rüthemann [Anm. 2], Kap. VI. Der vorliegende Beitrag erweitert in dieser Hinsicht die in der Arbeit vorgenommene Analyse des »Roman de Silence«.

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die bereits mit dem Auftreten eines alten Mannes am Ende der Spielmannsepisode erfolgten, potenziellen Vorausdeutungen auf Merlin fort.24 Silence hält sich an seine Vorgaben, und mit Merlins Erscheinen treten erstmals wieder die Personifikationen Nature und Noreture auf den Plan (V. 5994–5996). Noreture scheint zu ihm zu sprechen, aber Merlin sagt nichts, und stattdessen tritt Nature auf, die mit Noreture darüber debattiert, wer von ihnen beiden zum Sündenfall geführt habe (V. 6011–6089). Nature ist es auch, die Noreture schließlich besiegt und Merlin am Nacken packend zum Fleisch drängt (V. 6085–6102), sodass Silence ihn schlussendlich ergreifen kann. Silence betet beständig zu Gott: hat diese Art der spezifischen ›Rede‹ möglicherweise Auswirkungen darauf, dass Gott sie erhört, sich Merlin von der Verhüllung der Silence täuschen lässt und letztlich selbst offenbart? Die coverture, die Silences aventure ermöglichte, wurde von Gott, der sich ihrer in brenzligen Situationen wiederholt annimmt und auf den sich Silence stets beruft, gewissermaßen gebilligt (V. 5604–5608; 5643–5647). Merlin wird in der Erzählung von der Königin als Sohn des Teufels bezeichnet (V. 5792) und damit als Gegenspieler nicht nur der Silence, sondern auch Gottes dargestellt. Die Enthüllung der Intrige des Romans erfolgt am Ende gleichwohl durch Merlin, dem nicht nur dadurch eine wesentliche Bedeutung für das Geschehen und der anhand der Silence aufgeworfenen Problematiken narrativer und thematischer Natur zukommt. Merlin stellt zudem die einzige andere Figur des Textes dar, deren Handeln mit Hilfe von Nature und Noreture eine allegorisierte Erweiterung erfährt. Silence und Merlin scheinen ferner auf genealogisch-familiengeschichtlicher Ebene miteinander verknüpft. Bei der Begegnung mit ihm offenbart Silence plötzlich ein bislang unbekanntes Motiv ihres Handelns. Nicht nur der Auftrag des Königs führt sie zu ihm, sondern sie will ihn aufgrund des von ihm erwirkten Mordes ihres Vorfahrens töten: Silences salt et si l’a pris. Ki donc dolans, se Merlins non! »Amis«, fait il, »com as tu non? Et por quoi me maines ensi?« »Silences ai non, si isci De mon ostel por toi tracier. Ta mort te volrai porcacier.« »Ma mort?« dist Merlins. »Tu por quoi?« »Mes ancestres fu mors par toi, Gorlains, li dus de Cornuälle.« (V. 6136–6145)

24 Vgl. hierzu etwa James-Raoul [Anm. 1], S. 148f., sowie Roche-Mahdi [Anm. 13], bes. S. 8– 14.

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Silence sprang auf und ergriff ihn. / Wer nun leidet, trägt den Namen Merlin! / »Freund«, sagt er, »wie heißt du? / Und warum hältst du mich so?« / »Silence ist mein Name, ich zog aus hierher, / um dich zu verfolgen. / Deinen Tod will ich erwirken.« / »Meinen Tod?« sagt Merlin. »Warum du?« / »Meine Vorfahren wurden von dir getötet, / Gorlain, der Graf von Cornwall.«

Der Text motiviert ihre wechselseitige Bezugnahme somit auf vielfältige Weise, und zwar möglicherweise früher als auf den ersten Blick ersichtlich, von Anfang an.25 Silence wird nach der Geburt im Wald als Junge aufwachsen, dem Bereich, in dem Merlin sich inzwischen bevorzugt aufhält (V. 5784–5800). Auch für Merlin bedeutet dies, seine nature zu verbergen, denn indem er sich der Zivilisation entzieht, um im Wald zu leben bzw. sich nur von Gemüse zu ernähren, verhält er sich gewissermaßen widernatürlich.26 Über den Wohnort der Silence im Wald erfahren wir zu einem späteren Zeitpunkt mehr. Als die Spielmänner nächtens auf der Suche nach einer Herberge sind, geraten sie in einen nebligen Wald und können lediglich einen Turm erkennen, wo sie letztlich Unterkunft finden und Silence kennen lernen (V. 2704–2754).27 Einzig ein anderer Turm findet im »Roman de Silence« Erwähnung: der Turm Vortigerns, desjenigen, der für die Stabilität seines Turms der Magie Merlins bedarf (V. 5784–5794). Wenn im Motiv des im Nebel aufscheinenden Turms nun ein möglicher Hinweis auf Merlin verborgen liegt, so könnte dies das Augenmerk auf ein weiteres Element dieses

25 Ähnlich argumentiert auch Menegaldo, Silvère: Merlin et la scolastique. De la coincidentia oppositorum à la quaestio disputata dans »Le Roman de Silence«. In: Cahiers de recherches médiévales et humanistes 12 (2005), verfügbar unter: http://crm.revues.org/2312 [09. 07. 2019], Abschnitt 23: »Ainsi Merlin peut-il apparaître comme le véritable miroir de Silence, aussi ambivalent qu’elle peut l’être«. Vgl. auch Trachsler, Richard: Disjointures – Conjointures. Étude sur l’interférence des matières narratives dans la littérature française du Moyen Âge. Tübingen, Basel 2000 (Romanica Helvetica 120), S. 118–126. 26 Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 18f., sieht eine Parallele zwischen Silence und Artus aufgrund ihrer Erziehung ›entgegen ihrer Natur‹. Vgl. auch Menegaldo [Anm. 25], Abschnitt 23, sowie Stock, Lorraine Kochanske: Civilization and its Discontents: Cultural Primitivism and Merlin as a Wild Man in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 22–36, hier S. 28. Auch dies ließe sich mit Merlins ambivalenter Beziehung zu Gott erklären, vgl. Le Goff, Jacques: Héros et merveilles du Moyen Âge. Paris 2008, S. 179f. sowie Anm. 51. Dass Merlin kein Fleisch zu sich nimmt, könnte möglicherweise ein Hinweis auf Röm 14,2f. und somit auf Merlins prekären Status im christlichen Sinne sein: »Der eine glaubt, er dürfe alles essen. Der Schwache aber isst kein Fleisch. Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen« (alius enim credit manducare omnia qui autem infirmus est holus manducat / is qui manducat non manducantem non spernat et qui non manducat manducantem non iudicet Deus enim illum adsumpsit ; zitiert nach: Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta. Hg. v. Weber, Robert und Gryson, Roger. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2007). 27 Siehe Anm. 31.

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Raumes lenken, der möglicherweise ebenfalls auf Merlin deutet: den Seneschall, der die Erziehung von Silence an diesem Ort ermöglicht. Über ihn heißt es, er sei ein naher Verwandter von Renald und gemeinsam mit Eufemie aufgewachsen, die er mehr als seine eigene Tochter liebe (V. 2145f.). Dies ist eine ambivalente Aussage, die nicht nur seine uneingeschränkte Solidarität mit den Eltern der Silence erklärt, sondern seine Liebe möglicherweise auch auf ›anderer‹ Ebene ansiedelt. Könnte es vielleicht gar die Formulierung näher erklären, die die Schwängerung von Eufemie umschreibt? Eufemie wird zu bzw. durch Gottes plaisir schwanger.28 Plaisir aber wird im Text leitmotivisch über den Reim mit taisir korreliert.29 Nicht nur könnte im Falle der Silence daher gleichsam in Anspielung auf das göttliche bzw. königliche Wort (V. 6395–6400) und nun in seiner Umkehrung das ›Nicht-Wort‹ fruchtbar sein. Diese motivische Kopplung taucht schließlich auch auf, als es in der großen Enthüllungsepisode über Merlin heißt: Com plus l’enquierent plus se taist. / Tant li delite li taisirs / Que parlers li est n o n p l a i s i r s (›Je mehr sie ihn befragten, desto mehr schwieg er. / So sehr er es genoss zu schweigen, / so sehr missfiel ihm das Reden.‹ V. 6280–6282 [Hervorhebung J. R.]). Der Text schreibt dem Moment der Zeugung Silences somit eine Form der Poetologie des Schweigens ein und weist Merlin (in einer negativierten Form) als deren Komplizen aus. Vor dieser Folie spannt sich Silences Geschichte gleichsam auf zwischen dem zunächst ungewollten Sprechen der Eltern, die in der Folge heiraten und Silence zeugen, und Merlins, der – zum Sprechen gezwungen – deren Wahrheit enthüllt. Doch zurück zu Eufemie und der vorsichtigen Annahme, der Seneschall könnte etwas mit Merlin zu tun haben. In der Merlin-Tradition begründet Merlins Beteiligung an einer anderen Zeugung, der von Artus, durch die Verwandlung Uterpendragons, das Artusge28 Car la verté ne doi taisir. / Avint si par le Deu plaisir / Que Eufemie ot conceü (›Denn die Wahrheit darf nicht verschwiegen werden. / So kam es bei der Freude Gottes/durch das plaisir Gottes, / dass Eufemie schwanger wurde‹; V. 1669–1671). Vgl. Rüthemann [Anm. 2], Kap. V. 2. 29 Ebenso bei der Namensgebung von Silence: Que Jhesus Cris par sa poissance / Le nos doinst celer et taisir, / Ensi com lui est a plaizir! (›Möge Jesus Christus durch seine Kraft / sie für uns verbergen und still halten/verstecken, / wie es ihm gefällt!‹; V. 2070–2072); außerdem bei den bereits zitierten Textstellen: V. 3157f. (die Spielmänner müssen für Silence ihr Spiel unterbrechen); V. 4697f. (der Graf von Clermont weiß, der König kann mit seinem Ratschlag nach Belieben entscheiden); V. 4929f. (der Kanzler weiß nicht, wie er mit dem König sprechen soll); V. 6309f. (Merlin, der nicht gleichzeitig schweigen und dem König gefallen kann); V. 6627f. (Silence, die sich Ebain unterwirft). Interessant ist in diesem Kontext der wiederholte Bezug zwischen plaisir und König Ebain, der somit gewissermaßen für den ideologischen Hintergrund dieses plaisir zu stehen scheint, das das Reden der Frau ausschließt: »Ne sui jo sire? / Moi lasciés convenir et dire, / Faire mon bon et mon plaisir. / Sens de feme gist en taisir. / Si m’aït Dex, si com jo pens, / Uns muials puet conter lor sens« (›»Bin ich nicht der Herr? / Lasst mich bestimmen und sprechen, / nach meinem Belieben. / Der Sinn der Frau besteht darin zu schweigen. / Wenn Gott mir hilft, wenn es so ist, wie ich denke, / kann ein Stummer ihren Sinn vermitteln«‹; V. 6395–6400).

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schlecht – und seine Autorität.30 Genau diese Geschichte koppelt der »Roman de Silence« an seine Protagonistin höchstpersönlich, insofern als Merlin den Vorfahren von Silence tötete und so die Zeugung von Artus erwirken konnte (V. 6136–6145). Und dabei gab sich Merlin, wie der »Roman de Silence« später betont, als S e n e s c h a l l des verwandelten Uterprendragon aus (V. 6151).31 Vielleicht soll im »Roman de Silence« angesichts der ambivalenten Beziehung des Seneschalls zu Eufemie sogar seine potenzielle Einflussnahme, durch eine Art der Täuschung, auf ihre Schwängerung nahegelegt werden, vielleicht aber auch eine neue Rolle des Seneschalls. Zumindest aber evoziert der Roman den Motivkomplex der arthurischen Zeugung durch Merlins Einwirken auch im Kontext der Zeugung Silences und deutet seine Auseinandersetzung damit bereits an dieser Stelle an.32 Weitere Aspekte bringen den Seneschall in die Nähe von Merlin und werfen somit die Frage auf, ob er als weitere, vorgeschaltete Figuration Merlins zu betrachten wäre. Er lebt in einem Wald nahe dem Meer, wo der Graf ihn ein einsames Haus bauen lassen will (V. 2142–2150). Der Seneschall schwört den Eltern, die Wahrheit zu verbergen (V. 2199) und führt alles nach Plan aus (V. 2213–2244). Er ist somit zentral an der Lüge, am Verhüllen von Silences 30 Im »Merlin« Roberts de Boron heißt es: »Il vos i covendra a aler en fiere maniere› quar ele est molt saige feme et molt loial vers Dieu et vers son seingnor. Mais or verroiz quel pooir j’avrai de lui engingnier: je vos baillerai la semblance le duc si bien que ja ne sera riens qui de lui vos conoisse« (Robert de Boron: Merlin. Roman du XIIIe siècle. Édition critique par Micha, Alexandre. Genf 1979, Abschnitt 64, S. 225, im Folgenden: Merlin fr.). ›Nun sprach Merlin: »Herr, ihr müßt in ganz verwandelter Gestalt Igerne aufsuchen. Denn sie ist eine sehr fromme Frau und sehr treu gegen Gott und ihren Herrn. Nun werdet ihr aber sehen, welche Macht ich habe, um euren Willen zu erfüllen. […] Herr, ich werde euch die Gestalt des Herzogs geben, so daß ihr von keinem erkannt werdet.«‹ Die Übersetzung wird zitiert nach: Robert de Boron: Merlin – Der Künder des Grals. Aus dem Altfranzösischen übers. v. Sandkühler, Konrad. Freiburg 32000, S. 130, im Folgenden: Merlin dt. Vgl. zum Verhältnis der verschiedenen Merlin-Erzählungen den Kommentar in: Le Livre du Graal I. Joseph d’Arimathie, Merlin, Les Premiers Faits du roi Arthur. Edition vorbereitet v. Poirion, Daniel, hrsg. unter der Leitung v. Walter, Philippe, unter der Mitarbeit v. Berthelot, Anne u. a. Paris 2001 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1741–1766, sowie Anm. 36. 31 Merlins Mutter wird ebenfalls in einem Turm versteckt, wo sie Merlin zur Welt bringt, was zudem in auffallend ähnlicher Formulierung wie im »Roman de Silence« mit Gottes Billigung geschieht: Einsis remest cele en la tor .I. grant tens. Et li juge orent bien atorné, qu’ele ot ce que mestiers fu. Et einsi remest laiens et ot enfant, si com Dieu plot (Merlin fr., Abschnitt 10; S. 49). ›So blieb sie lange Zeit in dem Turm, und die Richter hatten alles angeordnet, was sie brauchte, und übergaben sie den Frauen, die bei ihr waren. Auf diese Weise, wie ihr mich habt erzählen hören, blieben sie dort im Turm, und sie bekam ihr Kind, als es Gott dem Herrn gefiel‹ (Merlin dt., S. 27). Dass der »Roman de Silence« sich anhand der Silence und ihrer Relation zu Merlin folglich auch mit den (genderpoetologischen) Voraussetzungen der merlinschen Artuserzählung auseinandersetzt, halte ich für plausibel. 32 Roche-Mahdi betont diesbezüglich »that there are verbal echoes of the Vulgate version in Silence«. Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 9.

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wahrer Identität beteiligt. Dabei expliziert der Text zudem, dass der Seneschall keinen anderen Mann einweiht, um einer möglichen Enthüllung der wahren Natur per Zufall vorzubeugen. N’i met pas home qui le serve Qui l’estre de l’enfant enterve, Qu’il ne fesist par aventure Demostrement de sa nature. (V. 2245–2248) Er bezog keinen Mann ein, der ihm diente, / der nach der Identität des Kindes fragen könnte, / damit er nicht durch Zufall / seine Natur entdecken würde.

Der Zufall wird mit aventure umschrieben, und genau die aventure im Sinne der Erzählung führt zur Enthüllung der nature. Der Hinweis lässt aufhorchen, ebenso wie die Tatsache, dass der Graf vier Schlüssel anfertigen lässt, von denen er zwei der Cousine der Eltern übergibt, die sich um Silence kümmert, und zwei behält, wobei nicht klar wird, warum. Soll hier möglicherweise eine doppelte Identität des Seneschalls angedeutet werden? Der Seneschall kehrt regelmäßig zurück (V. 2363) und lässt Silence mit Hilfe der Dame anfangs in erster Linie im Schreiben unterrichten. In dieser Funktion des Seneschalls könnte ein weiterer Hinweis auf Merlin und dessen Rolle als Autor, als Wissender verborgen liegen, der einer Frau seine Kenntnisse vermittelt. Der Text selbst argumentiert, dass Silence deshalb schreiben lernen soll, damit sie im Inneren der Unterkunft bleibt und so nicht Gefahr laufen kann, sich zu verraten (V. 2367–2374). Dies erinnert einerseits an das Gespräch mit Nature, die Silence auffordert, in der Kammer zu bleiben, nähen zu lernen und somit ihrer weiblichen Natur zu entsprechen (V. 2528–2530), andererseits dient dieses Vorgehen hier gerade dazu, Silences weibliche Identität zu kaschieren. Es kombiniert in gewisser Weise den weiblichen Raum mit einer sprachlichen und daher auch männlichen Tätigkeit, die noch dazu in enger Relation zur Autorfunktion Merlins stehen könnte.33 Bemerkenswert ist aber, dass Silence bald in autodidaktischer Manier lernt: Li enfes est de tel orine / Que il meïsmes se doctrine (›Das Kind ist von solcher Herkunft, / dass es sich selbst unterrichtet‹; V. 2385f.). Nach einiger Zeit nimmt der Seneschall Silence mit auf Ritte durch den Wald, um einen Mann aus ihr zu machen (V. 2470–2496). Er beobachtet sie in ihren jungen Jahren genau, bis Silence mit zwölf Jahren schließlich ihr eigener Herr wird (V. 2492f.). Das Motiv des genauen Betrachtens finden wir just wiederholt bei den zwei alten Männern, denen Silence später begegnen wird. Könnte Merlin

33 Vgl. Bouchet [Anm. 6], die eine »écriture androgyne« (S. 47) am Werke sieht. Vgl. ebd., S. 54–57.

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– also auch in Gestalt des Seneschalls – gar von Anfang an um Silences weibliche Identität wissen; spielt Merlin das Versteckspiel bloß mit?34 Als Silence vermeintlich von den Spielmännern entführt wird, steht der Seneschall den Eltern schließlich Rede und Antwort. Er vermittelt ihnen die vermeintliche Wahrheit und wagt es nicht, auch nur ein Wort zu ›verbergen‹ (V. 3108–3111). Ihm ist also eine zentrale Rolle beim Verhüllen der Silence, aber auch beim ersten Enthüllen der Ereignisse zu eigen, das in diesem Fall (ob nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt) wiederum einem Verhüllen gleichkommt und so ganz der am Ende erwähnten merlinschen Methode entspricht, Wahrheiten auszusprechen und sie gleichzeitig wiederum zu verhüllen: Mais la parole est moult obscure / Car dite est par coverture (›Denn die Rede ist sehr dunkel, / denn sie wird verhüllt gesagt‹ V. 6489f.) Zudem hatte der Erzähler bereits zuvor merliner als eigenes Verb etabliert, um auf Merlins herausragenden Fähigkeiten und Macht – auch sprachlicher Natur – hinzuweisen35: Or primes vient a merliner: Jo croi bien qu’il devinera Huimais, et qu’il merlinera Par tel engien et tele entente Que la roïne en iert dolente. (V. 6384–6388) Aber zunächst kommt er zum ›Merlinern‹: / Ich glaube wohl, dass er jetzt raten wird / und dass er ›merlinern‹ wird / mit solcher Gewitztheit und solcher Absicht, / dass die Königin davon Leid erfahren wird.

Dies führt uns zu dem Aspekt der Autorität, die in der französischen MerlinTradition Merlin aufgrund seiner Doppelfunktion zugeschrieben wird. So tritt er in der Regel nicht nur als Figur der Geschichte, sondern zugleich als ihr Autor in Erscheinung.36 Könnte vor diesem Hintergrund mit dem zweimal auftauchenden 34 Darauf könnte, wie oben bereits besprochen, die Reaktion des Alten bei Silences Rückkehr nach Cornwall deuten. Wie ist hier einzuordnen, dass laut dem alten Mann in Malduits Handeln große Weisheit zum Ausdruck kommt (V. 3578–3592)? Könnte dies darauf hindeuten, dass er dies deshalb beurteilen kann, weil sie einander besser kennen als ersichtlich? Und liest man in ihm einen Vorboten Merlins und deutet sich hierin eine Form der Autorisierung der Silence an (s. u.)? 35 Merlin ähnelt darin insofern Silence, als Handlung und Name der Figur parallel geführt werden. So wie Silences Handlung des Schweigens sich in ihrem sprechenden Namen ausdrückt, ist Merlin Träger einer nach ihm benannten spezifischen Redehandlung. 36 »He is both a character within the story and its author, recording the events as they happen (via the medium of his many scribes) and dictating the course of the events themselves. This dualism is present in his earliest inception as a literary figure, when Geoffrey of Monmouth produced two separate accounts of his life: one incorporated in the Historia regum Britanniae, where he is a fatherless child prophet who helps Arthur accede to the throne, and another in his biography in the Vita Merlini, in which he features as a prince who acquires prophetic gifts after losing his mind in battle. Merlin first entered vernacular romance in the 1150s via Robert Wace’s Roman de Brut, an Anglo-Norman verse rewriting of Geoffrey’s

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alten Mann, möglicherweise auch schon mit dem Seneschall, gleichsam die Autorfunktion Merlins auf histoire-Ebene aufscheinen bzw. personifiziert werden? Merlin besitzt besondere Wahrnehmungsfähigkeiten, durch die er Wissen erhält, das andere nicht besitzen, und wirkt sogar wesentlich auf den Verlauf des Geschehens ein. Im »Roman de Silence« prägen der Seneschall und die zwei alten Männer den Lauf der Geschichte maßgeblich.37 Auf die Autorfunktion wird zumindest einmal explizit angespielt, als über den gefangenen Merlin berichtet wird, er kenne, wie in der Artustradition angelegt, den Ausgang der Geschichte: Merlins ne se fait gaires morne, / Qu’il set ja bien u li viers torne (›Merlin sorgt sich kaum, / denn er weiß schon heute sehr wohl, wie die Geschichte endet‹; V. 6159f.). Nicht zuletzt ist er – auf histoire-Ebene – für die Enthüllung nicht nur von Silence verantwortlich, sondern der gesamten Intrige.38 Auf diesen poetologischen Zusammenhang könnte auch die Darstellung dieser Enthüllung durch Merlin als Lektüreprozess deuten: Merlins a liute tel lechon Que s’il le recomence a lire, A recorder, et a redire, Et a descovrir tolt le blasme, […]. (V. 6506–6508). Merlin hat eine solche Lektion erteilt, / dass, wenn er wieder beginnt zu lesen, / sich zu erinnern und zu wiederholen, / und die ganze Schande zu entdecken […].

Gilmore liest ihn entsprechend als Figur der Allegorese: More than a character, Merlin is the embodiment of writing itself, polyvalent and a shape-shifter; the Middle Ages knew him as the personification of reading (Bloch 1983, Historia. It was Robert de Boron, however, supposed author of the verse Grail Trilogy (c. 1200), who first combined the two different Merlin figures from the Historia and the Vita into one character. The second part of the Grail Trilogy posits Merlin as the link between the first part of the story, the sacred history of the grail, and the final part: the rediscovery of the grail by an Arthurian knight, Perceval. Merlin here is simultaneously the Historia’s omniscient prophet and the Vita’s troublesome trickster, helping to establish the Arthurian kingdom while playing practical jokes on its rulers. The verse Merlin of the Grail Trilogy was translated into prose and integrated into the Vulgate Cycle (1215–30), a prose compilation of Arthurian romances divided into five books. The second book, the Estoire de Merlin, added a lenghty continuation to the Merlin, which also relates the story of Merlin’s romance with Viviane, the future ›Dame du Lac‹ [Lady of the Lake] who would bring an end to his role in the narrative by confining him to a magic castle that he may never leave«. Chuhan Campbell, Laura: The Medieval Merlin Tradition in France and Italy. Prophecy, Paradox, and Translatio. Cambridge 2017 (Gallica 42), S. 7f. 37 Als lediglich auf die Intrige beschränkt deutet Roche-Mahdi die Funktion Merlins und sieht »the figure of Merlin as manipulator of the action and key to the meaning of the Roman de Silence. […] His function is to reintegrate Silence into her ›natural‹ social role as daughter, wife and mother« (Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 9). 38 Schon Menegaldo [Anm. 25], Abschnitt 24, spricht von der besonderen ›Autorisierung‹ Merlins im »Roman de Silence«.

