Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union: Vom primus inter pares zur europäischen Leitfigur [1 ed.] 9783428523733, 9783428123735

In der institutionellen Struktur der Europäischen Union spielt der Präsident der Europäischen Kommission eine entscheide

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Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union: Vom primus inter pares zur europäischen Leitfigur [1 ed.]
 9783428523733, 9783428123735

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Schriften zum Europäischen Recht Band 126

Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union Vom primus inter pares zur europäischen Leitfigur

Von Simone Staeglich

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

SIMONE STAEGLICH

Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 126

Der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union Vom primus inter pares zur europäischen Leitfigur

Von Simone Staeglich

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums des Innern, Berlin.

Die Juristische Fakultät der Universität Hannover hat diese Arbeit im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 89 Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12373-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In der institutionellen Struktur der Europäischen Union spielt der Präsident der Europäischen Kommission eine entscheidende Rolle. Er steht an der Spitze der Europäischen Kommission, die er führt und die unter seiner Leitung und nach seinen Vorgaben arbeitet. Seine im Laufe der Jahre stetig gestiegene Bedeutung kommt auch darin zum Ausdruck, dass das Europäische Parlament nunmehr seine Zustimmung bei der Wahl des Kommissionspräsidenten geben muss. Für die Zukunft wird sogar eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten diskutiert. All dies entspricht dem Bedürfnis der auf 25 Mitgliedstaaten erweiterten Europäischen Union nach politischer Führung. Diese Arbeit zeigt, dass der Präsident der Europäischen Kommission aufgrund seiner herausgehobenen Stellung als Oberhaupt der Europäischen Union – als Unionsoberhaupt – bezeichnet werden kann. Die vorliegende Untersuchung wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover im Sommersemester 2006 als Dissertation angenommen. Herzlicher Dank gebührt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Volker Epping. Die Arbeit an seinem Lehrstuhl war fachlich und menschlich eine große Bereicherung. Mit seinen Anregungen, seiner Diskussionsbereitschaft, aber auch mit den Freiräumen, die ich während meiner Mitarbeiterzeit genießen durfte, hat er diese Untersuchung entscheidend gefördert. Gleichfalls herzlich danken möchte ich meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Klaus Otto Nass. Von seinen Ideen und seiner Kritik, aber auch von seinen praktischen Erfahrungen aus seiner Zeit bei der Europäischen Kommission hat diese Arbeit profitiert. Bei Frau Dr. Monika Wulf-Mathies bedanke ich mich für das Interview, das mir einen Einblick in die Arbeitpraxis der Europäischen Kommission gewährt hat. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Besonders möchte ich meinem Freund Herrn Dr. Sebastian Lenz danken, der mit seinen Ideen und seiner steten Diskussionsbereitschaft die gesamte Arbeit begleitet hat. Er hat großen Anteil an vielen Überlegungen dieser Untersuchung. Meinen Eltern gebührt großer Dank für ihre liebevolle Unterstützung und Ermutigung. Hamburg, im September 2006

Simone Staeglich

Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Teil

Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

30

1. Kapitel: Stellung und Funktionen von Staatsoberhäuptern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

2. Kapitel: Das Staatsoberhaupt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

3. Kapitel: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

4. Kapitel: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Staatsoberhäuptern in Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Teil

Das Oberhaupt der Europäischen Union

110

1. Kapitel: Der Kommissionspräsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Kapitel: Vergleich des Kommissionspräsidenten mit dem deutschen und französischen Staatsoberhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Kapitel: Vorschläge für eine institutionelle Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Wesentliche Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Inhaltsverzeichnis Einführung

21

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

B. Stand des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

1. Teil

Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

30

1. Kapitel Stellung und Funktionen von Staatsoberhäuptern

30

A. Stellung eines Oberhaupts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

I. Selbstständige und unselbstständige Oberhäupter in Demokratien . . . . . . . . . . . . .

31

II. Wirkungsebenen von Staatsoberhäuptern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

B. Funktionen von Staatsoberhäuptern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

I. Repräsentationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

1. Objekt der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

a) Ein europäisches Volk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

b) Die Völker der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

c) Legitimation des Repräsentanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

2. Subjekt der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

10

Inhaltsverzeichnis 3. Zweck der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

4. Mittel der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

II. Integrationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

III. Symbolfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

IV. Symbolsetzungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

V. Vertrauensbildungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

VI. Kontinuitäts- / Reservefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

VII. Funktionen in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2. Kapitel Das Staatsoberhaupt in Deutschland

56

A. Stellung des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

I. Der Bundespräsident als „neutrales“ Organ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

II. Nutzen und Sinn des indirekten Wahlmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

III. Autorität durch Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

B. Verantwortlichkeit des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

C. Kompetenzen des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

I. Darstellung nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

II. Darstellung nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

III. Staatsnotarielle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

IV. Politische Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

V. Politische Einflussnahme durch Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

1. Art. 65 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Inhaltsverzeichnis

11

2. Art. 58 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

3. Art. 58 Satz 1 GG analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

4. Integrationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

5. Grundsatz der Verfassungsorgantreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

D. Selbstverständnis der deutschen Staatsoberhäupter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

3. Kapitel Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

80

A. Stellung des Präsidenten im Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

I. Wahlverfahren und Inkompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

II. Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

B. Verantwortlichkeit des Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

C. Kompetenzen des Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

I. Darstellung nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

II. Darstellung nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

III. Staatsnotarielle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

IV. Politische Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

1. Gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

2. Nicht gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

V. Politische Einflussnahme durch Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

VI. Sonderproblem der Kohabitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

D. Selbstverständnis der französischen Staatsoberhäupter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

12

Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Staatsoberhäuptern in Deutschland und Frankreich

103

A. Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 B. Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 C. Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 D. Vereidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Teil

Das Oberhaupt der Europäischen Union

110

1. Kapitel Der Kommissionspräsident

110

A. Geschichtliche Entwicklung des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Stellung des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Fusionsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II. Vertrag von Maastricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 III. Vertrag von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 IV. Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 V. Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Beteiligung der Europäischen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Ablehnung und Wiederernennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Beteiligung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren . . . . . . . . 124 a) Redaktionsversehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Unbefangenheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

Inhaltsverzeichnis

13

C. Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Amtsenthebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 II. Misstrauensantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 D. Einfluss des Kommissionspräsidenten auf die Auswahl der Kommissionsmitglieder . 138 I. Vertrag von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 III. Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 E. Kompetenzen des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 I. Darstellung nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Darstellung nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Unionsnotarielle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Politische Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Kompetenzen ohne Billigung des Kollegiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Die politische Führung des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 aa) Inhalt und Bedeutung des Prinzips der politischen Führung . . . . . . . . . 155 (1) Organisationsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (2) Leitlinienkompetenz als Richtlinienkompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (a) Der Begriff der Leitlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (b) Weisungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Konkretisierungen der politischen Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (1) Konkretisierung durch die Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (2) Konkretisierung durch die Erklärung Nr. 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (3) Konkretisierung durch die Arbeitspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

14

Inhaltsverzeichnis b) Grenzen der politischen Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Kollegialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (1) Inhalt und Bedeutung des Kollegialitätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (a) Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle des Kollegiums . . . . 172 (b) Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (c) Kollegiale Beschlussfassung und Leitlinienkompetenz . . . . . . 177 (d) Kollegiale Entscheidungen bei Zuständigkeitsstreitigkeiten . 179 (e) Kollegiale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Kollegialitätsprinzip und Anhörungsrechte des Parlaments . . . . . . 182 (a) Rechtliche Beurteilung der Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (b) Politische Beurteilung der Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 bb) Ressortprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (1) Inhalt und Bedeutung des Ressortprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (2) Erweiterung des Ressortprinzips durch das Ermächtigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (3) Einzelweisungs- und Ersetzungsbefugnisse des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (4) Erstreckung des Ressortprinzips auf das Kabinett . . . . . . . . . . . . . . . 196 (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Harmonisierung der Prinzipien in einem Drei-Ebenen-Modell . . . . . . . . . . . 198 2. Kompetenzen mit Billigung des Kollegiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Ernennungsverfahren der Vizepräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Aufforderung zum Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 c) Benennung eines Nachfolgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

F. Selbstverständnis der Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 G. Institutionelle Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 H. Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 J. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Inhaltsverzeichnis

15

2. Kapitel Vergleich des Kommissionspräsidenten mit dem deutschen und französischen Staatsoberhaupt

220

A. Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 B. Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 C. Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Darstellung nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 II. Darstellung nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 III. Notarielle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 IV. Politische Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Rücktrittsaufforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Ernennung der Vizepräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Auswahl der Kommissare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Auswahl der Kabinettsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5. Leitlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6. Organisationsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 D. Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

3. Kapitel Vorschläge für eine institutionelle Reform

245

A. Die Diskussion im Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 B. Wahl des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament . . . . . . . . . . 250 II. Direktwahl des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

16

Inhaltsverzeichnis

C. Struktur der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 I. Anzahl der Kommissare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Zergliederung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 2. Landsmannprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3. Notwendigkeit klarer Entscheidungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 II. Kandidatenliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Benennungsrecht als Kehrseite der Rücktrittsaufforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Begrenzung des informellen Einflusses der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 264 III. Zustimmungsvotum des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Wesentliche Ergebnisse

267

Anhang

271

A. Interview mit Frau Dr. Monika Wulf-Mathies vom 11. Mai 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 B. Die Kommissionspräsidenten und Vizepräsidenten der EWG und EG . . . . . . . . . . . . . . . 275

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Auffassung

ABl.

Amtsblatt der Europäischen Union (seit dem 1. 2. 2003; davor: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften; bis 1958: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl)

Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AdG

Archiv der Gegenwart

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

Bd.

Band

BGBl. I bzw. II

Bundesgesetzblatt Teil I bzw. II

BK

Bonner Kommentar

BReg

Bundesregierung

Bull.EG

Bulletin der Europäischen Gemeinschaften

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union

CSU

Christlich Soziale Union

ders.

derselbe

d. h.

das heißt

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

EA

Europa-Archiv

EAG

Europäische Atomgemeinschaft

EAGV

Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EG

Europäische Gemeinschaften, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (Amsterdamer Fassung)

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGKSV

Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

2 Staeglich

18

Abkürzungsverzeichnis

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (Maastrichter Fassung)

EJIL

European Journal of International Law

EP

Europäisches Parlament

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

EuR

Europarecht

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

f.

folgende (Seite); folgender (Paragraph)

ff.

folgende (Seite); folgende (Paragraphen)

Fn.

Fußnote

FusV

Fusionsvertrag

gem.

gemäß

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GO

Geschäftsordnung

HdbDStR

Handbuch des deutschen Staatsrechts

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts

Hrsg.

Herausgeber

i.E.

im Ergebnis

IP

Internationale Politik

i. S. d.

im Sinne des (der)

i.V.m.

in Verbindung mit

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JR

Juristische Rundschau

JZ

Juristen Zeitung

KOM

Kommission

Komm.

Kommentar

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

lit.

litera

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

no

numéro (Nummer)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

Abkürzungsverzeichnis RDP

Revue de droit public et des sciences politiques

RFDC

Revue francaise de droit constitutionnel

Rn.

Randnummer

RPR

Rassemblement pour la République

Rs.

Rechtssache

S.

Seite(n)

Slg.

Sammlung

SZ

Süddeutsche Zeitung

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

USA

United States of America

v.

von

verb.

verbundene

VerwArch

Verwaltungsarchiv

vgl.

vergleiche

VN

Vereinte Nationen

VV

Verfassungsvertrag

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VVE

Verfassungsvertragsentwurf

WVK

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z. B.

zum Beispiel

ZEuS

Zeitschrift für Europarechtliche Studien

ZöR

Zeitschrift des öffentlichen Rechts

ZParl

Zeitschrift für Parlamentsfragen

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

z. T.

zum Teil

2*

19

Einführung A. Einleitung Die Europäische Union1 in ihrer heutigen Gestalt entstammt nicht einer spontanen Idee, sondern ist das noch nicht abgeschlossene Ergebnis einer langen Entwicklung. Daher kann man das, was sie ausmacht, nicht verstehen, ohne gleichzeitig einen Blick auf ihren geistigen und historischen Hintergrund zu werfen. Europa war lange in eine Vielzahl politischer Einheiten aufgeteilt gewesen, aus denen sich schließlich die Nationalstaaten entwickelten. Der Nationalstaat erschien als die einzige politische Einheit, die imstande war, das Leben der Menschen im Staat zu gestalten und ihre Sicherheit und Existenz nach außen zu gewährleisten.2 In diesen Nationalstaaten gelang es den Völkern, sich durch sprachliche, ethnische, kulturelle und historische Gemeinsamkeiten verbunden zu fühlen und sich als Gemeinschaft zu definieren. Europa bestand fortan aus Nationalstaaten, die ihre inneren Gemeinsamkeiten zur Abgrenzung gegenüber anderen Nationalstaaten benutzten. Erste Überlegungen zu einer Union Europas kamen Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der politischen Zersplitterung Europas und seiner internen Kriege auf.3 Bis zum Ende des ersten Weltkriegs blieben diese Vorstellungen dennoch vage, und zwar sowohl hinsichtlich der Staaten, die die Union umfassen sollte, als auch hinsichtlich ihres politischen Inhalts und der Mittel ihrer Verwirklichung.4 Dass diese Ideen keinen Widerhall in den Staaten fanden, lag unter anderem an der Tatsache, dass die Menschen die Notwendigkeit einer politischen Einheit noch nicht als dringlich erachteten. 1 In dieser Arbeit wird außer bei einer klaren Zuweisung zu einer Europäischen Gemeinschaft einheitlich der Begriff der Europäischen Union verwendet. Zum einen wird der Rat als Gemeinschaftsorgan im EG-Vertrag selbst als „Rat der Europäischen Union“ bezeichnet (Beschluss vom 8. 11. 1993, ABl. Nr. L 281, S. 18). Zum anderen wird durch den noch nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrag ein erweiterter einheitlicher institutioneller Rahmen geschaffen, der das Gemeinschaftsrecht weitestgehend übernimmt und zu Unionsrecht werden lässt. Die ehemaligen Gemeinschaftsorgane werden damit zu Unionsorganen (Art. I-19 VV). 2 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, S. 83. 3 Bereits 1923 schlug Coudenhove-Kalergi in seinem Buch „Pan Europa“ eine radikale Veränderung der politischen Struktur Europas vor, das sich zu einer Föderation unter Aufgabe der Souveränität der Mitgliedstaaten zusammenschließen sollte. Sein Vorschlag umfasste auch die Bildung einer Zollunion und eine „pan-europäische“ Verfassung, S. 153 ff. Andere Bewegungen wurden ebenfalls gegründet: 1926 die Union économique et douanière européenne; 1927 die Féderation pour l’entente européenne; 1930 die Union douanière européenne. 4 Hierzu Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, S. 70.

22

Einführung

Ausgangspunkt der europäischen Idee war die Überlegung, dass der souveräne Nationalstaat möglicherweise nicht die einzige und bestmögliche Organisationsform ist. Besonders der zweite Weltkrieg stellte das Ideal des souveränen Nationalstaats in Frage, denn Sieger wie Besiegte und selbst neutrale Staaten erfuhren abwechselnd Niederlagen, Besatzung, Hunger, Flucht und Deportation. Keiner der souveränen Staaten war in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Trotz Verwaltung, Wirtschaftssystem, Diplomatie und Armee waren die Nationalstaaten nicht im Stande, ihre Bürger zu schützen und die Katastrophe zu verhindern. Durch diese so offen gelegten Schwächen wurde umso deutlicher, dass es für die einzelnen Nationalstaaten auf Dauer keine wirkungsvolle Beteiligung am weltpolitischen Geschehen geben kann, sondern dass es auf lange Sicht eine Einigung geben muss. Die Herausforderung, die sich daraufhin bei der Schaffung der Europäischen Gemeinschaften stellte, bestand darin, aus den kulturellen, sprachlichen und historischen Einheiten eine neue politische Einheit zu formen. Diese politische Einheit entsprach nicht immer zwangsläufig bei jeder behandelten Thematik dem politischen Willen der beteiligten Nationalstaaten. Da eine Einigung in wirtschaftlichen Fragen zunächst als dringlicher und einfacher erachtet wurde, stellten wirtschaftliche Interessen einen Grund für den Beginn der gemeinsamen Zusammenarbeit dar. Die Erhaltung und Sicherung des Friedens war ein anderer wesentlicher Grund für den Beginn einer europäischen Einigung.5 Das Ziel war zunächst die Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlproduktion. Nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges sollte eine wirtschaftliche und politische Einbindung des damaligen potentiellen Kriegsgegners Deutschland erreicht werden. Die Aufsicht über den wirtschaftlich und militärisch wichtigen Sektor der Kohle- und Stahlproduktion sollte einer supranationalen Verwaltung übertragen werden. Aufgrund des von Jean Monnet und Robert Schuman entwickelten Schuman-Planes wurden 1950 alle westeuropäischen Staaten zu einer Regierungskonferenz eingeladen, um den Zusammenschluss der europäischen Kohle- und Stahlindustrie zu verwirklichen. An dieser Konferenz nahmen allerdings nur Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, die Niederlande sowie die Bundesrepublik Deutschland teil. Die übrigen Staaten lehnten ihre Teilnahme wegen des befürchteten Verlustes von Souveränitätsrechten ab.6 Nach und nach setzte sich schließlich die Überzeugung durch, dass Probleme, die alle Staaten gleichermaßen betreffen, nicht von jedem Staat für sich auf nationaler Ebene gelöst werden können, sondern dass es für viele Themen eine nachhaltige Lösung nur auf europäischer Ebene geben kann. Beispiele sind die Bereiche des Umweltschutzes und der organisierten Kriminalität. Auch angesichts einer zunehmenden Globalisierung wird es zunehmend schwieriger, an einer an nationa5 „Wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist.“ Auszug aus der Schuman-Erklärung vom 9. 5. 1950, in: Bull.EG 1980, Nr. 5, S. 15 (16). 6 Bieber, in: Beutler / Bieber / Piepkorn / Streil, Die Europäische Union, Rn. 8.

Einführung

23

len Interessen ausgerichteten Politik festzuhalten und zu versuchen, seine Probleme allein zu bewältigen. Für eine gemeinsame Zukunft mit gemeinsamen, europäischen Bereichen sprechen somit viele Argumente, doch sehen dies die Bürger der Nationalstaaten gleichermaßen? In Auftrag gegebene Umfragen der Europäischen Kommission sprechen dagegen.7 Die Bürger sehen sich trotz der Normierung in Art. 17 ff. EG nicht als Unionsbürger einer Europäischen Union, sondern als Bürger ihres jeweiligen Nationalstaats. Es herrscht Unwissen über den institutionellen Aufbau der Europäischen Union, die Bürger kennen nicht die jeweils zuständigen Personen, und sie gehen nicht zur Wahl des Europäischen Parlaments.8 Die Vorteile, die durch die Europäische Union im Laufe der Zeit entstanden sind, werden hingegen gerne in Anspruch genommen, wie sich am Beispiel des freien Personen- und Kapitalverkehrs zeigt. Wie also kann das Interesse und die Unterstützung der Bürger geweckt werden? Denn eine politische Einheit, die nicht von ihren Bürgern wahrgenommen und unterstützt wird, hat nicht nur den Anschein des Undemokratischen, sondern ist auch auf lange Sicht nicht funktionsfähig. Aus diesen Gründen benötigt die Europäische Union ein „Gesicht“ z. B. auch in der Form eines Unionsoberhaupts. Bislang hat die Europäische Union viele, immer wechselnde Gesichter9, die alle den Anspruch haben, innerhalb ihres Bereichs für die Europäische Union zu sprechen. Es gibt kein Amt, das eine Person als Unionsoberhaupt ausweist, so dass die Bürgerinnen und Bürger bislang keine Person haben, die sie mit der Europäischen Union verbinden können. Würde ein Unionsoberhaupt hingegen die Funktionen eines Staatsoberhaupts wahrnehmen, könnte es auf diese Weise die Europäische Union in das Bewusstsein der Bürger rücken und für ihre Unterstützung werben. Die hauptsächlichen Funktionen, die Staatsoberhäupter in ihren Staaten ausüben, sind die Repräsentations- und die Integrationsfunktion. Diese Funktionen sollen die staatliche Einheit, ihre Akzeptanz und somit die Unterstützung der Bürger für den Staat fördern. Aufgabe der Staatsoberhäupter ist es, die Interessen der widerstreitenden Gruppen auszugleichen und über politische Kontroversen hinweg Gemeinsamkeiten zu betonen und zu verstärken. Die Funktionen der Staats7 Ergebnisse einer Umfrage des Instituts OPTEM für die Europäische Kommission vom 23. 7. 2001, Wahrnehmung der Europäischen Union, Einstellungen und Erwartungen, siehe http: //europa.eu.int/comm/public_opinion/quali/ql_perceptions_summary_de.pdf (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). Ein gleiches Ergebnis belegen die Umfragen des Eurobarometers mit wechselnden Themenschwerpunkten: http: //europa.eu.int/comm/public_opinion/index_en. htm (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 8 So ist die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament seit 1979 von 63% kontinuierlich gesunken und betrug 2004 nur noch 45,7%. http: //www.elections2004. eu.int/ep-election/sites/de/results1306/turnout_ep/turnout_table.html. (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 9 Den Präsidenten des Europäischen Rates, den Kommissionspräsidenten, den Parlamentspräsidenten, den Außenkommissar und den Hohen Repräsentanten des Rates in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

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Einführung

oberhäupter werden als einheitsstiftende Funktionen10 beschrieben. Sie dienen der Funktionsfähigkeit des Staates und werden den Staatsoberhäuptern seit jeher zugeschrieben.11 Im Staatsoberhaupt manifestiert sich die Einheit des Staates wie in keiner anderen von einer Einzelpersönlichkeit verkörperten demokratischen Institution.12 Die einheitsstiftenden Funktionen sind daher mit dem Amt des Oberhaupts als solchem verknüpft. Sie werden durch das Staatsoberhaupt ausgeübt, sobald es in sein Amt gelangt ist. Das Staatsoberhaupt erfüllt die einheitsstiftenden Funktionen mit seinem gesamten Handeln und Wirken. Pernthaler betont in diesem Zusammenhang, dass durch die vom Staatsoberhaupt bewirkte Verbindung der „so abstrakten und zugleich wesentlichen Kategorie“ der Einheit des Staates mit der Existenz des Individuums wesentliche Quellen der Staatlichkeit erschlossen und gesichert werden können.13 Als Unionsoberhaupt kommt allein der Kommissionspräsident, nicht aber der Ratspräsident oder der Parlamentspräsident in Betracht. Das Amt des Ratspräsidenten ist zu stark vom Europäischen Rat als der Versammlung der Vertreter der Mitgliedstaaten geprägt. Zudem beträgt seine Amtsdauer derzeit gerade sechs Monate (Art. 203 Satz 2 EG), wodurch der Ratspräsident allein schon aufgrund dieser kurzen Amtszeit ungeeignet erscheint, die Position eines Unionsoberhaupts auch einprägsam für das Volk zu besetzen. Daran ändert auch die Neuregelung des noch nicht ratifizierten Verfassungsvertrags nichts, nach dem sich die Amtszeit des Ratspräsidenten auf zweieinhalb Jahre verlängert (Art. I-22 Abs. 1 Satz 1 VV). Gerade für eine Kontinuität der Repräsentation nach außen ist ein regelmäßiger kurzer Wechsel des Ratspräsidenten abträglich. Der Parlamentspräsident (Art. 197 Satz 1 EG) ist aufgrund fehlender primärrechtlicher Rechte oder Pflichten ungeeignet, die Rolle eines Unionsoberhaupts auszuüben. Der Kommissionspräsident verspricht dagegen nicht nur die notwendige Kontinuität, sondern er verfügt auch über den nötigen eingearbeiteten Apparat, um die Aufgabe wirksam wahrzunehmen.

Vgl. Pernice, in: Dreier, GG-Komm., Art. 54, Rn. 10. Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 52 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 217 ff.; Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (50 ff.); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 97 ff.; Umbach, in: Umbach / Clemens, GG-Komm., vor Art. 54, Rn. 11 ff.; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, S. 9 ff.; Nierhaus, in: Sachs, GG-Komm., Art. 54, Rn. 4 ff.; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 54, Rn. 14 ff.; Walther, Das Staatshaupt in den Republiken, S. 116; Mantl, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 5, S. 207. 12 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 218 ff. 13 Pernthaler, VVDStRL 25 (1967), S. 170 f. 10 11

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B. Stand des Schrifttums Obgleich der Europäischen Union im Zuge der voranschreitenden Integration immer größere Bedeutung zukommt, ist das monographische Interesse an der Europäischen Kommission gering geblieben.14 Diese Beobachtung trifft auch auf das Amt des Kommissionspräsidenten zu. Eine monographische Darstellung dieses Amtes, seiner Kompetenzen und seiner Funktionen fehlt bislang ganz. Behandelt wird der Kommissionspräsident lediglich im Rahmen von Kommentierungen der einzelnen Artikel des EG-Vertrags.15 Diese enthalten jedoch überwiegend grundsätzliche Erläuterungen, ohne die Stellung des Kommissionspräsidenten in Gänze zu erfassen. Darüber hinaus finden sich durchaus folgenreiche Feststellungen zu einzelnen Punkten. Verbreitet findet sich etwa die These einer Richtlinienkompetenz 16 des Kommissionspräsidenten, die zumindest auf den ersten Blick im Widerspruch zum primärrechtlich verankerten Kollegialitätsprinzip in der Kommission (Art. 217 Abs. 1 EG) steht. Gleiches gilt für die These, dem Kommissionspräsidenten stünden Einzelweisungsbefugnisse17 gegenüber den Kommissaren zu. Erläutert werden diese Befunde, die eine erhebliche Änderung des Machtgefüges innerhalb der Europäischen Kommission begründen könnten, jedoch ebenso wenig wie gleichfalls zu findende gegenteilige Auffassungen.18 Dabei bieten die Bestimmungen des EG-Vertrags über den Kommissionspräsidenten insbesondere seit der Neufassung durch den Vertrag von Nizza zahlreiche Anhaltspunkte, wie die Stellung des Kommissionspräsidenten beschaffen ist. Schon eine eingehende Untersuchung und Auswertung des Normtextes kann daher einen gewissen Aufschluss bieten. Wenig Erkenntnisgewinn verspricht es demgegenüber beispielsweise, wie Schmitt von Sydow in seiner Kommentierung19 zu beklagen, dass der Vertrag die politische Führungsrolle, die er dem Präsidenten neuerdings zuerkennt, nicht definiert. Gerade der Begriff der politischen Führung hat indes einen Gehalt, der sich durch Auslegung durchaus feststellen lässt. 14 Schmitt von Sydow, Organe der erweiterten Europäischen Gemeinschaften – Die Kommission; Edwards / Spence, The European Commission; Nugent, The European Commission. 15 So etwa bei Breier, in: Lenz / Borchardt, EG-Komm., Art. 211 ff.; Geiger, EG-Komm., Art. 211 ff.; Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 155 ff.; Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 211 ff.; Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 211 ff.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 211 ff.; Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 211 ff. 16 Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 9; Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 1 und 3. 17 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4. 18 Ruffert verneint das Vorliegen einer Richtlinienkompetenz, ders., in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 2; Kugelmann verneint das Vorliegen eines Weisungsrechts, ders., in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 9. 19 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4.

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In den Mittelpunkt des Interesses ist der Kommissionspräsident allerdings im Zusammenhang mit Vorschlägen zur Reform der institutionellen Ausgestaltung der Kommission gelangt. Gerügt werden die zu hohe Anzahl ihrer Mitglieder und die daraus folgenden Überschneidungen der Tätigkeitsbereiche. 20 Die daraus abgeleiteten Reformvorschläge greifen jedoch häufig zu kurz oder lassen die Konsequenzen außer Acht. Beispielsweise fordert Nemitz zwar eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament,21 bezieht aber nicht mögliche Nachteile und die Möglichkeit einer Direktwahl durch die europäischen Bürger in seine Überlegungen mit ein. Schließlich wird eine Verschiebung der Europäischen Union zu einem Präsidialsystem zwar im Kontext der Vertragsauslegung behauptet, aber nicht konkret beispielsweise an der Entwicklung des Kommissionspräsidenten und der Kommission belegt.22

C. Gang der Untersuchung Die Frage, ob der Kommissionspräsident das Unionsoberhaupt darstellt, führt zurück zum Inhalt des Begriffs „Oberhaupt“. Es geht darum, was ein Oberhaupt ausmacht und wie seine Stellung beschaffen sein muss. Die allgemeine Staatslehre hat hierfür maßgeblich darauf abgestellt, dass das Oberhaupt einheitsstiftende Funktionen ausübt. Möglicherweise lassen sich für die Ausübung einheitsstiftender Funktionen zwingende Erfordernisse hinsichtlich der Kompetenzausstattung eines Oberhaupts feststellen. Um herauszufinden, ob die einheitsstiftenden Funktionen in der Europäischen Union benötigt werden, werden sie anschließend untersucht und auf die Ebene der Europäischen Union übertragen. Dabei beschränkt sich diese Arbeit darauf, die Funktionen in ihren Grundzügen insoweit darzustellen, wie es für diese Untersuchung erforderlich ist. In die Analyse werden neben dem Kommissionspräsidenten die Staatsoberhäupter Deutschlands und Frankreichs sowie – soweit es für die Untersuchung erforder20 Lipsius, The 1996 Intergouvernmental Conference, ELR 1995, 235 (252); Davignon, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 12 (16); Noel, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 62 (66); Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Rede am 12. 05. 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, S. 20; Delors, Erinnerungen eines Europäers, S. 299; Schild zeigt beispielhaft auf, wie Kommissionspräsident Barroso notwendigerweise Ressorts aufteilen musste, um der erweiterungsbedingten gewachsenen Zahl von Kommissaren ein Betätigungsfeld zu schaffen, ders., Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur?, integration 2005, 33 (36); Epping erachtet eine Kommission mit 25 Mitgliedern kaum mehr für arbeitsfähig, ders., Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (822). 21 Nemitz, Europa-Wahl 1999, IP 1998, 45 ff. 22 Behauptungen finden sich bei Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EGKomm., Art. 217, Rn. 41, Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 4. Ansatzweise belegt werden diese Behauptungen bei Nemitz, Europäische Kommission: Vom Kollegialprinzip zum Präsidialsystem?, EuR 1999, 678 ff.

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lich ist – deren Regierungschefs einbezogen. Deutschland und Frankreich sind diejenigen Staaten, die bei der Gründung der Europäischen Union die größte Rolle gespielt und dabei auch die Europäische Union institutionell mitgeprägt haben. So ist die gesamte Kommission durch ihr Kabinettsystem vergleichbar mit einem französischen Ministerium aufgebaut,23 was eine Einbeziehung Frankreichs nahe legt. Die Staatsoberhäupter Deutschlands und Frankreichs besitzen in ihren Staaten jeweils vollkommen unterschiedliche Stellungen und Kompetenzen. Das Amt des Bundespräsidenten ist durch einen Mangel an Entscheidungskompetenzen, fehlende politische Verantwortlichkeit und begrenzte politische Einflussnahme gekennzeichnet. Der französische Staatspräsident ist dagegen sowohl in rechtlicher als auch in politischer Hinsicht ein herausgehobener Entscheidungsträger im französischen Staat. Diese unterschiedliche Ausgestaltung der Oberhäupter findet seine Entsprechung in den Gegensätzen der politischen Systeme. Die Bundesrepublik Deutschland stellt ein parlamentarisches System dar. Als parlamentarische Systeme bezeichnet man solche, in denen die Regierung aus dem Parlament hervorgeht und von diesem abhängig ist. Dabei ist es unerheblich, ob auch die personelle Zusammensetzung der Regierung den Entscheidungsbefugnissen des Parlaments unterliegt oder durch den Regierungschef bestimmt wird.24 Der französische Staat der V. Republik ist dagegen als präsidiales System im weitesten Sinne zu bezeichnen.25 Als präsidiale Systeme gelten solche, in denen neben einem Parlament ein Staatsoberhaupt mit einer Vielzahl von Exekutivgewalten steht, das seinen Auftrag nicht vom Parlament erhält, sondern direkt auf das Volk zurückführt.26 In einem parlamentarischen System hat somit typischerweise die Regierung den Großteil der Exekutivkompetenzen. Das Staatsoberhaupt besitzt nur einen geringen Anteil daran. In einem präsidialen System findet dagegen eine Entkopplung des Staatsoberhaupts vom Parlament statt. Das Staatsoberhaupt besitzt eine vom Parlament unabhängige Legitimation und begründet durch diese seine exekutiven 23 Krenzler, Die Rolle der Kabinette in der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1974, S. 75 ff.; Donelley / Ritchie, in: Edwards / Spence, The European Commission, 33 (42 ff.). 24 Das Staatsoberhaupt wird in solchen Systemen meist nicht direkt durch das Volk gewählt. Eine Ausnahme bildet die Republik Österreich, in der der Staatspräsident als Staatsoberhaupt direkt durch das Volk gewählt wird. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 264 ff. (267). 25 Die Kontroverse, ob das Regierungssystem Frankreichs ein präsidiales oder ein semipräsidiales System darstellt, wird in dieser Arbeit nicht thematisiert. Für ein semi-präsidiales System argumentieren Leclerq, Institutions politiques et droit constitutionnel, S. 402; Jacqué, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 138 f.; Turpin, Droit constitutionnel, S. 191. Für ein präsidiales System argumentieren Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 269; Grosser / Goguel, Politik in Frankreich, S. 301. 26 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 274 f.

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Kompetenzen. In Deutschland und Frankreich sind diese gegensätzlichen Konzepte verwirklicht. Während der Bundespräsident ein tendenziell „schwaches“ Oberhaupt in einem parlamentarischen System darstellt, steht der französische Staatspräsident der V. Republik für ein „starkes“ Oberhaupt eines präsidialen Systems. In dieser Hinsicht verkörpern sie also gewissermaßen die Extreme, die in der politischen Realität Europas zu finden sind. Vor allem dort, wo Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Staatsoberhäuptern bestehen, liegt es nahe, dass die betreffenden Merkmale zum Kerngehalt des Begriffs Staatsoberhaupt gehören. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die verglichenen Staatsoberhäupter und die dahinter stehenden Systeme höchst unterschiedlich sind. Ein Vergleich der Stellung, der Legitimation, der Kompetenzen und des Selbstverständnisses dieser Staatsoberhäupter zeigt somit auf, welche notwendigen Kompetenzen und Eigenschaften eine Person in einem staatsleitenden Amt aufweisen muss, um als Oberhaupt gelten zu können. Auf der Basis der so ermittelten Mindestvoraussetzungen folgt eine umfassende Analyse des Kommissionspräsidenten. Es geht darum, die Rolle des Kommissionspräsidenten im institutionellen Gefüge der Europäischen Union zu verdeutlichen. Im Anschluss folgt ein Vergleich zwischen dem Kommissionspräsidenten und den beiden Staatsoberhäuptern. Trotz der Unterschiede zwischen den Staatsoberhäuptern und dem Kommissionspräsidenten könnten es vorhandene Gemeinsamkeiten dem Kommissionspräsidenten erlauben, die Funktionen eines Oberhaupts wahrzunehmen. In diesen Vergleich muss dabei die besondere, gegenüber einem Staat abweichende Struktur der Europäischen Union einbezogen werden. Liegen beim Kommissionspräsidenten sowohl die rechtlichen Voraussetzungen als auch das Selbstverständnis eines Oberhaupts vor, stellt sich darüber hinaus die Frage, in welche Richtung sich die Europäische Union entwickeln wird. Die Entwicklung der Europäischen Union soll daher anhand der Entwicklung des Kommissionspräsidenten und der Kommission analysiert werden. Abschließend werden mögliche Reformmodelle für die Europäische Kommission im Allgemeinen und die Wahl des Kommissionspräsidenten im Besonderen erläutert und bewertet. Der Verfassungsvertrag in seiner am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Fassung wird dabei umfassend berücksichtigt, obwohl nach den nicht erfolgten Ratifizierungen des Verfassungsvertrags in Frankreich am 29. Mai 2005 und in den Niederlanden am 1. Juni 2005 zunächst Stillstand in die weiteren Ratifizierungsaktivitäten gekommen ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht absehbar, ob der Verfassungsvertrag in seiner derzeitigen Fassung, in einer anderen Form oder überhaupt Rechtskraft erlangen wird.27 Der Verfassungsvertrag stellt jedoch nicht nur 27 Das Europäische Parlament stimmte am 19. 1. 2006 dafür, am geplanten Inkrafttreten des Vertrags im Jahr 2009 festzuhalten. Frankreichs Staatspräsident Chirac will dagegen Teile aus dem Verfassungsvertrag entnehmen und diese in den Vertrag von Nizza eingliedern. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel schlägt vor, die Verfassung mit einem Sozialprotokoll anzureichern und dieses erweiterte Dokument den Franzosen und Niederländern erneut vorzulegen, SZ vom 20. 1. 2006, S. 6.

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das Ergebnis der derzeitigen politischen Diskussion dar, sondern er zeigt auch Entwicklungslinien auf, die als solche einen inhaltlichen Gewinn für diese Untersuchung bedeuten. In den Prozess der Verfassungsgebung sind die maßgeblichen Reformüberlegungen eingeflossen, und dabei sind die unterschiedlichen Modelle insbesondere der institutionellen Gestaltung der Europäischen Union analysiert worden. All dies nimmt der Verfassungsvertrag in sich auf, so dass er seine Berechtigung aus sich selbst heraus erfährt.

1. Teil

Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich 1. Kapitel

Stellung und Funktionen von Staatsoberhäuptern A. Stellung eines Oberhaupts Der Kommissionspräsident könnte nur dann eine Art Staatsoberhaupt für die Europäische Union darstellen oder sich zu einem solchen entwickeln, wenn er die Stellung eines Oberhaupts innehätte. Fraglich ist daher, wie die Stellung eines Oberhaupts beschaffen sein muss. Benötigt ein Oberhaupt bestimmte Kompetenzen, um einheitsstiftende Funktionen auszuüben? Muss es nach einem bestimmten Wahlmodus gewählt werden, oder genügt jegliche Art der Legitimation durch das Gemeinwesen? Inwiefern spielt das Selbstverständnis des jeweiligen Oberhaupts eine tragende Rolle bei seiner Funktionsausübung? Betrachtet man die Ergebnisse der allgemeinen Staatslehre, definiert Kelsen das Staatsoberhaupt „als ein Organ, dem eine Reihe ganz bestimmter Funktionen übertragen ist, so zwar, dass ein gewisses Minimum von Kompetenzen gegeben sein muss, damit von einem ,Staatsoberhaupt‘ die Rede sein kann.“28 Der Aussagewert dieser Definition bleibt undeutlich, auch wenn im Folgenden einige Kompetenzen konkretisiert werden, wie die Repräsentation des Staates nach außen, d. h. die Befugnis zum Abschluss von Staatsverträgen, die Setzung spezieller diplomatischer Akte, der Oberbefehl über das Heer oder das Recht der Begnadigung. Diese Konkretisierung wird allerdings durch das Eingeständnis relativiert, dass die eine oder andere Kompetenz fehlen kann oder Funktionen auf andere Organe verteilt sein können.29 Zusammengefasst könnte Kelsens Definition also lauten: Mit dem Namen Staatsoberhaupt bezeichnet man ein Organ, das die betreffende Verfassung als Staatsoberhaupt bezeichnet.30 Walther versteht unter einem Staatsoberhaupt die an der Spitze des Staates stehende Einzelpersönlichkeit. Sie nehme die Funktionen an Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 304. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 305. 30 Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (80, Fn. 223). 28 29

1. Kap.: Stellung und Funktionen

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der Stelle des Staates wahr; ob sie dies als Organ, Beamter, Beauftragter ( . . . ) tue, bleibe dahingestellt.31 Die Frage, ob es einen Kernbestand an Kompetenzen gibt, der eine Person unabhängig davon zu einem Staatsoberhaupt werden lässt, ob die jeweilige Verfassung sie als ein solches bezeichnet, beantworten diese Definitionen – wie viele andere Definitionsversuche – allerdings nicht.

I. Selbstständige und unselbstständige Oberhäupter in Demokratien Versucht man Staatsoberhäupter in Kategorien einzuteilen, so können zunächst zwei große Gruppen gebildet werden: zum einen Staatsoberhäupter mit umfassenden Kompetenzen und einem daraus folgenden großen Machtpotential, zum anderen Staatsoberhäupter mit wenigen Kompetenzen und geringem Einfluss. Herzog hat in diesem Zusammenhang die Begriffe des „selbstständigen“ und „unselbstständigen“ Staatsoberhaupts geprägt.32 Ein selbstständiges Staatsoberhaupt liegt hiernach vor, wenn es mit erheblichen politischen Befugnissen ausgestattet ist und ohne Zwischenschaltung des Parlaments vom Volk gewählt wird.33 Als Beispiele können der französische Staatspräsident der V. Republik und der amerikanische Staatspräsident angeführt werden. Ein unselbstständiges Staatsoberhaupt liegt hingegen vor, wenn seine beherrschende Eigenschaft in normalen Zeiten in einem Mangel an Befugnissen besteht. In Krisenzeiten wird ihm hingegen die Figur des Retters in der Not34 zu Teil. Seine Wahl findet normalerweise durch das Parlament selbst oder ein extra für die Wahl gebildetes Gremium statt.35 Als Beispiele für Staaten mit unselbstständigen Staatsoberhäuptern können die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Italien genannt werden. Der deutsche Bundespräsident fiele nach dieser Unterteilung somit unter die unselbstständigen Staatsoberhäupter. Ein Transfer dieser Kriterien auf den Kommissionspräsidenten ermöglicht es daher nicht nur, Rückschlüsse auf seine Selbstständigkeit bzw. Unselbstständigkeit zu ziehen, sondern lässt gleichfalls Rückschlüsse auf die Entwicklung der Europäischen Union zu. Diese könnte sich, würde der Kommissionspräsident beispielsweise ein selbstständiges Oberhaupt darstellen, in die Richtung eines präsidialen Systems entwickeln.

Walther, Das Staatshaupt in den Republiken, S. 14. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 280 ff. 33 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 285. 34 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 286, bezeichnet das unselbstständige Staatsoberhaupt als „deus ex machina“. 35 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 286. 31 32

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

II. Wirkungsebenen von Staatsoberhäuptern Obwohl verschiedene Gruppen von Staatsoberhäuptern unterschieden werden können, haben diese gemeinsam, dass sie auf unterschiedlichen Ebenen Wirkungen auf den Bürger erzielen können. Auf allen Ebenen vertritt das Staatsoberhaupt das Staatsvolk. Die Ebenen lassen sich zunächst in eine äußere und eine innere unterteilen. Auf der äußeren Ebene wirkt das Staatsoberhaupt als Bindeglied zwischen einem fremden und dem eigenen Staatsvolk. Auf dieser völkerrechtlichen Ebene ist das Staatsoberhaupt kraft seines Amtes befugt, als Vertreter seines Staates aufzutreten (Art. 7 Abs. 2 lit. a) WVK)36. Diese Außendarstellungsbefugnis des Staatsoberhaupts ist in den meisten Verfassungen normiert37 und wird historisch aus der Stellung des Monarchen begründet.38 Nach der völkerrechtlichen Gewohnheit und verfassungsrechtlicher Tradition hat das Staatsoberhaupt das ius repraesentationis omni modae.39 Es soll somit den innerstaatlich gebildeten Willen nach außen vertreten. Auf der nach innen gerichteten Ebene kann das Staatsoberhaupt gegenüber einzelnen Bürgern das Staatsvolk vertreten. Es kann aber auch gegenüber den anderen Staatsorganen den Willen des Volkes formulieren, wenn es z. B. der Auffassung ist, das Handeln der Regierung enthalte Ungerechtigkeiten gegenüber dem Volk. Die innere Ebene kann hierbei in die Wirkungsbereiche der staatsnotariellen Aufgaben und der politischen Einflussnahme unterteilt werden. Der Wirkungsbereich der staatsnotariellen Aufgaben beschreibt eine Beurkundungskompetenz des Staatsoberhaupts, mit der die Beschlüsse anderer Staatsorgane Gültigkeit erlangen. Damit besteht unabhängig von allen rechtlichen Bindungen zur Beurkundung jedenfalls die faktische Möglichkeit, durch eine Verweigerung einen Staatsakt zumindest verzögert Gültigkeit erlangen zu lassen. Der Wirkungsbereich der staatsnotariellen Aufgaben enthält somit nicht nur die Möglichkeit, Staatsakte zu verhindern bzw. zu verzögern, sondern damit verbunden ist auch eine informelle Einflussmöglichkeit. Da wichtige Staatsakte der Unterschrift des Staatsoberhaupts bedürfen und er sie somit frühzeitig zu sehen bekommt, besteht vor dem Inkrafttreten die Möglichkeit, die vorlegende Regierung anzusprechen und auf eventuelle Problematiken aufmerksam zu machen. Das Staatsoberhaupt wirkt weiter unabhängig von seiner verfassungsrechtlichen Stellung in den verschiedene Staaten durch politische Einflussnahme. Die politische Einflussnahme kann dabei bei einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Kompetenzausstattung sehr direkt vollzogen werden. Dies ist der Fall, wenn das 36

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. 5. 1969, BGBl. 1985 II,

926. 37 Deutschland: Art. 59; Griechenland: Art. 36; Österreich: Art. 65; Portugal: Art. 120, 135; Spanien: Art. 56. 38 Pernice, in: Dreier, GG-Komm., Art. 59, Rn. 1 m. w. N. 39 Seidel, Der Bundespräsident als Träger der auswärtigen Gewalt, S. 43 ff.

1. Kap.: Stellung und Funktionen

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Staatsoberhaupt selbst mit großen politischen Machtbefugnissen ausgestattet ist, die eine direkte Einflussnahme ermöglichen. Sind nur wenige Kompetenzen vorhanden, lässt sich eine direkte politische Einflussnahme in einem nur geringeren Ausmaß realisieren. Die indirekte Einflussnahme rückt dann stärker in den Vordergrund. Das Staatsoberhaupt wirkt mehr durch Gespräche und Reden, in denen es „warnt, ermahnt“40 oder zum erneuten Nachdenken anregt. Da solche Gespräche nicht nur offiziell, sondern auch inoffiziell stattfinden, vergrößern sich die Wirkungsmöglichkeiten des Staatsoberhaupts.41 Besonders in einem inoffiziellen vertraulichen Gespräch können offen Probleme, ihre Ursachen und mögliche Lösungsmöglichkeiten angesprochen werden. Es muss nicht die gleiche diplomatische Ausdrucksweise gewahrt werden, die bei offiziellen Anlässen verwendet wird, bei denen regelmäßig Pressevertreter, Lobbyisten und Wähler anwesend sind, deren Interessen Rechnung getragen werden muss. Die Gefahr missverstanden, falsch in den Medien zitiert zu werden und so Wählerstimmen zu verlieren, wird durch vertrauliche „Zwei-Augen-Gespräche“ ebenfalls reduziert. Diese Art der politischen Einflussnahme ist mithin von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da sie bereits in einem frühen Stadium die Möglichkeit des Einwirkens bietet.

III. Zwischenergebnis Bei einem Rückgriff auf die Befunde der allgemeinen Staatslehre ist festzustellen, dass eine aussagekräftige Definition, wann eine Person als Staatsoberhaupt bezeichnet werden kann, schwierig zu entwickeln ist. Bei einer Einteilung in Gruppen lassen sich – kontrastiert dargestellt – die Gruppe der selbstständigen Staatsoberhäupter mit großem Machtpotential und die der unselbstständigen Staatsoberhäupter mit geringem Einfluss abgrenzen. Der Grad der Wirkungen der Staatsoberhäupter hängt dabei stark mit den vorhandenen Kompetenzen zusammen. Besitzt ein Staatsoberhaupt ein großes Maß an Kompetenzen, kann es beispielsweise größeren politischen Einfluss ausüben als ein Staatsoberhaupt mit wenigen Kompetenzen. Grundsätzlich wirken Staatsoberhäupter auf einer äußeren und einer inneren Ebene. Die äußere Ebene stellt dabei die völkerrechtliche Vertretung dar. Die innere Ebene lässt sich erneut unterteilen in die Wirkungsbereiche der staatsnotariellen Aufgaben und der politischen Einflussnahme. Ein Oberhaupt müsste in diesen Bereichen Wirkungen erzielen, um als solches bezeichnet zu werden.

40 Das Staatsoberhaupt als Warner, Mahner und Kontrolleur, Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 289. 41 SZ vom 18. / 19. 6. 2005, S. 3.

3 Staeglich

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

B. Funktionen von Staatsoberhäuptern Das Staatsoberhaupt übt aufgrund seiner herausgehobenen Stellung im Staat einheitsstiftende Funktionen aus.42 Diese sind mit dem Amt verbunden und sollen die staatliche Einheit, ihre Akzeptanz und mithin die Unterstützung der Bürger für den Staat fördern. Dabei stellt sich zum einen die Frage, was einheitsstiftende Funktionen überhaupt ausmacht, zum anderen, ob diese Funktionen auf der Ebene der Europäischen Union benötigt werden.

I. Repräsentationsfunktion Eine Funktion von Staatsoberhäuptern, die sie als Teil der einheitsstiftenden Funktionen ausüben, ist die Repräsentationsfunktion. Dabei wird der Begriff der Repräsentation in der Fachliteratur43 in unterschiedlicher Weise verwendet.44 Seine Bedeutung blieb lange unklar. Ausgehend vom Wortlaut „Repräsentation“ wird dieser im weitesten Sinn als gleichbedeutend mit „Vertretung“ im Sinne des französischen „représentation“ gebraucht.45 Sprachlich bedeutet repräsentieren, dass etwas nicht real Präsentes präsent, d. h. existentiell gemacht bzw. etwas, was nicht gegenwärtig ist, anwesend gemacht wird.46 Mit anderen Worten ist Repräsentation die Vergegenwärtigung des Repräsentierten. Diese Vergegenwärtigung kann sowohl durch eine Handlung als auch durch eine Darstellung geschehen. Obwohl das Repräsentieren als Handeln für andere, anstelle anderer, beschrieben werden kann, ist es nicht mit der privatrechtlichen Vertretung gleichzusetzen.47 Diese beruht auf einem individuellen Zustimmungsakt. Da die Repräsentation nicht für das Individuum vollzogen wird, kommt es nicht darauf an, ob jeder Einzelne individuell der Repräsentation zugestimmt hat. 1. Objekt der Repräsentation In demokratischen Staaten – und nur solche können der Europäischen Union angehören (Art. 6 Abs. 1 EU) – übt das Volk die Herrschaftsgewalt aus.48 Daher ist Siehe S. 24. Mit ausführlichen Nachweisen Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 25. 44 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 310. 45 Es werden allerdings auch Übersetzungen wie „wieder vorstellen“, „aufweisen“, „darstellen“, „vergegenwärtigen“ gebraucht. Zur Wort- und Begriffsgeschichte der Repräsentation ausführlich Hofmann, Repräsentation, S. 38 ff. 46 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 311, S. 271. 47 Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 961. 48 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 22, Rn. 2 ff.; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 594, Fn. 36. 42 43

1. Kap.: Stellung und Funktionen

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es das Volk, welches repräsentiert wird.49 Die Repräsentation des Volkes ist bedingt durch das Prinzip der Volkssouveränität, wie es in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG exemplarisch zum Ausdruck kommt. Das Prinzip der Volkssouveränität bedeutet, dass alle politische Herrschaftsgewalt, also Herrschaft von Menschen über Menschen, auf das Volk zurückzuführen sein muss. Politische Herrschaftsgewalt bedarf mithin einer sie rechtfertigenden Herleitung, einer Legitimation. Diese Legitimation kann in einer Demokratie nur vom Volk selbst, nicht von einer Instanz außerhalb des Volkes ausgehen.50 Der Wille des Volkes, bezogen auf die Person seines Repräsentanten, wird in einer demokratischen Wahl zum Ausdruck gebracht. Das Amt des Repräsentanten erhält somit die Person, die die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich weiß. Denn wesentlicher Verfahrensgrundsatz für die Erzielung von Entscheidungen in einer demokratischen Ordnung ist das Mehrheitsprinzip.51 Diesem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass in einer Demokratie ein völliger Konsens aller Bürger kaum jemals erreichbar ist und daher die Handlungsfähigkeit sowie die Verhinderung einer Minderheitendiktatur nach dem Mehrheitsprinzip als Entscheidungsmodus verlangen.52 Das Mehrheitsprinzip dient somit als Verfahrenskomponente zur Gewinnung von Entscheidungen. Anders allerdings als Rousseau, der in dem Mehrheitsentscheid den Gemeinwillen erblickt und der unterlegenen Minderheit einen Irrtum attestiert53, bedeutet die Mehrheitsmeinung keine objektive Richtigkeit, sondern bietet lediglich die relativ beste verfahrensrechtliche Chance der Vernünftigkeit der Entscheidung. Die Entscheidung muss daher reversibel sein.54 Dies ist in einer Demokratie der Fall, wenn eine Person während ihrer Amtszeit ihres Amtes enthoben werden kann, Sachentscheidungen durch erneuten Mehrheitsbeschluss verändert oder aufgehoben werden können und die Legitimation der handelnden Personen nach einer bestimmten Zeitspanne durch eine Wahl erneuert werden muss.55 Wird in Staaten mithin das Staatsvolk repräsentiert, so gibt es in der Europäischen Union zwei Möglichkeiten, was Objekt der Repräsentation sein könnte. Beim Objekt der Repräsentation könnte es sich entweder um ein europäisches Volk oder um die europäischen Völker handeln. 49 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 30, Rn. 17 ff.; Isensee, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 13, Rn. 114 ff.; Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (52). Zu der theoretischen Diskussion, ob es das Volk selbst oder eine gemeinsame Verbindung des Volkes ist („eigenes Selbst des Volkes“), welche repräsentiert wird, Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 30, Rn. 21, Fn. 32 m. w. N. 50 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 22, Rn. 3. 51 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 162 ff.; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 145 ff. 52 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 652. 53 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 117. 54 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 652 m. w. N. 55 Badura, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 23, Rn. 31.

3*

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

a) Ein europäisches Volk? Repräsentiert werden könnte ein europäisches Volk. Der Begriff des Volkes kann staatsrechtlich oder völkerrechtlich definiert werden. Staatsrechtlich besteht ein Volk aus der Summe seiner Staatsbürger.56 Überträgt man diese Definition auf die Europäische Union, könnte das Volk der Europäischen Union aus der Summe aller Unionsbürger (Art. 17 – 22 EG) bestehen.57 Gegen ein Unionsvolk spricht allerdings, dass der EU-Vertrag die Völker der Mitgliedstaaten weder ausdrücklich als Unionsvolk bezeichnet, noch sie unausgesprochen als solches zusammenfasst (Art. 1 EU).58 Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG). Die Unionsbürgerschaft ist damit kein selbstständiger Rechtsstatus, sondern akzessorisch. Art. 17 Abs. 1 Satz 3 EG verdeutlicht dieses Ergebnis, indem er ausführt: Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht. Die Staatsbürgerschaft ist dabei gleichzusetzen mit der nationalen Staatsangehörigkeit, die sich nach dem jeweiligen Staatsangehörigkeitsgesetz bestimmt.59 Die Unionsbürgerschaft tritt somit weder an die Stelle der nationalen Staatsangehörigkeit, noch eigenständig neben sie, sondern ergänzt sie lediglich.60 Ein entscheidender Unterschied zwischen Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft ist also, dass die Europäische Union nicht selbst ihre Bürgerschaft verleihen kann, sondern dass die Unionsbürgerschaft von der jeweiligen Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abhängig ist. Es entsteht mithin kein selbstständiger Unionsbürgerstatus, der das Bestehen eines Staatsvolks begründen könnte. Schließlich ist auf weitere Gesichtspunkte hinzuweisen, die den Status der Unionsbürgerschaft zusätzlich in formeller Hinsicht herabsetzen. Die Unionsbürgerschaft wirkt in der Mehrzahl der Fälle nicht gegen die Union selbst, sondern gegenüber den Mitgliedstaaten. Die Staatsangehörigkeit entfaltet dagegen ihre Wirkung gegen den jeweiligen Staat selbst. Ferner gelten die Unionsbürgerrechte grundsätzlich nur zugunsten der Unionsbürger, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als in demjenigen befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Diese Beschränkung führt dazu, dass es zu Inländerdiskriminierungen (umgekehrten Diskriminierungen) kommen kann.61 Dies bedeutet, dass aufgrund des Verbots der BVerfGE 38, 258 (271); 47, 253 (272). Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 63. Die Unionsbürgerschaft wurde durch den Vertrag von Maastricht eingeführt und vermittelt den Angehörigen der Mitgliedstaaten einzelne Rechte. Zu den einzelnen Rechten Staeglich, Rechte und Pflichten aus der Unionsbürgerschaft, ZEuS 2003, 485 ff. 58 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 6. 59 Raschauer, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 5, S. 174. 60 Anders Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, JZ 1993, 594 (597), der davon ausgeht, dass die individuellrechtliche Unionsbürgerschaft die organisationsrechtliche Mitgliedschaft der Staaten überlagert. Am Ende stehe zwangsläufig der individuelle Verlust der Staatsangehörigkeit. 56 57

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Schlechterbehandlung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten wegen ihrer Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) für Inländer strengere Standards gelten können als für die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten.62 Schließlich sind insbesondere die Pflichten der Unionsbürger nicht ausgeprägt. Es besteht zwar die allgemeine Verpflichtung der Unionsbürger zur Beachtung des direkt anwendbaren Gemeinschaftsrechts, doch diese Pflicht besteht nicht kraft Unionsbürgerschaft, sondern sie bestand schon vorher und für jedermann. Direkte Pflichten der Unionsbürger gegenüber der Union wie die Schul- oder Wehrpflicht auf nationaler Ebene sieht der Vertrag indes nicht vor.63 Das Fehlen direkter Pflichten unterscheidet den Bürger der Europäischen Union in politischer Hinsicht ganz wesentlich von dem Bürger eines Nationalstaats.64 Nach der staatsrechtlich verwendeten Definition liegt mithin kein Volk der Europäischen Union vor.65 Auch gemessen an völkerrechtlichen Voraussetzungen liegt kein Unionsvolk vor. Hiernach ist ein Volk ein auf Dauer angelegter Verbund von Menschen, über den der Staat die Hoheitsgewalt im Sinne der Gebietshoheit und bei Aufenthalt außerhalb des Hoheitsgebiets die Personalhoheit innehat.66 Jeder Staat ist dabei frei, den Kreis seiner Staatsangehörigen selbst abzugrenzen.67 Die Staaten erkennen ihre Staatsangehörigkeit grundsätzlich nach dem Prinzip des ius soli (Geburtslandsprinzip) oder dem Prinzip des ius sanguinis (Abstammungsprinzip) zu.68 Es muss demnach ein erkennbarer Wille des Staates vorhanden sein, eine 61 Dazu Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen: Zulässigkeit und Grenzen der discrimination à rebours nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht. 62 Hobe, Europarecht, Rn. 234. 63 Hilf, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Art. 17, Rn. 57. 64 Monar, in: Hrbeck, Bürger und Europa, 67 (73). 65 Zuweilen wird die staatsrechtliche Definition mit weiteren Voraussetzungen aufgeladen, die jedoch undeutlich und mit juristischen Methoden kaum fassbar sind, etwa Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. VII, § 183, Rn. 25 ff.; Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, 629 (634), die beide Homogenität als Voraussetzung für die Volkseigenschaft verlangen. Diese soll anhand von gemeinsamer Geschichte, Kultur, Religion, Sprache, Ethnie festgestellt werden. Doch diese Kriterien, nach denen die Staaten die Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Staatsvolk zuerkennen sollen, halten einer rationalen Betrachtung nicht stand. Setzt man Homogenität für ein gemeinsames Volk voraus und bestimmt man Homogenität anhand der oben genannten Kriterien, so sind dies nur vordergründig objektive Elemente, die in Wahrheit mit subjektiven, zum Teil auch irrationalen Überzeugungen gefüllt werden. Wie wird beispielsweise festgestellt, wer zu einer Ethnie gehört? Wann ist eine gemeinsame Kultur vorhanden? Wie viele von diesen vermeintlich objektiven Kriterien müssen erfüllt sein, damit die Volkseigenschaft einer Menschengruppe bejaht werden kann? Eine solche Argumentation ähnelt der Denkweise Schmitts, der ausgehend von einem einheitlichen Bewusstsein, welches auf Elementen wie gemeinsamem Schicksal, gemeinsamer Tradition und gemeinsamen Erinnerungen beruht, von der Beseitigung und Unterdrückung des Heterogenen spricht, siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 232 ff. 66 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I / 1, S. 127; Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 5; Hailbronner, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 3. Abschn., Rn. 77 f. 67 Doehring, Völkerrecht, Rn. 58.

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Menschengruppe als Volk zusammenzufassen. Unabhängig von der Frage, ob die Europäische Union einen Staat konstituiert, der eigene Hoheitsgewalt69 ausübt, müsste die Europäische Union den erkennbaren Willen besitzen, ein Unionsvolk zu konstituieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie oben bereits ausgeführt, wurden die mitgliedstaatlichen Völker im EU-Vertrag weder ausdrücklich noch konkludent als Unionsvolk bezeichnet. Auch besteht nach wie vor eine mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit, die durch die Unionsbürgerschaft lediglich ergänzt wird. Ein erkennbarer Wille der Europäischen Union, ein Volk zu bilden, kann daher nicht festgestellt werden. Nach völkerrechtlichen Voraussetzungen kann mithin nicht von einem Unionsvolk ausgegangen werden. Ein europäisches Volk existiert somit derzeit weder nach staatsrechtlicher noch nach völkerrechtlicher Definition.70 Die Legitimation eines Repräsentanten durch ein europäisches Volk ist mithin nicht möglich. b) Die Völker der Europäischen Union Wenn es kein europäisches Volk gibt, sind es möglicherweise die europäischen Völker, die repräsentiert werden. An verschiedenen Stellen der Verträge wird jedenfalls explizit auf die europäischen Völker hingewiesen. Beispielsweise benutzt Art. 1 Satz 2 EU die Formulierung „Union der Völker Europas“. In Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EU ist von den Mitgliedstaaten und ihren Völkern die Rede. Dies zeigt auf, dass die Vertragsparteien gerade nicht von der Begründung eines europäischen Volkes ausgegangen sind, sondern von der Fortexistenz verschiedener Staatsvölker der Mitgliedstaaten. Gleiches gilt für Art. 189 EG und Art. 107 EA, die ebenfalls von „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ sprechen. Belegt wird dies auch durch den zwölften Punkt der Präambel des EU-Vertrags, der von dem „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der 68 Doehring, Völkerrecht, Rn. 66 ff. m. w. N.; Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 24, Rn. 8. 69 Siehe S. 52. 70 Kadelbach, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 539 (548 ff.); Pernice, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 26 (1993), 449 (476 f.); Kahl, Europäische Union: Bundesstaat-Staatenbund-Staatenverbund?, Der Staat 1994, 241 (248); Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1993), 191 (202 f.); Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVBl. 1994, 901 (902); Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, 98 (99 ff.); Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem Europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, 412 (414 f.); Schachtschneider, in: Blomeyer / Schachtschneider, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 75 (92). Augustin, Das Volk der Europäischen Union, S. 393 ff., teilt den Volksbegriff in einen formellen und einen materiellen Teil, wobei sie das materielle Vorliegen eines europäischen Volkes verneint. Anders dagegen Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht, JZ 1993, 594 (597), der die Unionsbürgerschaft als eine „Vollbürgerschaft“ bezeichnet, und Philipp, Ein dreistufiger Bundesstaat? Deutsche Einheit zwischen Europa und den Ländern, ZRP 1992, 433 (433).

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Völker Europas“ handelt. In der darauf folgenden Erwägung wird auf weitere Schritte verwiesen, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben. Klargestellt wird dennoch, dass der Unionsvertrag gerade die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet (Art. 6 Abs. 3 EU). Eine andere Betrachtung wie beispielsweise das Abstellen auf Völker im ethnischen Sinne anstatt auf Staatsvölker liegt fern, da die Europäische Union auf Staaten aufbaut und deshalb in ihrem Vertrag kaum einen Volksbegriff zugrunde legen wird, der sich auf Völker im ethnischen Sinne und damit jenseits des Staates bezieht. Es sind mithin die Staatsvölker der Europäischen Union, die sich zu einer Union zusammengeschlossen haben (Art. 1 Abs. 1 EU) und eine Rechtsgemeinschaft bilden.71 In der Europäischen Union sind es die Völker der Europäischen Union, die repräsentiert werden. Von ihnen muss daher die Legitimation des Repräsentanten ausgehen. c) Legitimation des Repräsentanten Nach dem Prinzip der Volksouveränität müssen in einem demokratischen Staat jedes Organ und jede Ausübung von Staatsgewalt ihre Grundlage in einer Entscheidung des Volkes finden.72 Überträgt man diesen Gedanken auf den Repräsentanten in der Europäischen Union muss diese Person auf den mehrheitlich gebildeten Willen der europäischen Völker rückführbar sein. Als Legitimation bezeichnet man in diesem Zusammenhang die Berechtigung, für die europäischen Völker sprechen und handeln zu dürfen. Dies ist nur Personen möglich, die sich auf einen Auftrag im Sinne einer Wahl durch das Staatsvolk bzw. die europäischen Völker berufen können.73 Es muss daher eine personelle Legitimation74 vorliegen, nach der sich die Wahl des europäischen Repräsentanten direkt oder indirekt auf die europäischen Völker zurückführen lässt. Anders ausgedrückt gehört zu einer Legitimation erstens ein Anspruch, auf Grund dessen eine Person ein Staatsvolk bzw. die europäischen Völker zu repräsentieren behauptet und sich als Repräsentant dieser Einheit geriert. Zweitens ist die Anerkennung dieses Anspruchs durch die Repräsentierten erforderlich. Versagen die vorgeblich Repräsentierten dem Anspruchssteller ihre Anerkennung, gibt es keine Repräsentation.75 Oppermann, Europarecht, § 1, Rn. 47; § 6, Rn. 9. Badura, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR Bd. I, § 23, Rn. 27. 73 Vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 223. 74 Teilweise kann man die Unterteilung der demokratischen Legitimation in die institutionelle Legitimation, d. h. die Konstituierung der Staatsorgane durch das Volk, in die sachliche Legitimation, nach der sich in allen Entscheidungen der Wille des Volkes widerspiegeln muss und in die oben genannte personelle Legitimation finden. Hierzu Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR Bd. I, § 22, Rn. 14 ff.; Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 119 (1994), 238 (243 f.); Epping, Demokratische Legitimation der Dritten Gewalt der Gemeinschaften, Der Staat 37 (1997), 349 (353). 75 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 141. 71 72

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Bei der Bewertung der Legitimation muss beachtet werden, dass Legitimation in unterschiedlichen Ausgestaltungen anzutreffen ist.76 Grundsätzlich kann ein Repräsentant direkt oder indirekt legitimiert werden. Direkte Legitimation bedeutet, dass das Volk unmittelbar durch einen Wahlakt seinen Repräsentanten bestimmt. Bei der indirekten Legitimation wählt das Volk Vertreter, beispielsweise ein Parlament, die ihrerseits den Repräsentanten legitimieren. In der Europäischen Union gibt es zwei Legitimationsstränge. Der erste Strang ist indirekt ausgestaltet und führt von den Völkern der Mitgliedstaaten über deren Parlamente und nationale Regierungen. Diese entsenden Vertreter in die europäischen Organe, die wiederum die Entscheidungen personeller und sachlicher Art vornehmen. Der zweite Strang führt zum Europäischen Parlament, welches von den Unionsbürgern direkt gewählt wird und seinerseits an europäischen Entscheidungen mitwirkt. Im zweiten Fall ist der Legitimationsstrang kürzer. Durch die unterschiedlichen Arten der Legitimation vermitteln die Organe im Rahmen ihrer Beteiligung an europäischen Entscheidungen verschiedene Grade an Legitimation. Das Europäische Parlament als direkt gewähltes Gremium gibt beispielsweise im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens (Art. 251 EG) oder im Verfahren der Zusammenarbeit (Art. 252 EG) europäischen Rechtsakten einen direkteren Legitimationsgrad, als wenn es lediglich im Rahmen des Anhörungsverfahrens (z. B. in der Agrarpolitik, Art. 37 Abs. 2 EG) mitwirkt. Dort folgt die Legitimation hauptsächlich aus der Mitwirkung nationaler Vertreter im Rat der Europäischen Union und somit aus dem ersten Legitimationsstrang. Obwohl in allen Verfahren eine ununterbrochene Legitimationskette vorliegt, ist in den beiden erstgenannten Fällen ein direkterer Legitimationsgrad vorhanden, durch den insgesamt ein höheres Legitimationsniveau erreicht werden kann. Bröhmer führt hierzu aus, dass mit Zunahme der vermittelnden Sachverhalte zwischen dem Volk und dem zu legitimierenden Sachverhalt bzw. dem zu legitimierenden Hoheitsträger die legitimierende Wirkung abnimmt.77 Je indirekter also die demokratische Legitimation vermittelt wird, desto schwächer wird sie. Auch Böckenförde vertritt in diesem Zusammenhang, dass die repräsentative Demokratie gegenüber einer unmittelbaren Demokratie einen höheren Legitimationsbedarf aufweist.78 Dagegen kann eingewendet werden, dass der Volkswille entscheidend ist. Hat sich das Volk für eine mittelbare Legitimation entschieden und ist daher eine generelle Rückführbarkeit auf den Volkswillen vorhanden, reicht auch jede mittelbare ununterbrochene Legitimation aus.79 Schliesky vertritt in diesem Zusammenhang, 76 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (160), wies bereits darauf hin, dass es „verschiedene Legitimitäten und insbesondere auch verschiedene Grade der Legitimität“ gebe. 77 Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 42. 78 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 30, Rn. 1. 79 Epping, Demokratische Legitimation der Dritten Gewalt der Gemeinschaften, Der Staat 37 (1997), 349 (354) m. w. N.

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dass es weniger auf die Länge der Legitimationskette als vielmehr auf ein möglichst hohes Legitimationsniveau ankommt, welches die Art und Weise der Mitwirkung betrifft.80 Bezüglich der Höhe des Legitimationsniveaus seien daher beispielsweise Zeitmomente wichtig. Je länger eine Amtsperiode dauere, desto besser müssten Kontroll- und Abberufungsmechanismen sein, oder es müsse eine Kontrolle durch andere Legitimationsbeiträge vorliegen, damit sich der Legitimationsgrad nicht vermindere.81 Schliesky stellt weiter darauf ab, dass das Legitimationsniveau einen möglichst hohen Grad erreichen sollte. Dennoch darf bei einer Bewertung verschiedener Arten von Legitimation auch die Länge der jeweiligen Legitimationskette nicht außer Acht gelassen werden. Sie verbindet den Souverän mit dem jeweiligen Repräsentanten. Wird die Legitimationskette zu lang, schwindet der Einfluss des Volkes. Je länger die Legitimationskette ist, umso mehr gewinnen zwischengeschaltete Stellen an Einfluss. Obwohl die Legitimation aufgrund des Volkswillens grundsätzlich vorhanden ist, vermittelt sie daher dem durch eine lange Kette legitimierten Repräsentanten ein geringeres Ausmaß an Legitimation als wenn es keine respektive wenige zwischengeschaltete Stellen gibt, die gleichfalls Einfluss ausüben. Zur Repräsentation der europäischen Völker genügt mithin grundsätzlich auch eine indirekte Legitimation, soweit eine ununterbrochene Legitimationskette besteht. Durch eine direkte Legitimation bekommt der Repräsentant jedoch das Höchstmaß der möglichen Legitimation, ohne dass zwischengeschaltete Stellen Einfluss nehmen können. Die Verbindung des Repräsentanten mit dem Souverän ist unmittelbar gegeben. Er hat daher eine stärkere Position inne, als wenn er lediglich durch eine lange Legitimationskette in sein Amt gelangt ist. Eine direkte Legitimation eines Repräsentanten ist daher nicht zwingend notwendig, aber durchaus wünschenswert. Als Konsequenz könnte eine solche stärkere Position mehr Rechte bzw. Kompetenzen beinhalten. d) Zwischenergebnis Das Objekt der Repräsentation sind die europäischen Völker, die sich aus den einzelnen nationalen Völkern zusammensetzen und die sich durch die Gründungsverträge zu einer Rechtsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Durch sie erfährt der Repräsentant seine Legitimation. 2. Subjekt der Repräsentation Fraglich ist, was das Subjekt der Repräsentation, also die Figur eines Repräsentanten, ausmacht. Um repräsentieren zu können, muss der Repräsentant eine hervor80 81

Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 719 ff. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 720.

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gehobene Stellung aufweisen, die ihn sichtbar macht und erkennbar von den Repräsentierten abhebt. Abheben kann sich ein Repräsentant beispielsweise durch politische Macht. Politische Macht vermittelt Einfluss und schafft Bekanntheit. Ohne politische Macht könnte lediglich ein Amtsträger neben anderen vorliegen, der keine Möglichkeit hätte, die europäischen Völker wirksam zu vertreten. Ohne politische Macht und politischen Einfluss könnten einerseits keine Wahrnehmung im Volk stattfinden, sein Handeln kein Gewicht haben, seine Reden kein Gehör finden.82 Andererseits wäre ein Repräsentant ohne politische Machtposition möglicherweise nicht mehr in der Lage, überparteilich zu agieren.83 Eine überparteiliche Handlungsweise könnte allerdings erforderlich sein, damit der Repräsentant die gesamte Bevölkerung und eben nicht nur einen Teil repräsentiert.84 Ein Repräsentant mit einer politischen Machtposition muss dagegen zwangsläufig zu Kontroversen Stellung beziehen. Er befürwortet durch seine Stellungnahme und ggf. seine Entscheidung zwangsläufig eine bestimmte Position. Dies könnte einer überparteilichen Handlungsweise abträglich sein und somit eine Repräsentation erschweren. Solange es sich aber lediglich um einzelne Personen handelt, die mit einer Position des Repräsentanten nicht einverstanden sind, gilt, dass der Einzelne nicht direkt und individuell in die Repräsentation einwilligen muss, sondern allein durch sein Leben unter einer demokratischen Herrschaftsgewalt zum Ausdruck bringt, dass er sich mit der jeweiligen demokratisch legitimierten Repräsentationsfigur einverstanden erklärt. Ist hingegen die Mehrheit der europäischen Bürger nicht mit den politischen Entscheidungen ihres vormals gewählten Repräsentanten einverstanden, kann diese Mehrheit bei der nächsten Wahl einen neuen Repräsentanten wählen. Sprechen somit gute Argumente sowohl dafür als auch dagegen, den Repräsentanten mit politischer Macht auszustatten, liegt die Vermutung nahe, dass kein direkter Zusammenhang zwischen politischer Macht und der Fähigkeit zur Repräsentation besteht. Mit anderen Worten kommt es offenbar nicht unbedingt darauf an, den Repräsentanten für die Ausübung seiner Repräsentationsfunktion eine politische Macht- und Einflussposition zuzugestehen. Dennoch könnte es bestimmte Erfordernisse oder Eigenschaften geben, die alle Repräsentanten gemeinsam aufweisen. Könnten diese Erfordernisse oder Eigenschaften bestimmt und gebündelt werden, wäre es möglich, eine Definition zu entwickeln, anhand derer festgestellt werden kann, ob eine bestimmte Person als Repräsentant angesehen werden kann oder nicht. 82 So Henke, Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, DVBl. 1966, 723 ff., der wegen der Machtlosigkeit des deutschen Bundespräsidenten diesem die Repräsentationsfähigkeit absprechen möchte. 83 Hierzu die Beratungen des Parlamentarischen Rates, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13 / Teilband I, S. LXVI ff. 84 So schon Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 53, der durch die Repräsentation stets die Interessen des Allgemeinwohls, nicht aber diejenigen bestimmter Bevölkerungsgruppen wahrgenommen sehen möchte.

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Repräsentation könnte beispielsweise als Herrschaft85 begriffen werden. Dann müsste der Repräsentant eine führende Position inne haben. Möglich wären auch die Erfordernisse eines bestimmten Alters oder Bildungsniveaus. In der Literatur wird teilweise eine solche Qualifikation verlangt. Der Repräsentant müsse zu den „Besten“, zu den „Höheren“ gehören.86 Die Repräsentanten müssten „die Qualitäten eines ,Herrn‘, nicht die eines ,Dieners‘ besitzen“.87 So zeichne sich die Elite des liberalen Bürgertums durch „Geist, Scharfsinn und Bildung“88 aus, weshalb sie zur Repräsentation prädestiniert sei. Dieser Ansatz ist abzulehnen, weil er soziologische Kennzeichen einer gesellschaftlichen Schicht mit individuellen Merkmalen verwechselt. Der Repräsentant wird lediglich aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung bestimmt. Bei der Frage nach dem Subjekt der Repräsentation könnte darüber hinaus vertreten werden, in einer Demokratie seien es viele oder alle, die repräsentieren, da jeder stimmberechtigte Bürger unabhängiger Vertreter des Ganzen sein solle.89 Dieser Ansatz ist allerdings abzulehnen, da er vom Standpunkt der Legitimation aus bedenklich erscheint. Denn wenn nicht die Bürger ihren Repräsentanten legitimieren, sondern sich jeder Bürger als Repräsentant begreift, der seine Legitimation quasi „von Gott“ empfängt, dann stützt sich Repräsentation nicht mehr auf das Gemeinwesen, sondern auf transzendente höhere Werte, die es in einer Demokratie nicht geben kann.90 Bei der demokratischen Repräsentation ist somit die Legitimation des Repräsentanten die einzige Anforderung und das entscheidende Element für ihre Wirksamkeit. Ob dabei die Legitimation durch einen mittelbaren oder unmittelbaren Wahlakt herbeigeführt wird, mag für ihre Stärke entscheidend sein, doch ändert auch eine mittelbare Legitimation nichts an der Wirksamkeit einer Repräsentation.91 Der Repräsentant muss daher keine besonderen Anforderungen erfüllen oder bestimmte Eigenschaften in seiner Person besitzen, um zu repräsentieren. Ist er demokratisch legitimiert, gilt er als Repräsentant. Der Repräsentant repräsentiert die europäischen Völker gegenüber dem Einzelnen, der selbst zu einem dieser Völker gehört. Der Repräsentant gibt dem Zusammenschluss der europäischen Völker ein „Gesicht“, er ist greifbar, der Einzelne 85 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 64, 140: Repräsentation sei Führung und bei einem selbstständigen Entscheidungsspielraum Herrschaft über die zu repräsentierende Einheit. 86 Schmitt, Verfassungslehre, S. 219. 87 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 73. 88 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 167. 89 Schmitt, Verfassungslehre, S. 216. 90 Zur Unterscheidung zwischen transzendenter und immanenter Legitimierung vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S. 141 f.; Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (60 f.). 91 Als Beispiel kann das Wahlsystem der Vereinigten Staaten herangezogen werden, bei welchem der Präsidenten durch Wahlmänner gewählt wird. Trotz dieser (nur) mittelbaren Legitimation ist der Präsident der unangefochtene Repräsentant des amerikanischen Volkes.

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kann mit ihm diskutieren. Zudem können die europäischen Völker auch nach außen gegenüber anderen Völkern und ihren Vertretern repräsentiert werden. In Staaten kommt diese Konstellation exemplarisch bei der völkerrechtlichen Vertretung durch das Staatsoberhaupt zum Ausdruck. 3. Zweck der Repräsentation Was ist der Zweck der Repräsentation? Diese Frage lässt sich mit der Struktur des Staates und seines Volkes beantworten. Das Volk im Staat ist in der Praxis weder rechtsgeschäftlich noch politisch handlungsfähig. Die demokratische Herrschaft kann aufgrund der Größe des Volkes und der Vielzahl und Komplexität der Aufgaben nicht von allen ursprünglichen Trägern der Herrschaftsgewalt selbst und gemeinsam ausgeübt werden, sondern es muss eine Delegation an einen Repräsentanten erfolgen.92 Es wird somit eine Person benötigt, die als handlungsfähiger Exponent in Erscheinung tritt. Wenn der Repräsentant für das Volk handelt, kann sein Verhalten dem Volk zugerechnet werden, und aus seinen Handlungen können Verpflichtungen und Berechtigungen entstehen. Demokratie als Staatsform verlangt somit nach organisatorischer Vermittlung. Sie ist angewiesen auf Institutionalisierbarkeit und erfordert als solche eine Repräsentation des Volkes.93 Das Handeln des Repräsentanten für das Volk kann allerdings zum Handeln für den Staat werden, wenn der Staat den Repräsentanten zu seinem Organ bestimmt. Grundsätzlich sind Organe Werkzeuge von Personengesamtheiten, die als solche nicht handlungsfähig sind.94 Im Staat werden die Staatsorgane, ihre Zuständigkeiten und Befugnisse durch die Rechtsordnung des jeweiligen Staates bestimmt. Als Staatsorgane können mithin diejenigen bezeichnet werden, die unmittelbar aufgrund der Verfassung tätig werden.95 Wenn der Staat festgelegt hat, welche natürliche Person Organ ist, wird ihr Verhalten – soweit es in Ausübung des Amtes erfolgt – zum Handeln des Staates und gleichfalls des Volkes.96 Der Repräsentant, der für das Volk handelt, handelt dann gleichfalls für den Staat, wenn er von diesem zum Organ bestimmt wurde. Es liegt daher nahe, dass der Repräsentant des Volkes auch Staatsorgan und somit für den Staat handlungsberechtigt ist, denn auch dieser ist als solcher selbst nicht handlungsfähig. Es besteht mithin bei Staaten zunächst die Vermutung, dass das Staatsoberhaupt als Organ seinen Staat im Ausland vertritt97, da das Staatsoberhaupt als „EinGrimm, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 4, S. 878. Sander, Repräsentation und Kompetenzverteilung, S. 104; Badura, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 23, Rn. 35 f. 94 Brox, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 740 ff. 95 J. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 834; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 344. 96 K. Ipsen, in: ders., Völkerrecht, § 40, Rn. 3. 97 Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (64). 92 93

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Mann-Organ“ besonders geeignet ist, den Staat als Einheit zu repräsentieren.98 Die meisten Autoren begnügen sich mit dem Hinweis, dass es zwar Sache der einzelstaatlichen Verfassung sei, dieses Organ zu bestimmen, betonen aber gleichzeitig, dass das Staatsoberhaupt das „maßgebliche Repräsentationsorgan“ sei, von dem die diplomatischen Vertreter ihre Repräsentationsbefugnisse ableiten.99 Da die Völker der Europäischen Union als solche nicht handlungsfähig sind, liegt es nahe, die staats- und völkerrechtlichen Grundsätze zu übertragen. Die Völker der Europäischen Union müssten dann einen Repräsentanten und seine Zuständigkeiten und Befugnisse festlegen. Werden diese Zuständigkeiten und Befugnisse im Primärrecht verankert und erhält der Repräsentant einen Organstatus, repräsentiert er gleichfalls die Europäische Union. 4. Mittel der Repräsentation Der Repräsentant repräsentiert durch die Ausübung seiner Kompetenzen. Entsprechend sind die Kompetenzen die Mittel der Repräsentation. Dies sind nicht nur die in der jeweiligen Verfassung beschriebenen Befugnisse, sondern er repräsentiert auch durch seine Anwesenheit. Genauso wichtig sind daher die Autorität seines Amtes und seiner Persönlichkeit, die sich in seinem Auftreten, seinen Reden und seinem Selbstverständnis widerspiegeln.100 Ohne eine Öffentlichkeit, die sein Wirken wahrnimmt und die er mit seinen Worten erreicht, können seine Botschaften nicht ihr Ziel erreichen. Repräsentation hängt daher entscheidend mit dem Bekanntheitsgrad des Repräsentanten zusammen. Als Ausgangslage ist die normierte Stellung des Repräsentanten vorhanden. Allein diese – in Staaten – verfassungsrechtliche Position verschafft ihm bereits einen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung. Besitzt ein Repräsentant überdies eine Fülle an Kompetenzen, so kann er durch ihre Ausübung seinen Bekanntheitsgrad vergrößern. Durch ihre Ausübung wird er zusätzlich in der Öffentlichkeit bekannt und kann mit dieser erlangten Bekanntheit und seiner demokratischen Legitimation repräsentieren. Ein Repräsentant mit wenigen Kompetenzen benötigt indes einen höheren Aufwand, um einen vergleichbaren Grad an Bekanntheit in der Öffentlichkeit zu erreichen. Eine Messung, inwieweit sich die Bürger, die das politische Gemeinwesen bilden, repräsentiert fühlen, ist mit juristischen Methoden, die die Fragestellung der Mittel der Repräsentation eines Gemeinwesens untersuchen, nicht möglich. Eine solche Messung erfolgt vorwiegend empirisch, insbesondere mit Hilfe der DemoHerzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 7. Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (64) m. w. N.; Lauterpacht, Oppenheim’s International Law, Bd. I, S. 757; Schwarzenberger, A Manual of International Law, S. 76, 82. 100 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 218. 98 99

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skopie101 und der „öffentlichen Meinung“, die als in den Medien „veröffentlichte Meinung“ in Erscheinung tritt.102 Der Begriff der Repräsentation im juristischen Sinn beschreibt demnach auch nicht etwa eine tatsächlich bestehende Übereinstimmung des natürlichen Willens der einzelnen Bürger mit den Entscheidungen und Handlungen des Repräsentanten. Er setzt nur voraus, dass eine solche Übereinstimmung möglich ist und sieht dieses Ziel gewährleistet durch die legitimierende Kraft der periodisch stattfindenden Wahlen nach demokratischen Grundsätzen.103 Mit anderen Worten trifft das Volk lediglich eine hochgeneralisierte, Sachentscheidungen nur schwach determinierende, Richtungsentscheidung.104

II. Integrationsfunktion Als weitere Funktion ist das Staatsoberhaupt integrierend tätig. Hiermit bezeichnet man die Herstellung und Darstellung staatlicher Einheit. Die widerstreitenden Interessen sollen zu einem Ausgleich gebracht werden.105 Der Begriff der Integration wurde zunächst in der Mathematik verwendet, um die Methode der Vereinigung von Differentialen zu bezeichnen. Später fand der Integrationsbegriff Eingang in die Soziologie.106 In der Rechtswissenschaft wurde der Integrationsbegriff zuerst von Otto von Gierke aufgegriffen.107 Er benutzte den Begriff der Integration jedoch lediglich für eine Beschreibung der Vorgänge innerhalb von menschlichen Sozialgebilden, ohne ihr eigenen Erkenntniswert zuzuschreiben.108 In den darauf folgenden Jahren häufte sich die Benutzung des Wortes Integration in der juristischen Literatur.109 Seine Bedeutung blieb allerdings trotz zahlreicher Definitionsversuche unklar. Abgesehen von psychologischen und soziologischen Definitionen wird mit dem Wort Integration ein Vorteil der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen beschrieben, da so die Einheit der Staatsgesellschaft gewährleistet werde.110 Wie diese Einheit gewährleistet werden soll, bleibt allerdings undeutlich. Smend bringt den Integrationsbegriff in seiner Integrationslehre111 schließlich als Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 271 ff. Beierwaltes, Demokratie und Medien, S. 56 ff.; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 174. 103 Badura, Staatsrecht, S. 451. 104 Grimm, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 4, S. 880. 105 Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 53 ff. 106 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (136, Fn. 3); Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 126 ff. 107 v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, S. 33 ff. 108 Hierzu Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 128 f. 109 Wittmayer, Schwächen der neuen deutschen Bundesstaatslehre, ZöR III (1922 / 1923), 503 (530, Fn. 4). 110 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920 / 1921), 50 (75). 101 102

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Vereinheitlichung oder Einheitsbildung in die staatstheoretische Diskussion ein. Das Wort „Integration“ ist somit keine sprachliche Neuschöpfung Smends, sondern er greift bewusst einen Begriff auf, der bereits in der wissenschaftlichen Literatur verwendet wurde.112 Die Integrationslehre strebt eine Neubegründung der juristischen Betrachtung und Behandlung von Verfassung und Verfassungsrecht auf Basis der Staatstheorie an. Smends Absicht war es, eine „materiale“ Staatstheorie auf „geisteswissenschaftlicher“ Grundlage zu entwerfen. Sein Grundproblem war die Frage, wie der Staat als eine reale Vereinigung von Menschen, als ein realer Willensverband erfasst werden kann.113 Er wendet sich gegen die Gedanken der Aufklärung, der französischen Revolution und den sich daraus herleitenden Bewegungen, nach denen der Staat ein herstellbares Gebilde ist, das die Einzelnen im Wege der Vereinbarung bilden, um bestimmte Zwecke zu erfüllen. Aus diesem Grund ist der Staat in der Integrationslehre keine an sich bestehende Person, die versucht, mit bestimmten Mitteln bestimmte Aufgaben zu erfüllen und sich so von den Bürgern entfernt, sondern der Staat wird als Lebensgemeinschaft von Menschen verstanden und eben nicht als reine Zweckschöpfung. Smend teilt die den Staat konstituierenden Faktoren in formale und sachlich-symbolische Vorgänge auf, die in wechselseitigem Einwirken den Staat erzeugen.114 Diese einheitsbildenden Faktoren sind die persönliche, sachliche und funktionelle Integration, die als ideale Abstraktionen verstanden werden sollen, die in reiner Form in der Wirklichkeit nicht auftreten und erst in ihrem Zusammenwirken den Staat konstituieren.115 Die hier behandelte persönliche Integration beschäftigt sich mit dem Problem der staatlichen Führung, der Repräsentation und mit der Herstellung staatlicher Einheit durch die integrierende Wirkung von Staatsoberhäuptern. Die Hauptaufgabe der Staatsoberhäupter sieht Smend in der „Führung der von ihm Geführten“, nicht in den technischen Aspekten des Regierens. Führung ist dabei nicht als einseitige Steuerung einer trägen Masse zu verstehen, sondern setzt eigene Aktivität voraus. Die Leistung des Integrationsfaktors besteht dabei in dem Zusammenschluss der Einzelnen zu einer Gemeinschaft. Wie der Integrationsprozess genau abläuft, wird explizit nicht erläutert. Es werden lediglich Personen wie Führer, Herrscher, Monarchen, öffentliche Funktionäre genannt116, die durch ihre Funktion und Person integrierend wirken. In der Weiterentwicklung der Smend’schen Theorie wird die Integrationsfunktion heute in einer Demokratie in der aktiven Förderung der Einheit des Gemeinwesens gesehen. Unabhängig davon, wie viel politische Macht das einzelne Staats111 112 113 114 115 116

Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (142 f.). Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (136, Fn. 3). Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (124 f.). Mols, Integrationslehre und politische Theorie, AöR 94 (1969) 513 (519). Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 134. Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 475 (476).

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

oberhaupt hat, soll es versuchen, den demokratischen Grundkonsens aller zu stärken und somit die Funktionsfähigkeit der Demokratie zu unterstützen. Repräsentations- und Integrationsfunktion sind dabei in ihrer Ausübung eng miteinander verflochten. So sind integrierende Funktionen wie Wahlen und Abstimmungen unerlässliche Teile einer Repräsentation.117 Im Gegenzug integriert der Repräsentant, indem er seine Befugnisse ausübt. Aus der Tatsache, dass der genaue Vorgang der Integration nicht näher beschrieben ist, wird leicht gefolgert, eine Person könne nicht integrierend wirken. Sie könne im Gegenteil polarisieren und somit desintegrierende Folgen mit sich bringen.118 Smend argumentiert gegen diese Einwände mit einem in einer Demokratie vollzogenen Wechsel der Führerschaft. Dadurch können unterschiedliche Gruppen von Bürgern durch verschiedene Integrationsfiguren erfasst werden.119 Die Legitimation des Staatsoberhaupts bei der Ausübung der Integrationsfunktion findet durch den Wahlakt (bei Smend die funktionelle Integration) statt. Diese Legitimation durch die Bürger verpflichtet das Staatsoberhaupt, im Gegenzug integrierend auf sie einzuwirken. Da es wie bei der Repräsentation nicht auf den Einzelnen, sondern auf das Gemeinwesen ankommt, ist es unerheblich, ob tatsächlich bei jedem Einzelnen eine integrierende Wirkung stattfindet bzw. er sich integriert fühlt. Notwendig ist es aber zu untersuchen, unter welchen Bedingungen dem Staatsoberhaupt die Erfüllung dieser Aufgabe möglich ist respektive erleichtert werden kann. Ausgangspunkt ist bei dieser Betrachtung, dass es in einer pluralistischen Demokratie, in der die verschiedenen widerstreitenden Gruppen starke auseinanderstrebende Kräfte freisetzen, für die Einheit des Gemeinwesens entscheidend darauf ankommt, dass es ebenso starke zusammenführende Kräfte gibt, die die Gesellschaft zusammenhalten und Gemeinsamkeiten betonen.120 Das Staatsoberhaupt ist eine dieser Kräfte, die Integrationsfunktion121 ist eines seiner Mittel. Es erfüllt seine Aufgaben nicht nur durch die Ausübung seiner Kompetenzen, sondern auch durch öffentliche Reden, Schirmherrschaften, Glückwunschadressen oder Reisen.122 Seine Handlungen müssen dabei mit dem Anspruch erfolgen, für alle Bürger vollzogen zu werden und nicht nur für eine bestimmte Klientel. Das Staatsoberhaupt integriert mithin aufgrund seiner verfassungsrechtlich festgelegten Stellung. 117 Bei Smend bezeichnet als funktionelle Integrationsfaktoren. Mit weiteren Beispielen Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (154). 118 Diese Fragen aufwerfend Waechter, Studien zum Gedanken der Einheit des Staates, S. 103. 119 Smend, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 119 (144). 120 Herzog bezeichnet diese Kräfte als „zentrifugale“ und „zentripetale“ Kräfte, ders., in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 98. 121 Vgl. Pernice, in: Dreier, GG-Komm. Art. 54, Rn. 28 m. w. N. 122 Maurer, in: Börner / Jahrreiß / Stern, Festschrift für Karl Carstens, Bd. II, 701 (706); Butzer, Der Bundespräsident und sein Präsidialamt, VerwArch 82 (1991), 497 (505). Beispielsweise besuchte Bundespräsident Heuss als erstes Land Bayern, dessen Landtag das Grundgesetz abgelehnt hatte. Dies stellte eine Demonstration für das Selbstwertgefühl der Bayern dar, die so eine deutliche Aufwertung erfuhren; ähnlich Kempf, in: Hartmann / Kempf, Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien, S. 24.

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III. Symbolfunktion Symbole gehören seit jeher zum Staat. Durch sie können komplexe soziokulturelle Vorstellungsinhalte übermittelt werden. Sie dienen der Sicherung von Gemeinschaft und Solidarität dadurch, dass sie von den Angehörigen eines Kollektivs anerkannt werden.123 Übernommen wurde diese Darstellungsform aus vorstaatlichen Epochen, aus Kult oder aus der Religion.124 Was ein Symbol ist, wann es vorliegt und wer ein Symbol sein kann, ist dennoch schwierig zu beantworten. Eine wissenschaftliche Beweisführung ob ein Staatsoberhaupt eine Symbolfunktion besitzt, ist mit juristischen Methoden nicht zu leisten. So werden die Fragen der Symbolwirkung und -funktion in erster Linie von der Sozialpsychologie untersucht, deren Forschungsergebnisse von der Staatslehre verwendet werden.125 Ursprünglich kommt das Wort Symbol aus der griechischen Sprache. Dort heißt „symballein“ zusammentreffen, sich begegnen.126 Unter einem Symbol wird ferner ein Mittel verstanden, anhand dessen eine abstrakte Aussage, beispielsweise eine politische Idee, besser verständlich gemacht werden kann. Das Symbol repräsentiert eine gedankliche Abstraktion und verwandelt sie dadurch in eine unmittelbar, real und konkret verständliche Aussage.127 Hans J. Wolff versucht eine wissenschaftliche Analyse und ordnet das Symbol zwischen Identifikation und Repräsentation ein. Das Symbol sei keine Darstellung, wohl aber ein Ausdruck eines Sinns und Wertes. Bei der Repräsentation schließe man auf das Repräsentierte, das im Repräsentanten vorgestellt werde; sie setze daher eine Beziehung zwischen Repräsentant und Repräsentiertem voraus. Das Symbol hingegen setze die Kenntnis des Symbolisierten voraus und schaffe so erst die Beziehung zu ihm kraft des selbst gelegten Hinweises.128 Symbole, z. B. Orden, werden als Mittel der Diplomatie zwischen den Staaten eingesetzt oder im Staat selbst verwendet. Symbolik steht in großer Nähe zur Repräsentation, bezieht sich allerdings nicht auf Personen oder Personengruppen wie die Repräsentation, sondern auf Zeichen.129 Staatliche Symbole sind „sinnliche wahrnehmbare Gegenstände, in denen die Staatshoheit, Staatsmacht und Staatsautorität ihren Ausdruck finden“.130 Insofern stellt das Staatsoberhaupt selbst kein Symbol dar und übt daher auch keine Symbolfunktion aus.

Helle, in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 5, S. 406. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 276 f. 125 Hierzu Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (79). 126 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 30 m. w. N. 127 Loewenstein, in: Constantopoulos / Wehberg, Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 559 (560); Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 31. 128 Wolff, Organschaft und juristische Person, Theorie der Vertretung, Bd. 2, S. 21. 129 Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 277; Partsch, Von der Würde des Staates, S. 31 f. 130 Dohna, Graf zu, in: Anschütz / Thoma, HdbDStR, Bd. I, S. 200. 123 124

4 Staeglich

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

IV. Symbolsetzungsgewalt Die Symbolsetzungsgewalt, d. h. die Befugnis, nationale Symbole131 zu bestimmen, ist in Deutschland im Grundgesetz nicht geregelt. Eine alleinige Befugnis des deutschen Staatsoberhaupts zur Setzung von Symbolen kommt aufgrund des unterschiedlichen Rechtscharakters des staatlichen Symbols nicht in Betracht. Zu unterscheiden ist bezüglich des Rechtscharakters eines Symbols zum einen die Wirkung eines Symbols in der Sphäre des Bürgers, zum anderen auf die staatlichen Organe selbst.132 Angesichts der Beziehung der Symbole zur Staatlichkeit besteht eine gewisse kompetentielle Affinität zum Staatsoberhaupt. Sie ergibt sich einerseits aus der Tradition der Befugnisse der Staatsoberhäupter133, andererseits spricht eine Zuständigkeitsvermutung für eine Kompetenz des Staatsoberhaupts, falls nicht per Verfassung oder Gesetz andere Zuständigkeiten festgelegt wurden. Die präsidentiellen Kompetenzen des Staatsoberhaupts müssen insofern gegenüber den Kompetenzen des Parlaments abgegrenzt werden. V. Vertrauensbildungsfunktion Das Staatsoberhaupt soll – so Herzog – ein Organ der Vertrauensbildung sein, um gemeinsam mit anderen Vertrauensträgern, das Vertrauen der Bürger in die Rechtmäßigkeit des Staates zu schaffen und aufrechtzuerhalten. 134 In einer Demokratie, die auf die freiwillige Mitarbeit und Loyalität ihrer Bürger angewiesen ist, ist diese Funktion eine Schlüsselfunktion, durch die die Leistungsfähigkeit des Staates, der sich auf die Mitarbeit seiner Bürger verlassen muss, geschaffen wird. Diese Leistungsfähigkeit des Staates ist im Gegenzug eine Voraussetzung, die den Respekt und das Vertrauen der Bürger begründet. So sind Staat und Bürger miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Als abstrakte Größe braucht der Staat jedoch konkrete Personen, die in Erscheinung treten und seine Werte dem Bürger vermitteln. Diese Vermittlerrolle kommt dem Staatsoberhaupt zu. VI. Kontinuitäts- / Reservefunktion Das Staatsoberhaupt kann ferner eine Kontinuitäts- oder Reservefunktion haben.135 Gemeint ist, dass das Staatsoberhaupt nicht direkt an politischen EntscheiZ. B. die Nationalhymne, Fahnen, Feiertage oder Orden. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 219. 133 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 219 m. w. N. 134 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 98. 135 Die Bezeichnung ist bei dieser Funktion nicht einheitlich. So verwendet Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, S. 32, den 131 132

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dungen beteiligt ist, sondern nur im Ausnahmefall als „Reserve“ in Erscheinung tritt, um dann die „Kontinuität“ des Staates zu wahren. Diese Funktion lebt erst dann auf, wenn das Parlament und die Regierung handlungsunfähig und nicht mehr zu einer eigenen Lösung fähig sind. Das Staatsoberhaupt bekommt dann eine gewisse „Reservemacht“. Handelt es sich um eine parlamentarische Demokratie in einem monarchischen Staat und ist das Staatsoberhaupt mit monarchischen Insignien ausgestattet, tritt die Funktion der Kontinuitätswahrung allerdings hinter der Funktion der Verfassungshütung und der Repräsentation zurück.136 In einer Präsidialdemokratie kann die Kontinuitätsfunktion ebenfalls zurücktreten, wenn das Staatsoberhaupt bei neuen Mehrheitsverhältnissen wechselt.137 In Deutschland bleibt bei einem Regierungswechsel das Staatsoberhaupt bestehen und ernennt dann den neuen Regierungschef. Es geht bei dieser Funktion somit nicht nur um die Kontinuität des Staatsapparates über den Regierungswechsel hinweg, sondern auch – im Zusammenhang mit der Symbolwirkung – um die Kontinuität des Staates als Einheit.138 Pfister unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer dynamischen und einer statischen Spitze in einem parlamentarisch-demokratischen Staat. Die „dynamische Spitze“ sei der Regierungschef, die „statische Spitze“ das Staatsoberhaupt. Da ein solches System zu Spannungen führen würde, wenn man die beiden „Spitzen“ als gleichrangige Verkörperungen entgegengesetzter Prinzipien betrachtete, verkörpert das Staatsoberhaupt die Funktion der Kontinuitätswahrung in einem insgesamt auf die Dynamik des modernen Staates ausgerichteten System.139 Problematisch ist an dieser Stelle allerdings, ob die Kontinuitätsfunktion überhaupt eine Funktion ist, oder ob es sich nicht vielmehr um die Kontinuität der Funktionen handelt, die durch ein Staatsoberhaupt verkörpert wird. Dagegen kann eingewendet werden, dass es sowohl um die Kontinuitätswahrung der einzelnen Funktionen geht, als auch die Kontinuität des Staates an sich zu gewährleisten. Die Kontinuitätsfunktion hat daher einen eigenen Anwendungsbereich, der sich nicht auf die anderen Funktionen bezieht. Begriff der Reservefunktion. Auf der Staatsrechtslehrertagung 1967 (VVDStRL 25) wurden weiter die Begriffe der Kontinuitätsfunktion Kimminich, S. 69, 87, 224; der Begriff der Legitimitätsreserve Pernthaler, S. 179 ff. und der Entstörungsfunktion Bettermann, S. 224 für Staatsoberhäupter angesprochen. Düring spricht plastisch „von einem ,Reservetank‘ oder ,Reserverad‘, das auch bei einem vorübergehenden Nichtfunktionieren des parlamentarischen Betriebs den Karren noch in Gang hält, bis er wieder ganz ,fit‘ ist“, S. 224. Maurer, Hat der Bundespräsident ein politisches Mitspracherecht?, DÖV 1966, 665 (673), hingegen spricht ganz allgemein von Krisenbefugnissen des Bundespräsidenten. 136 Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (87). 137 Anders in Frankreich, wo das Staatsoberhaupt direkt gewählt wird und auch bei wechselnden Mehrheiten im Parlament im Amt bleibt. 138 So auch die Überlegung Adenauers, wonach es darum gehe, in diesem Amt auf Jahre hinaus die Kontinuität der Politik zu sichern. Rundfunkerklärung vom 8. 4. 1959, AdG 1959, S. 7645. 139 Pfister, Das ungelöste Wahlproblem, S. 40. 4*

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

VII. Funktionen in der Europäischen Union Die oben genannten einheitsstiftenden Funktionen müssten auf die Europäische Union übertragbar sein und darüber hinaus in der Europäischen Union benötigt werden. In Staaten üben die Staatsoberhäupter einheitsstiftende Funktionen aus.140 Von einer Staatlichkeit der Union kann zum heutigen Zeitpunkt noch nicht gesprochen werden, auch wenn sie möglicherweise einige der Anforderungen erfüllt, welche die Allgemeine Staatslehre entwickelt hat und die modifiziert in das Völkerrecht übernommen wurden, da das universale Völkerrecht über keine eigene positivrechtliche Definition des Staates verfügt.141 Die Staatseigenschaft eines organisierten Herrschaftsverbandes bestimmt sich daher nach der auf Jellinek zurückgehenden Drei-Elementen-Lehre. 142 Diese wurde dabei an die besonderen Gegebenheiten des Völkerrechts angepasst, welches notwendigerweise offen für alle politischen Systeme bleiben muss. Zwar ist diese Staatsdefinition im Schrifttum nicht ohne Kritik143 geblieben, doch wird sie von der Völkerrechtspraxis bei der Beurteilung von Staaten immer noch angewandt144, auch wenn problematische Konstellationen bekannt sind.145 Unabhängig von der Erfüllung der weiteren Kriterien – Staatsgebiet und Staatsvolk –, die die Europäische Union erfüllen müsste, um als Staat bezeichnet werden zu können, ist jedenfalls das Kriterium der Staatsgewalt nicht erfüllt. Die vorhandene Gemeinschaftsgewalt leitet sich von den Mitgliedstaaten ab und wirkt nur kraft eines Rechtsanwendungsbefehls. Zumindest in Deutschland wäre die Aufgabe deutscher Staatsgewalt mit der Folge, dass Europarecht deutsches Recht zur Anwendung bringt und nicht umgekehrt, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundgesetzwidrig.146 Ebenso bleibt die Souveränität der Mitgliedstaaten erhalten, die weiterhin die Zukunft und das damit verknüpfte Schicksal der Gemeinschaft bestimmen können. Die Übertragung lediglich einzelner HoSiehe S. 24 und S. 34 ff. Darsow, Zum Wandel des Staatsbegriffs, S. 112 ff., über die Bestrebungen auf der San Francisco-Konferenz, eine Staatsdefinition in die Charta der Vereinten Nationen aufzunehmen. So bestimmt Art. 4 der UN-Charta, dass nur „Staaten“ Mitglieder der Weltorganisation werden können, ohne diesen Begriff zu umschreiben. 142 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff. 143 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 85 ff., S. 91 ff.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 145 f.; Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 22 f. 144 Dies hat auch die von der EPZ zur Frage der Auflösung des Staates Jugoslawien eingesetzte Badinter-Kommission in ihrem Gutachten Nr. 1 nochmals bestätigt, in: EJIL 1992, 182. 145 Z. B. bei der Beurteilung der Staatsqualität von Taiwan und Südrhodesien. Bezüglich Weißrussland und der Ukraine als Gliedstaaten der UdSSR war klar, dass ihre Aufnahme in die VN nur aus politischen Gründen erfolgt. Eigentlich können nur Staaten im völkerrechtlichen Sinne, Art. 4 Abs. 1 VN-Charta beitreten, Busse, Die völkerrechtliche Einordnung der EU, S. 76 f. 146 Vgl. BVerfGE 89, 155 (190); BVerfG, 2 BvR 2236 / 04 vom 18. 7. 2005, Rn. 60 ff. 140 141

1. Kap.: Stellung und Funktionen

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heitsrechte bedeutet daher noch keinen Verzicht auf die Souveränität an sich. Nicht mit Souveränität verwechselt werden darf, dass die Gemeinschaft beispielsweise ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeiten 147 besitzt und Sanktionen148 der Mitgliedstaaten festsetzen darf. Denn hierbei handelt es sich um ein abgeleitetes Recht. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung149, wonach jedes Gemeinschaftsorgan nach Maßgabe der ihm zugewiesenen Befugnisse handelt, wird an vielen Stellen des Vertrags festgeschrieben. Von einem Staat unterscheidet sich die Europäische Union somit dadurch, dass sie nicht über die Kompetenz verfügt, selbst neue Kompetenzen zu begründen. Ungeachtet der Vertragsergänzungskompetenz des Art. 308 EG und der Möglichkeiten, die durch die Harmonisierungskompetenzen der Art. 94 und 95 EG eröffnet werden, wird auch durch Art. 6 Abs. 4 EU, der ebenfalls keine Kompetenz-Kompetenz150 begründet, dieser Grundsatz nicht in Frage gestellt. Kompetenzerweiterungen bedürfen der Vertragsänderung gemäß Art. 48 EU. Auch die deutlich überwiegende Mehrheit der Rechtswissenschaftler151 ist sich – teilweise aus anderen Erwägungen –, einig, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine Staatlichkeit der Union nicht besteht. Die Europäische Union stellt einen Staatenverbund152 dar, in dem sich die Verfassungsstaaten so verbunden haben, dass die Intensität dieser Bindung den Staatenbund deutlich übersteigt, die Staatlichkeit eines Bundesstaates jedoch nicht erreicht wird.153 147 Z. B. die Festlegung des gemeinsamen Zolltarifs (Art. 26 EG), internationaler Verkehr in der EG (Art. 71 Abs. 1 lit. a EG), Dienstleistungsfreiheit von Verkehrsunternehmen (Art. 71 Abs. 1 lit. b EG), die Währungspolitik (Art. 107 Abs. 5, 6 EG; Art. 111 EG) sowie die entsprechenden geldpolitischen Rechtsetzungskompetenzen der EZB gem. Art. 110 Abs. 1 EG. 148 Z. B. das Verfahren nach Art. 228 Abs. 2 Satz 4 EG, das dem EuGH erlaubt, auf Antrag der Kommission bei Nichtbefolgung von Urteilen des EuGH ein Zwangsgeld gegen den säumigen Mitgliedstaat zu verhängen. Weitere Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat erlaubt Art. 104 Abs. 9 – 11 EG. Hiernach kann der Rat an einen Mitgliedstaat mit einem übermäßigen Haushaltsdefizit, der zuvorgegebenen Empfehlungen nicht nachgekommen ist, eine Geldbuße verhängen. 149 Siehe Art. 3 Abs. 1; 5 Abs. 1; 7 Abs. 1, Satz 2; 189 Abs. 1 EG und Art. 2 Abs. 2; 5 EU. 150 BVerfGE 89, 155 (195); Puttler, in: Calliess / Ruffert, EU-Komm., Art. 6 EU, Rn. 226; Beutler, in: v. der Groeben / Schwarze, EU-Komm., Art. 6 EU, Rn. 208; Pechstein, in: Streinz, EU-Komm., Art. 6 EU, Rn. 28 m. w. N. 151 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 5; Koenig / Pechstein, Die Europäische Union, S. 20; Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, 98 (102); Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, 2846 (2851) m. w. N.; Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659 (678) m. w. N.; Seidel, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaften nach Maastricht, EuR 1992, 125 (140); Breitenmoser, Die Europäische Union zwischen Völkerrecht und Staatsrecht, ZaöRV 55 (1995), 951 (990) m. w. N. 152 BVerfGE 89, 155 (156, 181). 153 Hierzu Kirchhof, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, 893 (900) m. w. N. Stein / v. Buttlar, Völkerrecht, Rn. 294, 436.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Die Europäische Union gilt somit als staatsähnliches Gebilde, das staatsähnliche Aufgaben erfüllt. So gibt es etwa eine Fülle von Eigenzuständigkeiten und eine fortschreitende Unionsgewalt, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich ist. Weiter existiert eine autonome Rechtsetzungsgewalt, deren gesetztes Recht ebenfalls für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Die europäische Rechtsordnung verleiht den Einzelnen Rechte und ermächtigt die Europäische Union zu administrativen Maßnahmen. Die Europäische Union verfügt über einen einheitlichen institutionellen Rahmen, in dem sich die darin umfassten Organe einen eigenständigen europäischen Willen bilden können. Es sind gemeinsame Grundwerte und Grundrechte vorhanden.154 Die Europäische Union bildet eine Rechtsgemeinschaft.155 Fraglich ist daher, ob aufgrund der Ähnlichkeit der Europäischen Union zu einem Staat die einheitsstiftenden Funktionen übertragbar sind und ob sie darüber hinaus in der Europäischen Union benötigt werden. Ziel der Europäischen Union ist eine gemeinsame Zukunftsgestaltung der europäischen Bürger und der Staaten Europas (vgl. Art. 1 Abs. 2 EU; Art. I-1 Abs. 1 VV). Auf dem Weg zu einer solchen immer enger werdenden Europäischen Union, an deren Ende möglicherweise ein europäischer Staat steht, genügt es nicht, kreierte Organe mit Kompetenzen auszustatten, die Wirtschaftspolitik zu koordinieren oder die Währung zu vergemeinschaften. Es ist notwendig, bei der Abgabe immer weiterer Hoheitsrechte, die inzwischen ganze Bereiche156 umfassen, die Bürger einzubeziehen, die dem Wandel der Europäischen Union von einer anfänglichen Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft letztendlich die demokratische Legitimation verleihen müssen. Doch die Bürger Europas kommen aus verschiedenen Staaten und haben unterschiedliche Hintergründe, Traditionen und Lebensweisen. Die Europäische Union stellt somit ein stark heterogenes Gebilde dar. Einheitsstiftende Funktionen, die das Gemeinsame und nicht die Unterschiede betonen sollen, sind für den Zusammenhalt der Europäischen Union daher unerlässlich. Der Grad der Notwendigkeit von einheitsstiftenden Funktionen ergibt sich aus der bereits vorhandenen Einheitlichkeit des jeweiligen Gebildes. Handelt es sich um ein weitestgehend homogenes Gemeinwesen, in welchem überwiegender Konsens herrscht, ist die Notwendigkeit von einheitsstiftenden Funktionen geringer. Handelt es sich hingegen um ein heterogenes Gebilde, werden einheitsstiftende Funktionen stärker benötigt. Vgl. hierzu mit vielen Beispielen Oppermann, Europarecht, § 12, Rn. 8 ff. Oppermann, Europarecht, § 1, Rn. 47; § 6, Rn. 9. 156 Z. B. die gemeinsame Handelspolitik (Art. 133 EG), die Festlegung des gemeinsamen Zolltarifs (Art. 26 EG), internationaler Verkehr in der EG (Art. 71 Abs. 1 lit. a EG), Dienstleistungsfreiheit von Verkehrsunternehmen (Art. 71 Abs. 1 lit. b EG), die Währungspolitik (Art. 107 Abs. 5, 6 EG; Art. 111 EG) sowie die entsprechenden geldpolitischen Rechtsetzungskompetenzen der EZB gem. Art. 110 Abs. 1 EG. Auch die Regelung des Beamtenstatuts der EG-Beamten (Art. 283 EG) ist eine ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft. Aber auch im Bereich der konkurrierenden Gemeinschaftszuständigkeiten sind die Mitgliedstaaten nur solange und soweit zuständig, wie die EG keine Rechtsakte erlassen hat, die die Materie abschließend regeln. 154 155

1. Kap.: Stellung und Funktionen

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Für die Europäische Union bedeutet dies, dass es aufgrund der vielen kleinen und großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern eines Unionsoberhaupts bedarf, das einheitsstiftend tätig wird. Erst wenn die europäischen Bürger unabhängig von ihrer nationalen Staatsangehörigkeit in den europäischen Prozess integriert und als Gemeinwesen repräsentiert werden, beruhen die staatsähnlichen Aufgaben, die die Europäische Union jetzt schon erfüllt und in Zukunft vermehrt erfüllen soll, auf einer trag- und ausbaufähigen Grundlage. So wie es daher für einen Staat notwendig ist, ein Staatsoberhaupt mit bestimmten Funktionen zu haben, ist es für die Europäische Union als staatsähnliches Gebilde unerlässlich, eine Person an der Spitze zu haben, die diese Funktionen ausübt. Durch die gemeinsame Legitimation dieser Person durch die europäischen Bürger kann sich ein stärkeres Gemeinwesen bilden, als dasjenige, welches durch die Unionsbürgerschaft bereits geschaffen wurde. Die so legitimierte Person fördert dann ihrerseits ein weiteres Zusammenwachsen der europäischen Bürger. Sie repräsentiert die europäischen Bürger und ist – anders als das abstrakte Gebilde der Europäischen Union – greifbar. Die Europäische Union, die ihre Entscheidungen auch gegenüber jedem einzelnen ihrer Bürger verantworten muss, bekommt ein „Gesicht“. Es findet so eine wechselseitige Beziehung statt, bei der einerseits die europäischen Bürger ihr Oberhaupt von „unten nach oben“ legitimieren, andererseits genau dieses Oberhaupt durch die Ausübung seiner Funktionen ein einheitlicheres, engeres Gemeinwesen schafft, es bestärkt und ausbaut. Die einheitsstiftenden Funktionen von Staatsoberhäuptern werden somit in der Europäischen Union benötigt, um das weitere erwünschte Zusammenwachsen dieses Gebildes, getragen durch die europäischen Bürger, zu ermöglichen.

C. Ergebnis Die Frage nach der Stellung und Funktion eines Oberhaupts lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Insbesondere eine Definition, die beispielsweise einen Kernbestand an Kompetenzen beeinhalten könnte, scheint nicht möglich. Lediglich eine von Herzog entwickelte Unterteilung der Staatsoberhäupter in so genannte unselbstständige, d. h. solche mit geringen rechtlichen und politischen Befugnissen und selbstständige, d. h. solche mit erheblichen Befugnissen, verdeutlicht, dass zumindest ein großes Maß an Kompetenzen nicht zwingend benötigt wird. Ein Oberhaupt wirkt somit unabhängig von seinem rechtlichen und politischen Machtpotential sowohl auf einer äußeren als auch auf einer inneren Ebene. Allerdings hängt der Grad seiner Wirkung von den vorhandenen Kompetenzen ab. Die genannten einheitsstiftenden Funktionen157 werden jedoch in unterschiedlicher Intensität von allen Oberhäuptern allein aufgrund ihres Status ausgeübt. Sie sind Folge der Stellung einer Person als Oberhaupt. Für ein weiteres Zusammen157

Siehe S. 24.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

wachsen des heterogenen Gebildes der Europäischen Union158 sind diese einheitsstiftenden Funktionen, die das Gemeinsame und nicht die Unterschiede betonen, unerlässlich. Ein Unionsoberhaupt könnte diese Funktionen ausüben und so einen Beitrag zu einem weiteren Zusammenwachsen leisten. 2. Kapitel

Das Staatsoberhaupt in Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland übt der Bundespräsident als Staatsoberhaupt die einheitsstiftenden Funktionen aus. Denn trotz des Fehlens eines Hinweises auf das Amt oder die Bezeichnung Staatsoberhaupt besteht kein Zweifel, dass die Verfassungsgeber den Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt einsetzen wollten und ihn damit an die Spitze der Bundesrepublik Deutschland stellen wollten.159 Dies ergibt sich auch aus der Bezeichnung „Präsident“, die traditionell in Republiken für das Staatsoberhaupt verwendet wird.160 Die gebräuchliche und unstreitige Bezeichnung als Staatsoberhaupt161 ergibt sich weiter materiell aus der Stellung, den Kompetenzen und dem Selbstverständnis der jeweiligen Amtsinhaber.

A. Stellung des Bundespräsidenten im Verfassungsgefüge Der Bundespräsident ist eines der besonderen Organe des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, durch die die Staatsgewalt ausgeübt wird. Er ist mithin nicht selbst juristische Person, sondern Organ der juristischen Person Bundesrepublik Deutschland. Seine herausgehobene Stellung kommt systematisch in einem eigenen Abschnitt der Verfassung zum Ausdruck, der nach ihm benannt ist.162 Die systematische Einordnung ist allerdings an der Zugehörigkeit der Gewalten ausgerichtet, bei der zuerst die Organe der Legislative genannt werden.163 Die Erwähnung des Bundespräsidenten als Teil der Exekutive erfolgt daher hinter der Nennung des Bundestags, des Bundesrats und des Gemeinsamen Ausschusses. Dem Bundespräsidenten sind politische Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse fast durchgängig versagt. Gegenüber der starken Stellung des ReichspräSiehe S. 54. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 190 m. w. N. 160 Pohl, in: Anschütz / Thoma, HdbDStR, Bd. I, S. 479; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 202. 161 JöR 1 (1951), 398; Schlaich bezeichnet den Bundespräsident in Funktion und Titel als unbestrittenes Staatsoberhaupt, ders., in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 91; Badura, Staatsrecht, S. 498. 162 Abschnitt V – Der Bundespräsident (Art. 54 – 61 GG). 163 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 190. 158 159

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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sidenten in der Weimarer Republik verfolgt das Grundgesetz eine Parlamentarisierung der Staatsleitung, was die starke Stellung des parlamentarisch verantwortlichen Bundeskanzlers verdeutlicht.164 Dem Bundespräsidenten kommt indes eine vornehmlich repräsentative Rolle zu. Gewählt wird der Bundespräsident nicht direkt vom Volk, sondern durch die Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 3 GG). Mit der Wahl des Bundespräsidenten sowohl durch Vertreter des Bundestags als auch durch Vertreter der Bundesländer ist ein Wahlmodus geschaffen worden, der die Wahl des Bundespräsidenten auf eine möglichst breite Basis stellt.165 Die Amtszeit des Bundespräsidenten beträgt fünf Jahre, und eine Wiederwahl ist einmal zulässig (Art. 54 Abs. 2 GG). Der Bundespräsident leistet vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats einen Amtseid (Art. 56 GG). Die Vertretung des Bundespräsidenten bei dessen Verhinderung ist gemäß Art. 57 GG verfassungsrechtlich festgelegt und wird durch den Bundesratspräsidenten wahrgenommen.166 Der Bundespräsident hat somit nicht die Möglichkeit, selbst einen Vertreter zu bestimmen. In welchen Fällen eine Verhinderung vorliegt, bestimmt der Bundespräsident selbst.167 I. Der Bundespräsident als „neutrales“ Organ? Traditionell soll das Staatsoberhaupt vor allem die ordnende, schlichtende und ausgleichende Person im Staat darstellen, die als „neutrale Kraft“ über den tagespolitischen Auseinandersetzungen steht.168 Doch was bedeutet Neutralität? Kann der Verfassung tatsächlich entnommen werden, dass das Amt des Bundespräsidenten – anders als das des Bundeskanzlers – in Distanz und Neutralität gegenüber den parteipolitischen Programmen und Bestrebungen ausgeübt werden soll? So wird beispielsweise behauptet der Bundespräsident stehe nicht für das Trennende, sondern für das, was in Staat und Verfassungsordnung über die Parteigrenzen hinaus das Einende und Verbindende sei.169 Sein Amt sei durch die Forderung nach Überparteilichkeit gekennzeichnet.170 Diese Eigenart und Bedeutung des Badura, Staatsrecht, S. 500. JöR 1 (1951), 400. 166 Die Kontroverse, ob neben einer Ersatzvertretung auch eine Nebenvertretung zulässig ist, soll hier nicht behandelt werden. Siehe hierzu Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 48, Rn. 18 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 208 ff. m. w. N. Im Streitfall wird eine solche Frage durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Organstreitverfahrens geklärt werden müssen, wobei die Beteiligten dann der Bundespräsident selbst und sein Vertreter wären. 167 Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 57, Rn. 15; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 57, Rn. 20. 168 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 357. 169 Badura, Staatsrecht, S. 500. 164 165

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Amtes des Bundespräsidenten kämen beispielsweise in seinem Eid zum Ausdruck (Art. 56 GG).171 Seine Pflicht zur parteipolitischen Neutralität ergebe sich aus einer Gesamtschau seiner Stellung in der Verfassung, seinen Aufgaben und dem eigenen Verfassungsabschnitt172. In der Weimarer Reichsverfassung wird der Reichspräsident dagegen in einem Abschnitt mit der Reichsregierung behandelt.173 Die Pflicht des Bundespräsidenten, bei der Ausübung seiner Kompetenzen auf die Aufgaben und Funktionen der anderen Verfassungsorgane Rücksicht zu nehmen und sich beispielsweise nicht in politisch polarisierender Weise in die Arbeit der Regierung einzumischen, könne darüber hinaus mit dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue, aus dem ein allgemeines Mäßigungsgebot174 abgeleitet werde, sowie mit dem Gebot der Respektierung der Aufgaben und Ziele der anderen Verfassungsorgane und mit der verfassungsrechtlichen Loyalitätspflicht begründet werden.175 Weiter sollten auch die Inkompatibilitätsregelung des Art. 55 Abs. 1 GG die gewollte Distanz und Neutralität verdeutlichen.176 Sinn der Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 55 GG sei es, Konfliktlagen deshalb zu vermeiden, damit der Bundespräsident eine neutrale Mittlerrolle einnehmen könne.177 Die Regelung des Art. 55 Abs. 2 GG, nach welcher der Bundespräsident kein anderes besoldetes Amt ( . . . ) annehmen dürfe, diene gleichfalls der Unterstützung seiner überparteilichen Stellung. Es sei mit dem Amt des Bundespräsidenten nicht vereinbar, wenn er einen Nebenberuf ausübe, der möglicherweise Interessenbindungen mit sich bringen würde.178 Rechtstatsächlich spreche die Entscheidung aller bisherigen Amtsinhaber eine Parteizugehörigkeit ruhen zu lassen, für den Versuch einer „neutralen“ Amtsführung.179 So oder ähnlich wird argumentiert, wenn das Amt des Bundespräsidenten als neutrales Amt qualifiziert wird. Fraglich bleibt aber, ob sich diese Argumentation auch rechtlich nachvollziehen lässt. Obwohl der Begriff der Neutralität nach den oben genannten Beispielen eine gebräuchliche Bezeichnung zu sein scheint, stellt er dennoch einen ungenauen Begriff dar, für den sich kein objektiver Maßstab finden lässt. Er enthält wenig Aussagekraft und ist nicht justitiabel. Denn wonach soll beurteilt werden, ob sich 170 Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, S. 201. Gleichfalls Winter, Unsere Bundespräsidenten, S. 12, wonach es ein ungeschriebenes Gesetz gebe, nach dem sich der Bundespräsident aus der Politik herauszuhalten habe. 171 Ohne Begründung Badura, Staatsrecht, S. 500. 172 Art. 54 GG ff. (Abschnitt V). 173 Dritter Abschnitt: Der Reichspräsident und die Reichsregierung (Art. 41 ff.). 174 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 58, Rn. 57 ff.; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 360. 175 Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 85. 176 Nierhaus, in: Sachs, GG-Komm., Art. 55, Rn. 3. 177 Hemmrich, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 55, Rn. 4; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 204; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 55, Rn. 5. 178 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 358. 179 Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des Bundespräsidenten, DVBl. 2004, 1 (6).

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eine Person „neutral“ verhält? Bezeichnet man beispielsweise das Handeln einer anderen Person als „neutral“, so geschieht dies mangels objektiver Kriterien unter Heranziehung der eigenen Maßstäbe. So wird eine Person mit einer konservativen Grundhaltung eine Handlungsweise bereits als neutral erklären, die von einem Vertreter der oppositären Richtung noch als konservativ und somit keinesfalls als neutral bezeichnet werden würde. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Frage, wann eine Handlungsweise als „neutral“ bezeichnet werden kann, nicht anhand objektiver Maßstäbe zu ermitteln ist. Allenfalls wäre es möglich, Parameter vorzugeben, die nicht in eine Entscheidungsfindung mit einfließen dürfen wie bzw. das Geschlecht oder die Rasse. Dann allerdings wäre die Entscheidung an diesen Parametern zu messen, die zwar für ihren Bereich objektive Kriterien vorgeben, die Entscheidung dadurch aber nicht insgesamt zu einer „neutralen“ werden lassen. Denn alle anderen Aspekte unterliegen wieder dem subjektiven Maßstab des Entscheidenden. Mangels eines objektiven Maßstabs entbehrt die Vorgabe an den Bundespräsidenten, sich „neutral“ zu verhalten, daher von vornherein jeder Beurteilungsgrundlage. Die schillernden Begriffe der Neutralität und der überparteilichen Amtsführung deuten eher eine Richtung an, als dass sie die konkrete Ausgestaltung der Amtsführung steuern könnten.180 Neutralität bzw. überparteiliche Amtsführung sollen daher hier im Sinne einer parteipolitischen Offenheit verstanden werden. Die Äußerungen des Bundespräsidenten haben mithin mit der nötigen Distanz und Respekt vor dem demokratischen Gegner zu geschehen, das gebietet allerdings der politische Stil, nicht die Verfassung.181 Der Bundespräsident ist teilweise sogar zu einer politischen Stellungnahme verpflichtet, wenn es beispielsweise darum geht, beim Fehlen einer absoluten Mehrheit im Bundestag einen Minderheitenkanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG). Gleichfalls vollzieht er eine politische Positionierung, wenn er beim Scheitern einer Vertrauensfrage des Bundeskanzlers den Bundestag auflöst oder den Gesetzgebungsnotstand erklärt (Art. 68 Abs. 1 Satz 1; 81 Abs. 1 Satz 1 GG). Als Beispiel kann die gescheiterte Vertrauensfrage des deutschen Bundeskanzlers Schröder am 1. Juli 2005 angeführt werden, nach der er dem Bundespräsidenten eine vorzeitige Auflösung des Bundestags vorschlug.182 Der Bundespräsident hat somit die Aufgabe, eigenständig zu prüfen, ob eine Lage politischer Instabilität vorliegt, die es dem Bundeskanzler nicht ermöglicht, Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 82. Vgl. hierzu Nettesheim, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. III, § 61, Rn. 20 ff. 182 Verfassungsrechtler äußerten daraufhin Bedenken gegen das gewählte Verfahren so Epping, Isensee und Schenke, SZ vom 4. 7. 2005, S. 1. Gleichfalls Schenke / Baumeister, Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch?, NJW 2005, 1844 ff. Das Bundesverfassungsgericht befand die Bundestagsauflösung indes als rechtmäßig, BVerfG, NJW 2005, 2669 ff. 180 181

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

mit den bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren.183 Diese Prüfung schließt eine eigene politische Beurteilungskompetenz ein. Nur dann, wenn eine andere Einschätzung der des Bundespräsidenten eindeutig vorzuziehen ist, stellt sich die Auflösung des Bundestags als grundgesetzwidrig dar.184 Selbstverständlich steht es dem Bundespräsidenten frei, den Bundestag nicht aufzulösen. Auch ein solches Nicht-Tätigwerden bedeutet dann eine politische Positionierung. Eine politische Positionierung ist damit in gewissen Konstellationen nicht nur akzeptiert, sondern sogar gefordert. Warum auch soll sich ein solcher Bundespräsident, der von einem politisch besetzten Gremium gewählt wird, nicht politisch positionieren dürfen,185 wenn er dabei keine verfassungsrechtlichen Vorgaben verletzt? Dieses könnte in den Bereichen der Fall sein, in denen der Bundespräsident einer Rechtspflicht unterliegt. Hat er beispielsweise die verfassungsrechtliche Pflicht, dem Bundestag einen Bundeskanzler vorzuschlagen (Art. 63 Abs. 1 GG), so darf er deren Sinn und Zweck nicht aufgrund eigener politischer Ansichten vereiteln. Sinn und Zweck wäre in diesem Fall die Herstellung einer handlungsfähigen Regierung.186 Der Bundespräsident muss daher den mehrheitsfähigsten Kandidaten vorschlagen, auch wenn dieser nach seiner eigenen politischen Meinung weniger geeignet ist. Sind dem Bundespräsidenten mithin verfassungsrechtliche Pflichten aufgegeben, hat er seine eigenen politischen Ansichten zurückzustellen und diese Pflichten unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu erfüllen. Im Übrigen ergibt sich aus der Entscheidung aller bisherigen Bundespräsidenten ihre Mitgliedschaft in einer politischen Partei ruhen zu lassen nicht, dass ein solcher Verzicht zwingend ist. Denn rechtlich ist der Bundespräsident hierzu nicht verpflichtet. Ein dennoch erfolgter Verzicht kann daher keinen Hinweis auf eine verfassungsrechtliche Pflicht zur parteipolitischen Neutralität geben.

II. Nutzen und Sinn des indirekten Wahlmodus Zur Wahrnehmung einheitsstiftender Funktionen könnte es dem Bundespräsidenten hilfreich sein, dass er indirekt gewählt wird. Durch diese indirekte Wahl soll der zukünftige Bundespräsident nicht in Wahlkämpfe verwickelt werden, in denen sein Image als ausgleichende Kraft verloren gehen könnte. So erfolgt der Wahlakt gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GG ohne Aussprache, wodurch zumindest äußerlich in der Schlussphase ein gewisses Maß an Respekt vor dem höchsten Amt im Staat gewahrt bleiben und dieses nicht dem politischen Streit ausgesetzt werden soll.187 Gegen den indirekten Wahlmodus könnte indes sprechen, dass durch die 183 184 185 186

BVerfGE 62, 1 (44); BVerfG, NJW 2005, 2669 (2673). BVerfGE 62, 1 (63). Zum Recht des Bundespräsidenten auf politische Äußerungen siehe S. 69 ff. BVerfG, NJW 2005, 2669 (2670).

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indirekte Wahl des Bundespräsidenten Letzterer nicht unmittelbar durch den Souverän legitimiert wird. Er erhält mithin nicht die besondere Autorität eines vom Volk bestellten Staatsorgans. Dies könnte seine Akzeptanz in der Bevölkerung und somit die Ausübung der einheitsstiftenden Funktionen schwächen. Gegen diese Argumentation spricht jedoch, dass ein alleiniges Ausspracheverbot beim Wahlakt selbst jedenfalls nicht zur Vermeidung politischen Streits genügt. Dies belegt die Wahl des Bundeskanzlers, der gemäß Art. 63 Abs. 1 GG gleichfalls vom Bundestag ohne Aussprache gewählt wird. Weder der Bundeskanzler noch der Bundespräsident sind dabei vor parteipolitischen Auseinandersetzungen gefeit. Bei beiden Ämtern fanden bei allen vorangegangen Wahlen in ihrem Vorfeld immer Wahlkämpfe und Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der unterschiedlichen politischen Richtungen statt.188 Eine Wahl bringt es notwendigerweise mit sich, dass die im Wahlorgan bestehenden Mehrheitsverhältnisse den Ausschlag geben. Dies wäre auch bei einer Volkswahl nicht anders. Die parteipolitische Gliederung der Wähler und die Wahlempfehlungen der politischen Parteien wären die maßgeblichen Faktoren einer Wahlentscheidung.189 Wie jede politische Entscheidung in einer parlamentarischen Demokratie lässt sich auch die Wahl des Bundespräsidenten nicht aus den Frontlinien parteipolitischer Auseinandersetzungen herauslösen.190 Welcher Kandidat schließlich in das Amt des Bundespräsidenten gewählt wurde, war und ist immer eine parteipolitische Entscheidung und richtet sich nach den Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung,191 die ein Spiegelbild der politischen Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern ist.192 Der Bundespräsident ist damit ein „politischer Präsident“193, der aufgrund seiner eigenen politischen Positionierung und der vorherrschenden politischen Machtverhältnisse ins Amt gelangt. Bei der indirekten Wahl sind somit genau wie bei einer Direktwahl die politischen Mehrheitsverhältnisse bestimmend. Da auch eine rechtstatsächliche Betrachtung zeigt, dass die Kandidaten sehr wohl in Wahlkämpfen mitwirken, hängt der indirekte Wahlmodus genau wie eine Direktwahl weder in positiver noch in negativer Hinsicht mit der Ausübung einheitsstiftender Funktionen zusammen.194 Was ist dann aber der Vorteil dieses Wahlmodus für das deutsche Staatsoberhaupt? Zunächst war intendiert, der Demokratie möglicherweise gefährlich werFink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 54, Rn. 44. Mit Beispielen aus der Verfassungspraxis über öffentlichen Streit um das Amt des Bundespräsidenten Fritz, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 54, Rn. 143. 189 Badura, Staatsrecht, S. 500. 190 Badura, Staatsrecht, S. 500. 191 Es kam immer zu parteipolitischen Fraktionsbildungen. Die Bundesversammlung, Dokumentation, S. 23, 47, 70, 116, 136, 177, 248. 192 Fritz, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 54, Rn. 125. 193 Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 82. 194 Siehe S. 40 ff. 187 188

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

dende Demagogen auszuschalten.195 Das Misstrauen gegen Entscheidungen des Volkes lässt sich mit einem Blick auf die Erfahrungen der Weimarer Republik verstehen, deren Verfassung, die eine mächtige Stellung des Reichspräsidenten vorsah, schließlich dem Diktator Hitler den Weg ebnete. Heuss erklärte die indirekte Wahl des Staatsoberhaupts damit, dass „in diesem noch so zerklüfteten Volk dem Wortschwall-Demagogen keine Chance gegeben werden soll“196. Möglicherweise würde sich die Situation eines so genannten Demagogen schwieriger darstellen, wenn er die Bundesversammlung von seiner Wahl überzeugen müsste. Fraglich ist allerdings, ob das Amt des Bundespräsidenten für einen Demagogen überhaupt attraktiv ist, da der Bundespräsident nur in sehr begrenztem Einfluss überhaupt politische Macht besitzt. Die indirekte Wahl scheint daher ein überflüssiges Instrument zum Schutz des Volkes vor Demagogie zu sein. Hinzu tritt, dass heutzutage in der Bevölkerung ein anderes Aufklärungsniveau durch die Medien herrscht und das Bildungsniveau der Bevölkerung seit Ende des Zweiten Weltkrieges kontinuierlich gestiegen ist.197 Die Gründe, die einst für eine indirekte Wahl sprachen, sind heute nicht mehr im gleichen Maße stichhaltig. Ob ein Bundespräsident somit einheitsstiftend tätig wird, hängt daher nicht von der indirekten Ausgestaltung seiner Wahl ab, sondern liegt am Agieren des jeweiligen Amtsinhabers.

III. Autorität durch Integrität Zur Ausübung einheitsstiftender Funktionen benötigt der Bundespräsidenten Autorität. So soll der Bundespräsident durch seine Autorität wirken, während der Kanzler über politischen Einfluss verfügt.198 Die Autorität des Bundespräsidenten soll durch „geistige Überlegenheit, Urteilsfähigkeit aus Distanz und moralischer Integrität“ entstehen.199 Ein Bundespräsident muss sich diese Autorität mehr als ein Monarch, der über sie schon aufgrund seiner Geburt verfügt, selbst schaffen. Hilfreich sind dem Bundespräsidenten dabei sein Amt, welches schon für sich betrachtet seinem Inhaber Autorität verleiht, und seine Persönlichkeit, die er dementsprechend einsetzen muss.200 Zu den Faktoren, die die Autorität des Bundesprä195 196

Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 558. In seiner Abschiedsrede am 12. 9. 1959, abgedruckt in Heuss, Die großen Reden, 302

(303). 197 Vgl. die statistischen Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, z. B. Nr. 161 von Juli 2002, Schule in Deutschland. 198 „An der Spitze der Bundesrepublik steht ein Mann, der nur über wenig potestas (Macht) verfügt, der aber immerhin die Aussicht hat, durch persönliche auctoritas (Autorität) in etwa auszugleichen, was ihm an potestas fehlt.“ Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 650. 199 Eschenburg, Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. II, S. 233. 200 Als Beispiel kann auf die ruhige, überlegte Art der Rede von Richard von Weizsäcker oder Johannes Rau verwiesen werden. Ebenso können Argumente, Wortwahl und Formulierungskünste zu einer Autoritätsschaffung beitragen.

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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sidenten bestimmen, kann auch die Integrität seiner Person, also seine „Unbescholtenheit“201 gezählt werden. Diese betrifft nicht nur seinen aktuellen, zum Zeitpunkt seiner Amtszeit durchgeführten Lebenswandel, sondern auch seine Vergangenheit. Als Beispiel für Schwierigkeiten mit der Vergangenheit kann der erste Bundespräsident Heuss herangezogen werden. Er musste sich 1947 als FDP-Landtagsabgeordneter zusammen mit zwei früheren Reichstagskollegen vor einem Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags rechtfertigen, da er am 23. März 1933 mit der fünfköpfigen Fraktion der Staatspartei, den letzten Liberalen im Reichstag, für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. Obwohl bei seiner Wahl zum Bundespräsidenten kein Zweifel an seiner politischen Integrität bestand, wurde ihm doch vorgehalten, dass auch ein Protest nach dem Beispiel der SPD-Reichstagsfraktion angezeigt gewesen wäre. Zudem wurde niemand, der damals im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, von den damaligen Machthabern verhaftet.202 Für eine maximale Autorität sollten daher Lebenswandel und Vergangenheit grundsätzlich in Übereinstimmung mit den Auffassungen in der Gesellschaft stehen. Dass dies in einem Land mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, regionalen Besonderheiten und Traditionen203 nicht immer leicht ist, beweist ein Blick auf die aktuelle Tagespolitik. Als Zeichen für seine Autorität kann die Anerkennung gesehen werden, die dem Bundespräsidenten allgemein zuteil wird. Auch die Aufmerksamkeit, mit der seine Ratschläge beachtet werden und die Resonanz, die er von den Bürgern bekommt, die ihn als ihren „Sprecher“ empfinden, belegen seine Autorität. Dies wird auch in der Masse der täglichen Briefe deutlich, die an den Bundespräsidenten adressiert sind.204 Tatsächlich kann er nicht viel anderes tun, als die Beschwerden an die zuständige Stelle weiterzuleiten. Bürger, die ihr Petitionsrecht aus Art. 17 GG kennen, also an den Petitionsausschuss des Bundestags schreiben, haben dagegen höhere Erfolgsaussichten.205 Die Tatsache, dass die Briefe trotzdem an den Bundespräsidenten adressiert werden, steht somit für das Bedürfnis der Bürger, durch eine Person repräsentiert zu werden, die – anders als ein Gremium aus vielen Personen – „plastischer“ und somit auch ansprechbarer ist.

Winkler, Der Bundespräsident, S. 43. Matthias / Morsey, Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente, S. 69 f. 203 Als Beispiel kann das Bundesland Bayern mit seinen z. T. starken regional verankerten traditionellen und religiös gefärbten Ansichten herangezogen werden. 204 Von den politischen und gesellschaftlichen Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland genießt der Bundespräsident mit Abstand das größte Vertrauen, vgl. Institut für praxisorientierte Sozialforschung (Ipos), Umfrage vom Juni 1985, Veröffentlichungen des Bundesministeriums des Innern, 7. Oktober 1985; Winter, Unsere Bundespräsidenten, S. 12. 205 Winkler, Der Bundespräsident, S. 43. 201 202

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

B. Verantwortlichkeit des Bundespräsidenten Die Verantwortlichkeit eines Staatsoberhaupts lässt sich zunächst in eine rechtliche und eine politische Verantwortlichkeit differenzieren. Eine Verantwortlichkeit im Sinne einer politischen Rechenschafts- und Einstandspflicht206 sieht das Grundgesetz für den Bundespräsidenten nicht vor.207 Der Bundespräsident ist als Staatsoberhaupt politisch keiner Verantwortlichkeit unterworfen. Da es aber zu den Grundsätzen der Demokratie gehört, dass Staatsgewalt, die einem Staatsorgan vom Volk gegeben wurde, bei einer missbräuchlichen Verwendung wieder entzogen werden kann, ist der Bundespräsident rechtlich an die Verfassung und an die Bundesgesetze gebunden. Eine rechtliche Verantwortlichkeit bleibt somit bestehen. Verstößt der Bundespräsident vorsätzlich gegen das Grundgesetz oder einfaches Bundesrecht208, kann der Bundestag oder der Bundesrat eine Anklage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben (Art. 61 Abs. 1 GG). Nur das Bundesverfassungsgericht kann dann bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen die Verfassung oder ein Bundesgesetz die Amtsenthebung erklären.209 Das Verfahren selbst richtet sich nach §§ 13 Nr. 4; 49 ff. BVerfGG. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über das Vorliegen einer vorsätzlichen Rechtsverletzung und trifft dann eine Ermessensentscheidung über den Amtsverlust. Kriterien des Ermessens sind das rechtliche und politische Gewicht des Verstoßes im Vergleich zum Interesse an der Kontinuität der Amtsführung.210 Das Ermessen ist jedoch eingeschränkt durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des schuldangemessenen Strafens.211 Das Bundesverfassungsgericht trifft die Entscheidung über die Amtsenthebung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat (§ 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG). Verliert der Bundespräsident durch eine solche Entscheidung sein Amt, kann in diesem Zusammenhang auch eine Entscheidung über die Kürzung oder Streichung der Ruhebezüge getroffen werden.212 Andere Sanktionen als die Amtsenthebung, seien sie 206 Vgl. Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 65, Rn. 39; Schröder, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 51, Rn. 49; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 67, Rn. 13. 207 Anders Nettesheim, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. III, § 61, Rn. 25. 208 Die Diskussion über die Frage, ob der Verstoß die verfassungsmäßige Ordnung berühren und den Bundespräsidenten als untragbar erscheinen lassen muss, so z. B. Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG-Komm., Bd. II, 2. Auflage, Art. 61, Anm. III 2 b, oder ob es sich lediglich um einen Verstoß von besonderer politischer Relevanz handeln muss, so Wolfrum, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 61, Rn. 7, Nierhaus, in: Sachs, GG-Komm., Art. 61, Rn. 13, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Der in Art. 61 Abs. 1 GG genannte Vorsatz umfasst nicht nur den direkten Vorsatz, sondern auch alle anderen Vorsatztypen. Eine Begrenzung lediglich auf den direkten Vorsatz lässt der Wortlaut nicht zu, hierzu Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 61, Rn. 14. 209 Für weitere Erläuterungen siehe die Kommentierung von Pernice, in: Dreier, GGKomm., Art. 61, Rn. 1 ff. 210 Pernice, in: Dreier, GG-Komm., Art. 61, Rn. 18. 211 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 61, Rn. 63; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 61, Rn. 29.

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auch milder, sind vom Wortlaut des Art. 61 Abs. 2 GG nicht gedeckt. Eine praktische Bedeutung erlangte das Amtsenthebungsverfahren bislang nicht.

C. Kompetenzen des Bundespräsidenten Der Bundespräsident besitzt eine Vielzahl von Kompetenzen, die jedoch nur zum Teil aus dem Grundgesetz ersichtlich sind. Neben den geschriebenen Kompetenzen werden ihm noch eine Reihe ungeschriebener Zuständigkeiten zuerkannt. Unterteilen lassen sich die Kompetenzen in die Bereiche der Darstellung nach außen und nach innen, in staatsnotarielle Aufgaben und in den Bereich der politischen Einflussnahme. Diese Kompetenzen helfen dem Bundespräsidenten bei der Ausübung der einheitsstiftenden Funktionen213, die ihm aufgrund seiner Stellung als Oberhaupt zugeschrieben werden.

I. Darstellung nach außen Die Außendarstellung des Staates ist geregelt in Art. 59 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach vertritt der Bundespräsident die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich. Auf den ersten Blick könnte die Norm durchaus weit gelesen werden, so dass dem Bundespräsidenten neben einer formellen Vertretung auch eine Kompetenz zur inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Handlung zugestanden werden könnte. Zum systematischen Zusammenhang, in dem Art. 59 Abs. 1 GG steht, gehört jedoch der demokratiestaatlich und rechtsstaatlich gleichermaßen verankerte Grundsatz der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive, der auch der Bundespräsident zugehörig ist.214 Würde dem Bundespräsidenten nicht nur eine formelle, sondern auch eine materielle Vertretungskompetenz zugesprochen, so wäre einem Staatsorgan systemwidrig eine Exekutivbefugnis zugewiesen, das keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Systematische Erwägungen sprechen mithin für eine enge Lesart, nach welcher der Bundespräsident nur eine formelle Vertretungskompetenz besitzt, d. h. keine materiellen Entscheidungsbefugnisse besitzt. Eigene Gestaltungsbefugnisse i. S. einer „materiellen auswärtigen Gewalt“ folgen daher für den Bundespräsidenten aus seiner Stellung als Staatsoberhaupt nicht.215 Gestützt 212 § 5 des Gesetzes über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten vom 17. 6. 1953, BGBl. I, S. 406. 213 Siehe S. 24 f. 214 Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 59, Rn. 10; Streinz, in: Sachs, GG-Komm., Art. 59, Rn. 19; Nettesheim, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. III, § 61, Rn. 15, § 62, Rn. 42 ff. 215 Rojahn, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 59, Rn. 11; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 224; Bernhardt, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. VII, § 174, Rn. 8; Streinz, in: Sachs, GG-Komm., Art. 59, Rn. 18.

5 Staeglich

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

wird dieses Ergebnis weiter durch Art. 58 GG, der für die Gültigkeit der Akte des Bundespräsidenten eine Gegenzeichnungspflicht des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers statuiert. Des Weiteren unterstützt die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers dieses Auslegungsergebnis (Art. 65 Satz 1 GG). Zwar entfaltet die Richtlinienkompetenz ihre Rechtswirkung nur innerhalb der Bundesregierung, doch spricht sie auch für eine materielle Kompetenz des Bundeskanzlers im Bereich der Auswärtigen Gewalt.216 Innerhalb dieser tragen die Ressortminister die Verantwortung für die jeweilige Außenpolitik.217 Dem Bundespräsidenten ist es daher nicht erlaubt, in diese materielle Kompetenz der Bundesregierung einzugreifen.218 In der Praxis werden alle offiziellen Reden, Vorträge oder Interviews des Bundespräsidenten im Vorfeld mit der Regierung abgestimmt219, was auch aufgrund der Einheitlichkeit der Staatsführung im Bereich der Außenpolitik angezeigt ist.220 Allenfalls faktisch unterhalb von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten ist es dem Bundespräsidenten möglich, mit den Verantwortlichen zu sprechen und zu versuchen, ihnen Anregungen und Impulse zu außenpolitischen Themen zu geben. In seinen Wirkungsbereich fallen des Weiteren außenpolitisch wirksame Erklärungen wie beispielsweise Staatsbesuche, Grußbotschaften, Glückwunsch- und Kondolenzschreiben.221 Abgesehen von den schon genannten Handlungen des Bundespräsidenten gehören zu der Außendarstellung auch seine Auslandsreisen und -besuche. Mit ihnen und seinem Verhalten prägt er entscheidend das Bild, das im Ausland von der Bundesrepublik Deutschland entsteht. In diesem Zusammenhang sind besonders die Orte wichtig, die er besucht. Er ist ihm hier möglich, ganz ohne offizielle Reden und allein mit seiner Anwesenheit politischen Einfluss auszuüben.222 Dennoch sind eigene Gestaltungsbefugnisse bei der Außendarstellung für den Bundespräsidenten insgesamt nur begrenzt möglich.

Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 224. Die Durchführung der Richtlinien ist Aufgabe des Auswärtigen Amtes und des Außenministers. 218 Siehe hierzu die Ausführungen zur Verfassungsorgantreue, S. 73 f. 219 Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 59, Rn. 11; Streinz, in: Sachs, GG-Komm. Art. 59, Rn. 19; Rojahn, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 59, Rn. 11 m. w. N. 220 Schlaich, Besprechung von Axel Schulz: Die Gegenzeichnung. Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung, AöR 105 (1980) 145 (145). 221 Streinz, in: Sachs, GG-Komm., Art. 59, Rn. 13; Kempen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 59, Rn. 8. 222 Als Beispiele können hier Besuche nationalsozialistischer Konzentrationslager, Kriegerdenkmäler oder Asylbewerberheime dienen, die einem Brandanschlag von Neo-Nazis zum Opfer gefallen sind. Gleichfalls Scholz / Süskind, Die Bundespräsidenten, S. 16. 216 217

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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II. Darstellung nach innen Die Innendarstellung dient ebenso wie die Außendarstellung der Verkörperung des Staates als Einheit. Staatliche Einheit findet seit jeher Ausdruck in Symbolen, die staatsbürgerliche Einheit stiften und nationale Grundüberzeugungen verkörpern sollen.223 Der Bundespräsident übt die Innendarstellung aus, indem er Staatssymbole sowohl stiften als auch verleihen kann.224 Hinsichtlich der Festlegung von Staatssymbolen sowie der Kreation und der Verleihung von Orden oder Titeln wird eine ungeschriebene Kompetenz kraft „Natur der Sache“ angenommen, die zur selbstverständlichen Ausstattung eines jeden Staatsoberhaupts gehören soll (Art. 60 Abs. 2 GG).225 Eine Darstellung nach innen durch Symbole kann nur durch ungeschriebene Kompetenzen erfolgen, die als Ergänzungen zu denen im Grundgesetz enthaltenden Regelungen gesehen werden können. Wäre eine weitergehende Ausdehnung des geschriebenen Zuständigkeitsbereiches möglich, könnte die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes so verändert werden, dass sie ihren Sinn verlöre.226 Die Ansicht, der Bundespräsident als Staatsoberhaupt sei im Interesse der Gesamtheit berechtigt und verpflichtet, „alles zu tun, was ihm nicht ausdrücklich durch für unabänderlich gehaltene Verfassungsbestimmungen versagt“ werde227, ist daher abzulehnen. Der Umfang einer ungeschriebenen Kompetenz ist dadurch begrenzt, dass sie nicht in den Zuständigkeitsbereich anderer Verfassungsorgane übergreifen darf.228 Ferner müssen ungeschriebene Kompetenzen dem Bild des Verfassungsorgans entsprechen, wie es sich nach dem geschriebenen Recht darstellt.229

Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, S. 7. Siehe S. 49 f. So wurde der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland 1951 vom damaligen Bundespräsidenten gestiftet und verliehen, BGBl. I 1951, S. 831. 225 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 69. Aus der Ausübung des Begnadigungsrechts aus Art. 60 Abs. 2 GG kann allerdings schwerlich eine Kompetenz zur Schaffung neuer Staatssymbole abgeleitet werden. Dieses Problem erübrigt sich durch die Zuweisung dieser Aufgaben und Befugnisse durch einfaches Bundesrecht an den Bundespräsidenten. Vgl. Kimminich, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., vor Art. 54, Rn. 22. Als Beispiel kann hier das Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen angeführt werden (vom 26. 7. 1957, BGBl. I, S. 844), das in § 3 Abs. 1 dem Bundespräsidenten die alleinige Befugnis erteilt für den Bund, Orden oder Ehrenzeichen zu stiften und zu verleihen. 226 Hesse, Verfassungsrecht, S. 97. 227 Kniesch, Die Stellung des Bundespräsidenten nach Grundgesetz und Staatspraxis, NJW 1960, 1325 (1328). 228 Siehe hierzu die Ausführungen zur Verfassungsorgantreue, S. 73 f. 229 Vgl. BVerfGE 3, 421 ff.; Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 30, Rn. 14 f. (Erstbearbeitung); Klein, lehnt den Begriff der ungeschriebenen Kompetenz als unpräzise ab und verwendet die Ausdrücke „stillschweigend – implizit mitgeschriebene“ Zuständigkeiten. Sachliche Änderungen sind hiermit allerdings nicht verbunden, ders., in: v. Mangoldt / Klein, GG-Komm., Bd. II, 2. Auflage, Art. 70, Anm. III, Ziffer 4. 223 224

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

III. Staatsnotarielle Aufgaben Bei den so genannten staatsnotariellen Aufgaben handelt es sich um Rechtsvorgänge, die grundsätzlich von anderen Staatsorganen beschlossen werden, die aber für ihre Wirksamkeit aus Gründen der Rechtssicherheit und um ihnen eine besondere Bedeutung zu verleihen noch der „Weihe“230 des Präsidialaktes bedürfen. Hierzu zählen besonders die Ernennung und Entlassung der Bundesrichter, Bundesbeamten, Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 Abs. 1 GG), die Ernennung und Entlassung der Bundesminister (Art. 64 Abs. 1 GG), die Ernennung und Entlassung der Bundesverfassungsrichter (§§ 10, 12 BVerfGG) sowie die Ausfertigung von Gesetzen (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG). Insbesondere aufgrund letzterer Kompetenz wird der Bundespräsident neben dem Bundesverfassungsgericht auch als „Hüter der Verfassung“231 bezeichnet. Des Weiteren ernennt er den gewählten Bundeskanzler (Art. 63 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 2, 3 Alt. 1 GG), genehmigt die Geschäftsordnung der Bundesregierung (Art. 65 Satz 4 GG), verkündet den Verteidigungsfall (Art. 115a Abs. 3 Satz 1; Abs. 4, 5 GG) und ratifiziert völkerrechtliche Verträge (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG). IV. Politische Einflussnahme Die Möglichkeiten politischer Einflussnahme des Bundespräsidenten können teilweise nur sehr begrenzt eigenständig, teilweise aber auch selbstständig wahrgenommen werden. Zu den begrenzt eigenständig zu verfolgenden Mitwirkungsaufgaben zählen die Unterbreitung des ersten Wahlvorschlags für das Amt des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1 GG), die Auflösung des Bundestags unter den Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 Alt. 2 GG oder nach Verweigerung des Vertrauens gemäß Art. 68 Abs. 1 GG,232 das Ersuchen an den Bundeskanzler oder einen Bundesminister um Weiterführung der Amtsgeschäfte (Art. 69 Abs. 3 GG) und die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 Abs. 1 GG). Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 229. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 357; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 78; Scholz / Süskind, Die Bundespräsidenten, S. 18. 232 Deutlich wurde der politische Einfluss des Bundespräsidenten bei der Auflösung des Bundestags nach der negativ beschiedenen Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers Kohl 1983. Den Bundestag aufzulösen, war in diesem Fall eine eigenständige Entscheidung des damaligen Bundespräsidenten Carstens, der diese ebenso hätte verweigern können. Von seinen politischen Gegnern wurde Kohl die missbräuchliche Stellung der Vertrauensfrage gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG sowie ein unzulässiges Ersuchen auf Auflösung des Bundestags vorgeworfen (vgl. Mager, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 68, Rn. 16 m. w. N.). Sowohl die Entscheidung von Carstens als auch das darauf folgende Urteil des BVerfG (BVerfGE 62, 1 ff.) ist daher auf Kritik gestoßen. Mit vielen Nachweisen Morlock, in: Dreier, GG-Komm., Art. 39, Rn. 18; Versteyl, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 39, Rn. 20 ff. Vor einer ähnlichen Situation wie Carstens stand Bundespräsident Köhler, als Bundeskanzler Schröder ihm am 1. 7. 2005 nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung vorschlug, den Bundestag aufzulösen, siehe S. 59. 230 231

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Der Bundespräsident besitzt ferner selbstständige Entscheidungsbefugnisse, die zwar nicht auf gewichtige politische Gestaltung abzielen, aber dennoch von rechtlicher und politischer Tragweite sein können.233 Zu den selbstständig wahrzunehmenden politischen Einflussmöglichkeiten zählen das Verlangen nach Einberufung des Bundestags (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG), die Ausübung des Begnadigungsrechts für den Bund (Art. 60 Abs. 2 GG), die Delegation der Ernennungs- und Entlassungsbefugnisse für Bundesrichter, Bundesbeamte und Soldaten sowie das Begnadigungsrecht nach Art. 60 Abs. 3 GG und die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines Organstreitverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). V. Politische Einflussnahme durch Reden Durch seine Reden wirkt der Bundespräsident auf die Bürger ein, formuliert ihre Ängste, wird zum Mahner und Vermittler. Er kann den Einzelnen oder Gruppen ansprechen und so Distanzen überbrücken. Ziel soll es sein, den Staat dem Bürger näher zu bringen234 und die Gesellschaft zusammenzuführen. Mit dem Instrument der Rede kann dieser Auftrag wahrgenommen werden.235 Politischen Einfluss haben die Reden des Bundespräsidenten, da sie von einer großen Anzahl der Bürger verfolgt werden.236 Ob der Bundespräsident das Recht hat, auch eigenständig politisch Stellung zu beziehen, ist fraglich. Die Konsequenz eines solchen politischen Rederechts wäre die Möglichkeit sich auch dann politisch positionieren zu können, wenn keine Verpflichtung zu einer Stellungnahme vorliegt. Eine solche politische Positionierung wird ihm bislang verbreitet nicht zugestanden.237 1. Art. 65 Satz 1 GG Möglicherweise unterliegt der Bundespräsident der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 Satz 1 GG). Als Konsequenz müsste der Bundespräsident Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 262. So versuchte Heuss nach den Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus eine humorvolle Auflockerung, um nach der Verstaatlichung des Menschen die Politik in Deutschland zu vermenschlichen. Exemplarisch für dieses Ansinnen steht sein Ausspruch: „Nun siegt mal schön!“, abgedruckt in: Heuss, Die großen Reden, 281 (284); Gleichfalls Winkler, Der Bundespräsident, S. 48; Scholz / Süskind, Die Bundespräsidenten, S. 16 f.; Kempf, in: Hartmann / Kempf, Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien, S. 24; Nettesheim, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. III, § 61, Rn. 40. 235 Herzog, Eröffnungsansprache des Herrn Bundespräsidenten zur 15. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft am 21. November 1997 in Bonn, abgedruckt in: Rohe / Dicke, Die Integration politischer Gemeinwesen in der Krise?, 9 ff. 236 So sahen die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten Köhler am 25. 12. 2004 5,42 Millionen Bürger, das entspricht in Marktanteilen 20,3%. Zum Vergleich sahen die Tagesschau am 25. 12. 2004 4,25 Millionen Bürger, was einem Marktanteil von 14,4,% entspricht, http: //quoten.daserste.de (Letzte Abfrage vom 20. 1. 2005). 237 Siehe S. 57 ff. 233 234

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

den Richtlinien des Bundeskanzlers Folge leisten und dürfte mit seinen Äußerungen nicht gegen sie verstoßen. Art. 65 GG regelt die Stellung der dort genannten Regierungsorgane im Verhältnis zueinander, wobei er sich weiterer Aussagen über die politische Gewichtsverteilung im Verhältnis der Bundesregierung zu anderen Verfassungsorganen enthält.238 Der Bundespräsident ist kein Teil der Bundesregierung. Die Richtlinien des Bundeskanzlers richten sich ausschließlich an die Bundesminister, nicht aber an den Bundespräsidenten. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers stellt daher kein Instrument dar, den Bundespräsidenten in politischen Reden oder Äußerungen einzuschränken. 2. Art. 58 Satz 1 GG Aus der Gegenzeichnungspflicht für Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten des Art. 58 Satz 1 GG könnte sich ergeben, dass diesem eigenständige politische Reden und Äußerungen verwehrt sind. Das Rederecht wurde im Grundgesetz nicht explizit geregelt. Nur Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung (Art. 58 Satz 1 GG). Unter Anordnungen und Verfügungen sind zunächst die Akte des Bundespräsidenten zu verstehen, die dieser in seiner Eigenschaft als Verfassungsorgan erlässt und denen verbindlicher Rechtscharakter zukommt.239 In Art. 58 Satz 1 GG werden dabei keine neuen Kompetenzen begründet, sondern bestehende Handlungskompetenzen vorausgesetzt.240 Ob unter Anordnungen und Verfügungen auch Akte gefasst werden sollen, denen keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist fraglich. Konkret stellt sich diese Problematik241 bei Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten, die nur politisch wirken. Betrachtet man den Wortlaut der Norm des Art. 58 Satz 1 GG, so bedürfen Anordnungen und Verfügungen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung. Setzt man Gültigkeit gleich mit Wirksamkeit, Rechtswirksamkeit und Vollziehbarkeit242, so 238 Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 65, Rn. 8; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 1; Achterberg, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 1 ff. 239 Von der überwiegenden Literatur werden Anordnungen und Verfügungen als Einheit verstanden, Nierhaus, in: Sachs, GG-Komm., Art. 58, Rn. 7; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 58, Rn. 25 m. w. N. 240 Pernice, in: Dreier, GG-Komm., Art. 58, Rn. 9. 241 Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 58, Rn. 63 ff.; Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung, S. 175 ff.; Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 71 ff., alle m. w. N. 242 Hemmrich, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 58, Rn. 6; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 214.

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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können unter Anordnungen und Verfügungen nur Amtshandlungen verstanden werden, die eine rechtliche Regelung intendieren.243 Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten als politische Akte haben keine Rechtsfolgen und können daher auch nicht „gültig“ bzw. „ungültig“ sein, sie wirken anders als rechtlich wirkende Akte aus sich selbst heraus. Es fehlt daher ein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Gegenzeichnung.244 3. Art. 58 Satz 1 GG analog Da nach dem Wortlaut des Art. 58 Satz 1 GG die Subsumtion von Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten als politische Akte unter diese Norm nicht möglich ist, kann eine analoge Anwendung erwogen werden. Für eine analoge Anwendung, d. h. die Übertragung der Rechtsfolge eines im Gesetz geregelten Tatbestands auf einen vom Gesetz nicht geregelten ähnlichen Tatbestand, müssten eine ungewollte Regelungslücke und eine gleichartige Interessenlage zwischen dem gesetzlich geregelten und dem gesetzlichen nicht geregelten Fall vorliegen.245 Es müsste zunächst eine ungewollte Regelungslücke vorliegen. Der Gesetzgeber hat Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten keiner gesetzlichen Regelung unterzogen. Eine Regelungslücke liegt damit vor. Fraglich ist, ob diese ungewollt ist. In genetischer Betrachtung fanden Diskussionen im Parlamentarischen Rat über die Funktion der Gegenzeichnung statt. Sie sollte eine Verantwortlichkeit des Gegenzeichnenden vor dem Parlament begründen.246 Diese Verantwortlichkeit kann, muss sich aber nicht auf rein politische Akte beziehen. Eine historische Betrachtung klärt daher nicht zweifelsfrei auf, ob Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten als politisch wirkende Akte einer Gegenzeichnung unterliegen oder nicht. Da der Wille zu einer solchen Regelungslücke gleichfalls nicht erkennbar ist, kann von einer ungewollten Regelungslücke ausgegangen werden. Für eine analoge Anwendung des Art. 58 Satz 1 GG auf nur politische Akte des Bundespräsidenten müsste darüber hinaus eine gleichartige Interessenlage vorliegen. Die Gegenzeichnung soll die Übernahme der parlamentarischen Verantwortung der Regierung für das Handeln des Bundespräsidenten herbeiführen. Damit sollen die Interessen der Bundesregierung gegenüber solchen Akten des Bundespräsidenten geschützt werden, die sich auf die Regierungspolitik auswirken könnten.247 Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten können sich auf die Schenke, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 58, Rn. 43. Schenke, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 58, Rn. 43; Nierhaus, in: Sachs, GG-Komm., Art. 58, Rn. 18. 245 Butzer / Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht, S. 50 f. 246 JöR 1 (1951), 412. 247 Maurer, in: Börner / Jahrreiß / Stern, Festschrift für Karl Carstens, Bd. II, 701 (712); Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG-Komm., Bd. II, 2. Auflage, Art. 58, Anm. IV 1 d. 243 244

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Regierungspolitik auswirken, weil sie ihre Rechtswirkungen auch gegenüber der Bundesregierung entfalten. Die Interessenlage bei solchen rechtlich bindenden Akten besteht darin, eine Einheitlichkeit der Staatsführung zu erreichen, die im rechtlichen Bereich aufgrund der bindenden Akte unerlässlich ist. Anordnungen und Verfügungen als bindende Akte des Bundespräsidenten sind daher einer Gegenzeichnung unterworfen. Die genannte Interessenlage müsste auch bei Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten bestehen. Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten wirken im Gegensatz zu rechtlich bindenden Akten nur politisch. Sie binden die Bundesregierung nicht, welche sich beispielsweise gleichfalls politisch gegen Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten zur Wehr setzen könnte. Es besteht daher keine Notwendigkeit, eine parlamentarische Verantwortung für nicht bindende Akte des Bundespräsidenten zu begründen. Es liegen somit unterschiedliche Wirkungsweisen vor, die unterschiedliche Interessenlagen begründen. Anordnungen und Verfügungen wirken im rechtlichen Bereich, Reden und Äußerungen wirken dagegen im politischen Bereich. Im rechtlichen Bereich ist eine einheitliche Staatsführung aufgrund von verbindlichen Vereinbarungen unerlässlich. Im politischen Bereich trifft die Notwendigkeit einer einheitlichen Staatsführung jedoch nicht zu. Schließlich lebt eine Demokratie von kontroversen Diskussionen und unterschiedlichen Ansichten, die auch zwischen Staatsorganen vorliegen können. Überdies stellt sich die Frage, warum die Verfassung eine eigenständige Wahl durch ein politisch besetztes Wahlgremium unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung vorsieht, wenn die gewählte Person letztendlich nicht die Möglichkeit einer eigenständigen politischen Äußerung haben soll. Der Bundespräsident hätte schließlich auch vom Bundeskanzler ernannt oder vom Bundestag gewählt werden können. Schließlich hätte seine Amtszeit an diejenige des Bundeskanzlers oder des Bundestags angepasst werden können. So wäre gesichert gewesen, dass Bundeskanzler und Bundespräsident politisch auf einer Linie liegen. Genau dies ist in der Verfassung gerade nicht vorgesehen. Die Verfassung hat im Gegenteil eine eigenständige Institution mit eigenständigen Kompetenzen geschaffen. Die Interessenlage kann damit nicht gleichartig sein. Dieses Ergebnis kommt auch in dem Kontrollauftrag zum Ausdruck, den die Verfassung dem Bundespräsidenten beispielsweise bei der Gesetzesausfertigung verliehen hat (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG). Unterwirft man dennoch jegliche Akte des Bundespräsidenten der Gegenzeichnung, macht man ihn zum Sprachrohr der Bundesregierung, die dann entscheiden kann, welche Äußerungen sie gegenzeichnet und welche nicht, da sie ihrer eigenen politischen Linie entgegenlaufen. Mit Leisner könnte man diese Aussage polemisch noch insofern zuspitzen, als dass eine Institution wie die des Bundespräsidenten, die Kosten verursache, nicht in Staatsbeweihräucherung leer laufen dürfe.248 248

Leisner, in: Listl / Schambeck, Festschrift für Johannes Broermann, 433 (444).

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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Da mithin eine gleichartige Interessenlage zwischen rechtlichen und politischen Akten des Bundespräsidenten nicht vorliegt, ist eine analoge Anwendung des Art. 58 Satz 1 GG, der die Gegenzeichnung für Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten auch auf seine Reden und Äußerungen ausdehnen würde, nicht zulässig. 4. Integrationsfunktion Möglicherweise ist es dem Bundespräsidenten aufgrund seiner Integrationsfunktion untersagt, durch politisch eigenständige Reden und Äußerungen in Erscheinung zu treten. So berufen sich Befürworter einer Gegenzeichnung auf die Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten, durch welche er verpflichtet sei, gerade keine bestimmte politische Haltung zu aktuellen Fragen einzunehmen, die möglicherweise der Linie der Bundesregierung zuwiderlaufe.249 Erhebliche Widersprüche zwischen den Aussagen des Bundespräsidenten und der Bundesregierung würden desintegrierend wirken, so dass der Bundespräsident seiner Rolle als Integrator nicht mehr gerecht werden könne.250 Diese Argumentation findet in der Verfassung keine Grundlage und ist auch darüber hinaus wohl kaum belegbar. Im Gegenteil schränkt eine solche Deutung den Bundespräsidenten in seiner Integrationsaufgabe ein, weil er dann nur noch von der Bundesregierung gebilligte Reden bzw. Äußerungen tätigen dürfte. Möglicherweise gebieten der politische Stil und Respekt dem Bundespräsidenten, sich nicht in die aktuelle Tagespolitik einzumischen. Aus der Integrationsfunktion ist dies rechtlich nicht abzuleiten. So lässt sich mit der Integrationsfunktion des Bundespräsidenten nicht begründen, warum dieser aufgrund politischer Kriterien ins Amt gekommene Präsident nicht politisch Stellung beziehen sollte. Gleichfalls lässt sich nicht belegen, dass der Bundespräsident nur dann integriert, wenn er sich aus jeglicher Kontroverse heraushält. Es bleibt daher dabei, dass der Bundespräsident aufgrund seines Amtes und seiner Position im Staat mit seinem Handeln integriert. Inwiefern dies mehr oder weniger polarisierend geschehen muss, lässt sich aus der Verfassung nicht ersehen und obliegt daher jedem einzelnen Amtsinhaber. Die Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten schränkt diesen demnach nicht in seinem Recht auf politisch eigenständige Reden und Äußerungen ein. 5. Grundsatz der Verfassungsorgantreue Auch der Grundsatz der Verfassungsorgantreue kann für eine Argumentation, die den Bundespräsidenten als neutralen Akteur begreift, nicht herangezogen wer249 Schenke, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 58, Rn. 48 ff.; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 58, Rn. 71; Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 68; Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 74. 250 Maurer, in: Börner / Jahrreiß / Stern, Festschrift für Karl Carstens, Bd. II, 701 (718).

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

den.251 Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue beinhaltet die Pflicht eines Verfassungsorgans, auf die Aufgaben und Funktionen der anderen Verfassungsorgane Rücksicht zu nehmen.252 Die zur Kontrolle, Hemmung und Mäßigung anderer Staatsorgane verliehenen rechtlichen Kompetenzen darf kein Organ dazu benutzen, die Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten zu verändern.253 Die Kompetenzen müssen vielmehr so wahrgenommen werden, dass der verfassungsrechtliche Status des jeweils anderen Organs geachtet und nicht gemindert wird.254 Die Pflicht zur Organtreue kann sich mithin nur innerhalb von bereits in der Verfassung bestehenden Kompetenzen auswirken, anderenfalls würde es sich um keine rechtliche und somit justitiable Pflicht handeln. Mit anderen Worten darf ein Organ innerhalb seiner Kompetenzen nicht in die Aufgaben anderer Organe in unloyaler Weise eingreifen. Ein Beispiel für eine rechtliche Kompetenz des Bundespräsidenten stellt das Ernennungsrecht in Bezug auf die Minister dar. Dieses unterliegt freilich dem Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers (Art. 64 Abs. 1 GG). Die Verfassung weist dem Bundeskanzler für das Organ Bundesregierung ein materielles Kabinettsbildungsrecht zu. Der Bundespräsident hat den benannten Kandidaten daher zum Minister zu ernennen, soweit jener die allgemeinen Wählbarkeitsvoraussetzungen255 erfüllt. Der Bundespräsident würde seine eigenen Kompetenzen in unloyaler Weise wahrnehmen und in das Kabinettsbildungsrecht des Bundeskanzlers eingreifen, wenn er beispielsweise die Sachkompetenz des von ihm zu ernennenden Ministers anzweifeln würde. Denn es obliegt dem Bundeskanzler zu entscheiden, welche Personen in seinem Kabinett tätig werden sollen. Ein derartiges Verhalten des Bundespräsidenten kann daher als Verstoß gegen die Verfassungsorgantreue gewertet werden. Ähnlich verhält es sich mit der Kompetenz des Bundespräsidenten zur Ausfertigung von Gesetzen (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG). Entweder der Bundespräsident fertigt das Gesetz aus, welches vom Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, oder der Bundespräsident hat Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und fertigt nicht aus. Die Ausfertigung eines Gesetzes verbunden mit dem öffentlichen Formulieren von Zweifeln an seiner Verfassungsmäßigkeit durch den Bundespräsidenten negiert die Sachkompetenz von Bundestag und Bundesrat, verfassungsmäßige Gesetze verabschieden zu können. Mit dieser bloßen Kritik an Bundestag und Bundesrat innerhalb seiner eigenen Rechtspflicht greift der Bundesprä251 So aber Schenke, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 58, Rn. 52; Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 68; i. E. auch Maurer, in: Börner / Jahrreiß / Stern, Festschrift für Karl Carstens, Bd. II, 701 (718 f.). 252 Schaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 85; Fritz, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 54, Rn. 119. 253 BVerfGE 9, 268 (279 f.); 22, 106 (111); 95, 1 (15). 254 Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 20, Rn. 225; SchulzeFielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), 1 (27 ff.). 255 Hierzu Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 64, Rn. 29 ff.; Art. 63, Rn. 20 ff.

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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sident daher in die Gesetzgebungskompetenz von Bundestag und Bundesrat ein. Ein solcher Fall stellt mithin einen Verstoß gegen die Verfassungsorgantreue dar. Dennoch gab es in der Praxis immer wieder Gesetze, die vom Bundespräsidenten trotz des öffentlichen Formulierens verfassungsrechtlicher Zweifel ausgefertigt wurden, zuletzt am 12. Januar 2005 das Luftsicherheitsgesetz durch Köhler.256 Dagegen stellt das Rede- und Äußerungsrecht des Bundespräsidenten keine rechtliche, sondern eine politische Kompetenz dar. Es ist keine justitiable verfassungsrechtliche Pflicht und kann daher nicht im rechtlichen Sinne in Kompetenzen von Bundesregierung und Bundeskanzler eingreifen. Die Bundesregierung wird bei ihrer eigenen Kompetenzausübung nicht in unloyaler Weise beschädigt. Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue gilt daher nicht für Reden und Äußerungen des Bundespräsidenten. Überdies würde man den Bundespräsidenten faktisch der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers unterwerfen, wenn ihm mit Hilfe des Grundsatzes der Verfassungsorgantreue das eigenständige Rede- und Äußerungsrecht untersagt werden könnte. 6. Zwischenergebnis Der Bundespräsident hat das Recht zu politisch eigenständigen Reden und Äußerungen. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gilt lediglich innerhalb der Bundesregierung und ist in Bezug auf den Bundespräsidenten nicht einschlägig. Eine analoge Anwendung des Art. 58 GG scheidet aufgrund einer nicht vergleichbaren Interessenlage aus. Aus der Integrationsfunktion des Bundespräsidenten folgt rechtlich nicht, dass sich dieser nicht politisch äußern darf, wenn seine Äußerungen der politischen Linie der Bundesregierung zuwiderlaufen. Die Verfassungsorgantreue kommt nur innerhalb bestehender Kompetenzen zum Tragen und verbietet dem Bundespräsidenten daher grundsätzlich nicht das Recht zur politischen Positionierung. Möglicherweise entspricht es dem derzeitigen Amtsverständnis und dem allgemeinen politischem Wunsch, politische Äußerungen des Bundespräsidenten als nicht legitim zu betrachten.257 Möglicherweise wirkte auch die Amtsführung des ersten Bundespräsidenten für seine Nachfolger stilbildend.258 Aus seinen verfassungsrechtlichen Pflichten kann indes kein Gebot für den Bundespräsidenten abgeleitet werden, sich politischer Äußerungen zu enthalten und profillos einen ständigen argumentativen Mittelweg zu suchen.259 In Praxis nahmen seit Bundesprä256 Eine Aufzählung aller Fälle bis Ende 2003, in denen ein Bundespräsident nicht oder nur mit verfassungsrechtlichen Bedenken ausgefertigt hat, findet sich bei Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des Bundespräsidenten, DVBl. 2004, 1 (3 ff.). 257 Hierzu SZ vom 18. / 19. 6. 2005, S. 3. 258 Butzer, Der Bundespräsident und sein Präsidialamt, VerwArch 82 (1991), 497 (505).

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

sident Heuss alle ihm folgenden Staatsoberhäupter zumindest im Bereich des Inneren das Recht der freien Rede in Anspruch und wollten sich dabei auch nicht zu einer Gegenzeichnung verpflichten lassen.260

D. Selbstverständnis der deutschen Staatsoberhäupter Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Repräsentations- und Integrationswirkung liegt in der Persönlichkeit des Bundespräsidenten. Alle Bundespräsidenten sahen ihre Hauptaufgabe in der Stärkung des demokratischen Grundkonsenses besonders durch die Funktion der Integration. Dass diese Funktion bereits im Parlamentarischen Rat bewusst angelegt wurde, belegen Aussagen des Ausschussvorsitzenden für die Organisation des Bundes Lehr, nach denen der Bundespräsident die Rolle eines „ehrlichen Maklers“ ausüben solle, der bei Konflikten zwischen Parteien und Regierung vermittelt. Er solle daher ein ausgleichendes Element sein, möglichst unabhängig und über den Parteien stehen.261 Abhängig von der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Lage und der Einheitlichkeit des Gemeinwesens nahm die Integrationsfunktion teilweise sogar den größten Stellenwert ein. So sah z. B. Theodor Heuss (1949 – 1959) als erster Bundespräsident seine Hauptaufgabe in der Integration, da es zu Beginn der Bundesrepublik nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs kaum ein Staatsbewusstsein gab. Eine Rolle spielte allerdings auch die Tatsache, dass die klare politische Richtung Adenauers wenig Spielraum für eigene politische Aktivitäten von Heuss ließ. Dagegen riss Adenauers Politik tiefe Gräben zwischen ihm und der Opposition in und außerhalb des Parlaments auf. Heuss hat diese Gräben überbrückt.262 Diese nicht auf Macht, sondern auf Autorität beruhende Integration war damals lebenswichtig für das Gemeinwesen. Als Vorbildfunktion betonte Heuss weiter seine demokratische Haltung, die er den Menschen vermitteln wollte.263 Als Heinrich Lübke (1959 – 1969) Bundespräsident wurde, hatte sich die gesellschaftliche Situation geändert, es war bereits ein gewisser Konsens gebildet worden. Die Integrationsfunktion hatte somit nicht mehr den hohen Stellenwert wie noch bei seinem Vorgänger. So konzentrierte sich Lübke auf seine politische Kontrolltätigkeit beispielsweise bei der Ausfertigung von Gesetzen.264 Gustav Heinemann (1969 – 1974) hatte sich der VerankeFritz, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, GG-Komm., Art. 54, Rn. 119. So bezeichnete Bundespräsident Carstens eine Gegenzeichnungspflicht als „absurd“, Die Zeit vom 22. 6. 1984, S. 3; vgl. auch Winkler, Der Bundespräsident, S. 50. 261 Lehr für die CDU / CSU-Fraktion, in: Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13 / Teilband 1, S. 119. 262 Winkler, Der Bundespräsident, S. 64. 263 Heuss, Die großen Reden, S. 302 ff. 264 Lübke fertigte das am 5. 11. 1960 vom Bundestag verabschiedete Gesetz über den Betriebs- und Belegschaftshandel nicht aus, weil es seiner Auffassung nach gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstieß. 259 260

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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rung der Demokratie und der Ausgestaltung des sozialen Rechtsstaats verschrieben. Als christlicher Pazifist drängte er auf gesellschaftliche Reformen.265 Walter Scheel (1974 – 1979) schließlich sah es als seine Aufgabe, auf den Stand und die Entwicklung des öffentlichen Bewusstseins einzuwirken, Anstöße zu geben und die Diskussion in politischen Grundsatzfragen voranzubringen und zu beeinflussen. Die Möglichkeiten und Kräfte des Bundespräsidenten seien dann richtig genutzt, wenn er versuche, den demokratischen Grundkonsens aller zu stärken, das Verhältnis des Bürgers zum Staat zu entwickeln und für die Funktionsfähigkeit der Demokratie Sorge zu tragen.266 Der aus Bremen stammende Jurist Karl Carstens (1979 – 1984) war anfangs Feindseligkeiten wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der NSDAP ausgesetzt. In seiner Amtszeit versuchte er, insbesondere ethische Maßstäbe wie Nächstenliebe und Toleranz in der Gesellschaft zu verankern.267 Richard von Weizsäcker (1984 – 1994) beeinflusste wie kaum ein anderer Bundespräsident das politische Klima durch seine Reden. Sein Selbstverständnis formulierte er beispielsweise folgendermaßen: „Bei uns dient das Amt des Bundespräsidenten dem Konsens und der Orientierung. Der Konsens wird benötigt und von fast allen Bürgern gewünscht. Es wird dankbar aufgenommen, wenn man zum Konsens mahnt. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelt sich auch die Zustimmung zum Inhaber des Amtes.“268 Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Roman Herzog (1994 – 1999) versuchte, die Möglichkeiten seines Amtes soweit wie möglich auszuschöpfen. Seine großen Themen waren Innovation und Bildung. Bekannt wurden seine Worte mit Blick auf den Reformstau in seiner ersten Berliner Rede am 26. April 1997: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“.269 Der frühere langjährige NRW-Regierungschef Johannes Rau (1999 – 2004) galt als ausgleichender und versöhnender Charakter. So prägte sein Credo „Versöhnen statt Spalten“ auch seine Amtszeit als Staatsoberhaupt, obwohl er in strittigen Fragen auch Akzente setzte.270 In seiner Ansprache nach seiner Wahl im Berliner Reichstag am 18. Mai 1999 machte er deutlich, dass er sich nicht nur als Präsident aller Deutschen versteht, sondern auch Ansprechpartner für die Bürger ausländischer Herkunft in Deutschland sein will.271 Auch im Folgenden warb er immer wieder eindringlich für Toleranz und die Integration von Minderheiten. Winter, Unsere Bundespräsidenten, S. 85 ff. Scheel, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Walter Scheel, Reden und Interviews, Bd. 4, 390 (392). 267 Carstens, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Karl Carstens, Reden und Interviews, Bd. 3, 438 (439). 268 Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 20. 12. 1986, S. 3 „Gespräch mit dem Bundespräsidenten von Weizsäcker zur Halbzeit seiner Amtsperiode“. 269 Herzog, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Roman Herzog, Reden und Interviews, Bd. 1, 523 (539). 270 So unterzeichnete Rau am 20. 6. 2002 das umstrittene Zuwanderungsgesetz, dessen Verabschiedung im Bundesrat nach uneinheitlicher Abstimmung Brandenburgs für einen Eklat gesorgt hatte. Er rügte aber alle Beteiligten und verwies die Prüfung des Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht. 265 266

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Der 2004 ins Amt gewählte Bundespräsident Horst Köhler ist nach Karl Carstens der zweite Kandidat der Opposition, der ins Bundespräsidialamt einzog. Aus diesem Grund hatte der frühere Staatsbeamte und ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds nicht nur Vorbehalten entgegenzutreten, er bringe aufgrund dieses technokratischen Hintergrundes mehr Talent für die Exekutive als für Repräsentation und Vermittlung mit.272 Auch dem Vorwurf, er sehe sich als Vorbote des von der damaligen Opposition erhofften Machtwechsels und sei als solcher nicht parteipolitisch neutral273, musste er sich entgegenstellen. Köhler selbst bescheinigte sich Autonomie in seiner neuen Rolle: Er habe sich um die Nominierung nicht beworben und sie nicht zuletzt aus Pflichtbewusstsein angenommen. „Nun gehe ich meinen Weg und mache mich dabei vom parteipolitischen System nicht abhängig.“274 Verändern wolle er das verkrustete Land, notfalls unbequem.275 Einen Schwerpunkt möchte Köhler bei der internationalen Armutsbekämpfung setzen.276 An diesem Wandel der selbst gesetzten Ziele der Bundespräsidenten, von dem Ziel der Vermittlung demokratischer Grundsätze bis zu dem Ziel der internationalen Armutsbekämpfung, kann erkannt werden, wie sich die Bundespräsidenten zwar einerseits an der politischen Lage Deutschlands und der Welt orientieren, andererseits aber auch den ihnen angetragenen Wunsch nach Integration unabhängig von derartigen Einflüssen wahrnehmen.

E. Ergebnis Der Bundespräsident ist kein „regierender Präsident“.277 Sein Amt ist durch einen Mangel an Entscheidungskompetenzen, eine fehlende politische Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament und die Anforderung parteipolitischer Offenheit gekennzeichnet. Bei Interessenkonflikten kann er nicht direkt eingreifen, sondern lediglich mit den zur Entscheidung berufenen Organen über divergierende Auffassungen sprechen und so helfen, bestehende Konflikte abzubauen.278 Dennoch ergibt sich aus der Verfassung kein Gebot für den Bundespräsidenten, sich nicht auch politisch zu äußern, wenn er es für die Erfüllung seiner Aufgaben für notwendig hält. Der Bundespräsident kann daher durchaus als „politischer Präsident“279 be271 272 273 274 275 276 277 278 279

Winter, Unsere Bundespräsidenten, S. 245 ff. Der Spiegel 47 / 2004, S. 22. Der Spiegel 47 / 2004, S. 24; Die Zeit vom 20. 1. 2005, S. 2. Die Zeit vom 20. 1. 2005, S. 2. Die Zeit vom 20. 1. 2005, S. 2. SZ vom 18. / 19. 6. 2005, S. 3. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 211. Winter, Unsere Bundespräsidenten, S. 12. Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 82.

2. Kap.: Das Staatsoberhaupt in Deutschland

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zeichnet werden. Fasst man die innen- und außenpolitischen Kompetenzen des Bundespräsidenten zusammen, ergeben sich als die wichtigsten Hauptgruppen die Außendarstellung und die politische Einflussnahme im beschriebenen Umfang. Der Bundespräsident besitzt im Verfassungsgefüge eine eigenständige Stellung, was auch die eindeutige Normierung des Art. 62 GG belegt, nach der er nicht zur Bundesregierung gehört. Die Ausübung einheitsstiftender Funktionen ist dem Bundespräsidenten weniger durch seine (geringen) verfassungsrechtlich gegebenen Kompetenzen möglich, was ihn jedoch nicht in seiner Funktionsausübung insgesamt beeinträchtigt. Der Bundespräsident übt einheitsstiftende Funktionen mit seinem gesamten Handeln aus, wie beispielsweise durch seine Reden und Reisen. Das Bild des deutschen Staatsoberhaupts entspricht damit demjenigen in vielen parlamentarischen Demokratien, in denen die Aufgaben des Staatsoberhaupts im Bereich der politischen Einflussnahme beschränkt sind, was es jedoch nicht in seiner Akzeptanz als Staatsoberhaupt beeinträchtigt. 280 Die Behauptung, dass der Bundespräsident aus dem Grund der Machtlosigkeit nicht in der Lage sei, seine Funktionen adäquat zu erfüllen und nicht als Staatsoberhaupt bezeichnet werden könne281, trägt somit nicht. Nach den hier festgestellten Kompetenzen des Bundespräsidenten kann dieser daher nicht als ein „pouvoir neutre“ gesehen werden. Dieser Begriff, der von Benjamin Constant282, als Leitbild der konstitutionellen Monarchie geprägt wurde, stand für eine vierte Gewalt, die im Fall einer ernsthaften Störung der drei klassischen Gewalten, der Exekutive, der Legislative und der Judikative, koordinierend eingreifen sollte. Mangels der nötigen eigenständigen Entscheidungsbefugnisse ist diese Theorie für das Amt des Bundespräsidenten nicht anwendbar und wurde lediglich in den Anfangsjahren der Bundesrepublik im Schrifttum vertreten.283 Die 280 Vgl. die konstitutionelle Monarchie des Vereinigten Königreichs oder Schwedens, für die der Monarch ganz unbestritten das Oberhaupt ist. So auch Knöpfle, Das Amt des Bundespräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland, DVBl. 1966, 713 ff.; Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 54, Rn. 13. 281 So Henke, Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, DVBl. 1966, 723 ff.; aus geschichtlichen Gründen erscheint Schlaich die Bezeichnung „der Präsident“ angemessener und besser passend für die Nüchternheit der Republik. Sie habe weniger symbolische Aussagekraft als der Titel des „Staatsoberhaupts“, ders., in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 49, Rn. 93. 282 Kennzeichnend sei eine „somme totale de l’autorité“, so Constant, Cours de Politique Constitutionnelle, Bd. I, S. 20, 179. 283 Bejahend Maunz, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 54, Rn. 4 (Erstbearbeitung); Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 331; Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG-Komm., 2. Auflage, Bd. II, Vorbem. III i vor Art. 54. Verneinend Pflüger, in: Funke / Jacobsen / Knütter / Schwarz, Demokratie und Diktatur, 383 (386); Bollendorff, Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich bis zum Ende der 4. Republik, S. 129; Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, Der Staat 1964, 201 (209); Grauhan, Gibt es in der Bundesrepublik einen „pouvoir neutre“?, Heidelberg 1959; ders., Der Bundespräsident – Aktiv oder neutral?, JR 1965, S. 379 ff.; Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, VVDStRL 25 (1967), 2 (81 ff.).

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Machtbefugnisse, die das Grundgesetz dem deutschen Staatsoberhaupt zugesteht, sind somit zwar vergleichsweise gering, doch lassen sie ihm das Recht, zu allen wichtigen öffentlichen Fragen Stellung zu beziehen.284 Es wird sogar von ihm erwartet, dass er seine verfassungsrechtliche Stellung als Staatsoberhaupt dazu nutzt, sich zu Fragen und Problemen zu äußern, die die Menschen in seinem Staat bewegen. Ferner haben alle Bundespräsidenten in ihrem Handeln auf die Einheit des Gemeinwesens hingewirkt, Leitbilder vorgegeben und Werte in Erinnerung gerufen. Sie versuchten, sowohl dem Willen der Mehrheit als auch dem der Minderheit Ausdruck zu verleihen und trotz aller Diversitäten einen nationalen Basiskonsens zu artikulieren. Eine politische Einmischung fand nur in begrenztem Umfang statt und war selten auf konkrete Sachfragen bezogen. Sie beschränkte sich eher auf mahnende Worte, eine Analyse der aktuellen Situation und mögliche Lösungsmöglichkeiten, die allerdings nicht in konkrete Vorschläge wie beispielsweise Gesetzesvorlagen gipfelten. Das deutsche Staatsoberhaupt ist somit einerseits ein von den anderen Staatsgewalten unabhängiges Organ, hat andererseits aber wenig politischen285 und rechtlichen Einfluss. Beizupflichten ist Theodor Eschenburg daher, wenn er die Aufgaben des Bundespräsidenten weniger im Regieren sieht, als im Beraten und Behüten. Er könne eher verhindern als bewirken.286 3. Kapitel

Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik Im Vergleich zum Bundespräsidenten, der exemplarisch für ein Oberhaupt eines parlamentarischen Staates steht, stellt der französische Staatspräsident ein Oberhaupt in einem System mit starken präsidialen Zügen dar. Dieses System, die V. französische Republik, existiert in Frankreich erst seit 1958. Zuvor war Frankreich ein parlamentarisches System, in dem der Staatspräsident kaum politische Kompetenzen besaß. Die instabilen Mehrheitsverhältnisse und die daraus resultierende Instabilität der Regierung stellten einen entscheidenden Schwachpunkt der IV. französischen Republik dar. Ihr Scheitern war unter anderem auf die schwache Stellung ihres Präsidenten zurückzuführen. Die Stärkung der verfassungsrechtlichen Position des Präsidenten stellte daher ein wesentliches Anliegen der Verfassungsgeber der V. französischen Republik 284 Ihn daher lediglich als „Staatsnotar“ abzuqualifizieren, würde seinem Amt nicht gerecht werden. Vgl. hierzu Epping, Das Ausfertigungsverweigerungsrecht im Selbstverständnis des Bundespräsidenten, JZ 1991, 1102 (1109). 285 Ein Gegenbeispiel, das für einen politischen Einfluss des Bundespräsidenten steht, ist die Auflösung des Bundestags 1983 durch den damaligen Bundespräsidenten Carstens. Siehe Fn. 232. 286 Eschenburg, Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. I, S. 133.

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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dar.287 Der Staatspräsident sollte bei der Ausübung seiner Befugnisse keiner direkten Kontrolle durch die parlamentarischen Kammern unterliegen und daher in der Lage sein, ein wirksames Gegengewicht zum verpönten „régime des parties“, also der parlamentarisch verantwortlichen Regierung zu bilden.288 Insbesondere Charles de Gaulle legte bei den Beratungen über die neue Verfassung besonderen Wert auf eine herausgehobene Stellung des Präsidenten und eine effektive Ausgestaltung seiner Befugnisse: „Vom Staatspräsidenten und nicht vom Parlament muss die Exekutivgewalt ihre Autorität ableiten, wenn eine Gewaltenkonzentration, wie sie für Versammlungsregierungen charakteristisch ist, künftig vermieden werden soll.“289 Das Parlament der V. Republik setzt sich wie schon seine Vorgänger aus zwei Kammern zusammen, der Nationalversammlung (Assemblée nationale) und dem Senat (Sénat) (Art. 24 Satz 1 Constitution). In der ersten Kammer, der Nationalversammlung, sind 577 Abgeordnete vertreten, die per Mehrheitswahlrecht für fünf Jahre gewählt werden. Der Senat hat 331 Mitglieder. Die Senatoren werden für eine Amtszeit von sechs Jahren von den Repräsentanten der Gebietskörperschaften gewählt. Die französische Regierung besteht aus den Ministern und dem Premierminister. Diese bilden zusammen mit dem Präsidenten den Ministerrat. Die Exekutive besteht somit zum einen aus dem Präsidenten, der vom Parlament unabhängig ist, da er direkt vom Volk gewählt wird. Zum anderen besteht sie aus der Regierung, die dagegen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Parlament steht. Aufgrund dieser doppelten Exekutive wird häufig von einem semi-präsidentiellen Regierungssystem gesprochen.290 Ebenso findet sich allerdings die Bezeichnung Frankreichs als Präsidialdemokratie, die sich aus der umfassenden Kompetenzund Machtfülle des Präsidenten erklärt, der eine vom Parlament unabhängige Legitimation besitzt.291 Eine begriffliche Klärung ist für diese Arbeit nicht erforderlich, da sie auf die Kompetenzen und Befugnisse des Staatsoberhaupts keinen Einfluss hat.

A. Stellung des Präsidenten im Verfassungsgefüge Die herausgehobene Stellung des Präsidenten kommt systematisch dadurch zum Ausdruck, dass er in einem eigenständigen Verfassungsabschnitt noch vor den Abschnitten über die Regierung und das Parlament behandelt wird. So erwähnt der 287 Zur historischen Entwicklung Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 16 ff. 288 Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 202. 289 De Gaulle, Discours et messages, Bd. II, S. 9. 290 Leclerq, Institutions politiques et droit constitutionnel, S. 402; Jacqué, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 138 f.; Turpin, Droit constitutionnel, S. 191. 291 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 269; Grosser / Goguel, Politik in Frankreich, S. 301.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Verfassungstext vom 4. Oktober 1958 das Amt des Staatspräsidenten an zweiter Stelle292 unmittelbar nach dem Prinzip der Volkssouveränität.293 Erst nach dem Abschnitt über die Regierung294 wurde das Parlament im vierten Abschnitt platziert.295 Aus dieser Rangfolge kann durchaus die Gewichtsverteilung nicht nur zwischen Präsident und Premierminister, sondern auch innerhalb des gesamten politischen Prozesses in Frankreich abgeleitet werden.296 In der gaullistischen Konzeption der präsidialen Funktionen nimmt die Schiedsrichterrolle des Präsidenten einen besonderen Stellenwert ein. Verfassungsrechtlich verankert ist dieses Konzept in Art. 5 Satz 1, 2 Constitution. Art. 5 Satz 1 Constitution nennt dabei die Pflicht des Präsidenten, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. Im konkreten Sinn bedeutet dies, dass der Präsident keine Verordnung unterzeichen darf (Art. 13 Satz 1 Constitution), die nach seiner Auffassung gegen die Verfassung verstößt. Ebenso wenig darf er ein Gesetz verkünden (Art. 10 Satz 1 Constitution), das er für verfassungswidrig hält. Eine Bindungswirkung einer darüber hinausgehenden Verfassungsinterpretation durch den Präsidenten kann der Verfassung nicht entnommen werden. Diese besteht möglicherweise in politischer, jedoch nicht in rechtlicher Hinsicht. Art. 5 Satz 2 Constitution überträgt dem Präsidenten die Aufgabe, durch seine Schiedsgewalt (arbitrage) die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalt sowie die Kontinuität des Staates zu sichern. Das Bestehen einer Konfliktlage als Voraussetzung für ein Eingreifen des Präsidenten ist dabei nicht aus dem Verfassungstext zu ersehen. Vielmehr kann der Staatspräsident bereits im Vorfeld einer möglichen Störung tätig werden, wenn er dies für erforderlich hält, um die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalt zu sichern.297 Diese Auslegung sichert ihm einen großen Entscheidungsspielraum. Die Schiedsrichterrolle des Präsidenten bedeutet in diesem Kontext nicht die politische Abstinenz des Präsidenten, sondern vielmehr die Ausrichtung der Entscheidungen des Präsidenten am Allgemeinwohl (intérêt général) statt an parteipolitischen Interessen.298 Der Staatspräsident besitzt damit zugleich die Definitionshoheit, was das Allgemeinwohl betrifft.299 Art. 5 Constitution berechtigt den Präsidenten aufgrund seiner Legitimation dazu, Inhalt und Ausmaß des Allgemeinwohls zu bestimmen. Dennoch existiert – genau wie bereits beim Bundespräsidenten festTitel II – Der Präsident der Republik (Art. 5 – 19). Titel I – Die Souveränität (Art. 1 – 4). 294 Titel III – Die Regierung (Art. 20 – 23). 295 Titel VI – Das Parlament (Art. 24 – 33). 296 Als Indiz hierfür dient gleichfalls die Wahrnehmung der Bevölkerung, die den Amtssitz des Präsidenten, den Elysée-Palast, in der Umgangssprache „Le Château“ nennen. So Stevens, in: Hayward, De Gaulle to Mitterrand, S. 76. 297 Hayward, in: ders., De Gaulle to Mitterrand, S. 48; Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 236. 298 Conac, in: Luchaire / Conac, La constitution de la république francaise, S. 262. 299 Gicquel, Essai sur la pratique de la Ve République, S. 70. 292 293

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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gestellt – kein objektiver Bewertungsmaßstab.300 Die verfassungsrechtliche Forderung an den Präsidenten, sich als Schiedsgewalt zu gerieren, kann daher als idealtypisch klassifiziert werden. Gleiches gilt für den ursprünglichen Gedanken, der sich hinter beiden Vorschriften verbirgt. Dieser besteht darin, dass es zur Vermeidung und Ahndung von Regelverstößen durch die politischen Akteure einer Instanz bedarf, die selbst nicht unmittelbar in parteipolitische Auseinandersetzungen verwickelt ist. Diese Instanz soll der Staatspräsident darstellen.301 Hintergrund ist die Intention de Gaulles, mit dem Staatspräsidenten ein Bollwerk gegen die Auswüchse des Parteienstaats und die durch sie heraufbeschworene Gefahr einer Lähmung der staatlichen Autorität zu schaffen.302 Die Realität hat diese idealtypischen Hintergründe des Art. 5 Satz 2 Constitution insoweit überholt, als der Präsident selbstverständlich die Interessen seiner Partei vertritt, die ihn als Kandidat aufgestellt, die für ihn den Wahlkampf bestritten hat und von dessen Anhängern er letztlich wieder gewählt werden möchte. Vertritt er somit politische Ansichten, so sind diese in der Regel identisch mit den Interessen und Vorstellungen seiner Partei. Erhebt der Präsident diese Interessen dann in den Stand solcher der Allgemeinheit, so geschieht dies aus seinem politischen Blickwinkel heraus. Die Idee eines direkt gewählten Präsidenten, der geradezu unpolitisch über den Parteien steht,303 entspricht daher zumindest bei politischen Entscheidungen nicht der Realität. Anders ist der Fall gelagert, wenn es sich um verfassungsrechtliche Pflichten des Präsidenten handelt. So hat der Präsident beispielsweise den Premierminister zu ernennen (Art. 8 Satz 1 Constitution). Ernennt der Präsident eine Person, die möglicherweise seiner politischen Richtung, aber nicht der Richtung der politischen Mehrheit in der Nationalversammlung entspricht, wie es bei einer Kohabitation der Fall ist, so handelt er gegen den Sinn und Zweck der Verfassung, die die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung erreichen möchte. Der Präsident würde sich somit keinesfalls als „Wächter der Verfassung“ verhalten, wenn er diese Mehrheitsverhältnisse aus eigenen politischen Interessen überginge. In diesem Fall einer Rechtspflicht (der Ernennung des Premierministers) kann daher ein Verstoß des Präsidenten gegen die geforderte parteipolitische Unabhängigkeit festgemacht werden, dessen Sanktionierung allerdings schwierig ist.304 In allen sonstigen Entscheidungen des Präsidenten, denen keine konkrete Verfassungspflicht vorangeht, kann eine parteipolitisch unabhängige Entscheidung des Präsidenten allerdings nicht erwartet werden.

Siehe S. 57 ff. Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 230. 302 De Gaulle, Discours et messages, Bd. II, S. 7 ff. 303 So aber die von de Gaulle gebrauchte Formulierung in der Rede von Bayeux im Juni 1946: „au-dessus des parties“, Discours et messages, Bd. II, S. 19. 304 Siehe hierzu S. 86 ff. 300 301

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

I. Wahlverfahren und Inkompatibilität Gewählt wird der Präsident in allgemeiner und unmittelbarer Wahl für die Dauer von fünf Jahren305, eine Wiederwahl ist unbegrenzt zulässig. Gewählt ist der Kandidat, auf den die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen entfällt. Erreicht kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten statt, die mit den meisten Stimmen aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen sind (Art. 7 Abs. 1 Constitution). Das Erfordernis der absoluten Mehrheit stellt sicher, dass der neue Staatspräsident sein Amt mit einer unanfechtbaren demokratischen Legitimation übernimmt.306 Er verkörpert dann den „volonté générale“.307 Die hohe Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen308 lässt auf einen hohen Grad an Akzeptanz dieses Wahlmodus und seiner Ausgestaltung schließen und stellt eine Bestätigung seiner Machtposition und ihrer Ausübung dar. Eine Vereidigung findet nicht statt. In Frankreich gibt es grundsätzlich keine zeitliche Übereinstimmung zwischen den Präsidentschaftswahlen und den Wahlen zur Nationalversammlung, was die Möglichkeit mit sich bringt, dass der Präsident und die Mehrheitsfraktion im Parlament gegnerischen Parteien angehören. Ernennt der Präsident dann den Premierminister, so ist dieser Vertreter der gegnerischen Partei. Eine solche Konstellation, die die präsidentielle Macht begrenzt, wird als Kohabitation (cohabitation) bezeichnet. Verfügt der Präsident hingegen über eine Mehrheit im Parlament, ist er die politische Führungsfigur in seiner Partei und der eigentliche Mehrheitsführer in der Nationalversammlung. Der von ihm eingesetzte Premierminister untersteht bei dieser Konstellation ebenfalls faktisch dem Präsidenten.309 Aufgrund dieser Tatsachen und seiner weiteren Kompetenzen wird der Präsident ebenso zur Exekutive 305 Art. 6 Constitution, geändert durch Gesetz vom 24. 9. 2000 (die Amtszeit des Präsidenten betrug vorher sieben Jahre). 306 Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 623. 307 Lavroff, Le droit constitutionnel de la Ve République, S. 490. 308 Wahlbeteiligungen, die regelmäßig zwischen achtzig und neunzig Prozent liegen, dokumentieren das große Interesse der französischen Bürger. Die Präsidentschaftswahl verzeichnet damit das höchste Wählerinteresse unter allen Abstimmungen auf nationaler Ebene. Massot, L’arbitre et le capitaine, S. 182; Kempf, Von de Gaulle bis Chirac, S. 228 m. w. N. 309 Burdeau / Hamon / Troper, Droit constitutionnel, S. 435; Lavroff, Le droit constitutionnel de la Ve République, S. 828; Jacqué, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 139 f. Lediglich bei dem liberalen Präsidenten Giscard d’ Estaing, dessen Partei in der Nationalversammlung nur durch die Koalition mit den vergleichsweise stärkeren Gaullisten eine Mehrheit erlangte, führte die Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit nicht zu einer Ausweitung präsidialer Machtbefugnisse. Der Grund hierfür war, dass die Gaullisten sich durch die Unterstützung eines Staatspräsidenten, der dem kleineren Koalitionspartner angehörte, gezwungen sahen, ihre eigene politische Unabhängigkeit und Identität unter Beweis zu stellen und deshalb zugunsten des gaullistischen Premierministers Chirac einer Ausweitung präsidialer Dominanz entgegentraten; vgl. Duhamel, Droit constitutionnel et politique, S. 56; Wuttke, Die Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern in Deutschland und Frankreich, S. 59.