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2). […] Merlin reads the signs of his times, uncovers truth veiled by ›figura‹, and as a translator of allegory delivers meaning. Therefore, his participation in the story must be read as a declaration of allegorical intent.39

Vor allem aber in seiner Art zu schweigen übersetzt sich eine Form der Autorität. Es ist ein Schweigen, das mit dem Schweigen der Silence und daher mit ihrer Geschichte und dem Roman als solchem auf mehreren Ebenen in Beziehung steht und mit ihm verschränkt wird. Auf diese Weise, und wie weitere Überlegungen zeigen sollen, scheint Merlin bzw. seine Funktion nicht nur mit den verschiedenen männlichen Figuren des Textes in einen Dialog gebracht werden zu können, sondern vor allem auch mit Silence selbst.40 Nach seiner Gefangennahme, auf dem Weg zum König, bricht Merlin – nun als klares Zitat der Merlin-Tradition erkennbar41 – mehrfach in Gelächter aus, ohne aber verraten zu wollen, warum. Erstmals geschieht das angesichts eines Bauern in neuen Schuhen: Si en commenche fort a rire / Mais ne volt onques un mot dire / Por quele oquoison il a ris (›So begann er deshalb laut zu lachen, / aber er wollte kein einziges Wort darüber verlieren, / aus welchem Grund er gelacht hat‹; V. 6195–6197).42 Nach zwei weiteren Situationen verharrt er nicht nur ebenfalls vor dem König in Schweigen: Dont le mainnent devant le roi, / Se li ont dit de ses ris donques, / Mais il ne volt mot soner onques (›Dann führten sie ihn vor den König / und berichteten ihm von dessen Lachen, / aber er wollte kein Wort verlauten lassen‹; V. 6222–6224), sondern lacht erneut vor Silence, einer Nonne und der Königin und schweigt beharrlich über seine Beweggründe.43 Sein Schweigen unterscheidet sich damit maßgeblich von dem der Silence: Es ist öffentlich und Ausweis der Autorität Merlins, mit der er trotz seiner Gefangen39 Gilmore [Anm. 17], S. 111. »The delivery of Merlin into the hands of society implies the delivery of meaning to the understanding of men. The use of silence to capture the deliverer of meaning is at the heart of the question of whether allegory can keep its promise. The setting for this seduction scene can be read as a description of textual interpretation. […] Does interpreting allegorically mean risking being seduced into a trap? Or is it rather the failure to read below the surface covering (Silentius’s male clothes to her feminine gender) that ensnares? And what of reading the female body that is beneath the clothing? In a physical sense it would take more than just groping around for such ›reading‹ to engender full meaning. To do this, allegorical interpretation must penetrate the image and impregnate the essence. Such reading is seduction at least, or possibly even rape; allegorical interpretation (i. e., Merlin) is in a very difficult position here« (ebd., S. 115). 40 Menegaldo [Anm. 25], Abschnitt 25, verweist zwar auf das Schweigen des Merlin, kontrastiert es jedoch nicht mit dem der Silence. Anders Pamela Clements: Shape-Shifting and Gender-Bending: Merlin’s Last Laugh at Silence. In: The Future of the Middle Ages and the Renaissance. Problems, Trends, and Opportunities for Research. Hg. v. Dahood, Roger. Turnhout 1998, S. 43–51, hier S. 49, die Merlins Schweigen jedoch allein im Kontext des Verhüllens betrachtet. 41 Vgl. Roche-Mahdi [Anm. 3], S. XXII. 42 Vgl. auch V. 6208 und 6219. 43 Ähnlich V. 6228–6234, 6236–6242, 6252–6254 und 6271–6285.

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schaft den König herausfordert, bis diesem als letztes Mittel nur bleibt, ihm mit dem Tod zu drohen. Seine Tötung kann Merlin abwenden, indem er sein Schweigen bricht. Seine Enthüllungen betreffen in erster Linie die Frauen: Silence, die zwar wieder erben darf, aber eben auch – denkt man an ihre Überlegungen zu den Vor- und Nachteilen des männlichen bzw. weiblichen Lebens zurück, wohl zu ihrem Leidwesen – mit dem König selbst verheiratet wird; außerdem die vermeintliche Nonne und die Königin, die beide getötet werden. Merlin lacht am Ende auch deshalb, weil er selbst und der König, wie er erklärt, von Frauen derart getäuscht worden sind, wie es 20.000 Männer nicht geschafft hätten (V. 6551). Dies lässt eine gewisse Komplizenschaft zwischen Merlin und dem König erkennbar werden, wie sie zwischen Merlin in seiner Beraterfunktion und Artus besteht, mit dem König Ebain anfangs auch verglichen wurde (V. 109– 111).44 Über Merlins Verbleib gibt der Text keine Auskunft, er verschwindet (vielleicht müsste man sagen, in seiner Funktion als Figur) aus dem Text, sobald die Enthüllungen erfolgt sind (bis dahin heißt es, er werde festgehalten, V. 6569). Diese Funktion kann er erfüllen, weil Silence ihn entgegen aller Erwartungen ergreift und an den königlichen Hof bringt. Wenn er auch seine Autorität durch das Lachen und Schweigen unter Beweis stellt, insofern als er in die Zukunft und hinter das Sichtbare zu schauen vermag, so wurde er doch von Silence bzw. seiner eigenen ›Natur‹ überwältigt – wenngleich wiederum mit seiner eigenen Hilfe, was einmal mehr seinen Anteil am Geschehen, seine Autorität hinterfragen lässt.45 44 Für Roche-Mahdi stellt Merlin auch im »Roman de Silence« den Garanten der patriarchalen Macht dar. Vgl. Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 19. 45 Gilmore interpretiert dies zeichentheoretisch: »The conflict between Merlin and Silentius is the conflict between metaphoric and metonymic functions in language […]. Merlin, the personification of allegorical interpretation, the seer of allegorical plenitude, functions by extending metaphors, by linking similarities across a gap. If there is always an inevitable gap between the elements of metaphor, it is significant that Merlin comes to be trapped there in the end, and that it is Silentius who brings it about. Silentius, the personification of aphasia, the absence of speech, the silent place-holder, functions only by metonomy. The silent message of Silentius’s context, her clothes and bearing (Nurture), overpowers Merlin’s metaphoric reading of her true Nature« (Gilmore, [Anm. 17], S. 117). Zum grundsätzlichen Problem der Autorität bzw. des Wissens Merlins um seine Gefangennahme sagt Anne Berthelot: »Au temps où il s’éprend de la Dame du Lac, Merlin ne se fait aucune illusion sur son destin – et, comme le mentionnent les Prophésies de Merlin avec une certaine subtilité psychologique, il ne désire pas y échapper, dans la mesure où il est plus important pour lui que ses prophéties soient vraies […]. Mais, s’il admet l’inévitabilité de sa disparition, il n’en est pas moins conscient de l’importance de son rôle dans le déroulement de l’aventure arthurienne, voire dans la très sainte histoire du Graal, dont on peut considérer d’une certaine manière qu’il est l’artisan depuis l’origine, et il sait qu’il lui faut organiser sa succession, de façon à assurer l’avenir du récit, aussi bien que sa propre gloire. Il doit transmettre ses pouvoirs, ses plans, son ›grand dessein‹ … ou du moins il doit faire en sorte que sa disparition n’entraîne pas la fin du roman qu’il s’est mis en tête d’écrire.« Berthelot, Anne: L’heritage de Merlin. In: Zauberer und Hexen in der Kultur des Mittelalters. San Malo, 5.–9. Juni 1992. Hg. von Buschinger, Danielle und Spiewok, Wolfgang. Greifswald 1994 (Wodan 33/Jah-

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Anders als in der Dame du Lac-Episode im Rahmen der Merlin-Fortsetzung, in der Merlin nach Weitergabe seiner eigenen Kenntnisse von seiner Geliebten überwältigt wird, ist seine Gefangenschaft im »Roman de Silence« lediglich temporär wie in der Grisandole-Episode der »Estoire Merlin«.46 Gleichwohl scheint diese Geschichte in poetologischer Hinsicht signifikant angereichert, und es könnten dabei insofern Aspekte der Dame du Lac-Episode anklingen oder integriert sein, als Silence sich merlinsche Fertigkeiten aneignet.47 Nicht nur könnte, wie oben diskutiert, die Verhüllung der Silence von Anfang an mittels des Seneschalls womöglich mit Hilfe von Merlin erfolgt sein. Weitere Indizien in diesem Zusammenhang weisen in diese Richtung. Silence fügt ihrer Verhüllung in der Spielmann-Episode gleichsam – durch den neuen Namen, aber auch durch äußere Veränderungen – eine weitere hinzu. Um unerkannt aus Cornwall zu flüchten, wendet sie eine Verwandlungsmethode an, die Ähnlichkeiten zu der Täuschung aufweist, die Merlin in Roberts de Boron »Merlin«-Dichtung mit Hilfe einer Pflanze bewirkt. Hier heißt es: »Merlin brachte ihm ein Kraut und sagte zu ihm: ›Herr, bestreicht euch Gesicht und Hände mit diesem Kraut.‹ Der König tat es, und als er es getan, hatte er ganz und gar die Gestalt des Herzogs.«48 Silence bestreicht ihr Gesicht ebenfalls mit einer Pflanze (V. 2909f.). Darüber hinaus erweist sich sie durch ihre namentliche Verwandlung als sprachkreativ und sprachlicher Semantik bewusst – das macht nicht zuletzt auch die Deutung ihres Namens durch den Alten deutlich. Die Fähigkeit dazu kann zudem vor dem Hintergrund ihrer vom Seneschall veranlassten bzw. auch autodidaktisch erworbenen Sprachkenntnisse gesehen werden.49 Ihre Geschichte steht so betrachtet in Wechselwirkung mit demjenigen, der die Zeugung von Artus verursacht hat und die arthurische Erzähltradition neu prägen wird.50 Silence richtet sich einerseits gegen Merlin, wenn sie den Mörder

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restagung der Reineke-Gesellschaft 3/Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 18), S. 1–10, hier S. 1f. Zum Verhältnis der beiden Texte vgl. insb. James-Raoul [Anm. 1]. Vgl. auch Roche-Mahdi [Anm. 2], S. XIIf., sowie Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 8f. Menegaldo [Anm. 25], Abschnitt 21–31, sieht v. a. den Merlin der »Vita Merlini« umgesetzt, in Verbindung mit Bezügen zu scholastischen Methoden, die die unaufgelösten Ambivalenzen und das Nebeneinander verschiedener Standpunkte erklären sollen. Merlin dt., S. 131. Im altfranzösischen Text heißt es: Merlins quant il les ot desassamblez, si vint au roi, si li porta une erbe, si li dist: »Frotez de ceste herbe vostre vis et voz mains.« Et li roi la prist, si s’en frota; et quant il s’en fu frotez, si ot tout apertement la semblance dou duc‹ (Merlin fr., Abschnitt 65, S. 227). Vgl. Bloch [Anm. 1], S. 91. Bezüglich der »Estoire Merlin« schreibt Daniel Poirion: »Par sa connaissance du passé, Merlin a été le témoin indispensable, mais invisible, des aventures du Graal qu’il est chargé de lier aux temps nouveaux de la chevalerie. Par sa connaissance de l’avenir, il ouvre le récit sur l’épopée arthurienne à venir. Il permet ainsi la soudure entre l’époque biblique et le temps de la chevalerie. Mais c’est surtout en favorisant la conception et la naissance d’Arthur que

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ihres Vorfahren gefangen zu nehmen und zu töten beabsichtigt. Andererseits ist ihre eigene Geschichte aufs Engste mit merlinschen Motiven und Techniken verknüpft, die Silence bzw. bereits ihre Eltern inspirieren. So kommen nicht nur in der Spielmannsepisode an Merlin angelehnte Verwandlungskünste zum Tragen. Auch erfolgt bereits Silences Taufe auf einer zweifelhaften Grundlage: Der Text betont, wie ihr Vater Silence mit einem Stück Stoff bedeckt, und sie dann auf den Namen Silentius getauft wird, eine Anspielung auf die Taufe als Einkleidung mit dem Wort Gottes, wobei dieses Stück Stoff hier aber genutzt wird, die Verhüllung und falsche Identität zu legitimieren. Später gibt sich Silence ihrem Vater im verborgenen Zimmer (V. 3611) zu erkennen, indem sie sich als malvais dras (›Lumpen‹; V. 3642) bezeichnet und ihm gleichwohl als Erkennungszeichen ein Kreuz auf der Schulter zeigt (V. 3648). Unklar bleibt, ob die Taufe verdeutlicht, dass ihre coverture Gott anheimgestellt wird und dieser ihre aventure wohlwollend und beschützend begleitet, oder ob Gott gleichsam von einem neuen Merlin herausgefordert wird. Merlin weist eine vergleichbare Ambivalenz hinsichtlich Gottes auf, ist er doch einerseits Sohn eines Teufels und ist es andererseits Gott, der ihm hellseherische Fähigkeiten verleiht.51 Die Nähe von Silence zu Merlin geht schließlich so weit, dass Silence selbst insofern an die Position des Merlin zu rücken scheint, als sie am Ende gewis-

Merlin s’affirme comme le véritable fondateur du monde arthurien dont il consacre l’avènement légendaire« (Poirion u. a. [Anm. 30], S. XXIVf.). 51 So heißt es bei Robert de Boron: et il avoit cele engingniee par decevement et par enging et en dormant. Et celle, si tost com elle se senti engingniee, si se reconoist et cria merci la ou ele dut: et quant elle l’ot criee, si se mist en la merci et ou comendement de Dieu et de Sainte Eglise et fist toz lor comendemenz. Et por ce ne vost pas Diex que deables i perdist chose qui li deust avenir, ainz volt bien qi’il i eust ce qu’il desiroit et ce por quoi il le fist. […] et por la force de baptesme dont ele ot esté lavee au fonz, vost Nostre Sire que le pechié de sa mere ne li poïst nuire: si li dona pooir et sens de savoir les choses qui estoient a avenir (Merlin fr., Abschnitt 10, S. 49f.). ›Der Böse Feind aber hatte sie überwältigt durch Betrug. Aber sobald sie sich überlistet fühlte, rief sie Gott den Herrn um Gnade an […]. Als sie das getan, stellte sie sich unter den Schutz der Heiligen Kirche Gottes und hielt die Gebote, die der Beichtvater ihr aufgetragen hatte. Und deshalb wollte Gott nicht, daß des Teufels Gabe zunichte werde, die das Kind von ihm bekommen sollte und wozu er die Tat ausgeführt hatte. […] Durch die Kraft der Taufe, die sie reingewaschen, wollte Unser Herr, daß die Sünde ihr keinen Schaden zufüge, und darum gab Er dem Kind die Kraft, auch die Dinge der Zukunft zu wissen‹ (Merlin dt., S. 27). Vgl. zur Ambivalenz Merlins Menegaldo [Anm. 25]. Vgl. Stock [Anm. 26], S. 28, zum Hintergrund von Merlin: »Heldris conflates incidents intrinsic to the characterization of ›wild‹ Merlin from Geoffrey of Monmouth’s Historia and Vita Merlini, from the Welsh and Scottish texts about Myrddin and Lailoken, and from the Vulgate Merlin materials. These include Merlin’s role in erecting Vortigern’s tower (5784–5802; 5910–11); the detail that his captor could only be female (5803); and his diabolical paternity (5792–3). Through such intertextual imbrication, Merlin’s signifiers in the Roman de Silence are a thoroughly polyvalent mix – holy and unholy Wild Man, prophet and devil – forming the ultimate trickster figure«.

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sermaßen ihre eigene ›Gefangenschaft‹ herbeiführt.52 Denn Silence muss ihr bis zum Ende handlungs- und textproduktives Schweigen brechen, wird verheiratet und verschwindet in die Gemächer des Königs, so dass ihre Geschichte bzw. der Roman endet.53 Wenn auch Merlin derjenige ist, der am Ende lachen kann, so wirkt er in diesem Moment dennoch lediglich auf histoire-Ebene. Wie er selbst betont, hat er sich von Silence täuschen lassen. Vor diesem Hintergrund hat insbesondere die Überwältigung Merlins durch Silence auch poetologische Implikationen. Könnte sie ein Hinweis dafür sein, dass sich – zumindest für die Zeit des Romans – die Autorität Merlins verschiebt, auf histoire-Ebene auf Silence, die von ihm – möglicherweise schon in Gestalt des Seneschalls – unterrichtet wird, die aber auch alleine zu lernen und sich zu verhüllen und neu zu erschaffen lernt, bis sie ihn (temporär) einfangen kann?54 Und könnte dies nicht vielmehr nahe-

52 In dieser Wendung der Geschichte könnte ein Hinweis auf die Artus- bzw. Merlin-Tradition zu lesen sein, in der Merlin als »incarnation du prophète qui cause son propre malheur, et le héros de la malédiction de la prophétie dans l’idéologie chrétienne« gilt (Le Goff [Anm. 26], S. 179). Der Text thematisiert dies für die Königin, die durch ihre Idee, mit der sie sich Silence entledigen wollte, ihren eigenen Tod herbeigeführt hat (V. 6658–6662). Auch wohnen wir dem Moment bei, in dem sich Silence ihre Situation vergegenwärtigt und begreift, dass sie derjenige überlistet hat, den sie überlisten wollte (V. 6439–6470). Menegaldo sieht darin ebenfalls eine wechselseitige Bezugnahme von Silence und Merlin: »[E]n outre Merlin et Silence ont vis-à-vis l’un de l’autre une fonction parfaitement analogue de révélateur révélé, car chacun au contact de l’autre est confronté à l’ambiguité de son propre état, se révèle et révèle l’autre pris dans un débat entre Nature et Culture« (Menegaldo [Anm. 25], Abschnitt 23. Zu ihrer Wechselseitigkeit siehe auch Clements [Anm. 40], S. 50: »Silence-theknight has captured Merlin-the-wodewose; Merlin-the-seer exposes Silence-the-woman. The two tricksters are linked in disguise, in silence, and in exposure«. Außerdem: »In addition, both Silence and Merlin suffer great conflict of spirit when they are forced to decide between one state of being and another« (ebd., S. 51). 53 Vgl. James-Raoul [Anm. 1], S. 146. 54 Roche-Mahdi sieht dies anders: »He wants to punish her for trying to trick him, for failing to read her own story, for wanting to be on top. […] The eternal Trickster will condemn Silence to take the place of Eufeme, the misogynist’s version of Everywoman. But then he knows how his own story ends: he will allow himself to be trapped by one who also goes by various names: Viviane, Nimiane, Niviene. It will become another version of the sage trapped by a woman’s wiles, the lust of the flesh: the misogynistic tale, eternally retold, that will soon help fuel the witch-burnings« (Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 17f.). Chuhan Campbell thematisiert diesbezüglich die Gender-Dimensionen der Merlin-Geschichte: Die Merlin inhärenten »epistemological contradictions […] become associated with the binary gender discourses of medieval misogynist thought when they are projected onto the Dame du Lac« (Chuhan Campbell [Anm. 36], S. 67). Trachsler erkennt ebenfalls Unterschiede: »Dans le LancelotGraal, ses paroles [V. 5801–5803] se rapportent bien sûr à son entombement. En de termes assez cryptiques, Merlin y annonce que son amour pour la belle Viviane le perdra, puisqu’elle finira par le prendre. Seulement là, le fait d’être pris par engien de feme est associé à la disparition définitive de Merlin alors que la capture par Silence le fait précisément réapparaître dans le récit. La nouvelle version des faits annule donc celle qui prévalait jusqu’à présent: Merlin n’a pas été entombé, puisqu’il s’est réfugié, enfant, dans la forêt. Et tout ce

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legen wollen, dass sich in der Silence – gleichsam auf discours-Ebene der Autorfunktion des Merlins entsprechend und vielleicht als Reminiszenz auf die ihn übertrumpfende Dame du Lac – eine verhüllte weibliche A u t o r i n spiegelt, die die männlich codierte Autorität Merlins für ihren Plot nutzt und ihn damit auf gewisse Weise letztlich tatsächlich eingefangen hätte?55 Aber noch einmal zum Seneschall. Er bleibt eine mehr als doppeldeutige Figur, stellt er doch nicht zuletzt ein verbindendes Element zur GrisandoleGeschichte dar: Die Silence inspirierende Grisandole übernimmt nämlich am Hof von Julius Caesar das Amt des Seneschalls. Was aber bedeutet es, wenn der Seneschall im »Roman de Silence« für die Ausbildung und Verhüllung der Silence verantwortlich zu sein scheint, gleichzeitig aber betont wird, dass Silence bald eigenverantwortlich lernt aufgrund ihrer ›Herkunft‹ (V. 2385f.)? Im Wort senescal könnte sich darüber hinaus – neben der in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanten scientia56 – ein weiteres Anagramm von ›Silence‹ (selansce; selensc(a)) andeuten. Der Seneschall birgt so gesehen womöglich einen Hinweis auf die »Estoire Merlin« und markiert den Anspruch des »Roman de Silence«, sich in die merlinsche Tradition einzuschreiben, und zwar auch durch die Figur der Silence als von Merlin inspirierte – und ihn möglicherweise ersetzende – qu’il a pu prophétiser sur sa prise concernait Silence et non pas Viviane. La nouvelle matière efface et remplace l’ancienne« (Trachsler [Anm. 25], S. 124). 55 Verbunden wird die Gefangennahme Merlins durch eine Frau im »Roman de Silence« also mit dem Konnex von Nature und Noreture, der in diesem Kontext selbst Geschlechterimplikationen aufweist, wie Chuhan Campbell für den in motivischer Hinsicht verwandten »Lai d’Aristote« festgestellt: »According to Helen Solterer, the lai and stories like it express a gendered opposition between nature and nurture; nature, associated here with sexuality and the female body, is more powerful that the cultured intellect represented by the philosopher. The parallels with Merlin’s downfall are obvious: Merlin and Aristotle are both defined by their wisdom, are counsellors to legendary kings (Alexander and Arthur, respectively), and are ironically made to look foolish by a woman. The connection, however, also points to a particular masculine identity that is shared by both Aristotle and Merlin – that of the clerk, the guardian and conduit of religious and scientific knowledge« (Chuhan Campbell [Anm. 36], S. 66). 56 Cooper erkennt ein Anagramm zu scientia: »Spelled Scilentiä, Silence’s final denomination is the Latin scientia (›wisdom, knowledge, truth‹), written around one important detail: the letter ›l‹« (Cooper [Anm. 14], S. 359). »For her name simultaneously incorporates the impossibilities of a totalizing linguistic form (to speak of silence is to betray the very principle), and a graphic reinstatement of the most basic question of the romance: ›l‹ (elle), the ineffable and unattainable feminine body, is placed within scientia in such way as to suggest the enduring force of and quest for the absent female in the workings of poetics« (ebd., S. 360). Scientia aber ist genau das Wort, das auch im Kontext der Bildung von Silence erscheint: Mais nus a cest ne s’aparelle, / Ne de bonté, ne de science (,Aber niemand kommt dieser gleich, / weder an Güte noch an Bildung‹; V. 2394f.). Scientia ist auch nun wiederum die Eigenschaft, die der alte Mann Silence zuweist (vgl. oben, Anm. 37): »Que que aiés fait, amis Scilence, / Amendés estes en science« (›»Was auch immer ihr getan habt, mein Freund Silence, / ihr habt euer Wissen/eure Weisheit vergrößert«‹; V. 3589f.).