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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gerechnet wie der Premierminister. Dem Präsidenten fällt es dabei zu, die Ausführung seines Programms, das für seine Wahl ausschlaggebend war, zu verfolgen, während der Premierminister für die Verwaltungsarbeit und Leitung der Regierung zuständig ist.310 Eine explizite Inkompatibilitätsregelung ist nicht vorhanden. Die Vorschrift des Art. 43 der Verfassung von 1946, nach der das Amt des Staatspräsidenten nicht gleichzeitig mit einer anderen öffentlichen Funktion wahrgenommen werden kann, wurde nicht in die Verfassung der V. Republik von 1958 übernommen. Begründet wurde diese Nichtübernahme mit dem Hinweis, dass sich diese Regelung von selbst verstehe und daher nicht eigens im Verfassungstext erwähnt werden brauche.311 Die Fortgeltung der Regelung, dass der Staatspräsident während seiner Amtszeit keine anderen öffentlichen Ämter ausüben oder gar einer privatwirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen darf, ist daher in Frankreich gewohnheitsrechtlich anerkannt.312

II. Vertretung Die Vertretung des Präsidenten wird im Fall des Todes, des Rücktritts, der Amtsenthebung oder einer sonstigen Verhinderung durch den Präsidenten des Senats wahrgenommen (Art. 7 Abs. 4 Constitution). Dieser Fall ist bislang zweimal eingetreten. Alain Poher versah sowohl nach dem Rücktritt de Gaulles 1969 als auch nach dem plötzlichen Tod Pompidous das Amt stellvertretend. Der Senatspräsident wird durch den Senat gewählt. Die Einzelheiten werden durch ein einfaches Gesetz geregelt (Art. 25 Abs. 1 Constitution i.V.m. Art. 296 Code électoral). In der Verfassungspraxis erfolgen kurze Vertretungen bei einzelnen Terminen des Präsidenten allerdings meistens durch den Premierminister313, was mit Art. 21 Abs. 3 Constitution begründet wird. Dieser Artikel erlaubt es dem Premierminister, den Präsidenten bei der Leitung einer Ministerratssitzung zu vertreten, soweit hierzu ein ausdrücklicher Auftrag und eine bestimmte Tagesordnung vorliegen. Allein aus dem Wortlaut kann zwar nicht entnommen werden, dass der Premierminister noch zu weiteren Vertretungen befugt ist. Betrachtet man allerdings den Sinn und Zweck des Artikels, der eine Vertretung dann erlaubt, wenn ein Auftrag vorliegt und der Premierminister Weisungen in Form einer Tagesordnung hat, kann dieser Fall sicherlich auch auf andere Konstellationen übertragen werden. Der Präsident soll entlastet werden, indem er nicht zwingend physisch anwesend sein muss, trotzdem aber soll er seine Kompetenzen behalten. Gibt der Präsident dem Premierminister 310 Debbasch, Président de la République et Premier ministre dans le système politique de la Ve République. Duel ou duo?, RDP 1982, 1175 ff. 311 Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 213, Fn. 48. 312 Rials, La présidence de la République, S. 18. 313 Vertretung Chiracs durch seinen Premierminister de Villepin, SZ vom 5. 9. 2005, S. 3.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

klare Vorgaben, nach denen sich dieser zu richten hat, entspricht es der Organisationsgewalt des Präsidenten, sich auch bei anderen Terminen vertreten zu lassen. Dass diese Vertretung nicht zum Regelfall wird, liegt schon im Selbstinteresse jedes Präsidenten, den eigenen Machtbereich zu wahren und den Premierminister, dessen Amt schon oft in der französischen Geschichte das Sprungbrett zum Präsidentenamt war, nicht zu weitgehend an der eigenen Macht teilhaben zu lassen. Dies gilt zumindest dann, wenn eine eigene erneute Kandidatur für das Amt des Präsidenten nicht ausgeschlossen ist. Aus Art. 21 Abs. 3 Constitution ist daher bei einer klaren Instruktion eine Vertretung des Präsidenten durch den Premierminister auch in anderen Fällen als dem in der Verfassung beschriebenen möglich. Der Präsident hat somit nicht die Möglichkeit, frei einen Stellvertreter zu bestimmen, sondern er ist in jedem Fall verfassungsrechtlich gebunden. Auch auf die personelle Entscheidung über die Besetzung des Senatspräsidenten hat er keinen Einfluss. Einfluss kann der Staatspräsident lediglich auf die Besetzung des Amtes seines ihn faktisch vertretenden Stellvertreters, also des Premierministers ausüben, wenn eine Konvergenz von präsidentieller und parlamentarischer Macht vorliegt. In diesem Fall entscheidet der Staatspräsident frei darüber, welche Persönlichkeit er mit der Aufgabe betrauen möchte, ihm bei der Umsetzung seiner politischen Vorstellungen zu helfen. Die Verhinderung des Staatspräsidenten kann von ihm selbst festgestellt werden, was in der Verfassungspraxis der Regelfall ist. Ebenso kann eine Verhinderung auch auf Antrag der Regierung vom Verfassungsrat314 festgestellt werden. Hierzu bedarf es der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 7 Abs. 4 Constitution).

B. Verantwortlichkeit des Präsidenten Eine Verantwortlichkeit des Präsidenten besteht sowohl in rechtlicher als auch in politischer Hinsicht. Ihren Ausdruck findet sie in der Anklage wegen Hochverrats (Art. 68 Constitution). Die Einleitung eines Verfahrens wegen Hochverrats gegen den Präsidenten setzt einen übereinstimmenden Beschluss der Nationalversammlung und des Senats voraus, der jeweils mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder gefasst werden muss. In dem Beschluss müssen die Handlungen, die dem Präsidenten zur Last gelegt werden, hinreichend bezeichnet sein.315 Der Kassationsgerichtshof (Cour de Cassation) setzt dann einen Untersuchungsausschuss ein, der aus fünf seiner Richter besteht. Dieser Untersuchungsausschuss prüft, ob der Präsident die ihm vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen hat. Eine 314 Der Verfassungsrat: „Conseil constitutionnel“ (geregelt in Titel VII, Art. 56 – 63 Constitution) besteht aus neun Mitgliedern, die die Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben. Drei der Mitglieder werden vom Präsidenten ernannt, Art. 56 Abs. 1 Constitution. 315 Art. 18 der Ordonnanz Nr. 59 – 1 vom 2. 1 1959 „Ordonnance portant loi organique sur la Haute Cour de Justice“.

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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rechtliche Würdigung der vorgeworfenen Tatsachen wird nicht vorgenommen.316 Die rechtliche Würdigung ist allein die Aufgabe des Hohen Gerichtshofs (Haute Cour de Justice)317, an den die Untersuchungskommission das Verfahren weiter verweist, falls ihre Ermittlungen zu einem positiven Ergebnis geführt haben. Am Ende des Verfahrens entscheidet der Gerichtshof mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Diese Entscheidung ist unanfechtbar.318 Der französische Staatspräsident ist außerdem politisch verantwortlich. Dies zeigt sich daran, dass der Hohe Gerichtshof bei der Beurteilung, ob ein Fall des Hochverrats vorliegt, nicht an die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs319 und die gesetzliche Definition des Landesverrats gebunden ist; Art. 68 Constitution macht hier keinerlei Vorgaben. Ebenfalls keine Vorgaben werden bezüglich der Sanktionen gegeben. Über ihren Inhalt entscheiden die Richter nach freiem Ermessen ohne Bindung an das Strafrecht. Sie können den Staatspräsidenten beispielsweise für abgesetzt erklären. Die Grundsätze „nullum crimen sine lege“ und „nulla poena sine lege“ gelten für das Verfahren der Hochverratsanklage gegen den französischen Staatspräsidenten nicht.320 Praktische Bedeutung erlangte die Vorschrift des Art. 68 Constitution bislang nicht. Mangels einer Verurteilung eines französischen Staatspräsidenten in der französischen Geschichte besteht in der Literatur erhebliche Unsicherheit über die Voraussetzungen, die eine Verurteilung erfordert. Einigkeit besteht aber, dass nicht bereits ein einfacher Gesetzesverstoß ausreicht, um eine Verurteilung herbeizuführen.321 Die Frage nach der strafrechtlichen Haftung des Präsidenten hat erst im Laufe der letzten Jahre an Aktualität gewonnen. Ausgelöst wurde das Interesse an dieser Problematik infolge der Eröffnung verschiedener Untersuchungsverfahren betreffend den Verdacht der unzulässigen Parteienfinanzierung im Wege der Zwischenschaltung verschiedener, von der Stadt Paris gegründeter Gesellschaften wie z. B. der SEMPAP (Société d’économie mixte parisienne de prestations). Konkret stellte sich die Frage, ob der Untersuchungsrichter die Möglichkeit besaß, Jacques Chirac, den amtierenden Präsidenten, als Zeugen zu vernehmen.322 Zur Zeit der Art. 25 Abs. 1 der Ordonnanz Nr. 59 – 1. Der Hohe Gerichtshof setzt sich aus 24 Richtern und 12 Ersatzrichtern zusammen, die jeweils zur Hälfte von der Nationalversammlung und dem Senat zu Beginn jeder Legislaturperiode gewählt werden, Art. 1, 2 der Ordonnanz Nr. 59 – 1. 318 Art. 35 der Ordonnanz Nr. 59 – 1. 319 Die Vorschriften der Strafprozessordnung finden auf das Verfahren entsprechende Anwendung, Art. 32 der Ordonnanz Nr. 59 – 1. 320 Debbasch / Bourdon / Pontier / Ricci, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 677. 321 Siehe hierzu Moreau, La haute trahison du président de la République sous la Ve République, RDP 1987, 1541 (1597 f.) m. w. N. Moreau fordert eine schärfere Trennung zwischen der primär strafrechtlichen und der rein politischen Verantwortlichkeit des Staatspräsidenten. 322 Hierzu Favoreu, De la responsabilité pénale à la responsabilité politique du Président da le République, RFDC 2002, 7 ff.; Delpérée, La responsabilité du chef de l’Etat. Brèves 316 317

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

dem Strafverfahren zugrunde liegenden Vorgänge war Chirac Bürgermeister von Paris. Das am 10. Oktober 2001 von der Vollversammlung (Assemblée plénière) des Kassationsgerichtshofs erlassene Urteil323 stellt den vorläufigen Schlusspunkt einer sehr kontrovers geführten Debatte über das verfassungsrechtliche System der strafrechtlichen Haftung des Staatsoberhaupts dar. In ihrem Urteil entschieden die Richter, dass der Staatspräsident während seiner Amtszeit strafrechtliche Immunität genießt. Diese Immunität gelte auch für Taten vor Mandatsbeginn, ebenso dürfe der Staatspräsident nicht als Zeuge geladen werden.324

C. Kompetenzen des Präsidenten Die Verfassung vom 4. Oktober 1958 hat den Grundsatz der Gegenzeichnungspflicht (l’obligation du contreseing) beibehalten. Die meisten Befugnisse des Präsidenten bedürfen der Gegenzeichnung des Premierministers oder eines verantwortlichen Ministers. Da der Präsident gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich ist, übernimmt somit der Regierungschef oder ein Minister die politische Verantwortlichkeit. Bei den nicht gegenzeichnungspflichtigen Kompetenzen entscheidet der Präsident unabhängig. Die Kompetenzen der französischen Staatspräsidenten werden unterteilt in Darstellung nach außen und nach innen, staatsnotarielle Aufgaben und in den Bereich der politischen Einflussnahme.

I. Darstellung nach außen Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik beansprucht der Präsident eine dominante Rolle, die in dieser Form in der Verfassung nicht zum Ausdruck kommt. Diese legt lediglich fest, dass der Präsident ausländische Botschafter und außerordentliche Gesandte beglaubigt (Art. 14 Constitution). Zudem hat der Präsident gemäß Art. 52 Constitution die Möglichkeit, Verhandlungen mit anderen Staaten zu führen und Verträge zu ratifizieren. Als Belege für außerordentliche Befugnisse in der Außenpolitik können diese Kompetenzen nicht angeführt werden. Dies gilt gleichermaßen im Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Art. 15 Constitution legt den Oberbefehl des Präsidenten über die Streitkräfte fest, der allerdings nach der Verfassung mit den Befugnissen des Premierministers und der Regierung konkurriert (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Constitution). Dennoch hat sich in der französischen Verfassungspraxis eine Stellung des Präsidenten observations comparatives, RFDC 2002, 31 ff.; Bouloc, Le point de vue du pénaliste, RFDC 2002, 43 ff. 323 No de Pourvoi 01 – 84.922, Arrêt no 481 du 10 octobre 2001, Cour de cassation – Assemblée plénière. 324 Hierzu de Gouttes, Conclusions sur l’arrêt de l’assemblée plénière de la Cour de cassation du 10 octobre 2001, RFDC 2002, 51 ff.

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entwickelt, die als domaine réservé bezeichnet wird.325 Dies bedeutet, dass der Präsident den gesamten Bereich der Außenpolitik dominiert. Er vertritt die französischen Interessen im Ausland beispielsweise auf internationalen Konferenzen, nimmt an Gipfeltreffen teil und empfängt ausländische Staats- und Regierungschefs im Elyséepalast, nicht selten ohne die Mitwirkung des Premierministers oder des Außenministers.326 Auch die Personalentscheidung für das Amt des Außenministers trifft der Präsident. Damit der Präsident in der Außenpolitik auch tatsächlich die Vorherrschaft behält, griffen die Präsidenten in der Vergangenheit nur sehr selten auf Politiker zurück, sondern eher auf Diplomaten oder Fachleute. Die Außenpolitik sollte Regierung und Parlament so weit wie möglich entzogen werden. Zurückzuführen ist diese Verfassungspraxis auf den ersten Staatspräsidenten de Gaulle, der die Außenpolitik als seine wichtigste Politikaufgabe definierte. Seine Nachfolger handelten ebenso, um dieses Privileg zu behalten. Die bislang einzige Ausnahme machte Staatspräsident Mitterrand, als er den Parteipolitiker Juppé (1993 – 1995) zum Außenminister machte. Der Grund war, dass Mitterrand keine großen Ambitionen als Staatspräsident mehr verfolgte, da sein Mandat zu Ende ging. Trotz der faktischen Belegung dieses Bereichs durch den Präsidenten bedürfen alle Präsidialakte auf diesem Gebiet der Gegenzeichnung des Premierministers oder des verantwortlichen Ministers327, die damit die Verantwortung vor dem Parlament übernehmen.

II. Darstellung nach innen Der Staatspräsident übt die Innendarstellung aus. Seine Stellung als Schiedsrichter, Wächter der Verfassung und Garant der nationalen Unabhängigkeit (Art. 5 Constitution) äußert sich in der Innendarstellung gegenüber dem französischen Volk beispielsweise in der Befugnis, Orden selbst zu vergeben, Leitlinien zu entwerfen und eigene Vorschläge zu erbringen, welche Persönlichkeiten für die Verleihung der beiden höchsten französischen Auszeichnungen, des Ordens der Ehrenlegion (Ordre national du Merité) und des Verdienstordens (Ordre national de la Légion d’honneur), in Betracht kommen. Koordiniert wird die Ordensverleihung, bei der sich der Präsident auch vertreten lässt328, von seinem Referat „Auszeichnungen“. Dies stellt in enger Zusammenarbeit mit der Großkanzlei der Ehrenlegion sicher, dass den vom Staatschef diesbezüglich bestimmten Leitlinien Rechnung 325 Howorth, in: Hayward, De Gaulle to Mitterrand, S. 150 ff.; Schmidt / Doll / Fekl / Loewe / Taubert, Frankreich, Lexikon, S. 768. 326 Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, S. 616 f. 327 Haensch / Lory / Soulas de Russel, Frankreich, Bd. 1, S. 92. 328 Aktuell wurde beispielsweise die Präsidentin der Universität des Saarlandes, Margret Wintermantel, am 13. 1. 2005 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Den Orden überreichte der französische Generalkonsul im Saarland, Gérard Grall, in seiner Residenz in Saarbrücken, http: //www.uni-saarland.de.

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getragen wird. Das Referat bereitet ferner die Verleihung der beiden nationalen Orden vor und ist für den Schriftwechsel mit den verschiedenen Gesprächspartnern zuständig.329 Der Präsident selbst ist Grand Maître de l’ordre national du mérite und Grand Maître de l’ordre de la Légion d’honneur und somit der oberste Ordensträger, den es in der französischen Republik gibt. Die nationalen Symbole der französischen Flagge (Trikolore)330, der französischen Hymne (Marseillaise)331 und des Nationalfeiertags am 14. Juli332 standen bereits vor der Errichtung der V. französischen Republik fest. III. Staatsnotarielle Aufgaben Der Präsident verkündet alle vom Parlament beschlossenen Gesetze (Art. 10 Satz 1 Constitution). Wird allein dieser erste Satz betrachtet, wirkt diese Kompetenz als ein rein symbolischer Akt, als eine reine Ausfertigungskompetenz von Gesetzen. Erst der folgende Satz, nach dem der Präsident vom Parlament eine neue Beratung des Gesetzes oder einzelner Artikel verlangen kann, lässt diese Ausfertigungskompetenz in einem anderen Licht erscheinen. Das Parlament darf eine neue Beratung nicht verweigern (Art. 10 Satz 3 Constitution). Verlangt der Präsident daher eine neue Beratung eines Gesetzes, wirkt dies wie ein aufschiebendes Veto. Gänzlich kann der Präsident von ihm nicht gewollte Gesetze jedoch nicht verhindern, da er nach einer nochmaligen Beratung des Parlaments gezwungen ist, das Gesetz auszufertigen. Dennoch reichen seine Möglichkeiten über eine lediglich beurkundende Tätigkeit hinaus und können von ihm nicht gewollte Gesetzesvorhaben zumindest für eine gewisse Zeit verhindern. Der Präsident ernennt ferner die hohen Beamten, die die wichtigsten zivilen und militärischen Staatsämter ausüben sollen (Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Constitution). Dieses Ernennungsrecht ist jedoch gleichfalls nicht lediglich von notarieller Funktion. Nach dem Erlass der die Verfassung ergänzenden Verordnung Nr. 58 – 1136 vom 28. November 1958333 ist eindeutig zu erkennen, dass die Ernennungsbefugnis (pouvoir de nomination) grundsätzlich beim Präsidenten der Republik liegt und die Personalentscheidung beinhaltet. Der Präsident trifft somit selbst die Personalentscheidungen, was ihm die Möglichkeit gibt, großen politischen Einfluss auszuüben. Somit erscheint auch diese notarielle Funktion weniger als symbolischer Staatsakt, sondern vielmehr als zusätzliche Möglichkeit des Präsidenten, Macht auszuüben. http: //www.elysee.fr/all/elysee/serv.htm. Sie ist seit 1830 die Nationalflagge Frankreichs. 331 Sie wurde bereits 1795 zur Landeshymne erklärt. 332 Dieser Tag erinnert an die Einnahme der Bastille am 14. 7. 1789 – ein Symbol der Beendigung der Monarchie und der Geburt der Demokratie. Die Entscheidung, diesen Tag zu feiern, wurde am 6. 7. 1880 getroffen. 333 Abgedruckt in Journal Officiel vom 29. 11. 1958, S. 1 ff., mit einer Auflistung der einzelnen Ämter. 329 330

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Die Ratifikation von Verträgen (Art. 52 Constitution) wurde schon im Zusammenhang mit der Außendarstellung besprochen. Die Ratifikation ist ein notarieller Akt, der vom Präsidenten durchgeführt wird. Im Vordergrund stehen jedoch die Verfassungspraxis und der Anspruch des Präsidenten, in der Außenpolitik eine dominierende Rolle zu spielen und sich somit gerade nicht auf die alleinige Ausfertigung von Verträgen beschränken zu lassen. Weiterhin gibt es Kompetenzen im Rahmen der staatsnotariellen Aufgaben, bei denen die Regierung auf die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten angewiesen ist. Bei diesen Amtshandlungen schweigt die Verfassung allerdings, ob der Präsident zur Zusammenarbeit verpflichtet ist oder ob er ein Vetorecht hat. Bei der Unterzeichnung der Verordnungen und Dekrete (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Constitution) ist es zum Beispiel nicht klar, ob der Präsident das Recht hat, seine Unterschrift zu verweigern. Da die Verordnungen und Dekrete aber zuvor im Ministerrat beschlossen werden müssen, in dem der Präsident nach Art. 9 Constitution den Vorsitz führt, hat er auch hier eine starke Position. Die Führung des Vorsitzes im Ministerrat entspricht der französischen parlamentarischen Tradition und der Praxis bereits in der III. und IV. Republik. Neu ist mit Errichtung der V. Republik allerdings, dass der Präsident durch die Vorsitzführung eine dominierende Rolle bekommt. Er leitet nicht nur die Debatten, sondern trifft die Entscheidungen, nachdem die Minister ihre Ansichten geäußert haben (so genannte tour de table).334 Bei einer Unterschriftsverweigerung des Präsidenten gibt es bei Verordnungen und Dekreten die Möglichkeit, diese als Gesetz erneut einzubringen, was den gesamten Vorgang zwar enorm verzögert, dem Staatspräsidenten aber lediglich die Möglichkeit gibt, das Gesetz einmalig zur erneuten Beratung zurückzuverweisen (Art. 10 Satz 2 Constitution). Nicht nur für den Erlass von Verordnungen und Dekreten ist es daher von Vorteil, wenn zwischen der Regierung und dem Präsidenten Konsens herrscht und nicht auf taktische Verzögerungen gesetzt wird. Die Problematik, ob der Präsident bei der Einberufung, Eröffnung und Schließung der außerordentlichen Sitzungsperioden des Parlaments gemäß Art. 30 Constitution ein Vetorecht hat oder zur Zusammenarbeit mit der Regierung verpflichtet ist, war in der Verfassungspraxis bislang einmal problematisch. So hätte die Entscheidung de Gaulles am 18. Mai 1960 keine Sondersitzung des Parlaments einzuberufen, obwohl sie gemäß Art. 29 Abs. 1 Constitution von einer Mehrheit der Abgeordneten beantragt wurde, zum Wohle des gesamten Volkes in seiner Schiedsrichterposition erfolgt sein müssen. Verfolgte de Gaulle dagegen bei seiner Entscheidung andere Interessen, hätte wohl von einer Kompetenzüberschreitung ausgegangen werden können. Letztere hätte einen Verstoß gegen die Verfassung bedeutet, was freilich nicht mehr nachvollzogen werden kann. Grundsätzlich müssen die Voraussetzungen des Art. 29 Abs. 1 Constitution vorliegen, nach denen das Parlament zu einer außerordentlichen Sitzung auf Verlangen des Premierministers oder der Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung zusammentritt. Lediglich das Vorliegen 334

Haensch / Lory / Soulas de Russel, Frankreich, Bd. 1, S. 90.

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dieser Voraussetzungen begründet jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht des Präsidenten, gemäß Art. 20 Constitution stets eine Sitzung einzuberufen. Aus seiner Funktion als Schiedsrichter, der die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalten gewährleistet, kann jedoch eine Rechtspflicht abgeleitet werden, nach der der Präsident diese Kompetenz nicht missbrauchen darf. Die staatsnotariellen Kompetenzen haben somit nicht nur einen symbolischen Charakter, sondern können vom Präsidenten genutzt werden, um politischen Einfluss auszuüben.

IV. Politische Einflussnahme Die politischen Einflussmöglichkeiten des Präsidenten bestehen zunächst in gegenzeichnungspflichtigen Kompetenzen, über die der Präsident nicht vollständig unabhängig verfügen kann, sondern bei deren Wahrnehmung er die Mitarbeit eines zuständigen Fachministers oder der Regierung benötigt. Bei den nicht gegenzeichnungspflichtigen Kompetenzen entscheidet der Präsident indes vollständig unabhängig und ist nicht auf die Mitarbeit anderer Organe angewiesen.

1. Gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen Art. 13 Satz 1 Constitution stellt ein Beispiel für den ersten Bereich dar, in dem der Präsident an die Mitarbeit der Regierung gebunden ist. Verordnungen (Ordonnanzen) und Dekrete, die der Präsident unterzeichnet, werden im Ministerrat beschlossen. Es bedarf zwar der Gegenzeichnung des zuständigen Fachministers, aber dennoch besitzt der Präsident – wie oben bereits ausgeführt – die faktische Möglichkeit der Unterschriftsverweigerung. Eine weitere politische Einflussmöglichkeit, die der Staatspräsident nur auf Vorschlag der Regierung oder beider Kammern nutzen kann, betrifft das Recht auf Durchführung eines Referendums (Art. 11 Constitution). Thematisch sind die Gegenstände des Referendums in Art. 11 Satz 1 Constitution auf die Organisation der öffentlichen Gewalt, Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Ratifizierung von Abkommen begrenzt, die Folgen für das Funktionieren der Institutionen haben können. Obwohl der Präsident weder in der Entscheidung, ob ein Referendum überhaupt stattfindet, noch in der Entscheidung, worüber ein Referendum stattfindet, unabhängig ist, stärkt diese Norm dennoch die Bedeutung seines Amtes, da er es ist, der das Volk um seine Meinung fragt. Es wird ihm die Möglichkeit eröffnet, sich als besonders volksnah zu präsentieren, was eine nicht zu unterschätzende Einflussmöglichkeit darstellt. Politisch benutzt werden kann der Volksentscheid durch den Staatspräsident zudem, um sich vom Volk seine Politik bestätigen zu lassen. Bislang wurden zehn Volksentscheide durchgeführt, als letztes stimmten die Franzosen am 29. Mai 2005 über die Ratifizierung des Verfassungsvertrags ab. Für einen Machtkampf zwischen Präsident und Premierminister eignet sich das In-

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strument des Volksentscheides allerdings nicht, da aufgrund der formellen Voraussetzungen eine politische Übereinstimmung über dessen Durchführung herrschen muss (Art. 11 Satz 1 Constitution). Der Oberbefehl über die Streitkräfte gemäß Art. 15 Constitution ist gleichfalls eine Kompetenz, die dem Wortlaut nach mit den Befugnissen von Premierminister und Regierung (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Constitution) konkurriert. Wie oben bereits ausgeführt, gehört diese Kompetenz allerdings zu einem Bereich, der sich erst aus der Verfassungspraxis heraus zu einer Domäne des Präsidenten entwickelt hat.335 Schließlich hat der Präsident noch die Möglichkeit, eine Initiative zur Verfassungsänderung gemäß Art. 89 Abs. 1 Constitution einzureichen. Für seine Initiative bedarf er allerdings eines Vorschlags des Premierministers, weswegen auch in diesem Fall eine politische Übereinstimmung über diese Maßnahme herrschen muss. Durch die Gegenzeichnung übernimmt zwar die Regierung die politische Verantwortung für den jeweiligen Rechtsakt, doch bedeutet das nicht, dass der Präsident damit aus seiner politischen Verantwortung entlassen ist. Wie das Hochverratsverfahren zeigt, kann dieses sowohl wegen politischer als auch wegen rechtlicher Verstöße eingeleitet werden.336 2. Nicht gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen Im Rahmen der politischen Einflussmöglichkeiten gibt es weiterhin nicht gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen. Der Präsident ernennt und entlässt beispielsweise die Regierungsmitglieder (Art. 8 Satz 3 Constitution). Die Ernennung und Entlassung der Minister erfolgt auf Vorschlag des Premierministers, der jedoch faktisch die Wünsche des Präsidenten zu beachten hat. Selbst in Zeiten der Kohabitation hat der Präsident durch seine große Machtfülle die Möglichkeit, die Ministerauswahl des Premierministers der gegnerischen Partei zu beeinflussen. So lehnte Präsident Mitterrand 1986 den Kandidaten seines Premierministers Chirac für das Amt des Außenministers Lecanuet ab und verlangte einen anderen Kandidaten, der ihm auch präsentiert wurde.337 In der politischen Praxis ist die Stellung des Präsidenten in einer homogenen Konstellation, d. h. wenn Präsident und Parlamentsmehrheit einer Partei angehören, sogar dermaßen dominierend, dass der Präsident Regierungsmitglieder eigenmächtig auswechseln kann. Dies kann sogar ohne Begründung geschehen; es ist vielmehr anerkannt, dass der Präsident aus seiner direkten Legitimation befugt ist, derartige Personalentscheidungen zu treffen.338 Zu den zentralen Befugnissen des Präsidenten gehört die Ernennung des PremierSiehe S. 89. Siehe S. 86 f. 337 Jean-Bernard Raimond, der keiner politischen Partei zugehörte, wurde schließlich als Außenminister angenommen. 338 Lavroff, Le droit constitutionnel de la Ve République, S. 822; Ardant, Institutions politiques et droit constitutionnel, S. 432. 335 336

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ministers. Theoretisch ist er bei der Auswahl frei, in der Praxis muss er jedoch den Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung Rechnung tragen.339 Dennoch könnte weder der Premierminister noch ein anderes Regierungsmitglied gegen den Willen des Präsidenten im Amt bleiben.340 Das Auflösungsrecht (Art. 12 Constitution) kann ebenfalls in alleiniger Verantwortung durch den Präsidenten ausgeübt werden.341 Zuvor muss er lediglich eine Stellungnahme des Premierministers und der Präsidenten beider Kammern einholen. Diese Stellungnahmen sind allerdings nicht verbindlich, es handelt sich um eine bloße Konsultation. Die einzige Beschränkung, die der Präsident in diesem Zusammenhang beachten muss, ist die Einhaltung einer Jahresfrist vor einer erneuten Auflösung. Die geringe Macht des Premierministers spiegelt sich auch in dem Auflösungsrecht des Präsidenten wider. In parlamentarischen Systemen besteht die Möglichkeit des Regierungschefs, sich das Vertrauen aussprechen zu lassen und bei einem negativen Ergebnis einen Antrag auf Auflösung des Parlaments zu stellen (z. B. Art. 68 Abs. 1 GG). Der Regierungschef in einem parlamentarischen System besitzt somit ein Äquivalent zum Misstrauensantrag des Parlaments. In Frankreich besitzt der Regierungschef dagegen keine vergleichbare Möglichkeit. Das Parlament kann mit einem Misstrauensantrag zwar den Premierminister und die Regierung zum Fall bringen, der Premierminister kann aber keine Auflösung des Parlaments herbeiführen. Die Möglichkeit, den Staatspräsidenten zum Rücktritt zu zwingen bzw. des Amtes zu entheben, ist mit Ausnahme des Hochverrats gleichfalls nicht vorgesehen. Mit dieser in der Verfassung verankerten Unabhängigkeit kommt das monarchische Prinzip „Le roi ne peut pas mal faire“ zum Ausdruck. Da der Präsident eine verfassungsrechtlich festgelegte Position als Schiedsrichter innehat, wurde ihm das Auflösungsrecht gegeben, um diese Schiedsfunktion auch wahrnehmen zu können. Führt man diesen Gedanken konsequent fort, bedeutet dies natürlich, dass die Nationalversammlung nicht aus wahltaktischen Gründen aufgelöst werden darf, sondern dass nur institutionelle Krisen beseitigt werden dürfen. Dieser Grundsatz wurde in der Vergangenheit nicht immer beachtet. Bei einem Verstoß gibt es keine direkte Sanktionsmöglichkeit.342 Das Recht, 339 Zumeist erhält die politische Partei, der der neu gewählte Präsident angehört, auch bei den Parlamentswahlen die Mehrheit, vom Sonderproblem der Kohabitation einmal abgesehen. Lediglich der liberale Präsident Giscard d’Estaing, dessen Partei für eine Mehrheit mit den Gaullisten koalieren musste, konnte nicht frei einen Premierminister ernennen, sondern sah sich gezwungen, dem Wunsch seines Koalitionspartners nachzukommen und den gaullistischen Premierminister Chirac zu ernennen. 340 Die Regierungschefs mussten wiederholt den Rücktritt der Regierung anbieten, wenn der Präsident einen Wechsel wünschte, vgl. die Rücktritte von Debré im April 1962; Pompidou im Juli 1968; Chaban-Delmas im Juli 1972; Cresson im März 1992. Nach dem verlorenen Referendum trat im Mai 2005 Raffarin zurück. Vgl. SZ vom 14. / 15. 1. 2006, S. 6. 341 Parlamentsauflösungen: 1962: Reaktion de Gaulles auf den Sturz Pompidous durch die Nationalversammlung; 1968: Reaktion de Gaulles auf die Maikrise; 1981, 1988: Reaktionen Mitterrands auf seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen; 1997: Chirac aus wahltaktischen Gründen.

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das Parlament aufzulösen, stellt sich somit als eine der schärfsten Waffen des Präsidenten dar. Ein weiterer Artikel, der als Notstandsparagraph bezeichnet werden kann, gibt dem Präsidenten bei Vorliegen außerordentlicher Umstände praktisch uneingeschränkte Sondervollmachten (Art. 16 Constitution). Er kann sogar für eine kurze Zeit eine Art „Wohlfahrtsdiktatur“ errichten, um eine ordnungsgemäße Funktion der Staatsgewalt wiederherzustellen. Alle Maßnahmen, die der Präsident unter Berufung auf Art. 16 Constitution ergreift, unterliegen keiner Kontrolle durch das Parlament oder die Regierung. Art. 16 enthält allerdings einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, bevor sich der Präsident auf ihn berufen kann. So müssen die ordnungsgemäße Ausübung der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen und gleichzeitig die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Staatsgebietes oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen schwer oder unmittelbar bedroht sein. Ob diese Voraussetzungen für den Notstand tatsächlich erfüllt sind, entscheidet der Präsident jedoch selbst, was ihm eine weitere Machtposition verschafft.343 Die Beratungen, die Art. 16 Abs. 1 Constitution dem Präsidenten mit dem Premierminister, den Präsidenten der beiden Kammern und dem Verfassungsrat auferlegt, sind in diesem Zusammenhang nur ein kleines Korrektiv, da sie in der Sache keinen verbindlichen Charakter haben.344 Der Präsident übt weiter das Gnadenrecht (droit de grâce) gemäß Art. 17 Constitution aus. Er kann eine Strafe ganz oder teilweise erlassen oder eine Strafe in eine mildere umwandeln (commuer). Davon wird jedoch die Verurteilung als solche nicht berührt. Der Oberste Rat für den Richterstand345 (Conseil supérieur de la Magistrature) gibt zwar Stellungnahmen ab, diese binden den Präsidenten jedoch nicht (ne lient pas le Président). Diese Kompetenz bestreitet er somit vollständig in eigenem Ermessen und ist bei seiner Entscheidung an keinerlei rechtliche Vorgaben gebunden. Eine weitere Kompetenz des Präsidenten besteht in der Möglichkeit, Botschaften an das Parlament zu richten (Art. 18 Constitution). Direkt in der Nationalver342 Genau an diesen Grundsatz der französischen Verfassung hielt sich Chirac 1997 nicht, als er die Nationalversammlung ein Jahr vor den regulären Wahlen auflöste. Damit wollte er vermeiden, dass die Wahlen in das Jahr fallen, in dem die Sparmaßnahmen für die Maastrichter Kriterien gegriffen hätten. Die Wähler bescherten ihm aber eine linke Mehrheit, die ihn zwar nicht zum Rücktritt bewegte, sein Ansehen jedoch beschädigte. 343 Schmidt / Doll / Fekl / Loewe / Taubert, Frankreich, Lexikon, S. 767. 344 Bislang kam der Notstandparagraph nur einmal zum Einsatz. Nachdem die französischen Militärs in Algier geputscht hatten, stützte sich Präsident de Gaulle in seinen Anordnungen (zum Beispiel die Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte) vom 23. 4. 1961 auf Art. 16 Constitution. Kritiker warfen ihm jedoch vor, dass die Voraussetzungen des Art. 16 Constitution nicht gegeben gewesen seien, da das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Gewalt keineswegs unterbrochen gewesen sei, AdG 1961, 9058 – 9060. Gleichfalls Schmidt / Doll / Fekl / Loewe / Taubert, Frankreich, Lexikon, S. 767. 345 Hierzu Haensch / Lory / Soulas de Russel, Frankreich, Bd. I, S. 98.

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sammlung oder dem Senat zu sprechen, ist ihm aufgrund der Gewaltentrennung verboten. Das Recht, Botschaften an das Parlament zu richten, gibt dem Präsidenten dennoch die Möglichkeit, im Fall einer wichtigen politischen Botschaft oder eines Staatsnotstandes, das Parlament zu erreichen.346 Diese Botschaften werden dann in beiden Kammern verlesen, eine Aussprache hierüber findet nicht statt. Da das Parlament speziell zur Entgegennahme einer Botschaft einberufen werden kann, hat der Präsident die Möglichkeit, jederzeit zu politischen Problemen persönlich und offiziell Stellung zu nehmen. In der Praxis scheinen heute allerdings Botschaften über das Fernsehen für den Präsidenten eine bessere Möglichkeit zu bieten, weswegen Botschaften an das Parlament in den letzten Jahren nur noch selten erfolgt sind.347 Die Festlegung der Tagesordnung im Ministerrat obliegt ebenfalls dem Präsidenten. Dieses Recht folgt mittelbar aus Art. 21 Abs. 4 Constitution, wonach der Premierminister den Präsidenten nur aufgrund einer vorher festgelegten Tagesordnung im Ministerrat vertreten darf. Der Premierminister legt in der Praxis einen Vorschlag für eine Tagesordnung vor, an diesen ist der Staatspräsident jedoch nicht gebunden. So kommt es vor, dass er einzelne Punkte aus technischen oder auch politischen Gründen kurzfristig von der Tagesordnung absetzt.348 Der Präsident hat durch diese Befugnis die Möglichkeit, die Regierungsarbeit empfindlich zu stören.349 Ist der Präsident der Ansicht, ein Gesetz oder ein internationaler Vertrag sei verfassungswidrig, hat er die Möglichkeit, gemäß Art. 54 und Art. 61 Abs. 2 Constitution den Verfassungsrat anzurufen und die Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen. Dieses Recht übt der Präsident gleichfalls in völliger Eigenständigkeit aus. Er hat weiter die Möglichkeit, drei der neun Mitglieder des Verfassungsrats zu ernennen (Art. 56 Abs. 1 Constitution). Zu ihnen zählt auch der Vorsitzende (Präsident) des Verfassungsrates, dessen Stimme bei Stimmengleichheit den Ausschlag gibt (Art. 56 Abs. 2 Satz 2, 3 Constitution). Der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) ist ein Rechtsprechungsorgan, dessen Aufgabe die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und internationalen Verträgen350 sowie die Wahlprü346 Seit der Gründung der V. Republik haben sich die Präsidenten insgesamt 16 Mal mit Botschaften an das Parlament gewandt, http: //www.frankreich-forum.de (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 347 Hayward, in: ders., De Gaulle to Mitterrand, S. 68. Das letzte Mal wandte sich Staatspräsident Chirac am 19. 5. 1995 mit einer Botschaft an die Parlamentarier. 348 Pfister, La vie quotidienne à Matignon au temps de l’union de la gauche, S. 80. 349 Grenzen werden lediglich durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Constitution gesetzt, wonach er für die ordnungsgemäße Tätigkeit der öffentlichen Gewalt zu sorgen hat. Eine systematische Blockade der Regierungsarbeit wäre mit dieser Verpflichtung sicher nicht zu vereinbaren, zudem wäre ihr politischer Nutzen zweifelhaft. 350 Insgesamt sind fünf Verträge in der Geschichte des Verfassungsrates auf ihre Verfassungskonformität überprüft worden. Dazu zählen bedeutende Vorhaben wie die Direktwahl des Europäischen Parlaments, Conseil constitutionnel Nr. 76 – 71 DC vom 29. / 30. 12. 1976;

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fung bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist. Weiterhin wird er bei der Entscheidung über die Verhängung des Notstands vom Präsidenten konsultiert. Geregelt ist der Verfassungsrat in den Art. 56 bis 63 Constitution. Im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht ist die Verordnungsgewalt der Kontrolle des Verfassungsrats entzogen. Der Verfassungsrat kann weder von einem Bürger angerufen, noch von sich aus aktiv werden. Mit der Ernennung von drei Mitgliedern sichert sich der Präsident eine weitere politische Einflussmöglichkeit. Bislang nutzte jeder Staatspräsident die Chance, der eigenen politischen Richtung nahe stehende Richter zu ernennen.351 Dagegen wurde die Möglichkeit, ein Gesetz überprüfen zu lassen, bislang noch von keinem Präsidenten wahrgenommen (Art. 61 Abs. 2 Constitution). Erklären lässt sich dieses Phänomen damit, dass die politische Richtung des Präsidenten im Parlament zumeist über eine Mehrheit verfügt und sich die Gesetzgebung daher an den Richtlinien des Präsidenten orientiert. Der Präsident hat dann verständlicherweise kein Interesse daran, ein eigenes Gesetz überprüfen und möglicherweise als verfassungswidrig befinden zu lassen. Divergieren hingegen präsidentielle und parlamentarische Vorstellungen, z. B. im Fall der Kohabitation, ist die Ausübung des Vorlagerechts mit einem erheblichen politischen Risiko verbunden. Wird das Gesetz vom Verfassungsrat für verfassungsgemäß erklärt, setzt sich der Präsident dem Vorwurf aus, sein Wächteramt für parteipolitische Zwecke missbraucht zu haben, was seinem Ansehen großen Schaden zufügen kann. Schließlich entscheidet der Präsident selbst über den Inhalt seines Wahlprogramms, indem er als Kandidat anlässlich einer anstehenden Präsidentschaftswahl die Grundlinien seiner zukünftigen Politik erläutert. In diesem Wahlprogramm, dessen Existenz sich in dieser Form in der politische Praxis seit 1974 eingebürgert hat, erläutert der Präsident seine politischen Ziele und setzt Leitlinien, die sich auch auf die Regierungsarbeit beziehen.352 Sein politischer Einfluss erstreckt sich somit bereits im Wahlprogramm auf die Tätigkeit der Regierung. Die Möglichkeit der Ausübung dieser Kompetenzen verschafft dem Präsidenten eine enorme Machtfülle, die ihn zur unangefochtenen Führungsfigur im Staat werden lässt. Rechtfertigen lassen sich diese politischen und rechtlichen Einflussmöglichkeiten nur mit der Direktwahl durch das Volk. Durch die direkte Wahl bestimmt das Volk selbst „von unten“ sein Oberhaupt. Wurde der Kandidat dann ins Amt gewählt, ist es seine Aufgabe „von oben“, im Sinne eines Vertreters aller Bürdie Abschaffung der Todesstrafe, Conseil constitutionnel Nr. 85 – 188 DC vom 22. 5. 1985, der Vertrag von Maastricht, Conseil constitutionnel Nr. 92 – 308 DC vom 9. 4. 1992 und der Europäische Verfassungsvertrag: Conseil costitutionnel Nr. 505 DC vom 19. 11. 2004. 351 So gehören bzw. gehörten die von Chirac ernannten Persönlichkeiten, Monique Pelletier, Pierre Mazeaud und Olivier Dutheillet de Lamothe, auch alle seiner Partei, der RPR an, http: //www.conseil-constitutionnel.fr/langues/allemand/liste.htm (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 352 Massot, L’arbitre et le capitaine, S. 194. 7 Staeglich

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

ger zu handeln. Mit seiner großen Kompetenzfülle besitzt das französische Oberhaupt viele Möglichkeiten, im Sinne eines Oberhaupts aller Bürger zu agieren und „von oben“ zu vereinen. Durch diese politische Konstellation ist die Stellung des Premierministers und der Regierung gegenüber dem Staatspräsidenten stark geschwächt. Dies führt dazu, dass der Staatspräsident eine aktive Rolle an der Spitze der Exekutive einnimmt, indem er beispielsweise durch sein Wahlprogramm die Richtlinien der Regierungspolitik vorgibt und damit faktisch die Funktion des Regierungschefs übernimmt. Dieser und seine Minister setzen dann lediglich die vom Staatspräsidenten vorgegebene Politik um.353

V. Politische Einflussnahme durch Reden Der Präsident präsentiert sich ebenfalls in Reden den Bürgern, angefangen von der Vorstellung seines politischen Programms als Kandidat bis hin zu Reden an das Volk in der Rolle des Staatsoberhaupts. Institutionalisiert sind diese Reden z. B. am Nationalfeiertag. Der Präsident richtet sich an die Nation und spricht Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten an. Er formuliert die Hoffnungen und Wünsche der Bürger und präsentiert sich patriotisch und staatsmännisch als Oberhaupt aller Franzosen.354 Beispielhaft hierfür steht die Antrittsrede Chiracs vom 17. Mai 1995: „Ich bin entschlossen, meine Amtszeit unter das Zeichen der Würde, der Einfachheit und der Treue zu den wesentlichen Werten unserer Republik zu stellen. Ich werde kein anderes Ziel haben, als die Franzosen einiger und gleicher und Frankreich aktiver zu machen sowie seine aus seiner Geschichte und aus seinen Stärken kommenden Kräfte zu nutzen ( . . . ) Der Staatspräsident wird Vermittler sein, er wird die Leitlinien bestimmen, die Einheit der Nation gewährleisten und ihre Unabhängigkeit bewahren. Die Regierung wird die Politik der Nation verfolgen. ( . . . ) Ich werde darüber wachen, dass eine unabhängige Justiz die für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen zusätzlichen Mittel erhält ( . . . ) Meine lieben Landsleute, ich werde der Präsident aller Franzosen sein.“355 Solche Reden ermöglichen es ihm nicht nur, die Bevölkerung von seinen Standpunkten zu überzeugen, sondern er kann gleichzeitig Druck auf die Regierung ausüben, damit diese die vorgegebenen Leitlinien auch getreu umsetzt. Schließlich weiß er durch seine Direktwahl eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Diese Art der politischen Einflussnahme ist nicht zu vernachlässigen, auch weil sie sich nicht in einer Diskussion vollzieht, in der dem politischen Gegner die Möglichkeit zur Gegenrede ermöglicht wird. Vielmehr bleiben die Argumente und Überzeugungen des Präsidenten zunächst unwidersprochen stehen. Ségur, Qu’est-ce que la responsabilité politique?, RDP 1999, 1599 (1619). AdG 1995, 40010, 40011. Ähnlich aber auch Mitterrand anlässlich seiner Wiederwahl am 8. 5. 1988: AdG 1988, 32162. 355 AdG 1995, 39971. 353 354

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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VI. Sonderproblem der Kohabitation Bei der Kohabitation, d. h. der Zusammenarbeit politisch unterschiedlicher Partner, gehört die Mehrheit in der Nationalversammlung einer anderen politischen Richtung an als der direkt gewählte Staatspräsident.356 Da der Staatspräsident den Premierminister nach den im Parlament vorhandenen Mehrheitsverhältnissen auswählt, gehört dieser dann der gegnerischen Partei an. Ihm ist es durch seine Mehrheit in der Nationalversammlung und gestützt auf Art. 20 Constitution („Die Regierung bestimmt und leitet die Politik der Nation.“) und auf Art. 21 Constitution („Der Premierminister leitet die Tätigkeit der Regierung. Er ist für die Landesverteidigung verantwortlich.“) möglich, seine politischen Vorstellungen und damit auch die der neu gewählten Parlamentsmehrheit zumindest in der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verwirklichen. Der Staatspräsident verliert damit seine umfassenden Direktionsbefugnisse gegenüber der Regierung und muss sich auf die Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Kernbefugnisse beschränken.357 Trotz dieser Machtverlagerung vom Staatspräsidenten zum Premierminister verfügt der Staatspräsident nach wie vor über eine Fülle von verfassungsrechtlich verankerten Rechten, für deren Ausübung er nicht die Gegenzeichnung durch den Premierminister oder den zuständigen Minister bedarf. Zudem benötigt die Regierung die Unterschrift des Präsidenten, wenn sie z. B. Verordnungen erlassen oder Ämter in der Verwaltung und Armee verleihen möchte. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Wahrnehmung der Entscheidungs- und Mitwirkungskompetenzen des Staatsoberhaupts und des Premierministers nur unter der Voraussetzung funktioniert, dass beide Staatsorgane an der Spitze der Exekutive einvernehmlich zusammenwirken. In der Geschichte der V. französischen Republik gab es bislang nur drei Zeiträume, in denen eine Kohabitation von den Wählern gewünscht wurde. Dies war zum ersten Mal 1986 unter der Präsidentschaft des Sozialisten Mitterrand der Fall, der den Gaullisten Chirac zum Premierminister ernannte. Die Wiederwahl Mitterrands 1988 bedeutete das Ende der ersten Kohabitation. Die vom Staatschef veranlasste Parlamentsauflösung hatte die Wahl einer sozialistischen Mehrheit zur Folge, so dass Mitterrand einen Premierminister aus dem eigenen Lager, Michel Rocard358, ernennen konnte. Im März 1993 kam es nach den Parlamentswahlen zu der zweiten Kohabitation, und der Gaullist Edouard Balladur wurde Premierminister. Als dann Chirac 1995 zum Präsidenten gewählt wurde, gehörten Präsident und Premier 356 Zu dem gesamten Problem der Kohabitation vgl. Kempf, Die „Cohabitation“: Entmachtung des Präsidenten oder wiedergewonnenes Gleichgewicht?, ZParl 1986, 502 ff.; Kimmel, Die „Cohabitation“: Verfassungsprobleme und politische Praxis, Aus Politik und Zeitgeschichte 1987, 14 ff.; insgesamt Luchaire / Conac, Le droit constitutionnel de la cohabitation: bilan juridique d’ une expérience politique. 357 Duverger, Le système politique francais, S. 532 ff. 358 Michel Rocard folgte dann Edith Cresson. Als diese scheiterte, wurde Pierre Bérégovoy Premierminister.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

wieder einer Partei an. Zwischen Juni 1997 und Mai 2002 amtierte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin in der dritten Kohabitation. Nach seiner Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2002 trat Jospin zurück, und Chirac ernannte mit Jean-Pierre Raffarin wieder einen Premier des eigenen Lagers, so dass die dritte Kohabitation in der französischen Geschichte beendet war. Wenige Wochen später bei den Parlamentswahlen wählten die Franzosen auch eine konservative Mehrheit in die Nationalversammlung, so dass Chirac seine Ernennung nicht revidieren musste.

D. Selbstverständnis der französischen Staatsoberhäupter Die außerordentliche Vormachtstellung des französischen Staatsoberhaupts prägt sein Amtsverständnis. So formulierte der erste Staatspräsident der V. Republik de Gaulle: „Die Grundlage unseres Regierungssystems ist die neue Institution des Staatspräsidenten, der in der Meinung und im Herzen der Franzosen dazu berufen ist, Staatsoberhaupt und Frankreichs Führer zu sein. Weit davon entfernt, den Präsidenten auf eine repräsentative oder konsultative Rolle zu beschränken, wie dies früher war, verleiht ihm nun die Verfassung eine außerordentliche wichtige Verantwortung für das Schicksal Frankreichs und der Republik. Gemäß der Verfassung ist der Präsident in der Tat der Garant der nationalen Unabhängigkeit, der Integrität des Staatsgebiets und der Einhaltung der Verträge. Das bedeutet, er ist für Frankreich verantwortlich. Außerdem gewährleistet er durch sein Schiedsrichteramt die Kontinuität des Staates und das ordnungsgemäße Funktionieren der staatlichen Gewalten. Das heißt, er ist für die Republik verantwortlich.“359 Diese Interpretation des Amtes wurde auch von den folgenden Staatspräsidenten übernommen. Nach dem Rücktritt de Gaulles berief sich Pompidou bei seiner Amtseinführung am 19. Juni 1969 auf die Vorbildfunktion de Gaulles und sein Amtsverständnis, das er fortzusetzen gedenke.360 Giscard d’Estaing betonte zu seiner Amtseinführung am 27. Mai 1974, dass er sich auf „die Stimmen des französischen Volkes“ berufe. Er stehe für ein großes, vereintes, friedliches Volk.361 Mitterrand als der erste sozialistische Staatspräsident seit dem Bestehen der V. Republik führte ebenfalls die von de Gaulle begründete Linie fort. So betonte Mitterrand, „die Franzosen haben heute den Eindruck, in mir einen Schiedsrichter (im Sinne des Art. 5 der Verfassung) gewonnen zu haben“.362 Auch Chirac berief sich in der Rede zu seiner Amtseinführung am 17. Mai 1995 auf de Gaulle, um in seiner Tradition weiter zu verfahren. Im Übrigen sieht er sich als Vermittler, Bewahrer der Einheit der Nation und Wächter über die Einhaltung der Verfassung.363 359 Abgedruckt in Année Politique, 1962, S. 674 f., Übersetzung von Kempf, in: Hartmann / Kempf, Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien, S. 80. 360 AdG 1969, 14743, 14744. 361 AdG 1974, 18709. 362 Chagnollaud, La Vie Politique en France, S. 174.

3. Kap.: Das Staatsoberhaupt im Frankreich der V. Republik

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E. Ergebnis „Der Staatspräsident ist der Schlussstein („clé de voûte“) im Gebäude der Exekutive.“364 Mit diesen Worten beschrieb Mitterrand am 12. April 1992 den Rang des französischen Staatspräsidenten im Gesamtgefüge der durch die Verfassung der V. Republik gestärkten Exekutive. Das französische Staatsoberhaupt übt als Garant der nationalen Unabhängigkeit, der Integrität des Staatsgebietes und der Einhaltung der Verträge einheitsstiftende Funktionen aus, mit deren Hilfe er die Kontituität des Staates und das ordnungsgemäße Funktionieren der staatlichen Gewalten gewährleisten möchte. Der französische Staatspräsident besitzt ferner eine Fülle von Kompetenzen, die faktisch lediglich in den Zeiträumen der Kohabitation eingeschränkt sind, wenn er nicht mehr der stärksten Richtung in der Nationalversammlung angehört. Dann hat der Staatspräsident die veränderten Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung zu respektieren, deren Premierminister seine politischen Vorstellungen verwirklichen möchte. Doch selbst in diesem Fall arrangieren sich die beiden Teile der Exekutive insofern, als dass der gesamte Bereich der Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik weitgehend vom Premierminister und seiner Regierung bestimmt wird, während in der Außen- und Sicherheitspolitik das Staatsoberhaupt unangefochten dominiert.365 Obwohl diese Dominanz keine Stütze in der Verfassung findet, haben bislang alle Präsidenten die außen- und verteidigungspolitischen Aufgaben mit stillschweigender Duldung der parlamentarischen Mehrheit und der Regierung wahrgenommen.366 Auch wenn diese Vorherrschaft des französischen Präsidenten keine Stütze in der Verfassung findet, ergeben sich gleichfalls keine Anhaltspunkte für einen Verfassungsverstoß. Ähnlich gelagert stellt sich die Situation der Richtlinienkompetenz dar. Art. 20 Abs. 1 Constitution weist die Richtlinienkompetenz der Regierung zu. Da das Staatsoberhaupt nicht Mitglied der Regierung ist, hat es an dieser Richtlinienkompetenz rechtlich keinen Anteil. Faktisch allerdings bestimmt das Staatsoberhaupt selbst zu Kohabitationszeiten in großem Maße die Richtlinien der Politik.367 Dieses Verhalten des Staatsoberhaupts stellt mithin einen verfassungsrechtlichen Verstoß dar. Dieser Verstoß gegen Art. 20 Abs. 1 Constitution ist indes für den Präsidenten nicht mit verfassungsrechtlichen Sanktionen verbunden. Zum einen hat der Conseil constitutionnel368 nicht die Möglichkeit, über den Umfang der Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen zu entscheiden. Zum anderen ist Art. 20 Abs. 1 Constitution eine offene Verfassungsnorm369, die keine konkreten KompeAdG 1995, 40010, siehe auch die Auszüge aus seiner Rede auf S. 98. Chagnollaud, La Vie Politique en France, S. 53. 365 Kempf, Von de Gaulle bis Chirac, S. 29. Siehe S. 89. 366 Mit vielen Beispielen und Nachweisen Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 240 ff. 367 Siehe S. 93 ff. 368 Siehe S. 96. 363 364

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

tenzen zuordnet, sondern abstrakt die Rolle beschreibt, die der Regierung im französischen System zukommen soll. Die Entscheidung, wie weit sich die Regierung und ihr Premierminister von den Direktiven des Staatschefs leiten lassen, muss daher ihnen überlassen bleiben. Es wird daher auch von einer „verfassungsrechtlichen Konvention“ zwischen den obersten Staatsorganen gesprochen. Der Premierminister unterwirft sich dann den Instruktionen des Staatsoberhaupts, falls dieser der eigentliche Chef der parlamentarischen Mehrheit ist.370 Die Nichtbeachtung des Art. 20 Abs. 1 Constitution kann somit nur im politischen Raum sanktioniert werden, indem beispielsweise eine Regierung, die sich ihre Politik ausschließlich vom Präsidenten vorschreiben lässt, durch eine parlamentarische Mehrheit gestürzt wird. Hat der Präsident eine Mehrheit in der Nationalversammlung, gibt er nicht nur faktisch die Richtlinien der Politik vor, sondern kontrolliert zusätzlich mittels seiner Mehrheit den gesamten staatlichen Verwaltungsapparat. Selbst die dritte Gewalt, die Judikative, ist dem Zugriff des Präsidenten nicht entzogen. Gemäß Art. 64 Constitution ist er der Garant der Unabhängigkeit der Rechtspflege und führt gemäß Art. 65 Abs. 1 Constitution den Vorsitz im obersten Rat für den Richterstand. Bei der Ausübung seiner erheblichen politischen und rechtlichen Macht unterliegt der Staatspräsident keiner wirksamen Kontrolle. Er ist dem Parlament gegenüber politisch nicht verantwortlich und kann nur im Fall des Hochverrats gemäß Art. 68 Constitution – und damit nur in Extremfällen – aus dem Amt entfernt werden. Überdies ist der Begriff des Hochverrats bislang ungeklärt.371 Eine Verurteilung erscheint daher unwahrscheinlich. Eine Kontrolle geschieht auch nicht durch das Instrument der Gegenzeichnung (Art. 19 Constitution). Sie hat sich in der Praxis als reine Formalität erwiesen.372 Ferner tritt zu der fehlenden politischen Verantwortlichkeit hinzu, dass sich die von ihm getroffenen staatsleitenden Entscheidungen als „actes de gouvernement“ der Kontrolle durch den Conseil d’Etat entziehen.373 Auch der Conseil constitutionnel374 verfügt nur über bestimmte Zuständigkeiten, die sich schwerpunktmäßig auf die Überprüfung der vom Parlament verabschiedeten Gesetze beziehen. Der Staatschef ist somit bei der Wahrnehmung seiner Kompetenzen weitgehend von einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle freigestellt.375 Der französische Staatspräsident besitzt also eine Fülle von Kompe369 Dazu BVerfGE 62, 1 (38 ff.); allgemein Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, NJW 1976, 2089 (2098 f.). 370 Ausführlich hierzu Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 335 f. 371 Siehe S. 86 f. 372 Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 352. 373 Der Conseil d’Etat (C.E.) (Staatsrat) übt zwei Aufgaben aus. Die des höchsten französischen Verwaltungsgerichts und die eines Konsultationsorgans. 374 Siehe S. 96.

4. Kap.: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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tenzen, die ihm bei der Ausübung von einheitsstiftenden Funktionen behilflich sind. Er kann diese Funktionen nicht nur duch Reden und Reisen, sondern auch durch seine politischen Einflussmöglichkeiten ausüben. 4. Kapitel

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Staatsoberhäuptern in Deutschland und Frankreich A. Stellung Sowohl der deutsche Bundespräsident als auch der französische Staatspräsident nehmen in der jeweiligen Verfassung einen eigenständigen Abschnitt ein, der ihre Stellung und ihre Befugnisse regelt. Sie müssen sich beide gegenüber möglichen Gegenkandidaten in einem Wahlverfahren durchsetzen, der Bundespräsident in einem indirekten376 und der französische Präsident in einem direkten377 Wahlverfahren. Beide Präsidenten werden aufgrund der vorherrschenden politischen Machtverhältnisse und ihrer jeweiligen Schwerpunktsetzung gewählt und stellen daher politische Präsidenten dar. Aufgrund ihrer Stellung als Staatsoberhäupter erfüllen beide einheitsstiftende Funktionen. Wie sie diese Funktionen ausüben, ist allerdings unterschiedlich. Das deutsche Oberhaupt hat durch seinen Mangel an Entscheidungskompetenzen weniger die Möglichkeit, durch konkrete politische Einflussnahme einheitsstiftend zu wirken, wie es dem französischen Staatspräsidenten möglich ist. Das deutsche Oberhaupt übt die einheitsstiftenden Funktionen daher durch z. B. Reden, Reisen und persönliche Kontakte aus. Der Bundespräsident ist durch seinen Mangel an Entscheidungskompetenzen auch nicht direkt in parteipolitische Auseinandersetzungen eingebunden. Er ist somit nicht gehalten, Stellungnahmen zu konkreten politischen Kontroversen abzugeben, die ihn nicht in der Ausübung seiner Kompetenzen betreffen. Des Weiteren darf sich der Bundespräsident als staatliches Organ aufgrund des Grundsatzes der Verfassungsorgantreue bei der Ausübung seiner Kompetenzen nicht illoyal in die Entscheidungsbereiche anderer Staatsorgane einmischen.378 Ähnliches gilt für den französischen Staatspräsidenten. Er wurde von der Verfassung zu ihrem Wächter und zur Schiedsgewalt bestimmt. Dennoch hat er viele po375 Als praktisches Beispiel kann das Urteil des Pariser Kassationshofes 2001 angeführt werden, das klarstellt, dass der Staatspräsident strafrechtliche Immunität auch für Taten vor Beginn seines Mandats genießt. Ebenso darf er nicht als Zeuge vorgeladen werden, siehe S. 87. 376 Siehe S. 56. 377 Siehe S. 81 f. 378 Siehe S. 73 f.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

litische und rechtliche Entscheidungsbereiche, die nur ihm allein zufallen.379 Er wird nicht nur aufgrund seiner Persönlichkeit, sondern auch und vor allem wegen seines politischen Programms und seiner politischen Richtung gewählt. Seine politischen Ansichten sind somit ebenso wie seine Person vom französischen Volk legitimiert. In seinen Kompetenzbereichen wird aufgrund seiner Machtposition eine Entscheidung erwartet. Dass er dabei wesentlich politischer agieren muss als das deutsche Oberhaupt, liegt an der unterschiedlichen Ausstattung mit Kompetenzen. Wie oben festgestellt kann eine Unparteilichkeit beider Staatsoberhäupter nur verlangt werden, wenn es sich um konkrete Rechtspflichten handelt, deren Ziel aus der Verfassung ersichtlich ist.380 Bei allen sonstigen Entscheidungen, denen keine konkrete Rechtspflicht voran geht, fehlt ein objektiver Maßstab, wann „Neutralität“ vorliegt. Alle Entscheidungen bzw. Äußerungen, die ohne eine konkrete Rechtspflicht getroffen werden, können und müssen daher nicht „unparteilich“ ergehen. Grundsätzlich liegt beiden Verfassungen jedoch ein Amtsverständnis zugrunde, nach welchem das Staatsoberhaupt sich in bestimmten Situationen von der ihn unterstützenden Partei lösen muss. Die Vertretung des Bundespräsidenten wird bei dessen Verhinderung durch den Bundesratspräsidenten wahrgenommen (Art. 57 GG).381 Die Vertretung des Staatspräsidenten wird durch den Senatspräsidenten wahrgenommen (Art. 7 Abs. 4 Constitution). In der Verfassungspraxis erfolgt teilweise allerdings auch eine Vertretung durch den Premierminister (vgl. Art. 21 Abs. 3 Constitution).382 In beiden Fällen liegen somit verfassungsrechtliche Vorgaben vor. Keines der beiden Staatsoberhäupter ist daher befugt, sich seinen Vertreter frei zu bestimmen.

B. Verantwortlichkeit In den Kontext der Stellung beider Staatsoberhäupter fallen auch ihre Verantwortlichkeiten gegenüber der Volksvertretung und die Möglichkeit einer Amtsenthebung. Die Ausgestaltung und Voraussetzungen der entsprechenden Regelungen sind höchst unterschiedlich. Zwar gilt in beiden Staaten der demokratische Grundsatz, dass in einer Republik der auf Zeit gewählte oder bestellte Amtsinhaber nicht unabsetzbar sein darf383, doch sind die Voraussetzungen unterschiedlich. Der auffälligste Unterschied liegt in der unterschiedlichen Verantwortlichkeit. Der deutsche Bundespräsident ist nicht politisch verantwortlich.384 Ein Verfahren gemäß 379 380 381 382 383 384

Siehe S. 93 ff. Siehe S. 73 f. und S. 83. Siehe S. 57. Siehe S. 85. Schlaich, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 48, Rn. 16. Siehe S. 64 f.

4. Kap.: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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Art. 61 GG, das eine Amtsenthebung zum Ziel hat, muss mit einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes oder eines Bundesgesetzes begründet werden. Als Sanktion kann das Bundesverfassungsgericht nur die Amtsenthebung verhängen, mit der eine Kürzung oder Streichung der Amtsbezüge einhergehen kann.385 Bei dem französischen Staatspräsidenten liegt hingegen eine politische Verantwortlichkeit vor.386 Das Verfahren gemäß Art. 68 Constitution, das wegen Hochverrats eingeleitet wird, kann auch aufgrund politischer Gründe eingeleitet werden. Bei der Beurteilung, ob ein Fall des Hochverrats vorliegt, entscheiden die Richter in freiem Ermessen und sind nicht an gesetzliche Definitionen gebunden. Ebenso sind die Sanktionen, die sich an ein positives Ergebnis anknüpfen könnten, nicht näher in Art. 68 Constitution genannt. Auch hierbei haben die Richter die freie Wahl. Die französische Regelung ist somit im Vergleich zu der deutschen Regelung in allen Bereichen offener konstruiert. Die französische Verfassung stellt sowohl die Ausgestaltung des Tatbestands als auch die Rechtsfolgen in das Ermessen der zuständigen Richter. Der Grund für diese umfassende Kontrollmöglichkeit sowohl politisch als auch rechtlich relevanter Handlungen liegt in der umfassenden Machtfülle des Präsidenten. Somit kann das Hochverratsverfahren, so unwahrscheinlich eine Anklage auch sein mag, als Kehrseite der großen politischen und rechtlichen Macht des Präsidenten verstanden werden. Die Macht des deutschen Bundespräsidenten, der keine gubernativen Befugnisse besitzt, ist wesentlich geringer. Ein Amtsenthebungsverfahren ist dagegen an höhere Voraussetzungen geknüpft. Aus den unterschiedlichen Machtpotentialen der beiden Staatsoberhäupter und den damit einhergehenden unterschiedlichen Möglichkeiten einer Amtsentfernung lässt sich gleichwohl das oben genannte demokratische Prinzip erkennen, dass die gewählten Amtsinhaber nicht unabsetzbar sein dürfen.387 Anknüpfend an diese Überlegung müssen die Voraussetzungen, die ein solches Verfahren mit sich bringt, umso geringer sein, je umfassender die Macht des Amtsinhabers ist. Mit anderen Worten müssen die Voraussetzungen, die an die Entziehung rechtlicher und politischer Machtbefugnisse gestellt werden, mit ihrem Umfang korrespondieren. Das Schutzbedürfnis des Volkes vor einem Machtmissbrauch des Amtsinhabers ist umso größer, je größer die Machtfülle des Amtsinhabers ist. Ist die Ausgestaltung des Amtes dagegen hinsichtlich seiner Einflussmöglichkeiten rechtlich und politisch eher gering, können auch die Hürden, die an eine Amtsentfernung gestellt werden, größer sein. Das Volk muss in diesem Fall zwar immer noch grundsätzlich die Möglichkeit einer Amtsentfernung haben, doch ist es nicht derart schutzbedürftig wie bei einer großen Machtfülle. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die geringen Vorgaben bei der Bestimmung des Tatbestands und den Sanktionen, die die französische Verfassung an ein 385 § 5 des Gesetzes über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten vom 17. 6. 1953, BGBl. I, S. 406. 386 Siehe S. 86 ff. 387 Siehe S. 35.

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

Verfahren gegen den französischen Staatspräsidenten wegen Hochverrats stellt, Ausfluss des Demokratieprinzips sind. Durch diesen Mechanismus soll das Volk vor einem Missbrauch einer zu großen Machtposition geschützt werden. Dieser umfassende Schutz ist aufgrund der schwächeren Stellung des Bundespräsidenten in Deutschland nicht notwendig.

C. Kompetenzen Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich wirken sowohl innerstaatlich als auch auf völkerrechtlicher Ebene. Das deutsche Staatsoberhaupt hat jedoch keinerlei Richtlinienkompetenz oder Entscheidungsbefugnisse, mit denen es die aktuelle Politik beeinflussen kann. Seine Kompetenzen sind im Wesentlichen auf die Außendarstellung und die politische Einflussnahme in dem genannten geringen Umfang beschränkt.388 Eine politische Machtposition wird hierdurch nicht erreicht.389 Der französische Staatspräsident besitzt dagegen – selbst in den Zeiträumen einer Kohabitation – wesentlich mehr Kompetenzen als das deutsche Oberhaupt. Er bestimmt beispielsweise in großem Maße die Richtlinien der Regierungspolitik, auch wenn er rechtlich nicht zur Regierung gehört (vgl. Art. 20 Abs. 1 Constitution).390 Das Recht der Verleihung von Orden und Ehrenzeichen wird von beiden Staatsoberhäuptern wahrgenommen. Als weitere Gemeinsamkeiten sehen beide Rechtsordnungen Kompetenzen im Bereich der staatsnotariellen Aufgaben vor. Diese sind die Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen, die Beamtenernennung oder die Ernennung des Regierungschefs. Letzteres fällt in Frankreich allerdings schon in den Bereich der politischen Einflussnahme. Im Bereich der politischen Einflussnahme können beide Staatsoberhäupter beispielsweise unter bestimmten Voraussetzungen das Parlament auflösen, das Begnadigungsrecht ausüben und haben die Möglichkeit, das höchste nationale Gericht anzurufen. Beide Staatsoberhäupter stellen politische Präsidenten dar, die lediglich bei der Ausübung verfassungsrechtlicher Kompetenzen ihre politischen Überzeugungen zurückstellen müssen.391 Ferner besitzen beide Staatsoberhäupter das Recht der politischen Rede und somit die Möglichkeit einer politischen Stellungnahme.392 Die politische Rede stellt ein wichtiges Mittel der politischen Einflussnahme dar, denn sie ermöglicht die Darlegung einer politischen Ansicht oder eines politischen Problems und seiner Lösungsmöglichkeit, ohne von politisch Andersdenkenden unmittelbar mit einer Siehe S. 65 ff. In der Literatur wird diese Position als die eines „Mahners, Warners und Kontrolleurs“ beschrieben, Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 289. 390 Siehe S. 101 f. 391 Siehe S. 57 ff. und S. 82 f. 392 Siehe S. 69 ff. und S. 98 f. 388 389

4. Kap.: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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möglichen anderen Sichtweise konfrontiert zu werden. Der Zuhörer wird zunächst nur mit einer Sichtweise konfrontiert und kann sich womöglich schwieriger aus dem vorgegebenen Denkmuster befreien. Für ihre politischen Reden stehen beiden Staatsoberhäuptern die Medien zur Erreichung möglichst vieler Menschen zur Verfügung. Auf völkerrechtlicher Ebene ist das Staatsoberhaupt kraft seines Amtes befugt, als Vertreter seines Staates aufzutreten (Art. 7 Abs. 2 lit. a) WVK). Die völkerrechtliche Vertretung ist somit eine Kompetenz zur Außendarstellung, die sowohl von dem deutschen als auch von dem französischen Staatsoberhaupt wahrgenommen wird, wobei dem französischen Staatsoberhaupt mehr Einfluss als dem deutschen Staatsoberhaupt zukommt, welches keine materielle Vertretungskompetenz besitzt.

D. Vereidigung Im Unterschied zum deutschen Staatsoberhaupt wird das französische Staatsoberhaupt nicht vereidigt.393 Der politische Eid der Neuzeit ist in den meisten Staaten der Welt verbreitet und wird unabhängig davon geleistet, ob es sich um einen religiös orientierten oder laizistischen Staat handelt.394 Sinn und Zweck des Eids soll die Benennung von Maximen sein, die für das Handeln des Staatsoberhaupts von Bedeutung sind.395 Juristisch bedeutet der Verfassungseid ein bekräftigendes Versprechen für die Zukunft.396 Er wird gebrochen, wenn das Versprechen nicht eingehalten wird, doch dies zieht keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich. Die Verpflichtung des politischen Eids besteht ausschließlich im Metaphysischen. Er verankert die Treue zur Verfassung in einer metaphysischen Sphäre, der sich jedoch nicht alle Bürger verpflichtet fühlen.397 Der Eid schafft somit eine ungleiche Gewissenspflicht unter den Bürgern. Die daraus folgende Frage, ob es angebracht ist, den Staat einerseits zu verweltlichen, andererseits aber mit metaphysischen Mitteln zu schützen, braucht hier jedoch nicht beantwortet zu werden. Die Tatsache, dass sich der französische Staatspräsident mit seinem großen rechtlichen und politischen Einfluss dennoch nicht diesem gebräuchlichen Ritual unterwerfen muss, verwundert. Eine Erklärung könnte sein, dass es durch die Direktwahl kein Gremium gibt, welches befugt wäre, den Eid abzunehmen. Dagegen Siehe S. 56 und S. 81. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 56, Rn. 1. Vgl auch die Verfassungen anderer Staaten: Belgien: Art. 91; Dänemark: § 8; Finnland: § 24; Irland: Art. 12 Abs. 8; Italien: Art. 91; Österreich: Art. 62; Spanien: Art. 61; USA: Art. II Section 2, Nr. 8. 395 Fink, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 56, Rn. 7 m. w. N. 396 Promissorischer Eid im Gegensatz zum assertorischen Eid, durch den die Richtigkeit einer Aussage etwa vor Gericht versichert wird. 397 Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 163. 393 394

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1. Teil: Die Staatsoberhäupter in Deutschland und Frankreich

spricht allerdings, dass der amerikanische Präsident auch direkt gewählt wird und seinen Eid398 – vor dem „Inauguration Committee’s“399 sowie beiden Häusern des Kongresses – leistet. Auch in Deutschland leistet der Bundespräsident seinen Eid nicht vor dem Gremium, das ihn gewählt hat, sondern vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und Bundesrats. Der französische Staatspräsident könnte daher entweder vor der ebenfalls direkt gewählten Nationalversammlung oder öffentlich durch seinen Vorgänger vereidigt werden. Was ist also der Grund für den fehlenden Eid? Die fehlende Eidesleistung beim französischen Staatsoberhaupt kann mit seiner Stellung begründet werden. Einerseits ist er der Garant der nationalen Unabhängigkeit, der Integrität des Staatsgebiets und der Einhaltung der Verträge (Art. 5 Satz 3 Constitution). Dadurch, dass er die Kontinuität des Staates gewährleistet (Art. 5 Satz 2 Constitution), wird er zur „Verkörperung des Gemeinwesens“ und übt als Staatsoberhaupt die oben genannten Funktionen aus. Andererseits ist er zusätzlich Teil bzw. Chef der Exekutive. Während somit in Deutschland der Bundespräsident als Staatsoberhaupt nicht diese Doppelfunktion besitzt und einen Eid darauf ablegen muss, die Verfassung einzuhalten (vgl. Art. 56 GG) wacht der Staatspräsident in Frankreich selbst „über die Einhaltung der Verfassung“ (Art. 5 Satz 1 Constitution). Er wacht somit darüber, dass sie von den anderen Akteuren eingehalten wird, während er ihr Hüter ist.400 Allein, dass eine Eidesformel nicht für notwendig gehalten wird, dass dem Staatsoberhaupt sozusagen per se unterstellt wird, er halte die Verfassung ein, lässt Rückschlüsse auf seine große Macht und fehlende Kontrollmöglichkeiten zu. Dieses Ergebnis wird durch die fehlende politische Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament unterstützt. Darüber hinaus wird dieses Ergebnis durch die Tatsache bestätigt, dass es für den Tatbestand des Hochverrats, dessen Erfüllung die einzige Möglichkeit darstellt, einen Präsidenten abzusetzen, keine Definition gibt.401 Offensichtlich wird die Vorstellung, ein Präsident verletze 398 Im Artikel II, Absatz 1, Paragraph 7 der amerikanischen Verfassung heißt es: Bevor er (der Präsident) das Amt antritt, soll er folgenden Eid leisten: „Ich schwöre feierlich, dass ich das Amt des Präsidenten ehrlich (nach bestem Wissen und Gewissen) ausführen werde und mit allen mir gebotenen Möglichkeiten die Verfassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen und verteidigen werde.“ („I do solemnly swear that I will faithfully execute the office of the President of the United States, and will to the best of my ability, preserve, protect and defend the Constitution of the United States.“). 399 Das PIC (Presidential Inaugural Committee) plant und organisiert die meisten Veranstaltungen rund um die Feierlichkeiten anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die über 20 Mitglieder des Komitees ernennt der designierte Präsident jeweils selbst. 400 So müssen beispielsweise die Mitglieder des Verfassungsrats (siehe S. 96 f.) vor dem Präsidenten den Eid ablegen „ihr Amt gut und treu zu erfüllen, es vollkommen unparteiisch in Achtung der Verfassung auszuüben, das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis zu wahren, nicht öffentlich Stellung zu beziehen und keinerlei Auskünfte über Angelegenheiten zu erteilen, die in den Zuständigkeitsbereich des Rates fallen“. Siehe http: //www.conseil-constitutionnel.fr.htm. (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 401 Siehe S. 86 ff.

4. Kap.: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

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die Verfassung, für so abwegig gehalten, dass keine Vorkehrungen für den Eintritt dieses Falls getroffen werden müssen. Das 2001 gefällte Urteil des Pariser Kassationsgerichtshofs402 stützt diesen Befund.403

E. Ergebnis Bei einem Vergleich der Stellung, der Verantwortlichkeit und der Kompetenzen der Staatsoberhäupter im jeweiligen Verfassungsgefüge finden sich in der Gesamtschau mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Der französische Staatspräsident stellt, sowohl in rechtlicher als auch in politischer Hinsicht, einen herausgehobenen Entscheidungsträger im französischen Staat dar. Durch das Mehrheitswahlverfahren wird er zudem mit einer unanfechtbaren demokratischen Legitimation ausgestattet, die ihn zum Wächter der französischen Verfassung und zu ihrer Schiedsgewalt werden lässt. Die herausgehobene Position des französischen Staatsoberhaupts schlägt sich auch in seiner sowohl rechtlichen als auch politischen Verantwortlichkeit nieder. Das deutsche Oberhaupt besitzt durch seinen Mangel an Entscheidungskompetenzen nur wenige Einflussmöglichkeiten auf politische Handlungen. Spiegelbildlich beschränkt sich daher die Verantwortlichkeit des Bundespräsidenten gleichfalls auf eine nur rechtliche Verantwortlichkeit. Der Bundespräsident ist politisch nicht verantwortlich. Aufgrund seiner fehlenden gubernativen Befugnisse wirkt der Bundespräsident überwiegend in repräsentativen Bereichen. Die Übereinstimmung, die beide Staatsoberhäupter verbindet, ist die herausgehobene Stellung. Dem jeweiligen Staatsoberhaupt ist durch die Verfassung ein Platz an der Spitze des jeweiligen Staates zugewiesen, und es gibt keinen anderen Amtsträger, der auf die gleiche Art und Weise ins Amt kommt. Ferner sind Kompetenzen bei der Außen- und Innendarstellung sowie bei den staatsnotariellen Aufgaben bei beiden Staatsoberhäuptern gleichermaßen vorhanden. Beide Staatsoberhäupter stellen politische Präsidenten dar, die lediglich bei der Ausübung übertragener verfassungsrechtlicher Kompetenzen eigene politische Überzeugungen zurückstellen müssen.

402 No de Pourvoi 01 – 84.922, Arrêt no 481 du 10 octobre 2001, Cour de cassation – Assemblé plénière. 403 Siehe S. 87.

2. Teil

Das Oberhaupt der Europäischen Union 1. Kapitel

Der Kommissionspräsident Charakteristisch für ein Oberhaupt ist eine herausgehobene Stellung im jeweiligen Gemeinwesen. Es wird an die Spitze des jeweiligen Gemeinwesens gestellt, und es gibt keinen anderen Amtsträger, der auf die gleiche Art und Weise ins Amt gelangt. Ferner benötigt ein Oberhaupt Kompetenzen in der Außen- und Innendarstellung sowie bei notariellen Aufgaben, die ihm bei der Ausübung von einheitsstiftenden Funktionen behilflich sein können. Schließlich benötigt es ein entsprechendes Selbstverständnis. Fraglich ist, inwieweit diese Merkmale unter Berücksichtigung der besonderen Struktur der Europäischen Union auch beim Kommissionspräsidenten zu finden sind. Nur wenn er in der Gesamtbetrachtung ähnliche Eigenschaften aufweist und damit einem Staatsoberhaupt vergleichbar ist, könnte er als Unionsoberhaupt anzusehen sein. Insofern kommt es auf die Stellung des Kommissionspräsidenten im institutionellen Gefüge der Europäischen Union an. Ob der Kommissionspräsident dabei die Rolle eines Oberhauptes der Europäischen Union ausüben kann, die nicht nur aus der ersten Säule der Europäischen Gemeinschaften, sondern auch aus der zweiten Säule, der gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (Art. 11 ff. EU), und der dritten Säule, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 29 ff. EU), besteht, ist fraglich. Denn in der zweiten und dritten Säule findet die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf einer intergouvernementalen Ebene statt. Dem EuGH kommt in diesen Bereichen beispielsweise keine Zuständigkeit zu (vgl. Art. 46 EU). Gemäß Art. 3 EU verfügt die Europäische Union allerdings über einen einheitlichen institutionellen Rahmen. Dieser Rahmen soll die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen der Union und gleichzeitig die Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes sicherstellen. Aus Art. 4 und 5 EU ergibt sich, dass der Europäische Rat sowie die Gemeinschaftsorgane den einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union formen. Der EU-Vertrag sieht somit ein Handeln der Gemeinschaftsorgane auch in den intergouvernemental verfassten Bereichen der Europäischen Union vor.404 Ist der Kommissionspräsident somit das Oberhaupt 404

Hilf / Pache, in: Grabitz / Hilf, EU-Komm., Art. 3, Rn. 3.

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der Europäischen Gemeinschaft, dann wird er durch den einheitlichen institutionellen Rahmen auch zum Oberhaupt der Europäischen Union. Diese Stellung kommt dem Kommissionspräsidenten auch deshalb zu, weil es keine andere Einzelpersönlichkeit in der Europäischen Union gibt, die dieses Amt ausüben könnte. Die Möglichkeit, dass der Ratspräsident diese Stellung innehaben könnte, wurde bereits ausgeschlossen.405 Sein Amt ist zu stark vom Europäischen Rat als der Versammlung der Vertreter der Mitgliedstaaten geprägt, als dass er das Oberhaupt der Europäischen Union darstellen könnte. Überdies ist seine Amtszeit mit sechs Monaten (Art. 203 Satz 2 EG) zu kurz, um das Amt des Unionsoberhaupts auch einprägsam für die europäischen Bürger zu besetzen. Zentral für die Stellung des Kommissionspräsidenten ist Art. 217 Abs. 1 EG. Danach übt die Kommission ihre Tätigkeit unter der politischen Führung ihres Präsidenten aus. Diese Position war ihm jedoch nicht von Beginn der europäischen Integration an gegeben. Sie ist im Gegenteil das Ergebnis einer langen Entwicklung, die die heute 25 europäischen Mitgliedstaaten gemeinsam vollzogen haben. Nach einem schrittweisen Beginn mit nur sechs Staaten sind nunmehr fast alle Staaten Zentral-, West- und Osteuropas in einer umfassenden Organisation mit weitgehenden Hoheitsrechten zusammengeschlossen, die diese selbstständig mit eigenen Organen und mit eigenem Recht wahrnimmt. In fünf Jahrzehnten hat sich allmählich eine europäische Ordnung herausgebildet, die nahezu alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens mehr oder weniger erfasst oder zumindest berührt.406 Dass die europäische Integration das gemeinsame Ziel der beteiligten Mitgliedstaaten war und ist, verdeutlicht auch die Präambel des EU-Vertrags in Abs. 12 („Im Hinblick“). Die Frage, warum die europäische Integration von den Mitgliedstaaten zum gemeinsamen Ziel erklärt wurde, lässt sich insbesondere mit den kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit begründen. Die europäische Integration wurde von dem Gedanken getragen, dass die Möglichkeit eines erneuten innereuropäischen bewaffneten Konflikts für immer ausgeschlossen werden musste. Die Friedenssicherung war somit ein zentraler Grund der europäischen Integration. Hierzu wurde eine Interessengemeinschaft geschaffen, die einem erneuten Konflikt jegliche Grundlage entziehen sollte.407 Die Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich stand hierbei im Vordergrund. Diese Interessengemeinschaft sollte durch eine teilweise Überwindung der politischen Strukturen Westeuropas erzielt werden, indem eine Reihe von Befugnissen souveräner Staaten auf supranationale Organisationen übertragen werden sollte.408 Sieht man von diesen historisch motivierten Gründen ab, gab es auch politische und ökonomische Gründe, sich zu einer Interessengemeinschaft zusammenzuschließen. Ein wohl405 406 407 408

Siehe S. 24. Everling, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 847. Siehe S. 22 f. So die Begründung von Spierenburg, Bericht, S. 21.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

habendes und geeintes Westeuropa verfügte – nach damaligen Überlegungen – über ein größeres geistiges und materielles Widerstandspotential gegenüber der als akut empfundenen Bedrohung durch die Sowjetunion und war besser in der Lage, seine gesellschaftliche Struktur zu erhalten und zu verstärken. Neben diesen politischen Motiven gab es auch eine wirtschaftliche Komponente. In Westeuropa sollte ein großer gemeinsamer Markt ohne Zoll- und Handelsschranken entstehen, der für die zerstückelten europäischen Volkswirtschaften die Vorteile der Maßstabsvergrößerung und Spezialisierung409 mit sich bringen sollte. Vorbild hierfür war der amerikanische Binnenmarkt. Die Integration der europäischen Märkte schien den Weg zum Wiederaufbau der durch den Krieg zerrütteten Volkswirtschaften und zu einem Wohlstandsniveau zu öffnen, das dem Amerikas vergleichbar sein sollte. Auch der Wunsch, die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern, war ein weiteres Motiv für das Streben nach europäischer Integration.410 Der gemeinsame Markt entwickelte sich bald zum Hauptziel, mit dem die europäische Integration erreicht werden sollte. Dies kam auch in Art. 2 des EWGVertrags zum Ausdruck, nach dem unter Integration enge Beziehungen zwischen den Staaten verstanden wurden. Diese engen Beziehungen sollten durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes erreicht werden, dem dann nach dem wirtschaftlichen Zusammenschluss auch in anderen Bereichen wie dem sozialen Sektor eine Integration folgen sollte. Das gemeinsame Ziel der europäischen Integration, das ehemals dem dauerhaften Ausschluss eines bewaffneten Konflikts diente, unterlag mithin in der Folge einem Bedeutungswandel. Der Kommissionspräsident spielt bei der europäischen Integration eine Schlüsselrolle, da er Gemeinschaftsinteressen vertreten soll und sich nicht von nationalstaatlichen Interessen leiten lassen darf. Ziel seines gesamten Handelns ist die europäische Integration, der er sich mit der Annahme seiner Wahl verpflichtet (Art. 213 Abs. 2 Satz 1 EG).411 Im Laufe der Zeit wurden dem Kommissionspräsidenten immer neue Kompetenzen zugesprochen und vertraglich fixiert. Es stellt sich daher die Frage, ob aus dieser Entwicklung Schlussfolgerungen gezogen werden können. Ändert sich die Stellung des Kommissionspräsidenten, wenn er in zunehmendem Ausmaß Kompetenzen zugewiesen bekommt, die er immer unabhängiger von Vorgaben der Mitgliedstaaten ausüben darf? Welche Konsequenzen zieht eine solche Änderung nach sich? Könnte sich möglicherweise durch die unabhän409 Der „Grad der Spezialisierung“ wird als das Verhältnis zwischen der Inlandsproduktion und dem Inlandsverbrauch definiert. Ist die Inlandsproduktion eines Betriebszweigs größer als der Verbrauch, dann ist – international gesehen – von Spezialisierung die Rede, Spierenburg, Bericht, S. 23. 410 Ebenso Spierenburg, Bericht, S. 22. 411 Gemäß Art. 213 Abs. 2 Satz 1 EG „üben die Mitglieder der Kommission ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit und zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus“. Damit korrespondiert die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Kommissaren keine Weisungen zu erteilen, Art. 213 Abs. 2 Satz 4 EG. Diese mitgliedstaatliche Verpflichtung ist eine spezielle Ausformung des allgemeinen Loyalitätsgebots aus Art. 10 EG. Zuleeg, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 10, Rn. 1.

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gige Wahrnehmung von Kompetenzen durch den Kommissionspräsidenten eine Lösung der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten vollziehen? In einem solchen Fall würde sich das institutionelle Gefüge der Europäischen Union verschieben, und das Machtgefüge innerhalb der Europäischen Union würde sich verändern. Doch liegt eine solche Veränderung vor? Geben die „Herren der Verträge“ ihre Herrschaft sukzessiv ab und legen diese in die Hände der Europäischen Union? Entwickelt sich die Europäische Union zu einem Präsidialsystem mit einem Unionsoberhaupt an der Spitze?

A. Geschichtliche Entwicklung des Kommissionspräsidenten Bei einer geschichtlichen Betrachtung der Entwicklung des Amtes des Kommissionspräsidenten kann festgestellt werden, dass dieses Amt seit jeher eine bedeutende Stellung hatte. Historisch entwickelte sich der Kommissionspräsident aus dem Präsidenten der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)412. Die EGKS wurde 1951 als erste der drei Europäischen Gemeinschaften gegründet.413 Als weitere Europäische Gemeinschaften wurden 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)414 und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG)415 gegründet, zu deren Organen ebenfalls Kommissionen gehörten (Art. 155 bis 163 EWGV und Art. 124 bis 135 EAGV). Die Hohe Behörde416 wurde zunächst als „überstaatliches“ 417 Organ der EGKS (Montanunion) 1951 konzipiert. Sie setzte sich aus unabhängigen Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen, die nur dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet waren418, und sie bestand aus neun Mitgliedern, die für sechs Jahre ernannt wurden (Art. 9 Abs. 1 EGKSV). Geprägt war die Hohe Behörde sehr stark durch das französische „Commissariat au Plan“, das in den 50er Jahren als zentrale Planungsund Koordinierungsinstanz der französischen Wirtschaft eingerichtet worden war. Ihr erster Präsident war Jean Monnet (1952 – 1954), der einen schlanken, flexiblen, an der Lösung von Sachfragen orientierten Verwaltungsapparat einrichtete. 419 Vom 18. 4. 1951, siehe hierzu BGBl. 1952 II S. 445. Der Vertrag der EGKS lief 2002 aus und seine Vorschriften wurden in den EG-Vertrag eingegliedert. Siehe Art. 97 EGKSV, nach dem der Vertrag eine Geltungsdauer von fünfzig Jahren vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens (1952) hat. 414 Vom 25. 3. 1957, siehe hierzu BGBl. 1958 II, S. 1. 415 Vom 25. 3. 1957, siehe hierzu BGBl. 1957 II, S. 753. 416 Bezeichnenderweise taufte man diese Einrichtung im Französischen „Haute Autorité“ – ins Deutsche wurde dies etwas weniger ambitioniert mit „Hohe Behörde“ übersetzt. 417 In seiner ursprünglichen Fassung charakterisierte der EGKSV in Art. 9 Abs. 5 Satz 3; Abs. 6 die Hohe Behörde noch ausdrücklich als überstaatlich (supranational). Dieser Hinweis auf den supranationalen Charakter der Hohen Behörde wurde durch Art. 19 FusV nicht übernommen. 418 Art. 9 Abs. 5 EGKSV. 412 413

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Nach der Verabschiedung der Römischen Verträge wurde 1958 die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingerichtet, deren erster Präsident der Deutsche Walter Hallstein (1958 – 1967) wurde. Während der Rat der Europäischen Union die Interessen der Mitgliedstaaten vertreten sollte, war die Europäische Kommission zur Vertretung von Gemeinschaftsinteressen konzipiert (Art. 157 Abs. 2 EWGV).420 Wichtig war daher das Initiativmonopol, nach dem der Rat seine Beschlüsse nur auf Vorschlag der Kommission treffen konnte. Dieses Initiativmonopol verschaffte der Kommission gleich zu Beginn der europäischen Integration eine starke Stellung (Art. 149 Abs. 1 EWGV).421 Weiter hatte die Kommission die Befugnis, im Rahmen der ihr verliehenen Kompetenzen, verbindliche Entscheidungen zu treffen und somit Recht zu setzen. Schließlich hatte die Kommission eine Verwaltungs- und Kontrollfunktion, nach der sie bereits erlassenes EG-Recht durchführen und überwachen konnte. Schon unter der dynamischen Führung Hallsteins422 wurden diese Aufgaben in einer Weise wahrgenommen, dass bald von der Kommission als „Motor der Integration“ gesprochen wurde.423 So versuchte die Kommission nicht nur eine Neureglung der Mitgliedsbeiträge an den Ausrichtungs- und Garantiefonds durchzusetzen, sondern auch die Beiträge durch Mittel der Gemeinschaft zu ersetzen. Des Weiteren war eine Ausweitung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments in Aussicht genommen. Frankreich war hingegen der Auffassung, die Kommission überschreite ihre Befugnisse.424 Im folgenden Konflikt, der sich insbesondere um den Wechsel von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung hinsichtlich der Finanzierung der für Frankreich vitalen europäischen Agrarpolitik drehte, zog der französischen Staatspräsident de Gaulle seinen Außenminister aus dem Rat zurück und veranlasste damit 1965 / 1966 eine Blockade der Gemeinschaftsinstitutionen, die unter dem Stichwort „Politik des leeren Stuhls“ in die Geschichte einging.425 Aufgehoben wurde diese Blockade erst durch einen einvernehmlichen Beschluss aller Ratsmitglieder, der im Luxemburger Protokoll426 niedergelegt wurde (so genannter Luxemburger Kompromiss). Dies 419 Rometsch, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A-Z, 5. Auflage, 160 (160 f.); hierzu umfassend Spierenburg / Poidevin, The History of the High Authority of the European Coal and Steel Community. 420 Hierzu Nass, in: Immenga / Möschel / Reuter, Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, 411 (415). 421 Nass, in: Scheuing, Europäische Verfassungsordnung, 59 (75). 422 Zum Beitrag Hallsteins zur europäischen Integration siehe: Loth / Wallace / Wessels, Walter Hallstein – Der vergessene Europäer?; Zuleeg, Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas. 423 Diedrichs, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A-Z, 142 (143). 424 AdG 1965, 11933. 425 Ausführlich zur Chronik der Krise Kaiser, Das Europarecht in der Krise der Gemeinschaften, EuR 1966, 4 ff.; Nass, in: Immenga / Möschel / Reuter, Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, 411 (421). 426 Luxemburger Beschlüsse der EWG-Außenminister vom 29. 1. 1966, abgedruckt in EuR 1966, 73 – 74; zu den Hintergründen siehe Kaiser, Das Europarecht in der Krise der Gemeinschaften, EuR 1966, 4 ff.

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brachte in der Folge eine deutliche Schwächung der Kommission mit sich. Es kam im Rat zu praktisch keinen Mehrheitsentscheidungen mehr, so dass nur noch die Initiativen der Kommission eine Aussicht auf Erfolg hatten, die sich nicht gegen „vitale Interessen“ eines Mitgliedstaats richteten. Die Kommission wurde dadurch praktisch gezwungen, die nationalen Regierungen stets vorab zu konsultieren. Eine Einigung fand nur noch auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners statt.427 Auch der Fusionsvertrag428, der die Hohe Behörde und die Kommissionen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft zu einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften verband, brachte keine Stärkung ihrer Position sowie ihrer Präsidenten mit sich. Bei dieser Fusion429 handelte es sich wohlgemerkt nur um eine strukturelle Fusion der Organe, nicht aber um eine materielle Fusion. Es blieben die drei Gründungsverträge bestehen, und die gemeinsame Kommission übte nunmehr die Kompetenzen aus, die den drei früheren Organen (Hohe Behörde der EGKS, Kommission der EWG und der EAG) zugestanden hatten. Es gab somit eine Kommission, die funktionell verschieden jeweils auf der Basis des EGKSV, EWGV und EAGV agierte.430 Hierbei hatte die ehemalige Hohe Behörde im EGKSV eine starke Stellung als Beschlussorgan, die Kommissionen im EAGV und im EWGV dagegen waren als Kontroll- und Initiativorgane angelegt (Art. 141 und Art. 119 EAGV; Art. 169 und Art. 149 EWGV).431 Das Entscheidungsorgan war bei letzteren der Rat, der sich aus Regierungsvertretern zusammensetzte. Der Grund hierfür war, dass die Mitgliedstaaten die weitreichenden Kompetenzen, die besonders der EWGV regelte, nicht in die Hände einer nicht zu kontrollierenden Kommission legen, sondern in intergouvernementalen Verfahren selbst entscheiden wollten. Es vollzog sich somit ein Funktionswandel, der besonders nach dem Luxemburger Protokoll und der zunehmenden Rechtssetzung durch den Rat nach dem Ende der Übergangszeit der EWG am 31. Dezember 1969 zu einer faktischen Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts zu Gunsten des Rates und zu Lasten der Kommission führte. So sprach der frühere Kommissionspräsident Gaston E. Thorn (1981 – 1985) davon, „dass durch den unheilvollen Kompromiss von Luxemburg ( . . . ) das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht in der Gemeinschaft verzerrt und die Weidenfeld, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A-Z, 10 (19). Vertrag zur Einsetzung eines Gemeinsamen Rates und einer Gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (67 / 443 / EWG, 67 / 27 / Euratom) vom 8. 4. 1965, in Kraft getreten am 1. 7. 1967 (ABl. 1967 Nr. 152, S. 2; BGBl. 1967 II, S. 1454). 429 Art. 10 bis 18 FusV ersetzte die einschlägigen Artikel über die Kommission in den Verträgen der EWG, EAG und EGKS. Für die Einsetzung einer „Kommission der Übergangszeit“ siehe Art. 32 f. FusV. 430 Diese Regelung führte auch zu praktischen Schwierigkeiten, die z. B. den Arbeitsort betrafen. Da sich die Mitgliedstaaten nicht auf einen Sitz einigen konnten, hat die Kommission ihren Sitz in Brüssel, einige Dienststellen sind aber in Luxemburg untergebracht. Hierzu Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter-Fassung, vor Art. 155, Rn. 9 f. 431 Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, vor Art. 155, Rn. 22. 427 428

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

gemeinsame Willensbildung bis zur Entscheidungsunfähigkeit erschwert“432 war. Dies wirkte sich in der Folge negativ auf den Einfluss der Kommissionspräsidenten aus. Die Kommissionspräsidenten433, die in den 70er Jahren folgten, konnten der Gemeinschaftsentwicklung kaum nachhaltige Impulse verleihen. Dies lag zum einen an ihrem nur begrenzten Handlungsspielraum, zum anderen aber auch an den spezifischen wirtschaftlichen Bedingungen wie z. B. der Ölkrise oder der Währungsinstabilität in den 70er Jahren.434 Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass die Staats- und Regierungschefs am 9. / 10. Dezember 1974 in Paris beschlossen, ihre zuvor außervertraglich seit 1961 stattfindenden Gipfelkonferenzen zu institutionalisieren und sich fortan mindestens dreimal jährlich zu treffen.435 Diese weiteren Treffen gaben in der Folge wichtige Impulse und auf ihnen wurden politische Ziele festgelegt. Probleme schaffte auch die erste Erweiterung 1973436, die nicht nur aufgrund einer Zunahme der Nationalitäten innerhalb der Beamtenschaft den inneren Zusammenhalt schwieriger gestaltete. Hinzu kam eine Ausweitung der Kompetenzen der Kommission437, die ihre Strukturen und Verfahren noch komplexer werden ließ. Erst die Ernennung Jacques Delors (1985 – 1995) zum Kommissionspräsidenten und die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 mit dem Ziel der Errichtung eines Binnenmarktes bis 1993 beendete die Stagnationsphase der Kommission.438 Die mit der EEA neu vergemeinschafteten Politikfelder besonders in den Bereichen der Forschung, Technologie und Umwelt, aber auch im Bereich der regionalen Strukturpolitik ließen die Kommission zu einem wichtigen Ansprechpartner für Verbände, Unternehmen und Regionen werden. Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Konflikts schafften ebenfalls neue Handlungsmöglichkeiten für die Kommission im Bereich der Außen- und Wirtschaftsbeziehungen der Gemeinschaft. Durch diese äußere Entwicklung und vor allem durch die dynamische Führung Delors wurde die Kommission wieder gestärkt und ihre Position innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft ausgebaut.439 Es sind somit nicht nur die rechtlichen und politischen Einflussmöglichkeiten, sondern es ist vor allem auch seine Persönlichkeit, die einen Kommissionspräsidenten zu einer europäischen Führungsperson werden lassen. Aus der geThorn, Die Europäische Gemeinschaft – war es ein Irrtum?, EA 1984, 229 (231). Jean Rey 1967 – 1970; Franco Maria Malfatti 1970 – 1972; Sicco Mansholt 1972 – 1973; Francois-Xavier Ortoli 1973 – 1977; Roy Jenkins 1977 – 1981; Gaston Thorn 1981 – 1985. 434 Spierenburg, Vorschläge, S. 6. 435 Hilf / Pache, Grabitz / Hilf, EU-Komm., Art. 4, Rn. 3. 436 1973 traten Großbritannien, Irland und Dänemark der Europäischen Gemeinschaft bei. 437 Hinzu kamen eine gemeinsame Agrarpolitik sowie eine gemeinsame Verwaltung des Agrar-, Sozial- und Rentenfonds. 438 Ein erfolgreiches Resumée zieht Delors in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 12. 2. 1992, Bull.EG 1992, Beilage 1, S. 6 ff. und in Delors, Erinnerungen eines Europäers, S. 252 ff. 439 Bauer, Orientierungsnot im Machtdreieck: Die Europäische Kommission auf der Suche nach einem neuen Leitbild, integration 2005, 47 (49). 432 433

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schichtlichen Entwicklung wird daher deutlich, dass außer den Mitgliedstaaten, die gestalteten und lenkten, die einzigen eigenständigen Impulse von der Europäischen Kommission kommen konnten und auch kamen.

B. Stellung des Kommissionspräsidenten Analysiert man die Stellung des Kommissionspräsidenten, sind das Auswahlverfahren und die Modalitäten seiner Ernennung zentral. Veränderungen, die bei diesen Bestimmungen vollzogen wurden, könnten daher die These über einen Wandel der institutionellen Strukturen der Europäischen Union zu einem Präsidialsystem unterstützen. Weiterhin könnte dies die These des Kommissionspräsidenten als eigenständige Führungsperson unterstreichen. Die Bestimmungen über die Auswahl des Kommissionspräsidenten wurden bei jeder Vertragsneufassung revidiert. Geändert wurde das Benennungsverfahren, das ursprünglich gegenseitiges Einvernehmen im Europäischen Rat bei der Benennung des Kommissionspräsidenten vorsah und eine Beteiligung des Europäischen Parlaments (ehemals Versammlung, vgl. Art. 20 ff. FusV) nicht für nötig erachtete. Zunächst wurde der Kommissionspräsident somit nur von den Staats- und Regierungschefs legitimiert, was mehr an ein eingesetztes ausführendes Organ erinnert als an ein Unionsoberhaupt mit gubernativen Befugnissen, das sich bei seinen Handlungen auf eine Zustimmung der Bürger berufen kann.

I. Fusionsvertrag Der Fusionsvertrag, der 1967 in Kraft trat und die drei Kommissionen zu einer zusammenführte, regelte das Auswahlverfahren des Kommissionspräsidenten in seinem Art. 14 Abs. 1. Dieser Artikel brachte zum damaligen Zeitpunkt keine Änderungen im Ernennungsverfahren mit sich, sondern stimmte mit den entsprechenden Regelungen der Römischen Verträge wortgleich überein.440 Hiernach lief das Ernennungsverfahren zweistufig ab. Jede Regierung wählte einen Kandidaten für die Kommission aus, von dem sie glaubte, dass er über die persönliche und fachliche Qualifikation verfügte und auch bei den anderen Regierungen auf Zustimmung stoßen würde. Diese Kandidaten wurden dann gegenseitig präsentiert, bevor die offizielle Ernennung vorgenommen wurde.441 Erst nachdem alle Kommissionsmitglieder ernannt waren, wurden aus deren Mitte der Kommissionspräsident und der Vizepräsident ernannt. Auch wenn das Ernennungsverfahren förmlich eingehalten wurde, bestand schon im Vorfeld zumindest Einigkeit über die Person des KomArt. 11 Abs. 1 EGKSV; Art. 161 Abs. 1 EWGV; Art. 130 Abs. 1 EAGV. Hummer / Obwexer, Die neue „Europäische Kommission“ 1995 – 2000 – Benennung, Investitur und Zusammensetzung, EuR 1995, 129 (131). 440 441

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missionspräsidenten, bevor die übrigen Kommissionsmitglieder ausgewählt wurden.442 Eine Beteiligung des Europäischen Parlaments bzw. seiner Vorgänger gab es nicht. Auch der Kommissionspräsident hatte keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission. Der Tindemans-Bericht443 vertrat dagegen schon früh die Notwendigkeit einer solchen Mitsprachekompetenz des Kommissionspräsidenten bei der Auswahl seiner Kommissare. Dieses Mitspracherecht wurde in der Folgezeit zwar informell begründet, eine Vetofunktion für den Kommissionspräsidenten folgte daraus jedoch nicht.444 Dies zeigt, dass sich der Kommissionspräsident in den Anfangsjahren der damaligen Europäischen Gemeinschaft weder auf die Legitimation des Europäischen Parlaments stützen konnte, noch bei der Auswahl der übrigen Kommissare entscheidend mitgestalten konnte. War es für den Kommissionspräsidenten damals lediglich informell möglich, Einfluss auf die Auswahl der Kommissare auszuüben, kann davon ausgegangen werden, dass auch seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten von den Vorstellungen der Staats- und Regierungschefs abhingen. Seine Wiederernennung hing schließlich von einem positiven Votum der Staats- und Regierungschefs ab, was eine weitere Sicherung für diese bedeutete, dass sich der Kommissionspräsident bei seinen Entscheidungen nicht von möglichen – inoffiziellen – Vorgaben entfernen würde. Eine Wiederernennung des Kommissionspräsidenten war unbegrenzt zulässig; nach dem Fusionsvertrag betrug seine Amtszeit als Kommissionsmitglied vier Jahre (Art. 11 Abs. 2 Satz 1, 2 FusV). Bis zum Vertrag von Maastricht gab es allerdings die Besonderheit, dass der Präsident nur für zwei Jahre gewählt wurde und dann nochmals für die weiteren zwei Jahre im Amt bestätigt werden musste (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 FusV), was in der Praxis auch regelmäßig geschah.

II. Vertrag von Maastricht Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) folgten weitere Schritte, die den Kommissionspräsidenten von den Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs unabhängiger machten. So wurden bei der Benennung des Kommissionspräsidenten Mitspracherechte für das Europäische Parlament eingeführt. Diese brachten dem Kommissionspräsidenten eine zusätzliche Legitimation. Zunächst waren die Mitspracherechte als Anhörungsrechte ausgestaltet (Art. 158 Abs. 1 EGV). Erst abSchmitt von Sydow, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 158, Rn. 4. Der so genannte Tindemans-Bericht vom 29. 12. 1975 unter dem Vorsitz des damaligen belgischen Ministerpräsidenten Tindemans untersuchte die Fragestellung, was unter dem Begriff „Europäische Union“ zu verstehen sei. Bull.EG 1976, Beilage 1. 444 So konnte sich der Kommissionspräsident Thorn nicht gegen die Ernennung des deutschen Kommissionsmitglieds Haferkamp (1967 – 1985) wehren, obwohl er starke Bedenken äußerte und ihn zunächst ablehnte, Schmitt von Sydow, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 158, Rn. 7. 442 443

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schließend war für die gesamte Kommission ein Zustimmungsvotum erforderlich (Art. 158 Abs. 2 Satz 3 EGV). Das abschließende Zustimmungsvotum schaffte erst ganz am Ende des Verfahrens die Möglichkeit für das Parlament, einen nicht akzeptierten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durch eine Zustimmungsverweigerung abzulehnen. Der Vertrag über die Europäische Union von Maastricht brachte des Weiteren eine Änderung bei dem Auswahlverfahren des Kommissionspräsidenten. Das gegenseitige Einvernehmen der Mitgliedstaaten, das bei der Benennung des Kommissionspräsidenten gemäß Art. 158 EGV Voraussetzung war, blieb noch unverändert. Doch es wurde festgeschrieben, dass gegenseitiges Einvernehmen ein höheres Erfordernis darstellt als der Wahlmodus der Einstimmigkeit. Einstimmigkeit kann gemäß Art. 148 Abs. 3 EGV auch bei Stimmenthaltungen erreicht werden, gegenseitiges Einvernehmen jedoch nicht.445 Jede Regierung konnte somit die Benennung eines ihr nicht genehmen Kandidaten blockieren. Dass es dennoch nicht zu Vetos oder Abstimmungen kam, lässt sich auf die politischen Absprachen im Vorfeld zurückführen, nach denen nur noch Kandidaten präsentiert wurden, die sich der Zustimmung aller Mitgliedstaaten sicher sein konnten.446 Die Regelung des Fusionsvertrags, der die Amtszeit des Kommissionspräsidenten zunächst nur auf zwei Jahre mit einer Verlängerungsmöglichkeit um weitere zwei Jahre festsetzte, wurde nicht vom Vertrag von Maastricht übernommen. Dieser gestand allen Kommissionsmitgliedern eine generelle Amtszeit von fünf Jahren zu und erlaubte eine Wiederwahl (Art. 158 Abs. 1 Satz 2 EGV). Diese Erweiterung auch der Amtszeit des Kommissionspräsidenten ohne die potentiell vorhandene Möglichkeit einer Nichtbestätigung im Amt nach nur zwei Jahren, wie es noch im Fusionsvertrag der Fall war, lässt auf eine erste Stärkung seiner Position schließen. Der Kommissionspräsident war nun nicht mehr alle zwei Jahre auf das Wohlwollen der Regierungschefs angewiesen, sondern hatte eine fünfjährige Amtszeit, in der er agieren konnte. Sicherlich hofften viele Präsidenten nach ihrer ersten Amtsperiode auf eine weitere fünfjährige Amtszeit, doch lassen sich viele Projekte unzweifelhaft besser in einer „sicheren“ fünfjährigen als in einer „sicheren“ zweijährigen Amtszeit verwirklichen.447 Ein wichtiger Schritt zu einem eigenständig entscheidenden Kommissionspräsidenten war mithin durch eine Verlängerung seiner Amtsperiode getan. Die Legitimation durch das Europäische Parlament stärkte seine Position und somit seine Bedeutung innerhalb der Europäischen Union.

Geiger, EG-Komm., 2. Auflage, Art. 158, Rn. 1. Ein Beispiel hierfür waren die zähen Verhandlungen, die der Benennung des Kandidaten Santer 1994 vorausgingen, siehe S. 120. 447 Eine Wiederernennung wurde z. B. bei dem Deutschen Walter Hallstein (1958 – 1962 und 1962 – 1967) und bei dem Franzosen Jacques Delors (1985 – 1989, 1989 – 1993, 1993 – 1995) sogar für insgesamt drei Amtsperioden durchgeführt. 445 446

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III. Vertrag von Amsterdam Der Vertrag von Amsterdam brachte einen weiteren Legitimationszuwachs für den Kommissionspräsidenten. Anstatt einer Anhörung wurde nunmehr die Zustimmung des Europäischen Parlaments verlangt (Art. 214 Abs. 2 EG). Für eine Zustimmung, die namentlich stattfand448, bedurfte es der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 32 Abs. 2 Satz 1 GO EP449). Dass fortan die Zustimmung des Parlaments bei der Benennung des Kommissionspräsidenten erforderlich war, brachte seiner Legitimation und Akzeptanz einen Gewinn450, doch stellte sie für das Parlament keinen entscheidenden Kompetenzzuwachs dar, da es auch vorher die endgültige Ernennung eines nicht genehmen Kommissionspräsidenten verhindern konnte. Freilich konnte dies erst am Ende des gesamten Verfahrens geschehen, was unweigerlich einen Eklat zwischen der Kommission, dem betroffenen Mitgliedstaat und dem Parlament bedeutet hätte. Als Folge wäre ein Vertrauensverlust beider Institutionen bei den europäischen Bürgern möglich gewesen. Verständlicherweise war es daher beiden Institutionen daran gelegen, es nicht zu einer Auseinandersetzung kommen zu lassen. Hätte dennoch eine nicht auf einvernehmlichem Wege lösbare Meinungsverschiedenheit vorgelegen, war es dem Parlament nunmehr möglich, bereits in einer frühen Phase gegen einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu stimmen. Bevor das Parlament allerdings zustimmte oder auch ablehnte, hatte der Kandidat vor dem Parlament eine Erklärung über seine politischen Zielvorstellungen abzugeben und diese zu erläutern. Daran schloss sich eine Aussprache an, in der die Parlamentarier die Möglichkeit hatten, den Kandidaten Fragen zu stellen.451

IV. Vertrag von Nizza Die Änderung, die der Vertrag von Nizza brachte, bezieht sich auf die bisherige einvernehmliche Benennung des Kommissionspräsidenten. Nach Art. 214 Abs. 2 EG wird der Kommissionspräsident nun mit qualifizierter Mehrheit benannt. Diese Regelung wurde angesichts einer immer größer werdenden Anzahl von Mitgliedern eingeführt, die es schwierig macht, einvernehmliche Beschlüsse herbeizuführen. Als Beispiel für die Notwendigkeit von Mehrheitsentscheidungen können hier die zähen Verhandlungen genannt werden, die eine einvernehmliche Einigung auf den Kandidaten Santer erst auf einem Sondergipfel am 15. Juli 1994 in Brüssel zuließen. Zuvor hatte das Vereinigte Königreich auf dem Treffen des Europäischen Rates am 25. Juni 1994 in Korfu ein Veto gegen den Kandidaten Dehaene eingelegt, so dass eine Einigung auf die Benennung eines Kommissionspräsidenten 448 449 450 451

Art. 32 Abs. 2 Satz 2 GO EP. Fassung vom 19. 2. 1997, ABl. 1997 Nr. L 49, S. 1 ff. Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 271. Siehe S. 182 ff.

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nicht möglich war.452 Der Europäische Rat war gelähmt. Die Notwendigkeit einer Mehrheitsentscheidung bei der Benennung des Kommissionspräsidenten ist somit gerade in einer erweiterten Europäischen Union unerlässlich. Das Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments bleibt im Vertrag von Nizza erhalten. Neu eingeführt wurde, dass ab dem Jahr 2005 auch die großen Mitgliedstaaten nur noch einen Kommissar stellen können. Sobald die Union 27 Mitgliedstaaten umfasst, wird der Rat einstimmig eine bestimmte Obergrenze für die Zahl der Kommissare festsetzen und gleichzeitig regeln, wie diese auf der Grundlage einer gleichberechtigten Rotation auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Bis dahin haben auch die neu beitretenden Staaten einen Anspruch auf einen Staatsangehörigen in der Kommission (vgl. Art. 4 des Protokolls über die Erweiterung der Europäischen Union). V. Verfassungsvertrag Der bislang noch nicht in Kraft getretene Verfassungsvertrag enthält weitere Änderungen bezogen auf die Ernennung des Kommissionspräsidenten. 1. Beteiligung der Europäischen Organe Bislang benennt der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit eine Person für das Amt des Kommissionspräsidenten (Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG). Nach dem Verfassungsvertrag liegt das Vorschlagsrecht künftig beim Europäischen Rat, wobei das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit beibehalten wird (Art. I-27 Abs. 1 Satz 1 VV). Auf den ersten Blick scheint sich damit an dem exklusiven Vorschlagsrecht der Staats- und Regierungschefs nichts geändert zu haben. Allerdings soll das Vorschlagsrecht zukünftig ausdrücklich unter Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament ausgeübt werden, damit sich der designierte Kommissionspräsident auf eine Mehrheit im Europäischen Parlament stützen kann. Zugleich verschärft sich das Mehrheitserfordernis im Europäischen Parlament. Während dort bislang für das Zustimmungsvotum die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügte453, ist nunmehr die Mehrheit seiner Mitglieder erforderlich (Art. I-27 Abs. 1 Satz 2 VV). Der Kommissionspräsident wird anschließend gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Die Amtszeit des Kommissionspräsidenten wurde bei fünf Jahren belassen (Art. I-26 Abs. 3 VV). Obwohl es im Konvent keine Arbeitsgruppe zu den Institutionen gab, aus deren Arbeit sich eine Genese ergeben würde, lassen sich die aufgeführten Änderungen 452 Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 195, Rn. 6, Fn. 21. 453 Vgl. Art. 214 Abs. 2 Satz 1; 198 Abs. 1 EG.

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des Wahlmodus damit erklären, dass der Verfassungskonvent für den Kommissionspräsidenten die größtmögliche Zustimmung und Akzeptanz erreichen will. Entspricht der vom Europäischen Rat präsentierte Kandidat, wie vom Verfassungsvertrag gefordert, den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament, dürfte die Verschärfung des Mehrheitserfordernisses kein Problem darstellen und würde dem so gewählten Kommissionspräsidenten ein größeres Maß an Legitimation verschaffen. Dadurch, dass das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates unter Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse des Europäischen Parlaments ausgeübt werden soll, findet ferner eine Betonung der unterschiedlichen Parteien bzw. Fraktionen im Europäischen Parlament statt. Für eine weiterführende europäische Integration ist eine solche Stärkung der europäischen Parteien notwendig, denn eine funktionierende Demokratie setzt nicht nur demokratische Institutionen, sondern auch eine entsprechende politische Infrastruktur voraus.454 Zur notwendigen Rückkopplung der Gewählten an die Wähler gehört die gesellschaftliche Auseinandersetzung ebenso wie die organisierte private Interessenbündelung und -vertretung. Parteien sind deshalb schlechthin konstituierend für die Demokratie.455 Zwar sind bereits heute europäische Parteien im EG-Vertrag angelegt (Art. 191 EG, zukünftig Art. I-46 Abs. 4, III-331 VV), doch ist eine europäische Parteienlandschaft erst in Ansätzen erkennbar. In der Praxis spielen die europäischen Parteien nur eine untergeordnete Rolle, weil häufig nach nationalen Interessen und in wechselnden Koalitionen abgestimmt wird.456 Im Gegensatz zu den nationalen Demokratien gibt es somit heute keine „regierungstragende“ Mehrheit im europäischen Parlament. Die Kommission kann sich bei ihren Vorhaben nicht von vornherein auf eine Parlamentsmehrheit stützen.457 Die Kommission und das Europäische Parlament agieren daher vielfach unabhängig voneinander. Je mehr Mitentscheidungsbefugnisse auf das Europäische Parlament übertragen werden (Art. 251 EG), umso schwieriger gestaltet sich indes die Zusammenarbeit, wenn nicht zumindest ein gewisser Gleichklang der politischen Ausrichtungen von Kommission und Parlamentsmehrheit vorliegt. Im Verfassungsvertrag ist es zukünftig angelegt, dass der Kommissionspräsident die Unterstützung der Parteien haben muss, die die stärkste Richtung im Europäischen Parlament bilden. In der Praxis dürfte dies regelmäßig dazu führen, dass der Kommissionspräsident selbst einer dieser Parteien angehört. Besteht im Europäischen Parlament beispielsweise eine liberal-konservative Mehrheit, wird der Kommissionspräsident voraussichtlich diesem Lager angehören. Da der Kommissionspräsident ferner sein Einvernehmen nur zu Kandidaten erteilen wird, mit denen er sich eine gemeinsame Kommissionsarbeit vorstellen kann, ist im VerfassungsverBVerfGE 89, 155 (185). BVerfGE 44, 125 (139 f.). 456 Neßler, Deutsche und europäische Parteien, EuGRZ 1998, 191 (192); Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 20; Streinz, Europarecht, Rn. 357. 457 Siehe S. 251 f. 454 455

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trag ein gewisser Gleichklang der politischen Ausrichtungen von Kommission und Europäischem Parlament angelegt. Eine Betonung der unterschiedlichen parlamentarischen Richtungen wird schließlich eine stärkere Abgrenzung zwischen diesen zur Folge haben. Dies stellt einen Schritt in die Richtung einer europäischen Parteiendemokratie dar, in der die Partei- bzw. Fraktionszugehörigkeiten ähnlich wie in einem nationalen Parlament die entscheidende Rolle spielen. Zugleich wird der Kommissionspräsident in die Nähe eines Regierungschefs gerückt, der für seine tägliche Arbeit auf die Unterstützung einer Mehrheit im Parlament angewiesen ist. 2. Ablehnung und Wiederernennung Neu ist weiterhin, dass der Verfassungsvertrag ein Verfahren festlegt, wie im Fall einer Ablehnung eines Kandidaten durch das Europäische Parlament zu entscheiden ist. Nach Art. I-27 Abs. 1 Satz 3 VV hat dann der Europäische Rat innerhalb eines Monats in demselben Verfahren einen neuen Kandidaten vorzuschlagen. Die Zulässigkeit einer Wiederernennung wurde bislang in allen Vorgängerverträgen explizit bejaht.458 Der Verfassungsvertrag schweigt sich jedoch bezüglich einer Wiederernennung des Kommissionspräsidenten aus. Aus der Tatsache, dass eine Wiederernennung in allen Vorläuferverträgen explizit für zulässig erklärt wurde, nun im Umkehrschluss zu folgern, dass sie nach dem Verfassungsvertrag nicht mehr zulässig ist, erscheint indes nicht naheliegend. Vielmehr hätte ein solches Verbot ausdrücklich geregelt werden müssen. Der Sinn und Zweck der Wiederernennungsregelung, eine Kontinuität der Amtsführung zu gewährleisten, behält auch nach dem Verfassungsvertrag seine Gültigkeit. Die Wiederernennung hat somit nicht ihren Sinn verloren, auch wenn sie durch das Rotationsprinzip nur selten erfolgen wird. Nach diesem Rotationsprinzip besteht die Kommission inklusive Präsident und Außenminister, der gleichzeitig Vizepräsident ist, ab 2014 bei 27 Mitgliedstaaten aus 18 Mitgliedern, die nach einem gleichberechtigten System alle fünf Jahre gewählt werden (vgl. Art. I-26 Abs. 6 VV). Dieses System macht es bei 27 und mehr Mitgliedstaaten unwahrscheinlich, dass einem Kandidaten mehrere Amtszeiten zugestanden werden. Wird ein Kandidat dennoch ein zweites Mal gewählt, spricht allein die Nichterwähnung im Vertragstext nicht gegen die Zulässigkeit dieser Wahl. Im Gegenteil bleibt Sinn und Zweck der Wiederernennungsregelung, die Kontinuität einer Amtsführung zu gewährleisten, nach wie vor bestehen. Die Wiederernennung ist daher auch ohne explizite Nennung zulässig.

458 Vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 2 FusV; Art. 158 Abs. 1 Satz 2 EGV (Maastricht); Art. 214 Abs. 1 Satz 2 EG (Amsterdam); Art. 214 Abs. 1 Satz 2 EG (Nizza).

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3. Beteiligung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren Betrachtet man schließlich erneut den Wortlaut des Vertrags, so ist der Kommissionspräsident als Mitglied des Europäischen Rates (Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV) grundsätzlich an dem Ernennungsverfahren seines Nachfolgers beteiligt. Ein Stimmrecht kommt ihm zwar nicht zu (Art. I-25 Abs. 4 VV), doch je nach Ausmaß seiner sonstigen Beteiligung könnten sich Interessenkollisionen ergeben, die einer sachgemäßen Entscheidungsfindung abträglich wären. Der deutlichste Fall würde bei einer eigenen erneuten Kandidatur als Kommissionspräsident eintreten. Der Kommissionspräsident würde dann an seinem eigenen Ernennungsverfahren mitwirken. a) Redaktionsversehen Eine Mitwirkung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren mutet auf den ersten Blick erstaunlich an, so dass man ein Redaktionsversehen in Erwägung ziehen könnte. Gegen die Beteiligung des Kommissionspräsidenten bei der Debatte um seinen Nachfolger spricht, dass es nach dem Vertrag von Nizza der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs war, der den Kommissionspräsidenten benannte (Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG). Der amtierende Kommissionspräsident war nicht eingebunden. Genau diese Formation wurde im Verfassungsvertrag nicht übernommen und möglicherweise schlicht vergessen. Es würde sich dann um ein Redaktionsversehen handeln. Nach der Intention der Vertragsparteien sollten – wie bislang – nur die Staats- und Regierungschefs über die Person des zukünftigen Kommissionspräsidenten beraten. Der amtierende Kommissionspräsident hätte ausgeschlossen bleiben sollen. Für ein solches Redaktionsversehen könnte sprechen, dass sich in den gesamten Änderungsvorschlägen zu Art. I-27 VV keine Diskussion zu dieser Frage findet und dieser Punkt möglicherweise übersehen wurde.459 Dies erscheint allerdings vor dem Hintergrund unwahrscheinlich, dass die Ausgestaltung des Rates, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt (Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG) insgesamt nicht aus dem Vertrag von Nizza in den Europäischen Verfassungsvertrag übernommen wurde. Der Rat tritt im gesamten Verfassungsvertrag lediglich als Europäischer Rat, also mit dem Kommissionspräsidenten in Erscheinung. Die Annahme, dass sowohl im Konvent als auch in den folgenden Regierungskonferenzen eine gesamte bis dato mögliche Ratsformation übersehen wurde, erscheint unwahrscheinlich. Besonders unwahrscheinlich wird die These eines Redaktionsversehens, da die Ratsformation, die „in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt“, erst neu mit dem Vertrag von Nizza eingeführt wurde, also als Neuerung noch präsent war. Zuvor waren es die „Regierungen der Mitgliedstaaten“, die berieten und benannten.460 459 http: //european-convention.eu.int/Docs/Treaty/pdf/41899/global41899.pdf (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006).

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Von einem Redaktionsversehen kann aus diesen Gründen nicht ausgegangen werden. b) Unbefangenheitsprinzip Die Beteiligung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren für seinen Nachfolger im Amt könnte rechtliche Probleme aufwerfen. Denn jeder Kommissionspräsident tritt sein Amt mit eigenen politischen Vorstellungen an. Er setzt Akzente und Prioritäten, und er hat Ziele, die er in Zukunft verwirklicht sehen möchte. Könnte er an der Debatte um seinen Nachfolger mitwirken, wäre es ihm möglich, diese eigenen Vorstellungen und Wünsche bei der Kandidatendiskussion einzubringen. Er könnte sich für den Kandidaten aussprechen, der mit seiner eigenen politischen Linie übereinstimmt, auch wenn dieser möglicherweise weniger Qualifikationen aufweist als andere Bewerber. Er könnte durch seinen Einfluss im Europäischen Rat seinen Nachfolger auf seine Prioritäten verpflichten und so eine Weiterführung seiner Ziele erreichen. Sein Nachfolger hätte dann in geringerem Maße die Möglichkeit, eigene unter Umständen konträre Schwerpunkte zu setzen. Über Jahre hinweg könnten sich so bestimmte Akzente behaupten, ohne dass es die Option eines Richtungswechsels gäbe. Fraglich ist daher, ob die Norm des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV dahingehend teleologisch reduziert werden muss, dass der Kommissionspräsident nicht an der Debatte um seinen Nachfolger teilnehmen dürfte. Denn stimmberechtigt wäre der Kommissionspräsident ohnehin nicht (Art. I-25 Abs. 4 VV). Eine teleologische Reduktion kommt dann in Betracht, wenn eine Norm entsprechend ihrem Sinn und Zweck einer Einschränkung bedarf, die im Gesetzestext nicht enthalten ist. Es wird dann eine sinngemäß geforderte, aber ungeschriebene Einschränkung hinzugefügt.461 Diese würde den Regelungsbereich des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV so verengen, dass der Kommissionspräsident dann nicht an der Debatte um seinen Nachfolger teilnehmen dürfte. Der Grund für die teleologische Reduktion könnte in der Anwendung eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes liegen, dem die Norm des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV zuwiderlaufen könnte. Der rechtsstaatliche Grundsatz müsste dann als solcher Eingang in das europäische Primärrecht gefunden haben. Denn sowohl das ausdrücklich niedergeschriebene Vertragsrecht als auch die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze gehören zum Primärrecht.462 Da geschriebenes und ungeschriebenes Recht gleichrangig sind, kann das eine nicht gegen das andere verstoßen. Kommt es dennoch zu Widersprüchen zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Primärrecht, ist eine harmonisierende Auslegung geboten, die in der oben genannten teleologischen Reduktion einer Rechtsnorm münden kann.

460 461 462

Vgl. Amsterdamer Fassung, Art. 214 Abs. 2 EGV. Butzer / Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht, S. 55. Lecheler, Einführung in das Europarecht, S. 112 ff.; Hobe, Europarecht, Rn. 134 ff.

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Als Rechtsgrundsatz, der bei der Beteiligung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren für seinen Nachfolger Grund für die teleologische Reduktion des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV sein könnte, kommt das verfahrensrechtliche Prinzip der Unbefangenheit in Betracht. Als Ausdruck eines rechtsstaatlichen Verfahrens finden sich Regelungen zu Unparteilichkeit und Unbefangenheit als gemeinsames Erbe des römischen Rechts (nemo iudex in causa sua) in den Verfahrenskodifikationen des kontinentalen und in der natural justice des englischen Rechts463 und können daher als allgemeine europäische Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 Abs. 1 EU herangezogen werden. Eine Bestätigung erfolgt durch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Art. 6 das Recht auf ein faires Verfahren regelt. Jede Person hat danach das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisch urteilendes Gericht. Auch in der Grundrechtscharta, die in den Verfassungsvertrag integriert wurde, findet dieses Rechtsprinzip in Art. II-47 VV seinen Niederschlag. Eine weitere Bestätigung für die Aufnahme dieses Rechtsprinzips in das europäische Gemeinschaftsrecht gibt schließlich das Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs.464 Nach Art. 1 des Protokolls müssen die Richter den Eid leisten, ihr Amt unparteiisch und gewissenhaft auszuüben. Seinen Ausdruck findet dieses Prinzip in der Richteramtsenthebung, falls ein Richter die Voraussetzungen für sein Amt nicht mehr erfüllt (Art. 6 des Protokolls). Aus dem Prinzip der Unbefangenheit, das ein neutrales, faires Verfahren gebietet, wird abgeleitet, dass schon der Verdacht der Befangenheit eine Mitwirkung verbietet.465 Deutlich wird dies im deutschen Verwaltungsverfahren in der Norm des § 20 Abs. 4 Satz 4 VwVfG, nach der ein aufgrund von Zweifeln ausgeschlossenes Mitglied weder bei der weiteren Beratung noch bei der Beschlussfassung zugegen sein darf. Im Ernennungsverfahren für das Amt des Kommissionspräsidenten geht es allerdings weder um ein behördliches noch um ein gerichtliches Verfahren. Das Ernennungsverfahren ist ein politisches Verfahren. In einem politischen Verfahren sind die Kriterien, nach denen die Staats- und Regierungschefs ihre Wahl treffen, nicht justitiabel und somit keiner rechtlichen Kontrolle zugänglich. Sie müssen auch nicht den Grundsätzen eines fairen Verfahrens entsprechen. Im Gegensatz zu den ersten beiden rechtlichen Verfahren stehen bei der Wahl des Kommissionspräsidenten als einem politischen Verfahren auch keine subjektiven Rechte der Kandidaten in Bezug auf ein bestimmtes Ergebnis in Rede. Niemand hat einen Anspruch darauf, Kommissionspräsident zu werden. Trotz dieser Unterschiede zwischen einem rechtlichen und dem hier vorliegenden politischen Verfahren lässt sich der hinter dem Unbefangenheitsprinzip stehende Rechtsgedanke des fairen Verfahrens möglicherweise dennoch übertragen und verbietet eine Teilnahme des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfah463 Schmidt-Aßmann, in: Müller-Graff, Perspektiven des Rechts in der Europäischen Union, S. 131 m. w. N. 464 ABl. Nr. L 188, S. 1 vom 26. 7. 2003; ABl. Nr. L 236, S. 37 vom 23. 9. 2003. 465 Bonk / Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG-Komm., § 20, Rn. 1 ff.

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ren. Denn bei diesem Ernennungsverfahren soll das Amt des Kommissionspräsidenten geschützt werden. Der Sinn und Zweck, die Amtszeit des Kommissionspräsidenten zu begrenzen, besteht auch darin, dem System mit einem neuen Amtsinhaber die Möglichkeit zur Erneuerung zu geben. Befristete Amtszeiten sind daher auch angelegt, um einen Personalwechsel zu vollziehen und Möglichkeiten für einen Richtungswechsel zu bieten. Es steht nicht der Kandidat im Vordergrund, sondern das Amt. Wirkt der Kommissionspräsident als Mitglied des Europäischen Rates am Ernennungsverfahren seines Nachfolgers mit, könnte er versuchen, Einfluss zu nehmen und einen Nachfolger zu unterstützen, der seine Linie fortführt. Eine Erneuerung des Amtes könnte auf diese Weise verhindert werden. Der Grundsatz des Unbefangenheitsprinzips, der auch die Möglichkeit eines Richtungswechsels bieten möchte, könnte betroffen sein. Eine teleologische Reduktion, die den Anwendungsbereich des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV so verengt, dass der Kommissionspräsident nicht an der Debatte um seinen Nachfolger teilnehmen dürfte, ist allerdings nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn seine Verfahrensbeteiligung überhaupt einen Grad erreichen kann, der dem Unbefangenheitsprinzip zuwiderläuft. Konkret muss gefragt werden, wie viel ein Redebeitrag in einem Gremium von 25 Staats- und Regierungschefs sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates ausmachen kann. In seinem Redebeitrag kann der Kommissionspräsident beispielsweise die praktischen Erfahrungen seiner Amtszeit, konkrete Anforderungen und Schwierigkeiten verdeutlichen. Seine Kandidatenvorstellungen fließen mit denen der 26 anderen Personen zusammen, die dann ohne ihn und ohne den Präsidenten des Europäischen Rates abstimmen. Ein einzelner Redebeitrag erscheint angesichts der Tatsache, dass in diesem Gremium eine Fülle von unterschiedlichen Interessen kumulieren, nicht geeignet, ein Zuwiderlaufen der geschriebenen Norm des Art. I-21 Abs. 2 Satz 1 VV und des ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes der Unbefangenheit festzustellen. Selbst wenn der Kommissionspräsident eine ausgesprochen starke Persönlichkeit aufweisen sollte, ist sein praktischer Einfluss angesichts der Größe des Gremiums zu gering, um eine Erneuerung des Amtes wirksam zu hindern. Vielmehr ist eine Beteiligung des Kommissionspräsidenten sinnvoll, um praktischen Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag Rechnung zu tragen und die Meinungsvielfalt im Europäischen Rat zu erweitern.466 466 Unterstützt wird dieses Ergebnis durch einen Blick in das deutsche Kommunalrecht. Dort stellt sich ein in gewisser Hinsicht vergleichbares Problem bei der Mitwirkung in den Gemeindeparlamenten. Für den Fall der Befangenheit eines Mitglieds enthalten die verschiedenen Gemeindeordnungen ein Mitwirkungsverbot, das sich sowohl auf die Beratung als auch auf die Abstimmung bezieht (z. B. § 26 Abs. 1 Niedersächsische Gemeindeordnung; § 31 Abs. 1 Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen; Art. 49 Abs. 1 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern; § 18 Abs. 1 Gemeindeordnung für Baden-Württemberg; § 22 Abs. 1 Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein). Dieses Mitwirkungsverbot bezieht sich jedoch ausdrücklich nicht auf Wahlen (z. B. § 26 Abs. 3 Niedersächsische Gemeindeordnung; § 31 Abs. 3 Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen; Art. 49 Abs. 2 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern; § 18 Abs. 3 Gemeindeordnung für Baden-Württemberg; § 22 Abs. 3

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Dadurch, dass der Kommissionspräsident nach der Regelung des Verfassungsvertrags kein Stimmrecht besitzt (Art. I-25 Abs. 4 VV), wird auch sichergestellt, dass politische Richtungsänderungen möglich sind und eine personelle Erneuerung stattfinden kann. Davon abgesehen kann in der Praxis wohl von einer taktvollen Zurückhaltung des amtierenden Kommissionspräsidenten bei der Auswahl seines Nachfolgers ausgegangen werden. 4. Zwischenergebnis Die Regelung, den Kommissionspräsidenten nach den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament auszuwählen, fördert die Entstehung einer europäischen Parteiendemokratie mit festeren Koalitionen, als dies bislang der Fall ist. Gleichzeitig wird ein gewisser Gleichklang zwischen der politischen Ausrichtung der Kommission und derjenigen des Parlaments befördert. Dies rückt den Kommissionspräsidenten in die Nähe eines Regierungschefs, der sich für die Ausführung seiner Vorhaben auf eine „regierungstragende“ Mehrheit im Parlament stützen kann. Eine Wiederernennung des Kommissionspräsidenten ist zulässig. Ferner darf der Kommissionspräsident am Ernennungsverfahren seines Nachfolgers mitwirken. Insgesamt bewirken auch diese Änderungen eine Stärkung der Position des Kommisisonspräsidenten.

VI. Zwischenergebnis Die historische Entwicklung zeigt eine deutliche Wandlung der Figur des Kommissionspräsidenten. So war die demokratische Legitimation des Kommissionspräsidenten zu Beginn lediglich durch das Ernennungsverfahren der Staats- und Regierungschefs gegeben, die ihrerseits demokratisch legitimiert waren. Deren Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein), so dass die möglicherweise befangene Person in diesem Fall sowohl an der Beratung als auch an dem Wahlakt als solchem teilnehmen darf. Ein Grund hierfür liegt darin, dass durch ein Mitwirkungsverbot nicht die bestehenden Mehrheitsverhältnisse bei – regelmäßig besonders bedeutenden – Wahlen verändert werden sollen (Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 105). Das Kommunalrecht gewichtet insofern die gesetzmäßige Zusammensetzung entsprechend dem Ergebnis der Kommunalwahlen höher als Sorge um eine mögliche Befangenheit eines Mitglieds. Legt man diese kommunalrechtlichen Maßstäbe an die Beteiligung des Kommissionspräsidenten am Ernennungsverfahren für seinen Nachfolger an, dürfte der Kommissionspräsident – da es sich um eine Wahl handelt – sowohl mitberaten als auch mitabstimmen. Der Europäische Rat müsste in seiner vertragsmäßigen Zusammensetzung entsprechend den politischen Mehrheitsverhältnissen tagen, ohne dass Befangenheitsgründe geltend gemacht werden könnten. Diesem Konflikt weicht das europäische Recht jedoch in einem wesentlichen Punkt aus, indem es eine Beteiligung des Kommissionspräsidenten an der eigentlichen Wahl seines Nachfolgers nicht vorsieht. Vorgesehen ist allein eine beratende Rolle, also ein weniger gegenüber einer Mitwirkung an der Wahl selbst. Auch am Maßstab der kommunalrechtlichen Regelungen gemessen begegnet dies keinen Bedenken in Bezug auf das Unbefangenheitsprinzip.

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Legitimationen sind teilweise indirekt ausgestaltet wie beispielsweise beim deutschen Bundeskanzler. Dies verlängert die Legitimationskette zum Kommissionspräsidenten, so dass sich die Distanz zum europäischen Bürger als dem eigentlichen Legitimationsspender vergrößert. Mit der Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten gehen eine größere politische Gestaltungsmacht und ein größerer Einfluss des Europäischen Parlaments einher. Denn durch das Europäische Parlament, das seinerseits direkt durch die europäischen Bürger legitimiert ist, kommt zur ersten Legitimationskette des Kommissionspräsidenten durch die Staats- und Regierungschefs eine zweite (kürzere) durch das Europäische Parlament hinzu. Wäre der Kommissionspräsident lediglich der Chef einer Verwaltungsbehörde, wäre diese doppelte Legitimation unnötig. Er hätte dann nicht die europäische Bedeutung, die den Aufwand einer weiteren Legitimationskette rechtfertigen könnte. Wenn der Kommissionspräsident allerdings ein Oberhaupt darstellt und die Funktionen von Oberhäuptern ausübt, bedarf er einer möglichst breiten Zustimmung der europäischen Bürger. Dies gilt insbesondere, wenn er zusätzlich die Exekutivkompetenzen eines Regierungschefs wahrnimmt, wie es in Präsidialsystemen der Fall ist. Die zusätzliche Legitimation des Europäischen Parlaments ist in diesem Fall unter demokratischen Aspekten nicht nur wünschenswert, sondern notwendig. Je kürzer diese weitere Legitimationskette zum Kommissionspräsidenten ist, umso sicherer kann er sich der Unterstützung der Bürger sein. Damit bringt ein Legitimationszuwachs auch einen Bedeutungszuwachs seiner Person mit sich. So kann aus dem Bedeutungszuwachs des Kommissionspräsidenten gefolgert werden, dass sich die Europäische Union zu einem System mit einem selbstständigen Oberhaupt wandelt.

C. Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten Der Grad der Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten richtet sich nach seiner Machtfülle. Je größer der Einfluss eines politischen Amtes ist, umso ausgeprägter muss auch die politische und rechtliche Kontrolle beschaffen sein. Eine geringe Machtfülle muss demgegenüber in geringerem Ausmaß kontrolliert werden.467 In einer Demokratie besteht zunächst eine abstrakte Verantwortlichkeit des Staatsoberhaupts gegenüber dem Volk, durch welches es ins Amt gelangt ist. Konkret besteht sie gegenüber den Organen, die diese Verantwortlichkeit für das Volk geltend machen. Dies geschieht durch Kontrollrechte. Die Kontrollrechte sind insofern das Spiegelbild zur Verantwortlichkeit.468 Konkret verantwortlich ist das Staatsoberhaupt daher gegenüber denjenigen, die die Kontrollrechte ausüben. Die Siehe S. 104 ff. Hierzu Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 62, Rn. 86; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 316 f. 467 468

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Kontrollrechte für den Kommissionspräsidenten üben sowohl der Rat und das Parlament als auch die Kommission selbst durch verschiedene Instrumentarien aus. Es besteht daher sowohl gegenüber dem Rat als auch gegenüber dem Parlament eine Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten. Weiterhin besteht eine Verantwortlichkeit gegenüber der Kommission selbst, die als Kontrollinstrument die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens besitzt. Verantwortlichkeit lässt sich in eine rechtliche und eine politische Rechenschafts- und Einstandspflicht differenzieren.469 Umfasst wird das Einstehen eines selbstständig Handelnden für die Erfüllung seiner Pflicht, die einem Anderen geschuldet wird.470 Mit anderen Worten ist Verantwortlichkeit als die Pflicht zu definieren, für ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Vorgang und dessen Folgen Rechenschaft abzulegen und ggf. Sanktionen ausgesetzt zu sein.471 Konkret bedeutet Verantwortlichkeit für den Kommissionspräsidenten, für sein Handeln einstehen zu müssen und sich der Kontrolle der anderen europäischen Organe zu unterwerfen. Die Kontrollinstrumentarien, mit denen die Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten eingefordert wird, sind zum einen das Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments gemäß Art. 201 EG, das sich allerdings nicht allein gegen den Kommissionspräsidenten, sondern gegen die gesamte Kommission richtet, sowie der Gesamtbericht gemäß Art. 212, 200 EG. Letzteren gibt der Kommissionspräsident jährlich zusammen mit einer Art Regierungserklärung472 vor dem Europäischen Parlament ab, in der er die Schwerpunkte für das kommende Jahr formuliert. An den Gesamtbericht sind zwar direkt keinerlei vertraglich verankerte Folgen geknüpft. Aber auch er ist Ausdruck der Kontrolltätigkeiten des Parlaments, mit der es die Verantwortlichkeit der Kommission und ihres Präsidenten einfordert. Zum anderen gibt es die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens gemäß Art. 216 EG, bei dem sowohl der Rat als auch die Kommission selbst antragsberechtigt sind. Dass der Rat die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens besitzt, ergibt sich aus seiner demokratischen Legitimation und dem daraus folgenden Kontrollauftrag. Die Tatsache, dass auch die Kommission antragsberechtigt ist, ein Amtsenthebungsverfahren gegen einzelne Mitglieder einzuleiten, verwundert auf den ersten Blick. Zum einen ist sie gegenüber dem Rat und dem Parlament das Organ mit der schwächsten Legitimation durch die europäischen Bürger, zum anderen spricht es gegen eine wirksame Kontrollausübung, einem Organ selbst die Kompetenz zu geben, sich bzw. seine Mitglieder aus dem Amt zu entfernen. Verfahrensrechtlich könnte man insoweit wieder den Rechtsgedanken des Unbefan-

Siehe S. 64. Marschall von Bieberstein, in: Anschütz / Thoma, HdbDStR, Bd. I, S. 523. 471 Hierzu Wuttke, Die Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern in Deutschland und Frankreich, S. 6 ff. 472 Dietz / Fabian, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, S. 46. 469 470

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genheitsprinzips473 heranziehen, der eine Verfahrensmitwirkung von Beteiligten – als solche könnten die Kommissare zu qualifizieren sein – untersagt. Gleichwohl kann die Kontrolle der Kommission durch sich selbst mit der besonderen Struktur der Europäischen Union erklärt werden. Für die Kommission als Kollegialorgan gab es vor der seit Nizza vertraglich verankerten Befugnis des Präsidenten, einzelne Kommissare zum Rücktritt aufzufordern474, außer einem gemeinsamen freiwilligen Rücktritt keine Möglichkeit, einem Misstrauensantrag des Parlaments zuvorzukommen. Dieser hatte bei seiner Annahme gleichfalls zwingend den Rücktritt der gesamten Kommission zur Folge. Es musste somit immer die gesamte Kommission zurücktreten, auch wenn das Parlament nur einzelnen Mitgliedern misstraute. Durch das Amtsenthebungsverfahren, das die Kommission selbst gegen ein Mitglied anstrengt, ist somit eine Möglichkeit für die Kommission geschaffen, sich als Kollegium eines Kollegen zu entledigen, der nicht mehr tragbar erscheint. Sie kann auf diese Weise ein eigenes Verfahren gegen den betroffenen Kollegen einleiten und muss nicht einen Misstrauensantrag des Parlaments abwarten, der alle Kommissare gleichermaßen trifft. Indem sie dem Parlament zuvorkommt, können somit alle Kommissare bis auf den des Amtes enthobenen Kommissar im Amt bleiben. Diese Form der Verantwortlichkeit der einzelnen Kommissare auch der gesamten Kommission gegenüber resultiert daher aus der Gründungsstruktur der Kommission als Kollegialorgan, das grundsätzlich alle Kommissare für alle Entscheidungen als Kollegium gemeinsam verantwortlich macht,475 konkret aber dennoch die Möglichkeit geben möchte, diese gemeinsame Verantwortlichkeit nicht in jedem Fall einfordern zu müssen. Seit dem Vertrag von Nizza gibt es noch eine weitere Form der Verantwortlichkeit, nämlich die des einzelnen Kommissars gegenüber dem Kommissionspräsidenten. Ausdruck dieser Verantwortlichkeit ist die vertraglich verankerte Möglichkeit des Präsidenten, eine verpflichtende Rücktrittsaufforderung auszusprechen (Art. 217 Abs. 4 EG). An der bislang bestehenden Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens der Kommission gegenüber einem Kommissar verändert sich hierdurch nichts. Es ist lediglich eine weitere Form mit anderen formellen und materiellen Voraussetzungen hinzugekommen. So muss der Kommissionspräsident für eine Rücktrittsaufforderung nach Art. 217 Abs. 4 EG lediglich eine Billigung seines Kollegiums einholen. Der Rücktritt selbst wird dann durch den betroffenen Kommissar erklärt und vollzogen, ist aber zwingend. Für eine Einforderung der Verantwortlichkeit des einzelnen Kommissars gegenüber der Kommission gelten demgegenüber die in Art. 216 EG genannten VorausSiehe S. 125 ff. Siehe S. 203 ff. 475 EuGH, Rs. 5 / 85, AKZO, Slg. 1986, 2585 (2586), Rn. 3 und Schlussantrag des Generalanwalts Lenz vom 10. 6. 1986, Rn. 30 ff. 473 474

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setzungen. Die Amtsenthebung wird in diesem Fall durch den Gerichtshof durchgeführt. Da dieses Kontrollrecht die höheren rechtlichen Hürden aufstellt, verliert es durch die hinzugekommene Befugnis des Präsidenten an Bedeutung. Dennoch darf nicht unterschätzt werden, dass der Kommissionspräsident politischen Zwängen unterliegt und bei seiner Aufforderung an einen Kommissar zurückzutreten möglicherweise mit politischem Unmut aus dessen Heimatstaat rechnen muss. Die Richter des EuGH unterliegen solchen politischen Zwängen nicht. Sie genießen bei ihrer Entscheidungsfindung vertraglich verankerte Unabhängigkeit (Art. 223 Satz 1 EG), die durch die lange Amtsperiode von sechs Jahren (Art. 223 Satz 1 EG) abgesichert wird. Dadurch, dass die Richter des EuGH auch in tatsächlicher Hinsicht nicht auf das Wohlwollen eines Mitgliedstaats angewiesen sind, sind sie in ihrer Entscheidung unabhängiger als der Kommissionspräsident. Sie können daher eine Amtsenthebung auch dann vornehmen, wenn der Kommissionspräsident trotz seiner umfangreichen Kompetenzen aus politischen Gründen gehindert ist, von diesen Kompetenzen Gebrauch zu machen und einen Kommissar zum Rücktritt aufzufordern. Den höheren rechtlichen Hürden des gerichtlichen Amtsenthebungsverfahrens korrespondiert also eine weitaus geringere politische Abhängigkeit der Richter des EuGH. I. Amtsenthebungsverfahren Ein Amtsenthebungsverfahren, wie es sowohl für das deutsche476 als auch für das französische477 Staatsoberhaupt vorgesehen ist, gibt es allein für den Kommissionspräsidenten nicht. In allen Vertragsfassungen gab es allerdings einen Artikel, der die Amtsenthebung jedes Kommissionsmitglieds (also auch des Präsidenten) ermöglicht, wenn dieser erstens nicht mehr die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes erfüllt oder zweitens eine schwere Verfehlung begangen hat.478 Die beiden genannten Gründe für eine Amtsenthebung müssen streng getrennt werden. Erfüllt ein Kommissionsmitglied nicht mehr die Voraussetzungen für die Amtsausübung und wird deshalb seines Amtes enthoben, zieht dies keine finanziellen Einbußen nach sich, da diese Art der Amtsenthebung keine Sanktion darstellen soll. Als Voraussetzungen sind in Art. 213 Abs. 1 Satz 1, 3 EG nicht abschließend eine allgemeine Befähigung und die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit genannt. Ungeschrieben sind weiter die logischen Gründe enthalten, dass bei einer psychischen oder physischen Verhinderung ebenfalls eine Amtsenthebung stattfinden kann.479 Die erste Alternative betrifft somit objektive Gründe, die unabhängig von einer Verfehlung des jeweiligen Kommissionsmitglieds zum Tragen kommen. Siehe S. 64 ff. Siehe S. 86 ff. 478 Art. 12 Abs. 2 EGKSV; Art. 160 Abs. 1 EWGV; Art. 129 Abs. 1 EAGV, diese Artikel sind schließlich aufgegangen in Art. 13 FusV. Durch den Verfassungsvertrag hat sich an den Regelungen zum Amtsenthebungsverfahren nichts geändert. Art. III-347 VV entspricht insoweit dem aktuellen Art. 213 Abs. 2, 3 EG; Art. III-349 VV entspricht Art. 216 EG. 476 477

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Die zweite Möglichkeit hingegen, die eine Amtsenthebung nach sich ziehen kann, ist eine schwere Verfehlung. Als schwere Verfehlungen können die in Art. 213 Abs. 2 Satz 1, 2, 3, 5, 6 EG genannten Amtspflichtverletzungen gelten, die sowohl rechtlich sanktionierbare Pflichten betreffen, als auch Pflichten enthalten, die unter politisch-moralisch korrektes Verhalten fallen.480 Eine Verfehlung gemäß Art. 216 EG setzt somit keine Strafbarkeit voraus. Sie muss aber in jeden Fall schuldhaft erfolgt sein und eine gewisse Schwere erreichen. Es reicht somit nicht aus, nur eine Verfehlung nachzuweisen, sondern es muss noch ein qualitatives Mehr hinzukommen.481 Die Beurteilung, wann eine schwere Verfehlung vorliegt, obliegt dem EuGH, in dessen Rechtsprechung482 sich hauptsächlich vier Prüfungspunkte herausgebildet haben, anhand derer festgestellt werden kann, ob eine schwere Verfehlung vorliegt. Der erste Prüfungspunkt wird durch das Schutzobjekt gebildet. Verletzt der Kommissar eine in Art. 213 EG beschriebene primärrechtliche Pflicht wie z. B. das Gebot der Unabhängigkeit483 oder das Verbot einer entgeltlichen Berufsausübung, so wird ein Verstoß hiergegen schwerer wiegen als ein Verstoß gegen die sekundärrechtliche Verpflichtung der Kommissare, an den Sitzungen der Kommission teilzunehmen.484 Als zweiter Punkt werden die Folgen der Verletzung betrachtet. Die Beurteilung der Schwere der Folgen ist dabei sowohl an subjektive Einschätzungen gebunden als auch an aktuelle Geschehnisse. So wurde dem deutschen Kommissar Bangemann vorgeworfen, mit seinem Antrag, ihn vorzeitig von seinem Amt zu entbinden, um bei der spanischen Telefongesellschaft Telefónica arbeiten zu können, gegen die Karenzzeit aus Art. 213 Abs. 2 Satz 6 EG verstoßen zu haben.485 Als Bangemann zu seiner Entlastung anführte, er habe die bis dato üblichen 479 Im bislang einzigen Fall einer Amtsenthebung erlitt Kommissar Borschette im Mai 1976 einen Gehirnschlag, der ihn berufsunfähig machte. Aufgrund eines ärztlichen Attests enthob ihn der EuGH am 14. 7. 1976 von seinem Amt, hierzu Hummer, in: Grabitz / Hilf, EGKomm., Maastrichter Fassung, Art. 160, Rn. 5; Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 216, Rn. 3. 480 Wie z. B. die Pflicht der Kommissare, sich bei und nach Ablauf ihrer Tätigkeit als Kommissionsmitglied „ehrenhaft“ und „zurückhaltend“ zu verhalten, Art. 213 Abs. 2 Satz 6 EG. 481 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 216, Rn. 7. 482 EuGH, Rs. C-188 / 95 vom 2. 12. 1997, Fantask, Rn. 82; Schlussantrag des Generalanwalts Lenz, Rs. 47 / 86 vom 17. 3. 1987, ONIC, Rn. 26b und EuG, Rs. T-373 / 00 vom 27. 6. 2002, Tralli, Rn. 80 (nicht in der amtlichen Sammlung); EuG, Rs. T-317 / 94 vom 14. 5. 1998, Weig, Rn. 244; EuG, verb. Rs. T- 551 / 93, T-231 / 94, T-232 / 94, T-233 / 94 und T-234 / 94 vom 26. 4. 1996, Industrias Pesqueras Campos SA, Rn. 161 ff. 483 Die Vorschriften des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen machen den Kommissionsmitgliedern Vorgaben, welche Vorrechte und Befreiungen sie genießen und wann ihre Unabhängigkeit gefährdet sein könnte. ABl.EU C 310, S. 261 ff. vom 16. 12. 2004. Ebenso stellt der Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder Richtlinien für das private und öffentliche Handeln auf, an die sich die Kommissionsmitglieder zu halten haben, SEK (2004) 1487 / 2. 484 Art. 5, Satz 3 GO KOM, ABl. 2000 Nr. L 308, S. 26 vom 8. 12. 2000.

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Karenzzeiten eingehalten, entgegnete der Rat, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Santer-Affäre andere Maßstäbe gelten würden und dass die Folgen einer vorzeitigen Entbindung und der darauf folgenden Aufnahme einer Tätigkeit bei der Telefongesellschaft die Glaubwürdigkeit der Kommission stark beschädigen würden.486 An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass bei einer Beurteilung der Folgen der Verletzung nicht statische Kriterien greifen, sondern dass immer auch aktuelle Geschehnisse und Stimmungen einbezogen werden, die den Verstoß als schwerer erscheinen lassen können, als er es unter anderen Umständen wäre. Als weitere Punkte werden die Intensität der Verletzung487 und das Verhalten des Beschuldigten gewürdigt. Die Intensität ist dann schwerwiegend, wenn entweder eine grobe Pflichtverletzung vorliegt oder viele kleinere, die in ihrer Gesamtschau ebenfalls gravierend erscheinen.488 Beim Verhalten des Beschuldigten werden schließlich sein Unrechtsbewusstsein, Vorsatz oder Fahrlässigkeit bewertet.489 Letztlich sind aber auch diese Kriterien nur Anhaltspunkte für eine Bewertung, bei der der EuGH weitestgehend frei entscheiden kann, ob eine schwere Verfehlung vorliegt oder nicht. Es steht dem EuGH somit frei, sowohl wegen einer schweren rechtlichen Verfehlung als auch wegen einer schweren politischen Verfehlung eine Amtsenthebung auszusprechen. Liegt eine schwere Verfehlung gemäß Art. 216 EG vor, ordnet der EuGH die Amtsenthebung an. Ein Ermessensspielraum steht ihm bei Vorliegen einer schweren Verfehlung nicht zu.490 Liegen dagegen lediglich die Pflichtverletzungen gemäß Art. 213 Abs. 2 EG vor, hat der EuGH die Möglichkeit, Ruhegeldansprüche oder andere Vergünstigungen abzuerkennen. Tätig werden kann der EuGH dabei nur auf Antrag des Rates oder der Kommission, die diesen vorher mit einfacher Mehrheit491 beschließen. Das Parlament hingegen ist nicht antragsbefugt. Sobald ein Antrag des Rates oder der Kommission beim EuGH anhängig war, gab es in den Vorläuferverträgen der EWG492 und der 485 ABl. 1999 Nr. L 192, S. 55 vom 9. 7. 1999: Befassung des Gerichtshofs mit dem Fall Bangemann. 486 Die Parteien zogen schließlich ihre Klagen zurück (Bangemann hatte eine Schadensersatzklage gegen den Rat eingereicht), als die Prodi-Kommission eine Karenzzeit von einem Jahr festlegte und Bangemann die neue Regelung übernahm. ABl. 1999 Nr. L 16, S. 73 vom 17. 12. 1999. 487 Hierzu Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 216, Rn. 10 mit Nachweisen und Beispielen. 488 Hierzu Schlussantrag des Generalanwalts Lenz, Rs. 47 / 86 vom 17. 3. 1987, ONIC, Rn. 26b und EuG, Rs. T-373 / 00 vom 27. 6. 2002, Tralli, Rn. 80. 489 EuG, Rs. T-317 / 94 vom 14. 5. 1998, Weig, Rn. 244; EuG, verb. Rs. T-551 / 93, T-231 / 94, T-232 / 94, T-233 / 94 und T-234 / 94 vom 26. 4. 1996, Industrias Pesqueras Campos SA, Rn. 161 ff.; EuGH, Rs. C-188 / 95 vom 2. 12. 1997, Fantask, Rn. 82. 490 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 216, Rn. 16; Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 160, Rn. 14. 491 Bezüglich des Beschlusses der Kommission bedeutet dies, dass das betroffene Mitglied an der Abstimmung beteiligt werden darf, erforderlich ist allerdings nur eine einfache Mehrheit gemäß Art. 219 Satz 1 bzw. für den Rat gemäß Art. 205 Abs. 1 Satz 1 EG.

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EAG493 noch die Möglichkeit, den betroffenen Kommissar im Vorfeld zu suspendieren. Diese Vorschriften wurden jedoch nicht übernommen, was auch nicht notwendig ist, da es dem EuGH freisteht, gemäß Art. 243 EG einstweilige Anordnungen zu treffen. Betreffend die übrigen Kommissionsmitglieder kann der Kommissionspräsident gemäß Art. 217 Abs. 2 EG die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche ändern bzw. neu zuschneiden,494 was eine vorläufige Suspendierung ebenfalls als überflüssig erscheinen lässt. Ein Verfahren, das wegen einer schweren Verfehlung gemäß Art. 216 EG eingeleitet wurde, gab es bislang noch nicht. So ging es bei dem oben genannten Beispiel des Kommissars Bangemann um Ruhegeldansprüche gemäß Art. 213 Abs. 2 EG, nicht aber um ein Amtsenthebungsverfahren. Die Tatsache, dass es für den Kommissionspräsidenten kein Pendant zu dem deutschen und dem französischen Amtsenthebungsverfahren gibt, sondern dass seine Verantwortlichkeit lediglich in dem für alle Kommissare geltenden Verfahren eingefordert werden kann, lässt ihn wieder als einfaches Kollegiumsmitglied erscheinen. Insofern entspricht seiner ansonsten hervorgehobenen Stellung nicht auch eine, gegenüber der eines jeden anderen Kommissionsmitglieds, abweichende besondere Verantwortlichkeit. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass auch die Kommission ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihren Präsidenten anstrengen kann. Nach dem Vertragstext wurde mit dem Amtsenthebungsverfahren mithin keine besondere Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten begründet. Die Erklärung dafür liegt in der oben genannten Struktur der Europäischen Union, die die Kommission ursprünglich als Kollegialorgan konzipiert und somit auch für den Präsidenten keine besondere Verantwortlichkeit vorgesehen hat.

II. Misstrauensantrag Der Misstrauensantrag, den das Parlament gegen die Kommission stellen kann (Art. 201 EG), ist ein Ausdruck der Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem direkt legitimierten Parlament. Diesem wurde mit seiner Legitimation durch die europäischen Bürger auch ein Kontrollauftrag erteilt, welcher durch einen Misstrauensantrag ausgeübt wird. Der Misstrauensantrag des Parlaments gegen die Kommission hat zwei materielle Voraussetzungen. Zum einen darf er nur gegen die Kommission als Ganzes gerichtet sein, zu anderen darf er nur wegen „der Tätigkeit der Kommission“ eingebracht werden. Unter der Tätigkeit kann jedes der Amtsführung der Kommission 492 Art. 160 Satz 2, 3 EWGV. Durch eine einstimmige Entscheidung des Rates (Satz 2) oder durch einen Antrag des Rates oder der Kommission war eine Suspendierung durch den Gerichtshof möglich (Satz 3). 493 Art. 129 Satz 2, 3 EAGV. 494 Art. 217 Abs. 2 EG entspricht Art. III-350 VV.

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zurechenbare Verhalten verstanden werden.495 Formell ist der Antrag angenommen, wenn zwei Drittel der abgegebenen Stimmen, die gleichzeitig die Mehrheit der Parlamentarier repräsentieren müssen, zugestimmt haben. Die nähere Ausgestaltung regelt Art. 34 GO EP. Als Rechtsfolge müssen alle Kommissare geschlossen ihr Amt niederlegen. Der Misstrauensantrag des Parlaments richtet sich somit rechtlich gegen die gesamte Kommission. Faktisch ist es jedoch der Kommissionspräsident, der sanktioniert wird. Dies gilt freilich erst, seitdem dieser auch die Möglichkeit hat, seinerseits verbindlich eine Amtsniederlegung der Kommissare zu fordern, in der die Verantwortlichkeit der Kommissare gegenüber ihrem Präsidenten zum Ausdruck kommt (Art. 217 Abs. 4 EG). Es liegt dann in seiner Verantwortung, bereits im Vorfeld einen Misstrauensantrag zu vermeiden, der auf dem Verhalten eines seiner Kommissare beruht. So kann er den betreffenden Kommissar zum Rücktritt auffordern, eine Weisung aussprechen oder ihm seinen Zuständigkeitsbereich entziehen.496 Versäumt der Kommissionspräsident diese Möglichkeiten und zieht er einen vom Parlament als nicht mehr tragfähig erachteten Kommissar nicht zur Rechenschaft, dann kann das Parlament seinerseits die ihm zustehenden Kontrollrechte ausüben. Auch wenn sich das Misstrauen des Parlaments in der Sache lediglich gegen einen Kommissar richtet, muss dennoch die ganze Kommission zurücktreten, denn das einzige rechtliche Instrument, das dem Parlament die Möglichkeit gibt, den betreffenden Kommissar aus dem Amt zu entfernen, entfernt zugleich die gesamte Kommission. Diesen Antrag wird das Parlament daher nur einsetzen, wenn es keine andere Möglichkeit sieht, sich des betreffenden Kommissars zu entledigen. Da es mit der Rücktrittsaufforderung des Kommissionspräsidenten eine Möglichkeit gibt, gezielt einzelne Kommissare der Kommission zu verweisen, wird das Parlament die ihm gegebene Kompetenz nur einsetzen, wenn der Kommissionspräsident von keiner der ihm gegebenen Befugnisse Gebrauch macht und es diese Initiativlosigkeit angesichts der Schwere des Vorfalls für untragbar erachtet oder wenn der Kommissionspräsident selbst sanktioniert werden soll. In beiden Fällen ist es aber nicht mehr ein einzelner Kommissar, dem das Misstrauen ausgesprochen werden soll, sondern auch dem Kommissionspräsidenten selbst. Kommt es mithin zum Misstrauensantrag des Parlaments gegen die Kommission hat der Kommissionspräsident nach Auffassung des Europäischen Parlaments seine vertraglich auferlegte Führungsaufgabe nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen. Der Misstrauensantrag ist daher die Kontrollmöglichkeit des Parlaments, mit dem dieses die Möglichkeit hat, den Kommissionspräsidenten nachhaltig und verbindlich zu veranlassen, sich seiner Verantwortung zu stellen.

Bieber, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 201, Rn. 5. Art. 217 Abs. 2, 4 EG; Art. I-27 Abs. 3 Satz 2 VV i.V.m. Art. III-350 VV. Zu den einzelnen Möglichkeiten seiner politischen Führung siehe S. 155 ff. 495 496

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III. Zwischenergebnis Der Misstrauensantrag ist ebenso wie das Amtsenthebungsverfahren ein Instrument, um die Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten einzufordern. Diese Verantwortlichkeit besteht sowohl gegenüber dem Rat als auch gegenüber dem Parlament, die somit beide die Kontrollrechte für die europäischen Bürger ausüben. Eine Verantwortlichkeit besteht weiterhin grundsätzlich auch gegenüber der Kommission selbst, die ebenfalls ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Kommissionspräsidenten einleiten kann, was in der Praxis allerdings unwahrscheinlich ist und sich mit der historischen Entwicklung der Europäischen Union erklären lässt.497 Wird das Amtsenthebungsverfahren betrachtet, gelten für den Kommissionspräsidenten die gleichen Voraussetzungen wie für die einzelnen Kommissare. Anders ist dies beim Misstrauensantrag. Obwohl rechtlich auch hier die gesamte Kommission angesprochen wird, was ebenfalls auf die gleiche Verantwortlichkeit schließen lässt, kommt der Misstrauensantrag nur zur Anwendung, wenn das Parlament kein Vertrauen mehr zur Person des Kommissionspräsidenten hat. Dieses Verfahren wird somit angewendet, wenn das Parlament dem Kommissionspräsidenten gegenüber seine Einstands- und Rechenschaftspflicht einfordern möchte, mit dem dann zwangsläufig der Rücktritt der gesamten Kommission einhergeht. Der Misstrauensantrag hat sich damit zu einem Verfahren entwickelt, mit dem die Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten eingefordert werden kann. Obwohl der Vertragstext keine Vorschrift enthält, die eine besondere Verantwortlichkeit explizit für den Kommissionspräsidenten begründet, liegt diese dennoch faktisch vor. Insgesamt ist der Kommissionspräsident dreifach verantwortlich: gegenüber dem Rat, gegenüber dem Parlament und gegenüber der Kommission. Dieser gesteigerte Grad an Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten kann zum einen Ausdruck seiner großen Machtbefugnis sein, die unter demokratischen Aspekten kontrolliert werden muss. Zum anderen könnte aber mit einer derart großen Kontrolle eine genau gegenteilige Entwicklung bezweckt werden. Dem Kommissionspräsidenten könnten sprichwörtlich „Fesseln“ angelegt werden, die ihn gerade nicht zu einer Person mit großem rechtlichen und politischen Einfluss werden lassen. Mit einem hohen Maß an Kontrollinstrumenten könnte daher auch ein Rückschritt für das Amt des Kommissionspräsidenten verbunden werden, weil sie ihm Handlungsbefugnisse nehmen und ihn daher einschränken. Seine dreifache Verantwortlichkeit wäre dann kein Ausdruck eines starken Oberhaupts, sondern vielmehr einer dreifachen Abhängigkeit. Dem steht allerdings entgegen, dass hohe Hürden zu nehmen sind, bis mit den einzelnen Verfahren die in den Normen genannten Rechtsfolgen erreicht werden. 497

Siehe S. 131 ff.

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Bei einem Misstrauensvotum beispielsweise bedarf es einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit der Parlamentsmitglieder (Art. 201 Satz 2 EG). Darüber hinaus werden die Kompetenzen des Kommissionspräsidenten durch die Kontrollrechte nicht beschnitten. Es geht bei der Kontrolle des Kommissionspräsidenten durch Rat, Parlament und Kommission lediglich um die politische und rechtliche richtige Ausübung der Kompetenzen durch den Kommissionspräsidenten. Die Kontrollrechte bedeuten daher nur dann eine Einschränkung seiner rechtlichen und politischen Macht, wenn ihre Ausübung durch die Kontrollorgane aufgrund des Vorliegens der vertraglich festgelegten Tatbestandsvoraussetzungen gestattet ist. Allein durch die dreifache Kontrolle werden dem Kommissionspräsidenten daher keine Fesseln angelegt. Übt er die ihm gegebenen Kompetenzen allerdings unsachgemäß aus, dann liegt in den Kontrollinstrumenten die aus demokratischen Gesichtspunkten erforderliche Möglichkeit, seine Verantwortlichkeit gegenüber Rat, Parlament und Kommission geltend zu machen. Dieser große Adressatenbereich stärkt mithin gleichfalls die These des Kommissionspräsidenten als Unionsoberhaupt in einer präsidial ausgerichteten Europäischen Union. Die sehr hohe Mehrheitsschwelle im parlamentarischen Misstrauensvotum unterstützt diese These zusätzlich. Im Übrigen gleicht das Misstrauensvotum vielmehr einem Impeachment-Verfahren als einem politischen Misstrauensvotum.498 Würde der Kommissionspräsident nicht über ein großes Machtpotential verfügen, gäbe es auch nicht die Notwendigkeit einer besonders starken Kontrolle, eingefordert durch gleich drei Unionsorgane. Diese Kontrollmöglichkeiten, mit denen seine Verantwortlichkeit eingefordert wird, sind ein weiteres Indiz für seine hervorgehobene Stellung in der Europäischen Union.

D. Einfluss des Kommissionspräsidenten auf die Auswahl der Kommissionsmitglieder Der Einfluss des Kommissionspräsidenten bei der Auswahl der übrigen Kommissionsmitglieder wurde mit jeder Vertragsänderung weiter ausgebaut. Was ohne jede rechtliche Einflussnahmemöglichkeit des Kommissionspräsidenten begann, entwickelte sich über ein Anhörungsrecht zu einem echten Mitentscheidungsrecht. So war der Kommissionspräsident zunächst in die Personalentscheidungen über die Kommissare überhaupt nicht eingebunden (vgl. Art. 11 Abs. 1 FusV). Vor dem Vertrag von Amsterdam erfolgte die Benennung der Kommissare in „Konsultation“ mit dem designierten Präsidenten (Art. 158 Abs. 2 UAbs. 2 EGV). Dieses Konsultationsrecht erlaubte dem Präsidenten zwar einen gewissen politischen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission, er hatte aber keine Möglichkeit, die Ernennung eines Kommissars zu verhindern.499 Zwar sollte der künftige Kom498 Schild, Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur?, integration 2005, 33 (45 f.). 499 Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 158, Rn. 19.

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missionspräsident seit dem Tindemans-Bericht über die Europäische Union500 informell und seit dem Vertrag von Maastricht formell bei der Auswahl der übrigen Kommissionsmitglieder konsultiert werden, doch geschah es dennoch, dass sich die Regierungen nicht an eine negative Stellungnahme des Kommissionspräsidenten hielten und eine ihm nicht genehme Persönlichkeit als Kommissar aufstellten. So äußerte Kommissionspräsident Thorn (1981 – 1985) Bedenken gegen das deutsche Kommissionsmitglied Haferkamp (1967 – 1985). Dieser wurde dennoch von der deutschen Regierung aufgestellt und gelangte auch ins Amt.501 Da der Kommissionspräsident keine Möglichkeit hatte, diese Nominierung zu verhindern, bestand die Gefahr eines angespannten Verhältnisses zwischen beiden Kollegen, was einem Vertrauensverhältnis und einer harmonischen Arbeitsatmosphäre nicht dienlich war. Größere Einflussmöglichkeiten des Präsidenten bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder könnten daher den Arbeitsalltag erleichtern.

I. Vertrag von Amsterdam Nach dem Vertrag von Amsterdam ist an die Stelle eines bloßen Anhörungserfordernisses des Kommissionspräsidenten ein Zustimmungserfordernis („im Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten“) getreten (Art. 214 Abs. 3 EG). Die Regierungen der Mitgliedstaaten benennen daher einvernehmlich mit dem Kommissionspräsidenten die übrigen Kommissionsmitglieder. Dabei werden die Kandidaten von den jeweiligen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat vorgeschlagen. Da jede Regierung ein Interesse daran hat, dass ihr Kandidat auch auf die Zustimmung der übrigen Mitgliedstaaten stößt, versucht sie, nur Kandidaten vorzuschlagen, die eine Chance haben, von den übrigen Mitgliedstaaten und dem Kommissionspräsidenten akzeptiert zu werden. Vorgeschlagen wurden bisher nur eigene Staatsangehörige, obwohl dies vertraglich nicht vorgegeben und es somit durchaus möglich ist, einen Kandidaten mit einer fremden Staatsangehörigkeit zu nominieren. Das designierte Kollegium stellt sich sodann geschlossen einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments, das mit absoluter Mehrheit entscheidet. Unter einem Zustimmungsvotum wird genau wie im Fall des Kommissionspräsidenten die Mehrheit der im Parlament abgegebenen Stimmen verstanden (Art. 33 Abs. 4 Satz 2 GO EP)502. Abgestimmt wird ebenfalls namentlich (Art. 33 Abs. 4 Satz 3 GO EP). Durch das neue Ernennungsverfahren, das den Regierungen der Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, im Einvernehmen mit dem designierten Kommissionspräsidenten die übrigen Kommissare auszuwählen, vergrößert sich nicht nur seine Autonomie, sondern insbesondere auch sein politischer Einfluss gegenüber den 500 501 502

Vom 29. 12. 1975, Bull.EG 1976, Beilage 1. Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 214, Rn. 22. GO EP i.d.F. vom 2. 8. 1999, ABl. 1999, Nr. L 202, S. 1.

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Regierungen der Mitgliedstaaten. Es ist nicht mehr möglich, allein mit nationalen Absprachen zu entscheiden, wer der zukünftige Kommissar werden soll. Der Kommissionspräsident agiert daher nicht mehr nur als primus inter pares, sondern er entscheidet mit, wer in „seiner“ Kommission arbeiten soll. Als weitere Entwicklung ist auffällig, dass die Kandidatenliste, die vom Rat im Einvernehmen mit dem Präsidenten erstellt wird, als „Liste von Persönlichkeiten“503 vorgestellt wird. Durch diese Heraushebung der einzelnen Persönlichkeiten wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Einzelnen gelenkt, dessen Stärken und Schwächen in den Medien diskutiert werden. Die Gesamtverantwortlichkeit und die Einheitlichkeit des Kollegiums treten in den Hintergrund, wenn weniger die Einheit und Gesamtverantwortlichkeit des Kollegiums betont und vielmehr auf die einzelnen Kandidaten und ihren politischen Hintergrund abgestellt wird. Die Herausstellung der Einzelpersönlichkeiten deutet mithin eine Personalisierung der Kommission und möglicherweise eine Abkehr vom Kollegialsystem an.504 II. Vertrag von Nizza Die Änderungen des Amsterdamer Vertrags, die mit dem Vertrag von Nizza beschlossen wurden, stellen eine weitere „fundamentale“505 Neuerung dar. Das Besondere an dem neu gefassten Art. 214 Abs. 2 EG ist, dass entgegen älteren Vorschriften in allen Phasen der Ernennung der Kommission und ihres Präsidenten die qualifizierte Mehrheit zur Anwendung kommt. Das bedeutet, dass nicht nur der Kommissionspräsident mit einer qualifizierten Mehrheit benannt wird, sondern dass auch die von den Mitgliedstaaten erstellte Kandidatenliste mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden muss. Da die Mitgliedstaaten traditionell immer nur einen Kandidaten für einen ihnen zustehenden Posten vorschlagen, bezieht sich die in Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG angesprochene Liste, die mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden kann, auf das endgültige Ergebnis, das aus den Vorschlägen aller Mitgliedstaaten besteht.506 Auch über diese Liste wird mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt, außerdem muss der designierte Kommissionspräsident einverstanden sein. Damit ist eine Abkehr vom traditionellen Einstimmigkeitsprinzip vollzogen. Die traditionelle Konsensfindung für die Ernennung der Kommission wird somit – zumindest theoretisch – durch einen Mehrheitsbildungsprozess ersetzt, der dem intergouvernementalen Charakter, der bis zur Befassung des Europäischen Parlaments kennzeichnend für das Ernennungsverfahren war, ein Ende setzt. Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 214, Rn. 25. Siehe die rechtliche und politische Beurteilung der Anhörungen, S. 184 ff. und S. 188 ff. 505 So Monar, Die Kommission nach dem Vertrag von Nizza: ein gestärkter Präsident und ein geschwächtes Organ?, integration 2001, 114 (117). 506 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 214, Rn. 9. 503 504

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Unabhängig davon, ob es zwischen den Staats- und Regierungschefs tatsächlich zu Mehrheitsentscheidungen kommen wird, bringen die neuen Regelungen allein durch die Möglichkeit ihrer Anwendung eine neue Dynamik in das institutionelle Gefüge. Die bloße Möglichkeit, überstimmt zu werden und dann vielleicht weniger als bei jedem Kompromiss erreicht zu haben, wird die Kompromissbereitschaft der Staats- und Regierungschefs bzw. ihrer Vertreter vergrößern. Selbstverständlich darf die Möglichkeit des Überstimmtwerdens nicht überbewertet werden, da die Verantwortlichen weiterhin versuchen werden, möglichst viele Regelungen im Konsens zu beschließen, um eine harmonische Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft für die Bereiche zu schaffen, in denen das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Dennoch übt allein die vertragliche Regelung, im Mehrheitsverfahren zu entscheiden, Druck auf „unwillige“ Mitgliedstaaten aus, was die Möglichkeit schafft, sich nicht notwendigerweise immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen zu müssen. Gerade dies führte in der Vergangenheit bei der Benennung des Kommissionspräsidenten auch zu schwächeren Kandidaten. Wird das Ziel einer weiter fortschreitenden europäischen Integration verfolgt, ist diese Regelung nicht nur zuträglich, sondern notwendig.

III. Verfassungsvertrag Nach dem ursprünglichen Konventsentwurf, der dem amtierenden italienischen Ratvorsitzenden am 18. Juni 2003 in Rom übergeben wurde, sollten die Entscheidungsbefugnisse des Kommissionspräsidenten erweitert werden. Er sollte seine Kommissare selbst benennen, indem er sie aus einer Vorschlagsliste der jeweiligen, durch das Rotationsprinzip bestimmten Mitgliedstaaten auswählen sollte (Art. I-26 Abs. 2 VVE). Jeder Staat hätte dann eine Liste mit drei Kandidaten beider Geschlechter erstellt, von denen der Kommissionspräsident eine Person benannt hätte. Der kurzzeitig aufgekommene Gedanke, zumindest einen Oppositionspolitiker in die Liste aufzunehmen, wurde im Nachhinein vom Verfassungskonvent nicht berücksichtigt. Der Rat sollte nicht mehr beteiligt werden, sondern der Kommissionspräsident hätte sich direkt mit den Regierungen der Mitgliedstaaten auseinandersetzen müssen. Dies hätte es ihm möglicherweise erlaubt, eigene Alternativvorschläge zu präsentieren und diese dann auch sofort zu verhandeln. Diese Möglichkeiten wären nicht in diesem Maße gegeben gewesen, wenn der Rat als Verhandlungspartner des Kommissionspräsidenten fungierte, da aufgrund von wechselnden Koalitionen und größerem Abstand zu möglichen Kandidaten aus den Nationalstaaten eine wesentlich geringere Verhandlungsflexibilität gegeben wäre. In der endgültigen, von der Regierungskonferenz in Rom am 29. Oktober 2004 verabschiedeten Version wird dem Kommissionspräsidenten nicht mehr die Möglichkeit eingeräumt, aus drei Bewerbern zu entscheiden. Grund für die Streichung dieser Auswahlmöglichkeit war unter anderem die Befürchtung, dass eine Vorauswahl von drei Persönlichkeiten das Ansehen der nicht vom Kommissionspräsiden-

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ten ausgewählten Kandidaten beschädigen könnte.507 Möglicherweise könnten besonders qualifizierte Kandidaten aus diesem Grund eine Kandidatur ablehnen. Ferner wollten die Mitgliedstaaten die Auswahl der endgültigen Bewerber nicht dem Kommissionspräsidenten überlassen. Das Verfahren, wer in den Bewerberkreis aufgenommen wird, sollte schon auf mitgliedstaatlicher Ebene vollzogen werden, so dass dem Kommissionspräsidenten schließlich jeweils ein Bewerber präsentiert wird. In der geänderten Regelung des Art. I-27 Abs. 2 Satz 2 VV wird somit nur noch von Vorschlägen der Mitgliedstaaten gesprochen, nach denen der Rat im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten eine Liste mit Kandidaten erstellt. Im Wesentlichen wird damit das bislang geltende Verfahren beibehalten, auch wenn die endgültige Ernennung nicht mehr vom Rat (Art. 214 Abs. 2 Satz 4 EG), sondern vom Europäischen Rat durchgeführt wird (Art. I-27 Abs. 2 Satz 3 VV). Diese Regelung, die die Diskussion über die Bewerber in die einzelnen Mitgliedstaaten verlagert und dem Kommissionspräsidenten die Möglichkeit nimmt, aus drei Bewerbern auszuwählen, schwächt ihn, weil sie ihn an die personellen Vorschläge der Mitgliedstaaten bindet. Zwar besitzt der Kommissionspräsident die Möglichkeit, direkt mit den Mitgliedstaaten zu verhandeln, falls ihm der präsentierte Kandidat als ungeeignet erscheint bzw. den betreffenden Kandidaten abzulehnen, so dass eine einvernehmliche Bewerberliste nicht zustande kommt. Dies liefe jedoch auf eine Konfrontation mit dem betroffenen Mitgliedstaat über mögliche Ersatzkandidaten hinaus. Bei der Auswahlmöglichkeit aus einer Dreierliste hingegen wäre das Konfrontationsrisiko geringer, weil die Regierung von vornherein gezwungen wäre, drei Kandidaten zu präsentieren, die sie sämtlich als geeignet erachtet. Die in der Regierungskonferenz neu eingeführte Regelung stellt somit keinen Fortschritt im Hinblick auf das Ziel einer immer enger werdenden europäischen Integration dar.508 Das bislang geltende Verfahren wird im Wesentlichen beibehalten. Einen Fortschritt hätte es hingegen bedeutet, die Auswahl der Kommissare mehr in das Ermessen des Kommissionspräsidenten zu stellen. Nehmen die Staats- und Regierungschefs dieses von ihnen definierte Ziel ernst, werden sie nicht umhin kommen, sukzessiv immer mehr Befugnisse auf europäische Organe zu übertragen. Hinzugekommen ist ferner eine weitere Voraussetzung, die die ohnehin schon geltenden Kriterien der allgemeinen Befähigung und der vollen Unabhängigkeit erweitert. Die Kandidaten sollen gemäß Art. I-26 Abs. 4 VV nun auch im Hinblick auf ihren Einsatz für Europa ausgewählt werden. Dieses Kriterium ist freilich genauso unbestimmt wie jenes der allgemeinen Befähigung. Des Weiteren sollte es zunächst nach dem Konventsentwurf Kommissare ohne Stimmrecht geben, die aus allen, nach dem Rotationsprinzip, nicht in der Kommis507 So Fischer als Begründung in seinem Änderungsvorschlag zu Art. 18a; http: //europeanconvention.eu.int/Docs/Treaty/pdf/41899/18bisFischer.pdf (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 508 Vgl. die Präambeln des EG-Vertrags und des Verfassungsvertrags.

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sion vertretenen Mitgliedstaaten stammen sollten (Art. I-25 Abs. 3 Satz 4 VVE). Die Kommissare ohne Stimmrecht wurden nach dem Entwurf vom Kommissionspräsidenten ernannt. Da der Entwurf vorschrieb, dass alle Mitgliedstaaten, die keinen Kommissar mit Stimmrecht stellen, einen Kommissar ohne Stimmrecht in die Kommission entsenden können, hätte der Kommissionspräsident zwar bezüglich der Anzahl und Staatsangehörigkeit kein Auswahlrecht gehabt, doch hätte die personelle Wahl der Mitgliedstaaten sein Einverständnis finden müssen. In der Einführung dieser Kommissare ohne Stimmrecht, die man treffend als Kommissare zweiter Klasse509 bezeichnen kann, wird das Bemühen des Konvents deutlich, einen Verfassungsvertrag zu schaffen, der die Voraussetzungen für eine arbeitsfähige Kommission bietet. Dabei stand der Konvent vor dem Dilemma, dass es sein Vertrag selbst ist, der im Einstimmigkeitsverfahren angenommen werden muss. Er durfte somit keine Regelungen enthalten, mit denen sich bestimmte Staaten überhaupt nicht einverstanden erklären konnten. Der mögliche Verlust des Einflusses in der Kommission durch den Präsenzverlust war einer dieser Punkte. So kam der Kompromiss zustande, der eine kleinere Kommission mit 15 Mitgliedern ergab und zugleich den nicht vertretenen Staaten Kommissare ohne Stimmrecht zubilligte, deren Funktion sich freilich nicht aus dem Vertrag ergab. Möglicherweise wären sie vom Kommissionspräsidenten den Europäischen Kommissaren zugeordnet und dann beratend tätig geworden. Dennoch hätten auch diese Kommissare der Kommission angehört und hätten sich ebenso wie ihre Kollegen mit Stimmrecht den Anhörungen und dem Votum des Parlaments stellen müssen. Bei der folgenden Regierungskonferenz am 12. / 13. Dezember 2003 in Brüssel hatte diese Regelung keinen Bestand. Da auch eine anders lautende Einigung nicht erzielt werden konnte, führte dieser politisch sehr umstrittene Punkt schließlich mit zum Scheitern der ersten Regierungskonferenz.510 Der Kompromiss, der von den Staats- und Regierungschefs am 18. Juni 2004 in Brüssel erzielt wurde, bestimmt nun, dass bis 2014 jedes Land einen Kommissar stellen darf und erst danach nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten einen Kommissar stellen (Art. I-26 Abs. 6 Satz 1 VV). Die jeweiligen Kommissare sollen nach einem gleichberechtigten System der Rotation ausgewählt werden, deren Grundsätze ebenfalls im Vertrag festgelegt sind (Art. I-26 Abs. 6 Satz 2 VV). Bis zum Jahr 2014 führt diese Regelung dazu, dass 27 oder sogar 28 Kommissare in der Kommission sitzen, deren Arbeitsbereiche sich – mangels ausreichender Betätigungsfelder – überschneiden können.511 Eine solch große Zahl von Kommissaren hätte auch Auswirkungen auf die politische Führung des Kommissionspräsidenten. Er wäre an die große Anzahl von Kommissaren gebunden und müsste daher bei der Aufteilung seiner Ressorts sprichwörtlich alle Kommissare „versorgen“. Mit andeSo Epping, Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (829). 12. / 13. 12. 2003 in Brüssel, CIG 60 / 03 ADD 1 vom 9. 12. 2003, ADD 2 vom 11.12. 2003. Hierzu Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, 165 (183). 511 Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 274. 509 510

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ren Worten würde sich die Anzahl der Kommissare nicht nach der Politik des Kommissionspräsidenten richten, sondern die Politik orientierte sich an der Anzahl der Kommissare. Sicherlich ist es auch derzeit so, dass dem Kommissionspräsidenten eine starre Anzahl von Kommissaren zur Verfügung steht. Doch genau hier könnten Reformüberlegungen ansetzen. Obwohl diese Argumente gegen eine Vergrößerung der Kommission und die Sorge um eine Schwächung der Handlungsfähigkeit der Kommission den Teilnehmern des Rates ebenfalls präsent waren512, war die Option, die 2014 greifende Regelung schon früher einzuführen, nicht vermittelbar. Besonders für die neuen Mitgliedstaaten war es wichtig, dass sie mindestens für zehn Jahre in der Kommission vertreten sind. Nicht nur ihnen fällt ein Verzicht auf die Souveränität mitunter noch schwer.513 Dennoch bleibt der Kritikpunkt bestehen, dass es – geht man von der Ratifizierung des Verfassungsvertrags aus – erst nach 2014 zur Schaffung neuer arbeitsfähiger Strukturen kommen wird, wenn die Anzahl der Kommissare nur noch zwei Dritteln der Mitgliedstaaten entspricht. Bei einer Anzahl von 27 Mitgliedstaaten würde die Kommission somit – einschließlich Kommissionspräsident und Außenminister – aus 18 Mitgliedern bestehen. Gegen eine solche Verkleinerung der Kommission wird angeführt, dass ihr damit ein Legitimationsverlust514 oder zumindest ein Akzeptanzverlust515 drohe. Diese Argumentation mag zutreffen, wenn es sich bei den Kommissaren um Vertreter ihrer Mitgliedstaaten handelt, die von diesen ausgewählt werden, um in der Kommission nationale Interessen zu vertreten. In diesem Fall könnte wohl auch ein Akzeptanzverlust konstatiert werden, denn der Mitgliedstaat, der keinen Kommissar entsandt hätte, hätte möglicherweise Schwierigkeiten, eine ihn betreffende schmerzhafte Entscheidung zu akzeptieren. Aus dieser Konstellation könnten sich möglicherweise politische Konflikte ergeben. Diese Argumentation trifft jedoch zumindest aus rechtlicher Perspektive nicht zu. Die Konsequenzen, die sich aus einer Verkleinerung der Kommission ergeben, hängen von ihrem Handlungsauftrag ab. Dieser ist aber eindeutig vertraglich niedergelegt. Die Kommission ist ein Organ, das eben nicht nationale Interessen vertritt, sondern zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft handeln soll.516 Hinweise, wie im Rahmen der Amtsführung das „allgemeine Wohl“ zu verstehen ist, bieten 512 Bereits seit Beginn der achtziger Jahre gab es Stimmen, denen zufolge eine zu große Mitgliederzahl die Effizienz der Kommission spürbar vermindere. So z. B. Rhein, Ernennung und Zusammensetzung der EG-Kommission, EA 1982, S. 145 ff. 513 So der damalige Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zur Einigung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf eine Europäische Verfassung vom 2. 7. 2004. 514 So Bauer, Orientierungsnot im Machtdreieck: Die Europäische Kommission auf der Suche nach einem neuen Leitbild, integration 2005, 47 (53). 515 Müller-Graff, Strukturmerkmale des neuen Verfassungsvertrages für Europa im Entwicklungsgang des Primärrechts, integration 2004, 186 (199). 516 Vgl. Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG.

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die Zielsetzungen und die Präambel des EG-Vertrags.517 Die Kommissare müssen Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten und werden nach dem Verfassungsvertrag sogar aufgrund ihres Einsatzes für Europa ausgewählt (Art. I-26 Abs. 4 VV).518 Damit besteht ein vertragliches Verbot für einen Kommissar, sich als Vertreter seines Nationalstaates zu begreifen und mithin die Interessen seines Heimatstaates zu protegieren, weil in einem solchen Fall eben keine unabhängige Entscheidungsfindung im Sinne Europas mehr möglich ist. Da also die Kommission eine Vertretung europäischer Interessen ist und in diesem Sinne ihre Entscheidungen trifft, kann es jedenfalls aus rechtlicher Sicht keinen Akzeptanzverlust in einem Mitgliedstaat ohne kommissarische Vertretung geben. Ebenso ist die Kommission nicht weniger legitimiert, wenn nicht jeder Staat einen Kommissar stellt. Alle Unionsbürger wählen nach wie vor die Entscheidungsträger im Europäischen Rat und im Europäischen Parlament, welche dann ihrerseits die Kommission legitimieren. Möglicherweise mag es in der Praxis vorkommen, dass sich Kommissare ihren Heimatstaaten verpflichtet fühlen und diese unterstützen möchten. Dies entspricht aber nicht ihrer Aufgabe und ist nicht Sinn und Zweck der Europäischen Kommission als Gemeinschaftsorgan. Solche Beobachtungen dürfen daher nicht zur Grundlage einer rechtlichen Argumentation gemacht und schon gar nicht für eine Begründung herangezogen werden, die die Lösung in dem Erhalt des Status quo sieht. Es sollten im Gegenteil besondere Anstrengungen unternommen werden, die Aufgabe der Kommission als unabhängiges Gemeinschaftsorgan zu betonen. Auf keinen Fall dürfen Fälle falsch verstandener Unterstützung für den Heimatstaat hingenommen und daraus geschlossen werden, die Kommission könne bei einer kleineren Mitgliederzahl ein Akzeptanzproblem bekommen. Dies hieße, auf der Grundlage eines vertragswidrigen Ansatzes Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Im Gegenteil müssen alle Anstrengungen darauf verwandt werden, vertragswidrigen Tendenzen keine allgemeine Billigung zu teil werden zu lassen.

IV. Zwischenergebnis Bei der Auswahl der Kandidaten, aus denen sich die zukünftige Kommission zusammensetzen soll, wird sehr deutlich, wie stark der Einfluss des Kommissionspräsidenten gestiegen ist. Hatte er zu Beginn der europäischen Integration überhaupt keine Möglichkeit, die Zusammensetzung der Kommission zu beeinflussen, hängt ihre Zusammensetzung heute und in Zukunft von seinem Einverständnis ab. Dies steht als besonders starkes Indiz für die veränderte Stellung des Kommissionspräsidenten innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union. Seine vormalige Position als primus inter pares ist spätestens mit diesem Auswahl517 518

Breier, in: Lenz / Borchardt, EG-Komm., Art. 213, Rn. 5. Vgl. auch Art. 213 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EG.

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recht obsolet. Der Grund hierfür liegt in einer zunehmenden Integration der Europäischen Union, die es bedingt, Kompetenzen auf gemeinsame Organe wie z. B. die Kommission zu übertragen. Der Kommissionspräsident, der an der Spitze eines solchen Organs steht, vergrößert daher zusammen mit der Kommission seinen Einfluss und seine Bedeutung. Die bis heute andauernde Entwicklung belegt, dass der Kommissionspräsident durch den Erhalt immer größerer Einflussmöglichkeiten seine politische Stellung gegenüber den Mitgliedstaaten ausbaut. Dass sich der Kommissionspräsident seine Kommissare nicht selbstständig aussuchen kann und sich insofern nach den Vorgaben der Mitgliedstaaten zu richten hat, erklärt sich mit der besonderen Struktur der Europäischen Union.519

E. Kompetenzen des Kommissionspräsidenten Betrachtet man die Kompetenzen, die das Handeln des Kommissionspräsidenten bestimmen, genügt es für ein umfassendes Bild des Kommissionspräsidenten nicht, sich lediglich auf das Primärrecht zu beschränken, sondern es müssen alle Wirkungsebenen einbezogen werden. So kann das Handeln des Kommissionspräsidenten in vier Ebenen unterteilt werden. Die erste und wichtigste Ebene bildet das Primärrecht. Bereits hier wird der Status des Präsidenten festgelegt, der allerdings durch die weiteren Ebenen noch konkretisiert wird (vgl. Art. 217 EG bzw. Art. I-26 Abs. 3 VV). Auf der zweiten Ebene des Sekundärrechts werden durch den Rat im Zusammenwirken mit dem Parlament weitere Regelungen erlassen. Bedeutung haben hier z. B. die Haushaltsordnung und das Statut der Beamten. Zur Haushaltsordnung hat die Kommission eine Neufassung vorgeschlagen, die weit reichende Änderungen in der Arbeitsweise und der Organisation der Kommission herbeiführen soll.520 Die Haushaltsordnung als Grundlage für die Effizienz oder Ineffizienz der Kommission bestimmt zu einem wesentlichen Teil, ob die Kommission als ausführende Verwaltung nach ökonomischen Prinzipien operieren kann.521 Auf der dritten Ebene handelt es sich um Regeln, die von der Kommission selbst gesetzt werden. Hierbei handelt es sich um die Geschäftsordnung, Durchführungsregelungen für die Haushaltsordnung und das Beamtenstatut. Auch der Verhaltenskodex522 und die Regelungen für die Zusammensetzung der Kabinette523 zählen hierzu. Weiterhin gibt es Organisationsmaßnahmen der Kommission wie etwa die Bildung von Arbeitsgruppen der Kommissare.524 Die Rolle, die der Kommissionspräsident 519 520 521

Siehe S. 147 f. KOM 2000 (461) vom 26. 7. 2000. Nemitz, in: Hummer, Rechtsfragen in der Anwendung des Amsterdamer Vertrages, 119

(120). Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder, SEK (2004) 1487 / 2. Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485. 524 Nemitz, in: Hummer, Rechtsfragen in der Anwendung des Amsterdamer Vertrages, 119 (121). 522 523

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bei den Beschlüssen der Kommission auf der zweiten und dritten Ebene spielt, folgt maßgeblich aus den Kompetenzen, die ihm durch das Primärrecht zugebilligt werden. Anhand dieser und der darauf aufbauenden Folgeregelungen bemisst sich das Potential, das in dem Amt des Kommissionspräsidenten steckt. Auf der vierten Ebene sind schließlich die Arbeitspraxis und informelle Regelungen der Kommission platziert, welche für den praktischen Einfluss des Kommissionspräsidenten nicht zu unterschätzen sind. Arbeitspraxis und informelle Regelungen sind zwar zumeist wenig transparent, doch sind sie für eine funktionierende Behörde unerlässlich. Ebenfalls lassen sich auf diesem Weg unklare Vorschriften regeln oder Problemen unbürokratische Abhilfe schaffen.

I. Darstellung nach außen Die Außendarstellung ist eine der Kompetenzen, die sowohl der deutsche Bundespräsident als unselbstständiges Staatsoberhaupt, als auch der französische Staatspräsident, der exemplarisch für die selbstständigen Staatsoberhäupter steht, ausübt. Handelt es sich um ein selbstständiges Staatsoberhaupt mit Regierungskompetenzen, können diese zusätzlich in der Außendarstellung zum Tragen kommen. Grundsätzlich dient die Außendarstellung als Kernbereich staatlicher Souveränität der Verkörperung des Staates in seiner Gesamtheit gegenüber anderen Staaten und internationalen Organisationen.525 Weder die Europäische Union noch die Europäischen Gemeinschaften sind ein Staat. Die Europäische Gemeinschaft setzt sich aus Staaten zusammen, hat aber selbst trotz ihrer vertraglich verankerten Rechtspersönlichkeit (Art. 281 EG) keine Staatsqualität erreicht.526 Dies gilt gleichermaßen nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags, der der Europäischen Union zwar eine Rechtspersönlichkeit zugesteht (Art. I-7 VV), damit aber keine Veränderungen hinsichtlich ihrer Staatsqualität verbindet. Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften sind daher nicht wie Staaten auf völkerrechtlicher Ebene uneingeschränkt rechts- und handlungsfähig, was ein wesentliches Element der Staatsqualität darstellt.527 Als supranationale Organisationen besitzen die Europäischen Gemeinschaften aber eine partikulare Völkerrechtssubjektivität, d. h. sie sind in ihrer Rechtspersönlichkeit beschränkt auf die in den jeweiligen Verträgen niedergelegten Aufgaben.528 Eine Außendarstellung der Europäischen Union kann daher gleichfalls nur in den Gebieten stattfinden, die der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten 525 Seidel, Der Bundespräsident als Träger der auswärtigen Gewalt, S. 76; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 381. 526 Siehe S. 52 f. 527 Hierzu Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5, Rn. 7 ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, § 35 ff. 528 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 17.