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Verwandlungskünstlerin.57 Nahezulegen scheint diese Interpretation eine weitere Textstelle, in der der alte Mann im Wald Silence mittels einer Spross- bzw. Baummetaphorik prophezeit, dass Freude aus dessen Trauer geboren werde und dass er Merlin ergreifen werde (V. 5915–5926). Die Baum- bzw. Sprossmetapher ist aber gerade innerhalb der Merlin-Tradition virulent, um das Verhältnis der »Estoire Merlin« zur »Estoire del Saint Graal« zu veranschaulichen.58 Wird sie vor dieser Folie zur eigenen Verortung auch vom »Roman de Silence« beansprucht? Während Silence den König heiratet und ihr Erbe auf ihn übergeht, und während der Roman endet, bleibt am Ende die Autorschaft von Heldris de Cornouailles bestehen. In der Korrelierung von Silence und Merlin gibt uns der Text vielleicht den Hinweis, dass sich hinter dem Erzähler, hinter der Maske des Heldris, eine Art weiblicher Merlin verbirgt, der die Autorfunktion neu besetzt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass, wie Merlin und Silence, auch Heldris und Silence über ihre Bindung zu Cornwall aufeinander beziehbar sind und sich möglicherweise im Spiegel der Figur Silence letztlich eine Autorin, ein weiteres weibliches Schweigen nun über deren ›wahre‹ Identität, verhüllt.59 Im Epilog thematisiert Heldris den richtigen Umgang mit den zwei Arten von Frauen und zeigt die Relevanz der moralischen Bewertung von Weiblichkeit für seinen Text auf, was womöglich als Selbstaussage verstanden werden könnte. Er

57 »Both the Estoire Merlin and Le roman de Silence were written in the second half of the thirteenth century«. Thorpe, Lewis: Merlin’s Sardonic Laughter: In: Studies in Medieval Literature and Languages in Memory of Frederick Whitehead. Hg. v. Rothwell, William u. a. Manchester 1973, S. 323–339, hier S. 338. Bezüglich Merlins Lachen erkennt Thorpe eine direkte Verwandtschaft der Texte: »In this section Le roman de Silence is a direct adaption from the Estoire Merlin« (ebd., S. 338f.). Vgl. James-Raoul [Anm. 1], bes. S. 151f. 58 Roche-Mahdi stellt Merlin dagegen als diejenige Figur heraus, die anders als Silence die Verkleidungen durchblickt, und macht dies am Beispiel der Baum-/bzw. Sprossmetapher deutlich, vgl. Roche-Mahdi [Anm. 13], S. 13f. Roche-Mahdi interpretiert dies so: »Merlin prophesies Silence’s marriage to King Ebain. The barren stock will bear fruit« (ebd., S. 14). Die Metaphorik im Kontext der Merlin-Tradition erläutert Looper: »Second, the reader is told that the two are related by filiation, since the Merlin material is to be ›skillfully grafted‹ [ajouster a fine force] onto its ›parent‹ text, the Estoire del Saint Graal, just as new growth can be grafted onto the parent tree. Finally, a textual authority is posited for this new text: the romancer Robert de Boron«. Looper, Jennifer E.: »L’Estoire de Merlin« and the Mirage of the Patrilineage. In: Arthuriana 12:3 (2000), S. 63–85, hier S. 63. »In the Merlin, a key problematic is thus the reconsideration of the status and role of the male in society, as author, authority, and father figure. When reading this work, however, the reader is struck by the disjunction between the story of the origins of the Estoire de Merlin, as told at the end of the Estoire del Saint Graal, and the story that unfolds in the Merlin itself. It is Merlin, and not Robert de Boron, who positions himself as the founding father of his text« (S. 64). Gilmore deutet die Passage als Hinweis auf »the role of allegorical intent in art« (Gilmore [Anm. 17], S. 113). 59 Vgl. Rüthemann [Anm. 2], Kap. VII, zur inhärenten Verbindung zwischen Autor und Protagonist. Vgl. Gelzer, Heinrich: Der Silenceroman von Heldris de Cornualle. In: ZfrPh 47 (1927), S. 87–99, hier S. 98f.

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befürwortet es, gute Frauen mehr zu lieben als schlechte zu hassen und zu beschuldigen: Maistre Heldris dist chi endroit C’on doit plus bone feme amer Que haïr malvaise et blasmer. Si mosterroie bien raison: Car feme a menor oquoison, Por que ele ait le liu ne l’aise, De l’estre bone que malvaise. S’ele ouevre bien contre nature, Bien mosterroie par droiture C’on en doit faire gregnor plait Que de celi qui le mal fait. (V. 6684–6694) Meister Heldris sagt an dieser Stelle, / dass man mehr eine gute Frau lieben / als eine schlechte hassen und beleidigen soll. / Ich zeige euch gerne den Grund: / Denn eine Frau hat weniger die Gelegenheit, / weil sie weder den Platz / den Rang noch die Leichtigkeit hat, / gut und nicht schlecht zu sein. / Wenn sie gut gegen die Natur wirkt, / werde ich gerecht sein und zeigen, / dass man sie mehr beachten soll / als denjenigen, der Schlechtes tut.60

Natürlicherweise könnten Frauen nicht zum Guten neigen bzw. sind ihre Möglichkeiten durch ihren Platz in der (natürlichen) Ordnung begrenzt. Er selbst habe dies auf Eufeme und Silence angewandt: Wenn er Eufeme bloßgestellt habe, so habe er Silence jedoch mehr gelobt: Si j’ai Eufeme moult blasmee / Jo ai Silence plus loëe (V. 6697–6698). Und eine gute Frau solle nicht die Schuld anderer auf sich laden, sondern sich anstrengen, es besser zu machen: Ne s’en doit irier bone feme, / Ne sor li prendre altrui blasme, / Mais efforcier plus de bien faire (V. 6699– 6701). Damit klingt einerseits implizit der Versuch der Überwindung der weiblichen Natur an, wie sie zeitgemäß moralisch geboten ist.61 Auch lässt sich seine 60 In der Interpunktion und der Übersetzung der Passage folge ich Barbara Newman, die auf einen Editionsfehler hinweist. »Rather, the problem is that female nurture – misinterpreted as nature – gives women like Eufeme so many occasions to do harm, and so few to perform acts of conspicuous valor and virtue. Thus, Silence, like Christine de Pizan in The Mutation of Fortune, finds that »becoming male« allows her to reveal the sterling stuff of her human nature in the public sphere, the only space that counts. If in the end, like Christine in Lavision, she reverts to her »natural« womanhood, it is only after her gender masquerade has deconstructed the forced reduction of a noble and aspiring nature (what Christine would call la femme naturelle) to a limited and constricting nurture (us de feme).« Newman, Barbara: God and the Goddesses. Vision, Poetry, and Belief in the Middle Ages. Philadelphia 2003 (The Middle Ages Series), darin: Testing the Norms: Nature, Nurture, »Silence«, S. 122–134, hier S. 133f. 61 Vgl. Anm. 20. »Letztendlich muss die Frau ihre durch die ratio superior geprägte Weiblichkeit besiegen, indem sie sich der männlichen ratio superior bemächtigt: Nicht ihr körperliches Erscheinungsbild ändert sich, sondern die inneren Verstandeskräfte. Diese Möglichkeit ge-

Silence als narratives Prinzip und poetologische Figuration

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Aussage, er habe eher Silence und damit implizit das Schweigen gelobt, an das in dieser Hinsicht konventionelle Diktum des Königs anschließen: Car femes n’ont sens que mais un, C’est taisirs. Toltes l’ont commun, Se n’est par aventure alcune, Mais entre .m. nen a pas une Ki gregnor los n’eüst taire Que de parler. (V. 6401–6406) Denn Frauen haben nur einen Sinn, / das ist Schweigen. Das ist ihnen allen gemein, / es sei denn durch irgendeine aventure.62 / Von Tausend gibt es nicht eine, / die nicht mehr Lob erhielte durch Schweigen / denn durch Reden.

Wenn die Rede des Königs auf die herkömmliche Geschlechterzuschreibung abzielt, lässt sie andererseits eine Tür in Richtung aventure – und damit coverture – offen. Und wenn der Erzähler ›Silence‹ lobt, dann weil er ihr Schweigen tatsächlich umgesetzt hat, ein Schweigen, das textproduktiv gemacht, das ›übersetzt‹ werden konnte. Die Frage ist, wer es ›übersetzt‹ hat. Merlin nimmt in der arthurischen Erzähltradition die Rolle eines »Übersetzers« ein, der als »semiotischer Trickster« sein Allwissen in die begrenzte menschliche Sprache übersetzt, wie Laura Chuhan Campbell gezeigt hat: »Merlin’s role as a translator is embodied in the ontological contradictions of his very persona, which make the translatio of knowledge between his omniscient mind and human thought simultaneously possible and impossible«.63 In dieser Perspektive könnte es im »Roman de Silence« um eine Form der Übersetzung des Schweigens (bzw. der Abwesenheit von Silence) in Text gehen. Wie gezeigt, stellt steht man der Frau im Mittelalter zu: Was dann entsteht, ist eine ›männliche Frau‹ – dem Aussehen nach weiblich, der inneren Einstellung nach jedoch männlich«. Boll, Katharina: Alsô redete ein vrowe schoene. Untersuchungen zu Konstitution und Funktion der Frauenrede im Minnesang des 12. Jahrhunderts. Würzburg 2007, S. 52. 62 Hier übersetzt Roche-Mahdi: »and it’s hardly a coincidence«, eine Bedeutung, die auch plausibel ist. Ich denke jedoch, dass der Text ebenso auf die ausnahmebildende aventure von Silence anspielt. 63 Chuhan Campbell [Anm. 36], S. 67. »Not only does his knowledge reflect the author’s omniscient perspective over the narrative as a whole, which cannot be shared by its protagonists within the text, but it also reflects a form of knowledge akin to divine omniscience. […] Merlin cannot convey the entirety of his knowledge within the text, because this atemporal omniscience cannot be supported by the limitations of human languages and thought. In order to ›write‹ the narrative, as author of his books of prophecies and as advisor to Arthur, he can only convey fragments of that knowledge at any one time. Merlin, therefore, is not simply an author of the text, but also a translator. He must communicate his allencompassing knowledge by converting it into a form that can be conveyed within human languages and temporality. Like the author/translator of a Latin text in the vernacular, Merlin possesses esoteric information that cannot be transmitted in its entirety to an audience with a more limited linguistic – and also, in this case, epistemological – capacity« (ebd., S. 18f.).

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das Schweigen bzw. das Nicht-Reden-Können tatsächlich ein topisch eingesetztes Motiv des gesamten Textes dar, das auf Mikroebene wiederholt zum Tragen kommt, neben Silence ebenso anderen Figuren zugeschrieben wird bzw. sich räumlich anhand ganzer Hofgesellschaften äußert. Es korreliert ferner nicht zuletzt mit einer Figurenkonzeption von Silence als ›Personifikation‹ bzw. reflexiver Figur, die auf histoire-Ebene hinter dem Handeln anderer Figuren zurücktritt und deren Handeln zugleich erst generiert. Als ›Personifikation‹ vermag sie ferner poetologisch ein textproduktives und dezidiert weibliches Schweigen zu reflektieren, das über sie hinaus eine weibliche Autorin zumindest denkbar werden lässt. Der Text enthüllt eine solche Identität gerade nicht, regt aber im Spiegel der Silence gleichsam eine hermeneutische Suchbewegung (nicht zuletzt auf Buchstabenebene) an, die in Anlehnung an Merlins Verwandlungskünste und den ihm inhärenten Ambivalenzen – er besitzt Autorität und wird doch gefangen, um dann wiederum Autorität auszuüben – unter der coverture dieses ›Romans über das Schweigen‹ einen weiblichen Merlin, eine weibliche Autorin, enthüllen könnte.64

64 Gilmore [Anm. 17] kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, zieht aber einen anderen Schluss daraus: »He [Merlin] delivers the truth, he reads the allegory, but this does not change the world significantly. He unveils the truth of Silentius’s gender, but the King publicly strips her anyway« (S. 118). »Merlin is no longer in that world he has explained; Silence has removed him from it, and he has disappeared from the text. The author/narrator rushes in to fill the gap he leaves, to leave us a texte de plaisir. ›Master Heldris says here and now…‹ (6684): not here and beyond, not for now and all time. The order is essentially unchanged: allegorical understanding has not taken us to the new world promised; Merlin alone resides there, laughing« (ebd., S. 119). Vgl. zur Bedeutung des Autornamens Heldris Rüthemann [Anm. 2], Kap. V. 2.

Matthias Meyer

Allegorien und Zauberer. Figuren des Dritten im »Roman de Silence«?

»Die Figur des Dritten« heißt ein Sammelband, der als Gründungsmanifest einer Interpretationsmethode, die sich Triangulierung nennen könnte, gelesen werden könnte.1 Die Konjunktive in diesem Satz rechtfertigen sich zum einen dadurch, dass man vielleicht zu weit dadurch geht, Triangulierung als Methode zu beschreiben und zum andern darin, dass es Interpretationsverfahren, die Triangulierungen verwenden, schon lange vor dem Band zur »Figur des Dritten« gegeben hat, denn die (Vor-)Geschichte der Triangulierung, ihre Vatergeschichte, reicht bis zu Charles Sanders Peirce, Georg Simmel und René Girard, um nur drei zu nennen.2 Der Gedanke der Triangulierung erweist sich dabei – das macht der genannte Band hinreichend deutlich – schon allein deswegen als so modern, weil alles, was sich jenseits der Zwei bewegt, den für die letzten Dekaden so typischen poststrukturalistischen Impetus in sich trägt. Die Drei geht den entscheidenden Schritt weiter, um die Dichotomien, in denen der Strukturalismus die Wissenschaft gefangen hatte, zu durchbrechen. Diese Dritten aber sind – das ist zunächst historisch festzuhalten – mit der Welt der Zwei kopräsent, sie sind keine spätere, sondern eine parallele Entwicklung, was dann eigentlich auch die Frage zulässt, ob die Drei in der Zwei nicht vielleicht schon immer mitgedacht wurde und inwieweit die Zwei in der Drei nicht doch letztlich übermäßig und übermächtig präsent bleibt. Dies gilt dann auch für die später nachkommenden poststrukturalistischen Bewegungen im Zeichen der Drei, die Theorie vom third space ebenso wie für queere Lektüren, die sich immer wieder fragen (lassen) müssen, wie weit das von ihnen konstruierte Dritte sich wirklich von der Welt der Dichotomien gelöst hat/lösen kann und nicht im Wesentlichen eine Verschiebung auf eine neue Dichotomie hin bedeutet und wie man diese Gefahr in der interpretatorischen Praxis vermeiden kann. 1 Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. v. Esslinger, Eva u. a. Berlin 2010 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1971). 2 Vgl. Koschorke, Albrecht: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Esslinger [Anm. 1], S. 9–31, hier bes. S. 15–18.

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Was aber kann eine triangulierende Interpretationspraxis leisten? Das Wichtigste ist in meinen Augen, dass es nicht um ›das Dritte‹ oder ›den Dritten‹ gehen sollte, sondern um ›Triangulierungen‹, also nicht um Interpretationen, Identifikationen und Festschreibungen von etwas klar umrissenen Dritten. Letztere scheinen mir ein Weg zu sein, der erstens zu substantialistisch gedacht ist und zweitens daher zu leicht in die Falle des Aufstellens von neuen Oppositionen führt. Es geht also um textuelle Dynamiken, um Beschreibungsmodelle, die zeigen, wie die Einführung eines wie auch immer gearteten Dritten dazu in der Lage ist, akzeptierte Oppositionen zu hinterfragen oder zumindest hinter ihnen neue Sichtweisen zum Vorschein zu bringen. Meine Ausgangsbasis ist dabei zum einen der genannte Band, zum andern eine Tagung zu triangular readings, deren Ergebnisse mittlerweile in einem weiteren Sammelband veröffentlich sind.3 Die Figur des Dritten muss, dies wurde oft festgehalten, natürlich keine Figur im Sinne einer Person, einer literarischen Figur sein. Es hat sich aber auch gezeigt, dass gerade in der Literaturwissenschaft die Figur des Dritten oft als Figur, also quasi als Person gewordene Denkfigur, gelesen wird, während die räumliche Komponente des Dritten außer Acht gelassen wurde. Dabei muss es nicht um den terminologisch festgelegten third space der postcolonial theory gehen, denn ›Raum‹ (ein Raum jenseits einer Dichotomie, z. B. der von Jenseits und Diesseits) kann als Metapher (und Ort) für die mit dem Dritten oft verbundene Hybridität gelesen werden. So habe ich in dem Beitrag, auf den ich mit diesem Beispiel anspiele, das Reich Gansguoters in der »Crône« als einen solchen Raum des Dritten interpretiert.4 Der antibinarische Impetus der Figur des Dritten lässt sie – dies das implizite Ergebnis der Interpretationen im Band »Die Figur des Dritten« – besonders für die Moderne (im weiteren Sinne) geeignet erscheinen. So finden sich in diesem Buch nur wenige Hinweise auf eine Anwendung auf mittelalterliche Literatur – auch wenn von Koschorke in seiner Einleitung des Bandes programmatisch die Anwendung auf das Mittelalter festgehalten wird.5 Auf den ersten Blick ist diese Zurückhaltung sinnvoll, denn dichotomischer als das Mittelalter scheint kaum eine andere Zeit gewesen zu sein. Das christliche Weltbild ist auf den ersten Blick von Dichotomien geradezu besessen: von der fundamentalen Dichotomie Christentum – Nichtchristentum angefangen, ist die Welt wiederum eindeutig

3 Triangular Readings. Hg. v. Kagel, Martin u. Sager, Alexander (Colloquia Germanica 45:3/4 [2015]). 4 Meyer, Matthias: In Search of the Arthurian Third. In: Kagel u. Sager [Anm. 3], S. 295–311, hier bes. S. 303–307. 5 Koschorke [Anm. 2], S. 13.

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gegen das Jenseits, die civitas dei eindeutig gegen die civitas diaboli gesetzt.6 Als Mediävist_in weiß man aber, dass diese Dichotomien vordergründig sind: Während man auf der einen Seite aus Jenseitshoffnung und Diesseitsfurcht eine Dichotomie von Heilserwartung und Weltverneinung zimmern kann, ist dies auf der anderen Seite ein manichäischer Dualismus, der von der Kirche gerade nicht gepredigt, sondern verketzert wird. Dass hinter diesen Dualismen immer eine Figur des Dritten, die Trinität, steht, ist allerdings eher ein semantischer Trick als eine wirklich ernst zu nehmende Aussage, denn dieses spezielle Dreierlei ist ja doch nur der Eine und von der dem Islam unterstellten Göttertrias Apollo, Mahmet und Tervigant kategorial unterschieden. Man kann jedoch überlegen, ob man die Institution des Fegefeuers als einen besonderen third space bezeichnet. Es ist jedenfalls ein Ort, der über die grundlegende Dichotomie von Leben und Tod, von Himmel und Hölle hinweghilft: Die Lebenden können Fürbitte für die Seelen im Fegefeuer leisten, gleichzeitig verlängert das Fegefeuer die Möglichkeiten zur Buße und kann so eine zwar extrem lange, aber eben nicht ewige Buße ermöglichen. So wird ein Drittes zwischen Erlösung und Verdammung zwischengeschaltet, in dem sich eigene Regeln etablieren können. Das Fegefeuer ist – neben seiner bis zur Reformation (die sich dem Heilskapitalismus, der sich in der Fegefeueridee manifestiert, widersetzt) und dann weit darüber hinausreichenden religionsgeschichtlichen Bedeutung – eine Erfindung, die auch für die Literatur folgenreich ist, denn mit ihr wird ein Raum zugänglich, der geradezu dazu auffordert, mit exzessiven Ideen bevölkert zu werden, wie bereits die ersten volkssprachigen Fegefeuertexte zeigen. Die Erfindung dieses Raumes liegt zeitlich vor der Entdeckung der Neuen Welt – und er ist wohl kulturgeschichtlich wirksamer als diese Entdeckung; beide hat man mit der Entdeckung der Fiktionalität zusammengebracht. Das Fegefeuer schafft einen Raum für Imaginierungen, dessen Auswirkungen bis in die höfische Literatur hinein deutlich nachzuverfolgen sind.7 Es zeigt auch einen weiteren Aspekt der Figur des Dritten auf: Es eröffnet sich ein neuer Raum, der eben kein Teil des einen oder anderen Elements einer dualen Struktur ist. Eine bloße Transgression kann einen solchen Zusatznutzen nicht erzeugen (auch wenn sie vielleicht die Funktion einer momentanen Entlastung hat), sie bringt den ursprünglichen Dualismus nicht ›ins Spiel‹. 6 Meyer [Anm. 4], S. 297. Und auch mit der Reformation kann man sich eigentlich nur zwischen zwei dichotomischen Systemen entscheiden; sie ist in meinen Augen ein Paradebeispiel dafür, dass eine neue Entität keine Figur des Dritten, sondern nur eine Vervielfältigung von Dichotomien erzeugt. 7 In einem Dreischritt hatte Wolfgang Iser in seiner Theorie des Fiktiven die Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit und die Einführung der Kategorie des Imaginären prozessualisiert; vgl. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1101).

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Drei Figuren des Dritten sind in Interpretationen von Literatur besonders folgenreich: der Rivale/Liebhaber, der Trickster und der Sündenbock.8 Für die Trickster-Figur fallen einem neben mythischen Erzählungen, in denen sie ja zum Kernrepertoire gehört, mögliche Parallelen in der mittelalterlichen Literatur ein. Die erste und vielleicht auch wichtigste im Rahmen der erzählenden höfischen Literatur ist wohl Keie (auf dessen Parallelen zu mythischen Trickster-Figuren in der Forschung ja auch mehrfach hingewiesen wurde).9 Denkt man an die »Crône«, so ist die Zaubererfigur Gansguoter ebenso ein klarer Kandidat für eine Interpretation als Trickster. Schwerer tue ich mich mit der Figur des Sündenbocks. Ich sehe in Märenkonstellationen einen Typus von Männerrolle (oft verkörpert durch Pfarrer oder Scholar), die der Figur des Sündenbocks entsprechen könnte. Ein weibliches Beispiel ist wohl Parzivals Schwester in der Gralsqueste der Artusprosa;10 generell aber ist der Sündenbock eine Kategorie, bei der zumindest ich Schwierigkeiten – oder einen blinden Fleck – habe, wenn ich sie für die mittelalterliche Literatur produktiv machen soll. Der Nebenbuhler/Rivale ist dagegen ein Typus, den man in der mittelalterlichen Literatur ebenso wie in moderner Literatur findet. Doch ist auffällig, dass die mittelalterlichen Dreieckskonstellationen, die durch das Auftreten eines Dritten erzeugt werden, sich schnell in Vierecke (oder in andere textgeometrische Figuren) verwandeln: Das Dreieck Tristan – Isolde – Marke wird durch die weißhändige Isolde ebenso wie durch Kaedin merkwürdig erweitert; zu Lancelot – Ginover – Artus tritt sofort (geradezu als Bedingung dieser Möglichkeit) Galahot hinzu (und die Dame von Maloaut, die ich aber als allzu offensichtliche textuelle Pazifizierungsstrategie, die kaum Figurenstatus erhält, ignorieren möchte). Zu Iwein, Laudine und Gawein (bei denen zumindest im deutschen Text

8 Als Trickster kann man all jene semigöttlichen Figuren bezeichnen, deren Haupteigenschaft ihre Ambiguität, ihr Grenzgängertum zwischen Welten und ihr permanentes Infragestellen einer gegebenen Ordnung ist. Sie finden sich besonders in der afrikanischen und amerikanischen Mythologie; auch die Schelmen der deutschen Tradition hat man als TricksterFiguren bezeichnet. – Auf den Sündenbock, der per Attribution bestimmt wird, auch wenn vielen Sündenböcken eine Prädisposition für diese Rolle unterstellt werden kann, kann eine in eine Krise geratene Gemeinschaft ihre Ängste und Probleme abladen und damit in einem symbolischen Akt der Verurteilung/Ausmerzung versuchen, einen neuen Zusammenhalt zu finden. 9 Vgl. etwa Ebenbauer, Alfred: Der Truchseß Keie und der Gott Loki. Zur mythischen Struktur des arthurischen Erzählens. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hochund Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Meyer, Matthias und Schiewer, Hans-Jochen. Tübingen 2002, S. 105–131. 10 Zwar nimmt sie den Opfertod freiwillig auf sich, doch passt in die Rolle des Sündenbocks, dass die Gesellschaft und das Weltbild der Gralsqueste keinen Platz für sie hat, denn zu einer endgültigen Gralsschau ist sie als von außen kommende Frau in der männlich dominierten Heilsgeschichte der »Queste« nicht befähigt.

Allegorien und Zauberer

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einiges auf eine Dreieckskonstellation hinweist) tritt unbedingt Lunete hinzu.11 Außerdem wäre zu überlegen, ob nicht der Rivale im Liebesdreieck sowieso kaum eine Figur des Dritten ist, die ein grundlegendes Hinterfragen etablierter Strukturen ermöglicht, weil er eigentlich immer letztlich der Restitution der Heteronormativität dient. Dennoch ist es zumindest als interpretatorisches Instrument, davon bin ich überzeugt, nicht sinnlos, triangulierende Lektüren mittelalterlicher Literatur zu versuchen. Hier also nun ein Versuch an einem Objekt, das zunächst nicht eigentlich in das für einen Germanisten naheliegende Betätigungsfeld gehört: Der »Roman de Silence« des (oder der?) Heldris de Cornouailles. Der Titel dieses Beitrags gibt an, dass ich mich besonders mit Allegorien und Zauberern beschäftigen möchte. Dies ist noch genauer zu erläutern, denn alles an der Denkfigur des Dritten deutet auf ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit hin, an Sperrungen und Dehnungen jenseits fester Zuschreibungen. Allegorien sind, vereinfacht gesprochen, genau das Gegenteil davon: Sie sind eindeutig festgeschriebene Ausprägungen eines klar benennbaren Prinzips. Sie sind weiterhin ein fester Bestandteil mittelalterlichen Erzählens, in der deutschsprachigen Literatur besonders des um 1300, in der französischsprachigen Literatur tritt die Tendenz zur Durchallegorisierung des Erzählens wie auch einige andere narrative Tendenzen früher auf. Dass Allegorie und Erzählen zusammengehen, ist nicht selbstverständlich. Es gibt ganze mittelalterliche Gattungen (wie die der Minneallegorie), die sich an einer permanenten Refigurierung des problematischen Verhältnisses von Allegorie und Erzählung abarbeiten.12 Denn eigentlich stellen Allegorien das Erzählen still oder sind insofern hinderlich für das Erzählen, als sie eben aufgrund der genauen Bedeutungszuschreibung, die sie ermöglichen, dem diskursiven Wesen des Erzählens widersprechen. Gottfried von Straßburg zeigt dies deutlich, wenn er in seinem »Tristan« in der Minnegrotte eine Allegorie der perfekten Liebe als versteinerten Ort inszeniert, vor dem schließlich selbst Tristan und Isolde fliehen und in dem sie, solange sie dort sind, das stillgestellte Erzählen durch ihre eigene Erzählpraxis restituieren. Von dieser wird allerdings nur gesagt, dass sie stattfindet. Das Erzählen selbst wird nicht entfaltet. Andere Bei11 Mit gleichem Recht kann man natürlich auch Gawein als vierte Figur in der triangulären Konstellation Lunete, Iwein und Laudine begreifen. Jedenfalls ist der Text immer erst dann komplett, wenn solide Dyaden gebildet worden sind (was auch die Logik des »Iwein«Schlusses mit der Verheiratung von Lunete ausstellt). 12 Aus der Perspektive der Minneallegorie hat dieses schwierige Verhältnis von Allegorie und Erzählen Dorothea Klein jüngst ausführlich beschrieben; vgl. Klein, Dorothea: Polyvalenz und Inkohärenz. Zur Allegorisierung höfischer Liebe im Jagdgedicht Hadamars von Laber. In: Verrätselung und Sinnzeugung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Trînca, Beatrice. Würzburg 2016, S. 47–67, hier bes. S. 47–50, S. 54–58.

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spiele für das problematische Verhältnis zwischen Erzählen und Allegorie bieten der »Jüngere Titurel« mit der Gralstempelallegorie (ich bin versucht zu sagen: selbst der Gral flieht vor diesem Ort nach Indien) und der »Wilhelm von Österreich« mit dem Aventiurehauptmann und seinem (direkt aus dem »(Jüngeren?) Titurel« entlaufenen) Aventiuresuchhund. Beide weisen auf ein wichtiges Prinzip des Erzählens mit Allegorien hin: Es ist einfach und unproblematisch vor allem dann, wenn die Allegorien möglichst schnell wieder verschwinden, am besten, nachdem sie Narration generiert haben. In der »Crône« ist dies wieder einmal besonders deutlich: Dort tritt die personifizierte Saelde auf und stellt mit ihrer allumfassenden Saelde-Garantie das Erzählen still.13 So hat Heinrich ihr beinahe zwangsläufig eine böse Schwester, die personifizierte Unsaelde, zur Seite gestellt, die eben die Glücksutensilien rauben kann. Erst wenn die eine Allegorie die andere aufhebt, wird das Weitererzählen möglich. Die Parallele zum »Roman de Silence« liegt auf der Hand. Auch hier sind die beiden Allegorien Nature und Noreture, Natur und Erziehung, aufs Engste und gegensätzlich miteinander verwoben und auch hier stehen beide in direkter Relation zum Erzählen selbst, denn ohne diesen Wettstreit gäbe es den Roman, die Erzählung, schlicht nicht. Beide sind aber – und das unterscheidet diese Konstruktion etwa von der »Crône« mit ihren Allegorien von Glück und Unglück – mit der Erzählung und ihren handelnden Figuren nicht auf die gleiche Weise verknüpft. In der »Crône« agiert Frau Saelde als Person gewordene fortuna stabilis, die wiederum von ihrer ambivalenten Existenz als aleatorische Glücksradgöttin gerade durch die Ankunft von Gawein in eine fortuna stabilis verwandelt wird: Sie gibt ihm dann mehrfache Garantien, dass er und der Artushof immer Glück haben werden. Getreu der Konstruktion der »Crône« können die dem Artushof zu überbringenden Glücksinsignien geraubt werden, nicht aber die persönliche Glücksgarantie an Gawein: Die kann nur narrativ hinterfragt und an den Rand gedrängt werden. Beide aber, Frau Saelde und ihre Schwester Giramphiel als personifizierte Unsaelde, die die Glücksutensilien raubt (hier fällt sogleich der Parallelfall des Tigrisgolds im »Jüngeren Titurel« ein), agieren als Externe, als Personifikationen eines Prinzips, in einer erfundenen Welt. Dieses Prinzip ist ursächlich mit dem Erzählen selbst verknüpft: Glück garantiert ein Happy End, macht aber Erzählen, wenn der Ausgang so klar ist, uninteressanter – und deswegen gibt es die böse Schwester der Saelde, die sie konterkariert und die, anders als Frau Saelde, munter und aktiv in der erzählten Welt herumwirtschaftet.

13 Meyer, Matthias: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1994 (GRM Beihefte 12), S. 124–132.

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Dies ist im »Roman de Silence« einerseits parallel konstruiert, andererseits aber doch anders verortet: Zumindest nature ist – und das unterscheidet den Roman von allen Gender-Theorien – eine essentialistische, fest im Körper der Protagonistin verortete Kategorie; der Roman hebt ja die klassische Geschlechterbinarität nicht auf. Noreture dagegen verfügt eben nicht über die gleiche körperliche Basis in der Erzählung und ist schon deswegen kategorial unterschieden (und auch letztlich unterlegen).14 Und doch scheinen die Parallelen groß zu sein: So wie die Saelde zumindest im Artusroman der »Crône« Gawein nicht verlassen kann, also wesenhaft zu ihm gehört, so kann auch Silence ihre Natur nicht auf Dauer verleugnen, weil sie eben ihre Natur ist, und in beiden Fällen wird das Erzählen nur dadurch ermöglicht, dass es eine gegen diese Gewissheit gerichtete Instanz gibt, die aber weniger fest in der Grundlage des Erzählens verankert ist und daher das vorstrukturierte Ende nicht wirklich in Frage stellt. Bevor es mit der Geburt von Silence zum ersten großen Auftritt von Nature kommt, findet man etwas, das man vielleicht als ›Nebenrollenallegorien‹ bezeichnen könnte: So zum Beispiel in der Beschreibung des Hofes König Ebains, dessen Pracht und Vollkommenheit gegen die defizitär dargestellte Erzählgegenwart gestellt wird: Letztere wird durch die Präsenz von Faintise, Vilonie, Lozenge etc. charakterisiert – die jeweils durch ein Attribut von bloßen Semipersonifikationen zu allegorischen Figuren werden, wenn etwa Lozenge, der Schmeichelei, ein vergoldeter Mund attestiert wird (vgl. V. 1550–1555).15 Diese kleine Szene, eine Art winziger allegorischer Reigen, ist ein Zwischenspiel in der größeren Szene, die zur Eheschließung der Eltern von Silence führt. Deren Geburt liefert bekanntlich den Anlass zur ersten großen Szene der Nature, die, wenn ich den Text richtig verstehe, in einem letztlich unklaren Verhältnis zum Kind steht: Einerseits schafft sie es und es ist ihr Meisterwerk, andererseits ist das Kind 14 Es ist kein Wunder, dass angesichts der Handlung des Romans gilt: »For most critics, the central problem is whether the Roman de Silence supports or subverts the hierarchical gender structure with which it ends. […] How do we account for this incongruity between the traditional frame and the subversive center of the story?« (S. 37) Waters endet ihre Analyse, die man durchaus als eine versuchte Lektüre von der Figur Silence als Figur des Dritten bezeichnen kann, mit dem Fazit »the romance points toward both complicity in and subversion of the status quo« (S. 45) – und auch deswegen suche ich hier Figuren des Dritten nicht im Zentrum der Handlung; Waters, Elizabeth A.: The Third Path: Alternative Sex, Alternative Gender in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 35–46. 15 Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. und übers. von Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 1992 (Medieval Texts and Studies 10). – Ich sehe hier eine rudimentäre Abstufung: Die hier beschriebenen Allegorien handeln nicht, sie sind eigentlich eine Allegorie. Sie sind aber durch ein beschriebenes Detail (den goldenen Mund) nicht als bloß benennende Personifikation, sondern als allegorische Figur (die eben einen Mund hat) erkennbar. Ob eine solche Hierarchisierung, die hier punktuell plausibel zu sein scheint, wirklich über einen Roman hinweg sinnvoll angewendet werden kann, wäre zu untersuchen.

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bereits vorgängig da und wird von Nature verbessert, wo Nature zum Kind (das dann eben schon existieren muss) kommt.16 Es herrscht aber eindeutig die Handwerksmetaphorik vor – vor allem, wenn das Erstellen des Mädchens mit dem Backen von extrafeinem Weißbrot verglichen wird (das Backen wird ja weitergetragen im Bild der über tausend Formen, in denen Nature die Menschen mit Lehm formt). Hier halte ich eine weitere Ebene in der Schilderung fest: Die detaillierte Verhandwerkerung von Nature scheint mir – allerdings ohne umfassende Kenntnis der altfranzösischen Tradition – eine Art Gratwanderung zu sein zwischen einem Ausbuchstabieren der klassischen Rolle der Natura als nachgeordneter Schöpferin in der Konzeption, wie sie etwa auch Alanus ab Insulis in »De planctu naturae« verbildlicht auf der einen und rhetorischer Komik auf der anderen Seite, wenn etwa betont wiederholend das Aussieben von Weißmehl in drei verschiedenen Sieben zweimal hintereinander hervorgehoben wird: Schöpfungsallegorie und Küchenkomik treten in Engführung.17 Auffällig ist auch, dass die perfekte Schöpfung der Nature – immer wieder wird betont, dass sie darauf achtet, dass auch nichts zur Perfektion fehlt – in einem entscheidenden, nämlich dem genealogischen, Punkt defizitär ist. Später, wenn Silencia als Silentius aufwächst, wird immer wieder festgehalten, dass ihm unter der männlichen Oberfläche genau dieses eine Detail fehlt, die alles entscheidende Petitesse. Der ganze Roman lebt von dieser Differenz: In der ersten großen Reflexion der Protagonistin über ihren Zustand zwischen den Geschlechtern ist eines der Argumente, die Silence in der Männerrolle halten, dass der weibliche Zustand defizitär ist, dass sie als Mann die bessere Position hat. Das entspricht ja durchaus kirchlicher Lehre und ist ein durchgängiges Motiv in Legenden, in denen Cross-Dressing eine zentrale Rolle spielt – ist doch das weibliche Cross-Dressing aufgrund des Perfektionierungsgedankens akzeptabel,

16 Die ganze Szene V. 1795–1957. Immer wieder wird vom Erzähler vom Werk der Nature gesprochen, vom ›Meisterstück‹ und ähnlichen Formulierungen. Andererseits wird deutlich gemacht, dass das Kind von sich aus schön ist – vielleicht am deutlichsten im Vers Biele est, sel fait encor plus bele (›sie ist schön, aber sie [Nature] macht sie noch schöner‹; V. 1867). 17 Darüber hinaus hat Barbara Newman darauf hingewiesen, dass die Verwendung unterschiedlicher Mehlsorten auch ein Hinweis auf soziologische Aspekte ist; Newman, Barbara: Did Goddesses Empower Women? The Case of Dame Nature. In: Gendering the Master Narrative. Hg. v. Erler, Mary C. u. Kowaleski, Maryanne. Ithaca 2003, S. 135–155, hier S. 143f. Zur Alanus-Rezeption ebd., S. 142f. Die Frage, wie eng sich der »Roman de Silence« an Alanus anschließt, ist in der Romanistik allerdings umstritten. – Im Hinblick auf die soziologischen Aspekte ist interessant, dass erst durch das besonders feine Sieben die ausgestellte Aristokratie dieses spezifischen weiblichen Körpers betont wird. Da Nature gerade ihre Mühe an der schönen Oberfläche herausstellt, ergibt sich im Umkehrschluss, dass auf sozial niederer Stufe das Problem nicht existieren würde: Da müssen Frauen eben auch physisch härter konstruiert sein.

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das männliche nicht.18 Hier liegt, wenn es dessen noch bedürfte, ein weiteres Argument gegen das ehebrecherische männliche Cross-Dressing des Liebhabers der Königin im »Roman de Silence« vor. Noch in der Schlussszene der Enthüllung der weiblichen Identität von Silence ist das Erkennen recht merkwürdig formuliert: Der König, so heißt es, findet alles am rechten Ort (wo er eben eigentlich nicht das findet, was zu erwarten gewesen wäre).19 Dies fällt umso mehr auf, als zu Beginn der Silence-Handlung ein erstes Mal (ein letztes Mal dann in der Merlin-Handlung, V. 6035–6087) auf Adam und Eva im Paradies hingewiesen wird. Das geschieht durch Silences Vater, der seine Ehefrau davon überzeugen möchte, dass das Verbergen einer möglichen weiblichen Identität des erstgeborenen Kindes die einzige vernünftige Handlungsoption ist – eine Ansicht, der die Mutter zunächst widerspricht. Erstaunlicherweise wird nämlich die sekundäre Erschaffung von Eva aus der Rippe Adams nicht als Hinweis auf die Differenz (und auch nicht auf die Überlegenheit und damit auch Eheherrschaft des Mannes) gelesen, sondern als Beleg für die Identität von Mann und Frau, ihre substantielle Gleichheit (V. 1701–1711). Man könnte dies als bloßen rhetorischen Trick des Ehemannes, der damit seine Ehefrau in die Zustimmung zu einem problematischen Plan zwingen will, lesen. Es fällt jedoch umso mehr auf, als hier eine Differenz gerade aus einer der Urszenen der Differenz heraus negiert wird, ist doch die sekundäre Erschaffung Evas einer der oft genannten Gründe im zeitgenössischen theologischen Diskurs, die Unterordnung der Frau (und auch die klerikale Misogynie) zu begründen – eine Differenz, die ja auch die Basis der ganzen folgenden Erzählung ist, denn einer der Gründe, warum Silence lange Mann bleiben will, sind ja gerade die Freiheiten und gesellschaftlichen Vorteile des Mannseins (V. 2632–2656). In der nächsten großen Szene der Nature treten auch ihre Gegenspielerinnen Noreture und Raison auf. Auch diese Szene ist natürlich alles andere als zufällig mit Einsetzen der Heiratsfähigkeit der Protagonistin mit zwölf Jahren angesetzt. Bis dahin hat sich Silence (sich über alle Realismen wie auch narrativen Möglichkeiten hinwegsetzend) ihrer zugewiesenen Geschlechtsidentität entsprechend entwickelt und auch perfekt in diese Rolle eingefügt. Dies gelingt bis hin zu kriegerischen Aktivitäten, die sie – anders als etwa in Geschichten vom Typ »Der Borte« Dietrichs von der Glezze – auch ohne magische Hilfsmittel durchführen 18 Vgl. Moshövel, Andrea: wîplîch man. Formen und Funktionen von ›Effemination‹ in deutschsprachigen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2009 (Aventiuren 5), S. 98– 102 (mit weiterführender Literatur). Vgl. auch Busby, Keith: Plus acesmez qu’une popine. Male Cross-Dressing in Medieval French Narrative. In: Gender Transgressions. Crossing the Normative Barrier in Old French Literature. Hg. v. Taylor, Karen J. New York 1998, S. 45–59. 19 V. 6573f.: Tost si com Merlins dist les trueve. / Tolt issi l’a trové par tolt (›Es war genau so, wie Merlin es gesagt hatte [der behauptete, Silence sei eine Frau] / er fand alles da, wo es hingehörte‹).

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kann. Der Text, das wird hier deutlich, ist vom Gedanken der substantiellen Gleichheit von Mann und Frau doch stärker durchdrungen, als es Nature wahrhaben will. So ist denn auch schon der/die zwölfjährige Silence der Beste im Ringen und im Buhurt. Der Auftritt der allegorischen Figuren ist unbestimmt: Im Text wird dies nicht näher räumlich oder szenisch situiert, eben nur zeitlich: Im Alter von zwölf Jahren erscheint Nature plötzlich und beginnt zu klagen, dass Silence ihre natürliche Bestimmung verfehlt. Die Klage aber, das ist von der Argumentation her interessant, richtet sich nicht dagegen, dass Silence kein richtiger Mann sein kann – oder eben nur im Bereich der Sexualität nicht –, denn der Erzähler hat ja gerade festgehalten, dass Silence in allen anderen Dingen ihren Mann steht. Die Klage ist hauptsächlich vom Selbstmitleid der Nature getragen, weil sie tausend anderen Menschen Schönheit geraubt hat, die nun deswegen die Natur wegen ihres Geizes anklagen (V. 2509–2512). Man könnte das in höfischer Logik formulieren: Die Nature hat ein Übermaß an Freigebigkeit, largesse gezeigt, durch das nun wiederum vorausgesetzt wird, dass die Freigebigkeit weitergegeben wird. Genau das aber tut Silence nicht, denn es wird sogleich festgehalten, dass tausend Frauen sie wegen ihrer Schönheit lieben und sie verdammen würden, wenn sie wüssten, dass Silence genau das fehlt, von dem sie glauben, dass es da sei (V. 2509–2522). Es gehört zur Geschlechterpolitik des Romans, dass Männer (anders als z. B. im »Tristan«-Roman) nicht schön sein dürfen und, vor allem, dass Schönheit als Anreiz zur Fortpflanzung gesehen wird: So werden auch alle Personen, die Silence als Mann begehrenswert finden, von der Erzählung verdammt, weil der Weg eben nur in ein legitimes Begehren führen darf. Noreture erscheint, als Silence von Nature überzeugt wurde, die männliche Identität aufzugeben (die von Silence vorgebrachten Argumente stehen dabei deutlich gegen die Aussagen des Erzählers zu seiner Hauptfigur). Anders als Nature spricht sie nicht ausführlich zu Silence, sondern fragt ihn nur, was er hier mache. Auf die Antwort, die den Erfolg von Natures Argumenten zeigt, verjagt Noreture dann Nature; ausführlicher argumentiert erst Raison, ohne dass allerdings der Großteil ihrer Worte berichtet wird. Das einzige Argument, das wörtlich zitiert wird, ist der drohende Verlust von Pferd und Wagen (V. 2615– 2624). Der Effekt von Noreture und Raison zeigt sich in einem längeren Monolog von Silence, in der sie dann die Quintessenz erreicht: Ne voel perdre ma grant honor, / Ne la voel cangier a menor (›Ich möchte meine hohe Stellung nicht verlieren, / ich möchte sie nicht für eine geringere eintauschen‹; V. 2651f.). Trotz der Ausführlichkeit der Szene ist ausgesprochen unklar, wo dieser Konflikt stattfindet: Nature taucht auf und spricht – ohne Ortsangabe. Ebenso unpräzise erscheint Noreture und sieht, dass Silence und Nature miteinander sprechen. Noreture ist wütend und schaut Nature direkt und aggressiv in die Augen (V. 2590f.). Erst nach dieser Rede erfahren wir, dass die ganze Szene auf

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einem Felsen (V. 2606) stattgefunden hat, auf dem dann auch vermutlich Raison erscheint. Wer oder was dieser Fels ist, bleibt offen (wohl am ehesten Silence, der Kampf wird – so müsste man vielleicht übersetzen – ›über‹ Silence im doppelten Sinne geführt).20 Natürlich hat das ganze Elemente eines forum internum, es könnten hier gut Trieb- und Verstandeskräfte miteinander in und um Silence kämpfen, es gehört aber in die permanent Ambivalenzen verstärkende Erzählweise des Romans, dass hier keine wirkliche szenische und proxemische Klarheit erreicht wird. Man kann diese unklare Situation leicht psychologisch oder auf Realien bezogen deuten: auf Pubertätsprobleme ebenso wie auf das Erreichen der Heiratsfähigkeit oder die Angst vor einer kriegerischen Ausbildung. Auffällig ist jedenfalls, dass die nächste Instanz, die sich in den Krieg um Silence einmischt, nicht als ausgestaltete Instanz geführt wird, sondern als Element der eigentlichen Narration: Es handelt sich um die Musik, die als Praxis, in Form von zwei fahrenden Sängern in das Leben von Silence tritt und von diesem als Fluchtmöglichkeit ergriffen wird – Musik, die sowohl männlich als auch weiblich konnotiert wird und eindeutig mit Begehren zusammenhängt. Ich springe zum letzten größeren Auftritt der allegorischen Figuren und zum großen Auftritt des Zauberers Merlin, die wiederum eng miteinander verknüpft sind: Die ganze Sequenz des Einfangens von Merlin irritiert mich (wie auch der ganze Roman immer wieder irritierend wirkt):21 Der Auftrag und seine Begründung sind mehr als klar, auch das halbe Jahr auf der Suche passt ins Schema (ein Jahr wäre vielleicht typischer). Einen deutlicheren deus ex machina als den alten weißhaarigen Mann, der plötzlich auftaucht und Silence den Trick verrät, wie man Merlin fangen kann, gibt es nicht. Damit wird aber dieser Weißhaarige quasi als eine wohlwollende Gott-Vater-Figur gekennzeichnet. Dennoch widerspricht diese Figur eigentlich der bekannten Bedingung, denn Merlin kann nur von einer Frau gefangen werden; zwar ist Silence eine Frau, zum Fangen selbst 20 Im Grunde wirkt die Nicht-Beschreibung ähnlich wie die vielen Landschaftsandeutungen, auf denen Figuren in mittelalterlichen Illustrationen stehen, die sich aus dem Nichts der Seite erheben. 21 Die Irritation wird auch dadurch nicht gemildert, dass zwar einerseits klar ist, dass diese Episode ein Zitat ist (die nächste Parallele ist die Grisandole-Episode aus der altfranzösischen »Estoire de Merlin«), dass aber andererseits dies nicht die direkte Quelle für den »Roman de Silence« ist, sondern wohl eine gemeinsame Quelle angenommen werden muss (Lecoy, Félix: Le »Roman de Silence« d’Heldris de Cornualle. In: Romania 99 [1978], S. 109–125, bes. S. 110– 112) oder auch ein unabhängiger Rückgriff auf Geoffrey anzusetzen ist, dessen wenig überlieferte »Vita Merlini« so etwas wie eine erste Synthese verschiedener Waldleben- und Prophezeiungsepisoden um eine (der mehreren) Merlinfigur(en) darstellt, deren jeweiliger (keltischer) Ursprung kompliziert nachzuzeichnen ist; vgl. Jarman, A. O. H.: The Merlin Legend and the Welsh Tradition of Prophecy. In: The Arthur of the Welsh. The Arthurian Legend in Medieval French Literature. Hg. v. Bromwich, Rachel u. a. Cardiff 22008, S. 117– 145, hier S. 132–138.