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übertragen wurden und die sie nicht selbst beanspruchen. Die Kompetenzen, die der Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten zugewiesen wurden, lassen sich in so genannte geschriebene und ungeschriebene Außenkompetenzen unterteilen. Die geschriebenen Außenkompetenzen sind ausdrücklich im Vertrag benannte Ermächtigungen zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge wie z. B. in Art. 133 EG (Handelsabkommen) und in Art. 310 EG (vertragliche Assoziierung). Bezüglich ungeschriebener Außenkompetenzen hat der EuGH in seiner AETR-Entscheidung 1971 hervorgehoben, dass eine ungeschriebene Außenkompetenz dann besteht, wenn der Gemeinschaft eine Kompetenz bereits im Innenverhältnis zusteht und sie aufgrund dieser Kompetenz bereits Sekundärrecht erlassen hat, das durch völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten untereinander beeinträchtigt werden könnte. Eine Außenkompetenz liegt somit vor, wenn die Gemeinschaft von ihrer Binnenkompetenz Gebrauch gemacht hat.529 In seinen Gutachten 1 / 76 und 1 / 94 hat der EuGH eine weitere Rechtfortbildung betrieben, die eine ungeschriebene Außenkompetenz begründet, wenn diese erforderlich ist, um die wirksame Wahrnehmung der internen Kompetenz zu ermöglichen. Aus der internen Kompetenz kann jedoch nicht automatisch zugleich eine Außenkompetenz gefolgert werden.530 Es liegt vielmehr nur dann eine Parallelität zwischen Innen- und Außenkompetenzen vor, wenn die Gemeinschaft entweder von ihrer Binnenkompetenz bereits Gebrauch gemacht hat oder die ungeschriebene Außenkompetenz erforderlich ist, um Vertragsziele zu verwirklichen.531 Hintergrund dieser Rechtsprechung ist die im Völkerrecht anerkannte so genannte implied powers Lehre.532 Übertragen in das Gemeinschaftsrecht besagt sie, dass die Gemeinschaft überall dort handeln kann, wo dies zur Verwirklichung der vertraglichen Zielsetzung notwendig ist.533 Im Verfassungsvertrag wurde diese Rechtsprechung in Art. I-13 Abs. 2; Art. III-323 Abs. 1 VV kodifiziert. Hiernach hat die Union die ausschließliche Außenkompetenz, wenn ihr diese durch Primär- oder Sekundärrecht zugewiesen wurde, wenn sie notwendig ist für die Wahrnehmung interner Zuständigkeiten oder soweit der Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich verändern könnte. Nach dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ist die Heranziehung ungeschriebener Kompetenzen somit nicht mehr notwendig. EuGH, Rs. 22 / 70, AETR, Slg. 1971, 263 ff. Erstmals EuGH, Gutachten 1 / 76, Slg. 1977, 741 ff., bestätigt im Gutachten 1 / 94, Slg. 1994, I-5267, Rn. 77 ff. Hierzu Lecheler, Einführung in das Europarecht, S. 350. 531 Eine weitere Konkretisierung erfolgte durch EuGH, Rs. C-476 / 98, Open Skies, Slg. 2002, I-9855, Rn. 108 ff. Danach ist in jedem Einzelfall zu prüfen, wie weit die jeweilige sekundärrechtliche Regelung reicht. 532 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6, Rn. 8 ff. 533 EuGH, Gutachten 1 / 94, Slg. 1994, I-5267, Rn. 82; Bleckmann, Europarecht, Rn. 797 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 678; Dörr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, EuZW 1996, 39 (40). 529 530

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Trotz dieser weitgehenden Rechtsprechung bzw. Regelung im Verfassungsvertrag, die die Vertragsschlusskompetenz der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union potentiell auf ihren gesamten Anwendungsbereich ausdehnt, handelt es sich dennoch um übertragene abgesteckte Bereiche, auf die sich der Kommissionspräsident bei seiner Außendarstellung im vertraglich abgesteckten Umfang beschränken muss. Die Außendarstellungskompetenz des Kommissionspräsidenten manifestiert sich zunächst in seiner Zugehörigkeit zum Europäischen Rat (Art. 4 Abs. 2 EU), die ihm eine verfahrensrechtliche Sonderstellung verschafft. Im Rahmen des passiven Legationsrechts akkreditiert der Kommissionspräsident die Vertreter der Mitgliedstaaten bei der Europäischen Gemeinschaft. Diese Akkreditierung wird dabei bicephal, d. h. durch den Präsidenten des Europäischen Rates und den Kommissionspräsidenten gemeinsam vorgenommen. Im Rahmen der der Gemeinschaft zugestandenen Möglichkeiten ist es der Kommissionspräsident, der die Kommission nach außen vertritt (Art. 3 Abs. 3 GO KOM). Weiterhin führt die Kommission die Vertragsverhandlungen zwischen der Gemeinschaft und einem oder mehreren Staaten oder internationalen Organisationen (Art. 300 Abs. 1 Satz 2 EG). Sie hat sich hierbei zwar an die Richtlinien des Rates zu halten, kann durch ihre Verhandlungsführung aber durchaus Einfluss auf die Vertragsgestaltung ausüben. Der Kommissionspräsident tritt bei diesen Vertragsverhandlungen für die Kommission als Sprecher in Erscheinung. II. Darstellung nach innen Die Innendarstellung dient ebenso wie die Außendarstellung der Verkörperung des Staates als Einheit, die seit jeher Ausdruck in Symbolen findet. Als Symbole können alle fassbaren Dinge dienen, die aber nicht zwangsläufig aus einer greifbaren Materie bestehen müssen.534 Symbole spielen eine große Rolle in ideologischen Auseinandersetzungen, da politische Ideen ihrer Natur nach abstrakt und schwer fassbar sind. Um diese politischen Ideen zugänglicher zu gestalten, werden Symbole verwendet. Sie repräsentieren eine gedankliche Abstraktion und verwandeln sie in eine unmittelbar, real und konkret verständliche Aussage.535 Symbole bezwecken daher, durch Assoziation mit bestimmten Ideen oder Werten beim Betrachter ein Gruppengefühl hervorzurufen.536 Politische Symbole entfalten sich dort, wo der Wert, auf den sich das Symbol bezieht, von mehreren Personen geteilt wird.537 534 Vgl. die Aufzählung bei Rabbow, Visuelle Symbolik als Erscheinung der nicht verbalen Publizistik, S. 3: „lebende Wesen, Dinge, Gegenstände, Worte, Wortgruppen, Begriffe, Namen, Farben, Bilder, Werke der bildenden Kunst, Musik, Gesten, Handlungen, Riten und Verhaltensweisen.“ 535 Loewenstein, in: Constantopoulos / Wehberg, Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 559 (560). 536 Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, S. 31.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

Die europäische Idee zeichnet sich aus durch eine Überwindung des Nationalismus und eine politisch immer enger werdende Einigung der heutigen Mitgliedstaaten. Sie steht für eine europäische Integration und deren Förderung.538 Insofern besteht ein Unterschied zwischen einem „fertigen“ Nationalstaat und einer noch „unfertigen“ Europäischen Union. Während Nationalsymbole die bereits vorhandene staatliche Einheit stärken und nationale Grundüberzeugungen verkörpern sollen, ist es die Aufgabe einer europäischen Symbolik, die europäische Integration als Vorgang einer Einigung zu vermitteln.539 Die Bedeutung und der Nutzwert einer Symbolik für die europäische Integration waren den Staats- und Regierungschefs schon früh bewusst. So beklagte Hallstein bereits 1962: „Die Gemeinschaft hat keine Symbole. Sie hat keine Flagge, keine Hymne, keine Paraden und kein Souverän. Sie hat keine Integrationsmittel, die die Sinne ansprechen, das Auge, das Ohr.“540 Der Europäischen Rat von Fontainebleau am 25. und 26. Juni 1984 forderte gleichfalls, einen Identitätsgewinn zu schaffen. So verlangten die Staats- und Regierungschefs, „dass die Gemeinschaft die Erwartungen der Völker Europas erfüllt, indem sie Maßnahmen trifft, durch die ihre Identität gestärkt und gefördert wird und durch die sie an Prestige gewinnt.“541 Diese Maßnahmen sollte ein „Ad-hoc-Ausschuss für das Europa der Bürger“ unter dem Vorsitz des italienischen Europaparlamentariers Adonnino vorbereiten und koordinieren (Adonnino-Ausschuss).542 Unter anderem wurde dem Ausschuss der Auftrag erteilt, „die Einführung von Symbolen für die Existenz der Gemeinschaft, insbesondere einer Fahne und einer Hymne“ zu prüfen.543 Diesem Auftrag kam der Adonnino-Ausschuss in der Folge nach und befand: „Es besteht aus praktischen wie auch symbolischen Gründen ein eindeutiges Bedürfnis nach einer Fahne und einem Emblem, die bei nationalen und internationalen Anlässen benutzt werden können, bei denen es gilt, die Existenz der Gemeinschaft deutlich zu machen.“544 Der Europäische Rat von Mailand vom 28. und 29. Juni 1985 stimmte diesem Vorschlag zu und beauftragte die Kommission und die Mitgliedstaaten, innerhalb ihrer Zuständigkeiten die für die Durchführung erforderlichen Maßnahmen zu treffen.545 537 Loewenstein, in: Constantopoulos / Wehberg, Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes und der Rechtsphilosophie, Festschrift für Rudolf Laun, 559 (561). 538 Präambel des Verfassungsvertrags, 2. Absatz. 539 Schmid, Europa zwischen Ideologie und Verwirklichung, S. 48. 540 In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament zum fünften Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 29. 3. 1962 in Straßburg. Abgedruckt bei Oppermann, Walter Hallstein, Europäische Reden, 349 (349). 541 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates, Punkt 6, Bull.EG 1985, Beilage 7, S. 5. 542 Oppermann, Europarecht, § 24, Rn. 2. 543 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates, Punkt 6, Bull.EG 1985, Beilage 7, S. 5. 544 Bericht an den Europäischen Rat von Mailand vom 28. / 29. 6. 1985, Bull.EG 1985, Beilage 7, S. 32.

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Dennoch bildete sich eine europäische Symbolik nur allmählich. 546 Naturgemäß soll mit dieser auch keine Staatlichkeit verbunden, sondern die besondere Eigenart der Europäischen Union als Staatenverbund herausgestellt werden. Die Innendarstellung durch eine europäische Symbolik ist daher ein junges Moment der europäischen Staatengemeinschaft und wurde einheitlich für die damaligen Europäischen Gemeinschaften beginnend 1986 unter anderem mit der europäischen Flagge eingeführt.547 Bei der europäischen Flagge handelte es sich ursprünglich um die Flagge des Europarats548, die von der damaligen Gemeinschaft unverändert übernommen wurde. Die europäische Flagge zeigt seitdem einen Kreis mit zwölf goldenen Sternen vor blauem Hintergrund. Sie steht für die Solidarität und Harmonie zwischen den europäischen Völkern, für Einheit und für die Identität Europas. Es gibt zwölf Sterne, weil die Zwölf traditionell das Symbol der Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit ist.549 Die Flagge bleibt folglich ungeachtet künftiger Erweiterungen der Union unverändert.550 Eingeführt wurde sie genau wie die europäische Hymne durch einen Beschluss des Ministerrats.551 Die Melodie der Hymne Europas entstammt der Neunten Symphonie Beethovens von 1823. Mit dem letzten Satz dieser Symphonie vertonte Beethoven die „Ode an die Freude“ von Schiller aus dem Jahr 1785. Dieser Text wurde ausgewählt wegen der dahinter stehenden Vision Schillers von Menschen, die zu Brüdern werden.552 Als Europatag553 wurde der 9. Mai vom Europäischen Rat554 festgelegt. Er soll an die Erklärung des französischen Außenministers Schuman von 1950 erinnern, in der er die Integration der westeuropäischen Stahl- und Kohleindustrie vorschlug. Für die Bediensteten des Rates und der Kommission ist der 9. Mai ein Feiertag.555 Zum gesetzlichen Feiertag in den Mitgliedstaaten wurde er jedoch bislang nicht erklärt. Die Schaffung eines europäischen Verdienstordens konnte bislang nicht verwirklicht werden. Auszeichnungen der Europäischen Kommission wie etwa der René545 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Mailand, 29. 6. 1985, Bull.EG 1985, Beilage 7, S. 34. 546 Ausführlich zur europäischen Symbolik Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration, m. w. N. 547 Der Rat der Europäischen Gemeinschaften stimmte am 21. 4. 1986 zu. Pressemitteilung Nr. 15 vom 23. 4. 1986. 548 EA 1965, S. 8506. 549 Haltern, Europäische Verfassungsästhetik – Grundrechtscharta und Verfassung der EU im Zeichen von Konsumkultur, KritV 85 (2002), 261 (264). 550 ABl. 1994 Nr. C 219, S. 31 vom 8. 8. 1994. 551 Beschluss vom 21. / 22. 4. 1986, Bull.EG 1986, Nr. 4, S. 54, 57. 552 ABl. 1995 Nr. C 81, S. 28 f. vom 3. 4. 1995. 553 Hierzu ABl. 1995 Nr. C 326, S. 37 vom 6. 12. 1995. 554 Europäischer Rat von Mailand am 28. / 29. 6. 1985, Bull.EG 6 / 1985, Ziff. 1.2.1. und Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Mailand vom 29. 6. 1985, Bull.EG 7 / 85, S. 34. 555 ABl. Nr. C 127, S. 5 vom 24. 5. 1984.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

Descartes-Preis für exzellente Forschung556 und der European Sustainable City Award für hervorragende Arbeit auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit stellen zwar Schritte hin zu einer europäischen Symbolik dar, doch geht ihre Öffentlichkeitswirkung kaum über das betreffende Fachpublikum hinaus. Weitere symbolische Auszeichnungen wie der Freiherr vom Stein Preis der Stiftung Hamburg, der internationale Karlspreis der Stadt Aachen und die Europa-Union-Medaille werden zwar für besondere Verdienste im Rahmen der europäischen Integration vergeben, sie beruhen aber auf den Initiativen privater Stiftungen und können daher nicht die Verbindung zur Europäischen Union schaffen wie sie ein offizieller Preis, vergeben von einem europäischen Organ, herstellen würde. Eine weitere symbolische Handlung könnte in der Abnahme von Eidesleistungen liegen. Diese könnten in einer feierlichen Zeremonie durch den Kommissionspräsidenten abgenommen werden, der die Amtsträger damit auf die gemeinsamen Wertvorstellungen der Europäischen Union verpflichtet. Eine solche Innendarstellung erfolgt derzeit nicht. Zwar müssen die Kommissare sowie der Kommissionspräsident eine feierliche Verpflichtungserklärung abgeben, dass sie ihre vertraglich festgelegten Dienstpflichten einhalten werden.557 Auch verpflichten sie sich in ihrem gesamten Handeln dem Ziel der europäischen Integration,558 doch ist eine nähere Ausgestaltung dieses Aktes nicht vertraglich festgelegt. Die Verpflichtungserklärung wird daher von den Kommissaren vor der ersten Kommissionssitzung abgegeben und anschließend in einer Festsitzung in Anwesenheit der Justizminister der Mitgliedstaaten wiederholt.559 Nehmen aber die Justizminister der Mitgliedstaaten diese Verpflichtung ab, erfährt die symbolische Innendarstellung der Europäischen Union durch diesen Festakt nur mäßige Bestärkung. Es sind wieder die Mitgliedstaten, die ihrer Staatlichkeit und Vertragsherrschaft durch diesen Festakt Ausdruck verleihen. Der Kommissionspräsident hat mit den genannten symbolischen Darstellungsmöglichkeiten560 nichts zu tun. Er besitzt lediglich die Möglichkeit, durch Reden in Erscheinung zu treten. So gibt er zusammen mit dem jährlichen Gesamtbericht an das Europäische Parlament (Art. 200, 212 EG) eine Art Regierungserklärung ab, in der er seine Vorstellungen und Ziele erörtert. Des Weiteren ABl. Nr. C 344, S. 9 vom 1. 12. 1999. Hierzu Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Thiesing / Ehlermann, EG-Komm., Art. 157, Rn. 21. 558 Gemäß Art. 213 Abs. 2 Satz 1 EG „üben die Mitglieder der Kommission ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit und zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus“. Damit korrespondiert die Verpflichtung an die Mitgliedstaaten den Kommissaren keine Weisungen zu erteilen, Art. 213 Abs. 2 Satz 4 EG. Diese mitgliedstaatliche Verpflichtung ist eine spezielle Ausformung des allgemeinen Loyalitätsgebots aus Art. 5 EG. Siehe hierzu EuGH, Rs. C-54 / 90, Weddel, Slg. 1992, S. I-871. 559 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Thiesing / Ehlermann, EG-Komm., Art. 157, Rn. 21. 560 Erstmals im Verfassungsvertrag festgelegt, Art. I-8 VV. 556 557

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wirkt er durch Reden bei Besuchen von Staatsoberhäuptern561 und am Feiertag der Europäischen Union. Die genannten symbolischen Innendarstellungsmöglichkeiten wurden sämtlich von den Staats- und Regierungschefs ausgewählt und festgelegt. Fraglich ist daher, ob es sinnvoll ist, die diesbezüglichen Kompetenzen auch weiterhin bei den Staats- und Regierungschefs zu belassen. Sie repräsentieren als Rat in der Europäischen Union nach wie vor die Mitgliedstaaten. Glaubhafter wäre eine europäische Symbolik deshalb bei einem Vertreter der europäischen Interessen angelegt. Im Sinne einer europäischen Identifikation der Bürger sollten dem Kommissionspräsidenten symbolische Darstellungsmöglichkeiten übertragen werden.

III. Unionsnotarielle Aufgaben In Staaten vermitteln die notariellen Beglaubigungen des Oberhaupts zum einen eine Feierlichkeit, die dem beglaubigten Rechtsakt eine Art Weihe verleiht.562 Zum anderen kann auch die Rechtmäßigkeit eines Aktes in der Form einer Beurkundung563 bekräftigt werden. Auch diese notariellen Befugnisse haben damit eine symbolische Funktion: die Bekräftigung der staatlichen Einheit. Wie die darstellenden Kompetenzen sind auch die notariellen Befugnisse in der Europäischen Union weniger auf ihre Einheit bezogen, als vielmehr ein erster Versuch, abseits von allen technischen Erfordernissen überhaupt eine gewisse Symbolik zu begründen. Notarielle Befugnisse im technischen, also im beglaubigenden Sinn hatte bereits der Präsident der Hohen Behörde. Eine besondere Stellung wurde ihm somit bereits damals zuteil. So hatte er nach dem Protokoll564 über die Vorrechte und Immunitäten der Gemeinschaft, das Bestandteil des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war, die Aufgabe, den Mitgliedern und höheren Beamten der Behörde Ausweise auszustellen, die von den Behörden der Mitgliedsländer als gültige Reisepässe anzuerkennen waren (Art. 6). Er bestimmte weiter gemäß Art. 12 des Protokolls die Gruppen von Beamten, auf die die Bestimmungen über Vorrechte565 und Immunitäten566 Anwendung fanden. Er legte dem Rat 561 So beispielsweise beim Besuch des amerikanischen Präsidenten Bush in Brüssel am 22. 2. 2005, Die Welt vom 23. 5. 2005, S. 3. 562 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 229. 563 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 228. 564 BGBl. 1951 II, S. 479. 565 Zu diesen Vorrechten gehörten beispielsweise eine Steuerbefreiung hinsichtlich der von der Gemeinschaft gezahlten Gehälter und Bezüge (Art. 11 b) des Protokolls), Befreiungen von Einwanderungsbeschränkungen und Registrierpflichten auch für Ehegatten und unterhaltene Familienmitglieder (Art. 11 c) des Protokolls), zollfreie Einfuhr von Wohnungseinrichtungs- und persönlichen Gebrauchsgegenständen beim ersten Dienstantritt sowie zollfreie Ausfuhr bei Beendigung der Amtstätigkeit (Art. 11 d) des Protokolls).

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

eine Aufstellung hierüber vor und gab den Regierungen der Mitgliedstaaten Kenntnis. Der Präsident konnte allerdings nicht nur die Gruppe der Beamten festlegen, denen Vorrechte, Erleichterungen und Immunitäten gewährt werden sollten, sondern er konnte diese auch in den Fällen wieder aufheben, in denen die Aufhebung nicht im Widerspruch zu Gemeinschaftsinteressen stand.567 Da die Vorrechte, Immunitäten und Erleichterungen den Mitgliedern und Beamten der Hohen Behörde ausschließlich im Gemeinschaftsinteresse gewährt wurden,568 musste gewährleistet sein, dass eine Aufhebung nicht die Aufgabenerfüllung durch die betroffene Person behinderte oder unmöglich machte. Der Präsident hatte somit schon damals die Möglichkeit, frei darüber zu entscheiden, wann und aus welchem Grund besondere Vorrechte nicht mehr gegeben werden sollten. Über seine Entscheidung fand keine Abstimmung im Kollegium statt, er hatte lediglich darauf zu achten, dass das betroffene Mitglied noch in der Lage war, die ihm auferlegten Gemeinschaftsaufgaben ohne Behinderung wahrzunehmen. Diese ungenaue Klausel im Protokoll gab dem Präsidenten einen großen Entscheidungsspielraum und verschafft ihm eine einflussreiche Position. Schon damals hatte er somit eine herausgehobene Stellung inne, die ihn von den übrigen Kommissaren abhob. Zu den heutigen notariellen Aufgaben des Kommissionspräsidenten gehört die Unterzeichnung des Protokolls des Kollegiums und der Beschlüsse (gemeinsam mit dem Generalsekretär) gemäß Art. 11 Abs. 2; Art. 20 Abs. 1 GO KOM. Des Weiteren ernennt er die Kabinettsmitglieder auf Vorschlag der einzelnen Kommissare.569 Die unionsnotariellen Aufgaben sind somit sehr gering gehalten. Sie bescheinigen lediglich die Rechtmäßigkeit eines Protokolls bzw. einer Ernennung. Die weitere Aufgabe, Akten eine Art Weihe zu verleihen, übt der Kommissionspräsident nicht aus. Auch dieser Mangel an notariellen Akten erklärt sich aus der Struktur der Europäischen Union, die als verhältnismäßig junger Zusammenschluss von Staaten noch nicht das Maß an Pathos aufbauen konnte, das die Weihe von Akten mit sich bringen würde. Ansätze hierzu sind dennoch vorhanden, betrachtet man das Vorhandensein einer Hymne oder einer Flagge. Auch die Bezeichnung des Konventsentwurfs als Verfassung zielt in diese Richtung.570

566 Beispielsweise war eine Verhaftung und gerichtliche Verfolgung nicht nur für die Dauer der Sitzungsperiode, sondern auch für die Hin- und Rückreise der Mitglieder der Hohen Behörde nach Art. 9 b) des Protokolls nicht zulässig. 567 Art. 13 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Gemeinschaft. 568 Art. 13 Abs. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Gemeinschaft. 569 Krenzler, Die Rolle der Kabinette in der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1974, 75 (76). 570 Haltern, Europäische Verfassungsästhetik – Grundrechtscharta und Verfassung der EU im Zeichen von Konsumkultur, KritV 85 (2002), 261 ff.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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IV. Politische Einflussnahme Im Bereich der politischen Einflussnahme des Kommissionspräsidenten gibt es Kompetenzen, die er nur mit Billigung seines Kollegiums ausüben kann, und Kompetenzen, für die es keiner Billigung des Kollegiums bedarf. Im letzteren Bereich entscheidet er rechtlich eigenständig, auch wenn er sich an politischen Gepflogenheiten orientiert, die ihm die Unterstützung seiner Kommissare sichern. 1. Kompetenzen ohne Billigung des Kollegiums Die Auswahl der Kommissare erfolgt nach Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG im Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten. Er hat somit ein Vetorecht, falls er einen Kandidaten für nicht geeignet erachtet.571 Der Kommissionspräsident übt weiter gemäß Art. 217 Abs. 1 EG die politische Führung aus. Wie weit die politische Führung des Kommissionspräsidenten reicht und welche Kompetenzen sie beinhaltet, hängt nicht nur von dem Ausmaß und der Reichweite des Begriffs der politischen Führung selbst ab, sondern auch vom Grundsatz der Kollegialität (Art. 217 Abs. 1 EG) sowie dem Ressortprinzip (Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG). Das Ressortprinzip und der Grundsatz der Kollegialität stehen auf Seiten der Kommissare. Das Prinzip der politischen Führung eröffnet dagegen Möglichkeiten für den Kommissionspräsidenten. Durch die unterschiedlichen Adressaten, zum einen die Kommissare zum anderen der Kommissionspräsident, formen und begrenzen sich die Prinzipien gegenseitig und stehen daher in einem Spannungsverhältnis zueinander. a) Die politische Führung des Kommissionspräsidenten Der Begriff der politischen Führung des Präsidenten, unter der die Kommission ihre Tätigkeit ausüben soll (Art. 217 Abs. 1 EG), ist ein ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff. Was genau unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten verstanden werden soll und wieweit seine politische Führungsmacht reicht, ist im Vertrag nicht explizit festgeschrieben. Aus der Zusammenschau der Vorschriften lässt sich aber ein Gesamtbild entwerfen, mit dessen Hilfe Reichweite und Ausmaß der politischen Führung des Kommissionspräsidenten bestimmt werden können. aa) Inhalt und Bedeutung des Prinzips der politischen Führung Grundsätzlich üben die Kommissionsmitglieder ihre Aufgaben unter der Leitung des Präsidenten aus (Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG, wortgleich Art. III-350 Satz 3 571

Siehe S. 139 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

VV). Die politische Führung enthält somit eine Leitungsfunktion. Der Begriff der politischen Führung beinhaltet zwei Komponenten: Die Organisationsgewalt umfasst einen strukturellen und personellen Aspekt, die Leitlinienkompetenz betrifft den materiellen, unmittelbar auf politische Inhalte gerichteten Teil. Versteht man den Begriff der politischen Führung auch in Bezug auf den Kommissionspräsidenten in dieser umfassenden, sowohl strukturellen und personellen als auch materiellen Weise, steht das Prinzip der politischen Führung in einem Spannungsverhältnis zum Ressortprinzip (Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG) und zum Kollegialitätsprinzip (Art. 217 Abs. 1 EG). Das Ressortprinzip und das Kollegialitätsprinzip wirken daher gegenläufig zum politischen Führungsprinzip des Kommissionspräsidenten.572 Zu einer Spannung zwischen diesen Prinzipien könnte es beispielsweise kommen, wenn der Kommissionspräsident in einer Sachfrage eine Leitlinie vorgibt, von der das Kollegium oder der einzelne Kommissar abweichen möchte. Da es sich um gegenläufige Prinzipien handelt, die sich gegenseitig formen und begrenzen, ist mithin die Notwendigkeit eines Ausgleichs geboten. Prinzipen charakterisieren sich im Gegensatz zu Regeln dadurch, dass sie Normen sind, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß realisiert wird.573 Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote, die dadurch konkretisiert sind, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt.574 Es müssen daher sowohl die Reichweiten, aber auch die Grenzen des Prinzips der politischen Führung auf der Seite des Kommissionspräsidenten und der Prinzipien der Ressortverantwortung und der Kollegialität auf Seiten der Kommissare ermittelt und abgegrenzt werden. Dabei muss ferner versucht werden, jedem Prinzip soweit wie möglich zur Geltung zu verhelfen, ohne dass ein anderes Prinzip ausgehöhlt wird. Eine Prinzipienkollision soll möglichst vermieden werden. Kommt es dennoch zu einer Kollision der genannten Prinzipien, so ist zunächst zu versuchen, durch Harmonisierung zu einem Ausgleich zu gelangen. Ist dies nicht möglich, muss eine Lösung durch den Vorrang eines Prinzips hergestellt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass ein Prinzip nicht generellen Vorrang vor einem anderen genießt, sondern nur unter bestimmten Bedingungen dem anderen Prinzip vorgeht. Unter anderen Bedingungen kann die Vorrangfrage abweichend zu entscheiden sein.575 Konkret geht es also darum, die gegenläufigen 572 Ähnlich Wessels, der von einem Spannungsdreieck zwischen dem Kollegialsystem, der fachlichen Verantwortung jeden Kommissars und dem Führungsanspruch des Präsidenten spricht und die Position des Präsidenten als die stärkste betrachtet, ders., Die institutionelle Architektur der EU nach der Europäischen Verfassung: Höhere Entscheidungsdynamik – neue Koalitionen?, integration 2004, 161 (172). 573 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. Ebenso Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22 ff., 71 ff., mit dem Unterschied, dass er Prinzipien nicht als Optimierungsgebote begreift. Hierzu Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 59 ff. 574 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76; ebenso Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 475; Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890 (892).

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Prinzipen zu einem schonenden Ausgleich zu bringen, soweit dies nicht möglich ist, ist über den Vorrang des einen oder anderen Prinzips zu entscheiden. (1) Organisationsgewalt Die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten ist verankert in Art. 217 Abs. 1, 2 EG. Sie umfasst zunächst den strukturellen Aspekt. Der Kommissionspräsident gliedert die Zuständigkeiten der Kommission in bestimmte Ressorts, und er kann diese strukturelle Gliederung jederzeit ändern (Art. 217 Abs. 2 Satz 1, 2 EG). Weiterhin umfasst die Organisationsgewalt einen personellen Aspekt, der sich vor allem auf die Kommissare bezieht. Die Benennung der Kandidaten erfolgt im Einvernehmen mit dem designierten Kommissionspräsidenten (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG). Diese Vorschrift bringt die Organisationsgewalt exemplarisch zum Ausdruck. Zwar ist die Kommission zu dem Zeitpunkt, zu dem der designierte Kommissionspräsident seinen Einfluss auf die Benennung geltend machen kann, noch nicht im Amt. Dem Kommissionspräsidenten kann daher grundsätzlich noch keine Organisationsgewalt zukommen, weil diese erst mit seinem Amtsantritt und damit mit Ernennung der Kommission begründet wird. Da sich Rat und Parlament aber bereits auf die Person des zukünftigen Kommissionspräsidenten geeinigt haben (Art. 214 Abs. 2 Satz 1 EG), begründet das erforderliche Einvernehmen gemäß Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG zwangsläufig eine Vorwirkung der mit der Ernennung bestehenden Organisationsgewalt in Bezug auf „seine“ Kommission. Darüber hinaus umfasst die Organisationsgewalt in personeller Hinsicht, dass der Kommissionspräsident die zuvor strukturell gegliederten Zuständigkeiten bestimmten einzelnen Kommissaren zuweisen und diese personelle Zuweisung im Laufe seiner Amtszeit ändern kann. Er kann bei einem inhaltlich gleich bleibenden Ressort den Kommissar austauschen (Art. 217 Abs. 2 Satz 1, 2 EG). Der Kommissionspräsident hat somit die Möglichkeit, unabhängig von strukturellen Änderungen personelle Änderungen und umgekehrt vorzunehmen. Die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten betrifft die gesamte interne Organisation der Kommission. Damit soll sichergestellt werden, dass ihr Handeln kohärent und effizient ist und auf der Grundlage der Kollegialität beruht (Art. 217 Abs. 1, 2. Halbsatz EG). In dieser Formulierung offenbart sich jedoch bereits der erste mögliche Widerspruch mit einem gegenläufigen Prinzip. Denn entspricht es tatsächlich dem Kollegialitätsprinzip, wenn der Präsident allein über die interne Organisation entscheidet? Würde es nicht eher dem Kollegialitätsprinzip entsprechen, wenn die Kommission als Ganzes über ihre Organisationsstruktur bestimmt und nicht der Kommissionspräsident allein?576 Die vertraglich fest575 576

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 ff. Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 39.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

gelegte Alleinentscheidungsbefugnis des Kommissionspräsidenten deutet daher auf eine gewisse Abkehr vom Kollegialitätsgrundsatz dahingehend hin, seinen Einfluss zu verstärken. Der Verfassungsvertrag führt diese Linie fort; er bringt weder bei der strukturellen noch bei der personellen Organisationsgewalt eine Änderung mit sich (Art. I-27 Abs. 3 lit. b) i.V.m. Art. III-350 Satz 1, 2 VV). (2) Leitlinienkompetenz als Richtlinienkompetenz? Obwohl das Vorhandensein einer Leit- bzw. Richtlinienkompetenz im Vertrag nicht explizit genannt wird,577 weist der Begriff der politischen Führung in diese Richtung. Die Leit- bzw. Richtlinienkompetenz wäre dann der zweite Aspekt der politischen Führung neben der Organisationsgewalt. Da die Kommission ihre Tätigkeit unter der politischen Führung ihres Präsidenten ausübt (Art. 217 Abs. 1 Halbsatz 1 EG), wäre sie die Adressatin einer Leit- bzw. Richtlinienkompetenz. Bei der Bestimmung von Richtlinien geht es grundsätzlich um die Aufstellung politischer Richtungs- und Führungsgrundsätze. Die Richtlinie ist ihrem Wesen nach weniger auf Details bezogen als auf das Prinzipielle, Grundsätzliche oder Allgemeine.578 Sie wird gekennzeichnet als grundlegende staatsrichtungsbestimmende Entscheidung respektive politische Ziel- und Grundsatzentscheidung.579 Sucht man beispielsweise im deutschen Schrifttum nach Definitionen für den Begriff der Richtlinienkompetenz i. S. d. Art. 65 GG, finden sich zahlreiche Versuche einer Inhaltsbestimmung.580 Zu einem einheitlichen Meinungsbild haben sie bislang jedoch nicht geführt.581 So wurde vertreten, der deutsche Kanzler könne im Sinne einer Kompetenz-Kompetenz darüber befinden, was eine Richtlinie sei.582 Es wurde aber auch der Rahmencharakter der Richtlinie betont, der auf Ausfüllung angelegt sei.583 Sieht man die Richtlinienkompetenz als Instrument des Bundeskanzlers, durch das seine hervorgehobene und selbstständige Stellung bei der Staatsleitung zum Ausdruck kommt, erscheint eine weitere inhaltliche Auf577 Monar leitet bereits aus Art. 217 Abs. 1 EG selbst eine Richtlinienkompetenz ab, ders., Die Kommission nach dem Vertrag von Nizza, integration 2001, 114 (120). 578 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 303. 579 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 13; Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 65, Rn. 18. 580 Eschenburg, Die Richtlinien der Politik im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit, DÖV 1954, 193 ff.; Maunz, Die Richtlinien der Politik im Verfassungsrecht, BayVBl. 1956, 260 ff.; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 206 ff.; Knöpfle, Inhalt und Grenzen der „Richtlinien der Politik“ des Regierungschefs, DVBl. 1965, 857 ff.; Schenke, Die Aufgabenverteilung innerhalb der Bundesregierung, Jura 1982, 337 ff.; Maurer, in: Becker, Festschrift für Werner Thieme, 123 (124 f.). 581 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 12. 582 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 732. 583 Schenke, Die Aufgabenverteilung innerhalb der Bundesregierung, Jura 1982, 337 (340).

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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schlüsselung unfruchtbar.584 Es fällt dann in das politische Ermessen des Bundeskanzlers, welche Angelegenheiten er zum Gegenstand seiner Richtlinienkompetenz machen will.585 Sie hat in erster Linie die Aufgabe, seinen politischen Führungsanspruch durchzusetzen und zu sichern.586 (a) Der Begriff der Leitlinienkompetenz Ob dem Kommissionspräsidenten eine solche, dem deutschen Bundeskanzler ähnliche Leit- bzw. Richtlinienkompetenz gegeben ist und – wenn ja – wie weit sie reicht, ist unklar. Dem Wortlaut nach spricht der Vertrag in der geltenden Vertragsfassung von Nizza in Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG von der Leitung des Präsidenten, unter der die Kommissare ihre Aufgaben ausüben. Vom Wortlaut ausgehend könnte beim Kommissionspräsidenten eine – in Anlehnung an den im Vertrag verwendeten Begriff der Leitung – Leitlinienkompetenz vorliegen. Ihr Inhalt und ihr Ausmaß sind jedoch weiterhin nicht definiert. Formelle Vorgaben wurden ebenso nicht getroffen. Im EG-Vertrag wird dem Kommissionspräsidenten schon heute die politische Führung anvertraut (Art. 217 Abs. 1 Halbsatz 1 EG). Diese könnte eine Leitlinienkompetenz beinhalten, die mit der Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers vergleichbar wäre. Betrachtet man das Zusammenspiel der einzelnen Sätze des Art 217 Abs. 2 EG systematisch, so muss es sich bei der Leitung, die in Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG behandelt wird, um eine inhaltliche Leitung handeln. Denn in den beiden Sätzen zuvor wurde schon der organisatorische Aspekt behandelt. Wenn in Art. 217 Abs. 2 Satz 1, 2 EG also die organisatorischen Fragen der Zuständigkeitsverteilung angesprochen wurden, dann muss es sich bei dem neu verwendeten Begriff der Leitung im dritten Satz um eine inhaltliche Leitung handeln. Sie wird systematisch auch erst dann relevant, wenn die organisatorischen Fragen in den beiden Sätzen zuvor geklärt wurden. Ferner könnten die vertraglichen Stellungen der politischen Führung und des Mehrheitsvotums der Kommission (Art. 219 Satz 1 EG) herangezogen werden. Systematisch steht die politische Führung im Vertragstext vor dem Mehrheitsvotum, nach dem die Beschlüsse der Kommission mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst werden. Erst wird die politische Führung betont, unter der die Kommission tätig wird. Danach wird auf die Beschlussfassung in der Kommission verwiesen. Schon die Verknüpfung beider Sätze weist darauf hin, dass Mehrheitsentscheidungen nicht gegen die politischen Vorgaben des Präsidenten erfolgen sollen. Auch dies deutet auf einen inhaltlichen Aspekt hin. Deutlicher wird dies in der französischen Fassung, die betont, dass die Kommission ihre Entscheidungen nach Badura, Staatsrecht, S. 514. Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 65, Rn. 21. 586 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 13; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 65, Rn. 14. 584 585

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der politischen Orientierung trifft, die vom Präsidenten vorgegeben wurde.587 Diese Einengung des Entscheidungsspielraums, wonach eine Kollegialentscheidung nicht gegen die politischen Vorgaben des Präsidenten fallen soll, weist mithin auf das Vorhandensein einer Leitlinienkompetenz hin. Mit anderen Worten sollen die Kommissare in einem Mehrheitsvotum nicht gegen eine Leitlinie des Kommissionspräsidenten stimmen. Der Konflikt zwischen der Möglichkeit der Kommissare, eine Mehrheitsentscheidung gegen die Vorgaben des Präsidenten treffen zu können (Art. 219 Satz 1 EG), und der politischen Führung des Kommissionspräsidenten löst sich somit auf. Denn wenn eine Entscheidung der Kommission nur im Rahmen der politischen Vorgaben des Präsidenten fallen soll, dann sind diese Vorgaben Ausfluss einer Leitlinienkompetenz. Sie sollen einen politischen Führungsanspruch durchsetzen und sichern. Eine systematische Betrachtung spricht somit für das Vorhandensein einer Leitlinienkompetenz. Auch der Sinn und Zweck des Art. 217 Abs. 1 EG, der dem Kommissionspräsidenten die politische Führung zuweist, spricht für das Vorliegen einer Leitlinienkompetenz. Eine Person, der Führungsaufgaben übertragen sind, benötigt ein Instrumentarium, mit dem sie ihren Führungsanspruch durchsetzen kann. In struktureller und personeller Hinsicht wird dies durch die Organisationsgewalt gewährleistet.588 In materieller Hinsicht ist die Leitlinienkompetenz hierzu die notwendige Ergänzung. Sie ermöglicht es dem Kommissionspräsidenten, die eigene politische Linie zur verbindlichen Vorgabe für das Kollegium zu erheben. Unterstützt wird das Argument durch die Verantwortlichkeit, die entsteht, wenn man einer Person eine Führungsaufgabe überträgt. Diese Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten spiegelt sich im Vertrag wider, der ihn zu einer kohärenten und effizienten Führung verpflichtet, die auf der Grundlage der Kollegialität beruht (Art. 217 Abs. 1 EG). Die Begriffe der Kohärenz und Effizienz sind unbestimmt und lassen dem Kommissionspräsidenten einen großen Handlungs- und Ermessensspielraum. Daher können allenfalls erhebliche und offensichtliche Verstöße589 gegen diese vertraglich vereinbarten Prinzipien mit einer Untätigkeitsklage (Art. 232 EG) oder einer Amtshaftungsklage (Art. 288 Abs. 2 EG) sanktioniert werden. Wann ein Verstoß als erheblich und offensichtlich zu bewerten ist, mag hier dahingestellt bleiben. Wichtig ist nur, dass es durchaus möglich ist, die politische Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten mit rechtlichen Instrumenten einzufordern. Mit dieser Verantwortlichkeit muss die Möglichkeit einhergehen, die verantwortete Politik zumindest in ihrer Grundlinie auch maßgeblich zu bestimmen. Daher muss er umso mehr die Möglichkeit haben, seine politische Führung mit einer Leitlinienkompetenz durchzusetzen. 587 Art. 219 TCE: „la Commission remplit sa mission dans le respect des orientations politiques définies par son président“. 588 Siehe S. 157 ff. 589 Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Ferner ist die Leitlinienkompetenz notwendig, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Kommission zu sichern. Das Parlament hat mit einem Misstrauensantrag die Möglichkeit, die gesamte Kommission zu stürzen, auch wenn es sich lediglich gegen einen Kommissar aussprechen möchte.590 Bei einem solchen erzwungenen Rücktritt der gesamten Kommission leidet nicht nur ihre Arbeits- und Funktionsfähigkeit, sondern auch diejenige der Europäischen Union. In diesem Sinne kann die Leitlinienkompetenz auch als Schutz für die Kommission selbst verstanden werden. Indem der Kommissionspräsident von seiner Leitlinienkompetenz Gebrauch macht, verhindert er bereits im Vorfeld, dass Situationen eskalieren und das Parlament schließlich einen Misstrauensantrag stellt. Die bereits im Vorfeld einsetzbare Leitlinienkompetenz schützt damit die Arbeitsfähigkeit der Kommission und verhindert gleichzeitig einen massiven Ansehensverlust der Kommission, der zwangsläufig in der europäischen Öffentlichkeit entsteht, wenn die Kommission gezwungenermaßen zurücktritt. Historisch kann darauf verwiesen werden, dass die bislang festgestellte Entwicklung eindeutig die Linie verfolgt, dem Kommissionspräsidenten ein größeres Machtpotential zuzugestehen. Das Zugeständnis einer Leitlinienkompetenz wäre mithin eine konsequente Fortführung einer einmal eingeschlagenen Linie. Schließlich kann noch auf Art. 1 der Geschäftsordnung der Kommission verwiesen werden, der den Begriff der Leitlinien verwendet, die vom Präsidenten festgelegt werden.591 Intern liegt somit eine Leitlinienkompetenz vor, zu deren Durchsetzung die Geschäftsordnung dem Kommissionspräsidenten Befugnisse verleiht.592 Aufgrund ihres sekundärrechtlichen Gehalts kann mit ihr zwar nicht das primärrechtliche Vorhandensein einer Leitlinienkompetenz begründet werden, doch sie bestärkt das bereits gefundene Ergebnis und bindet die Kommissare an die Leitlinien des Kommissionspräsidenten. In der englischen Fassung der Geschäftsordnung ist von „guidelines“ die Rede, was ins Deutsche zurück mit Richtlinien übersetzt wird. In der englischen Fassung findet sich somit kein Unterschied zwischen Richt- und Leitlinien. Auch im Verfassungsvertrag ist der Begriff der Leitlinien verankert (Art. I-27 Abs. 3 Satz 1 lit. a) VV). Eine Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten ist demnach vorhanden. Definiert man die Richtlinienkompetenz – wie beim deutschen Bundeskanzler geschehen – als Instrument, um seinen politischen Führungsanspruch durchzusetzen und zu sichern,593 dann entspricht die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten insoweit der Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers. Dennoch könnten sich im Einzelnen Unterschiede ergeben. Es müssen daher Inhalt und Ausmaß der Leitlinienkompetenz ermittelt werden. Siehe S. 135 ff. und siehe hierzu die Vorgänge in der Santer-Kommission, S. 204. GO KOM vom 15. 11. 2005, in: ABl. Nr. L 347, S. 83 – 90. 592 Siehe S. 163 ff. 593 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 13; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 65, Rn. 14. 590 591

11 Staeglich

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(b) Weisungsbefugnis Fraglich ist, ob der Kommissionspräsident im Rahmen seiner Leitlinienkompetenz weisungsbefugt ist. Eine ausdrückliche Weisungsbefugnis des Kommissionspräsidenten ist bislang im Vertrag nicht festgeschrieben. Möglicherweise muss jedoch mit der Leitung der Aufgabenerfüllung durch die Kommissare und mit der politischen Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten hierfür zwangsläufig das Recht verbunden sein, den Mitgliedern der Kommission Weisungen zu erteilen.594 Anderenfalls könnte das Instrument der politischen Führung leer laufen. Zieht man die Definitionen der Richtlinie erneut in Bezug auf Einzelweisungen heran, finden sich die Aussagen, Richtlinien hätten die Eigenschaft eines Rahmens, der ausfüllungsbedürftig und ausfüllungsfähig sei.595 Dementsprechend werden sie als „grundlegende Gestaltungsentscheidungen“ 596 oder als „Angaben von Ziel und Richtung der Politik“597 bezeichnet. Nach diesen Aussagen würden Richtlinien keine Weisungsbefugnis beinhalten. Genauso findet man allerdings die Bezeichnung als Anweisung für das Verhalten einer bestimmten Person in einem bestimmten Einzelfall.598 Es ist somit nicht eindeutig, ob eine Richtlinie nur allgemeine Anweisungen beinhaltet oder auch konkrete Vorgaben machen kann. Wird nochmals der Sinn und Zweck einer Richtlinie zur genaueren Eingrenzung herangezogen, dann soll sie es dem Anweisenden erlauben, in dem Maße auf die Handlungen der Richtlinienadressaten Einfluss zu nehmen, dass es ihm möglich ist, seine Politik durchzusetzen. Für diese Politik übernimmt der Anweisende schließlich die Verantwortung. Ist eine Entscheidung daher bedeutend genug, um Ziel und Richtung der Politik zu prägen, muss es dem politisch Verantwortlichen auch gestattet sein, eine Einzelweisung vorzunehmen. Anderenfalls könnte sich die Politik in eine Richtung entwickeln, für die er nicht die Verantwortung übernehmen möchte. Durch die Möglichkeit einer Einzelweisung steht dem Anweisenden gleichfalls ein disziplinierendes Instrument zur Verfügung, das die Beachtung seiner Richtlinien sicherstellt. Diese Überlegungen treffen auch auf den Kommissionspräsidenten zu. Nach einer Betrachtung des Sinns und Zwecks sind Einzelweisungen des Kommissionspräsidenten grundsätzlich zulässig.

bb) Konkretisierungen der politischen Führung Eine Konkretisierung der politischen Führung des Kommissionspräsidenten leisten sowohl sekundärrechtliche Normen und die Arbeitspraxis als auch die Erklä594 Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4; a.A. Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 9. 595 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 642. 596 Achterberg, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 19. 597 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG-Komm., Art. 65, Rn. 9. 598 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, S. 1312.

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rung Nr. 32, die mit anderen Schlusserklärungen zusammen mit dem Vertrag von Amsterdam angenommen wurde. (1) Konkretisierung durch die Geschäftsordnung Eine Konkretisierung der politischen Führung des Kommissionspräsidenten leistet die Geschäftsordnung der Kommission599. Ausdrücklich wird festgestellt, dass die Kommission unter Beachtung der von ihrem Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien handelt (Art. 1 GO KOM) und ihr jährliches Arbeitsprogramm unter Beachtung der vom Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien beschließt (Art. 2 GO KOM). Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Leitlinien des Kommissionspräsidenten dieses jährliche Arbeitsprogramm entscheidend prägen. Dem Kommissionspräsidenten obliegt die Kompetenzverteilung innerhalb der Kommission einschließlich der Einberufung bestimmter Arbeitsgruppen auf Kommissarsebene (Art. 3 Abs. 2 GO KOM). Diese Arbeitsgruppen dienen der besseren Koordinierung im Rahmen des Arbeitsprogramms sowie auch der Vorbereitung von Kommissionsentscheidungen.600 Durch die Entscheidung über die personelle Besetzung dieser Arbeitsgruppen kann der Kommissionspräsident auf ihre inhaltliche Arbeit einen nachhaltigeren und unauffälligeren Einfluss nehmen, als wenn er eine „offizielle“ Weisung erteilen würde. Natürlich kann sich der Kommissionspräsident auch gegen die Einsetzung von Arbeitsgruppen entscheiden. Der Kommissionspräsident beruft weiter die wöchentlichen Kommissionssitzungen ein und leitet sie (Art. 5 Abs. 1, 2 GO KOM). Die Mitglieder der Kommission sind verpflichtet, an allen Sitzungen teilzunehmen. Der Kommissionspräsident beurteilt, ob ein Fernbleiben gerechtfertigt ist (Art. 5 Abs. 3 GO KOM). Der Kommissionspräsident legt ferner die Tagesordnung der Kommissionssitzungen fest (Art. 6 Abs. 1 GO KOM). Diese Kompetenz hat er von jeher inne.601 Hierdurch kann er durch die Auswahl und Formulierung der zu behandelnden Punkte Einfluss auf die Kommissare nehmen.602 Dieser Art der Einflussnahme konnten die Kommissare zu Beginn der europäischen Integration noch verhältnismäßig leicht begegnen, weil jeder weitere Punkt, dessen Aufnahme von einem Mitglied der Kommission beantragt wurde, auf die Tagesordnung zu setzen war.603 Über alle weiteren Änderungsanträge der Kommissare wurde zunächst einstimmig,604 dann mit Stimmenmehrheit 605 entschieden. Vorrechte des Kommissions599 Geschäftsordnung der Kommission (GO KOM) vom 15. 11. 2006, ABl. Nr. L 347, S. 83 – 90. 600 Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 218, Rn. 6. 601 Art. 4 Satz 1 GO KOM vom 9. 1. 1963, ABl. 1963 Nr. L 181, S. 63 ff. Durch die Änderungen der Geschäftsordnung vom 11. 7. 1967, ABl. 1967 Nr. L 147, S. 1 f.; vom 30. 7. 1975, ABl. 1975 Nr. L 199, S. 43; vom 6. 1. 1981, ABl. 1981 Nr. L 8, S. 16; vom 8. 1. 1986, ABl. 1986 Nr. L 72, S. 34 wurde diese Kompetenz nicht berührt. 602 Nugent, The European Commission, S. 70. 603 Art. 4 Satz 2 GO KOM vom 9. 1. 1963.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

präsidenten waren diesbezüglich nicht vorhanden. Sie wurden jedoch alsbald eingeführt. So müssen die Kommissare im Gegensatz zum Kommissionspräsidenten für einen Aufnahmeantrag seit 1993 eine Frist von neun Tagen einhalten (vgl. Art. 6 Abs. 3 i.V.m. Art. 28 GO KOM).606 Wird die Streichung eines Tagesordnungspunkts beantragt, kann dieser Punkt lediglich im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten auf die folgende Sitzung vertagt werden (Art. 6 Abs. 5 GO KOM).607 Seit 1999 besteht die Möglichkeit der Kommission, über einen Punkt zu beraten, der nicht Gegenstand der Tagesordnung war, nur noch dann, wenn zuvor ein diesbezüglicher Vorschlag des Kommissionspräsidenten erfolgt ist (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 GO KOM).608 Ansonsten haben die Kommissare keine Möglichkeit, der Tagesordnung einen Punkt hinzuzufügen. Geblieben ist allerdings die Regelung, über einen bereits auf die Tagesordnung gesetzten Punkt nicht zu beraten, wenn die Mehrheit der Kommissare einen solchen Beschluss trifft (Art. 6 Abs. 6 Satz 2 GO KOM). Über die Entscheidung zur Aufnahme eines Punktes auf die Tagesordnung kann der Kommissionspräsident den Entscheidungsprozess beschleunigen oder verlangsamen. Hierin liegt eine erhebliche tatsächliche Machtbefugnis, da angesichts der Interessenvielfalt in der europäischen Politik der Zeitpunkt eines Vorschlags für seinen Erfolg genauso wichtig sein kann wie sein Inhalt.609 Zusätzliche Ermessensentscheidungen kann der Kommissionspräsident bei Vorschlägen von Kommissaren treffen, die im schriftlichen Verfahren behandelt werden (Art. 12 Abs. 1 GO KOM). So kann ein schriftliches Verfahren auf Antrag durch Entscheidung des Kommissionspräsidenten in ein mündliches Verfahren überführt werden (Art. 12 Abs. 3 GO KOM). Der Kommissionspräsident entscheidet weiter nach freiem Ermessen, ob ein Antrag erneut auf die Tagesordnung gesetzt wird, während dies früher (vgl. Art. 10 Abs. 3 GO KOM 1993) automatisch geschah. Alle neuen Informationen der Kommission oder ihrer Dienststellen gehen über den Dienst des Kommissionssprechers, der direkt dem Kommissionspräsidenten unterstellt ist.610 Jeder Beamte der Kommission muss daher vor der Abgabe eines Interviews den Sprecher informieren, der ihm auch entsprechende Verhaltensmaßregeln geben kann.611 Auch der Inhalt geplanter Veröffentlichungen – analog zu Art. 17 Abs. 2 des Statuts für die Beamten und sonstigen Bediensteten612 – Art. 4 Satz 5 GO KOM vom 9. 1. 1963. Erstmals in Art. 4 Satz 7, 8 GO KOM vom 17. 2. 1993, ABl. 1993 Nr. L 230, S. 15 ff. 606 Erstmals in Art. 4 Satz 3 GO KOM vom 17. 2. 1993, ABl. 1993 Nr. L 230, S. 15 ff. 607 Erstmals in Art. 6 Satz 5 GO KOM vom 18. 9. 1999, ABl. 1999 Nr. L 252, S. 41 ff. 608 Erstmals in Art. 6 Satz 6 GO KOM vom 18. 9. 1999, ABl. 1999 Nr. L 252, S. 41 ff. 609 Dietz / Fabian, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, S. 44. 610 Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485, S. 6. 611 Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 156, Rn. 24. 612 ABl. 1968, L 56, S. 1 i.d.F. ABl. 1996, L 338, S. 1. 604 605

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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muss gemäß Ziffer 4 des internen Grundsatzbeschlusses vom 22. November 1995 vorher dem Kommissionspräsidenten vorgelegt werden. Der Kommissionspräsident hat somit die Möglichkeit, sämtliche geplanten Veröffentlichungen seiner Kommissare zu kontrollieren und mithin zu entscheiden, ob eine Veröffentlichung tatsächlich stattfinden soll oder nicht. Seine organisatorischen Befugnisse ermöglichen es dem Kommissionspräsidenten daher, seine Führungsfunktion weiter auszubauen und seine politische Leitung praktisch durchzusetzen.613 Durch die Möglichkeit, die Leitlinien in den Arbeitsprogrammen zu bestimmen und die Tagesordnung festzulegen, wird ebenso wie durch die freie Ermessensentscheidung, einen Punkt erneut beraten zu lassen, gewährleistet, dass der Kommissionspräsident schon im Vorfeld die Möglichkeit hat, Entscheidungen zu unterbinden, die seiner politischen Richtung zuwiderlaufen. Auch die Geschäftsordnung geht daher von einem Kommissionspräsidenten mit gubernativen Befugnissen aus. (2) Konkretisierung durch die Erklärung Nr. 32 Eine weitere Konkretisierung der politischen Führung des Kommissionspräsidenten findet durch die Erklärung Nr. 32 statt. Zusammen mit dem Vertrag von Amsterdam wurden 51 Erklärungen angenommen, zu denen auch die „Erklärung Nr. 32 zur Organisation und Arbeitsweise der Kommission“614 gehört. Diese Erklärungen, die in der Schlussakte des Amsterdamer Vertrags zusammengefasst sind, enthalten Klarstellungen und Auslegungshinweise zu einzelnen vertraglichen Bestimmungen615 Als Schlusserklärungen sind sie unverbindlich.616 Dies folgt zum einen unmittelbar aus ihrem Wortlaut, der eben nur eine Erklärung vorsieht. Zum anderen folgt die Unverbindlichkeit der Schlusserklärungen mittelbar auch aus Art. 311 EG, der die Protokolle zu Bestandteilen des EG-Vertrags erklärt und somit im Umkehrschluss die Erklärungen nicht als Vertragsbestandteile ansieht. Dass die Schlusserklärungen dennoch zur Auslegung des Primärrechts herangezogen werden können, also als Interpretationshilfen genutzt werden dürfen, ergibt sich aus dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge von 1969 (WVK)617. Obwohl nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Ver613 So wechselte Delors bei seinem Amtsantritt alle Pressesprecher der verbleibenden Kommissare aus und band sie an das vom Präsidenten verkörperte Kollegium. Es wurde nun nicht mehr jedem Kommissar ein Sprecher zugestanden, wie es davor noch der Fall war. Hierzu Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 6; Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 16; Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 157, Rn. 28. 614 Erklärung Nr. 32, ABl. 1997, Nr. C 340, S. 137. 615 BT-Drs. 13 / 9339 vom 3. 12. 1997, S. 60 ff. 616 Kokott, in: Streinz, EG-Komm., Art. 311, Rn. 7. 617 BGBl. 1985 II, S. 926.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

tragsparteien der WVK sind618 und die WVK als ein völkerrechtlicher Vertrag ihre Bindungswirkung nur inter partes entfaltet619, gelten die darin vorgesehenen Auslegungsregeln (Art. 31 ff. WVK), da insoweit Völkergewohnheitsrecht kodifiziert worden ist620. Die Auslegungsgrundsätze der WVK beanspruchen daher universelle Geltung. Die Vertragsstaaten des Amsterdamer Vertrags haben sich durch den Vertrag als Völkerrechtssubjekte wechselseitig zur Erreichung der durch den Vertrag aufgestellten Ziele verpflichtet. Der Amsterdamer Vertrag stellt daher einen Vertrag im Sinne der WVK dar (vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a) WVK), der als völkerrechtlicher Vertrag den hierfür geltenden Auslegungsregeln unterliegt. Gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Gemäß Art. 31 Abs. 2 lit. a) WVK bedeutet für die Auslegung eines Vertrages der Zusammenhang jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsschlusses getroffen wurde. Die 51 angenommenen Schlusserklärungen des Amsterdamer Vertrags dürfen also dann zur Auslegung des Amsterdamer Vertrags genutzt werden, wenn sie Übereinkünfte i.S.v. Art. 31 Abs. 2 lit. a) WVK darstellen, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Abschlusses des Amsterdamer Vertrags getroffen wurden. Der Begriff der Übereinkunft ist in diesem Zusammenhang weit zu fassen. Es handelt sich dabei um jedes schriftliche Dokument, das nicht rechtsverbindlich zu sein braucht.621 Die 51 Schlusserklärungen wurden zusammen mit dem Amsterdamer Vertrag von den Vertragsparteien übereinstimmend angenommen. Sie stellen daher Übereinkünfte i.S.v. Art. 31 Abs. 2 lit. a) WVK dar.622 Die Schlusserklärungen, zu denen die Erklärung Nr. 32 gehört, dürfen somit als Interpretationshilfen zur Auslegung des Amsterdamer Vertrags herangezogen werden. Die Erklärung Nr. 32, die bereits am 10. November 1997 verfasst wurde, stellt ein weiteres Argument für das Vorhandensein einer Organisationsgewalt als Teil der politischen Führung dar. In der Erklärung heißt es: „In diesem Zusammenhang vertritt die Konferenz die Auffassung, dass der Kommissionspräsident der Kommission sowohl bei der Zuweisung der Aufgaben innerhalb des Kollegiums als auch bei jeder Neuordnung dieser Aufgaben während seiner Amtszeit einen großen 618 Frankreich und Irland sind bislang nicht Vertragsparteien, BGBl. 2006 II, Fundstellennachweis B, S. 565 f. 619 Derzeit sind 103 Staaten Vertragsparteien (Stand 31. 12. 2005). BGBl. 2006 II, Fundstellennachweis B, S. 565 f. 620 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, vor § 9, Rn. 5; Herdegen, Völkerrecht, § 15, Rn. 4; Pechstein, in: Streinz, EU-Komm., Art. 1, Rn. 6. 621 Wetzel / Rauschning, Die Wiener Vertragsrechtskonvention, Materialien zur Entstehung der einzelnen Vorschriften, S. 237 ff. 622 Anders verhält es sich bei den acht lediglich zur Kenntnis genommenen Schlusserklärungen des Amsterdamer Vertrags. Diese sind als Urkunden i.S.v. Art. 31 Abs. 2 b) WVK zu qualifizieren.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Ermessensspielraum haben muss.“623 Die damalige Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, dem Kommissionspräsidenten einen großen Ermessensspielraum zuzubilligen, der es ihm ermöglicht, sowohl die Aufgaben zuzuweisen als auch eine Aufgabenneuordnung vorzunehmen, lässt die Regelungen des Vertrags von Nizza und der Geschäftsordnung der Kommission als Konsequenz eines eingeschlagenen Weges erscheinen. Diese Erklärung Nr. 32 beinhaltete schon damals eine deutliche Einschränkung des Kollegialitätsprinzips in dem Maße, wie dem Kommissionspräsidenten ein Ermessenspielraum zugebilligt wird. Aus dem Wortlaut der Erklärung Nr. 32 kann daher abgeleitet werden, dass der Kommissionspräsident nicht schon von vornherein einen großen Ermessenspielraum hat. Er muss ihm erst zugestanden werden. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die einschlägigen Vertragsnormen, könnte man zu dem Schuss kommen, dass der große Ermessensspielraum des Kommissionspräsidenten vom Kollegium beschlossen werden muss (Art. 219 Satz 1 EG). Die Konsequenz dieser Argumentation wäre, dass dem Kommissionspräsidenten sein großer Ermessensspielraum vor jeder Aufgabenänderung bzw. -entziehung vom Kollegium zugestanden werden muss. Es lässt sich unschwer erkennen, dass der Kommissionspräsident keinen großen Ermessenspielraum mehr hätte, wenn er zunächst für jede seiner Entscheidungen, die in eine der oben genannten Richtungen zielt, eine Mehrheit im Kollegium bräuchte. Er wäre im Gegenteil gezwungen, nach Kompromissen zu suchen und Verhandlungen zu führen. Gäbe es dann keine Mehrheit im Kollegium, hätte er im schlimmsten Fall überhaupt keinen Ermessensspielraum. Diese Konsequenz kann von der Konferenz in ihrer Erklärung Nr. 32 nicht gewollt sein. Das Ziel der Konferenz war es vielmehr, die Organisationsgewalt und damit den Handlungsspielraum des Kommissionspräsidenten zu stärken. Die Erklärung Nr. 32 der Konferenz kann daher nur so verstanden werden, dass der Kommissionspräsident jegliche Befugnis haben muss, bei der Zuweisung der Aufgaben innerhalb des Kollegiums wie auch bei jeder Neuordnung dieser Aufgaben tätig zu werden. Die Erklärung drückte somit bereits vor ihrer vertraglichen Verankerung durch den Vertrag von Nizza den Wunsch nach einem Kommissionspräsidenten mit gubernativen Befugnissen aus. Dass der weitere Wunsch der Konferenz, einem Vizepräsidenten die Zuständigkeiten für die Außenbeziehungen zuzuweisen, das Recht des Kommissionspräsidenten auf Zuweisung der einzelnen Ressorts unterläuft, kann mit der besonderen Struktur der Europäischen Union begründet werden. Die Außenvertretung als Kernbereich staatlicher Souveränität möchten die Mitgliedstaaten soweit wie möglich unter ihrer Kontrolle behalten.624 Der Wunsch, einem Vizepräsidenten dieses Ressort zuzusprechen, verleiht diesem Kontrollbestreben Ausdruck. Deutlich wird 623

Erklärung Nr. 32, ABl. 1997, Nr. C 340, S. 137, Hervorhebungen durch die Verfasse-

rin. 624

Siehe S. 147 f.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

dieses Kontrollbestreben auch in Art. I-28 Abs. 1 VV. Hiernach ernennt der Europäische Rat mit der Zustimmung des Kommissionspräsidenten den Außenminister der Union. Mit dieser Ernennung behalten sich die Mitgliedstaaten die personelle Einflussnahme auf die bereits auf die Union übertragenen Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik vor. Die Erklärung Nr. 32 kann dennoch als frühe Absichtsbekundung der Staatsund Regierungschefs gewertet werden, dem Kommissionspräsidenten mehr Einfluss zuzugestehen. Eine vertragliche Verankerung war zum damaligen Zeitpunkt indes politisch nicht durchsetzbar, so dass sie erst mit dem Vertrag von Nizza erfolgte. (3) Konkretisierung durch die Arbeitspraxis Die Arbeitspraxis der Kommission entspricht den bereits gefundenen Ergebnissen. Die Vielfalt der Aufgaben sowie der Umfang und die Komplexität der der Kommission obliegenden Aufgaben machen die Schaffung eines umfangreichen Verwaltungsapparats sowie eine Arbeitsteilung unerlässlich. Die Kommission entlastet sich als Gremium dadurch, dass sie einzelne Mitglieder mit der Vorbereitung und Durchführung ihrer Beschlüsse betraut.625 Nach der Fusion 1965 ist für die neue Kommission das Modell der Aufgabenverteilung im Rahmen der EWG-Kommission Vorbild gewesen.626 Die Organisation der Kommissionsverwaltung nach Sachgebieten in Generaldirektionen und Dienste ist verwaltungsmäßig eine Ressortgliederung. Das Generalsekretariat nimmt dabei eine – mit der Zeit immer stärker hervorgetretene – Sonderstellung ein. Innerhalb der Kommission bereitet das Generalsekretariat jede Sitzung des Kollegiums vor und sorgt für die Abfassung der Protokolle. Seit seiner Bildung im Jahr 1958 ist es dem Kommissionspräsidenten unmittelbar unterstellt.627 Des Weiteren unterstehen dem Kommissionspräsidenten der juristische Dienst sowie der Presse- und Kommunikationsdienst, was seinen Einfluss weiter verstärkt.628 Jedem Mitglied der Kommission ist eine oder sind mehrere Generaldirektion(en) und / oder Dienst(e) zugewiesen mit der Maßgabe, dass dieses Mitglied für die Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse auf dem jeweiligen Gebiet zuständig ist. Die jeweiligen Generaldirektionen oder Dienste bekommen ihre Anweisungen von dem für sie zuständigen Kommissar (vgl. Art. 21 GO KOM). Der Kommissar ist der Antriebsfaktor, aber auch der für die Arbeit seiner Generaldirektion Verantwortliche. Er trägt die Hauptverantwortung für die Arbeit, die in seinem Aufgabenbereich geleistet wird, und trifft alle intern dazu notwendigen Entscheidungen.629 625 626 627 628 629

Siehe S. 191 ff. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 392. Poullet / Deprez, Struktur und Macht der EG-Kommission, S. 54. Nugent, The European Commission, S. 69. Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273 f.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Der betreffende Kommissar hat dabei sowohl das Kollegialitätsprinzip als auch das Prinzip der politischen Führung zu beachten, so dass die Grundtendenz der Beschlüsse gegebenenfalls bereits vorgezeichnet ist.630 In der Gesamtschau der Arbeitspraxis hat der Kommissionspräsident somit zahlreiche Möglichkeiten, auf die Beschlussfassung Einfluss zu nehmen und so seine politische Richtung als Leitlinie vorzugeben.631 Die Kommissare leiten zwar eigenständig ihre jeweiligen Ressorts, richten sich aber nach den politischen Vorgaben des Kommissionspräsidenten.

cc) Zwischenergebnis Mittels Auslegung ist dem Begriff der politischen Führung gemäß Art. 217 Abs. 1 EG zu entnehmen, dass er sowohl eine Organisationsgewalt als auch eine Leitlinienkompetenz, die der Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers vergleichbar ist, beinhaltet. Auch wenn die Kompetenz des Kommissionspräsidenten mit der Kompetenz des Bundeskanzlers in diesem Zusammenhang vergleichbar ist, gibt der Vertrag in der geltenden Fassung von Nizza den Terminus der Leitung vor, in der Geschäftsordnung und im Verfassungsvertrag ist von Leitlinien des Kommissionspräsidenten die Rede. Um die Terminologie des Europarechts einzuhalten, handelt es sich bei der Kompetenz des Kommissionspräsidenten um eine Leitlinienkompetenz. Der Begriff der Richtlinie ist überdies bereits im Rahmen von Art. 249 EG belegt. Die Organisationsgewalt betrifft die gesamte interne Organisation der Kommission sowohl in struktureller als auch in personeller Hinsicht. Die Leitlinienkompetenz deckt den materiellen Teil ab. Sie ermöglicht es dem Kommissionspräsidenten, die grundsätzliche Richtung seiner Politik zu bestimmen. Dies beinhaltet auch die Erteilung von Einzelweisungen. Die Geschäftsordnung, die Erklärung Nr. 32 und die Arbeitspraxis unterstützen den Kommissionspräsidenten bei der Ausübung seiner Leitlinienkompetenz. In welchem Ausmaß der Kommissionspräsident Leitlinien erteilen darf und dabei insbesondere auf das Instrument der Einzelweisungen zurückgreifen darf, ist dennoch fraglich.

b) Grenzen der politischen Führung Der Kommissionspräsident ist bei der Ausübung seiner Leitlinienkompetenz an das Primärrecht gebunden. Er hat somit bei der Ausübung seiner politischen Führung sowohl das Kollegialitätsprinzip als auch das Ressortprinzip als möglicherweise gegenläufige Prinzipien zu beachten. Konkrete Einzelweisungen können 630 631

Siehe S. 155 ff. und S. 198. Siehe auch S. 163 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

beispielsweise dazu dienen, seinen Führungsanspruch durchzusetzen, verstoßen aber möglicherweise gegen das Kollegialitäts- oder Ressortprinzip. Es muss daher in der Zusammenschau mit dem Kollegialitäts- und Ressortprinzip geklärt werden, wieweit das Prinzip der politischen Führung reicht und Leitlinien und Einzelweisungen zulässig sind oder eine Verdrängung eines anderen ebenfalls vertraglich garantierten Prinzips nach sich ziehen würden. aa) Kollegialitätsprinzip Das Kollegialitätsprinzip, nach dem die Beschlüsse der Kommission (Hohen Behörde) mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst werden,632 war von Beginn an die Grundlage der Arbeit des Organs. Es beruht auf der Gleichheit der Mitglieder bei der Willensbildung und bei den Entscheidungen des Organs und verlangt die Solidarität der Mitglieder bezüglich der gefassten Beschlüsse in dem Sinne, dass sie nicht individuell, sondern kollektiv als Gemeinschaftsorgan politisch verantwortlich sind.633 Dieses Prinzip wurde später stets bestätigt, bis es schließlich Eingang in den Vertrag fand.634 Genannt ist das Kollegialitätsprinzip heute in Art. 217 Abs. 1 EG, nach dem das Handeln der Kommission auf der Grundlage der Kollegialität beruhen soll. Die Kommission als Kollegium ist erwähnt in Art. 217 Abs. 3, 4 EG. Im Verfassungsvertrag findet das Kollegialitätsprinzip eine explizite Erwähnung in Art. I-27 Abs. 3 lit. b) VV. Das Kollegialitätsprinzip bedingt somit nicht nur die Gleichheit der Kommissare bei der Entscheidungsfindung, sondern beinhaltet auch eine gemeinsame Verantwortlichkeit.635 Der EuGH führt dazu aus, dass das Kollegialitätsprinzip auf Art. 17 FusV zurückgehe und voraussetze, dass die Entscheidungen gemeinsam beraten werden und dass alle Mitglieder für sämtliche erlassenen Entscheidungen politisch gemeinsam verantwortlich sind.636 Eine Abschwächung vollzieht der EuGH, indem er weiter ausführt, dass es mit diesem Prinzip durchaus vereinbar ist, bestimmte Kommissare zu Entscheidungen zu ermächtigen, die diese in ihrem Namen und unter ihrer Kontrolle treffen.637 Ausfluss des Kollegialitätsprinzips ist, dass die Beschlüsse der Kommission mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst werden (Art. 219 Satz 1 EG, dem insoweit 632

Art. 13 Abs. 1 EGKSV; Art. 163 Satz 1 EWGV; Art. 132 Satz 1 EAGV; Art. 17 Satz 1

FusV. 633 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 391; KOM 2000, 34 endg., S. 11. 634 Erstmals genannt in der Maastrichter Fassung, Art. 158 Abs. 2 EGV „stellen sich als Kollegium“. 635 Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 8. 636 EuGH, Rs. 5 / 85, AKZO, Slg. 1986, 2585 (2586), Rn. 3 und Schlussantrag des Generalanwalts Lenz vom 10. 6. 1986, Rn. 30 ff.; EuGH, Rs. C-137 / 92 P, BASF AG u. a., Slg. 1994, I-2555, Rn. 62. 637 EuGH, Rs. 5 / 85, AKZO, Slg. 1986, 2585 (2586), Rn. 3. Siehe S. 191 f.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Art. III-351 Satz 1 VV entspricht). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dem Kommissionspräsidenten kein Vetorecht zusteht. Sichtbar wird das Kollegialitätsprinzip auch bei dem Misstrauensvotum des Parlaments (Art. 201 EG), bei dessen Annahme alle Kommissare geschlossen ihr Amt niederlegen müssen. Schließlich beginnt die Geschäftsordnung der Kommission in Art. 1 mit dem Handeln der Kommission als Kollegium, das allerdings unter Beachtung der von ihrem Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien stattfindet. Die Geschäftsordnung enthält somit einen Hinweis auf die bereits oben festgestellte Spannung zwischen dem Prinzip der politischen Führung, das dem Kommissionspräsidenten Möglichkeiten eröffnet und den Prinzipien der Ressortverantwortung und der Kollegialität, die den Kommissaren Möglichkeiten geben. In der Geschäftsordnung könnte ferner ein Hinweis enthalten sein, wie die Spannung zwischen dem Prinzip der politischen Führung und dem Kollegialitätsprinzip aufzulösen ist. Denn wenn das Handeln der Kommission unter Beachtung der von ihrem Präsidenten festgelegten politischen Leitlinien stattfindet, könnte daraus gefolgert werden, dass die politischen Leitlinien des Präsidenten dem Handeln der Kommission übergeordnet sind. Darüber hinaus wird die dem Kollegialitätsprinzip zugrunde liegende Annahme der „Gleichheit der Mitglieder der Kommission“ durch die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten als Ausfluss seiner politischen Führung erkennbar beeinträchtigt. Erlässt der Kommissionspräsident Anweisungen, die die übrigen Kommissare zu befolgen haben, liegt eine Gleichheit der Mitglieder nicht mehr vor. Des Weiteren findet sich eine Spannung zum Ressortprinzip, nach dem die Kommissare ihre Ressorts selbstständig unter eigener Verantwortung leiten.638 Entscheiden die Kommissare in ihrem Ressort aber eigenverantwortlich, dann greift eine möglicherweise widersprechende Entscheidung des Kollegiums in die Ressortkompetenz des einzelnen Kommissars ein. Fraglich ist daher, welchen Gehalt das Kollegialitätsprinzip gegenüber dem Prinzip der politischen Führung und dem Ressortprinzip aufweist. (1) Inhalt und Bedeutung des Kollegialitätsprinzips Die Kommission als Kollegium ist an verschiedenen Stellen im Vertragstext festgeschrieben. Betrachtet man isoliert die Norm des Art. 217 Abs. 1 EG, soll das Handeln der Mitglieder auf der Grundlage der Kollegialität beruhen. Allein dieser Wortlaut trifft aber keine Aussage darüber, inwieweit die Handlungsbefugnisse der Kommission als Kollegium in diejenigen des Kommissionspräsidenten und diejenigen der Kommissare, die selbstständig ihre Ressorts leiten, eingreifen dürfen. Die Erwähnung der Kommission als Kollegium in Art. 217 Abs. 3, 4 EG ist ebenso wenig aufschlussreich. Die Festschreibung im Verfassungsvertrag (Art. I-27 Abs. 3 lit. b) VV) bringt zwar eine Veränderung des reinen Wortlauts mit sich, da nun das Kollegialitätsprinzip aufgenommen wurde, doch trägt diese Festschreibung inhalt638

Siehe S. 190 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

lich nichts zur Klärung seiner Reichweite bei. Der Wortlaut hilft daher zur Ermittlung des Gehalts des Kollegialitätsprinzips und für eine Abgrenzung zur politischen Führung des Kommissionspräsidenten nicht weiter. Möglicherweise können jedoch der systematischen Stellung beider Prinzipien in den genannten Normen Hinweise entnommen werden, wie das genannte Spannungsverhältnis aufzulösen ist. Das Kollegialitätsprinzip wird sowohl in Art. 217 Abs. 1 EG als auch in Art. I-27 Abs. 3 lit. b) VV im Text nach der politischen Führung des Präsidenten erwähnt. Dieser textlichen Verankerung kann der Hinweis entnommen werden, dass das Kollegialitätsprinzip bei einer Prinzipienkollision zurücktreten soll. Eine Vorrangstellung der politischen Führung des Kommissionspräsidenten erscheint somit bereits vertraglich angelegt. Beide Artikel stellen weiterhin klar, dass der Kommissionspräsident für eine Sicherstellung des Kollegialitätsprinzips sorgen soll. Bestätigt wird dies durch das in der Geschäftsordnung zum Ausdruck kommende Verhältnis zwischen politischer Führung und Kollegialitätsprinzip. Auch danach hat sich das Kollegialitätsprinzip den Leitlinien des Präsidenten unterzuordnen (Art. 1 GO KOM). Gleichwohl besteht das Kollegialitätsprinzip im Vertrag fort. Daher darf eine Auflösung des Spannungsverhältnisses nicht zu einem vollständigen Zurücktreten des Kollegialitätsprinzips führen. Vielmehr bedarf es einer Abwägung im Einzelfall. Je nach konkretem Fall geht das Prinzip mit dem größeren Gewicht vor.639 Fraglich ist daher, in welchen Fällen eine Vorrangstellung des Kollegialitätsprinzips eintritt und in welchen Fällen es hinter einem anderen Prinzip zurücktritt. Aufschluss könnte zunächst eine Analyse des Sinns und Zwecks des Kollegialitätsprinzips geben. Eine Betrachtung des Sinns und Zwecks des Kollegialitätsprinzips kann seine Einordnung innerhalb der anderen genannten Prinzipien erleichtern und helfen, seinen Gehalt zu ermitteln sowie seine Reichweite und seine Grenzen abzustecken. Da das Kollegialitätsprinzip die Grundlage für die Arbeit der Kommission bildet, ist sein Sinn und Zweck unter Einbeziehung historischer Aspekte erläutern. So war das Kollegialitätsprinzip besonders in den Anfangsjahren dazu gedacht, zur politischen Glaubwürdigkeit der Kommission beizutragen und eventuelle Vorbehalte der Mitgliedstaaten, staatliche Kompetenzen abzugeben, abzubauen.640 (a) Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle des Kollegiums Heute ist Sinn und Zweck des Kollegialitätsprinzips insbesondere, eine Selbstverpflichtung der Kommissare durch ihre Abstimmung im Kollegium zu erreichen. Die Abstimmung im Kollegium nach dem Mehrheitsvotum bringt einen Beschluss mit sich, der alle Kommissare auf eine einheitliche Linie verpflichtet (vgl. Art. 219 639 640

Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79. Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 218, Rn. 10.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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Satz 1 EG; Art. 7, 8 GO KOM). Diese Einheitlichkeit ist notwendig, denn es ist nach wie vor die Kommission, die handelt (Art. 211, 219 EG). Handelt rechtlich nicht etwa der einzelne Kommissar, sondern die Kommission als Ganzes, ist es notwendig, allen Kommissaren eine Gesamtverantwortung für das Handeln der Kommission zuzuweisen. Ausdruck dieser Gesamtverantwortung ist der gemeinsame Rücktritt bei der Annahme eines Misstrauensvotums.641 Ferner ist es erforderlich, über die gemeinsam zu verantwortende Politik Beschluss zu fassen. Denn nur in dem Maße, in dem ressortfremde Kommissare an die Entscheidungen eines Ressortkommissars gebunden werden, können sie überhaupt Verantwortung für diese Entscheidungen übernehmen. Durch den zuvor im Kollegium gefassten Beschluss einer bestimmten Politik, die schließlich von einem Ressortkommissar umgesetzt wird, erklären sich die anderen Kommissare an die Entscheidungen des Ressortkommissars gebunden. Eine solche Bindung, die für die Übernahme von politischer Verantwortung notwendig ist, wird durch die kollegiale Art der Entscheidungsfindung geschaffen, welche die Kommissare einbindet. Die Bindung der Kommissare zur gemeinschaftlich beschlossenen Linie ist daher auch bei einer abweichenden Einzelmeinung durch die im Mehrheitsverfahren vorgenommene Beschlussfassung gegeben. Sinn und Zweck des Kollegialitätsprinzips ist es mithin, eine kohärente politische Linie in der Kommissionsarbeit zu sichern, ohne dass es hierfür eines fortlaufenden Leitlinienerlasses des Kommissionspräsidenten bedarf. Darüber hinaus ist auch in der Praxis eine Bindung aller Kommissare an die gemeinsame Linie erforderlich. Viele Einzelentscheidungen eines Ressorts haben Auswirkungen auf das Nachbarressort, das dann seinerseits reagieren muss. Der Kommissionspräsident wäre gar nicht in der Lage und auch nicht vertraglich befugt, in allen Fällen Leitlinien zu erlassen, um eine gemeinsame Linie sicherzustellen. Die Leitlinien des Kommissionspräsidenten werden zumeist allgemein ausfallen. Dann entscheidet das Kollegium über die gemeinsam durchzuführende Politik. Eine Bindung an eine gemeinsame Linie ist allerdings auch unter einem anderen Gesichtspunkt erforderlich. Die einzelnen Kommissare werden nicht nur durch das Europäische Parlament legitimiert, sondern gleichfalls durch die Mitgliedstaaten. Diese doppelte Legitimation ist somit größer als beispielsweise die der deutschen Minister, die lediglich auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernannt werden (Art. 64 Abs. 1 GG). In dieser doppelten Legitimation liegt aber ebenfalls die Notwendigkeit eines kollegialen Prinzips begründet. Denn die Kommissare, die in dieser Form legitimiert werden, wissen um diese Bestärkung ihrer Person und erhalten dadurch ein besonderes Selbstbewusstsein. Eine Bindung der Kommissare an die gemeinsame Linie, damit sie diese auch selbst in ihren Ressorts umsetzen, ist daher unerlässlich. Sinn und Zweck des Kollegialitätsprinzips ist es ferner, Akte einer genauen Überprüfung im Sinne des Mehr-Augen-Prinzips durch möglichst viele Beteiligte 641

Siehe S. 135 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

zu unterziehen. Die Kommissare sollen den Rechtsakt und seine möglichen Auswirkungen vor seinem Erlass aus Sicht ihrer unterschiedlichen Ressorts und mithin aus möglichst vielen Perspektiven begutachtet haben. Des Weiteren dient ein kollegialer Entscheidungsprozess durch die Einbeziehung verschiedener Personen der Kontrolle, denn die gleichrangigen Mitglieder beaufsichtigen und kontrollieren sich wechselseitig.642 Gleichzeitig fördert das Kollegialitätsprinzip den Diskussionsprozess innerhalb der Kommission und schafft gegenseitiges Verständnis für die Probleme des jeweils anderen Staates.643 So dient eine kollegiale Regierungsweise grundsätzlich dazu, einen stärkeren Ausgleich zu schaffen. Sie erlaubt Koordinierung und ein Höchstmaß an Abstimmung.644 Kein Mitglied kann seine Meinung allein durchsetzen, sondern muss sich vor den anderen Mitgliedern rechtfertigen und eine Mehrheit suchen.645 (b) Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit In den Anfangsjahren war das Kollegialitätsprinzip sinnvoll und notwendig, um die damaligen Mitgliedstaaten zu einer Übertragung ihrer souveränen Rechte zu bewegen. Dennoch wurde bereits in dieser Zeit Kritik formuliert. So äußerte sich der Kommissar Spinelli (1973 – 1976): „Heute ist die Gestaltung der Arbeit der Kommission immer weniger zweckentsprechend. Wenn man von den großen politischen Optionen absieht, beschränkt sich die kollegiale Arbeitsweise immer mehr auf eine höfliche Pflichtübung, bei der jedes Kommissionsmitglied, das auf seinem eigenen Gebiet absolut fachkundig ist, die Kollegen über den Fortgang der Arbeiten unterrichtet. Es ist für irgendeinen Kollegen durchaus nicht leicht ( . . . ), mehr als Bemerkungen zu Einzel- oder Formfragen zu machen, noch schwieriger wäre es, die anderen Mitglieder des Kollegiums durch eine Argumentation zu überzeugen, die im Widerspruch zu der von dem verantwortlichen Kollegen vertretenen These stünde. So kann man behaupten, dass die großen Tätigkeitsbereiche der Kommission wie zum Beispiel die Währungs- oder Agrarpolitik fast ausschließlich durch den Kommissar geprägt wurden, dem sie übertragen worden waren.“646 Nach dieser Kritik muss zum einen die Frage gestellt werden, ob dem Kollegialitätsprinzip heute die gleiche Berechtigung zukommt, wie es in den Anfangsjahren der Fall war.647 Es erscheint beispielsweise wichtiger, eine optimal arbeitsfähige Ueberwasser, Das Kollegialprinzip, S. 70. Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 274 f. 644 Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 1013. 645 Dagtoglou, Kollegialorgane und Kollegialakte in der Verwaltung, S. 23; Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, S. 61; Gross, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, S. 300. 646 Spinelli, Agenda pour l’Europe, S. 74 f., übersetzt in Poullet / Deprez, Struktur und Macht der EG-Kommission, S. 50 f. 647 Siehe S. 21 ff. und S. 110 ff. 642 643

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Kommission zu schaffen, als darauf zu hoffen, dass sich durch das Kollegialitätsprinzip das Vertrauen unter den Mitgliedstaaten weiter verstärkt. Zum anderen kann überlegt werden, ob das Kollegialitätsprinzip nicht bei allen positiven Effekten auch negative Effekte mit sich bringt, die den zuvor erläuterten Sinn in sein Gegenteil verkehren. Solche negativen Effekte könnten sich mit zunehmender Größe des Kollegiums verstärken. So wirkt sich die Größe eines Kollegiums auf seine Arbeitsfähigkeit aus. Je größer das Kollegium ist, umso stärker treten nachteilige Effekte wie eine gewisse Schwerfälligkeit des Verfahrens auf.648 Eine quantitative Berechnung der Wirtschaftlichkeit eines Kollegiums ist zwar aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht nicht möglich.649 Es fehlt hierzu insbesondere an validen empirischen Erkenntnissen.650 Dennoch treten in Kollegialorganen gehäuft negative Effekte auf, die die Arbeit der Kollegen erschweren. Beispielsweise lassen sich die einzelnen Verwaltungsapparate der Kommissare bei der Vorbereitung der kollegialen Entscheidungen zunehmend schlechter koordinieren.651 Die mit der größeren Zahl an Mitgliedern einhergehende höhere Verwaltungsarbeit erfordert einen höheren finanziellen Aufwand.652 Durch die Anzahl der beteiligten Personen bringt das Kollegialitätsprinzip zwangsläufig Doppelarbeit und Arbeitskumulierung mit sich.653 Es ist daher mit „Reibungsverlusten“654 verbunden. Auch steigt der Zeitaufwand der Konsensfindung, wenn nicht alle Auffassungen bereits von Beginn an übereinstimmen, mit der Größe des Kreises der Beteiligten.655 Wenn derzeit jeder Kommissar auf einer wöchentlichen Sitzung in einem Fünf-Minuten-Statement seine Grundhaltung erläutert, so erfordert jeder Tagesordnungspunkt rund zwei Stunden Beratungszeit, bevor die eigentlichen Verhandlungen überhaupt beginnen. Dasselbe gilt für die Sitzung der Kabinette, deren undefinierte Macht zwischen politischer Kollegialführung und technischen Dienststellen proportional mit der Zahl der Kommissare ansteigt.656 Persönliche Freundschaften und ein gleichge648 Gross, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, S. 206; Machens, Die Klagemöglichkeiten von einzelnen oder Gruppen von Mitgliedern gegen ihr eigenes Kollegialorgan innerhalb der öffentlichen Verwaltung, S. 35 f.; Dagtoglou, Kollegialorgane und Kollegialakte der Verwaltung, S. 24 f.; Schneider, Die Beschlussfähigkeit und Beschlussfassung von Kollegialorganen, S. 42; siehe auch Bornhak, der insoweit sogar von „Missständen der Langsamkeit und Schwerfälligkeit“ spricht, Deutsche Verfassungsgeschichte vom Westfälischen Frieden an, S. 178; ähnlich Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, S. 65. 649 Kosiol, in: ders., Organisation des Entscheidungsprozesses, S. 107 ff., 202. 650 Redel, Kollegienmanagement, S. 100, 396. 651 Ehlermann, Das schwierige Geschäft der Kommission, EuR 1981, 335 (339). 652 Ueberwasser, Das Kollegialprinzip, S. 122; Dagtoglou, Kollegialorgane und Kollegialakte der Verwaltung, S. 27. 653 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 329; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 257. 654 Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, S. 429. 655 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 257; Eichenberger: „Das Kollegium kostet Zeit.“, in: Der Staat der Gegenwart, 434 (445).

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richtetes Engagement für ein gemeinsames Ziel entstehen ebenfalls schwerer, je höher die Anzahl der Kommissionsmitglieder ist.657 Insgesamt wird die Kommissionsarbeit durch die hohe Mitgliederzahl mehr behindert als befördert.658 Das Argument, Sinn und Zweck des Kollegialitätsprinzips sei es, dass Akte gründlicher abgewogen und von einem größeren Fachwissen getragen würden, als wenn sie von einem Einzelnen getätigt würden659, verliert an Bedeutung, da die Fachkompetenz, die die Entschlüsse vorbereitet, aus den einzelnen Dienststellen kommt.660 Möglicherweise verfügt der zuständige Kommissar in dem ihm zugeordneten Bereich ebenfalls über Fachkompetenz, diese stellt dann aber lediglich ein „Plus“ dar. Das Argument, dass Akte von einer größeren Fachkompetenz getragen werden, weil sich das Kollegium mit ihnen beschäftigt, geht daher in vielen Fällen an der Realität vorbei. Diese Arbeitsteilung wird auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. So genießt die Kommission als Kollegialorgan kein hohes Ansehen; sie beeindruckt die Außenwelt am meisten durch das Auftreten ihres Präsidenten oder einzelner Mitglieder.661 Darüber hinaus besteht bei kollegial ausgestalteten Entscheidungsträgern die Gefahr, dass eine erforderliche oder wünschenswerte Geheimhaltung erschwert ist: „Je mehr Personen an einem Vorgang beteiligt sind, ( . . . ) desto zahlreicher sind im Allgemeinen auch die Gefahren be656 657

Dewost, in: ders., L’ Europe et le droit, 181 (188). Nass, in: Immenga / Möschel / Reuter, Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, 411

(419). 658 Lipsius, The 1996 Intergouvernmental Conference, ELR 1995, 235 (252); Davignon, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 12 (16); Noel, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 62 (66); Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Rede am 12. 05. 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, S. 20; Delors, Erinnerungen eines Europäers, S. 299; Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 204, Rn. 17; Schild zeigt beispielhaft auf, wie Kommissionspräsident Barroso notwendigerweise Ressorts aufteilen musste, um der erweiterungsbedingten gewachsenen Zahl von Kommissaren ein Betätigungsfeld zu schaffen, ders., Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur?, integration 2005, 33 (36); Epping erachtet eine Kommission mit 25 Mitgliedern kaum mehr für arbeitsfähig, ders., Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (822); ebenso Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Thiesing / Ehlermann, EG-Komm., Art. 157, Rn. 8, der eine Vergrößerung der Kommission auf 30 Kommissare für selbstmörderisch hält. Die Kommission würde endgültig von einem Exekutivorgan zu einer Versammlung degeneriert. Anders Nass, in: Scheuing, Europäische Verfassungsordnung, 59 (75), der in dieser Vergrößerung keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sieht, da die Dienstellen der Kommission ohnehin aus 30 Verwaltungseinheiten bestünden, so dass jedes Kommissionsmitglied ein Ressort bekäme. 659 Knöpfle, Organisation und Arbeitsweise der gemeinsamen Kommission der europäischen Gemeinschaften, EuR 1968, 30 (33). 660 Nass, in: Zehetner, Festschrift für Hans-Ernst Folz, 243 (249). 661 Biesheuvel / Dell / Marjolin, Bericht des Dreier-Ausschuss, S. 66; Weinstock, Wie kann der Entscheidungsprozess in der Europäischen Gemeinschaft verbessert werden? Zum Bericht der „Drei Weisen“, integration 1980, 60 (66).

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wusster oder unbewusster Indiskretion.“662 Das Kollegialitätsprinzip bringt mithin neben den genannten positiven auch gravierende negative Konsequenzen mit sich, die mit der Größe des Kollegiums zunehmen. Fraglich bleibt dennoch, inwieweit die Entscheidungen durch das Kollegium den vom Kommissionspräsidenten vorgegebenen politischen Linien widersprechen dürfen und welches der Prinzipien – Kollegialität und politische Führung – im Kollisionsfall zurücktritt. Es bedarf daher einer Abwägung von Einzelfällen, anhand derer geklärt werden soll, in welchen Fällen das Kollegialitätsprinzip zur Anwendung kommt und in welchen Fällen es hinter dem Prinzip der politischen Führung oder dem Ressortprinzip zurücktritt. (c) Kollegiale Beschlussfassung und Leitlinienkompetenz Die Beschlüsse der Kommission werden mit der Mehrheit ihrer Mitglieder gefasst. So lautet Art. 219 Satz 1 EG, der durch Art. III-351 Satz 1 VV inhaltlich keine Änderung erfährt. Dem Kommissionspräsidenten wurde weder eine ausschlaggebende Stimme noch ein Veto zugestanden.663 In dieser Beschlussfassung finden sich somit die Inhalte des Kollegialitätsprinzips – Gleichheit aller in Entscheidung und Verantwortung – wieder. Seit dem Kommissionspräsidenten jedoch eine politische Führungskompetenz gegeben wurde, darf die Beschlussfassung nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern muss in der Zusammenschau mit den Kompetenzen des Kommissionspräsidenten interpretiert werden. Dafür spricht bereits der Wortlaut, wie besonders in der französischen Fassung deutlich wird.664 Die Tatsache, dass es dem Kommissionspräsidenten bereits im Vorfeld einer Beschlussfassung möglich ist, anhand von konkret gefassten Leitlinien oder ausnahmsweise in Form einer Einzelweisung auf das Ergebnis einer Beschlussfassung einzuwirken, unterstützt die Vorrangstellung des Prinzips der politischen Führung. Hat der Kommissionspräsident jedoch keine Vorgabe in Form einer konkreten Leitlinie oder Einzelweisung verfasst, sondern wurde die Leitlinie allgemein formuliert, wird im Kollegium über die Politik entschieden. Der Kommissionspräsident erklärt sich dann durch das Nichtvorgeben von expliziten Anweisungen bereit, die Entscheidung des Kollegiums anzuerkennen. Bei der daraufhin erfolgenden Abstimmung besitzt er genau wie die übrigen Kommissare nur eine Stimme und kann daher auch unterliegen.665 Unterstützt wird die rechtliche Betrachtung durch den faktischen Wert des Mehrheitsvotums, der als sehr gering angesehen wird. So werden die EntscheidunHerzog, Allgemeine Staatslehre, S. 193. Kritik äußert Càmia, der ein Veto-Recht bzw. eine ausschlaggebende Stimme des Kommissionspräsidenten zur Durchsetzung seiner politischen Führung für sinnvoll erachtet, ders., in: Mégret, le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 213, Rn. 30. 664 Siehe S. 159. 665 Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 271. 662 663

12 Staeglich

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gen in der Kommission regelmäßig im Konsens gefasst, ohne dass das Mehrheitsvotum zum Einsatz kommt.666 Möglicherweise liegt dies auch an der Beschlussfassung in der Kommission, die nicht geheim, sondern offen in gemeinschaftlicher Sitzung (Art. 4 lit. a) GO KOM) durch Handzeichen oder Abfragen stattfindet.667 Es ist daher ersichtlich, welcher Kommissar wie abstimmt, was diesen in seinem Abstimmungsverhalten beeinflussen könnte. Kommt es aber in der Praxis nur selten zu Mehrheitsentscheidungen, ist auch die Bedeutung dieses Artikels sehr gering. Diese faktische Bedeutungslosigkeit ist allerdings unter politischen Gesichtspunkten wünschenswert, da die Arbeit der Kommission vom vertrauensvollen und reibungslosen Kooperieren ihrer Mitglieder abhängt. Es trägt daher zu einer effizienten und harmonischen Arbeitsatmosphäre bei, dass im Regelfall kein Kommissar überstimmt wird. Die kollegiale Beschlussfassung könnte somit durch die konkreten vertraglichen Befugnisse des Kommissionspräsidenten, die schon im Vorfeld ihre Wirkung entfalten, ausgehebelt werden. Um dennoch nicht das gesamte Kollegialitätsprinzip auf Null zu reduzieren, ist es notwendig zu klären, wann ein Mehrheitsvotum für den Erhalt des Kollegialitätsprinzips erforderlich ist und wann es hinter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten zurücktreten muss. Das Kollegialitätsprinzip soll eine einheitliche politische Arbeit sichern, der sich alle Kommissare verpflichtet fühlen, so dass mithin von allen eine Gesamtverantwortung für das Handeln der Kommission eingefordert werden kann. Um diese Vorgabe zu erfüllen, müssen sich die Kommissare auf eine einheitliche politische Linie einigen. Diese Einigung soll durch eine kollegiale Entscheidung herbeigeführt werden. Im Gegensatz zu den Leitlinien des Kommissionspräsidenten darf diese Einigung allerdings nicht stehen. Dies ergibt sich nicht nur aus der systematischen Stellung der genannten Normen, sondern auch aus der Stellung der Prinzipien innerhalb der Normen. Bekräftigt wird dieses Ergebnis gleichfalls durch die französische und englische Formulierung des Art. 217 Abs. 1 EG, die klarstellen, dass die Kommission unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten handelt: „La Commission remplit sa mission dans le respect des orientations politiques définies par son président“ und „The Commission shall work under the political guidance of its President“. Handelt die Kommission allerdings unter der politischen Führung ihres Kommissionspräsidenten, darf sie keine Entschlüsse treffen, die dieser politischen Führung entgegenstehen. Durch die kollegial getroffenen Entscheidungen werden die Leitlinien des Kommissionspräsidenten mithin bestärkt und insbesondere konkretisiert. Diese Bestärkungen und Konkretisierungen sind auch notwendig, denn nur so verpflichten sich die einzelnen Kommissare selbst, die politischen Leitlinien des Kommissionsprä666 Mit Zahlen und Prozentangaben Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EGKomm., Art. 219, Rn. 18. 667 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 20 m. w. N. 668 Ebenso Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273.

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sidenten mit zu tragen und für das Handeln der Kommission Verantwortung zu übernehmen. Da es mithin die Kommission ist, die rechtlich tätig wird, ist diese Selbstbindung nicht nur für eine einheitliche Politik notwendig, sondern auch für ihre Öffentlichkeitswirkung. Kontraproduktiv für eine einheitliche Politik wäre beispielsweise eine anders lautende Äußerung eines Kommissars in der Öffentlichkeit. Durch einen Kollegiumsbeschluss, der zuvor gemeinschaftlich von allen Kommissaren gefasst wurde, können gegenteilige Äußerungen im Sinne einer „Fraktionsdisziplin“ vermieden werden. Das Kollegialitätsprinzip entfaltet sich mithin im Rahmen der politischen Führung des Kommissionspräsidenten, nicht gegen sie. Festzuhalten bleibt, dass das Kollegialitätsprinzip immer dann hinter dem Prinzip der politischen Führung zurückzutreten hat, wenn und soweit eine Leitlinie des Kommissionspräsidenten eine Entscheidung vorgibt. (d) Kollegiale Entscheidungen bei Zuständigkeitsstreitigkeiten Das Kollegialitätsprinzip könnte weiter zum Tragen kommen, wenn zwischen den Kommissaren ressortübergreifende strittige Fragen auftreten. In diesem Fall hilft die Ressortkompetenz des einzelnen Kommissars nicht weiter, da alle Beteiligten der Ansicht sind, von ihrer jeweiligen Kompetenz Gebrauch zu machen bzw. nicht betroffen zu sein (positiver oder negativer Kompetenzkonflikt). In Betracht kommt ferner ein inhaltlicher Konflikt zwischen zwei Ressorts, die sich bei der Entscheidung einer Frage nicht einigen können, wenn die Leitlinien des Kommissionspräsidenten ressortübergreifend sind und keine Vorgaben enthalten. Auf den ersten Blick könnte die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten nicht einschlägig sein, da es sich um einen bereits verteilten Zuständigkeitsbereich handelt, dessen Abgrenzung lediglich in einer bestimmten Frage unklar ist und der von mehreren Kommissaren für sich beansprucht wird. Bei einer solchen Zuständigkeitsstreitigkeit könnte das Kollegialitätsprinzip relevant werden. Das Kollegium entscheidet dann mehrheitlich, wie die Meinungsverschiedenheit beigelegt werden soll. Bevor es zu einer solchen Entscheidungsfindung durch das Kollegium kommt, stellt sich indes die Frage, ob der Kommissionspräsident in einem solchen Fall nicht trotzdem vor einer Mehrheitsentscheidung aktiv werden kann bzw. muss und woraus er gegebenenfalls diese Kompetenz ableitet. Bei einem positiven oder negativen Kompetenzkonflikt, bei dem nicht von vornherein verschiedene Ressorts berührt sind, wurden die Zuständigkeiten vom Kommissionspräsidenten offensichtlich insoweit fehlerhaft zugeschnitten und verteilt, dass entweder ein Bereich ganz weggelassen wurde oder die konkrete Zuständigkeitsverteilung missverständlich ist. In beiden Bereichen muss der Kommissionspräsident daher aus seiner vertraglich verankerten Organisationsgewalt (Art. 217 Abs. 2 Satz 1 EG) vor einer Mehrheitsentscheidung des Kabinetts die Möglichkeit haben, nachzubessern und 12*

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den Kommissaren klare Kompetenzen zuzuweisen.668 Denn diese Kompetenz als Ausdruck seiner politischen Führung wurde ihm persönlich zugestanden. Die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten ist bei positiven oder negativen Kompetenzkonflikten somit einschlägig. Die Gliederung und Verteilung der Zuständigkeitsbereiche gehört zum Kernbestand an Kompetenzen, die Ausdruck seiner politischen Führung sind. Greift das Kollegium durch einen Mehrheitsbeschluss in diese Kompetenz ein, hieße dies, in die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten einzugreifen, und die ihm vertraglich zugestandene Befugnis zur Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zu beschränken. Dem Kommissionspräsidenten muss daher die Möglichkeit gegeben werden, auch nachträglich eine Zuständigkeitsstreitigkeit zwischen Kommissaren dadurch zu lösen, dass er die Zuständigkeit des einen auf die strittige Frage ausweitet bzw. die Zuständigkeit des anderen begrenzt. Dieses Recht wird durch die ebenfalls vertraglich verankerte Möglichkeit des Kommissionspräsidenten gestützt, nachträglich Zuständigkeitsbereiche zu entziehen und somit die Zuständigkeitsverteilung zu ändern (Art. 217 Abs. 2 Satz 2 EG). Er könnte somit ohne weiteres einen streitentscheidenden Beschluss des Kollegiums bezüglich der Zuständigkeitszuordnung ändern. Dies würde einen solchen Beschluss ad absurdum führen. Eine solche Zuweisung ist allerdings nur dann möglich, wenn sich die strittigen Fragen klar zwischen den verschiedenen Ressorts abgrenzen lassen. Bei einem inhaltlichen Streit zwischen zwei gleichermaßen betroffenen Ressorts kann es verschiedene Möglichkeiten geben, um zu einem Ausgleich der betroffenen Prinzipien zu gelangen, ohne einem von vornherein eine Vorrangstellung zuzugestehen. Geht es um unterschiedliche Ansichten, die die Auslegung der Leitlinien betreffen, muss dem Kommissionspräsidenten nachträglich die Möglichkeit zukommen, die Leitlinie zu präzisieren. Da er wie oben bereits genannt die Definitionskompetenz in einer solchen Angelegenheit besitzt, steht es ihm grundsätzlich auch frei, die Leitlinien durch eine Einzelweisung zu konkretisieren. Bei einer solchen Auslegungsstreitigkeit kann von der Notwendigkeit einer Einzelweisung ausgegangen werden, da die Leitlinie offensichtlich nicht ausreichend klare Vorgaben zur Umsetzung der politischen Vorgaben des Kommissionspräsidenten macht. Dies zeigt sich aber erst nach Erlass der Leitlinie. Dem Kommissionspräsidenten muss daher auch in diesem Fall die Möglichkeit zur nachträglichen Klarstellung gegeben werden. Ein Kollegiumsbeschluss würde in diese Leitlinienkompetenz eingreifen. Handelt es sich allerdings um eine ressortübergreifende inhaltliche Streitigkeit, zu der keine Leitlinienvorgabe besteht und bei der es sich nicht um eine Auslegungsfrage handelt, ist die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten nicht einschlägig. Auch die Organisationsgewalt, die sich auf die strukturelle und personelle Ordnung in der Kommission bezieht, ist nicht betroffen. Ebenso wenig 669

Vgl. Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273.