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aber trägt sie nichts Selbständiges bei. Die List selbst aber stammt eindeutig von einem Mann, Silence ist nur ausführendes Organ. Vor dem Hintergrund der Stofftradition ist dieser Mann eindeutig als Merlin selbst zu identifizieren, der sich so wieder aus seinem Waldleben hinaus an den Hof begibt. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des »Roman de Silence«, dass diese Identifikation gerade eben nicht ausgesprochen wird. Diese Lücke kann man einfach als Weglassen einer Selbstverständlichkeit übergehen. Doch ich möchte sie stark lesen, denn dadurch wird die erste Hälfte der Merlin-Figur noch stärker als deus ex machina erkennbar – oder aber eben als Präsenz des Erzählers in seinem Text, der aus seiner Allwissenheit heraus den Protagonisten (der eine Protagonistin ist) auf seinen Weg schickt.22 Die List, mit der Merlin gefangen wird, ist nun wiederum symbolisch aufgeladen, und diese Symbolik liegt merkwürdig quer zu den plötzlich wieder auftretenden und nun um Merlin ringenden allegorischen Figuren: Merlin soll zuerst durch Grillgutrauch angelockt, dann durch salziges gegrilltes Fleisch durstig, durch Honig und Milch weiter aufgebläht und nicht befriedigt und schließlich durch Wein betrunken gemacht werden. (Völlig unklar bleibt übrigens auch, warum Silence eine Nacht allein im Wald bleiben muss, während der Alte die notwendigen Nahrungsmittel herbeischleppt23). Die List wird in die Tat umgesetzt, und nun erscheint, als Merlin durch den Rauch angelockt schon auf dem Weg ist, Noreture und stellt sich ihm in den Weg (V. 5994–5996). Ihr Argument ist einigermaßen merkwürdig: Merlin sei Jahre lang an Wurzeln und Kräuter gewöhnt, er solle jetzt kein Fleisch essen. Aus zwei möglichen Perspektiven fällt dies auf: Einerseits ist der Rat – nimmt man ihn diätetisch real – durchaus richtig, Merlins ausführlich und gargantuesk beschriebenes Unwohlsein nach dem Verzehr zeigt die Konsequenz drastisch. Andererseits aber verweigert hier Noreture, Erziehung, gerade ihr ureigenstes Wesen, denn all die Speisen, mit denen Merlin verlockt wird, sind gerade nicht ein Produkt der Nature, sondern von – mehr oder weniger elaborierten – Zivilisationstechniken: Honig muss gelesen und gegebenenfalls geschleudert, Milch gemolken, Fleisch eingesalzen und gegrillt, Wein gelesen und vergoren werden. Kurz: Merlin, der sich in seiner Waldexistenz nicht an Noreture hält, kommt durch deren Errungenschaften und kompliziert verarbeitete Naturalien in Ge22 Liest man – zumindest auch – den ersten Auftritt von Merlin als Inszenierung des Erzählers im Text, wird wieder die in der romanistischen Forschung diskutierte Frage spannend, ob es sich bei dem Autor um einen Mann oder eine Frau handelt: Vielleicht hat sich hier die Autorin des »Roman de Silence« eben nur mindestens so geschickt verkleidet wie ihre Protagonistin. 23 Der Text bietet expressis verbis keine Lösung für diese Aufgabe an. Allerdings erinnert natürlich die allein im Wald verbrachte Nacht an klassische Übergangsriten – und genau das steht dem Mann Silence ja bevor, allerdings ohne dass er/sie sicher weiß, dass dies ein dauerhafter Übergang sein wird.

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fangenschaft. Nature dagegen treibt ihn, um ihr Ziel zu erreichen, in die Welt der Noreture. Auch Adam, Eva und der Sündenfall erscheinen jetzt, am Ende des Lebens von Silentius und vor dessen finaler Entlarvung, als Argument in der langen Rede der Nature, mit der sie über Noreture triumphiert. Denn sie beweist – für den Text schlüssig, auch wenn mir Zweifel bleiben – in ihrer Interpretation des biblischen Sündenfalls, dass das Essen vom Baum der Erkenntnis ein Produkt der Noreture ist – der Einflüsterung, die als Erziehung, als Abweichung von der Natur gelesen wird (wobei die Natur die Gutheit des Menschen ist24). Was aber das auffälligste an dieser Szene ist: Zwar wird Eva zu Beginn von Noreture erwähnt, doch in der langen Rede der Nature, die die Versuchung dem Teufel zuweist, der als unabhängiges adversatives Prinzip gedacht ist, verschwindet Eva komplett aus dem Sündenfall. Wenn aber die Dinge, die Noreture in der Merlinpassage zugeschrieben werden, rein natürlich sind und für Nature gerade die Artefakte wichtig werden, wenn Nature im gelungenen Versuch, Noreture aus dem Feld zu schlagen, Evas Beteiligung am Sündenfall komplett negiert, dann werden vorgeblich natürliche Zuschreibungen merkwürdig schwammig.25 Mit Merlins Auftreten beginnt so etwas wie der Dritte Akt, das Operettenfinale; Merlin agiert als Dritter-Akt-Komiker, wenn auch der brutalen Sorte (der eben meist selbst lacht).26 Er ist einzig der Enthüllung verpflichtet (coverture und descoverture sind ein den Text durchziehendes Wortpaar, das die semantische und klangliche Entsprechung zu Nature und Noreture liefert). Er ist ein Zauberer, dessen Zauber aber in der Vergangenheit liegt, und der jetzt nur noch Prophezeiungen zu erfüllen und Wissen zu verbreiten hat. Auf Merlin und den arthurischen Background des »Roman de Silence« wird in anderen Beiträgen ausführlicher eingegangen.27 Was mich beschäftigt, ist das Verhältnis von Merlin zu Nature und Noreture. Deutlich unterscheidet es sich von dem der beiden zentralen Allegorien zu Raison, die als weitere allegorische Figur in der ersten besprochenen Szene dazu tritt, die eindeutig mit allen Qualitäten auf Seiten der Noreture angesiedelt wird. Merlin als Teufelssohn (auch das sagt der Text: V. 5791–5793) wäre eindeutig der Noreture (die ja für den Sündenfall via Teufel verantwortlich ist) zuzuordnen, doch agiert er hier als Agent der Nature, die dazu 24 Das Argument lautet: Gott hat nie etwas Böses getan, Adam ist als Ebenbild Gottes geschaffen, also ist in Adam von Natur aus ebenso nur das Gute (V. 6057–6066). Quanques Adans fist de rancure, / Fu par toi, certes, Noreture (›Was auch immer Adam Böses getan hatte, / ist sicherlich durch dich geschehen, Noreture‹; V. 6067f.). 25 Vgl. auch Newman [Anm. 15], S. 146. 26 Vgl. Kochanske Stock, Lorraine: Civilization and Its Discontents. Cultural Primitivism and Merlin as a Wild Man in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 22–36, die von der »controversial inclusion of Merlin« spricht (S. 22). 27 Auf die Figur Merlin wird ausführlicher eingegangen in der Einleitung im Abschnitt 5. Quellen und Stofftraditionen sowie in den Beiträgen von Julia Rüthemann und Stefan Seeber in diesem Band.

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die Errungenschaften der Noreture braucht. Merlin gehört – dies macht seine Existenz als homo silvestris deutlich – nicht der höfischen Welt an, wie sich auch in seinem privilegierten Wissen zeigt. Er ist natürlich auch ein deus ex machina, der die Geschichte zu dem sonst nicht mehr möglichen guten Ende bringt, oder, chemisch gesprochen, ein Katalysator des Endes. Als solcher bleibt er von den Ereignissen unberührt.28 Es ist die Eigenart von Figuren des Dritten – vor allem, wenn sie sich in literarischen Figuren realisieren –, dass sie etablierte Strukturen aufdecken, sie unterminieren und ins Spiel(en) bringen. Merlin scheint gut als Trickster_Figur zu funktionieren, er destabilisiert mit seinem Wissen die Ehe König Ebains, er dringt hinter den Schein der Fassaden der vorgeblichen sexuellen Identitäten. Gleichzeitig aber, und das lässt mich zögern, ihn als Figur des Dritten zu lesen, macht er nichts anderes als essentialistische Kategorien zu decouvrieren. Merlin ist hier nicht der Sohn des Teufels, sondern der Agent einer Nature, die zwar nirgendwo als vicaria dei bezeichnet wird, die aber offenkundig genau diese Funktion erfüllt. Von seiner Existenz als Trickster (die man ja dem arthurischen Ur-Merlin durchaus unterstellen kann) bleibt nur dann etwas übrig, wenn er, wie die Stofftradition vorgibt, als der alte weise Mann, der sich quasi selbst fängt, interpretiert wird – oder wenn man ihn als Agenten des Erzählers liest, der das eigentlich nicht mehr mögliche Happy End durch einen aufgesetzten Trick herbeiführt. Dann aber wird Merlin zu der Figur, die das narrative Experiment ermöglicht, das zeigt, dass eine Frau ganz ohne Magie zu einem sozial erfolgreichen Mann werden kann. Nature und Noreture sind ausgestaltete Figuren – sie sind es nicht nur in den direkten Eingriffen in die Handlung, sondern auch in ihren Reden, die deutliche Zeichen einer ausgeprägten Emotionalität, vor allem in der gegenseitigen Animosität, zeigen –, die eine eigene Ebene in den Text einzuziehen scheinen. Doch wo sind sie genau verortet? Oft sind sie um oder auf Silence zentriert, wie die Beispiele gezeigt haben, sie sind dann ebenso als seelische Instanzen Silences wie auch als eigenständige Agenteninnen lesbar. Nature ist zu Beginn Schöpferin; man könnte also von einer eigenständig agierenden Nature ausgehen, die dann im Fortgang der Handlung zu einer psychisch-essentialistischen Instanz internalisiert wird. Noreture dagegen ist ein Prinzip, das allegorisiert wird und dessen Produkt Silence ist, die das Resultat dieses Prinzips internalisiert und dessen Ergebnis gut findet. Schließlich aber agieren Nature und Noreture wie zwei böse

28 Vgl. Kochanske Stock [Anm. 24], S. 28–33. Allerdings halte ich ihren Schluss, der »Roman de Silence« »seems on surface to support the discourse of cultural primitivism« (S. 35) für problematisch, weil sie damit die permanente sprachliche Ironie des Romans, die ja gerade die höfische Kultur als Basis benötigt, ignorieren muss.

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Feen, indem sie sich um Merlin streiten, direkt auf der Handlungsebene, wenn Nature Merlin am Kragen greift und ihn zum gegrillten Fleisch schleift. Natürlich sind solche Figuren ( jedenfalls gilt das auch für den Parallelfall der »Crône«) immer auch Manifestationen des Erzählers im Text: Dies gilt für Giramphiel (der Noreture entspricht) ebenso wie für die (vielleicht namenlose) Göttin am Schluss der »Crône«, die Gawein (ähnlich wie der alte Weise im Wald im »Roman de Silence«) Instruktionen zum Bestehen des abschließenden Gralabenteuers gibt. Nature mag der Saelde entsprechen. Doch es geht mir nicht um genaue Entsprechungen, sondern um Ähnlichkeiten in der Konstellation: In beiden Fällen garantieren Zauberer und andere plötzlich und unmotiviert auftretende Helferfiguren den erfolgreichen Romanschluss. In beiden Fällen gibt es weibliche Allegorien oder Semi-Allegorien, die als Handlungsmotoren immer wieder präsent sind, die einerseits in ihren drastischen Handlungseingriffen sehr bestimmend wirken – und ohne die man das Ganze doch auch hätte erzählen können. Was leisten sie also? Sie ermöglichen im Text – und so komme ich spät auf die Figur des Dritten zurück – mit ihrer Präsenz so etwas wie das Einziehen einer Ebene, die verbindliche dichotomische Zuschreibungen immer wieder destabilisiert: Gerade im Schlussteil werden Auf- und Zudeckungen, Rohes und Gekochtes, Nature und Noreture sowohl positiv als auch negativ semantisiert und schließlich Eva erfolgreich aus dem Sündenfall herausgeschrieben. Auf einer unteren Ebene sind diese Figuren dazu da – und auch dann wären sie in meinen Augen Figuren eines Dritten –, eine Narration zu ermöglichen, die durch Inkonsequenz und Absurdität und einem schnellen Wechsel der Erzählebenen (wohl auch sprachlich, aber das wage ich als Germanist nicht abschließend zu bewerten) gekennzeichnet ist. Es geht mir darum, dass durch eine solche Destabilisierung verbindlicher Zuschreibungen ein Erzählen möglich wird, das sich zumindest temporär von den damit verbundenen Sinn-Ordnungen freimachen kann – ein Erzählen, das damit einen eigenen (Unterhaltungs-)Wert darstellt. Dass es auch thematische Zentren dieses Erzählens gibt, sei damit nicht in Abrede gestellt – aus der geradezu archetypischen Thementrias Liebe – Macht – Tod als zentrale Themen mittelalterlichen Erzählens ist es hier das Thema der Macht in seiner genealogischen und geschlechtsspezifischen Ausprägung. Nur wäre dieses Thema ohne die Figuren des Dritten viel deutlicher semantisiert – und viel langweiliger präsentiert. Auf einer weiteren Ebene – und mir ist unklar, ob das der Text absichtlich macht – werden Geschlechterzuschreibungen, deren Eindeutigkeit ja das eigentliche Ziel der Erzählung ist, sinnlos, wenn Adam und Eva ein unhierarchisches Eines oder Eva überflüssig, eine Frau auch ohne Hilfsmittel der bessere Mann ist und Merlin zwar von einer Frau, aber letztlich doch von einem Mann, vermutlich sich selbst, gefangen wird. Oder sollen wir uns fragen, was der bärtige

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Waldbruder unter seiner Kleidung wirklich war und ob Merlin eben weder Mann noch Frau ist? Kurz: Mögliche Figuren, Charaktere, des Dritten im Text sind vermutlich in einer Interpretation als Figur des Dritten überbelastet – dazu sind sie in sich nicht konsistent genug. Der Text selbst aber bringt nicht nur die Konventionen und Gewissheiten des höfischen Romans und der höfischen Gesellschaft ins Schwanken, er destabilisiert die Differenz, auf der er selbst aufsitzt in einem permanenten Prozess des Gegenerzählens und wird so zu einer Figur des Dritten angesichts einer dichotomischen Welt. Diese fundamentale Destabilisierung der Welt mittelalterlicher Romane hat zum einen eine poetologische Funktion innerhalb eines sich wandelnden Gattungsspektrums.29 Gerade die ambivalente Merlin-Figur, deren eine Hälfte programmatisch verschwiegen wird, und das vermehrte Auftreten von Allegorien können gleichzeitig als Erweiterung vom wie als Misstrauensvotum gegen das arthurische(n) Erzählmodell gelesen werden. Gleichzeitig macht diese Destabilisierungsbewegung den Text zu einer fundamental vergnüglichen Lektüre, die ihr Stabilitätszentrum hauptsächlich in der Rhetorik ihres Autors findet, die diese Destabilisierung sprachlich gelungen in Szene setzt.

29 »If the Roman de Silence is read in the context of twelfth- and thirteenth-century French literature, it becomes apparent that the romance was in dialogue with various genres, not just Arthurian romance.« Pratt, Karen: Humour in the »Roman de Silence«. In: Arthurian Literature XIX (2003), S. 87–103, hier S. 102. Pratt bietet eine detaillierte Analyse der intertextuellen und sprachlichen Komik des Textes.

Stefan Seeber

Dissimulatio als Überlebensstrategie – Der »Roman de Silence« und das Lachen Merlins

Cornelia Funke hat mehrere im Mittelalter angesiedelte Kinderbücher mit starken, höfischen Heldinnen verfasst, eines davon ist »Der geheimnisvolle Ritter Namenlos«.1 Hier wächst die Königstochter Violetta ohne Mutter auf; ihr Vater weiß nicht, wie man Mädchen erziehen soll, und lässt sie deshalb dieselbe Erziehung durchlaufen wie ihre älteren Brüder. Violetta ist körperlich zu schwach, um so zu kämpfen wie die Jungen, und wird von ihnen als Violetta Spinnenbein verlacht. Ihre Dienerin rät ihr, die Ausbildung abzubrechen und sich auf weibliche Tätigkeiten wie Musizieren oder Handarbeiten zu verlegen, aber Violetta bleibt stur. Sie übt heimlich nachts, erarbeitet sich einen eigenen Kampfstil und kämpft bald besser als alle Ritter am Hof. Als Violetta der Siegespreis eines Turniers werden soll, nimmt sie selbst als schwarzer Ritter verkleidet daran teil, hebt alle Brautwerber aus dem Sattel und gibt sich erst dann ihrem Vater zu erkennen, der ihr letztendlich erlaubt, den Rosengärtner des Schlosses zu heiraten, mit dem sie ein glückliches Leben führt. Violetta Spinnenbein ist damit der positive Gegenentwurf zu Silence, um die es im Folgenden gehen soll. Heldris᾽ Heldin muss ebenfalls ganz und gar in der Männerrolle aufgehen, und sie passt sich so gut an, dass sie als verkleidete Frau die Männer übertrifft – allerdings nicht wie Violetta, indem sie einen eigenen Stil erarbeiten würde, sondern qua guter Anlage und ausgezeichneter Stellung, eine Entwicklung der Heldin gibt es nicht. Dann aber enden ihre ritterlichen Abenteuer damit, dass sie zurück in eine Frauenrolle gedrängt wird, die trotz des unkonventionellen Lebenswegs der Heldin denkbar konventionell gehalten ist: Der König heiratet Silence, nachdem seine untreue erste Frau hingerichtet worden ist und nachdem Nature in einem dreitägigen Reinigungsprozess die

1 Funke, Cornelia: Der geheimnisvolle Ritter Namenlos. Mit Bildern von Kerstin Meyer. Berlin 2001.

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Spuren der männlichen Kämpfervergangenheit von der Protagonistin abgetragen hat.2 Der »Roman de Silence« ist mit diesen Grundanlagen, gerade für moderne Augen, ein sperriger und keinesfalls eingängiger Text. Einige der »Silence«-Interpretationen lassen sich im Sinne dieser Diagnose auch als Versuch lesen, die modernen Potenziale, die im Text angelegt erscheinen, aber eben nicht umgesetzt werden, nachträglich zu aktivieren: Blochs Idee, dass es eine »very undetermined nature of Silence«3 gebe, wo doch eigentlich eher von einer seriellen Determinierung zu sprechen wäre, gehört ebenso hierher wie Stocks These, dass es sich bei der Heldin um einen »charismatic transvestite« bzw. einen »virtual transsexual«4 handele, was Heldris allerdings nirgendwo problematisiert.5 Immer wieder wird versucht, dem Roman ein Oszillieren einzuschreiben, das der Erzähler so gerade nicht realisiert.6 Stattdessen gilt: Figurenanlagen werden nicht entwickelt, die eigentlich erwartbare innere Spannung der zwischen den GenderRollen wechselnden Heldin wird (fast) nicht thematisiert,7 sondern in abstrakte Auseinandersetzungen zwischen Natur und Erziehung ausgelagert, innovative Figurenzeichnung und rhetorische Brillanz sind nicht Heldris᾽ Anspruch. Im Gegenteil scheint sein Roman der Metaebene der höfischen Literatur verpflichtet zu sein, die sich aus althergebrachten Topoi, Figurenschemata und Mustern rekrutiert, welche zum Teil holzschnittartig kombiniert werden. Die »Silence« ist damit eine die Schablonen des zeitgenössischen Erzählens und des literarischen Wissens aufrufende Metadichtung. Formal gibt sich der

2 Ich zitiere nach der Ausgabe: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 32007 (Medieval Texts and Studies 10), hier V. 6671–6676. 3 Bloch, R. Howard: Silence and Holes. The »Roman de Silence« and the Art of the Trouvère. In: Yale French Studies 70 (1986), S. 81–99, S. 89. 4 Stock, Lorraine Kochanske: The Importance of Being Gender ›Stable‹: Masculinity and Feminine Empowerment in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 7–34, hier S. 21 bzw. S. 27. 5 Vgl. auch Pratt, Karen: Humour in the »Roman de Silence«. In: Comedy in Arthurian Literature. Hg. v. Busby, Keith u. Dalrymple, Roger. Cambridge 2003 (Arthurian Literature 19), S. 87–103, hier S. 102: »However, whereas male transvestism was a potential source of great anxiety for androcentric medieval society, the female transvestite, far from threatening the social order, was a safe joke.« 6 Vgl. auch die These von Lehr, Amanda: »Everything in Its Proper Place«: Unruly Bodies and Prosthetic Narratives in »Le Roman de Silence«. In: Allegorica 31 (2015), S. 38–51, hier S. 39, die eine Spannung unterstellt zwischen »the narrator’s refusal to reveal Silence’s genitals and the reader’s unvoiced speculation about what Silence’s breeches are hiding«: An keiner Stelle der Dichtung lässt Heldris seine Rezipienten über die weibliche Ursprungsidentität der Heldin und den Status ihrer männlichen Verkleidung im Zweifel, auch hier oszilliert nichts. 7 Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Annahme Eufemes, der dem Ehebruch abgeneigte Silence sei eventuell homosexuell (V. 3935), die allerdings die Problematik in einem für die Rezipienten leicht durchschaubaren Witz auflöst.

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Roman konventionell,8 allerdings behauptet Heldris gleich zwei Mal, zuerst im Prolog und dann zu Beginn der eigentlichen Handlung um Silence, einen ästhetischen und innovativen Anspruch seines Erzählens. Der bon conte (›good story‹; V. 7), der ein geeignetes Publikum braucht, um goutiert zu werden, ist lateinischen Ursprungs, das ist ein gelehrter und zugleich topischer Quellenbezug. Heldris betont, er habe der Geschichte beim Übersetzen nichts hinzugefügt, was sie verfälschen würde (V. 1667), und damit ist implizit ausgesagt, dass er durchaus die traditionellen Quellen bearbeitet und ergänzt hat. Kernbegriff hierfür ist die mençoigne (V. 1664). Die »Lüge«9 ist, wie Roche-Mahdi in ihrer Übersetzung der Stelle als »fiction« zum Ausdruck bringt, nicht einfach eine Unwahrheit, sondern von poetologischer Qualität. Sie weist terminologisch auf die spätere Gattungsdiskussion über die Grenzen und Lizenzen des Romans voraus – besonders in der Barockzeit wird intensiv erörtert, ob und in welchem Rahmen Lügenhaftigkeit des fiktionalen Stoffes als Transportmittel für eine moralische Belehrung gerechtfertigt werden kann.10 Solche Debatten kennt das Mittelalter, zumal das volkssprachige nicht, allerdings machen gerade solche proto-terminologischen Kennzeichnungen wie die von der Lüge des Erzählens deutlich, dass sich ein Bewusstsein für die Spezifika des Erzählens fiktiver Gegenstände durchaus entwickelt; Heldris stellt damit einen (meta-)poetischen Anspruch in Grundzügen aus, der sich in späteren Romantheorien breit entfalten wird. Hierher gehört auch, dass er bereit ist, das eigentliche Erzählen einer abstrahierenden Sicht auf die Dinge unterzuordnen, die das Schicksal der Heldin nur noch als Spielball eines narrativen Experiments mit didaktischem Anspruch begreift. Deshalb gesteht Heldris Silence keine Autonomie zu, und er kann auch keinen »at least proto-feminist« Text bieten,11 weil er im Gegenteil einen misogynen »basic conservatism« ausstellt.12 Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass Heldris᾽ Anspruch an seine Dichtung nicht gender-theoretisch und auch nicht modern poetologisch gedacht ist, sondern auf die eigene Zeit, ihre Literatur und Sprache referiert: »the Roman de Silence is essentially about the writer’s relation to writing«.13 Dies verortet ihn in prominenter Gesellschaft, seine intertextuellen Bezüge auf den Artus-, Tris8 Schon der zweite Vers des Prologs konstatiert, dass a talle (›to measure‹) gedichtet werde. 9 Vgl. den Artikel mençogne in: Altfranzösisches Wörterbuch. Adolf Toblers nachgelassene Materialien. Bearb. u. hg. v. Lommatzsch, Erhard. Bd. 5. Wiesbaden 1963, Sp. 1392–1396, hier Sp. 1392. 10 Vgl. dazu Penzkofer, Gerhard: »L’art du mensonge«. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry, Tübingen 1998 (Romanica Monacensia 56). 11 Jewers, Caroline A.: The Non-Existent Knight: Adventure in »Le Roman de Silence«. In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 87–110, hier S. 108. 12 Ebd., S. 96. Den augenscheinlichen Widerspruch in der eigenen Argumentation im Vergleich zur Aussage auf S. 108 des Aufsatzes thematisiert Jewers nicht. 13 Bloch [Anm. 3], S. 93.

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tan- und Gralroman machen deutlich, dass er sich dieser Gesellschaft auch sehr bewusst ist und sie gezielt sucht. Der »Roman de Silence« als Metadichtung lässt sich, das möchte ich im Folgenden darlegen, als dissimulatio lesen, er gehört in den Kontext der ironischen Auseinandersetzung mit Gattungstraditionen und Topoi, die häufiger in nachklassischer Literatur zu finden ist und die es auch für Heldris᾽ Dichtung unmöglich macht, ihr einen eindeutigen Ort in der Literatur der Zeit zuzuweisen.14 Mit der Gleichsetzung von Ironie und dissimulatio greife ich (trotz Quintilians Bedenken)15 verkürzend auf die »Nikomachische Ethik« (IV,13) zurück, den politischen Aspekt der Verstellung blende ich aus und konzentriere mich allein auf die literarische Nutzung von dissimulatio und Ironie,16 die durchaus im 13. Jahrhundert eine europäische Konjunktur erleben.17 Dabei geht es mir vor allem um eine eher holzschnittartige Arbeitsdefinition, eine detaillierte Herleitung, besonders vor dem Hintergrund der umfangreichen Forschung,18 würde zu weit führen. Wichtig ist allerdings, dass die unterschiedlichen Facetten des Ironiebegriffs mit berücksichtigt werden, wenn von dissimulatio die Rede ist. Notwendig ist hierfür zuerst eine grundsätzliche Übertragungsleistung des Begriffs aus der Rhetorik in die Sphäre der Poetik. Ironie ist ein rhetorisches Phänomen, dasselbe gilt für Kategorien wie permutatio, contrarium und simulatio.19 Literarische Ironie hat einen anderen Impetus als die der rhetorischen Gerichtsrede, und sie hat deshalb, das ist als zweiter Punkt zu berücksichtigen, auch eine eigene performative Dimension. 14 Vgl. auch Pratt [Anm. 5], S. 88, die betont, dass »the Roman de Silence will always be generically problematic«, aber die grundsätzliche Nähe zum arthurischen Kosmos unterstreicht. Zur Definition und dem Bedeutungsspektrum von dissimulatio vgl. NépoteDesmarres, F. u. Tröger, T.: Art. Dissimulatio, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 886–888, hier Sp. 886: »Die D. wird im allgemeinen der Gedankenfigur der Ironie zugeordnet; sie bezeichnet in Äußerungen das gezielte Zurückhalten von Wissen, um den Gesprächspartner durch Fangfragen zu entlarven.« 15 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Bd. 2: Buch VII–XII. Hg. u. übers. v. Rahn, Helmut. Darmstadt 31995 (Wege zur Forschung 3), IX,2,44, betont, dass dissimulatio nicht den vollen Wortsinn von Ironie zu erfassen vermag. 16 Vgl. dazu einleitend Snyder, Jon R.: Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe, Berkeley u. a. 2009. 17 Althoff, Gerd u. Meier, Christel: Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik. Darmstadt 2011, S. 23. 18 Es liegen zahlreiche, umfangreiche Forschungen zu den unterschiedlichsten Aspekten der Ironie und der Verstellung vor, vgl. z. B. neben Althoff u. Meier [Anm. 17] die Arbeiten von Green, D. H.: Irony in the Medieval Romance. Cambridge 1979, Knox, Dilwyn: Ironia: Medieval and Renaissance Ideas on Irony. Leiden u. a. 1989 (Columbia Studies in the Classical Tradition 16), und den Sammelband: Ironie, Polemik und Provokation. Hg. v. Dietl, Cora u. a. Berlin 2014 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 10). 19 Vgl. einleitend den Artikel von Wirth, Uwe: Ironie. In: Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Wirth, Uwe. Stuttgart 2017, S. 16–21.

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Wenn Isidor in den »Etymologiae« (1,XXXVII,23) definiert: ironia est sententia per pronuntiationem contrarium habens intellectum, dann ist, wie Fritz Peter Knapp betont hat, die Sprecherabsicht entscheidend20 – und komplementär dazu das Decodieren der Ironie, das auf die Ironiesignale angewiesen ist, die geboten werden.21 Das öffnet zugleich das weite Feld der urbanitas,22 Scherzhaftigkeit und Komik, die durch Ironie transportiert werden können, aber nicht unbedingt transportiert werden müssen – Green etwa gelingt es in seinem grundlegenden Buch, das Lachen in jeder Hinsicht völlig auszublenden. Ironie weist mithin über den Rahmen des geschriebenen Wortes hinaus, und zwar in beide Richtungen, zum Produzenten und zum Rezipienten – ob lachend oder nicht, ist dabei zweitrangig. Das führt zur letzten theoretischen Vorbemerkung: Die Divergenz von Gesagtem und Gemeintem, die als Grundkonstellation von Ironie anzusehen ist, kann unterschiedliche Implikationen haben. Für das Verstehen von Ironie ebenso wie für die Entschlüsselung der dissimulatio ist es unabdingbar, diese Implikationen korrekt zu erkennen. Dies ist umso wichtiger, als Ironie auf unterschiedlichen Ebenen23 und in unterschiedlicher Skalierung stattfindet. Sie kann z. B. eine permutatio von Inhalten bedeuten und auch offenes contrarium sein (bei Thierry von Chartres)24 oder sie kann als alieniloquium in den Bereich der Allegorie hineinreichen (bei Isidor).25 Das »Mißverhältnis zwischen Bedeutung und Bezeichnung«, wie Leeman für Ciceros »De oratore« und dessen dis-

20 Knapp, Fritz Peter: Offene und verdeckte Ironiesignale in mittelalterlichen Erzählungen. In: Dietl u. a. [Anm. 18], S. 3–15, hier S. 4. Die Passage aus Isidors Text lautet übersetzt: »Die Ironie ist ein Satz, der durch den Ausdruck des Gegenteils begriffen wird.«: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. u. m. Anm. vers. v. Möller, Lenelotte. Wiesbaden 2008, S. 72. 21 Ironiesignale hat auch Green, D. H.: On Recognising Medieval Irony. In: The Uses of Criticism. Hg. v. Foulkes, A. P. Bern 1976 (Literaturwissenschaftliche Texte. Theorie und Kritik 3), S. 11–55 thematisiert. 22 Die antike Geschichte des Begriffs beleuchtet Ramage, Edwin S.: Urbanitas. Ancient Sophistication and Refinement. Oklahoma 1973; vgl. auch Grant, Mary A.: The Ancient Rhetorical Theories of the Laughable. The Greek Rhetoricians and Cicero. Madison 1924 (University of Wisconsin Studies in Language and Literature 21). Vgl. für die mittelalterliche Anwendung Schnell, Rüdiger: Verspotten und Verlachen. Grenzen und Lizenzen in Literatur und Gesellschaft des Spätmittelalters. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 57 (2010), S. 35–52, und Zotz, Thomas: urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. v. Fleckenstein, Josef. Göttingen 1990, S. 392–451. 23 Vgl. auch Quintilians Zuordnung der Ironie zu Tropen und Figuren in »Institutio oratoria«, IX,2,44–53. 24 Vgl. dazu Becker, Michael: Ironia. Mittelalterliche Ironietheorie von der Antike bis zur Renaissance. In: Frühmittelalterliche Studien 44 (2010), S. 357–393, hier S. 372. 25 Vgl. dazu Knapp [Anm. 20], S. 3, und Becker [Anm. 24], S. 374.

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simulatio-Definition erklärend festhält,26 hat damit zahlreiche Facetten, die auch literarisch wirksam werden können. Auf einige will ich im Folgenden eingehen. Dass das Verbergen eines der Hauptthemen der »Silence«-Geschichte ist, springt dabei sofort ins Auge: Die Heldin verbirgt ihre Sexualität, wechselt die Gender-Identität und täuscht höchst erfolgreich zuerst ein Spielmanns- und dann ein Ritterdasein vor. Erst die Aufgabe, Merlin zu fangen, lässt ihre Verkleidung auffliegen: Sie bringt ihn an den Hof, er enttarnt sie. Das ist der grob vorgegebene Rahmen ihrer Geschichte. Es gibt bestimmte Momente der Weichenstellung, die deutlich machen, wie weitreichend Silences Täuschung ist, drei möchte ich besonders betonen. Die erste Weiche wird gestellt, wenn ihre Eltern den Namen des neugeborenen Kindes als sprechenden Namen (auch das ist ironisch als contrarium zu verstehen) festlegen und bestimmen, dass aus Silentius eine Silentia werden soll, falls denn irgendwann sa nature (›his real nature‹; V. 2076) entdeckt werden sollte. Das Verheimlichen der wahren Identität birgt im Fall der Enttarnung größere Probleme als nur einen eventuell notwendigen Namenswechsel, deshalb ist diese Vorsichtsmaßnahme auf den ersten Blick unsinnig – sie soll stattdessen vor Augen führen, dass mit dem Verheimlichen ein lebenslanges Urteil über die Tochter gesprochen wird: Egal, wie ihre Geschichte endet, sie muss verschwiegen sein. Der Text nutzt die zu Beginn angelegte umständliche Gender-Differenzierung folgerichtig nicht und spricht mehrheitlich einfach von Silence.27 Eine zweite grundlegende Weichenstellung findet im Gespräch zwischen Silence und ihrem Vater statt, an dessen Ende sie die Männerrolle aktiv annimmt, die ihr vorher nur aufoktroyiert war.28 Sie behält die Verstellung bei, auch wenn die couverture (›deception‹; V. 2499) ihr Bauchgrimmen bereitet, Nature verliert den Wettstreit mit Noreture.29 Der Widerstreit von Anlage und Erziehung zeigt dabei komische Stilblüten wie die Überblendung von Sex und Gender in der Rede der Nature, die wohl auch das Ihrige zu Silences Entschluss beitragen, als Mann leben zu wollen: 26 Leeman, Anton D.: Ironie in Ciceros »De Oratore«. In: Leeman, Anton D.: Form und Sinn. Studien zur römischen Literatur (1954–1984), S. 39–47, S. 46. 27 Das berücksichtigen Interpretationen wie die von Lehr [Anm. 6] nicht, die die klare Abfolge von Gender-Rollen in eine Gleichzeitigkeit von gegensätzlichen Konzepten umdeuten: Noreture und Nature tragen den Konflikt aus, bevor Silence in die Welt hinauszieht, und der Erzähler macht sehr klar deutlich, dass Noreture nur temporär die Oberhand gewinnen kann: Segnor, par Deu, Nature a droit! / Car nus hom tel pooir n’aroit / Qu’il peüst vaintre et engignier / Nature al loig, ne forlignier (›Lords, by God, Nature is right! / No man has the power, in the long run, / that he can vanquish and outwit / Nature, or betray heredity‹; V. 2295–2298). Deshalb ist Silence immer nur un malvais home (›a defective male‹; V. 2602). Die Abfolge der Gender-Identitäten muss am Ende zur Rückkehr zu Nature führen. 28 Vgl. auch die Einschätzung von Jewers [Anm. 11], S. 98: »Heldris toys with gender«. 29 Zum problematischen Verhältnis von Nature und Noreture vgl. auch: Gilmore, Gloria Thomas: »Le Roman de Silence«: Allegory in Ruin or Womb of Irony? In: Arthuriana 7:2 (1997), S. 111–128, hier S. 112.

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»Tol toi de chi!« cho dist Nature. / »Va en la cambre a la costure, / Cho violt de nature li us. / Tu nen es pas Scilentius!« (›»Desist from all of this!« said Nature. / »Go to a chamber and learn to sew! / That’s what Nature’s usage wants of you! / You are not Silentius!«‹; V. 2527–2530) – die Natur fordert eine gesellschaftlich den Frauen zugeordnete Tätigkeit als Ausweis des natürlichen Geschlechts ein, die Männerrolle offeriert wesentlich mehr Spannung und Abenteuer. Die dritte Weichenstellung besteht in der ex machina aufgerufenen, intertextuell verankertes Vorwissen über den Zauberer abrufenden Konstellation, dass nur eine Frau Merlin einfangen kann.30 Hieraus folgt, dass Merlin Silence enttarnt und sie sodann zurück ins Glied expediert – sie wird verheiratet und muss den Mund halten, wie es sich für eine Frau gehört (Sens de feme gist en taisir [›A woman’s role is to keep silent‹; V. 6398]), das Schweigen über die angenommene Identität wird abgelöst durch ein neues Schweigen als Ehefrau. Wichtig ist bei alledem für das Funktionieren der ironischen Grundanlage, dass der Erzähler sich die größte Mühe gibt, die Rezipienten angemessen durch den Wirrwarr zu lenken. Heldris lässt sein Publikum niemals über die Identität der Heldin im Unklaren, d. h. die Rezipienten werden immer und eindeutig auf die dissimulatio hingewiesen, so dass es nicht zu Missverständnissen kommen kann. Auch an Wegscheiden der Erzählung kommt dies immer wieder zum Tragen, etwa wenn sich Silence dazu entschließt, Spielmann zu werden:31 Sollte er irgendwann doch wieder als Frau auftreten dürfen, wird Silence nach eigenem Ermessen die Langeweile der weiblichen Existenz durch die Fähigkeit zu musizieren leichter ertragen können (V. 2870–2872). Es herrscht immer Transparenz über die Figur und ihren Status. Diese Einsicht in die Prozesse und ihre Konsequenzen unterscheidet die Rezipienten von den Figuren der Handlung, die nicht verstehen, was vor sich geht und das Sichtbare unhinterfragt als das Wahre annehmen. Am nächsten kommt Silence einer Enttarnung, als sie als Malduit der Spielmann zurück an den Hof der Eltern kommt und von einem alten Mann ›enttarnt‹ wird: »Sire,« fait il, »nel quier celer. Je me fac Malduit apieler.«

30 Vgl. zu den Vorläufern Paton, Lucy Allen: The »Story of Grisandole«: A Study in the Legend of Merlin. In: PMLA 22 (1907), S. 234–276; zu Merlin als prophetischer Figur im Allgemeinen Zumthor, Paul: Merlin: Prophet and Magician. Translated by Victoria Guerin. In: Merlin. A Casebook. Hg. v. Goodrich, Peter H. u. Thompson, Raymond H. New York, London 2003, S. 131–161, sowie zu Merlin im »Roman de Silence« im Speziellen Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 6– 21. Vgl. zu Merlin auch die Beiträge von Matthias Meyer und Julia Rüthemann in diesem Band. 31 Zur Tradition der Frauen, die als Spielleute durchbrennen, vgl. Krause, Kathy M.: »Li Mireor du Monde«: Specularity in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 85–91, S. 91.

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Et li viellars dont li respont: »Bien sai que vostres nons despont, Car malduis cho est mal apris, Si estes vos, qu’il n’i a pris Ne los a vos n’a vo parage D’avoir mené si fait usage.« (V. 3575–3582) »Sir,« said the boy, »I won’t try to hide it. / I call myself Malduit.« / And the old man replied, / »I know very well what your name means: / Malduit means ›badly brought up,‹ / and that suits you well, for neither you / nor your family wins any praise or prizes / for such a counterfeit upbringing.«

Die fehlerhafte Erziehung geht tiefer,32 als der alte Mann in diesem Augenblick zu erkennen gibt; er bezieht sie allein auf Malduits bzw. Silences Ausbruch aus dem Hof und die Zeit als lernender Spielmann – aber die Rezipienten blicken bereits zu diesem Zeitpunkt hinter diese Fassade und erkennen den tieferen Sinn des selbstgewählten Namens, den der Erzähler auch explizit benennt, [c]ar il se tient moult por mal duit (›because he thought himself very badly brought up‹; V. 3178). Das Verständnis ist notwendig für die Rezeption, die Figuren der Handlung dürfen hingegen nichts davon erfahren, diese Wissenshierarchisierung prägt das gesamte Konzept des Romans und ist entscheidende Voraussetzung für die zugrunde liegende ironische dissimulatio, die sich nur entfalten kann, solange die Rezipienten ein klar strukturiertes Wissen über nature und noreture der Titelfigur haben.33 Auf diesem Grundstock bauen nun unterschiedliche Stränge der Handlung auf, die ich unter den Oberbegriffen der dissimulatio und simulatio34 sowie der permutatio und des contrarium fassen will. Folgt man der »Rhetorica ad Herennium«, bedeutet contrarium das Ausdrücken des Gegenteils des Gemeinten, die permutatio bezeichnet hingegen das Vertauschen in allgemeinerer, nicht ausschließlich gegensätzlicher Art und Weise und ist nicht zwingend identisch mit dem contrarium.35 Mir scheint diese Differenzierung deshalb angemessen, 32 Deshalb kann man Silences Figurenzeichnung auch nicht das Ergebnis einer »autochthonous invention of herself« bezeichnen, wie Bloch [Anm. 3], S. 93, das tut. 33 Vgl. wiederum Bloch [Anm. 3], S. 98: »The Roman de Silence is in fact all about misreading« – allerdings allein auf der Figurenebene. 34 Nach Quintilian, Institutio oratoria VI,3,85 hängen simulatio und dissimulatio als Modi des Vortäuschens eng zusammen, Rahn übersetzt simulatio mit »Sich-Stellen«, dissimulatio mit »Sich-Verstellen«: Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Bd. 1: Buch I–VI. Hg. u. übers. v. Rahn, Helmut. Darmstadt 31995 (Texte zur Forschung 2), S. 749. 35 Ich nutze die Ausgabe [Cicero]: Rhetorica ad Herennium. Übers. v. Caplan, Harry. Cambridge 1954 (Loeb Classical Library 403), IV.XXXIV.46: Permutatio est oratio aliud verbis aliud sententia demonstrans. Ea dividitur in tres partes: similitudinem, argumentum, contrarium. Quintilian nennt das inversio und ordnet es der Allegorie zu: Institutio oratoria, VIII,6,44, auch Caplan übersetzt die permutatio der Herenniumsrhetorik als »Allegory« ins Englische (»Allegory is a manner of speech denoting one thing by the letter of the words, but

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weil Heldris ein umfangreiches Arsenal an Ironieformen bespielt und dabei deutlich auf Nuancen setzt.36 Die dissimulatio der verschwiegenen eigenen Identität wird ergänzt um die simulatio eines Spielmanns- bzw. Ritterdaseins, wobei die angenommenen Lebensformen jeweils optimiert werden. Silence ist ein besserer Spielmann als ihre Lehrmeister, und ihre Tapferkeit stellt König Evan in den Schatten: Das ist eine permutatio der Rollen. Das könnte ungeheuerliche Implikationen haben (und dieses Potential hat wohl, wie oben angedeutet, auch die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften auf diesen Text gelenkt), denn die permutatio der simulierten Rolle zeigt ein besseres Handeln auf, an dem man sich exemplarisch orientieren könnte, der falsche Mann ist das contrarium des tatsächlichen, indem er ihn überbietet. Die Didaxe bleibt im »Roman de Silence« jedoch völlig unterbelichtet. Die dissimulatio der weiblichen Identität und die simulatio der neuen männlichen Identitäten hinterfragen in keiner Weise die gegebenen Rollen, Muster und Strukturen, und der Umstand, dass Silence nicht nur das perfekte Kind, sondern auch der perfekte Spielmann und der perfekte Ritter ist, führt zu keiner Veränderung des Umfelds. Ganz im Gegenteil operiert Heldris intensiv mit Stereotypen und bekannten Topoi, was zu bisweilen komischen Konsequenzen führt: Wenn anhand der Königsgattin Eufeme die prinzipielle Schlechtigkeit der Frauen vorgeführt werden soll, geschieht dies in der Interaktion der Königin mit einer als Mann verkleideten Frau, Silence, die nicht auf die Verführungskünste der Verheirateten einzugehen bereit ist. Dass die Königin als weiblicher Teufel hinterhältig und lüstern ist, betont der Erzähler gleichwohl mit Nachdruck: Or oiés quel desloialté / Avint et ques mesaventure, / Con faite rage et quele ardure / Cis Sathanas en soi aquelt (›Now you shall hear what treachery / and evil deeds transpired, / what deceitful madness and burning lust / lurked in this female Satan!‹; V. 3696– 3699),37 den Umstand, dass die von Eufeme Umworbene ebenfalls weiblich ist, another by their meaning. It assumes three aspects: comparison, argument, and contrast«, S. 345). Vgl. außerdem Marcus Tullius Cicero: De oratore/Über den Redner. Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt u. hg. v. Merklin, Harald. Stuttgart 1976, Buch 2, § 261, S. 376f. 36 Dabei ist auch zu beachten, dass die Praxis der Ironie weiter reicht als die theoretische Rahmensetzung, vgl. Becker [Anm. 24], S. 383: Heldris vermag Nuancen zu erreichen, die von der Poetik und Rhetorik in dieser Detailliertheit nicht aufgefahren werden. In dieser Hinsicht ist auch Knapps Caveat bezüglich der Reichweite des Ironischen in der mittelalterlichen Theorie zu relativieren (Knapp [Anm. 20], S. 5). 37 Wieder macht der Text eindeutig klar, wie die Rollen verteilt sind, dass Eufeme sich in eine als Mann verkleidete Frau verliebt, so dass keine Unsicherheit auf Seiten der Rezipienten möglich ist: le vallet ki ert meschine (›this young man who was a girl‹; V. 3704) muss schlimmer leiden als Joseph unter dem Pharao, weil Eufeme ihn mehr liebt als Tristan Isolde (V. 3700–3709). Literarische und biblische Vorbilder werden hier rein quantitativ instrumentalisiert und sind bezüglich ihrer inhaltlichen Aussagekraft auf ein absolutes Minimum reduziert – die Idee, Tristans und Isoldes trankinduzierte und immerhin gegenseitige Liebe mit dieser Konstellation zu vergleichen, liegt eigentlich nicht nahe, der kleinste gemeinsame

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erwähnt er explizit, macht ihn aber poetisch nicht nutzbar. Stattdessen wird mit grobem Raster gearbeitet und auf Differenzierung kein Wert gelegt. Dasselbe gilt für die Darstellung des Königs, der willensschwach und fahrig erscheint, oder für die Spielleute, die als grausam und gierig porträtiert werden. Der neue, hybride Held Silence operiert in einem alten Umfeld, aus dem er erwächst und in das er schlussendlich re-integriert wird,38 ohne dass die Abenteuerzeit als Ritter Spuren hinterlassen hätte, die Nature nicht tilgen könnte.39 Der Erzähler trägt diese Konfrontation zwischen neuer Heldin und altem System im Gegenteil so vor, dass Brüche nicht aufscheinen: Zur Beschreibung Eufemes, der »villainess par excellence«,40 etwa rettet er sich in misogyne Stereotypen und in Komik, wenn er die Königin vermuten lässt, Silence sei ein erite, ein Ketzer und damit homosexuell (V. 3935). Die Möglichkeit, über unterschiedliche Frauenrollen oder Ritterlichkeitskonzepte nachzudenken, lässt Heldris ungenutzt verstreichen, Silence ist bis zu ihrer Entdeckung durch die Männerrolle definiert. Sie nutzt ihre Position aber nicht, um die Gegebenheiten des Königshofes aktiv zu hinterfragen – sondern fügt sich nach Abschluss des Abenteuers wieder in die Ordnung ein, die nicht grundsätzlich angetastet erscheint. Im abgesicherten Modus einer Inkognito-Abenteuerzeit jedoch lässt Heldris alles aus den Fugen geraten, was gemeinhin einen höfischen Roman ausmacht:41 Er ironisiert das Konzept der Ritterschaft (das von einer Frau besser ausgefüllt werden kann als von einem Mann), das des Königtums (denn der König ist Silence unterlegen und braucht sie, am Ende heiratet er nach ihrer Enttarnung den ehemaligen besten seiner Ritter), sogar des Spielmännischen (für das die Frau mehr Talent hat als der Berufsmusiker) – die dissimulatio Silences ist nicht nur ihre Strategie, um ihr Erbe zu erhalten, sondern dient auf einer Metaebene zugleich dazu, das höfische Inventar des Romans gründlich durcheinander zu bringen und ironisch zu spiegeln. Diese ironische Verkehrung wird immer wieder durch komische Einsprengsel ergänzt. Die misogyne Charakterisierung Eufemes gehört hierher,42 auch Spiele

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Nenner ist der Ehebruch, auf den angespielt wird. Heldris verschlagwortet seine literarischen Vorbilder, um sie nutzbar zu machen und beruft sich im Sinne von Wissensspeichern, die die Rezipienten mit dem Erzähler teilen, auf sie. Pratt [Anm. 5], S. 89, sieht dies sogar als Grundlage für eine komische Lesart des ganzen Textes. Krause [Anm. 31], S. 89: »Nobody improves, or indeed really changes, in the romance; nobody is inspired by the reflection in Silence of beauty either earthly or eternal to truer selfknowledge or greater chivalric prowess«. Ebd. Vgl., allerdings mit anderer Schlussfolgerung zu diesem Ermöglichungsraum, auch Lehr [Anm. 6], S. 47: »The central narrative of »Le Roman de Silence« hinges on the possibility of deviance from what the King calls »proper place««. Vgl. auch Pratt [Anm. 5], S. 87.