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einschlägig ist die Ressortkompetenz der einzelnen Kommissare, die sich nur auf ihr eigenes Ressort bezieht. In diesem Fall kommt ausschließlich das Kollegialitätsprinzip zum Tragen und müsste eine Streitentscheidung herbeiführen. Mangels der Einschlägigkeit eines anderen Prinzips liegt daher keine Kollision vor, sondern es ist lediglich das Kollegialitätsprinzip betroffen.669 Eine Streitentscheidung durch das Kollegium kann auch aus Zweckmäßigkeitserwägungen sinnvoll sein. Ergreift der Kommissionspräsident für eine der beiden Seiten Partei, zieht er damit unter Umständen das Missfallen der anderen Seite auf sich. Entscheidet dagegen ein Kollegium, kann dieses zwar ebenfalls in den Augen des betroffenen Kommissars „falsch“ entscheiden, doch trägt er als Teil dieses Kollegiums die getroffenen Mehrheitsentscheidungen mit. In einer demokratischen Beschlussfassung zu unterliegen, macht es für den Einzelnen aufgrund der damit verbundenen Akzeptanz aller Beteiligten einfacher, diese Entscheidung anzunehmen, als wenn die Entscheidung als Weisung einer einzelnen Person ergeht. Auch aus diesem Grund ist für derartige Entscheidungen das Kollegium zuständig. (e) Kollegiale Verantwortung Nimmt das Europäische Parlament gemäß Art. 201 EG einen Misstrauensantrag gegen die Kommission an, muss die gesamte Kommission ihr Amt niederlegen. Durch den Verfassungsvertrag erfährt diese Regelung keine Änderung (Art. I-26 Abs. 8 i.V.m. Art. III-340 VV). Dadurch, dass das Misstrauensvotum einen Rücktritt der gesamten Kommission vorsieht, drückt es die gemeinschaftliche Verantwortung aus, die das Kollegialitätsprinzip zum Inhalt hat. Aber auch in der Bedeutung dieser Norm hat sich ein Wandel vollzogen. So wurde dem Kommissionspräsidenten mit seinem Recht, einzelne Kommissare zum Rücktritt aufzufordern (Art. 217 Abs. 4 EG), die Möglichkeit eröffnet, einem Misstrauensvotum zuvorzukommen und seine Kommission im Amt zu halten.670 Mit der Rahmenvereinbarung zwischen dem Parlament und der Kommission und der erfolgten Revision671 hat das Parlament gleichfalls eine Möglichkeit erhalten, nicht sofort der gesamten Kommission das Misstrauen aussprechen zu müssen, sondern zuvor sein mangelndes Vertrauen in einen bestimmten Kommissar bekunden zu können. Der Kommissionspräsident hat sodann eine Aufforderung zum Rücktritt ernsthaft zu prüfen und das betreffende Mitglied zum Rücktritt aufzufordern oder seine Entscheidung dem Parlament zu erläutern.672 Gegenüber dem Ressortprinzip ergibt sich kein anderes Bild. Leitet ein Kommissar den ihm zugeteilten Bereich in eigener Verantwortung, hat er sowohl gegen-

Siehe S. 203 ff. Vom 5. 7. 2000, ABl. Nr. C 121, S. 122 ff.; Revision vom 26. 5. 2005, Dokument P6_TA (2005) 0194, siehe S. 205 f. 672 Überschrift II, Nr. 3 der Revision der Rahmenvereinbarung. 670 671

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über dem Kommissionspräsidenten als auch gegenüber den Mitgliedstaaten und der Öffentlichkeit für Fehler in seinem Bereich einzustehen, was in letzter Konsequenz in seinem Rücktritt münden kann. Eine kollegiale Verantwortung wäre in so einem Fall unangemessen. Das Misstrauensvotum als Ausfluss des Kollegialitätsprinzips wird daher sowohl durch den Wortlaut entgegenstehender Normen und Prinzipen als auch durch ihren Sinn und Zweck in seiner Bedeutung zurückgedrängt. Eine Stärkung erfährt das Kollegialitätsprinzip nicht. (2) Kollegialitätsprinzip und Anhörungsrechte des Parlaments Eine weitere Schwächung könnte das Kollegialitätsprinzip durch die Anhörungen (so genannte Hearings) erfahren, die das Parlament mit den einzelnen Kandidaten vor seinem Zustimmungsvotum durchführt. Positiv formuliert könnte darin eine Stärkung des Ressortprinzips erblickt werden. Seit dem Vertrag von Maastricht muss sich die Kommission einem Zustimmungsvotum des Parlaments stellen (Art. 158 Abs. 2 Satz 3 Maastrichter Vertrag). Im Rahmen dieses Zustimmungsvotums nimmt das Parlament für sich in Anspruch, die Kommissare umfassend zu befragen. Das erste Mal durchgeführt wurde diese Befragung 1995 bei der Ernennung der Santer-Kommission. Die Zustimmung (oder Ablehnung) des Parlaments bezüglich der gesamten Kommission erfolgt somit erst nach dem medienwirksam inszenierten Anhörungsverfahren durch die jeweiligen Ausschüsse.673 Dort stellen sich die Kandidaten den kritischen, sowohl fachlichen als auch persönlichen Fragen674 der Parlamentarier. Allein die Existenz von Anhörungen unterstützt somit die Personalisierung der einzelnen Ressorts. Dadurch, dass die einzelnen Kandidaten befragt werden, wird nicht mehr die Kommission als Ganzes wahrgenommen, die sich schließlich dem Zustimmungsvotum stellt, sondern es sind die einzelnen Kandidaten, auf denen die Aufmerksamkeit liegt. Ferner werden nicht nur allgemeine Fragen gestellt, sondern auch spezielle Fragen zu bestimmten Ressorts. Hierdurch wird das Kollegium weiter aufgetrennt und die einzelnen Personen werden den Fachbereichen zugeordnet, für die sie vorgesehen sind. Dies ist ein weiterer Schritt weg von einem System, das ursprünglich alle 673 Die Einzelheiten des Anhörungsverfahrens finden sich in Art. 32 f. GO EP. Dieses Verfahren kann allerdings nur Anwendung finden, wenn sich die Betroffenen dazu bereit erklären. Vertraglich gibt es keine Verpflichtung, der „Einladung“ Folge zu leisten. So könnte sich die designierte Kommission durchaus den Fragen entziehen und als Kollegium zur Abstimmung stellen. 674 Es werden in diesem Anhörungsverfahren durchaus auch private Fragen gestellt, so die britische Liberale Sarah Baroness Ludford zu dem italienischen Kandidaten Franco Frattini „Sind Sie Freimaurer?“. Frattini sollte die Nachfolge des gescheiterten Rocco Buttigiones antreten. Die Zeit vom 18. 11. 2004, S. 4. Siehe hierzu die Entschließung des Parlamentes zur Einsetzung der Kommission, ABl. 1994, Nr. C 128, S. 358 ff. Allgemein hierzu Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 214, Rn. 3.

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Entscheidungen im Kollegium treffen und auch alle Kommissare für diese Entscheidungen gleichermaßen verantwortlich machen wollte. Wird ein Kommissar dagegen einem Zuständigkeitsbereich zugeordnet, dessen Leitung ihm obliegt, wird er auch zwangsläufig für diesen verantwortlich gemacht, falls Unstimmigkeiten oder Fehler auftreten. Dies geschieht auch dann, wenn die gesamte Kommission ihr Amt niederlegt. So wurden für den Rücktritt der gesamten Santer-Kommission ebenfalls einzelne Kommissare verantwortlich gemacht.675 Die Fragen in den Anhörungen machten dabei im Laufe der Zeit einen Wandel durch. Wurden anfangs von den benannten Kandidaten keine höchstpersönlichen Daten und keine spezifischen Kenntnisse zu europarechtlichen Themen abgefragt676, sondern lediglich allgemeine Erklärungen verlangt, vollzog sich sukzessiv die Wandlung zu spezifischen Fragen. Die Kritik des Parlaments spielt sich inzwischen ebenso nicht im allgemeinen Bereich ab, sondern ist konkret verknüpft mit einem Ressort, das zuvor mit dem jeweiligen Kandidaten verbunden wurde.677 Die Fachverantwortung liegt somit bei den Kommissaren, die politische Führung jedoch beim Kommissionspräsidenten. Diese Punkte weisen in ihrer Gesamtheit auf einen Strukturwandel der Kommission mit ihrem Kommissionspräsidenten an der Spitze hin. Der Schwerpunkt wird mithin von einem Kollegialorgan zu einem Präsidialorgan mit einzelnen Ressorts verlagert. Der letzte problematische Kandidat, der weniger an konkreten fachlichen Fragen als vielmehr an seiner allgemeinen politischen Einstellung scheiterte, war der Italiener Buttiglione, dem 2004 im Personaltableau Barrosos das Ressort Justiz, Freiheit und Sicherheit zugeteilt werden sollte. Buttiglione, der vor seiner Nominierung Europaminister der Berlusconi-Regierung, Vorsitzender der christdemokratischen UDC und ein Vertrauensmann des Vatikans war, wurde besonders wegen seinen Äußerungen zur Homosexualität, zur Rolle der Frau und wegen seiner Unterstützung der von deutscher und italienischer Seite verfochtenen Pläne zur Einrichtung von Auffanglagern für Asylbewerber in Afrika kritisiert.678 Insbesondere die Tatsache, dass er vor dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres die Lehrmeinung des Vatikans zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verfocht und diese moralisch als „Sünde“ bewertete, rief den Widerstand der Parlamentarier hervor. Er wurde schließlich durch seinen Landsmann Frattini ersetzt.679 Siehe S. 204 f. Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 158, Rn. 23. 677 So wird ganz offen die Fachkompetenz für das jeweilige Ressort durch die spezifischen Ausschüsse des Europäischen Parlaments abgeprüft und fachliche Kritik geäußert, vgl. Die Zeit vom 18. 11. 2004, S. 4. 678 Schild, Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur, integration 2005, 33 (39). 679 Vgl. die Zusammenfassung der mündlichen Anhörung, unter http: //www.europarl. eu.int/press/audicom2004/resume/041006_ButtiglioneII_EN.pdf (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 675 676

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Ein Kandidat, der an fachlichen Fragen scheiterte, war der von der ungarischen Regierung nominierte Kovács, der das Energieressort übernehmen sollte. Sein Auftritt vor dem Fachausschuss ließ nur eine geringe Fachkenntnis erkennen. So befand ein Vertreter der Grünen, dieser Kandidat sei eine „Beleidigung des Parlaments“.680 Dieser Einschätzung schloss sich die Mehrheit des Ausschusses an.681 Letztendlich wurde dieser Kandidat zwar nicht ersetzt, doch er bekam ein anderes Ressort, Steuern und Zölle, zugewiesen. An diesen beiden Beispielen lässt sich erkennen, dass das Parlament in der Praxis durch seine Anhörungen zu Einschätzungen über den betreffenden Kandidaten kommt, die sich in rechtlichen Konsequenzen wie der Zurückziehung eines Kandidaten und der Neuaufstellung niederschlagen können. Die Anhörungen und die daraus folgenden politischen und rechtlichen Konsequenzen könnten sich dann als problematisch erweisen, wenn sie nicht im Einklang mit geltendem Recht stehen. Zunächst sieht der Vertrag selbst eine solche Befragung nicht vor. Sie wird dennoch allgemein akzeptiert und gebilligt.682 Das Parlament leitet sein Recht zu dieser Befragung aus seiner Geschäftsordnung gemäß Art. 32 Abs. 1 ab. Diese steht allerdings unterhalb des Vertragstextes und kann diesen lediglich konkretisieren. Widersprechen die Geschäftsordnung des Parlaments und die Anhörungspraxis dem Vertragstext, dann dürften aus der Durchführung von Anhörungen keine rechtlichen Schlüsse gezogen werden. (a) Rechtliche Beurteilung der Anhörungen Im Vertrag findet sich keine Rechtsgrundlage für die Anhörungen. Das Parlament stützt sich lediglich auf die nicht widersprochene Hinnahme der Befragung durch die Kandidaten und auf seine Geschäftsordnung (Art. 33 Abs. 1, 2 GO EP). Eine Rechtsgrundlage ist allerdings nur erforderlich, wenn die Anhörungen in Rechtspositionen der Kommission oder ihres designierten Kommissionspräsidenten eingreifen. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich lediglich um das politische Zusammenspiel von Organen im nicht justitiablen weil politischen Raum. Das Europäische Parlament hat einen Kontrollauftrag gegenüber der Kommission, welcher beispielsweise in der Zulässigkeit eines Misstrauensantrags (Art. 201 EG), dem Abnehmen des jährlichen Gesamtberichts (Art. 200, 212 EG) oder der Mög680 Vgl. „Italian Commissioner under Fire from Parliament Chief“, EU-Observer vom 8. 10. 2004, unter http: //www.euobserver.com. (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). 681 http: //www.europarl.eu.int/press/audicom2004/index_de.htm (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006). Schild, Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur, integration 2005, 33 (39) m. w. N. 682 Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 198 f., Rn. 9; Hummer / Obwexer, Die neue „Europäische Kommission“ 1995 – 2000 – Benennung, Investitur und Zusammensetzung, EuR 1995, 129 (135); Maurer, Das Europäische Parlament und das Investiturverfahren der Kommission – Bilanz eines Experiments, integration 1995, 88 (95); Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 214, Rn. 8.

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lichkeit des Einsetzens von Untersuchungsausschüssen (Art. 193 EG) zum Ausdruck kommt. Das Zustimmungsvotum ist ebenfalls Ausdruck dieser Kontrollbefugnis. Auf welche Art und Weise sich das Parlament organisiert, um seine Zustimmung zu erteilen, bleibt ihm überlassen. Für das Zustimmungsvotum finden sich im Vertrag auch keine Voraussetzungen wie beispielsweise Vorgaben, aus welchen Gründen zugestimmt oder die Zustimmung verweigert werden muss. Das Parlament ist somit frei, seine Zustimmung aus jedem beliebigen Grund zu verweigern. Auch wenn sich ein Kommissar der Anhörung entzieht, kann die Zustimmung zur gesamten Kommission verweigert werden, vorausgesetzt, die Anhörung ist nicht primärrechtswidrig. Primärrechtswidrig wäre die Anhörung beispielsweise, wenn sie in das vertraglich verankerte Kollegialitätsprinzip (Art. 214 Abs. 1 Satz 3 EG) eingreifen würde. Dies könnte mit der Argumentation vertreten werden, dass die einzelnen Kommissare nicht mehr als Kollegium vor das Parlament treten, wenn sie sich in Anhörungen speziellen Fragen stellen müssen. Das Kollegialitätsprinzip sei mithin verletzt.683 Diese Argumentation trägt jedoch nicht. Das Kollegialitätsprinzip behandelt die gemeinsame Verantwortlichkeit des Kollegiums für erlassene Entscheidungen.684 Diese wird jedoch durch eine Befragung der einzelnen Kommissare nicht tangiert. Die Anhörung behandelt hingegen die Befähigung der Kandidaten für die spätere Kommissarstätigkeit. Das Kollegialitätsprinzip gilt jedoch erst für die amtierende Kommission, die als Kollegium für Entscheidungen verantwortlich gemacht wird, was mit der geschlossenen Amtsniederlegung bei der Annahme eines Misstrauensvotums zum Ausdruck kommt. Da vor der Ernennung noch keine Kommission besteht, die für Entscheidungen gemeinsam verantwortlich gemacht werden kann, ist das Kollegialitätsprinzip zu diesem Zeitpunkt noch nicht verletzbar. Daher trifft auch die Behauptung nicht zu, ein Nichterscheinen der Kommissare hätte ebenfalls eine Verletzung des Kollegialitätsprinzips zur Folge.685 Denn es besteht keine rechtliche Pflicht der Kommissare, zu diesen Anhörungen zu erscheinen. Dass das Parlament dann möglicherweise sein Zustimmungsvotum nicht erteilt, ist eine legitime Möglichkeit, seine vertraglich gegebenen Kontrollrechte wahrzunehmen, da der Vertrag keine Vorgaben trifft, aus welchen Gründen das Parlament seine Zustimmung verweigern darf. Des Weiteren könnte ein Widerspruch zu der in Art. 213 Abs. 1 Satz 1 EG normierten Voraussetzung vorliegen, dass die Mitglieder der Kommission aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung ausgewählt werden. Müssen sich die Kandidaten in den Anhörungen Sachfragen zu einem spezifischen Zuständigkeitsbereich stellen, die sie möglicherweise mit einer für das Parlament nicht ausreichenden Sachkom683 So Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 214, Rn. 3 und Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 214, Rn. 30. 684 EuGH, Rs. 5 / 85, AKZO, Slg. 1986, 2585 (2586), Rn. 3. 685 So Maurer, Das Europäische Parlament und das Investiturverfahren der Kommission – Bilanz eines Experiments, integration 1995, 88 (90).

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petenz beantworten können, könnte die vertraglich festgelegte Voraussetzung einer „allgemeinen Befähigung“ negiert werden. Es werden im Gegenteil „besondere Befähigungen“ abgefragt. Die Geschäftsordnung des Parlaments als Innenrecht, das die Selbstorganisation des Organs regelt, kann Primärrecht höchstens auslegen, nicht jedoch entgegenstehende Regelungen treffen. Auch die Tatsache, dass sich die Kandidaten mit dieser Praxis einverstanden erklären686, kann vertraglich zwingend festgelegte Vorgaben nicht abbedingen. Die speziellen Fragen in Anhörungen stehen jedoch nicht in Widerspruch zu vertraglichen Vorgaben. Die Vorgabe einer „allgemeinen Befähigung“ ist lediglich eine rechtliche Mindestvorgabe. Jemand, der nicht einmal eine „allgemeine Befähigung“ vorweisen kann, soll nicht Kommissar werden. Es obliegt dem Parlament im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums, darüber hinausgehende Kriterien zu entwerfen, um zu einem Votum zu gelangen. So ist es aus Sicht des Vertrags kein Nachteil, wenn ein Kandidat außer einer allgemeinen Befähigung noch spezielle Kenntnisse besitzt, da diese lediglich ein „Plus“ darstellen. Die Frage nach speziellen Kenntnissen negiert daher nicht das Kriterium der allgemeinen Befähigung, sondern ergänzt es aus politischer Perspektive. Zudem richten sich die Fragen der Sachausschüsse nach den zuvor bekannt gewordenen Informationen. Es liegt somit an den Vertretern der Mitgliedstaaten und dem Kommissionspräsidenten selbst, keine Informationen über mögliche Kandidaten und ihre Zuständigkeitsbereiche im Vorfeld preiszugeben. Wissen die Sachausschüsse nicht, welcher Kandidat für welches Ressort in Frage kommt, können sie auch keine speziellen Fragen stellen. Sind diese Informationen dagegen öffentlich verfügbar, ist es sogar ihre Pflicht, im Rahmen ihrer Kontrollaufgabe nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen, ob die aufgestellten Kandidaten in der Lage sind, ihre Zuständigkeitsbereiche zu leiten. Denn die Kommissare leiten ihre Zuständigkeitsbereiche eigenständig, auch wenn sie dies unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten tun (Art. 217 Abs. 2 EG). Für die eigenständige Leitung eines Zuständigkeitsbereiches ist es immer sinnvoll, auch spezielle Kenntnisse in diesem Bereich zu haben, selbst wenn diese aufgrund einer großen Fachkompetenz des Mitarbeiterstabs nicht zwingend notwendig sind. Die Fragen nach speziellen Kenntnissen stehen daher nicht im Widerspruch zu der vertraglich vorgegebenen Voraussetzung der „allgemeinen Befähigung“. Auf den ersten Blick scheint gleichfalls problematisch, dass die Kommission durch die Befragung der einzelnen Kandidaten nicht mehr als Kollegium wahrgenommen und als solches auch bestätigt wird, sondern dass ein großes Gewicht auf die einzelnen Persönlichkeiten gelegt wird. Dies ist allerdings unvermeidlich, wenn das Parlament seine vertraglich verankerten Mitwirkungsrechte wahrnehmen will, um zu einem fundierten Zustimmungsvotum zu gelangen. Dies widerspricht auch nicht grundsätzlich dem Prinzip, alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Nach ihrer Ernennung sind die Kommissare auch trotz erfolgter Anhörung 686

Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 214, Rn. 3.

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frei, alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Da sich die Kommission aus den einzelnen Kommissaren zusammensetzt, die sie prägen, ihr Handeln bestimmen und das Bild formen, das in der Öffentlichkeit von der jeweiligen Kommission entsteht, gibt es für das Parlament gar keine andere Möglichkeit, als die einzelnen Kandidaten zu beleuchten, wenn es sich ein Bild von der zukünftigen Kommission machen möchte. Schließlich könnte noch die interne Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten (Art. 217 Abs. 1 EG) gegen die rechtliche Zulässigkeit von Anhörungen sprechen. Werden spezielle Fragen zu bestimmten Ressorts gestellt, ist der Kommissionspräsident möglicherweise nicht mehr frei in seiner Entscheidung, welchem Kommissar er welches Ressort zuordnen möchte. Dagegen kann allerdings eingewendet werden, dass ihm die Organisationsgewalt erst nach dem Zustimmungsvotum des Parlaments und mit der Ernennung der neuen Kommission durch den Rat zukommt. Sicherlich besitzt die Organisationsgewalt auch schon vor der endgültigen Ernennung insoweit Vorwirkung, als der designierte Kommissionspräsident schon mit der Kandidatenauswahl betraut ist. Er legt die einzelnen Ressorts fest und nutzt die Vorwirkung seiner noch nicht bestätigten Organisationsgewalt. Möchte er somit nicht, dass seinen Kandidaten Fragen gestellt werden, die ihn möglicherweise in seiner späteren Organisationsgewalt beeinflussen, darf er die Ressortverteilung erst nach der Ernennung der gesamten Kommission vornehmen. Aber auch ansonsten ist er rechtlich vollkommen frei, seine interne Organisationsgewalt auszuüben. Spezielle Fragen ändern hieran nichts. Einer möglichen Beeinflussung kann er schließlich selbst vorbeugen, indem er im Vorfeld keine Angaben zu einer möglichen Zuständigkeitseinteilung und ihrer personellen Besetzung gibt. Die Anhörungen stehen somit auch nicht im Widerspruch zur Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten. Rechtlich betrachtet stehen diese Anhörungen somit nicht im Widerspruch zu vertraglichen Regelungen oder allgemeinen Prinzipien der Europäischen Union. Eine Zustimmungsverweigerung durch das Parlament aufgrund der Anhörung ist in dem vertraglich angelegten politischen Zusammenspiel beider Organe begründet und zulässig. Die Unzulässigkeit von Anhörungen kann auch nicht damit begründet werden, dass die Anhörungen nicht vor dem gesamten Parlament, sondern vor den einzelnen Sachausschüssen vorgenommen werden. In den einzelnen Sachausschüssen befinden sich Parlamentarier, die nach ihrer Zusammensetzung soweit wie möglich das Parlament widerspiegeln (Art. 152 Abs. 1 Satz 3 GO EP). Ob die Anhörung daher vor einem Ausschuss oder dem gesamten Parlament stattfindet, ist lediglich eine organisatorische Frage. Sie berührt aber nicht die Legitimation der Ausschüsse, für das Parlament Anhörungen durchzuführen, sofern deren rechtliche Zulässigkeit überhaupt gegeben ist. Die Anhörungen stehen somit nicht im Widerspruch zu Rechten der Kommission oder ihres Kommissionspräsidenten.

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(b) Politische Beurteilung der Anhörungen Auch aus politischen Erwägungen lassen sich keine Einwände gegen die Anhörungen erheben. Ihre Akzeptanz lässt sich mit ihrem Sinn und Zweck erklären. Die Anhörungen dienen der Prüfung der Fachkompetenz der einzelnen Kommissare, ihrer politischen Zielvorstellungen und ihrer politischen Ansichten im Allgemeinen.687 Dieser Teil der Ernennungsprozedur mag für die Betroffenen anstrengend sein, doch schafft er einen höheren Bekanntheitsgrad der Persönlichkeiten. Durch eine Offenlegung der politischen Vorstellungen und Ziele tritt ferner eine Verpflichtung der Befragten gegenüber dem Parlament ein, das die Befragten zukünftig an ihre in der Anhörung gemachten Aussagen öffentlich „erinnern“ kann. Auf diese Weise kann öffentlicher Druck erzeugt werden. Das Parlament muss schließlich nicht abstimmen, ohne sich selbst ein genaues Bild gemacht zu haben. Die Anhörungen schaffen für das Parlament somit eine zusätzliche Einflussmöglichkeit und bringen dem Bürger Transparenz. Der Bürger erhält Auskünfte darüber, für welche Ziele welcher Kandidat eintritt, welche allgemeinen politischen Ansichten ein Kandidat vertritt und wie er seinen möglichen zukünftigen Zuständigkeitsbereich leiten möchte. Transparenz schafft Vertrauen, welches die Kommission wie auch jedes andere Gemeinschaftsorgan für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Das Vertrauen des Bürgers in die Funktionsfähigkeit eines Organs bzw. eines Systems ist eine Grundvoraussetzung für Legitimation. Vertraut der Bürger, dann sieht er auch einen Sinn in seinem Wahlakt und in politischer Betätigung im Allgemeinen. Durch seine Anhörung hat das Parlament schließlich die Möglichkeit, genau zu prüfen, ob ein bereits designierter Kommissar wirklich geeignet ist oder nicht. Stimmt dann das Parlament im anschließenden Votum für die gesamte Kommission, besitzt dieses Votum eine ganz andere Legitimation aufgrund der damit verbundenen Transparenz, als wenn ein solches Votum ohne intensive Befragung erfolgt wäre. Denn je intransparenter ein Legitimationsgeflecht ist, desto abstrakter und weniger nachvollziehbar wird die Ausübung der Kontrollfunktion für den Bürger. Die aus dem Demokratieprinzip gemäß Art. 6 Abs. 1 EU abgeleiteten Legitimationserfordernisse haben daher das Transparenzgebot zum Inhalt.688 Die Anhörung von Kandidaten dient somit der Schaffung von transparenten Entscheidungsvorgängen und ist notwendig, um das demokratische Element in der Europäischen Union auszubauen689 und Legitimation zu erzeugen.

687 An diesen allgemeinen politischen Ansichten scheiterte jüngst der bereits designierte italienische Kommissar Buttiglione. Er musste auf Druck des Parlaments ausgetauscht werden. Siehe S. 183. 688 Brömer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 42. 689 So auch die Forderung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil, BVerfGE 89, 155 (186): „Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration ( . . . ) eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.“

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(c) Zwischenergebnis Das Anhörungsverfahren ist sowohl rechtlich zulässig als auch politisch legitim. Es stellt einen Ausfluss der Kontrollrechte des Parlaments dar, die dazu dienen, intransparente Entscheidungsvorgänge abzubauen und somit das demokratische Element in der Europäischen Union auszubauen. Da es nicht in vertragliche Rechte der Kommission und ihres Kommissionspräsidenten eingreift, ist eine explizite vertragliche Normierung nicht erforderlich. Es obliegt der Selbstorganisation des Parlaments, wie es seine Kontrollrechte wahrnehmen möchte. Das Parlament hat sich für eine eingehende Befragung der Kandidaten entschieden, die die spätere Kommission stellen sollen. An ein Nichterscheinen der Kandidaten sind dementsprechend keine rechtlichen Folgen geknüpft. Da die Abstimmung des Parlaments allerdings keinen materiellen Voraussetzungen unterliegt, das Parlament also aus jedem Grund seine Zustimmung verweigern darf, wird es bei einem Nichterscheinen eines Kandidaten seine Zustimmung für die gesamte Kommission möglicherweise nicht erteilen. Dies ist eine politische Entscheidung, die sich vollkommen mit den rechtlichen Möglichkeiten des Parlaments deckt. Durch die Anhörung, die faktisch bestimmte Kandidaten mit bestimmten Ressorts verknüpft, wird jedoch die aufgestellte These von einer weiteren Abwendung des Kollegialitätsprinzips zu einem präsidialen System mit einzelnen Ressorts, die in eigener Verantwortung unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten handeln, verstärkt. (3) Zwischenergebnis Das Kollegialitätsprinzip wurde durch die entgegenstehenden Prinzipien der politischen Führung des Kommissionspräsidenten und der eigenständigen Leitung zugeteilter Ressorts der Kommissare intern in seiner Bedeutung zurückgedrängt. Dennoch ist es nach außen die Kommission als Ganzes, die handelt. Das Kollegium muss daher die interne Ressortentscheidung des einzelnen Kommissars bestätigen oder revidieren. Das Kollegium darf dabei nicht gegen politische Leitlinien des Kommissionspräsidenten verstoßen, die in der Praxis zumeist allgemeiner Natur sein werden. Ferner sind Sinn und Zweck des Kollegialitätsprinzips relevant, eine kohärente Politik und ein einheitliches Auftreten der Kommission zu sichern sowie eine Konkretisierung der Leitlinien des Kommissionspräsidenten zu leisten. Die zumeist starken Persönlichkeiten der Kommissare sollen durch die Selbstverpflichtung auf eine gemeinsame politische Linie, die freilich nicht derjenigen des Kommissionspräsidenten widersprechen darf, gebracht und zu einer einheitlichen Politik verpflichtet werden. Für diese besteht dann, unbeschadet der Kompetenz des Kommissionspräsidenten, den Rücktritt eines Kommissars zu verlangen, eine gemeinsame Verantwortlichkeit, die auch eingefordert werden kann.

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Bei einem ressortübergreifenden inhaltlichen Streit, zu dem keine Vorgaben durch eine Leitlinie vorliegen, so dass weder das Ressortprinzip noch das Prinzip der politischen Führung einschlägig sind, kommt das Kollegialitätsprinzip zum Tragen. Das Kollegium hat dann einen Streitentscheid herbeizuführen. Aufgrund einer höheren Gewähr für die materielle Richtigkeit einer durch ein Kollegium getroffenen Entscheidung (Mehr-Augen-Prinzip), sprechen auch Zweckmäßigkeitserwägungen für eine kollegiale Entscheidungsfindung. Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, dass das Kollegialitätsprinzip sowohl rechtlich als auch faktisch zurückgedrängt wird. Dies zieht zugleich einen Bedeutungsverlust der Normen nach sich, in denen das Kollegialitätsprinzip zum Ausdruck kommt. Dass diese Konsequenz bislang weder explizit im Vertrag noch in weiten Teilen der Literatur zum Ausdruck kommt, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Die Zurückdrängung des Kollegialitätsprinzips, das besonders in parlamentarischen Kabinettsregierungen in Erscheinung tritt690, ist ein weiteres Argument für den präsidialen Weg, den die Europäische Union eingeschlagen hat. bb) Ressortprinzip Das Ressortprinzip findet seine Verankerung in Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG, wonach die Mitglieder der Kommission die ihnen vom Kommissionspräsidenten übertragenen Aufgaben unter dessen Leitung ausüben. Übernommen wurde es wortgleich in den Verfassungsvertrag in Art. III-350 Satz 3 VV. (1) Inhalt und Bedeutung des Ressortprinzips Das Ressortprinzip beinhaltet, dass die Kommissare ihre Bereiche selbstständig und unter eigener Verantwortung leiten.691 Dies heißt, dass dem einzelnen Kommissar als Leiter seines Geschäftsbereichs die Vorentscheidungskompetenz in allen diesbezüglichen Angelegenheiten zukommt (vgl. Art. 3 Abs. 1 GO KOM). Der einzelne Kommissar trifft also die Vorentscheidungen in einzelnen Sachfragen. Da nach außen aber die Kommission als Ganzes handelt (vgl. Art. 211, 219 EG), kann der einzelne Kommissar grundsätzlich nicht mit Außenwirkung handeln. Seine Entscheidung bedarf noch eines bestätigenden Beschlusses vom Kollegium. Durch seine interne Vorbereitung des endgültigen Beschlusses und seine Vorentscheidung Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 8. Epping, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, VV-Komm., Art. III-350, Rn. 2; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4; Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 89; Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR 1994, Beiheft 1, 101 (109); Gleichfalls Delors:“Jeder Kommissar hat sein Ressort, seinen Verantwortungsbereich. Er ist nicht verpflichtet, der Kommission über alle Details seiner Amtsführung Bericht zu erstatten ( . . . )“, ders., Erinnerungen eines Europäers, S. 306; Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273 f. 690 691

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besitzt er allerdings nicht zu unterschätzende Einflussmöglichkeiten auf die endgültige Entscheidung, die dann vom Kollegium nach außen vertreten wird. Findet seine Entscheidung nicht die Zustimmung des Kollegiums, kann dieses die Entscheidung des Einzelnen beraten und revidieren. Der einzelne Kommissar ist ferner für die Einstellung und Entlassung der Bediensteten zuständig. Das Ressortprinzip entspricht somit in seinen Grundzügen dem Prinzip der politischen Führung und beinhaltet eine materielle sowie eine strukturelle und personelle Komponente. Adressat und Bezugspunkt sind jedoch verschieden. Während sich das Prinzip der politischen Führung an den Kommissionspräsidenten richtet und die Kommission zum Gegenstand hat, wendet sich das Ressortprinzip an die Kommissare und bezieht sich auf das jeweilige Ressort. Eine Unterstützung erfährt das Ressortprinzip durch die Rahmenvereinbarung, die zwischen dem Parlament und der Kommission getroffen wurde und die gemeinsamen Beziehungen regelt.692 So heißt es unter der Überschrift „Politische Verantwortung“, dass „jedes Mitglied der Kommission die politische Verantwortung für das Handeln in dem Bereich, für den es zuständig ist, übernimmt.“693 (2) Erweiterung des Ressortprinzips durch das Ermächtigungsverfahren Dem einzelnen Kommissar kommen jedoch nicht bloß Vorentscheidungs-, sondern auch Letztentscheidungsbefugnisse zu. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zum Kollegialitätsprinzip, nach welchem die Kommission als Ganzes handelt. Das bedeutet, dass die Kommission ihre Beschlüsse im Innern gemeinsam trifft und nach außen als Kollegialorgan vertritt. In der Praxis treffen jedoch die Kommissare den Großteil aller Maßnahmen der Geschäftsführung und Verwaltung, also auch die entsprechenden Beschlüsse. Seine Grundlage findet diese Aufgabenverteilung in der Geschäftsordnung der Kommission einerseits und – seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza – in Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG andererseits. Die Geschäftsordnung sieht in Art. 13 Abs. 1 GO KOM694 das so genannte Ermächtigungsverfahren vor. Hiernach kann die Kommission – unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz der kollegialen Verantwortlichkeit voll gewahrt bleibt – eines oder mehrere ihrer Mitglieder ermächtigen, in ihrem Namen Maßnahmen der Geschäftsführung und der Verwaltung zu treffen. Im Verfahren der Delegation nach Art. 14 GO KOM kann die Kommission auch den Generaldirektoren und Dienstleitern die gleiche Befugnis übertragen. Für eine solche routineartige Erledigung insbesondere technischer Aufgaben bestand schon sehr früh Bedarf. So sah 692 Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission vom 5. 7. 2000, ABl. Nr. C 121, S. 122 ff. 693 Ziffer 9, S. 124 der Rahmenvereinbarung. 694 GO KOM vom 15. 11. 2005, in: ABl. Nr. L 347, S. 83 – 90.

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bereits die Geschäftsordnung der EWG vom 9. Januar 1963695 in ihrem Art. 27 Abs. 1 die Möglichkeit der Ermächtigung von Kommissaren und der Delegation vor. Bevor das Ressortprinzip durch den Vertrag von Nizza eingeführt wurde, entfaltete das Ermächtigungsverfahren eine doppelte Wirkung. Erstens war der einzelne Kommissar kraft der Ermächtigung intern befugt, für die – nach dem Kollegialitätsprinzip eigentlich zuständige – Kommission einen Beschluss zu fassen. Die Entscheidung des Kommissars ersetzte die Entscheidung der Kommission im Innenverhältnis. Zweitens führte die Ermächtigung dazu, dass der ermächtigte Kommissar die Entscheidung auch nach außen vertreten konnte. Der ermächtigte Kommissar handelte gegenüber den Bürgern als Vertreter der gesamten Kommission und damit in Abweichung vom Prinzip des kollegialen Handelns nach außen. In der Praxis enden daher im Ermächtigungsverfahren getroffene Entscheidungen mit den Worten „Für die Kommission“ und dem Namen des entscheidenden Kommissars. Der so verstandenen Ermächtigung einzelner Kommissare zum Handeln anstelle der und für die Kommission hat der EuGH in einer Reihe von Entscheidungen Grenzen gesetzt. Der Grund dafür liegt im vertraglich verankerten Kollegialitätsprinzip, welches durch einen extensiven Gebrauch des Ermächtigungsverfahrens unterlaufen werden kann. Der EuGH hielt zwar die Übertragung von Befugnissen der Kommission auf einzelne Mitglieder als interne Geschäftsverteilungsmaßnahme grundsätzlich für zulässig. Angesichts der beträchtlichen Zunahme der von der Kommission zu treffenden Entscheidungen sei eine Ermächtigungsregelung notwendig, da die Kommission ansonsten ihre Aufgaben nicht erfüllen könne. Das Kollegialitätsprinzip sei nicht verletzt, da die Kommission ihre Ermächtigung jederzeit wieder zurücknehmen könne. Das Kollegialitätsprinzip fordere dann aber eine gemeinsame Beschlussfassung, wenn die Bedeutung einer Entscheidung über den Einzelfall hinausreiche. Grundsatzentscheidungen können von einer Ermächtigung daher nicht umfasst werden.696 Eine weitere Einschränkung machte der EuGH in Bezug auf Entscheidungen, die mit erheblichen materiellen Belastungen des Bürgers, hier der Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes, einhergehen. Auch bei derartigen Entscheidungen komme keine Ermächtigung eines Mitglieds der Kommission in Betracht, sondern beanspruche das Kollegialitätsprinzip Geltung.697 Der Vertrag von Nizza könnte die Reichweite möglicher Ermächtigungen einzelner Kommissare substantiell erweitern. Denn Art. 217 Abs. 2 Satz 3 EG stellt dem Kollegialitätsprinzip nunmehr das Ressortprinzip als tendenziell gegenläufiges Prinzip gegenüber. Dies hat Auswirkungen auf die Rechtswirkungen des Ermächtigungsverfahrens. Zwar vermittelt auch das Ressortprinzip dem einzelnen 695 696 697

ABl. 1963, S. 181 ff. EuGH, Rs. 5 / 85, AKZO, Slg. 1986, 2585 (2615). EuGH, Rs. C-137 / 92 P, BASF AG u. a., Slg. 1994, I-2555 (2652, Rn. 71).

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Kommissar keine unmittelbare Außenzuständigkeit, sondern nach wie vor tritt nach dem Vertrag allein die Kommission als Ganzes im Außenverhältnis auf (vgl. Art. 211, 219 EG). Die Ermächtigung hat demnach weiterhin die Wirkung, dass ein einzelner Kommissar für die Kommission nach außen in Erscheinung treten kann. Keiner Ermächtigung mehr bedarf es aufgrund des Ressortprinzips jedoch für die interne Beschlussfassung des einzelnen Kommissars in Angelegenheiten der laufenden Verwaltung und Geschäftsführung. Das Ressortprinzip bewirkt, dass diese Aufgabe nicht dem Kollegium, sondern unmittelbar dem einzelnen Kommissar zukommt. Insofern begrenzt das Ressortprinzip das Kollegialitätsprinzip, welches für alle Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung weiterhin seine Geltung behält. Aufgrund dieser vertraglich verankerten Aufgabenverteilung, welche dem einzelnen Kommissar das Tagesgeschäft und dem Kollegium die Grundsatzentscheidungen zuweist, dürften sich die Befugnisse des einzelnen Kommissars nunmehr auch auf Entscheidungen erstrecken, die mit erheblichen Belastungen für den Bürger verbunden sind. Denn die Belastungswirkung allein führt nicht dazu, dass eine Entscheidung Bedeutung über den Einzelfall hinaus gewinnt. Dies trägt der Praxis und vor allem der Arbeitsbelastung der Kommission Rechnung, die jedes Jahr ca. 10.000 Beschlüsse698 mit zum Teil erheblichen Belastungen trifft. Die oben aufgezeigten Grenzen des Ressortprinzips sind durch den EuGH kontrollierbar. Trifft der einzelne Kommissar eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung, die vom Kollegium hätte getroffen werden müssen, kann diese Entscheidung beispielsweise mit einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 EG angefochten werden. Mangels Zuständigkeit des einzelnen Kommissars erklärt der EuGH die angefochtene Entscheidung für nichtig (Art. 231 Abs. 1 EG).699 (3) Einzelweisungs- und Ersetzungsbefugnisse des Kommissionspräsidenten Wenn das Ressortprinzip bedeutet, dass die einzelnen Kommissare die ihnen zugeteilten Bereiche selbstständig leiten und für diese entsprechend verantwortlich sind, bleibt ihnen auch die konkrete Umsetzung der Leitlinien des Kommissionspräsidenten vorbehalten. Sie treffen demnach die Einzelfallentscheidungen innerhalb der Kommission, sofern diese keine grundlegende Bedeutung haben. Einzelweisungen des Kommissionspräsidenten laufen dem Ressortprinzip daher grundsätzlich zuwider. Der Kommissar würde nicht mehr selbstständig entscheiden, wäre aber dennoch verantwortlich. Eine derartige Ausweitung der Leitlinienkompetenz stünde zugleich im Widerspruch zur Struktur der Europäischen Union, da es die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge sind, die die Kommissare benennen. Hätten diese keine eigenen Entscheidungsbefugnisse, würde das Benennungsrecht 698 699

Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 24. Vgl. EuGH, Rs. C-137 / 92 P, BASF AG u. a., Slg. 1994, I-2555 ff.

13 Staeglich

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der Mitgliedstaaten faktisch ad absurdum geführt. Der Kommissar ist zwar nur dem europäischen Gemeinwohl und gerade nicht den Mitgliedstaaten verpflichtet, doch haben die Mitgliedstaaten nach wie vor vertraglich angelegten Einfluss durch ihr Benennungsrecht (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG). Mit diesem wählen sie einen Kommissar ihres Vertrauens, der dann im Sinne des europäischen Gemeinwohls entscheiden soll. Bei der Benennung eines Kommissars wurde den Regierungen der Mitgliedstaaten somit die Möglichkeit eingeräumt, eine Persönlichkeit auszuwählen, die der eigenen politischen Richtung nahe steht. Der ausgewählte Kommissar wird seine politischen Ansichten dann auch weiter in der Kommission vertreten. Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben so die Möglichkeit, die politische Ausrichtung der Kommission zu beeinflussen. Dies ist auch sinnvoll, denn die Initiativen der Kommission müssen den Rat passieren, welchem wieder Vertreter der Mitgliedstaaten angehören. Dadurch, dass der Kommissar im Gemeinschaftsinteresse entscheiden soll, findet zwar eine Lösung von den Interessen seines jeweiligen Heimatstaates statt, dennoch muss das vertraglich verankerte Benennungsrecht der Mitgliedstaaten beachtet werden. Hätte der Kommissar keine eigenen Entscheidungsbefugnisse, würde das Benennungsrecht zu einem rein formalen Recht herabgestuft. Mit politischem Einfluss wäre es kaum verbunden. Da der Einfluss, welcher durch das Benennungsrecht geschaffen wird, aber vertraglich angelegt ist, stärkt diese Argumentation gleichfalls das Ressortprinzip – wenn auch aus einer anderen Perspektive. Die Erteilung von Einzelweisungen im Rahmen der Leitlinienkompetenz verstößt somit grundsätzlich gegen die primärrechtliche Verankerung des Ressortprinzips und ist daher vertragswidrig. Die Leitlinienkompetenz als Teil des Prinzips der politischen Führung des Kommissionspräsidenten endet mithin dort, wo das gemeinschaftliche Ressortprinzip beginnt. Es würde daher das Ressortprinzip aushöhlen, wenn es dem Kommissionspräsidenten möglich wäre, in jede Entscheidung eines Kommissars einzugreifen. Doch möglicherweise gibt es Ausnahmefälle, in denen eine Einzelweisung unerlässlich ist. Muss ein Kommissar eine Entscheidung treffen, die ein großes politisches Gewicht hat und möglicherweise sogar bedeutend genug ist, Ziel und Richtung der Politik über den jeweiligen Einzelfall hinaus prägen zu können, muss es dem Kommissionspräsidenten aufgrund seiner politischen Führung erlaubt sein, in solchen Ausnahmefällen eine Einzelweisung auszusprechen.700 Hier liegt auch das Problem der Einzelweisungen begründet. Es obliegt nämlich dem Kommissionspräsidenten zu entscheiden, wann ein Ausnahmefall vorliegt, der eine Einzelweisung seinerseits rechtfertigen würde.701 Er besitzt somit die Definitionskompetenz, 700 Ebenso Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4. Ein Weisungsrecht verneinend, da es nicht ausdrücklich vertraglich benannt ist, Kugelmann, in: Streinz, EGKomm., Art. 217, Rn. 9. 701 Vgl. auch die englische Fassung „under his authority“ oder die französische Fassung „sous l’autorité de celui-ci“, die umfassender von einer „Autorität“ ausgehen, was ebenfalls

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ob eine Einzelanordnung noch als eine Leitlinie betrachtet werden kann oder ob einzelne Vorgaben bereits das Ressortprinzip aushöhlen und gegen den Vertrag verstoßen. Eine derartige Definitionskompetenz birgt Missbrauchsmöglichkeiten in sich, da es rechtlich schwierig zu belegen ist, ob der Kommissionspräsident seine Definitionskompetenz durch eine Einzelweisung überschritten hat. Eine feststehende Missbrauchsgrenze besteht dennoch bei einer Vielzahl von Einzelweisungen. Der Kommissionspräsident hätte daher seine Definitionskompetenz missbraucht, wenn er permanent eine Vielzahl von Einzelweisungen erlassen würde. Diese könnten nicht mehr mit seiner Leitlinienkompetenz als Ausfluss des Prinzips der politischen Führung begründet werden. Ist der Kommissionspräsident mit der Handlungsweise eines Kommissars nicht zufrieden, steht es ihm frei, den Kommissar aus jedem Grund aus seinem Amt zu entfernen (Art. 217 Abs. 4 EG). Damit entlässt er ihn zugleich aus der Verantwortlichkeit für sein Ressort. Das Ressortprinzip schützt den Kommissar somit innerhalb seines Ressorts vor Übergriffen. Ein grundsätzliches Recht, im Ressort zu verbleiben, besteht dagegen nicht. Ein ständiges Hineinregieren des Kommissionspräsidenten in ein Ressort würde den betroffenen Kommissar dagegen einerseits in seiner selbstständigen Leitungs- und Sachentscheidungskompetenz negieren, ihn aber andererseits nicht von seiner Verantwortlichkeit befreien, wie es ein kompletter Ressortentzug täte. Es darf sich daher auch aus diesem Grund bei Einzelweisungen nur um Ausnahmefälle handeln. Die möglicherweise dennoch bleibenden Unbestimmtheiten, wann eine solche Ausnahme vorliegt, liegen in der Natur der Sache. Politische Verhaltensweisen sind nur bedingt justitiabel. Der richtige Ausgleich wird daher mit politischen Kontrollmechanismen geschaffen wie beispielsweise mit dem Misstrauensvotum, dessen materielle Voraussetzungen ebenfalls nur bedingt justitiabel sind.702 Im Gegensatz zu Einzelweisungen ist eine Ersetzungsbefugnis nicht mehr von der Leitlinienkompetenz gedeckt. Letztere würde einen Eingriff in das Ressortprinzip bedeuten. Mit der Ersetzungsbefugnis hätte der Kommissionspräsident das Recht, einzelne Maßnahmen des zuständigen Kommissars aufzuheben und durch eigene Anordnungen zu ersetzen. In diesem Fall würde der Kommissionspräsident nicht eine Weisung an den Kommissar aussprechen, sondern eine Entscheidung des Kommissars ersetzen. Eine solche Kompetenz würde eine selbstständige Ressortleitung unmöglich machen, den betroffenen Kommissar aber dennoch mit den Folgen der Entscheidung belasten. Bei ihm verbliebe die Ressortverantwortung, obwohl er aufgrund der Ersetzung seiner Entscheidung nicht selbst gehandelt hätte. Das Ressortprinzip wäre in seinem Kernbereich betroffen.

auf eine Definitionskompetenz hinweist. Für eine Definitionskompetenz des Kommissionspräsidenten auch Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 9. 702 Siehe S. 135 ff. 13*

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(4) Erstreckung des Ressortprinzips auf das Kabinett Das dem einzelnen Kommissar zugeordnete Hilfsgremium – das Kabinett – ist im Vertrag nicht vorgesehen. Die Einrichtung der Kabinette beruht vielmehr auf Art. 19 Abs. 1 GO KOM. Die Kabinette gehören selbst nicht zum Ressort des jeweiligen Kommissars. Ihre Aufgabe besteht in der Unterstützung der Kommissare bei der Aufgabenerfüllung und der Vorbereitung von Kommissionsbeschlüssen.703 Die Kabinettsmitglieder werden daher vom jeweiligen Kommissar ausgewählt, vorgeschlagen und erst daraufhin vom Kommissionspräsidenten ernannt.704 Die Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette werden gleichfalls vom Kommissionspräsidenten festgelegt.705 Obwohl die Kabinette selbst nicht zum Ressort des Kommissars gehören, sind sie ihm doch direkt unterstellt und unterliegen seiner Leitung. Sie sind ihm persönlich zugeordnet. Die Amtszeit der Kabinettsmitglieder endet daher auch mit der Amtszeit ihres jeweiligen Kommissars.706 Aufgrund dieser direkten Unterstellung und persönlichen Zuordnung der Kabinettsmitglieder zu einem Kommissar erstreckt sich die Organisationsgewalt, die der einzelne Kommissar in seinem Ressort besitzt, auch auf die Kabinette. Denn Aufgabe der Kabinette ist die Unterstützung des Kommissars in seinem Ressort und die Wahrnehmung seiner diesbezüglichen Verantwortung. Die Grundsätze des Ressortprinzips wirken somit auch in die Kabinette hinein. Der Kommissar entscheidet über die strukturellen und personellen Aspekte der Aufgabenverteilung. In der personellen Zusammensetzung ihrer Kabinette sind die Kommissare aufgrund ihrer Organisationsgewalt grundsätzlich frei, d. h. sie können Personen ihres Vertrauens als Mitarbeiter wählen. Wählt ein Kommissar jedoch eine Person, die der Kommissionspräsident nicht ernennen möchte, stellt sich die Frage, ob letztgenannter die Ernennung verweigern darf. Ein Ernennungsverweigerungsrecht könnte sich aus der Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten ergeben, denn diese beinhaltet neben der Möglichkeit, strukturelle Änderungen zu treffen, auch die bereits oben genannten personellen Entscheidungskompetenzen.707 Vertraglich ist die Organisationsgewalt bislang le703 Art. 19 Abs. 1 GO KOM. Die Anzahl der Kabinettsmitglieder (derzeit sechs Beamte des Höheren Dienstes, im Kabinett des Kommissionspräsidenten arbeiten elf Beamte des Höheren Dienstes) und ihre Zusammensetzung (mindestens drei verschiedene Nationalitäten, ausgewogenes Geschlechterverhältnis) findet sich bei den „Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher“, SEK (2004) 1485, S. 2 f. 704 Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485, S. 5 f. Weitere Informationen zum Aufbau bei Krenzler, Die Rolle der Kabinette in der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1974, 75 (76). 705 Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485, S. 2. 706 Schmitt von Sydow, Organe der erweiterten Europäischen Gemeinschaften – Die Kommission, S. 93. 707 Siehe S. 157 ff.

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diglich für Personalentscheidungen in Bezug auf die Kommissare ausdrücklich fixiert (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG; Art. 217 Abs. 2 EG). Es stellt sich daher die Frage, ob dem Kommissionspräsidenten aus seiner Organisationsgewalt darüber hinaus auch eine personelle Entscheidungskompetenz in Bezug auf die Mitarbeiter der Kommissare zukommt. Möglicherweise könnte dem Kommissionspräsidenten mit einem Erst-RechtSchluss708 die Befugnis zugestanden werden, die Ernennung eines Mitarbeiters aus objektiv erheblichen Gründen nicht zu vollziehen. Dieser Schluss könnte sich daraus ergeben, dass die Benennung der Kandidaten mit dem Einverständnis des Kommissionspräsidenten erfolgt (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG). Ferner hat der Kommissionspräsident das Recht, aus seiner Organisationsgewalt die zuvor strukturell gegliederten Zuständigkeiten bestimmten einzelnen Kommissaren zuzuweisen und diese Zuweisungen zu ändern (Art. 217 Abs. 2 Satz 1, 2 EG).709 Hat der Kommissionspräsident schon die Möglichkeit, bei der Benennung der einzelnen Kommissare und ihrer Zuweisung zu den einzelnen Ressorts einen großen Einfluss geltend zu machen, müsste er dann nicht erst recht die Kompetenz haben, die Ernennung einzelner Kabinettsmitglieder aus objektiv erheblichen Gründen zu verweigern? Voraussetzung dieses Erst-Recht-Schlusses ist jedoch, dass sich die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten nicht nur auf die Kommission bezieht, sondern auch auf die einzelnen Ressorts sowie die Kabinette, und zwar auf ihren Binnenbereich, einwirkt. Dagegen spricht, dass das Ressortprinzip den Kommissaren erlaubt, ihre Ressorts selbstständig und in eigener Verantwortung zu leiten, wozu auch die Personalpolitik gehört.710 Das Recht zur Bildung seines Kabinetts erlaubt es dem Kommissar, Personen seines Vertrauens auszuwählen. Gerade weil das Kabinett den persönlichen Führungsstab des Kommissars darstellt, ist dieses Vertrauen entscheidend. Der Kommissar muss sich auf seine Mitarbeiter verlassen können, was ein subjektiv empfundenes Vertrauen zwingend voraussetzt. Dies wiederum bedingt eine freie Auswahl im Rahmen der rechtlichen Vorgaben. Ein Ernennungsverweigerungsrecht des Kommissionspräsidenten würde diese freie Auswahl einschränken. Eine Erstreckung der Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten auf die Personalpolitik innerhalb der Kabinette würde das Ressortprinzip, das auf die Kabinette wirkt, in seinem Kernbereich empfindlich beeinträchtigen. Dem jeweiligen Kommissar obliegt hier die originäre Organisationsgewalt. 708 Nach Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 208, besagt das argumentum a maiore ad minus, dass wenn nach einer gesetzlichen Bestimmung für den Tatbestand A die Rechtsfolge R gilt, dann muss sie „erst recht“ für den ähnlichen Tatbestand B gelten, wenn die ratio legis der gesetzlichen Regel auf den Tatbestand B sogar in noch einem höheren Maße zutrifft. Ebenso Butzer / Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht, S. 53 f. 709 Siehe S. 157 ff. 710 Siehe S. 190 ff.

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Der Kommissionspräsident besitzt daher durch seine Organisationsgewalt kein direktes Zugriffsrecht auf die Kabinettsmitglieder eines Kommissars. Er hat nicht die Möglichkeit, die Ernennung eines durch einen Kommissar für sein Kabinett vorgeschlagenen Kandidaten zu verweigern.711 Es ist nicht zulässig, von dem Einfluss des Kommissionspräsidenten auf die Kommissare, auf einen Einfluss auf die Kabinettsmitglieder zu schließen. (5) Zwischenergebnis Das Ressortprinzip bedeutet, dass die Kommissare die ihnen zugeteilten Zuständigkeitsbereiche eigenständig und unter eigener Verantwortung leiten. Sie entscheiden intern sowohl Sach- und Organisationsfragen als auch alle sonstigen in ihrem Bereich auftretenden Probleme. Nach außen entscheidet – außer im Ermächtigungsverfahren – die Kommission als Ganzes. Einzelweisungen des Kommissionspräsidenten sind nur in Ausnahmefällen von hinreichender Relevanz möglich. Eine Ersetzungsbefugnis des Kommissionspräsidenten besteht nicht. Ebenso hat der Kommissionspräsident kein Recht, die Ernennung einzelner Kabinettsmitglieder zu verweigern. Sowohl die Leitlinienkompetenz als auch die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten dürfen den Kernbereich des Ressortprinzips nicht antasten. Das Prinzip der politischen Führung, deren Ausfluss die Leitlinienkompetenz und die Organisationsgewalt sind, findet hier seine Grenze.

c) Harmonisierung der Prinzipien in einem Drei-Ebenen-Modell Der Kommissionspräsident verfügt sowohl über eine Leitlinien- als auch über eine Organisationsgewalt als Instrumente zur Durchsetzung und Sicherung seines politischen Führungsanspruchs.712 Ausgestaltet ist die Leitlinienkompetenz mit einem Weisungsrecht an die einzelnen Kommissare, das auch Einzelvorgaben beinhalten darf, soweit diese zur Durchführung seiner politischen Vorgaben erforderlich sind. Der Kommissionspräsident entscheidet ebenfalls bei Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Kommissaren, soweit es um die Auslegung oder Konkretisierung einer Richtlinie geht. Ansonsten entscheidet das Kollegium. Begrenzt wird die Leitlinienkompetenz durch das Ressortprinzip, das den Kommissaren die interne selbstständige und eigenverantwortliche Leitung ihrer Ressorts aufgibt. Ein Übermaß an Einzelweisungen oder eine Ersetzungsbefugnis des Kommissionspräsidenten würde daher einen Eingriff in das Ressortprinzip darstellen. Ohne einen damit einhergehenden Entzug der Verantwortlichkeit durch Entlassung aus dem Amt oder Entziehung des Ressorts hieße dies, den betroffenen KomVgl. Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273. Eine Richtlinienkompetenz stellt ohne Begründung Bieber, in: Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union, Rn. 268, fest. 711 712

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missar in der Verantwortlichkeit zu belassen, ihm seine Handlungskompetenz aber zu entziehen. Dies würde einen Eingriff in den Kernbereich des Ressortprinzips darstellen, weshalb dem betroffenen Kommissar in diesem Fall das gesamte Ressort entzogen werden müsste. Damit würde er auch seiner Verantwortlichkeit entledigt werden. Das ebenfalls vertraglich verankerte Kollegialitätsprinzip dient einer einheitlichen politischen Linie. Es beteiligt alle Kommissare und verpflichtet sie dadurch, sich bei ihren späteren Ressortentscheidungen an dieser gemeinsam beschlossenen Linie zu orientieren. Die kollegial ergangenen Entscheidungen dürfen nicht im Widerspruch zu Leitlinien des Kommissionspräsidenten stehen. Besteht zu einem zu entscheidenden Punkt keine Vorgabe des Kommissionspräsidenten, erklärt sich dieser konkludent mit der Entscheidung des Kollegiums einverstanden. Zusammenfassend können die drei Prinzipien der politischen Führung, der Ressortverantwortung und der Kollegialität in einem Drei-Ebenen-Modell beschrieben werde. Auf der obersten, ersten Ebene ist dabei das Prinzip der politischen Führung angesiedelt. Ausfluss dieses Prinzips ist die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten. Mit Hilfe der Leitlinienkompetenz gibt der Kommissionspräsident die politische Richtung der Kommissionsentscheidungen vor. Gegen diese politische Richtung darf keine Entscheidung, die im Rahmen der beiden anderen Prinzipien gefällt wurde, verstoßen. Auf der zweiten Ebene folgt das Kollegialitätsprinzip. Das Kollegium entscheidet nach außen, konkretisiert die Leitlinien des Kommissionspräsidenten und entscheidet über die gemeinsam durchzuführende Politik, die schließlich von den einzelnen Ressorts intern umgesetzt werden soll. An dieser gemeinsam beschlossenen Politik müssen sich die einzelnen Ressortentscheidungen orientieren. Die Ressorts auf der dritten Ebene werden durch die jeweiligen Kommissare selbstständig geleitet. Ihnen sind intern die notwendigen Einzelfallentscheidungen übertragen. Entscheidungen, die über einen Einzelfall hinaus Bedeutung für die politische Richtung haben, können vom Kollegium an sich gezogen werden oder auch Gegenstand einer Leitlinie des Kommissionspräsidenten sein. Es besteht daher für den Kommissionspräsidenten im Ausnahmefall eine Weisungsmöglichkeit in die zweite und dritte Ebene, wobei der jeweilige Kernbereich jedoch nicht verletzt werden darf. Mit einer solchen Weisung kann der Kommissionspräsident sicherstellen, dass die von ihm aufgestellten Richtungsvorgaben eingehalten werden. Das Instrument der Einzelweisung bietet ihm die Möglichkeit, für eine Einhaltung seiner Leitlinien zu sorgen.

2. Kompetenzen mit Billigung des Kollegiums Einige seiner Kompetenzen kann der Kommissionspräsident nur mit Billigung seines Kollegiums wahrnehmen. Für eine Billigung wird dabei keine qualifizierte

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Mehrheit gemäß Art. 251 Abs. 2, 3 EG verlangt. Da die Beschlüsse der Kommission mit einer einfachen Mehrheit gemäß Art. 219 Satz 1 EG gefasst werden und ein Beschluss immer auch eine Billigung bedeutet, genügt eine einfache Mehrheit für eine Billigung i.S.v. Art. 217 Abs. 3, 4 EG i.V.m. Art. 219 Satz 1 EG; Art. 7 GO KOM. a) Ernennungsverfahren der Vizepräsidenten Die Zunahme der Kompetenzen des Kommissionspräsidenten zeigt sich beispielhaft auch bei der Auswahl und Ernennung der Vizepräsidenten.713 Während der Einfluss des Kommissionspräsidenten zunächst allenfalls informeller Natur war, werden mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrags Auswahl und Ernennung in seinen Händen liegen (Art. I-27 Abs. 3 lit. c) VV). Grundsätzlich vertreten die Vizepräsidenten den Kommissionspräsidenten bei dessen Verhinderung. Allerdings kann diese Vertretung auch durch ein anderes Kommissionsmitglied wahrgenommen werden (Art. 25 GO KOM). Die Position als Vizepräsident kann daher als „besondere Würde“ angesehen werden.714 Die Vizepräsidenten haben keinerlei Aufgabenbereiche oder Amtsbefugnisse, die ihnen schon von vornherein aufgrund ihrer Stellvertreterposition zugewiesen sind. Es gibt bislang auch keine Ressorts, die zwingend einem Vizepräsidenten zugewiesen werden müssen. Dies ändert sich für einen Vizepräsidenten mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrags. Nach ihm soll ein Vizepräsident die Position und die Aufgaben des Außenministers der Europäischen Union wahrnehmen (Art. I-28 Abs. 4 Satz 1 VV). Dabei kann die Vertretung des Kommissionspräsidenten durch seine Vizepräsidenten nicht mit einer zivilrechtlichen Stellvertretung gleichgesetzt werden. Die Stellvertreter des Kommissionspräsidenten handeln im Vertretungsfall nicht mit Wirkung für den und mit Vollmacht des amtierenden Kommissionspräsidenten, sondern die Handlungen werden dem Amt als solchem zugerechnet. Es liegt somit ein Fall der organschaftlichen Vertretung vor. Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht wurde die Ernennung der Vizepräsidenten von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen und ohne eine spezielle Regelung vollzogen. Die Anzahl der Vizepräsidenten betrug nach der ursprünglichen Fassung gemäß Art. 161 EWGV zwei.715 Art. 14 Abs. 1 FusV erhöhte die Anzahl dann auf drei Vizepräsidenten. Zusätzlich 713 Eine Aufstellung aller Kommissionspräsidenten und Vizepräsidenten findet sich im Anhang, S. 275 f. 714 Georgopoulos / Lefèvre sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Ehrentitel“, La Commission après le traité de Nice: métamorphose ou continuité?, RTDE 2001, 597 (604); Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 201, Rn. 11. 715 Dennoch wurden vermutlich aus politischen Gründen insgesamt drei Vizepräsidenten ernannt. Siehe Anhang, S. 275.

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gab es noch die (ad personam) Ernennung Mansholts zum vierten Vizepräsidenten am 1. Juli 1967.716 Im Zuge der Erweiterung 1972 wurde Art. 14 Abs. 1 FusV durch Art. 16 der Beitrittsakte717 geändert und die Zahl der Vizepräsidenten auf fünf erhöht. Eine Änderung des Ernennungsverfahrens brachte die Neuernennung der Kommission 1976. Die Mitgliedstaaten schlossen ein „gentlemen’s agreement“, nach dem die Vizepräsidenten automatisch den drei großen Mitgliedstaaten zufallen, wenn der vierte große Staat den Kommissionspräsidenten stellt.718 Ein weiterer Vizepräsident wurde den kleineren Staaten zugesprochen. Dieser Posten sollte durch Rotation aus zwei Gruppen besetzt werden. Dänemark, Irland, Luxemburg einerseits, Belgien und die Niederlande andererseits. Durch Art. 16 UAbs. 1 der Beitrittsakte 1985719 wurde die Zahl der Vizepräsidenten auf sechs erhöht. Vermindert wurde sie erst wieder durch den Maastrichter Vertrag, der die Anzahl auf höchstens zwei Vizepräsidenten festsetzte (Art. 161 EGV).720 Der Vertrag von Maastricht brachte auch die Abkehr von dem bisherigen „gentlemen’s agreement“, um die Unabhängigkeit der Kommission und die Stellung ihres Kommissionspräsidenten zu stärken. Die Ernennung der Vizepräsidenten wurde nun nicht mehr durch die Mitgliedstaaten vollzogen, sondern der Kommission selbst überlassen, die mangels Sonderregelungen mit einfacher Mehrheit beschloss. Seit dem Vertrag von Nizza ist keine Höchstzahl mehr angegeben, das Wort „kann“ wurde weggelassen. Es ist somit davon auszugehen, dass zumindest ein Vizepräsident gefordert wird. Gleichwohl wird dies in der Praxis keine Rolle spielen, da der Kommissionspräsident Vizepräsidenten benötigt, um sich extern und intern angemessen vertreten zu lassen. Des Weiteren erfolgt die Ernennung der Vizepräsidenten nicht mehr durch das Kollegium, sondern durch den Kommissionspräsidenten und auf dessen Vorschlag hin. Dies bedeutet eine weitere Stärkung seiner Stellung und Person. Dabei benötigt er allerdings die Billigung seines Kollegiums (Art. 217 Abs. 3 EG). Tritt der Verfassungsvertrag in Kraft, wird diese Billigung des Kollegiums nicht mehr erforderlich sein (Art. I-27 Abs. 3 lit. c) VV). Eine Ausnahme gilt für den Vizepräsidenten, der gleichzeitig Außenminister der Union ist (Art. I-28 Abs. 4 Satz 1 VV). Er wird mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates und mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannt (Art. I-28 Abs. 1 Satz 1 VV). Von diesem Sonderfall abgesehen, kann der Kommissionspräsident nach dem Verfassungsvertrag eigenständig ohne Billigung des Kollegiums entscheiden, wen er zum Vizepräsidenten ernennt. Der Kommissionspräsident unterliegt aber schon ABl. 1967 Nr. 152, S. 21 f. ABl. 1972 Nr. L 73, S. 17. Die BeitrA von 1979 (ABl. 1979 Nr. L 219, S. 17) änderte diese Zahl nicht. 718 Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 161, Rn. 3. 719 ABl. 1985 Nr. L 302, S. 23. 720 Vgl. den Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vom 30. 6. 1993 zur Ernennung der Vizepräsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1993, Nr. L 164, S. 11. 716 717

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heute außer der bislang noch erforderlichen Billigung des Kollegiums rechtlich keinen Anforderungen oder Auswahlkriterien hinsichtlich der Person seines Vizepräsidenten. Dennoch lässt sich bei einem Vergleich aller Kommissionspräsidenten und ihrer Vizepräsidenten feststellen, dass sich die Kommissionspräsidenten in der Praxis sehr wohl an bestimmte Auswahlkriterien gehalten haben. Sie orientierten sich einerseits parteipolitisch und versuchten andererseits einen gerechten Ausgleich zwischen großen und kleinen Staaten herbeizuführen. Es existiert die Praxis, dass die Ämter der Vizepräsidenten geographisch und parteipolitisch ausgeglichen vergeben werden. Im Rahmen dieser Praxis ist der Kommissionspräsident gleichwohl frei, die Person zu bestimmen, die sein Vertrauen besitzt. Er hat somit eine Vielzahl von Kombinationen zur Auswahl. Der Kommissionspräsident erzielt auf diese Weise eine stabilisierende Wirkung innerhalb der Kommission und vergrößert gleichfalls seinen politischen Einfluss, indem er alle vertretenen Gegensätze sowohl geographisch als auch politisch gleichermaßen einbindet.721 Die existierende Praxis ist aufgrund ihrer verschiedenen Möglichkeiten weiterhin nicht derart eng wie beispielsweise in Deutschland, wo der Vizekanzler stets aus der kleineren Koalitionspartei stammt.722 Der Kommissionspräsident kann freier als der deutsche Bundeskanzler agieren und entscheidet im Rahmen der existierenden Gepflogenheiten, wen er als seine Stellvertreter benennen und mit wichtigen Ressorts versehen möchte. Diese fehlende feste Bindung seiner Entscheidung an Mehrheitsverhältnisse, Nationalitäten oder Dienstalter festigt seine Machtposition. So stammten bei der Kommission unter dem Luxemburger Santer (1995 – 1999), der selbst aus dem konservativen Lager kam, ein Vizepräsident aus dem Norden und einer aus dem Süden. Der Brite Sir Brittan war ein Konservativer, und der Spanier Marín war ein Sozialist. Dass beide auch das höchste Dienstalter hatten, kam hinzu, spielte aber im Entscheidungsprozess keine nennenswerte Rolle.723 Auch in der Kommission des sozialistischen Italieners Prodi (1999 – 2004) war eine Vizepräsidentin Spanierin und wurde der konservativen Seite zugeschlagen (de Palacio). Das Amt des anderen Vizepräsidenten wurde mit einem Briten der sozialistischen Seite besetzt (Kinnock). In der Kommission des konservativen Portugiesen Barroso (2004 – 2009) gibt es gleich fünf Vizepräsidenten, die sowohl geographisch auch die neu hinzugekommenen Staaten repräsentieren, als auch parteipolitisch nahezu das gesamte Spektrum abdecken. Die Schwedin Wallström ist Sozialdemokratin, ebenso der Deutsche Verheugen. Der Franzose Barrot ist dagegen ebenso wie der Italiener Frattini dem konservativen Lager zuzuschlagen. Der Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 272. Vgl. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1949 – 1999, S. 1031 – 1059, 4360. 723 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 19. 721 722

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Este Kallas gehört der wirtschaftsliberalen estnischen Reformpartei an und lässt sich keiner der beiden Seiten zuteilen. Es lassen sich somit bei den vorangegangenen Kommissionen stets die gleichen Kriterien feststellen, nach denen die Auswahl der Vizepräsidenten vollzogen wurde. Es wurde bei ihrer Auswahl darauf geachtet, mit einer gleichmäßigen Aufteilung unter geographischen und parteipolitischen Gesichtspunkten einen möglichst repräsentativen Querschnitt der Mitgliedstaaten zu schaffen. Diese Kriterien, mit denen der jeweilige Kommissionspräsident einerseits den unterschiedlichen in der Kommission repräsentierten politischen Richtungen Rechnung trägt und andererseits gleichermaßen kleine und große Länder beteiligt, zeigen sein Bemühen um eine gerechte Auswahl, die ihm die erforderliche Billigung des Kollegiums sichern soll. Diese Auswahlkriterien werden sich auch nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags nicht ändern, wenn der Kommissionspräsident keiner Billigung des Kollegiums für die Ernennung seiner Vizepräsidenten bedarf. Das System der gleichberechtigten Rotation behält ebenso seine Gültigkeit für den Vizepräsidenten als Kommissionsmitglied wie für die restlichen Kommissionsmitglieder. Der Kommissionspräsident wird sich daher weiterhin an die existierende Praxis halten. Im Übrigen ist der Kommissionspräsident für eine effektive Arbeit nach wie vor auf einen Zusammenhalt und Konsens unter den Kommissionsmitgliedern angewiesen, weswegen er sich bereits im Eigeninteresse bemühen wird, eine allen Beteiligten gerecht werdende Entscheidung zu treffen. Insgesamt zeigt das Ernennungsverfahren der Vizepräsidenten einen immer weitergehenden Einfluss des Kommissionspräsidenten auf. So hatte er zunächst keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Kandidaten, sie wurden allein von den Regierungen ausgewählt. Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrags hat er rein rechtlich eine vollständige Entscheidungsfreiheit ohne die Notwendigkeit der Billigung des Kollegiums bei der Auswahl, der Festlegung der Anzahl und der Ernennung der Kandidaten. b) Aufforderung zum Rücktritt Die verpflichtende Rücktrittsaufforderung des Kommissionspräsidenten an einzelne Kommissare ist eine der Kompetenzen, die seinen Machtzuwachs am deutlichsten aufzeigt und die Veränderung seiner Stellung innerhalb der Europäischen Union plastisch macht.724 Der Kommissionspräsident hat heute die Möglichkeit, nicht nur einzelne Kommissare, sondern auch mehrere Kommissionsmitglieder verpflichtend zum Rücktritt aufzufordern. Diese Kompetenz wurde mit der Vertragsreform von Nizza 2001 724 Nemitz spricht in diesem Zusammenhang von der „Selbstreinigung“ der Kommission durch Entlassung einzelner Mitglieder, Europäische Kommission: Vom Kollegialprinzip zum Präsidialregime?, EuR 1999, 678 (685 f.).

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im Vertrag verankert (Art. 217 Abs. 4 EG). Hintergrund dieser Regelung war der Rücktritt der gesamten Santer-Kommission im März 1999, nachdem in einem Bericht725 eines Ausschusses unabhängiger Sachverständiger726 Anschuldigungen über Betrug, Missmanagement und Nepotismus bekannt geworden waren. Neben kollektivem Versagen der Kommission im Verwaltungsvollzug wurden dort auch Fälle individueller Verantwortlichkeit einzelner Kommissare aufgelistet. Nachdem es nicht möglich war, das in dem Bericht am meisten belastete Kommissionsmitglied Cresson zum freiwilligen individuellen Rücktritt zu bewegen727, entschloss sich die Kommission als Kollegium zum „kollektiven“ Rücktritt728, um damit einem erneuten729 Misstrauensantrag des Europäischen Parlaments zuvorzukommen. Dieser Kollektivrücktritt einer gesamten Kommission war der erste in der Geschichte der europäischen Integration und brachte die Diskussion in Gang, wie die Kommission vor dem individuellen Fehlverhalten einzelner Kommissare geschützt werden kann. Als Konsequenz dieser Situation wollte der Amtsnachfolger Santers, Prodi (1999 – 2004), das Vertrauen der Bürger in die Amtsführung der Kommission stärken. Hierzu wurden nicht nur die Amtspflichten der Kommissare in einem Verhaltenskodex in Form einer Selbstverpflichtung bekräftigt.730 Prodi verlangte auch eine Stärkung seines Amtes, indem er einzelne Kommissare ver725 Vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7426 vom 17. 3.1999, S. 3; Bulletin Quotidien Europe-Dokumente Nr. 2128 vom 19. 3. 1999, S. 1 ff. Auszugsweise finden sich die Berichte des Ausschusses bei Hummer / Obwexer, Der „geschlossene“ Rücktritt der Europäischen Kommission, integration 1999, 77 (82). 726 Der Ausschuss wurde am 27. 1. 1999 durch eine Interorganvereinbarung von Parlament und Kommission eingesetzt. Aus der freiwilligen Einsetzung resultiert eine Selbstverpflichtung beider Organe, seine Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und zu befolgen. Im Lichte der Rechtsprechung des EuGH ist diese interinstitutionelle Übereinkunft für das Europäische Parlament und die Kommission als bindend anzusehen, auch wenn keine Außenwirkung gegenüber Dritten eintritt. Der Ausschuss ist somit keine Gemeinschaftseinrichtung und besitzt keine formellen Untersuchungsbefugnisse. EuGH, Rs. C-25 / 94, Kommission / Rat, Slg. 1996, S. I-1469 ff. (Tz. 49); EuG, Rs. T-194 / 94, Carvel and Guardian Newspapers / Rat, Slg. 1995, S. II-2765 ff. (Tz. 62). 727 Generalanwalt Geelhoed sah die Anschuldigungen gegen Edith Cresson und somit einen Verstoß gegen Art 213 Abs. 2 EG als erwiesen an. In seinem Schlussantrag vom 23. 2. 2006 forderte er eine Kürzung ihrer Ruhegehaltsansprüche und der damit verbundenen Vergünstigungen um die Hälfte, Rs. C-432 / 04. 728 Zu der Problematik, ob für einen „kollektiven“ Rücktritt der gesamten Kommission überhaupt eine Rechtsgrundlage im Vertrag vorhanden ist, siehe verneinend Hummer / Obwexer, Der „geschlossene“ Rücktritt der Europäischen Kommission – Von der Nichtentlastung für die Haushaltsführung zur Neuernennung der Kommission, integration 1999, 77 (84 f.). Bejahend Bieber, in: Beutler / Bieber / Piepkorn / Streil, Die Europäische Union, Rn. 267. 729 Der Misstrauensantrag vom 14. 1. 1999 gelangte zur Abstimmung, wurde aber mit 293 gegen 232 Stimmen bei 27 Enthaltungen abgelehnt. Trotzdem stimmten 42 Prozent aller Abgeordneten für ihn. Siehe hierzu Dauses, Nochmals zum Europäischen Parlament: Von der „beratenden“ zur „bestätigenden“ Versammlung?, EuZW 1999, 97 (97). 730 Der Verhaltenskodex kann als Selbstverpflichtung der Kommissare als Auslegungshilfe zu Art. 213 Abs. 2 EG herangezogen werden. Siehe Fn. 483. Ebenso Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 213, Rn. 5a.

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pflichtend zum Rücktritt auffordern konnte. Bereits mit der Benennung der Mitglieder der Prodi-Kommission 1999, also noch vor einer vertraglichen Regelung, ließ sich Prodi von den designierten Kommissaren versprechen, freiwillig zurückzutreten, falls er sie darum bitten würde. Ferner verlangte er die Veröffentlichung ihrer Vermögensverhältnisse im Internet.731 Bevor die Rücktrittsaufforderung ausgesprochen wird und befolgt werden muss, muss der Kommissionspräsident seine Initiative nicht nur mit objektiv ernsthaften Gründen versehen, sondern er bedarf auch einer „Billigung“, also einer gleichlautenden Willensäußerung der Kommission.732 Wie bei der Ernennung des Vizepräsidenten genügt eine einfache Mehrheit gemäß Art. 217 Abs. 4 EG i.V.m. Art. 219 Satz 1 EG. Diese Billigung ist Ausdruck des Kollegialitätsprinzips. Das Kollegium soll gemeinschaftlich darüber befinden, ob die Handlungsweise des betroffenen Kommissars sein Ausscheiden rechtfertigt. Dahinter steht nicht nur die gemeinschaftliche Verantwortlichkeit der Kommissare, sondern auch die höhere Gewähr einer reflektierteren Bewertung des Vorfalls, als wenn der Kommissionspräsident allein entscheidet (Mehr-Augen-Prinzip). Der Kommissionspräsident handelt bei der Aufforderung zum Rücktritt auf Eigeninitiative, er muss keinen Antrag abwarten. Mit dieser Möglichkeit kann er gezielt auf einzelne Kommissare einwirken und so die Gefahr eines Misstrauensantrags des Parlaments733, der bei seiner Annahme den Rücktritt der gesamten Kommission zur Folge hätte, abwenden. Das Parlament hat demgegenüber nicht die Möglichkeit, den Rücktritt eines einzelnen Kommissars zu erzwingen, doch wurde in einer Rahmenvereinbarung734 zwischen dem Parlament und der Kommission eine entsprechende Selbstverpflichtung für die Kommission begründet. Sie sieht vor, dass der Kommissionspräsident ernsthaft zu prüfen hat, ob er ein Kommissionsmitglied zum Rücktritt auffordern soll, wenn das Parlament sein mangelndes Vertrauen in dieses Mitglied zum Ausdruck bringt.735 Der Kommissionspräsident ist somit in seiner Rücktrittsaufforderung immer noch frei, doch führt diese Selbstverpflichtung zu einem erheblichen Druckpotential des Parlaments. Liegt erst einmal eine Erklärung des Parlaments vor, die mangelndes Vertrauen in einen Kommissar bescheinigt, ist es der Kommissionspräsident, der sich nach einer ernsthaften Prüfung zu rechtfertigen hat, wenn er den betreffenden Kommissar nicht zum Rücktritt zwingt. Faktisch kann daher durchaus von einer ernstzunehmenden Möglichkeit des Parlaments gesprochen werden, auf die Rücktrittsauffor731 Bezeichnet wird diese Regelung daher auch als Lex Prodi. Hierzu Wiedmann, Der Vertrag von Nizza – Genesis einer Reform, EuR 2001, 185 (203). 732 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 27, 28. 733 Siehe S. 135 ff. 734 Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission vom 5. 7. 2000, ABl. 2001 Nr. C 121, S. 122 ff. vom 24. 4. 2001. 735 Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission vom 5. 7. 2000, ABl. 2001 Nr. C 121, S. 122 (124), Nr. 10 vom 24. 4. 2001.

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derung des Kommissionspräsidenten Einfluss zu nehmen. Festgeschrieben wurde diese Möglichkeit in der „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Wahl der neuen Kommission“ vom 18. November 2004.736 In der daraufhin erfolgten „Revision der Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission“737 heißt es unter der Überschrift „II. Politische Verantwortlichkeit“ im Gliederungspunkt 3. „Beschließt das Parlament, sein mangelndes Vertrauen in ein Mitglied der Kommission zum Ausdruck zu bringen, fordert der Präsident der Kommission nach reiflicher Prüfung dieses Beschlusses entweder das betreffende Mitglied zum Rücktritt auf oder erläutert seine Entscheidung dem Parlament.“ Angenommen wurde die Revision der Rahmenvereinbarung vom Europäischen Parlament und der Kommission am 26. Mai 2005.738 Diese neue Formulierung, in der das Rechtfertigungserfordernis explizit verankert wurde, stellt damit eine Verschärfung der bislang gültigen Rahmenvereinbarung dar. Tritt der Verfassungsvertrag in Kraft, bedarf es für eine Aufforderung zum Rücktritt durch den Kommissionspräsidenten keiner Billigung des Kollegiums mehr (Art. I-27 Abs. 3 Satz 2 VV). Das Kollegialitätsprinzip tritt hier zugunsten des Prinzips der politischen Führung zurück. Gegen ein solches Zurücktreten könnte zwar angeführt werden, dass die bislang nötige Billigung des Kollegiums eine höhere Gewähr einer reflektierteren und damit richtigen Entscheidung bietet, als es bei einer Alleinentscheidung des Kommissionspräsidenten der Fall wäre. Es geht jedoch primär um die politische Bewertung eines Vorgangs und darum, die Politik und Arbeitsfähigkeit der Kommission einheitlich und effizient zu gestalten. Eine Vertrauensbasis zwischen Kommissionspräsident und Kommissaren ist hierfür eine notwendige Voraussetzung.739 Ist der Kommissionspräsident der Ansicht, ein Kommissar sollte zurücktreten, ist diese notwendige Voraussetzung nicht mehr gegeben. In Anbetracht der Tatsache, dass eine einheitliche und arbeitsfähige Kommission grundlegend für das Funktionieren der gesamten Europäischen Union ist und es sich des Weiteren um politische Bewertungen handelt, die nicht justitiablen Maßstäben unterliegen, kann ohnehin nicht mit den Begriffen „richtig“ und „falsch“ argumentiert werden. Auch wenn der Kommissionspräsident daher in seiner Bewertung (möglicherweise) andere Prioritäten als das Kollegium setzt, muss ihm diese politische Freiheit für die Ausübung seiner politischen Führungsrolle gewährt werden. Seit diese Rücktrittsaufforderung vertraglich verankert ist, musste sie allerdings bei einem bereits amtierenden Kommissar bis heute noch nicht ausgesprochen werden. Die Vergrößerung der Machtbefugnisse des Kommissionspräsidenten ist ein zusätzlicher Beleg dafür, dass das Kollegialitätsprinzip zugunsten der politischen Führung weiter an Bedeutung verliert. 736 737 738 739

Unter Nr. 5 lit. a), Dokument P6_TA (2004) 0063. Plenarsitzungsprotokoll vom 12. 5. 2005 (2005 / 2076 ACI). Endgültiges Dokument P6_TA (2005) 0194. Geiger, EG-Komm., Art. 217, Rn. 4.

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c) Benennung eines Nachfolgers Im Benennungsverfahren für einen Nachfolger eines ausgeschiedenen Kommissionsmitglieds lässt sich gleichfalls ein Machtzuwachs des Kommissionspräsidenten erkennen. Bislang hatte der Kommissionspräsident in dieser Frage keine Entscheidungsbefugnisse. Denn zunächst ernannten die Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen ein neues Mitglied.740 Seit dem Vertrag von Nizza erfolgt die Ernennung mit qualifizierter Mehrheit.741 Die Entscheidung, ein ausgeschiedenes Mitglied für seine restliche Amtszeit nicht zu ersetzen, kann dagegen nur einstimmig durch den Rat getroffen werden (Art. 215 Satz 3 EG). Der Rat hat somit die Möglichkeit, durch eine Nichtbesetzung in die innere Organisation der Kommission einzugreifen. Ersetzt der Rat ein ausgeschiedenes Mitglied nicht, ist der Kommissionspräsident auch gegen seinen Willen gezwungen, eine Neustrukturierung der Ressorts vorzunehmen. Diese würde einen Eingriff in seine Organisationsgewalt darstellen. Einen weiteren Eingriff in die Organisationsgewalt bedeutet die Benennung eines Nachfolgers für einen ausgeschiedenen Kommissar durch den Rat, welcher der Kommissionspräsident nicht zugestimmt hat. Diese Kompetenz des Rates steht somit im Widerspruch zur sonstigen Systematik des Vertrags, die die Organisationsgewalt dem Kommissionspräsidenten zuordnet. Dieser Widerspruch wird durch die Änderung im Verfassungsvertrag aufgelöst, indem er den Kommissionspräsidenten bei der Benennung eines Nachfolgers für ein ausgeschiedenes Mitglied einbezieht. Der Kommissionspräsident erhält eine neue Kompetenz, nach der künftig die Bestimmung eines Nachfolgers seiner Zustimmung bedarf (Art. III-348 Abs. 2 Satz 1 VV). Auch die Entscheidung, ein ausgeschiedenes Mitglied nicht zu ersetzen, kann nur auf Vorschlag des Kommissionspräsidenten erfolgen (Art. III-348 Abs. 2 Satz 2 VV). In beiden Konstellationen ist es fortan nicht mehr möglich, die Meinung des Kommissionspräsidenten zu übergehen. Diese Änderung im Verfassungsvertrag ist eine konsequente Fortführung des eingeschlagenen Weges, dem Kommissionspräsidenten mehr Kompetenzen einzuräumen. Soll er seine Kommission leiten und die Verantwortung tragen, muss er auch bei der Personalentscheidung über die Nachfolge für ein ausgeschiedenes Mitglied mitwirken können. Schließlich ist er es auch, der später eventuellen Rechtfertigungszwängen oder Rücktrittsaufforderungen unterliegt, die sich negativ auf das Bild der Kommission in der Öffentlichkeit auswirken können. Die durch den Verfassungsvertrag vollzogene Änderung ist mithin eine Bestätigung der Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten, die sich in die sonstige Systematik des Vertrags einfügt. 740 Art. 158 Satz 1 EWGV i.V.m. Art. 159 Satz 2 EWGV; Art. 159 Satz 2 EGV; Art. 215 Satz 2 EG. 741 Art. 215 Satz 2 EG (Nizza).

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

Zugleich bestehen künftig neue Befugnisse des Europäischen Parlaments bezüglich der Benennung eines Nachfolgers für ein ausgeschiedenes Mitglied. Bislang hatte das Parlament keinerlei Mitspracherechte. Der Verfassungsvertrag bringt bei seinem Inkrafttreten auch in diesem Punkt eine Änderung. Doch ist diese neue Kompetenz in der Form eines Anhörungsrechts eher schwach ausgestaltet (Art. III-348 Abs. 2 Satz 1 VV). Interessant wird das Anhörungsrecht des Parlaments allerdings dann, wenn es in Zusammenschau mit der Selbstverpflichtung der Kommission742 gesehen wird. Das Anhörungsrecht hat insofern einen größeren Stellenwert, als es zunächst scheint, da es dem Parlament möglich ist, bei mangelndem Vertrauen den Kommissionspräsidenten zu einer Prüfung der vorgebrachten Vorwürfe zu veranlassen, die dann eine Rücktrittsaufforderung an den betreffenden Kommissar nach sich ziehen kann.743 Sowohl die Vertreter der Mitgliedstaaten als auch der Kommissionspräsident werden daher bereits bei der Anhörung vorgebrachte Zweifel des Parlaments gegenüber einem Kandidaten entsprechend würdigen. Dass das Parlament nur über ein Anhörungs- und eben nicht über ein Zustimmungsrecht verfügen soll, verstärkt die oben genannten Thesen zusätzlich, die ihren Schwerpunkt auf die Stellung des Kommissionspräsidenten legen. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation wäre es indes besser gewesen, dem direkt gewählten Parlament bei der Benennung eines Vertreters ein Zustimmungsvotum zuzugestehen, wie es auch bei der Ernennung der gesamten Kommission erforderlich ist. Grundsätzlich ist es dem Rat immer noch möglich, die Anzahl der Kommissionsmitglieder durch einen einstimmigen Beschluss zu ändern (Art. 213 Abs. 1 Satz 2 EG; Art. I-26 Abs. 6 Satz 1 VV). Dabei geht die Nizza-Fassung vom Rat in der Zusammensetzung der Vertreter auf Ministerebene aus (Art. 203 Satz 1 EG), wohingegen im Verfassungsvertrag ausdrücklich vom Europäischen Rat die Rede ist. Im letzten Fall ist der Kommissionspräsident als Mitglied des Europäischen Rates zwar an der Debatte beteiligt, ein Stimmrecht kommt ihm hingegen nicht zu (Art. I-25 Abs. 4 VV). In diesem Zusammenhang könnte die Frage aufkommen, wann der Rat bzw. der Europäische Rat die Kompetenz innehat, die Zahl der Kommissare zu ändern. Der Vertragstext gibt hierzu keine Vorgaben. Möglich wären zwei Alternativen. Der Rat könnte die Kompetenz haben, die Anzahl der Kommissare jederzeit zu ändern744, oder er könnte lediglich die Befugnis haben, die Mitgliederanzahl nach Ablauf einer Amtsperiode zu ändern. Siehe S. 205. Siehe S. 205. 744 Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 213, Rn. 9. Ohne Angaben zur zeitlichen Änderungskompetenz Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 213, Rn. 2. Ohne Angaben Schwarze, EG-Komm., Art. 213; Kugelmann, in: Streinz, EGKomm., Art. 213; Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, Art. 157, Rn. 6. 742 743

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Gegen die erste Alternative spricht die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten. Könnte der Rat in eine amtierende Kommission in der Form eingreifen, dass er eine Änderung der Kommissarsanzahl beschließt, wäre der Kommissionspräsident gezwungen, eine Neustrukturierung der Ressorts vorzunehmen. In diesem Fall stellt sich ferner die Frage, ob der Rat dann auch entscheiden würde, welche Kommissare ausscheiden müssten? Eine solche Entscheidung stünde nicht nur im Widerspruch dazu, die Kommission als unabhängiges Gemeinschaftsorgan zu betrachten, sondern würde auch in das Mitwirkungsrecht des Parlaments eingreifen, das die gesamte Kommission zuvor legitimiert hat. Bei der zweiten Alternative hingegen, bei der der Rat bzw. der Europäische Rat nach Ablauf einer Amtsperiode eine Änderung der Anzahl der Kommissare beschließt, ist die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten nicht betroffen. Die Organisationsgewalt des Vorgängers ist nicht mehr betroffen, während sich der potentielle Nachfolger erst mit Ernennung der neuen Kommission auf seine Organisationsgewalt berufen kann. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten nach wie vor die „Herren der Verträge“ sind und sich die Europäische Union als Staatenverbund trotz aller Eigenständigkeit nicht vom Einfluss der Mitgliedstaaten gelöst hat, begründet die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Änderung der Anzahl der Kommissionsmitglieder. Dies gilt allerdings nur zwischen zwei Amtsperioden. Im Widerspruch zur sonstigen Systematik des Vertrags würde es dagegen stehen, eine Änderung der Mitgliederanzahl einer amtierenden Kommission vorzunehmen. In der Praxis wird es sich allerdings als schwierig erweisen, einen einstimmigen Ratsbeschluss zu erhalten, da dann ein Mitgliedstaat zustimmen müsste, den von ihm benannten Kommissar abzusetzen.

V. Zwischenergebnis Die Kompetenzen des Kommissionspräsidenten umfassen nicht nur solche der Außenvertretung, sondern er übt auch notarielle Tätigkeiten aus und hat politische Einflussmöglichkeiten. Insbesondere auf letzteren liegt sein kompetenzieller Schwerpunkt. So ist das Instrumentarium der politischen Einflussmöglichkeiten derart umfassend, dass sie als gubernative Befugnisse bezeichnet werden können. Der Kommissionspräsident regiert somit die Kommission im engeren und die Europäische Union im weiteren Sinne. Lediglich in den Bereichen, die entweder zu den Kernbereichen staatlicher Souveränität gehören oder deren Sinn weniger auf einer rechtlichen als auf einer symbolischen Ebene zu finden ist, hat der Kommissionspräsident weniger Befugnisse inne. Dies lässt sich mit der besonderen Struktur der Europäischen Union erklären.

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F. Selbstverständnis der Kommissionspräsidenten Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die europäischen Verträge das Amt des Kommissionspräsidenten mit einer Vielzahl von Kompetenzen und Möglichkeiten ausstatten, ihm aber auch klare Grenzen setzen. Daraus resultiert ein unterschiedliches Selbstverständnis der verschiedenen Amtsinhaber bezüglich ihrer Rolle. Eine genauere Untersuchung dieses Selbstverständnisses sieht sich einigen Schwierigkeiten gegenüber. Einige Kommissionspräsidenten übten das Amt nur für kurze Zeit aus, innerhalb derer sie hinsichtlich ihrer eigenen Rolle keine Stellung bezogen.745 Andere Kommissionspräsidenten bezogen deutlicher Stellung, wobei die Deutlichkeit der Äußerungen nicht unbedingt mit der Bedeutung des Amtsinhabers korrespondiert. Dennoch kommen unterschiedliche Visionen und ein unterschiedliches Selbstverständnis bezüglich der Frage, welche Rollen die Kommission und ihr Kommissionspräsident im institutionellen Gefüge der Europäischen Union einnehmen sollen, klar zum Ausdruck. Über die innere Organisation der Kommission sagte beispielsweise der deutsche Kommissionspräsident Hallstein (1958 – 1967) in seiner Abschiedsrede im Europäischen Parlament am 21. Juni 1967746, dass die Kommission ihre Geschlossenheit bewahren und ein striktes Kollegialitätsprinzip angewandt werden muss. Mit Recht gebe der Vertrag dem Kommissionspräsidenten weder eine Richtlinienkompetenz noch ein besonderes Gewicht bei der Abstimmung.747 Dennoch sah sich Hallstein „als eine Art europäischer Ministerpräsident“.748 Dazu führte er bereits 1979 aus, er halte die gegenwärtige Ordnung noch auf längere Zeit für die Beste: „keine Verstärkung der Stellung des Präsidenten (ein starker Präsident braucht sie nicht, und einem schwachen hilft sie nicht) und Beibehaltung eines strikten Kollegialitätsprinzips (jedes Mitglied soll Mitverantwortung für die Mehrheitsentscheidungen tragen)“. Er sei weiterhin für eine Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Mitglieder durch die Regierungen – man könne lediglich an eine Stellungnahme des Kommissionspräsidenten zur Auswahl der Mitglieder denken.749 Warum die Kommission allerdings keinen starken Präsidenten „braucht“, begründet Hallstein nicht. Ebenfalls unklar bleibt, warum die Ernennung des Kommissionspräsidenten und der übrigen Kommissare durch die Mitgliedstaaten erstrebenswert sein soll. Hallstein bemängelte schließlich selbst eine Abschwächung des kollegialen Charakters der Europäischen Union. Die innere Kollegialität mache zunehmend einer Individualisierung Platz, die Mitglieder handelten mehr nach ihrer per745 Jean Rey (1967 – 1970), Franco-Maria Malfatti (1970 – 1972), Sicco Mansholt (1972 – 1973), Francois-Xavier Ortoli (1973 – 1977). Etwas länger im Amt war Roy Jenkins (1977 – 1981), für den gleichfalls bezüglich seines Selbstverständnisses keine Feststellungen getroffen werden konnten. 746 Abgedruckt in Oppermann, Walter Hallstein, Europäische Reden, S. 681 ff. 747 Hallstein, in: Oppermann, Walter Hallstein, Europäische Reden, 681 (685). 748 Poullet / Deprez, Struktur und Macht der EG-Kommission, S. 92. 749 Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, S. 84.

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sönlichen Fachkompetenz.750 Einen Schluss zog Hallstein aus dieser Feststellung allerdings nicht, obwohl man eine Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten gerade mit der Aussage Hallsteins begründen könnte, es finde eine zunehmende Individualisierung statt, die den kollegialen Charakter verdränge. Betrachtet man zusätzlich noch die Geschehnisse der Vergangenheit, wie die Affären um die Kommissionsmitglieder Cresson und Bangemann, liefern diese Vorkommnisse ebenfalls Argumente, die die Ansichten Hallsteins, der dem Kommissionspräsidenten keine Vorrechte einräumen wollte, widerlegen. Das Selbstverständnis der Kommissionspräsidenten betreffen auch Überlegungen zu einer Reform der Kommission und der Stellung ihres Präsidenten, die insbesondere vor dem Hintergrund bereits vollzogener oder noch anstehender Erweiterungen zu institutionellen Reformen relevant werden. Der belgische Premierminister Verhofstadt vertrat zu Beginn des belgischen Ratsvorsitzes 2001 in der Europäischen Union die Ansicht, dass in Zukunft eine starke Kommission die Regierung der Europäischen Union darstellen könne, an deren Spitze ein direkt von den Völkern gewählter Präsident stehe. „Gestützt auf das von den Wählern erteilte Mandat hätte der Kommissionspräsident eine ausreichende Vertretungsmacht, um die europäische Exekutive zu leiten und gegenüber dem Europäischen Parlament die Verantwortung dafür zu tragen.“751 Auch der deutsche Außenminister Fischer stellte in seiner so genannten Humboldtrede752 Überlegungen zu einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten mit weitgehenden exekutiven Befugnissen an. Diese Visionen sind nicht neu. So hatten besonders der Deutsche Hallstein (1958 – 1967), der Luxemburger Thorn (1981 – 1984) und der Franzose Delors (1985 – 1994) die Vorstellung, die Kommission könne eines Tages als „föderale Regierung“ in einem europäischen Bundesstaat bestehen. Hallstein sprach beispielsweise von der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa753. Nach diesen Vorstellungen würde die europäische Integration eines Tages in einen europäischen Bundesstaat münden. Nur die Kommission habe überstaatlichen Charakter754, so dass einzig sie als Organ zur Wahrung des Gemeinschaftsinteresses eine europäische Regierung darstellen könne. Hallstein bestand in diesem Zusammenhang allerdings auf dem Kollegialitätsprinzip, wohingegen Delors sich den Kommissionspräsidenten weitergehend als Regierungschef einer europäischen Regierung vorstellen konnte. So betonte Delors, es sei seine Aufgabe ( . . . ) eine Diskussion in Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, S. 87. In seiner Rede zum Thema „Welche Zukunft für welches Europa?“ am 15. 6. 2001 auf dem 7. europäischen Forum Wachau in Göttweig, http: //www.eu2001.be. 752 Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation: Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Rede in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000, S. 28. 753 Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, S. 13. 754 Der Hohen Behörde wurde der überstaatliche Charakter“ ausdrücklich im EGKS-Vertrag zugebilligt, Art. 9 Abs. 5, 6 EGKS. Siehe auch die Rede von Delors am 15. 1. 1985 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg über die Orientierung der Kommission, Bull.EG 1985, Beilage 1, S. 20. 750 751

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Gang zu bringen, die dazu führe, dass Europa seine Lethargie ( . . . ) überwinde.755 Gemeinsam war beiden Kommissionspräsidenten, dass die Kommission unter ihrer Leitung die ihr vertraglich zugewiesenen Aufgaben sehr expansiv wahrnahm, was ihr auch die Bezeichnung eines „Motors der Integration“ einbrachte.756 Thorn bemängelte, dass vorhandene Vorteile zu wenig genutzt würden: „Die Kommission schlug vor, das Parlament drängte, Industrie, Handel und Verbraucher appellierten – aber der Ministerrat zauderte, und nichts geschah. Europa fehlt eine arbeitsfähige Regierung.“757 Unter Delors gewann die Kommission weiter an politischem Profil und drang in Bereiche vor, die denen einer klassischen Regierung entsprechen wie z. B. den Abbau der Arbeitslosigkeit oder der Außenpolitik.758 Der Italiener Prodi (1999 – 2004) wies besonders auf seinen politischen Führungsanspruch hin. So begann er seine Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament am 3. Juni 1999 mit einer Reihe von inhaltlichen Vorgaben wie der Schaffung eines integrierten Wirtschaftsraumes als Grundlage einer einheitlichen Währung und dem notwendigen Aufbau einer europäischen, wissenschaftlichen und kulturellen Identität. Durch seine Initiative wurde schließlich auch die so genannte lex prodi, die Rücktrittsaufforderung des Kommissionspräsidenten an einen Kommissar, vertraglich verankert (Art. 217 Abs. 4 EG).759 Dies zeigt ein Selbstverständnis Prodis, das ihn in einer deutlichen Führungsposition begreift. Ein anderes Denkmodell ist mit der Idee verbunden, dass die Union im Wesentlichen ökonomisch geprägt ist und daher der engen und wohlstandssichernden Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten dient. Der Kommission fällt dabei aufgrund ihres Expertentums eine wichtige, aber nur auf spezielle Sachfragen begrenzte Problemlösungsrolle zu. Diese Vorstellung wurde unter anderem von Monnet geprägt. Ein Modell, das mehr von den Nationalisten als von den Vertretern einer weiterführenden europäischen Integration vertreten wurde, enthält das Leitbild, dass der Kommission lediglich die Rolle eines mit Verwaltungsaufgaben betrauten „Sekretariats“ zufällt. Diese Vorstellung, die die Nationalstaaten und ihren Führungs755 In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 14. 1. 1985 über die Orientierung der Kommission, Bull.EG 1985, Beilage 1, S. 8. 756 Diedrichs, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A-Z, 142 (143); Oppermann, Europarecht, § 5, Rn. 92, spricht vom „Motor des Vertrages“. 757 Vortrag von Thorn vor der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft in Zürich vom 6. 9. 1984 zum Thema „Europas Weg aus der Krise“, EA 1984, D 595 (D 598). 758 Z. B. in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 15. 1. 1985 über die Orientierung der Kommission, Bull.EG 1985, Beilage 1, S. 18 und in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament, Bull.EG 1992, Beilage 1, S. 6 ff. Die Art und Weise, mit der Delors seine Aufgaben als Kommissionspräsident erfüllte und als Sprecher für die Europäische Union in und außerhalb der Gemeinschaft auftrat, spricht besonders für seine politischen und diplomatischen Fähigkeiten und hängt weniger mit seiner formalen institutionellen Position zusammen, so Schäfer, Die institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft: Überlegungen zu neuen Strukturen der EG-Institutionen, DÖV 1991, 261 (263). 759 Siehe S. 203 ff.

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anspruch hervorhebt, wurde weniger von Kommissionspräsidenten und mehr von Staats- und Regierungschefs vertreten. So wurde es von de Gaulle in den 60er Jahren aufgebracht und später in den 80er Jahren durch Thatcher und Anfang der 90er Jahre durch Major erneut aufgegriffen.760 Das Selbstverständnis, das sich bei den Kommissionspräsidenten zeigte, sieht diese indes durchgängig in einer führenden Position. Sie betrachteten sich nicht als Verwaltungschefs einer Behörde, sondern als europäische Führungsfiguren, die die europäische Integration lenken und vorantreiben. Am Ende dieser Entwicklung könnte ein europäischer Staat stehen, dessen Regierung die Europäische Kommission innehätte. Ihr Oberhaupt, das zusätzlich noch Befugnisse eines Regierungschefs hätte, wäre der Präsident der Europäischen Kommission.

G. Institutionelle Reformen Die Problematik, dass sich die Europäische Union zwar beständig erweitert, ihre Institutionen dieser Erweiterung aber nicht ausreichend anpasst, ist seit langem bekannt. Geschaffen wurden die Institutionen für die Gründungsmitglieder. Eine Europäische Union mit 27 Mitgliedern, wie sie derzeit in der Diskussion ist, war damals noch nicht vorstellbar. Doch bereits der erste Kommissionspräsident Hallstein kritisierte das Funktionieren der Kommission als Gemeinschaftsorgan und befand, „obwohl das Vertragssystem die Kommission als Verkörperung des europäischen Gemeinwesens konzipiert hat und sie diese Funktion auch zunächst erfüllen konnte, hat inzwischen eine Kombination von Schwäche, intellektueller Trägheit und wirklichkeitsferner nationalstaatlicher Souveränitäts-Utopie diesen Mechanismus faktisch außer Kraft gesetzt.“761 So gab es bereits vor den Vertragsänderungen, die mit Maastricht 1992 / 1993 begannen und mit dem noch nicht ratifizierten Verfassungsvertrag 2004 vorläufig endeten, kritische Stimmen, die eine Reform der Gemeinschaftsorgane im Allgemeinen und der Europäischen Kommission und der Stellung ihres Präsidenten im Besonderen befürworteten. In diesem Kontext stehen auch vier Vorschläge, die sich unter anderem mit Reformen innerhalb der Europäischen Kommission befassen. Der Vedel-Bericht 762 entstand bereits 1972. Diese Gruppe setzte sich als ad hoc Gremium unabhängiger Persönlichkeiten zusammen und hatte vom Europäischen Rat den Auftrag erhalten, sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments zu prüfen. In diesem Zusammenhang mussten besonders die Auswirkungen auf die Kommission beachtet werden, die sich aus der Erweiterung der parlamentarischen Befugnisse ergeben würden. Schmuck, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A-Z, 5. Auflage, 160 (163). Hallstein, in: Stöhr, Ideen und Taten, Festschrift für Alfred Toepfer, 59 (65). 762 Benannt nach dem Ausschussvorsitzenden Vedel, Bericht vom 25. 3. 1972, Bull.EG 1972, Beilage 4. 760 761

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Der belgische Ministerpräsident Tindemans763 und der Dreier-Ausschuss764 hatten in ihren Berichten 1975 und 1979 die Aufgabe, Überlegungen zur Anpassung der Mechanismen und Verfahren der Gemeinschaftsorgane im Zuge der anstehenden Erweiterungen anzustellen. Reformerwägungen der EG-Kommission wurden daher nur im Gesamtzusammenhang mit dem Generalthema, der Zukunftskonzeption einer Europäischen Union, angestellt. Der 1979 erschienene Spierenburg-Bericht765 galt dagegen speziell der Reform der Europäischen Kommission. Eine Gruppe fünf unabhängiger Persönlichkeiten sollte prüfen, wie die Kommission den künftigen Bedürfnissen, Prioritäten und Arbeitsbelastungen organisatorisch und personalpolitisch am besten gerecht werden und mit welchen Mitteln sie ihre Einstellungs- und Laufbahnpolitik sowie ihre Versorgungsordnung verbessern kann.766 Benannt wurde der Spierenburg-Bericht nach dem Vorsitzenden dieser Gruppe, der ein ehemaliges Mitglied der Hohen Behörde war. Zusammenfassend enthalten alle vier Berichte die gleiche Grundaussage: Der Einfluss der Kommission auf die gemeinschaftliche Politik sei gering geworden, die Kommission habe an Bedeutung verloren und könne ihren Auftrag, das gemeinsame Interesse Europas zu vertreten, nicht mehr in hinreichendem Maße wahrnehmen.767 Sie werde behindert und gelähmt durch renationalisierende und retardierende Maßnahmen des Rates.768 Neben den externen Gründen769 werden übereinstimmend mehrere interne Faktoren genannt, die die Einfluss- und Funktionsminderung der Kommission erklären sollen. Besonders hervorgehoben wird die Größe der Kommission, die mit dem Beitritt weiterer Staaten bei Beibehaltung des gegenwärtigen Systems die Effektivität des Kollegialsystems noch mehr behindern würde, als dies bereits jetzt der Fall sei.770 Unterstützen könnte man dieses Argument mit der historischen Betrachtung, dass weder der EWGV noch der 763 Der so genannte Tindemans-Bericht vom 29. 12. 1975 untersucht dabei auch die Fragestellung, was unter dem Begriff „Europäische Union“ zu verstehen sei. Bull.EG 1976, Beilage 1. 764 Bericht des Ausschusses an den Europäischen Rat über die Europäischen Organe vom Oktober 1979. Die drei Mitglieder des Ausschusses waren der ehemalige niederländische Ministerpräsident Biesheuvel, der ehemalige britische Handelsminister Dell und der ehemalige französische Vizepräsident der EG-Kommission Marjolin. Zusammenfassung des Berichts durch den Dreier-Ausschuss selbst, EA 1980 D, 80 ff. 765 Vorschläge für eine Reform der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Dienststellen vom 24. 9. 1979. 766 Vgl. H.-P. Ipsen, in: v. Münch, Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht, Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 813 ff. 767 Vedel, Bericht, S. 32; Tindemans, Bericht, D 2, S. 35; Dreier-Ausschuss, EA 1980 D, 80 (82) und Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 64; Spierenburg, Vorschläge, S. 4 ff. 768 Tindemans, Bericht, D 1, S. 34; Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 64 ff.; Spierenburg, Bericht, S. 142. 769 Siehe S. 116 f. 770 Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 66.

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EAGV eine Verpflichtung enthielten, dass der Kommission mindestens ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats angehören muss. Diese Verpflichtung wurde erst 1967 durch Art. 10 des FusV begründet. Im Gegenteil waren in der EAG bei sechs Mitgliedstaaten nur fünf Mitglieder in der Kommission vertreten (Art. 126 Abs. 1 EAGV).771 In der EGKS (Art. 9 Abs. 1 EGKSV) und der EWG (Art. 157 Abs. 1 EWGV) waren dagegen neun Mitglieder in der Hohen Behörde bzw. der Kommission vertreten. Erst die gemeinsame Kommission des Fusionsvertrags, die gemäß Art. 9 Abs. 1 FusV an die Stelle der zwei Kommissionen und der Hohen Behörde trat, bestand aus 14 Mitgliedern. In der Folgezeit verringerte sich diese Zahl auf neun, durch die Beitritte weiterer Staaten772 stieg sie aber schließlich auf 25 Kommissare an. Darüber hinaus weisen die Berichte auf die fehlende Homogenität der Geschäftsbereiche der Kommissare sowie auf die zunehmende Bürokratisierung und auf die als zu groß erachtete Zahl der Generaldirektionen und Kabinette hin. Der „Kollegialitätsschwund“ und die nicht ausreichende Autorität des Kommissionspräsidenten werden als weitere Probleme angemerkt.773 Die Kommission hat zudem eigene Reformvorschläge hinsichtlich ihrer künftigen Zusammensetzung, Organisation und Funktionsweise entwickelt. Diese übermittelte sie am 5. März 1996 der Regierungskonferenz, die am 12. März 1996 in Turin ihre Arbeit aufnahm.774 Die Zusammensetzung betreffend hielt es die Kommission für uneffizient, wenn das Kollegium mehr als 20 Mitglieder enthält. So solle es auch bei einer Erweiterung der Europäischen Union auf mehr als 20 Mitgliedstaaten bei höchstens 20 Kommissionsmitgliedern bleiben. Zur Stärkung der Effizienz und Kohärenz schlug die Kommission vor, die Anzahl der Ressorts von derzeit 20 auf zehn bis zwölf zu verringern. Den Kommissaren ohne eigenes Ressort könnten dann spezifische Aufgaben übertragen werden, oder sie könnten den Kommissaren mit Ressort unterstützend zugeordnet werden. In Debatten und Abstimmungen im Plenum wären dagegen alle Kommissare gleichberechtigt. Nach Ablauf der fünfjährigen Amtszeit sollte es dann mit der Bestellung der neuen Kommission zu einem Wechsel zwischen Kommissaren mit und ohne Ressort kommen. Für notwendig erachtete die Kommission insbesondere eine Stärkung der Kompetenzen des Kommissionspräsidenten. So wurde erwogen, dass bei der zukünftigen Benennung der übrigen Kommissionsmitglieder jeder Mitgliedstaat mehr als einen Bewerber vorschlagen sollte. Damit hätte der Kommissionspräsident einen größeren Handlungsspielraum bei der Besetzung der einzelnen Geschäftsbereiche mit den jeweils am meisten geeigneten Kandidaten.775 Luxemburg entsandte keinen Vertreter. 1972, 1981, 1986, 1995, 2004. 773 Tindemans, Bericht, D 2, S. 35; Dreier-Ausschuss, EA 1980 D, 80 (83) und DreierAusschuss, Bericht, S. 66, 70; Spierenburg, Vorschläge, S. 9. 774 EuZW 1997, 355. 775 EuZW 1997, 355; KOM (96) 90 endg.; Hummer, in: Grabitz / Hilf, EG-Komm., Maastrichter Fassung, vor Art. 155, Rn. 43 m. w. N. In diesem Sinne auch der Beitrag der Kom771 772

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Angesichts der Zeit, in der vor allem die ersten Berichte erstellt wurden, lässt sich heute unschwer vorstellen, dass sich die bereits damals vorhandenen Probleme in der heutigen Zeit mit 25 Mitgliedstaaten potenziert haben. Auch wenn es Reformvorschläge gab, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird, sind die Grundstrukturen der Kommission wie z. B. das vertraglich verankerte Kollegialitätsprinzip unverändert geblieben. So sind die sowohl in ihrer Anzahl als auch in der Anzahl ihrer Bediensteten als zu groß erachteten Generaldirektionen damals wie heute in der Diskussion.

H. Lösungsvorschläge Genauso wie die Berichte übereinstimmend die Problemfelder kennzeichnen, stimmen sie auch in ihren Lösungsvorschlägen weitgehend überein. In allen Berichten findet sich die Forderung nach einem größeren Handlungsspielraum der Europäischen Kommission. Es wird ferner eine Stärkung des Kommissionspräsidenten befürwortet. So führte der Tindemans-Bericht aus, die Tätigkeit der Kommission dürfe sich nicht auf das Vorlegen von Vorschlägen beschränken. Sie müsse im Rahmen der gemeinsam definierten Politiken mehr Handlungsspielräume erhalten, die ihr die Möglichkeit geben, der Verwirklichung der Europäischen Union eine eigene Dynamik zu verleihen.776 Auch der Dreier-Ausschuss befürwortete, dass der Rat der Kommission in größerem Unfang Befugnisse erteilen sollte. Die Kommission müsse in der Gemeinschaft unbedingt eine aktive Rolle behalten. Sie vertrete das Interesse Europas als Ganzes und nicht einen Kompromiss zwischen verschiedenen Standpunkten.777 Spierenburg hielt es für notwendig, sich der vertraglich vorgesehenen politischen Rolle bewusst zu werden, um von dem Image, ein „Hort der Technokratie“ zu sein, loszukommen.778 In jedem Arbeitsprogramm solle es eine strenge Ziel- und Prioritätensetzung geben. Das Kollegialitätsprinzip solle insofern streng eingehalten werden, als es eine Entscheidungsbindung für alle Kommissionsmitglieder vorsehe.779 Spierenburg sprach sich somit für das Kollegialitätsprinzip nur zwecks Bindung der übrigen Kommissare aus, damit die Einheitlichkeit der politischen Arbeit der Kommission gewährleistet sei. Dies könnte zwar in vielen Fällen auch ohne das Kollegialitätsprinzip durch eine Leitlinie des Kommissionspräsidenten erreicht werden. Jedoch kann es nicht für alle auftretenden Probleme Leitlinien geben, die die Einheitlichkeit herstellen, da der Kommissionspräsident ansonsten für alle denkbaren Konfliktfälle Leitlinien erlassen müsste. Zudem binden sich die Kommissare durch mission zur Vorbereitung einer „institutionellen Reform für eine erfolgreiche Erweiterung“ vom 10. 11. 1999, KOM 1999, 592. 776 Tindemans, Bericht, D 1, S. 34. 777 Dreier-Ausschuss, EA 1980 D, 80 (83) und Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 67 ff. 778 Spierenburg, Vorschläge, S. 8. 779 Spierenburg, Vorschläge, S. 7.

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eine kollegiale Entscheidungsfindung selbstständig an die politische Linie des Kommissionspräsidenten. Eine solche Selbstbindung bietet allemal eine bessere Gewähr einer ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Linie als eine Oktroyierung durch den Kommissionspräsidenten. Unabhängig davon bleibt die Forderung nach einer Verstärkung der Autorität des Kommissionspräsidenten bestehen, der mittels der ihm verliehenen Kompetenzen ein einheitliches Auftreten in der Öffentlichkeit gewährleisten kann. Das Kollegialitätsprinzip hat seine Funktion, darf aber nicht zu Lasten der anderen Prinzipien übersteigert werden. Eine kritische Einstellung der Kommission selbst zum Kollegialitätsprinzip ist beispielsweise in ihrer Stellungnahme für eine erfolgreiche Erweiterung zu erkennen.780 Einerseits schreibt sie, die Kollegialität sei eine wesentliche Quelle ihrer Legitimität, da die Kommission, auch wenn sie dem Parlament politisch verantwortlich sei, im Unterschied zu anderen Exekutivorganen nicht direkt aus Wahlen hervorgegangen sei.781 Andererseits sei die Anwendung des Kollegialitätsprinzips schon in einer Kommission mit 20 Mitgliedern mit Verwaltungszwängen und schwerfälligen Verfahren verbunden. Da die Kommission jährlich Tausende von Beschlüssen fasse, müsse dringend über eine Reform nachgedacht werden. In einer erweiterten Union werde die der Kommission obliegende Aufgabe, Kohärenz und Einheit zu gewährleisten, gleichzeitig schwieriger und notwendiger sein; ihre Handlungsfähigkeit müsse daher gewährleistet werden.782 Gleichwohl waren die Vorschläge für ein neues Verständnis von Kollegialität eher halbherzig. So wurde bezüglich des Kommissionspräsidenten lediglich überlegt, ihm die Befugnis zur Ernennung seiner Kollegen zu erteilen783, was ihn nach damaliger Ansicht bereits deutlich aus dem Kollegium hervorgehoben hätte. Fast alle Reformvorschläge wollten hingegen das Kollegialitätsprinzip weitgehend unverändert beibehalten und sahen lediglich eine Reduzierung der Kommissare vor.784 Hintergrund diese Vorschläge war nicht nur der Wille, eine Verkürzung der Entscheidungsprozesse zu erreichen, sondern auch, die Geschäftsbereiche in annähernd gleich große und gleich bedeutungsvolle einzuteilen sowie Überschneidungen zu verhindern. So solle auch verhindert werden, dass manche Kommissare über- und manche unterbelastet seien, was zur Frustration beider Seiten beitragen könne.785 Sicherlich ist dieser Schritt einer der notwendigen Reformschritte, die 780 Stellungnahme der Kommission, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM 2000, 43 endg. vom 26. 1. 2000. Sie stützt sich u. a. auf den Bericht der so genannten Drei Weisen Dehaene / v. Weizsäcker / Simon, Die institutionellen Auswirkungen der Erweiterung, Bericht an die Europäische Kommission vom 18. 10. 1999, Blätter für deutsche und internationale Politik 1999, 1510 ff. 781 S. 12 der oben genannten Stellungnahme. 782 S. 11 f. der oben genannten Stellungnahme. 783 Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 70; Spierenburg, Vorschläge, S. 14. 784 Stellungnahme der Kommission, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM 2000, 43 endg. vom 26. 1. 2000, S. 12 f.; Dreier-Ausschuss, EA 1980 D, 80 (83) und Dreier-Ausschuss, Bericht, S. 67; Spierenburg, Vorschläge, S. 11 f.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

durch den Verfassungsvertrag verwirklicht wurden.786 Doch müssen diesem Schritt weitere Schritte folgen, damit in Zukunft die Handlungsfähigkeit der Kommission gewährleistet ist. Im Sinne eines weiterführenden Integrationsprozesses sind zusätzliche Reformen daher unerlässlich. Ein Reformschritt könnte bereits ohne Vertragstextänderung lediglich durch Auslegung vollzogen werden. Legt man die vertraglich verankerten Prinzipien der politischen Führung, der Kollegialität und der Ressortverantwortung in der oben beschriebenen Art und Weise aus, findet eine Harmonisierung statt, die jedem Prinzip seinen eigenen Bereich zugesteht, ohne eines dabei seines Sinns zu entleeren.787 Die Effizienz der Entscheidungsprozesse wird durch eine gleichzeitige Stärkung der politischen Führung des Kommissionspräsidenten und der einzelnen Ressortkommissare verbessert. Das oben beschriebene Drei-Ebenen-Modell788 sorgt dennoch dafür, dass die einzelnen Ressortkommissare nicht gegen den politischen Willen des Kollegiums handeln dürfen, welches die Leitlinien des Kommissionspräsidenten konkretisiert. Das Kollegialitätsprinzip bleibt daher notwendig bei Festlegung und Verpflichtung der Kommissare auf eine gemeinsame konkrete politische Linie. Dadurch, dass das Prinzip der politischen Führung auf der obersten Ebene angelegt ist, darf das Kollegium bei seiner Festlegung auf eine gemeinsame Politik jedoch nicht gegen die Vorgaben des Kommissionspräsidenten verstoßen. Eine solche Auslegung beseitigt zwar nicht die Probleme, die ein zu großes Kollegium mit sich bringt. Durch eine Stärkung des Kommissionspräsidenten und der einzelnen Ressortkommissare können jedoch viele Probleme, die sich bereits aus dem Kollegium als solchem ergeben, in eine der beiden andere Ebenen verlagert werden, ohne das Kollegium überflüssig werden zu lassen. Die Effizienz der Kommissionsarbeit wird somit bereits durch diese Art der Auslegung verbessert.

J. Ergebnis Die Stellung des Kommissionspräsidenten, der vor den Vertragsreformen aus dem Kreis seiner Kollegen ernannt und lediglich mit Koordinierungsaufgaben betraut war, wurde mit jeder Vertragsänderung weiter ausgebaut. Es wurde das Prinzip der politischen Führung eingeführt, welches ihm eine Leitlinienkompetenz und eine Organisationsgewalt verleiht. Durch eine Harmonisierung innerhalb eines Drei-Ebenen-Modells789 wird die Stellung des Kommissionspräsidenten und seiner 785

So Rhein, Ernennung und Zusammensetzung der EG Kommission, EA 1982, 145

(147). 786 787 788 789

So reduziert sich durch das Rotationsprinzip die Anzahl der Kommissare, siehe S. 123. Siehe S. 198. Siehe S. 198. Siehe S. 198.

1. Kap.: Der Kommissionspräsident

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politischen Führung gestärkt, ohne das Ressortprinzip und das Kollegialitätsprinzip zu negieren. Insgesamt wird die rechtlich und politisch übergeordnete Stellung des Kommissionspräsidenten durch dieses Zusammenspiel verdeutlicht. Inzwischen wird der Kommissionspräsident auch zeitlich vor den übrigen Kommissionsmitgliedern benannt und ist maßgeblich an ihrer Auswahl beteiligt. Er ernennt die Vizepräsidenten, verteilt und entzieht Zuständigkeiten, kann Kommissionsmitglieder zum Rücktritt auffordern und besitzt die politische Führung und Verantwortung. Dadurch, dass für die Ernennung des Kommissionspräsidenten die Zustimmung des Parlaments notwendig ist, erfährt nicht nur dieses einen Kompetenzzuwachs.790 Es werden im Gegenzug auch die Autorität und Legitimation des Kommissionspräsidenten gestärkt, der sein Amt nunmehr auch einem direkt gewählten Organ verdankt. Der Kommissionspräsident erhält ferner dadurch, dass die einzelnen Kommissare nur im Einvernehmen mit ihm benannt werden können, die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, mit wem er zusammenarbeiten möchte. Dies schafft Stabilität und Vertrauen.791 Insbesondere mit der Rücktrittsaufforderung und der Weisungsbefugnis des Kommissionspräsidenten an einzelne Kommissare wurde ein Instrumentarium geschaffen, mit dem in vielen Konstellationen der Rücktritt der gesamten Kommission als Kollegialorgan umgangen werden kann.792 Diese Möglichkeiten sind nicht nur politisch wünschenswert, da sie einer gut arbeitenden Kommission die Möglichkeit geben, ihre Tätigkeit fortzusetzen und nicht von den Fehltritten Einzelner abhängig zu sein. Sie zeigen in der Zusammenschau mit den erweiterten Kompetenzen des Kommissionspräsidenten ebenfalls deutlich, dass die Kommission kein originäres Kollegialorgan ist, das einheitlich entscheidet, handelt und gemeinsam die Verantwortung übernimmt. Diese Verlagerung von einem Kollegialorgan zu einem Präsidialorgan mit einem regierenden Kommissionspräsidenten sollte daher auch benannt werden.793 Auf völkerrechtlicher Ebene vertritt u. a. der Kommissionspräsident die Europäische Union. Seine Sonderstellung wird auch durch die Zugehörigkeit zum Europäischen Rat – zusammen mit den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten – ausgedrückt (Art. 4 EU). Die Position des Kommissionspräsidenten hat sich somit zu der eines „Primus“794 mit einer in fast jeder Beziehung herausgehobenen Position gewandelt. Hierzu siehe S. 120 ff. Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 1. 792 Siehe S. 203 ff. und S. 162 ff. 793 Diese Erkenntnis setzt sich allerdings erst langsam in der Literatur durch, vgl. Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 217, Rn. 41; Jorna, in: Schwarze, EG-Komm., Art. 219, Rn. 1; Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 9; Nugent, The European Commission, S. 68. Lediglich Breier, in: Lenz / Borchardt, EG-Komm., Art. 217, Rn. 1, sieht den Kommissionspräsidenten rechtlich mit den Staats- und Regierungschefs gleichgestellt. 794 Nugent, The European Commission, S. 68. 790 791

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

2. Kapitel

Vergleich des Kommissionspräsidenten mit dem deutschen und französischen Staatsoberhaupt Als Unionsoberhaupt müsste der Kommissionspräsident mit dem deutschen und dem französischen Staatsoberhaupt in Bezug auf Stellung, Kompetenzen und Selbstverständnis vergleichbar sein. Ein Vergleich muss allerdings die Unterschiede, die zwischen einem Nationalstaat und der Europäischen Union als einem „Staatenverbund“795 bestehen, berücksichtigen. Ist der Kommissionspräsident daher ein Unionsoberhaupt und kein Staatsoberhaupt, müssen ihm gewisse Unterschiede zu Staatsoberhäuptern zugestanden werden. Allerdings ist der Kommissionspräsident kein Organ der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Art. 7 Abs. 1 EG) bzw. der Europäischen Union (vgl. Art. I-19 Abs. 1 VV), während die Staatsoberhäupter in ihren Staaten Verfassungsorgane darstellen. Als Verfassungsorgane werden diejenigen Organe bezeichnet, die unmittelbar aufgrund der Verfassung tätig werden, weil ihre Kompetenzen dort niedergelegt und gegeneinander abgegrenzt sind.796 Dem Vergleich des Kommissionspräsidenten mit den untersuchten Staatsoberhäuptern steht dennoch kein methodisches Hindernis im Wege. Die Rechte und Pflichten des Kommissionspräsidenten ergeben sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag bzw. aus dem Verfassungsvertrag (Art. 211 – 219 EG bzw. Art. I-27 VV i.V.m. Art. III-350 VV). Es wäre daher lediglich eine formelle Entscheidung der Staats- und Regierungschefs nötig, dem Kommissionspräsidenten gleichfalls einen Organstatus zu verleihen. Materiell sind hierfür alle Voraussetzungen vorhanden. Aufgrund der fehlenden formellen Voraussetzung wird der Vergleich daher insgesamt nicht in Frage gestellt.

A. Stellung Nimmt man die Stellung der beiden Staatsoberhäupter Deutschlands und Frankreichs sowie des Kommissionspräsidenten im jeweiligen Gewaltengefüge in den Blick, zeigen sich zunächst große Unterschiede. Der deutsche Bundespräsident verfügt im Normalfall nur über geringen Einfluss auf das politische Geschehen. Lediglich in politischen Ausnahmesituationen wächst ihm aufgrund seiner Reservefunktion politische Macht in erheblichem Umfang zu, die sich insbesondere in der Möglichkeit der Auflösung des Bundestags niederschlägt. Seine Rolle im Gewaltengefüge der Bundesrepublik Deutschland ist ansonsten überwiegend repräsentativer Natur.797 795 796 797

BVerfGE 89, 155 ff. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 344; J. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 834. Siehe S. 78 ff.

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

221

Demgegenüber nimmt der französische Staatspräsident zwar in vergleichbarem Umfang repräsentative Aufgaben wahr; sein Einfluss reicht jedoch weit darüber hinaus. Zu nennen sind insbesondere sein personeller Einfluss bei der Auswahl des Premierministers und seiner Regierung und sein damit verbundener materieller Einfluss auf die Regierungspolitik. Der französische Staatspräsident ist daher ein maßgeblicher politischer Akteur, dem erkennbar eine regierende Funktion zukommt.798 Der Kommissionspräsident ähnelt insofern mehr dem französischen Staatspräsidenten als dem deutschen Bundespräsidenten. Allerdings sind seine repräsentativen Aufgaben schwächer ausgeprägt, während sein politischer Einfluss in Bereichen sogar über den des französischen Staatspräsidenten hinausgeht und dem eines Regierungschefs ähnelt. Im Amt des Kommissionspräsidenten vereinigen sich damit in gewisser Weise die Ämter eines Staatsoberhaupts und eines Regierungschefs.799 Trotz dieser Unterschiede haben alle drei Ämter gemeinsam, dass sie ihrem Inhaber eine herausgehobene Stellung im Gewaltengefüge verschaffen. Die Staatsoberhäupter und der Kommissionspräsident stehen jeweils an der Spitze ihres Staates bzw. der Europäischen Union. Sowohl diese Spitzenstellung einerseits als auch die Unterschiede bezüglich des politischen Einflusses andererseits schlagen sich in den unterschiedlichen Wahlverfahren nieder. Die Wahl des französischen Staatsoberhaupts findet direkt durch das Volk statt800, die Wahl des deutschen Staatsoberhaupts und des Kommissionspräsidenten dagegen indirekt. Der französische Staatspräsident ist damit direkt legitimiert, doch scheint dies keine Voraussetzung für ein Oberhaupt zu sein, denn die Wahl des deutschen Oberhaupts findet indirekt statt. Der Bundespräsident wird von einem eigens gebildeten politischen Gremium der Bundesversammlung gewählt, deren Mitglieder in unterschiedlicher Weise legitimiert sind.801 Die Ernennung des Kommissionspräsidenten findet ebenfalls durch in unterschiedlicher Weise legitimierte Vertreter der Mitgliedstaaten statt. Eine weitere Legitimation findet durch das Europäische Parlament statt, in dem direkt gewählte Vertreter sitzen. Der Kommissionspräsident besitzt somit eine doppelte Legitimation.802 Außer diesem hohen Grad an Legitimation, den der Kommissionspräsident erfährt, haben die Staatsoberhäupter mit dem Kommissionspräsidenten gemeinsam, dass ihre Wahl respektive ihr Ernennungsverfahren einmalig sind. Das bedeutet, dass es keine andere Person im Staat bzw. in der Europäischen Union gibt, die in 798 799 800 801 802

Siehe S. 101 ff. Siehe S. 218 f. Siehe S. 81 ff. Siehe S. 56. Siehe S. 120 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

der gleichen Art und Weise ernannt wird. Auch darin kommt die herausgehobene Stellung zum Ausdruck. Eher zufällig ist es hingegen, dass die Amtszeit sowohl der beiden Staatsoberhäupter als auch die des Kommissionspräsidenten fünf Jahre beträgt und verlängert werden kann. Die Ämter des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundespräsidenten zeigen, dass es zwei unterschiedliche Typen von Staatsoberhäuptern gibt: Während die einen über maßgeblichen politischen Einfluss verfügen, sind die anderen auf überwiegend repräsentative Aufgaben beschränkt. Beide nehmen aber die Spitzenstellung im Staat ein, die insbesondere im Wahlverfahren zum Ausdruck kommt. Der Kommissionspräsident entspricht aufgrund seiner umfassenden politischen Befugnisse eher dem ersten Typus eines politisch agierenden Staatsoberhaupts.

B. Verantwortlichkeit Die Verantwortlichkeit als eine rechtliche und politische Rechenschafts- und Einstandspflicht umfasst das Einstehen eines selbstständig Handelnden für die Erfüllung einer Pflicht, die einem anderen geschuldet wird.803 Die geschuldete Pflicht eines Amtsträgers ist eine ordnungsgemäße Amtsausübung. Geschuldet wird diese dem Volk, das ihn direkt oder indirekt ins Amt gewählt hat. Verantwortlich ist ein Amtsträger in einer Demokratie somit abstrakt dem Volk gegenüber. Dieses kann seine Verantwortlichkeit jedoch nur durch ebenfalls gewählte und somit legitimierte Vertreter geltend machen, welche in der Folge die Kontrolle für das Volk ausüben. Konkret verantwortlich ist ein Amtsträger daher gegenüber seinen Kontrollorganen. Vorschriften zu Verfahren über die Geltendmachung von Verantwortlichkeit finden sich in allen demokratischen Verfassungen. Differenzieren lässt sich Verantwortlichkeit dabei in eine politische und eine rechtliche Verantwortlichkeit, die ihrerseits mit der Kompetenzfülle korrespondieren. So fordert das Amtsenthebungsverfahren für den deutschen Bundespräsidenten einen rechtlichen Verstoß. Die politische Verantwortlichkeit des Bundespräsidenten kann hingegen während seiner Amtszeit nicht sanktioniert werden, er könnte lediglich nicht wieder gewählt werden. Im Gegenzug besitzt er auch nur geringe politische Macht.804 Der französische Staatspräsident ist dagegen sowohl politisch als auch rechtlich verantwortlich und kann aus beiden Gründen aus dem Amt entfernt werden. Er hat eine umfassende rechtliche und politische Machtposition inne.805 Umfassende rechtliche und politische Machtbefugnisse besitzt auch der Kommissionspräsident innerhalb der Europäischen Union. Er kann daher ebenfalls 803 804 805

Siehe S. 64. Siehe S. 78 ff. Siehe S. 101 ff.

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

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sowohl aus politischen als auch aus rechtlichen Gründen seines Amtes enthoben werden.806 In allen drei Verfahren wird die Amtsenthebung vom obersten Gericht ausgesprochen. Die Zulässigkeit der Gründe für eine Amtsenthebung, rechtlich und / oder politisch, korrespondieren daher mit dem Grad an rechtlicher und / oder politischer Macht. Im Hinblick auf den Kommissionspräsidenten wurde diese Parallelität von Macht und Verantwortlichkeit nicht nur eingehalten, sondern sogar noch erweitert. Denn obwohl es für ihn formell kein eigenes Verfahren gibt, da für ihn bei einem Amtsenthebungsverfahren die gleichen Regelungen wie für die übrigen Kommissare gelten, wird er faktisch durch ein Misstrauensvotum des Parlaments persönlich sanktioniert. Im Fall der Annahme eines Misstrauensvotums hat er es versäumt, einem Misstrauensantrag zuvorzukommen und Maßnahmen gegen den betreffenden Kommissar zu ergreifen.807 Diese Schlussfolgerung trifft selbstverständlich nur dann zu, wenn er nicht selbst von vornherein durch das Parlament sanktioniert werden soll. Im Gegensatz zu den beiden Staatsoberhäuptern besteht für den Kommissionspräsidenten somit eine Verantwortlichkeit sowohl gegenüber dem Parlament, das ihn zusammen mit seiner Kommission zur Amtsniederlegung zwingen kann, als auch gegenüber dem Rat und der Kommission selbst.808 Vergleichen lässt sich sein Grad an Verantwortlichkeit daher unter anderem mit dem eines Regierungschefs eines Staates, der vom Parlament abhängig ist. Dieser kann mit seiner gesamten Regierung durch ein Misstrauensvotum des Parlaments abgesetzt bzw. zum Rücktritt gezwungen werden (z. B. Art. 67, 69 GG). Der Misstrauensantrag als politisches Sanktionsmittel erfordert im Gegensatz zum Amtsenthebungsverfahren bei keinem der genannten Staaten materielle Voraussetzungen.809 Keines der beiden Staatsoberhäupter kann indes durch einen Misstrauensantrag abgesetzt werden. Bei beiden Staatsoberhäuptern bedarf es eines Urteils des jeweiligen höchsten Gerichts. Der Kommissionspräsident kann jedoch sowohl durch einen Misstrauensantrag als auch durch ein Amtsenthebungsverfahren abgesetzt werden. Vergleicht man die Übernahme von Macht, Verantwortung und die Möglichkeiten einer Geltendmachung bei den beiden Staatsoberhäuptern und dem Kommissionspräsidenten, so kann der Kommissionspräsident für seine Machtbefugnisse sogar in größerem Umfang als die Staatsoberhäupter zur Rechenschaft gezogen werden. Siehe S. 132 ff. Siehe S. 135 ff. 808 Siehe S. 129 ff. 809 In Deutschland: „Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Misstrauen ( . . . ) aussprechen“, Art. 67 GG. In Frankreich: „Die Nationalversammlung spricht der Regierung das Misstrauen ( . . . ) aus“, Art. 49 Abs. 1 Constitution. „Nimmt die Nationalversammlung einen Misstrauensantrag an, so muss der Premierminister beim Präsidenten ( . . . ) den Rücktritt der Regierung einreichen“, Art. 50 Constitution. In der EG: Art. 201 EG i.V.m. Art. 34 GO EP. Schoo, in: Schwarze, EU-Komm, Art. 201, Rn. 4 ff. 806 807

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

C. Kompetenzen Der Vergleich der Kompetenzen der Staatsoberhäupter mit denen des Kommissionspräsidenten berücksichtigt unter Zugrundelegung der gefundenen Ergebnisse die Darstellung nach außen und innen, notarielle Aufgaben und die Möglichkeit politischer Einflussnahme.

I. Darstellung nach außen Betrachtet man die europäische Ebene, gehören die Außendarstellung und die völkerrechtliche Vertretung grundsätzlich zum Kompetenzbereich des Kommissionspräsidenten, soweit die Europäische Union betroffen ist.810 Da die Außendarstellung aber ebenso zum Kernbereich staatlicher Souveränität gehört, ist dies ein Bereich, den die Mitgliedstaaten bislang nur in geringem Umfang an die Europäische Union abgetreten haben.811 Daher gibt es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine einheitliche europäische Außenpolitik, die der Kommissionspräsident vertreten könnte. Es agieren zumeist die Staatsoberhäupter bzw. die Regierungschefs sowie die zuständigen Fachminister, um ihre nationalstaatlichen Interessen zu vertreten.812 Gibt es dennoch die Notwendigkeit der Vertretung der Europäischen Gemeinschaft auf völkerrechtlicher Ebene, nimmt diese derzeit der Kommissionspräsident neben dem Ratspräsidenten vor, welcher jeweils jedoch nur sechs Monate im Amt ist (Art. 203 Satz 2 EG). Als einer der inzwischen wichtigsten politischen Repräsentanten der Europäischen Gemeinschaft813 ist der Kommissionspräsident damit auch hinsichtlich der Außendarstellung seiner Rolle als primus inter pares entwachsen. So nimmt der Kommissionspräsident an Konferenzen der Staats- und Regierungschefs teil wie beispielsweise am Weltwirtschaftsgipfel.814 Sollte der Verfassungsvertrag in Kraft treten, wird diese Kompetenz an das Amt des neu geschaffenen Außenministers der Union übertragen, der dann die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union leiten soll.815 Dieser Außenminister kommt als einer der Vizepräsidenten816 des Kommissionspräsidenten nur mit dessen Zustimmung ins Amt und unterliegt bei der Wahrnehmung seiZum einheitlichen institutionellen Rahmen siehe S. 110. Siehe S. 147 f. 812 Als Beispiel kann hier das Verhalten der Mitgliedstaaten während des Irak-Konfliktes gesehen werden, die sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnten, sondern nationale Interessen in den Vordergrund stellten. 813 Kugelmann, in: Streinz, EG-Komm., Art. 217, Rn. 3. 814 Zuletzt am 7. und 8. 7. 2005 in Gleneagles, Schottland, hierzu SZ vom 8. 7. 2005, S. 8. Grundsätzlich Pernice, in: Dreier, GG-Komm., Art. 54, Rn. 7. 815 Art. I-28 Abs. 1 VV. 816 Art. I-28 Abs. 4 Satz 1 VV. 810 811

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

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ner Zuständigkeiten den Verfahren, die für die Arbeitsweise der übrigen Kommission gelten.817 Das bedeutet, dass er ebenso wie die übrigen Kommissare nach den Leitlinien des Kommissionspräsidenten agiert und auch seinen Weisungen unterliegt, da der Kommissionspräsident weiterhin für die Tätigkeit der Kommissare gegenüber dem Europäischen Parlament verantwortlich bleibt.818 Gleichfalls soll der Außenminister die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Auftrag des Rates durchführen (Art. I-28 Abs. 2 Satz 1 VV).819 Wie diese Zwangslage in der Praxis gelöst wird, bleibt abzuwarten. Doch deutet auch nach dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrags einiges darauf hin, dass der Kommissionspräsident zumindest teilweise Leitlinien der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgeben wird.820 Bis zu diesem Zeitpunkt und vorbehaltlich von Änderungen bleibt die völkerrechtliche Vertretung aber ohnehin im Zuständigkeitsbereich des Kommissionspräsidenten, soweit die Europäische Gemeinschaft nach außen vertreten werden soll.

II. Darstellung nach innen Den Bereich der Innendarstellung durch Symbole wie die Verleihung von Orden nehmen in den Mitgliedstaaten die Staatsoberhäupter wahr.821 In der Europäischen Union dagegen ist dieser gesamte Bereich wesentlich schwächer ausgeprägt als in den Nationalstaaten. Seit einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne existieren allerdings, genau wie in den Mitgliedstaaten, eine Flagge, eine Hymne und ein Feiertag.822 Festgelegt wurden diese Symbole durch die Staats- und Regierungschefs; dem Kommissionspräsidenten wurden in diesem Bereich keine Kompetenzen zugestanden. Dies ist auch verständlich, wenn man die Struktur der Europäischen Union und ihre Entstehungsgeschichte betrachtet. Sie ist ein Gebilde bestehend aus den Mitgliedstaaten, deren Leitung (noch) die mitgliedstaatlichen Staats- und Regierungschefs innehaben.823 Die Innendarstellung der Europäischen Union ist daher nicht mit derjenigen der Nationalstaaten vergleichbar. Aus diesem Grund kann der Kommissionspräsident in diesem Bereich ebenfalls nicht die Befugnisse eines Staatsoberhaupts wahrnehmen. Für eine Position als Unionsoberhaupt ist dies mangels einer vergleichbaren Ausgangslage aber auch nicht notwendig. Art. I-28 Abs. 4 Satz 3 VV. Siehe S. 135 ff. 819 Zum potentiellen Konflikt zwischen Kommissionspräsident und Ratspräsident, siehe S. 248. 820 Siehe S. 248 f. 821 Siehe S. 67 f. und S. 89 f. 822 Siehe S. 149 ff. 823 Siehe S. 147 f. 817 818

15 Staeglich

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

Davon unabhängig stellt sich die Frage, ob eine durch den Kommissionspräsidenten wahrgenommene Innendarstellung dennoch hilfreich für seine Funktionsausübung und für das Ziel einer weitergehenden europäischen Integration sein kann. Die in diesem Zusammenhang mögliche Argumentation, der Bereich der Innendarstellung sei nicht wichtig für einen Kommissionspräsidenten, da es sich um den rational nicht greifbaren Bereich der Symbolik handele, mit dem nicht logisch argumentiert werden könne, geht fehl. Denn der Bereich der Innendarstellung, der tatsächlich mit rechtlichen Mitteln nur schwerlich greifbar ist und sich an die emotionale Seite der Bürger richtet, ist gerade aus diesem Grund wertvoll. Er vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl, wie es durch Verträge und Paragraphen nicht geschaffen werden kann. Dieses Zugehörigkeitsgefühl verbindet die Bürger – neben allen rechtlichen Verbindungspunkten – mit ihrem Staat, wobei es sich einer rationalen Begründbarkeit entzieht. Dennoch ist es vorhanden und kommt in der Existenz und Verwendung nationaler Symbole zum Ausdruck. So wird die Nationalhymne beispielsweise immer dann gespielt, wenn einem Anlass eine besondere feierliche Note gegeben werden soll. In den Mitgliedstaaten haben die Oberhäupter die Funktion, durch die Innendarstellung das Gefühl der Bürger anzusprechen. Dies kann durch ein Lob oder eine Verdienstwürdigung geschehen, wie es bei der Ordensverleihung der Fall ist. Dem Kommissionspräsidenten wurden diese Möglichkeiten nicht gewährt. Ein europäischer Verdienstorden, der von ihm überreicht werden könnte, existiert bislang nicht. Diese Defizite mögen die Funktionsausübung des Kommissionspräsidenten erschweren, weil jedoch die gesamte Innendarstellung in der Europäischen Union schwach ausgestattet ist, schwächt es ihn nicht in seiner Stellung als Unionsoberhaupt. III. Notarielle Aufgaben Notarielle Aufgaben werden sowohl vom Kommissionspräsidenten als auch von den beiden Staatsoberhäuptern wahrgenommen.824 Die notariellen Aufgaben des Kommissionspräsidenten sind allerdings weitaus geringer als die der beiden Staatsoberhäupter. Der Kommissionspräsident ernennt zwar die Kabinettsmitglieder seiner Kommissare und unterzeichnet das Protokoll der Kommissionssitzung, jedoch keine europäischen Rechtsakte. Der Grund dieser geringen Anzahl von notariellen Aufgaben, die durch den Kommissionspräsidenten ausgeübt werden, liegt darin, dass die Europäische Union ein junges und bislang lediglich „staatsähnliches“ Gebilde ist und sich eine derartige Tradition noch nicht herausbilden konnte. Die Unterzeichnung von Rechtsakten durch Staatsoberhäupter soll ersteren nicht nur die Rechtmäßigkeit bescheinigen, sondern soll ihnen gleichfalls eine Art Weihe verleihen, die sie von anderen Rechtsakten abhebt.825 So haben notarielle Unter824 825

Siehe S. 68 ff., S. 90 ff., S. 153 ff. Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 229.

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

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zeichnungen oftmals eine lange Tradition im jeweiligen Staat. Diese Tradition fehlt in der noch jungen Europäischen Union, die sich – ganz rational – aus einer Wirtschaftsgemeinschaft entwickelte. Ebenso wie bei der Innendarstellung würde es die Funktionsausübung des Kommissionspräsidenten erleichtern, wenn er sich den Bürgern durch vermehrte notarielle Kompetenzen präsentieren und dadurch seinen Bekanntheitsgrad erweitern könnte. Da der Bereich der notariellen Aufgaben insgesamt schwach in der Europäischen Union vertreten ist, kann der Kommissionspräsident in diesem Bereich auch nur in geringem Ausmaß Kompetenzen innehaben. IV. Politische Einflussnahme Der Bereich der politischen Einflussnahme ist vielschichtig und bei den nationalen Staatsoberhäuptern unterschiedlich stark ausgeprägt. Auf Seiten des deutschen Staatsoberhaupts ist eine politische Einflussnahme sehr gering. Der Grund für die Machtlosigkeit des deutschen Staatsoberhaupts liegt in den Erfahrungen der Weimarer Republik begründet.826 Der direkt legitimierte französische Staatspräsident dagegen besitzt selbst in Zeiten der Kohabitation große politische Macht.827 Auch der Kommissionspräsident verfügt über erhebliche rechtliche und politische Einflussmöglichkeiten.828 Die Einflussmöglichkeiten der Staatsoberhäupter bestehen auf nationalstaatlicher Ebene beispielsweise in der Möglichkeit, das Parlament aufzulösen. Hierbei sind sie an verschieden starke Voraussetzungen gebunden. Das deutsche Staatsoberhaupt benötigt als formelle Voraussetzung für die Auflösung des deutschen Bundestags einen entsprechenden Antrag des Bundeskanzlers, dem eine negativ beschiedene Vertrauensfrage vorauszugehen hat. Weiterhin muss nach Auffassung des BVerfG829 als materielle Voraussetzung eine Situation politischer Instabilität vorliegen, die sich nur durch die Auflösung des Bundestags bewältigen lässt. Ob dem Bundespräsidenten diesbezüglich ein umfassendes Prüfungsrecht zusteht oder ob er sich lediglich auf eine Evidenzkontrolle beschränken muss, darf hier dahingestellt bleiben.830 Wichtig sind lediglich die Tatbestandsvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Der französische Staatspräsident ist in seiner Entscheidung für oder gegen eine Parlamentsauflösung dagegen frei. Er unterliegt bei der Auflösung der Nationalversammlung gemäß Art. 12 Constitution keinen einschränkenden Tatbestandsvoraussetzungen und entscheidet selbst, ob ein ausreichender Anlass für die Auflösung vorliegt. Die vorgeschriebene vorherige Konsultation des PremierSiehe S. 62. Siehe S. 93 ff. 828 Siehe S. 209. 829 BVerfGE 61, 1 (50 f.); BVerfG, NJW 2005, 2669 (2670). 830 Umfassend zum Streitstand mit vielen Nachweisen Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 68, Rn. 34 ff. 826 827

15*

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

ministers und der Präsidenten beider Parlamentskammern ist zwar verpflichtend, ihre Stellungnahmen binden den Staatspräsidenten jedoch nicht.831 Die einzige Einschränkung findet sich in Art. 12 Abs. 4 Constitution, der eine erneute Auflösung der Nationalversammlung innerhalb eines Jahres nach den vorgezogenen Neuwahlen ausschließt. Ein solcher Übergriff in die Legislative ist dem Kommissionspräsidenten, der nicht über die Kompetenz verfügt, das Europäische Parlament aufzulösen, nicht möglich. Der Kommissionspräsident besitzt jedoch politische Einflussmöglichkeiten, die die nicht vorhandene Möglichkeit der Auflösung des Europäischen Parlaments als Pendant zu den nationalen Parlamenten kompensieren können. Als direkte, im Vertrag normierte politische Einflussmöglichkeit wurde dem Kommissionspräsidenten in Art. 217 Abs. 1 Halbsatz 1 EG die politische Führung zugesprochen.832 Der ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriff der politischen Führung beinhaltet eine Fülle an Möglichkeiten für den Kommissionspräsidenten, die teilweise sogar über die eines Staatsoberhaupts hinausgehen und jenen eines Regierungschefs ähneln. Wenn der Kommissionspräsident somit neben den Befugnissen des deutschen Staatsoberhaupts zusätzlich noch gubernative Kompetenzen besitzt, die ihn in die Richtung eines Regierungschefs tendieren lassen, stellt er umso mehr ein Unionsoberhaupt dar. Je größer diese gubernativen Befugnisse im Vergleich mit jenen des französischen Staatsoberhaupts sind, umso mehr wird die These einer präsidial regierten Europäischen Union gestärkt. 1. Rücktrittsaufforderung Im Rahmen seiner gubernativen Befugnisse besitzt der Kommissionspräsident die Möglichkeit, gezielt einzelne Kommissare zum Rücktritt aufzufordern.833 Bevor die Rücktrittsaufforderung ausgesprochen und befolgt werden muss, muss der Kommissionspräsident seine Initiative nicht nur mit objektiv ernsthaften Gründen versehen, sondern er benötigt auch eine einfache Mehrheit in seinem Kollegium (Art. 217 Abs. 4 i.V.m. Art. 219 Satz 1 EG). Nach der Neuregelung im Verfassungsvertrag fällt die Billigung des Kollegiums weg, und der Kommissionspräsident kann unabhängig von diesem entscheiden (Art. I-27 Abs. 3 Satz 2 VV). Der Kommissionspräsident handelt hierbei auf eigene Initiative, er muss keinen Antrag abwarten. Der Grad dieser politischen Einflussmöglichkeit ist durchaus vergleichbar mit der Möglichkeit eines Regierungschefs, der ein Mitglied seiner Regierung, das nicht mehr sein Vertrauen genießt, entlassen kann. So hat der deutsche Bundeskanzler die Befugnis, einen Bundesminister, der nicht mehr sein Vertrauen genießt, dem Bundespräsidenten zur Entlassung vorzuschlagen (Art. 64 Abs. 1 GG). Im Gegensatz zum Kommissionspräsidenten ist der Bundeskanzler an keinerlei ver831 832 833

Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 260. Siehe S. 155 ff. Siehe S. 203 ff.

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

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fassungsrechtliche Voraussetzungen gebunden, bedarf also keines objektiv ernsthaften Grundes. Zurückweisen kann der Bundespräsident den Entlassungsvorschlag allenfalls aus rechtlichen Gründen, nicht aus politischen Erwägungen.834 Der französische Premierminister ist bei seinem Vorschlag an den Staatspräsidenten, einen Minister zu entlassen, gleichfalls nicht an verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden (vgl. Art. 8 Abs. 2 Constitution). In der Praxis entscheidet allerdings – gerade in Zeiten präsidentieller Dominanz – der Staatspräsident mit.835 Obwohl der Kommissionspräsident bei seiner Rücktrittsaufforderung, die einer Entlassung gleichkommt, an mehr Voraussetzungen als die Regierungschefs gebunden ist, übersteigt sein Grad an politischem Einfluss die Möglichkeiten des deutschen Staatsoberhaupts und ähnelt jenen, die der französischen Staatspräsident faktisch zumindest in einer homogenen Konstellation besitzt.836 Dennoch hat keines dieser Staatsoberhäupter die verfassungsrechtliche Kompetenz, dass es einem Regierungschef gleich agieren und einzelne Regierungsmitglieder zum Rücktritt zwingen könnte und hierfür lediglich eine Begründung anführen sowie der Billigung des Kabinetts bedürfte. Sicherlich ist eine derartige Kompetenz aus unterschiedlichen, z. B. geschichtlichen, Gründen weder beim deutschen noch beim französischen Staatsoberhaupt angezeigt und auch nicht notwendig für ihre Funktionsausübung. Die Befugnis, einzelne Kommissare zum Rücktritt zu zwingen, stärkt jedoch die leitende Funktion des Kommissionspräsidenten. 2. Ernennung der Vizepräsidenten Der Kommissionspräsident hat die Möglichkeit, seine Vizepräsidenten selbst auszuwählen (Art. 217 Abs. 3 EG).837 Die Vizepräsidenten, deren Anzahl seit Nizza nicht mehr im Vertrag festgelegt ist, vertreten den Kommissionspräsidenten, wenn dieser verhindert ist. Der Kommissionspräsident bestimmt die Anzahl seiner Vertreter, sucht sie aus und ernennt sie auch selbst. Der Kommissionspräsident benötigt dafür zurzeit lediglich eine einfache Mehrheit in der Kommission (Art. 217 Abs. 3 i.V.m. Art. 219 Satz 1 EG). Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrags erhält er auch in diesem Punkt einen Machtzuwachs. Er kann dann ohne die Billigung seines Kollegiums die Vizepräsidenten auswählen und auch ihre Anzahl bestimmen (Art. I-27 Abs. 3 lit. c) VV). In der Praxis hält sich der Kommissionspräsident jedoch auch ohne rechtliche Vorgaben an eine parteipolitisch und geographisch ausgeglichene Ämtervergabe.838 834 Achterberg, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 54; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 64, Rn. 54; a.A. Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 69, Rn. 26. 835 Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 298. 836 Siehe S. 93 f. 837 Siehe S. 200 ff. 838 Siehe S. 202.

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Vergleichen lässt sich auch hier die Position des Kommissionspräsidenten weniger mit der des deutschen Staatsoberhaupts. Die Vertretung des Bundespräsidenten ist gemäß Art. 57 GG verfassungsrechtlich festgelegt und wird durch den Bundesratspräsidenten wahrgenommen.839 Der Bundespräsident hat keine Einflussmöglichkeiten. Vergleichen lässt sich die Position des Kommissionspräsidenten vielmehr mit der Position des deutschen Regierungschefs, falls dessen Partei nicht die absolute Mehrheit hat, sondern einen Koalitionspartner benötigt. In diesem Fall hat sich der Bundeskanzler bei der Wahl seines Stellvertreters für die Funktionsfähigkeit seiner Regierung faktisch an die Koalitionsabsprachen zu halten. Enthalten die Koalitionsabsprachen die Vereinbarung, dass das Amt des Stellvertreters durch den Koalitionspartner besetzt wird, trifft der Koalitionspartner auch die Personalauswahl. Der Bundeskanzler kann zwar intern auf die Personaldiskussion Einfluss nehmen, doch wird er nicht direkt oder öffentlich eingreifen können, da dies das Ansehen der kleineren Koalitionspartei in der Öffentlichkeit beschädigen und von keinem Koalitionspartner aus Gründen der Reputation geduldet werden würde. Im Vergleich der Machtpositionen des Kommissionspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers ist daher festzuhalten, dass beide rechtlich weitestgehend frei agieren können, aber politisch gebunden sind. Der Bundeskanzler ist dabei durch seinen Koalitionspartner stärker politisch gebunden als der Kommissionspräsident. Besitzt die Regierungspartei allerdings die absolute Mehrheit, trifft der Bundeskanzler allein die Personalentscheidungen und unterliegt lediglich geringen rechtlichen Vorgaben, die sein Kandidat erfüllen muss.840 In Frankreich ist es dem Staatspräsidenten nicht möglich, seinen Stellvertreter selbst zu bestimmen, sondern es findet im Fall seiner Verhinderung eine Vertretung durch den Präsidenten des Senats statt (Art. 7 Abs. 4 Constitution).841 Diese Regelung ist allerdings eher theoretischer Natur, weil in der Verfassungspraxis meist eine Vertretung des Präsidenten durch den Premierminister stattfindet842, was mit der Auslegung des Art. 21 Abs. 4 Constitution begründet wird. Der Staatspräsident hat somit zwei mögliche Vertreter, den Senatspräsidenten als theoretische Alternative und den Premierminister, der praktisch tätig wird. Eine Vertretung des Premierministers als Regierungschef ist dagegen nicht vorgesehen, er kann lediglich einzelne seiner Befugnisse auf Minister übertragen. Die beiden politisch mächtigsten Ämter in Deutschland und Frankreich sind entweder an Absprachen oder direkt an die Verfassung gebunden. Für den Kommissionspräsidenten bestehen neben den genannten politischen Erwägungen843 keine Siehe S. 57. Die Frage, ob der Bundespräsident dem Kanzlervorschlag folgen muss, wird heute weitestgehend einstimmig beantwortet. Eine Personalentscheidung darf nur abgelehnt werden, wenn rechtliche Voraussetzungen nicht erfüllt sind oder durch eine Personalentscheidung das Ansehen Deutschlands in erheblichem Maße herabgesetzt würde. Hierzu Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 64, Rn. 29. 841 Siehe S. 85 ff. 842 Vertretung Chiracs durch seinen Premierminister de Villepin, SZ vom 5. 9. 2005, S. 3. 839 840

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Vorgaben, außer einer einfachen Mehrheit innerhalb der Kommission. Auch diese Vorgabe entfällt demnächst. Lediglich in dem bereits angesprochen Fall, wenn aufgrund einer absoluten parlamentarischen Mehrheit keine Bindung des deutschen Bundeskanzlers an den Koalitionspartner vorliegt, kann dieser frei über die personelle Besetzung des Amtes seines Stellvertreters entscheiden. Ansonsten unterliegen der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler wesentlich engeren Grenzen als der Kommissionspräsident. Auch wenn der Kommissionspräsident stets versucht, einen Konsens in seinem Kollegium dadurch herbeizuführen, dass er die Ämter seiner Vertreter gleichmäßig nach geographischen und politischen Aspekten besetzt, lässt sich ein solcher Ausgleich bei 25 oder mehr Staaten niemals nur in einer Konstellation durchführen. Der Kommissionspräsident wird immer mehrere Möglichkeiten haben, mit welchen Persönlichkeiten er die Posten seiner Vertreter besetzt. In der Auswahl und Anzahl der Vizepräsidenten gibt es daher immer mehr als nur eine „richtige“ Möglichkeit. Der Kommissionspräsident besitzt in diesem Fall mehr politischen Spielraum als das politisch einflussreichste Amt des Bundeskanzlers in Deutschland und als das einflussreichste Amt in Frankreich, das der Präsident besetzt. 3. Auswahl der Kommissare Der politische Einfluss des Kommissionspräsidenten zeigt sich gleichfalls bei der Auswahl der einzelnen Kommissare, die nur mit seinem Einvernehmen benannt werden können (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG).844 Faktisch hat er daher einen hohen Einfluss auf die Zusammenstellung der Kandidaten.845 Ein Zustimmungsvotum zu der gesamten Kommission findet durch das Europäische Parlament statt, die abschließende Ernennung erfolgt durch den Rat (Art. 214 Abs. 2 Satz 3, 4 EG). Der Bundeskanzler in Deutschland setzt sein Kabinett aus Personen zusammen, denen er vertraut, die seine Richtlinienkompetenz akzeptieren und die Koalitionsvereinbarung mittragen. In diesem materiellen Kabinettsbildungsrecht gemäß Art. 64 Abs. 1 GG ist er allerdings nicht vollständig frei, denn in der Praxis hat er auf die personellen Erwartungen in seiner eigenen Partei und in der Partei seines Koalitionspartners einzugehen. Ferner ist er vom Vertrauen des Bundestags abhängig. Es findet zwar nicht wie bei der Kommission ein Zustimmungsvotum des Parlaments zum gesamten Kabinett statt. Dennoch kann die Vertrauensbasis des Bundeskanzlers auch von einer geschickten Ministerauswahl abhängen. Die vielfachen Rücksichten, die der Kanzler bei der Auswahl seiner Minister zu nehmen hat, belegen, dass auch dann, wenn es kein direktes Zustimmungsvotum des Bundestags für 843 844 845

Siehe S. 202. Siehe S. 139 ff. Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, S. 202.

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das Kabinett gibt, der Kanzler nicht vollständig frei in der Entscheidung bezüglich seiner Minister ist. Er unterliegt einem wenn auch nur mittelbaren Zustimmungserfordernis des Bundestags.846 Der Bundeskanzler kann daher zwar rechtlich als weitestgehend frei, als politisch aber gebunden bezeichnet werden. In Frankreich ist der Premierminister gleichfalls zwar rechtlich aber nicht politisch frei, was seine Kandidaten für Ministerämter betreffen, die in der Folge vom Staatspräsidenten zu Ministern ernannt werden sollen (vgl. Art. 8 Abs. 2 Constitution). Zum einen entscheidet, je nachdem wie groß die politische Abhängigkeit des Premierministers vom Präsidenten ist, dieser faktisch über die Besetzung der Ministerposten mit.847 Zum anderen müssen die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung bei der Vergabe der Ministerämter berücksichtigt werden. Es findet somit sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine Zustimmung der Volksvertretungen statt, indem die parlamentarischen Mehrheiten bei der Vergabe der Ministerposten berücksichtigt werden. Beide Regierungschefs sind mithin in ihren personellen Erwägungen politisch gebunden und müssen sich an Koalitionen, Absprachen und Gebräuche halten, um die Funktionsfähigkeit ihrer Regierung zu sichern. Dennoch übersteigt ihr Einfluss denjenigen des Kommissionspräsidenten bei der Auswahl seiner Kommissare. Der Kommissionspräsident ist im Gegensatz zu den Regierungschefs auch rechtlich gebunden, denn er benötigt das Einverständnis sowohl des Rates als auch des Parlaments zu seiner Kandidatenwahl.848 Mit anderen Worten ist es dem Kommissionspräsidenten gegen den Willen des Rates nicht möglich, eine Person zum Kommissar zu benennen. Ebenfalls ist es dem Kommissionspräsidenten nicht möglich, eine Person in sein Kollegium zu berufen, die das Parlament als ungeeignet befindet.849 Darüber hinaus darf der Kommissionspräsident keine freien personellen Erwägungen treffen, sondern nur aus einer Kandidatenliste wählen und muss sich danach gemeinsam mit den ausgewählten Kandidaten dem Europäischen Parlament stellen, in dem ebenfalls bestimmte politische Strömungen und Mehrheitsverhältnisse vorherrschen, die bereits im Vorfeld berücksichtigt werden mussten. Der Kommissionspräsident besitzt daher kein den Regierungschefs vergleichbares Kabinettsbildungsrecht. Er ist vielmehr bei der Auswahl der Kommissare rechtlich und politisch gebunden. Der politische Einfluss des Kommissionspräsidenten bezüglich der Auswahl der Kommissare ist somit geringer als der Einfluss, den ein Regierungschef bei seiner Kabinettsbildung ausüben kann. Er ist aber größer als der rechtliche Einfluss, den die Staatsoberhäupter auf die Regierungsbildung ausüben können. 846 So auch Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 64, Rn. 6; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 64, Rn. 8. 847 Siehe S. 93 ff. 848 Siehe S. 138 ff. 849 Das Parlament war 2004 mit der Benennung Buttigliones in der Barroso-Kommission nicht einverstanden, siehe S. 183.

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4. Auswahl der Kabinettsmitglieder Die Aufgabe der Kabinette besteht in der Unterstützung der Kommissare bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und der Vorbereitung von Kommissionsbeschlüssen.850 Ihre Einrichtung geht auf das französische Regierungssystem zurück, was ein weiteres Indiz für das Bestehen präsidialer Strukturen in der Europäischen Union darstellt. Im französischen Regierungssystem trennt man strikt zwischen der Entscheidungsinstanz, dem Minister, und dem Ausführungsorgan, dem Ministerium. Diese Trennung führt dazu, dass sich jeder Minister mit einem persönlichen Ministerium umgibt, das aus Beamten und Politikern besteht, die sein Vertrauen genießen.851 Auch die Kabinettsmitglieder der einzelnen Kommissare müssen das Vertrauen „ihres“ Kommissars besitzen. Sie werden daher auch von dem jeweiligen Kommissar ausgewählt, vorgeschlagen und erst daraufhin vom Kommissionspräsidenten ernannt.852 Die Verweigerung der Ernennung durch den Kommissionspräsidenten würde einen Eingriff in das Ressortprinzip darstellen und wäre daher unzulässig.853 Die politischen Einflussmöglichkeiten des Kommissionspräsidenten lassen sich daher mit jenen des Bundeskanzlers vergleichen. Dessen Personalkompetenz ermächtigt ihn zwar zur Auswahl seiner Minister, allerdings nicht zur Auswahl beamteter und parlamentarischer Staatssekretäre.854 Als Ausdruck des Ressortprinzips hat der jeweilige Minister die Personalhoheit über seinen Geschäftsbereich und somit das Recht zur Auswahl, Anstellung, Beförderung und Entlassung seiner Bediensteten.855 Die politischen Einflussmöglichkeiten des Kommissionspräsidenten gehen somit ebenso weit wie jene des Bundeskanzlers. Die Mitarbeiter der französischen Minister werden – genau wie die Mitarbeiter des Premierministers – vom Staatspräsidenten ernannt. Ein darüber hinausgehendes Mitspracherecht wird dem Staatspräsidenten durch die Zuweisung der Regie850 Art. 16 Abs. 1 GO KOM. Die Anzahl der Kabinettsmitglieder und ihre Zusammensetzung finden sich bei „Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher“, SEK (2004) 1485. 851 Kesler, in: Gournay / Kesler / Siwek-Pouydesseau, Administration Publique, S. 241 ff.; Nugent, The European Commission, S. 119. 852 Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485; S. 5 f.; weitere Informationen zum Aufbau bei Krenzler, Die Rolle der Kabinette in der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1974, 75 (76). 853 Siehe S. 196 ff. 854 Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 64, Rn. 24; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 64, Rn. 14. 855 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 308 f.; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GGKomm., Art. 65, Rn. 30. Vgl. aber § 15 Abs. 2 GO BReg, danach sind die Vorschläge zur Ernennung von leitenden Beamten sowie zur Einstellung und Eingruppierung leitender Angestellter der Bundesregierung zu unterbreiten.

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rungsleitung an den Premierminister allerdings nicht zugestanden, obwohl dem Präsidenten theoretisch die Möglichkeit der Verweigerung einer Ernennung gegeben ist. Dies ist bislang noch nicht vorgekommen und dürfte wohl auch nur in einem schwer wiegenden Fall möglich sein. Bevor der Premierminister dem Präsidenten die designierten Kabinettsmitglieder vorschlägt, werden diese von dem zuständigen Fachminister zusammen mit dem Premierminister ausgewählt. Obwohl es besonders auf eine Vertrauensbasis zwischen dem Fachminister und seinen Kabinettsmitgliedern ankommt, besitzt der Premierminister durch seine Regierungsleitung ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Personalauswahl, so dass trotz der Ressortkompetenz des jeweiligen Ministers in der Praxis kein Kandidat ohne die Zustimmung des Premierministers ernannt werden würde. Einem solch großen Mitspracherecht des Kommissionspräsidenten bei der Personalauswahl seiner Kommissare steht die Ressortkompetenz dieser auch in der Praxis entgegen, die auch in die Kabinette hineinwirkt.856 Vergleichen lässt sich seine Position indes mit der des französischen Staatspräsidenten, dem gleichfalls nur in besonderen Ausnahmefällen eine Nichternennung gestattet ist. 5. Leitlinienkompetenz Der Kommissionspräsident übt politischen Einfluss durch die ihm verliehene Leitlinienkompetenz aus.857 Das Ausmaß seiner Leitlinienkompetenz kann er im vertraglich abgesteckten Rahmen dadurch selbst definieren, dass er festlegt, was eine Leitlinie ausmacht. Dazu können auch Einzelweisungen an bestimmte Kommissare gehören. Nicht mehr dazu gehört eine Ersetzungsbefugnis von Kommissarsentscheidungen. Die Richtlinienkompetenz liegt rechtlich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland beim Regierungschef. In Frankreich bestimmt Art. 20 Constitution, dass die Regierung die Politik der Nation bestimmt und leitet. Der Premierminister ist für die Politik verantwortlich und leitet sie (Art. 21 Constitution). Das Staatsoberhaupt hingegen ist weder in Deutschland noch in Frankreich Mitglied der Regierung. Bei einer bestimmten politischen Konstellation – der Konvergenz von präsidentieller und parlamentarischer Mehrheit – bestimmt der französische Staatspräsident zwar faktisch die Richtlinien der Politik, doch spätestens bei der Konstellation der Kohabitation liegt die Bestimmung der politischen Richtlinien wieder bei der französischen Regierung und dem verantwortlichen Regierungschef, auch wenn dieser auf die Zusammenarbeit mit dem Staatspräsidenten angewiesen ist.858 Zu der Richtlinienkompetenz des französischen Premierministers gehört die Möglichkeit, den Ministern generell oder im Einzelfall Direktiven zu erteilen. Er 856 857 858

Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 273. Siehe S. 196. Siehe S. 158 ff. Siehe S. 99 f.

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kann Fristen für die Umsetzung der von der Regierung beschlossenen Maßnahmen setzen, ihre Einhaltung kontrollieren und Rechenschaft für Fehler und Versäumnisse verlangen.859 Er hat nicht die Möglichkeit, Maßnahmen einzelner Minister aufzuheben und durch eigene Anordnungen zu ersetzen sowie bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministern zu entscheiden. In diesen Fällen muss er bereits im Vorfeld der Ministerratssitzung die erforderliche Übereinstimmung innerhalb der Regierung herbeiführen.860 Da er allerdings gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Constitution die Regierungstätigkeit leitet, kann er im Vorfeld die Entscheidung treffen, die ihm in Hinblick auf seine Gesamtpolitik als die Richtige erscheint. Dass diese Entscheidung praktisch mit der nötigen Rücksichtnahme und Sensibilität abläuft sowie durch mögliche Interventionen des Staatspräsidenten oder der parlamentarischen Mehrheit beeinflusst werden kann, ändert nichts an den rechtlichen Möglichkeiten des Premierministers. Es kann daher von einer Schiedstätigkeit (arbitrage) des Premierministers in interministeriellen Angelegenheiten gesprochen werden.861 In Deutschland bestimmt der Regierungschef die Richtlinien der Politik und ist für diese auch verantwortlich (Art. 65 Satz 1 GG). Gegenstand und Reichweite der Richtlinienkompetenz wurden in der Literatur862 lange kontrovers diskutiert. Inzwischen besteht aber weitgehend Einigung darüber, dass der Kanzler selbst definiert, was eine Richtlinie ist, so dass Richtlinien auch konkrete Vorgaben zum Inhalt haben können. Zu beachten hat der Kanzler dabei allerdings das ebenfalls im Grundgesetz verankerte Ressortprinzip, das durch eine Vielzahl von Einzelweisungen ausgehöhlt würde.863 Ein Selbsteintrittsrecht wird dem Kanzler nicht zugestanden. Er würde hierdurch die Ressortkompetenz des einzelnen Ministers und die Kompetenzverteilung der Verfassung umgehen.864 Sogar gesetzlich verankert ist hingegen, dass über Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministern die Bundesregierung entscheidet (Art. 65 Satz 3 GG). Dies heißt zwar nicht, dass der Bundeskanzler für die Bundesregierung entscheidet und den Konflikt löst, doch da er politisch führt, läuft es faktisch darauf hinaus.865 Ardant, Le Premier Ministre en France, Rn. 87. Fournier, Le travail gouvernemental, S. 36 f. 861 Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 303. 862 Achterberg, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 15 ff.; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 12 ff.; Hermes, in Dreier, GG-Komm., Art. 65, Rn. 17 ff.; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 65, Rn. 14 ff.; Maurer, in: Becker, Festschrift für Werner Thieme, 123 ff.; Karehnke, Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, Ressortprinzip und Kabinettsgrundsatz, DVBl. 1974, 101 ff., alle m. w. N. 863 Achterberg, in: HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 19. 864 Achterberg, in: HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 20; a.A. Herzog, in: Maunz / Dürig, GGKomm., Art. 65, Rn. 6, 7. 865 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 65, Rn. 76 ff. Vgl. die so genannte „Chefbesprechung“ in § 17 GO BReg, auch wenn die Rolle des Bundeskanzlers nicht über die eines Moderators hinausgehen sollte, Achterberg, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. II, § 52, Rn. 59 m. w. N. 859 860

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Vergleicht man die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten mit den Richtlinienkompetenzen beider Regierungschefs, findet man einen fast völligen Gleichklang.866 Dennoch gibt der geltende Vertrag von Nizza den Terminus der Leitlinie vor, der auch in der Geschäftsordnung867 und im Verfassungsvertrag868 durchgehalten wird. Dies liegt möglicherweise daran, dass der Begriff der Richtlinie schon anderweitig belegt ist (vgl. Art. 249 EG). Alle drei haben eine Leit- bzw. Richtlinienkompetenz inne, die es ihnen ermöglicht sowohl generelle Vorgaben zu machen als auch Einzelweisungen zu erteilen. Die Definition, was eine Leit- bzw. Richtlinienkompetenz ausmacht, wird den Regierungschefs bzw. dem Kommissionspräsidenten im jeweiligen verfassungsrechtlich bzw. vertragsrechtlich gesteckten Rahmen selbst überlassen. Ein Selbsteintrittsrecht der Regierungschefs bzw. des Kommissionspräsidenten existiert in keiner der untersuchten Rechtsordnungen, es wird aber auch nicht benötigt, da sie im Vorfeld über ihre Leit- bzw. Richtlinien lenken können. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministern können die Regierungschefs nicht entscheiden, sondern müssen eine Entscheidung durch die Bundesregierung bzw. durch den Ministerrat in Frankreich herbeiführen. Es besteht lediglich die in der Praxis genutzte Möglichkeit, im Vorfeld eine Richtlinie zu erlassen oder durch eine interne Unterredung zu schlichten. Dem Kommissionspräsidenten kommt bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommissaren eine Entscheidungskompetenz zu, wenn eine Leitlinie unklare Vorgaben enthält. Ihm wird dann die Möglichkeit eröffnet, die Leitlinie im Rahmen seiner Leitlinienkompetenz zu konkretisieren. Wurde die Leitlinie allerdings so abstrakt gefasst, dass zu dem streitigen Punkt keinerlei Vorgaben macht, entscheidet das Kollegium der Kommissare.869 Diese kollegiale Entscheidungsweise, die sich gleichfalls innerhalb der Bundesregierung oder dem Ministerrat findet, trägt zur Konsensbildung bei, denn die beiden streitenden Minister (Kommissare) stimmen ebenfalls mit ab und einer von beiden unterliegt schließlich in einem demokratischen Abstimmungsverfahren. Durch diese Vorgehensweise wird der Regierungschef bzw. Kommissionspräsident aus der Rolle als „Schiedsrichter“ entlassen, der für eine der beiden Seiten Partei ergreifen müsste und damit unter Umständen das Missfallen der anderen Seite auf sich ziehen könnte. Entscheidet dagegen ein Kollegium, kann dieses zwar ebenfalls in den Augen des betroffenen Ministers bzw. Kommissars „falsch“ entscheiden, doch trägt er als Teil dieses Kollegiums die getroffenen Mehrheitsentscheidungen mit. Insgesamt ist die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten durchaus mit der Richtlinienkompetenz eines Regierungschefs vergleichbar. So urteilt 866 867 868 869

Gleichfalls Breier, in: Lenz / Borchardt, EG-Komm., Art. 217, Rn. 1. Art. 1 GO KOM. Art. I-27 Abs. 3 Satz 1 lit. a) VV. Siehe S. 179 ff.

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Dehousse: „The Amsterdam Treaty has made a further step in the direction of those parliamentary models in which the head of the executive is recognized as a special authority over the cabinet.“870 Der Kommissionspräsident besitzt mithin eine dem deutschen und französischen Regierungschef vergleichbare Machtposition871 und eine größere Machtposition als das französische Staatsoberhaupt im Rahmen der Kohabitation. In diesem Fall ist die informelle Einflussnahme auf die Regierungspolitik vermindert.872 Aber selbst bei der Konvergenz von parlamentarischer und präsidentieller Macht kommt dem französischen Staatsoberhaupt nach der Verfassung keine dem Kommissionspräsidenten vergleichbar starke Position zu. Dass dies in der Praxis anders gehandhabt wird, lässt den französischen Präsidenten zwar stärker, den Kommissionspräsidenten aber nicht schwächer erscheinen. 6. Organisationsgewalt Der Kommissionspräsident hat die Möglichkeit, vollkommen unabhängig über die Zuständigkeitsbereiche der Kommissare zu entscheiden, sie im Laufe einer Amtsperiode neu zuzuschneiden oder ihre Verteilung zu ändern (Art. 217 Abs. 2 Satz 1, 2 EG).873 Mit dieser Kompetenz wird ihm zum einen die Möglichkeit gegeben, den Aufgabenbestand der Kommission nach Sachzusammenhängen zu gliedern, die das von ihm zu vertretene Gesamtkonzept widerspiegeln. Zum anderen hat er das Druckmittel des Zuständigkeitsentzugs, falls sich ein Kommissar nicht an seine Leitlinien hält. Da das Ressortprinzip den Kommissar zwar innerhalb seines Ressorts vor Übergriffen auf dieses schützt, ihm aber kein Recht gewährt, im Ressort zu verbleiben bzw. eine bestimmte Zuständigkeit zu behalten874, muss bei einem Ressort- bzw. Zuständigkeitsentzug nicht zwischen einem begründeten und einem nicht begründeten Entzug unterschieden werden. Eine solche Begründung wäre ohnehin bloß politischer Natur und könnte als solche oftmals nur mit Vermutungen oder Einschätzungen begründet werden. Es steht dem Kommissionspräsidenten daher frei, einem Kommissar aus jedem Grund sein Ressort bzw. einzelne Zuständigkeiten zu entziehen und aus seiner Organisationsgewalt heraus eine Neuordnung vorzunehmen. Praktisch relevant wurde die Organisationsgewalt beispielsweise bei der Neuverteilung und Neuschaffung der Ressorts unter dem designierten Kommissionspräsidenten Barroso. Die deutsche Regierung drängte auf die Schaffung des Amtes Dehousse, European Institutional Architecture after Amsterdam, S. 13. Für eine Vergleichbarkeit der Richtlinienkompetenzen Karagiannis, Le président de la Commission dans le traité d’Amsterdam, CDE 2000, 9 (44). 872 Die Befugnisse des Kommissionspräsidenten ähneln der Richtlinienkompetenz eines Regierungschefs, vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EG-Komm., Art. 217, Rn. 1; Georgopoulos / Lefevre, La Commission après Nice: métamorphose ou continuité?, RTDE 2001, 597 (604). 873 Siehe S. 157 ff. 874 Siehe S. 193 ff. 870 871

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eines Industrie- und Wirtschaftskommissars, das der deutsche Kommissar Verheugen besetzen sollte.875 Der Kommissionspräsident entsprach diesem Versuch der Einflussnahme nicht und schuf stattdessen andere neue Ressorts wie beispielsweise das Ressort für „Institutionelle Beziehungen und Kommunikationsstrategie“.876 Hieran lässt sich verdeutlichen, wie sehr die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten der des deutschen Regierungschefs ähnelt. Dieser entscheidet ebenfalls bei seiner Kabinettsbildung gemäß Art. 65 Satz 2 GG über die Aufteilung der Aufgaben der Regierung nach Sachgebieten und die Gliederung der Ressorts. Er bestimmt konkret, wie viele und welche Ressorts entstehen und wie sie gegeneinander abgegrenzt werden sollen. Da im Grundgesetz kaum Vorgaben enthalten sind, entscheidet er nach freiem Ermessen.877 Die einzelnen Ressorts arbeiten der politischen Führung zu und leisten Hilfe bei der fachlichen Vorbereitung von Regierungsentscheidungen. Sie agieren im Rahmen der Richtlinien des Bundeskanzlers.878 Dem Bundeskanzler ist es ferner jederzeit möglich, beispielsweise im Rahmen einer Regierungsneubildung, eine Neuabgrenzung der entsprechenden Ressorts vorzunehmen.879 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Bundeskanzler ebenso wie der Kommissionspräsident aus jedem Grund Zuständigkeiten entziehen kann oder nur im Rahmen einer Regierungsneubildung. Könnte der Bundeskanzler aus jedem Grund Zuständigkeiten entziehen, wäre eine Vergleichbarkeit seiner Organisationsgewalt mit jener des Kommissionspräsidenten gegeben. Wäre es dem Bundeskanzler dagegen nicht möglich, aus jedem Grund Zuständigkeiten zu entziehen, wäre der Kommissionspräsident in der Reichweite seiner Organisationsgewalt gegenüber dem Bundeskanzler überlegen. Bei der Überlegung, aus welchem Grund Ressortentziehungen vorgenommen werden dürfen, könnte zunächst eine Grenze festgelegt werden, bei deren Übertretung eine Entziehung unzulässig ist. Diese Grenze, die nicht überschritten werden darf, könnte bei einer willkürlichen Entziehung einer Zuständigkeit durch den Bundeskanzler liegen. Zumindest vor einer solchen Entziehung müssten die Minister geschützt werden. Ansonsten – so könnte argumentiert werden – wäre kein Mindestmaß an Sicherheit gewährleistet, auch bei guter Arbeit seine Zuständigkeitsbereiche zu behalten. Die Minister wären den Personalentscheidungen des Bundeskanzlers ausgeliefert. Zunächst könnte somit auf das Willkürverbot als BeDie Welt vom 9. 6. 2004, S. 3. Besetzt mit der Schwedin Margot Wallström als Vizepräsidentin. 877 Lediglich die drei im Grundgesetz ausdrücklich namentlich genannten Ressorts muss der Kanzler auf jeden Fall etablieren bzw. bestehen lassen. Hierbei handelt es sich um das Bundesfinanzministerium (z. B. Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG), das Bundesjustizministerium (Art. 96 Abs. 2 Satz 4 GG) und das Bundesverteidigungsministerium (Art. 65a GG). Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 64, Rn. 4 ff.; Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 64, Rn. 25. 878 Schöder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Komm., Art. 65, Rn. 29. 879 Oldiges, in: Sachs, GG-Komm., Art. 64, Rn. 28. 875 876

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standteil des Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG880 abgestellt werden. Das Grundrecht des Art. 3 GG gilt allerdings nur im Staat-Bürger-Verhältnis und nicht zwischen staatlichen Organen. Der Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und somit das Willkürverbot sind allerdings als objektives Verfassungsrecht dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmen und gelten als ungeschriebene Verfassungsgrundsätze.881 Demnach ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass sich auch nicht-grundrechtsfähige Hoheitsträger auf das Gleichheitsgebot und somit auf das Willkürverbot berufen können.882 Ob dies auch für die innerorganschaftlichen Beziehungen innerhalb der Bundesregierung gilt, kann hier offen bleiben. Denn damit sich der betroffene Minister beispielsweise bei einer Ressortentziehung, deren Grund in seiner religiösen Zugehörigkeit liegt, auf das Willkürverbot berufen könnte, müsste das Ressortprinzip für ihn eine einklagbare Rechtsposition in Bezug auf den Verbleib im Amt beinhalten. Eine solche Rechtsposition gewährt das Ressortprinzip nicht. Das Ressortprinzip aus Art. 65 Satz 2 GG findet nur dann Anwendung, wenn dem Minister durch Organisationserlass des Bundeskanzlers ein abgestecktes Tätigkeitsgebiet mit bestimmten Sachzuweisungen zugewiesen wurde.883 Das Ressort entfaltet seinen Eingriffsschutz daher nur solange und soweit, wie es noch zu einem Minister gehört. Anders ausgedrückt wirkt es innerhalb eines bestehenden Ressorts gegen Eingriffe von außen, es garantiert demgegenüber nicht einen grundsätzlichen Erhalt des kompletten Ressorts. Dies würde vielmehr in die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers eingreifen, nach der der Bundeskanzler über die Besetzung der Ministerämter, ihre Zahl, ihren Zuschnitt und die Abgrenzung der ihnen zugewiesenen Geschäftsbereiche entscheiden kann.884 Es steht dem Bundeskanzler somit aus jedem Grund frei, einem Minister das zuvor zugeteilte Ressort bzw. einzelne Zuständigkeiten zu entziehen. Das ergibt sich zum einen aus der oben bereits für den Kommissionspräsidenten angestellten politischen Überlegung, dass politische Entscheidungen oftmals rational nicht begründbar sind.885 Zum anderen kann auch mit einem Erst-Recht-Schluss begründet werden, dass der Bundeskanzler aus jedem Grund seinen Ministern ihre Ressorts bzw. einzelne Zuständigkeitsbereiche entziehen kann. Kann der Bundeskanzler schon aus jedem Grund den Minister selbst entlassen886, so muss es ihm aus seiner Organisationsgewalt heraus ebenfalls aus jedem Grund möglich sein, einem Minister als milderes Mittel sein Ressort bzw. einzelne Zuständigkeitsbereiche zu entziehen. BVerfGE 4, 144 (155); 3, 58 (135 f.); 42, 64 (72); 71, 255 (271). BVerfGE 21, 362 (372); 23, 12 (24). 882 BVerfGE 35, 263 (271 f.); 34, 139 (146); Heun, in: Dreier, GG-Komm., Art. 3, Rn. 65. 883 Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 65, Rn. 28. 884 Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 64, Rn. 8 ff. 885 Siehe S. 206. 886 Art. 64 Abs. 1 GG; hierzu Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 294; Hermes, in: Dreier, GGKomm., Art. 64, Rn. 28; mit Einschränkungen bzgl. einer verfassungswidrigen Entlassung Herzog, in: Maunz / Dürig, GG-Komm., Art. 64, Rn. 54. 880 881

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Auch der Grundsatz der Verfassungsorgantreue setzt eine bestehende Rechtsposition voraus. Die Verfassungsorgantreue887 wirkt zwischen Staatsorganen. Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue, der eine Abstraktion des Grundsatzes der Bundestreue darstellt, verpflichtet die Verfassungsorgane zu kooperativer und loyaler Zusammenarbeit und wechselseitiger Rücksichtnahme.888 Verfassungsorgane sind die in den Abschnitten III bis VI des Grundgesetzes genannten Organe, die unmittelbar durch die Verfassung geschaffen werden und ihre wesentlichen Zuständigkeiten aus der Verfassung begründen889 sowie das Bundesverfassungsgericht.890 Damit ist die Bundesregierung ein Verfassungsorgan, Bundeskanzler und Minister sind aber lediglich Teile dieses Organs.891 Selbst wenn die Verfassungsorgantreue möglicherweise auch in die Staatsorgane hinein wirkt, so setzt auch sie eine bestehende Rechtsposition voraus, in die in unkooperativer und illoyaler Weise eingegriffen wurde. Es müsste somit bei beiden ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen für eine Geltendmachung eine einklagbare Rechtsposition der Ressorterhaltung bestehen. Dies ist beim Ressortprinzip nicht der Fall. Sowohl dem Bundeskanzler als auch dem Kommissionspräsidenten ist es somit erlaubt, aus jedem Grund einem Minister bzw. Kommissar das Ressort bzw. Zuständigkeitsbereiche zu entziehen. Sie sind daher bezüglich der Reichweite ihrer jeweiligen Organisationsgewalt miteinander vergleichbar. Aber auch ohne eine Ressortentziehung, die bereits wegen der politischen Rückwirkung auf den Kanzler und sein Kabinett die ultima ratio sein wird, sind für den Kanzler beispielsweise durch seine Richtlinienkompetenz und die Möglichkeit, Minister zur Entlassung vorzuschlagen, geeignete Instrumente vorhanden, um im Vorfeld auf seine Minister einzuwirken und seinen politischen Führungsanspruch durchzusetzen. Auch insofern besteht eine Parallelität zum Kommissionspräsidenten, dem vergleichbare Instrumente zur Verfügung stehen. In Frankreich sind die Anzahl und die Abgrenzung der Ressorts ebenfalls nicht vorgeschrieben. Die genaue Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der einzelnen Minister wird allerdings nicht durch den Regierungschef bestimmt, sondern per Dekret durch den Ministerrat geregelt. Diese décrets d’attribution treffen abstrakte Regelungen ohne Bezugnahme auf den jeweiligen Amtsinhaber. Sie gelten daher auch bei einem Minister- oder Regierungswechsel solange weiter, bis sie durch ein neues Dekret entweder modifiziert oder aufgehoben werden. Welches Ministerium für eine bestimmte Angelegenheit zuständig ist, lässt sich durch diese Praxis der Ausführlich hierzu Schenke, Die Verfassungsorgantreue. Am Beispiel des Bundespräsidenten und der Bundesregierung Schenke, Die Verfassungsorgantreue, S. 53 ff. 889 Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 124 u. 342 ff.; J. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 834 f. 890 BVerfGE 7, 11 (14); 7, 377 (413); 65, 152 (154); Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG-Komm., Art. 93, Rn. 2. 891 Diese sind Mitglieder des Organs Bundesregierung, bekleiden aber selbst Ämter, vgl. Hermes, in: Dreier, GG-Komm., Art. 62, Rn. 23, 27; Stern, Staatsrecht, Bd. II, S. 270, 274. 887 888

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Modifikation häufig nur unter Heranziehung zeitlich weit zurückliegender Texte ermitteln, weil neue Dekrete meist auf früheren Dekreten aufbauen.892 Weder der französische Staatspräsident noch der Premierminister haben daher die Möglichkeit, formal Zuständigkeitsbereiche zu entziehen oder zu ändern. In der Praxis gibt es aber auch hier im Vorfeld die Möglichkeit, auf die einzelnen Minister und ihr Abstimmungsverhalten einzuwirken. Da Beschlüsse im Ministerrat stets einstimmig gefasst werden, um die Einigkeit innerhalb der Regierung zu demonstrieren, ist für kontroverse Abstimmungen kein Platz. Eventuelle Konflikte werden daher, schon um Konfrontationen zu vermeiden, die ein schlechtes Licht auf die Regierung werfen könnten, grundsätzlich bei der Vorbereitung einer Ministerratssitzung geklärt.893 Die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten ist somit vergleichbar mit der des deutschen Regierungschefs. Beide können Neuverteilungen vornehmen oder aus jedem Grund Zuständigkeitsbereiche entziehen. Sie übersteigt in weitem Ausmaß die Organisationsgewalt des französischen Regierungschefs, der nur auf die einzelnen stimmberechtigten Mitglieder des Ministerrats einwirken kann, aber selbst formal nicht die Möglichkeit hat, Zuständigkeitsbereiche festzulegen oder zu ändern. Dies trifft auch auf den Staatspräsidenten zu, der ebenso an die Dekrete des Ministerrats gebunden ist. Die politische Macht des Kommissionspräsidenten, allein und ohne vertragliche Beschränkungen Zuständigkeiten zu entziehen und neu zu gliedern, übertrifft mithin weit die geltenden Möglichkeiten, die den verglichenen Staatsoberhäuptern gewährt wurden. Der Kommissionspräsident ist in diesem Punkt vielmehr mit dem deutschen Bundeskanzler vergleichbar. Dies stellt einen weiteren Beweis für die regierende Position dar, die vom Kommissionspräsidenten eingenommen wird.

V. Zwischenergebnis Bei einem Vergleich der Kompetenzen des Kommissionspräsidenten mit denen der Staatsoberhäupter übt der Kommissionspräsident grundsätzlich sowohl im darstellenden und notariellen Bereich als auch im politischen Bereich die Kompetenzen eines Staatsoberhaupts aus. Auf den Gebieten der Außen- und Innendarstellung und der notariellen Akte wirkt er dabei in schwächerem Maße als die untersuchten Staatsoberhäupter. Dies ist mit der besonderen Struktur der Europäischen Union zu begründen, die in diesen Bereichen über weniger Kompetenzen und Möglichkeiten verfügt. Mehr Befugnisse kommen ihm dagegen im Bereich der politischen Einflussnahme zu. Diesbezüglich ist er vergleichbar mit dem Bundeskanzler, der in Deutschland die Regierungsleitung innehat. Die politischen EinFournier, Le travail gouvernemental, S. 29. Fournier, Le travail gouvernemental, S. 58; Pfister, La vie quotidienne à Matignon au temps de l’union de la gauche, S. 85. 892 893

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

flussmöglichkeiten des Oberhaupts sind in Deutschland als Beispiel für ein parlamentarisches System nur schwach vertreten. In Frankreich sind die politischen Einflussmöglichkeiten indes praktisch weitgehend beim Präsidenten angesiedelt. Zwar leitet auch in Frankreich nach der Verfassung die Regierung die Politik der Nation (Art. 20 Constitution), welcher der Premierminister vorsteht. Doch hat der Präsident in der faktischen Regierungsarbeit zum Teil mehr Einflussmöglichkeiten als der amtierende Premierminister.894 Er besitzt eine Vielzahl von gubernativen Befugnissen und wird daher als die tatsächlich regierende Person angesehen. Der Kommissionspräsident kann somit aufgrund seiner Kompetenzen dem präsidial regierenden französischen Staatsoberhaupt zugeordnet werden, dessen Befugnisse er teilweise sogar übertrifft, wie am Beispiel des Zuständigkeitsentzugs belegt werden kann.895 Wenn der Kommissionspräsident aber vergleichbare Kompetenzen mit jenen des französischen Staatsoberhaupts ausübt, kann er in Bezug auf diese auch als Unionsoberhaupt bezeichnet werden.

D. Selbstverständnis Bei einem Vergleich des Selbstverständnisses der Kommissionspräsidenten mit dem der deutschen und der französischen Staatspräsidenten lässt sich feststellen, dass sich sowohl die Staatsoberhäupter als auch die Kommissionspräsidenten in einer Führungsrolle begreifen. Diese Führungsrolle wird jedoch auf unterschiedliche Bereiche bezogen. Die Mehrzahl der deutschen Bundespräsidenten sah bzw. sieht sich weniger in einer thematischen, politischen Führungsposition als vielmehr in einer moralischen.896 Sie äußerten sich zurückhaltend zu politisch brisanten Themen und sahen ihre Aufgabe mehr in der menschlichen Führung der Bürger, deren Vorbild sie sein wollten. Diese Zurückhaltung gegenüber parteipolitisch geprägten Stellungnahmen lässt sich dadurch erklären, dass das Amt des Bundespräsidenten aus seiner Genese heraus nicht mit besonderen Führungskompetenzen ausgestattet ist. Ein politischer Führungsanspruch wurde nicht begründet und findet sich daher auch nicht im Selbstverständnis wieder. Das Selbstverständnis der Bundespräsidenten, sich auch als moralische Instanz an der Spitze des Staates zu sehen, die Bürger verbinden zu wollen und Entwicklungen voranzutreiben, ist somit eine Möglichkeit, die Rolle als Oberhaupt zu definieren. Auch die französischen Staatspräsidenten betrachteten bzw. betrachten sich selbst als Oberhäupter, die an der Spitze des Staates stehen.897 Von allen bisherigen 894 895 896 897

Siehe S. 93 ff. Siehe S. 157 ff. Siehe S. 76 ff. Siehe S. 100 ff.

2. Kap.: Kommissionspräsidenten und Staatsoberhäupter

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Amtsinhabern wurde ein umfassender Führungsanspruch sehr deutlich ausgesprochen, der in der Verfassung angelegt ist.898 Der Führungsanspruch der französischen Staatspräsidenten bezieht sich sowohl auf die politische Führung als auch auf die rechtliche (Wächter der Verfassung) sowie auf die moralische Staatsleitung. Beim französischen Präsidenten findet sich somit ein weitaus umfassenderes Führungsverständnis als beim deutschen Präsidenten. Als Oberhäupter, d. h. an der Spitze des Staates stehend, sehen sich beide. Das Führungsverständnis der bisherigen Kommissionspräsidenten kann zwischen demjenigen der beiden genannten Staatsoberhäupter angesiedelt werden. Unterstellte man den Kommissionspräsidenten lediglich ein Selbstverständnis als moralische Führungsfigur, würde man den bisherigen Kommissionspräsidenten nicht gerecht werden. Auch wenn sie ihren Auftrag in der Weiterführung der europäischen Vereinigung sahen bzw. sehen, was durchaus eine moralische Komponente wie beispielsweise einen Aufruf zur Toleranz enthält, geht ihr Selbstverständnis weiter. In den Erklärungen und Stellungnahmen bisheriger Amtsinhaber wird deutlich, dass sie die Kommission als „Motor der Integration“899 sehen, der von ihnen selbst gesteuert wird. Sie betrachten die Kommission nicht als Behörde, die Europa „verwaltet“, sondern sehen ihren Auftrag in der Lenkung und dem Antrieb der europäischen Integration und mithin als europäische Führung. Darüber hinaus kam die Vorstellung eines Kommissionspräsidenten als Regierungschef einer europäischen Regierung auf.900 Ein umfassender Führungsanspruch wird somit in Bezug auf die Europäische Kommission geltend gemacht. Ein allgemeiner europäischer Führungsanspruch, wie der französische Präsident ihn für Frankreich geltend macht, wurde bislang nicht erhoben. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass ein allgemeiner Führungsanspruch vertraglich nicht verankert wurde und auch gegen die Struktur der Europäischen Union verstoßen würde, die bislang von den Mitgliedstaaten geführt wird. Er wäre auch politisch nicht vermittelbar.901 Dennoch ist es der Kommissionspräsident, der die Europäische Kommission, die Vertretung europäischer Interessen, führt. Schon deshalb stellt er die europäische Führungsfigur dar. Dies trifft selbst dann zu, wenn er nicht explizit als solche bezeichnet wird und sich selbst nicht als solche benennt. Die Selbstsicht der Kommissionspräsidenten, in der sie ihre Führung innerhalb der Europäischen Kommission betonen und die Europäische Kommission als die zukünftige europäische Regierung sehen, spricht somit – auch ohne explizite Bezeichnung – für ein Selbstverständnis als europäisches Oberhaupt.

Siehe S. 82 ff. Streinz, Europarecht, Rn. 336. 900 Siehe S. 210 ff. 901 So gibt es nicht nur in England und Frankreich Vorbehalte gegen eine übermächtige Europäische Union. Auch werden bei einer Bezeichnung als „Führer“ immer Assoziationen mit dem Regime des Dritten Reiches geweckt. 898 899

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

E. Ergebnis Analysiert man die Stellung, die Verantwortlichkeit, die Kompetenzen und das Selbstverständnis der bisherigen Kommissionspräsidenten kann zunächst ein deutlicher Wandel im Gesamtbild festgestellt werden. Hatte der Kommissionspräsident zu Beginn der europäischen Integration keine besonders exponierte Stellung, so wuchsen mit seinen Kompetenzen auch seine Bedeutung und sein Einfluss. Zum heutigen Zeitpunkt übt er das führende Regierungsamt innerhalb der Europäischen Union aus.902 Gleichzeitig hat er aber auch darstellende und notarielle Befugnisse. In seiner Stellung und Verantwortlichkeit spiegelt sich die herausgehobene Position eines führenden Amtes wider. Seine Selbstsicht bestätigt dies. Vergleicht man dieses Gesamtbild mit dem des deutschen Bundespräsidenten und des französischen Staatsoberhaupts, ergibt sich, dass der Kommissionspräsident, sieht man von den Besonderheiten der Europäischen Union ab, in fast allen untersuchten Parametern mehr Befugnisse als das deutsche Oberhaupt hat. Seine Stellung und sein Selbstverständnis sind vergleichbar. Der Grad der Verantwortlichkeit, der von dem Maß an rechtlicher und politischer Macht abhängt, ist beim Kommissionspräsidenten höher als beim deutschen Staatsoberhaupt. Ein großes Maß an Übereinstimmung besteht dagegen zwischen dem Kommissionspräsidenten und dem französischen Staatspräsidenten. Da sowohl der französische Staatspräsident als auch der Kommissionspräsident großen rechtlichen und politischen Einfluss haben, ist auch der Grad an Verantwortlichkeit ein hoher. Dieser ist beim Kommissionspräsidenten, den auch das Parlament durch ein Misstrauensvotum zur Amtsniederlegung zwingen kann sogar noch höher als jener des französischen Staatspräsidenten. Stellung und Selbstverständnis sind vergleichbar. Bezüglich der Kompetenzen verfügen beide Ämter über große rechtliche und politische Einflussmöglichkeiten. Soll der Kommissionspräsident einem der beiden Oberhäupter zugeordnet werden, wäre dies das französische Staatsoberhaupt. Soweit es für die Untersuchung erforderlich war, wurden die Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs in den Vergleich einbezogen.903 Im Bereich der gubernativen Kompetenzen lassen sich eine Vielzahl von Parallelen nachweisen wie exemplarisch bei der Organisationsgewalt904 oder der Leitlinienkompetenz905 zum Ausdruck kommt. Der Kommissionspräsident kann daher gleichfalls mit einem Regierungschef verglichen werden.906 An fast allen Parametern lässt sich zudem die Entwicklung der Europäischen Union zu einem präsidialen System festmachen. Dass diese Entwicklung noch 902 903 904 905 906

Siehe S. 110. Siehe S. 26 f. Siehe S. 237 ff. Siehe S. 234 ff. Gleichfalls Breier, in: Lenz / Borchardt, EG-Komm., Art. 217, Rn. 1.

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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nicht abgeschlossen ist, versteht sich von selbst. Genauso bleiben noch Bereiche, in denen der Kommissionspräsident zusätzliche Befugnisse erhalten könnte wie zum Beispiel im gesamten Darstellungsbereich. Entscheidend für seine Stellung als Unionsoberhaupt ist aber, dass er mit den in der Europäischen Union vorhandenen Kompetenzen die Funktionen eines Oberhaupts907 wahrnehmen kann. Übt der Kommissionspräsident mit seiner Stellung, seiner Verantwortlichkeit, seinen Kompetenzen und seinem Selbstverständnis die Funktionen von Staatsoberhäuptern in der Europäischen Union aus, stellt er das Unionsoberhaupt dar.

3. Kapitel

Vorschläge für eine institutionelle Reform Die Handlungsfähigkeit Europas muss weiterhin gewährleistet bleiben. Die heutigen Institutionen wurden ursprünglich für sechs Mitgliedstaaten geschaffen. Schon bei 15 Mitgliedstaaten waren Einbußen hinsichtlich der Funktionsfähigkeit festzustellen.908 So wichtig und notwendig alle Reformen waren, die unter anderem Verstärkungen der Mehrheitsentscheidungen vorsahen, so wenig werden diese langfristig für die schon vollzogenen Erweiterungen auf 25 und in Zukunft noch mehr Mitgliedstaaten ausreichen. So bemerkte Delors: „Es ist schon nicht leicht, eine zwanzig Kopf starke Kommission zu leiten. Zukünftig wird das noch schwerer, wenn es fünfundzwanzig, siebenundzwanzig oder noch mehr Mitglieder gibt.“909 Es besteht die latente Gefahr, dass die Absorbtionsfähigkeit der Europäischen Union mit ihren Institutionen und Mechanismen überfordert wird und dass es zu schweren Krisen kommen kann. Diese Gefahr spricht nicht etwa gegen eine Erweiterung, sondern für eine Reform der Institutionen, damit ihre Handlungsfähigkeit auch unter den Bedingungen der Erweiterung erhalten bleibt.910 Vor diesem Hintergrund sollen in Bezug auf den Kommissionspräsidenten verschiedene Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die allesamt ihren Fokus auf das Ziel einer weiterführenden Integration legen.