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mit dem Namen der Protagonistin, wenn Eufeme ihr etwa über den Mund fährt mit den Worten Silences, trop avés parole! (›Silence, you talk too much‹; V. 6274), oder die Situation, in der der Erzähler die Schadenfreude der Rezipienten anregen will, indem er auf den von Blähungen geplagten, vollgefressenen Merlin verweist und meint, man könne sich bei diesem Anblick das Lachen nicht verkneifen (V. 6130).43 Diese Komik fußt auf der dissimulatio und folgt aus der Grundkonstellation, sie bleibt aber situativ gebunden, es gibt keinen roten Faden der Gender-Troubles, die den Text komisch aufladen würden oder durch die es möglich würde, Silence deutlicher zu positionieren. Stattdessen bringt Heldris zum Schluss Merlin als »poet of contexts«44 und als Gegenspieler mit eigener ironischer Agenda aufs Tapet. Die dissimulatio wird dadurch gleichsam verdoppelt, denn neben den Erzählerblick auf Silence, der für die Rezipienten immer transparent ist, rückt ein zweiter, nicht unmittelbar einsichtiger Blick einer undurchsichtigen Figur. Damit reicht Merlins Funktion über den bloßen intertextuellen Bezug auf die Grisandole-Geschichte hinaus, die auf derselben Konstellation wie »Silence« aufbaut. Merlins Präsenz ist deshalb doppelt lesbar, zum einen als Ergebnis eines intertextuellen Spiels, und in dieser Hinsicht ist sein Lachen in einer langen Tradition der Figurenzeichnung begründet als »apparently motiveless laughter of a captive supernatural being, caused by his superior knowledge of the truth«, wie Paton zur Grisandole-Geschichte anmerkt.45 Zugleich hat Merlin aber auch eine spezifisch auf diesen Roman und seine Kontexte bezogene Funktion, die sich nur im Zusammenspiel der täuschenden und verbergenden Figuren Silence und Merlin erschließt. Sein Lachen ist in dieser Hinsicht ein Schlüssel zum Textverständnis selbst und nicht bloße motivlose Geste. Lloyd formuliert die These, dass es sich um ein »sardonic laughter« handele »[which] holds the key to the romance«.46 Ob man tatsächlich ein sardonisches Lachen annehmen muss, wie dies auch Thorpe tut,47 scheint mir allerdings fraglich: Sardonisches Lachen ist

43 Vgl. allg. ebd.: »Repetition, exaggeration, incongruity and the breaking of taboos are all techniques exploited by Heldris to amuse his audience«. Vgl. weiters ebd., S. 99, zur »comic exaggeration« im Falle Merlins. 44 Roche-Mahdi [Anm. 30], S. 7. 45 Paton [Anm. 30], S. 263. 46 Lloyd, Heather: The Triumph of Pragmatism: Reward and Punishment in »Le Roman de Silence«. In: Rewards and Punishments in the Arthurian Romances and Lyric Poetry of Medieval France. Essays Presented to Kenneth Varty on the Occasion of his Sixtieth Birthday. Hg. v. Davies, Peter V. u. Kennedy, Angus G. Cambridge 1987, S. 77–88, hier S. 88. 47 Thorpe, Lewis: Merlin’s Sardonic Laughter. In: Studies in Medieval Literature and Languages in Memory of Frederick Whitehead. Hg. v. Rothwell, William u. a. Manchester, New York 1973, S. 323–339.

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grimmiges Hohngelächter ohne echtes Gefühl48 – und genau das stellt Merlin in seinen wiederkehrenden Lachanfällen im »Roman de Silence« nicht aus.49 Denn zum einen erscheint sein Lachen als kreatürliche Geste im Sinne einer Reaktion auf liminale Erfahrungen, als »Ausdrucksform einer Krise«, so wie es Plessner beschrieben hat.50 Merlin kann nicht sprechen, er muss lachen und stirbt fast dabei: Tels voloirs de parler li vient / Qu’il a moult grant painne se tient (›He wanted to speak out so badly / that he could scarcely restrain himself‹; V. 6253f.). Zweitens und für mein Verständnis des Textes wichtiger, amüsiert es Merlin in der Konstellation, in der er sich am Hof befindet, zu schweigen: Tant li delite li taisirs / Que parlers li est nonplaisirs (›He took such great delight in silence / that speech could offer him no pleasure‹; V. 6281f.). Es braucht drei Tage Kerker und die Todesdrohung, um ihn zum Reden zu bringen, und wäre Merlins Lachen tatsächlich ein sardonisches Lachen, ginge er lachend in den Tod, statt zu reden. Deshalb scheint es mir richtiger, Merlin nicht als Sardoniker, sondern als Ironiker zu sehen: Er kombiniert seine überlegene Einsicht in die Dinge und ihre Hintergründe mit dem Lachen eines von den Vorgängen selbst Betroffenen: De nos .v. ris (›I laughed at the five of us‹; V. 6477). Merlins Mehrwissen positioniert ihn in der Wissenshierarchie des Textes für kurze Zeit noch über den Rezipienten, denen die dissimulatio Silences immer offen und decodiert vor Augen liegt. Im Falle Merlins muss die Entschlüsselung hingegen erst noch geleistet werden, was der Text auch explizit als nur sukzessive Enthüllung ermöglicht (V. 6489f.). Der Zauberer ist mehr als nur ein verwildertes anderweltliches Wesen. Roche-Mahdi hat die These aufgestellt, dass Merlin mehrmals inkognito auftritt, zuerst als weiser alter Mann am Hofe des Königs, der Malduit enttarnt, dann als Wegweiser und Ratgeber Silences zur Überlistung des Zauberers im Wald.51 Merlin inszeniert folgerichtig seine eigene Gefangennahme und gibt sich selbst bewusst dem Spott preis, wenn er vom salzigen Fleisch durstig geworden Honig und Wein trinkt, bis er aufgebläht und lächerlich am Boden liegt – eine Situation, in der der Erzähler zu Schadenfreude aufruft (V. 6129). Ganz bewusst wird die Szene der Gefangennahme ironisch gebrochen, indem (mit direktem Rückbezug auf den Widerstreit zwischen Noreture und 48 Vgl. den Eintrag »Sardonisches Lachen (Sardonius risus, Sardoniasis)«, in: Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., 14 (1889), S. 328: »krampfhaftes, mit heftig wechselnden Gesichtsverzerrungen verbundenes Lachen ohne äußern Anlaß. Der Ausdruck findet sich schon bei Homer (Odyssee, 20, 302) und soll von einem auf Sardinien wachsenden Kraut (bei Vergil Sardoa herba) hergenommen sein, dessen Genuß den Mund wie zum Lachen verzieht. Allgemeiner bezeichnet derselbe auch ein gezwungenes oder höhnisches Lachen«. 49 Gilmore [Anm. 29], S. 118, argumentiert ähnlich: »As Merlin observes his fall, and laughs at himself, he creates irony«. 50 Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Arnhem 1941, S. 14. 51 Roche-Mahdi [Anm. 30], S. 10–15.

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Nature um Silence) auch eine ähnliche Konstellation für Merlin in Anschlag gebracht wird. Noreture will dem das Waldleben gewohnten Zauberer den Genuss gebratenen Fleisches verwehren, da er doch inzwischen Kräuter und Wurzeln bevorzugen müsse, und beklagt sich, dass Nature ihre Arbeit zunichtemache (V. 5996–6000). In der Natur des Menschen liegt es nämlich, die Kulturleistung des gezielt zur Zubereitung von Speisen genutzten Feuers in Anspruch zu nehmen, oder anders gesagt: Die Kultur ist die Natur des Menschen und auch des Zauberers. Das ist auch der Ausgangspunkt für Merlins späteres Verhalten bei Hofe, die paradoxe Verkehrung der Verhältnisse und die Sinnlosigkeit allen Strebens wird von ihm durch Lachen bloßgestellt. Merlin lacht über den Schuhkäufer, der sterben wird, bevor er seine Schuhe tragen kann, er lacht über die verborgenen Schätze, die alles Bitten sinnlos machen und die doch nicht zu finden sind, er lacht über die Nichtigkeit aller moralischen Standards, wenn der Pfarrer ein Kindsvater ist52 und vor allem amüsiert er sich über die Täuschung bei Hof, die höfische Gewissheiten unterläuft und den misogynen Blick auf die Ehebrecherin Eufeme noch intensiviert. Das Lachen über sich selbst zeichnet den Zauberer dabei besonders aus, denn er sieht sich als Opfer Silences, die ihn betrogen hat: Silences ra moi escarni / En wallés dras, c’est vertés fine, / Si est desos les dras meschine. / La vesteüre, ele est de malle (›Silence, on the other hand, tricked me / by dressing like a young man: in truth, / he is a girl beneath his clothes. / Only the clothing is masculine‹; V. 6534–6537). Hier konstatiert Merlin die Grenzen seiner eigenen Einsicht. Gott hilft Silence dabei, Merlin zu fangen (V. 6106), die Kraft des Zauberers ist also nicht unbegrenzt. Er kann zwar der eigenen Gefangennahme zuarbeiten,53 ist aber nicht autonom gestaltende Kraft, sondern Spielball einer dissimulatio und ihrer Auflösung, die über den Rahmen seiner Einsicht hinausgeht und sich ihm erst in der Auflösungsszene am Ende der Dichtung ganz erschließt. In seinem lachenden Kommentar stellt er noch einmal die Versuchsanordnung aus, die nun zu Ende geht und deren Spuren von Nature getilgt werden; Merlin selbst verschwindet sodann spurlos aus der Handlung.54 52 Thorpe [Anm. 47], Tabelle S. 338, zeigt die Tradition dieser Motive auf. Paton [Anm. 30], S. 267, weist darauf hin, dass das alte Lachen im »Roman de Silence« neu funktionalisiert wird. Lloyd [Anm. 46], S. 88, hingegen weist auf eine Ähnlichkeit von Merlins Verhalten zu dem des Einsiedlers in Voltaires »Zadig« hin und macht damit darauf aufmerksam, dass das Spiel mit dem Lachen auch über die Epochenschwelle hinaus Geltung behält. 53 Saunders, Corinne: Religion and Magic. In: The Cambridge Companion to the Arthurian Legend. Hg. v. Archibald, Elizabeth u. Putter, Ad. Cambridge 2009, S. 201–217, hier S. 201, weist auf die Koexistenz von Magie und Religion im arthurischen Kontext hin; Heldris hierarchisiert diese Kräfte unmissverständlich. Für den »Green Knight« attestiert Saunders ebd., S. 208, eine mythische Kraft des Lachens, die die Figur Merlins transzendiert, in diese Richtung scheint auch die Konstellation des »Roman de Silence« angelegt zu zielen. 54 Zu seinem Verschwinden vgl. Gilmore [Anm. 29], S. 119.

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Da hat der Zauberer allerdings bereits seine wichtigste Funktion erfüllt: Er macht zuvor deutlich, wer zu bestrafen und wer zu belohnen ist, und der König folgt ihm, dabei wiederum seine eigene Schwäche und Inkompetenz ausstellend, ebenso, wie er zuvor Eufemes Vorgabe gefolgt ist, den Zauberer fangen zu lassen. Merlin bewertet und lenkt gleichermaßen und gibt den Rezipienten zum Schluss der Dichtung den Schlüssel zur ironischen Lesart des Textes an die Hand, ohne dass es dieser letzten Bestätigung bedurft hätte: Zu zahlreich sind die Hinweise auf die ironische Gestaltung des Romans. Gerade diese offengelegte metapoetische Konstruiertheit macht den »Roman de Silence« aus, der ja keine sauberen Verfugungen der Handlungsteile oder sublime Hinweise auf mögliche Sinndimensionen der Dichtung bietet, sondern sehr deutlich darlegt, wie der Text ganz einfach verstanden werden soll. Die Voraussetzungen für eine kohärenzstiftende lectio difficilior sind dabei selbst diffizil, denn der Roman macht zahllose Volten, die ins Paradoxe reichen: In der simulatio des Ritterlebens erreicht Silence einen eigenen Erbanspruch gegen die Tradition – und restituiert dabei zugleich das althergebrachte Frauenbild. Nur durch Schweigen kann das Schweigen umgangen werden, das Frauen auferlegt wird, und sobald das Schweigen durchbrochen wird, ist die mit dem sprechend-schweigenden Namen belegte Heldin zum Schweigen verdammt: Diese Wendungen sind kaum rational aufzufangen, gerade weil sie nicht entfaltet, sondern eingekapselt in der Abenteuerzeit vorgeführt werden. Das Invertieren des Höfischen, der Gender-Rollen, der ritterlichen Ethik, der Konzepte von amor, amicitia, Vasallität wird abschließend als Spiel etikettiert, das man mit Lachen betrachten soll, einem Lachen, das die Konflikte im Happy End ausblendet und nicht reflektiert.55 Der Schluss ist wohl auch deshalb denkbar knapp gehalten. Alles löst sich in Wohlgefallen auf, Merlin geht, Eufeme stirbt, Silence tritt an ihre Stelle, das alte Erbrecht wird restituiert. Der besondere Effekt dieser Auflösung besteht darin, dass Heldris sich gerade nicht dazu gezwungen sieht, die ganzen Potenziale offensiv zu entfalten, die moderne Interpretinnen und Interpreten im »Roman de Silence« angelegt sehen. Stattdessen operiert die Dichtung defensiv: Der Erzähler inszeniert einen magister ludi Merlin, der die Fäden zusammenführt und die Verwicklungen löst. Der besondere Effekt dabei ist, dass sich Merlin als Teil der fehlerhaften Welt begreift, über die er lacht. Damit erinnert er an einen Humo-

55 Dies schließt an die umfangreiche, seit der Antike andauernde Debatte um die Harmlosigkeit des Lachens an, vgl. dazu Ueding, Gert: Rhetorik des Lächerlichen. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hg. v. Fietz, Lothar u. a. Tübingen 1996, S. 21–36.

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risten modernen Zuschnitts,56 im Sinne Jean Pauls ist dies ein Lachen, in dem noch »ein Schmerz und eine Größe ist«.57 Diese Anordnung macht den »Roman de Silence« nicht zu einem großen literarischen Kunstwerk, sie stellt aber deutlich den Anspruch Heldris’ aus, einen metapoetischen Schlüsselroman zu schreiben: Der »Roman de Silence« zeigt auf diese Weise die Begrenztheit fiktionaler Sinnstiftung im Inkognito, er legt seine Verfasstheit als Patchwork aus Reminiszenzen und Versatzstücken literarischer Prätexte und Traditionen offen, und er lädt ein zum Lachen über die Tollheit der Welt. Besonders diese Deeskalationsstrategie am Ende der Dichtung sollte ernst genommen und in der Poetik ihrer Zeit verortet werden, denn nur wenn die depotenzierte dissimulatio als solche akzeptiert wird, bleibt der Roman im Gefüge seiner Zeit zu lesen und bietet er die delectatio, die ein wesentliches Wirkziel solcher Literatur ist. Diese Freude an der Dichtung ist dabei auch und intensiv mit dem Netz intertextueller Verweise und Versatzstücke verknüpft, die Heldris auffährt und die hohen Wiedererkennungswert haben. Die Dichtung rekurriert auf die großen Werke der Zeit, sie zeigt auch ein Potential des Erzählten auf, sie baut aber ebenso bewusst einen Filter ein, der allzu radikale Konsequenzen nicht zulässt. Damit soll nicht der modernen Forschung das Recht abgesprochen werden, immer neue Theorien und Deutungsansätze an den Roman heranzutragen. Die lectio difficilior ist reizvoll und kann erhellend wirken. Trotzdem muss man anerkennen, dass auch die lectio facilior, die Heldris seinem Text ostentativ einschreibt, ihre Berechtigung hat und dass sie wohl die plausibelste Lesart des Romans zu seiner Zeit gewesen ist, dass die Dichtung also schlicht frauenfeindlich gemeint gewesen ist. Der Roman kann kontrovers gelesen werden, gerade weil er so wenig auserzählt. Was er offen und direkt ausspricht, ist allerdings misogyn, konservativ auf die Bewahrung einer alten Ordnung bedacht und streng hierarchisch gedacht, und das sollte die Forschung nicht ausblenden, um Heldris etwa als Proto-Feministen zu lesen. Das bringt mich abschließend zu Violetta Spinnenbein zurück, die eine Geistesverwandte in einer zweiten Prinzessin von Cornelia Funke hat:58 Isabella ist Königstochter und will partout keine Prinzessin sein, ihr Vater lässt sie zur 56 ›Humor‹ ist als philosophische Kategorie prinzipiell neuzeitlich zu denken, mittelalterlich ist der Begriff durch die Humoralpathologie anders besetzt. Merlin wäre damit eine Art ProtoHumorist. Vgl. zum Themenkomplex von Lachen, Komik und Humor im Mittelalter z. B. meinen Beitrag zu Wolframs »Parzival«: Seeber, Stefan: Medieval Humour? Wolfram’s »Parzival« and the Concept of the Comic in Middle High German Romances. In: MLR 109 (2014), S. 417–430. 57 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule. Hg. u. komm. v. Miller, Norbert. Nachwort von Höllerer, Walter. München 1974 (Studienausgabe), VII, § 33, S. 129. 58 Cornelia Funke: Prinzessin Isabella. Bilder von Kerstin Meyer. Hamburg 1997.

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Strafe dafür, dass sie ihre Krone in den Goldfischteich wirft, in der Küche schuften und den Schweinestall ausmisten, aber ihr gefällt das wahre Leben, mit dem ihr Vater sie eigentlich zum Prinzessinnendasein bekehren will. Am Ende finden beide einen Kompromiss – sie trägt die Krone zum Brombeerpflücken und er lässt sie ihren Freiheitsdrang ausleben. Funke zeigt für ihr Kinderpublikum den Sieg des Mädchens über den Vater (Violetta) bzw. den Kompromiss zwischen Erwachsenem und Kind auf Augenhöhe (Isabella) auf und propagiert, durchaus mit didaktischem Anspruch, ein Modell des Generationen- und Geschlechterzusammenlebens, das auf Ausgleich und das Eröffnen von Möglichkeiten ausgerichtet ist: Das ist ein moderner Zugang zur Thematik. Heldris hingegen stellt seine Protagonistin in eine Welt, in der sie nur verlieren kann, und je mehr sie in ihrer Verkleidung an Ansehen, Kampfesmut und Kompetenzen gewinnt, desto größer wird die Fallhöhe zurück ins fremdbestimmte Frauenleben. Zeitgenössisch muss der temporäre Ausbruch ein Skandalon gewesen sein, auf das man durch Einhegung mit Lachen reagierte, heute muss umgekehrt die Affirmation des Status quo abstoßend erscheinen und muss das intendierte Lachen irritieren. Es in seiner Funktion ernst zu nehmen, ist eine entscheidende Aufgabe zukünftiger Interpretationen des »Roman de Silence«.

Brigitte Burrichter

Nature und Noreture. Der »Roman de Silence« als narratives Experiment

Die beiden Konzepte ›Natur‹ und ›Erziehung‹ bestimmen den Roman, entsprechend oft sind sie auch bereits untersucht worden, insbesondere natürlich unter dem Genderaspekt.1 Ich möchte das Zusammenspiel der beiden Kräfte in Heldris’ Roman aus der narratologischen Perspektive analysieren und diesen Roman als narratives Experiment lesen.2 Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass Heldris seinen Roman sehr geschlossen konzipiert, es keine Leerstellen oder offenen Erzählstränge gibt. Ein erstes inhaltliches Prinzip seines Erzählens, das in der narratologischen Betrachtung eine Rolle spielt, ergibt sich mit Blick auf die Prätexte (oder auch nicht überlieferte vorgängige Erzählungen), denn hier amplifiziert Heldris die Ausgangssituationen. Dies gilt vor allem für den Komplex Nature – Noreture.

1 Vgl. etwa Tolmie, Jane: Silence in the Sewing Chamber: »Le Roman de Silence«. In: French Studies 63 (2009), S. 14–26; Terell, Katherine H.: Competing Gender Ideologies and the Limitations of Language in Le »Roman de Silence«. In: Romance Quarterly 55 (2008), S. 35–48, hier S. 39; Victorin, Patricia: Le nu et le vêtu dans le »Roman de Silence«: métaphore de l’opposition entre nature et norreture. In: Le Nu et le Vêtu au Moyen Âge: XIIe–XIIIe siècles. Aix-en-Provence 2001 (Senefiance 47), S. 365–382, verfügbar unter: http://books.openedition.org/pup/2558, hier Dokumentseite 14–16 [13. 08. 2015]; Bouchet, Florence. Le silence de la travestie. Un extrait du »Roman de Silence« (XIIIe siècle), traduit de l’ancien français. In: Femmes, Genre, Histoire. Hg. v. Barthélémy, Pascale u. Cuchet, Violaine Sebillote (Clio 10 [1999]), S. 2–6; Ringer, Loren: Exchange, Identity and Transvestism in »Le Roman de Silence«. In: Dalhousie French Studies 28 (1994), S. 3–13, hier S. 8f.; Psaki, Regina: Introduction. In: Heldris de Cornuälle, Le »Roman de Silence«. Übers. v. Psaki, Regina. New York, London 1991 (Garland Library of Medieval Literature 63B), S. ix–xxxviii, hier S. xxix–xxxii; Brahney, Kathleen J.: When Silence Was Golden: Female Personae in the »Roman de Silence«. In: The Spirit of the Court. Selected Proceedings of the Fourth Congress of the International Courtly Literature Society (Toronto 1983). Hg. v. Burgess, Glyn S. u. Taylor, Robert A. Cambridge 1985, S. 52–61. Vgl. auch, ohne Bezug zum Genderproblem, Conklin Akbari, Suzanne: Nature’s Forge Recast in the »Roman de Silence«. In: Literary Aspects of Courtly Culture. Hg. v. Maddox, Donald u. Storm-Maddox, Sara. Cambridge 1994, S. 39–46. 2 Damit soll nicht behauptet werden, Heldris habe den Roman als narratives Experiment konzipiert, das Werk lässt sich aber als solches lesen.

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Als Prätext des »Roman de Silence« ist die Grisandole-Episode aus der »Estoire de Merlin« oder eine vergleichbare, nicht überlieferte Erzählung anzunehmen:3 Die Grafentochter Avenable kommt als Knappe verkleidet an den römischen Hof, nachdem ihre Eltern von ihrem Besitz vertrieben worden sind und sie allein ist. Der Kaiser schlägt den vermeintlichen Knappen zum Ritter und ernennt ihn schließlich zum Seneschall, Avenable/Grisandole übertrumpft also alle Männer.4 Als Frau in der Männerrolle kann sie Merlin fangen, der dann in einer Reihe von Prophezeiungen die Ordnung am Kaiserhof wiederherstellt. Heldris hat diese Szenen ziemlich genau übernommen. Am Ende heiratet der Kaiser die Grafentochter und verschafft ihren Eltern Recht.5 Aber wenn Heldris auch das Ende der Grisandole-Episode übernimmt, so radikalisiert er im Vergleich damit die Versuchsanordnung. Grisandole verkleidet sich als Knappe und ist in dieser Verkleidung erfolgreich, Silence wird als Mann erzogen und dank dieser Erziehung ein herausragender Ritter. In Silences ritterlicher Leistung scheint möglicherweise eine andere Ritterin durch, Camille, die Volskerkönigin aus der »Aeneis«, hier allerdings in der Version des »Roman d’Eneas«. Camille tritt je nach Situation als Frau oder als Ritter auf, allerdings ist sie auch dann als Frau zu erkennen. Es kommt also nur zur Übernahme einer männlichen Rolle in der Tradition der Amazonen, nicht zum Geschlechterwechsel.6 Unter dem Aspekt der ›widernatürlichen‹ Erziehung ist Perceval eine weitere prominente Figur, die nicht ihrer Natur entsprechend erzogen wird. Bei Chrétien de Troyes tritt Nature nicht auf, aber es ist spätestens nach der Erzählung der Mutter über den Vater und die Brüder Percevals klar, dass sie ihren jüngsten Sohn nicht standesgemäß erzogen hat und er nicht in einer seiner Herkunft adäquaten Umgebung aufgewachsen ist. Als er in die Artuswelt kommt, stellt denn auch der König fest, dass der Junge mit der richtigen Erziehung vielleicht ein herausra-

3 Vgl. Roche-Mahdi, Sarah: A Reappraisal of the Role of Merlin in the »Roman de Silence«. In: Arthuriana 12:1 (2002), S. 6–21, hier S. 6–8. Roche-Mahdi untersucht allerdings vorrangig die Merlinfigur. 4 Vgl. The Vulgate Version of the Arthurian Romances. Hg. v. Sommer, Oscar. Bd. 2: Lestoire de Merlin. New York 1969, S. 282. 5 Michèle Perret nennt mit Ydé und Blanchandin zwei als Männer verkleidete Frauen, die aus derselben Zeit stammen wie der »Roman de Silence«. Inwieweit »Yde et Olive« und der »Tristan de Nanteuíl« als Prätexte fungieren, muss offen bleiben. Vgl. Perret, Michèle: Travesties et Transsexuelles: Yde, Silence, Grisandole, Blanchandine. In: Romance Notes 25 (1984), S. 328–340. 6 Vgl. Le Roman d’Eneas. Hg. und ins Nfrz. übers. v. Petit, Aimé. Paris 1997, V. 4046–4068. Im Folgenden: RdE.

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gender Ritter werden könnte.7 Dieser Erziehungsprozess durchzieht dann den ganzen Roman und ist am Schluss (beim Abbruch) noch nicht abgeschlossen. Auch vor diesem Hintergrund radikalisiert Heldris die Ausgangsbedingungen: Percevals Mutter hatte ihren Sohn als Bauernjungen erzogen, also aus der Sicht einer ständischen Gesellschaft am unteren Ende in der gesellschaftlichen Ordnung. Die Eltern von Silence schaffen mit dem Wechsel des Geschlechts eine noch größere Differenz, mit der Karriere als jongleur vollzieht dann Silence zusätzlich zum Genderwechsel auch den Standeswechsel. Nature und Noreture sind damit im Vergleich zu den Prätexten besonders weit voneinander entfernt, unter dem Aspekt des ›narrativen Experiments‹ sind also die Ausgangsvoraussetzungen verschärft.

Die Konzeption des Romans Der erste Teil des »Roman de Silence« erzählt die Geschichte von König Ebains erster Ehe und die Geschichte von Silences Eltern. Beide Erzählungen folgen inhaltlich traditionellen Mustern,8 beide sind auch einfach nacheinander erzählt. Der Hauptteil des Romans setzt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch erzähltechnisch von diesem unspektakulären Eingang ab. Der »Roman de Silence« baut auf einer Folge von Störungen der natürlichen und politischen Ordnung auf, die verlangen, dass ebendiese Ordnung wiederhergestellt wird. Die beiden ›großen‹ Störungen sind zum einen das Verbot der weiblichen Erblinie durch König Ebain, zum anderen der Konflikt Nature – Noreture. Eingebettet in diese zentralen Probleme sind das Verbot der jongleurs durch Cador und der Standeswechsel von Silence sowie der Ehebruch der Königin. Diese Störungen sind – mit Ausnahme des Ehebruchs – alle ursächlich miteinander verbunden, Auslöser ist das Verbot König Ebains, also der Verstoß gegen die politische Ordnung, alle anderen Störungen der natürlichen oder politischen Ordnung hängen davon ab. Der Roman ist so aufgebaut, dass die Störungen in der Reihenfolge, in der sie auftreten, auch wieder bereinigt werden, das Verbot der weiblichen Erblinie rahmt die Erzählung, der Genderwechsel wird kurz nach dem Verbot angesetzt und rückgängig gemacht, bevor das Gesetz aufgehoben wird. Eingebettet sind Silences Wandel zum jongleur und das Verbot der jongleurs durch Cador, das durch Silences Rückkehr an den väterlichen Hof 7 Chrétien de Troyes: Le Conte du Graal (Perceval). Hg. und ins Nfrz. übers. von Méla, Charles. In: Chrétien de Troyes: Romans. Suivis des Chansons, avec, en appendice, Philomena. Hg. v. Zink, Michel u. a. Paris 1994 (Classiques modernes), S. 937–1211, hier V. 1284–1288. 8 Vgl. Perret [Anm. 5], S. 54f. Ich stütze mich im Folgenden auf die Ausgabe: Silence. A Thirteenth-Century French Romance. Hg. u. übers. v. Roche-Mahdi, Sarah. East Lansing 1992 (Medieval Texts and Studies 10).

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wieder aufgehoben wird, erst viel später wechselt Silence wieder in den Ritterstand. Lediglich der Versuch der Königin, Silence zu verführen, und ihr Ehebruch mit der vorgeblichen Nonne durchbrechen dieses strikte Schema. Dieser Motivstrang wird am Ende der jongleurs-Episode eingeführt und erst am Ende, als Silences wahres Geschlecht aufgedeckt wird, beendet. Die sorgfältige Anlage des Romans belegt, dass Heldris die Grundlinien seiner Erzählung sehr genau komponiert hat, er scheint geradezu auszuloten, wie komplex die Schachtelung der Ordnungsstörungen werden kann und wie sie geordnet aufgelöst werden können. Eine genauere Analyse der Erzählstränge belegt dies.

Die Frage des Erbes Als Reaktion auf den Erbstreit zweier Zwillingsschwestern erlässt König Ebain das Gesetz, dass – solange er lebt – keine Frau Land erben kann: Mais, par le foi que doi Saint Pere, Ja feme n’iert mais iretere Ens el roiame s’Engletiere, Por tant com j’aie a tenir tiere. (V. 313–316) Aber, beim Glauben, den ich dem Hl. Petrus schulde, / keine Frau wird mehr erben / im Königreich England, / solange ich hier herrsche.

Dieses Verbot bedroht die bestehende (männliche) Ordnung, denn ein Landesherr, der ohne männlichen Nachkommen stirbt, kann sein Land nicht mehr vererben, es fällt an den König. Der Besitz der Familie ist damit gefährdet. Auch die Sicherheit einer Tochter wäre, so stellt es zumindest Silences Vater dar, nicht gewährleistet: Car se nos avons une fille N’avra al montant d’une tille De quanque nos sos ciel avons (V. 1751–1753). Denn wenn wir eine Tochter bekommen, / wird sie nichts von dem bekommen, / was wir auf Erden besitzen.

Cador sieht nur eine Möglichkeit, sein Erbe zu sichern, er gibt seine Tochter als Sohn aus. Die Störung der politischen Ordnung zieht so die Störung der natürlichen Ordnung nach sich. Als Silence alt genug ist, klärt Cador seine Tochter über die Situation auf (V. 2444–2455) und ruft damit die Erbproblematik wieder in Erinnerung. Cadors ›Lösung‹ ist Ausgangspunkt der Erzählung, sie scheint aber zu kurz zu greifen, denn für den dauerhaften Erhalt des Familienerbes muss Silence Nachkommen haben. Dies wird nicht thematisiert, aber die Erzählung heilt den

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wenig durchdachten Plan schließlich: König Ebain löst das Gesetz aus Liebe zu Silence/Silentia auf: Silences, ses qu’as recovré Por cho que tu as si ovré? […] Ses que jo ferai por t’amor, Que jamais nen oras clamor? Femes raront lor iretage. (V. 6637–6643) Silence, weißt du, was du erreicht hast, / weil du dich so verhalten hast? / […] / Weißt du, was ich aus Liebe zu dir machen werde, / damit du nie mehr Kummer hast? / Die Frauen bekommen ihr Erbrecht zurück.

Damit ist am Ende der Erzählung die politische Ordnung im Königreich wiederhergestellt, alle Anwesenden sind froh darüber. Wesentlich komplexer wird die Opposition von Nature und Noreture verhandelt.

Nature – Noreture Nature als Gestalterin des Menschen wird zunächst ohne Konkurrenz in den Text eingeführt: Cador betet, dass sie bei der Formung des Kindes keine Fehler machen möge (V. 1679), die lange Ausführung darüber, wie Nature vorgeht, wird damit eingeleitet, dass sie bei der Schaffung des kleinen Mädchens ihre ganze Meisterschaft einsetzt (V. 1799). Das Wesentliche, so der Erzähler, sei dabei das Herz, und hier sei Nature manchmal nachlässig und mische Schmutz hinein. Nicht so bei diesem Kind, hier verwendet sie nur feinste Materialien. In allen folgenden Szenen liegt, wie auch in dieser Erschaffungsszene insgesamt, der Schwerpunkt auf dem Äußeren des Kindes und später des jungen Mannes, das Herz spielt aber immer eine wichtige Rolle. Dieses Herz ist nun aber von Anfang an ein männliches. Bei den einleitenden Ausführungen zu Natures Materialien liegt der Fokus auf der Erschaffung des Herzens (V. 1825–1860), und Heldris spricht hier nur vom männlichen Herzen: Si fait Nature, c’est la some, / Quante faire violt un vallant home (›So geht Nature vor, / wenn sie einen vorzüglichen Mann schaffen will‹; V. 1825f.). Zwar kann, wie im heutigen Französisch, auch im Altfranzösischen die männliche Form beide Geschlechter umfassen, aber nichts hätte im Kontext der Schaffung eines Mädchens dagegengesprochen, neben den äußeren auch die inneren Qualitäten mit Blick auf das Mädchen oder allgemein die Frau zu formulieren. Das Herz, so lässt sich daraus schließen, ist vom Geschlecht unabhängig, tendenziell klingt an, dass es zuvorderst ein männliches Herz ist.

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In der Besprechung der Eltern nach der Geburt des Kindes erscheint der Geschlechterwechsel unproblematisch. Der männliche Name Silentius ist gegen die Natur, aber im Bedarfsfall ließe sich der Name einfach in Silentia umwandeln (V. 2074–2082). Der Mutter ist nur wichtig, dass das Kind getauft wird (V. 2084f.), alles scheint letztlich eine Frage der Organisation. Erst als Nature in Person auf den Plan tritt, wird der Geschlechterwechsel zum offenen Problem. Nature hatte das Kind als »ihre Tochter« geschaffen (V. 1927). In ihrer anklagenden Rede gibt sie gewissermaßen die These dieses Romans vor: Il n’a en tiere nule rien, Ki par nature ait a durer, Ki puist al loing desnaturer. (V. 2270–2272) Es gibt nichts auf Erden, / das von Natur Dauer bekommen hat, / das auf lange Zeit unnatürlich (leben) könnte.

Der Erzähler bekräftigt diese Behauptung mit Nachdruck: Segnor, par Deu, Nature a droit! (›Meine Herren, bei Gott, Natur hat Recht!‹; V. 2295). Narratologisch gesehen ist damit der Erzählbogen geöffnet, mit der These ist die Richtung vorgegeben: Die folgende Erzählung wird beweisen, dass Nature Recht hat, dass sie irgendwann zu ihrem Recht kommen wird. Zur Bekräftigung legt der Erzähler im weiteren Verlauf seiner Rede dar, wie sich Nature und Noreture zueinander verhalten. Noreture kann z. B. wohl einen Menschen mit schlechtem Charakter dazu bringen, sich anständig zu verhalten, dieser Mensch wird das aber nicht lange durchhalten (1, 2, 3, 4 Jahre; V. 2312–2320). Dauerhafter kann Noreture einen guten Charakter (cuers de gentil nature) verderben (V. 2325). Die Schlussfolgerung der Ausführungen deutet einen weiteren möglichen Erzählbogen an: En un poi de vil noreture Empire plus bone nature Que longhe aprisons de bienfaire Puist amender cuer de pute aire. (V. 2339–2342) Ein klein wenig schlechte Erziehung / verdirbt gute Natur mehr / als langes Einüben des guten Verhaltens / ein schlechtes Herz verbessern kann.

Diese Störung – die Degradierung des Herzens durch den Einfluss von Noreture – greift Heldris allerdings nicht auf. Das Kind wird von Anfang an als Junge erzogen,9 es werden die Kleider des Kleinkindes genannt, ein besonderes Gewicht liegt aber auf der Darstellung seines guten Charakters, seiner bone nature (V. 2384). Seine Erzieherin bringt 9 Der Erzähler verstärkt beim Leser die Illusion des männlichen Protagonisten, indem er sehr sorgfältig darauf achtet, grundsätzlich männliche Pronomina zu verwenden, wenn Silence in der männlichen Rolle auftritt.

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ihm bestes Verhalten bei, und der Junge nimmt alles willig auf, ja agiert aus sich heraus ehrenhaft und gut. Dies ist aus Sicht des Erzählers das Entscheidende, mit Blick auf den Charakter postuliert er: Et por cho di jo que Nature / Signorist desor Noreture (›Und deshalb sage ich, dass Nature / über Noreture herrscht‹; V. 2423f.). Für die folgende Betrachtung der Erzählung folgen für mich daraus zwei Thesen: Zum einen ist das Herz (der Charakter) bei Silence unveränderlich, es folgt stets seiner Natur. Was Silence an charakterlicher noreture/Erziehung bekommt, stimmt mit der Natur überein. Zum anderen entfernt sich das äußere Verhalten im Lauf der Erzählung maximal von der Natur, hier lässt die Erzählung lange Zeit Noreture triumphieren. Zu diesem äußeren Verhalten zählen die Kleidung (die immer wieder erwähnt wird), die Haut (die unter dem Aufenthalt an der Luft leidet) und natürlich die Betätigung, das körperliche Training. Dieser zweite Aspekt wird in der Erzählung komplex entfaltet. Silence beginnt, an der Situation zu zweifeln, als Nature sich einschaltet (ob als Allegorie oder Bild für den inneren Monolog zu Beginn der Pubertät spielt hier keine Rolle). Nature wirft ihm vor, sie zu missachten und gegen sie zu agieren, und Silence lässt sich zunächst überzeugen: Car por fief, ne por iretage, / Ne doit mener us si salvage (›Denn weder für Besitz noch für Erbschaft / darf man ein so rohes Verhalten haben‹; V. 2545f.). Auch Noreture gegenüber verteidigt er sich entsprechend und bekräftigt, von nun an als Frau leben zu wollen. Im folgenden Streit mit Nature gibt diese schnell auf, auch wenn Noretures einziges Argument für ihre Macht ist, dass sie aus einem guten einen schlechten Menschen machen kann. Raison stellt sich auf die Seite von Noreture, sie überzeugt Silence schließlich – eine durchaus originelle Variante des Cœur-Raisons-Konflikts.10 Silence kommt zu dem Schluss, dass das Leben der Männer besser als das der Frauen und er für ein Leben als Frau nicht mehr geeignet sei: Trop dure boche ai por baisier, / Et trop rois bras por acoler (›Ich habe einen zu harten Mund zum Küssen / und einen zu festen Arm zum Liebkosen‹; V. 2646f.).11 Aber der Erzähler betont, dass Silence lange schwankt und viel über ihre Situation nachdenkt.

10 Im »Lancelot«-Roman Chrétiens de Troyes stehen sich Cœur und Raison unversöhnlich gegenüber. Das eine votiert für die Liebe, die andere für die Ehre. Vgl. Chrétien de Troyes: Le Chevalier de la Charrette ou Le Roman de Lancelot. Hg. u. ins Nfrz. übers. v. Méla, Charles, d’après le manuscrit BN fr 794. In: Chrétien de Troyes: Romans [Anm. 7], S. 495–704, hier V. 365–377. 11 Heldris zitiert damit Camille aus dem »Roman d’Eneas«: Auf anzügliche und mysogyne Bemerkungen eines Ritters antwortet Camille: miex say abatre .I. chevalier / que acoller ne donoier (›Ich verstehe mich besser darauf, einen Ritter zu besiegen, / als zu liebkosen und zu lieben‹; RdE, V. 7189f.).

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Eingebettete Störungen Einen Ausweg bieten schließlich die jongleurs. Diesmal spricht das Herz, nicht der Verstand, und es führt zwei Gründe gegen die zu erwartende Karriere als Ritter an: Wenn der König stirbt, wird das Erbfolgegesetz hinfällig, dann kann er/ sie auch als Frau erben, sofern er noch ein Leben als Frau führen kann. Andererseits ist das Herz unsicher über die Leistung als Ritter. Silence kann nicht wissen, ob sie tatsächlich mit den Männern wird mithalten können, denn, so führt das Herz an, es gibt kein positives Beispiel dafür (V. 2841–2845). Das Leben als jongleur erscheint als Ausweg für beide Situationen. Ein guter jongleur braucht keine körperliche Kraft, und wenn der König sterben sollte und aus Silentius wieder Silentia wird, kann sie sich mit der Musik selbst unterhalten (V. 2865–2868). Die Musik scheint so als Mittelweg zwischen den konträren Optionen: Silence lebt weiter als Mann und kann, sollten die Eltern vor dem König sterben, das Erbe antreten. Für den Fall, dass der König stirbt und das Gesetz rückgängig gemacht wird, könnte Silentia mit der Musik die fehlenden weiblichen Kenntnisse kompensieren (V. 2867–2869).12 Erzähltechnisch hält dieser Mittelweg den Fortgang offen, Silence folgt zwar Noreture, aber nur in abgeschwächter Form. Auf der anderen Seite entfernt sich Silence damit noch weiter von der Natur, denn er verlässt nun auch seinen Stand. Silences Vater verbietet nach dem Verschwinden des Sohnes allen Spielleuten, sein Land zu betreten. Der Erzähler kommentiert die Entscheidung als übertrieben13 und unterstreicht so, dass der Vater die traditionelle Ordnung stört. Silence wird sie wiederherstellen (V. 3664–3670). Mit der Rückkehr nach England wird Silence wieder vom Spielmann zum Knappen, das nicht standesgemäße Leben ist damit beendet. Als Reaktion auf die Ränke der Königin kommt er nach Frankreich und wird vom französischen König zum Ritter geschlagen (V. 5135). In der Folge schließt sich ein Erzählbogen: Silence hatte gezweifelt, ob er ein guter Ritter werden würde, nun ist er der Beste von allen. Der Erzähler verbucht dies als Punkt für Noreture: Dire peüst que Noreture / Puet moult ovrer contre Nature (›Man kann sagen, dass Noreture / sehr stark gegen Nature wirken kann‹; V. 5153f.). Silence selbst hat keine Zweifel mehr, er ist ganz eins mit sich und genießt den Erfolg: Silences ne se repent rien / De son usage, ains l’ainme bien (›Silence bereut / sein Verhalten nicht, sondern schätzt es sehr‹; V. 5177f.) 12 Vgl. Lasry, Anita Benaim: The Ideal Heroine in Medieval Romances: A Quest for a Paradigm. In: Kentucky Romance Quarterly 32 (1985), S. 227–243, hier S. 229. 13 Oï avés, cho est la some, / Que .m. gens muerent par .i. home: / Et par .ii. d’als, quant sunt falli, / Avient que .m. sont malballi (›Ihr habt, kurz gesagt, gehört, / dass tausend Leute durch einen Menschen sterben: / Weil zwei [von den Spielleuten] einen Fehler gemacht haben, / kommt es, dass tausend schlecht behandelt werden‹; V. 3127–3130).

Nature und Noreture

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Damit ist der Sieg von Noreture perfekt, Silence ist zum Ritter geworden, sozusagen mit Herz und Verstand. Im Kampf bittet er Gott, seine naturbedingte (körperliche) Schwäche auszugleichen (V. 5607f.), das ist aber auch die einzige Erinnerung an seine wahre Natur. Die Wende kommt mit dem Auftrag, Merlin zu finden. Der alte Mann, den Silence im Wald trifft und der ihm hilft, bringt die Frage nach der Natur wieder in den Blick: Merlin lebt im Wald wie ein Tier von Wurzeln und Kräutern, wenn es etwas Menschliches in ihm gebe, wird er gebratenes Fleisch vorziehen (V. 5958). Als Merlin tatsächlich zum Fleisch kommt, gibt es ein zweites Streitgespräch zwischen Noreture und Nature. Die Frage, wer mehr für das Übel in der Welt verantwortlich sei, gerät zur Grundsatzdiskussion. Da Gott nur Gutes schaffe, sei Noreture für Adams Sünde verantwortlich, argumentiert Nature, und von da komme alles Übel her. Außerdem habe sie bei Merlin versagt, der ja zum Fleisch geht. Dieses Mal gibt sich Noreture geschlagen und geht, der erste und entscheidende Sieg für Nature (V. 6088–6091), denn nun wird sie mit Merlins Hilfe die natürliche Ordnung wiederherstellen. Die falsche Nonne wird entlarvt, und Silentius wird zu Silentia. Nature beseitigt in kurzer Zeit alle Spuren der männlichen Vergangenheit (repolir heißt es im Text, V. 6671) und antwortet damit auf Silences Sorge, zu harte Lippen und Arme für eine Frau zu haben. Silentia wird Königin und sie wird sich nun, um einen lang zurückliegenden Faden aufzugreifen, den die Erzählung nicht mehr ausdrücklich erwähnt, in ihrer neuen Situation mit Musik unterhalten.

Fazit Heldris nutzt den Geschlechterwechsel, um seine Heldin möglichst weit von ihrer eigentlichen Natur zu entfernen und wie in einem Experiment mittels der Erzählung die Macht der Noreture zu zeigen, allerdings betrifft diese Macht stets nur den Körper. Silences Charakter bleibt unverändert, sie ist als Mann wie als Frau untadelig. Am Beispiel von Eufemie zeigt der Erzähler, dass ein schlechter Charakter durch die Umstände rettungslos schlecht wird. Ihr Charakter war – ganz wie es in der ersten Diskussion zwischen Nature und Noreture erklärt wurde –, ursprünglich nur ein bisschen schlecht oder möglicherweise sogar gut. Ganz am Ende erklärt Heldris dies zum eigentlichen Ziel seiner Erzählung: gute und schlechte Frauen zu zeigen: Maistre Heldris dist chi endroit / C’on doit plus bone feme amer / Que haïr malvaise u blasmer (›Meister Heldris sagt hier, / dass man eine gute Frau mehr lieben soll / als eine schlechte hassen oder schelten‹; V. 6684–6686). Aus narratologischer Perspektive greifen die verschiedenen Motive und Erzählstränge problemlos ineinander, Heldris lässt keinen offen. Den Kernkonflikt

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zwischen Nature und Noreture treibt er auf die Spitze, erst auf dem Höhepunkt der Macht von Noreture, als Silence seine männliche Rolle uneingeschränkt ausfüllt und akzeptiert, zeigt er, dass seine Ausgangsthese stimmt: Noreture / Puet moult ovrer contre Nature (›[Man kann sagen, dass] Noreture / sehr stark gegen Nature wirken kann‹; V. 5153f.), dass aber dennoch gilt: Nature / Signorist desor Noreture (›[Und deshalb sage ich, dass] Nature / über Noreture herrscht‹; V. 2423f.).14 Entscheidend für diesen Sieg der Nature ist, dass sie nur Silences Äußeres ändern muss, nicht aber ihren Charakter, ihr Herz. Ganz am Ende führt Heldris die Erzählung als Beweis dafür an, dass Frauen gut sind, wenn sie ihrer Natur folgen. Ganz offensichtlich verurteilt er mit dem contre nature (V. 6691) nicht den Verstoß Silences gegen die natürliche Geschlechter- und Standesordnung, sondern den schlechten Charakter der Königin. In den Ausführungen über die Erschaffung eines untadeligen Charakters am Anfang der Erzählung hatte Heldris, vielleicht nicht ohne Hintergedanken, das männliche Herz angeführt. Es sind Silences ›männliche‹ Eigenschaften, ihr Mut und ihre höfische Loyalität,15 die im Vordergrund stehen und auch ihren Wert als Frau ausmachen. Für sie gilt, was Evrat im ausgehenden 12. Jahrhundert über Marie de Champagne gesagt hat, sie hat ein männliches Herz und einen weiblichen Körper (Elle ot cuers d’home et cors de fame).16 Silences Rückkehr in die natürliche Ordnung wird daran, so legt es der Textausgang nahe, nichts ändern. Heldris schachtelt in seiner Erzählung eine ganze Reihe von Verstößen gegen die natürliche und gesellschaftliche Ordnung ineinander und treibt seine Protagonistin immer weiter von ihrem Geschlecht und ihrem Stand weg. Es gibt aber nie, auch nicht in den Szenen des Zweifelns an der eigenen Rolle, den geringsten Hinweis darauf, dass Silences Herz einer Veränderung unterworfen wäre. Eine charakterliche Degradation, so lässt sich daraus schließen, hätte Nature nicht beheben können.

14 Vgl. oben S. 306 bzw. 305. 15 Vgl. Lasry [Anm. 12], S. 229f. 16 Zitiert nach: Hall McCash, June: Marie de Champagne’s »Cuer d’ome et cors de fame«: Aspects of Feminism and Misogyny in the Twelfth Century. In: Burgess u. Taylor [Anm. 1], S. 234–245, Zitat S. 244. Hall McCash zitiert Evrats »Genesis« aus dem Ms. A, Paris, Bibliothèque Nationale, fond franҫais 12456, fol. 174v, V. 2.