Siehe S. 34 ff. Lipsius, The 1996 Intergouvernmental Conference, ELR 1995, 235 (252); Davignon, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 12 (16); Noel, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 62 (66); Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 204, Rn. 17; Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Rede am 12. 05. 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, S. 20. 909 Delors, Erinnerungen eines Europäers, S. 299. 910 Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Rede am 12. 05. 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, S. 21. 907 908

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

A. Die Diskussion im Konvent Die Frage, wer in einer zukünftigen Europäischen Union die Führungsfunktion übernehmen soll, wurde auch im Umfeld des Europäischen Konvents diskutiert.911 Bezeichnend ist hierbei, dass es zu dieser zentralen Frage keine eigene Arbeitsgruppe gab. So gab es beispielsweise Arbeitsgruppen zu den Bereichen der Subsidiarität, der Charta der Grundrechte und der Rechtspersönlichkeit der Union. Das Thema der Institutionen wurde jedoch ausgespart. Diese Diskussion wurde vielmehr in den Mitgliedstaaten geführt, wobei sich im Wesentlichen drei Modelle herauskristallisierten. Vertreten wurde als erstes Modell eine intergouvernementale Lösung. Hiernach sollte der Ratspräsident als Vertreter der nationalen Regierungen an der Spitze der Europäischen Union stehen.912 Der Nachteil dieser Lösung ist allerdings nicht nur, dass ein Präsident mit einer Amtzeit von nur zweieinhalb Jahren (Art. I-22 Abs. 1 Satz 1 VV) kaum die Möglichkeit hat, die Projekte und Reformen, die er in seiner Amtszeit angestoßen hat, auch selbst beenden zu können. Eine kontinuierliche Amtsführung wäre somit nicht gewährleistet.913 Weiterhin würde sich bei dieser Lösung der Einfluss der nationalen Regierungen vergrößern, da sich der Europäische Rat traditionell als Vertreter nationaler Interessen darstellt, wohingegen der Kommission sogar vertraglich auferlegt ist, ausschließlich im Interesse Europas zu handeln (Art. I-26 Abs. 1 Satz 1 VV). Die Vertreter dieses Modells sind somit grundsätzlich für eine Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips und gegen die Übertragung weiterer nationaler Kompetenzen auf die Europäische Union. Der Weg zu einer weiteren zukünftigen Integrationspolitik würde erschwert. Als weiteres Modell wurde besonders von den kleinen Staaten und der Kommission selbst vorgeschlagen, die Europäische Kommission mit mehr Kompetenzen auszustatten und ihre Position durch eine direkte demokratische Legitimation zu stärken. Dies würde eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten bedeuten, der dann für jedermann sichtbar die zukünftige Führungsposition in der Europäischen Union übernehmen würde. Bei der Ausgestaltung der Wahl des Kommissionspräsidenten gab es die beiden Alternativen, ihn direkt durch die europäischen Bürger oder durch das Europäische Parlament wählen zu lassen. Die letztere Ausgestaltungsmöglichkeit wurde bereits bei den Konventsberatungen, allerdings nur in Verbindung mit einem Vorschlag des Europäischen Rates, erwogen und schließlich auch übernommen. Für das Europäische Parlament bedeutet diese Lösung freilich Ausführlich hierzu Epping, Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (828) m. w. N. Vertreten wurde diese intergouvernementale Lösung besonders von Spanien, Großbritannien und Frankreich und trug daher auch die Bezeichnung ABC-Entwurf nach seinen Urhebern Aznar, Blair und Chirac, „Die EU soll einen Präsidenten erhalten“, SZ vom 12. 10. 2002, S. 6. 913 Selbst wenn der Verfassungsvertrag eine einmalige Wiederernennung ermöglicht, ist diese aus machtpolitischen Erwägungen der Mitgliedstaaten unwahrscheinlich, weil alle Staaten ein Interesse daran haben, den Ratspräsidenten zu stellen. 911 912

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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wieder eine Einschränkung bei der Kandidatenauswahl.914 Das Ausgestaltungsmodell der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament ohne Vorschlagsrecht des Europäischen Rates915 könnte hingegen zu einem wirklichen europäischen Wahlkampf führen und so eine Einbindung der Bürger ermöglichen. Das dritte, so genannte Kompromissmodell916, das sich schließlich auch im Konventsentwurf durchgesetzt hat, sieht eine Doppelspitze mit einem hauptamtlichen, von der Mehrheit des Europäischen Rates für zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten des Europäischen Rates einerseits und dem Kommissionspräsidenten andererseits vor. Eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten ließ sich nicht durchsetzten. Der Vorwurf, der Ratspräsident vertrete nationalstaatliche Interessen, wurde damit zu entkräften versucht, dass er kein einzelstaatliches Amt innehaben darf (Art. I-22 Abs. 3 VV). Dennoch birgt eine solche Doppelspitze tendenziell immer die Gefahr einer Inkohärenz in sich, insbesondere bei politischen Fragen und Themen, die eine Abstimmung untereinander erfordern. Die Mitglieder des Konvents Lamberto Dini, Andrew Duff und Pierre Lequiller plädierten deshalb sogar „für eine einzige Präsidentschaft innerhalb des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission in der Zukunft“917 und gaben zu bedenken, dass zwei Präsidentschaften zu mangelnder Transparenz in der Öffentlichkeit auf europäischer und internationaler Ebene führen könnten. Ein weiterer Kritikpunkt war der erhöhte Verwaltungsaufwand für den neuen Präsidenten, dessen organisatorischer Unterbau teilweise die gleichen Tätigkeiten wie der der Kommission verrichten und den europäischen Behördenapparat noch vergrößern würde. Letztlich gaben die Angeordneten zu bedenken, dass die Verantwortung des Präsidenten des Europäischen Rates allein gegenüber dem Rat das Europäische Parlament ausschließen würde. All diese Argumente sprachen aus der Sicht dieser Abgeordneten gegen zwei Führungsfiguren in der Europäischen Union und einen hauptamtlichen euro914 CONV 770 / 03 vom 2. 6. 2003, Art. I-19 Abs. 1 Satz 2 VVE „Es (das Parlament, die Verfasserin) wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission“ und Art. I-26 Abs. 1 Satz 1, 2 VVE „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament ( . . . ) einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“ 915 So in einem Arbeitspapier der Europäischen Kommission, das eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament (mit verstärkter Mehrheit, d. h. zwei Dritteln der Stimmen seiner Mitglieder, Art. 40 Abs. 2 Arbeitspapier) und Bestätigung durch den Europäischen Rat mit verstärkter qualifizierter Mehrheit vorschlägt, Art. 47 Abs. 2 Arbeitspapier. Bei der verstärkten qualifizierten Mehrheit müssen drei Viertel der Mitglieder des Rates, deren Bevölkerung zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der Union ausmacht, für einen Beschluss stimmen, Art. 44 Abs. 2 Arbeitspapier. In: Beitrag zum Vorentwurf einer Verfassung der Europäischen Union, Durchführbarkeitsstudie der Europäischen Kommission vom 4. 12. 2002 unter der Leitung von Francois Lamoureux. 916 Dieses Modell wurde von Deutschland und später auch von Frankreich vertreten, nachdem Frankreich sich mit seinem intergouvernementalen Modell nicht durchsetzen konnte, CONV 489 / 03 vom 16. 1. 2003. Vgl. auch FAZ vom 16. 1. 2003, S. 1; FAZ vom 23. 1. 2003, S. 10. 917 So auch der Titel ihres Beitrags. CONV 746 / 03 vom 19. 5. 2003, S. 1 ff.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

päischen Ratspräsidenten, obwohl der wesentliche Vorteil einer auf diesem Wege erreichten Stabilität von den Abgeordneten nicht in Frage gestellt wurde. Diese Stabilität könne allerdings besser mit nur einer Führungsfigur erreicht werden.918 Bei den Konventsberatungen wurden die Schwierigkeiten erkannt, die von einer personellen Doppelspitze ausgehen könnten. Es wurde daher die Möglichkeit offen gelassen, die Ämter des Ratspräsidenten und des Kommissionspräsidenten in Personalunion auszuüben, indem weder für das Amt des Ratspräsidenten noch für das Amt des Kommissionspräsidenten diesbezügliche Einschränkungen getroffen wurden (vgl. Art. I-22 VV und Art. I-27 VV). Doch selbst im Fall einer Personalunion des Kommissionspräsidenten und des Ratspräsidenten hätte diese Person einen Konflikt zwischen den möglichen divergierenden Interessen des Europäischen Rates und denen der Kommission auszuhalten. Andererseits könnte sie im Gegenzug auch die Kompetenzen beider Ämter nutzen. Dies würde ihren Einfluss unweigerlich vergrößern, selbst wenn sich die Aufgaben des Ratspräsidenten hauptsächlich darauf beschränken, die Arbeits- und Kompromissfähigkeit im Europäischen Rat zu sichern, deren Vorsitz er innehat.919 Allein die Tatsache, dass der Verfassungstext die Option einer Personalunion beinhaltet, zeigt Möglichkeiten auf, die die Stellung eines Unionsoberhaupts festigen würden. Ein weiterer Konfliktpunkt könnte die europäische Außenpolitik darstellen. Der zukünftige europäische Außenminister, der die bisherigen Ämter des Kommissars für Auswärtige Beziehungen, des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik (GASP) und des Außenministers des Vorsitzlandes in Personalunion zusammenführt,920 wäre der Vizepräsident der Kommission, ernannt mit qualifizierter Mehrheit durch den Europäischen Rat mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten. Er sitzt gemäß Art. I-28 Abs. 3 VV dem Rat für Auswärtige Beziehungen vor und wird von einem neu zu schaffenden europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt.921 Als Kommissionsmitglied unterliegt er genauso wie alle anderen Kommissionsmitglieder den Verfahren, die für die Arbeitsweisen der Kommission vorgesehen sind (Art. I-28 Abs. 4 Satz 3 VV). Das bedeutet, er unterliegt einerseits nicht nur der Leitlinienkompetenz und der Weisungsbefugnis des Kommissionspräsidenten, sondern er erhält andererseits seine Aufträge für eine gemeinsame Außenpolitik auch vom Ministerrat für Auswärtige Angelegenheiten, der seine Außenpolitik nach den Vorgaben des Europäischen Rates formuliert (Art. I-24 Abs. 3 VV).922 Selbst wenn also der Außenminister im Rat für AuswärCONV 746 / 03 vom 19. 5. 2003, S. 3. Geregelt ist der Ratspräsident in Art. I-22 VV. 920 Geregelt in Art. I-28 VV. 921 Geregelt in Art. III-296 Abs. 3 VV. 922 Bauer sieht in dieser Konstellation eine mögliche Schwächung der Position des Kommissionspräsidenten, die er mit einer weiteren Institutionen- und Kompetenzverschränkung begründet, ders., Orientierungsnot im Machtdreieck: Die Europäische Kommission auf der Suche nach einem neuen Leitbild, integration 2005, 47 (52). 918 919

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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tige Angelegenheiten den Vorsitz innehat, hat er sich den Beschlüssen dieses Rates, die mit qualifizierter Mehrheit und nach den Vorgaben des Europäischen Rates erfolgen, zu beugen. Der Außenminister kann somit bei unterschiedlichen außenpolitischen Ansichten des Präsidenten des Europäischen Rates und des Kommissionspräsidenten, die sich in den unterschiedlichen Gremien – Rat und Kommission – offenbaren, in Konflikte geraten. Für solche Konflikte bietet der Verfassungsvertrag keine Lösung an, er hat sie geradezu selbst heraufbeschworen.923 Lösen ließe sich dieses Problem freilich mit der oben beschriebenen Personalunion der Ämter des Kommissionspräsidenten und des Ratspräsidenten.924 An diesem Beispiel des Außenministers, der das Konfliktpotential zwischen den beiden möglichen Führungsämtern der Europäischen Union beispielhaft aufzeigt, wird deutlich, dass bei ungeklärten Machtverhältnissen zwei Ämter immer die schlechtere Lösung sind, weil sich die Abgrenzung der Kompetenzen als problematisch erweisen kann. Der Vorwurf der ungeklärten Machtverhältnisse kann auch nicht durch die undeutliche Kompetenzabgrenzung entkräftet werden, die der Verfassungsvertrag mit einer Beschreibung der Aufgaben des Ratspräsidenten liefert. Hiernach gehört es insbesondere zu seinen Hauptaufgaben, Gipfelkonferenzen zu leiten und den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Zugleich soll er aber auch die Außenvertretung der Union in den Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmen (Art. I-22 Abs. 2 Satz 2 VV). Selbst wenn dies „unbeschadet der Befugnisse des Außenministers der Union“ geschehen soll, seine Aufgaben also mehr repräsentativ als operativ erscheinen, bleibt ein erhebliches Konfliktpotential bestehen. Diese Beispiele zeigen, dass der Zustand der Institutionen auch bei Anwendung des Verfassungsvertrags nicht als zufrieden stellend bezeichnet werden kann. Dies gibt Anlass, die zentralen Reformüberlegungen zur Wahl des Kommissionspräsidenten und zur Struktur der Kommission einer kritischen Analyse zu unterziehen.

B. Wahl des Kommissionspräsidenten Bezüglich der Wahl des Kommissionspräsidenten als Unionsoberhaupt gibt es zwei Modelle. Eine Möglichkeit ist die Direktwahl des Unionsoberhaupts durch die europäischen Bürger. Eine andere Möglichkeit ist die Wahl durch das Europäische Parlament. 923 Genauso die provokante Frage von Epping: „Wer kann schon zwei Herren dienen?“, ders., Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (830). So wird prophezeit, dass die Zwitterrolle des Außenministers potentiell zu Lasten der Kommission gehen könnte, da der Außenminister seine Loyalität und die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen vornehmlich an den Interessen des Europäischen Rates ausrichten wird. Siehe Emmanouilidis, Historisch einzigartig, im Detail unvollendet – eine Bilanz der Europäischen Verfassung, www.eu-reform.de, S. 8 (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006); Delors, Erinnerungen eines Europäers, S. 538. 924 Siehe S. 248 f.

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Grundsätzlich gilt, dass mit einer Zunahme der vermittelnden Instanzen zwischen dem Volk bzw. den europäischen Bürgern und dem zu legitimierenden Hoheitsträger die legitimierende Wirkung abnimmt. Mit anderen Worten wird die demokratische Legitimation umso schwächer, je indirekter sie vermittelt wird. Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von einer höheren „demokratischen Dignität“925, die durch eine unmittelbare Legitimation begründet wird. Dennoch ist nicht entscheidend, dass die demokratische Legitimation direkt durch das Volk erfolgt, sondern dass eine ununterbrochene Legitimationskette besteht. In einem parlamentarischen Regierungssystem ist das Parlament als Volksvertretung ein notwendiges Glied innerhalb jeder demokratischen Legitimationskette.926 Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament würde somit die notwendige Legitimation vermitteln und gegenüber der derzeitigen Lage eine Verbesserung bedeuten. Eine erneute Steigerung stellt jedoch eine direkte Legitimation durch die europäischen Bürger dar, die durch eine Direktwahl herbeigeführt werden kann. Vom Standpunkt der demokratischen Legitimation aus sind somit beide Modelle akzeptabel. Vorstellbar ist auch eine sukzessive Legitimationssteigerung in der Form, dass zunächst eine Wahl durch das Parlament stattfindet und erst später eine Direktwahl durchgeführt wird. In diesem Fall ist die Parlamentswahl ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer direkten Legitimation. Welcher Wahlmodus vorzugswürdig ist, richtet sich insbesondere nach seiner Eignung für das Gebilde der Europäischen Union.

I. Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament Eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament stellt mithin eine Möglichkeit dar, einen höheren als den derzeitigen Legitimationsgrad zu erreichen.927 Denn im Gegensatz zum derzeitigen Verfahren verkürzt eine Wahl durch das Parlament, welches in direkter Volksabstimmung legitimiert wurde, die Legitimationskette zum Volk. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden aufgrund ihrer Wahlprogramme von den europäischen Bürgern gewählt. Warum sollten daher nicht auch diese Abgeordneten, die idealtypisch aufgrund ihrer thematischen Schwerpunkte legitimiert wurden, den Kommissionspräsidenten wählen, der ihren Prioritäten am nächsten kommt? Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 22, Rn. 16. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, HdbStR, Bd. I, § 22, Rn. 16. 927 Laut Pernice könnte die notwendige politische Legitimation der Kommission auf der unmittelbaren Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament beruhen. Eine anschließende Bestätigung könnte durch den Ministerrat geschehen, ders., Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 (2000), 205 (227). 925 926

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Eine solche Verknüpfung beider Organe widerspricht auch nicht der sonstigen Systematik des Vertrags, die dem Europäischen Parlament einen Kontrollauftrag gibt. Das Europäische Parlament leistet die demokratische Kontrolle der Kommission – und somit ihres verantwortlichen Präsidenten. Ausfluss dieser Kontrolle ist der Misstrauensantrag, der die gesamte Kommission stürzen kann (Art. 201 EG).928 Bei dem Verhältnis von Kommission und Parlament darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kommission im Gegensatz zu einer nationalen Regierung im Parlament nicht über eine tatsächliche „Regierungsmacht“ verfügt. So ist eine stabile „Regierungsmehrheit“ im Europäischen Parlament, die den gesamten Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union trägt, bislang nicht vorhanden. Der Grund hierfür liegt in der nationalen Herkunft und den parteipolitischen Orientierungen der Europaabgeordneten, die zu disparat und heterogen sind.929 Auch wenn das Parlament die Kommission daher mit einem Zustimmungsvotum bestätigt, gibt es dennoch keine festen Koalitionen zwischen den vertretenen Parteien.930 Dies erschwert die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Parlament deutlich und kann Konkurrenzsituationen hervorbringen. Betrachtet man das Zusammenspiel in einer parlamentarischen Demokratie zwischen der Regierung und der Regierungsfraktion, so trägt die Regierungsfraktion die Regierung im Parlament. Erschwert sie die Arbeit der Regierung, trägt sie bei den nächsten Wahlen die negativen Konsequenzen. Im Gegenzug profitiert sie aber auch von den guten Leistungen der Regierung. Diese gegenseitige Abhängigkeit diszipliniert das Verhalten der Regierungsfraktion gegenüber der Regierung. Anders stellt sich die Situation auf europäischer Ebene dar. Weil sich die Kommission im Parlament nicht auf eine feste „Regierungsfraktion“ stützen kann, ist auch keine Fraktion von den Leistungen und dem Ansehen der Kommission abhängig. Das disziplinierende Element gegenseitiger Abhängigkeit ist somit nicht vorhanden.931 In Europa besteht deshalb eine im Vergleich zu nationalen Wahlen abweichende Situation. Während in einer parlamentarischen Demokratie die Regierungspartei nach guten Leistungen der Regierung umso motivierter in den Wahlkampf zieht, sehen die Mitglieder des Europäischen Parlaments ihre Bedeutung dadurch gesteigert, wenn einzelne Kommissare ausgetauscht werden oder gar die ganze Kommission zurücktritt. Gut beobachten ließ sich dieses Kräftemessen bei der Zusammenstellung der Kommission unter dem designierten Präsidenten Barroso. Aufgrund diskriminierender Äußerungen des Italieners Buttiglione musste BarSiehe S. 135 ff. Nass, in: Zehetner, Festschrift für Hans-Ernst Folz, 243 (254). 930 Dies ändert sich möglicherweise, wenn der Kommissionspräsident nach dem Verfassungsvertrag gemäß den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament ausgewählt wird. Siehe S. 122 f. 931 Nemitz, Europäische Kommission: Vom Kollegialprinzip zum Präsidialregime?, EuR 1999, 678 (686). 928 929

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roso Ende Oktober 2004 seine gesamte Kommission zurückziehen und einzelne Ressorts neu besetzen, um einer Abstimmungsniederlage im Europäischen Parlament zu entgehen.932 In der Mehrzahl der Medien und im Europäischen Parlament wurde dieser Rückzug als großer Sieg des Europäischen Parlaments dargestellt, das einen großen Bedeutungszuwachs erlebt habe.933 Dieses Beispiel verdeutlicht die bestehenden Rivalitäten zwischen dem Parlament und der Kommission. Beide Institutionen versuchen, eine möglichst große Bedeutung innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union zu erlangen. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Kommissionspräsident und die Parlamentsmehrheit einer politischen Richtung angehören und sich daher gegenseitig unterstützen sollten. Barroso beispielsweise ist ein Christdemokrat und hätte sich deshalb eigentlich auf eine liberalkonservative Mehrheit stützen können. Die Mehrheitsfraktion im Parlament sieht ihre Rolle somit weniger als „regierungstragend“ und mehr als kontrollierend. Für die Minderheitenfraktion gilt dies naturgemäß in verstärktem Maße. Eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament könnte Konkurrenzsituationen verdrängen und die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Parlament erleichtern. Ein solcher Wahlakt wäre mithin ein erster Schritt, die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament und somit auch den europäischen Wählern näher zu bringen.934 Gegen eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament könnte jedoch sprechen, dass das Europäische Parlament zwar durch die europäischen Bürger gewählt wird, deren Stimmen aber nicht den gleichen Erfolgswert genießen. So sind die kleinen Mitgliedstaaten im Gegensatz zu den großen in der Anzahl ihrer Vertreter überrepräsentiert.935 Wählte ein auf diese Weise zusammengesetztes Parlament den Kommissionspräsidenten, würde sich diese ungleiche Verteilung auch in seinem Wahlergebnis niederschlagen. Betrachtet man jedoch die entsprechenden vertraglichen Bestimmungen, kann der Argumentation, die eine ungleiche Wahl konstatiert, nicht zugestimmt werden. Denn das Europäische Parlament besteht aus „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ (Art. 189 EG). Daraus, dass dieser Artikel trotz der mit dem Maastrichter Vertrag eingeführten Unionsbürgerschaft nicht geändert wurde, muss gefolgert werden, dass die Abgeordneten somit (noch) die verschiedenen mitgliedstaatlichen Völker und nicht eine europäische BürgerSiehe S. 183 f. Die Zeit vom 4. 11. 2004, S. 15 mit Beispielen aus BBC „Was für eine Woge der Macht spürt dieses Parlament in seinen Adern“, Le Monde „Das parlamentarische Europa kommt voran“, Gazeta Wyborcza „Ein Kampf des Parlamentes um die Macht“, Daily Telegraph „Ein großer Sieg für das Europäische Parlament“. 934 Martin, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 46 (60); Wulf-Mathies, Interview (Anhang), S. 52. 935 Steffani, in: Steffani / Thaysen, Demokratie in Europa. Zur Rolle der Parlamente, S. 33 ff.; Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, S. 189. 932 933

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schaft repräsentieren. Auf europäischer Ebene müssen daher das demokratische Kernprinzip der Gleichheit zwischen den Unionsbürgern, die Wahlrechtsgleichheit und das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit zu praktischer Konkordanz gebracht werden.936 Da im Europäischen Parlament mithin nicht nur die Bürger der Europäischen Union, sondern auch ihre Völker vertreten sind, ist eine entsprechende Überrepräsentation der kleinen Mitgliedstaaten konsequent. Das Europäische Parlament bildet somit keine uneingeschränkte europäische Volksvertretung, weil es nicht aus der Wahl eines europäischen Volkes hervorgeht, sondern aus der Wahl verschiedener Staatsvölker, auf die sich nach einem mitgliedstaatlichen Paritätenschlüssel (vgl. Art. 190 Abs. 2 EG) die Sitze verteilen.937 Vor diesem vertraglichen Hintergrund stellt sich die Wahl zum Europäischen Parlament nicht als ungleich dar, sondern als das Ergebnis eines Kompromisses. Dennoch wäre im Sinne einer weiterführenden Integration eine Schwerpunktverlagerung zu einer „echten“ europäischen Volksvertretung wünschenswert. Denn obwohl der Europäische Rat eine Änderung des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (Direktwahlakt) beschlossen hat938 und die Wahlen ab 2004 gemäß den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen stattfinden, liegt der gleiche Erfolgswert aller Stimmen nicht vor. Die Zuweisung der Sitze im Europäischen Parlament an die einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 190 Abs. 2 EG) entspricht nicht deren Bevölkerungsanteilen. Das Stimmgewicht der Wähler der einzelnen Mitgliedstaaten bleibt daher unterschiedlich. Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament bedeutet somit auch trotz der genannten Änderung einen Kompromiss zwischen der Gleichheit der Staaten und der Gleichheit der Stimmen. In der Praxis könnte die Wahl des Kommissionspräsidenten dergestalt ablaufen, dass die Parteien bereits zu den Europawahlen mit einem eigenen Kandidaten und einem Programm für die Kommissionspräsidentschaft antreten. Dieser Wahlmodus hätte den Vorteil, dass die Bürger nur einmal zur Wahl aufgerufen wären. Die Europawahl könnte durch ihre Personalisierung größere Aufmerksamkeit als bisher939 erregen, weil Europa durch die jeweiligen Spitzenkandidaten, von denen einer schließlich den Kommissionspräsidenten stellt, ein Gesicht bekäme. Die bislang noch bestehende Gefahr, dass sich die Regierungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen und somit ein schwacher Kandidat für das Amt 936 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 26, Rn. 7; Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, S. 189. 937 Isensee, in: Due / Lutter / Schwarze, Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 567 (579). 938 Beschluss des Rates vom 25. 6. 2002 und 23. 9. 2002, ABl. Nr. L 283 / 02, S. 1 vom 21. 10. 2002. Der ursprüngliche Direktwahlakt vom 20. 9. 1976 wurde zuletzt durch den Vertrag von Amsterdam geändert. 939 So ist die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament seit 1979 von 63% kontinuierlich gesunken und betrug 2004 nur noch 45,7%. http: //www.elections2004. eu.int/ep-election/sites/de/results1306/turnout_ep/turnout_table.html. (Letzte Abfrage vom 17. 2. 2006).

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

des Kommissionspräsidenten benannt wird, kann durch eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament weitestgehend ausgeräumt werden, da die Parteien sicherlich mit ihren Spitzenkandidaten in den Wahlkampf ziehen würden. Die jeweiligen Spitzenkandidaten könnten Katalysatoren einer grenzüberschreitenden Diskussion über ihre Programme und der damit verbundenen europäischen Politik werden. Wie dagegen der Wahlkampf in den einzelnen Mitgliedstaaten geführt wird, ist gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität den ansässigen Parteiorganisationen überlassen. Der auf diese Weise gewählte Kommissionspräsident würde demnach aufgrund des unterschiedlichen Erfolgswerts der Stimmen sowohl einen Vertreter der europäischen Mitgliedstaaten als auch einen Vertreter der europäischen Völker darstellen. Ein Vertreter der europäischen Bürger wäre der Kommissionspräsident dagegen, wenn er direkt von ihnen gewählt würde. Bis zu seiner Direktwahl könnte seine Wahl durch das Europäische Parlament indes einen Zwischenschritt darstellen.

II. Direktwahl des Kommissionspräsidenten Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten ist die zweite Reformalternative, um die Europäischen Union mit 25 und mehr Mitgliedstaaten weiterhin demokratisch legitimiert und handlungsfähig zu erhalten. Eine solche Direktwahl wird beispielsweise in der englischsprachigen Literatur940 als Möglichkeit für eine Fortentwicklung der Europäischen Union mit einem höheren Legitimationsgrad als bislang angesehen: „The Commission President could be directly elected, with candidates nominated by at least one party in each member state. This would ensure that one group of élites in each member state would be part of the ,winning team‘, and no ,nation‘ would be a collective looser.“941 Dieser Vorschlag sieht somit weniger in der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament eine Chance zur Verbreiterung der Legitimationsbasis europäischer Politik. Vielmehr soll der Bürger unter Umgehung des Europäischen Parlaments eine direkte Einflussmöglichkeit auf die Bestellung der Exekutive bekommen. Da sich alle europäischen Parteien jeweils auf einen Kandidaten einigen müssten, würden sie nach dessen Nominierung einen europäischen Wahlkampf führen. Dies hätte gleichfalls eine Europäisierung der bislang national geprägten Parteienlandschaft zur Folge. Durch eine direkte Beteiligung der europäischen Bürger hätten diese die Möglich940 Bogdanor, The future of the European Community: two models of democracy, Government and Opposition 1986, S. 161 ff.; Hix, Political Parties in the European Union, S. 216; Hix, Executive Selection in the European Union: Does the Commission President Investiture Procedure Reduce the Democratic Deficit?, European Integration online Papers (EIoP) 1997, No 21, S. 11. 941 Hix, The study of the European Union II: the ,new governance‘ agenda and its rival, Journal of European Public Policy 1998, 38 (52).

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keit auszuwählen, wer auf europäischer Ebene regieren soll.942 Ist der Kommissionspräsident durch jene legitimiert, besitzt er nicht nur einen Vertrauensvorschuss, sondern auch eine besonders starke Stellung innerhalb der Europäischen Union. Die Direktwahl des Kommissionspräsidenten wäre mithin in der Lage, ihm ein höheres Legitimationsniveau943 zu verschaffen und seine Stellung innerhalb der Europäischen Union zu festigen. Die Europäische Union verfügt über eine sehr heterogene Wahlbevölkerung aus vielen Nationalitäten mit ihren jeweiligen geschichtlichen, kulturellen und religiösen Vergangenheiten und Erfahrungen.944 Um diese Menschen dennoch „in Vielfalt zu einen“945, bedarf es umso mehr einer Person, die sich auf eine kurze Legitimationskette zum gesamten Unionsvolk stützen kann und umgekehrt durch ihre Kompetenzausübung „von oben“ Einheitlichkeit nach innen und nach außen vermittelt. Der Kommissionspräsident hat sowohl eine einem Staatsoberhaupt als auch eine einem Regierungschef vergleichbare Stellung.946 Er würde als direkt legitimiertes Unionsoberhaupt die Interessen der Unionsbürger vertreten und könnte so der Europäischen Union zu einem Gesicht und – aufgrund der Ansprechbarkeit einer Einzelperson – zu größerem internationalen Einfluss verhelfen. Bei der Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger wären es gleichfalls die Spitzenkandidaten, die grenzüberschreitend Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen Programme diskutierten. Durch die Medien würden des Weiteren Vergleiche der Spitzenkandidaten und ihrer Programme angestellt, diskutiert und bewertet. In Meinungsumfragen in den verschiedenen Mitgliedstaaten könnten Trends bezüglich der Kandidaten und ihrer Programme ermittelt werden. Es könnte Umfragen zu Themenschwerpunkten aus der Sicht der Wähler geben. Weiter wären Dialoge und Streitgespräche während des Wahlkampfs zwischen den Spitzenkandidaten möglich, die, transportiert durch die Medien, in allen Mitgliedstaaten von den europäischen Bürgern verfolgt werden könnten. Auf diesem Weg könnte eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit erzeugt werden, die einen Grundstein für das Bewusstsein der Existenz eines europäischen Volkes schaffen könnte. Die Entscheidung für eine solchermaßen ausgestaltete Wahl könnte somit eine identitätsstiftende Wirkung mit sich bringen.947 Ein Wahlkampf um das Amt des Kommissionspräsidenten wäre mithin ein Gewinn für die europäische IntegraHöreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, S. 273. So auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 722, der für die Einführung eines europaweiten Bürgerentscheids plädiert, um einen neuen Legitimationsstrang zu begründen. 944 Siehe S. 54 f. 945 Angelehnt an die Präambel des Verfassungsvertrags (fünfter Absatz) „in Vielfalt geeint“. 946 Siehe S. 244 ff. 947 Nemitz, Europa-Wahl 1999, IP 1998, 45 (47). 942 943

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tion, weil durch die Konkurrenzsituation zwischen den Parteien und Kandidaten politische Motive, Ansichten und auch mögliche Alternativen gegenüber dem Bürger offen gelegt würden. Dies schafft Transparenz und mithin Vertrauen. Das praktische Problem der unterschiedlichen Sprachen stellt bei einem europäischen Wahlkampf kein unüberwindbares Hindernis dar.948 Der Unterricht einer Fremdsprache ist überall in Europa – außer in Irland und Schottland949 – verbindlich vorgeschrieben. In der Regel ist dies bereits im Primarbereich der Fall.950 Zudem können sowohl durch die modernen Medien als auch durch die örtlichen Parteibüros Aufklärungsarbeit und Wahlkampf in der Landessprache geleistet werden. Europäische Fragen können somit auch in unterschiedlichen europäischen Sprachen ausreichend deutlich vermittelt und in einem demokratischen Prozess entschieden werden.951 Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger würde ihm eine starke demokratische Legitimation und zugleich den Bürgern eine stärkere europäische politische Funktion geben.

C. Struktur der Kommission Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch die Europäischen Bürger bzw. durch das Europäische Parlament legt weitere Konsequenzen nahe, die seine Stellung innerhalb der Kommission betreffen. Wird der Kommissionspräsident durch die Bürger der Europäischen Union oder das Europäische Parlament gewählt, liegt in diesem Wahlakt zugleich ein Führungs- und Gestaltungsauftrag. Mit diesem Auftrag wird eine gesteigerte politische Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten begründet, der er nur dann gerecht werden kann, wenn ihm hinreichende politische Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. In materieller Hinsicht verfügt der Kommissionspräsident insofern über die Leitlinienkompetenz. Ihre Reichweite erlaubt es dem Kommissionspräsidenten, der Kommission seine politischen Ziele als verbindliche Leitlinien vorzugeben.952 In einem gewissen Widerspruch zu der materiell starken Stellung des Kommissionspräsidenten steht seine Abhängigkeit von den Mitgliedstaaten bei der Beset948 Beispielsweise benannte Hallstein die Schweiz als Vorbild dafür, dass sprachliche Vielfalt nicht begrenzt, sondern bereichert. Ferner führte er die Niederländer an, von denen viele ebenfalls mehrere Spachen fließend sprechen. Ders., Die europäische Gemeinschaft, S. 14. 949 Eurydice – Das Informationsnetz zum Bildungswesen in Europa, Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa, S. 23. 950 Prozentuale Angaben hierzu bei Eurydice – Das Informationsnetz zum Bildungswesen in Europa, Schlüsselzahlen zum Sprachenlernen an den Schulen in Europa, S. 9 ff. 951 Ebenso Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus der Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, 315 (324). Anders Grimm, der der Ansicht ist, dass die Sprachproblematik einer Legitimationsvermittlung über das Europäische Parlament im Wege steht, ders., in: Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1994, 581 (588). 952 Siehe S. 158 ff.

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zung der Kommission. Der umfassenden Leitlinienkompetenz steht somit keine umfassende Organisationsgewalt in Bezug auf die Kommission als „seiner Regierung“ gegenüber. Zunächst setzt der Vertrag von Nizza die Anzahl der Kommissare auf 25 fest (vgl. Art. 213 Abs. 1 Satz 2 EG). Erst wenn die Europäische Union 27 Mitglieder umfasst, tritt ein System der gleichberechtigten Rotation in Kraft (Art. 4 Abs. 2 des Protokolls über die Erweiterung der Europäischen Union).953 Der Kommissionspräsident ist somit an eine feststehende Anzahl von Kommissaren gebunden. Ferner ist der Kommissionspräsident in Bezug auf die Auswahl „seiner“ Kommissare nicht frei. Aus den Vorschlägen der Mitgliedstaaten wird eine Kandidatenliste erstellt, über die der Rat im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten entscheidet.954 Auch wenn der Kommissionspräsident unter anderem wegen des erforderlichen Einvernehmens über verschiedene Einflussmöglichkeiten955 verfügt, kann er im Ergebnis nicht gegen den Willen des Rates bzw. der Mitgliedstaaten einen Kommissar benennen.

I. Anzahl der Kommissare Diese Einschränkungen der Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten beinträchtigen schon heute seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verpflichtung des Kommissionspräsidenten, einer vorgegebenen Anzahl von Kommissaren Ressorts zuzuweisen, führt dazu, dass er 25 bzw. 27 annähernd gleich große und wichtige Ressorts schaffen muss. 1. Zergliederung der Kommission Wirft man einen Blick auf die der Europäischen Union übertragenen Kompetenzen, folgt daraus hingegen eine deutlich geringere Anzahl von Aufgabenbereichen. Selbst wenn man jeder in Art. 3 Abs. 1 EG genannten Aufgabe einen Kommissar zuordnen würde, käme man lediglich auf eine Anzahl von 21 Ressorts. Diese Zahl erscheint allerdings noch zu hoch gegriffen, weil einzelne in Art. 3 Abs. 1 EG getrennt aufgeführte Aufgaben kaum verschiedenen Ressorts zugeordnet werden können. Dies betrifft namentlich die dem Binnenmarkt zuzuordnenden Aufgaben des Art. 3 Abs. 1 lit. a), c) und h) EG sowie die Handelspolitik in Art. 3 Abs. 1 lit. b) und s) EG. Selbst wenn man nur diese vorsichtige und kaum abschließende Korrektur der Aufgabenbereiche vornimmt, kommt man auf die Anzahl von 18 sinnvollen Ressorts. Fügt man diesem Ergebnis die in Art. 3 Abs. 1 EG nicht aufgeführten Ressorts für Haushaltsangelegenheiten und Außenbeziehungen hinzu, kommt man allenfalls auf eine Anzahl von 20 Ressorts. Der von 953 954 955

Siehe S. 120. Siehe S. 139 ff. Siehe S. 139 ff.

17 Staeglich

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

der Kommission in Auftrag gegebene Spierenburg-Bericht956 betonte sogar, neben den Aufgaben des Vorsitzes und der internen Koordination und Planung sei es nicht möglich, mehr als zehn gewichtige Ressorts mit gleichwertiger Bedeutung zu schaffen.957 Ist also der Kommissionspräsident gezwungen, mehr Ressorts zu schaffen als sinnvollerweise erforderlich sind, führt dies zu einer Aufspaltung von Aufgabenbereichen, die auch aus der Sicht des Art. 3 Abs. 1 EG eine Einheit darstellen. Offenkundig wird dieses Dilemma am Beispiel der gegenwärtig amtierenden Kommission. Kommissionspräsident Barroso sah sich gezwungen, die Zuständigkeit für die Fischerei von der Zuständigkeit für die Landwirtschaft zu trennen, obwohl die Fischerei gemäß Art. 32 Abs. 1 EG ausdrücklich einen Unterfall der Landwirtschaft darstellt. Ferner schaffte er getrennte Ressorts für Binnenmarkt und Steuern, obwohl die Gemeinschaft im Steuerbereich jenseits des Binnenmarkts (Art. 93 EG) über keine Kompetenzen verfügt.958 Wenig sinnvoll erscheint es darüber hinaus, die Bereiche Energie und Transport in zwei Ressorts aufzuspalten, obwohl die gemeinsame Generaldirektion Energie und Transport fortbesteht.959 Nur mit derartigen Maßnahmen, die im Widerspruch zu einer politisch sinnvollen Gliederung der Kommission stehen, war Barroso in der Lage, der starren Vorgabe des EG-Vertrags gerecht zu werden. Von der Problematik der Zergliederung abgesehen stellt sich ohnehin die Frage, ob eine derart große Anzahl von Kommissaren der Arbeitsfähigkeit der Kommission zuträglich ist.960 Da die Kommission als Kollegium arbeitet, wird die Konsensfindung und Beschlussfassung mit zunehmender Größe naturgemäß schwieriger.961 Nicht zuletzt deshalb wird im politischen Bereich die Idealgröße der Kommission mit zehn962 bis 15963 Mitgliedern angesetzt.

Siehe S. 214 ff. Spierenburg, Vorschläge, S. 9. 958 Vgl. dazu den Überblick und die weiteren Nachweise bei Hobe, Europarecht, Rn. 355 ff. 959 Schild, Barrosos „blind date“ in Brüssel – Auf dem Weg zu einer Parlamentarisierung der Kommissionsinvestitur?, integration 2005, 33 (36). 960 Kritisch etwa Epping, der eine Kommission mit 25 Mitgliedern kaum mehr für arbeitsfähig erachtet, ders., Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (822); Ersboll, der sogar betont, es gelte als gesichert, dass die Funktionsfähigkeit der Kommission ganz erheblich eingeschränkt werde, ders., in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 22 (28). Ebenso Davignon, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 12 (16); Bauer, Orientierungsnot im Machtdreieck: Die Europäische Kommission auf der Suche nach einem neuen Leitbild, integration 2005, 47 (53); Càmia, in: Mégret, Le droit de CE et de l’Union Européenne, Bd. 9, S. 204, Rn. 17; Schäfer betonte schon 1991 ein Kapazitätsdefizit, ders., Die institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft: Überlegungen zu neuen Strukturen der EG-Institutionen, DÖV 1991, 261 (263). 961 Siehe S. 174 f. 962 Lamers, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 34 (43). 956 957

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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Sprechen diese Argumente also dafür, die Anzahl der Kommissare erheblich zu verringern, lässt sich der Grundsatz, dass der Kommission ein Staatsangehöriger je Mitgliedstaat angehört (Art. 213 Abs. 1 Satz 2 EG), nicht mehr aufrechterhalten. Das bereits mit dem Vertrag von Nizza und später im Verfassungsvertrag eingeführte Rotationsprinzip964 reduziert zwar die Anzahl der Kommissare, doch ist der Kommissionspräsident weiterhin an eine feste Zahl von Kommissaren einer bestimmten Staatsangehörigkeit gebunden, denen er Ressorts zuweisen muss. Selbst wenn diese Zahl unter der Zahl der Mitgliedstaaten liegt, bleibt die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten insofern eingeschränkt, als dass er nicht frei über die Anzahl der Ressorts entscheiden kann. 2. Landsmannprinzip Sowohl die derzeitige Regelung, nach der jede Staatsangehörigkeit in der Kommission vertreten ist (Landsmannprinzip), als auch das Prinzip der gleichberechtigten Rotation drücken den Grundsatz der Gleichheit der Staaten aus („one state one vote“). Den Sinn dieses Grundsatzes sehen die Mitgliedstaaten darin, die Glaubwürdigkeit der Kommission gegenüber den Bürgern und gegenüber den Mitgliedstaaten zu stärken. Die Mitgliedstaaten halten es für notwendig, mit einem „eigenen“ Kommissar in der Kommission vertreten zu sein.965 Anders lassen sich auch die Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung der Kommission während der Beratungen über den Verfassungsvertrag nicht deuten.966 Sinnvoll erklären lässt sich dieses Verhalten nur, wenn sich die Staaten durch ihren jeweiligen Kommissar selbst in der Kommission vertreten sehen.967 Dann würde das Kriterium der Gleichheit einen Sinn bekommen, denn kein Staat würde mehr Rechte als ein anderer besitzen. Die Kommission wäre ein Ausdruck der Gleichheit der Staaten. Dies läuft aber gerade der Gründungsintention der Kommission als Vertreterin 963 Lipsius, The 1996 Intergouvernmental Conference, ELR 1995, 235 (252). Eine Zahl von 20 Kommissaren wird jedenfalls als zuviel erachtet, siehe Davignon, in: The Philip Morris Institute, Wie sieht die Zukunft der Europäischen Kommission aus?, 12 (16); Schmitt von Sydow, in: v. der Groeben / Schwarze, EG-Komm., Art. 213, Rn. 14 m. w. N. Anders Einem, der die Zahl von 15 Kommissaren als willkürlich ansieht und eine Anzahl von 20 Kommissaren als durchaus führbar und vertretbar erachtet, ders., Eine Verfassung für Europa, EuR 2004, 202 (207). 964 Siehe S. 123. 965 So auch Brok, der es nicht für vorstellbar erachtet, dass einige Länder auf ein eigenes Kommissionsmitglied verzichten. Er schlägt stattdessen eine Aufteilung in Senior- und Juniorkommissare vor. FAZ vom 1. 6. 1999, S. 14. 966 Siehe S. 141 ff. 967 Hierzu Scholl, der die Berufung der Mitgliedstaaten auf einen eigenen Kommissar angesichts des besonderen Charakters der Kommission als supranationales, lediglich dem Gemeinschaftswohl verpflichteten Organ als befremdlich konstatiert, ders., Wie tragfähig ist die neue institutionelle Architektur der EU? Der Verfassungsentwurf des Konvents im Spiegel nationalstaatlicher Präferenzen, integration 2003, 204 (209).

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

europäischer Interessen zuwider. Ist die Kommission ein Organ, das im europäischen Sinne handelt, dürfen die einzelnen Kommissare gerade nicht als Vertreter ihrer Staaten gesehen werden, sondern müssen sich auch faktisch von deren Einfluss lösen, wie es im Übrigen auch von Art. 213 Abs. 2 EG vorgesehen wird. Gleichzeitig messen die Mitgliedstaaten diesem Punkt der Vertretung jeder Nationalität in der Kommission eine Bedeutung bei, die sie weder von Anfang an hatte, noch in Zukunft haben sollte. Denn weder in den ursprünglichen Vertragsfassungen war die Anwesenheit jedes Mitgliedstaats in der Kommission vorgesehen968, noch gibt es derzeit Vorgaben, nach denen ein ausgeschiedenes Mitglied in jedem Fall zu ersetzen ist. Der Rat kann im Gegenteil einstimmig entscheiden, ein ausgeschiedenes Mitglied nicht zu ersetzen (Art. 215 Abs. 2 Satz 2 EG und Art. III-348 Abs. 2 Satz 2 VV). In der Thorn-Kommission (1981 – 1985) wurden beispielsweise die Kommissare Ortoli und Pisani nicht ersetzt.969 Diese Kommission enthielt danach keinen französischen Staatsangehörigen mehr. Ebenso wurde der Kommissionspräsident Santer nach seiner Wahl in das Europäische Parlament am 13. Juni 1999 und noch vor der Ernennung der ProdiKommission von seinem Amt entbunden und nicht ersetzt.970 Diese Kommission enthielt somit keinen luxemburgischen Staatsangehörigen mehr. Die Möglichkeit, ausscheidende Kommissare nicht zu ersetzen, entspricht der Vorgabe, dass die Kommission im Gemeinschaftsinteresse und nicht im nationalstaatlichen Interesse handelt. Dagegen spricht allerdings, dass der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Kommissare durchaus vertraglich angelegt ist. Denn allein durch die vertraglich verankerte Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Kandidatenvorschläge einzureichen, können sie Personen ihres Vertrauens nominieren, von denen sie sich beispielsweise eine besondere Berücksichtigung der Belange ihres jeweiligen Staates versprechen. Der Vertrag schafft somit eine faktische Einflussmöglichkeit der Mitgliedstaaten auf die Kandidaten, die oftmals der jeweiligen Regierungspartei entstammen und vor ihrer Amtszeit ein offizielles Amt innehatten. Beispielsweise war der Deutsche Verheugen Staatsminister im Auswärtigen Amt, bevor er von 1999 bis 2004 zunächst Kommissar für Erweiterung, dann ab 2004 bis voraussichtlich 2009 Kommissar für Unternehmen und Industrie wurde. Der Österreicher Fischler war in seinem Heimatstaat Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, bevor er von 1995 bis 2004 Kommissar für Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Fischerei wurde. Bei einer derart engen Bindung an die nationalen Regierungen liegt es auf der Hand, dass informelle Einwirkungen vorkommen. Dies gilt auch, weil die Kommissare nach ihrer Amtszeit möglicherweise in ihren Heimatstaat zurückkehren und erneut ein offizielles Amt bekleiden möchten. Siehe S. 214. Beschlüsse des Rates vom 6. 11. 1984 (ABl. 1984 Nr. L 299, S. 27) und 11. 12. 1984 (ABl. 1984 Nr. L 341, S. 88). 970 Beschluss des Rates vom 9. 7. 1999 (ABl. 1999 Nr. L 192, S. 53). 968 969

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Der Vertrag enthält somit zwei gegenläufige Regelungen: Einerseits besteht das doppelte Verbot sowohl an die Kommissare, keine Anweisungen entgegenzunehmen, als auch an die Mitgliedstaaten, die Kommissare nicht bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beeinflussen (Art. 213 Abs. 2 EG). Andererseits enthält der Vertrag die Regelung, dass die Mitgliedstaaten Kandidaten vorschlagen (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG) und sie somit Personen ihres Vertrauens in der Kommission platzieren können. Durch dieses Vorschlagsrecht wird den Mitgliedstaaten Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Kommission eingeräumt. Beide Regelungen stehen in einem latenten Widerspruch zueinander. Das System der gleichberechtigten Rotation ändert an diesem Befund nichts. Der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Zusammensetzung der Kommission bleibt bestehen. Im Unterschied zur heutigen Situation haben lediglich nicht alle Mitgliedstaaten zugleich diese Einflussmöglichkeit. 3. Notwendigkeit klarer Entscheidungsstrukturen Folglich besteht ein Widerspruch zwischen dem Verbot für die Mitgliedstaaten, auf die Kommissare einzuwirken (Art. 213 Abs. 2 Satz 4 EG), und ihrem Vorschlagsrecht, durch das sie Einfluss auf die Besetzung der Kommission ausüben können (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG). Zwar lässt sich aus der Entstehungsgeschichte der Europäischen Union begründen, dass der Einfluss der Mitgliedstaaten angelegt wurde, um ihnen eine Kontrollmöglichkeit über die übertragenen Hoheitsrechte zu belassen.971 Dennoch ist die mitgliedstaatliche Einflussmöglichkeit bei fortschreitender Integration unter demokratischen Gesichtspunkten angreifbar. Die mitgliedstaatlichen Einflussmöglichkeiten auf die von ihnen vorgeschlagenen Kommissare sorgen für eine Verflechtung zwischen Institutionen, die sich gegenseitig kontrollieren sollen. Auch wenn eine strikte Gewaltenteilung zwischen den Organen der Europäischen Union nicht durchgehalten wird, lassen sie sich doch den einzelne Sphären zuordnen. So nehmen das Parlament und der Rat legislative Funktionen wahr. Das Parlament lässt sich dabei den Bürgern zuordnen, der Rat vertritt die Interessen der Staaten. Die Kommission kann dagegen als europäische Exekutive bezeichnet werden. Im Gegensatz zu einer klaren Gewaltenteilung steht beispielsweise, dass bei der Kommission auch legislative Funktionen angesiedelt sind wie das Monopol zur Gesetzesinitiative (Art. 250 Abs. 1 EG). Eine Gewaltenteilung mit klaren nachvollziehbaren Strukturen wird jedoch umso notwendiger, je mehr Kompetenzen auf die Europäische Union verlagert werden. So gehört es zu den demokratischen Voraussetzungen, dass die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind.972 Vertraglich angelegte, gleichwohl aber informelle Einflussstränge sind dagegen intransparent und schwer 971 972

Siehe S. 21 ff. und S. 110 ff. BVerfGE 89, 155 (185).

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

kontrollierbar. Die Mitgliedstaaten können eine Person ihres Vertrauens vorschlagen und sich durch sie Einfluss auf Entscheidungen der Kommission sichern. Der Bürger kann anschließend nicht nachvollziehen, ob ein Kommissar eine bestimmte Entscheidung getroffen hat, weil eine enge Bindung mit seinem Heimatstaat besteht. Das Ziel muss also darin bestehen, klare Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Dazu gehört auch, die Kommission vom Einfluss der Mitgliedstaaten abzukoppeln. Die Mitgliedstaaten können ihren Einfluss in ihrer Sphäre, dem Rat, geltend machen. Möchte man die Kommission vom Einfluss der Mitgliedstaaten frei halten, gilt hinsichtlich der Anzahl der Kommissare, dass es keinen Grund gibt, an dem Prinzip „ein Kommissar je Mitgliedstaat“ festzuhalten. Es spricht also nichts dagegen, die Anzahl der Kommissare zu reduzieren. Damit stellt sich die Frage, wie viele Kommissare einer Kommission zweckmäßigerweise angehören sollten. Diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Die Anzahl der benötigten Kommissare richtet sich nach dem Arbeitsprogramm des zuvor gewählten Kommissionspräsidenten und seiner Schwerpunktsetzung. Aus dieser Perspektive erscheint es sinnvoll, den gewählten Kommissionspräsidenten selbst entscheiden zu lassen, wie viele Kommissare er zur Erfüllung seiner politischen Ziele benötigt. Er könnte dann die Anzahl der Kommissare nach den benötigten Zuständigkeitsbereichen ausrichten. Eine „nationale Quote“ wäre angesichts der Verpflichtung der Kommission auf das Gemeinschaftsinteresse nicht erforderlich.973 Diese Sichtweise entspricht den bereits vorhandenen gubernativen Kompetenzen des Kommissionspräsidenten und fügt sich ein in das System eines Oberhaupts mit regierenden Funktionen. Die derzeitige Regelung dagegen, die die Zuständigkeitsbereiche an der Anzahl der Kommissare ausrichtet, schränkt nicht nur die Effektivität der Kommission ein, sondern auch die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten.

II. Kandidatenliste Eine weitere Einschränkung des Kommissionspräsidenten im Hinblick auf seine personelle Organisationsgewalt974 bedeutet seine Abhängigkeit von der Kandidatenliste des Rates. Die Kandidaten können zwar nur im Einvernehmen mit dem designierten Kommissionspräsidenten benannt werden (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG), doch dies bedeutet für den Kommissionspräsidenten, dass er ohne eine qualifizierte Mehrheit des Rates gleichfalls keinen Kandidaten benennen kann. Bezogen auf den Kommissionspräsidenten heißt dies, dass er bei der Verwirklichung seiner personellen Vorstellungen von der Zustimmung des Europäischen Rates abhängt. 973 Pernice, Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 (2000), 205 (227). 974 Siehe S. 157 ff.

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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Diese Abhängigkeit des Kommissionspräsidenten schränkt ihn in seiner personellen Organisationsgewalt ein. Er kann nicht wie beispielsweise der deutsche Bundeskanzler bei der Zusammenstellung seines Kabinetts rechtlich weitestgehend frei über die Personalauswahl in der Kommission entscheiden. Erteilt man dem Kommissionspräsidenten jedoch einen Führungs- und Gestaltungsauftrag, den er mithilfe der Kommissare wahrnehmen soll, wäre es kontraproduktiv, Kandidaten für die Kommission zu benennen, die nicht das Vertrauen des Kommissionspräsidenten genießen. Einer solchen Benennung wurde teilweise vorgebeugt, indem das Einvernehmen des Kommissionspräsidenten erforderlich ist (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG). Dennoch ist beim derzeitigen Benennungsverfahren sowohl die Kompromissbereitschaft des designierten Kommissionspräsidenten als auch die des Rates erforderlich. Fraglich ist allerdings, ob Kompromisse des Kommissionspräsidenten in diesem Fall den Vertragszielen dienlich sind. Vertragsziele sind etwa das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes (Art. 211 EG). Um diese Vertragsziele zu erreichen, wurde dem Kommissionspräsidenten die politische Führung der Kommission auferlegt. Effektiv wahrnehmen lässt sich eine politische Führungsfunktion jedoch nur dann, wenn die der politischen Führung unterliegenden Kommissare den Kommissionspräsidenten loyal unterstützen. Darüber hinaus muss der Kommissionspräsident den Kommissaren dahingehend vertrauen können, dass diese seine politischen Ziele mittragen und beispielsweise seine Leitlinienvorgaben erfüllen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist somit unerlässlich. 1. Benennungsrecht als Kehrseite der Rücktrittsaufforderung Zum Ausdruck kommt die Notwendigkeit einer solchen vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Möglichkeit des Kommissionspräsidenten, eine verbindliche Rücktrittsaufforderung auszusprechen. Der Vertrag von Nizza gestattet es dem Kommissionspräsidenten, mit Billigung des Kollegiums Kommissare aus jedem Grund zum Rücktritt aufzufordern (Art. 217 Abs. 4 EG). Der Verfassungsvertrag vergrößert den Einfluss des Kommissionspräsidenten, indem die Billigung des Kollegiums für eine verbindliche Rücktrittsaufforderung nicht mehr erforderlich ist (Art. I-27 Abs. 3 Satz 2 VV).975 Beide Regelungen gewähren dem Kommissionspräsidenten Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Kommission und ermöglichen es ihm, Kommissare, die nicht sein Vertrauen besitzen, zu entlassen. Wenn die Kommission demnach aus Personen bestehen soll, die das Vertrauen des Kommissionspräsidenten genießen und die seine Politik mittragen, wäre es konsequent, dem Kommissionspräsidenten bereits zu Beginn seiner Amtsperiode die Kompetenz zukommen zu lassen, Personen seines Vertrauens in die Kommission zu berufen. Das Recht zur Benennung von Personen seines Vertrauens als Kandidaten stellt daher die Kehrseite seiner schon heute vorhandenen Kompetenz 975

Siehe S. 206.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

dar, für nicht vertrauenswürdig befundene Kommissare zum Rücktritt aufzufordern. Wird dem Kommissionspräsidenten daher die Personalauswahl als Kehrseite der Rücktrittsaufforderung zugestanden, könnte er ungeachtet der Nationalität Kandidaten seines Vertrauens auswählen. 2. Begrenzung des informellen Einflusses der Mitgliedstaaten Der oben bereits beschriebene vertraglich bestehende Widerspruch zwischen dem Verbot für die Mitgliedstaaten, auf die Kommissare einzuwirken (Art. 213 Abs. 2 Satz 4 EG), und ihrem Vorschlagsrecht, durch das sie Einfluss auf die Besetzung der Kommission ausüben können (Art. 214 Abs. 2 Satz 2 EG)976, wäre gleichfalls aufgelöst. Informelle Einflussstränge, die beispielsweise bestehen, wenn eine Persönlichkeit in die Kommission berufen wird, die von der nationalen Regierung vorgeschlagen wird, in der sie zuvor tätig war, können bei einer Berufung durch den Kommissionspräsidenten begrenzt werden. Der mitgliedstaatliche Einfluss auf die Auswahl der Kommissare würde begrenzt, wenn der Kommissionspräsident selbstständig entscheiden könnte, welche Persönlichkeiten er in sein Kollegium berufen möchte. Möglich wäre es dabei, dem Kommissionspräsidenten ähnliche Auflagen wie den Kommissaren bei ihrer Kabinettsbesetzung zu erteilen.977 Dem Kommissionspräsidenten könnte eine Mindestanzahl verschiedener Nationalitäten vorgegeben werden, die in seiner Kommission vertreten sein müssten. Sein Stellvertreter müsste beispielsweise eine andere Nationalität als er selbst aufweisen, und er müsste auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen achten.978 Ein Auswahlrecht des Kommissionspräsidenten für die Kommissare stärkt nicht nur die personelle Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten, sondern entspricht auch dem Selbstbestimmungsrecht der Exekutive in Staaten. Sowohl der deutsche Bundeskanzler als auch der französische Premierminister wählen ihr Kabinett selbst aus. Das Auswahlrecht des Kommissionspräsidenten in Bezug auf die Kommissare entspricht mithin einem Kommissionspräsidenten als einem Unionsoberhaupt mit gubernativen Kompetenzen. III. Zustimmungsvotum des Parlaments Die bislang aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten sehen eine Wahl des Kommissionspräsidenten direkt durch die Bürger oder das Europäische Parlament vor und Siehe S. 139 f. Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485. 978 Vgl. die Regeln für die Zusammensetzung der Kabinette der Kommissionsmitglieder und die Sprecher, SEK (2004) 1485, S. 2 f. 976 977

3. Kap.: Vorschläge für eine institutionelle Reform

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stärken die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten durch die selbstständige Bestimmung der Anzahl und Persönlichkeiten der Kommissare. Gelangt man zu diesem Punkt, stellt sich die Frage, ob das bislang erforderliche Zustimmungsvotum des Parlaments (Art. 214 Abs. 2 Satz 3 EG; Art. I-27 Abs. 2 Satz 2 VV) weiterhin notwendig ist. Der Kommissionspräsident besitzt weit reichende gubernative Kompetenzen, die denen eines Regierungschefs ähneln.979 Ferner erhält er mit der Wahl durch die Bürger oder das Europäische Parlament ein hohes Maß an Legitimation. Er sucht sich „seine“ Kommissare in quantitativer und personeller Hinsicht aus. Ein Zustimmungsvotum des Parlaments würde das Auswahlrecht des Kommissionspräsidenten dagegen schwächen. Bei der Nichterteilung der Zustimmung wäre der gerade gewählte Kommissionspräsident nur unter erschwerten Bedingungen in der Lage, seine politischen Ziele nach seinen Vorstellungen zu verwirklichen. Durch das Zustimmungsvotum würde ein Übergriff in die Sphäre des Kommissionspräsidenten stattfinden. Es würde in die Selbstorganisation der Exekutive namentlich in die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten eingegriffen. Einer effektiven Kontrolle der Kommission durch das Parlament steht nicht entgegen, dass letzteres kein Zustimmungsvotum mehr besitzen soll. Eine Kontrolle der Kommission ist durch das Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments (Art. 201 EG), das Abnehmen des jährlichen Gesamtberichts (Art. 200, 212 EG) oder die Möglichkeit des Einsetzens von Untersuchungsausschüssen (Art. 193 EG) gewährleistet. Den Gesamtbericht gibt der Kommissionspräsident jährlich zusammen mit einer Art Regierungserklärung vor dem Europäischen Parlament ab.980 Auch die Möglichkeit des Parlaments, einem einzelnen Kommissar das Vertrauen zu entziehen und daraufhin den Kommissionspräsidenten aufzufordern, eine Rücktrittsaufforderung zu prüfen981, unterstützt das Parlament in seinem Kontrollauftrag. Die Wahl des Kommissionspräsidenten und der damit verbundene Gestaltungsauftrag würden demgegenüber empfindlich beeinträchtigt, wenn der Kommissionspräsident nicht die Kompetenz hätte, Kommissare auszuwählen, die seine politischen Leitlinien umsetzen sollen. Ein negatives Votum des Parlaments könnte der Umsetzung seiner politischen Ziele entgegenstehen, obwohl der Kommissionspräsident zuvor den Auftrag zu deren Umsetzung erhalten hat. Ein Zustimmungsvotum des Parlaments zur Kommission wäre daher bei einer Konstellation, in der der Kommissionspräsident durch die Bürger respektive das Europäische Parlament gewählt wird und die Kommissare zur Umsetzung seiner politischen Ziele selbst auswählt, unangebracht.

979 980 981

Siehe S. 244 f. Dietz / Fabian, Das Räderwerk der Europäischen Kommission, S. 46. Siehe S. 205 f.

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2. Teil: Das Oberhaupt der Europäischen Union

D. Ergebnis Bei der Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger liegt der Vorteil in einer direkten Einbindung der Bürger und einer direkten Legitimation, die den Kommissionspräsidenten in seiner Position stärkt. Andererseits wäre zu beachten, dass das Europäische Parlament überhaupt keine Mitbestimmungsrechte mehr hätte. Ein vollständiger Ausschluss des Europäischen Parlaments bei der Entscheidung über die Person des Kommissionspräsidenten könnte beide Institutionen weiter voneinander entfernen, was sich negativ auf ihre Zusammenarbeit auswirken könnte. Bestehende Rivalitäten, die bei einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament entfielen, würden möglicherweise neu aufleben. Europa muss sich daher entscheiden, welchen Weg es einschlagen möchte: einen Weg, bei dem der Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt und dieses somit gestärkt wird, oder einen Weg, bei dem eine direkte Beteiligung der Bürger erreicht werden soll. Der durch die Bürger oder das Europäische Parlament gewählte Kommissionspräsident sollte schließlich die Möglichkeit haben sowohl die Anzahl der Ressorts als auch die Kommissare nach eigenem Ermessen anhand der Zielsetzungen seines Programms zu bestimmen. Ein Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments wäre nicht erforderlich. Aus Gründen der Ausgewogenheit und Akzeptanz sollte der Kommissionspräsident jedoch unterschiedliche Nationalitäten in sein Kollegium berufen. Von einer nationalen Quote kann indes abgesehen werden, wenn man eine fortschreitende europäische Integration zum Ziel hat. Im Übrigen erscheint eine solche angesichts der Verpflichtung der Kommissare auf das Gemeinschaftsinteresse auch nicht erforderlich.982 Die Zusammensetzung der Kommission stellt insofern einen Indikator für den erreichten Integrationsstand dar. Beharren die Mitgliedstaaten weiterhin darauf, in der Kommission mit einem Staatsangehörigen vertreten zu sein, zeigen sie, dass sie das Gemeinschaftsinteresse als Resultante nationaler Interessen betrachten, also mehr in den Kategorien der Kooperation als der Integration denken.983 Mit dem Verzicht auf einen Kommissar der eigenen Staatsangehörigkeit gäben die Mitgliedstaaten hingegen zu erkennen, dass das Wohl der Gemeinschaft inzwischen von nationalen Interessen unabhängig zu definieren ist.

982 Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, JöR 48 (2000), 205 (227). 983 Fastenrath, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR 1994, Beiheft 1, 101 (109).

Wesentliche Ergebnisse Die geschichtliche Betrachtung des Kommissionspräsidenten zeigt seine Entwicklung zu einer europäischen Leitfigur. Insbesondere im Bereich der politischen Einflussnahme verfügt er heute über Kompetenzen, die es ihm ermöglichen, seinen politischen Führungsauftrag wahrzunehmen. Die Ausgangsfrage, ob der Kommissionspräsident als Oberhaupt der Europäischen Union angesehen werden kann, kann daher in einem Vergleich mit dem deutschen und französischen Staatsoberhaupt und – soweit es für die Untersuchung erforderlich war – den Regierungschefs beider Staaten positiv beantwortet werden. Ein Staatsoberhaupt zeichnet sich durch die Wahrnehmung einheitsstiftender Funktionen aus, die die staatliche Einheit, ihre Akzeptanz und die Unterstützung der Bürger für den Staat fördern.984 Diese Funktionen übt das Staatsoberhaupt nicht nur mit seinen Kompetenzen, sondern im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Stellung mit seinem gesamten Handeln aus. Der Kommissionspräsident besitzt wie die beiden Staatsoberhäupter eine herausgehobene Stellung im jeweiligen Gewaltengefüge. Er ähnelt aufgrund seiner einflussreichen politischen und rechtlichen Position indes mehr dem französischen Staatspräsidenten als dem deutschen Bundespräsidenten. Allerdings sind seine repräsentativen Aufgaben schwächer ausgeprägt, während sein politischer Einfluss in weiten Bereichen sogar über den des französischen Staatspräsidenten hinausgeht und dem eines Regierungschefs ähnelt. Im Amt des Kommissionspräsidenten vereinigen sich damit in gewisser Weise die Ämter eines Staatsoberhaupts und eines Regierungschefs.985 Die Verantwortlichkeit des Kommissionspräsidenten für sein Handeln besteht nicht nur gegenüber dem Parlament, sondern auch gegenüber dem Rat und der Kommission.986 Der Kommissionspräsident ist dabei nicht nur rechtlich, sondern auch politisch verantwortlich. Er kann nicht nur durch ein Amtsenthebungsverfahren, das durch einen Antrag des Rates oder der Kommission eingeleitet werden kann, abgesetzt werden, sondern (zusammen mit seiner Kommission) auch durch einen Misstrauensantrag des Parlaments. Da keines der beiden Staatsoberhäupter allein durch einen Misstrauensantrag abgesetzt werden kann, ist es möglich, den Kommissionspräsidenten für sein Handeln in größerem Maße als die beiden Staatsoberhäupter verantwortlich zu machen.987 Vergleichen lässt sich sein Grad an Ver-

984 985 986

Siehe S. 34 ff. Siehe S. 218 f. Siehe S. 129 ff.

268

Wesentliche Ergebnisse

antwortlichkeit als Ausdruck seiner gubernativen Kompetenzen daher mit dem eines Regierungschefs, der vom Parlament abhängig ist. Im gesamten Darstellungsbereich verfügt der Kommissionspräsident über weniger Kompetenzen als die genannten Staatsoberhäupter. Der Grund liegt bezüglich der Außendarstellung darin, dass sie nur auf Gebieten stattfinden kann, die der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten übertragen wurden und die sie nicht selbst beanspruchen. Da die Außendarstellung aber zum Kernbereich staatlicher Souveränität gehört, fanden dort bislang nur in geringem Umfang Kompetenzübertragungen durch die Mitgliedstaaten statt.988 In den Bereichen der Innendarstellung und der notariellen Aufgaben liegt die schwache Ausprägung von Kompetenzen des Kommissionspräsidenten darin begründet, dass die Europäische Union ein junges und lediglich „staatsähnliches“ Gebilde ist. Eine Tradition der Innendarstellung und der notariellen Aufgaben konnte sich daher bislang nicht herausbilden.989 Bei der Auswahl der Kommissare ist der Kommissionspräsident sowohl rechtlich als auch politisch gebunden.990 Sein Einfluss bezüglich der Auswahl der Kommissare ist somit geringer als derjenige, den die Regierungschefs in Bezug auf die Mitglieder ihrer Kabinette geltend machen können. Die untersuchten Regierungschefs sind in ihrem Kabinettsbildungsrecht zwar rechtlich, aber nicht politisch frei.991 Ein vergleichbares Kabinettsbildungsrecht steht dem Kommissionspräsidenten nicht zu. Der politische Einfluss des Kommissionspräsidenten ist somit zwar geringer als der Einfluss eines Regierungschefs, aber größer als derjenige der untersuchten Staatsoberhäupter. Ferner kann der Kommissionspräsident Kommissare verbindlich zum Rücktritt auffordern.992 Diese Kompetenz ähnelt der des deutschen und französischen Regierungschefs. Beide Regierungschefs können ihrem jeweiligen Staatsoberhaupt Minister zur Entlassung vorschlagen.993 Die Staatsoberhäupter selbst verfügen nicht über derartige rechtliche Möglichkeiten. Darüber hinaus bestimmt der Kommissionspräsident die Anzahl seiner Vertreter, sucht diese selbst aus und ernennt sie. Rechtlichen Vorgaben unterliegt er bei dieser Auswahl nicht. In der Praxis hält sich der Kommissionspräsident jedoch an eine parteipolitisch und geographisch ausgeglichene Ämtervergabe und nimmt mithin auf politische Gepflogenheiten Rücksicht.994 Die beiden untersuchten Staatsober987 988 989 990 991 992 993 994

Siehe S. 222 ff. Siehe S. 147 ff. Siehe S. 149 ff. und S. 225 ff. Siehe S. 139 ff. und S. 231 f. Siehe S. 231 f. Siehe S. 203 ff. Siehe S. 228 f. Siehe S. 202.

Wesentliche Ergebnisse

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häupter sind dagegen an rechtliche Vorgaben gebunden. Die Regierungschefs unterliegen wie der Kommissionspräsident politischen Zwängen.995 Der Kommissionspräsident besitzt schließlich eine Leitlinienkompetenz, die mit der Richtlinienkompetenz beider Regierungschefs vergleichbar ist.996 Sie umfasst sowohl die Erteilung von generellen Vorgaben als auch ausnahmsweise von Einzelweisungen. Ein Selbsteintrittsrecht des Kommissionspräsidenten besteht nicht. Ferner verfügt der Kommissionspräsident über eine Organisationsgewalt, die derjenigen des deutschen Regierungschefs ähnelt.997 Die Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten übertrifft weit die Möglichkeiten des französischen Regierungschefs und beider Staatsoberhäupter. Der Kommissionspräsident ist beiden Oberhäuptern somit nicht nur in seiner Stellung vergleichbar, sondern auch seine Kompetenzausstattung ist ebenbürtig. Bei einer näheren Betrachtung wird ersichtlich, dass die Ausgestaltung der Kompetenzen des Kommissionspräsidenten deutlich in Richtung derjenigen eines Oberhaupts in einem präsidialen System tendiert. Er besitzt gleichfalls viele Kompetenzen eines Regierungschefs. Der Kommissionspräsident stellt daher ein Oberhaupt mit gubernativen Kompetenzen dar. Das Selbstverständnis der bisherigen Amtsinhaber bestätigt dieses Ergebnis.998 Das Verhältnis innerhalb der Kommission zwischen dem Kommissionspräsidenten und den Kommissaren kann zusammenfassend in einem Drei-EbenenModell999 dargestellt werden. Ausgangspunkte sind hierfür die drei vertraglich verankerten Prinzipien der politischen Führung, der Kollegialität und der Ressortverantwortung. Das Prinzip der politischen Führung wirkt dabei auf Seiten des Kommissionspräsidenten, die Prinzipien der Ressortverantwortung und der Kollegialität eröffnen Möglichkeiten für die Kommissare. Auf der obersten, ersten Ebene ist dabei das Prinzip der politischen Führung angesiedelt. Ausfluss dieses Prinzips ist die Leitlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten. Mit Hilfe der Leitlinienkompetenz gibt der Kommissionspräsident die politische Richtung der Kommissionsentscheidungen vor. Gegen diese politische Richtung darf keine Entscheidung, die im Rahmen der beiden anderen Prinzipien gefällt wurde, verstoßen. Auf der zweiten Ebene folgt das Kollegialitätsprinzip. Das Kollegium handelt nach außen, konkretisiert die Leitlinien des Kommissionspräsidenten und entscheidet über die gemeinsam durchzuführende Politik, die schließlich von den einzelnen Ressorts intern umgesetzt werden soll. An dieser gemeinsam beschlossenen Politik müssen sich die einzelnen Ressortentscheidungen orientieren. 995 996 997 998 999

Siehe S. 229 ff. Siehe S. 234 ff. Siehe S. 237 ff. Siehe S. 210 ff. Siehe S. 198.

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Wesentliche Ergebnisse

Die Ressorts auf der dritten Ebene werden durch die jeweiligen Kommissare selbstständig geleitet. Ihnen sind intern die notwendigen Einzelfallentscheidungen übertragen, die sie bei einer Ermächtigung1000 des Kollegiums auch „für das Kollegium“ nach außen vertreten können. Entscheidungen, die über einen Einzelfall hinaus Bedeutung für die politische Richtung haben, können vom Kollegium an sich gezogen werden und ggf. neu entschieden werden oder Gegenstand einer Leitlinie des Kommissionspräsidenten sein. Es besteht daher für den Kommissionspräsidenten im Ausnahmefall eine Weisungsmöglichkeit in die zweite und dritte Ebene, wobei der jeweilige Kernbereich jedoch nicht verletzt werden darf. Mit einer solchen Weisung kann der Kommissionspräsident sicherstellen, dass die von ihm aufgestellten Richtungsvorgaben eingehalten werden. Das Instrument der Einzelweisung bietet ihm die Möglichkeit, für eine Einhaltung seiner Leitlinien zu sorgen. Da sich der Kommissionspräsident aufgrund bereits vollzogener sowie zukünftiger Erweiterungen der Europäischen Union sowohl personellen als auch strukturellen Problemen gegenübersieht, wurden in Bezug auf sein Ernennungsverfahren und den damit verbundenen Konsequenzen zwei Reformmodelle analysiert. Die eine Möglichkeit besteht in einer Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament1001, die zweite Möglichkeit ist eine Direktwahl durch die europäischen Bürger1002. Beide Modelle entsprechen demokratischen Anforderungen. Dennoch verschafft die Direktwahl dem Kommissionspräsidenten eine stärkere demokratische Legitimation und den Bürgern eine stärkere europäische politische Funktion, als wenn die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erfolgen würde. Möglich wäre allerdings die Einführung der Wahl durch das Europäische Parlament als Zwischenschritt, bevor es zu einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten kommt. In welche der beiden Richtungen – präsidial oder parlamentarisch – sich die Europäische Union zukünftig entwickeln wird, wird sich zeigen. Vieles deutet auf ein präsidiales System hin. Die einheitsstiftenden Funktionen eines Oberhaupts1003, die die Bürger der verschiedenen Völker einander näher bringen und sie in das bislang staatsähnliche Gefüge der Europäischen Union einbinden sollen, sind für eine weiterführende Integration unerlässlich. Es gilt, Verständnis bei den Bürgern zu wecken für die jeweils anderen Kulturen und ihre Eigenarten. Gemeinsamkeiten sollen betont und Unterschiede müssen erklärt werden. Ein Unionsoberhaupt hat die Aufgabe, einheitsstiftende Funktionen auszuüben. Aufgrund seiner Ähnlichkeit sowohl mit einem Staatsoberhaupt als auch einem Regierungschef nimmt der Kommissionspräsident viele dieser einheitsstiftenden Funktionen in der Europäischen Union schon heute wahr. Der Kommissionspräsident ist mithin das Oberhaupt der Europäischen Union. 1000 1001 1002 1003

Siehe S. 191 f. Siehe S. 250 ff. Siehe S. 254 ff. Siehe S. 34 ff.

Anhang A. Interview mit Frau Dr. Monika Wulf-Mathies vom 11. Mai 2005 Mitglied der Europäischen Kommission von 1995 – 1999, zuständig für Regionalpolitik und den Ausschuss der Regionen Inwieweit kommt dem Kommissionspräsidenten in der Praxis innerhalb der Kommission eine herausgehobene Stellung zu? Wulf-Mathies: Zunächst wird die stärker herausgehobene Position des Kommissionspräsidenten dadurch belegt, dass er auch vom Parlament gewählt wird. Dieser wichtige Faktor verleiht seiner Position per se Gewicht. In der Arbeitspraxis bestimmt er die Geschäftsverteilung, soweit er bei der Benennung der Kommission nicht den Wunsch eines Mitgliedstaats akzeptiert hat, dass einer Person ein besonderer Bereich zugeteilt wird. Die Arbeitsprogramme werden in den Kommissionsdienststellen erarbeitet. Zwar nimmt das Kollegium eine Priorisierung vor und beschließt das Arbeitsprogramm, doch kann ein starker Kommissionspräsident dabei durchaus politische Prioritäten vorgeben. Allerdings wird er dabei darauf achten, dass seine Positionen sowohl in der Kommission wie im Europäischen Rat und im Parlament mehrheitsfähig sind. In diesem Zusammenhang muss auch angemerkt werden, dass der Kommissionspräsident in den Sitzungen der Kommission nur eine Stimme hat und daher durch Sachargumente überzeugen muss. Es kommt durchaus vor, dass der Kommissionspräsident in Abstimmungen unterliegt. Möchte er Einfluss auf einen Kommissar nehmen, versucht er deshalb in der Praxis meist im Vorfeld der Kommissionssitzungen, für seine Position zu werben. Auch wenn der Kommissionspräsident in Abstimmungen den übrigen Kommissaren gleichgestellt ist, kann man sagen, dass er eine herausgehobene Stellung innerhalb der Kommission hat. Es hängt in erster Linie von seiner Autorität ab, wie weit er sich in der Kommission durchsetzen kann. Sind in diesem Zusammenhang im Vorfeld Einzelweisungen möglich? Wulf-Mathies: Einzelweisungen sind außerordentlich ungewöhnlich und nur im Ausnahmefall denkbar. Aber auch hier hängt viel von seiner Persönlichkeit und vom Rückhalt ab, den der Kommissionspräsident im Europäischen Rat genießt. Wahrscheinlich wird er bei sensiblen Themen nicht mit Einzelweisungen agieren, sondern bereits im Vorfeld mit dem betreffenden Kommissar sprechen und zum Ausdruck bringen, dass seiner Ansicht nach ein bestimmtes Thema in einer bestimmten Weise behandelt werden sollte. Wenn er den betreffenden Kommissar auffordert, sich dementsprechend zu verhalten, hängt es wiederum von der Persönlichkeit dieses Kommissars ab, in wieweit dieser sich widersetzt und die offene Feldschlacht in der Kommission sucht. Das ist alles eine Frage der Sachautorität, der natürlichen Autorität und der Geschicklichkeit. Die Persönlichkeitsfrage darf daher – neben allen juristischen Möglichkeiten – nicht unterschätzt werden. Ein starker Kommissionspräsident

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braucht die Stärkung durch den Vertrag eher nicht, ein schwacher Kommissionspräsident kann dagegen trotz seiner neuen starken Stellung im Vertrag scheitern. Könnte der Kommissionspräsident in diesem Zusammenhang auch Druck auf die Kommissare ausüben, indem er beispielsweise Neugliederungen bzw. Zuständigkeitsentzug androht? Wulf-Mathies: Theoretisch ist das durchaus denkbar, denn schließlich ist es auch der Kommissionspräsident, der die Geschäftsverteilung festlegt und der für die Umsetzung der beschlossenen Arbeitsprogramme verantwortlich ist. Allerdings wird er nur bei gravierenden politischen Meinungsverschiedenheiten über wesentliche Punkte zu derartigen Druckmitteln wie der Androhung des Zuständigkeitsentzuges greifen. Wie groß ist das tatsächliche Mitentscheidungsrecht des Kommissionspräsidenten bei der Auswahl der einzelnen Kommissare? Wulf-Mathies: Zunächst erhält der Kommissionspräsident Vorschläge von den Mitgliedstaaten. Im positiven Fall geschieht das im Dialog unter Würdigung von Personen und Qualifikationen. So muss der Kommissionspräsident beispielsweise daran interessiert sein, nicht nur Außen- oder Wirtschaftspolitiker vorgeschlagen zu bekommen, sondern alle Dossiers mit Sachverstand zu besetzen. Er wird daher gegebenenfalls an bestimmte Mitgliedstaaten herantreten und fragen, ob sie nicht einen Kandidaten für einen bestimmten Bereich hätten. Es hängt dann vom betreffenden Mitgliedstaat ab, ob er bereit ist, dem Wunsch des Kommissionspräsidenten zu folgen. Kleine Länder sind dabei vielfach kooperativer als große Mitgliedstaaten. Auf jeden Fall erfordert die Auswahl der Kommissare viel Verhandlungsgeschick. Grundsätzlich ist der Einfluss des Kommissionspräsidenten durchaus groß, auch wenn er vom Vorschlagsreservoir der Mitgliedstaaten abhängig ist und zusätzlich beispielsweise auf Fragen des Geschlechts und der geographischen Ausgewogenheit Rücksicht nehmen muss. Wählt der Kommissionspräsident seine Vizepräsidenten frei aus, oder entscheiden die Mitgliedstaaten in dieser Frage inoffiziell mit? Welche Befugnisse hat der Vizepräsident? Wulf-Mathies: Bei dieser Frage gibt es keine festen Vorgaben. Der Kommissionspräsident kann vollständig unabhängig entscheiden, in welchen Bereichen er Vizepräsidenten haben möchte. Sicherlich wird er aber versuchen, eine Balance herzustellen zwischen kleinen und großen, nördlichen und südlichen, westlichen und östlichen Staaten. Bei seiner Personalauswahl wird er weiter berücksichtigen, ob das Europäische Parlament seine Entscheidung überzeugend finden wird, oder, wenn er damit rechnet, auf Kritik zu stoßen, ob er sich zutraut, seine Entscheidung durchzusetzen. Möglich ist es beispielsweise, mit der Auswahl der Vizepräsidenten in bestimmten Bereichen Schwerpunkte zu setzen, die er für besonders wichtig hält. So wurden in der letzten Kommission die Dossiers der inneren Reform der Kommission und die Beziehungen zum Europäischen Parlament durch Vizepräsidenten hervorgehoben. Die Vizepräsidenten vertreten den Kommissionspräsidenten, wenn dieser bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben verhindert ist, hatten bislang aber sonst keine Führungsaufgabe. Denkbar ist aber, dass sie künftig die Federführung in Kommissars-Arbeitsgruppen übernehmen, womit auch ein sachlicher Einfluss verbunden wäre. Doch am Ende haben alle nur eine Stimme.

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Betrachtet man die Kompetenzen der Kommissare, besteht für diese ein eigenständiges Ressortprinzip, nach welchem sie in ihrem Bereich selbstständig Entscheidungen treffen und diese auch verantworten? Wulf-Mathies: Inhaltlich verantwortet der jeweilige Kommissar die laufenden Entscheidungen selbst. Er muss daher nicht jede Entscheidung von der Kommission absegnen lassen, richtungsweisende Entscheidungen allerdings schon. Diese Entscheidungen werden in der Regel von den Kabinetten vorbereitet, die sich mit ihren Kommissaren absprechen. Die einvernehmlichen Punkte werden als so genannte A-Punkte durchgewunken. Bestehen zwischen den Kabinetten Meinungsverschiedenheiten, wird die Entscheidung dem Kollegium vorgelegt. Obwohl die Kommission ein Kollegialorgan ist, ist dennoch der zuständige Kommissar politisch verantwortlich für das, was in seinem Bereich, seiner Generaldirektion geschieht. In der Praxis kann man dennoch nicht von einem klar durchgehaltenen Ressortprinzip sprechen, denn im Unterschied zu beispielsweise Deutschland ist der Kommissar nicht der Amtschef, also nicht der Chef der Verwaltung. Der Chef der Verwaltung ist der Generaldirektor. Das bedeutet, dass der Kommissar nicht in derselben Weise unmittelbar auf die Verwaltung zugreifen kann wie ein deutscher Minister. Da es aber dennoch der Kommissar ist, der sich sowohl vor der Kommission als auch vor der Öffentlichkeit verantworten muss, wenn in der Verwaltung seines Ressorts ein Fehler passiert, wurde versucht, die Position des Kommissars zu stärken, zum Beispiel durch Rotation der Generaldirektoren. Es wird also künftig nicht mehr vorkommen, dass ein Kommissar, der gerade sein Amt antritt, einem Generaldirektor gegenübersteht, der seit 20 Jahren im Amt ist und dem es gleichgültig ist, „wer unter ihm Kommissar ist“. Außerdem hat der Kommissar wesentlichen Einfluss auf die Ernennung der Generaldirektoren seines Bereichs und kann Generaldirektoren entlassen. Inwieweit suchen sich die Kommissare ihre Mitarbeiter selbst aus? Hat der Kommissionspräsident Mitentscheidungsrechte? Wulf-Mathies: Die Mitglieder seines Kabinetts sucht sich jeder Kommissar selbst aus. Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn der Kommissionspräsident sich da einmischt. Allerdings haben die Kommissare Vorgaben zu beachten wie z. B. die Berücksichtigung unterschiedlicher Nationalitäten oder eines bestimmten Frauenanteils. Die Mitarbeiter der Generaldirektionen werden vom Generaldirektor eingestellt, an der Ernennung von Direktoren ist der zuständige Kommissar beteiligt. Wie werden Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den Kommissaren gelöst? Wulf-Mathies: Bei Zuständigkeitsstreitigkeiten, die die Geschäftsverteilung betreffen, entscheidet der Kommissionspräsident, da er auch die Geschäftsverteilung vorgibt. Eine inhaltliche Streitigkeit kann auch vom Kollegium entschieden werden. Welches Gewicht kommt dem Kollegialitätsprinzip zu? Wo liegen Vor- und Nachteile? Wulf-Mathies: Zunächst ist ein Vorteil des Kollegialitätsprinzips, dass es den Diskussionsprozess fördert. Diskussionen innerhalb der Kommission sind wesentlich wichtiger als beispielsweise in einem nationalen Gremium, da die Kommission eine viel heterogenere und differenziertere Klientel abzudecken hat als z. B. die Bundesregierung. In Europa ist gegenseitiges Verständnis wesentliche Voraussetzung für die Integration. Das Kollegialitätsprinzip 18 Staeglich

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fördert die Bereitschaft, aus der Vielfalt und Unterschiedlichkeit das gemeinsame europäische Interesse herauszudestillieren. Des Weiteren stärkt das Kollegialitätsprinzip die Unabhängigkeit der Kommissare gegenüber dem Kommissionspräsidenten. Auch hat jeder Kommissar die Möglichkeit, Entscheidungen der Kommmission in gemeinsamer Diskussion zu beeinflussen. Das Kollegialitätsprinzip stärkt daher auch die Identifikation mit der abschließenden Entscheidung, denn durch einen aktiven Diskussionsprozess fühlen sich die Kommissare für die Gesamtpolitik verantwortlich. Je größer die Kommission und je stärker die Rolle des Kommissionspräsidenten wird, desto weniger werden diese Diskussionen wahrscheinlich noch stattfinden. Die neue Größe der Kommission und die starke Rolle des Kommissionspräsidenten werden das ganze Gefüge vermutlich stärker in Richtung eines „Ressortprinzips“ verändern. Dieser Prozess mag andere Vorteile haben, das Kollegialitätsprinzip wird allerdings darunter leiden. Eine Verstärkung erfährt der Prozess „weg vom Kollegialitätsprinzip“ zusätzlich durch die im Laufe der Jahre gewachsenen Mitbestimmungsrechte des Kommissionspräsidenten bei der Auswahl der Kommissare. Mit anderen Worten: Je mehr sich der Kommissionspräsident seine Kommissare selbst aussuchen kann, desto mehr sind sie auch seine „Geschöpfe“, die von ihm abhängig sind. Die Pflicht zum Rücktritt eines Kommissars nach Aufforderung durch den Kommissionspräsidenten ist auch ein Beispiel, das die Ausrichtung der Kommissare auf die politischen Ansichten des Kommissionspräsidenten fördern wird. Halten Sie die Arbeitsfähigkeit mit 25 oder mehr Kommissaren gefährdet? Kommt es zu zusätzlichen Tätigkeitsüberschneidungen? Wulf-Mathies: In der Tat könnte die Arbeitsfähigkeit der Kommission gefährdet sein, wenn jeder Kommissar zu jedem Thema redet, was grundsätzlich das Recht eines jeden Kommissars wäre. Doch haben die Kommissare unterschiedliche Interessen und Kenntnisse, so dass z. B. nicht unbedingt der für Steuerfragen zuständige Kommissar bei der Entwicklungshilfe für Ghana mitreden möchte. Je mehr Kommissare es gibt, umso besser müssen die Sitzungen vorbereitet werden. Letztlich kommt alles auf eine gute Organisation und eine kluge Regie in der Amtsführung des Präsidenten an. Problematischer finde ich die Erhöhung der Mitglieder, die die Erweiterung im Europäischen Rat mit sich bringt. Hier ist die Gefahr größer, dass sich jeder einzelne Regierungschef oder Minister zu jedem Thema zu Wort meldet, um den Standpunkt seiner Regierung darzustellen. Tätigkeitsüberschneidungen zwischen Kommissaren sind grundsätzlich ein Problem, daher wird es mehr als zuvor auf die Schneidung der Ressorts ankommen. Eine Überlegung wäre es sicher wert, die Ressortverteilung auch mit zeitlich befristeten Projekten zu verbinden. Könnten Sie sich den Kommissionspräsidenten als Repräsentanten der europäischen Bürger vorstellen? Wulf-Mathies: Sowohl idealtypisch als auch faktisch ist es die Kommission, die das Gemeinschaftsinteresse vertritt. Deshalb sollte der Kommissionspräsident auch Repräsentant der europäischen Bürger sein. Der Europäische Rat ist stärker durch nationale Interessen geprägt, deshalb kommt der Ratspräsident weniger als Repräsentant für die europäischen Bürger in Frage. Ich bin daher auch der Meinung, dass der Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament entsprechend seiner Mehrheitsverhältnisse gewählt werden sollte. Es gäbe dann Spit-

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zenkandidaten, die je nach dem Ausgang der Europawahl die Aufgabe des Kommissionspräsidenten übernehmen würden. Dieses Verfahren würde die Rolle des Kommissionspräsidenten stärken und ihn zum akzeptierten Repräsentanten nach innen und außen machen. Denn nur wer nach innen stark ist, kann auch nach außen eine wichtige Rolle spielen und als Macht- und Kraftzentrum der Europäischen Union wahrgenommen werden. Den Kommissionspräsidenten in dieser Weise zu stärken, war bislang nicht im Interesse der Mitgliedstaaten, weil es natürlich bedeutet, dass die Rolle der Regierungschefs und Präsidenten geschwächt würde. Eine Direktwahl des Präsidenten der Europäischen Kommission durch die europäischen Bürger halte ich derzeit für unrealistisch. Aber man muss abwarten, welche Veränderungen die europäische Integration in Zukunft mit sich bringen wird. Möglicherweise wird die Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger eines Tages doch Realität. Frau Dr. Wulf-Mathies, ich danke Ihnen für das Gespräch.

B. Die Kommissionspräsidenten und Vizepräsidenten der EWG und EG Kommissionspräsidenten

Vizepräsidenten

Walter Hallstein (D) (1958 – 1962, 1962 – 1967)

Sicco Mansholt (NL) Robert Marjolin (F) Piero Malvestiti (I) (1958 – 1959) Giuseppe Caron (I) (1959 – 1963) Lionello Levi-Sandri (I) (1964 – 1967)

Jean Rey (B) (1967 – 1970)

Sicco Mansholt (NL) Lionello Levi-Sandri (I) Fritz Hellwig (D) Raymond Barre (F)

Franco Maria Malfatti (I) (1970 – 1972)

Sicco Mansholt (NL) Raymond Barre (F) Wilhelm Haferkamp (D)

Sicco Mansholt (NL) (1972 – 1973)

Carlo Scarascia-Mugnozza (I) Raymond Barre (F) Wilhelm Haferkamp (D)

Francois-Xavier Ortoli (F) (1973 – 1977)

Wilhelm Haferkamp (D) Carlo Scarascia-Mugnozza (I) Sir Christopher Soames (GB) Patrick John Hillery (IR) (1973 – 1976) Henri Simonet (F)

Roy Jenkins (GB) (1977 – 1981)

Francois-Xavier Ortoli (F) Wilhelm Haferkamp (D) Finn Olav Gundelach (DK) Lorenzo Natali (I) Henk Vredling (NL)

18*

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Kommissionspräsidenten

Vizepräsidenten

Gaston Thorn (L) (1981 – 1985)

Francois-Xavier Ortoli (F) Wilhelm Haferkamp (D) Lorenzo Natali (I) Etienne Davignon (F) Christopher Tugendhat (GB)

Jacques Delors (F) (1985 – 1989)

Lorenzo Natali (I) Karl-Heinz Narjes (D) Frans Andriessen (NL) Lord Francis Arthur Cockfield (GB) Henning Christophersen (DK) Manuel Marin (ES) (1986 – 1989)

Jacques Delors (F) (1989 – 1993)

Frans Andriessen (NL) Henning Christophersen (DK) Manuel Marin (ES) Filippo Maria Pandolfi (I) Martin Bangemann (D) Sir Leon Brittan (GB)

Jacques Delors (F) (1993 – 1995)

Henning Christophersen (DK) Manuel Marin (ES) Martin Bangemann (D) Sir Leon Brittan (GB) Karel van Miert (B) Antonio Ruberti (I)

Jacques Santer (F) (1995 – 1999)

Sir Leon Brittan (GB) Manuel Marin (ES)

Romano Prodi (I) (1999 – 2004)

Neil Kinnock (GB) Loyola de Palacio del Valle-Lersundi (ES)

José Manuel Durão Barroso (P) (2004 – vermutlich 2009)

Jacques Barrot (F) Franco Frattini (I) Siim Kallas (E) Günter Verheugen (D) Margot Wallström (S)

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Personen- und Sachverzeichnis AETR-Entscheidung 148 Amsterdamer Vertrag siehe Vertrag von Amsterdam 120 Amtsenthebungsverfahren 105, 129, 130, 222 Anhörungsrechte des Parlaments 182, 184, 188 Arbeitsfähigkeit der Kommission 174 Arbeitspraxis der Kommission 168 Außendarstellung 224 Außenminister der Europäischen Union 224 Auswahl der Kommissare 231 Auswahlverfahren – Fusionsvertrag 117 – Verfassungsvertrag 121 – Vertrag von Amsterdam 120 – Vertrag von Maastricht 118 – Vertrag von Nizza 120 Auswahlverfahren der Kommissare siehe Ernennungsverfahren der Kommissare 138 Beschlussfassung in der Kommission 177 Bundeskanzler 59, 74, 158, 202, 228, 231, 238 Bundespräsident 56, 103, 220 – Amtsenthebungsverfahren 64 – Anordnungen und Verfügungen 70 – Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 69 – Außendarstellung 65 – Einberufung des Bundestags 69 – Gnadenrecht 69 – Grundsatz der Verfassungsorgantreue 73 – Inkompatibilität 58 – Innendarstellung 67 – Integrationsfunktion 73 – Neutralität 57 – Politische Einflussnahme 68 – Politische Stellungnahme 59 – Politischer Präsident 61

– Pouvoir neutre 79 – Selbstständige Entscheidungsbefugnisse 69 – Selbstverständnis 76 – Staatsnotarielle Aufgaben 68 – Stellung 56 – Verantwortlichkeit 64 – Vertretung 57 – Wahlmodus 57, 60 Buttiglione 183 Cohabitation siehe Kohabitation 84 Conseil constitutionnel siehe Staatspräsident, Verfassungsrat 96 Delors, Jacques 116 Dienste 168 Direktwahl des Kommissionspräsidenten 254 Drei-Ebenen-Modell 198 Drei-Elementen-Lehre siehe Jellinek 52 Dreier-Ausschuss 214, 216 Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Kommission 259 Einheit des Staates 24 Einheitlicher institutioneller Rahmen 54, 110 Einheitsstiftende Funktionen 24, 34, 54, 60 – Europäische Union 52 – Heterogenes Gebilde 54 – Homogenes Gebilde 54 Entscheidungsstrukturen 261 Erklärung Nr. 32 165 Ermächtigungsverfahren 191 Ernennungsverfahren der Kommissare 138 – Verfassungsvertrag 141 – Vertrag von Amsterdam 139 – Vertrag von Nizza 140

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Personen- und Sachverzeichnis

Ernennungsverfahren der Vizepräsidenten 200 Ernennungsverweigerungsrecht des Kommissionspräsidenten 196 Europäische Atomgemeinschaft 113 Europäische Flagge 151 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 113 Europäische Gemeinschaften 147 Europäische Hymne 151 Europäische Integration 111 Europäische Union 21, 147 – Staatsähnliches Gebilde 54, 226 – Staatsgebiet 52 – Staatsgewalt 52 – Staatsvolk 52 – Symbolik 150 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 113 Europäischer Wahlkampf 256 Europatag 151

– Benennungsrecht des Kommissionspräsidenten 263 – Direktwahl des Kommissionspräsidenten 254 – Einfluss der Mitgliedstaaten 264 – Kandidatenliste 262 – Struktur der Kommission 256 – Verkleinerung der Kommission 257 – Wahl des Kommissionspräsidenten 249 – Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament 250 – Zergliederung der Kommission 257 – Zustimmungsvotum des Parlaments 264 Integration – Funktionelle Integration 47 – Persönliche Integration 47 – Sachliche Integration 47 Integrationsfunktion 46

Französischer Staatspräsident siehe Staatspräsident 80 Französisches Parlament 81 Friedenssicherung 111 Funktionen von Staatsoberhäuptern 34 Fusionsvertrag 115, 117, 138

Kabinett 196 Kabinettsbildungsrecht 74, 232, 268 Kabinettsmitglieder 233 Kassationsgerichtshof 86 Kelsen 30 Kohabitation 84, 99, 106 Kollegialitätsprinzip 170 Kollegialorgan 170 Kommissionspräsident 110, 221 – Amtsenthebungsverfahren 129, 132 – Außendarstellung 147 – Auswahlverfahren 117 – Einheitlicher institutioneller Rahmen 110 – Einzelweisungen 193 – Ersetzungen von Kommissarsentscheidungen 193 – Innendarstellung 149 – Kompetenzen mit Billigung des Kollegiums 199 – Kompetenzen ohne Billigung des Kollegiums 155 – Politische Führung 155 – Selbstverständnis 210 – Unionsnotarielle Aufgaben 153 – Verantwortlichkeit 129 Kompetenz-Kompetenz 53

Gemeinsamer Markt 112 Generaldirektionen 168 Generalsekretariat 168 Geschäftsordnung der Europäischen Kommission 161, 163 Grundsatz der Verfassungsorgantreue 240 Hallstein, Walter 114 Hearings siehe Anhörungsrechte des Parlaments 182 Herrschaftsgewalt 34 Hochverrat 102, 105 Hohe Behörde 113 Hoher Gerichtshof 87 Innendarstellung 225 Institutionelle Reformen 213, 245, 247, 249, 251, 253, 255, 257, 259, 261, 263, 265, 267

Jellinek 52

Personen- und Sachverzeichnis Kontinuität der Funktionen 51 Kontinuitäts- / Reservefunktion 50 Landsmannprinzip 259 Legitimation 39, 188, 250 – Direkte Legitimation 40 – Europäische Union 40 – Indirekte Legitimation 40 Leitlinienkompetenz 156, 158, 234 Lex prodi 204, 212 Luxemburger Kompromiss siehe Luxemburger Protokoll 114 Luxemburger Protokoll 114 Maastrichter Vertrag siehe Vertrag von Maastricht 118 Mehrheitsvotum 177 Misstrauensantrag 223 Misstrauensantrag des Europäischen Parlaments 130, 135, 181 Monnet, Jean 113 Motor der Integration 114 Nachfolgebenennungsverfahren 207 Nationalstaat 21 Nationalversammlung 81 Nizza siehe Vertrag von Nizza 120 Notarielle Aufgaben 226 Oberhaupt 30, 110 – Außendarstellung 32 – Innendarstellung 32 – Selbstständiges Oberhaupt 31 – Stellung eines Oberhaupts 30 – Unselbstständiges Oberhaupt 31 Organisationsgewalt 156, 157, 237 Parlamentspräsident 24 Politische Einflussnahme 227 Politische Einheit 22 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 53 Prinzip der politischen Führung 155 Rahmenvereinbarung 181, 206 Ratspräsident 24 Rechtsgemeinschaft 39, 54 Repräsentant 41

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Repräsentationsfunktion 34 – Mittel der Repräsentation 45 – Objekt der Repräsentation 34 – Subjekt der Repräsentation 41 – Zweck der Repräsentation 44 Ressortprinzip 190 Richtlinienkompetenz siehe Leitlinienkompetenz 158 Rotationsprinzip 121, 123, 141, 143, 257, 259 Rücktrittsaufforderung des Kommissionspräsidenten 131, 203, 228 Santer-Affäre 134, 204 Schlusserklärungen 165 Schuman-Plan 22 – Monnet, Jean 22 Selbstverpflichtung der Kommissare 172 Selbstverpflichtung der Kommission 205 Selbstverständnis 242 Senat 81 Smend 46 Spierenburg-Bericht 214, 216, 258 Staatsoberhaupt 32 – politische Einflussnahme 32 Staatspräsident 80, 103, 221 – Amtsenthebungsverfahren 86 – Auflösungsrecht 94 – Außendarstellung 88 – Domaine réservé 89 – Gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen 92 – Gnadenrecht 95 – Hochverrat 86 – Inkompatibilität 85 – Innendarstellung 89 – Nicht gegenzeichnungspflichtige Kompetenzen 93 – Notstandsparagraph 95 – Parlamentsbotschaften 95 – Politische Einflussmöglichkeiten 92 – Referendum 92 – Richtlinienkompetenz 102 – Schiedsgewalt 82 – Schiedsrichterrolle 82 – Selbstverständnis 100 – Staatsnotarielle Aufgaben 90 – Stellung 81

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Personen- und Sachverzeichnis

– Tagesordnung 96 – Verantwortlichkeit 86 – Verfassungsrat 96 – Vertretung 85 – Wahlmodus 84 Symbolfunktion 49 Symbolik 226 Symbolsetzungsgewalt 50 Tindemans-Bericht 118, 139, 216 Umgekehrte Diskriminierungen siehe Unionsbürgerschaft, Inländerdiskriminierungen 36 Unbefangenheitsprinzip 125 Unionsbürgerschaft 36 – Inländerdiskriminierungen 36 Unionsoberhaupt 110, 220 Unionsvolk 36 Vedel-Bericht 213 Verantwortlichkeit 104, 222 Vereidigung 107 Verfassungskonvent 141, 246 Verfassungsorgane 220 Verfassungsorgantreue 240 Verfassungsvertrag 28, 121, 123, 141, 147, 148, 161, 170, 201, 206

– Aufforderung zum Rücktritt 206 – Außenminister der Europäischen Union 225, 248 – Ernennungsverfahren der Kommissare 141 – Ernennungsverfahren des Kommissionspräsidenten 121 – Mitwirkung des Kommissionspräsidenten 124 – Personalunion 248 Vertrag von Amsterdam 120, 139, 163 Vertrag von Maastricht 118, 182, 200 Vertrag von Nizza 120, 140, 207, 230, 264 Vertrauensbildungsfunktion 50 Vizepräsidenten 200, 229 Volksentscheid siehe Staatspräsident, Referendum 92 Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament 251 Weisungsbefugnis des Kommissionspräsidenten 162 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge 166 Wirkungsebenen von Staatsoberhäuptern 32 Zerteilung von Aufgabenbereichen in der Kommission 257 Zuständigkeitsstreitigkeiten 179